Conditio Judaica: Teil 1 Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg [Reprint 2012 ed.] 9783110276213, 9783484106079

In this interdisciplinary symposium the thematic complex of Jewry and Judaism, anti-Semitism and German literature is pr

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German Pages 379 [384] Year 1991

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Conditio Judaica: Teil 1 Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg [Reprint 2012 ed.]
 9783110276213, 9783484106079

Table of contents :
Vorwort der Herausgeber
Varianten des jüdischen Aufklärungserlebnisses
Das Assimilationsproblem aus jüdischer Sicht (1780–1880)
Zur Geschichte der Emanzipation und des Antisemitismus bis 1870
„Aus dem Ghetto“. Der Aufbruch des österreichischen Judentums in das bürgerliche Zeitalter (1780–1867)
Sulamiths verheißene Wiederkehr. Hinweise zu Programm und Praxis der pietistischen Begegnung mit dem Judentum
Goethe und Schiller in ihrem Verhältnis zum Judentum
Franz Grillparzer zwischen Judenfeindschaft und Josephinismus
„Lauter Juden“. Zum Rollenspektrum der Juden-Figuren im populären Bühnendrama der Metternichschen Restaurationsperiode (1815–1848)
Judenthematik im Wiener Volkstheater
Nicht nur Stereotypen. Von der Vielfalt jüdischer Romanfiguren im populären Roman der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Voß, Clauren, Seybold, Harring)
Die Heine-Rezeption der jüdischen Kritik in Deutschland 1840 bis 1918
Heines ‚Vetter‘ Hermann Schiff
Berthold Auerbach und Wilhelm Wolfsohn. Eine Schriftstellerfreundschaft in Briefen (1850–1865). Mit unveröffentlichten Briefen beider Autoren
Das Bild des Juden im protestantischen Volksschrifttum des 19. Jahrhunderts
Judentum und katholische Kirche in Deutschland zwischen Restauration und Reichsgründung
Aspekte der Judenemanzipation in Tagesliteratur und Publizistik 1848–1869
Anhang
Der Beitrag der Juden zur deutschen Literatur (Öffentlicher Vortrag)
Fichte und Landschaft. Ein romantisches und ein zionistisches Modell (Vergleichende Betrachtung eines Gedichtes von Heinrich Heine und von Lea Goldberg)
Zusammenfassung der Diskussion
Personenregister
Teilnehmerliste

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Conditio Judaica Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg Erster Teil

Conditio Judaica Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg Interdisziplinäres Symposion der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg v. d. H. Erster Teil Herausgegeben von Hans Otto Horch und Horst Denkler

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Conditio Judaica : Judentum, Antisemitismus u. dt.-sprachige Literatur vom 18. Jh. bis zum Ersten Weltkrieg ; interdisziplinäres Symposion d. Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg v.d.H. / hrsg. von Hans Otto Horch ; Horst Denkler. — Tübingen : Niemeyer. NE: Horch, Hans Otto [Hrsg.]; Werner-Reimers-Stiftung Teil 1 (1988) ISBN 3-484-10607-7

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Boy, Regensburg Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt.

Inhalt

Vorwort der Herausgeber Jacob Katz (Jerusalem): Varianten des jüdischen Aufklärungserlebnisses

VIII 1

Arno Herzig (Hamburg): Das Assimilationsproblem aus jüdischer Sicht (1780-1880)

10

Ingrid Belke (Marbach): Zur Geschichte der Emanzipation und des Antisemitismus bis 1870

29

Wolfgang Häusler (Wien): „Aus dem Ghetto". Der Aufbruch des österreichischen Judentums in das bürgerliche Zeitalter (1780-1867)

47

Hans-Jürgen Schräder (Göttingen): Sulamiths verheißene Wiederkehr. Hinweise zu Programm und Praxis der pietistischen Begegnung mit dem Judentum

71

Norbert Oellers (Bonn): Goethe und Schiller in ihrem Verhältnis zum Judentum

108

Sigurd Paul Scheichl (Innsbruck): Franz Grillparzer zwischen Judenfeindschaft und Josephinismus

131

Horst Denkler (Berlin). „Lauter Juden". Zum Rollenspektrum der Juden-Figuren im populären Bühnendrama der Metternichschen Restaurationsperiode (1815-1848)

149

Jürgen Hein (Münster): Judenthematik im Wiener Volkstheater

164

Beate Orland (Berlin): Nicht nur Stereotypen. Von der Vielfalt jüdischer Romanfiguren im populären Roman der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Voß, Clauren, Seybold, Harring)

187

Itta Shedletzky (Jerusalem): Die Heine-Rezeption der jüdischen Kritik in Deutschland 1840 bis 1918

200

Renate Heuer (Frankfurt am Main): Heines .Vetter' Hermann Schiff

214

VI

Inhalt

Hans Otto Horch (Aachen): Berthold Auerbach und Wilhelm Wolfsohn. Eine Schriftstellerfreundschaft in Briefen (1850-1865). Mit unveröffentlichten Briefen beider Autoren

236

Klaus Müller-Salget (Erlangen): Das Bild des Juden im protestantischen Volksschrifttum des 19. Jahrhunderts

259

Eda Sagarra (Dublin): Judentum und katholische Kirche in Deutschland zwischen Restauration und Reichsgründung

271

Walter Grab (Tel Aviv): Aspekte der Judenemanzipation in Tagesliteratur und Publizistik 1848-1869

284

Anhang

Egon Schwarz(Öffentlicher (St. Louis): Der Beitrag der Juden zur deutschen Literatur Vortrag)

309

Chaim Shoham (Haifa): Fichte und Landschaft. Ein romantisches und ein zionistisches Modell (Vergleichende Betrachtung eines Gedichtes von Heinrich Heine und von Lea Goldberg)

329

Stefan Wirtz (Aachen): Zusammenfassung der Diskussion

339

Personenregister

351

Teilnehmerliste

Vorwort der Herausgeber

Als der Literarhistoriker Ludwig Geiger im Wintersemester 1903/04 eine programmatische Einführung zu seinen Vorlesungen an der Berliner Universität gab, stellte er sie unter die Gesamtüberschrift „Die Juden und die deutsche Literatur". Dieser Titel sollte das weite Spektrum deutsch-jüdischer Literaturbeziehungen bezeichnen, deren .objektive' Darstellung Geiger als eine wichtige Aufgabe der Kulturhistorie im Interesse der ersehnten Versöhnung deutschen und jüdischen Geistes ansah. Der überzeugte Anhänger einer Akkulturationslösung der sogenannten ,Judenfrage' — allerdings unter Wahrung der religiösen Identität im Sinne der jüdischen Reformdiskussion des 19. Jahrhunderts — verkannte keineswegs die Problematik der erstrebten .Versöhnung'. Er hatte selbst sehr bewußt die Entstehung des politischen Antisemitismus (einer Mischung aus traditioneller christlicher Judeneinschätzung, ökonomisch motivierter Judenfeindschaft und pseudowissenschaftlich begründetem Rassismus) seit den siebziger Jahren miterlebt und wurde von Antisemiten wie Adolf Bartels oder Philipp Stauff als Galionsfigur der liberalen Judenschutz truppe' heftig attackiert; zugleich galt er in Kreisen der jüdischen Orthodoxie als Renegat, in nationaljüdisch-zionistischen Kreisen als Utopist, der das Scheitern der deutsch-jüdischen Integration nicht einsehen wollte. Geiger hielt wie die große Mehrheit der deutschen Juden bis 1933 die Integration für die einzig humane Möglichkeit deutschjüdischer Existenz; und die gemeinsame Kultur war ihm das entscheidende Bindemittel. So wurden seine Vorlesungen und zahllosen Veröffentlichungen zum Thema „Die Juden und die deutsche Literatur" als wissenschaftliches Projekt zugleich zu einem Bekenntnis deutsch-jüdischer Gemeinsamkeit. Daß mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 und ihren Folgen jede Basis für ein solches Bekenntnis schwand, bedarf keiner Hervorhebung: man könnte, Nietzsche abwandelnd, von einer Exstirpation des deutschen und deutsch-jüdischen Geistes zugunsten universaler Barbarei sprechen. So mußte sich auch die Perspektive wandeln, unter der man seit 1945 die deutsch-jüdischen Literaturbeziehungen betrachtete: man verfolgte die Wurzeln des modernen deutschen Antisemitismus bis ins 18. Jahrhundert zurück und gewann den Eindruck eines historischen

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Vorwort

Zwangsablaufs bis _hin zum Endpunkt des Holocaust. Das ,Bild' des Juden in der deutschsprachigen Literatur war, von Ausnahmen abgesehen, alles andere als schmeichelhaft, die Negativität der Stilisierung überwog; und auch die positiven jüdischen Figuren im Drama (seit Lessing) und in der Erzählliteratur (seit Geliert) waren nichts anderes als die (idealisierende) Kehrseite der Negativbilder: Klischees allemal, versehen mit stereotypen Attributen, die offensichtlich erwiesen, daß das ,Bild* des Juden in der realen Gesellschaft, auf welches das literarische Abbild, wie man annahm, direkt verwies, von Vorurteilen gegenüber Juden und Judentum bestimmt war. Die Frage ist, ob ein solcher Schluß in dieser Eindeutigkeit nicht die geschichtliche, literarhistorische und literarästhetische Komplexität simplifiziert. Die neuere Entwicklung der Sprach- und Literaturwissenschaft führte bekanntlich zu einem komplexen Interpretationsverfahren, nach dem Textentstehung, Textbefindlichkeit und Textrezeption in ihren jeweiligen historischen Dimensionen erfaßt und ihre Bedeutung für die jeweilige Gegenwart bestimmt werden müssen. Der Text mit seinen einzelnen Elementen — also einschließlich der jüdischen Figurationen und diversen .Bilder' des Jüdischen — ist grundsätzlich als .Text in Kontexten' zu analysieren, seine geschichtlich-literarhistorische Bedeutung hängt ebenso sehr von der Intention des Autors ab wie von den vielfältigen und in sich widersprüchlichen Rezeptionsvarianten einzelner Leser und Lesergruppen im Verlauf eines lange andauernden Rezeptionsprozesses. Teleologische Modelle der Sprach- und Literaturwissenschaft verschleiern diesen komplexen kommunikativen Interpretationszusammenhang, indem sie allzu geradlinige Wirkungen der Texte unterstellen, ohne deren Entstehungs- und Wirkungsbedingungen im Einzelfall genau zu untersuchen. So richtig und wichtig es ist, das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose immer im Gedächtnis zu halten, so notwendig ist es, den historischen Zeitraum nicht außer acht zu lassen, in dem die Texte entstanden sind und in dem sie zuerst gewirkt haben. Der Literarhistoriker wird zudem die spezifisch poetisch-literarischen Traditionen nicht vernachlässigen dürfen, die zu bestimmten Ausprägungen von .Bildern* des Jüdischen geführt haben. Ebenso wichtig wie die Analyse der literarischen .Bilder* von Juden und Judentum ist die Erforschung des positiven Stellenwerts, der dem Judentum als religiöser und ethnisch-sozialer Gemeinschaft im Verlauf der historischen Entwicklung beizumessen ist. So unterschiedlich die Frage einer genuin jüdischen Identität seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch beantwortet wurde — Polarisierung auf religiösem, kulturellem und politischem Gebiet gehört geradezu zu den zentralen Merkmalen der jüdischen Gesellschaft seit ihren Anfängen —, so wichtig wurden Impulse dieser Identitätsfindungsprozesse für die jüdische Gemein-

Vorwort

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schaft als ganze, aber auch für die Frage ihrer .Symbiose' mit der nichtjüdischen Gesellschaft. Die Beiträge des Symposions der Wemer-Reimers-Stiftung, die in der ersten Tagungssequenz im März 1987 vorgelegt worden sind und inhaltlich bis 1870 reichen, beziehen sich alle — wenn auch in je unterschiedlicher fachlicher, methodischer und inhaltlicher Perspektive — auf die eben skizzierte doppelte Grundproblematik. Aus der Fülle der behandelten Themen seien folgende Aspekte hervorgehoben. 1. Die Emanzipation der deutschen und österreichischen Juden erfolgte von oben, im Zeichen der vorab geforderten „bürgerlichen Verbesserung"; dies erwies sich von vornherein als unheilvoll, weil so die erlangte Gleichstellung je nach politischer Lage immer wieder zur Disposition gestellt werden konnte (Ingrid Belke). Dies gilt nach Wolf gang Häusler auch für die oft überschätzten Josephinischen Reformen. Walter Grab formuliert deshalb seine These zuspitzend so, daß in allen Ländern, in denen nicht eine Revolution von unten glückte, der Antisemitismus letztlich keinen Widerpart hatte und schließlich durch den Faschismus zur Herrschaft kam. Die Frage eines deutschen ,Sonderwegs' bezüglich des Antisemitismus bleibt allerdings strittig: insbesondere Egon Schwarz betont die internationale Vergleichbarkeit dieses Phänomens, außerdem die Notwendigkeit, die Frage der Minderheiten nicht nur am Beispiel der Juden zu erörtern. 2. Das 18. und 19. Jahrhundert zeigt in allen Genres der Literatur und des Theaters eine stereotype Behandlung der Juden — sei es (eher selten) positiv, sei es (meist) negativ im Sinn der vorrangig ökonomisch motivierten Vorurteilsbildung. Dennoch muß jeder einzelne Fall gesondert betrachtet werden — auch dann, wenn, wie etwa die Diskussion über Harro Harrings Roman Der Pole (1831) erweist, scheinbar bereits rassenantisemitische Stereotype in einem demokratisch-revolutionären Text funktional eingesetzt werden (Referat von Beate Orland, Einwände des Harring-Spezialisten Walter Grab). Eine solche Vorsicht empfiehlt Norbert Oellers bei der Darstellung des den Juden eher skeptisch gegenüberstehenden Goethe und des eher gleichgültigen Schiller, während Wolfgang Frühwald die radikal antijüdische Haltung der "Christlichdeutschen Tischgesellschaft" im Vergleich zu der eher judenfreundlichen Haltung der Frühromantik und der eher gleichgültigen Haltung in den Jahren nach 1819/20 hervorhob. Ganz anders stellt sich die Situation im Pietismus dar (Hans-Jürgen Schräder). Hier geht es keinesfalls um ein Verhältnis zu real existierenden Juden, sondern um ihre (positive) Stellung im Heilsplan Gottes, weshalb einer judenmissionarischen Aktivität enge Grenzen gesetzt sind. 3. Besondere Aufmerksamkeit empfiehlt sich, wenn man Judenstereotype in dramatischen Texten untersucht — hier ist entscheidend, in welcher Weise (streng dem Text nach, improvisierend, von der Zensur erlaubt oder behindert) sie auf die Bühne kommen. Auffallend ist der Unterschied zwischen dem Wiener Volkstheater, das, vermutlich aus Zensurgründen, erstaunlich wenige Judenfiguren aufweist ([Jürgen Hein), und dem populären Theater in Berlin und anderen deutschen Regionen, das eine geradezu bestürzende Fülle solcher Figuren hat (Horst Denkler). Grillparzers Jüdin von Toledo und sein EstherFragment sind demgegenüber außerordentlich differenziert (Sigurd Paul Scheichl), wenngleich sich bei dem josephinisch geprägten Autor — zumeist

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Vorwort

in privaten Äußerungen und ungedruckten Texten (z.B. den Epigrammen) — auch ambivalente Haltungen den Juden gegenüber zeigen. 4. Es gibt eine breite "Volksliteratur" protestantischer Autoren, die sicherlich die alten christlichen Vorurteile gegenüber den Juden befördert hat (Klaus Müller-Salget). In einzelnen Fällen (O. Glaubrecht ,Das Volk und seine Treiber', 1861) reicht die Rezeptionsgeschichte unmittelbar bis ins Dritte Reich. Auch im katholischen Bereich gibt es solche Literatur, ebenso natürlich in den auflagenstarken christlichen Volkskalendem. Differenzierter stellt sich das Problem im Fall von Bischof Ketteier und den mit ihm korrespondierenden Autorinnen Annette von Droste-Hülshoff und Ida Gräfin Hahn-Hahn dar (Eda Sagarra). Im Roman Maria Regine (1860) der HahnHahn taucht erneut das Klischee der .belle juive' auf, freilich nun sehr positiv und vor dem Hintergrund einer gleichsam naturgemäßen Hinneigung zum .ästhetischen' Katholizismus. 5. Auf die innerjüdische Diskussion über Emanzipation und Assimilation nehmen mehrere Beiträge Bezug. So beschreibt Jacob Katz verschiedene Varianten des jüdischen Aufklärungserlebnisses, während Arno Herzig die sozialhistorischen Dimensionen des Assimilationsvorgangs in den Blick nimmt. Die Heine-Rezeption der jüdischen Kritik von 1840 bis 1918 (Itta Shedletzky) ist gleichsam ein Indikator der innerjüdischen Debatte: das Spektrum reicht von der Ablehnung Heines als .Renegat' (u.a. bei Ludwig Philippson) über seine "Heimholung" als Jüdischer Dichter' bis hin zu Diskussionen über Heines (positiv verstandene) jüdische .Rasse' (bei Georg Plotke). Auch Heines Vetter Hermann Schiff kann (nach Renate Heuer) —trotz seiner Taufe — in diesen Zusammenhang eingeordnet werden. Obwohl im Briefwechsel der beiden jüdischen Autoren Berthold Auerbach und Wilhelm Wolfsohn {Hans Otto Horch) von Jüdischem nur selten die Rede ist, ist nicht zu übersehen, daß man sich — etwa anläßlich von Nachrichten über Pogrome — schmerzlich der immer noch nicht erreichten Integration bewußt ist. Ein .disguised symbolism' in Auerbachs nachmärzlichen Dorfgeschichten läßt Spuren einer fortdauernden Integrations- und Identitätsproblematik auch da erkennen, wo überhaupt keine jüdischen Figuren auftauchen. Dabei spielt der Begriff der .Heimat' eine zentrale Rolle, der in unterschiedlicher Weise — dies zeigt Chaim Shohams Vergleich zweier Gedichte von Heine und Lea Goldberg — mit der Frage nach der eigenen Identität verknüpft ist. Das Identitätsproblem erweist sich — dies ein unabweisbares Fazit dieses Symposions — als die schwierigste Frage überhaupt; eine deutsch-jüdische Literaturgeschichte läßt sich nur konzipieren, wenn diese Problematik als erkenntnisleitend anerkannt und in den literarischen Zeugnissen sorgsam verfolgt wird. Zum Gelingen des Symposions hat der .genius loci' der Werner-ReimersStiftung entscheidend beigetragen: Es entwickelte sich ein von gegenseitiger Hochachtung getragenes internationales „deutsch-jüdisches Gespräch" im Zeichen eines „lauten Denkens mit Freunden" (Lessing). Nicht zuletzt die Diskussionen am Abend gehören zu den bleibenden Eindrücken des Symposions, sie erwiesen bei aller Kontroverse, daß das von Ernst Bloch beschworene „pathoslose Miteinander" von Juden und Deutschen jenseits von Antisemitismus oder Philosemitismus realisierbar ist. Stellvertretend für alle Mitarbeiter der Werner-Reimers-

Vorwort

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Stiftung sei ihrem Vorstand, Herrn Konrad von Krosigk, sowie Frau Gertrude Söntgen sehr herzlich für ihre Mühe gedankt, das Gespräch im beschriebenenen Sinn möglich zu machen. Aachen und Berlin, im November 1987

Hans Otto Horch Horst Denkler

Jacob Katz (Jerusalem)

Varianten des jüdischen Aufklärungserlebnisses

Die europäische Judenheit lebt beim Ausgang des Mittelalters in physischer, sozialer und kultureller Isolierung. Auch in Zeiten, in denen die Juden im Ghetto oder Judenviertel eingepfercht sind, stellen sie doch eine Gemeinschaft für sich dar. Sie sprechen ihre eigene Sprache, pflegen ihre eigene Tradition, besitzen ihre eigene Gerichtsbarkeit, heiraten und verkehren gesellschaftlich untereinander. Nicht umsonst wird für sie der Ausdruck "jüdische Nation" verwendet. Sie tragen all die Merkmale, durch die andere Völker voneinander getrennt sind, nur daß bei ihnen die Sonderheiten auch noch durch die allein ihnen eigene Religion unterbaut sind. Trotz dieser Isolierung bestanden sogar im Mittelalter Gemeinsamkeiten zwischen den Juden und der Bevölkerung ihrer Umgebung. Paradoxerweise ist es gerade die Religion, die sowohl die Trennung als auch die Verbindung zwischen Juden und Christen bewirkt. Als Andersgläubige werden die Juden im Lande geduldet, weil ihre Religion für die Christen eine Vorstufe ihres Bekenntnisses darstellt, die zwar überwunden, aber nicht gänzlich verworfen ist. In der Tat ist zwischen den beiden Religionen eine ununterbrochene, zumindest latente, Auseinandersetzung im Gange, die von Zeit zu Zeit in heftige Kontroversen und Disputationen ausbricht. Es handelt sich also um eine intellektuelle Begegnung, die aber nicht ohne gemeinsame Denkformen oder gar metaphysische Voraussetzungen vor sich gehen kann. Es war demnach für Historiker nicht schwer, auch im jüdischen Leben und Denken gewisse typische mittelalterliche Züge nachzuweisen, die freilich entsprechend dem unterschiedlichen Medium sich anders als im christlichen Bereich spiegeln. Dasselbe gilt nun auch für die Überwindung des Mittelalters, die letzten Endes das Werk der europäischen Aufklärung ist. Jüdische Apologeten konservativer Haltung stellen den Einbruch der Aufklärung ins jüdische Leben als eine Art Vergewaltigung des ursprünglich Jüdischen dar. Die Aufklärung hat tatsächlich im jüdischen Bereich eine tiefer gehende Umwälzung als sonst irgendwo bewirkt. Das hängt aber, wie wir noch sehen werden, mit den besonderen Bedingungen der jüdi-

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Jacob Katz

sehen Existenz zusammen. Ausgesetzt der Kritik der Aufklärung war das traditionelle jüdische Leben genau so zwangsläufig wie der parallele Bezirk der christlichen europäischen Völker. Die Kritik, sogar in ihrer höchst radikalen Form, tauchte in der Tat schon frühzeitig auf in der historischen Revision der Tradition Spinozas und deren rationalistischer Verneinung durch Uriel da Costa. Diese gehörten freilich einer Gemeinde an, die im Leben der Gesamtjudenheit eine Art Außenstellung einnahm. Neuere Forschungen, besonders von Josef Kaplan, haben die portugiesische Gemeinde von Amsterdam in ihren wesentlichen Zügen als eine Vorwegnahme der modernen Entwicklung im Judentum zu verstehen gelehrt. Danach erscheinen der radikale Kritiker der Tradition und ihre verzweifelten Verneiner, Spinoza und da Costa, innerhalb ihrer Zeit und Umgebung; nicht, wie man früher meinte, als ausgefallene Einzelgänger. Berühmt oder berüchtigt wurden diese nur, weil sie augenfällige Konsequenzen aus ihren Überlegungen zogen und diesen eindrucksvollen, literarischen Ausdruck zu verleihen imstande waren. Weniger radikale und beredte Skeptiker gegenüber der Wahrheit der Tradition und gegenüber deren Verpflichtungskraft gab es in Hülle und Fülle. Die .zersetzende* Potenz der rationalistischen und historischen Kritik — die beiden Hauptwaffen der Aufklärung — ist hier erwiesen. Selbst die Verteidiger der Tradition gegenüber ihren Verächtern sind ins Fahrwasser der Reformsucht geraten. Den Skandal erregenden Leugnern sind sie zwar mit dem Bann entgegengetreten, die weniger auffallenden Sünder aber ließen sie ungeschoren. Sie haben also auf die gewohnte Pflicht der Gemeindeführer, die religiöse Führung der Gemeindemitglieder zu kontrollieren, stillschweigend verzichtet. Sie erwiesen sich sogar als aktive Neuerer, als sie nämlich die Synagoge, bei Ausschließung aller sonstigen Gemeindefunktionen, allein für die religiöse Erbauung der Versammelten, und zwar unter strenger Beobachtung der äußeren Würde, bestimmten. All dies sind Züge, die in der Geschichte der sonstigen europäischen Judenheit erst als Folge der Aufklärungsepoche in Erscheinung traten. Dieses ließ aber noch ein gutes Jahrhundert auf sich warten. Die Vorgänge bei den Portugiesen, der Abfall von einzelnen sowohl wie die Anpassung der Gesamtheit, fanden keine Nachahmung bei den Aschkenasim, obwohl sie in Amsterdam, in Hamburg und anderswo in räumlicher Verbindung miteinander standen. Das mag an der Herkunft der Portugiesen gelegen haben, die ja in den meisten Fällen Marranen, d.h. ehemalige Scheinchristen waren, eine Tatsache, die sie als Modell für die in der Tradition wurzelnden Aschkenasim von vornherein ausschloß. Aber unabhängig davon waren die Portugiesen einer anderen jüdischen wie europäischen Kulturvariante verhaftet. Was für sie galt, galt noch lange nicht für ihre entfernten Stammesgenossen, die Aschkenasim oder, wie man in Hamburg sagte, die Hochdeutschen. Es mußte erst innerhalb der deutschen oder deutsch-

Varianten des jüdischen Aufklärungseriebnisses

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polnischen Judenheit eine Variante der Aufklärung aufkommen, bevor diese Schule machen konnte. Das ist, wie bekannt, in Berlin im Kreise von Moses Mendelssohn in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts geschehen. Daß die Berliner Aufklärung zu einer Schule, besser zu einer Bewegung geworden ist, mag auch dem Zufall zugeschrieben werden, daß deren führender Gestalt, nämlich Mendelssohn, eine persönliche Synthese zwischen den aufklärerischen Ideen und der jüdischen Tradition gelungen ist. Biographen mag es schwer fallen zu erklären, warum Mendelssohn, der die historische Kritik Spinozas vorgefunden und auch die rationale Kritik der Deisten sattsam kannte, nicht daraus die Konsequenzen seiner Vorgänger gezogen hat. Dem Kultur- und Sozialhistoriker genügt die Tatsache, daß dies nicht geschah. Die aschkenasische Version der Aufklärung taucht eben in ihrer ersten Phase als eine revisionistische und nicht reformatorische oder gar revolutionäre Richtung auf. Revisionistisch soll heißen, daß die Tradition, die die jüdischen Lebensumstände bestimmte, einer Prüfung unterzogen und im Lichte der Vernunft interpretiert wurde. Es handelte sich also nicht um eine Beschneidung oder gar Verwerfung der Tradition, sondern bloß um die Korrektur ihrer Handhabung. Um den Unterschied würdigen zu können, empfiehlt es sich, einen Blick auf die Art der Fortpflanzung der jüdischen Tradition zu werfen. Man muß da unterscheiden zwischen der in den Schriften niedergelegten Überlieferung und dem im Leben der Institutionen, der Synagoge, der Familie, der Gemeinde, praktizierten Gesetz und Brauch. Die schriftliche Überlieferung, zurückgehend auf die Bibel und den Talmud, war der Niederschlag aller Vorschriften und Gesetze, die jemals seit der Biblischen Zeit in Geltung waren samt den Diskussionen, die von einzelnen oder von verschiedenen Schulen über sie durch die Generationen geführt wurden. Die Beherrschung dieses Stoffes war das Anliegen der Gelehrten. Dem Durchschnittsjuden wurden davon nur die ersten Elemente durch seine Schulung vermittelt. Was in seinem Leben gelten soll, erfuhr er eher durch seinen Kontakt mit der institutionellen Überlieferung in der Familie, Synagoge usw. Bei der praktischen Übung der Tradition können Zweifel aufgetaucht sein, zumal wenn neue Lebensumstände eine Regelung verlangten oder wenn alte Gewohnheiten aus irgendeinem Grunde in Frage gestellt wurden. Es war dann die Sache der durch ihre Gelehrsamkeit legitimierten Autoritäten, aufgrund der schriftlichen Überlieferung Entscheidungen zu treffen. Das weite Feld der schriftlichen Überlieferung stand offen für die Suche nach Praezedenz oder für sonstige Beweisführung. Die Kooperation zwischen der institutionellen und schriftlichen Überlieferung sicherte auf jeden Fall ein Maß an Anpassungsfähigkeit mit gleichzeitigem

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Bewußtsein der ununterbrochenen Kontinuität der Tradition. Die gemäßigten Aufklärer, wie auch Mendelssohn einer war, versuchten diesem Modell der sozusagen historischen Legitimierung treu zu bleiben. Die rationale Deutung des Judentums widersprach der landläufigen Auffassung, die sehr stark von der seit dem 17. Jahrhundert vorherrschenden kabbalistischen Lehre beherrscht war. In Osteuropa zumal ist eine knappe Generation vor Mendelssohn die mystische Bewegung des Hassidismus aufgekommen. Die in den Fußstapfen von Mendelssohn wandelnden Aufklärer, auf Hebräisch „Maskilim" genannt, mußten sich gegenüber der charismatischen Führung der Pietisten behaupten. Sie erreichten dies, indem sie sich auf Vorläufer und Praezedenzfälle in der jüdischen Vergangenheit bezogen. Es gab doch im Judentum bereits im Mittelalter eine rationalistische Richtung, repräsentiert hauptsächlich durch Maimonides und seine Nachfolger. Freilich gehörten diese dem spanischen Zweig der europäischen Judenheit, den Sfardim, an. Die in Frankreich und besonders in Deutschland beheimateten Aschkenasim neigten auch schon im Mittelalter zu einer pietistischen Richtung. Das hinderte deren Nachkommen, wenn sie überzeugte Rationalisten geworden waren, keineswegs daran, dem sfardischen Vorbild den Vorzug zu geben. Eines der markantesten Merkmale der Haskalah, d.i. der Aufklärungsliteratur, ist die intensive Beschäftigung mit Maimonides und den anderen Religionsphilosophen der spanischen Zeit. In dieser Literatur kommt auch ein betontes biographisches Interesse hoch, das an sich schon ein Novum darstellt. Gegenstand dieser Biographien sind in den meisten Fällen Gestalten der spanischen Epoche, die in der oft idealisierten Darstellung die erwünschte Synthese zwischen Tradition und rationalem Denken realisierten. Die Maskilim distanzierten sich gegenüber ihrer unmittelbaren jüdischen Umgebung, blieben aber, ihrem Bewußtsein nach, der größeren jüdischen Tradition treu. Das hat ihnen ihr über alles verehrter Meister, Moses Mendelssohn, in vielen seiner Taten vorgelebt. Als Mendelssohn die deutsche Übersetzung des Pentateuch dem jüdischen Publikum ankündigte, berief er sich auf das Beispiel von Saadja Gaon, dem bedeutendsten Gelehrten und Denker des Mittelalters vor Maimonides, der mit seiner arabischen Übersetzung die Brücke schlug zwischen seiner Gemeinde und der Kultur der Umgebung. Mendelssohn erlaubte sich sogar in einer praktisch rituellen Frage, die der Domäne der Halachisten, also den talmudischen Sachverständigen, angehörte, eine Sondermeinung zu äußern, die sich eben auf eine historische Praezedenz stützte. Die landläufige jüdische Sitte bestand auf der Bestattung der Leiche noch am Tage des Todes, wogegen die nichtjüdischen Behörden jetzt aus Angst vor einem Scheintod Verbote erließen. Die jüdischen Aufklärer mit Mendelssohn an ihrer

Varianten des jüdischen

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Spitze identifizierten sich mit dem Verbot, das sich auf angebliche Befunde der medizinischen Wissenschaft berufen konnte. Mendelssohn hat jedoch nicht einfach die von der Wissenschaft desavouierte Tradition verworfen, sondern nachzuweisen versucht, daß die ursprüngliche, in Palästina herrschende Sitte die Gefahr des Scheintodes berücksichtigt hatte. Die zeitgenössische Verfügung der Regierungen, wogegen die Traditionalisten im Namen des religiösen Gewissens ankämpfen wollten, war also im Gegenteil eine Wiederherstellung alt-jüdischer Überlieferung! Sogar bei der schwerwiegendsten Neuerung, die von Mendelssohn empfohlen wurde, nämlich dem Verzicht der Gemeinden auf die Erzwingung des Religionsgesetzes durch den Bann (ein Postulat der aufklärerischen religiösen Toleranz), glaubte Mendelssohn in den biblischen und talmudischen Quellen Stützen gefunden zu haben. In diesem Streben nach autoritativer Rückendeckung ist die Anpassung an die traditionelle Methode nicht zu verkennen, die die Harmonisierung des Gesetzes mit den veränderten Umständen ermöglichte. Auf jeden Fall: wenn es Moses Mendelssohn, der mit seinem nicht-jüdischen Freundeskreis intellektuell wie gesellschaftlich eng verbunden war, gelang, seine innerjüdischen Bestrebungen als aus dem Judentum herkommend zu empfinden und darzustellen, um so mehr kann das bei seinen Schülern und Nachfolgern der Fall gewesen sein. Diese waren nämlich meistens gesellschaftlich und weitgehend auch intellektuell dem jüdischen Bereich verhaftet geblieben. Anregungen mögen sie direkt oder indirekt vom nichtjüdischen Bezirk empfangen haben. Sie mögen auch eine gewisse Vorstellung von nichtjüdischen Aufklärern gehabt haben. Im Grunde erlebten sie ihr Aufgeklärtsein als eine Wendung im Verständnis ihres Judentums und Judeseins. Die Aktiven unter ihnen begriffen sich als eine Avantgarde, berufen, die Idee der Aufklärung in ihrem eigenen Kreis zu verbreiten. Da es sich dabei um eine sich mehrende Gruppe handelt, deren Mitglieder sogar über Ländergrenzen hinaus miteinander in Kontakt kamen, läßt sich durchaus von einer Bewegung reden, die in der jüdischen Geschichtsschreibung den Namen der Haskalah erhielt. Bestimmend für diese Sachlage war die Bezugnahme der Maskilim auf ihre nicht-jüdischen Quellen und Vorbilder. Sie lasen die Bücher der nicht-jüdischen Dichter und Philosophen — Schiller und Kant waren die besonders bevorzugten Autoren —, aber verbanden damit nicht das Streben, in den Kreis der nichtjüdischen Schüler und Verehrer dieser Autoren einzutreten. Das galt gewiß für die Maskilim in Posen oder sogar in Polen, wo kein entsprechender Kreis von nicht-jüdischen Gebildeten vorhanden war. In den deutschen Städten gab es solche, und da fanden sich einzelne und kleine Gruppen von Juden, die einen solchen gesellschaftlichen Anschluß erstrebten. Doch die maßgebenden Maskilim der ersten Generation waren viel zu sehr an die jüdische Lebensform

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gebunden, als daß sie an eine gesellschaftliche Verbindung mit Nichtjuden hätten denken können. Was sie anstrebten, war vielmehr die Verpflanzung eines allgemeinen Ideals vom aufgeklärten Menschen in den jüdischen Bereich. Diese Tendenz ist am klarsten im Lebenswerk von Mendelssohns Freund und Mitarbeiter an dem hebräischen Pentateuchkommentar, Hartwig Wessely, nachzuweisen. Als Dichter empfing Wessely Anregung von Klopstock, den Niederschlag fand dies aber nur in seiner hebräisch geschriebenen Dichtung. Anstöße, die er von nichtjüdischen Sprachforschern erhielt, realisierte er in seiner hebräischen Bibel- und Mischnaexegese. Schließlich erscheint Wessely als pädagogischer Reformator, als er anläßlich des Toleranzpatents von Kaiser Joseph II. dessen Erziehungsprogramm seinen skeptischen Glaubensgenossen mundgerecht machen will. Er postuliert da ein Erziehungsideal, in dem die alle Menschen verbindenden Kenntnisse und Werte wenigstens zeitlich dem speziell Jüdischen vorangehen sollen. Er wollte damit keineswegs eine Angleichung an die nicht-jüdische Umwelt oder gar eine völlige Assimilation empfehlen. Es war eine bereits bei den mittelalterlichen Rationalisten verbreitete Ansicht, daß die auf dem allgemeinen menschlichen Verstand basierenden Wissenszweige ursprünglich jüdischer Besitz gewesen seien. Ihre Wiedereinführung galt also nicht als ein Abrücken vom jüdischen Lebensbezirk oder Kulturbereich. Diese sollten bloß gereinigt und bereichert werden. Die selbstgenügsame jüdische Tendenz der ersten Aufklärungsgeneration ist auch in ihrer Einstellung zur Sprachenfrage bezeugt. Zwar verdrängt das Hochdeutsche das Yiddische, und die Mendelssohn'sche Pentateuchübersetzung ist nur eines der Zeichen dafür, aber das Medium der schriftlich schöpferischen Betätigung bleibt das Hebräische. Der Pflege der Sprache wird jetzt besondere Aufmerksamkeit geschenkt, sie soll von den Auswüchsen und Barbarismen des Rabbinisch-Hebräischen gereinigt und möglichst dem biblischen Modell angenähert werden. In diesem Sprachmedium sollen jetzt nicht nur die für allgemein menschlich gehaltenen Lehren und Wissenszweige dem Publikum vermittelt werden, sondern auch auf das Judentum, seine Geschichte und sein Wesen bezogene literarische Zeugnisse, Gedichte, Erzählungen, Biographien und dergleichen. Diese waren potentielle Bausteine für ein jüdisch-nationales Bewußtsein. In der Tat haben Historiker dieser Epoche von einer nationalen Variante der jüdischen Aufklärung gesprochen, und es lohnt sich, dieser Erscheinung auf den Grund zu gehen. Sie läßt sich als ein Prozeß latenter Säkularisierung begreifen. Wie wir eingangs sahen, war die traditionelle jüdische Gemeinde Trägerin einer ganzen Kultur, die sich während der Vorherrschaft der Religion eben religiös legitimierte. Die rationale Kritik, die von der Aufklärung an der Religion geübt wurde, hat diese Legitimierung auch

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bei denen, die der Religion nicht den Rücken kehrten, wesentlich geschwächt, wenn auch nicht gerade untergraben. Damit ist aber das Bewußtsein der Gruppenzugehörigkeit keineswegs geschwunden. Es waren ja auch andere familiäre und sonstige sozio-ökonomische Motive, die den Gruppenzusammenhalt unterstützten. Diese soziale Kohäsion suchte nun neue Legitimation, und diese wurde in der Pflege angestammter Kulturwerte gefunden. Dieser Vorgang des Überwechseins von der religiösen in die halb-säkuläre, nationale Identifizierung ist in der Geschichte der europäischen Völker wohlbekannt. Angesichts des eben beschriebenen, volksbewußten Charakters der traditionellen jüdischen Gemeinde ist es kein Wunder, daß dieselbe Erscheinung bei ihr zum Vorschein kommt — freilich mit einem sehr bedeutenden Unterschied, daß ihr hier, an dem Ort ihres Auftretens in Westeuropa, nur eine ephemere Dauer beschieden ist. Der Einfluß der aufklärerischen Ideen ist hier über die kulturelle Befruchtung hinaus zum sozialpolitischen Postulat der Emanzipation gelangt. Gemeint war die Einverleibung der Juden in den jeweiligen Staat, die aber eine kulturelle Anpassung an die Umgebung bedingte. Juden ergriffen die angebotene Chance, die ja unvergleichliche existenzielle Vorteile versprach. So begann der Prozeß der Assimilation, und die Ansätze zu einer jüdischnationalen Kultur verkümmerten. An die Stelle des gemäßigten Maskil trat der radikale Aufklärer, der die Tradition in Bausch und Bogen verwarf, oder der religiöse Reformer, der von ihr das zu behalten bereit war, was sich mit seinem neuen Stand als Staatsbürger oder gar als Glied einer neuen nationalen Gemeinschaft zwanglos vereinigen ließ. So wurden die jüdisch-nationalen Elemente ausgeschieden, wurde, ideologisch wenigstens, die Tradition auf ihre religiös-konfessionellen Elemente reduziert. Freilich klafften Ideologie und Wirklichkeit weit auseinander, weil auch nach dem Scheidungsprozeß Gruppenmerkmale genug übrig blieben, die die jüdische Minderheit als ein schier undefinierbares Kuriosum dem oft böswilligen Blick der Nichtjuden aussetzte. Diese Phase der Entwicklung gehört nicht mehr unserem Thema an — wir müssen die Geschichte der Haskalah in Osteuropa verfolgen, wo sie günstigere Bedingungen vorfand. Es sind zwei oder drei Momente, die die Entwicklung hier bestimmen. Erstens handelt es sich hier um Massen, die in fast geschlossenen Siedlungen unverkennbare Träger einer Sonderkultur darstellen. Diese war noch lebendig genug, um kurz vor dem Einbruch der Aufklärung die oben erwähnte hassidische Bewegung hervorzubringen. Einer radikalen Säkularisierung war also hier ein sehr starker Damm entgegengesetzt. Die Hauptsache aber war, daß hier nicht nur der Anreiz zum gesellschaftlichen Anschluß an eine entsprechende nicht-jüdische soziale Schicht fehlte, sondern auch die Aussicht auf politisch-rechtliche

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Gleichstellung seitens der Regierungen den Juden höchstens als Traum vorschwebte. So führte die Judenheit in den ehemaligen polnischen Bezirken, ob sie jetzt zu Rußland oder Österreich gehörten, ein kulturelles Eigenleben. Selbst die, die am stärksten von der Aufklärung ergriffen waren, wurzelten tief in der eigenen Kultur, und — soweit schöpferisch begabt — war ihre Leistung eine Fortbildung dieser Kultur. Das ist am eklatantesten an dem sprachlichen Medium der HaskalahLiteratur erkennbar. Diese entwickelt sich in den zwei Sprachen Hebräisch und Yiddisch und trägt auch sonst eindeutige jüdisch-nationale Züge an sich. Sie ist aufklärerisch, insofern sie von der religiösen Literatur gemiedene Themen aus der Philosophie und Historie und literarische Gattungen wie Gedichte und Romane einführt. Doch selbst da, wo diese literarischen Produkte in gespanntem Verhältnis zum aktuellen jüdischen Leben stehen — und dies ist in der Tat bei den meisten der Fall —, ist dies kein Zeichen wirklicher Entfremdung. Im Gegenteil, im Laufe der fortschreitenden kritischen Beleuchtung der jüdisch-religiösen Gegenwart, kristallisiert sich das Bewußtsein von einem mehr oder weniger säkularisierten Judentum heraus. Religion ist in dieser Konzeption mit Inbegriffen, aber nicht mehr als Oberbegriff und allein regulierendes Prinzip, sondern als ein Bestandteil, wenn man will, sogar als Urgrund der jüdischen Existenz. Trotzdem ist sie jetzt, im Lichte der Aufklärung, dem Begriff der jüdischen Kultur untergeordnet, und die Anteilnahme an dieser wird zum Merkmal der national-jüdischen Zugehörigkeit. Somit ist eben die Grundlage zu einem säkulären oder überreligiösen Nationalismus geschaffen. Diesem Nationalismus fehlt noch jede politische Ausrichtung, aber er dient als Voraussetzung für das Aufkommen der politischen Bestrebungen im Zeitalter des Zionismus. Wir sind damit weit über den uns gesteckten Zeitraum hinaus, und es empfiehlt sich noch einmal, zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren. Wir handelten bis jetzt nur über die Anhänger der Aufklärung. Diese wurde aber, wenn auch in negativem Sinn, auch von deren Gegnern erlebt. Gegner entstanden der Aufklärung, sobald deren Tendenzen an den Tag kamen, also bereits zu Lebzeiten von Mendelssohn und Wessely. Die Pentateuchübersetzung, das Erziehungsprogramm wie die anderen Neuerungen wurden von den konservativ Gesinnten, und zwar nicht nur von Rabbinern, abgelehnt und teilweise heftig bekämpft. Der Widerstand läßt sich auf eine grundsätzliche Gegnerschaft zurückführen. Wie wir sahen, suchten die Aufklärer für ihre Neuerungen autoritative Vorbilder oder Vorläufer im jüdischen Schrifttum, unbekümmert um den Zeitpunkt oder den Standort, welchem diese Praezedenzfälle angehörten. Die Konservativen wollten aber von einer so wahllosen Legitimierung nichts wissen. Sie hielten sich an ihre unmittelbare Tradition und empfanden auch den kleinsten Abbruch von ihr als die

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Gefährdung ihres ganzen Aufbaus. Während die Aufklärer selbst die von der nicht-jüdischen Welt herkommenden Anregungen gerne verschleierten, spürten ihre Gegner sie auf und desavouierten damit die versuchte Legitimierung der Neuerungen. In ihren Augen erschien dies als ein Abfall vom jüdischen Erbgut, ein Vorgang, der zum völligen Abfall vom Judentum führen könnte — eine Befürchtung, die, wie wir wissen, sich bald sehr oft bewahrheitete. Als Reaktion darauf entstand eine Art Neuerungsangst, die zu einer äußerst konservativen Haltung führte. Selbst Bereiche wie Sprache, Kleidung und oft sogar technische Erfindungen, wenn sie dem Hergebrachten zuwiderliefen, waren aufgrund erweiterter religionsgesetzlicher Begriffe verpöhnt. Eine solche Auffassung konnte in den westlichen Ländern dem Strom der Modernisierung nicht standhalten. Wohl aber hatte er eine Chance in Osteuropa wie auch im vorzionistischen Palästina und besonders in den vom Hassidismus beherrschten Gebieten. Diese Kehrseite der Aufklärung ist zusammen mit den Ausläufern der Aufklärung selbst bis auf den heutigen Tag ein bestimmender Faktor im jüdischen Leben geblieben, ein Grund mehr dafür, daß unser Thema den Anspruch auf Aufmerksamkeit erheben darf.

Arno Herzig (Hamburg)

Das Assimilationsproblem aus jüdischer Sicht (1780 - 1880)

Seit dem Hochmittelalter waren die Juden aus der europäischen Gesellschaft herausgedrängt worden. Ihre Position in den frühneuzeitlichen deutschen Staaten wurde bestimmt durch die Institution der Schutzjudenschaft, die nichts anderes bedeutete als die Ausgrenzung aus dem allgemeinen Kultur- und Gewerbeleben der Gesellschaft. Von Interesse für die Landesherren waren sie nur aufgrund ihrer Tributzahlungen, im merkantilistischen Wirtschaftssystem eventuell noch durch ihren Einsatz als Manufakturunternehmer. Gedrängt von dem zünftisch bestimmten Gewerbe und Handel hatten im Laufe des 18. Jahrhunderts die meisten Landesherren, allen voran Preußen, auf der einen Seite die jüdischen Erwerbs- und Handelssparten immer stärker eingeengt, auf der anderen die Tributleistungen jedoch erheblich heraufgesetzt, so daß das Gros der jüdischen Einwohner unter das Existenzminimum geriet und seine Tributleistungen nicht mehr aufbringen konnte. Die Regierungen mußten einsehen, daß das Tributsystem für den Staat nicht mehr effektiv war. Die durch das Tributsystem bedingte Sonderstellung der jüdischen Minderheit ermöglichte dieser jedoch eine weitgehende Autonomie und damit Identität, die selbst von den absolutistisch regierten Staaten nicht in Frage gestellt wurde. Durch die Bestimmung der Solidarhaftung, nicht nur bei Tributzahlungen, sondern auch bei kriminellen Vergehen einzelner Mitglieder, gewann für die meisten Juden diese Autonomie einen Zwangscharakter, von dem man sich gern befreit hätte. Die Problematik dieses jüdischen ,Sonderstatus' wurde der Öffentlichkeit zum ersten Mal in der Aufklärung bewußt. In seiner progressiven Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden forderte 1781 der preußische Kriegs- und Domänenrat Christian von Dohm, im Juden nicht nur den Juden, sondern den Menschen zu sehen. Er verlangte deshalb für sie den Zugang zu allen Berufen, auch den bisher verschlossenen handwerklichen und landwirtschaftlichen. Dohm erwartete dadurch eine allmähliche Anpassung der spezifischen jüdischen Sozialstruktur an die allgemeine. Die von ihm vorgetragenen Verbesserungsvorschläge waren nicht liberal, sondern aufgeklärt absolutistisch: die Entwicklung sollte nicht in das Belieben des einzelnen Juden gestellt

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werden, sondern der Staat sollte den Umerziehungsprozeß in die Hand nehmen und damit eine sittliche Verbesserung der jüdischen Minderheit herbeiführen. Die Schuld an dem Zustand der jüdischen Minderheit schrieb Dohm eindeutig der Gesamtgesellschaft zu, die im Verlauf der verflossenen Jahrhunderte die jüdische Minderheit aus dem Gesamtverband herausgedrängt hatte, indem sie die Erwerbsmöglichkeiten dieser Gruppe fast ausschließlich auf den niederen Handel beschränkte. Er plädierte keineswegs dafür, der jüdischen Gruppe ihre Autonomie zu nehmen, sondern setzte sich sogar dafür ein, den Rabbinern das Ausschließungsrecht für die Gemeindemitglieder zu belassen.1 Dohms historische Reflexionen und seine Vorschläge für die Zukunft bildeten einen ersten Höhepunkt im aufgeklärten Diskurs, der seit den 1750er Jahren den Status der Juden in der Gesamtgesellschaft neu zu bestimmen suchte. 2 Ausgelöst wurde dieser durch die Belletristik, so Gellerts Das Leben der schwedischen Gräfin von G*** (1746) und Lessings Lustspiel Die Juden (1749), die den Juderl nicht mehr als das Zerrbild der Gesellschaft, sondern als moralische Persönlichkeit charakterisiert. Sie stellten sich damit gegen eine Öffentlichkeit, deren Bild vom Juden noch weitgehend durch das von Eisenmenger fixierte Vorurteil geprägt war. Dohm ging es freilich nicht nur um humanitäre Aspekte. Als aufgeklärter Beamter sah er auch, daß das überkommene Tributsystem nicht mehr effektiv war und der soziale und ökonomische Status der Juden sich immer mehr verschlechterte, ohne daß die merkantilistisch bestimmte Wirtschaft davon einen Nutzen haben konnte. Dohms Vorschlag zielte deshalb darauf ab, den Juden im aufgeklärten Wirtschaftssystem den Sonderstatus zu nehmen, sie im Staat allmählich zu gleichberechtigten Wirtschaftsbürgern zu erziehen, ihnen aber ihre Autonomie zu belassen. Es dauerte in Preußen dann freilich noch 30 Jahre, bis Hardenberg 1812 Dohms Vorschlag zu einem Gesetz machte und damit für die nächsten fünfzig Jahre die Entwicklung bestimmte, die die Juden als Wirtschaftsbürger zwar gleichstellte, ihnen aber als politischen Bürgern die in Preußen ohnehin eingeschränkten politischen Rechte eines Untertanen nicht gewähren wollte. Der aufgeklärte Diskurs zur Stellung des Juden in der Gesellschaft 1

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Die Schrift erschien 1781 bei Friedrich Nicolai in Berlin und Stettin; der zweite Teil, in dem Dohm auf die Rezeption einging, ebd. 1783. Beide Teile in: Christian Konrad Wilhelm von Dohm, Uber die börgerliche Verbesserung der Juden. Reprint, Hildesheim/New York 1973. - Siehe: H. Möller, Aufklärung, Judenemanzipation und Staat. Ursprung und Wirkung von Dohms Schrift "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden", In: W. Grab, Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation, Tel-Aviv 1980. S. 119-149. - Die These von der gesellschaftlich bedingten "Verderbtheit der Juden" hatte Dohm bereits 1774 in den Lippischen Intelligenzblättem in seinem Beitrag „Probe einer kurzen Characteristik einiger der berühmtesten Völker Asiens" vertreten (a.a.O., S. 649-654). J. Toury, Die Behandlung jüdischer Problematik in der Tagesliteratur der Aufklärung (bis 1783). In: Jahrbuch d. Inst. f. Dt. Gesch. 5 (1976), S. 13-47, hier S. 20ff.

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Schloß die jüdische Minderheit von diesem Diskurs nicht aus. Auch für sie stellte sich die Frage nach ihrer Rolle in der Gesamtgesellschaft, wobei zunächst der Assimilationsgedanke eine recht untergeordnete Rolle spielte. Expressis verbis taucht dieser Begriff — soweit ich sehe — zum ersten Mal 1808 in der Diskussion um die Gleichstellung der Juden in dem napoleonischen Satellitenstaat Berg auf, als der Innenminister von Nesselrode Gleichstellung und Assimilation gleichsetzte. 3 Für die Vertreter der jüdischen Aufklärung in Deutschland während der 1780er und 1790er Jahre galten andere Leitbegriffe, so der Begriff .Kolonie', der den Autonomiestatus beschreibt,4 femer der Begriff der jüdischen Nation' 5 oder der jüdischen Religion', die für die jüdische Identität stehen. Bedingt durch den Wandel der historischen Gesamtsituation zwischen 1780 und 1880 änderten sich in der öffentlichen Auseinandersetzung die Schwerpunkte und Sichtweisen der Problematik. Dies soll im folgenden aufgezeigt werden an der Diskussion von vier historisch unterschiedlichen Zeitabschnitten während des hier behandelten Jahrhunderts, und zwar: 1. an der Diskussion der späten Aufklärung, vor allem an der Auseinandersetzung um Dohms Schrift von 1781; 2. dann an der Diskussion im Rahmen des Berliner Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden in den 1820er und 1830er Jahren; 3

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Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, hier Reg. Rüsseldorf, Nr. 3843, Bl. 4: Durch das Edikt vom 22.7.1808 war für das Großherzogtum Berg bestimmt worden, „die Juden allmählich in die nämlichen Rechte und Freiheiten zu setzen, deren die übrigen Bewohner des Großherzogthums genießen". Den Versuchen der Unterbehörden, das Wort „allmählich" sehr weit zu interpretieren, hielt der bergische Innenminister Graf von Nesselrode entgegen: in dem Wort „liege deutlich der Vorsatz, sie diesen [d.h. den christlichen Einwohnern. Α. H.], wenn anders nicht hindert, auf einmal zu assimilieren", und nur für den Fall, daß sich etwa — nicht von Seiten des Staats, sondern der Juden selbst — Schwierigkeiten ergeben sollten, allmählich zu verfahren. Der Staat assimilierte sie durch die Generalverordnung vom 22. Juli vorigen Jahres nicht allmählich, sondern von nun an zu allen directen und indirecten Personal- und Reallasten in gleichem Verhältnisse mit den übrigen Unterthanen". Moses Mendelssohn, Manasseh Ben Israel Rettung der Juden. Aus dem Englischen übersetzt. Nebst einer Vorrede. Als ein Anhang zu des Herrn Kriegsraths Dohm Abhandlung: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin und Stettin 1782, S. XXXV. Ebd., S. LH. - J.C.U. [= Moses Wessely]: Anmerkungen zu der Schrift des Herrn Dohm, Über die bürgerliche Verfassung [sie] der Juden. Altona 1782. S. 11. - Naphtali Herz [= Hartwig] Wessely: Worte der Wahrheit und des Friedens an die gesammte jüdische Nation. Vorzüglich an diejenigen, so unter dem Schutz des glorreichen und großmächtigen Kaisers Joseph Π. wohnen. Aus dem Hebräischen. Wien 1782. - Saul Ascher: Bemerkungen über die bürgerliche Verbesserung der Juden, veranlaßt bei der Frage: Soll der Jude Soldat werden? Ohne Oit [Berlin] 1788. S. 30. - [Isaac Alexander]: Auch etwas über der Juden Fähigkeit einer bürgerlichen Verbesserung. In: Neuer deutscher Zuschauer VII (1791). S. 264-295, hier S. 265. - [Chaim Salomon Pappenheimer]: Hartwig Wessely in Berlin. In: Charakteristik edler und merkwürdiger Menschen [...] von F. W. Wolfrath. 2 Bde. Halle 1791-92, 1. Bd. S. 202ff.

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3. ferner an der Diskussion während der Revolution und der darauf einsetzenden Reaktion, das meint die Zeit von 1848 bis 1856; 4. schließlich an der Diskussion im Rahmen des sogenannten Berliner Antisemitismusstreits von 1879. Die Deutung dieses Problems aus jüdischer Sicht artikuliert sich hier nicht als innerjüdischer Diskurs, sondern in der öffentlichen Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der jüdischen Minderheit und dem der Gesamtgesellschaft.6 1. In der Auseinandersetzung der Aufklärungsdebatte verstanden sich die Vertreter der jüdischen Minderheit als Mitglieder der jüdischen Nation. Der Begriff Nation darf hier freilich nicht im Sinne der Französischen Revolution oder der deutschen Romantik gedeutet werden. Nation meint die Identität der jüdischen Minderheit, die durch die eigene Religion, Kultur und Sprache bestimmt wird. Die Gesamtgesellschaft hatte der jüdischen Nation zwar Sonderrechte in einer eigenen Kolonie eingeräumt, darunter auch das Recht der rabbinischen Gerichtsbarkeit, hatte sie aber gleichzeitig von der normalen Entwicklung durch Einschränkungen im Berufsleben und dem Kulturleben abgeschnitten. Die einseitige soziale und ökonomische Entwicklung, zu der es deshalb unter den Juden kam, hatte nach Auffassung der jüdischen Aufklärer zur Rückständigkeit des Judentums gegenüber der allgemeinen Kultur geführt. Die jüdischen Aufklärer der 1780er Jahre waren jedoch davon überzeugt, daß die Aufklärung das Judentum bald auf die Höhe der europäischen Kultur bringen würde. Bereits 1791 glaubte der aufgeklärte Regensburger Rabbiner Isaac Alexander feststellen zu können: „[...] ein flüchtiger Blick auf diese Nazion [zeigt], daß sie gar denen Juden nicht mehr ähnlich sind, die vor fünfzig Jahren lebten; mit jedem Jahrzehend wuchs die Aufklärung unter ihnen, und mit ihr alle Tugenden und Pflichten des moralischen Mannes". 7 Das „Licht der Aufklärung" als „ansteckende Seuche", so deutete man auch im Judentum die Wirkung der Aufklärung. Es kam den jüdischen Aufklärern darauf an, das Judentum gegen den Widerstand der Rabbiner als vernunftgemäße Religion herauszustellen, die mit den Wahrheiten der modernen Philosophie nicht im Widerspruch stand. 8 Als Vernunftreligion bot das Judentum seinen Mitgliedern eine aufgeklärte moralische Basis. In seiner gereinigten Form schloß es die „Liebe zum Vaterland" und die „Nützlichkeit gegenüber dem Staat" 6 7

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J. Toury, Die Behandlung ... (Anm. 2), S. 29ff. I. Alexander (Anm. 5), S. 266; ähnlich auch C. S. Pappenheimer (Anm. 5), 1. Bd., S. 206. - Zu C. S. Pappenheimer siehe: A. Ruiz, Auf dem Wege zur Emanzipation. Der ideologische Werdegang des aufgeklärten „Gelehrten jüdischer Nation" H. S. Pappenheimer (1769-1832) bis zur Französischen Revolution. In: W. Grab, Aufklärung (Anm. 1), S. 183-222. J. Allerhand, Das Judentum in der Aufklärung. Stuttgart-Bad Cannstatt 1980. S. 122.

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nicht aus.9 Dieses Judentum als Vernunftreligion galt es gegen alle orthodoxen Einsprüche zu verteidigen. Für Aufklärer wie Moses Mendelssohn, Moses Wessely und Isaac Alexander war die Beibehaltung des Zeremonialgesetzes nicht problematisch, da „kein Nachtheil für den Staat daraus erwächst" (I. Alexander), problematisch erschien ihnen dagegen die Autonomie der jüdischen Gemeinden, die den Rabbinern ein nicht unbedeutendes Maß an Macht zuwies. In dieser Beziehung stellten sie sich gegen Dohms Forderung.10 Interessant ist dabei die Begründung, die Moses Wessely für die Einschränkung der Autonomie der jüdischen „Kolonie" bietet. Im Gegensatz zu den Franzosen, die ja in Berlin ebenfalls eine „Kolonie" bildeten, entfalle für die jüdische „Kolonie" die Beziehung zu einem modernen Staat, wie im Fall der französischen „Kolonie" zum französischen Staat, der das Recht weiterentwickelt habe, an dem sich die „Kolonie" orientieren könne.11 Die rabbinische Rechtsprechung sei deshalb rückständig, da die Gesetze, die die jüdische Nation aus dem Orient mitgebracht habe, überholt seien. Was die moralisch negativen Erscheinungen der jüdischen Nation betraf, so war man sich unter den jüdischen Aufklärern einig, daß diese auf die Intoleranz, das meinte die Ausschließung der Juden aus der Gesamtgesellschaft, zurückzuführen sei; unterschiedlich beurteilten die jüdischen Aufklärer in der Auseinandersetzung mit Dohm jedoch die. Bedeutung der spezifisch jüdischen Berufsstruktur. Während Moses Mendelssohn den jüdischen Handel unter liberalen Aspekten beurteilte, seine Wichtigkeit für die allgemeine Wirtschaft betonte und deshalb freie Konkurrenz, uneingeschränkte Freiheit und Gleichheit in den Rechten des Kaufs und Verkaufs forderte, 12 lag für Isaac Alexander und auch die anderen jüdischen Autoren, die sich zu Wort meldeten, die moralische Verderbtheit der Juden in ihrem „erniedrigenden Gewerbe" begründet. 13 Die für die Juden zugelassenen Gewerbe hätten diese nicht nur moralisch korrumpiert, sondern auch ökonomisch verarmen lassen. Daher griffen sie zustimmend Dohms Forderung auf, den Juden alle Berufe zu öffnen, um deren sittlichen und bürgerlichen Zustand zu bessern. Zieht man ein Fazit aus all diesen Erörterungen, so stellt sich nach Auffassung der jüdischen Aufklärer in Deutschland das Zusammenleben von jüdischer Minderheit und Gesamtgesellschaft relativ problemlos dar: Die Juden als eigene Nation sollten sich auf der Basis ihrer Vernunftreligion zu moralisch hochstehenden Bürgern und guten 9

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Eingabe der 34 Königsberger Hausväter an den König. In: I. Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812. 2 Bde., Berlin 1912. 2. Bd, S. 91. M. Mendelssohn (Anm. 5), S. XXXHI ff. M. Wessely (Anm. 5), S. 13ff. M. Mendelssohn (Anm. 5), S. XXVII ff. I. Alexander (Anm. 5), S. 277f.; femer C. S. Pappenheimer (Anm. 5), 1. Bd. S. 206.

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Untertanen entwickeln und dem Staat nützlich sein. Sie sollten sich in ihrer Sprache an die Gesamtgesellschaft anpassen. Aus diesem Grund schuf Mendelssohn die deutsche Bibelübersetzung, die gleichsam als Medium zur deutschen Sprache dienen sollte. Der Staat seinerseits sollte den Juden alle bisher verschlossenen Berufe öffnen, damit sie nicht mehr auf das erniedrigende und moralisch korrumpierende Gewerbe des Handels angewiesen seien. Für die jüdischen Aufklärer erübrigte sich als äußerer Akt der Assimilation die Taufe, d.h. die Konversion zum Christentum, da ja das Judentum als Vernunftreligion mit seiner gereinigten Moral dem Christentum nicht nachstand. Mendelssohn konnte deshalb 1769 Lavater gegenüber erklären: Wäre nach diesem vieljährigen Forschen die Entscheidung nicht völlig zum Vortheile meiner Religion ausgefallen, so hätte sie nothwendig durch eine öffentliche Handlung bekannt werden müssen. Ich begreife nicht, was mich an eine, dem Ansehen nach so Uberstrenge, so allgemein verachtete Religion hätte fesseln können, wenn ich nicht im Herzen von ihrer Wahrheit überzeugt wäre. [...] Wäre ich im Herzen nicht von einer anderen überführet, so wäre es die verworfenste Niederträchtigkeit, der innerlichen Überzeugung zum Trotz, die Wahrheit nicht bekennen zu wollen. [...] Ich habe gelesen, verglichen, nachgedacht, und Partey ergriffen. 14

Für seinen Schüler David Friedländer, der am Ausgang der Aufklärungszeit schrieb, galt dieses Verständnis nicht mehr unbedingt. Für ihn stand das Judentum als Vernunftreligion nicht mehr gleichrangig neben dem Christentum, dafür war das Judentum durch seine Zeremonialgesetze zu stark entstellt. 15 Wenn aber das Zeremonialgesetz fiel, so war kein weiter Weg mehr zur Taufe. Stärker als die jüdischen Aufklärer der 1780er und beginnenden 1790er Jahre brachte Friedländer dabei den politischen Aspekt in die Diskussion. Galt für die früheren Aufklärer die Aufhebung aller drückenden Sonderlasten und damit die wirtschaftliche Gleichstellung mit den anderen Untertanen als das zu erstrebende Ziel, so waren für Friedländer die bürgerlichen Rechte, die den Juden versagt blieben, das Entscheidende. Mit dieser Einschätzung des Judentums, das zwar für Friedländer noch Vernunftreligion, aber auch schon säkularisierte Weltanschauung war, bildete er die Verbindung zur nächsten Generation, die das Judentum stärker denn die Aufklärer als kulturellen Faktor bewertete und damit das Verhältnis von jüdischer Minderheit und Gesamtgesellschaft stärker unter dem Aspekt der Akkulturation sah. 16 14 Zitiert nach J. Allerhand (Anm. 8), S. 92. 15 David Fiiedländer, Sendschreiben an Seine Hochwürden Herrn Oberconsistorialrath und Probst Teller zu Berlin von einigen Hausvätern jüdischer Religion, Berlin 1799. Siehe: B. Rippner, David Friedländer und Probst Teller. In: Jubelschrift zum 70. Geburtstag des Professors Dr. Heinrich Graetz. Reprint Hildesheim, New York 1973. S. 162-171. 16 Siehe den Beitrag von J. Katz, Varianten des jüdischen Aufklärungserlebnisses; oben S. 1-9.

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Die jüdischen Intellektuellen, die sich 1821 in Berlin unter der Ägide des Juristen Eduard Gans zu dem Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden zusammenschlossen, bestimmten in ihren Statuten als Vereinszweck: „die Juden durch einen von innen heraus sich entwickelnden Bildungsgang mit dem Zeitalter und den Staaten, in denen sie leben in Harmonie zu setzen".17 Für die Entwicklung auf „lange Sicht hin" forderten sie: „die Errichtung von Schulen, Seminaren, Akademien [und] tätige Beförderung schriftstellerischer und öffentlicher Arbeiten". 18 Die Entwicklung der jüdischen Kultur in der neueren Geschichte schätzten sie dabei recht skeptisch ein, so 1823 Immanuel Wohlwill, einer der Mitbegründer des Culturvereins, in dem programmatischen Aufsatz der neugegründeten Zeitschrift für Wissenschaft des Judentums,19 Die Ursache für die Rückständigkeit der jüdischen Kultur lag nach seiner Auffassung in der „Ausschließung" der Juden vom „öffentlichen Leben". Dadurch seien sie „auf das zurückgedrängt worden, was ihnen von ihren Vätern überliefert worden war". Diese jüdische Kultur, die im Altertum entwickelt worden sei, habe nicht weiter entwickelt werden können, weil ihre Träger, „die Rabbinen bis auf den heutigen Tag in scholastischer Befangenheit verharren"; sie lebten „in stillem Hinbrüten über den Buchstaben entschwundener Jahrhunderte"; doch „im inneren Familienleben der Juden erhielten sich bei alter Sitte und Brauch unvertilgbare Spuren einer edlern Menschennatur und eines fähigen Geistes". 20 Für Wohlwill war das Judentum jedoch nicht nur von „historischem Interesse", denn es lebte noch in einer großen Zahl der „europäischen Menschheit". Durch „das unaufhaltsame Fortschreiten des Geistes" sei „das Grundprinzip des Judentums [...] in einer inneren Gärung begriffen" und bestrebe sich zu einer „dem Zeitgeist gemäßen Gestaltung zu entwickeln". Dies bedeutete aber letztlich die Öffnung der jüdischen Kultur für die europäische. „Die Juden" — so schließt Wohlwill seine Betrachtung — müssen sich wiederum als rüstige Mitarbeiter an dem gemeinsamen Werke der Menschheit bewähren; sie müssen sich und ihr Prinzip auf den Standpunkt der Wissenschaft erheben, denn dies ist der Standpunkt des Europäischen Lebens. Auf diesem Standpunkte muß das Verhältnis der Fremdheit, in welchem die Juden und Judentum bisher zur Außenwelt gestanden — verschwinden.21 17 Zitiert nach H. G. Reissner, Eduard Gans. Ein Leben im Vormärz, Tübingen 1965. S. 63. - Siehe auch Α. A. Greenbaum, The Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden in Jewish Historiography: An Analysis on some Observations. In: M. Fishbane / P. Rohr (Eds.), Texts and Responses. Studies presented to Nahum Glatzer on the occasion of his seventieth birthday by his students. Leiden 1975. S. 173-185. 18 Zitiert nach H. G. Reissner (Anm. 17), S. 63. 19 Immanuel Wolf [= Wohlwill], Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums. In: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums. Berlin 1823. S. 1-24. 20 Ebd., S. 12f.

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Diesen Austausch von jüdischer und europäischer Kultur verglich der jüdische Arzt Alexander Haindorf, seit 1822 Mitglied des Culturvereins, 1827 in einem Schreiben an den westfälischen Oberpräsidenten v. Vincke mit dem naturwissenschaftlichen Prozeß der „Amalgamierung". Es sollte sich bei diesem Prozeß also nicht nur um eine bloße Anpassung handeln, sondern um eine Veränderung mit Hilfe einer zweiten Kraft, der europäischen Kultur. 22 Am Ende dieses Prozesses aber sollten die Juden durch „Bildung ihren Zeitgenossen ganz gleich stehen". Auch für Haindorf lag die Ursache für die Rückständigkeit in der „traurigen Isolierung der Juden von ihren übrigen Mitbürgern" und einer dadurch verhinderten „regeren Teilnahme an Europäischer Cultur und Sitte". Doch diese „Scheidewand, wodurch der Mensch dem Menschen entfremdet", sei durch die Aufklärung „niedergerissen". Die Öffnung der europäischen Kultur für die jüdische Subkultur hatte nach Haindorf „innerhalb 30 Jahren Wunder getan". 23 Hier teilte er den aufgeklärten Optimismus eines Isaac Alexander. Für die Mitglieder des Cultur-Vereins bedeutete Assimilation keineswegs die totale Preisgabe der jüdischen Kultur zugunsten der europäischen bzw. deutschen Kultur. Wenn auch aus ihrer Rückständigkeit durch die Aufklärung befreit, sollte die jüdische Kultur in dem notwendigen Akkulturationsprozeß doch ihre Selbständigkeit bewahren. Kritisch beurteilte man deshalb die Position des Spätaufklärers David Friedländer, der sich dem „Wesentlichen seiner Religion" zwar verpflichtet fühlte, aber in seinem „Streben nach weltlichen Vortheilen, nach den bürgerlichen Rechten, die den Juden versagt seien", zugunsten einer fast totalen Assimilation die Behauptung einer .Jüdischen Kultur" ganz aufgegeben hatte. 24 Heinrich Heine, seit 1822 Mitglied des Vereins, warf 1823 in einem Brief an I. Wohlwill den — wie er es bezeichnet — „Hühneraugenoperateurs (Friedländer u. Co.)" vor, sie hätten den Körper des Judentums von seinem fatalen Hautgeschwür durch Aderlaß zu heilen gesucht und durch ihre Ungeschicklichkeit und spinnwebrige Vernunftsbandagen verbluten lassen. 25 Die Heinesche 21 Ebd., S. 22ff. 22 Staatsarchiv Münster, Oberpräsidium Nr. 2630, Bd 1. - Zur Bedeutung Haindorfs im Hinblick auf den jüdischen AssimilationsprozeB siehe H. J. Schoeps, Alexander Haindorf. Ein früher Vertreter des liberalen Judentums. In: Ders., Ein weites Feld. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1980. S. 147-162. - A. Herzig, Alexander Haindorfs Bedeutung für die Pädagogik in Westfalen. In: Westfälische Forschungen, 23. Bd (1971). S. 57-74. - Die Mitgliederliste des Cultur-Vereins in: H.G. Reissner (Anm. 17), S. 174-189. 23 So Haindorf in A. Haindorf, Vierter Bericht über den Verein zur Errichtung einer SchulAnstalt, worin künftige jüdische Schullehrer ausgebildet und arme und verwaisete Kinder unterrichtet weiden sollen; wie auch zur Beförderung von Handwerken und Künsten unter den Juden. Münster 1830. S. 13ff. 24 B. Rippner (Anm. 15), S. 167. 25 Heinrich Heine, Werke und Briefe in zehn Bänden. Hrsg. v. H. Kaufmann. Bd 8. Berlin (DDR) 1961. S. 63-66, hier S. 64f.

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Metapher kritisiert Friedländers Versuch, die Rückständigkeit der Juden durch den Übertritt zum Christentum beseitigen zu wollen, bzw. das Bestreben der Reformbewegung, dies durch eine Anpassung des Judentums an den Protestantismus zu erreichen. Seine Kritik richtete sich deshalb nicht nur gegen die „Taufbewegung", sondern auch gegen die Reformbewegung, die von anderen Vereinsmitgliedern wie Isaac Auerbach, Lazar Levi Hellwitz, Leopold Zunz, vor allem von den Hamburger Mitgliedern gefördert wurde. Für Heine lag darin eine „Verblendung", eine „Entäußerung aller Kraft", eine „einseitige Negation". Das Wesentliche des Judentums gehe — so meint Heine — durch die Assimilationsbemühungen verloren; das wiege jetzt gerade um so schwerer, als der preußische Staat durch die jüngst erfolgte Einschränkung des Emanzipationsedikts von 1812 alle jüdischen Assimilationsversuche brüsk abweise. Auf der anderen Seite seien die Juden jedoch nicht mehr in der Lage, in totaler Isolation und damit Unterdrückung ihre Identität zu wahren: „Wir haben" — so schreibt er resignierend — „nicht mehr die Kraft, einen Bart zu tragen, zu fasten, zu hassen und aus Haß zu dulden; das ist das Motiv unserer Reformation". 26 Aus der Rückschau heraus — so 1844 in seinen Denkworten für Markus — verurteilte Heine die Ziele des Culturvereins als eine „hochfliegende aber unausführbare Idee, die Rettung einer längst verlorenen Sache zu unternehmen".27 Heines skeptische Haltung von 1823 gegenüber der Reformbewegung spiegelt die Ambivalenz wider, mit der man im Verein die Frage der Religionsausübung anging. Die Generation des Culturvereins konnte in einer als Vernunftreligion verstandenen jüdischen Religion nicht mehr die Basis des modernen Judentums sehen, wie das die Aufklärergeneration tat. Für Eduard Gans traten sich Religion und Vernunft, wenn auch nicht antagonistisch, so doch getrennt gegenüber. In der Diskussion um den Religionsunterricht erklärte er 1821: Wir wollen [...] die Religion auf ihr eigenes [sie] Bezirk zurückrufen und der klaren und reinen Vernunft in ihrem Gebiet die Herrschaft lassen. Insofern ist unser Streben gerade antireligiös [...] Über Gott, Unsterblichkeit usw. gibt einem die Philosophie genügende Auskunft, und nach ihr hat sich jeder seine subjektive Religion zu formen.

Selbst Leopold Zunz, von 1820 bis 1822 Prediger am reformierten Jacobsonschen Tempel in Berlin, sah in der Religion eine Angelegenheit 26 Ebd., S. 64f. Vgl. dazu auch die Kritik des Vereinsmitglieds J. M. Jost, Geschichte des Judentums und seiner Sekten. Leipzig 1859. S. 331. Am 9.12.1823 verbot eine Kabinettsorder den Juden jede „von dem alten Herkommen abweichende Neuerung in Sprache, Ceremonie, Gebeten und Gesängen". Vgl. L. Philippson (Hrsg.), Der Kampf der preußischen Juden für die Sache der Gewissensfreiheit. Magdeburg / Leipzig 18S6.

s. xvm.

27 Heinrich Heine, Werke und Briefe (Anm. 25), Bd 7. Berlin (DDR) 1961. S. 287.

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des Gemüts, die in den Bezirk des Familienlebens gehöre.28 Stellte sich für die Generation von 1823 das Problem der Religion ganz neu, so gab es ein weiteres Problem, das für die Aufklärergeneration noch kaum existierte, das aber durch die historische Entwicklung in der Napoleonischen Epoche zu einem brisanten Thema geworden war, die Frage der jüdischen Nation nämlich. In den sogenannten Befreiungskriegen hatte das in zahlreiche Einzelstaaten aufgeteilte Deutschland eine Welle nationaler Begeisterung erlebt. Doch während in Frankreich der Nationalismus als „Ideologie des aufstrebenden 3. Standes" es der individuellen Entscheidung des einzelnen überließ, sich zur „Grande Nation" zu bekennen, die Nation sich gleichsam als „politische Willensgemeinschaft" konstituierte, war in Mittel- und Osteuropa das Bekenntnis zu der jeweiligen Nation dem Belieben des Individuums versagt. 29 Dagegen wurden Faktoren wie „blutmäßige Abstammung, Sprache und kulturelle Überlieferung" (Heine) als bestimmende Faktoren für die nationale Zugehörigkeit bestimmt. 30 Daß Juden deshalb nicht zur deutschen Nation gehören konnten, das behaupteten zumindest die zeitgenössischen Historiker Rühs und Fries in ihren Abhandlungen der Jahre 1814 bis 1820 und auch noch danach. 31 Im absolutistischen Staat der Aufklärungszeit konnten die Mitglieder der französischen, der jüdischen und der deutschen Nation als Untertanen der preußischen Monarchie nebeneinander leben, die nationalistische Ideologie des deutschen Bürgertums nach den Befreiungskriegen Schloß dieses Nebeneinander aus. Selbst der Liberalismus, der in der bürgerlichen Ideologie ein gewisses Korrektiv zur Xenophobie des Nationalismus bildete, duldete kaum die Existenz nationaler Minderheiten und forderte als Gegenleistung für die bürgerliche Gleichstellung der Juden die Aufgabe der nationalen, ja sogar der kulturellen Identität dieser Gruppe. Noch 1879 vertrat selbst ein Liberaler wie Theodor Mommsen im Berliner Antisemitismusstreit diese Forderung.32 Löste sich das Problem der gemeinsamen Kultur nach Vorstellung der jüdischen Intellektuellen durch die „Amalgamierung" der jüdischen Subkultur mit der europäischen Kultur, so standen sie im Hinblick auf die nationale Zugehörigkeit in einem andauernden Diskussionsprozeß, obgleich im Verein diese Frage nie offiziell diskutiert wurde, es sei denn, man deutet die lang andauernde Debatte um die Auswanderung der 28 H. G. Reissner (Anm. 17), S. 70f.; hier auch das Zitat 29 H. G. Winkler, Der Nationalismus und seine Funktion. In: Ders. (Hrsg.), Nationalismus, Königstein/T. 1978, S. 5-46, hier S. 6f. 30 So H. Heine in seinem Brief vom 23.8.1823 an Moses Moser. In: Werke, Bd 8 (Anm. 25), S. 104-109, hier S. 105. 31 E. Sterling, JudenhaB. Die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland (1815-1850). Frankfurt/M. 1969, S. 105ff. 32 W. Boehlich (Hrsg.), Der Berliner Antisemitismus streit. Frankfurt/M. 1965. S. 224.

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deutschen Juden nach Amerika in diesem Sinne. Amerika bot eine Alternative angesichts der Restriktionen, die für die Juden in Deutschland nach 1815 deutlich spürbar wurden. In der Sitzung am 29.12.1821 interpretierte Immanuel Wohlwill diese Alternative wie folgt: Ein Auswandern der Juden nach Amerika scheint mir allerdings ein höchst wünschenswertes Ereignis: dort ist das Land der Freiheit und der Duldsamkeit, wo auch der Jude nicht als Fremder behandelt wird. Dort beginnt ein neues kräftiges Leben, durch das auch die Wiedergeburt der Juden gefördert werden kann. 33

Der Plan des amerikanischen Juden Mordecai Noah, der in den USA die Gründung eines Judenstaats propagierte, erwies sich als illusionistisch. Die Frage: Jüdische Nation — Deutsche Nation mußte vor Ort entschieden werden, und zwar in der Auseinandersetzung mit den durch Rühs und Fries vertretenen Ausschließungstendenzen. Nationale Zuverlässigkeit — so meinte das spätere Culturvereinsmitglied Eduard Michaelis aus Hamburg schon 1815/16 — haben die deutschen Israeliten „im Krieg gegen Napoleon bewiesen", und dadurch gezeigt, daß sich „Israel nicht mehr isoliert auf europäischem Boden, sondern in europäischer Gesinnung und Gesittung, in deutscher Liebe und Treue, in vaterländischer Sprache, Lebensweise, Wissenschaft und Kunst" betrachte. 34 Drei Jahre nach Michaelis bezog 1819 einer der späteren Wortführer des Culturvereins, Leopold Zunz, in der Frage der nationalen Zugehörigkeit klar Position, indem er in der Schrift Die Organisation der Israeliten in Deutschland kategorisch erklärte: „Der Israelit ist nicht mehr Mitglied einer israelitischen Nation, sondern nur eines israelitischen Glaubens". 35 Die übrigen Mitglieder des Culturvereins gingen freilich nicht so weit, das Judentum auf seinen rein konfessionellen Charakter zu reduzieren. Immanuel Wohlwill hatte in seinem schon zitierten programmatischen Artikel zwar nicht von jüdischer Nation, aber von dem „Judentum" gesprochen, das sich seit mindestens „drei Jahrtausenden bis in unsere Zeit" als „eigenthümliches, selbständiges Ganzes erhalten" habe. .Judentum in seiner umfassendsten Bedeutung" aber meinte für ihn „den Inbegriff der gesamten Verhältnisse, Eigenthümlichkeiten und Leistungen der Juden, in Beziehung auf Religion, Philosophie, Geschichte, Rechtswesen, Litteratur, überhaupt Bürgerleben und alle menschlichen Angelegenheiten."36 Für ihn bedeutete Judentum 33 Zitiert nach H. G. Reissner (Anm. 17), S. 87. 34 E. Kley, Geschichtliche Darstellung der Israelitischen Freischule zu Hamburg. Hamburg 1841, S. 6f. 35 S. 56; als Autor dieser Schrift gilt laut Titel L. L. Hellwitz, der ebenfalls Mitglied des Culturvereins war. Zur Autorschaft von L. Zunz siehe dessen Brief vom 25.6.1819 an S. M. Ehrenberg. A. Herzig, Judentum und Emanzipation in Westfalen. Münster/W. 1973. S. 31f. 36 Wolf (Anm. 19), S. lf.

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also das Ensemble der jüdischen Kulturtradition; die jüdische Kultur, das war ja das Ziel des Vereins, sollte sich der europäischen Kultur öffnen. Eine nationale Abgrenzung zur deutschen Nation vertrat niemand im Verein, auch die Mitglieder nicht, die expressis verbis von jüdischer Nation sprachen. Haindorf, der in seinem Schulprogramm von 1830 als Ziel seiner Pädagogik anstrebte, daß „die Israeliten durch eine höhere Verstandes- und Herzenskultur den Christen hinführo nicht nachstehen", fügte diesem Satz gleichsam als Entschuldigung hinzu: „Ich rede hier nicht als Jude, der von einem kleinlichen Nationalgefühl geblendet, seinem Volke eine politische Wichtigkeit beilegen möchte, welches es in dem Verein der Europäischen Staaten nie gehabt und nie haben kann"; auch für ihn definierte sich das Judentum als kulturelle Tradition, die bis zu diesem Zeitpunkt freilich in „trauriger Isolierung" dahinvegetierte, nun aber „durch eine regere Teilnahme an der europäischen Cultur und Sitte" weiterentwickelt werden sollte. 37 Die jüdische Nation als Kulturnation stand nach Auffassung der Intellektuellen im Culturverein jedoch nicht im Gegensatz zum Staat. Sie sollten — so forderte es L. L. Hellwitz — als „Nation [...] dem Staate wiedergegeben werden, aus dem sie bisher ausgestoßen waren."38 Die Diskussion um den Charakter der jüdischen Nation, die Frage ob nur Konfession oder Kultumation und damit die Frage des Verhältnisses zum Staat bestimmte die Diskussion der jüdischen Intellektuellen bis in die 1840er Jahre, wie die Auseinandersetzung zwischen Ree und Rießer in Hamburg beweist. Während Rießer wie Zunz die These vertrat, daß nur die Religion das unterscheidende Kriterium zwischen Juden und Nichtjuden bilde, gab es für Ree eine „jüdische Nationalität" (er gebraucht diesen Begriff expressis verbis), die gleichsam die Summe der Besonderheiten, die von den Juden im Laufe der Jahrhunderte entwickelt worden waren, ausmachte.39 Gleichgültig ob die einzelnen Autoren das Judentum als Religion oder als Nation im Sinne einer eigenen Kulturgemeinschaft definierten: für alle war entscheidend, daß die Juden in den deutschen Staat, in die deutsche Nation integriert werden sollten, daß sie sich zwar mit der deutschen Kultur amaigamieren, die eigene Kultur jedoch tradieren und nicht verleugnen sollten. Damit blieben sie der Aufklärung verbunden, die das Verhältnis der jüdischen Minderheit zur Gesamtgesellschaft ähnlich vorbehaltlos definiert hatte. Mendelssohns Verdienst, so erklärte Kley 1829 in Hamburg anläßlich der Feier zu dessen 100. Geburtstag, 37 Haindorf (Anm. 23), S. 15. 38 L. L. Hellwitz, Die Verbesserung der sittlichen und bürgerlichen Verhältnisse der Israeliten betr.. Werl 1826. 39 M. Zimmermann, Hamburgischer Patriotismus und deutscher Nationalismus. Die Emanzipation der Juden in Hamburg 1830-1865. Hamburg 1979. S. 11 Off.

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sei es gewesen, den Anfang gemacht zu haben, „die Juden in das Bürgertum des deutschen Vaterlandes einzuverleiben." Seine Leistung — so deutete es Zunz anläßlich desselben Jubiläums — bestehe darin, die Kenntnis der deutschen Sprache bei den Juden gefördert zu haben. Der Gebrauch des sogenannten jüdisch-deutschen Dialekts „sei [deshalb] aus den Schriften der Juden ganz verschwunden". 40 Die Erlernung der deutschen Sprache, das war die eine Forderung der Aufklärung, die die jüdischen Intellektuellen des Culturvereins aufgriffen, um die jüdische Minderheit der Gesamtgesellschaft zu assimilieren. Noch 1844 sieht Ree in der Beseitigung der jüdischen Sprache die grundlegende Voraussetzung für die soziale Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft. 41 Eine Leistung, die immerhin im Entwicklungsabstand von nur einer Generation erbracht worden sei, wie Jost in seiner Geschichte des Judentums (1859) rühmend hervorhebt, was vor allem darin deutlich wird, „daß aus ihrer Mitte sogar recht gute deutsche Dichter erblüheten". 42 Die zweite Bedingung neben der sprachlichen Angleichung, die die Intellektuellen des Culturvereins als Voraussetzung für die Assimilierung mit den Deutschen zu erfüllen bereit waren, bestand in der Akzeptierung des Dohmschen Vorschlags, die jüdische Sozialstruktur an die der Gesamtgesellschaft anzugleichen. Während Dohms aufgeklärte jüdische Zeitgenossen diese Forderung kaum zur Kenntnis genommen hatten, formulierte der Culturverein 1821 als eines seiner langfristigen Ziele: „durch Hinleitung der aufblühenden Generation zu Gewerben, Künsten, Ackerbau und wissenschaftlichen Ausübung, und durch Unterdrückung der einseitigen Neigung zum Handel, sowie durch Umarbeitung des Tons der geselligen Verhältnisse" die angestrebte Harmonie „mit dem Zeitalter und dem Staat" zu erreichen.43 Erst die Generation des Culturvereins verinnerlichte Dohms Forderung der sozialen Anpassung und akzeptierte diese — nicht die Taufe — als das eigentliche „Entréebillet" in die europäische Gesellschaft. Die historische Leistung des nur knapp zwei Jahre existierenden Culturvereins mag nicht sehr groß gewesen sein; die durch ihn in der 40 L. Zunz, Rede u. Moses Mendelssohns hundertjähriger Geburtstag. In: Ders., Gesammelte Schriften. 3 Bde. Reprint Hildesheim / New York 1976. Bd 2, S. 102-112, hier S. 110, S. 112-115, hier S. 113. 41 A. Ree, Die Sprachverhältnisse der heutigen Juden, im Interesse der Gegenwart und mit bes. Rücksicht auf Volkserziehung besprochen. Hamburg 1844, S. 36. - Zu Ree: M. Asendorf, Der Hamburger Pädagoge und Politiker Anton Ríe. Ein Beitrag zum Verhältnis von Emanzipation und Bildung. In: W. Grab (Hrsg.), Jüdische Integration und Identität in Deutschland und Österreich 1848-1918. Tel-Aviv 1984. S. 257-277. 42 J. M. Jost (Anm. 26), S. 342. Die Dichter, die er aufführt, sind heute jedoch weitgehend unbekannt, während er die berühmten jüdischen Autoren seiner Zeit, Heine und Börne, nicht nennt. Zur Bedeutung der Sprache im Assimilationsprozeß siehe P. Freimark, Sprachverhalten und Assimilation. Die Situation der Juden in Norddeutschland in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Saeculum 31 (1980). S. 240-261. 43 H. G. Reissner (Anm. 17), S. 64.

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Folgezeit initiierten pädagogischen und sozialen Institute haben jedoch Erhebliches zur Assimilierung beigetragen. Gemeint sind hier die „Vereine zur Beförderung von Handwerken unter den Juden" sowie die jüdischen Lehrerseminare und Schulen, vor allem in Hamburg, Westfalen und im Rheinland. 44 Auf diese Weise bestand noch am ehesten die Möglichkeit, die Assimilation, wie sie sich die jüdischen Intellektuellen des Culturvereins vorstellten, in der Praxis zu realisieren. Doch muß hier als historisches Fazit festgehalten werden, daß auf diesem Weg zwar die Integration der jüdischen Minderheit in die bürgerliche Gesellschaft gelang, sich Dohms Forderung der Übernahme der tradierten Berufsstruktur durch die Juden aber als überholt erwies, auch wenn sie von den jüdischen Intellektuellen der 1820er Jahre und des Vormärz voll akzeptiert wurde. Die sich allmählich durchsetzende kapitalistische Wirtschaftsstruktur schuf andere ökonomische Bedingungen, als sie für Dohm galten. Die tradierten jüdischen Berufe des tertiären Sektors boten in dem neuen System viel günstigere wirtschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten, als dies die in die Krise geratenen handwerklichen und landwirtschaftlichen Berufe vermochten. Trotz der Bemühungen der jüdischen Intellektuellen kann von der von Dohm geforderten beruflichen Anpassung an die Gesamtgesellschaft auch am Ende des 19. Jahrhunderts nicht die Rede sein. Bemerkenswert ist hierbei jedoch eine gewisse Stagnation in der Entwicklung der Berufsstruktur der jüdischen Minderheit angesichts der sich weiter entwickelnden Industriegesellschaft. Sie verpaßte den Übergang zu den modernen Berufen der Industriegesellschaft und fiel deshalb zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung zurück. 45 Doch greift das über den hier gesetzten Untersuchungszeitraum hinaus. Die generelle Frage, die sich im Zusammenhang mit den Intellektuellen des Culturvereins stellt, ist die: Inwieweit zeigte die allgemeine Assimilierungsdiskussion Wirkung auf die einfache jüdische Bevölkerung? Gibt es Anzeichen, die auch hier auf Assimilierungsversuche hindeuten, die aufzeigen, daß man die alten Formen aufzugeben bereit 44 Ph. Wolfers, Aufruf an alle edeldenkenden Israeliten. In: Mindener Sonntagsblatt SO (16.12.1821) — D. Heilbronn, Erster Bericht über den Verein zur Beförderung von Handwerken unter den Juden. Minden 1826. - [A. Haindorf], Statuten für den Verein zur Beförderung von Handwerken unter den Juden, und zur Errichtung einer Schulanstalt, worin arme und verwaisete Kinder unterrichtet und künftige jüdische Schullehrer gebildet werden sollen. Münster 182S. - Amtsblatt der Kgl. Reg. zu Münster, Nr. 10 (10.3.1827), S. 88f. - A. Herzig, Politische Zielvontellungen jüdischer Intellektueller aus dem Rheinland und aus Westfalen im Vormärz und in der Revolution 1848. In: W. Grab/J. H. Schoeps (Hrsg.), Juden im Vormärz und in der Revolution von 1848. Stuttgart / Bonn 1983, S. 272-311, hier S. 274ff. - L. Zunz, Sendschreiben. Berlin 1823. In: L. Zunz (Anm. 40), Bd 2, S. 221-225. - E. Kley (Anm. 34), S. 24ff. 45 A. Barkai, Sozialgeschichtliche Aspekte der deutschen Judenheit in der Zeit der Industrialisierung. In: Jahrbuch d. Inst. f. Dt Gesch. XI (1982), S. 237-260, hier S. 241f.

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war, um neue Formen anzunehmen, daß man bestrebt war, sich in seinen Lebensformen nicht mehr allzusehr von denen der Gesamtgesellschaft zu unterscheiden? Als Anzeichen für eine solche Bereitschaft kann einmal die sprachliche Assimilierung gewertet werden, zum anderen müssen in diesem Zusammenhang die zahlreichen Bestrebungen in den einzelnen Gemeinden gesehen werden, die darauf abzielten, den jüdischen Gottesdienst in Anlehnung an den protestantischen Gottesdienst zu reformieren. Daß dieser Assimilationsprozeß, auf den hier nicht ausführlich eingegangen werden kann, nicht ohne Konflikte ablief, bewiesen die Auseinandersetzungen in den einzelnen Gemeinden, bei denen sich Reformer und Orthodoxe gegenseitig die Synagoge streitig machten.46 Die orthodoxen Gruppen versuchten dabei ihre „nationale Sonderheit" zu behaupten und stimmten mit den reaktionären Bestrebungen des preußischen Staates überein, der seit 1842 bestrebt war, durch Gesetzgebung den Juden einen „korporativen Status" zu geben, d.h. sie wiederum aus der bürgerlichen Gesellschaft auszugliedern. Dabei gingen die Orthodoxen sogar so weit, auf den Besitz „politischer Rechte", d.h. die bürgerliche Gleichstellung zu verzichten.47 Doch war hier die Position der Orthodoxen nicht einheitlich. Als nicht erfüllbar mußte sich die Hoffnung erweisen, daß man das eine — die bürgerliche Gleichstellung — zwar bekommen, das andere — die nationale Sonderheit — aber behalten konnte, wie das dem Landesrabbiner Sutro von Münster vorschwebte. Während er ersteres durch zahlreiche Eingaben nach Berlin zu befördern versuchte, fühlte er sich auf der anderen Seite mit der reaktionären preußischen Regierung im Kampf gegen den Zeitgeist in Übereinstimmung, „welcher gegenüber dem starren Festhalten an den Buchstaben bestehender Normen, am Gesetz, Gewohnheit und Sitte sich eine Zügellosigkeit" erlaube, „welche in ihrer zersetzenden Dialektik alles in Frage stellt". 48 3. Inwieweit der Assimilationsprozeß der jüdischen Minderheit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland fortgeschritten war, zeigt sich vor allem in der Revolution von 1848/49, die Jacob Toury zurecht als einen „innerjüdischen Wendepunkt" bezeichnet hat. Die Allgemeine Zeitung des Judentums dürfte 1848 die vorherrschende Meinung innerhalb der jüdischen Minderheit repräsentieren, wenn sie schreibt:

46 J. M. Jost (Anm. 26), S. 367ff.; A. Herzig, Judentum (Anm. 35), S. 40ff. 47 J. Toury, Die Revolution von 1848 als inneijüdischer Wendepunkt. In: H. Liebeschütz / A. Paucker (Hrsg.), Das Judentum in der Deutschen Umwelt 1800-1850. Tübingen 1977. S. 358-376, hier S. 363. 48 A. Herzig, Judentum (Anm. 35), S. 43f.

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Wir erkennen unsere Sache fortan als keine andere mehr, sie ist eins mit der Sache des Vaterlandes, sie wird mit dieser siegen oder fallen [...] Wir sind und wollen nur Deutsche sein! Wir haben und wünschen kein anderes Vaterland als das deutsche! Nur dem Glauben nach sind wir Israeliten, in allem übrigen gehören wir aufs innigste dem Staat an, in welchem wir leben!49

Die Reduktion des Judentums auf den konfessionellen Status wurde immer mehr zur .opinio communis' im deutschen Judentum. Selbst die Orthodoxie — so J. Toury — wurde 1848 „hineingerissen in die Bewegung", was sich darin dokumentierte, daß auch sie darauf verzichtete, eine allgemein jüdische Stellung zu den Problemen und Ereignissen zu beziehen, trotz der antijüdischen Ausschreitungen, die in diesem Revolutionsjahr in mehr als 80 Orten nachzuweisen sind.50 Die Folge war — wie Toury zurecht hervorhebt — der weitgehende Verlust einer jüdischen Identität bei gleichzeitiger Identifizierung mit den Deutschen, ein Vorgang, der in der wissenschaftlichen Literatur recht kontrovers diskutiert wird. Um so enttäuschender empfand man infolgedessen das Scheitern der Revolution, den Versuch, nach 1850 in Preußen das Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen. Mochte die Revolution auch zu einem „gruppenmäßig disorganisierten Juden [tum]" geführt haben, wie Toury meint, in der Auseinandersetzung mit den politischen Konservativen, die die bürgerliche Gleichstellung in den 1850er Jahren wieder rückgängig zu machen versuchten, stand man jedoch eng zusammen.51 Hier zeigt sich eine neue Qualität, die das Judentum in der Revolution 1848/49 gewonnen hatte: ein neues Selbstbewußtsein, das sich darin dokumentierte, daß man die Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr als Gnade, sondern als Recht zu sehen und zu behaupten entschlossen war. 52 Dieses neugewonnene Selbstbewußtsein zeigt sich auch in dem „Kampf der preußischen Juden für die Sache der Gewissensfreiheit", so lautet 1856 der Titel einer Sammlung von Eingaben an die Vertreter des preußischen Abgeordnetenhauses, mit denen der Versuch der Konservativen zurückgewiesen werden sollte, aus der Verfassung von 1848 die Gleichstellungsgarantie des Artikels 12 zu streichen. 53 Das Vorgehen der Konservativen interpretierten zahlreiche jüdische Gemeinden als Versuch, sie „als preußische Staatsbürger jüdischen Bekenntnisses" in ihren „heiligsten Rechten" zu verletzen. Sie wiesen vor allem die hier deutlich werdende Tendenz zurück, den „Bekennern des Judentums [...] Moral und Patriotismus" abzusprechen.54 Die neue Identität fand in diesen Eingaben bisweilen bemerkens49 50 51 52

J. Toury (Anm. 47), S. 363. Ebd., S. 364. Ebd., S. 376. R. Rürup, The European Revolutions of 1848 and Jewish Emancipation. In: W. Mosse /A. Paucker / R. Rürup (Eds.), Revolution and Evolution 1848 in German-Jewish History. Tübingen 1981. S. 1-62, hier S. 52. 53 L. Philippson (Hrsg.), Der Kampf (Anm. 26), S. XXXIX ff.

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werte Formulierungen wie „die Juden des Preußentums", „die Israeliten Preußens", „die Preußen mosaischen Bekenntnisses" bzw. „jüdischen Glaubens", sie verstanden sich als Juden der Kirche, aber Preußen dem Staat gegenüber", als „Preußen mit Gut und Blut". Betont wird immer wieder die „aufrichtigste Liebe zu diesem unserem Vaterlande". Einen Loyalitätskonflikt zwischen „dem Glauben der Väter" und „König und Vaterland" war für sie nicht gegeben.55 Inwieweit dieses Aufgehen in der preußischen Gesellschaft sich in den kleinen Städten und Kommunen äußerte, die hier zu Worte kamen, muß in der historischen Feldforschung noch eingehend untersucht werden. Aufschlüsse könnten hier Untersuchungen zur Teilnahme der jüdischen Einwohner am Vereinsleben, vor allem an den Schützenvereinen und ähnlichen Gruppierungen bieten. 56 Die wirtschaftliche und soziale Etablierung der meisten Juden in der Mittelschicht erlaubte kaum eine soziale Isolierung, wie sie vielleicht für die jüdische Oberschicht und die jüdischen Intellektuellen möglich sein mochte. 57 Offen ist auch die Frage, inwieweit die Anpassung der spezifisch jüdischen Lebensform an die der Umwelt betrieben wurde; die Verlegung des Sabbats auf den Sonntag ist nur ein Beispiel dafür. Besaßen die Juden in diesen entscheidenden Jahren zwischen 1850 und 1880 so etwas wie eine „intime Kultur", so daß, wie Henry Wassermann und ähnlich auch Shulamit Volkov behaupten, „ein Jude sein ganzes Leben von der Wiege bis zum Grabe in vornehmlich jüdischer Gesellschaft verbringen" konnte?58 War er, wie Harry Breßlau, in seiner Auseinandersetzung mit Heinrich von Treitschke behauptet, durch die Vorurteile der christlichen Mitbürger darauf angewiesen, sich „auf sich selbst [...] und auf den Verkehr im eigenen Kreise" zu beschränken?59 Oder galt das nur für die Großstädte wie Berlin und Hamburg, wo die jüdischen Einwohner nach Auflösung der alten vorgeschriebenen Wohnquartiere sich neue zusammenhängende Wohnquartiere wählten? 60 Auch für die größeren Städte wie Bamberg z.B., mochte das noch gelten.61 Für die Mittel- und Kleinstädte ist das kaum anzunehmen, da hier zumeist die geschäftliche Notwendigkeit den 54 55 56 57

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59 60 61

Ebd. S. 46. Ebd.! S. 46, 48, 53. 56, 63, 65. 73. A. Herzig, Judentum (Anm. 35), S. 80f. Dafür bieten die von M. Richarz herausgegebenen Lebensläufe interessante Beispiele. M. Richarz (Hrsg.), Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1780-1871. Stuttgart 1976. Sh. Volkov, Selbstgefälligkeit und Selbsthaß: Die deutschen Juden zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1986, S. 1-13, hier S. 6ff. - H. Wassermann, „Was ist des Juden Vaterland?" - Zum Selbstvemändnis der deutschen Juden in der Zeit der Assimilierung. In: ebd., S. 14-29, hier S. 15. in W. Boehlich (Anm. 32), S. 76. S. M. Lowenstein, Jewish Residential Concentration in Post-Emancipation Germany. In: Leo Baeck Institute Year Book XXVIH (1983), S. 471-495. K. H. Místele, Bamberg — Verlorene Heimat der Juden. Bamberg 1986. S. 16f.

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Standort bestimmte. (Was freilich auch dazu führen konnte, daß sich alle jüdischen Ladenbesitzer in der Hauptstraße wiederfanden.) Antworten auf diese Fragen, die für die Assimilierungsproblematik von größter Wichtigkeit sind, müssen von der historischen Forschung noch gefunden werden. 4. Mit der 1870/71 endgültig gewonnenen vollen bürgerlichen Gleichstellung im neuen Deutschen Reich war der Höhepunkt erreicht, und die Peripetie setzte ein. Die nun sehr aggressiv ausgetragenen Antisemitismuskampagnen, die bald die politische Kultur in Deutschland beherrschten, da sie von bedeutenden sozialen Milieus (Bauern, Handwerker, Akademiker) getragen wurden, zwangen die jüdische Minderheit, sich erneut die Identitätsfrage zu stellen. Wie unvorbereitet sie diese Kampagnen trafen, beweist die Argumentation im Berliner Antisemitismusstreit von 1879. Treitschke hatte polemisch von den .jüdischen Mitbürgern" gefordert, sie sollten „endlich Deutsche werden". 62 Aus Graetz' Jüdischer Geschichte interpretierte er den Anspruch der Juden auf eine „Doppel-Nationalität" in Deutschland, was Graetz als „böswillige Imputation" zurückwies.63 Treitschkes Berliner Kollege Harry Breßlau, der dessen polemische Argumentation in nicht-polemischer Form zu widerlegen versuchte, konzedierte, "daß thatsächlich noch heute eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Juden vorhanden ist, [...] welche noch nicht völlig die deutsche Cultur in sich aufgenommen haben." Er macht diese Gruppe vor allem „im Osten Preußens [aus], vereinzelt aber auch in ganz Deutschland, namentlich auf dem platten Lande".64 Auch er ging davon aus, daß diese Relikte sich in einem allmählichen "Amalgamierungsprozeß" verlören, zumal in Preußen erst das Gesetz von 1869 „die letzten Schranken" zur „Emanzipation" beseitigt habe. 65 Weder Heinrich Graetz noch Harry Breßlau nahmen 1879 das Recht zur Existenz einer jüdischen Subkultur oder gar einer „Doppelnationalität" in Anspruch. Wo Relikte einer eigenen Kultur noch vorhanden waren, blieben diese nach ihrer Ansicht durch das Vorurteil der christlichen Umwelt verschuldet. Für den deutschen Juden der 1870er Jahre bildete die jüdische Subkultur nicht mehr — oder besser: noch nicht wieder — ein Konstituens seiner Identität. Das „Ideal des deutschen Juden" — so Robert Weltsch in seinem Essay Die schleichende Krise der jüdischen Identität — wurde bestimmt durch seinen Willen zur unbedingten 62 in W. Boehlich (Anm. 32), S. 8. 63 Ebd., S. 44, S. 51. 64 Ebd., S. 63ff. — Vgl. dazu auch die Lebenserinnerungen von Eduard Silbermann, geb. 1851 in Kolmsdorf/Oberfranken. In: M. Richarz (Anm. 57), S. 160-176, hier S. 163. 65 in W. Boehlich (Anm. 32), S. 65.

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Assi-milation und durch sein unbedingtes deutsches Nationalgefühl. 66 Die Behauptung dieses Ideals gegen die immer stärker um sich greifende Ideologie der völkischen Gemeinschaft wurde zur Basis der jüdischen Identität im deutschen Kaiserreich.

66 in: W.E. Mosse/A. Paucker (Hrsg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland 18901914. Tübingen 1976. S. 689-702, hier S. 693.

Ingrid Belke (Marbach a.N.)

Zur Emanzipation der Juden in Preußen

Als Wilhelm von Humboldt 1809 den Entwurf des preußischen Ministers Friedrich L. von Schroetter zu einer neuen Konstitution für die Juden kritisierte und dessen Erziehungsmodell seine eigene, naturrechtlich orientierte Auffassung gegenüberstellte, „daß nur eine plötzliche Gleichstellung aller Rechte gerecht, politisch und consequent ist", 1 waren bereits fast drei Jahrzehnte mit heftigen Diskussionen über das Für und Wider einer solchen Reform erfolglos vergangen. Humboldts Vorstellungen von einer uneingeschränkten Gleichstellung der Juden setzten sich auch in dem kurzlebigen Edikt von 1812 noch nicht vollständig durch; sie wurden — nach dem Fehlschlagen der Revolution von 1848/49 — erst durch die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes 1869 verwirklicht. Die Fortschritte und Rückschläge der Reformbemühungen in Preußen, ihre weit zurückreichenden politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, die Motive ihrer Fürsprecher, die Maßnahmen ihrer Schrittmacher und die Argumente ihrer Gegner sollen in diesem Beitrag kurz skizziert werden.2 Die Emanzipation der Juden in Deutschland — oder wie es die ersten Reformer adäquater bezeichneten: die bürgerliche Besser- und schließlich Gleichstellung der Juden — ist kein einmaliger, in allen deutschen Staaten gleichzeitig und ohne Einschränkungen erfolgter Akt gewesen wie in Frankreich infolge der Französischen Revolution, sondern ein langwieriger Prozeß, der sich über ein Jahrhundert erstreckte, der nicht geradlinig, sondern mit Rückschlägen und starken Gegenbewegungen 1 2

Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Andreas Himer und Klaus Giel. 2. Aufl. Darmstadt 1969, Bd. IV, S. 96. Grundlegend zum Thema dieses Beitrags: Ismar Freund: Die Emanzipation der Juden in Preußen unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der Juden in Preußen. 2 Bde. Berlin 1912. - Baruch Hagani: L'Emancipation des Juifs. Paris 1928. - Selma Stern: Der preußische Staat und die Juden. Erster Teil: Die Zeit des Großen Kurfürsten und Friedrichs I.; Zweiter Teil: Die Zeit Friedrich Wilhelms I.; Dritter Teil: Die Zeit Friedrichs des Großen (je ein Band Darstellung und Dokumente); Vierter Teil: Gesamtregister. 7 Bde. Tübingen 1962-1975 (= Schriftenreihe Wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Nr. 7, 8, 24 und 32). - Jakob Katz: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft — Jüdische Emanzipation 1770 - 1870. Aus dem Englischen von W. Lötz. Frankfurt a.M. 1986. — Auf detaillierte Literaturangaben muß in einem Übersichtsreferat leider verzichtet werden.

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verlief und nicht identisch war mit dem Prozeß der gesellschaftlichen Emanzipation. Seine Anfänge gehen zurück ins 18., ja ins 17. Jahrhundert, als tiefgreifende wirtschaftliche, technische und politische Veränderungen der industriellen Revolution den Weg bahnten. Nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges 1648 bestand das Heilige Römische Reich Deutscher Nation aus über 250 fürstlichen Territorialstaaten, neben denen noch Reichsritterschaften und Reichsstädte existierten. Die größte Zersplitterung gab es im Westen, Südwesten und späteren Mitteldeutschland. Damals, Ende des 17. Jahrhunderts, begann der Aufstieg der Reichsfürsten, die durch eine straffe zentralistische Verwaltungs- und Wirtschaftspolitik die Schäden des großen Krieges reparieren und ihre Macht ausbauen wollten.3 Das konnten sie nur, wenn sie den Einfluß der Stände — Adel, Geistlichkeit, Bürgertum — zurückdrängten. Keinem Herrscher war der Ausbau des absolutistischen Systems so eindeutig gelungen, wie den Kurfürsten von BrandenburgPreußen, obwohl die Böden karg, die Städte damals noch unbedeutend und das kulturelle Niveau — dem West-Ost-Gefälle entsprechend — relativ niedrig waren. Das Fundament des preußischen Militär- und Beamtenstaates hatte Friedrich Wilhelm I. (1640 - 1688) gelegt, der Große Kurfürst, der nach dem Vorbild vor allem Frankreichs und Hollands die Lehren des Merkantilismus in die Praxis umzusetzen versuchte. Das Ziel dieses staatswirtschaftlichen Systems bestand in dem Bemühen, durch geeignete wirtschafts- und handelspolitische Maßnahmen möglichst große Finanzmittel für Hof, Heer und Verwaltung heranzuschaffen. 4 Aus den zersplitterten Territorien mußte also eine Verwaltungseinheit gebildet werden, die Infrastruktur verbessert, die gewerbliche Produktion gefördert und — nach damaligem Verständnis — der Export gegenüber dem Import gesteigert werden. Zur „Peuplierung" der dünnbesiedelten Gebiete, zur Belebung des Handels und zur Vermehrung von Manufakturen zogen der Große Kurfürst und seine Nachfolger Glaubensflüchtlinge ins Land. Das größte Einwandererkontingent stellten die Hugenotten, die 168S, nach der Aufhebung des Edikts von Nantes, Frankreich verlassen mußten. Mit neuen Manufakturen zur Herstellung von Tuch- und Seidenwaren, von Tapeten und Gobelins, Gold- und Silberdrahtziehereien bzw. -Stickereien und Spiegelglas, mit zahlreichen Strumpfwirkereien, Seifen- und Spielkartenfabriken bereicherten sie Handwerk und Handel in Preußen.5 3 4

Vgl. dazu Selma Stern, Der preußische Staat und die Juden (Anm. 2). 1/1, S. 62ff. Die merkantilistische Wirtschaftspolitik ist vor allem durch ihren bedeutendsten Vertreter in Frankreich, Jean-Baptiste Colbert (1619-1683), bekannt geworden. Als die geeigneten Maßnahmen zur Förderung des nationalen Wohlstandes galten die (geförderte) Einfuhr von Rohstoffen und Ausfuhr von Fertigwaren, die Subvention oder gar Verstaatlichung des Bergbaus und der Manufakturen, die Einschränkung der Zünfte, der Ausbau des Steuerwesens, die Beseitigung regionaler Zollschranken u.a.

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Als Schrittmacher der Modernisierung sollten auch die Juden dienen, denen seit dem Mittelalter der Waren- und Geldhandel als einzige Erwerbsquelle aufgezwungen worden war und die in der streng reglementierten, jeder Innovation abgeneigten Ständegesellschaft — neben einigen anderen Minoritäten, wie den Hussiten und den Protestanten aus Salzburg — die beweglichsten waren. Ganz bewußt wurden sie deshalb von Friedrich Wilhelm I. für seine Ziele eingesetzt: 1. zur Überwindung der mittelalterlichen Wirtschaftsweise; 2. zur Einführung von geld- und kreditwirtschaftlichen Methoden in die noch weitgehend von Eigenproduktion und Naturaltausch bestimmte Wirtschaft; 3. zur Förderung eines freien Handels; 4. zur Schaffung von engeren Wirtschaftsbeziehungen zwischen den zum Teil völlig isolierten Provinzen seines Staatswesens; 5. zur Belebung der Frankfurter Messen; 6. zur Reaktivierung des Handels in Pommern und Westpreußen.6 Mit diesen Zielen im Auge hatte Friedrich Wilhelm I. nicht nur die bereits ansässigen Juden im Fürstentum Halberstadt, im Herzogtum Kleve und in der Grafschaft Mark begünstigt, sondern 1671 auch 50 aus Wien vertriebene Familien aufgenommen und ihnen einen Schutzbrief für 20 Jahre erteilt, durch den ihnen der Verkauf ihrer Waren in offenen Läden, der Besuch der Jahr- und Wochenmärkte, Freizügigkeit und Hausbesitz erlaubt wurden. 7 Innerhalb des Staates waren sie auch vom Leibzoll befreit worden. Außer den indirekten Steuern, wie Zoll und Akzise, denen auch die Nicht-Juden in den Städten unterworfen waren, mußten die Juden jedoch noch besondere Schutzgelder und kleinere Abgaben anläßlich einer Heirat, Erbschaft und beim Tod eines Familienmitgliedes an die kurfürstliche Finanzverwaltung zahlen, die allerdings damals noch vergleichsweise gering waren. Diese Wirtschaftspolitik erregte den erbitterten Widerstand sowohl bei den Landständen, die in einigen Landesteilen unter früheren schwächeren Fürsten das Judenregal usurpiert hatten und die nun durch die energische Politik des Kurfürsten eine wichtige Einnahmequelle verloren, als auch vor allem bei den gewerblichen Ständen, den Handwerkerzünften und den Kaufmannsgilden in den Städten, denen durch die strenge Limitierung von Produktion und Absatz, Einkaufs- und Verkaufspreis, Arbeitszeit und Personal die 5

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Über die belebende Wirkung der französischen .Kolonisten* vgl. Edouard Muret: Geschichte der französischen Kolonie in Brandenburg-Preußen unter besonderer Berücksichtigung der Berliner Gemeinde. Betiin 1885. — Stefi Jersch-Wenzel: Juden und Franzosen in der Wirtschaft des Raumes Berlin/Brandenburg zur Zeit des Merkantilismus. Berlin 1978 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Nr. 23). Vgl. dazu Selma Stem, Der preußische Staat und die Juden (Arnn. 2). 1/1, S. 49. Vgl. das Edikt vom 21. Mai 1671, in: Selma Stem. Der preußische Staat und die Juden (Anm. 2). 1/2, Nr. 12.

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Hände gebunden waren. Sie sahen sich immer mehr mit den jüdischen Konkurrenten konfrontiert, die durch Unterbietung der Festpreise, durch Werbung und Kundenbesuche größere Verkaufserfolge erzielten.8 Hatte der Große Kurfürst zunächst alle „Querelen" der Stände kurz und bündig mit der Erklärung abgewiesen, daß „die Juden mit ihren Handlungen Uns und dem Lande nicht schädlich, sondern vielmehr nutzbar erscheinen", so gab er doch später hier und da ihren Beschwerden nach, auch weil er einsehen mußte, daß sich seine Wirtschaftspolitik nicht so rasch wie erhofft in die Praxis umsetzen ließ.9 Die relativ liberale Politik des Großen Kurfürsten setzte sein Sohn, Friedrich III. (1688 - 1713; 1701 zum „König von Preußen" gekrönt) zunächst überall dort fort, wo sie die Wirtschaftskraft stärkte. Da er jedoch für die prunkvollere Hofhaltung und seine Beteiligung an vielen Kriegen unaufhörlich Geld brauchte, wurden im Zuge einer Verwaltungsreform die Einnahmen und Ausgaben schärfer kontrolliert, Domänen verpachtet, zahlreiche neue Steuern erfunden und schließlich Zoll und Akzise kräftig erhöht. Auch in der Judenpolitik, für die eine eigene Kommission in Berlin eingesetzt wurde, war nur noch der fiskalische Gesichtspunkt maßgebend: Durch höhere Schutzgelder, zusätzliche besondere Abgaben und Strafen und eine genaue Kontrolle ihrer Lebensführung versuchte die Regierung aus ihnen die größtmöglichen Kontributionen herauszupressen. Friedrich III. führte auch den Leibzoll wieder ein, wo dieser durch den Großen Kurfürsten aufgehoben worden war, und schränkte den Hauserwerb ein. Sein Nachfolger, Friedrich Wilhelm I. (1713 - 1740), ganz Praktiker und Realpolitiker, der beste Organisator und sparsamste Verwalter seines Landes, gab dem bisher praktizierten Merkantilismus insofern eine Wendung, als er sich weniger von den Vorbildern des westlichen Auslandes beeinflussen ließ und sich intensiver und konsequent denen zuwandte, die nach seiner Ansicht imstande waren, Macht und Selbständigkeit des Staates zu mehren, nämlich den Besitzern und Pächtern der Domänen und den Begründern von Manufakturen. Erst an letzter Stelle interessierten ihn die „Commerzien". Auch persönlich nahm der streng religiös, calvinistisch aufgewachsene König sowohl den Sekten als auch den Juden gegenüber eine feindselige Haltung ein; bekannt geworden ist die Empfehlung vom 17. Februar 1722 an seinen Nachfolger, die unvergleiteten Juden — d.h. diejenigen ohne Schutzbrief — aus dem Lande zu jagen, denn sie seien die „heuschrecken eines landes" und „Ruiniren die Kristen". 10 Persönliche Abneigung einerseits und Nützlichkeitserwä8

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Über die verschiedenartigen Aufnahmebedingungen und Widerstände, die die Bevölkerung den erfolgreichen .Kolonisten' entgegenbrachte, vgl. das genannte Buch von Stefi Jersch-Wenzel (Anm. 5) und dieselbe: Preußen als Einwanderungsland, in: Preußen — Versuch einer Bilanz (Ausstellungskatalog), Bd. 2 (= Beiträge zu einer politischen Kultur), Berlin 1981. S. 136 - 161. Selma Stern: Der preußische Staat und die Juden (Anm. 2). VI, S. 49.

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gungen andrerseits führten zu widersprüchlichem Verhalten; verallgemeinernd läßt sich jedoch sagen, daß Juden, die eine Manufaktur gründen wollten und konnten, wie David Hirsch 1730 die erste Samt- und Plüschwarenfabrik des Landes, willkommen waren, arme, unvergleitete Juden dagegen des Landes verwiesen wurden. Inzwischen hatte sich jedoch — mehr unabsichtlich, als gewollt — durch den Aufbau einer zentralistischen Verwaltung auch die Situation der Juden verändert. Bisher waren sie nur lose mit dem Staat verknüpft; ihre Schutzbriefe waren für einzelne Personen oder für einzelne Gemeinden ausgestellt; sie wurden als Objekt, als Regal betrachtet, um das der Kurfürst immer wieder mit den Ständen kämpfen mußte. In Berlin unterstanden sie dem Geheimen Etats-Rat, der Zentralbehörde des sich entwickelnden Gesamtstaates, und einer davon abhängigen „Judenkommission"; in den Städten der Mark Brandenburg waren sie dem Magistrat des jeweiligen Ortes, in den Provinzen der Regierung unterstellt. Im Zuge der Reorganisation Preußens wurde der „Geheime Rat" jedoch immer mehr verdrängt von einer Behörde, die sich vom „Geheimen Etats-Rat" absonderte und seit 1713 als „Generalfinanzdirektorium" für die Verwaltung der Domänen, des Münz-, Zoll-, Lizenz-, Bergwerks-, Salz-, Post- und Hüttenwesens zuständig war. Neben ihm entwickelte sich aus alten Kommissariatsbehörden das „Generalkriegskommissariat", das die Aufsicht und Kontrolle über die Akzise, die Zünfte und Commerzien, die Polizei und die Verpflegung, Besoldung und Unterkunft der Truppen innehatte. Sie war als die Zentralbehörde für alle Wirtschaftsfragen die eigentliche Pionierin des Einheitsstaates. Um die Kompetenzstreitigkeiten zwischen diesen Behörden zu beenden, hob der preußische König Friedrich Wilhelm I. durch ein Reglement 1722 beide Behörden auf und übertrug alle Aufgaben einer einzigen Zentralbehörde, dem „General-, Ober-, Finanz-, Kriegs- und Domänendirektorium", abgekürzt: „Generaldirektorium", dem die gesamte innere Verwaltung unterstand und das sich aus fünf Departements zusammensetzte, dem je ein leitender Beamter vorstand. Diesem „Generaldirektorium" wurde nach einigen Übergangsjahren schließlich 1730 — bis zur Emanzipation — das gesamte Judenwesen der preußischen Monarchie durch ein „Generalprivilegium" einheitlich unterstellt. 11 Ausgenommen waren lediglich Justizsachen und das Zeremonialwesen, die weiterhin — bis 1750 — bei der 1708 geschaffenen Judenkommission verblieben.12 Das „Generalprivilegium für alle Juden der Monarchie" vom 29. September 1730 verschlimmerte zwar ihre Lage, unterwarf jedoch erstmals 10 Selma Stem: Der preußische Staat und die Juden (Anm. 2). Π/l. S. 10. 11 Selma Stem: Der preußische Staat und die Juden (Anm. 2). Π/l, S. 16ff. 12 1750 wurde die Judenkommission aufgelöst. Vgl. dazu Selma Stem: Der preußische Staat und die Juden (Anm. 2). ΙΠ/1, S. 16.

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alle Juden in Preußen einem allgemeinen staatlichen Recht und bedeutete damit das Ende des persönlichen Judenschutzes. Aus Finanzobjekten der Krone wurden, wie Selma Stern hervorhob, Steuerzahler des Staates. Das Generalprivilegium dokumentierte den Sieg des absolutistischen Einheitsstaates über den ständischen Territorialstaat; mit ihm wurden auch die politischen Rechte von korporativen Zwischengliedern zwischen dem Monarchen und seinen Untertanen beseitigt. Im allgemeinen wird in der Literatur die verfassungsmäßige und steuerliche Neuordnung für die preußischen Juden als Etappe auf dem Weg zur Eingliederung in den Staat und zur Emanzipation positiv bewertet. 13 Zu fragen ist jedoch, ob diese Neuordnung in Verbindung mit dem sowohl diskriminierenden als auch kreditschädigenden Generalreglement Friedrichs II. von 1750 und dessen willkürlichen Eingriffen in die Wirtschaftspolitik nicht insgesamt die Situation für die Juden verschlechterte. Das Generalreglement von 1750 unterschied bei den bisher vergleiteten Juden die ordentlichen von den außerordentlichen. Nur den ordentlichen Schutzjuden stand nunmehr das Recht zu, ein Kind „anzusetzen"; nur dieses Kind erhielt das Privileg (wenn es ein Vermögen von 1000 Talern besaß). Die anderen Kinder mußten beim Tod des „Ordinarius" das Land verlassen. Die Chance, durch ein Bittgesuch beim Generaldirektorium zu einem Privileg zu kommen, hatten nur die sehr Vermögenden. Erst 1763, nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges, als die Staatskasse wieder einmal leer war, konnten die Juden dem König das Recht abkaufen, durch eine Pauschalzahlung noch ein zweites Kind ansetzen zu dürfen — eben jenes Recht, das er ihnen 1750 weggenommen hatte. 14 Ebenso beschämend war die kollektive Haftbarkeit: Für Delikte einzelner, wie Diebstahl, Bankrott, Hehlerei, haftete die Gesamtjudenschaft des Ortes und war zum Schadensersatz verpflichtet. Unter Friedrich II. (1740-1786) wurden den Juden auch der Hausbesitz und die Ansiedlung auf dem Lande verboten. Auch die Landwirtschaft untersagte man ihnen. Von den Handwerken durften die Juden nur diejenigen treiben, die nicht unter der Aufsicht der Zünfte standen, wie Stempelschneiden, Gläserschleifen, Gold- und Silberstickerei. Selbst ihr Handel wurde eingeschränkt — ganz nach dem Motto Friedrichs: „So viel man die Juden aus dem Comertio halten 13 Vgl. Selma Stern: Der preußische Staat und die Juden (Anm. 2). Π/l, Kap. 2 und Kap. 3, S. 45f. Ebenso Peter Baumgart, Absoluter Staat und Judenemenzipation in Brandenburg-Preußen. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 13/14 (Berlin 1965), S. 73. Im Unterschied zu Selma Stern und P. Baumgait sah Ismar Freund in der Rechtsgeschichte der deutschen Juden von 1671 bis 1750 eine Entwicklung, „die in gerader Linie nach abwärts führt" (Anm. 2, Bd. 1, S. 33). 14 Bei Verwandten von Schutzjuden und bei fremden Juden wurde nur dann eine Ausnahme gemacht, wenn der Betreffende ein Vermögen von 10.000 Talern ins Land brachte. Vgl. dazu das „Revidirte General-Privilegium und Reglement44 vom 17. April 1750, in: Ismar Freund: Die Emanzipation der Juden in Preußen ... (Anm. 2), Bd. 2, S. 22-55, und Selma Stem: Der preußische Staat und die Juden (Anm. 2). M/1, S. 80.

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kann, je besser ist es."15 Handeln durften die Juden mit Luxusartikeln, Edelmetallen, Juwelen und mit all den im einzelnen aufgeführten Artikeln, die den Zünften und Gilden keine Konkurrenz machten. Akzeptiert wurde auch der Handel mit Polen und Rußland, weil nur die Juden Handelsbeziehungen mit diesen Ländern hatten. Unbehindert blieb ebenfalls die Tätigkeit der Geldhändler, Wechsler und Pfandleiher, da es bis in die friderizianische Zeit keine Banken und Börsen in Preußen gab. Gefördert wurde generell die Gründung von Manufakturen. Wenn es um die Erteilung von Privilegien auf diesem Gebiet ging, d.h. um die Schenkung von Grundstücken, von Fabrikhäusern u.a., dann waren christliche und jüdische Kaufleute fast gleichgestellt. Gefördert wurden überhaupt die Wohlhabenden und Erfolgreichen, und Friedrich II. fehlte es da nicht an Ideen, wie man sich an diesen bereichern könnte. So bestimmte er, daß bei Verleihung bestimmter Privilegien und seit 1768 auch bei bestimmten Gelegenheiten, wie anläßlich der Ansetzung eines Kindes, der Hochzeitskonzession für ein Kind, der Betreffende für S00 Taler Porzellan aus der Königlichen Porzellanmanufaktur zu erwerben und im Ausland zu verkaufen habe. Da die Juden die Ware nicht aussuchen durften, erlitten sie dabei häufig beträchtliche Verluste. Nur ein Ressort hatte der König — wie übrigens schon seine Vorgänger — nahezu uneingeschränkt den Juden überlassen, das des Münz„Entrepreneurs". Bei der bunten Vielfalt von territorialen und städtischen Münzen, dem Fehlen eines Leitkurses, dem selbstverständlichen Brauch, den ständigen Geldbedarf durch Münzverschlechterung zu decken, war das Geschäft des Münzpächters riskant und gefahrvoll. Vor allem während des Siebenjährigen Krieges setzte Friedrich II. jüdische Unternehmer ein, die dank ihrer Handelsbeziehungen ins Ausland das notwendige Silber heranschaffen und den ungeheuren Kapitalbedarf durch folgenreiche Finanzoperationen befriedigen mußten. 16 Die steigende Inflation und Verarmung weiter Bevölkerungskreise führten schließlich zu blutigen Unruhen, zu offenem Haß und Spott gegen die Ephraim und Heymann, die wiederum Friedrich II. schließlich Geld anboten, um nur ja dieses Geschäft wieder loszuwerden. Daß übrigens auch bei der Erhöhung der regulären Steuern und Abgaben während des Siebenjährigen 15 Zitiert nach Ismar Elbogen und Eleonore Sterling: Die Geschichte der Juden in Deutschland. Frankfurt am Main 1966, S. 146. - Wenn Friedrich Π. auch großen Wert darauf legte, daß preußische Waren exportiert und Luxuswaren, Edelmetalle, Kaffee und Tee importiert wurden, so betrachtete er doch grundsätzlich die „Commerzien" mit Mißtrauen und favorisierte Landwirtschaft und Manufakturen. Von seinen restriktiven Maßnahmen waren vor allem die kleinen Händler und Hausierer betroffen. 16 Das größte Problem lag in der Beschaffung des Silbers. Da die preußischen Bergwerke durch den Dreißigjährigen Krieg unergiebig geworden waren, mußte man einen Teil des Silbers auf dem Weltmarkt beziehen. Die Folge waren Ausfuhrverbote der einzelnen Staaten, strengste Kontrolle der Transporte und permanenter Preisanstieg des Edelmetalls. Zur preußischen Münzpolitik vgl. Selma Stem: Der preußische Staat und die Juden (Anm. 2). Π/l, S. 106 -122, und ΠΙ/1. S. 227-254.

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Krieges die Juden ganz besonders betroffen waren, versteht sich fast von selbst. Erschwerend zu diesen Belastungen kam unter Friedrich II. noch die vermehrte Einflußnahme des Staates auf die inneren Angelegenheiten der jüdischen Gemeinde, wie bei der Wahl der Ältesten (allerdings häufig genug auf Wunsch der Gemeinde selbst),17 bei der Kontrolle der Einund Ausreisenden, der Einnahmen und Ausgaben, der Vermögensbewegungen u.a. Stellt man also die Vorzüge der Reorganisation den vielen neuen diskriminierenden Regelungen und Willkürakten gegenüber, so scheinen die Juden doch ein fürstliches Regal geblieben zu sein, das Friedrich II. ausnutzte, je nachdem wann und wie er es für seine unterentwickelte, kapitalbedürftige und industriearme Volkswirtschaft als notwendig erachtete — hätte es nicht die preußischen Beamten gegeben. Diese Beamten hatten meistens an den Universitäten in Frankfurt/Oder, Königsberg oder Halle studiert und dort von den Ideen des Naturrechts erfahren. Die Proklamierung der Menschenrechte in Amerika 1776 bestärkte sie noch in ihrem Vorhaben, diese Ideen auch in der Praxis wirksam werden zu lassen. In den Kammern hatten sie einem Departementsrat des Generaldirektoriums in Berlin über Handel-, Manufaktur- und Steuerangelegenheiten der Juden, über Ältesten- und Rabbinerwahlen zu berichten und die Befehle der obersten Behörden an die Judenschaften ihrer Provinz weiterzuleiten. Obwohl man den Kammern eine selbständige Politik gegenüber den Juden untersagt hatte, versuchten sie oft, auf die Politik gegenüber den Juden mehr Einfluß zu nehmen und die königlichen Befehle zu mildern, und das nicht selten mit Erfolg, wie das Votum des Geheimen Finanzrats Manitius von 1745 demonstriert. Wenn es unter den Beamten natürlich auch solche gab, die die restriktive Politik des Königs bejahten, so handelten sie doch im allgemeinen vernünftiger und humaner, ganz im Sinne eines aufgeklärten Wohlfahrtsstaats, als es die feindseligen, ständig klageführenden Stände und die konservativen Magistrate in den Städten verlangten. 18 Dies Verhalten läßt sich erklären: Soweit es die Zeit Friedrichs II. betrifft, stammten die meisten aus altem preußischen» Adel, waren gut ausgebildet und an selbständiges Entscheiden und Handeln gewöhnt. Immer häufiger fühlten sie sich daher in ihrer Ehre gekränkt oder gar in ihrem Gewissen beunruhigt, wenn der König seinen harten Willen durchsetzen 17 Dazu Jakob Katz: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft (Anm. 2), bes. Kap. 3, S. 39ff. 18 Beispiele für vernünftige und verständnisvolle Stellungnahmen gibt es in allen Dokumente-Bänden des mehrfach genannten Werkes von Selma Stem (Anm. 2). Hier sei nur auf zwei Voten hingewiesen, die für die besonnene Haltung einiger Beamter besonders charakteristisch sind, das des General-Fiskals Manitius vom 12. November 1745 (ΠΙ/2, Nr. 45, S. 173-176) und der Bericht von d'Asnières an den König vom 23. März 1765 (Π1/2, Nr. 312, S. 411- 417).

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wollte oder zu willkürlich verfügte. Äußerlich mußten sie sich dann zwar fügen, nicht aber ohne vorher ihren Wunsch nach Mitbestimmung geltend gemacht und den Widerstand geprobt zu haben. Ihr Verständnis für die Juden wuchs durch die Beschäftigung und den nahen Kontakt mit ihnen; kaum jemand sonst — außer den Handelspartnern der Juden — hatte damals so viel Einblick in die von der Umwelt relativ isolierten jüdischen Gemeinden wie diese Beamten, die über sie zu berichten und mit ihnen zu verhandeln hatten. Auch die erste programmatische Veröffentlichung Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden, die 1781 noch vor der Französischen Revolution erschien, stammte aus den preußischen Beamtenkreisen. Ihr Verfasser, der Geheime Archivar und Kriegsrat in preußischen Diensten Christian Wilhelm Dohm, seit 1783 Geheimer Rat, hatte sich als Gelehrter und Herausgeber des „Deutschen Museum" einen Namen gemacht. Zu dem grundlegenden Werk über die Judenemanzipation hat ihn Moses Mendelssohn angeregt, mit dem er befreundet war und den er nach 1783 auch regelmäßig in dem Aufklärerzirkel der Berliner Mittwochsgesellschaft traf. 19 Das Buch gab einer Diskussion Auftrieb, die schon einige Jahre von Schriftstellern, Theologen und Kameralisten über die unhaltbare Situation der Juden geführt worden war, wenn auch meist von einem begrenzten Standpunkt aus. 20 Wie alle Vertreter des Naturrechts ging Dohm von der Grundannahme aus, daß es eine natürliche Gleichheit aller Menschen gebe. Wenn die Juden als religiöse Gemeinschaft „ungeselliger", mittelalterlicher als ihre Umwelt erschienen, wenn sie so auffällig den Handel bevorzugten und häufiger als andere wegen Wucher und Hintergehung angeklagt würden, so sei das auf die politische Verfassung, auf die wirtschaftliche Ausgrenzung und die erniedrigenden Lebensbedingungen zurückzuführen, unter denen sie schon jahrhundertelang litten. Man verwechsle allgemein Ursache und Folge und führe das Resultat dieser Ausschließungs- und Repressionspolitik als Rechtfertigung an. Im Unterschied zu späteren Reformern, die ihre gnädig gewährte Gleichberechtigung ständig mit Erziehungsauflagen verknüpften, betonte Dohm, daß zuerst wir — die nichtjüdische Mehrheit — uns ändern müßten, da die Vorurteile, die wir den Juden jahrhundertelang eingeflößt hätten, stärker wirkten als die Religion. 21 19 Alexander Altmann: Moses Mendelssohn. A Biographical Study. London 1973. S. 654ff.; u. Osegiet Dambacher: Christian Wilhelm von Dohm: Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen aufgeklärten Beamtentums und seiner Refoimbestrebungen am Ausgang des 18. Jahihunderts. Bern, Frankfurt a.M. 1974. (= Europ. Hochschulschriften Reihe ΙΠ, Bd 33). S. 25-28. 20 Erinnert sei hier an G. E. Leasings Schauspiele „Die Juden" (1749) und „Nathan der Weise" (1779), an Ch. F. Gellerts Roman „Leben der schwedischen Gräfin von G***" (1746-1748) und an die Schriften des Kanzleidirektors Heinrich Friedrich Diez, „Apologie der Duldung und Preßfreiheit" (1781) und „Über Juden" (1783). 21 Christian Wilhelm Dohm: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin und Stettin 1781. Nachdmck Hüdesheim - New Yoik 1973, S. 38f.

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Übereinstimmend mit dem Denken der meisten französischen Aufklärer zieht Dohm die Schlußfolgerung: „Jede andre Menschengattung, in dieselben Umstände versetzt, würde sich sicher eben derselben Vergehungen schuldig machen".22 Dohms Reform Vorschläge atmen den Geist eines Montesquieu und Rousseau, Turgot und Adam Smith: Man schaffe alle Ausnahmegesetze ohne Verzögerung und ohne einschränkende Bedingungen ab, gebe den Juden freie Wahl des Aufenthaltes und des Berufes, befreie sie von den drückenden Sondersteuem und Abgaben, befreie sie aus ihren Ghetti und Ansiedlungsrayons im Osten, ermuntere sie vielleicht zur Landwirtschaft und zu den — bis dahin unzugänglichen — Handwerken, und man werde sehen, wie schnell sie sich zu anhänglichen und religiös weniger beharrlichen Staatsbürgern entwickeln. Selbst die für Preußen so wichtige Frage, ob religiös lebende Juden denn der Pflicht zum Militärdienst nachkommen könnten, beantwortete er mühelos mit dem Hinweis auf die Juden der Antike, die an den Kriegszügen der Makedonen und Römer teilnahmen. Die religiöse Autonomie wollte Dohm — im Unterschied übrigens zu Moses Mendelssohn — erhalten wissen.23 Natürlich konnte er sich als aufgeklärter Deist nicht für das Festhalten an religiöser Tradition erwärmen; aber einmal setzte er sich für das Prinzip der Toleranz ein und wollte auch anderen Minderheiten die Gestaltung ihres religiösen Lebens selbst überlassen, nicht ohne die uneigennützige Hoffnung, daß „bei der größten Mannigfaltigkeit der religiösen Gesellschaften [...] von den Vorurtheilen jeder für den Staat am wenigsten zu besorgen" sei. 24 Zum andern dachte er in den Kategorien der historischen Entwicklung: Auch die Christen hätten, zunächst isoliert und verfolgt von der Außenwelt, eine gleichsam puristische Phase mit einem streng religiös geregelten Leben durchlebt und hätten den Kriegsdienst und die Todesstrafe aus ethisch-religiösen Gründen abgelehnt. Inzwischen hätten sie diese radikalen, unbürgerlichen Elemente ihrer Religion im Interesse des Staatswohls abgelegt. Auf das Staatswohl konzentrierte sich Dohms Hauptinteresse. Als überzeugter Verfechter des Merkantilismus und als Gegner der Physiokraten, die im Grund und Boden die einzige Quelle des Reichtums sahen, trat er für einen starken Staat ein, der durch Subvention der Rohstoffimporte, den Ausbau von Verkehrswegen, durch die Förderung bzw. Übernahme von Manufakturen, den Ausbau des Steuerwesens aktive Wirtschaftspolitik treibt. 25 Voraussetzung für die intendierte 22 Christian Wilhelm Dohm: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden (Anm. 21), S. 35. 23 Vgl. dazu Alexander Altmann: Moses Mendelssohn (Anm. 19), S. 449. Auch Jacob Katz: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft (Anm. 2), S. 74ff. 24 Christian Wilhelm Dohm: Ueber die bürgerliche Veibesserung der Juden (Anm. 21), S. 87. 25 Zu Dohms Kritik an den Physiokraten und über seinen Standpunkt in der damaligen

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Produktionssteigerung war jedoch eine schnelle Zunahme der Bevölkerung, weshalb nach den hohen Kriegsverlusten im 17. Jahrhundert die Einwanderung von ausländischen Fachkräften auch allgemein gefördert wurde. Für die Merkantilisten lag der eigentliche Reichtum des Landes in seiner Bevölkerung. Weshalb, argumentierte daher Dohm gleich zu Beginn seiner Schrift, holen wir Fremde ins Land, wenn wir eine große Gruppe von klugen und kenntnisreichen Menschen bereits im Lande haben, nämlich die Juden, die glücklich und dankbar wären, wenn man sie von Abgaben, Berufsverboten und anderen Einschränkungen befreite und ihre innovatorischen Fähigkeiten im Staatsinteresse förderte. Die Schrift von Dohm hatte — neben den Voten von Mirabeau und Grégoire — starke Wirkung auf die französische Nationalversammlung, die 1791 die Emanzipation aller französischen Juden beschloß. Frankreich war das erste europäische Land, das die uneingeschränkte bürgerliche Gleichberechtigung für alle Juden erklärte; später wurden die Bürgerrechte auch auf die besetzten linksrheinischen Gebiete ausgedehnt. Aus den deutschen Territorien kamen viele zustimmende Stimmen zu Dohms Forderungen, auch die preußischen Behörden räumten ein, daß die Lage der Juden als unerträglich empfunden werde und daß dadurch wertvolle Kräfte ungenutzt blieben. 1787 wurde eine JudenReform-Kommission eingesetzt, die zusammen mit den Behörden und in Beratung mit den Judenältesten ein neues Reglement ausarbeiten sollte. Aber außer zwei kleinen Zugeständnissen, die die demütigende solidarische Haftung für Diebstahl und Hehlerei (1792 und 1801) betrafen, ist aus den ständig neuen „Gutachten für die Reform des Judenwesens" nichts herausgekommen. Um 1803 schließlich erreichten die Wirkungen der Französischen Revolution auch Preußen, das sich als Vorkämpfer des Legitimitätsprinzips bisher erfolgreich gegen die Proklamation der Menschenrechte gewehrt hatte. Eine Flut von Schriften und Artikeln entfachte eine so leidenschaftliche Polemik gegen und für die Juden, daß die preußischen Behörden die laufenden Reformdiskussionen vertagten, da sie „dem jetzigen Geist der Zeit" abträglich seien.26 Daß die Situation mit jedem weiteren ungenutzten Jahr ungünstiger wurde, hatte seine Ursache in der Rückständigkeit der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse. Während in den westlichen theoretischen Auseinandersetzung vgl. Mordché Wolf Rappaport: Chr. W. Dohm. Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie. Phil. Diss. Bern. Borna-Leipzig 1907. 26 Vgl. dazu Ismar Freund: Die Emanzipation der Juden in Preußen (Anm. 2), S. 86ff., und das folgende Kapitel „Der Schriftenkampf von 1803/5 und seine Rückwirkung auf die Politik" (S. 89 - 100). Ausgelöst hatte diesen ersten öffentlichen „Antisemitismus streit" der preußische Kriminalrat beim Kammergericht, Christian Ludwig Paalzow: De civitate Judaeorum. Lieber den Juden-Staat oder über die bürgerlichen Rechte der Juden (Berlin 1803), das auch Kail Wilhelm Friedrich Granenauer zu seinen Schmähschriften ermutigte.

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Ländern, allen voran England, die Umwandlung von der feudalen in die moderne Industriegesellschaft früher begonnen und sich langsam entwickelt hatte und ein selbstbewußtes Bürgertum Rechte, Einfluß und freie Entwicklung für sich beanspruchte, empfand in Deutschland der größere Teil der Bevölkerung den raschen sozialen Wandel zu Beginn des 19. Jahrhunderts als bedrohlich. So gerieten die Bauern, die ohnehin durch Abgaben und durch Einquartierung, Rekrutierung und Verwüstungen während der Koalitionskriege die Hauptleidtragenden gewesen waren, 1807 durch die Bauernbefreiung in große wirtschaftliche Not, da sie meist nicht imstande waren, den ihnen nach der Entschädigung verbleibenden Boden gewinnbringend zu bebauen. Viele verarmten, gingen als Tagelöhner in die Städte oder wanderten aus. Die Großgrundbesitzer konnten dagegen ihren Landbesitz weiter vergrößern und rationell bewirtschaften. Schlechter ging es dem Kleinadel, der vor allem unter den sinkenden Getreidepreisen in den zwanziger Jahren litt. Zahlreiche Rittergüter sind damals zu Spottpreisen — übrigens oft unter Vermittlung von jüdischen Maklern — an reiche Bürger verkauft worden. Bedroht fühlten sich in höchstem Maße die kleinen Handwerker, die durch die Beseitigung des Zunftzwangs neue Konkurrenz erhielten und sich — bis auf die Zeit der Kontinentalsperre — mit dem Import billiger englischer Fabrikerzeugnisse konfrontiert sahen. Ihr traditionelles Denken hinderte sie an der Anpassung; stattdessen erschwerten sie den Handwerksgesellen und Lehrlingen den beruflichen Aufstieg. Diese wurden in Scharen arbeitslos und suchten eine neue Existenz in den Städten. Bauern und Handwerksgesellen, die schon vor der Verabschiedung der ersten preußischen Reformen den Aufstand geprobt hatten, weckten vor allem im Adel und im Bürgertum Angst, daß auch in Deutschland eine Revolution ausbrechen könnte, wenn nicht rechtzeitig revolutionären Ideen und Aktionen Einhalt geboten werde. Diese Angst bestimmte die Politik der Folgezeit. Auch die Initiatoren der preußischen Reformen, die bis auf einige soziale Aufsteiger aus den traditionell führenden Gesellschaftsschichten kamen, aber nicht mehr mit dem Adel identisch waren, sondern als Angehörige der höheren Bürokratie eine eigene soziale Schicht gebildet hatten, waren sich der Gefahr bewußt, daß bei einer revolutionären Erhebung ihre Existenz am meisten bedroht gewesen wäre. 2 7 Durch Preisgabe nicht mehr haltbarer Positionen und vorsichtige Reformen versuchten sie — bis 1822, als ihren Bestrebungen ein Ende gesetzt wurde — die sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen umzugestalten, d.h. die Wirtschaftsstrukturen zu reformieren, Privilegien und Exemtionen in der politischen Partizipation, im Steuer27 Vgl. Barbara Vogel (Hrsg.): Preußische Reformen 1807 - 1820. Königstein 1980 (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek 96 / Geschichte), bes. Barbara Vogel: Einleitung, S. 1-27, und John R. Gilles: Aristokratie und Bürokratie im Preußen des 19. Jahrhunderts, S. 188 - 206.

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recht, in der Gerichtsbarkeit abzubauen und zwischen den Wirtschaftssubjekten eine annähernde Rechtsgleichheit herzustellen. Ein erster Schritt auf diesem Weg war die Städteordnung des Freiherrn vom Stein von 1808, die das aktive und passive Bürgerrecht in den Städten vom Religionsbekenntnis unabhängig machte; allerdings wurde es nur von einer bestimmten Einkommenshöhe an gewährt. Auf diese Weise sind bereits vor Verkündigung des Emanzipationsedikts 1812 einige wohlhabende Juden als Stadtverordnete gewählt worden. Das Bündel der nach ihren Hauptinitiatoren benannten Stein-Hardenbergschen Reformen blieb unzulänglich; die Schwächen des hier besonders interessierenden „Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate" sind folgende: 1. handelte es sich um eine Gleichstellung mit Einschränkungen. Es werden ausdrücklich all die Juden ausgenommen, die keine Schutzbriefe, Konzessionen, Naturalisationspatente usw. besaßen; jeweils eingeschlossen sind allerdings die dazugehörigen Familien. 2. die auf privatrechtlichem und wirtschaftlichem Gebiet gleichgestellten Juden erhielten keinen unbeschränkten Zugang zu öffentlichen Ämtern: Während ihnen Lehr- und Gemeindeämter freigegeben wurden, blieben ihnen — bezeichnend für die Initiatoren bzw. deren Gegner — Justiz, Verwaltung und Offizierskorps verschlossen. Wilhelm von Humboldts Vorstellungen, die weitaus radikaler waren, haben sich nicht durchgesetzt. In seinen Korrekturvorschlägen betonte Humboldt, daß der Staat keine „Erziehungsanstalt, sondern ein Rechtsinstitut ist", und erklärt: „Wenn man gegen die plötzliche Gleichstellung zu furchtsam ist, so scheint man mir bei der allmählichen, welche die doppelte Gefahr des alten und des neuen Zustandes zugleich bestehen läßt, indem man sie sich beide zu vermindern einbildet, in der That zu kühn." 28 Was er meinte, wird sofort klar, wenn man die betreffenden Paragraphen der Verfassung der Paulskirche von 1849 zum Vergleich heranzieht: Der große Unterschied macht deutlich, daß gerade die ausführlichen, umschweifigen Ediktserklärungen mit den verschiedenen Bedingungen und Auflagen nur oberflächlich kaschieren, daß es immer noch zweierlei Bürger gab. Rückblickend, mit der besseren Einsicht in die Defizite der Reformpolitik, muß man feststellen, 1. daß sich in den Einschränkungen die Rücksicht auf die alte Oberschicht spiegelt, die weiterhin ihren Widerstand geltend machen konnte; 2. daß sozialpolitische Strategien, „flankierende Maßnahmen", notwendig gewesen wären, die die negativen Folgen der politischen und 28 Wilhelm von Humboldt: Ober den Entwurf zu einer neuen Konstitution für die Juden, in: Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden (Anm. 1), S. 102. - Das Edikt von 1812 ist abgedruckt in: Ismar Freund: Die Emanzipation der Juden in Preußen (Anm. 2), Bd. 2 (Urkunden), S. 455 - 459.

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wirtschaftlichen Umstrukturierung abgebremst hatten, wie zum Beispiel Möglichkeiten der Weiterbildung und Umschulung für arbeitslose Handwerker, deren soziale Kritik und deren Antisemitismus ohne solche Maßnahmen auf fruchtbaren Boden fielen; 3. fehlte dieser „Revolution von oben" die parlamentarische Rückendeckung: Die politische Modernisierung war ausgeblieben. Durch die starke Einflußnahme der Bürokratie, der einzig wirksamen Kraft, entstand zwischen Staat und Gesellschaft eine Kluft, die für die Zukunft nicht ohne Folgen war. Die diffuse, politisch noch kaum organisierte Gesellschaft schuf sich für ihre Opposition ein Ventil in antisemitischen Zerstörungen, in Pamphleten und Selbstjustiz. Die Juden, die von ihren alten Handelserfahrungen profitierten und sich bereitwillig die neuen Ausbildungsmöglichkeiten erschlossen und vielfach zu den Nutznießern der wirtschaftlichen Umstrukturierung gehörten, wurden nun schlechthin zur Symbolfigur des Liberalismus, den die Mehrheit ablehnte. Statt die Ursachen und Folgen der politischen und wirtschaftlichen Strukturkrise offen in einem demokratisch gewählten Parlament zu analysieren und Strategien zur Überwindung zu diskutieren, überließ man es einzelnen konservativen Wortführern, die aktuellen Nöte mit Hilfe von nebulösen, organizistischen, antidemokratischen und antisemitischen Vorstellungen umzudeuten und zu erklären. So hat der Marburger Politikprofessor Karl Vollgraff den Gegensatz zwischen Liberalismus, Demokratie einerseits und dem damals entdeckten „Völkischen" andererseits durch eine Skala von Attributen demonstriert: Dem „volkstümlich germanischen Prinzip" stand das „asiatisch demokratische" gegenüber, das „künstliche" dem „konkret natürlichen". 29 Liest man Ernst Moritz Arndt oder den Göttinger Philosophieprofessor Jakob Fries, klingt das nicht selten wie eine Vorwegnahme nationalsozialistischer Propaganda: Wie alles Jüdische sei das liberale Prinzip „tot, leer und abstrakt", das Völkische dagegen „lebendig", „naturwüchsig" und — mit der politischen Variante — „germanisch", „historisch", „konkret", „natürlich". 30 Man kennt diese Schlagwörter auch aus den Diskussionen der Historischen Schule, die in erster Linie gegen das Naturrechtsdenken der Aufklärung gerichtet waren. 31 Selbst rassistische Vorstellungen tauchten, übrigens schon Ende des 18. Jahrhunderts, auf und verbanden sich bei den Verfassern antisemitischer Pamphlete mit dem alten Vorurteil gegen den Handel und neuen antikapitalistischen 29 Eleonore Stelling: Er ist wie du. Aus der Frühgeschichte des Antisemitismus in Deutschland 1815 - 1850. München 1956, S. 122f. 30 Karl Vollgraff: Die Systeme der praktischen Politik im Abendlande. Erster Theil: ökumenische Politik oder Allgemeine Einleitung und Aufstellung der Grundbedingungen zum Staatsleben überhaupt. Glessen 1828, S. 82ff. 31 Vgl. Erich Rothacker: Einleitung in die Geistes Wissenschaften. Nachdruck der 2. Auflage (Tübingen 1930), Darmstadt 1972, bes. S. 45f.

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Ressentiments. Die Vorstellung von einer „deutschen oder germanischen Rasse" bzw. einer „semitischen Rasse" wurde übrigens nicht von den damaligen Physiologen entwickelt, wie man vermuten möchte, sondern von Philologen, Historikern, Psychologen und Politikern. Die Diffamierungen reichen vom brutalen Vergleich des Juden mit dem Orang Utan 32 bis hin zur Forderung von Fries, daß „diese Kaste [der Juden] mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden solle" 33 oder zu dem Programm von Fichte, das eine traurige Berühmtheit erlangt hat: „Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein ander Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schicken."34 Mir scheint daher, daß Reinhard Rürups Unterscheidung zwischen der alten, religiös-sozial bestimmten Judenfeindschaft vor 1870/80 und dem modernen, sogenannten „postemanzipatorischen" Antisemitismus zeitlich eher noch weiter zurückverlegt werden sollte, eben in die Zeit, als ernsthafte Reformer unter dem Eindruck der Französischen Revolution auf Veränderungen drängten und der Antisemitismus militanter, „politischer" wurde. 35 Es existierten zwar damals noch keine politischen Parteien, die den Antisemitismus hätten tragen und fördern können — da liegt ein organisatorischer Unterschied, aber es gibt kaum eine judenfeindliche Argumentation, die nicht schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgetaucht wäre. Dabei existieren die alten religiösen Vorwürfe und Angstvisionen fort, wie zum Beispiel die der „großen 32 Kail Wilhelm Friedrich Grattenauen Über die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden. Leipzig 1791. S. 26, S. 48 („[...] eher will ich einen Mohren bleichen, als einen Juden überzeugen, daß [...] seine Moral elend und nichtswürdig sey [...]"). In seiner Erklärung an das Publikum über meine Schrift: Wider die Juden (Berlin 1803) spricht Grattenauer wiederholt von der physischen Antipathie, die er gegen die Juden empfinde, über die „eigenthiimliche, besondere Art von Gestank", die von dem „orientalischen Fremdlingsvolke" ausgehe (S. 16, S. 18, S. 36 et passim). 33 Jakob Friedrich Fries: Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden. Heidelberg 1816. S. 18ff. 34 Johann Gottlieb Fichte: Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution (1793). Hrsg. von Richard Schottky. Hamburg 1973 (= Philosophische Bibliothek Bd. 282). S. 115. - Die antisemitische Passage erregte um so größeres Aufsehen, als sie im Zusammenhang einer Schrift steht, in der Fichte sich für das Recht auf Revolution zur Errichtung eines naturrechtlich begründeten Verfassungsstaats ausspricht. Über den potentiellen Zusammenhang von Revolution und Antisemitismus in Deutschland schreibt auch Heinrich Heine in seinem Brief vom 2. Februar 1823 an den zukünftigen Schwager Moritz Embden (diesen Hinweis verdanke ich Prof. Dr. Walter Grab, Tel-Aviv). 35 Reinhard Rürop: Emanzipation und Antisemitismus. Göttingen 1975. Bes. S. 103ff. Der Begriff Antisemitismus stammt allerdings, wie Rürop mit Recht hervorhebt, erst aus den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, wahrscheinlich von Wilhelm Marr. Vgl. besonders den Artikel „Antisemitismus" von Thomas Nipperdey und Reinhard Rürop, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 19742. S. 137ff.

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Judenverschwörung", die angeblich die christliche Kirche und den christlichen Staat ersticken will. Aber diese Vorstellungen drückten schon damals weniger religiöse Beunruhigung über die Selbstbehauptung der „Mutter-Religion" des Christentums aus als vielmehr sozialen Neid, soziale Aggressionen, Existenzangst und Schuldgefühle, die auf die Juden projiziert wurden. Man griff nach den alten religiösen judenfeindlichen Topoi, um sie unter dem Druck der Wirtschaftskrise mit neuen aktuellen Inhalten zu füllen, und das um so bereitwilliger, als auch diese alten Vorwürfe schon aus den Projektionen der eigenen Inferiorität entstanden waren. Die Geschichte des Antisemitismus ist auch eine Geschichte der Projektionen und Verdrängungen, und mir scheint, daß die ersten psychoanalytischen Analysen dieses Kollektivphänomens von Mitscherlich, Hochheimer und anderen zu Beginn der 60er Jahre immer noch fruchtbare Anregungen zu einer selbstkritischen Analyse der deutschen Geistesgeschichte enthalten.36 Wer waren nun damals, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die Träger des Antisemitismus? In den Pamphleten selbst werden sie nicht vollständig genannt. So heißt es bei Fries: „Fragt doch einmal Mann vor Mann herum, ob nicht jeder Bauer, jeder Bürger sie als Volksverderber und Broddiebe hasst und verflucht. Nur ihre Söldner und einige Stubengelehrte, die das Leben nicht kennen, können dagegen reden."37 Richtig ist, daß Bauer und Bürger in ihrer prekären wirtschaftlichen Situation leicht gegen Juden aufgewiegelt werden konnten, da die Bauern ohne Kredit von Juden oft nicht existieren konnten, Handwerker und Kaufleute in ihren erfolgreicheren Konkurrenten zuerst die Juden auszumachen glaubten. Die „Stubengelehrten" führten jedoch kein so harmlosbeschauliches Leben, wie ausgerechnet der Göttinger Philosophieprofessor Jakob Friedrich Fries, wegen seiner Teilnahme am Wartburgfest 1817 zwangsemiritiert, uns hier weismachen will. Der Kant-Schüler Johann Gottlieb Fichte, der den Juden die Köpfe auswechseln wollte, war zur Zeit dieser Äußerungen Philosophieprofessor in Jena. In Marburg trieb der antisemitische Politikprofessor Karl Vollgraff sein Unwesen. Besonderes Aufsehen und zahllose Repliken erhielt Friedrich Ruehs, Professor der Geschichte in Berlin; Ruehs hatte kräftigen Anteil an der Bewegung von christlich-germanischer Schwärmerei, nationalistischer 36 1962 hatte sich in Wiesbaden der IV. KongreB der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapie und Tiefenpsychologie in einer öffentlichen Veranstaltung mit dem Thema „Die psychologischen und sozialen Voraussetzungen des Antisemitismus — Analyse der Psychodynamik eines Vorurteils** beschäftigt; die Beiträge sind abgedruckt in der Zeitschrift „Psyche", Jg. XVI (August 1962), Heft 5, S. 243 - 317. - Vgl. dazu auch Th. W. Adomo u.a.: The Authoritarian Personality. Studies in Prejudice. New York 1950, und Rudolph M. Loe wens tein: Psychoanalyse des Antisemitismus. Aus dem Franz. übersetzt von Lothar Baier. Frankfurt am Main 1968. 37 Jakob Friedrich Fries: Ueber die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden (Anm. 33). S. 11.

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Überheblichkeit und Antisemitismus, die nach dem Wiener Kongreß nur wenige in Deutschland nicht affizierte. Neben Professoren agitierten Angehörige des niederen Beamtentums, Theologen und Politiker, die sich dann meist entsetzt gaben, wenn der sogenannte Pöbel ihre Vorstellungen in die Praxis umsetzen wollte. Erinnert sei hier nur an die als „Hep-Hep-Krawalle" bekannten gewalttätigen Exzesse, die sich seit 1819 in ganz Deutschland verbreiteten, vor allem in den Städten, und bei denen Häuser gestürmt, Synagogen in Brand gesteckt und Läden geplündert wurden. Unter diesen Umständen ist es daher kaum verwunderlich, daß sogar bereits erreichte Fortschritte in der Gesetzgebung wieder rückgängig gemacht wurden. Auch in Preußen gab es Revisionen und Rückschläge. Auf dem Wiener Kongreß drangen Humboldt und Hardenberg, die Vertreter Preußens, mit ihren Emanzipationsvorschlägen für alle deutschen Staaten nicht durch: Der Widerstand kam aus Österreich und aus den meisten deutschen Staaten, besonders den Freien Städten. Eine kleine, folgenschwere Änderung im Protokoll der Bundesakte vom 8. Juni 1815 bewirkte, daß in vielen Bundesstaaten bereits gewährte Rechte wieder zurückgezogen wurden. Einschneidend war der Beschluß, daß die Bestimmungen des Emanzipationsedikts nicht auf die von Preußen neuerworbenen Provinzen ausgedehnt wurden; in diesen Provinzen wurden „die Verhältnisse der in den neuen Provinzen sich befindenden Juden [...] in eben der Lage belassen [...] in welcher sie bei der Okkupation angetroffen wurden." 38 Die Rechtslage der Juden war nach 1815 unsicherer und unübersehbarer denn je: So behielt in der Provinz Sachsen, in der Lausitz, im ehemaligen Schwedisch-Pommern ein Judenrecht Gültigkeit, das etwa dem preußischen um 1750 entsprach. Die Juden im Großherzogtum Posen, die 6 % der Bevölkerung ausmachten und vor allem in den Städten wohnten, mußten weiter nach dem alten General-Judenreglement von 1797 leben, das Ansiedlungsrayons mit den Beschränkungen von Freizügigkeit, Grunderwerb, Handel und Gewerbe vorsah. Im linksrheinischen Gebiet wurde das Napoleonische Edikt von 1808, dessen Geltung auf zehn Jahre befristet war und das eingreifende wirtschaftliche Beschränkungen vor allem für jüdische Kreditgeber enthielt, von Friedrich Wilhelm III. 1818 auf unbestimmte Zeit verlängert. Daran haben auch die positiven Gutachten über Berufsumschichtung und die wirtschaftliche Integration der Juden in den ökonomisch fortgeschrittenen Städten des Rheinlandes nichts ändern können. So galten nunmehr im preußischen Staat innerhalb seiner neuen Grenzen 18 verschiedene Judenordnungen — an Stelle der einst von den Beamten erstrebten Verwaltungseinheit. Mit der offiziellen Propagierung des „christlich-germanischen 38 Zitiert nach Eleonore Sterling: Der Kampf um die Emanzipation der Juden im Rheinland. Vom Zeitalter der Aufklärung bis zur Gründung des Deutschen Reiches. In: Monumenta Judaica. 200 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein. Handbuch. Köln 1963. S. 294.

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Staates" nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. verschärfte sich die Situation der Juden weiter, die nun wieder wie im Mittelalter als „fremde Körperschaft", als „Staat im Staate" angesehen wurden, obwohl diese Ausgrenzung schon längst nicht mehr zeitgemäß war und die wirtschaftliche Entwicklung der Juden, ihre Bildung und ihr Lebensstil dieser restaurativen Bewegung eindeutig widersprachen. Die siebentägigen Debatten des Ersten Vereinigten Preußischen Provinziallandtages in Berlin blieben erfolglos. Vertreter aus ländlichen Gebieten und Protestantisch-Konservative, wie Staatsminister Ludwig Gustav von Thile, nahmen gegen die uneingeschränkte Gleichstellung der preußischen Juden offen Stellung, mit der Begründung, es sei dem Christentum „unerträglich, den Juden obrigkeitliche Rechte beizulegen" (gemeint sind höhere Ämter im Staatsdienst). 39 Mit 215 Stimmen gegen 185 wurde die Emanzipation abgelehnt. Das Gesetz vom 23. Juli 1847 bestätigte den Juden in Preußen, daß sie nur Staatsbürger zweiter Klasse waren. Eine Restauration erfuhren übrigens auch alle anderen Reformbestrebungen, die teils rückgängig gemacht wurden, zum Teil restriktiv interpretiert wurden, wie die Grundentlassung durch das Dekret von 1816. Die Einsicht, daß dieser restaurative Ständestaat für alle Emanzipationsbestrebungen ein nahezu unüberwindliches Hindernis bedeutete, brachte schon ein kritischer Zeitgenosse, der Herausgeber der deutsch-französischen Jahrbücher, Karl Marx, 1844 in seinem Beitrag Zur Judenfrage in einem knappen Satz zum Ausdruck: „Wir müssen uns selbst emanzipieren, ehe wir andere emanzipieren können."40 Er emigrierte, mußte emigrieren, und viele Juden und Nicht-Juden hatten damals die gleiche Entscheidung getroffen. Schon mit einem Bein in Brüssel, veröffentlichte Marx mit der Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie seinen ironischbitteren Kommentar zur politischen Entwicklung in Deutschland: Ja, die deutsche Geschichte schmeichelt sich einer Bewegung, welche ihr kein Volk am historischen Himmel weder vorgemacht hat noch nachmachen wird. Wir haben nämlich die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. Wir wurden restauriert, erstens, weil andere Völker eine Revolution wagten, und zweitens, weil andere Völker eine Konterrevolution litten, das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten, und das andere Mal, weil unsere Herren keine Furcht hatten. Wir, unsere Hirten an der Spitze, befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung.41

39 Zitiert nach Ismar Elbogen / Eleonore Sterling: Die Geschichte der Juden in Deutschland. Frankfurt am Main 1966. S. 233. 40 Karl Marx: Zur Judenfrage. In: Die Frühschriften. Hrsg. von Siegfried Landshut. Stuttgart 1968 (= Kröners Taschenausgabe Bd. 209). S. 173. 41 Karl Marx: Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. In: Die Friihschriften (Anm. 40), S. 209.

Wolfgang Häusler (Wien)

„Aus dem Ghetto" Der Aufbruch des österreichischen Judentums in das bürgerliche Zeitalter (1780-1867)

Aus dem Ghetto — so lautet der Titel einer Novellensammlung, die der aus der Judengasse des böhmischen Städtchens Münchengrätz stammende Erzähler Leopold Kompert im Jahr 1848, unmittelbar vor dem Ausbruch der Märzrevolution, veröffentlichte. Der realistischen Dorfgeschichte war damit ein neues, fruchtbares Feld eröffnet. Über diesen literaturgeschichtlichen Aspekt hinaus ist hier zugleich ein politisches Programm ausgesprochen: Liest man „aus dem Ghetto" mit einem Rufzeichen, so ist von jener Emanzipationsbewegung die Rede, die das Judentum in den widerspruchsvollen Entstehungsprozeß der modernen bürgerlichen Gesellschaft führte.1 1

Vgl. allgemein Ludwig Bato: Die Juden im alten Wien. Wien 1928. - Heinz-Mosche Graupe: Die Entstehung des modernen Judentums. Geistesgeschichte der deutschen Juden 1650-1942. Hamburg 1969 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 1). - 1000 Jahre österreiches Judentum. Eisenstadt 1982 (Studia Judaica Austriaca 9). - Wanda Kampmann: Deutsche und Juden. Studien zur Geschichte des deutschen Judentums. Heidelberg 1963. - Hans Liebeschütz, Arnold Paucker (Hrsg.): Das Judentum in der deutschen Umwelt 180G-1850. Tübingen 1977 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 35). - Alfred D. Low: Jews in the Eyes of the Germans. From the Enlightenment to Imperial Germany. Philadelphia 1979. - Sigmund Mayer: Die Wiener Juden. Kommerz, Kultur, Politik 1700-1900. Wien, Berlin 2 1918. - Werner E. Mosse, Arnold Paucker, Reinhard Rürup (Hrsg.): Revolution and Evolution. 1848 in German-Jewish History. Tübingen 1981 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 39). Reinhard Rürup: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur .Judenfrage' in der bürgerlichen Gesellschaft. Göttingen 1975 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 15). - Hans Tietze: Die Juden Wiens. Geschichte - Wirtschaft - Kultur. Wien, Leipzig 1933, Reprint Wien 1987. — Judentum in Wien. Sammlung Max Berger. Wien 1987 (Historisches Museum der Stadt Wien, 108. Sonderausstellung). Für spezielle Literaturnachweise zum Thema siehe die Studien des Verfassers: Die Revolution von 1848 und die österreichischen Juden. Wien 1974 (Studia Judaica Austriaca 1). - Der Weg des Wiener Judentums von der Toleranz zur Emanzipation. In: Jahibuch des Vereins für Geschichte der Sudt Wien 30/31 (1974/75). S. 84-124. Assimilation und Emanzipation des ungarischen Judentums um die Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Studia Judaica Austriaca 3 (1976). S. 33-79. - „Orthodoxie" und „Reform" im Wiener Judentum in der Epoche des Hochliberalismus. In: Studia Judaica Austriaca 6 (1978). S. 29-56. - Die josephinische Publizistik zur Frage der Toleranz für das österreichische Judentum. In: Bericht über den 14. österreichischen Historikertag in Wien 1978. Wien 1979. S. 59-73. - Judaica. Kult und Kultur des europäischen Judentums. Die Sammlung Berger. Wien, München 1979. - Das galizische Judentum in der Habsburgermonarchie im Lichte der zeitgenössischen Publizistik und Reiseliteratur von 1772-1848. Wien 1979. - Probleme der Geschichte des westungarischen Judentums in der Neuzeit. In: Burgenländische Heimatblätter 42

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Die bekannteste Erzählung des Zyklus — Die Kinder des Randars — kreist um die Fragen der konfessionellen, kulturellen und nationalpolitischen Assimilation in Komperts Heimat. Am Beispiel der Generationen der Familie Jellinek soll angedeutet werden, wie vielfältig die Wege aus dem Ghetto zu neuen Ufern, zwischen Verheißung und Bedrohung, waren.2 Die drei Brüder Adolf, Hermann und Moritz Jellinek (geboren 1821, 1823 und 1824) waren tatsächlich Kinder eines Randars — ihr Vater war ein solcher Arendator, d.h. Pächter grundherrschaftlicher Einkünfte, und betrieb im mährischen Dorf Drslowitz bei Ungarisch Brod eine Spiritusbrennerei. Die Mutter entstammte einer bedeutenden Rabbinerfamilie. Noch im Vormärz galt das Familiantengesetz Kaiser Karls VI. für die Länder der böhmischen Krone. Demnach durfte nur der älteste Sohn des Inhabers einer Familienstelle eine vom Staat anerkannte Ehe schließen; die Zahl der jüdischen Familien war solcherart in Mähren 1787 mit 5400, in Böhmen mit 8600 festgesetzt worden. Räumliche und intellektuelle Mobilität wurde durch diese atavistischen Normen geradezu erzwungen: Juden mährischer Herkunft haben unter den wirtschaftlich erfolgreichen Tolerierten Wiens eine wichtige Rolle gespielt, viele wanderten in großer Zahl in das nahe Ungarn, wo relative Freizügigkeit bestand, manche gingen nach Deutschland und fanden hier Anschluß an die geistige Erneuerung des Vormärz — Reformer und Revolutionäre gingen aus den Reihen dieser Intelligenz hervor. Die Gegensätze von Tradition und Moderne stießen in Mähren, dessen agrarisch-konservative Strukturen durch den früh einsetzenden Eisenbahnbau und die erste industrielle Revolution erschüttert wurden, hart aufeinander. Auch die Orthodoxie mußte ihre Voraussetzungen überprüfen. Der geistige Vater der Neoorthodoxie in Deutschland, Samson Raphael Hirsch, bekleidete um die Zeit der Revolution von 1848 das Amt eines mährischen Landesrabbiners in Nikolsburg. Diesen beharrenden Tendenzen gegenüber hatte die Haskala, die jüdische Aufklärungsbewegung, bereits festen Fuß gefaßt. Die Jeschiba von Proßnitz, wo die Brüder Jellinek ihre Studien betrieben, war ein Zentrum dieser Richtung.

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(1980). S. 32-38, 69-100. - Toleranz, Emanzipation und Antisemitismus. Das österreichische Judentum des bürgerlichen Zeitalters (1782-1918). In: Das österreichische Judentum. Voraussetzungen und Geschichte. Wien, München 3 1988. S. 83-140. - Das österreichische Judentum zwischen Beharrung und Fortschritt. In: Die Habsburgeimonarchie 1848 - 1918. Bd. 4. Wien 1985. S. 596-615. - Judenhaß und Judenverfolgungen. Vom Vorurteil zum Massenmord. In: Helfried Valentinitsch (Hrsg.): Hexen und Zauberer. Die große Verfolgung — ein europäisches Phänomen in der Neuzeit Graz, Wien 1987. S. 365-377. Moses Rosenmann: Dr. Adolf Jellinek. Sein Leben und Schaffen. Wien 1931. Wolfgang Häusler: Hermann Jellinek. Seine Entwicklung zum revolutionären Demokraten. In: Beiträge zur neueren Geschichte Österreichs. Wien 1974. S. 345-362. Ders.: H. Jellinek (1823 - 1848). Ein Demokrat in der Wiener Revolution. In: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 5 (1976). S. 125 - 175.

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Adolf Jellineks Entwicklung vom Jeschibabocher zum kritischen Forscher führte über Prag nach Leipzig (1842), wohin auch sein jüngerer Bruder Hermann kam. Die Messestadt mit der Vielfalt ihrer kulturellen, wissenschaftlichen und religiösen Strömungen eröffnete den jungen Männern aus der mährischen Judengasse ungeahnte Möglichkeiten des Studiums und der Publizistik. Adolf Jellinek stellte sich in die Reihen der Vorkämpfer einer innerjüdischen Reform: Neugestaltung des Gottesdienstes, Wissenschaft des Judentums, Bekenntnis zu deutscher Sprache und Kultur wurden die Leitlinien seines Wirkens als Prediger in einer Leipziger Reformgemeinde. In der Revolutionszeit gründete Jellinek einen „Verein für alle Konfessionen zur gegenseitigen Aufklärung" — nicht nur mit den christlichen Kirchen, auch mit den freidenkerischen Deutschkatholiken wurde der Dialog gepflegt. Seit seiner Berufung nach Wien im Jahre 1856 wurde Jellinek Vorkämpfer und Wortführer des Liberalismus. Die geläuterte Religionslehre des Judentums stand für ihn im Zeichen des gesamtgesellschaftlichen Fortschritts; mit der bürgerlichen Emanzipation sah er das historische Ziel des .Jüdischen Stammes" erreicht. Schon in den vierziger Jahren hatte sich Hermann Jellinek in schroffer Wendung gegen die „heuchlerische Theologie" des älteren Bruders den radikalsten Strömungen der zeitgenössischen deutschen Philosophie angeschlossen. Über die Kritik des Linkshegelianismus fand er zu einer Position, die parallel zur Entwicklung eines Moses Hess und Karl Marx die Emanzipationsforderung in den Kontext einer politischen und sozialen Revolution stellte. Am äußersten linken Rand der Wiener Publizistik des Sturmjahres kämpfte Jellinek für die Vollendung der Revolution in der „sozialen Demokratie". Seine Artikel gegen die Politik der habsburgischen Dynastie waren nach der Niederlage der Revolution für das Kriegsgericht des Fürsten Windischgrätz Grund genug, den Fünfundzwanzigjährigen erschießen zu lassen. „Man brauchte eben einen Juden und hatte sonst keinen zur Hand", kommentierte Eduard Bauernfeld diesen Justizmord der Gegenrevolution. Von Moritz Jellinek ist zu berichten, daß er sich 1848/49 im nationalen Unabhängigkeitskampf Ungarns politisch engagierte. Die Modernisierung dieses Landes bot dem bürgerlichen jüdischen Element große Chancen. Moritz Jellinek brachte es in der Gründerzeit zu Reichtum und Ansehen; er starb 1883 als Direktor der Budapester Straßenbahn. Die Söhne Adolf Jellineks vollzogen in Konsequenz der kulturellen Assimilation den Schritt zur Taufe. Georg Jellinek (1851-1911) war ein bedeutender Rechtslehrer; sein Buch über die Menschen- und Bürgerrechte (das zentrale Thema der Emanzipationsgeschichte des Judentums) wurde ein Standardwerk. Max Hermann Jellinek (1868-1938) schuf sich als Professor der Germanistik an der Wiener Universität einen guten Namen. Sein Vater wollte mit der Wahl der Vornamen die Erinnerung

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an den 1867 in Mexiko hingerichteten Bruder des Kaisers Franz Joseph, Maximilian, und an den 1848 getöteten Bruder Hermann wachhalten. In einer eindrucksvollen Predigt anläßlich der Erschießung Maximilians in Querétaro hatte Adolf Jellinek die Abschaffung der Todesstrafe für politische Verbrechen gefordert. Die farbigste Erscheinung dieser Generation ist ohne Zweifel Emil Jellinek (1853-1918) gewesen. Ein abenteuerliches Leben führte ihn (nicht zur Freude des Vaters) nach Nordafrika und Südamerika. Der unternehmungslustige Mann interessierte sich lebhaft für den jungen Automobilsport: Im Jahre 1900 gab er eine neue Motorentype bei Daimler in Auftrag. Nach seiner 1889 geborenen Tochter Mercédès erhielt dieser Wagen den seitdem weltberühmten Namen; der stolze Vater des Mädchens und des Automobils nannte sich seit 1904 selbst Jellinek-Mercédès.3 Zur Abrundung des facettenreichen Bildes sei noch mitgeteilt, daß Georg Jellineks Sohn Walter (1885-1955), ein namhafter Verwaltungsrechtler, 1935 zwar seinen Heidelberger Lehrstuhl verlassen mußte, aber gegenüber der nationalsozialistischen Rassenpolitik den Umstand geltend machte, daß seine Ahnen ursprünglich christliche, unter staatlichem Druck zum Judentum übergetretene Sektierer gewesen seien — eine Familienüberlieferung, auf die schon Adolf Jellinek Wert gelegt hatte. 4 Und zuletzt: Henrik (1853-1919), der Sohn von Moritz Jellinek, ein katholisch getaufter Wirtschaftsmann, finanzierte das antisemitische Blatt ,,Új nemzedék" (Neue Generation). Die oft kontroversen, ja paradoxen Entwicklungslinien, die wir gebündelt am Beispiel einer Familie skizziert haben, wurzeln in jenen Jahrzehnten österreichisch-jüdischer Geschichte, die von der josephinischen Toleranz über die Revolution von 1848 zur bürgerlichen Emanzipation von 1867/68 führte. Die Toleranzgesetzgebung Josephs II. steht, wie Joseph Karniel jüngst dargetan hat, in einem großen politischen und gesamteuropäischen Zusammenhang.5 Die Überlegungen des Monarchen und seiner Ratgeber waren von den Motiven geprägt, das Wirtschaftspotential der Juden wie von Angehörigen nichtkatholischer christlicher Bekenntnisse für den Staat zu nützen, gegenüber dem preußischen Staat Friedrichs II. nicht ins Hintertreffen zu geraten und sich in gefährdeten Grenzregionen der Loyalität der Juden zu versichern. Für eine Gesamtbeurteilung der josephinischen Maßnahmen müssen darüber hinaus im Zeitalter der erwachenden öffentlichen Meinung die internationale Wirkung der pro3 4 5

Guy Jellinek-Mercédès: Mein Vater, der Herr Mercedes. Wien, Berlin, Stuttgart 1962. S. 107, 194. Alfred Willmann: Famous Rabbis of Vienna. In: Josef Fraenkel (Hrsg.): The Jews of Austria. London 1967. S. 323. Mündliche Mitteilung von (t) Prof. A. Verdross. Josef Karniel: Die Toleranzpolitik Kaiser Josephs Π. Gerlingen 1985.

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grammatischen Schrift des preußischen Kriegsrates Christian Wilhelm von Dohm Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781), die Beziehungen des Mendelssohn-Kreises zu Österreich und die lebhafte Publizistik beachtet werden. Eine gerechte Bewertung im europäischen Vergleich ist nur dann möglich, wenn die Situation, die der Reformabsolutismus vorfand, bewußt bleibt. Die Widersprüche in der Stellung des Judentums im äußerlich so glanzvollen Barockzeitalter wirkten über die Epoche der Aufklärung hinweg. Gerade die spezifisch österreichische Ausformung des Antisemitismus im 19. Jahrhundert blieb archaischen Grundmustern verbunden. Im 17. und 18. Jahrhundert wechselten Zeiten rücksichtsloser Verfolgung der Juden als Gruppe mit der Privilegierung einzelner Hofjuden (Oppenheimer, Wertheimer) im System merkantilistischer Finanz- und Handelspolitik im Zeitalter der Türken- und Erbfolgekriege ab. Die Austreibung der Wiener und niederösterreichischen Juden unter Leopold I. 1670 trug ähnlich wie die physische Ausrottung der mittelalterlichen Judengemeinde Wiens, die Geserah von 1421, Züge eines sozialen Ersatzkonfliktes, der durch gegenreformatorische Elemente verschärft wurde. Am Beispiel des wortgewaltigen Kanzelredners Abraham a Sancta Clara, der erst nach der erfolgten Vertreibung die kollektive Aggression gegen die Juden predigte, lassen sich jene Stereotypen erkennen, die im städtischen Kleinbürgertum fortwirkten und im christlichsozialen Antisemitismus Auferstehung feierten. Der Wortschatz des Augustinermönchs kennt nur das pauschale Verdammungsuteil über die nächst Satan als die schlimmsten Feinde der Christen bezeichneten „neydhafften/ boßhafften/ schalckhafften/ sündhaften Juden", die er als „undanckbare Gesellen/ und stinckende Knoblauchmäuler" apostrophiert. 6 Pater Abraham machte Hexen und Juden für die große Pest von 1679 verantwortlich — damals gab es gar keine Juden in Wien! Diese generelle, irrationale Abneigung und die Tendenz, Juden zu Sündenböcken zu stempeln, standen auch hinter der von Maria Theresia 1744 verfügten Ausweisung der Juden aus Prag als angebliche Landesverräter — eine Maßnahme, die aber unter dem Druck des Auslandes wieder rückgängig gemacht werden mußte. Die durch die mittelalterlich-barocke Überlieferung tief ins Seelenleben der österreichischen bürgerlich-bäuerlichen Bevölkerung eingedrungenen „ekklesiogenen Neurosen" 7 wurden durch die rasch wieder unterdrückte Aufklärung nicht beseitigt, nur verdrängt. Die „Explosion 6

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Robert A. Kann: Kanzel und Katheder. Studien zur österreichischen Geistesgeschichte vom Spätbarock zur Frühromantik. Wien, Freiburg, Basel 1962. S. 81ff. - Walther Pichler: Von der Synagoge zur Kirche. Zur Entstehungsgeschichte der Pfarre St. Leopold. Wien 1974. S. 57. Friedrich Heer: Gottes erste Liebe. 2000 Jahre Judentum und Christentum. Genesis des österreichischen Katholiken Adolf Hitler. München, Esslingen 1967. S. 11.

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des jüdischen Ghettos" 8 traf auf eine katholische Welt der Wallfahrtsorte und Passionsspiele, in der das Zerrbild des teuflischen Juden seinen festen Platz hatte. Gewiß erlosch unter Joseph II. so manche derartige Tradition, etwa die im Spätmittelalter und Barock blühenden, an erfundene Hostienfrevel und wirkliche Pogrome anknüpfenden Pilgerziele Pulkau und Korneuburg, doch überdauerten die noch bösartigeren Ritualmordlegenden des Simon von Trient und Andreas von Rinn im heiligen Land Tirol bis in unsere Zeit. Noch 1954 trat Bischof Paul Rusch von Innsbruck für den Kult des „Anderle von Rinn" mit der Begründung ein, „daß es immerhin die Juden waren, die unseren Herrn Jesus Christus gekreuzigt haben [und] daß es sich in Rinn überhaupt nicht um eine Judenhetze handelt, sondern um ein Spiel, das in seiner volkstümlichen Art dem Volk eben Freude zu machen scheint." 9 Erst seit dem II. Vaticanum hat sich die Amtskirche von diesem durch Haß und Verleumdung der Jahrhunderte entstellten Bild des Judentums distanziert, doch ist die Diskussion um die an solche Stätten anknüpfenden Vorurteile — wohl das extremste Beispiel für einen „Antisemitismus ohne Juden" — in Österreich immer noch im Gang. Die Quintessenz von Motiven, Mitteln und Ziel der josephinischen Toleranz gegenüber den Juden findet sich in einem Reskript des Kaisers vom 1. Oktober 1781: „Die erweiterten Nahrungsmittel, die nutzbare Verwendung ihrer Arme und die Aufhebung der gehässigen Zwangsgesetze und Verachtung bringenden Unterscheidungszeichen sollen verbunden mit dem besseren Unterricht und der Aufhebung ihrer Sprache den Vorschub geben, mit Ausrottung der dieser Nation eigenen Vorurteile sie aufzuklären, dadurch sie entweder zu Christen zu bilden oder doch ihren moralischen Charakter zu bessern und sie zu nützlichen Staatsbürgern auszubilden, und bei der folgenden Nachkommenschaft wird wenigstens ganz gewiß dieses erhalten werden." 10

Im josephinischen Jahrzehnt lebten in Wien ständig nur etwa 500 Juden, etwa ebenso viele in Triest. In den Alpenländern war den Juden mit wenigen Ausnahmen (Hohenems in Vorarlberg) die dauernde Niederlassung verwehrt, dagegen lebten in den Sudetenländem gegen 70 000, in Ungarn knapp 100 000 Juden. Am stärksten waren sie in den neuerworbenen Provinzen Galizien und Bukowina repräsentiert, wo ihre Zahl — nach allerdings sehr unzuverlässigen Volkszählungen — über 200 000 betrug. Trotz der geringen Zahl der Wiener Juden war das für sie am 2. Jänner 1782 erlassene Toleranzpatent von exemplarischer Bedeutung. 11 Als 8 Ebd. S. 237. 9 Ebd. S. 332. 10 Sebastian Brunner: Die Mysterien der Aufklärung in Österreich 1770 - 1800. Mainz 1869. S. 390. 11 Die Quellen sind ediert von Alfred F. Pribram: Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Wien 1526 - 1847, 2 Bde. Wien, Leipzig 1918 (Quellen und Forschungen zur

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Gegenleistung für die Aufgabe der traditionellen Lebensform des Judentums sollten äußerlich diskriminierende Schranken und Berufsverbote fallen, neue Bildungswege und die Karriere im Wirtschaftsleben offenstehen. Es darf nicht übersehen werden, daß die liberalen Bestimmungen des Wiener Toleranzpatentes nur für eine kleine Minderheit Geltung hatten: Die „Herren Tolerierten", die sich die Anrede „Jud" verbaten, waren wie die alten Hofjuden nur als Individuen geduldet; die Bildung einer Gemeinde war ausdrücklich untersagt. 1781/82 ergingen die Patente für die Länder der Wenzelskrone, die — neben analogen Verfügungen über wirtschaftliche Mobilität und Integration in das deutsche Schulwesen — weiterhin an der erwähnten Familiennorm festhielten. Äußerst widerspruchsvoll war das Verhältnis von Wirtschaftspolitik und Toleranzgesetzgebung in Galizien, dessen zahlreiche Judenschaft Friedrich den Großen zu dem Spottwort veranlaßte, Joseph II. könne nun wahrhaft den Titel eines Königs von Jerusalem führen. Die noch von der Theresianischen Judenordnung akzeptierte Autonomie und die Gerichtsbarkeit der Rabbinate wurden beseitigt. Angesichts der kaum lösbaren sozialen Probleme der zurückgebliebenen Provinz war die josephinische Judenpolitik sprunghaft und unbeständig. Man wollte die Juden von ihrer Mittlerfunktion im Handel und im bäuerlich-grundherrschaftlichen Bereich abziehen und dem Ackerbau zuführen, erreichte aber durch überhastete bürokratische Maßnahmen nur den massenhaften Zustrom entwurzelter Dorfjuden in die Städte. Die josephinischen Experimente führten in Galizien zu einer Zersetzung des Sozialgefüges der jüdischen Bevölkerung — die für den europäischen Osten so charakteristischen jüdischen „Luftmenschen" waren nicht zuletzt ein Produkt dieser sozialen Umschichtungsprozesse, in denen eine alte Lebensform zerstört wurde, ohne daß die Möglichkeit bestanden hätte, eine neue aufzubauen. Der Gedanke einer über die Toleranz hinausführenden uneingeschränkten gesetzlichen Gleichstellung und konfessionellen Freiheit für die Juden tauchte in Ungarn auf, wo der später als .Jakobiner" hingerichtete Josef Hajnóczy 1790 diese über das ungarische Judenpatent von 1783 hinausführenden Postulate nach amerikanischem Vorbild aufstellte. Dieser Vorschlag gelangte aber nicht an den Reichstag. Mit der blutigen Unterdrückung der frühen bürgerlich-demokratischen Strömung geriet auch der fortschrittliche Gedanke einer Vollemanzipation nach westlichem Vorbild in Vergessenheit. Die hier angedeutete Differenz von Toleranz und Emanzipation (der Begriff als solcher wurde erst um 1830 von der britischen Katholikenemanzipation in die deutsche politische Terminologie übernommen und im besonderen auf die Judenfrage angewendet) macht es notwendig, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der europäischen Entwicklung Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich 8).

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anzudeuten. Mirabeau hatte Dohms Schrift übersetzt; die Lösung der „rostigen Fessel" (Klopstock) durch die josephinische Reform wurde im vorrevolutionären Frankreich mit Aufmerksamkeit verfolgt; der Ausruf des Abgeordneten Clermont-Tonnère im Jahre 1789, den Juden als Nation nichts, dem Juden als Menschen aber alles gewähren zu wollen, könnte auch als Motto über der österreichischen Emanzipations- und Assimilationsdebatte stehen. Die 1791 Gesetz gewordene Gleichsetzung der Juden war die Konsequenz der Menschen- und Bürgerrechte der Revolution, in der die partikulären Gemeinschaften in der souveränen Nation verschwanden. Napoleon wollte den Assimilationsprozeß, der nach dem Akt der gesetzlichen Gleichstellung erwartet wurde, auf diktatorische Weise verkürzen und griff reglementierend in das Leben der französischen Juden ein (Sanhédrin, „infames Dekret"). Auch im Mutterland der bürgerlichen Revolution war die Unterscheidung des Gesetzgebers zwischen assimilationsbereiten, wohlhabenden sephardischen Juden der großen Städte und Handelsplätze und den die traditionellen Vermittlungsfunktionen bekleidenden, zahlenmäßig weit stärkeren aschkenasischen Juden des Elsaß mit ihrer jiddischen Umgangssprache manifest. Als gleiches Ziel strebte man sowohl in Frankreich wie in Österreich die Aufhebung des Judentums als einer ökonomisch und soziokulturell determinierten Kaste an (in Österreich und Frankreich nannte man die Juden in diesem Sinn eine „Nation"), wobei die Napoleonische Herrschaft manche der josephinischen Gesetzgebung durchaus ähnliche Erziehungsmaßnahmen setzte. Ein gewichtiger Unterschied bleibt: Die alte Ordnung wurde in Österreich nicht revolutionär erschüttert. Der Reformanlauf des aufgeklärten Absolutismus kam zum Stillstand. Seinen positiven Ansätzen folgte hier keine konsequente Weiterentwicklung, vielmehr unterdrückte die Reaktionsperiode die progressiven Aspekte des Reformwerkes und ließ nur seine repressiven Teile bestehen. So verzögerte sich die Emanzipation bis zum verspäteten Durchbruch in der liberalen Ära. Die Verschleppung des Problems führte dazu, daß die alten Vorurteile ungebrochen in den „modernen", ökonomisch und rassisch argumentierenden Antisemitismus hineinwachsen konnten. Eine selbst nicht emanzipierte Gesellschaft war nicht in der Lage, ihre Minderheiten zu integrieren. Literatur und öffentliche Meinung vereinten sich im josephinischen Jahrzehnt im Prozeß politischer Bewußtseinsbildung der entstehenden modernen Gesellschaft. Eine stattliche Reihe von Broschüren, namentlich Prager Provenienz, erörterte das Pro und Contra der Duldung der Juden. 12 Ein gehässiger Ton kam in die Debatte, als ein Pamphlet mit 12 lieber die Juden und deren Duldung. Prag 1781. - Ihr lieben Juden! oder kurze Untersuchung der Frage: Ob die Juden nicht zur Handarbeit und Erlernung ehrlicher Professionen anzuhalten sind. Prag 1781. - [Ignaz Klingler]: Ober die Unnütz- und Schädlichkeit der Jüden im Königreich Böheim. Mähren und Österreich. Prag 1782.

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dem bezeichnenden Titel Der getaufte Jude weder Jude noch Christ (Wien 1781) die bis dahin allgemeine Akzeptanz von Konvertiten (wie Joseph von Sonnenfels oder Lorenzo da Ponte) in Frage stellte. Die Titelvignette zeigt einen Juden in der Tracht eines Edelmannes mit Degeri, der hinter der Maske des frommen Christen die dämonisierte Judenfratze hervorlugen läßt, mit dem Beisatz: „An monstrum — nescio." Demgegenüber zeichnete die Darstellung des Juden auf der Wiener Bühne ein positives Bild, freilich ganz im Sinne jenes Wortes aus Lessings Jugendstück Die Juden von 1749: „Nein, der Henker! es gibt doch wohl auch Juden, die gar keine Juden sind" (22. Auftr.). Eine kritische Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte von Stücken wie die von Stephanie d.Ä. und d.J. (Der neue Weiberfeind und die schöne Jüdin, Der abgedankte Offizier), Joseph Pauerspach (Der redliche Bauer und der großmütige Jude) oder Richard Cumberlands Erfolgsdrama Der Jude wäre überaus wichtig für unsere Kenntnis der die Toleranz erst ermöglichenden Mentalität der Bildungsschichten.13 Auf die innere Entwicklung des österreichischen Judentums dieser Epoche haben Anregungen aus dem Kreise Mendelssohns lange nachgewirkt. 14 Hartwig Wesselys berühmtes Sendschreiben Worte des Friedens und der Wahrheit von 1782, das nachdrücklich die Notwendigkeit weltlicher Bildung betonte und den herkömmlichen Talmud-ThoraUnterricht kritisch in Frage stellte, fand lebhafte Zustimmung in assimilationsbereiten jüdischen Kreisen (namentlich in Italien, wo die Triestiner Juden aufgrund ihrer Bedeutung für den Handel sich sehr weitgehender bürgerlicher Rechte erfreuten), wurde aber vom traditionellen Judentum scharf kritisiert (etwa durch den Prager Oberrabbiner Ezechiel Landau und den Gaon von Wilna). Das Dilemma der staatlich verordneten und bürokratisch exekutierten Assimilation offenbarte sich am Wirken Herz Hombergs, des Schülers und Freundes Mendelssohns, der in Galizien orthodoxe und chassidische Kreise gleichermaßen vor den Kopf stieß. Nach dem Scheitern seiner germanisierenden Schulversuche in Galizien wirkte Homberg in Böhmen; die Kenntnis seines Religionslehrbuches Bne Zion (1812), das Treue zu Herrscher und Staat als höchste Tugend des Juden pries, wurde vor Erteilung einer Heiratserlaubnis im Vormärz behördlicherseits geprüft. 15 Erwähnung verdient, daß es der Berliner Aufklärer Lazarus Bendavid 13 Vgl. Herben Carrington: Die Figur des Juden in der dramatischen Literatur des XVm. Jahrhunderts. Diss. Heidelberg 1897. - Wilhelm Stoffers: Juden und Ghetto in der deutschen Literatur bis zum Ausgange des Weltkrieges. Nymwegen 1939 (= Deutsche Quellen und Studien 12). - Elisabeth Frenzel: Judengestalten auf der deutschen Bühne. München 1940 (antisemitisch, doch materialreich). 14 Jacob Allerhand: Das Judentum in der Aufklärung. Stuttgart 1980 ( problemata 86). 15 Kurt Schubert: Der Einfluß des Josefinismus auf das Judentum in Österreich. In: Kairos NF 14 (1972). S. 81 - 97.

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gewesen ist, der in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts in seinen Wiener Vorlesungen den Österreichern die erste Kenntnis der Kantschen Philosophie vermittelte. Auch er gehörte zu den Kämpfern „gegen das schändliche sinnlose Zeremonialgesetz". Der noch von Mendelssohn gesuchte Kompromiß war zu einem schroffen Entweder-Oder geworden. Es gehört zu den Paradoxien der österreichisch-jüdischen Geschichte, daß die für die Zeitgenossen so kontroversen Impulse der jüdischen Aufklärer dennoch die geistige Entwicklung des österreichischen Judentums wesentlich beeinflußt haben. Dies kam so: Infolge des Verbots der Einfuhr hebräischer Texte nach Österreich hatte sich seit dem späten 18. Jahrhundert in Wien ein blühendes hebräisches Druckerei- und Verlagswesen entwickelt (Hraschanzki, Kurzböck und vor allem Anton v. Schmid). Hier fanden Korrektoren und Lektoren aus Ungarn, Galizien und Italien, von denen die meisten durch die Schule der Aufklärung gegangen waren, ein reiches Arbeitsfeld. Seit 1820 erschienen Jahrbücher in hebräischer und hebräisch-deutscher Sprache, die an die Tradition des Mendelssohnschen Me'asseph anknüpften. Diese Periodika verbürgten den Zusammenhalt des sonst in so verschiedene Richtungen strebenden Judentums der Habsburgermonarchie. Deutliche Verbindungslinien lassen sich von hier zu den Anfängen der nationaljüdischen Bewegung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfolgen. 16 Die Ambivalenz der josephinischen Ära für das Judentum — Rechtsverbesserung geknüpft an die Aufgabe bisheriger Gruppenbindung und religiös-kultureller Identifikation — soll aus der Sicht der Betroffenen zu Wort kommen. Der Reimchronist von Nikolsburg, Abraham Trebitsch, hat positive und negative Aspekte farbig dargestellt: Man darf es nicht wagen, den Juden zu schimpfen, Zu necken, zu schmähen, zu verunglimpfen. Dir Ende erreichen die peinlichen Qualen, Den Leibeszoll sollen wir ftirder nicht zahlen. In Osterreich, auch in der Kaiserstadt Wien, Darf Israels Sohn nun die Märkte beziehn. Auch steht es ihm frei, zu bereisen die Orte, Wo man ihm bisher hat verschlossen die Pforte. Es drohen nicht mehr die geringsten Gefahren Dem Juden in Tyrnau im Land der Magyaren. So stürzen zusammen die scheidenden Schranken, Weil Joseph der Kaiser hat gute Gedanken.

Dagegen aber Der Glaube der Väter verliert an Respekte Durch jeden Befehl, der von Wien kommt direkte. Entstehn sollen Schulen, Anstalten fUr Ketzer, 16 Bernhard Wachstein, Israel Taglicht, Alexander Kristianpoller: Die hebräische Publizistik in Wien. Wien 1930 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutsch-Österreich 9).

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Für Leser und Schreiber und Thoraverletzer. Wir sollen die jüdische Mundart vergessen Und unsre Worte grammatisch bemessen.17 Düsterer erscheint das Bild, wenn wir uns Galizien zuwenden. Franz Kratter, der in Lemberg als Publizist und Leiter des deutschen Theaters wirkte, hat ein Erlebnis bei der Abschiebung verarmter jüdischer Familien beschrieben: "Wie ich floh, verfolgte mich ein vollstimmiges, gräßlich gellendes Jammern, Gewinsel, Angstgewimmer, Ach- und Wehgeschrei von Greisen, Witwen, Müttern, unmündigen Kindern undsoweiter. Aber keine Barmherzigkeit! Hinüber mit ihnen über die Grenze. Ich hörte dann in der Folge, daß die Inwohner der polnischen Grenze, um nicht mit bresthaften, elenden, von Not, Hunger, Nässe und Witterung halb zu Grund gerichteten Bettlern belästigt zu werden, mit Gewehren in sie geschossen, mit Prügeln auf sie zugeschlagen, und beinahe die Hälfte davon vertilgt haben. Die andere Hälfte fraß in kurzer Zeit das verlassene, hilflose Elend auf. In einem Kreise wurden einmal gegen zwanzig Wägen mit Juden beladen. Es war im strengsten Winter. Das Rad knarrte auf der beeisten Straße. Der schneidende Nordwind wütete. Viele von den Juden waren kaum zur Hälfte bedeckt. Aber hinüber mit ihnen über die Grenze! Sie sind keine Menschen! Was für barbarische Mißhandlungen!"18 Unwillkürlich erinnert dieser Bericht an die „Vertilgung" jüdischer Menschen in unserem Jahrhundert. Eine schwere Hypothek auf die Zukunft bedeutete es, wenn selbst ein sonst aufgeklärter Mann, der Freimaurer Johann Pezzi, in seiner oft aufgelegten, für Fremde als Reiseführer dienenden Skizze von Wien seiner Enttäuschung über das Ausbleiben einer sofortigen Assimilation Luft machte: „Die indischen Fakire abgerechnet, gibt es wohl keine Gattung von sein sollenden Menschen, welche dem Orang Utan näher kommt als einen polnischen Juden. Vom Fuß bis zum Hals voll Kot, Schmutz und Lumpen, in einer Art von schwarzem Sack steckend, das Gesicht bis in die Augen verwachsen von einem Bart, der selbst dem hohen Priester im alten Tempel Grausen erregen würde. Hält man die reicheren Juden von Wien gegen jene elenden Wichte, so sollte man freilich nicht glauben, daß sie des nämlichen Herkommens mit ihnen seien." Toleranz wurde, so mißverstanden, zu herablassender Verachtung deformiert: „Die Juden haben keine Synagoge in Wien, aber es steht ihnen frei, in ihren Wohnungen zu beten, schreien, Grimassen zu machen, wie und so oft sie wollen." Schlußendlich gehe es darum, „dieses exotische Volk mehr an die 17 Ruth Kestenberg-Gladstein: Neuere Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern I. Tübingen 1969 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 18/1). S. 42. 94. 18 [Franz Kratter]: Briefe über den itzigen Zustand von Galizien. Ein Beitrag zur Statistik und Menschenkenntnis. Ή. 2. Leipzig (recte Wien) 1786. S. 47.

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Lebens- und Denkungsart der wackeren deutschen Nation zu gewöhnen."19 Der Fürst de Ligne fügte seiner Charakteristik der Juden eine bemerkenswerte Pointe hinzu: „Ich kehre zu den heutigen Juden zurück. Wenn die Christen weder das Geschick noch die Güte besitzen, sie aus ihrem jetzigen Zustand zu befreien und etwas Vernünftiges aus ihnen zu machen, so möchte ich ihnen wünschen (denn sie flößen mir täglich Heiterkeit oder Mitleid ein), daß einer der in der Türkei lebenden Juden tüchtig genug wäre, um beim Großherm jenen Einfluß zu gewinnen, der ihnen das Königreich Judäa wiederbrächte, wo sie sich gewiß besser verhalten würden als einst. Die gut erzogenen Juden, Bankiers, Kaufleute, mitunter fast wirklich adelige Freiherren, die in den christlichen Hauptstädten leben, würden auf Jerusalem verzichten, und die anderen würden dann in Europa nicht mehr schlecht behandelt werden, das durch die Auswanderung der Juden einen wohlverdienten schweren Verlust erlitte. [...] Wenn ich von einer Rückkehr nach Palästina spreche, meine ich damit nur die armen Teufel und die Schichte zwischen den Reichen und den Armen. Soll ich ihr Bild malen? Sie triefen stets von Schweiß, weil sie die öffentlichen Plätze und Wirtshäuser ablaufen, um dort zu feilschen. Fast alle sind bucklig und tragen einen roten oder schwarzen schmutzigen Bart. Sie sind bleich, zahnlos, haben eine lange schiefe Nase, einen unsicheren ängstlichen Blick und wackeln mit dem Kopf. Ihre ungekämmten Haare sind geringelt, die entblößten Knie gerötet, ihre langen Füße nach einwärts gedreht, die Augen sind hohl, das Kinn ist spitz. [...] Die Erniedrigung, die ihnen die Regierungen aufzwingen, ihre unentrinnbare Armut, ihre schlechte Nahrung, die schlechte Luft ihrer Bethäuser und ihrer Gassen lassen diese Gestalten und ihre Tracht nicht verschwinden." Am Schluß der Abhandlung räumte dieser zwischen Ancien régime und Aufklärung schillernde Kopf ein: „Ich begreife sehr gut die Gründe des Abscheues vor den Juden, Es ist aber hohe Zeit, daß er aufhört. Ein Zorn, der achtzehnhundert Jahre dauert, scheint mir lange genug gewährt zu haben." 20 Unter Ausschaltung ihrer fortschrittlichen Elemente entartete die josephinische Tradition unter Kaiser Franz II. (I.) zu bürokratischer Staatsomnipotenz und polizeilicher Bevormundung. Das 1792 eingerichtete Wiener Judenamt hatte den Zweck, mittellose Juden von der Hauptund Residenzstadt femzuhalten. Wer als Jude nicht zum auserwählten Kreis der Tolerierten gehörte, hatte bis 1848 unter beschämenden Schikanen die Bollettentaxe, eine Neuauflage der alten Leibmaut, zu entrichten. Auch sonst war der Fiskus erfinderisch: Lichtzündungssteuer und Koscherfleischaufschlag lasteten schwer auf den pauperisierten jüdischen Massen des Ostens der Monarchie. Demgegenüber kam der Staat den für die Kriegsführung gegen das revolutionäre Frankreich unentbehrlichen jüdischen Finanzmännern 19 Johann Pezzi: Skizze von Wien. Hrsg. Gustav Gugitz und Anton Schlosser. Graz 1923. S. 170 - 173. 20 Victor Klarwill (Hrsg.): Der Fürst von Ligne. Neue Briefe. Wien 1924. S. 187 - 199.

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entgegen: Mit den „Vertretern" wurde den Tolerierten 1792 eine Körperschaft zugestanden, die zum Ausgangspunkt für die Artikulation gemeinsamer Interessen werden sollte. Privilegien für einige wenige, entwürdigende Repression für die große Mehrzahl der Juden — dieser Widerspruch prägte die Existenz des österreichischen Judentums bis 1848. Der Wiener Kongreß stellte die Frage der Eingliederung der Juden in die nachrevolutionäre Gesellschaft nicht nur für Österreich, sondern auch für Deutschland. In Napoleons Machtbereich hatten ja Reformen stattgefunden, die die Juden aus mittelalterlichen Ghettoverhältnissen befreiten; auch im Zug der preußischen Reformen war 1812 die — freilich eingeschränkte — Rezeption der Juden als Staatsbürger erfolgt. Hardenberg und Wilhelm von Humboldt waren es auch, die einer generellen Regelung der Rechtsstellung der Juden sympathisch gegenüberstanden; selbst Metternich verhielt sich nicht ablehnend. Die Juden der Hansestädte hatten Carl August Buchholz zu ihrem Rechtsvertreter am Kongreß bestellt. Seine Propositionen zur „Verbesserung des bürgerlichen Zustands der Israeliten" stießen aber auf strikte Gegnerschaft der Repräsentanten der Hansestädte und Frankfurts, die von der bürgerlichen Gleichstellung der Juden eine Gefährdung ihrer Wirtschaftsinteressen fürchteten. 21 In den äußerlich glanzvollen Tagen des Wiener Kongresses erlebten auch Geselligkeit und Kultur in den Salons der jüdischen Bankiersfamilien ihren Höhepunkt. An erster Stelle standen die Häuser der Schwäger Nathan Adam Freiherr von Arnstein und Bernhard Freiherr von Eskeles, die mit den Töchtern des Berliner Bankiers Daniel Itzig vermählt waren. Namentlich Fanny von Arnstein hat als gefeierte Schönheit und Meisterin gepflegter Konversation ihre Zeitgenossen bezaubert. Im Amsteinschen Salon brannte zu Weihnachten 1814 ein Lichterbaum — das jüdische Chanukka-Fest beeinflußte in dieser einzigartigen, kulturelle Symbiose befruchtenden Atmosphäre das christliche Brauchtum. Zu den Gästen bei Arnstein zählte auch Metternichs rechte Hand, der geschmeidige und genußsüchtige Friedrich von Gentz, der wohl gerne Tafelfreuden und Kredit von Juden in Anspruch nahm, sich aber privat höchst abfällig über sie äußerte. Er stand in Kontakt mit dem Berliner Juristen Grattenauer, dessen Pamphlet Wider die Juden (1803) die lange Reihe antijüdischer Traktate des 19. Jahrhunderts eröffnete. Gentz ließ sich dann auch bestechen, den Artikel 16 der Deutschen Bundesakte im letzten Augenblick zuungunsten der Juden zu verfälschen: Nicht die „in" den Staaten des Deutschen Bundes geltenden Rechte der Juden, wie es ursprünglich geheißen hatte, sollten aufrecht bleiben — durch die Einsetzung der Partikel „von" wurde die Rechtskontinuität 21 Salo Baron: Die Judenfrage auf dem Wiener Kongreß. Wien, Berlin 1920.

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der Napoleonischen Reformen abgebrochen und die Behandlung der Juden der Kleinstaaterei der Reaktionsepoche und ihrer Misere preisgegeben. Auch in Wien hatte die äußere blendende Stellung einzelner Familien zur allgemeinen Rechtsverbesserung wenig bis nichts beigetragen. Die Zeit des Wiener Kongresses zeigte, daß die Juden „mit politischem Elend für gesellschaftlichen Glanz und mit gesellschaftlicher Verachtung für politische Erfolge gezahlt" haben. 22 Die schwerfällige Tätigkeit des österreichischen Beamtenapparats hat im Vormärz eine Flut von Akten produziert, in denen das Für und Wider bescheidenster Reformen in ermüdender Breite abgehandelt wurde — getan wurde so gut wie nichts. Lediglich die diskriminierenden Formen des Judeneides wurden 1846 abgeschafft. Wichtiger als die Dürftigkeit dieser bürokratischen Maßnahmen ist die geistige und kulturelle Selbsterneuerung des Wiener Judentums geworden. Die alten Formen des Gottesdienstes konnten die arrivierten Honoratioren nicht mehr fesseln; diese Tatsache fand in der Taufbewegung ihren Niederschlag. Fast alle Nachkommen der genannten Bankiers konvertierten früher oder später; besonders auffällig war das Bekenntnis eines schwärmerischen Katholizismus durch die Tochter Moses Mendelssohns, Dorothea, die sich in zweiter Ehe mit dem auch in Wien wirkenden Romantiker Friedrich Schlegel vermählte. Gegen diese Auflösungstendenzen wurde in Wien wie in Deutschland die gottesdienstliche Reform ins Treffen geführt. Die angesehenen Familien hatten Privatbetzimmer, für die Menge standen nur unzulängliche, dunkle Kulträume zur Verfügung. Der Großhändler Michael Lazar Biedermann aus Preßburg bahnte der überfälligen Reform den Weg. Allen Schwierigkeiten zum Trotz gelang im Jahr 1811 der Ankauf des Pempflingerhofes, in dem 1812 Betzimmer, rituelles Frauenbad und Religionsschule eingerichtet wurden. Biedermann hatte nicht nur äußere Widerstände zu überwinden, auch im Kreis der konservativen Juden war die Reform keine Selbstverständlichkeit. Diese Opposition führte Isak Löb Hofmann von Hofmannsthal — übrigens ein Urgroßvater des Dichters. Auf ihn ging die Berufung von Lazar Horwitz zurück, der als „Ritualienaufseher" die Funktion eines Rabbiners in der de jure nicht existenten Gemeinde wahrnahm. Biedermanns Hauptanliegen war der Bau einer würdigen Synagoge und die Gewinnung eines Predigers aus dem Kreis der deutschen Reform. Mit der Errichtung des Tempels in der Seitenstettengasse durch den namhaftesten Architekten des Biedermeier, Josef Kornhäusel, in den Jahren 1825/26 setzte sich das Wiener Judentum ein bleibendes Denkmal. Der Stadttempel, der in gelungener Synthese Erinnerungen an das Pantheon und die Kuppelarchitektur des Wiener Barocks mit eleganten klassizistischen Säulenreihen verschmolz, erhielt — den Bestimmungen für 22 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft Frankfurt 19SS. S. 95.

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Gotteshäuser tolerierter Religionsgemeinschaften entsprechend — kein Straßenportal. Als Prediger wurde der in Kopenhagen geborene Isak Noa Mannheimer berufen, der sich die „Wiedergeburt eines zerfallenen, aufgelösten Volkes, Wiederherstellung des reinen Gottesdienstes, der Einheit und Würde unserer unwissenden, verwahrlosten Glaubensgenossen" zur Aufgabe machte.23 Durch den hervorragenden Kantor Salomon Sulzer aus Hohenems, der mit Schubert befreundet war und dessen Sangeskunst Liszt bewunderte, wurde die Vokalmusik auf beispielgebendes Niveau geführt. 24 Alterdings konnte die Wiener Kultusreform, die auf dem Kompromiß zwischen Tradition und Assimilation beruhte, die Vereinigung der sozial und herkunftsmäßig höchst unterschiedlichen Gruppen des Wiener Judentums nur sehr unvollkommen leisten. Die Bevölkerungsstruktur des Wiener Judentums erfuhr im Vormärz erhebliche Änderungen. Gesellschaftlich und wirtschaftlich dominierten nach wie vor die uns schon bekannten Bankiersfamilien; unter ihnen schob sich das Wiener Haus Rothschild bald in die überragende Führungsposition. Ohne Salomon Mayer Rothschild wäre der Bau der k. k. Ferdinands-Nordbahn, der ersten überregional bedeutsamen Bahnlinie des Kontinents, nicht zustandegekommen. Die enge Verflechtung des Staates mit der internationalen Finanzmacht Rothschilds wurde als Bündnis von politischer Reaktion und Hochfinanz gerade von der demokratischen Intelligenz jüdischer Abstammung heftig, ja zuweilen haßerfüllt kritisiert. Besonders markant haben etwa Ludwig Börne, der aus Ungarn stammende Dichter Karl Isidor Beck (Lieder vom armen Mann, 1846) und Karl Marx in diesem Sinn Stellung genommen. Das Eingreifen des jungen Marx in die in den vierziger Jahren vehement geführte Diskussion um die Bedeutung der Judenemanzipation im revolutionären Wandel der Gesellschaft eröffnete neue Perspektiven: „Die Frage nach der Emanzipationsfähigkeit der heutigen Juden ist das Verhältnis des Judentums zur Emanzipation der heutigen Welt", formulierte Marx und — als Schlußsatz seiner oft interpretierten und oft mißverstandenen Schrift Zur Judenfrage: „Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum." Das Ärgernis für Marx ist die Privilegierung einzelner, die auf Kosten der allgemeinen Emanzipation die alte politische Ordnung für ihre egoistischen Zwecke ausbeuten. Die bürgerliche Emanzipation kann daher das Problem nicht lösen. Überhaupt ist die isolierte Stellung der Judenfrage falsch; mit der Situation des Juden ist zugleich die entfremdete Situation des Menschen im Kapitalismus bezeichnet. Nicht die politische Emanzipation also, sondern die menschliche, das heißt soziale Emanzipation als Revolutionierung der 23 Moses Rosenmann: Isak Noa Mannheimer. Sein Leben und Wirken. Wien, Berlin 1922. - 150 Jahre Wiener Stadttempel. Wien 1976. 24 Hanoch Avenary (Hrsg.): Kantor Salomon Sulzer und seine Zeit. Sigmaringen 1985.

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bürgerlich-kapitalistischen, antihumenen Gesellschaft kann die Judenfrage aufheben. Marx' Schrift ist hier von Bedeutung, da die deutschjüdische Emanzipationsdebatte am Vorabend der bürgerlichen Revolution ihre Argumente ganz wesentlich von der so widerspruchsvollen Wiener Situation bezog. Zustimmend zitierte Marx Bruno Bauers Satz: „Der Jude, der in Wien z.B. nur toleriert ist, bestimmt durch seine Geldmacht das Geschick des ganzen Reiches." Joseph Wertheimers Buch Die Juden in Österreich. Vom Standpunkte der Geschichte, des Rechtes und des Staatsvorteiles (2 Bde. Leipzig 1842) hatte über die Toleranz hinaus bürgerliche Gleichberechtigung gefordert; vermittelt durch die Kritik des Linkshegelianers Bruno Bauer ist so die konkrete Situation des österreichischen Judentums zum Hintergrund für die Formulierung der berühmten und umstrittenen Thesen von Marx geworden. Der .Judenschmerz" wurde auch ein bevorzugtes Thema der österreichischen Oppositionsliteratur — sehr markant etwa Nikolaus Lenau in seinem Gedicht Der arme Jude: Ein Jerusalem papieren Bauen deine Stammgenossen. Doch für dich ist es verschlossen. Wandern mußt du, darben, frieren. Jene haben's hoch getrieben. Du verschacherst alte Kleider, Aber alle seid ihr leider Ein geknicktes Volk geblieben.2S

Im Lauf des Vormärz war die Stellung der Juden Wiens zum Schlüsselproblem der Emanzipationsbewegung geworden. Die Zahl der tolerierten Familien war von 102 im Jahr 1793 auf 197 vor der Märzrevolution angewachsen. Doch nicht dieser Umstand, sondern der allen Verboten und bürokratischen Repressalien zum Trotz erfolgende Zuzug von geistig und wirtschaftlich regen Elementen in die Metropole machte Wien zum Brennpunkt der österreichisch-jüdischen Geschichte. Die Zahl der jüdischen Einwohner Wiens (es gab keine zuverlässige Zählung) belief sich gegen Ende des Vormärz auf 4000 bis 5000. Eine neue Generation war herangewachsen. Die etablierte Honoratiorenschicht hatte durch ihr politisches Verhalten zu erkennen gegeben, daß sie sich mit dem wirtschaftlichen Bündnis mit der Staatsmacht und den daraus resultierenden Privilegien zufrieden gab; ein Kampf um allgemeine Freiheitsrechte lag außerhalb ihres Gesichtskreises. Um so entschlossener nahm sich die junge Intelligenz der politischen, sozialen und nationalen Forderungen der Revolution an. Von ihrer ersten Stunde an standen Juden an vorderster Front. Am 13. März 1848 waren es vor 25 Nikolaus Lenau: Sämtliche Weike. Hrsg. Hermann Engelhard. Stuttgart 1959. S. 338.

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allem jüdische Mediziner, die der spontan in Gang gekommenen Demonstrationsbewegung politische Ziele setzten; die Rede des Sekundararztes Dr. Adolf Fischhof im Landhaushof gab der Revolution ihr durchschlagendes P r o g r a m m .26 Später war Fischhof — gewiß eines der größten politischen Talente des 19. Jahrhunderts in Österreich — durch sein Wirken im Sicherheitsausschuß und im Reichstag einer der markantesten liberalen Politiker des Revolutionsjahres. Dr. Ludwig August Frankl schrieb der jungen Revolution mit seinem oft vertonten Gedicht Die Universität die Hymne. Groß waren die Hoffnungen, die sich auch für die Juden an die Errungenschaften der Märztage knüpften. Bei der feierlichen Beisetzung der Märzgefallenen — unter ihnen zwei Juden, der Technikstudent Karl Heinrich Spitzer und der Webergeselle Bernhard Herschmann — fanden diese Hoffnungen auf einen Ausgleich der konfessionellen Unterschiede im Geist humanitärer Toleranz und gemeinsamen Kampfes um die Freiheit ihren Ausdruck. Seite an Seite mit dem katholischen Priester Anton Fiister, dem späteren Feldkaplan der Akademischen Legion, betonte Isak Noa Mannheimer diesen Gedanken eindrucksvoll in seiner Grabrede: Ihr habt gewollt, daß die toten Juden da mit Euch ruhen in Eurer, in einer Erde. Sie haben gekämpft für Euch, geblutet für Euch! Sie ruhen in Eurer Erde! Vergönnt nun aber auch denen, die den gleichen Kampf gekämpft und den schwereren, daß sie mit Euch leben auf einer Erde, frei und unbekümmert wie Ihr.

Die Emanzipation, die man in der Begeisterung der Märztage für eine Selbstverständlichkeit gehalten hatte, erwies sich aber in der Folge als eines der am schwierigsten zu lösenden Probleme der demokratischen Neugestaltung. Das Jahr 1848 hat nicht nur die Prinzipien des Liberalismus und der Demokratie auf seine Fahnen geschrieben, es ist auch das Geburtsjahr eines aggressiven Antisemitismus geworden, dessen Folgen noch lange zu spüren waren. Die letzten Gründe sind in den ökonomisch zurückgebliebenen Verhältnissen Österreichs zu suchen — es ist mit Recht betont worden, daß für die Erforschung des Phänomens Antisemitismus die Erhaltung vorkapitalistischer Klassen und soziale Stagnation besonders beachtet werden müssen. In den antisemitischen Pamphleten des Revolutionsjahres werden die Juden als Urheber der Revolution denunziert; im Falle ihrer Emanzipation wird offen mit Judenverfolgungen gedroht. Die alten Motive des Hasses gegen den Andersgläubigen verquickten sich mit wirtschaftlich begründetem Konkurrenzneid des Krämers und Kleingewerbetreibenden zu einem unerfreulichen Gemenge. Auf jüdischer Seite reagierte man mit 26 Richard Chamiatz: Adolf Fischhof. Das Lebensbild eines österreichischen Politikers. Stuttgart, Berlin 1910. S. 19ff. - Werner J. Cahnman: A. Fischhof and his Jewish Followers. In: Yearbook of the Leo Baeck Institute 4 (1959). S. I l l - 139.

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Bestürzung auf diesen unerwarteten Ausbruch. Die Hoffnungen der Märztage waren zerstoben; die Juden sahen sich vor die Perspektive einer langwierigen Auseinandersetzung mit einer feindlichen Umwelt gestellt. Das „österreichische Central-Organ für Glaubensfreiheit, Cultur, Geschichte und Literatur der Juden" wurde zum Spiegel dieser Entwicklung; sein Herausgeber, Isidor Busch, emigrierte in der Reaktionszeit nach den USA. Nur einige Aspekte dieses frühen Antisemitismus können hier hervorgehoben werden. Als dunkles Erbe der Vergangenheit begegnet uns immer noch der Antijudaismus spezifisch christlicher Prägung, der sich im J u d e n " ein Feindbild schuf. Der publizistische Wortführer dieser Richtung war der Priester Sebastian Brunner, der mit Recht als Bindeglied „zwischen dem christlichen Antijudaismus eines Abraham a Sancta Clara und dem katholischen Antisemitismus der christlichsozialen Bewegung des späten 19. Jahrhunderts" bezeichnet wurde. 27 In der „Wiener Kirchenzeitung" hat Brunner die Motive seines Kampfes dargelegt: Er, der selbst aus dem Wiener Gewerbe, der Seidenweberei des Schottenfeldes, stammte, erblickte in den aufsteigenden kapitalistischen Wirtschaftsformen die Entchristlichung einer heilen Gesellschaftsordnung — Schuld daran hätten die Juden und ihr zersetzender Geist. In den sechziger Jahren hat Brunner auch die Ritualmordbeschuldigung wieder in die Öffentlichkeit gebracht. Die Nationalsozialisten bezeichneten den ehemaligen Artillerieunteroffizier Johann Quirin Endlich als Antisemiten in ihrem Sinn. Endlich, der sich 1848 und in der Reaktionszeit publizistisch betätigte, vertrat sozusagen den absoluten Antisemitismus — für ihn war „der Jude überall gleich". Zur Begründung dieser These wurden Behauptungen vorgebracht, daß Juden zu jedem Umsturz geneigt und die schlimmsten Ausbeuter in den Fabriken seien. Charakteristisch ist hier, daß zwischen den sozialen Gruppen kein Unterschied gemacht wird; der demokratische Revolutionär erscheint dem Antisemiten als ebenso typisch „jüdisch" wie der wirtschaftstreibende, politisch konservative Jude. 28 Während sich die demokratischen Blätter Wiens für die Judenemanzipation und gegen die judenfeindlichen Ausfälle konservativer Organe („Geißel", „Briefe des Hans-Jörgel", „Zuschauer") erklärten, gebärdete sich Paul Eduard Müller-Tellering, der Wiener Korrespondent der „Neuen Rheinischen Zeitung", als rabiater Antisemit „vom Standpunkte 27 Erika Weinzierl. In: Karl Heinrich Rengstorf, Siegfried von Kortzfleisch (Hrsg.), Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Bd. 2. Stuttgart 1970. S. 499. 28 Vgl. zum Komplex des frühen Antisemitismus Eleonore Sterling: Judenhaß. Die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland (1815-1850). Frankfurt 1969. Dorothea Weiß: Der publizistische Kampf der Wiener Juden um ihre Emanzipation in den Flugschriften und Zeitungen des Jahres 1848. Diss. Wien 1971. - Hans Novogoratz: Sebastian Brunner und der frühe Antisemitismus. Diss. Wien 1978.

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der Demokratie aus". 29 Nur mit einem flüchtigen Blick können wir Vormärz und Revolution in Böhmen, Galizien und Ungarn streifen. Für die Besucher Prags bildete das uralte, von historischen Erinnerungen und Sagen umwitterte Prager Ghetto, dessen bauliche Substanz erst mit der Assanierung knapp vor der Jahrhundertwende beseitigt wurde, einen Anziehungspunkt. Jene Mischung von Grauen vor Schmutz und Enge und romantischer Verklärung geheimnisvoller Religions- und Volksbräuche, die sich zu einem literarischen Topos verdichtete und bei Gustav Freytag (Geschichten aus dem Ghetto in Prag, 1849) und Wilhelm Raabe (Holunderblüte, 1863) nachzulesen ist, glitt in der Folge zu Kolportage ab: Markantestes Beispiel für diese Fehlentwicklung ist die Friedhofsszene des Sensationsromans Biarritz (1868) von Hermann Goedsche/Sir John Retcliffe, die zu einer Vorlage der berüchtigten Protokolle der Weisen von Zion werden sollte. 30 Gustav Meyrinks einst vielgelesener Golem steht in einer langen Tradition, hat aber zu einer besseren Kenntnis der wahren Situation des Prager Judentums nichts beigetragen. Neues bahnte sich auch hier im Schwarzen Prag zwischen altem Gemäuer, Synagogen und Friedhöfen an. Die „Jüdisch-Deutsche Monatschrift", herausgegeben von einer „Gesellschaft junger Hebräer" (1802), war die Inkunabel einer selbständigen Aufklärungsströmung in der Prager Intelligenz. Um das Jahr 1839 schrieb die Prager Bürgersfrau Amalie Taubeis an den bekannten Reformer Samuel Holdheim: „Selbst das Wort Toleranz ist mir empörend; kein Mensch hat das Recht, den anderen zu tolerieren; vor dem Gesetze darf der Mensch nichts als Mensch sein." 31 Die um 1820 geborene Generation war auf der Suche nach geistiger und nationaler Heimat. 32 In der literarischen Gesellschaft „Roter Turm" kamen in den aufgewühlten vierziger Jahren die jungen Dichter Moritz Hartmann und Siegfried Kapper (die beiden Freunde wurden später zu 29 Zuletzt Rudolf Zewell: Paul Eduard Müller-Tellering. Sein Weg vom Koblenzer Beamten zum revolutionären Journalisten. In: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 7 (1981). S. 311 - 3 3 6 . 30 Noiman Cohn: Die Protokolle der Weisen von Zion. Der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung. Köln, Berlin 1969. S. 42f. 31 Franz Kobler (Hrsg.): Jüdische Geschichte in Briefen aus Ost und West. Das Zeitalter der Emanzipation. Wien 1938. S. 66. 32 Vgl. Margarita Pazi: Jüdisch-deutsche Schriftsteller in Böhmen im 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte. Beiheft 4 (1982). S. 203-257. — Michael A. Riff: Jüdische Schriftsteller und das Dilemma der Assimilation im böhmischen Vormärz. In: Walter Grab, Julius H. Schoeps (Hrsg.): Juden im Vormärz und in der Revolution von 1848. Stuttgart-Bonn 1983 (= Studien zur Geistesgeschichte 3). S. 58 - 82. - Ruth Kestenberg-Gladstein: Identifikation der Prager Juden vor und während der Assimilation. In: Die Juden in den böhmischen Ländern. München, Wien 1983. S. 161 - 183. — Wilma Iggers (Hrsg.): Die Juden in Böhmen und Mähren. Ein historisches Lesebuch. München 1986.

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Schwägern) mit deutschen und tschechischen Literaten zusammen. Während Moritz Hartmann sich von jüdischen Bindungen löste, ohne jedoch den Schritt der Taufe zu vollziehen, und sich trotz seines Interesses für die Geschichte der Hussiten dann ohne Vorbehalt der Sache des Deutschtums anschloß, suchte Kapper, der in deutscher und tschechischer Sprache schrieb und später auch südslawische Dichtungen übersetzte, als Jude den Anschluß an die erwachende tschechische Nationalbewegung, ohne sich von der brüsken Zurückweisung eines Havlicek beirren zu lassen. Beide haben, so unterschiedlich ihre Positionen waren, ihren Mann in den Stürmen von 1848 gestellt — der Mediziner Kapper mit vielen seiner Kollegen in der Wiener März- und Oktoberrevolution, Hartmann als Abgeordneter zur Frankfurter Paulskirche und als Kombattant in den letzten Kämpfen der Wiener Revolution. Seine Reimchronik des Pfaffen Maurizius war der Abgesang der geschlagenen Revolution, deren Idealen er in unversöhnlichem Gegensatz zur preußisch-kleindeutschen Reichsgründung unbeirrbar die Treue hielt. Die Situation der Juden Böhmens komplizierte sich auch durch soziale Unruhe im Gefolge der Industrialisierung. Die Arbeiteraufstände von 1844 in Prag und Umgebung richteten sich nicht nur gegen jüdische Fabrikanten, sondern auch gegen die selbst notleidenden Kleinhändler der Prager Judenstadt. Diese Angriffe sollten sich 1848 wiederholen. Schwieriger noch stellte sich die Lage des Ostjudentums in Galizien dar. Nationale Spannungen wurzelten hier tief im Gegensatz zwischen polnischen Grundherren und ruthenischen Bauern; die Juden gerieten zwischen die nationalen und sozialen Fronten. Schien zunächst die Assimilation der bürgerlichen Schichten an das im Beamtentum vorherrschende Deutschtum erfolgversprechend, verkettete sich in der Folge das Schicksal der Juden immer stärker mit der Sache der Polen. Eine Verbindung zwischen den um eigene Staatlichkeit ringenden Polen und den zur Emanzipation strebenden Juden wurde für beide Teile attraktiv. Die geistige Differenz innerhalb des galizischen Judentums beschränkte sich nicht auf die Spannungen zwischen orthodoxen Mitnagdim und aufgeklärten Maskilim, sondern erhielt durch den die Massen beherrschenden Chassidismus ihren spezifischen Charakter. Mit der Übersiedlung des „Ruzyner Rebbe" Israel Friedman in die Bukowina (1841) entstand hier das bedeutendste Zentrum des Chassidismus der Habsburgermonarchie: Sadagora bei Czernowitz. Die Entartungserscheinungen der religiösen Erweckungsbewegung des Chassidismus — der Personenkult um die Zaddikim, die förmliche Dynastien begründeten, und der Wallfahrtsbetrieb für eine wundergläubige Menge um ihre prachtvollen „Höfe" — forderte die Kritik der Gegner heraus. 1848 kam es in Galizien zu einem in bedrohlichen Formen geführten Kulturkampf, in dem jene jüdischen Kreise, die sich im politisch-nationalen Leben ihrer

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Umgebung engagierten, in Konflikt mit den konservativen Glaubensgenossen gerieten. Die mysteriöse Ermordung des für geistige und religiöse Reform wirkenden Rabbiners Abraham Kohn von Lemberg war ein alarmierendes Symptom für diese Spannungen. In Ungarn entwickelte das jüdische Bevölkerungselement die stärkste Dynamik in sozialökonomischer und ideologischer Hinsicht. Um 1830 belief sich die Zahl der ungarländischen Juden auf 200 000 — eine absolute und relative Verdoppelung seit der josephinischen Zeit, die sich bis 1860 noch einmal wiederholte. Diese eindrucksvolle Vermehrung ist vor allem auf eine Einwanderungswelle großen Ausmaßes zurückzuführen. Schon seit der Ausweisung von 1670 hatten ungarische Magnaten wie die Esterházy und Batthyány auf ihren westungarischen Gütern jüdische Gemeindebildungen geduldet, ja aus wirtschaftlichen Erwägungen gefördert. Bis 1938 repräsentierten diese burgenländischen Gemeinden eine konservative, in die soziale Umgebung integrierte jüdische Lebensordnung. Vom starken Zuzug mährischer Juden nach Ungarn war schon eingangs kurz die Rede. Die Berührung mit kapitalistischen Wirtschaftsformen und die Kenntnis der Haskala befähigten viele dieser Zuwanderer, bei der wirtschaftlichen Erneuerung ihrer zweiten Heimat wie auch in der Reformbewegung eine wesentliche Rolle zu spielen. Sie waren es auch, die in hohem Maß das mobile städtische und intellektuelle Element bildeten. Dieser Einfluß wurde zunächst stark durch das Ostjudentum gebremst, das in ununterbrochenem Zug aus Galizien einströmte. Diese Ankömmlinge bewahrten am längsten eine sozial konservative, konfessionell orthodoxe Position; vom Nordosten her erhielt auch der Chassidismus starke Impulse. Dieser herkunftmäßigen Gliederung des ungarischen Judentums entsprach ziemlich genau die Position seiner geistigen Führer. Die bedeutendsten Reformer — Aron Chorin, Leopold Löw, Löw Schwab — stammten aus den Sudetenländern, die Häupter der auf die rabbinische Orthodoxie eingeschworenen Orthodoxen dagegen kamen aus Deutschland, wie die Preßburger Rabbinerfamilie Sofer aus Frankfurt/Main, oder aus Galizien. Im Zug der Reformlandtage stand auch das Emanzipations- und Assimilationsproblem des Judentums zur Debatte; für die liberalen Kräfte im Adel zeichnete sich eine mögliche Partnerschaft mit dem jüdischen Bürgertum ab. Franz Deák formulierte bündig das Prinzip der Emanzipation: „Entweder sind die Juden Menschen oder nicht; sind sie keine Menschen, so werft sie doch zum Lande hinaus; sind sie aber Menschen, so gebt ihnen auch alle Menschenrechte!" In der Magnatentafel war Baron Josef Eötvös Wortführer der Emanzipationsfreunde; in seinem Roman Der Dorfnotär wird diese Frage ausführlich diskutiert. Das ungarländische Judentum tendierte in kultureller Hinsicht lange

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Zeit zum Deutschtum; seit den vierziger Jahren vollzog sich ein rapider Magyarisierungsprozeß. Radikale Politiker wie Kossuth machten die Magyarisierung zur conditio sine qua non der bürgerlichen Gleichstellung. 33 Das Revolutionsjahr zog dann die ungarischen Juden als Mithandelnde und Mitleidende in den Strudel der ungelösten sozialen und nationalen Probleme des Reiches der Stephanskrone. Der ersten Begeisterung folgte bald Ernüchterung: Das noch schwach entwickelte (weitgehend deutsche) Bürgertum sah in den Juden eine unerwünschte Konkurrenz; in vielen Städten kam es zu antijüdischen Kundgebungen, in Preßburg um die Osterzeit 1848 zu einem regelrechten Pogrom. Die Juden mußten sich aus der Nationalgarde und weitgehend aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Andererseits stärkte die Revolution die Reformbestrebungen, die im Zentralreformverein Ignaz Einhorns in Pest gipfelten: Gebet in der Landessprache mit unbedecktem Haupt, Vokal- und Instrumentalmusik, Verlegung des Sabbat auf den Sonntag, Abschaffung der Speisegesetze und der Beschneidung charakterisierten diesen Versuch einer kleinen, aber energischen Gruppe, die Tradition zur Gänze abzustreifen. Einhorn stellte sich unter die Fahnen des ungarischen Unabhängigkeitskampfes; er stand als einziger Feldrabbiner in General Klapkas Korps, das erst nach der Katastrophe von Világos in der Festung Komom unter ehrenvollen Bedingungen die Waffen streckte.34 Die entschlossene Teilnahme vieler Juden am Widerstand gegen die österreichische und russische Armee führte zu einem Umdenken der Revolutionsregierung. Die ungarischen Juden hatten nicht nur durch direkte Teilnahme am bewaffneten Kampf, sondern auch durch die Stützung der Kossuthnoten der magyarischen Sache wertvolle Dienste geleistet. Zwei Wochen vor dem militärischen Zusammenbruch dekretierte der Reichstag die uneingeschränkte Emanzipation der Juden (28. Juli 1849). Nach der Niederlage hatte diese verspätete Maßnahme unangenehme Folgen für die ungarischen Juden. Als einem „revolutionären Element" wurde ihnen von den Siegern eine hohe Kriegskontribution auferlegt, die erst später im Gnadenweg einem neugeschaffenen Schul- und Unterrichtsfonds zugeführt wurde. Das Scheitern der Revolution im Kampf gegen die konservativen Kräfte zeitigte auch für das österreichische Judentum schwerwiegende Folgen. Noch konnte der nach Kremsier verlegte Reichstag die bürgerliche Gleichstellung im liberalen Sinn kodifizieren: „Die Religionsver33 George Barany: .Magyar Jew or: Jewish Magyar?' To the Question of Jewish Assimilation in Hungary. In: Canadian-American Slavic Studies 8 (1974). S. 1 - 44. 34 Ignaz Einhorn: Die Revolution und die Juden in Ungarn. Leipzig 1851. Kurze Zeit wurde die Reformgemeinde noch von seinem Namensvetter David Einhorn geführt; dieser Rabbiner wurde in der Emigration Organisator des amerikanischen Reformjudentums. Ignaz Einhorn kehrte unter dem Namen Ede Horn 1869 wieder nach Ungarn zurück, wo er als erster Jude ein Regierungsamt als Unterstaatssekretär bekleidete.

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schiedenheit begründet keinen Unterschied in den Rechten und Pflichten des Staatsbürgers" (Grundrechte § 14). Die Auflösung des Reichstags und die Proklamierung der oktroyierten Verfassung im März 1849 setzten einen Schlußpunkt unter den aus der Revolution geborenen Grundrechtskatalog. Immerhin kannte auch die neue Verfassung keinen Unterschied der Bekenntnisse. Unter den jüdischen Honoratioren herrschte große Freude, als der junge Kaiser Franz Joseph I. am 3. April 1849 in einer Ansprache die Worte „israelitische Gemeinde von Wien" gebrauchte; 1852 trat ein provisorisches Gemeindegesetz in Kraft. Die Aufhebung der nie ins Leben getretenen Verfassung zu Ende des Jahres 1851 und die unverhüllte Rückkehr zu absolutistischen Regierungsformen ließen die Stellung der Juden wieder fraglich werden. Das Besitzrecht für Juden wurde 1853 erheblich eingeschränkt; auch in bezug auf den Zutritt zu Staatsämtern und die Freizügigkeit wurden manche Schwierigkeiten bereitet. Der Zerfall des neoabsolutistischen Systems als Folge der Niederlagen auf den italienischen Schlachtfeldern (1859) brachte mit der allgemeinen Liberalisierung des öffentlichen Lebens auch den Juden die gesetzliche Gleichberechtigung. 1861 zogen drei jüdische Abgeordnete in den Wiener Gemeinderat ein; Anselm Rothschild wurde zum Mitglied des Herrenhauses ernannt. Die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit brachte die Verfassungsgesetzgebung des Jahres 1867 für beide Reichshälften; das interkonfessionelle Gesetz vom Mai 1868 Schloß eine Entwicklung ab, die über Umwege wieder zu den Ideen von 1848/49 zurückgeführt hatte. Die österreichischen Juden traten unwiderruflich in die bürgerliche Welt der liberalen Epoche ein. Berthold Auerbach, der im Oktober 1848 den Endkampf und die Niederlage der Wiener Revolution miterlebt hatte, schrieb anläßlich der Annahme der Dezemberverfassung: „Da ist es jetzt mir in Gedanken, als hörte ich ein Blatt der Weltgeschichte umwenden, ein viel verkritzeltes, dunkles. Hoffentlich haben wir auf dem neuen in reinen Linien heller zu berichten." 35 Die Epoche, in der das österreichische Judentum den Weg von der Toleranz zur Emanzipation zurückgelegt hatte, endete mit einer offenen Frage. Die allzulang hinausgezögerte formalrechtliche Gleichstellung hat die sozialen Probleme nicht lösen können, und die rasche Entwicklung antisemitischer Ideologien und Massenparteien hat die liberale Hoffnung auf ein friedliches Miteinander zerstört. Die möglichen Positionen des Judentums der Donaumonarchie in der bürgerlichen Gesellschaft können für die Zeit zwischen 1780 und 1867 in einem breiten Spektrum aufgezeigt werden. Der Prozeß der Assimilation ist kein einseitiger gewesen: In vielfältigen Formen der Akkulturation hat das Judentum des Vielvölkerreiches seinen Beitrag zur Überwindung 35 Kobler (Anm. 31), S. 45.

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von altgewordenem Unrecht, zu schöpferischer Entfaltung in Literatur und Geistesleben, zur Öffnung neuer Perspektiven gesellschaftlicher Entwicklung geleistet.

Hans-Jürgen Schräder (Göttingen)

Sulamiths verheißene Wiederkehr Hinweise zu Programm und Praxis der pietistischen Begegnung mit dem Judentum

I. Ein Blick zurück auf das Verhältnis der evangelischen Christenheit zur Gemeinschaft der Juden vor dem späten 18. Jahrhundert, jenseits also der Phase fortgeschrittener Säkularisation und fortschreitender Emanzipation, muß sich auf sehr fremd gewordene Geisteswelten einlassen. Das gilt nicht nur für die vor den Progressen der Aufklärung spärlicher verfügbaren Quellen aus dem Bereich der in äußeren und inneren Ghettos, in rechtloser Ohnmacht verharrenden Judenschaft, sondern nicht minder für die überreich vorhandene literarische Überlieferung des Pietismus, jener frömmigkeitlichen Reformbewegung, die vom ausgehenden Barock bis an die Schwelle der Goethezeit im protestantischen Teil des deutschen Sprachraums zur geistesgeschichtlich dominierenden Kraft erwachsen ist. Gerade auch in seinen Stellungnahmen zu den Juden ist dieses Schrifttum erst ansatzweise gesichtet und erforscht. In den jüdischen Enzyklopädien fehlt ein eigenes Stichwort .Pietismus' ebenso wie jeder Spezialartikel über die für das Verhältnis der Religionsgemeinschaften zueinander richtungweisenden pietistischen Vordenker. Die mehr als hundert Jahre binnen- und außerkirchlicher Erneuerungsbestrebungen geraten dort fast nur unter dem Lemma der „Judenmission" in den Blickpunkt, und bevorzugt auf diese in ihrem einseitigen Einwirken problematische Teilerscheinung verweisen auch die protestantischen Fachlexika, weithin sogar die wenigen kirchengeschichtlichen Spezialforschungen über Berührungen mit den Juden in diesem Zeitraum. Die Fremdartigkeit des pietistischen Denkens beginnt für den hier nicht bewanderten, von Lektüreerfahrungen erst nach der Säkularisationsschwelle des ausgehenden 18. Jahrhunderts herkommenden Leser schon bei der Lexik der Zeugnisse. Die von den Pietisten selbst als „Canaans Sprache" 1 bezeichnete gemeinschaftsstiftende Sondertermi1

So z.B. im „Studenten=Gesang". In: [Johann Friedrich Haug (Hrsg.):] THEOSOPHIA PNEUMATICA, oder / Geheime GOttes=Lehre. [Idstein] 1710, Abschluß des eigenpaginierten Traktats von Jacob Brill: Der Weg des Friedens. S. [268]. [SB Braunschweig: I 9/377]. - Die im 17. und 18. Jahrhundert oft auflagenstark verbreiteten Drucke der pietistischen Literatur sind, weil Erbauliches, Heterodoxes und Traktatschrifttum in

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nologie mag ihn nämlich paradoxerweise bisweilen eher wie die Äußerung einer jüdischen als einer christlichen Frömmigkeit anmuten. Wenn es in einem Traktat von 1710 etwa heißt, „Soll dann die Tochter Zion immer einsam seyn [...]?" ; „Der Israel zerstreuet hat / der wird es auch wieder sammlen"; „auf daß die vom Hause Jacob wandeln mögen in einem Geist und in einerley Fußtapffen / und die Inwohner Jerusalems gleiche Sprache führen / und in einem Gemilth und Sinne eingerichtet seyn mögen. [...] Man siehet an uns die Zungen zertheilet [...] leider wie in Babel: darum ist auch alles also in das seine und die Sinne zerstreuet / daß [...] guter Vorsatz zur Sammlung nicht gedeyen will", 2

dann ist damit, wie der Kontext erweist, hier keineswegs von der jüdischen Diaspora unter die Nationen und von einem präzionistischen Sammlungsprogramm die Rede, sondern in alttestamentarisch chiffrierter Metaphorik vom Zerfall der Christenheit in Konfessionen und von der Erwartung einer zukünftigen brüderliebenden, philadelphischen Geistesgemeinschaft der wahrhaft Erweckten in allen Kirchen. Darauf, daß dieser philadelphische Zusammenschluß nach der Überzeugung einiger seiner Propagatoren in endzeitlicher Dimension auch die frommen Juden einbegreifen werde, geht der zitierte Passus nicht ein. Ich werde später darauf zurückkommen. So dürfen auch gleichermaßen chiffrierte (hier zum Exempel aus dem Angebot nur eines einzigen radikalpietistischen Verlagshauses, in Offenbach nämlich, ausgewählte) Buchtitel nicht wirren oder über ihre ausschließlich innerchristliche Bezogenheit hinwegtäuschen wie NEUE KLAG MOSIS Von den Abweichungen Der auß Egypten auffsteigenden Israeiiten Oder von den Fehlern der anfangenden Christen? Unsichere Ruh- und Lagerstätte Israels,4 Buß=Thränen zweyer Töchter in Israel,5 Reinigung der Kinder Levy,6 Der Weg zum Sabbath der Ruhe / Durch der Seelen Fortgang Im Werck der Wiedergeburt1

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den wissenschaftlichen Bibliotheken der Zeit kaum gesammelt wurde, heute großenteils rar geworden und mühsam zu ermitteln. Um den Zugang zu erleichtem, zitiere ich deshalb die vor 1800 erschienene Literatur mit Standortnachweisen. Vorrede zu: THEOSOPHIA PNEUMATICA. Ebd. S. F ^ , F 4 r und F l v . Anonym von Samuel König. 1701 [UB Maiburg: XIX eC 2377 r ]; erw. Neuaufl. Berleburg 1723 [Fürstl. Hof-Bibl. Bad Berleburg: Rc 4/120]. Voranmeldung im Ostermeßkatalog 1704. Die halbjährlichen Messekataloge (CATALOGUS UNIVERSALIS, Sive DESIGNATO OMNIUM LDBRORUM, Qui hisce Nundinis [...] prodierunt) sind neuerdings in der StB Preuß. Kulturbesitz, Berlin [Zsn 90101 MF] komplett auf Microfiche verfügbar. Von Johann Christoph Bröske. Nachweis: HerbstmeBkatalog 1698. Hier geht es um zwei Bekehmngsgeschichten, „die erste in des HErm JEsu / die zweyte in unsem Tagen / da die letztere wegen verübten Kinder=Mords mit dem Schwerdt hingerichtet worden". Von Henrich Horch. 1701. Vgl. dazu Norbert Fehringer: Philadelphia und Babel. Diss, theol. Marburg 1971. S. 186 und 219. 1702, deutsche Übersetzung der philadelphischen Programm Schrift Thomas Bromleys

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oder David und Jonathan in gleichem Leid einander tröstende Anleihen aus dem Sprach- und dem Namensreservoir der Bibel zu aktualisierendem Neubezug sind zwar im Protestantismus nicht ungewöhnlich, doch gilt dies — und zwar mit einer sonst ungewöhnlichen Bevorzugung des Alten Testaments — „für die Pietisten doppelt und dreifach".9 Ist bei ihnen die Rede von einem .rechten Israeli ten, in welchem kein Falsch ist', dann meinen sie in aller Regel nicht einen Juden, sondern in Applikation von Joh. 1, 47 einen pietistisch Erweckten. 10 Die bibelsprachliche Verklausulierung des Gemeinten, beispielhaft etwa im Nachruf auf den Halleschen Theologen Breithaupt „Wann [...] Sorge um den Bau des Reichs GOttes Ihm immer auf dem Hertzen lag, so war sein Gemtlth desfalls auch stets mit Wehklagen erfüllet. Er sprach ohn Unterlaß bey allen seinen Verrichtungen mit David sein stilles Sela. Ach Gott! flog ohn Unterlaß, wie Noä Täublein, aus, Ihm ein Oelblättlein des göttlichen Trostes zu Hülfe zu holen"11 wird aus moderner kulturanthropologischer Sicht als ein Jargon bestimmt, der durch seine Funktionsverschiebung penetrant und heuchlerisch wirke: „Ausgesprochenen Ritualcharakter trägt [...] die sogenannte Sprache Kanaans. Ursprünglich drückt sie die Intention aus, zur Sprache der Bibel zurückzukehren. Als solche ist sie religiös echt [...]. Dort aber, wo sie [...] dazu dient, das pietistische Selbstverständnis nach aussen zu dokumentieren, wird sie zum sozialen Erkennungszeichen." [...] 12 [LKA Nürnberg: Fen Π, 813 8° (Sbd)]. Trauerpredigt J. A. Müllers auf den Tod der Isenburger Gräfin Amalia Louysa. 1723 [HAB Wolfenbüttel: Stoib. Leichenpr.-Slg. 2383], 9 August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus. 2. erg. Aufl. Tübingen 1968. S. 39lf. 10 Besonders gem wird dieses Verfahren angesichts der pietistischen Neigung zu biblischer, häufig jüdischer Vomamengebung für fromme Namensallegoresen ausgenützt, z.B. für den Bielefelder Prediger Israel Ciauder in Erdmann Heinrich Graf Henckel: Die letzten Stunden einiger Der Evangelischen Lehre zugethanen [...] Personen. IV. Teil. 2. Aufl. Halle 1726. S. 73 - 139 [LB Stuttgart: Theol. oct. 7811). Derartige pietistische Metonymien begünstigen moderne Mißverständnisse, so daS z.B. ein Lindauer Uhrmacher Gottfried Koch, dem der Quietist Charles Hector de Marsay in seiner Autobiographie als Kennzeichen vorbildlicher Erweckung und Frömmigkeit das Epitheton „ein Israelit" zuerkennt, für .Jüdisch" gehalten wird: Jost Klammer: Der Pemer von Arfeld. Bad Berleburg, Dortmund 1983. S. 102. 11 Barachias Fabricius: MEMORIA IVSTI, Das ist, Gedächtniß=Schrift von dem erbaulichen Leben und Sterben des Seligen HERRN Abt Breithaupts. In: Gotthilf August Francke (Hrsg.): Das Gesegnete Gedächtniß [...] Herrn Joachim Just Breithaupts. Halle 1736. S. 164 [UB Halle: Za 3700. 2°]. 12 Peter Weidkuhn: Strukturlinien des baslerischen Pietismus. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 62 (1966). S. 164. 8

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Den tieferen Grund aber dieser Redeweise hat 1709 ein orthodox-lutherischer Widersacher des Pietismus auf den Begriff gebracht, als er seinem Gegner vorwarf, „daß er bei vielen Sprüchen der heiligen Schrift seine sonderlichen Gedanken hat und more pietistico fast alles mystice per allegorias, typos et antitypes öfters nicht ohne Verdrehung der Worte erklären will." 13

Das bis in die Sprache hinein sich abbildende typologische Bibelverständnis der Pietisten, ein aus der mittelalterlichen und frühprotestantischen Allegorese überkommenes, bei den zeitgenössischen Orthodoxen aber weithin aus der Mode gekommenes Denksystem hat nun allerdings ursächlich und maßgeblich etwas zu tun mit ihrer vom orthodoxen Kirchen tum grundlegend differierenden Einstellung zu den jüdischen Mitbürgern. Grundsätzlich jedes Wort der Bibel nämlich, auch alles dort über die Juden Gesagte und auf sie Beziehbare, verstehen sie nicht nur als eine Verkündigung für eine spezifische geschichtliche Situation, sondern zugleich als einen fortwirkend aktualen Typus, eine präfigurative Verheißung des Heiligen Geistes für die Gesamtökonomie der göttlichen Heilsgeschichte und zugleich für die Mikrokosmoi des göttlichen Prozedierens mit jeder Einzelseele. Die „Geheimnußen der Schlifft" sind nicht als Vergangenheit anzusehen, sondern immer auch auf Gegenwart und Zukunft zu applizieren; sie erfüllen sich „gemeiniglich Staffel=weiß / von Klarheit zu Klarheit / von Warheit zu Warheit [...]. Dergestalt wird immer Himmel und Erden erschaffen (in der Bekehrung des Menschen) [...]. Einfolglich / daß alle Historien / Personen und Sachen immer Figuren und Ftirbilder der künfftigen seyn. Also ist ein Elias kommen / und kommt noch / und wird kommen [...]. Daß demenach auch alles neben dem buchstäblichen Verstand / einen geistlichen mystischen Verstand / und die eigene Nahmen als Canaan / Jerusalem / Sara usw. ihre sonderliche Bedeutung haben." 14 „Die Juden erkannten solches wol / welche vormals sagten; es wäre in der Schlifft kein einziger Buchstab / woran nicht gantze Berge der Erkenntnissen hiengen." 15 13 Bericht Christoph Kiesewetten über die durch Fabricius e in re ¡Bende Pietisterei. Publiziert bei Theodor Wotschke: Der Pietismus in Thüringen. In: Thüringisch-Sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 18 (1929). S. 40. 14 [Johann Henrich Reitz:] Das Füibilde der heilsamen Worten, o. O. 1705. S. 20 - 23, vgl. 25 [StUB Göttingen: 8° Theol. thet. I, 790/7]. 15 Vgl. zu dieser wieder aufgegriffenen Lehre vom mehrfachen Schriftsinn die Vorrede zu der in acht Foliobänden (1726 - 1739) auf der Grundlage der gesamten mystischspiritualistischen Tradition nach diesem typologischen Prinzip kommentierten „Berleburger Bibel" (vgl. dazu Anm. 101): Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments / Nach dem Grund=Text aufs neue übersehen und übersetzet: Nebst einiger Erklärung des buchstäblichen Sinnes / wie auch der fürnehmsten Fürbildern und Weissagungen [...] und zugleich einigen Lehren die auf den Zustand der Kirchen in unseren letzten Zeiten gerichtet sind [...]. Teil 1. Berleburg 1726. S.)(2 r - )(4 V ; Zitat:

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Wenn Heinrich Heine das weltzugewandt-sinnenfrohe, einem unbedingten Lebens- und Kunstgenuß zugewandte „Hellenentum", das er in seiner saint-simonistischen Phase propagierte, beständig bedroht sah durch die finster-weltflüchtige Spiritualität eines „nazarenisch"-asketischen Geistes, den er aus der gemeinschaftlichen Traditionslast des Protestantismus und des Judentums herleitete, dann wußte er, daß die diagnostizierte Geistesgemeinschaft mit der jüdischen Religiosität in besonderem Maße für jene puritanisch-pietistischen Strömungen zutraf, „deren Religion nur ein Judenthum ist, welches Schweinefleisch frißt". 1 6 Die spirituelle Gemeinsamkeit ist nicht beschränkt auf die Absolutheit der Orientierung am Offenbarungswort der Bibel mit ihren Abfärbungen in das Denken und Sprechen (ihr gegenüber sind den Pietisten die „Menschensatzungen" der interkonfessionellen Dogmatik und deren „symbolische Bücher" eher gleichgültig). Gemeinsam ist den frommen Juden und Pietisten auch die Sorge um eine „praxis pietatis" als wichtigster Lebensauftrag, jenes bußfertige Ringen um Heiligung und Zurüstung zur Seligkeit, in dem die gegnerischen Orthodoxien der lutherischen und reformierten Kirchen immer einen (in Blick auf die Erlösungstheologie) bedenklichen Anteil an Werkgerechtigkeit (Synergismus) witterten. Daraus resultiert die ebenfalls beiderseits ähnliche massive Skepsis gegen die weltlicher „Zerstreuung" und „Verstellung" zugeordneten schönen Künste und Wissenschaften.17 Gemeinsam, zumindest mit einem Teil der jüdischen Spiritualität, ist aber auch eine besondere Aufgeschlossenheit der Pietisten für Prophetien, Wunder und Visionen als Zeichen einer fortwirkenden Gottesoffenbarung und insbesondere für mystisch-theosophische Spekulationen. X3V [StUB Göttingen: 4° Mulert 156]. 16 So im Rückblick des Winters 1854. Heinrich Heine: Geständnisse. In: Historischkritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von Manfred Windfuhr. Bd. 15. Bearb. von Gerd Heinemann. Hamburg 1982. S. 45. - Der Passus ist, wie der Kontext zeigt, nicht allein auf den Puritanismus der Schotten zu beziehen, vgl. auch ebd. S. 41f. und KommentarS. 5 1 8 - 5 3 1 mit Parallelenangaben, bes. in der Börne-Denkschrift (ebd. Bd. 11), in der Heine den Gegensatz von nazarenischer und hellenischer Geisteshaltung am deutlichsten herausgearbeitet hat 17 Deren radikale Ablehnung, soweit sie nicht ausschließlich dem „unum necessarium" der Seelenseligkeit dienten, hat für die Pietisten Wolfgang Schmitt: Die pietistische Kritik der .Künste*. Diss. phil. Köln 1958 herausgearbeitet, vgl. neuerdings Stephan Berning: Zur pietistischen Kritik an der autonomen Ästhetik. In: Literatur und Religion. Hrsg. von H. Koopmann und W. Woesler. Freiburg 1984. S. 91 - 121 und Wolfgang Martens: Hallescher Pietismus und Rhetorik. In: Internationales Archiv für Sozialgesch. d. dt. Lit. 9 (1984). S. 22 - 43. Zur Wirkung des poetologischen Paradigmawechsels (v.a. durch die programmatische Neuorientierung an der Bibel und die Neubewertung religiöser Inspiration) Dieter Gutzen: Poesie der Bibel. Diss. phil. Bonn [1968, pubi.:] 1972 und Joachim Dyck: Athen und Jerusalem. München 1977. S. 8 ff. 35. 38. 92 - 123.

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Derartige Konvergenzen, in Verbindung mit einigen soziokulturellen und wirtschaftsethischen Parallelen, etwa der hier wie dort besonders engen Gruppenbindung, haben Jacques Gutwirth zu einer vergleichenden Engführung besonders chassidischer und radikalpietistischer Religiosität veranlaßt: Er spricht von „Pidtistes Juifs et Protestants", 18 wie denn tatsächlich die jüdischen Erweckten um 1730 von ihren weltlicher gesonnenen Glaubensbrüdern auch „Pietisten unter den Juden" genannt wurden.19 Im Blick auf die angedeuteten sozialpsychologischen Parallelen, die in ihrer Wirkung freilich auch nicht überschätzt werden dürfen (schließlich hatten die Juden über ihre gesellschaftliche Sonderstellung keinerlei Wahlfreiheit), ist noch zu ergänzen, daß die Tolerierung der Pietisten (anfänglich durchaus in vielen Territorien als Gesamtbewegung, immer jedoch die ihrer radikaleren Geister und Außenseiter) im Grundsatz ähnlich gefährdet, an schwankende herrschaftliche Opportunitätserwägungen und bisweilen sogar an Schutzgeldzahlungen gebunden war wie die der Judengemeinden. Die orthodoxen Kirchenkräfte hatten sie von Anfang an als eine „quarta species religionis" zu verdächtigen gesucht, für die der Westfälische Frieden im .Heiligen Römischen Reich' neben den Lutheranern, Reformierten und Katholiken keinen Raum ließ.20 So kam es vor allem am Anfang des 18. Jahrhunderts in mehreren Territorien zu großdimensionierten Pietistenvertreibungen. Die wenigen auch den offen heterodoxen und separatistischen Geistern Unterschlupf und relativ uneingeschränkte Toleranz zur Verbreitung ihrer Ideen gewährenden Freistätten waren wegen der dort geringeren Bedrückungen auch bevorzugte Ansiedlungs-, teilweise auch Publikationsorte jüdischer Gemeinschaften. Außerhalb des Reichsgebiets waren dies vor allem Amsterdam oder die zur dänischen Krone gehörende Hamburger Vorstadt Altona, innerhalb desselben das niederrheinische Krefeld, die 18 In: Archives de Sciences sociales des Religions. Jg. 20. H. 40 (1975). S. 53 - 66. 19 Martin Schmidt: Judentum und Christentum im Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Hrsg. von K. H. Rengstorf und S. v. Kortzfleisch. Bd. 2. Stuttgart 1970. S. 87 - 128, hier S. 114 nach Johann Heinrich Callenberg: Zehnte Fortsetzung seines Berichts von einem Versuch das arme jüdische Volck zur Erkenntnis der Christlichen Wahrheit anzuleiten. Halle 1735. S. 156 [StUB Göttingen: 8 ° Hist. eccl. miss. I, 5457: 9-11]. Über diejenigen .Juden, welche von den andern pietisten genennet werden", wird in der Quelle gesagt: „sie leben stille, ehrbar und ohne betrug, und besuchen nur am sabbat die Synagoge; darin beten sie nur, und betrachten GOttes wort, kehren sich aber wenig an die übrigen thorheiten. Gegen die Christen seyn sie leutselig". Kriterien der Benennung waren also die Konzentration auf eine praxis pietatis, eine deutliche Gruppenabgrenzung in der Gemeinde und ein ostendiertes Desinteresse an gottesdienstlichen Zeremonien. 20 Instrumentum Pacis Osnabrugense. Alt. VII, bes. § 2: „Sed praeter religiones supranominatas nulla alia in sacro imperio Romano recipiatur vel toleretur." Instrumenta Pacis Westphalicae. Hrsg. von Konrad Müller. Bern 1949 (= Quellen zur neueren Geschichte. H. 12/13). S. 41 und 134.

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vor Frankfurt gelegenen isenburgischen Grafschaften Offenbach und Büdingen, dann das wittgensteinische Berleburg.21 Die Gefährdungen durch obrigkeitliche Willkür und bürgerliche Intoleranz blieben allerdings für die unter Sonderrecht stehenden Juden ungleich gravierender als selbst für die radikalsten pietistischen Außenseiter. Dies, das aus Erfahrung mißtrauische Bestreben auch, als Gruppe von der im ganzen verständnislosen und feindlichen Umwelt in Ruhe gelassen zu werden, jedes Aufsehen zu vermeiden, ist sicher die vorrangige Ursache dafür, daß alle im folgenden in den Blick zu bringenden Bemühungen um Annäherung und brüderlich verstandene Zuwendung von der pietistischen Seite ausgegangen sind, während die von so unerwartetem Interesse und einer propagierten Fürsorge betroffenen Juden sich nur abwartend, reagierend oder vorsichtig-ablehnend verhalten konnten. Einer der Impulse für die geistige Kontaktaufnahme war die vergleichbare Neigung zu mystisch-theosophischer Spekulation, zum Eindringen in die tieferen Geheimnisse der göttlichen Schöpfung, wie sie im gesamten Weltbau und in der biblischen Wortoffenbarung zutage lag — konkret das christlich-spiritualistische Interesse an der jüdischen Kabbala. Hier waren die von den Radikalpietisten in ihre geistige Ahnenreihe gestellten Barocktheosophen, Böhme und vor allem Knorr von Rosenroth (KABBALA DENUDATA, 1677/84 [UB Göttingen: 8° Rabb. 388/10]), vorangegangen. Die pietistische Historie Der Wiedergebohrnen erinnert an die kabbalistischen Studien des Pico della Mirandola (Teil VI, S. 5f.) und an entsprechende Unterredungen des Böhmisten Johann Georg Gichtel mit den „Rabbinen" (Teil III, S. 213) zur Untermauerung seiner fleischfeindlichen Lehre.22 21 Grundlageninformationen für die erweiterte Toleranzgewäh rung bei Max Goebel: Geschichte des christlichen Lebens in der iheinisch-westph. ev. Kirche. Bd. 3 (Hrsg. von Theodor Link). Koblenz 1860. S. 71 ff. (Obersicht; anschließend Darstellung der Verhältnisse in Berleburg, wo auch die Separatisten seit 1741 Kopfgelder zahlen mußten; die in diesem Randterritoiium wohl recht kleine Judengemeinde tritt 1731 durch Zinzendorfs Berleburger .Judenpredigten' in den Blick. Vgl. Franz Heinrich Philipp: Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf als Wegbereiter eines deutschen Philosemitismus. In: Emuna. Horizonte zur Diskussion über Israel und das Judentum 7/1972. S. 18). - Spezieller zu Altona Johann Adrian Bolten: Historische Kirchen=Nachrichten von der Stadt Altona. Bd. 1. 1790. v. a. S. 184ff. Bd. 2. 1791. S. 3 ff. [StUB Göttingen: 8° Hist. Slesv. Hols. 5850]; Peter Freimaik: Zum Verhältnis von Juden und Christen in Altona im 17./18. Jh. In: Theokratia. Jb. d. Institutum Judaicum Delitzschianum 2 (1970-72; Festschr. f. K. H. Rengstorf). 1973. S. 253 272, hier v.a. 253 - 257. Zu Krefeld Friedrich Nieper: Die ersten Auswanderer von Kiefeld nach Pennsylvanien. Neukirchen 1940. v.a. S. 1 - 14. Zu Offenbach, wo eine jüdische Druckerei bereits vor der pietistischen bestand, und den dortigen Schutzgeldpflichten der Juden und der Pietisten I. Königfeld: Geschichte und Topographie der Fabrik= und Handelsstadt Offenbach. Offenbach 1822. S. 99f. und 108; zum Synoikismos zwischen Juden und radikalpietistischen Inspirierten im Büdinger Land Philipp (wie oben), S. 19.

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Friedrich Christoph Oetinger hat es unter den Pietisten der jüngeren Generation, wie seine große, jüngst kritisch edierte und kommentierte Exegese der kabbalistisch-christlichen Lehrtafel der Prinzessin Antonia von Württemberg erweist, 2 3 am weitesten gebracht. Aus großer „Begierde, die alte jüdische Art zu denken wohl innezuhaben", hat er sich 1728, unter Anleitung seines Hebräisch-Lektors im Tübinger Stift zunächst, durch eine lange Reihe rabbinischer Schriften hindurchgearbeitet. In seiner Autobiographie schreibt er nach deren Aufzählung: „Ich fand jedoch, daß die Rabbiner nicht mehr rein nach der Art des Rabbi Schimeon ben Jochai in dem Buch Sohar schreiben. Daher suchte ich nach einer Gelegenheit, die kabbalistischen Quellen selbst zu lesen. Weil es aber schwer ist, so verschob ich es, bis ich Gelegenheit fände, mit gelehrten und erfahrenen Juden umzugehen." Diese Gelegenheit ergab sich ihm ein Jahr später in Frankfurt durch die Vermittlung des unermüdlichen Literaturagenten und Kontaktstifters zwischen den radikalen Pietisten, Christoph Fende. Schon beim Eintritt in dessen Haus war Oetinger mit einem Exemplar der raren Knorrsehen KABBALA DENUDATA beschenkt worden. „Herr Rat Fende führte mir den gelehrtesten Kabbalisten zu, den Juden Cappel Hecht. Dieser gewann mich wegen der ungewohnten Fragen aus der jüdischen Philosophie, die ich an ihn richtete, z.B. was .weites Gesicht* und .kleines Gesicht in Gott' bedeute, sehr lieb. Ich kam gerade zur Zeit des Laubhüttenfestes zu ihm. Er bewies mir aus der Zeitgeschichte und aus dem Talmud auf Grund der seltensten Urkunden, daß Plato ein Schüler des Jeremias gewesen sei und seine Grundbegriffe von ihm entlehnt habe. Ich dankte Gott für diese Schickung."24 Oetingers Schüler Karl Friedrich Harttmann, der spätere Religionslehrer des jungen Schiller, hat diesen Studien nachgeeifert und seine ZoharÜbersetzungen dem Sammelwerk der Lehrtafel beigesteuert.25 22 Johann Henrich Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Vollst. Ausg. d. Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698 - 1745). 4 Bde. Hrsg. von Hans-Jürgen Schräder. Tübingen 1982 (= Deutsche Neudrucke. Reihe Barock. Bd. 29. 1 -4).

23 Fr. Chr. Oetinger: Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia. Hrsg. von R. Breymayer und Fr. Häußermann. 2 Teile. Berlin, New York 1977 (= Texte zur Geschichte des Pietismus. Abt. VII. Bd. 1), vgl. zum kabbalistischen Hintergrund zusammenfassend Eberhard Gutekunst/Eberhard Zwink: Zum Himmelreich gelehrt Fr. Chr. Oetinger 1702 - 1782. Stuttgart 1982. S. 57 - 63, vgl. 177 ff. 203. 207 - 212. 24 Fr. Chr. Oetinger: Selbstbiographie. Genealogie der reellen Gedanken eines Gottesgelehrten. Hrsg. mit Einf. u. Anm. von J. Roessle. Metzingen 1961 (= Zeugnisse der Schwabenväter. Bd. 1). S. 49 - 51, vgl. S. 126. 132 - 134. Die Textfassung ist durch massive Modernisierungseingriffe verderbt, doch liegt eine kritische Edition noch nicht vor. Vgl. die ebenfalls (anscheinend minder korrumpierend) modernisierende, aber geringer kommentierte Version: Des württembergischen Prälaten Friedrich Christoph Oetinger Selbstbiographie. Hrsg. von Julius Hamberger. Stuttgart 1845. Berlin 21851. S. 43 und 45f. und schon den ersten Bericht über Oetingers Leben: [Joh. Konr. Pfenninger (Hrsg.):] Sammlungen zu einem Christlichen Magazin. Bd. 2. H. 1. Zürich 1781. S. 51 [UB Tübingen: Gd 394: Π].

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In größerer Breite aber waren die pietistischen Kontaktaufnahmen mit gelehrten Juden und der jüdischen Theologie durch das neuartig entschiedene Bemühen um die textkritische Zuverlässigkeit und verbesserte Übersetzungs- und Verständnisgenauigkeit der biblischen Botschaft motiviert. Dieses Verlangen, das fürs Alte Testament grundlegend verbesserte Hebräischkenntnisse erforderte und zu einer Fülle pietistischer Neuübersetzungen und sprachkundiger Kommentare geführt hat, verdankte sich selbstverständlich nicht purem Philologenethos, insofern „wortbücher und philologie keine gnugsame probir=steine seyen". Getragen war es vielmehr von der ängstlichen Sorge, die „red=arten u. worte [...] die der Heil. Geist gebrauchet", die „einfalt des Geistes Gottes / worinnen der weißheit schätze liegen", sündhaft zu verfehlen, „zumalen da solche arbeit von [...] dem wort der warheit nachforschenden seelen in allen partheyen / als welche täglich u. von allen cantzeln hören / daß es im grund=text anders laute / schon längstens verlangt worden."26 Den Pietisten hatten hier gelehrte Orientalisten, namentlich Esdras Edzardi in Hamburg und Johann Christoph Wagenseil in Nürnberg, vorgearbeitet, die beide aufgrund persönlicher Kontakte literarisch für ein besseres Verständnis der Juden und für den Abbau von Vorurteilen ihnen gegenüber gestritten haben, beide aber auch auf das Ziel ihrer Missionierung fixiert blieben. Edzardi betrieb dafür ein Missionsstift, Wagenseil entwarf einen Musterkatechismus.27 25 F. G. Harttmann/C.C.C. Ehmann: Karl Friedrich Haittmann. 2. Aufl. Stuttgait [1864]. S. 25. Vgl. Oetinger: Lehrtafel (Anm. 23) S. 52 - 122. - Sehr viel weniger als die Pietisten hatten die Orthodoxen mit der Kabbala im Sinne. Deren ungewöhnlich fundierte Kenntnis nützt der hamburgische Hauptpastor Abraham Hinckelman: I.[n] N.[omine] J.[esu] C.[hristi] DETECTIO FUNDAMENT! BÖHMIANI [...]. Worinnen unter andern der Recht=gläubige Sinn der alten Jüdischen Cabals [...] entdecket wird [...]. Hamburg 1693 [StUB Göttingen: 23 in 8° Theol. pol. 148/1:3] nur, um im Referat ihrer Hauptlehren (S. 20f.) zu zeigen, wie die Böhmisten sie mißverstünden, daß von den heutigen Juden als den „ärgsten Feinde[n] Christi" kaum bessere Einsicht zu «halten sei, und um zu behaupten: „Ich kenne keinen bessern Cabalisten / als den Evangelisten Johannem" (S. 35f.). 26 Zitiert aus Johann Henrich Reitz' Vorrede An den Christlichen Leser in der Erstauflage seiner Neuübersetzung: Das Neue Testament Unsers HERREN JEsu Christi. Offenbach 1703. S. X3 r ; X2rund X2V [StUB Göttingen: 8° Bibl. Π, 2182]. Vgl. zum Engagement für eine vollkommen wortgetreue Wiedergabe der (hier ebenfalls neutestamentlichen) lingua sancta Qse Franke: Die Übersetzung des Neuen Testaments von Philipp Matthias Hahn (1777). Im Vergleich zu [...] Luther, Bengel, Heumann und Reitz. Diss, phil. Greifswald 1936. v.a. S. 7 - 21. 27 Zu Edzardi vgl. Martin Schmidt: Judentum und Christentum (Anm. 19). S. 103 und C. Fr. Heman: Mission unter den Juden. Π: Ev. Kirche. In: Realencyklopädie für prot. Theologie und Kirche (im folgenden: RE). 3. Aufl. Bd. 13. Begr. von J.J. Herzog. Hrsg. von A. Hauck. Leipzig 1903. S. 177; zu Wagenseil U[lrich] Becker: J. Chr. Wagenseil. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (im folgenden: RGG). 3. Aufl. Bd. 6. Tübingen 1962. Sp. 1505; ausführlich auch Martin Schmidt (wie oben) S. 89f. und 97 - 99 sowie Hinweise bei Hans Joachim Schoeps: Philosemitismus im

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Wagenseil hat das Denken Philipp Jacob Speners beeinflußt, des Gründers der pietistischen Partei in der lutherischen Kirche. Spener hatte allerdings schon früher, 1653 in Straßburg, wo drei Jahre zuvor das erste Institutum Judaicum gegründet worden war, so ausgreifende Studien der lingua sancta betrieben, daß er seiner Autobiographie zufolge hebräisch disputieren konnte; ,411 dem Sommer aber reisete ich gen Rappertsweiler / und gebrauchte mich eines Juden einige Monathe / in Rabbinicis und aus dem Talmud in den Pirke Aboth." 2 8

Bei Edzardi aber hat sich der zweite Mann und wirkungsreichste Praktiker des frühen Pietismus, August Hermann Francke, 1682 in zweimonatigem Besuch seine Anleitung im Hebräischen geholt. Anknüpfend daran hat er sechs- bis siebenmal die hebräische Bibel durchgearbeitet, zwei Jahre später seine rabbinischen Studien vertieft und sich 1685 mit einer Disputation über die Grammatik des Hebräischen für den akademischen Unterricht an der jungen Pietistenuniversität Halle habilitiert. Sein ein Jahr darauf gegründetes Collegium Philobiblicum hat Generationen von pietistischen Hebraisten und Judenmissionaren geprägt.29 Ebenfalls von Edzardi kamen die bedeutendsten Hebraisten der als Vermittlerin pietistischen Geistes zweitwichtigsten Universität her: in Gießen nämlich Johann Heinrich May und Andreas Kempffer, die wesentliche Vorarbeit für die Serie neuer hebräischer Bibelausgaben geleistet Barock. Tübingen 19S2 (vgl. Reg.) und Barouch Mevorah: Johann Caspar Lavaters Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohn über die Zukunft des Judentums. In: Zwingliana 14 (1974 - 78). H. 8 (1977). S. 439. Vgl. S. 436. - Edzard[i] und Wagenseil sind spezielle Kapitel gewidmet in der ev.-theol. Dissertation von Maitin Friedrich: Zwischen Abwehr und Bekehrung. Die Stellung der deutschen evangelischen Theologie zum Judentum im 17. Jahrhundert, die 1986 an der Ruhruniversität Bochum angenommen wurde und, wie mir der Doktorvater Johannes Wallmann mitteilte, in der Reihe „Beiträge zur historischen Theologie" publiziert werden soll. Im Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin ist eine Kopie der Arbeit verfugbar, auf die mich Michael Schmidt, wiss. Mitarb. dieses Instituts, aufmerksam machte. Friedrich hat in seiner durch einen umfassenderen Forschungsbericht eröffneten Abhandlung, die sich ausschließlich auf den Aspekt der durch verbreitete Bekehrungshoffnungen motivierten Judenmission in der lutherischen Kirche konzentriert, eine Ehrenrettung der barockzeitlichen Orthodoxie in ihren Reflexionen und Einwirkungen auf die Juden versucht. Von Belang für den Untersuchungsbereich der pietistischen Programme und Aktivitäten ist ein Kapitel über Spener und ein Abschnitt über Petersen. Die nicht auf eine Judentaufe gerichteten Bestrebungen der chiliastisch argumentierenden Barockspiritualisten und der an ihre Tradition anknüpfenden radikalen Pietisten werden weitgehend aus der Betrachtung ausgegrenzt. 28 Erstausgabe der Spener-Autobiographie in seiner Leichenpredigt: Conrad Gottfried Blanckenberg: Das Leben der Glaubigen. Frankfurt 1705. S. 24 (zu Speners Vertiefung dieser Studien 1659: ebd. S. 26) [StUB Göttingen: 15 in 2 ° Cone. fun. Viri 97]; über Speners Kontakte mit der Frankfurter Judenschaft s. Schmidt (Anm. 19). S. 95f. 29 Angabe schon in der frühen, von einem seiner Waisenhauszöglinge verfaßten Biographie: Kurtze, iedoch gründliche Nachricht, von dem sehr merckwürdigen und erbaulichen Lebens=Lauffe [...] August Hermann Franckens. Büdingen 1728. S. 8 - 10 [Privatbes.].

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haben.30 Aneignungen auch der spekulativen Tradition jüdischer Buchstaben-, Zahlen- und Etymologiedeutungen werden besonders in den hebraistischen Hilfsmitteln manifest, die zur Vorbereitung des großen radikalpietistischen Bibelwerks in Berleburg geschaffen bzw. neu aufgelegt wurden: Christoph Ludwig Schefer: Schoresch Dawar Oder Hebreisches Wörter=Buch / Welches der eigentlichen Bedeutung der Hebreischen Wörter [...] Als Der Wurtzel des Worts Der Göttlichen Verheissung [...] nachforschet [...]. Berleburg 1720 [UB Marburg: ΠΙ Β 40]; Henrich Bernhard Köster: Schlüssel der ersten und letzten Hebräisch=Griechisch=Teutschen Harmonie: welche[...] in einer Probe von tausend Wörtern an Bedeutung und Klang eine nahe Verwandtschafft zeiget. Berleburg 1724 [LB Stuttgart: Theol. 8° 9890]; Georg Burckhard Rtimelin: LEXICON BIBLICUM in quo Omnes, Quae in Veter i Testamento leguntur voces, verba scilicet ac nominal...] recensuntur [...]. Berleburg, Frankfurt 1727 [Ftlrstl. Hof-Bibl. Bad Berleburg: Me 5/61]. 31

Ein weit größeres Aufsehen als diese Gelehrtenarbeit für ein „unparteiliches", d.h. nicht durch die kontroverstheologischen Einfärbungen der kirchenamtlichen Versionen getrübtes Bibelverständnis und eine bedeutsame Vermittlungsleistung der jüdischen Spiritualität in breitere Schichten hinein hat die von dem Altonaer Radikalpietisten Johann Otto Glüsing 1710-12 dreibändig in den Hamburger Vorstädten Wandsbeck und Schiffbeck herausgebrachte Biblia Pentapla bewirkt. Dieser durch den Kreis der Böhme-Schüler, besonders durch Überfeld und Gichtel geprägte, mit allen exilierten Pietisten in der dänischen .Freistadt' befreundete Editor hat nämlich fünf verschiedene Bibelübersetzungen konkurrierend in Parallelspalten zu synoptischem Vergleich abgedruckt, ein für die Orthodoxie, die jedes Abgehen von der Luther-Version schon an sich für eine Lehrverirrung hielt, freilich strafwürdiges Vergehen. Die dabei eklatanteste Neuerung war aber, daß in dieser Synopse ihrer 30 Gustav Adolf Ludwig Baur: Hinleitung zu seiner Edition von: Andreas Kempffers Selbstbiographie. Nach der Giessener Handschrift. Leipzig 1880 (= Progr. Univ. Leipzig), bes. S. 3 - 18. Während voiher in Deutschland die hebräische Bibel allein in der Ausgabe von Elias Hutter (1587 u. ö.) erschienen war, kamen zu Kempffers Lebzeiten (1658 - 1743) zwölf eigenständige AT-Ausgaben im Grandtext heraus (ebd. S. 9). Zur Zusammenarbeit mit Edzardi und Francke ebd. S. 16 - 18. - Die Gießener und Hallenser Pietisten haben sich nicht nur als maßgebliche Förderer des Hebräischstudiums verdient gemacht, sie haben auch einer massiv erweiterten Zulassung jüdischer Studenten zum (insbes. Medizin-)Studium den Weg gebahnt. Vgl. Rüdiger Mack: Judenexamina an der Universität Gießen vor 1800. In: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins. NF 57 (1972). Abschn. 3: Der Pietistenkreis um Johann Heinrich May d. Ä. und die Juden; Exkurs: Die Verhältnisse an der Universität Halle und die erste Immatrikulation eines Juden 1703 (S. 113 - 122). 31 Näheres zu diesen Titeln in meiner in Drock befindlichen Abhandlung: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Kap. IV, 5.

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besonderen Nähe zum Urtext wegen erstmals die (in Lautstand und Wortschatz oberflächlich eingedeutschte) Übertragung einer jiddischen Bibel aus der hebräischen Schrift in deutsche Fraktur für christliche Leser verfügbar wurde. Die ursprünglich im Amsterdamer Verlag des Joseph Athias 1679 (in 2. Auflage 1687) erschienene Jüdisch-deutsche" Übersetzung des Josef (Josel) ben Alexander Witzenhausen (aus dem nordhessischen Städtchen gleichen Namens) trat so (mit ihren in Klammern beigesetzten mystischen Deutungen) für bibelforschende christliche Laien gleichgewichtig neben die Version Luthers, die katholische Uhlenbergs, die reformierte Piscators und die niederländische Generalstaatenbibel (im zuerst erschienenen Neuen Testament wurde der jüdischen die reformiert-pietistische des Johann Henrich Reitz substituiert). 32 Im größten Teil des „Allgemeinen Vorberichts" zum ersten Band (1711) wird die Aufnahme dieser Umschrift der Jüdischen Bibel zu rechtfertigen gesucht, nicht allein theologisch (durch Verweis auf zahllose Autoritäten), sondern auch in bezug auf die Sprachform: „Die Schreib=Art ist zwaren dem reinen Deutschen Gehör was beschwerlich / um der Juden willen aber / welchen es also fast angenehm ist / beybehalten worden." Es handele sich um die Version, „welche auch die Juden selber am höchsten aestimiren", zugleich aber werde darin „ihre Theologie völlig entdecket / zumahlen in denen beygeftlgten kurtzen Erklärungen des Jüdischen Ubersetzers": „Derohalben man selbige mit grossen Kosten und Fleiß aus denen Rabbinischen Lettern abschreiben lassen / und nebst ihren beygefilgten zweifachen Vorbericht / gegenwärtigem Bibel=Wercke einverleibet."33 32 Wichtigste Angaben zur „Biblia Pentapla" und ihrer Übertragung der jüdischen Bibel außer im Vorbericht zum ersten Band (s.u.) v.a. bei Johann Jacob Schudt: Jüdische Merckwürdigkeiten. Bd. 1. Frankfurt, Leipzig 1714. S. 285 [StUB Göttingen: 8' Hist, eccl. eccl. 928/51:1]; Johann Christoph Wolf: Bibliotheca Hebrsea. Hamburg 1721. Bd. 2. S. 453; Bd. 4. S. 187 [StUB Göttingen: 8° Hist. lit. libr. Π, 1485]; Max Grünbaum: Jüdischdeutsche Chrestomathie. Leipzig 1882. S. 19; W. Staerk/A. Leitzmann: Die Jüdisch-Deutschen Bibelübersetzungen. Frankfurt 1923 (= Schriften, hrsg. v.d. Ges. zur Förderung der Wiss. d. Judentums. Bd. [31 a]). S. 161 - 163; Helmut Dinse: Die Entwicklung des jiddischen Schrifttums im deutschen Sprachgebiet. Stuttgart 1974. S. 135 und 176. - Zu ihrem Editor: J. A. Bolten: Historische Kirchen=Nachrichten von der Stadt Altona (Anm. 21). Bd. 2. S. 102 - 108; Hans Haupt: Der Altonaer Sektierer Johann Otto Glüsing. In: Schriften d. Ver. f. SchleswigHolst. Kirchengesch. Π, 11 (1952). S. 136 - 163. Der Pentapla-Editor blieb dauerhaft als gefährlicher Irrlehrer in Verruf, wie noch die Bücherkrämer-Szene in der antipietistischen Komödie der Gottschedin von 1736 erweist, in der der billige Jakob der Frau Seuffzerin neben anderen heterodoxen Scharteken Glüsings asketische VäterViten von 1720: Der erste Tempel GOttes in Christo mit voller Titulatur feilhält. Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke. Hrsg. von Wolfgang Martens. Stuttgart 3 1979 (= Reclams Universal-Bibliothek. Nr. 8579(3]). S. 104. 33 BIBLIA PENTAPLA, Das ist: Die Bücher der Heiligen Schrift [...] Nach Fünf=facher

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Wenn in der Vorrede des zweiten Bandes die Hoffnung geäußert wird, es könne die aus den konkurrierenden Versionen aufscheinende „Harmonie Göttlichen Wortes" für „vielleicht ein oder ander hartes Juden=hertz [...] das wahre Licht in Hertzen anzünden", 34 dann ist dieses Ziel gegenüber jenem zumindest zweitrangig, die christlichen Leser sollten auch die jüdische Bibel und Theologie prüfen und beherzigen können. Zunächst wird damit apologetisch auf die wütende Abfertigung der Pentapla seitens des Wandsbecker Hauptpastors Michael Berns reagiert. Der nämlich hatte 1710 gegen „das fleischliche Evangelium des Wiederchrists / von dem Siebenköpffigen Drachen / der alten Schlangen [...] erdacht", losgeschlagen. Mit seinen rasenden Verwünschungen des Greuels, daß sogar „des allerverfluchsten Juden / des Josephi Athiä seine Version" aufgenommen werde, hatte er die verbreitete antisemitische Haltung der Pietistengegner besonders in der lutherischen Orthodoxie zum Ausdruck gebracht.35 ΙΠ.

Die gegenüber der orthodoxen Kirchenlehre bei den Pietisten insgemein grundlegend veränderten Einstellungen zu der jüdischen Gemeinschaft, die konträren Konzepte auch (bei aller Unterschiedlichkeit in den praktischen Konsequenzen) für den pflichtgemäßen, d.h. gottgewollten Umgang mit ihr, entspringen nicht in erster Linie einem philanthropischen Denkansatz oder dem allgemeinen Gebot der Nächstenliebe. Proteste gegen die unchristliche Brutalität der willkürlichen Mißhandlungen, Rechtsverkürzungen, sozialen Restriktionen, wie sie die aufklärerische Diskussion bestimmen, werden zwar häufig miterhoben, sind jedoch nicht argumentationsleitend. Der Einblick in die reale Situation der Juden bleibt meist unspezifisch und blaß. Dominierend dagegen sind heilsgeschichtlich-spekulative, insbesondere eschatologische Denkansätze: die aktuellen Erfüllungserwartungen der zugleich buchstäblich und Deutscher Verdolmetschung [...]. [„Schiffbeck bey Hamburg"] 1711. S. )(3r [StUB Göttingen: 8° Bibl. Π, 276:1], 34 Ebd. Bd. 2. 1711 S. ]:[2r. 35 Michael Berns: Endeckung Des Greuel=Wesens / Welches die so genandte Neue Christen / Mit der biß dahin In Wandesbeck gedruckten BIBLIA PENTAPLA vorhaben. Hamburg 1710. S. 16 und 9. [StUB Göttingen: 8° Bibl. Π, 2875], Berns rezensiert dort den bereits 1710 erschienenen dritten Band, der nur das Neue Testament enthielt Von der geplanten Aufnahme der Jüdischen Bibel wußte er also bloß aus der Ankündigung in dessen Vorrede, so daB seine antisemitische Verurteilung noch nicht einmal auf die Kenntnis des übertragenen Texts gegründet war. Ich bin skeptisch, ob die vereinzelten, die Juden weniger pejorativ beurteilenden, dabei aber auch nur an ihrer Christianisierung interessierten Stimmen vom Reformflügel der Orthodoxie, die Martin Friedrich (Anm. 27) hervorhebt, das dominante Bild der Intoleranz dieser Richtung gegenüber Andersgläubigen grundlegend zu modifizieren gestatten (vgl. auch Anm. 39).

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typologisch verstandenen alttestamentlichen Verheißungen über die Ankunft des messianischen Friedensfürsten und Erlösers in Zion, der das zerstreute Haus Jakobs wieder in sein Erbteil einsetzen werde, der neutestamentlichen, vor allem paulinischen Aussagen über die noch zukünftige Bekehrung des ganzen Israel und schließlich der apokalyptischen Prophetien über das endzeiteröffnende tausendjährige Friedensreich Christi auf Erden. Eine Kombination aller auf die Juden und auf das Millennium beziehbaren Verkündigungen ließ die besondere und ehrfurchtgebietende Rolle hervortreten, die Gott seinem auserwählten Volk nach langwieriger Züchtigung am Ende der Tage vorbehalten habe. Die eschatologischen Hoffnungen, deren Eindringen in den neutestamentarischen Kanon ja aus Adaptionen des jüdischen Volksglaubens gespeist war,36 bilden einen wesentlichen Konvergenz- und Anknüpfungspunkt noch der jüdischen und pietistischen Spiritualität vom Barock bis zur aufklärerischen Säkularisation. Besonders kurz vor der Jahrhundertwende, fortwirkend aber bis ins vierte Dezennium des 18. Jahrhunderts, kam es zu einer kräftigen Neubelebung endzeitlicher Naherwartung, einer Vielzahl von spekulativen Berechnungen und visionären Bezeugungen über den unmittelbar bevorstehenden Anbruch des messianischen Reiches 37 und, resultierend 36 Vgl. den für die Herkunft und spiritualistisch-pietistische Ausgestaltung dieser Vorstellungswelt hochinformativen Artikel von [Carl Gottlob] Semisch/ [Eduard] Bratke: Chüiasmus. In: RE. 3. Aufl. Bd. 3. 1897. Sp. 805 - 817. Femer Heinrich] Kraft: Chiliasmus. In: RGG. 3. Aufl. Bd. 1. 1957. Sp. 1651 - 1653 und, detaillierter, Otto Böcher / Richard Bauckham: Chiliasmus [I. u. IV.]. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE). Bd. 7. Berlin, New York 1981. S. 723 - 729 und 737 - 745; J. Kaufmann: Apokalypse Johannis. In: Encyklopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2. Berlin 1928. Sp. 1136 - 1142 sowie die Artikel von H[ugo] F[uchs]: Apokalypse und M[ax] W[iene]r: Tag des Gerichts und Tausendjähriges Reich. In: Herlitz/Kirschner: Jüdisches Lexikon. Bd. 1. Berlin 1927. Sp. 384 - 388 bzw. Bd. 4/2. Ebd. 1930. Sp. 831f. und 893f. 37 Vorangegangen war bei den Endzeitberechnungen (mit durch das Ausbleiben des Friedensfürsten immer wieder korrigierten Datierungen) der Frühphiladelphier Paul Felgenhauer, vgl. Hans Joachim Schoeps: Philosemitismus im Barock (Anm. 27). S. 18 - 45, bes. 41 f. Für die Zeit der Jahrhundertwende drängten sich neben den verbreiteten unbestimmten auch die präzis teiminieiten Anbruchsverkündigungen, so z.B. visionär für das Jahr 1685 bei Johanna Eleonora Petersen (Leben [...] Von ihr selbst mit eigener Hand aufgesetzet. o.O. 1718. S. 55; vgl. ebd. S. 49 zur Bekehrung der Juden [UB Tübingen: an Kg. 2085]) oder für 1689 bei Conrad von Beuningen (im missionarischen Send=Schreiben an den jüdischen Doctor Pina. In: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen, Anm. 22, Teil IV. 1716. S. 123), rechnerisch (nach englischer Vorgabe) für das Jahr 1697 bei Johann Hermann Bröske: Das Ende der Welt / Oder Daniels Zeit=Register von Cotes an biß auff das herrliche Reich Christi in dem Neuen Jerusalem. Offenbach 1693. S. )(4V [StUB Göttingen: 2 in 8° Theol. pol. 148/1:3] oderConrad Bröske (Hrsg.): Herrn Th. BEVERLEYS [...] Zeit=Register Mit denen Zeichen der Zeiten. Frankfurt, Offenbach 1697. S. A 4 r f f . und Β 2 r [HAB Wolfenbüttel: Fd 12]. Die Endzeitberechner D. Waßmuth, Joh. Chr. Seitz und J. A. Bengel gaben der Zeit der Erfüllung eine weiträumigere Perspektive mit ihren Datierungen auf 1739 (Kommentar zur Berleburger Bibel, Anm. 15, Bd. 6. 1735. S. 22), auf 1750 (vgl. [Johann Georg Heinsius:] Unpartheyische Kirchen=Historie. Bd. 2. Jena 1735. S. 170 [StUB Göttingen: 4° Hist. eccl. un. 184/58:2]) oder gar auf 1836: Erklärte Offenba-

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daraus, zu Bemühungen um die Sammlung der zur Mitregentschaft Christi berufenen wahren Erweckten in einer philadelphischen Gemeinschaft. Gemeinsam war den meisten Pietisten aufgrund ihrer Auslegung von Gen. 49, 10, Jes. 2, 1-6 bzw. 59, 19-21, Hos. 3, 4-5 und vor allem Röm. 11, 25ff., die Überzeugung, daß den Juden in dem Apok. 20 verheißenen Friedensreich „vor allen andern Völckern ein groses Heyl widerfahren wird", daß sie zur Gänze bekehrt und den wiedererscheinenden Christus „in ihrer Fülle [...] vor ihren Messiam annehmen" werden. Erst mit der Rückführung und Mitregentschaft des alten Bundesvolks werde in aller Welt „das Zufallen der Völcker noch erst recht angehen / wenn die Fülle eingehen / und gantz Israel selig werden wird."38

Von den orthodoxen Kirchenlehrern wurden alle chiliastischen Spekulationen unter Verweis auf Artikel 17 der Confessio Augustana bzw. Artikel 11 der Confessio Helvetica zurückgewiesen. Die alttestamentlichen Verheißungen des künftigen Messias galten bereits durch Christi Geburt und Erlösungswerk als erfüllt, diejenigen der Judenbekehrung ebenso durch die Fülle des Judenchristentums in und seit der urchristlichen Zeit. Die Verkündigungen über die endzeitliche Wiederkehr des Herrn aber wurden als undurchdringliches Gottesgeheimnis ausgegrenzt. Aus der Zurückweisung der Schwärmerlehren und der nach vergeblichen Bekehrungshoffnungen enttäuschten Verdammung der .verstockten Judenherzen' beim alten Luther leiten sich die bei ihnen häufigen antisemitischen Töne ab. 39 Wer gegenteiligen Sinnes ist, erscheint ihnen wie Coccejus ein Fürsprecher „der Atheisterey und allen Kätzereyen / die aus dem Judenthum ihren Ursprung nehmen"; „ein Novator, ein Patron und Synkretist der Socinianer / der Papisten / der Juden /[...] der Chiliasten und Fanatiquen".40

Insbesondere waren die Orthodoxen davon überzeugt, rung Johannis. Stuttgart 1740. 2 1746. S. A 4 v ff. [Ebd.: 8° Theol. bibl. Π, 1064/64 (bzw. 62)]. Vgl. Das Zeitalter des Pietismus. Hrsg. von M. Schmidt und W. Jannasch. Bremen 1965. S. 201 f. und Peter Meinhold: Geschichte der christlichen Historiographie. Bd. 1. Freiburg 1967. S. 423f. 38 So die Kommentare der Berleburger Bibel (Anm. 15): Bd. 4 (1732). S. 197; Bd. 6 (1739). S. 306; Bd. 1 (1726). S. 270. 39 Deutlich wird die dominant judenfeindliche Einstellung der lutherischen Orthodoxie in den Stellungnahmen ihres führenden Rezensionsorgans, der von Valentin Ernst Löscher begründeten „Unschuldigen Nachrichten" (später: Foitges. Sammlungen von Alten und Neuen Theologischen Sachen). Vgl. die Lemmata „Jüden" und „JüdenBekehrung" in: Vollständige Register über die ersten Zehen Jahr Der Unschuldigen Nachrichten Von Anno 1701 - 1710. Leipzig o.J. S. Ji 4 ' - Ji Ρ [StUB Göttingen: 8° Eph. lit. 366/5:10a], vgl. auch unten, Anm. 44. 40 Reitz: Historie Der Wiedergebohmen (Anm. 22). Teil IV. 1716. S. V U .

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„es werde der innere Glaube zu hefftig getrieben / dadurch so wol Juden / Türcken und Heyden als Christen selig werden / ob sie gleich Christum äusserlich nicht kennen". 4 1 Ein Orthodoxophilus wirft 1 7 1 2 den Pietisten vor: „Die führen ungescheut Fanaticismum ein / Und wollen jeden Schwärm zu Glaubens=Brüdern haben / Der Teuffei selbsten soll bald ein Erlöster seyn / Und Jüde / Ttlrck und Heyd spornstreichs in Himmel traben." 4 2 E i n anderer läßt schon 1 6 9 2 seinen E m p f i n d u n g e n über d i e ketzerische Behauptung, e s werde „die gantze Judische nation s e e l i g werden", n o c h ungehemmter freien Lauf: „Vom gantzen hauffen mag hoffen wer da wil / ich habe keine hofnung [...]. W i e [...] ist es möglich / diese Teufelskinder alle zu bekehren. Dann daß etliche aus der Epistel zum Römern am XI. Cap. solchen W a h n schöpffen / alß solten alle Juden bekehret werden / am Ende der Welt / ist nichts; St. Paulus meinet gar viel ein anders." 4 3 Ein derartiger . R i s c h e s ' oder volkstümlicher Judenhaß 4 4 ist bei den Pietisten m . W . nirgends zu finden, w e n n g l e i c h e i n e Flugschrift w i e S a m u e l Z i n k s Verkehrter

JUDE

v o n 1 6 9 5 m i t d e m populären Stereotyp spielt,

i n d e m s i e e s antithetisch den orthodoxen Verächtern der Chiliasten u n d der Juden a u f p r ä g t 4 5

41 Ebd.. Teü VII. 1745. S. 81. 42 Orthodoxophilus [d. i. (nach Max Wieser. Der sentimentale Mensch. Gotha 1924. S. 264) Erdmann Neumeister]: IDEA PIETISMI Oder Kurtzer Entwurff Von der Pietisten Ursprung Lehr und Glauben. Frankfurt, Leipzig 1712. 2. verm. Aufl. 1714. S. 12 [StUB Güttingen: 8° Poet Germ. HI, 1236]. 43 Weiteres Nachdencken Uber einige Bedencken Von der Durch Doct. PETERSEN [...] ausgegebenen Prophezeyungen Vom Chiliastischen Reich und Bekehrung Der Juden. o.O. 1692. S. 27f„ vgl. S. 19 [StUB Göttingen: 11 in 8» Theol. thet. Π, 262/25], 44 Vgl. zum Begriff Jürgen Stenzel: Das Opfer als Autor. Poetische Assimilation in Michael Beers .Der Paria* (1823). In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internat. Geimanistenkongresses Göttingen 1985. Hrsg. von Albrecht Schöne. Bd. 5. Hrsg. von Walter Röll und Hans-Peter Bayerdörfer. Tübingen 1986. S. 124f.; zu den gerade um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert entstehenden .Klassikern des Judenhasses' (Sigismund Hosmann: Das schwer zu bekehrende Juden=Hertz. Celle 1699 [StUB Göttingen: 8° Theol. pol. 588/1] und v.a. [Johann Andreas Eisenmenger:] Entdecktes Judenthum. 2 He. Königsberg 1711 [Ebd.: 8° Theol. thet. I, 970/33]) und zu ihren Rahmenbedingungen Michael Schmidt: Marginalität als Modus der ästhetischen Reflexion. Juden und .unehrliche Leute* im Werk Wilhelm Raabes. In: Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss. Hrsg. von R. Erb und M. Schmidt. Berlin 1987. S. 399f. 45 Vierseitiger Verteiltraktat; S. A 2 r , vgl. A 1 v [StUB Göttingen: 36 in 8° Theol. pol. 148/1:6]. Der Verfasser war auch mit einer etymologischen Spekulation über den Bedeutungszusammenhang der hebräischen Wortstämme hervorgetreten (= Schrift 35 im selben Sammelband).

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In ihrer teilnahmsvollen, heilsgeschichtlich begründeten Wertschätzung und praktischen Bemühung für die Juden zeigen sich aber auch bei den Pietisten markante Unterschiede. Die eine Richtung, jene, die in den Kirchen vor allem traditionsbildend wurde, sieht ihre Christenpflicht zum Bau des Gottesreichs vorrangig in der Bekehrung im Sinne einer Missionierung und Taufe der Juden. Die erweckten Täuflinge nämlich sollen als Erstlinge im Bruderbund schon vor dem Anbruch des Christusreichs zur Mitregentschaft bereitstehen. Diese durch SpezialStudien, vor allem den wichtigen zusammenfassenden Aufsatz von Martin Schmidt, vergleichsweise wohlerforschte missionsorientierte Richtung geht von den allerdings differenzierteren Ratschlägen Speners aus und wird durch Francke und das Hallesche Institutum Judaicum ebenso repräsentiert wie durch Zinzendorf und die Herrnhuter Jesuswerbung.46 Ich trage trotz ihres unverkennbaren, auch sozialethischen Einsatzes für die Juden Bedenken, ihre Ansichten, wie üblich geworden, ohne weiteres für „philosemitisch" zu erklären. 47 Denn in ihrer Konsequenz diente hier alle Zuwendung doch demselben Ziel, das Jacob Katz für die „Verkoppelung von Emanzipation und Assimilation" der Juden in der spätaufklärerischen Ära herausgestellt hat: Es war die Aufforderung, alle „für die jüdische Existenz" charakteristischen Züge, sogar die religiöse Basis ihrer Identität und ihre Eigennamen, abzulegen und sich „dem Vorbild der nichtjüdischen Umwelt anzupassen", 48 nicht einmal dessen faktischem Muster, sondern einem frommen Idealpostulat. Die fast unausweichlichen Wirkungen waren, wie die pietistischen Autobiographien jüdischer Proselyten zeigen, familiäre und soziale Entwurzelung und religiöse Gewissensqual bei einem trotzdem kaum überwindbaren Argwohn der Umwelt, die Taufe könne nicht alles Jüdische abgewaschen haben. 46 Vgl. die detailreiche Abhandlung von Martin Schmidt: Judentum und Christentum (Aran. 19). S. 87 - 128, die ebenfalls die Positionen Speners und des Friihpietismus einbeziehende Studie von Erich Beyreuthen Zinzendorf und das Judentum [zuerst in: Judaica 19 (1963). S. 193 - 246; Reprint:] in: Erster Sammelband über Zinzendorf. Hrsg. von E. Beyreuther und G. Meyer. Hildesheim, New Yoik 1975. S. 679 - 732 (= Zinzendorf. Materialien und Dokumente. Reihe 2. Bd. 12), die Dissertation von Martin Friedrich: Zwischen Abwehr und Bekehrong (Anm. 27) und deh in ihren hermhutischpaiteilichen Weitungen und ihrer unsensiblen Begrifflichkeit bei solider Quellenbasis weit problematischeren Aufsatz von Franz Heinrich Philipp: Zinzendorf als Wegbereiter eines deutschen Philosemitismus (Anm. 21). Überall dort Belege und weiterführende Lit-Angaben. 47 Den aus schwärmerischen Endzeiterwaitungen erwachsenden Eifer zur Judenbekehmng bewertet Emst-Peter Wieckenberg: Der Bekehrungsstreit zwischen Lavater und Mendelssohn. In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums. 18. Jg. H. 69 (1979). S. 72 und 76 diametral zu den Vorgenannten sogar als „Äußerungsform eines christlichen Antisemitismus44. Mit beiden plakativen Begriffen aber wird man dem Geflecht der Motivationen, einerseits Fürsorge, andererseits missionarischer Rücksichtslosigkeit, kaum gerecht. 48 Jacob Katz: Rezeption jüdischer Autoren durch deutsche Kritik und deutsches Publikum. In: Kontroversen. Bd. 5. 1986 (Anm. 44). S. 129.

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Die andere, literarisch ebenso reich dokumentierte, aber in ihrem Verhältnis zu den Juden noch beinahe unerforschte Richtung interpretierte die gebotene Bekehrung der Juden als ethische Zurüstung zum Gottesreich im Sinne ihrer eigenen jüdischen Religionsgesetze und Riten. Sie terminierte die Annahme des Weltenheilands erst auf die baldige Zeit seiner Wiederkehr und betonte die biblischen Verkündigungen des Neuen Bundes Gottes mit seinem Volk. Dazu gehörte die künftige Wiederversammlung der Juden aus ihrer Zerstreuung und ihre zumindest geistliche Herrschaft im Heiligen Land als Vorbild aller dann auch dem Herrn zufallenden Völker der Welt. Programmatisch wurde deswegen auf alle vorzeitigen Christianisierungsbemühungen verzichtet. Für diese besonders unter den kirchen- und dogmenkritischen Radikalpietisten verbreitete Tradition gibt es Spezialuntersuchungen bisher nur zu einigen barockspiritualistischen Vordenkern 49 und neuerdings zu Ernst Christoph Hochmann von Hochenaus Sendbrief an die Juden von 1699·50 Ich kann für beide Richtungen auf das Bekannte nur knapp verweisen und versuche, ein paar darüber hinausweisende, sicher noch ganz unvollständige und einer spezifischeren Erforschung bedürftige Hinweise zu geben. IV. Auch die um eine schrittweise Christianisierung der Juden bemühte Richtung geht in ihrer Begründung weniger von dem allgemeinen Missions- und Taufbefehl Mt. 28, 19 als von endzeitlichen Erwartungen über die besondere Aufgabe des Volkes, dem Jesus entstammte, im göttlichen Heilsplan aus. Ersichtlich wird dies an Speners Reflexionen, in denen noch die Argumente beider Richtungen vereinigt sind. Schon in seiner richtungweisenden Programmschrift von 1675, Pia Desiderio, kommt er zentral auf die heilsgeschichtliche Bedeutung der Juden zu sprechen. Ihre Geschichte stellt er zunächst als Typus und Vorbild der Kirchengeschichte dar. Daran knüpft er seine „subtil-chiliastische" „Hoffnung besserer Zeiten", die die Frage anheimstellt, ob das Geschehen der Endzeit bereits begonnen habe oder erst künftig zu erwarten sei. Ein herrlicherer Stand der wahren Kirche aber scheint ihm eindeutig noch bevorzustehen, und die dafür Röm. 11, 25 f. verheißene allgemeine Bekehrung der Juden hält er — gegen Luther und die Kirchentradition — durch das urgemeindliche 49 H. J. Schoeps: Philosemitismus im Barock (Anm. 27), v.a. Kapitel zu Paul Felgenhauer, Anders Kempe und Jens Pedersen Gedelöcke. 50 Hans Schneider: Hin .Schreiben an die Juden' (Freiwillige Nachlese ΠΙ, 4). Hochmann, Zinzendorf und Israel. In: Unitas Fratrum. Zeitschrift für Geschichte und Gegenwartsfragen der Brüdergemeine. H. 17 (1985). S. 68 - 77.

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und seitherige Judenchristentum noch nicht für erfüllt. Wenn aber „die Juden sollen bekehret werden / so muB entweder bereits die wahre Kirche in heiligerem stände stehen / als sie jetzund ist / daß deroselben heiliger wandel zugleich ein mittel jener bekehrung werde [...]. Oder / wo sie sonsten von Gott durch seine krafft / auff uns jetzo noch vorzusehen unmügliche art / werden bekehret werden / ist wiederumb nicht zu gedencken / das nit das exempel eines solchen neubekehrten volcks [...] eine merckliche änderung und besserung bey unser Kirchen nach sich ziehen solte. Vielmehr ist zu hoffen / daß mit heiligem eiffer gleichsam in die wette die gesamte auß Juden und Heyden versamlete Kirche GOtt in einem glauben [...] dienen und sich aneinander erbauen werde."51 Spener also scheint es ungewiß, ob die gänzliche Heimführung Israels, verstanden jedenfalls als Bekehrung zu Christus, durch missionarische Einwirkung oder in unmittelbarem göttlichem Heilswirken erfolgen soll. Mit dem Auftrag tätiger Vorbereitung des besseren Kirchenzustands entscheidet er sich aber dafür, vor der Hand das Mögliche ins Werk zu setzen: „es liget uns allen ob / daß wir so viel eines theils zu bekehrung der Juden [...] oder andern theils zu besserung unserer kirchen gethan werden mag / zu werck zu richten nicht säumig seyen: Und ob wir wol vor äugen sehen solten / daß nicht eben der gantze und völlige zweck erhalten werden könte / auffs wenigste so vieles thun als müglich ist."52 Dieses Ziel blieb für sein ganzes Wirken bestimmend: Ihm stand dabei außer Frage, daß die Juden als das gotterwählte Volk, aus dem er seinen Sohn gesandt hatte, „das vornehmste Geschlecht in der ganzen Welt" sind, „daß sie aus Gottes erstem Bunde mehr Recht zu dem Reich gehabt als wir, die wir erst aus Barmherzigkeit an ihrer Stelle angenommen worden seien" und daß deshalb geboten sei, „ihnen die Liebe vor andern zu erweisen".53 „Denn da Gott in seinem Gericht sie aus dem Besitz ihres vormals ihnen angewiesenen Landes gesetzt und sie in der Welt zur Strafe ihrer Sünde zerstreuet hat, muß man ihnen auch in solchem Stand ihres Elends einen Raum und Herberge gönnen [...]. Wo man sie aber aufnimmt, schließt solches ein, daß man ihnen auch die Übung ihrer — wenngleich verderbten — Religion lasse [-Γ·54

51 Philipp Jacob Spener: Pia Desideria. Hrsg. von Kurt Aland. 3. durchges. Aufl. Berlin 1964 (= Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen. H. 170). S. 44f.; vgl. ebd. S. 40ff. 52 Ebd. S. 45. 53 Spener Theologische Bedencken. Zit. bei Maitin Schmidt: Judentum und Christentum (Anm. 19), S. 93f. 54 Ebd. S. 96.

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So fordert er die Rücknahme ihrer beruflichen Einschränkungen, den Verzicht auf alle Zwangsmaßnahmen, ein Hinführen zur Anerkenntnis der Messianität Jesu durch Angebote freiwilliger Missionspredigten — aber erst dann eine Taufe, wenn ein unverkennbares Verlangen und deutliche Zeichen der sinnverwandelnden Wiedergeburt vorlägen. 55 Eine solche Umwandlung nach dem Idealbild des pietistischen Seelenprogresses, damit das Ablegen aller jüdischen Sozialisation und Tradition, blieb freilich doch das höchste Ziel der individuellen Zuwendung. „Spener regt an, Francke handelt."56 Im Einflußbereich der Halleschen Universität und der Franckeschen Anstalten rückten die Ziele der Missionierung und Taufe möglichst vieler Juden entschiedener in den Vordergrund. Schon Franckes Collegium Orientale (seit 1705) hatte neben der judaistischen Ausbildung den Nebenzweck der Missionsschulung. In dem 1728 von seinem Mitstreiter Johann Heinrich Callenberg gegründeten, bis 1792 fortbestehenden Institutum Judaicum, das auch das Muster für Johann Philipp Fresenius' (des späteren Taufpastors Goethes) Darmstädter Proselytenanstalt (1736) und alle ähnlichen Institutionen wurde, entstanden Missionstraktate mit christologischen Messiasdeutungen aus alttestamentlichen und rabbinischen Quellen und in hebräischer Sprache und Schrift, die durch bereits getaufte Juden verbreitet werden sollten. Deren bekanntestes war von dem Gießener May-Schüler Johann Müller verfaßt, der dabei zu besserem Erfolg seinen Namen in Jochanan Kimchi transferierte: Or le-et Erew (,Ein Licht am Abend'), 1728. Auch wurden jiddisch- und hebräischkundige Missionare in die Ghettos und Synagogen entsandt. Deren Berichte aus Polen, durch Callenberg publiziert, stellen eine wertvolle Quelle jüdischen Lebens in dieser Zeit dar.57 55 Vgl. ebd. S. 96 - 103. 56 So die griffig-forsche Kontrastcharakteristik bei Hans Umer (Hrsg.:) Der Pietismus. (1. Aufl. Gladbeck 1952). 2. Aufl. Berlin-Ost 1962 (= Quellen. Ausgewählte Texte aus der Geschichte der christlichen Kirche. H. 34). S. 33. 57 Callenbergs Berichte in mehreren bändereichen Fortsetzungsserien wären für judaistische Forschungen noch höchst ertragreich auszuwerten: Jo. Heinr. Callenbergs Bericht an einige Christliche Freunde von einem Versuch Das arme Jüdische Volck zur Erkäntniß und Annehmung der Christlichen Wahrheit anzuleiten. Halle [1729]. 2 1730 mit 16 Forts, bis 1738 und Reg.-Bd. 1744 (vgl. Anm. 19). Fortgesetzt in ders.: Relation von einer Bemühung Christum dem Jüdischen Volk bekannt zu machen. 30 Stücke. Halle 1738 - 50 [StUB Göttingen: 8 ° Hist. eccl. miss. I, 5418] und: Fortwährende Bemühung um das Heil des Jüdischen Volks. 9 Stücke. Halle 1752 - 58 [Ebd.: 8° Hist. eccl. miss. I, 5421]. - Umfassendere Details zu allen hier nur abbreviatorisch gekennzeichneten Missionsinstitutionen und -Unternehmungen v.a. bei Martin Schmidt: Judentum und Christentum (Anm. 19). S. 103 - 116. Deutlich wird dort (S. 115) auch die aus der Taufe resultierende soziale Entwurzelung der Betroffenen. Vgl. femer C. Fr. Heman: Missionen unter den Juden (Anm. 27), B[irger] Pemow: Judenmission. In: RGG. 3. Aufl. Bd. 3. Tübingen 1959. Sp. 976 - 978; E[mst] Wolf: Halle. Ebd. Sp. 34 - 38 und W[alter] Holsten: Institutum Judaicum. Ebd. Sp. 785f.; P[aul] R[ieger]: Judenmission. In: Herlitz/Kirschner: Jüdisches Lexikon. Bd. 3. Berlin

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Andere Hallenser wie der Theologe Joachim Lange oder der Waisenhausverleger Heinrich Julius Elers haben sich mit geringerer Subtilität befleißigt, „bey gegebener Gelegenheit, mit den Juden zu sprechen und sie auf die Erkenntniß Christi und Errettung ihrer Seelen zu führen." Der Erfolg war wohl mäßiger, „da sie denn öffters mit groser Bewegung und unter vielen Thränen zugehöret, auch ein und anderer bezeuget hat, wenn ihn seine Familie und äussere Umstände nicht abhielten, würde er unverzüglich ein Christ werden."58

Im unbedingt christologischen Ansatz stimmte mit ihnen der Hermhuter-Führer Graf Zinzendorf überein, der ebenso von Hallescher Schulung wie von philadelphischem Ideengut herkam. Sein Hauptanliegen war es, aus allen Religionen Erstlinge der Bekehrung für das bevorstehende Christusreich einzusammeln, so daß die recht erfolgreiche herrnhutische Judenmission den weltweiten Heidenevangelisationen der Brüdergemeine gleichgeordnet war. Die Proselyten wurden durch Aufnahme in die Gemeine sozial besser gesichert, nach Möglichkeit mit Herrnhutern verheiratet, um den Anpassungspreis freilich eines völligen Bruchs mit der Welt ihrer Herkunft.59 Wenn Zinzendorf persönlich zusammen mit Standesgenossen die Taufpatenschaft für solche Neuchristen übernahm,60 dann war das wohl eine für den pietistischen Adel der Zeit typische Demutsgeste, so wie etwa Mitglieder der Solms-Laubacher und Isenburg-Büdinger Grafenhäuser sich als Paten für die jüdischen Jugendlichen Gumpel und Anschel anboten, die zu ihrer Aufnahme ins Laubacher Armenhaus die Taufe begehrten.61 Derartige Bekundungen der Anteilnahme hinderten übrigens auch

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1929. Sp. 435 und A[aron] S[andler]: Institutum Judaicum. Ebd. Sp. 25f.; zu Müller/Kimchi außer Callenberg: Bericht. 21730. S. 4 - 14 auch Barouch Mevorah: Lavaters Auseinandersetzung (Anm. 27). S. 440f. Bericht in der Elers-Biographie der „Historie Der Wiedergebohrnen" (Anm. 22). VII. Teil. 1745. S. 159f.; zu Langes Bemühungen Maitin Schmidt (Anm. 19). S. 115. Ausführlichste Darstellungen bei Gustaf Dalmann: Graf Zinzendorf und die Juden. In: G. Dalmann/A. Schulze: Zinzendorf und Lieberkühn. Studien zur Geschichte der Judenmission. Leipzig 1903 (= Schriften des Institutum Judaicum in Berlin. H. 32). S. 5 - 4 9 und Erich Beyreuther: Zinzendorf und das Judentum (Anm. 46), bes. S. 691 732; mit Berücksichtigung zusätzlicher Quellen Franz Heinrich Philipp: Zinzendorf als Wegbereiter (Anm. 21). S. 15 - 25; vgl. ausgewogener Hans Schneider: Ein .Schreiben an die Juden' (Anm. 50), bes. S. 70 - 73. Zum philadelphischen Impuls der Bemühungen des Grafen vgl. zusammenfassend Hans Schneider: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. In: Gestalten der Kirchengeschichte. Bd. 7: Orthodoxie und Pietismus. Hrsg. von M. Greschat. Stuttgart 1982. S. 347 - 372. So auf Schloß Castell zusammen mit der dortigen Gräfin Theodora: Philipp (Anm. 21). S. 18 nach Martin Wittenberg: Zinzendorf und die Judenbekehrung. In: Evangelischlutherische Kirchenzeitung 14 (1960). S. 243f. Christian Hecht: Christlicher Tauf=ACTUS, Und das vorher abgelegte Glaubens=Bekänntniß, Zweyer Juden=Knaben Gumpels und Anschels [...]: Nunmehro aber Carl Casimir Christliebs / und Friedrich Christian Christliebs [...] zu Laubach in der Stadt=Kirche den 6. Jan. 1729. Büdingen 1730 [Fürstl. Hof-Bibl. Bad Berleburg: an Rc 5/70]. Als Erweckungsvorbilder konnten Berichte über zur Taufe gebrachte jüdische

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den pietistisch e r w e c k t e n A d e l nicht, sich begüterter S c h u t z j u d e n zur S t i l l u n g s e i n e s F i n a n z b e d a r f s z u b e d i e n e n und s i e w o m ö g l i c h , W i l h e l m i n e Luise Friederike von Leiningen-Westerburg,

um

wie ihren

verbrieften Kredit und Zins zu prellen, w a s diesen dann k o s t s p i e l i g e und langwierig-ungewisse Prozesse vor dem Reichskammergericht aufnötigte.62 Z u m Unterricht der N e o p h y t e n wurden auch bei den v o n H a l l e und Herrnhut

unabhängigen

Mustergebete

Pietisten

spezielle

Katechismen

und

e n t w o r f e n 6 3 und im Druck verbreitet, s o auch v o n d e m

später zu r a d i k a l e m C h i l i a s m u s und zu e i n e r d e u t l i c h

kritischeren

Haltung g e g e n d i e Judentaufe g e k o m m e n e n Johann W i l h e l m Petersen. S c h o n durchaus ambivalent im Hinblick auf die ohnehin in der nahenden Gnadenzeit zu erwartende S e l i g k e i t der jetzt noch nicht B e k e h r u n g s w i l l i g e n l e g t er 1 6 8 8 nach d e n c h r i s t o l o g i s c h e n B i b e l b e w e i s e n

seinem

T ä u f l i n g in den Mund: „mache mich starck gegen alle böse Exempel der heutigen Maul=Christen / lehre vielmehr mit gutem Exempel ihnen vorzuleuchten / daß [...] die so meine Brüder sind nach dem Fleische / gläuben mögen [...]. Heilige meine Zunge / daß ich nicht viel gegen sie mit Worten streite [...]. Gib mir eine heisse Liebe zu sie / und ein feuriges Gebet für sie / daß die Decke Mosis von ihren Augen und Hertzen weggethan werde / und sie [...] die Verheissung / die in den letzten Tagen Israel noch vorstehet / durch ihren Glauben an den Sohn GOTTES / den Gott Israel erfüllet sehen mögen. Ach daß solche Gnaden=Zeit doch bald käme / und gantz Israel seelig würde ! f...]". 6 4 Kinder sogar in das paränetische Jugendschrifttum der Pietisten aufgenommen werden. In der in vielen Ausgaben und Bearbeitungen verbreiteten Sammlung: Des Geistlichen Exempel=Buchs Für Kinder Dritter Theil (...) Nach der Ait JACOB JANNEWAY enthielt die Ausgabe Leipzig 1732 als 12. Exempel „Das treue Suchen des lieben Heilandes an einem Juden=Mägdlein bewiesen". Vgl. die ausführliche Rezension in der Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes. 7. Beitrag. Frankfurt, Leipzig 1732. S. 794 [UB Bonn: Gm 401/41], Diese Leipziger Ausgabe des ΙΠ. Teils scheint heute ebenso verloren wie dessen Drucke aus Nürnberg 1731 und Tübingen 1732. In der mir einzig erreichbaren Version Nürnberg 1738 [LB Stuttgart: Theol. oct. Κ 2517] ist das Exempel nicht enthalten. 62 Klageschrift aus den Akten des Reichskammergerichts: ACTEN-mäßige SPECIES FACTI In Sachen des Chur=Pfältzischen Schutz=Juden Abraham Simons zu Freinsheim Contra Frau Gräfin [...] zu Leiningen=Westerburg. o. O. 1740, bes. S. 3 - 6 und 16 [StUB Göttingen: 2 ° Deduct L 498], 63 Vgl. die Vorschläge Conrad von Beuningens in Reitz: Historie Der Wiedergebohmen (Anm. 22). Teü IV. 1716. S. 133. 64 Johann Wilhelm Petersen: Ein Christliches Glaubens=Bekäntnis für einen sich zum Christentum Bekehrenden Juden [...] RUBEN SIMON aus Amsterdam / Der [...] den 8. Jan. dieses 1688. Jahres [...] ist getauffet worden von mir. [Erstdruck als 2. Anhang (S. 371-402) zur 2. Aufl. von J. W. Petersen: I.[n] N.[omine] J.[esu] Spruch= Catechismus. Frankfurt, Leipzig 1689 [HAB Wolfenbüttel: Th 2026], Der Ausgabe Breslau 1722 [Ebd.: Th 2027] ist vom ungenannten Herausgeber femer ein „Anhang Einiger Fragstücke für einen zu bekehrenden Juden Abraham Isaac aus Reusisch Lemberg" beigegeben (S. 169 - 192). Petersens spätere Auffassung über das millenarische Ende der Zerstreuung des jüdischen Volks und dessen Teilhabe an der ersten Auferstehung z.B. in seiner Abhandlung: Schrifftmässige Erklärung und Beweis Der Tausend Jahre / und der daran hangenden ersten Auferstehung. Frankfurt 1692. S. 24-26 [StUB

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Die beiden aufsehenerregendsten und bis heute bekanntesten, in beiden Fällen freilich fehlgeschlagenen pietistischen Missionierungsbemühungen an berühmten Juden waren 1738 der Versuch des Stuttgarter Dekans und fruchtbaren Erbauungsschriftstellers Georg Conrad Rieger, den als ,Jud Süß' berüchtigten, gestürzten und zum Tode verurteilten Herzoglich-Württembergischen Hoffaktor Joseph Süß Oppenheimer noch unter dem Galgen zu Christus zu bekehren, und 1769 die öffentliche Aufforderung des Züricher Predigers und spiritualistischen GenieApostels Johann Caspar Lavater an den jüdischen Gelehrten und Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn, die Wahrheit der christlichen Religion zu akzeptieren und durch seinen Übertritt zu verherrlichen.65 Im ersten Fall ging es vor allem um einen Erweis der grenzenlosen Erlösungsbereitschaft Christi auch für den verstocktesten und verfallensten Malefikanten, wenn er sich noch sterbend, wie der Schächer am Kreuz, zu ihm wendete, aber auch darum, den durch den Prozeß aufwallenden Antisemitismus zu bannen: „Denn solche Liebe sind wir einem Juden um eines einigen Juden willen, um Jesu Christi, unseres hochgelobten Heilands willen, schuldig".66 Lavaters von den Zeitgenossen aller ideologischen Lager abgelehnte Taktlosigkeit aber resultierte aus der schon 1768 in seinen Aussichten in die Ewigkeit bekundeten alten heterodoxen Überzeugung, daß „die Göttingen: 43 in 8° Theol. pol. 148/1:2], v.a., in Abgrenzung zu den Endzeithoffnungen des jüdischen Volksglaubens, den.: Oeffentliche Bezeugung Für der gantzen Evangelischen Kirchen: DaB das Reich JEsu Christi [...] Weder mit den alten ketzerischen Imhümern des Cerinthi / noch mit den Jüdischen Fabeln einige Gemeinschafft habe. o. O. 1695. S. 4 - 19 [Ebd.: 7 in 8° Theol. pol. 148/1: 7], Die veränderte Gewichtung in Petersens Denken von einer missionsorientierten Haltung zu einer gelassenen Erwartung des künftigen Wiederbringungsakts Gottes wird auch in seiner Autobiographie sichtbar: Das Leben Jo. WILHELMI PETERSEN. o.O. 1712. S. 225f. (christologische Messiasverkündigungen in der Döplitzer Synagoge) und 343 - 348 (chiliastische Lehre von der endzeitlichen Bekehrung der Juden) [Ebd.: 8° Hist. lit. biogr. IV, 5915], Zu knapper Information über Petersen und seine Frau vgl. meinen Artikel im Schleswig-Holsteinischen Biographischen Lexikon. Bd. 5. Neumünster 1979. S. 202 - 206. 65 Beide Fälle sind noch dargestellt im populären Sachbuch von Leo Sievers: Juden in Deutschland. Die Geschichte einer 2000jährigen Tragödie. 3. erw. Aufl. München 1983 (= Goldmann Stern-Bücher. Bd. 11510). S. 121 - 131 (Oppenheimer) und 141 144 (Lavater - Mendelssohn). 66 W. Claus: Von Bengel bis Burck. Bilder aus dem christlichen Leben Württembergs. Stuttgart 1900 (= Württembergische Väter. Bd. 1). S. 91 - 93; zit.: S. 93; Eberhard Bucher: Religion und Kirche. Kulturhistorisch interessante Dokumente aus alten deutschen Zeitungen (16. bis 18. Jh.). München 1925. S. 292 - 297. Vgl. [Selma] Stfem-Täubler]: Joseph Süß-Oppenheimer (red. von [Ismar] Ellbogen]). In: Herlitz/Kirschnen Jüdisches Lexikon. Bd. 4/1. Berlin 1930. Sp. 589 - 592 und Taf. 130/131 sowie ausführlicher, aufgrund der Prozeßakten und Flugschriften, Selma Stem: Jud Süß. Ein Beitrag zur deutschen und jüdischen Geschichte. Berlin 1929 (=Veröffentlichungen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums. Hist. Sekt. Bd. 6). S. 168f.

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Bekehrung der gesammten jüdischen Nation zum Christenthum" noch bevorstehe in einem „zukünftigen Reiche unsers Erlösers auf dieser Welt, welches mit der Wiederherstellung des jüdischen Staats anfangen und bis zu dem allgemeinen Weltgerichte währen soll".67 Nur meinte Lavater wie die judenmissionarisch orientierten Pietisten vor ihm, den Anbruch dieses Reiches durch die Sammlung der würdigsten „Erstlinge" vorbereiten und befördern zu sollen. Von der Anerkenntnis Christi durch den bekanntesten und höchstgeachteten aller zeitgenössischen Juden, diesen vortrefflichen „Israeliten, in welchem kein Falsch ist",6* erhoffte er sich den Anstoß zur allgemeinen Judenbekehrung und damit den Beginn der herrlichen Epoche der Bruderliebe.

V. Neben dieser Richtung hat während der gesamten Blütezeit des Pietismus, bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, jene andere fortbestanden, die bei womöglich noch entschiedeneren Äußerungen einer auszeichnenden Wertschätzung für das jüdische Volk programmatisch jede Glaubensabwerbung und Taufpropaganda ablehnte. Sie kulminierte in der Phase gesteigerter eschatologischer Naherwartung um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert und ging erst zurück, als mit dem nachlassenden Außendruck auf den Pietismus und seiner fast vollständigen Integration in das protestantische Kirchenwesen, mit fortschreitender dogmatischer Toleranz und Säkularisation die endzeitlichen Spekulationen an Boden verloren — und mit ihnen die radikaleren separatistischen 67 [Lavater:] Aussichten in die Ewigkeit in Briefen an Herrn loh. George Zimmermann. 1. Teil. 3. Aufl. Zürich 1777. S. 216f. (Diese früheste ganz vollständige Ausgabe des zuerst Zürich 1768 erschienenen Werks stellte mir freundlich August Ohage, Göttingen, zur Verfügung). Barouch Mevorah: Lavaters Auseinandersetzung (Anm. 27). S. 43 lf. zitiert nach einem der zahlreichen unberechtigten Nachdrucke („2. verb. Aufl. Hamburg 1773. S. 92f.", ein anderer ebenfalls als 2. Aufl. firmierender Raubdruck Frankfurt 1773 liegt in der StUB Göttingen: 8° Theol. thet. Π, 688/41). Zum geistesgeschichtlichen Zusammenhang vgl. Mevorah, S. 431 - 450 mit Lit Über die Abfolge der Ereignisse und ihre literarischen Weiteningen informiert übersichtlicher Emst-Peter Wieckenberg: Der Bekehrungsstreit zwischen Lavater und Mendelssohn (Anm. 47). S. 71 - 79. 68 So in der diesen Streit auslösenden Widmungsvorrede an Mendelssohn in Lavaters Übersetzung: Herrn Carl Bonnets [...] Philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum. Zürich 1769 [HAB Wolfenbüttel: Lm 511]. Vgl. Emst SchulteStrathaus: Bibliographie der Originalausgaben deutscher Dichtungen im Zeitalter Goethes. I, 1. München, Leipzig 1913. S. 92 - 95; Wieckenberg (Anm. 47), S. 71 und Mevorah (Anm. 27), S. 434. AufschluBieich ist, daB Hochmann von Hochenau, der vorzeitige Christianisierungsbemühungen ablehnte, 1699 seinen Sendbrief an die Juden mit demselben Bibelzitat Joh. 1, 47 adressierte (vgl. Hans Schneider: Ein .Schreiben an die Juden', Anm. 50). S. 69.

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und heterodoxen Kräfte, die jene besonders genährt hatten. Für die Einstellung dieser Richtung des Pietismus zu den Juden steht bislang einzig die Pilotstudie von Hans Schneider über den Sendbrief an die Juden von 1699 zu Gebote, als dessen Verfasser er den wirkungsreichen Erweckungsprediger und Propagator einer überkonfessionellen philadelphischen Sammlung, Hochmann von Hochenau, erwiesen hat,69 für den entsprechende Auftritte vor der Frankfurter Judenschaft in diesem Jahr auch tatsächlich belegt werden können. Die Argumente in dieser ungemein konsistenten Tradition sind, soweit ich sehe, weitgehend dieselben, wie Schneider sie für Hochmann freigelegt hat. Ebenso wie bei den missionsorientierten Pietisten wird aus der Bibel die gottgewollte besondere Würde des Bundesvolks und dessen eindeutig noch bevorstehende Wiederannahme nach der langen Zeit des Strafgerichts abgeleitet. Dann werde nur noch „ein Hirt und eine Herde" (Joh. 10, 16) aller Schäflein Gottes sein, aus welchen Ställen sie auch kommen mögen. Stärker ins Licht gerückt werden jedoch die Verheißungen der zukünftigen Herrlichkeit Israels, seiner Versammlung aus aller Welt und Wiedereinsetzung in seine Erbgüter im Heiligen Land. Wesentlich unterscheidend ist vor allem die Auffassung, daß die Christen in Gottes Heilshandeln mit den Juden nicht eingreifen dürfen, weder in sein noch obwaltendes Gericht über sie noch in seine Absicht, sie künftig zur Gänze wieder anzunehmen, daß also „der jüdische Weg zum Heil nicht über eine vorherige Bekehrung zum Christentum führt, also keine Judenmission erforderlich ist. Die getrennten Wege von Christentum und Judentum laufen erst endzeitlich beim Offenbarwerden des einen Messias der Juden und Christen zusammen."70

Da alle Exponenten dieser Richtung schroff kirchenkritisch eingestellt sind, kommt als Nebenargument hinzu, daß es nicht Gottes Wille sein könne, den „babelischen" Konfessionskirchen neue Glieder zuzutreiben. Keineswegs solle, wie es 1738 der Mystiker Marsay formuliert, „die allgemeine Bekehrung der Juden auf eine fleischliche Art und Weise geschehen, sondern, da das Reich des Geistes in vollem Anbruch ist, würde 69 Hans Schneider: Ein .Schieiben an die Juden* (Anm. 50). S. 68 - 77, bes. 69 - 72, zur kaum erforschten Traditionsgeschichte S. 76; vgl. ders.: Ernst Christoph Hochmann von Hochenau. In: TRE. Bd. 15. Berlin, New Yoric 1986. S. 421 - 423. Der untersuchte bedeutungsvolle Sendbrief ist im Reprint greifbar: [E. Chr. Hochmann von Hochenau:] Schreiben an die Juden, welches vor geraumer Zeit viel Eingang gefunden (= Der FreywUligen Nachlese [...] ΙΠ. Sammlung [1735]. S. 62 - 69). In: N. L. v. Zinzendorf: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften. Hrsg. von E. Beyreuther und G. Meyer. Bd. 11 (Freyw. Nachl. 1 - 6). Hildesheim 1972. Die von Schneider vermißten direkten Quellenbelege für eine nicht bloß literarische Anrede, sondern für ein persönliches Wirken Hochmanns unter den (Frankfurter) Juden sind im Wittgensteinischen Archiv, Laasphe: Κ 291, Bl. 48 erhalten. Nachweis bei Eberhard Bauer: Der Separatismus in der Grafschaft Wittgenstein. In: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 75 (1982). S. 170. 70 Schneider: Ein .Schreiben an die Juden' (Anm. 50). S. 71.

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auch sothane Bekehrung mehr im Geist erfolgen ohne eine oder andere Secte noch Religion zu vermehren."71

Die angemessene christliche Fürsorge für die Juden kann deshalb nur sein, sie zu ernstlicher Buße und Lebensheiligung entsprechend ihren eigenen alttestamentlichen Religionsgrundsätzen aufzurufen und durch Liebe und Besserung ihrer sozialen Situation die Voraussetzungen für die Möglichkeit einer solchen Herzenseinkehr zu schaffen. Alle diese Postulate entsprechen weitgehend den Maximen, die auch für die jüdische Frömmigkeit bestimmend waren. Daraus und aus der Idee der bevorstehenden neuen göttlichen Auszeichnung Israels mögen sich die aufsehenerregenden Verhaltensweisen einiger pietistischer Außenseiter erklären: so unterwarf sich der Däne Jens Pedersen Gedelöcke den Heiligungsgeboten des mosaischen Gesetzes,72 hat angeblich der reformierte Wetterauer Separatist Balthasar Christoph Klopfer ein göttliches Zeichen erwartet, ob er seinen Sohn taufen oder beschneiden lassen sollte,73 ist der von Spener erweckte Süddeutsche Johann Peter Spaeth sogar 71 Geistliche FAMA, mittheilend einige wahrhaffte Nachrichten / betreffend anietzo insondeiheit die Erweckung und Bekehrung der Juden. = Bd. 3. 24. Stück. „Sarden" [= Berleburg] 1738. S. 6 [StUB Göttingen: 8° Theol. misc. 184/54]. Der ungezeichnete Artikel in dieser der philadelphischen Sammlung dienenden Zeitschrift ist offenbar von Charles Hector de Marsay verfaßt, wie die Überschrift der „Theses und Fragen" S. 30 erkennen läßt, die den von Marsay für fast alle seine Werke verwendeten Kenntitel (vgL auch Anm. 97) aufgreift: „geschehen von einem Kind, welches Zeugnuß ablegt von der Richtigkeit, Realität und Wahrheit des Geistes GOttes". - Allgemein über das Philadelphierorgan informiert Winfried Zeller: Geschichtsverständnis und Zeitbewußtsein. Die „Geistliche Fama" als pietistische Zeitschrift. In: Pietismus und Neuzeit 2 (1975). S. 89 - 99; wieder abgedr. in: Zeller: Theologie und Frömmigkeit. Bd. 2. Marburg 1978. S. 150 - 160. Ebenso massiv wie hier Marsay wendet sich auch der Begründer der „Geistlichen FAMA", Johann Samuel Cari (vgl. meinen Artikel im Schleswig-Holsteinischen Biographischen Lexikon. Bd. 5. Neumünster 1979. S. 60 64), gegen die „par force=Werberey" der proselytenmacherischen „Hohepriester und Apostel aus der Huren= und Thieres=Zunfft" : Historie Der Wiedergebohmen (Anm. 22). Teil VI. 1730. S. 192. 72 I. H. K.: Der sonderbare Glaube [...] Und Merckwüidige Begräbnis des CVRATORIS JENS PEDERSEN GEDELÖCKS, Welcher [...] als ein vortiero gewesener Christ Wie ein ungläubiger Jude gestorben [...]. [Berlin]-Cölln 1731 [SB Braunschweig: I 16/157]. Aufgrund dieses auf dem Stuttgarter Trödelmarkt erstandenen Exemplars hat Wilhelm Raabe seine humoristische Toleranzerzählung „Gedelöcke" verfaßt. Neueste Ausgabe (mit Lit. über die poetische Transformation der Quelle: S. 338f.) in: Wilhelm Raabe: Stuttgarter Erzählungen = Werke in Einzelausgaben. Hrsg. von Hans-Jürgen Schräder. Bd. 1. Frankfurt 1985 (= insel taschenbuch 881). — Knappe Information über den Kopenhagener Skandalfall des Jahres 1729 bei H. J. Schoeps: Philosemitismus im Barock (Anm. 27), S. 87 - 91. 73 Diesen Bericht hat nach Valentin Emst Löscher Vollständiger TIMOTHEUS VERINUS. Teil 1. Wittenberg 1718. S. 53 [StUB Göttingen: 8° Theol. pol. 150/15] u.a. Johann Michael Mehlig: Historisches Kirchen= und Ketzer=Lexicon. Bd. 2 [Chemnitz 1758], S. 493 [Ebd.: 8° Hist. eccl. un. 98/51:2] kolportiert. Die Klopfer-Affäre des Jahres 1697 hat erhebliche Weiterungen nach sich gezogen und mit Anlaß zur Entstehung philadelphisch-separatistischer Gemeinden in Hessen gegeben. Johann Henrich Reitz: Grund des Glaubens und der Hoffnung. Berleburg 1724. S. 35 - 48 [UB Basel: 6 in: Archiv Christ. Ges. 75] geht in seinem umfänglichen Rechenschaftsbericht über die Affäre auf diesen speziellen Vorwurf nicht ein. Rudolf Mohr: Ein zu

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zum Judentum übergetreten.74 Den Inspirierten, die die Juden in der Synagoge zu Buße und Heiligung aufriefen,75 wurde nachgesagt, sie bestatteten ihre Toten nach jüdischem Ritus.76 Schwärmer wie Öliger Pauli, der 1704 in Altona eine apostolische Union der Juden und Christen gründen wollte,77 oder wie, noch in der Goethezeit, der Frankfurter Konzertdirektor Johann Daniel Müller,78 boten sich als neue Messiasse oder Eliasse an, verfließen die Rückführung der Kinder Israel ins Gelobte Land und forderten die Mächtigen der Welt auf, dieses von den Türken zurückzuerobern, damit dem Herrn der Weg bereitet sei.

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Unrecht vergessener Pietist In: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 22 (1973). S. 79 - 88, der sie am quellenkundigsten erforscht hat, hält den Vorwurf einer erwogenen Beschneidung (S. 82) für eine Unterstellung. Ideen dieser Art kursierten aber wirklich in diesen Jahren, vgl. Johann Wilhelm Petersen: Oeffentliche Bezeugung (Anm. 64). S. 7. Ausführlichste Analyse von Schoeps (Anm. 27). S. 67 - 81, vgl. P[aul] L[azams]: Johannes Petrus Spaeth. In: Herlitz/Kirschner: Jüdisches Lexikon. Bd. 4/2. Berlin 1930. Sp. 538f. und (korrekter, bereits auf Schoeps basierend) M[ichael] R[euven]: Johann Peter Spaeth (Moses Germ anus; 1642/45 - 1701). In: Encyclopaedia Judaica. Bd. IS. Jerusalem 1971. Sp. 219f.; Martin Schmidt: Judentum und Christentum (Anm. 19). S. 117, 128. [Johann Carl Gleim (Hrsg.):] Das Geschrey zur Mitternacht / Durch den Geist der Weissagung, o. O. 1715. S. 19f., vgl. v. a. S. 28 - 30. 49 - 51. 1 1 6 - 118 [UB Bonn: 1 an Gi 404]; danach Gottlieb Scheuner Inspirations=Historie. Amana (Iowa) 1884. S. 44. A. Ypey: Geschiednis van de Kristelijke Kerk in de achttiende Eeuw. 10. Teil. Utrecht 1809. S. 310. — Detaillierten „Einige Nachrichten von den im Ysenburgischen befindlichen Secten." In: Theologische Nachrichten 1805 - Anhang zu [Ludwig Wachler (Hrsg.):] Neue Theologische Annalen 1805. Marburg [1805]. S. 56. Vgl. zu seinem wirren Ideengut Schoeps: Philosemitismus (Anm. 27; S. 53 - 67 und ff.: Pauli als Lehrer des Moses Germanus) und, mit günstigerer Beurteilung seiner Pläne, Walter Rustmeier: Öliger Pauli oder der Plan einer apostolischen Gemeinde der Juden und Christen in Altona. In: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte 2, 19 (1963). S. 69 - 87. Wie schwierig in der Realität die Situation der Juden in dieser Zeit sogar in der .Freistadt' Altona war, erweisen eindeutig die Dokumente, die Peter Freimark: Zum Verhältnis der Juden und Christen in Altona im 17./18. Jahrhundert. In: Theokratia. Jahrbuch des Institutum Judaicum Delitzschianum 2 (1970-72). 1973. S. 253 - 272 vorgestellt und interpretiert hat. Johann Henrich Reitz hat in den Exempelerzählungen von Öliger Pauli, die er dem I. Teil seiner „Historie Der Wiedergebohrnen" seit der 2. Auflage anfügte, vorsichtshalber dessen offenbar für schwärmerisch gehaltene Pläne zur Rückführung Israels unerwähnt gelassen: Werkgeschichtlicher Anhang der Neuedition (Anm. 22). Bd. 4. S. 29* - 3 9 * . Müllers vorgeblich gottdiktierte messianische Bekundungen finden sich z.B. in seinem anonymen, mit „Meßias" unterzeichneten Traktat: Das ewige Evangelium in der Offenbarung der Kinder Gottes, in und bey dem Gericht über die Welt. o. O. 1778, vgl. v.a. S. 328 (Kennzeichnung als Gottesdiktat: S. 311) [LB Wiesbaden: 8° Mn 1753]. Genaueste Information über sein Leben und Werk (mit Lit.) Reinhard Breymayen Ein radikaler Pietist [...] Johann Daniel Müller alias Elias/Elias Artista. In: Pietismus und Neuzeit 9 (1983), S. 180 - 237. Zu vergleichen ist hier der Bericht in der „Geistlichen FAMA" (Anm. 71). Bd. 1. 5. Stück. „Philadelphia" [= Berleburg] 1731. S. 79 - 85 über den in diesem Jahr in Ägypten erschienenen wundertätigen „Juden=Elias", der gekommen sei, „das verwirrte und zerstreuete Israelitische Volck aus den vier Welt=Theilen zu versammlen / [ . . . ] sie in das heilige Land einzuführen / und die Kirche und Mauren zu Jerusalem wieder aufzubauen" (S. 84).

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Präzionistische Ideen der Rückführung oder „Wiederkehrung" der Juden „in ihr Land" finden sich aber auch bei vielen theologisch emster zu nehmenden Vordenkern des Pietismus. Die Historie Der Wiedergebohrnen macht mit immer denselben Termini Johann Angelius von Werdenhagen, Johannes Coccejus und Philipp Jacob Spener dafür namhaft. 7 9 Dazu kamen Chiliasten wie Paul Felgenhauer, Pierre Serrurier (Petrus Serarius), Pierre Jurieu 80 und Pierre Poiret. In dessen von den Berleburger Philadelphiern übersetzter und 1735-42 siebenbändig neu gedruckter Göttliche[r] Haushaltung schließt das entsprechende Kapitel mit dem Jubellied: „O Salem / du Crone der heirlichen Städten ! O heiliges Zion / es gehe dir wol ! Heyl / Segen und Friede / komm' in dich getretten / Und mache mit himmlischer Wollust dich voll ! Dem der dein Wohl suchet / muß gleiches geschehen / Auch Brüdern und Freunden sey Friede allda ! Sie werden die Herrlichkeit GOttes hier sehen : So singet dann frölich das Halleluja !" 81

Unter den unmittelbaren geistesgeschichtlichen Vorläufern des Hochmannschen Juden-Sendschreibens will ich noch auf einige gleichsinnige Zeugnisse aus der Zeit eschatologischer Hochspannung um die Jahrhundertwende hinweisen und dann abschließend auf die Erben ihrer Ideen im radikalpietistischen .Philadelphia' Berleburg. 1697 brachten die Pietisten eine Schrift des in Schweden geborenen und 1689 in Altona gestorbenen Felgenhauer-Anhängers Anders Pedersson Kempe neu heraus, die alle Lehren Hochmanns schon enthält: Andreas Kempe: Israels erfreuliche Bottschafft. Das ist: Klarer Beweisz [...] das Israel in allen ihren Geschlechtern / Annoch Eine / ja ewige Erlösung unwidersprechlich zu hoffen haben [...] Im Jahr Christi 1697 (84 Seiten).

Gegenüber der Erstausgabe von 1688, die Hans Joachim Schoeps als Dokument des .Philosemitismus im Barock' besprochen hat, 82 ist sie of79 „Historie" (Anm. 22). Teil IV. 1716. S. 16, vgl. 8 und 12 (Coccejus), Teil V. 1717. S. 332 (Spener), TeU VH, 1745. S. 87, vgl. 81 und 89f. (Weidenhagen). 80 Vgl. zu ihm außer den RGG-Artikeln die Hinweise bei Schoeps (Anm. 27) und Semisch/Biatke (Anm. 36); zu Serrurier und seiner Wirkung auf den Frankfurter SpenerKreis auch Johannes Wallmann: Philipp Jacob Spener und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 1970 (= Beiträge zur hist. Theol. Bd. 42). S. 33 lf. Auch einen Dialog dieses Petrus Serarius „von der allgemeinen Erlösung des gantzen Menschlichen Geschlechts" (also nicht nur der Christen): Die Gespräche im Reiche der Gnaden. Amsterdam 1722, hat die Gottschedin in das irrgläubige und vernunftwidrige Sortiment ihres pietistischen Bücherhökers integriert (vgl. Anm. 32, „Pietisterey", S. 107). 81 Herrn Peter Poirets Göttlicher Haushaltung IV. Buch, oder V. Tomus. o.O. [= Berleburg] 1736. S. 570 (vgl. 567ff.) [UB Marburg: Relkdl. Slg. ΠΙ Cy333 b : 2]. 82 Schoeps: Philosemitismus (Anm. 27), S. 45 - 53. Die in der Göttinger Sammlung „Acta Pietistica" überlieferte Neuausgabe (Anm. 83) war ihm nicht nachweisbar.

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fenbar massiv gekürzt, von enthusiastisch-krausem Beiwerk gereinigt. Erhalten blieb aber die Behauptung, daß sie als Gottesdiktat empfangen wurde. 8 3 Hauptgedanke ist, daß die anhaltende Diaspora als Gottes Strafe für Israels Verstockung und Sünden auferlegt sei, deren sich aber die Christen nicht zu überheben hätten, da sie selbst „mit greulichen Morden und Blutvergiessen Ceremonien=stifften / Bilder=machen und Teufflisch Wesen mehr / nu in 13. oder 1400. Jahren"

vom Herrn abgefallen seien, während die Juden in allem Leid sich seit Christi Zeiten nie „zu Abgötterey begeben / sondern bey dem GOtt Israel [...] verblieben" sind. 84 Nun sei es, wie Kempe beständig wiederholt, Zeit zur Buße, weil bei der unzweifelbar baldigen Erlösung und Rückkehr „nichts unreines für dem Angesicht GOttes / und in das heilige Jerusalem kommen kan". 85 Deutlich warnt er vor dem Eifer der christlichen Bekehrer, und er ermutigt die Juden zur Standhaftigkeit im alten Glauben: „Ihr Juden und Benjamiten / mit dem gantzen Israel / hütet euch für solche Wider=Christliche Lehrer / und ihren erdichteten Antichrist / und bleibet in Einfalt bey dem alten ewigen Gott / der da ist / der Er seyn soll.[...] Haltet euren [...] Sabbath nach dem Befehl Mosi [...]. Wann aber die Vorbotten und Verkündiger des wahren Heylandes und Messiä Zukunfft offenbar außruffen werden / da wird euch aller Zweiffei benommen / denn sie werden euch mit anderen Lippen predigen / nemlich Friede und Liebe".86

Gleiche Gedanken der Rückkehr Israels bestimmen den Petersen-Kreis, und zwar ebenso unter Berufung auf göttliche Visionen. In Petersens Publikation der Gesichte seines geistlichen Schützlings, Rosamunde Juliane von Asseburg, die den Streitschriftenkrieg um den Pietismus heftig wie nie zuvor entbrennen ließ, wird 1691 als endzeitliche Offenbarung des zwölfjährigen Mädchens die nicht bloß geistliche Rückkehr Israels mitgeteilt: „die Juden aber werden hie auf Erden ihre Verheissung empfahen nach meiner ewigen Warheit / wie ich es ihnen geschworen und verheissen habe." 87 83 Andreas Kempe: Israels Erfreuliche Bottschafft o.O. 1697 [StUB Göttingen: 1 in 8° Theol. pol. 148/1: 9]. S. 82: 1686 „fand sich meine Seele unter den Engelchoren versetzet / und in den Armen Jesu umbarmet [...]. Derselbe hat auch durch seinen Geist mich zu diesem Wercke animiret / und selbst Dictator gewesen / ich bin nur das Instrument. Dime gehöret alle Ehre in Ewigkeit." 84 Ebd. S. 22. Denselben Gedanken von dem gegenüber dem .Jüdischen Wesen* „siebenmahl verwinter[en]" Kirchen-Staat entwickelt auch der Radikalpietist Johann Adam Raab[e] in seiner anonymen Schrift: Der durch Gottlose Verführer und Babels=Pfaffen [...] Entbrannte Christliche Elias. „Philadelphia" 1703. S. 188 [LB Stuttgart: Theol. oct. 4592]. 85 Kempe (Anm. 83), S. 2, vgl. S. X3 r . 8. 31. 86 Ebd. S. 79. 87 [J. W. Petersen:] Send=Schreiben An einige Theologos [...] Sampt einer erzehlten SPECIE FACTI Von einem Adelichen Fräulein, o. O. 1691. S. C 4V [StUB Göttingen: 1

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Petersens Frau Johanna Eleonora, Schülerin S peners im Frankfurter Saalhof, will, wie sie in ihrer Autobiographie 1717 bekennt, auch schon als Kind im Traum das Geheimnis der endzeitlichen Judenbekehrung aufgeschlossen bekommen haben, noch ehe sie von den biblischen Verheißungen wußte. 88 Die hat sie dann, 1696 in ihrer Anleitung zu gründlicher Verständniß der Heiligen Offenbahrung Jesu Christi, umso fleißiger ausgelegt und dabei das gebärende Weib der Apokalypse 12, 1 auf die künftige Bekehrung und Erhebung der Juden über alle Völker bezogen. Zum Erweis der Wiederherstellung des Königreiches der Juden in Palästina und der folgenden Weltregierung Christi und aller seiner Erlösten hat sie die bekannten Bibelstellen appliziert.89 Petersen selbst grenzt sich 1695 zwar von allen grobsinnlichen Endzeitvorstellungen des jüdischen Volksglaubens ab, stellt aber die Einsicht vieler gelehrter und frommer Juden weit über die jener Christen, die die chiliastischen Ereignisse für schon erfüllt halten. Ihm ist deshalb unzweifelhaft, daß Gott die Juden „wiederbringe in das Land / daß Er ihren Vätern gegeben hätte / Welches bis auff diese Stunde noch nicht erfüllet ist. Daß aber jetzo die Juden herrschen sollten / wird kein Verntlnfftiger glauben. Denn obleich ihrer ettliche bey grossen Herren wohl dran seyn: so müssen sie doch solche Gnade theuer gnug kauffen". 90

Von einer christianisierenden Einwirkung auf die Juden ist nirgends mehr die Rede, die „Bekehrung" soll erst bei der Wiederkehr des Herrn geschehen. Knapp ein Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende hat Johann Tennhardt, der sich wie Kempe als „Cantzellisten des grossen GOttes" verstand,91 Hochmanns Bußanreden an die Juden in Frankfurt wieder aufgenommen — in jenem redundanten Reimenreden, das ihm und seinen Anhängern die Göttlichkeit der Inspiration zu verbürgen schien.92 Auch ihm geht es nur um die heiligmachende Reinigung der Glieder in 8° Theol. thet. Π, 262/25], 88 Leben Frauen Joh. Eleonora Petersen (Anm. 37). S. 49 - 51. 89 J. E. Petersen: Anleitung zu gründlicher Verständnis der Heiligen Offenbahrung. Leipzig 1696. S. 121ff. 29Iff. Referat bei Martin Schmidt: Judentum und Christentum (Anm. 19). S. 116f. 90 J. W. Petersen: Öffentliche Bezeugung (Anm. 64). S. 17. 91 So in Tennhardts anonym ediertem Traktat: Worte Gottes / Oder Letzte Wamungs= und Erbarmungs=Stimme. o.O. [= Idstein] 1710. S. 622 [StUB Göttingen: an 8° Theol. thet. I, 808/13], 92 Vgl. zu dieser Schreibart Friedrich Braun: Joh. Tennhardt. Ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus. München 1934 (= Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns. Bd. 17). S. 30f. und die (auch für die Genese der Sturm- und Drang-Poetologie aufschlußreiche) Apologie dieses Prophetenredens durch Tennhardts Schüler M. Golther: I. N. J. ANONYMI ALETHOPfflU Schrifftmäsziges JUDICIUM THEOLOGICUM Von Johann Tennhardts [...] Buche. o.O. 1711. S. 3 - 7 [HAB Wolfenbüttel: Tq 1241],

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des erwählten Volks, das sich vom „Mammon" zum Herrn zurückwenden soll, nicht um Christianisierung und Taufe, so daß auch er spezifisch christologische Botschaften zurückstellt. Am 9. Januar 1708 wurde ihm die Verkündigung eingegeben, „daß alle Menschen sollen Buße thun / sonderlich die Juden / sein auserwehltes Volck". In Aussprache göttlicher Rede fährt er fort: „Dann sie sind nun lange verlassen gewesen / aber ich will mich wieder zu ihnen wenden: und ihnen den versprochenen Heyland senden [...]. Ohne Busse aber werden sie nit bestahn: sondern mit dem Satan müssen gahn [...] die Juden sollen anfangen: nach meinem Verlangen: ein heiliges Leben zu fuhren: hier in der Zeit: solches zu gemessen in die Ewigkeit. [...] O ihr Juden macht euch von aller Ungerechtigkeit und Sünden frei: so wil ich euch erquicken: und an mein Hertze drücken: [... ] Ich / Ich und sonst kein ander GOtt / kein Mensch / kan euch laben [...]. So spricht der GOtt Abraham, Isaac und Jacob / der Wahrhafftige". 93

Die künftige Reinigung und Rückführung Israels — und zwar ohne alle Vermengung mit dem „babelischen" Kirchenwesen — ist ein häufig wiederholtes Thema auch in den ebenfalls 1710 erscheinenden Büchern des abgesetzten Harburger Garnisonspredigers Christian Anton Römeling. Als „Israel" bezeichnet er dabei allerdings wiederum nicht immer die Juden, sondern meist allegorisch die Gemeinschaft aller Erweckten.94 In Berleburg, dem historisch letzten und literarisch wirkungsreichsten Hort der radikalpietistisch-kirchenkritischen Philadelphiergemeinschaft, wird in den 1730er Jahren die um die Jahrhundertwende gemeinhin nur vorsichtig geäußerte Kritik an dem missionarischen Übereifer der kirchlichen Institutionen, am willkürlich-unzeitigen Eingreifen in die gottgewollt-herrliche Erhöhung seines Volks aus den abgrundtiefen Erniedrigungen seines zu Ende gehenden Strafgerichts, weit massiver ausgesprochen. In ihrem Sprachrohr, der von 1730-44 periodisch erscheinenden Geistliche[n] FAMA, gibt es zu diesem Thema drei Artikel, in denen die in den Kennzeichnungen des Strafgerichts anklingenden Stereotype den entschieden judenfreundlichen Skopus nicht beeinträchtigen 93 Johann Tennhardt: GOTT allein soll die Ehre seyn [1. Aufl.] o.O. [= Idstein] 1710. S. 187 - 190 [StUB Göttingen: 2 in 8° Theol. thet. I. 808/13]. 94 Christian Anton Römeling: Nachricht seiner [...] Völligen Herausführung aus Babel. Frankfurt, Leipzig 1710. Anhang (S. 289 - 412): Treuheitzige Erweckungs=Stimme [...]An Alle Rechtschaffenen Israeliten / Die Babel bereits verlassen haben. z.B. S. 355ff. 373 - 410 [StUB Güttingen: 3 an: 8° Jus. Rom. 3/30]. Vgl. den im Auktionskatalog Johann Jacob Rambachs 1736. S. 130. Nr. 836 [Stadtarchiv Soest: an 5 U. 15.10] nachgewiesenen Titel: Roemelings (Christ. Ant.) Die Zerstörung Babels von Mitternacht und Morgen, nebst der darauf erfolgenden grossen Bekehrung der Jiiden, Türcken und Heyden. 1710. - Genauere Information bei Wilhelm Klose: Christian Anton Römeling's Leben und Lehre. In: Zeitschrift für die hisL Theologie 23 (= NF 17). (1853). S. 204 - 225, bes. 213f.; allgem. Hinweise bei Albrecht Ritsehl: Geschichte des Pietismus. Bd. 1. Bonn 1880 (Repr.: Berlin 1966). S. 446 - 449.

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sollen. Sie sollen vielmehr der polaren Differenz der heilsgeschichtlichen Situationen Ausdruck verleihen. Auch der gegenwärtige Status der „Sünden=Finsterniß" läßt, wie die FAMA 1731 argumentiert, erkennen, daß Gott die Juden zu Höchstem aufbewahrt hat: „Sie sind zugeschlossen, daß niemand aufschliessen kan, bis auf die Ende=Zeit des Gerichts: [...] Sie sind durch alle Welt und Völcker ausgestreuet, daß sie kein eigenes Land, Sitz, Stand, Regiment usw. finden können, sondern müssen im Schacher=Geist, als dem elendesten Loos und dem beflecktesten Lebens=Weg, durch alle Völcker ihr Leben hinfuhren. Jedoch werden sie von und bey allen ernähret, gedultet, beschützet [...]. Dergleichen Beschaffenheiten dieses Volcks geben allen Natur=Menschen einen Eindruck, es müsse eine schwere Gerichts=Hand GOttes zum Schrecken aller Völcker über diesem zerstreuten grosen Haufen liegen, und doch dabey über ihnen walten ein groses Maaß der Barmhertzigkeit, sie unter so mancher Demüthigung zu erhalten, beschützen, und zu sparen auf die [...] bestimmte Zeit der Erlösung."95 1733 wird die Autobiographie eines ängstlich gottsuchenden Rabbiners mitgeteilt, der durch die Hallesche Mission getauft, aber, ehe er außerhalb der Dogmen seine Ruhe wiederfand, durch „die erste Catechismus= und Tauff=Bekehrung nur erst recht verkehrt, und in solchen Angst=Kampf gesetzet" wurde, daß er zu der Erfahrung kommen mußte: „Kurtz zu sagen, ich war kein Jud und kein Christ, sondern machte alles mit denen Welt=Kindem und Maul=Christen". Der Vorbericht gibt Anlaß zu einer Generalabrechnung mit der Proselytenmacherei und ihren teils nur eingebildeten, teils aber verderblichen Resultaten, sowie zur programmatischen Forderung eines tatsächlich Restriktionen lösenden und Lebensumstände bessernden liebreichen Begegnens: „Die besondere eintzelne Bekehrung ist biß dahero schwer genug befunden worden, daß keine Partey so glücklich sich fast zeigen und angeben will, es wäre ein Jud durch ihrer Kirche Licht und Macht wahrhafftig zum Leben GOttes [...] gekommen [...]. Jede der drey Religionen haben genug Exempel, deren sie sich schämen, daß ein verarmter Jud oder ein unwissendes Kind erschnappt, mit Catechismus=Fragen wie ein Papagey gefüllt und endlich getauffet worden. Alle aber klagen, [...] wie die Juden=Täuflinge ihre geistliche Väter und Gevattern um wenig Pathen=Pfennige bey der Nasen herumgeführt, und die gantze Bekehrungs=Handlung zum Gelächter gemacht. Jedoch sind die Wächter und Schaffner der Kirche noch so blind, daß, wann sie wieder aus denen alten einen neuen Juden=Genossen machen, ein Ehren=Lohn bey der obem und untem Kirche gefordert wird, unter die erste Sterne des Himmels zu kommen. [...] Wollte man denen benachbarten Juden eine überflüssige Gerechtigkeit anpreisen und anweisen, so wäre es viel nützlicher, sie zum 95 Einleitung zum Bericht über den aus Ägypten veimeldeten ,Juden=Elias": Geistliche FAMA (Anm. 71). Bd. 1. 5. Stück. 1731. S. 79 - 81.

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Eilen und Warten mit Gebeht und heiligem Wandel auff die Zukunfft Messiä beständig zu ermahnen, ihnen die Geistlichkeit des Gesetzes auszulegen [...], sonderlich die Bitterkeit, Widrigkeit und Tyranney, der Christen zu hindern, und denen Juden selbst vor das geitzige Schacherwesen zum ordentlichen Arbeiten zu veihelffen. Diese VOP= und Zubereitung würde denen ungetaufften Juden ein gutes Eilen und Warten verschaffen auff die Zukunfft Messiä". 9 6 U n d 1 7 3 8 w e i s t in derselben Zeitschrift Charles Hector d e Marsay bei gleicher Kritik an der herrschenden Praxis der .Sektenvermehrung' durch Täuflinge im Blick auf die nahe göttliche Annahme der ganzen Judenheit abermals g e g e n den .Risches' auf ihre auch über die Christen erhabene heilsgeschichtliche Würde hin: „Und warum sollen wir Christen diese gesegnete Zeit nicht wünschen? oder solches angenehme Loos ihnen nicht gönnen, da wir der Juden Schuldner sind, von welchen uns die gantze heilige Schrifft alten und neuen Testaments hinterlassen ist? Um des Einzigen / aus ihrem Stamm und Geschlecht gebohrnen / willen [...] sollen wir j a billig aller Juden Seeligkeit uns angelegen seyn lassen."' 7 E s ist festzuhalten: auch in dieser radikalpietistischen Richtung, die sich d e m intoleranten Anpassungszwang der Missionierungs- und Taufeiferer entgegenstellte und s o , wären ihre M a x i m e n hier nicht utopisch geblieben, die historische Chance z u einer jüdischen Akkulturation und Emanzipation ohne den Z w a n g zur Assimilation hätte eröffnen können, bleiben die Hochschätzung für die Juden und die Praxis der Z u w e n d u n g vorrangig biblizistisch und heilsgeschichtlich-theologisch begründet. D i e konkrete Situation der ungeschützten Schutzjuden bleibt unplastisch und o h n e rechte Einsicht in die geschichtlichen B e d i n g u n g e n gesehen; die R e z e p t e zur B e s s e r u n g b l e i b e n Postulate an den E i n z e l n e n oder im 96 „Juden=Bekehrung". In: Geistliche FAMA (Anm. 71). Bd. 2. 11. Stück. 1733. S. 28 30 und 37. - Die Autobiographien von pietistisch bekehrten frommen Judentäuflingen, wie hier (S. 31 - 40) die des Rabbiners P. Ch. de B., legen vielfaltig Zeugnis ab für die Traumatisierungen und Demütigungen, die ihnen aus dem Übertritt zum Christentum erwuchsen, und für die soziale Isolierung, in die sie gerieten, ausgestoßen aus dem bisherigen Lebenskreis und noch ohne die Voraussetzungen, in dem neuen einen festen, auch wirtschaftlichen Halt zu gewinnen. Vgl. die Berichte des getauften Rabbiners Salomon Duitsch (Taufnahme: Christian Salomon), niederl. Erstausg. Amsterdam 1769; deutsch: Die Bewunderungs=Würdige Führung Gottes Bei einem Blinden Leiter der Blinden. Utrecht [rede: Frankfurt] 1771 [Fürstl. Ysenb. Bibl. Büdingen: IV d 8/51] und bes. das weitverbreitete Selbstzeugnis des Joh. Christoph Leberecht [= Abraham Herz]: Merkwürdiger Lebens=Lauf eines [...] in Preußen getauften [...] wahren christlichen Israeliten (1. Aufl. Königsberg 1777). 2. Aufl. Basel 1777 [UB Basel: Theol. conv. 32, Ν ° 20.]. Diese Problematik bedürfte einer gesonderten Untersuchung. 97 FAMA (Anm. 71). Bd. 3. 24. St. 1738. S. 4f. Möglicherweise ebenfalls von Marsay stammt die seinem Zeugniß eines Kindes von der Richtigkeit der Wegen des Geistes / allhier vorgestellet in der göttlichen [...] und fleischlichen Magie. o.O. [= Berleburg] 1737 angebundene Erfreuliche Entdeckung derjenigen Zeit / in welcher die allgemeine Bekehrung des Jüdischen Volckes erfolgen wird. o.O. 1737 [SB Nürnberg: 1 an Theol. 1003. 8°].

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Entwurf zu unspezifisch, als daß sie hätten politisch wirksam werden können. Hier konnte die Aufklärung weiter gelangen. 98 Den Ansatz aber, die Juden in ihrer Besonderheit zu achten und zu erhalten, ihre ethische Förderung auf ihre eigenen Traditionen zu gründen und ihnen sogar die Perspektive ihrer nationalen Wiedergeburt offenzuhalten, hat die in der zweiten Jahrhunderthälfte obsiegende Geistesbewegung abgeschnitten und folgenreich verschüttet. Gleichermaßen realitätsfern, unzeitgemäß und zur Gänze indiskutabel erschienen nach dem Ende des Aufklärungsjahrhunderts sowohl die jüdischen als auch die pietistischen Naherwartungen der herrlichen Erlösung und Wiederkehr in einem irdisch-göttlichen Friedensreich. Aus diesem Grunde konnte Goethe, bekanntlich wohlbewandert in radikalpietistischem Gedankengut, dem ihm die Penthesilea mit der Kautele überreichenden Kleist, man müsse angesichts der gegenwärtigen Beschaffenheit der Bühnen und des Publikums für eine gerechte Würdigung dieses Dramas „auf die Zukunft hinaussehen",99 mit seinem galligen Vergleich replizieren: "Auch erlauben Sie mir zu sagen (denn wenn man nicht aufrichtig seyn sollte, so wäre es besser man schwiege gar) daß es mich immer betrübt und bekümmert, wenn ich junge Männer von Geist und Talent sehe, die auf ein Theater warten, welches da kommen soll. Ein Jude der auf den Messias, ein Christ der aufs neue Jerusalem, und ein Portugiese der auf den Don Sebastian wartet machen mir kein größeres Misbehagen."100 98

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Neueste Aufschlüsse jetzt im Aufsatz von Heinrich Detering: Christian Wilhelm von Dohm und die Idee der Toleranz. In: Lessing und die Toleranz. Hrsg. von Peter Freimark, Franklin Kopitzsch und Helga Slessarev. Detroit, München 1978 (= Sonderband zum Lessing Yearbook). S. 174 - 185 mit dem wichtigen Nachweis, daß Dohm die Grundideen seiner Denkschrift: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781/83) schon in einem Zeitungsartikel von 1764 entwickelt hatte. Vgl. S. 185 die Zusammenstellung der neueren Literatur, die überwiegend — wie mir scheint, zu Recht — Dohms staatspolitische Beweggründe und rigide Assimilationsforderungen kritischer einschätzt. Hingewiesen sei ergänzend auf Wielands weithin in Vergessenheit geratene Anzeige des 1. Bandes der Denkschrift im Teutschen Merkur 1781. H. 4, S. 280f., die dieses „der Aufklärung und Menschlichkeit unsrer Zeiten würdige Buch" rühmt, weil es — ähnlich der Toleranzpolitik Kaiser Josephs Π. — „alle Vorurteile aus dem Wege" räume. Gleichwohl aber empfiehlt Wieland aufgrund der offenbar durch alles aufklärerische Bemühen nicht zu beseitigenden Mißgunst gegen die Juden die Perspektive ihrer künftigen Wiederansiedlung in Palästina. Wielands Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe). AbL I. Bd. 22: Kleine Schriften Π. Hrsg. von Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1954. S. 555f. und Bd. 22 A: Bericht des Herausgebers. Berlin 1956. S. 144 A.

Heinrich von Kleist: Brief vom 24. Januar 1808 an Johann Wolfgang Goethe. Faksimile. Transkription und Erläuterung von Helmut Holtzhauer. Weimar [1972] (= Veröffentlichung der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur). Vgl. Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Helmut Sembdner. Bd. 2. München s 1970. S. 806, vgl. 992. 100 Goethe an „Des Herren von Kleist Hochwohlgeb. Dresden", Weimar, 1. Februar 1808. Faksimile und Transkription bei Oskar Walzel: Klassizismus und Romantik als europäische Erscheinungen. In: Propyläen=Weltgeschichte. Hrsg. von Walter Goetz. Bd. 7: Die Französische Revolution, Napoleon und die Restauration 1789 - 1848. Berlin 1929. Beilage S. 312f. - Die Goethe-Briefausgaben (WA IV, 20. S. 15f.; HA,

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In den K o m m e n t a r e n zu dem m o n u m e n t a l e n achtbändigen Bibel-Werk

Berleburger

v o n 1 7 2 6 - 1 7 4 2 ist das g e s a m t e spekulative G e d a n k e n g u t der

p i e t i s t i s c h e n Spiritualisten und P h i l a d e l p h i e r ein l e t z t e s Mal z u s a m m e n g e f a ß t w o r d e n . G e g e n d i e A u s l e g u n g der auf das j ü d i s c h e V o l k und seine

Wiederbringung

o r t h o d o x e n Unschuldigen

bezogenen Nachrichten

Verheißungen

haben damals die

gewettert:

„Uberall will man Weißagungen von dem tausendjährigen Reich Christi, und von der allgemeinen Jüden=Bekehrung angeben" und „zu der Wiederherstellung aller Dinge [wird] auch dieses gerechnet, daß die zerstreueten Jüden aus allen Völckem wieder gesammlet, und in ihr voriges Land und Reich wieder eingesetzet werden sollen." 1 0 1 G e b e n wir darum zur Z u s a m m e n f a s s u n g der A n s c h a u u n g e n in dieser brüd e r l i e b e n d e n Tradition d e s P i e t i s m u s hier e i n i g e n K o m m e n t a r a u s z ü g e n der Berleburger

Bibel

charakteristischen

m i t ihrer f r e m d g e w o r d e n e n

Kanaanssprache das letzte Wort: über Israels Würde und Verheißung und über das Unrecht, e s v o n seinem eigenen W e g abführen zu w o l l e n . „Gewiß wenn die Juden nicht auf was besonderes aufbehalten und von GOtt wunderbarlich dazu erhalten würden, so hätte es kaum geschehen können, daß sie solang unter den Christen und Tilrcken, denen sie doch allen ein Greuel sind, bestanden wären [...]. Wer wollte dann noch zweifeln an einer kiinfftigen Bekehrung der Juden bey so klaren Zeugnissen?" 1 0 2

Berlin 1929. Beilage S. 312f. - Die Goethe-Briefausgaben (WA IV, 20. S. 15f.; HA, Briefe ΙΠ. S. 64) normalisieren den Text interpunktioneil bzw. auch orthographisch, lassen übrigens den hier zitierten Vergleichspassus über die chiliastisch-nationalen Naherwartungen unkommentiert. Gegen obsolete Zukunftsträume einer glorreichen nationalen Wiedergeburt wendet sich die Anspielung auf den (dem deutschen Barbarossa-Mythos vergleichbaren) portugiesischen Volksaberglauben, der König Sebastian (1557 - 78) sei nicht im Glaubenskrieg gegen die Mohammedaner gefallen, sondern lebe in zeitloser Entrückung und werde zur Verherrlichung seines Volkes wiederkehren. 101 Fortgesetzte Sammlung Von Alten und Neuen Theologischen Sachen (Anm. 39). Jg. 1732. S. 978 (vgl. ebd. 975 und 977); Jg. 1747. S. 225 (vgl. ebd. 227 und 230). Über das Bibelwerk und seinen geistesgeschichtlichen Zusammenhang vgl. neuerdings Martin Brecht: Die Berleburger Bibel. Hinweise zu ihrem Verständnis (mit Lit.). In: Pietismus und Neuzeit 8 (1982). S. 162 - 200 und Hans-Jürgen Schräder: Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht. Der Zensurfall „Berleburger Bibel". In: „Unmoralisch an sich ...". Probleme der Zensur im 18. und 19. Jahrhundert. Hrsg. von Heibert G. Göpfert und Erdmann Weyrauch. Wolfenbüttel 1988 (= Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens. Bd. 13). S. 61-88. 102 Zu Hos. 3, 4-5: Berleburger Bibel (Anm. 15). Bd. 4. 1732. S. 688. Nicht verschwiegen werden darf, daß alle diese frommen Gewißheiten ein Jahrhundert später ebenso wie die meisten anderen sozialreformerisch-progressiven Bestrebungen des frühen Pietismus unter den Neupietisten der romantisch-nationalkonservativen Erwekkungsbewegung verloren gegangen waren und daß sich unter ihnen wie in der übrigen zeitgenössischen Gesellschaft antisemitische Ressentiments breitmachten.Vgl. die mir freundlich von Michael Schmidt, Berlin, nachgewiesene „Cultur-philosophische Studie" von Emst Victor Zenker: Mystizismus, Pietismus, Antisemitismus am Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Wien 1894 (= Collection des .Freien Blattes'. Bd. 2).

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Hans-Jürgen Schräder

„Es wird aber das Zufallen der Völcker erst noch recht angehen / wenn die Fülle eingehen / und gantz Israel selig werden wird" / „welchem zu der Zeit vor allen andern Völckem ein groses Heyl widerfahren wird" / „da die Israelitische Kirche alle Heyden zum Erbe bekommen soll; oder auch die Erbgüter die sie selbst ehm als besessen, und woraus sie ihre Feinde vertrieben hatten, und also zuvorderst das Land Canaan, aber auch dameben die gantze Erde."103 „Hat er Israel zerstreuet, so wird er es auch wieder saimnlen. Sie haben lang genug ihre Sünde getragen. [...] Die Maul=Christen sehen ja Gottes Strafe an ihnen, und fürchten sich doch nicht vor ihm, sondern machen es noch ärger. Darum wird er sich wie vor wenden zu seinem Volck [...]: Er wird ihnen andere Hertzen geben, und sein Gesetz in ihren Sinn schreiben. Er wird ihr GOtt bleiben, und sie nicht mehr von ihm weichen."104 „Keiner muß fehlen. Am Ende wird die Bekehrung wol allgemein seyn." / „Einige nehmen es nicht auf einmal, sondern von einer auf einander folgenden Zeit, daB ein Israel nach dem andern sich zum Christenthum bekehre. Das [...] wäre kein sonderlich Geheimniß. [...] GOtt verläßt die alte Liebe nicht." / „Auch bey einem Eifer in denselben muß ein süsser Grund der Liebe gegen die Person bleiben." / „Darin bestehet das rechte christliche Maß=treffen, dabey weder der Wahrheit noch der Hoffnung [...] was abgehet." / „Die gantze Epistel gehet auf ein gut Tractament unter Juden und Heyden."105 „Wenn aber erst der Geist des HErm über das gantze Haus Israel wird ausgegossen werden, da werden ihm die Heyden zu Kindern gegeben werden, und in seinem Licht wandeln [...]. Kehre wieder, kehre wieder Sulamith! zu deinem HErm, den du weiland von dir Verstössen hast. Halte aus die Kinder=schmertzen deiner Wiedergeburt in allen ihren Wehen! halte an, sey getrost, es soll dir deine Arbeit wol belohnet werden!"106 103 Zu Gen. 49, 10: Berieburger Bibel (Anm. 15). Bd. 1. 1726. S. 270 / zu Jes. 59, 19: Bd. 4. 1732. S. 197 / zu Obad. 17: ebd. S. 750. Vgl. auch zu Lev. 25, 13: Bd. 1. 1726. 5. 544; Jes. 2, 1-6: Bd. 4. 1732. S. 9f.; Sach. 12, 10: ebd. S. 839; Rom. 11, 12: Bd. 6. 1739. S. 306. 104 Zu Röm. 11, 25: Bd. 6. S. 310. 105 Kommentarpassagen zu Römer 11 gegen den einseitigen Eifer der Judenmissionare, ebd. S. 31 Of. 106 Zu Apok. 12, 1: Bd. 7. 1739. S. 339. Die Anrede an Sulamith, die Geliebte und Braut des Hohen Liedes Salomons, ist hier eindeutig auf das Jüdische Volk und seine Wiedeikehr bezogen, wie auch der Kommentar zu dem hier zitierten Vers Cant. 7, 1 erweist: Sulamith, die der Herr „damit seiner Liebe versichert", wird doit auch „von der Bekehrung der Juden" verstanden, „da man auch zu solchem End den Namen Sulamith von Salem herführet / wovon hernach Jerusalem den Namen bekommen. Also würde dann solch Volck demnach allhier von GOtt gerufen / nach ihrem Vaterland wiederzukehren / welches ihre Bekehrung mit einschliesset / und also auf die letzten Zeiten siehet. [...] Mit dem viermal wiederholten Rufen wird der ernste Wille und das grose Verlangen zu erkennen gegeben; und / wie andere wollen / zugleich angezeigt / daß GOtt zur letzten Zeit sein gantzes Israel von allen 4 Enden der Welt nach Jerusalem rufen werde". Bd. 3. 1730. S. 776. In der pietistischen Allegotese wird Sulamith sonst meist, brautmystischer Tradition entsprechend, auf die gottliebende Einzelseele bezogen, vgl. das geistliche Emblembuch des Johannes Lassenius: Die verliebte Sulamithin oder heilige Betrachtungen über 26. Macht=Sprüche Heil. Schrifft. Kopenhagen 1698 (Messekataloge Ostern 1698, Ostern und Herbst 1699) oder Gottfried Feinler: Heilig verliebte und hinwieder hertzlich geliebte Sulamithin aus dem Hohenlied Salomonis / in 100. Madrigalen anmuthig fürgestellet. Jena 1699 (Osteimeßkatalog 1699).

Sulamiths verheißene Wiederkehr

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„Machet nur Bahn, machet Bahn dem König Zions! Thut euch auf ihr Thore Jerusalems, und empfanget euren König, der hereinzeucht mit seinem Ueberwindem! Siehe Er kommt! denn seine Vorboten lassen sich sehen. Für ihm sey stille alle Welt!"107

107 Zu Apok. 20, 4-5: Berleburger Bibel. Bd. 7. 1739. S. 399. Charakteristisch für den Geist dieses Bibelwerks sind nicht nur diese Zitate, sondern auch die Leerstellen. Bei aller sonst hemmungslosen Neigung zur Namensallegoiese wird auf jede Übertragung des Judas-Verrats Mt. 26, 14f. auf das jüdische Volk, sonst locus classicus antisemitischen Exegesierens, verzichtet. Judas wird vielmehr als präfigurativer Typus der „Maulchristen" ausgelegt, die den Herrn täglich um einen weit geringeren Lohn verrieten (Bd. 5. 1735. S. 286).

Norbert Oellers (Bonn)

Goethe und Schiller in ihrem Verhältnis zum Judentum

Im ersten Band von Des Knaben Wunderhorn, erschienen zur Herbstmesse 1805 (mit der Jahreszahl 1806), veröffentlichten Achim von Arnim und Clemens Brentano „Aus einem geschriebenen geistlichen Liederbuche" ein Gedicht, das Die Juden von Passau überschrieben ist und dessen Inhalt sich auf Vorkommnisse um 1477/78 bezieht. Damals hatten, so heißt es, acht Juden Hostien geschändet, waren festgenommen und dem christlichen Gericht ausgeliefert worden. Wie dieses verfuhr, wird in zwei Strophen berichtet: „Zwar vier aus den Gefangnen, / Haben sich weisen lahn, / Die Seeligkeit zu erlangen, / Den Glauben genommen an. / / Die andern sind verbrennet: / Die vier, so sich bekehrt, / Die Christen sich genennet, / Die gab man zu dem Schwerdt."1 Goethe, der die Liedersammlung am 21. und 22. Januar 1806 in der ,Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung" besprach, bemerkte zu dem Gedicht lakonisch: „Bänkelsängerisch, aber lobenswerth."2 Gewiß galt Goethes Lob nicht der Geschichte ,an sich', sondern dem Gedicht, nicht dem Berichteten, sondern der poetischen Form des Berichts. Aber nicht weniger gewiß ist, daß es für Goethe an dem Inhalt des Gedichts nichts zu tadeln gab: Die geschilderten Straftaten der Juden waren ja allgemein bekannt, und die Strafexekutionen mußten als notwendige Folge der Verbrechen gebilligt werden. Mittelalterliches: „Zu den ahnungsvollen Dingen", erinnerte sich Goethe in Dichtung und Wahrheit, die den Knaben und auch wohl den Jüngling bedrängten, gehörte besonders der Zustand der Judenstadt [...]. Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Accent einer unerfreulichen Sprache, alles zusammen machte den unangenehmsten Eindruck [...]. Dabei schwebten die alten Mährchen von Grausamkeit der Juden gegen die Christenkinder, die wir in Gottfrieds Chronik 3 größlich abgebildet gesehen, düster vor dem jungen Gemüth. Und ob man gleich in der neuem Zeit besser von ihnen dachte, so zeugte doch das große Spott- und 1 2

3

Des Knaben Wundeihom. [...] Hrsg. von Heinz Rölleke. Bd. 1. Stuttgart, Berlin, Köln und Mainz 1979. S. 90f. Goethe: Werke. Hrsg. im Auftrage der GroBherzogin Sophie [...]. 143 Bde. [in 4 Abteilungen], Weimar 1887-1919. 1. Abt. Bd. 40. S. 342. - Die Ausgabe wird im folgenden abgekürzt zitiert: WA. Johann Philipp Abelin: Historische Chronica oder Beschreibung der Geschichte vom Anfang der Welt bis auf das Jahr 1619. (Erschienen 1619.)

Goethe und Schiller in ihrem Verhältnis zum Judentum

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Schandgemählde, welches unter dem BrUckenthurm an einer Bogenwand, zu ihrem Unglimpf, noch ziemlich zu sehen war 4 , außerordentlich gegen sie: denn es war nicht etwa durch einen Privatmuthwillen, sondern aus öffentlicher Anstalt verfertigt worden.5

Schiller ist in seiner Kindheit und Jugend mit dem Problem des Judentums vermutlich nie ernsthaft konfrontiert worden. Wo er aufwuchs, begegneten ihm kaum antijüdische Zeugnisse „aus öffentlicher Anstalt". Bei seiner christlichen Erziehung durch fromme Eltern waren die Hilfsmittel der religiösen Intoleranz und des Fanatismus nicht vonnöten: der schwäbisch pietistische Protestantismus war sich selbst genug. Von dieser Warte aus verdiente, so scheint es, das Judentum eher ein historisches und philosophisches Interesse als ein theologisches. Dafür mag eine beiläufig erscheinende und nur zufällig überlieferte Begebenheit sprechen: Johann Kaspar Schiller, der für seine Angehörigen treusorgende Vater des Dichters, hatte einmal, als ihn die wirtschaftliche Lage seines Schwiegersohns Reinwald bedrückte, den Einfall, sein Sohn Friedrich könne diesem dienlich sein, indem er ihm wissenschaftliche Kärrnerarbeit abkaufte, und zwar: „Wir haben meines Wissens", schrieb der Vater dem Sohn am 21. Februar 1792, noch keine vollständige zusammenhängende Geschichte des jüdischen Volks, seit ihrer Zerstreuung in die Welt. Mich dünkt, es wäre dies ein wichtiger und eben so würdiger Gegenstand der Beschäftigung eines Gelehrten, welcher aber selbst gelehrte Juden an der Hand haben müßte, die ihm die Materialien lüfern könnten. Neben bei würde eine geschikte Ausarbeitung viel Interesse für das Christenthum haben, und in diesem Betracht wär es freilich mehr die Arbeit eines Theologen, und doch müßte die philosophische Bearbeitung mehr Beifall finden! Könnte nicht etwa da, Reinwald die Materialien sammlen, seine Bibliothek dabei benüzen, und wenigstens soviel darinn vorarbeiten, daß es, wenn der liebe Friz Zeit hätte daran zu gehen, nicht mehr so viel Mühe und Denken, und Nachschlagen kostete?6

Die Antwort Schillers auf diesen Vorschlag ist nicht überliefert. Doch 4

5

6

Das Gemälde, das noch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts den Brückenturm .schmückte', stellte eine sogenannte .Judensau' dar: wie diese, unterstützt vom Teufel (mit jüdischen Zügen), Juden von unten und hinten mit ihren Ausscheidungen .nährt' etc. — Strafe für die Ermordung eines Christenkinds, Gründonnerstag 1475. Vgl. dazu Mark Waldman: Goethe and the Jews. A Challenge to Hitlerism. New York und London 1934. S. 50-52 (mit einer Abbildung des Gemäldes). - Außerdem: Isaiah Shachar: The Judensau. A medieval anti-jewish Motif and its History. London 1974. S. 52-61. (Abbildung des Gemäldes im Anhang: Tafel 43 b.) WAI 26, S. 235f. - Es ist durchaus bemerkenswert, daß Goethe auch ein halbes Jahrhundert nach seiner knabenhaften Obrigkeitsgläubigkeit kein Wort der Kritik an ihr und an der Erziehung, die zu ihr geführt hatte, fand. Das Vertrauen in die Rechtlichkeit .öffentlicher Anstalten' hatte sich der Dichter im großen und ganzen bewahrt. Zitiert nach der Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, demnächst in NA (s. Anm. 15), Bd. 34.

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ist anzunehmen, daß er ihn gutgeheißen hätte, wenn seine Verwirklichung ihm die eigene wirtschaftliche Situation nennenswert hätte verbessern helfen. Er wäre anders, aber nicht lebhafter Partei gewesen als bei seinen historischen Arbeiten über den Abfall der Niederlande von Spanien und über den dreißigjährigen Krieg. Das Gedicht Die Juden von Passau hätte Schiller schwerlich „lobenswerth" gefunden. Goethe, so erscheint es zunächst, war kein Freund der Juden; Schiller war nicht einer ihrer zahllosen Gegner, zu denen Goethe vielleicht hingeneigt sein mochte. Sicher ist: Keiner von Beiden war ein entschiedener Sachwalter der Juden; sie waren es auf verschiedene Weisen nicht. *

* *

Entsprechend der Bedeutung der beiden Dichter und entsprechend den unterschiedlich ergiebigen Zeugnissen ist das Thema „Goethe und die Juden" weit häufiger öffentlich behandelt worden als das Thema „Schiller und die Juden". Da der Lauf der Zeit — gerade in diesem Fall — zu immer neuen Beurteilungen anregt, sei das bisher Gesagte7 nicht 7

Dem Verhältnis Schillers zum Judentum hat die Forschung, entsprechend der spärlichen Quellenlage, keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Das einschlägige Material hat Ludwig Geiger — nach einer schon 1904 in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" veröffentlichten Darstellung — in seinem Werk Die Deutsche Literatur und die Juden (Berlin 1910. S. 125-160) gesammelt und entsprechend seiner Tendenz, die großen deutschen Dichter vom möglichen Vorwurf des Antisemitismus weitgehend freizuhalten, ausgewertet Anfang und Schluß des Kapitels fassen den Material-Befund und seine Deutung durch Geiger zusammen. „Im Leben Schillers", heißt es zunächst, „haben die Juden keine hervorragende Rolle gespielt, in seinen Dichtungen hat er ihnen keine bedeutende Stelle eingeräumt, weder Spottverse gegen sie geschrieben, noch sie in Dramen und Romanen ausführlich behandelt [...]." (S. 125) Und am Ende: „Ihm waren die Juden, wie so vielen deutschen Schriftstellern, etwas Besonderes, weder Freunde noch Feinde. Die deutschen Juden aber haben ihm nicht gezürnt wegen seiner Lauheit, sondern haben ihm, soweit sie sich als Deutsche fühlten, gehuldigt wie ihre Sprach- und Volksgenossen, und ihn als nationalen und idealen Dichter gefeiert." (S. 160) - Es wäre in der Tat interessant, dem besonderen Verhältnis der Juden zu Schiller einmal gründlicher nachzugehen, als Geiger das in seiner Studie (S. 142-150) getan hat: Gerade Schiller waren ja die Juden (vor allem die Ostjuden), wenigstens im 19. Jahrhundert, in starkem Maße zugeneigt. Ein wichtiger Grand für die Hochschätzung wird in Schillers viele Unfreie mitreißendem Freiheitspathos liegen. - In seinem materialreichen Werk Jews in the Eyes of the Germans. From the Enlightenment to Imperial Germany (Philadelphia 1979) hat Alfred D. Low das Verhältnis Schillers zu den Juden in einem Unterkapitel behandelt (S. 87-92), das beginnt: „Perhaps no other poet made so deep an impression on the German Jews as Friedrich Schiller.** Schillers Freiheitsidee, wie sie in den Räubern, in Don Karlos und in Wilhelm Teil herrsche, habe dazu entscheidend beigetragen, erklärt der Verfasser ohne weitere Begründung. Im übrigen stellt er Fakten zusammen: Schillers Verhältnis zum Verleger Michaelis; Bibel-Zitate in Werken Schillers; dessen Bearbeitung von Nathan der Weise ; wie Juden und Judentum in der Vorlesung Die Sendung Moses behandelt sind. Der Schluß des Schiller-Unterkapitels gilt Jean Paul, v.a. seiner Freundschaft zu dem Juden Emanuel Oswald. Goethe hat sich zum Judentum im allgemeinen und zu Jüdischem im besonderen (zu

Goethe und Schiller in ihrem Verhältnis zum Judentum

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Personen, Gebräuchen, Ereignissen) sehr viel häufiger geäußert als Schiller. In der Forschung gibt es mehrere Darstellungen über das Thema „Goethe und die Juden". Auch hier kommt das Verdienst, Pionierarbeit geleistet zu haben, Ludwig Geiger zu, der seine gründliche Abhandlung Goethe und die Juden schon 1883 in der „Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland" veröffentlicht haue, bevor er sie 1890 in seinen Band Vorträge und Versuche (Dresden 1890. S. 215-280) und dann zwei Jahrzehnte später — mit einigen Veränderungen, v.a. erheblich verkürzt — in Die Deutsche Literatur und die Juden (Berlin 1910. S. 81-101) übernahm. Auch wenn Geiger versichert, er habe nur zusammengetragen, „was Goethe von den Juden gesagt", und: „ich bringe dies alles schlicht vor, aber ich urteile nicht, ich erzähle" (1910. S. 81), so ist doch nicht zu übersehen, daß er auch .heiklen' Äußerungen mit wohlwollendem Verständnis begegnet. (Zu Goethes kritischen Bemerkungen über die Bemühungen zur Lösung einiger Judenpiobleme in Frankfurt [s. dazu u., S. 127f.] heißt es z.B. bei Geiger: „Dieses aufmerksame Durchlesen der Aktenstücke beweist [...] doch immerhin den Eifer des mit so vielen Dingen Beschäftigten, über die Angelegenheiten zu denken und das große Problem der Judenfrage sich klarzumachen." [1910, S. 93] [Einen ähnlichen Satz hätte auch der Gemeindevorsteher über den Schloßbeamten Sordini — in Kafkas Das Schloß — sagen können.]) - Zur Zeit der Weimarer Republik erschienen mehrere Darstellungen über Goethe und die Juden. Zunächst legte der völkische Prediger Max Maurenbrecher als selbständige Schrift vor ( Goethe und die Juden. München 1921 = Band 3 der Reihe Deutschlands führende Männer und das Judentum), was er ein Jahr zuvor in mehreren Beiträgen seiner protestantisch frommen Sammlung Glaube und Deutschtum einverleibt hatte: Ein Zitatenpotpourri mit tendenziösen (im Grunde antisemitischen) Erläuterungen, die freilich auch „den Antisemiten der Gegenwart" ins Gewissen reden, daß sie „nicht mit Mätzchen und Veralberungen den klaren Emst der schweren Frage" trüben mögen (S. 3). Rückblickend kann Maurenbrecher feststellen, „daß Goethe in seiner Beurteilung des Judentums nicht geschwankt, und daß er sich durch den liberalen Geist der Zeit, durch die .Humanitätssalbaderei* und durch die Gedanken der französischen Revolution nicht im geringsten darin hat irremachen lassen, das jüdische Volk zwar als etwas Bedeutendes, aber auch als etwas Fremdartiges in unserer Mitte zu empfinden." (S. 95) - Ohne auf Maurenbrecher einzugehen, unternahm vier Jahre später Heinrich Teweles dessen Geschäft noch einmal (Goethe und die Juden. Hamburg 1925): Er musterte das von Goethe über Juden und Judentum Gesagte, neigte aber wie Geiger zur goethefreundlichen Interpretation, daß der Dichter alles andere als ein Feind der Juden gewesen sei. Zwar werden Goethes „Egoismus und Bedientenhaftigkeit" und seine „höfische Gesinnung" (vgl. S. 107-111) kritisiert, aber damit wird das Thema des Buches nur indirekt berührt, und nichts wird zurückgenommen von der emphatischen Einleitung: „Goethe bedeutet die deutsche Kultur. Kein Volk hat ein solches Maß. Wir — die Sinnenden, die Empfindenden, die über die gemeine Notdurft wenigstens hinausgreifenden, die Deutschen — haben uns dazu erhoben, alles an Goethe zu messen: unsere Erkenntnis, unser Tun, unsere Hervorbringungen, unsere Herzensregungen." (S. 7) - An Teweles Schloß sich Julius Bab mit einer Studie Goethe und die Juden (Berlin 1926) an, die als Antwort auf den in Goethes Namen betriebenen Antisemitismus gedacht war: „Es gibt einen Stand geistiger Notwehr, und nachdem sich völkische Agitatoren nicht gescheut haben, Goethe als Kronzeugen für ihre Art des Antisemitismus in Anspruch zu nehmen, bleibt uns nichts übrig, als ihnen durch eine gründlichere Betrachtung des Problems zu begegnen [...]." (S. 3) Bab versucht, Goethes allgemeine Beurteilung des Judentums als zeitgemäß zu verstehen („im Rahmen rein konventioneller Auffassung" [S. 9]); er hebt Goethes Schätzung der Bibel besonders hervor, er wirft einen Blick auf des Dichters Nähe zu Spinoza; vor allem: Bab stellt Goethes kritische Haltung zum Judentum in den Zusammenhang seiner Aufklärungs-Kritik und seiner heftigen Ablehnung der Französischen Revolution, und es gebe ihn ja wohl — „den abnormen, krankhaften Zustand des großen Mannes" (S. 21). Von Goethes (freundlichem) Umgang mit verschiedenen Juden handelt Bab des weiteren. Ergebnis? „Es ergibt sich, daß Goethe [...] zweifellos Eigenschaften besaß,

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die ihm die besondere jüdische Rhythmik fremd und zuweilen peinlich machten, daß das spezifisch Jüdische ihm nur in ganz bestimmten [...] Punkten sympathisch gewesen sein kann. Es ergibt sich, daß er [...] in seiner sozialen Einstellung Elemente besaß, die ihn skeptisch, zuweilen selbst feindlich gegen die staatliche Judenemanzipation machten. Es ergibt sich aber nicht minder deutlich, daß hier wie überall die Solidarität des Menschlichen für ihn die alles beherrschende Macht blieb [...]." (S. 34) - Der englische Literarhistoriker William Rose nahm in seine zuerst 1931 erschienene Aufsatzsammlung Men, Myths, and Movements in German Literature auch einen Beitrag Goethe and the Jews auf (2. Aufl. Port Washington 1964. S. 157-180), in dem er das bekannte Material neu ordnete und dabei einen in den früheren Veröffentlichungen vernachlässigten Gesichtspunkt mit Recht hervorhob: Nicht alles, was in Goethes poetischen Werken (etwa in Das Jahrmarkisfest zu Plundersweilern oder Wilhelm Meisters Wanderjahre) über Juden gesagt wird, muß die Auffassung des Dichters wiedergeben. Rose wamt schließlich vor einem verengenden deutschen Goethebild, das die (verengenden) deutschen Bedingungen, unter denen Goethe lebte, ignoriere. Seine Schlußbemerkung verdient, im Wortlaut wiederholt zu werden: „Goethe's attitude to the Jews was typical of his attitude to his oppressed countrymen in general. As an artist and a thinker he, in some ways, transcended the limits of space and time. In other ways which we, in England, cannot help regarding as important aspects of a man's character, he failed to soar beyond the prejudices of a courtier in a small eighteenth-century German princedom. If German scholars will not recognise that fact it is, perhaps, desirable that it should not be ignored by students in other countries who have not been brought up to regard Goethe as beyond the reach of criticism." (S. 180) - Die bisher umfangreichste Schrift über das hier vorgestellte Thema stammt von Maik Waldman und erschien aus aktuellen Gründen 1934: Goethe and the Jews. A Challenge to Hitlerisme (New Yoik und London). Auch darin wird mit Kritik an Goethes Haltung nicht gänzlich gespart — es gibt ein „Goethe's Unfavorable Comments on the Jews" überschriebenes Unterkapitel (S. 246-268) in dem Buch —, aber sie dient eher der Konturierung der Großartigkeit des Dichters als seiner Herabsetzung. Waldman wollte, wie der Untertitel erkennen läßt, sein Buch für Goethe auch als ein Buch gegen Hitler, dessen Schrecklichkeit ihm schon klar war, als sich erst ein Bruchteil des Schrecklichen ereignet hatte, verstanden wissen. Er war überzeugt, „that Goethe would not be welcome in Hitlerland and would in all probability have landed in a concentration camp or in exile." (S. XVI) - Mit Goethe gegen Hitler? Als Franz Koch, ein im Dritten Reich sehr angesehener, weil dem Regime ergebener Germanist, 1937 einen im selben Jahr (in der Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg) veröffentlichten Vortrag Goethe und die Juden hielt, in dem er die antijüdische Haltung Goethes mit weit übertriebenem Nachdruck hervorhob — „Seine Ablehnung der Judenemanzipation wurzelt in der Überzeugung, daß die Juden innerhalb des deutschen Volkes einen Fremdkörper bilden, der das Wirtsvolk in seiner Lebensform zu bedrohen beginnt" (S. 34) —, da machte er nicht plötzlich und überraschend Goethe zu einem Helfershelfer Hitlers in der Judenfrage, sondern konnte an seit Jahrzehnten in der Goethe-Forschung geläufige Ansichten anknüpfen. Diese Auffassungen waren natürlich um so pointierter, je entschiedener ihre Vertreter einem radikalen Antisemitismus das Wort redeten. Das war z.B. bei Houston Stewart Chamberlain der Fall, der in seinem hochgelobten Goethe-Buch (München 1912) — philologisch fahrlässig — darzulegen bemüht war (vgl. S. 688-697), Goethe sei „bei der Ablehnung des Judentums, bei der strengen Verweigerung, diesem irgend einen Anteil an unserer Germanischen Kultur zu vergönnen" (S. 692), ganz rigoros und kompromißlos verfahren. Wenn Viktor Hehn, der sich keineswegs als Antisemit einen Namen gemacht hat, schon 1887 in seinen Gedanken über Goethe fast beiläufig bemerkt: „als Goethe am 22. März 1832 starb, da [...] begann das jüdische Zeitalter, in dem wir jetzt leben" (3. Aufl. Berlin 1895. S. 40), kann das ja kaum anders verstanden werden, als daß Goethe das letzte Bollwerk gegen das in Deutschland zur Macht strebende Judentum gewesen sei — wofür ihm Hehn, so scheint es. Dank abgestattet wissen will.

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genug. Bevor Einzelheiten der Verhältnisse Goethes und Schillers zum Judentum in Erinnerung gerufen und kommentiert werden, soll ein Blick auf die Lage der Juden in jener Gegend geworfen werden, in der die Dichter sich eingerichtet hatten: Weimar — Stadt und Fürstentum. Es war die kunstsinnige und menschenfreundliche Anna Amalia, Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, die 1770 „den Juden Jacob Elkan zum Hofjuden gnädigst ernennet und ebendemselben die freye Handlung in dem Fürstentum Weimar verstattet" hat, wie es die „Weimarischen Wöchentlichen Anzeigen" berichteten8; Elkan war der erste Jude, dem diese Niederlassungsgunst in Weimar gewährt wurde. Er handelte mit Stoffen, beteiligte sich außerdem an Münzangelegenheiten (als Silberlieferant für die herzogliche Münze in Eisenach) und kooperierte dabei mit seinem Schwager Jacob Löser, der seit 1783 in Weimar ansässig war, ohne freilich das Bürgerrecht erwerben zu können, und mit Gabriel Ulmann, der seit 1775 in weimarischen Quellen anzutreffen ist und von dem die „Weimarischen Wöchentlichen Anzeigen" am 20. Februar 1783 meldeten: ,,Seren.[issimus] Clemens Regens haben dem Negocianten, Herrn Gabriel Ulmann, allhier, das Prädikat als HofCommissarius mittelst Decret d. d. 12. Febr. a.[nni] c.furrentis] zu ertheilen gnädigst geruht."9 Nach 1945 wurde das Thema „Goethe und die Juden" nicht mehr intensiv behandelt, aus Scham wohl eher als wegen fehlenden Interesses (wenigstens in Deutschland). Alfred D. Low (Jews in the Eyes of the Germans. Philadelphia 1979. S. 67-86) bemüht sich, Goethe gerecht zu werden, indem er dessen Kritik am Judentum mit Prinzipien seiner Welt- und Menschenbeurteilung im allgemeinen in Obereinstimmung bringt. Mit Nachdruck hebt Low positive Aspekte dieses Verhältnisses hervor: „The greatest German poet, Johann Wolfgang von Goethe, met Jews personally in a friendly manner." (S. 67) „Goethe highly esteemed both the Bible and ancient Judaism." (S. 75) Bei der Präsentation literarischer Zeugnisse begnügt sich Low im wesentlichen mit (nicht immer korrekten) Zitaten und Paraphrasen. (Die Abhandlung von William Rose war ihm offensichtlich nicht zur Hand.) - Im Goethejahr 1982 hat Wilfried Bamer in einem Beitrag für das „Bulletin des Leo Baeck Instituts" (Nr. 63. Jerusalem 1982. S. 75-82: 150 Jahre nach seinem Tod: Goethe und die Juden) das Thema mit aller Vorsicht erneut zur Diskussion gestellt, wobei er nicht entscheiden wollte, ob Goethe antisemitisch oder philosemitisch gewesen ist, sondern die Gründe aufzudecken bemüht war, die zu des Dichters Einstellung(en) gegenüber den Juden geführt haben. Bamer wirbt behutsam um Verständnis für Goethes Kritik an der Judenemanzipation (er habe in dieser Frage „die überwältigende Mehrheit des gerade selbst sich etablierenden Bürgertums" repräsentiert [S. 79f.]), und er betont die nie in Frage gestellte „ästhetische und traditionale Wertschätzung der Juden durch Goethe" (S. 80). Einen Schritt über den Befund und die Andeutung einer Bewertung geht Barner am Ende seiner Bemerkungen hinaus, wenn er sagt: „[...] man wird von neuem darüber nachdenken müssen, ob nicht Goethes wechselnde, widersprüchliche Gewichtung der religiösen und der ästhetischen, der traditionalen und der sozialen Aspekte Möglichkeiten des Ausweichens repräsentiert, die nur allzu gut auch den Bedürfnissen eines zur Inhumanität bereiten Deutschtums entgegenkam." (S. 81f.) Damit ist ein anderes Thema als das zur Debatte stehende aufgeworfen. 8 9

Eva Schmidt: Jüdische Familien im Weimar der Klassik und Nachklassik und ihr Friedhof. Weimar 1984. S. 3. Ebd., S. 31.

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Elkan wie Ulmann vermehrten sich beträchtlich; dennoch blieb in Weimar die Zahl der Juden — diejenigen mitgezählt, die das Bürgerrecht nicht erwerben konnten — bis weit ins 19. Jahrhundert hinein verschwindend gering: Von ca 8000 Einwohnern der Stadt Weimar waren im Jahr 1818 nur 36 Juden. Neben den Familien Elkan, Ulmann und Löser (letztere existierte nur bis 1824) traten unter der jüdischen Bevölkerung der Residenzstadt in der folgenden Epoche besonders die Familien Callmann, Moritz und Lichtenstein hervor. Noch um 1820 waren die Vorbehalte gegen die Juden vor allem in der Hofbeamtenschaft fest verwurzelt, so daß Heinrich Karl Friedrich Peucer, der Direktor des Oberkonsistoriums, nicht als Ausnahme anzusehen ist, wenn er bei der Charakterisierung der Juden die Eigenschaften „Schachergeist", „Arbeitsscheu" und „Sucht zu betrügen" für die treffendsten hielt.10 Eine neue Judenordnung, die 1823 für das Fürstentum Weimar erlassen wurde, gewährte zwar den Juden freie Ausübung ihrer Religion, den Zutritt zu Gymnasien und zur Universität, die Erlaubnis, Christen zu heiraten (unter der Bedingung, daß die Kinder im christlichen Glauben erzogen würden), die freie Wahl handwerklicher Berufe u.a., bestimmte aber auch eine Reihe von Einschränkungen wie diese: Jüdische Gottesdienste mußten in deutscher Sprache abgehalten werden; die Bezahlung der Rabbiner erfolgte durch die Mitglieder der jüdischen Gemeinde; die Religions-, Lese- und Schulbücher bedurften der Billigung durch das Oberkonsistorium; an christlichen Feiertagen war jedweder Handel untersagt; alle Juden wurden mit .festen' Familiennamen in einer Judenmatrikel erfaßt. Am Ende hat dann der menschenfreundliche Herzog Carl August kundgetan: daß Unsere sämtlichen Untertanen den Hauptzweck dieses Gesetzes richtig auffassen [...] daß Unsere christlichen Untertanen sich hierbei den Vorschriften ihrer zur Duldung und Liebe auffordernden Religion erinnern, daß unsere den jüdischen Glauben bekennenden Untertanen selbst [...] durch strenge Gesetzlichkeit und Rechtlichkeit [...] Unsere fernere Gnade verdienen, haben wir das gegenwärtige Gesetz eigenhändig vollzogen [...]. 11

Eine der bedeutungsvollsten Stellungnahmen zu dieser Weimarer Judenordnung stammt von Goethe. Dieser habe, so berichtete der Kanzler von Müller, in einem Gespräch am 23. September 1823 „seinen leidenschaftlichen Zorn über unser neues Judengesetz" zum Ausdruck gebracht. „Er ahnte die schlimmsten und grellsten Folgen davon, behauptete, wenn der Generalsuperintendent Charakter habe, müsse er lieber seine Stelle niederlegen als eine Jüdin in der Kirche im Namen der heiligen Dreifaltigkeit trauen. Alle sittlichen Gefühle in den Familien, die doch durchaus auf den religiösen ruhten, würden durch ein solch skandalöses Gesetz untergraben [...]." 10 Ebd., S. 5. 11 Ebd., S. 6.

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Schließlich habe Goethe die Frage gestellt: „Wollen wir denn überall im Absurden vorausgehen, alles Fratzenhafte zuerst probieren?"12 Die Skepsis gegen die Authentizität dieses Gesprächszeugnisses sollte nicht groß sein: Goethe hat das .Ereignis' im Tagebuch unter dem 23. September 1823 beglaubigt („Abends Canzler von Müller; über Christen- und Juden-Heirathen, unerfreuliche Unterhaltung" 13 ), und daß er Vorbehalte gegen die Neuregelungen gehabt hat, erscheint nicht zweifelhaft; diese beruhten auf Vorurteilen gegenüber dem Judentum, die zwar nicht als eindeutig judenfeindlich gelten können, aber doch dem notwendigen historischen Fortschritt in der .Judenfrage' entgegenstanden. Das wird noch zu zeigen sein. Schillers Verhältnis zum Judentum ist schwer zu bestimmen, wahrscheinlich deshalb, weil es nicht bestimmt war. Die bereits erwähnte Äußerung des Vaters14 stützt die Annahme, daß im Elternhaus keine dezidierte Abneigung gegen das Judentum bestand, daß also für Gedanken an mögliche Judenverfolgungen aus religiösen oder anderen Gründen kein Platz gewesen sein dürfte. Es ist vielmehr nicht zu bezweifeln, daß Eltem und Geschwister Schillers Eifer gegen den Meininger Hofprediger Pfranger geteilt hätten, der in Lessings „tendenziösem Drama" Nathan der Weise „eine Herabsetzung der christlichen Kirche zu Gunsten des darin verherrlichten Judentums" gesehen hatte, was Schillers heftigen Protest und die entschiedenste Verteidigung des Lessingschen Dramas zur Folge hatte.15 (Wie sehr Schiller Nathan der Weise schätzte, wird nicht zuletzt durch die Tatsache augenfällig, daß er das Stück für Goethes Theater bearbeitet hat.) Es wäre überraschend, wenn Schiller nicht ein vorzüglicher Kenner der Bibel gewesen wäre. Daß er es war, kann dem aufmerksamen Leser seiner poetischen Werke, vor allem der Dramen, nicht entgehen: Immer wieder begegnen ihm Zitate und mehr oder weniger deutliche Anspielungen auf die Bibel (am häufigsten vielleicht in der Jungfrau von Orleans). Doch ist mit dieser Feststellung nichts über Schillers Einstellung zur jüdischen Religion, zur Geschichte des Judentums oder zu einzelnen Juden seiner Umgebung gesagt — nicht mehr als mit der Aufspürung von .bezüglichen' Formulierungen in der Jugendlyrik: „ermauscheln" heißt es in dem Gedicht Der Venuswagen (V. 84) und in Die schlimmen Monarchen: „Eure Juden schachern mit der Münze" (V. 94); das spricht für sich und den jeweiligen Gedichtzusammenhang, nicht aber für eine 12 Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hrsg. von Emst Beutler. 24 Bde. Zürich 1948-54. Bd. 23. S. 298f. 13 WA ΠΙ 9, S. 120. 14 Siehe o., S. 109. 15 Schillers Werice. Nationalausgabe. Weimar 1943 ff. Bd. 42, S. 57. - Die Ausgabe wird im folgenden abgekürzt zitiert: NA.

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pro- oder anti-jüdische Mentalität des Dichters. Ja auch die Frage, ob Moriz Spiegelberg in der Schauspielfassung der Räuber als Jude gekennzeichnet werden soll oder nicht (Schiller läßt ihn in der ersten Begegnung mit Karl Moor sagen: „[...] wie wärs wenn wir Juden würden, und das Königreich wieder aufs Tapet brächten?" — „Ich bin freylich wunderbarerweiß schon voraus beschnitten." 16 ) — auch diese Frage (für deren negative Beantwortung es gute Gründe gibt 17 ) erscheint für das hier zur Diskussion stehende Thema wenig interessant, weil Spiegelberg prinzipiell nicht mehr und nicht weniger gilt als Karl Moor oder Schufterle oder Kosinsky — auch wenn er vielleicht als politischer Abenteurer die festesten Umrisse erhalten hat und deshalb als vom jungen Schiller in aller Heimlichkeit bewundert angesehen werden könnte. Die Judenproblematik wird von dem Fall höchstens flüchtig berührt. Nicht viel, aber etwas ergiebiger ist die Kenntnis von Schillers persönlichem Umgang mit Juden, mit denen er in irgendeiner Beziehung stand. Der Befund ist einfach, spricht aber für mehr als nichts: Schiller hatte zu Juden weder eine erkennbare Zuneigung noch eine erkennbare Abneigung. Es scheint, daß er die Menschen — ,im großen und ganzen' — unabhängig von ihrem Herkommen, ihrer Religion und ihrem Stand beurteilte. So sehr diese Offenheit anerkannt werden mag, so bedenklich kann doch auch gefunden werden, daß Schiller den speziellen Nöten der Juden keine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Sollte er nicht gesehen haben, daß es sie gab? Jüdische Schriftsteller wie Salomon Maimón und Lazarus Bendavid waren Schiller als Mitarbeiter seiner Zeitschrift „Die Hören" so willkommen wie prononciert christliche Dichter (Boie, Herder, Kosegarten u.a.); daß seine Freunde Körner und (vor allem) Wilhelm von Humboldt mit Juden freundschaftlich verbunden waren, konnte ihm nicht befremdlich sein. Schiller zollte nie einem offenen Antisemitismus Beifall, nie kritisierte er christliche .Parteigänger' des Judentums. Schiller tat, als gebe es kein Judenproblem, als habe es nicht Hetze, Unterdrückung, Pogrome gegeben bis in seine Gegenwart. Er entzog sich (weitgehend) dieser Realität, wie er vorgab, sich der Realität der Französischen Revolution entzogen zu haben, als sie terroristisch wurde. Wie er diese kannte, mochte er jene kennen. Der Nachwelt hat er sich in diesen Hinsichten durch die Hinwendung zu sich selbst entzogen. Schiller verband sich geschäftlich mit Juden: Beim schon erwähnten 16 NA 3, S. 22. Vgl. auch ebd., S. 249 (aus dem unterdrückten Bogen Β der SchauspielFassung): „[...] was meinst du, wenn wir uns beschneiden ließen, Juden würden, und das Königreich wieder aufs Tapet brächten?" Die Antwort Moors spricht nicht dafür, daß Spiegelberg ein Jude ist: „Hahahal Nun merk ich, warum du schon gegen Dreyviertel Jahr eine hebräische Grammatik herumschleifst.**) 17 Geiger (vgl. Anm. 7) hat sich z.B. gegen die Vermutung, Spiegelberg sei ein Jude, gewandt. Vgl. auch Heibeit Stubenrauch in: NA 3, S. 400.

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Elkan — dem .Juden Elkan", wie Schiller sagt18 — bestellt er Stoffe; dem Juden Jakob Herzfeld, Theaterdirektor in Hamburg, verkauft er seine klassischen Dramen; und mit dem Neustrelitzer Verleger Salomo Michaelis verbindet er sich zur Herausgabe seines Musen-Almanachs für das Jahr 1796. Das Vertrauen, das Schiller in den jüdischen Verleger setzte (sicher nicht zuletzt wegen der vorteilhaften Bedingungen, die dieser ihm eingeräumt hatte), gab sich darin zu erkennen, daß er seines Vaters Schrift Die Baumzucht im Großen von Michaelis verlegen ließ und daß er seinem Jugendfreund Hoven empfahl, er solle sein medizinisches Werk Geschichte eines epidemischen Fiebers ebenfalls diesem Verleger zur Veröffentlichung überlassen. In dem Brief, der diese Empfehlung enthält, heißt es: „Du mußt Dich nicht daran stoßen, wenn ich Dir vielleicht, einen J u d e n (einen solchen nehmlich, der wirklich beschnitten ist) zum Verleger aussuche. Es ist wirklich in Strelitz ein solcher, als Buchhändler, aufgestanden, und er hat von mir einen MusenAlmanach im Verlag. Die Sächsischen Juden haben viel Cultur, und bedeuten etwas." 19 Schiller nahm also (gewiß aus gutem Grund) an, er müsse Hovens Vorurteile gegen Juden niederhalten, und er gab zu erkennen, daß er wenigstens in gewisser Hinsicht mit der Judenproblematik (wie in gewisser Hinsicht mit der Französischen Revolution) wohlvertraut war: Die Juden assimilierten sich durch .Kultur'. Als Michaelis am 21. Mai 1795 Schiller in Jena besuchte, wurde das gute Einvernehmen bestätigt und gefestigt. Schiller schickte den Verleger am selben Tag zu Goethe, damit er mit diesem und Meyer überlege, welche Goetheschen Beiträge für den Almanach „Stoff zu Vignetten geben" könnten. 20 Als Michaelis wenig später in Schwierigkeiten kam und die Abmachungen nicht erfüllen konnte, war Schiller schnell mit Formulierungen zur Stelle wie: „der elende Mensch, der Michaelis" 2 1 ; „Michaelis Armseligkeit" 22 ; „ich bin dem elendsten Tropf von Buchhändler in die Hände gefallen"23. Es gibt Gründe für die Annahme, daß Schillers Heftigkeit auch mit Selbstkritik zu tun hat: daß er einem Juden so habe vertrauen können. „[...] ob ich gleich nicht Willens bin, den Almanach dem Juden zu lassen", heißt es in demselben Zusammenhang. 24 Das ist kein antisemitischer Ausfall, aber er läßt sich so interpretieren und dann verwenden: von Juden-Feinden oder SchillerGegnern. Die Armut der Zeugnisse über Schillers Verhältnis zum Judentum ge18 19 20 21 22 23 24

NA 28, S. 30 (Brief an Wilhelm von Humboldt vom 21. August 1795). NA 27, S. 91 (Brief vom 22. November 1794). Ebd., S. 188. NA 28, S. 15 (Brief an Cotta vom 2. August 1795). Wie Anm. 18. NA 28, S. 139 (Brief an Körner vom 21. Dezember 1795). Wie Anm. 18.

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stattet es, auch den unzuverlässigen .Magister Ubique' Karl August Böttiger noch zu Wort kommen zu lassen. Dieser will (vielleicht 1802?) von Schiller gehört haben, die „fortdauernde Bedrückung" der Juden sei „eine notwendige Folge ihres unvertilgbaren Charakters". 25 Über diesen Satz, der als Übergang zu den folgenden Bemerkungen geeignet erscheint, ließe sich reflektieren und spekulieren, wenn er glaubwürdig wäre. Er ist es freilich so wenig wie das unter Böttigers Namen im Druck Überlieferte: Goethe habe ihm (1794?) gesagt: „Beim erneuerten Studium Homers empfinde ich erst ganz, welches unnennbare Unheil der jüdische Praß uns zugefügt hat. Hätten wir die Sodomitereien und ägyptisch-babylonischen Grillen nie kennen lernen, und wäre Homer unsere Bibel geblieben, welch' eine ganz andere Gestalt würde die Menschheit dadurch gewonnen haben!"26 Die zahlreichen Zeugnisse über Goethes Verhältnis zum Judentum lassen es geraten erscheinen, Böttigers gewiß unrichtige Erinnerung, die durch die Überlieferung noch einmal verfälscht wurde27, an dieser Stelle ,abzutun'. Daß Kaspar Schiller seinem Sohn vorgeschlagen hat, er möge die Geschichte des Judentums schreiben — weniger aus theologischer als aus philosophischer Sicht, mit dem Historischen als Substrat des Philosophischen —, besagt nicht allein, daß er dem Geschichtsprofessor ein solches Werk zutraute, sondern auch, daß er annahm, dieser habe Neigung zu dem Stoff. Nichts anderes mochte Körner gedacht haben, als er Schiller in einem Brief vom 6. Oktober 1790 vorschlug, er solle eine Reihe von Beiträgen wie Die Sendung Moses „liefern, die zusammen eine historische Gallerie liefern könnten." 28 Schiller dankte Körner in seiner Antwort für die Anregung und kündigte weitere Aufsätze „ungefähr von demselben Gehalt" an. 29 Das Versprochene reduzierte sich dann auf die Abhandlung Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde, die im 11. Heft der „Thalia" 1790, einen Monat später als Die Sendung Moses, erschien. Beide Abhandlungen geben im wesentlichen die Vorlesungen wieder, die Schiller Ende Juni 1789, etwa vier Wochen nach dem Beginn seiner 25 NA 42, S. 355. 26 Goethes Gespräche. Gesamtausgabe. Neu hrsg. von Flodoard Frhr. von Biedermann. Bd. 1. Leipzig 1909. S. 202. - Biedermann folgte dem Text in: Literarische Zustände und Zeitgenossen. In Schilderungen aus Karl Aug. Böttiger's handschriftlichem Nachlasse. Hrsg. von K. W. Böttiger. 2 Bde. Leipzig 1838. Bd. 1. S. 49. 27 In Böttigers Handschrift lautet der Text: „Beym erneuerten Studium Homers empfinde ich [Goethe] erst ganz, welches unnennbares Unheil der Jüdische und Christliche Praß uns zugefügt hat. Hätt[en] wir die Sodom[i]tereien und Aegyptisch-Babylonischen grillen nie kennen lernen, u. wäre Homer unsere Bibel geblieben! Welch ein ganz ander Gestalt würde die Menschheit dadurch gewonnen haben!" (Zitiert nach: Goethe. Begegnungen und Gespräche. Bd. 4. Hrsg. von Renate Grumach. Berlin und New York 1980. S. 78.) 28 Schillers Briefwechsel mit Kömer. 4 Tie. Berlin 1847. T. 2. S. 202. 29 Ebd., S. 206.

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Vorlesungstätigkeit an der Jenaer Universität, gehalten hatte. Über das Judentum hatte Schiller schon in seiner Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? einen Satz gesagt, und zwar bei der Erörterung der Frage, welcher weltgeschichtlichen Voraussetzungen zu gedenken sei, wenn das Besondere aktueller Verhältnisse und Ereignisse verständlich gemacht werden solle. Wie erklärt es sich, fragt er, „daß w i r uns in diesem Augenblick hier zusammen fanden"? Und er beginnt die Reihe seiner Erklärungen mit der Feststellung: „Daß wir uns als Christen zusammen fanden, mußte diese Religion, durch unzählige Revolutionen vorbereitet, aus dem Judenthum hervorgehen f...]." 30 Das ist sine ira et studio gesagt und bedarf keiner Auslegung, die über das Faktum hinaus- und auf den, der es erinnert, überginge. Etwas anders verhält es sich mit dem, was Schiller in seinen späteren Vorlesungen über Juden und Judentum ausgeführt hat. In beiden Vorlesungen geht es Schiller nicht um eine ernsthafte Auseinandersetzung über religiöse Fragen, seien diese jüdisch oder christlich; es geht nicht um Theologie (die Ausführungen sind so prägnant untheologisch, daß sie geradezu als antitheologisch erscheinen können); ja es geht nicht einmal um Geschichte im strengen wissenschaftlichen Sinne, sondern eher um Philosophie der Geschichte, das heißt um die philosophische Interpretation historischer Zeugnisse, die kaum je für sich sprechen und daher bei der Aneignung ihrer Bedeutung(en) ständig modifiziert werden können. Wie Schiller mit der Genesis umgeht, erhellt aus dem ersten Satz seiner Abhandlung Etwas über die erste Menschengesellschaft: „An dem Leitbande des Instinkts, woran sie noch jetzt das vernunftlose Thier leitet, mußte die Vorsehung den Menschen in das Leben einfuhren f...]." 31 Weiter heißt es dann, der Mensch habe ursprünglich die Anlage gehabt, „das glücklichste und geistreichste aller Thiere" unter „der Vormundschaft des Naturtriebs" zu werden; da er aber bestimmt gewesen sei, selbst Schöpfer seines Glücks zu werden, sei der Abfall von der Natur unumgänglich gewesen. Kühn spricht Schiller aus, wie er sich die Geburt des selbstbewußten, des freien Menschen vorstellt, und dabei interpretiert er das dritte Kapitel der Genesis in kaum christlich zu nennendem Sinn: „Wenn wir [...] jene Stimme Gottes in Eden, die ihm [dem Menschen] den Baum der Erkenntniß verbot, in eine Stimme seines Instinktes verwandeln, der ihn von diesem Baume zurückzog, so ist sein vermeintlicher Ungehorsam gegen jenes göttliche Gebot nichts anders als — ein Abfall von seinem Instinkte — also, erste Aeußerung seiner Selbstthätigkeit, erstes Wagestück seiner Vernunft, erster Anfang seines moralischen Daseyns." 32 30 NA 17, S. 368. 31 Ebd., S. 398. — Das folgende Zitat ebd.

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Auf diese Weise .rationalisiert' Schiller die biblische Geschichte bis zur Sündflut und ihren Folgen, erklärt Mord und Totschlag ebenso aus dem freien Willen wie die Herausbildung der Ständegesellschaft und die Etablierung purer Gewaltherrschaften. Den Gott der Juden und den Gott der Christen gibt es nicht mehr. Vor und über dem Menschen waltet noch die sogenannte „Vorsehung", ansonsten könne der Welt nichts Besseres geschehen, als daß sie vom kategorischen Imperativ regiert werde. Schiller, der im Erstdruck seiner Vorlesung angibt, diese sei „auf Veranlassung" des Kantischen Aufsatzes Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) entstanden, setzt sich über Kants — durchaus christliche — Ansicht, mit der Vertreibung aus dem Paradies seien dem Menschen dauernde Not und Mühsal auferlegt worden, ohne jede Diskussion, also, wie es scheint, ohne Not und Mühsal — gleichsam poetisch frei? — hinweg. In der Vorlesung Die Sendung Moses, die im wesentlichen eine Auslegung des zweiten Buches Moses' (Exodus) darstellt, verfährt Schiller wieder im Stil des aufgeklärten Rationalisten, indem er die 400jährige Geschichte der in Ägypten unterdrückten Israeliten, die Geschichte Moses', des Retters, und, andeutungsweise, den Auszug aus Ägypten an lauter historische Bedingungen knüpft, die der spekulative Kopf zum großen Teil ausgedacht hat — um die Geschichte .vernünftig' zu machen. Was Schiller konstruiert, ist nicht deshalb interessant, weil es überwiegend falsch ist (etwa: daß die jüdische Gottesvorstellung aus der ägyptischen Mythologie entwickelt worden sei, daß sie aber hätte umfunktioniert werden müssen, um das politische Ziel der Befreiung aus Knechtschaft durch einen .eigenen', einen Nationalgott möglich zu machen), auch nicht wegen seiner unwissenschaftlichen Benutzung der tendenziösen Freimaurerschrift Die Hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerey (1788) des Jenaer Philosophen Reinhold, — interessant sind Schillers Ausführungen vor allem deshalb, weil sie entschieden das Postulat, daß ein Gott sei, vertreten und weil sie folglich vom unbedingten Nutzen der Religion für die Menschen (nicht nur die der Vergangenheit) handeln. Die Religion, heißt es da etwa, sei „die stärkste und unentbehrlichste Stütze aller Verfassung" 33 ; Gott werde gebraucht „zur Gesetzgebung und zur Grundlage des Staats", und zwar der „wahre Gott" 34 . Für Schiller ist das der abstrakte antlitzlose Vernunftgott, wie ihn die ägyptischen Mysterien gekannt haben; diesen habe, so Schiller, Moses aus praktischen Gründen anthropomorphisiert; indem Gott seine Funktion erfüllte, als er die Befreiung der Israeliten durchsetzte, habe er seine .Verfälschung' gerechtfertigt. Dahin also führt Schillers bemüht aufklärerisches Geschichtsdenken: zum Ärgernis 32 Ebd., S. 399. 33 Ebd., S. 396. 34 Ebd., S. 391 (u.ö.).

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aller gläubigen Juden und Christen. In Die Sendung Moses hat Schiller auch über das Judentum im allgemeinen und über Charakteristika der Juden im besonderen einiges gesagt, wie es sich ihm und seinen Zeitgenossen offenbar zu sagen anbot: mühelos, ohne Not, etwas leichtfertig, wie es heutzutage, unter dem Eindruck der vom Blut schweren Geschichte, erscheint. Zunächst das Grundsätzliche: Die mosaische Religion habe die Aufklärung deutlich gefördert, denn sie habe „eine kostbare Wahrheit, welche die sich selbst überlassene Vernunft erst nach einer langsamen Entwicklung würde gefunden haben, die Lehre von dem Einigen Gott, vorläufig unter dem Volke verbreitet, und als ein Gegenstand des blinden Glaubens so lange unter demselben erhalten, bis sie endlich in den helleren Köpfen zu einem Vernunftbegriff reifen konnten." 35 „[...] alles Böse", versichert Schiller, „welches man diesem Volke nachzusagen gewohnt ist, alle Bemühungen witziger Köpfe, es zu verkleinern, werden uns nicht hindern, gerecht gegen dasselbe zu seyn." 36 Natürlich kannte Schiller Judenfeindschaften vergangener und gegenwärtiger Zeit. Was sagte er, wenn er glaubte, gerecht zu sein? Durch unmenschliche Repressionen, so glaubte Schiller, sei in Ägypten „der erste Grund zu dem Uebel gelegt" worden, „welches dieser Nation [den Juden] bis auf die heutigen Zeiten eigen geblieben ist", nämlich: „die höchste Unreinlichkeit und ansteckende Seuchen". 37 Schrecklicher Aussatz habe die „Quelle des Lebens und der Zeugung [...] langsam [...] vergiftet", „und aus einem zufälligen Uebel entstand endlich eine erbliche Stammsconstitution." Und es ist nicht bloße Rhetorik, wenn Schiller davon spricht, unter der Knechtschaft seien die Juden in Ägypten das „roheste, das bößartigste, das verworfenste Volk der Erde" geworden. 38 Er sagt und meint nicht: Die Zeiten haben sich gründlich geändert. Es kann als sicher gelten, daß Schillers superlativistische Exklamationen keine antisemitischen Ausfälle sein sollten, aber ebenso sicher ist, daß er den Feinden der Juden, deren es unter seinen Zuhörern und Lesern wohl etliche gegeben hat, nicht entgegengetreten war, obwohl er sich die Gelegenheit, es zu tun, selbst geschaffen hat. Die Versicherung, gerecht sein zu wollen, war auch 1789 nicht ausreichend. Schiller war kein Gegner des Judentums, aber er war weit davon entfernt, sich als Freund des Judentums auszuzeichnen. Goethe war kein Freund des Judentums, aber er gehörte auch nicht eindeutig zu seinen Gegnern. Welchen Eindruck Goethe in seiner Kindheit und Jugend von den Juden 35 36 37 38

Ebd., S. 377. Ebd. Ebd., S. 379. — Das folgende Zitat ebd. Ebd., S. 380.

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seiner Vaterstadt gewonnen hat, ist ebenso schon erwähnt worden wie der scharfe Protest, den der alte Dichter gegen die Weimarer Judenordnung von 1823 angemeldet hat. Bevor zu diesen Themen Ergänzungen gemacht werden, bevor insbesondere skizziert wird, wie sich Goethe in seinen Werken und Briefen 39 gegenüber den Juden in Geschichte und Gegenwart geäußert hat, sei angeführt, was diese Darstellung weitgehend unberücksichtigt läßt, obwohl es eindeutig zum Kapitel „Goethe und die Juden" gehört. 1) Goethe und die Bibel: Der Dichter war, wie Schiller, ein vorzüglicher Kenner der Bibel; auch in seinem Werk, wie in dem Schillers, findet der bibelkundige Leser Bibel-Zitate und -Anspielungen in reicher Fülle. Den poetischen Wert der Bibel hat Goethe außerordentlich hoch geschätzt (höher als Schiller). Zahlreich sind die Zeugnisse dieser Hochschätzung; diese galt freilich nicht einem Werke .typisch' jüdischen Geistes und bestimmte nicht Goethes grundsätzliche Haltung zum Judentum. Auch die Tatsache, daß Goethe Personen und Motive der Bibel in sein Werk übernommen hat, kann nicht als Indiz für eine bestimmte Auffassung des Dichters vom Judentum angesehen werden. 2) Goethe und Spinoza: Wer Goethes Verhältnis zum Judentum in einem positiven Sinne festlegen möchte, versäumt nicht, auf des Dichters .spinozistische Weltanschauung' großes Gewicht zu legen; wer Goethe zum Judengegner erklärt, pflegt zu bezweifeln, daß er den Lehrmeinungen des jüdischen Philosophen angehangen habe. Beide Positionen berücksichtigen nicht, daß Spinozas Philosophie nicht in ihrem Wesen .typisch' jüdisch ist. (Außerdem: Wer die späte Lyrik Bert Brechts schätzt, legt damit kein Bekenntnis zum Kommunismus ab.) 3) Goethes Umgang mit Juden seiner Zeit: Daß Goethe von Juden (vor allem von Jüdinnen) nicht nur als großer Dichter Anerkennung, sondern auch als großer Mensch Verehrung empfing, daß er mit manchen Juden gut bekannt, mit einigen sogar herzlich befreundet war, daß er die Qualität jüdischer Schriftsteller nicht anders bewertete als die christlicher Schriftsteller — das ist bekannt, besagt aber nicht mehr als: Goethe hielt sich von Juden nicht fern, weil sie Juden waren; wie er auch nicht eifrig ihre Nähe suchte. Daß er allerdings zuweilen ihm mißliebige Juden als .Juden' bezeichnete und so zu charakterisieren trachtete, zeigt, daß er mit bestehenden Vorurteilen zu operieren wußte. Die Hebräisch-Lektionen, die dem jungen Goethe von seinem 39 Besonders heftig reagierte Goethe 1785/86 auf Moses Mendelssohns Schrift Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes : „Was hast du zu den Morgenstunden gesagt?" fragte er am 1. Dezember 1785 in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi und fuhr fort: „und zu den jüdischen Pfiffen mit denen der neue Sokrates zu Wercke geht?" (WA IV 7, S. 131) Und am 20. Februar des folgenden Jahres an Charlotte von Stein: „Ich wünsche daß du glücklicher mit des Juden Testament seyn mögest als ich, denn ich habe es nicht auslesen können." (Ebd., S. 182; vgl. auch den Brief an Herder vom selben Tag.)

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bildungsversessenen Vater verordnet wurden, galten nicht nur der Supplierung der gründlichen Bibel-Studien, sondern auch dem besseren Verständnis des Jiddischen, mit dem sich der Heranwachsende, angeregt durch die zahlreiche Judenschaft seiner Vaterstadt, ebenfalls beschäftigte. Welche Fertigkeiten Goethe bei dieser Beschäftigung gewann, deutet seine Judenpredigt an, die — nach einer Abschrift Friederike Oesers — 1856 ans Licht der Öffentlichkeit kam. Dieses Dokument verdient, erwähnt zu werden, weil es nicht, wie Ludwig Geiger gesagt hat, „wohl geradezu ein antisemitisches" ist 40 ; es ist vielmehr die Aufzeichnung einer den Juden .geläufigen' Geschichte, die sich christlichen Endzeiterwartungen entgegenstellt: In dreihunderttausend Jahren wird „äh groser Mann" auf einem Schimmel „übers grose grause rothe Meer" geritten kommen, „alle Jüdlich die in hunerttausend Johr gepöckert sind", werden auf dem Rücken des Pferdes Platz finden, während die Christen sich auf den kerzengeraden Schwanz setzen; im Roten Meer nun läßt der Schimmel seinen Schwanz fallen, „un de Goye werde alle ronder falle". 4 1 Für die Einschätzung des Judentums durch den jungen Goethe sind die beiden theologisierenden Abhandlungen Brief des Pastors zu * * * an den neuen Pastor zu * * * und Zwo wichtige bisher unerörterte Biblische Fragen interessanter als die Judenpredigt. Denn es ist nicht zu übersehen, daß er in beiden (1773 erschienenen) Abhandlungen gewöhnliche (Vor-) Urteile gegenüber den Juden aufgreift, um sie — im Namen des Christentums — zu präzisieren und zu entschärfen. Einmal spricht er von seiner Toleranz, die er auch gegenüber den „Ungläubigen" habe, die er „der ewigen wiederbringenden Liebe" überlassen wolle; und mit „Wonne" denkt er daran, „daß der Türke der mich für einen Hund, und der Jude der mich für ein Schwein hält, sich einst freuen werden meine Brüder zu sein." 42 Dann stellt er die Juden als auserwähltes Volk Gottes vor, das — als .partikular' — das universelle Christentum gleichsam begründet habe: „Das jüdische Volk seh' ich für einen wilden unfruchtbaren Stamm an, der in einem Kreis von wilden unfruchtbaren Bäumen stund, auf den pflanzte der ewige Gärtner das edle Reis Jesum Christum [,..]." 4 3 Diese Ansicht eines Christen konnte schwerlich einen Juden, der sie nicht teilte, verletzen. Goethe kam nicht in den Sinn, die Juden für ,unwürdig' zu erklären, weil sie Christus, den Sohn Gottes, ans Kreuz geliefert hätten. Und wenn ein Jude ihn für ein Schwein hielt, wollte er es ihm nicht vergelten. Der junge Goethe war, so kann es scheinen, nicht weit davon entfernt, offen gegen den Antisemitismus Front zu machen. 40 41 42 43

Ludwig Geigen Die Deutsche Literatur und die Juden. Berlin 1910. S. 82. W A I 3 7 . S . 59f. Ebd., S. 162. Ebd., S. 180.

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Goethes Neigung, jüdische Besonderheit(en) nach Verdiensten) hochzuschätzen, findet sich auch in der Rezension eines Bandes Gedichte von einem Polnischen Juden aus dem Jahre 1772, in der er kritisiert, daß die Gedichte nicht halten, was ihr Titel verspricht: „Es ist recht löblich ein Polnischer Jude sein, der Handelschaft entsagen, sich den Musen weihen, Deutsch lernen, Liederchen runden; wenn man aber in allem zusammen nicht mehr leistet, als ein christlicher Étudiant en belles Lettres auch, so ist es, deucht uns, übel gethan, mit seiner Judenschaft ein Aufsehen zu machen." 44 Am Ende wünscht sich der Rezensent, daß ihm der polnische Jude „auf denen Wegen, wo wir unser Ideal suchen, einmal wieder, und geistiger begegnen möge." Noch einmal hat sich Goethe in seiner .vorklassischen' Zeit mit dem ihm so vertrauten Problem des Judentums beschäftigt, und zwar auf poetische Weise in der Puppenspiel-Einlage der letzten Fassung des dramatischen Spottgedichts Das Jahrmarkts-Fest zu Plundersweilern. Darin treffen der Judenfeind Haman, ein Minister, und sein Kaiser Ahasvérus aufeinander und disputieren über Wert und Unwert der Juden: Jener erregt sich über Widersetzlichkeiten, Räubereien, Mordtaten, unlautere Handelsgeschäfte, aufrührerische Gesinnungen, Hochverrat pp. der Juden; dieser löst die allgemeinen Vorwürfe in Nichts auf, indem er Fragen nach besonderen Untaten stellt, auf die er keine Antworten erhält. Darauf fällt die ironische Abfertigung des antisemitischen Ideologen nicht schwer, etwa auf seine Warnung, der kaiserliche Thron wanke: „Der kann ganz sicher stehn, so lang als ich drauf sitze! / Man weiß wie da herab ich gar erschrecklich blitze: / Die Stufen sind von Gold, die Säulen Marmorstein, / In hundert Jahren fällt solch Wunderwerk nicht ein."45 Die Haman/Ahasverus-Szene macht — nicht anders als die Esther/Mardochai-Szene im selben Werk — deutlich: Der junge Goethe bediente sich der Klischees der Judenfeinde, um ihnen den Anschein der Gegründetheit zu nehmen. Er ernannte sich nicht zu einem entschiedenen Anwalt der Unterdrückten, bezeigte aber den Unterdrückern seinen Unwillen. Seine Haltung war — in Zeiten des Sturm und Drang, dem er das Gepräge gab — die eines aufgeklärten Humanisten. Spät erst, in der Dichtung und Wa/irAeiz-Interpretation seiner Biographie, hat Goethe über seine Frühzeit geredet, als sei diese natürlicherweise in der .Judenfrage4 von den unangenehmen Eindrücken bestimmt worden, die vom Frankfurter Ghetto ausgegangen seien.46 Die historische Überlieferung stimmt mit dieser Erinnerung nicht überein: Solange Goethe jüdische Schicksale unmittelbar vor Augen hatte, ergriff er Partei für die zu Unrecht Benachteiligten. Erst später, als es um die 44 Ebd., S. 222. — Das folgende Zitat ebd., S. 225. 45 WA I 16, S. 24. 46 Siehe o., S. 108f.

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Emanzipation der Juden ging, die Goethe zunächst nur aus großer Entfernung abschätzte, stilisierte er sich — etwa zur Zeit der Abfassung von Dichtung und Wahrheit — zu einem verständigen Juden-Beurteiler, war aber im einzelnen viel kritischer als in den Jahren, denen sein um Verständnis bemühter autobiographischer Bericht galt. Wie es nicht wenige Jugendgedichte Goethes gibt, die der Dichter durch spätere Bearbeitungen aus der Zeit der ursprünglichen Abfassung in die Zeit der Bearbeitung verschob (ohne sie indes neu zu datieren), so ist auch seine Autobiographie an vielen Stellen mehr Reflektion gegenwärtiger als vergangener Ansichten — als Reflexion über Vergangenes. Das über die Juden Gesagte kann dafür als ein Beispiel angesehen werden. In diesen Zusammenhang fügen sich auch glaubwürdige mündliche Berichte ein, nach denen der alte Goethe sich gegen antisemitische Pauschalurteile erregt, aber auch von eigener Judenfeindlichkeit in früheren Jahren gesprochen habe, , 3 s ist schändlich", habe er einmal gepoltert, „eine Nation, die so ausgezeichnete Talente in Kunst und Wissenschaft aufzuweisen hat, gleichsam an den Pranger zu stellen!" 47 Er selbst habe, so in einem anderen Gespräch48, gegen die Juden seiner Vaterstadt „Abscheu", „Scheu vor dem Rätselhaften, vor dem Unschönen" gehabt, die „befremdlichen und unverständlichen Erscheinungen" hätten ihn abgestoßen, doch „später, als ich viele geistbegabte, feinfühlige Männer dieses Stammes kennen lernte, gesellte sich Achtung zu der Bewunderung, die ich für das bibelschöpferische Volk hege, und für den Dichter, der das hohe Liebeslied gesungen." Schwerlich hat Goethe die Juden seiner Zeit, die in Deutschland auf die Gewährung von Menschenrechten warteten, als „das bibelschöpferische Volk" angesehen, das Achtung und Bewunderung verdiente. Er hat die Verfasser der Bibel als Poeten geschätzt wie den Verfasser der Sakontala-Oichtung — das interesselose Wohlgefallen erhebt sich über Nation, Stand und Religion derer, die es bewirken. Wie sehr Goethe beim Studium der Bibel darum besorgt war, das historisch Wahre vom Fiktionalen zu sondern, zeigt vielleicht am deutlichsten sein 1797 entstandener Aufsatz Israel in der Wüste, der später Eingang in die Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans fand und in dem Goethe dasselbe Thema behandelte wie" Schiller in Die Sendung Moses. Die Darstellung der Knechtschaft und schließlichen Rettung Israels liefert allerdings keine geschichts- oder religionsphilosophische Interpretation des Zweiten Buches Moses, sondern rekonstruiert die Ereignisse, wie sie sich nach Goethes Ein- und Ansicht .wirklich' hätten begeben können; sie sind zum nicht geringen Teil philologische Bibelkritik, wobei die .Wahrheit' der Poesie über jedes historische Versehen erhaben erscheint. 47 Gedenkausgabe (s. Anm. 12). Bd. 22. S. 875. 48 Ebd., S. 639.

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Über Goethes Verhältnis zum Judentum sagt Israel in der Wüste nicht mehr als das über zwei Jahrzehnte vorher entstandene Fragment Der ewige Jude49; darin wird weniger Ahasvers ruhelose Wanderung durch die Kontinente in nicht endender Zeit geschildert als vielmehr die Wanderung des wiedergekommenen Heilands durch das Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts; wobei eine vernichtend-kritische Musterung der kirchlichen Zustände des Dichters Hauptgeschäft war. Zu den wenigen Juden, denen Goethe einen Platz in seiner Poesie anwies, gehört der Weimarer Hofjude Jacob Elkan, von dem schon zweimal die Rede war: In dem Gedicht Auf Miedings Tod aus dem Jahre 1782 ist eingangs die Rede von den Zuriistungen für ein Fest, das alljährlich in Weimar am 30. Januar (dem Geburtstag der Herzogin Luise) gefeiert wurde, und da heißt es dann: „Der Jude Elkan läuft mit manchem Rest, / Und diese Gährung deutet auf ein Fest." 50 Für die Ausgabe letzter Hand variierte Goethe diese Stelle, die nun lautet: „Der thät'ge Jude läuft mit manchem Rest, / t···]·" 51 Die Änderung wird Goethe nicht deshalb für richtig gehalten haben (wie immer wieder behauptet wird), weil er Rücksichten auf das Bankhaus Elkan in Weimar, mit dem er in guten Geschäftsbeziehungen stand, nehmen wollte, sondern weil nach vierzig Jahren nicht mehr so interessant war, daß ein Jude am Hof tätig war, als vielmehr, daß der Hof-Jude — tätig war. „Der thät'ge Jude": Natürlich wird mit dieser Kennzeichnung auch pauschal auf das geschäftige Wesen des Juden und damit der Juden verwiesen — an solchen Kennzeichnungen, die mit durchaus geläufigen Vorstellungen über die Juden übereinstimmen, ist bei Goethe kein Mangel; sie werden als Schacherer, Wucherer, Händler, Wechsler, Betrüger wie selbstverständlich diskriminiert52; sie werden mit Huren in einem Atemzug genannt 53 , mit Pfaffen 54 oder mit ,,andere[n] Bösewichterfn]" 55 . Buenco spricht in Clavigo abschätzig über Jüdisches Ab- und Zulaufen" 56 ; und keineswegs .neutral' gemeint ist der Zweizeiler Jude in den Zahmen Xenien: „Sie machen immerfort Chausseen, / Bis niemand vor Wegegeld reisen kann!"57 (Jude = die Juden!) Goethe war kein Freund der Juden; je älter er wurde, um so weiter entfernte er sich von ihnen, um so weniger ließ er sich auf Einzel49 Vgl. WA I 38, S. 53-64; außerdem Goethes Kommentar zu dem Fragment in Dichtung und Wahrheit (WA I 28, S. 307-310). 50 WA 116, S. 429. 51 Ebd., S. 133. 52 Vgl. WA Π 3, S. 140; doit ist die Rede vom „neusten Schacher- und Wucherbetrieb des Nachkommen Abrahams". 53 Vgl. WA 15, 1, S. 96. 54 Vgl. WA 152, S. 62. 55 WA I 22, S. 123. 56 W A I l l . S . 84. 57 WA 13, S. 316.

Goethe und Schiller in ihrem Verhältnis zum Juderaum

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Probleme ein, die ja auch in seinen Blick gerieten. Er sah zum Beispiel sehr wohl, daß die den Juden auferlegte Verpflichtung, sich äußerlich kenntlich zu machen, als Herabwürdigung zu verstehen sei, aber er polemisierte nicht dagegen, sondern interessierte sich für etwas anderes: Das Gelb der Juden-Abzeichen konnte in der Farbenlehre Verwendung finden. „Wenn die gelbe Farbe unreinen und unedlen Oberflächen mitgetheilt wird, wie dem gemeinen Tuch, dem Filz und dergleichen, [...] entsteht eine [...] unangenehme Wirkung. [...] Daher mögen die Hüte der Bankerotter, die gelben Ringe auf den Mänteln der Juden entstanden sein [...]." 58 Daß Goethe mit seiner Vermutung unrecht hatte 59 , mag insofern als sinnvoll erscheinen, als das Vorurteil, von dem seine Interpretation des Befundes ausging, ungerecht war. Er hörte vielleicht, was die Uhr schlug, aber er nahm sie nicht wahr; so wenig wie 1789, so wenig wie 1830. (Die rhetorische Frage kann in diesen Zusammenhang eingeschoben werden: Hat je ein Jude über Goethes Haltung zum Judentum lebhafte Klage geführt?) Goethe wurde unwillig, als 1808 das Thema der Juden-Emanzipation in seiner Vaterstadt Frankfurt zu weit vorangetrieben wurde — wie er meinte. Er interessierte sich zwar, angeregt durch die energisch für die Juden Partei ergreifende Bettina Brentano, für die neue „Stättigkeitsund Schutzordnung für die Judenschaft in Frankfurt a.M.", die das alte Judenstatut aufhob und einige Verbesserungen brachte, aber er war mit der Entwicklung, die ihm entschieden zu weit ging, nicht einverstanden; und er versuchte, aus der Entwicklung selbst Argumente gegen sie (gegen die Juden) herauszulesen: „Ich möchte doch sehen wie sich die modernen Israeliten gegen die neue Städtigkeit gebehrden in der man sie freylich als wahre Juden und ehemalige kaiserliche Kammerknechte tractirt." 6 0 Und nicht ohne Süffisanz schreibt er an Bettina: „Die Documente philanthropischer Christen- und Judenschaft sind glücklich angekommen [...]. Es ist recht wunderlich, daß man eben zur Zeit, da so viele Menschen todtgeschlagen werden, die übrigen aufs beste und zierlichste auszuputzen sucht." 61 (Als sei, wenn irgendwo Unrecht geschieht, bedenklich, wenn andernorts zur selben Zeit Recht geschieht. Die Ironie Goethes richtet sich gegen ihn selbst.) Daß die Frankfurter Stättigkeitsordnung den Juden keineswegs hinreichende Rechte gewährte, das hatte Israel Jacobsohn aus Braunschweig in einer Schrift Unterthänigste Vorstellung an Seine Hoheit den Fürst Pri58 WA Π 1, S. 31 If. 59 Vgl. Wanda Kampmann: Deutsche und Juden. Studien zur Geschichte des deutschen Judentums. Heidelberg 1963. S. 22, Anm. 12: „Die Kirche übernahm das .Judenzeichen' in gelber Farbe aus der mohammedanischen Gesetzgebung gegen die Ungläubigen, die schon im 7. Jh. zur Wahrung der Glaubensreinheit von den Christen ein blaues, von den Magiern ein schwarzes, von den Juden ein gelbes Abzeichen forderte.** 60 WA IV 20, S. 22. 61 Ebd., S. 42.

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mas der Rheinischen Konföderation über Höchstdessen neue Stättigkeits- und Schutzordnung für die Judenschaft in Frankfurt am Main (Braunschweig 1808) dargelegt, worauf ihm ein Anonymus mit einer Broschüre Bemerkungen über des Herrn Geh. Finanzrath's Israel Jakobsohn unterthänigste Vorstellung [...] scharf entgegengetreten war. Zu Jacobsohns Schrift äußerte sich Goethe im Brief an Bettina Brentano vom 3. April 1808: „Dem Braunschweigischen Juden Heiland ziemt es wohl sein Volk anzusehen, wie es seyn und werden sollte; dem Fürsten Primas ist aber auch nicht zu verdenken, daß er dieß Geschlecht behandelt wie es ist, und wie es noch eine Weile bleiben wird." 62 Und wenig später, am 20. April, lobte Goethe die anonyme Gegenschrift, dessen Verfasser dem „Jacobinischen Israels Sohn so tüchtig nach Hause geleuchtet hat. [...] Leider ist das ganze nicht rasch, kühn und lustig genug geschrieben, wie es hätte seyn müssen, um jenen Humanitätssalbader vor der ganzen Welt ein für allemal lächerlich zu machen."63 In einem Brief vom 24. Juni 1816 an Sulpiz Boisserée nannte Goethe die Bestimmung, daß in Jena kein Jude übernachten dürfe, „löblich"64; als in Weimar über die Notwendigkeit einer neuen Judenordnung diskutiert wurde, schrieb er an Johann Jakob von Willemer nach Frankfurt: „Ich [...] enthalte mich aller Theilnahme an Juden und Judengenossen" 65 ; als es 1819 in mehreren deutschen Städten, u.a. in Frankfurt, zu heftigen Ausschreitungen gegen die Juden kam, als die Zeitungen voll waren von Greuelnachrichten über dieses Treiben — da schwieg Goethe, als ginge ihn das nichts an. Er enthielt sich aller Teilnahme. Als Goethe mit der ersten Fassung des Wilhelm Meister beschäftigt war, hatte er — offenbar angeregt durch den gelegentlichen Umgang mit verschiedenen Juden — „große Lust in meinem Roman auch einen Juden anzubringen", wie er am 28. Oktober 1782 an Charlotte von Stein schrieb. 66 Er wollte dabei „das bedeutende der Judenheit" schildern. Es scheint, daß dieser nicht verwirklichte Plan darauf abzielte, den Juden, wenn schon kein hochragendes Denkmal zu errichten, so doch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen gegenüber ihren Feinden und Verächtern. Vierzig Jahre später haben einige Ansichten Goethes über das Judentum Eingang in Wilhelm Meisters Wanderjahre gefunden, die belegen können, wie unbehaglich dem alten Goethe die Lösung des mit den Stichworten Assimilation, Akkulturation und Emanzipation zu bezeichnenden Problems (eines politischen Hauptproblems seiner Zeit) gewesen ist. Der Älteste der Betrachtenden sagt in Wilhelm Meisters Wanderjahre, die jüdische Religion sei zwar als heidnisch anzusehen, habe 62 63 64 65 66

Ebd. Ebd., S. 50. WA IV 27, S. 64. WA IV 28. S. 183. WA IV 6, S. 80.

Goethe und Schiller in ihrem Verhältnis zum Judentum

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aber den Vorzug, dauerhaft zu sein; und fährt dann fort: Das israelitische Volk hat niemals viel getaugt [...]; es besitzt wenig Tugenden und die meisten Fehler anderer Völker: aber an Selbstständigkeit, Festigkeit, Tapferkeit, und wenn alles das nicht mehr gilt, an Zähheit sucht es seines Gleichen. Es ist das beharrlichste Volk der Erde, es ist, es war, es wird sein, um den Namen Jehovah durch alle Zeiten zu verherrlichen. 67

Und ein Gespräch zwischen Wilhelm und Friedrich, in dem es um die Erziehung der Kinder zum Christentum geht, führt zu dem Ergebnis, daß „wir keinen Juden unter uns [dulden]; denn wie sollten wir ihm den Antheil an der höchsten Cultur vergönnen, deren [christlichen] Ursprung und Herkommen er verläugnet?"68 Wenn auch die Schärfe dieser Konklusion nicht ohne weiteres gegen Goethe gewandt werden kann, so ist doch kaum zu bezweifeln, daß dem Dictum die Autorität des Dichters unterlegt ist. Aus dem Nachlaß Goethes ist der — wahrscheinlich aus dem Jahre 1808 stammende — Entwurf zu einem Volksbuch historischen Inhalts überliefert, der mancherlei Bemerkungen über das jüdische Volk enthält, die als Ergänzung des schon Angeführten dieses bestätigen kann: „Disproportionirtes Verhältniß des Volcks gegen die Weltmasse", heißt es da etwa; oder: „Schwancken in den Maximen, religiösen, politischen"; schließlich: „Noch immer, mit Ermanglung aller alten Tugenden, bey Gegenwart aller früheren Fehler, zeigt es einen bestim[m]t[en] Character und ein entschiednes Talent."69 Auch wenn Goethes Vorbehalte gegen das Judentum gelegentlich nicht frei von religiösen Motiven zu sein scheinen, so ist doch festzuhalten, daß er prinzipiell keines Menschen Wert nach seiner Religionszugehörigkeit bemaß. Das friedliche Zusammenleben von Angehörigen verschiedener Glaubensgemeinschaften war ihm, nicht anders als Lessing, ein striktes Gebot der Humanität. Schillers Bekenntnis in seinem Distichon Mein Glaube wurde nicht zufällig unter die Tabulae votivae aufgenommen, als deren Verfasser sich Goethe und Schiller gemeinsam nannten: „Welche Religion ich bekenne? Keine von allen, / Die du mir nennst! ,Und warum keine'? Aus Religion." 70 Diese Haltung bestätigte Goethe, als er ein Jahr vor seinem Tode, am 22. März 1831, in einem Brief an Sulpiz Boisserée resümierte: Des religiösen Gefühls wird sich kein Mensch erwehren, dabey aber ist es ihm unmöglich, solches in sich allein zu verarbeiten, deswegen sucht er oder macht sich Proselyten. / Das letztere ist meine Art nicht, das erstere aber hab ich treulich durchgeführt und, von Erschaffung der Welt an, keine Confession gefunden, zu der ich mich völlig hätte bekennen mögen. 71 67 68 69 70 71

WA I 24, S. 248. WA 125, S. 210. WA I 42, 2, S. 422. NA 1. S. 296. WA IV 48. S. 155.

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Als 1817 die Vorbereitungen zur 300-Jahr-Feier der Reformation im Gange waren, hatte Goethe den Einfall, die Feier auf den Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht, den 18. Oktober, zu legen — damit jeder in Deutschland daran teilnehmen könne: „Alle erheben den Geist, an jenen Tag gedenkend, der seine Glorie nicht etwa nur Christen, sondern auch Juden, Mahometanem und Heiden zu danken hat." 72 Das mag, am Ende der kritischen Überlegungen zur Goetheschen Juden-Kritik, als Dokument .klassischer' Toleranz das Verständnis der Haltung Goethes befördern, ohne sie zu verfälschen. Goethe und Schiller waren keine Klassiker des politischen Fortschritts. Und sie waren den Juden ihrer Zeit und ihres Landes, deren Probleme ihnen wohlbekannt waren, nicht sonderlich hilfreich — anders als etwa Lessing, Herder, Jean Paul oder Wilhelm von Humboldt. Die Gründe für das Verhalten der Weimarer Klassiker sind vielleicht im einzelnen zu erforschen; doch damit ist für den Literarhistoriker nicht viel gewonnen, denn diesem liegt in der Regel weniger an .bloßen' Befunden als an deren Interpretation. Wenn nach der Bedeutung einer geistigen Erscheinung gefragt wird, richtet sich das Interesse nicht so sehr auf ihre Ursachen wie auf ihre Wirkungen. So wäre nun weiterzufragen: Wohin führten die Ansichten der Klassiker über Juden und Judentum? Eine sehr einfache Antwort ist nicht belanglos: Nationalistische Antisemiten wie die angesehenen Goetheforscher Houston Stewart Chamberlain und Franz Koch konnten .ihren' Dichter benutzen, um die Saat des Hasses und der Vernichtung unbekümmert um die historische .Wahrheit' (denn war diese nicht unzweifelhaft?) auszustreuen. 73 Doch so groß auch der Schatten der Weimarer Klassik ist: er ist kein sicheres Versteck.

72 WA I 42, 2, S. 33f. 73 Vgl. Anm. 7. '

Sigurd Paul Scheichl (Innsbruck)

Franz Grillparzer zwischen Judenfeindschaft und Josephinismus

Mit Grillparzers Einstellung zum Judentum scheint sich bislang nur Dorothy Lasher-Schlitts materialreiche Dissertation von 1936, Grillparzer's Attitude Toward the Jews,1 ausführlich beschäftigt zu haben. Merkwürdigerweise ist diese Untersuchung, der ich wertvolle Aufschlüsse verdanke, in der Grillparzer-Forschung bisher nur wenig zur Kenntnis genommen worden.2 Während Lasher-Schlitts Buch in der Präsentation der Fakten kaum übertroffen, höchstens an dieser oder jener Stelle ergänzt werden kann, ist es methodisch doch zeitgebunden. Der historische Hintergrund der Äußerungen Grillparzers bleibt blaß, und andererseits drängt sich die brennende Aktualität des Themas in den dreißiger Jahren in den Vordergrund. Dieses Problem ist der Verfasserin freilich bewußt; sie spricht selbst von der Gefahr, in der Deutung der Fakten von den zeitgenössischen Ereignissen und von der persönlichen Überzeugung beeinflußt zu werden; eben daher habe sie das Problem „from an objective and literary point of view" 3 behandelt. Trotz dieser Bemühung mußte die Arbeit fast von selbst in eine politische Funktion hineingeraten, in die der Abwehr gegen denkbare Versuche, Grillparzer in einen Kronzeugen des Antisemitismus umzudeuten. Lasher-Schlitt zitiert ein Buch von Mark Waldman: Goethe and the Jews (New York 1934) mit dem bezeichnenden Untertitel A Challenge to Hitlerism. Ihre Schlußworte scheinen mir eine — selbstverständlich durchaus legitime — Parallele zu den in diesem Untertitel angedeuteten Absichten zu sein: [...] we can state definitely that on the basis of his attitude toward the Jews, Grillparzer was a humanist who belongs with Lessing, Schiller, and Goethe in the history of thought. [...] His attitude toward the Jews is compatible only with a humanistic interpretation of his Weltanschauung,4

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Dorothy Lasher-Schlitt: Grillparzer's Attitude Toward the Jews. New Yoik 1936. Möglicherweise steht das Buch in keiner österreichischen Bibliothek; die Fernleihe beschaffte das Exemplar jedenfalls von der Bayerischen Staatsbibliothek. In der von mir benützten Grillparzer-Liteiatur ist das Buch so gut wie nie zitiert worden. Lasher-Schlitt (Anm. 1). S. VU Ebd. S. 121.

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Sigurd Paul Scheich!

Auch wenn meine Interpretation der — wenigen — einschlägigen Stellen bei Grillparzer im Grunde zu einem ähnlichen Ergebnis geführt hat, so sieht dieser emphatische Schlußsatz Grillparzers Einstellung zum Judentum vielleicht doch zu einseitig humanistisch. Zwar spricht Lasher-Schlitt von manchen Widersprüchen, 5 aber sie geht wohl zu wenig auf jene Passagen ein, in denen auch bei Grillparzer Vorurteile merkbar sind. Die nicht-wissenschaftliche Grillparzer-Rezeption kommt dementsprechend manchmal zu anderen Schlüssen. Etwa zu dem, daß „hervorragendere Menschen [...] fast stets Antisemiten waren (Tacitus, Pascal, Voltaire, Herder, Goethe, Kant, Jean Paul, Schopenhauer, Grillparzer, Wagner) [...]". 6 So lautet eine Anmerkung Otto Weiningers in Geschlecht und Charakter. Eine Begründung für diese pauschale Behauptung wird nicht gegeben, doch liegt es nahe, daß die Jüdin von Toledo — Frau und Jüdin — Weiningers Konzeption sehr entgegengekommen ist. Weininger steht mit dieser Einordnung Grillparzers in den Antisemitismus nicht allein. Die „Unarten der Titelheldin sind es auch, die einst in einer Sitzung des Wiener Gemeinderathes einem Antisemiten eine gewisse Berechtigung dazu gaben, gerade im Hinweise auf diese Rahel und ihren als gemeinsten feigen Schacherer gezeichneten Vater Isaak, den Dichter Grillparzer für die Antisemiten zu vindicieren [...]". 7 Auch in der nationalsozialistischen Ära gibt es solche Versuche,8 etwa Das Rassenproblem bei Grillparzer von Elisabeth Frenzel, 1941 in der Wiener Ausgabe des „Völkischen Beobachters" erschienen, übrigens recht zurückhaltend formuliert. Trotzdem steht dort der Satz: „Hinter Raheis Sippe lauert ein ganzes Volk auf den Einbruch in den Staatskörper." 9 Grillparzer also ein Bannerträger der „rassischen Erkenntnis"? 10 Ein solches Verständnis Grillparzers stützt sich, kann sich nur stützen auf das Verständnis der Jüdin von Toledo, den einzigen großen Grillparzer-Text, in dem man allenfalls eine Auseinandersetzung mit dem Judentum sehen kann. Nun haben zwar einzelne Judenfeinde dieses Drama für ihre Zwecke zu beanspruchen versucht — obwohl zum Beispiel Trabert, gewiß kein 5 6

Ebd. Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Wien 1903. S. 406. Anm. 2. Im Original sind die Namen gesperrt gesetzt 7 Adam Trabert: Franz Grillparzer. Ein Bild seines Lebens und Dichtens. Wien 1890. S. 294. 8 Neben dem in der folgenden Anmerkung zitierten Aufsatz z.B. Wilhelm Antropp: Grillparzers Rassentragödie. Liselotte Schreiner als Medea. In: Völkischer Beobachter (Wien) 23.1.1941. S. 6. 9 Elisabeth Frenzel: Das Rassenproblem bei Grillparzer. In: Völkischer Beobachter (Wien) 12.1.1941. S. 12. 10 Ebd.

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Feind des Antisemitismus,11 betont, Grillparzer nicht „zum Antisemiten stempeln zu wollen".12 Bezeichnender und aufschlußreicher scheint mir aber, daß keine Zeugnisse bekannt geworden sind, in denen jüdische oder liberale Kritiker aufgrund dieses Dramas gegen Grillparzer den Vorwurf der Judenfeindlichkeit erhoben hätten; bei anderen Texten der Zeit ist das sehr wohl vorgekommen.13 Von den sechs frühen Besprechungen, die im Apparatband zur Historisch-Kritischen Ausgabe abgedruckt sind, 14 gehen nur zwei auf das Thema .Judentum' überhaupt ein, und davon artikuliert Ludwig Speidel („Neue Freie Presse", 23. Januar 1873, Morgenblatt) mit dem Satz: „Aus einem Körberljuden mit gelbem Lappen wird ein Freiherr v. Rothschild mit dem Großkreuz der Ehrenlegion f...]" 15 eher eigene judenfeindliche Vorurteile, als daß er dem Drama einen solchen Sinn unterstellte. Nur D. R. in der „Wiener Abendpost" (23. Januar 1873) spricht davon, daß Grillparzer kein „geschmackloser Feind" des Judentums und „gerecht [...] gegen Jud und Christ" sei; aber: „Daß Gr. das moderne, ihn umgebende Judenthum mit im Auge gehabt, diese poetische Perfidie kann man nicht von der Hand weisen. Bestimmte ihn doch wohl dazu die Bedeutung des Judenthums in dem modernen Leben, t···]"· 16 Trotz diesem Einwand läßt sich aber auch aus dieser Rezension ein zeitgenössisches Verständnis des Dramas als eines judenfeindlichen nicht ableiten. Den recht wenigen Rezeptionszeugen von der Art der Anmerkung Weiningers stehen viele Zeugnisse einer sehr positiven GrillparzerRezeption durch Juden im 19. Jahrhundert gegenüber, und zwar mindestens zum Teil unter Einschluß der Jüdin von ToledoΡ Lasher11 Vgl. Treben (Aran. 7). S. IVf., 315. 12 Ebd. S. 294. Trabert gibt sogar zu, daß man die oben (Anm. 7) zitierte Aktion des antisemitischen Gemeindepolitikers komisch finden kann. 13 Vgl. z.B. Hans Otto Horch: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" (1837-1922). Frankfurt 198S (= Literarhistorische Untersuchungen 1). S. 52ff. über die anfängliche Reaktion der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" auf Gustav Freytag. Von kritischen jüdischen Reaktionen geht auch die ihrerseits von Judenfeindschaft nicht ganz freie Verteidigungsschrift Ferdinand Kümbergers für den Roman Das Judenschloß von Erwin Schlieben (1876) aus; Ferdinand Künibergen Das Juden Schloß (1876). In: FK: Gesammelte Werke 2 (Literarische Herzenssachen). München 1911. S. 201-210. Hier besonders S. 206. 14 Franz Grillparzer Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. 1. Abteilung. 21. Band: Apparat zum Bruderzwist in Habsburg, zur Jüdin von Toledo und zur Esther. [Von Reinhold Backmann]. Wien 1940. Der Apparat zur Jüdin auf Toledo auf S. 313-403. Abdruck der erwähnten Besprechungen S. 329-348. 15 Ebd. S. 339. Das Wort „Körberljud" spielt, worauf mich Wolfgang Häusler aufmerksam macht, auf eine Figur des Hemalser Kalvarienbergs an. 16 Ebd. S. 346. 17 Die relativ zahlreichen Grillparzer-Aufsätze in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums", die durch die Arbeit von Horch (Anm. 13) erschlossen sind, konnte ich nicht einsehen. Die Titel der einschlägigen Beiträge deuten aber eher nicht auf polemische Auseinandersetzungen mit Grillparzer hin.

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Schlitt hat einiges Material zum Beweis für die Sympathie zusammengetragen, die man Grillparzer im liberalen jüdischen Milieu entgegenbrachte. 18 Zu den ersten größeren und durchwegs affirmativen Veröffentlichungen über Grillparzer gehören Schriften der Juden Emil Kuh 19 und Ludwig August Frankl. 20 Auch Samuel Lublinskis „Literarische Studien" Jüdische Charaktere bei Grillparzer, Hebbel und Otto Ludwig (1899) — die in Berlin entstanden sind — gehen mit keinem Wort auf ein denkbares judenfeindliches Verständnis der Jüdin von Toledo oder der Esther ein.21 Ferdinand Kürnberger hat das Ansehen, das Grillparzer unter den Wiener liberalen Juden genoß, in einem kritischen Essay zum Tod des Dichters festgehalten. 22 Er wirft dort den Todesco, Mosenthal, Jacques und Frankl vor, sich aus Reklamebedürfnis an den Sarg des toten Dichters heranzudrängen. Was immer von diesen Vorwürfen zu halten ist — wohl nicht viel —, in unserem Zusammenhang ist wichtig, daß führende Vertreter des Wiener Judentums Grillparzer nicht ablehnten, sondern schätzten. Daran scheint die nach Grillparzers Tod erfolgte Veröffentlichung der Jüdin von Toledo nicht viel geändert zu haben. Ein anderer Rezensent, der gegenüber Weininger und gar gegenüber den Mitarbeitern des „Völkischen Beobachters" den Vorzug größerer zeitlicher Nähe zum Autor hat, ist der Theaterkritiker der „Neuen Freien Presse" Friedrich Schütz, der 1896 eine Premiere der Jüdin von Toledo besprochen hat.23 Ob Schütz selbst Jude gewesen ist, ließ sich nicht feststellen; auf jeden Fall erschien seine Rezension in einer vor allem vom liberalen jüdischen Bürgertum gelesenen Zeitung, die auch viele jüdische Mitarbeiter hatte. Schütz geht nun auf die jüdische Thematik des Trauerspiels sehr wohl ein, etwa wenn er den Schauspieler Weiß, historisch zu Recht, literarisch zu Unrecht, kritisiert, weil er „als Isaak [...] zu jüdisch in Ton, Haltung und Maske für einen Spaniolen" gewesen sei. Offenbar kommt Schütz aber nicht auf den doch naheliegenden Gedanken, in der Figurenzeichnung durch Grillparzer könnte ein Element judenfeindlicher Karikatur angelegt sein. Ganz im Gegenteil! Schütz, der durchaus im „Kampf von Christ und Jud, so oft und so unrühmlich wieder aufge18 Lasher-Schlitt (Anm. 1). U. a. S. 29ff. über Betty Paoli und S. 31 über Josef von Weüen. 19 Emil Kuh: Zwei Dichter Österreichs. Franz Grillparzer und Adalbert Stifter. Pest 1872. 20 Ludwig August Frankl: Zur Biographie Franz Grillparzers. Wien 1884. (Von mir nicht eingesehen.) 21 Samuel Lublinski: Jüdische Charaktere bei Grillparzer, Hebbel und Otto Ludwig. Berlin 1899. Über Grillparzer S. 97-120. Das Buch ist für unser Thema, aber wohl auch übertiaupt recht unergiebig. 22 Ferdinand Kürnberger: Wien, im Spiegel eines Sarges (1872). In: Kürnberger (Anm. 13). S. 279-286. Hier S. 280. 23 F. Sch.: Deutsches Volkstheater (Grillparzer, seine Zeit und „Die Jüdin von Toledo"). In: Neue Freie Presse. Morgenblatt 5.11.1896. S. 1-3.

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wühlt", den Stoff der Tragödie sieht, versteht das Stück nicht nur nicht als antisemitisch, sondern als gegen den Antisemitismus gerichtet; denn gegen Ende seiner Besprechung schreibt er: „[...] schon die Wahl des Stückes ist von Werth in einer Zeit, welche die Programme für eine Wiener ultramontane Bühne [...] nicht verstummen läßt." Gewiß hätte im übrigen auch die Direktion des Deutschen Volkstheaters in Wien mit seinem vorwiegend jüdischen Publikum das Stück nicht auf den Spielplan gesetzt, wenn sie die Gefahr eines judenfeindlichen Mißverständnisses gesehen hätte. Allerdings war es gewiß in der angespannten Situation von 1896 für einen Gegner des Antisemitismus verlockend, Grillparzer als Kronzeugen gegen die neue Bewegung zitieren zu können — etwa mit den von Schütz tatsächlich angeführten Versen des Königs 485ff. aus dem zweiten Aufzug („Ich selber lieb es nicht, dies Volk f...]") 24 —; aber auch wenn wir die historische Situation in unsere Analyse der Rezension einbeziehen, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß Die Jüdin von Toledo 1896 nicht die Abwehr eines liberalen Kritikers hervorgerufen hat. Für die Zulässigkeit einer wo nicht judenfreundlichen, so mindestens nicht judenfeindlichen Lektüre der Jüdin von Toledo spricht im übrigen auch die wissenschaftliche Literatur. Daß sie, soweit ich sie überblicke, den Konflikt zwischen Juden und Christen eher nicht in den Vordergrund ihrer Analysen gerückt hat, mag zum Teil auch mit der Vermeidungshaltung der deutschen Germanistik gegenüber jüdischen Themen in der deutschen Literatur zusammenhängen, einer Haltung, die Ruth Angress mit dem Schlagwort von der „Leiche unterm Tisch"25 zu charakterisieren versucht hat. 26 Als Erklärung dafür, daß die Literaturwissenschaft in ihren Interpretationen durchwegs andere Aspekte des Textes hervorgehoben hat, reicht diese Vermeidungshaltung allein aber wohl doch nicht aus. Man wird davon ausgehen müssen, daß diese anderen Aspekte tatsächlich zentral sind, was wiederum dafür spricht, daß Grillparzer seinen Stoff nicht in Hinblick auf sein ohne Zweifel vorhandenes judenfeindliches Potential gewählt hat. Skreb etwa ordnet das Stück den „Tragödien des Eros" 27 zu und geht kaum auf die Tatsache ein, daß ein Teil der Hauptfiguren Juden sind. Auch Yates behandelt das Drama mit anderen unter dem Obertitel 24 Grillparzer-Zitate werden fortlaufend im Text nachgewiesen, aufgrund der Ausgabe: FG: Sämtliche Werke. Hrsg. von Peter Frank und Karl Pömbacher. 4 Bände. München: Hanser 1960-1965, mit Band- und Seitenzahl. Zitate aus der Jüdin werden, ebenfalls aufgrund dieser Ausgabe, mit Aufzug und Vers angegeben. 25 Ruth K. Angress: Die Leiche unterm Tisch. Jüdische Gestalten aus der deutschen Literatur des neunzehnten Jahihunderts. In: Neue Sammlung 26 (1986). S. 216-229. 26 Mit dieser Vermeidungshaltung könnte auch die ausgebliebene Auseinandersetzung mit dem Buch von Lasher-Schlitt (Anm. 1) zu erklären sein; vgl. Anm. 2. 27 Zdenko Skreb: Grillparzer. Eine Einführung in das dramatische Werk. Kronberg 1976. S. 184-189.

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„Duty and Love" 28 und erwähnt wiederum mit so gut wie keinem Wort die spezifisch jüdische Thematik. Blackall sieht im Judentum nur ein „Nebenmotiv": „Als impulsives, eigensinniges Kind — nicht als Jüdin — tritt Rahel auf." 29 Politzer, der Grillparzers judenfeindliche Anwandlungen kennt, 30 sieht in der Wahl jüdischer Figuren vor allem die Absicht, die Zuschauer in die „mythische Tiefe der Zeit" 31 zu weisen; auch dieser Gedanke führt zuletzt wohl wieder vom Judentum weg. Reinhold Backmann schließlich fühlt sich im Apparatband zur Jüdin von Toledo, dem man sonst seine Entstehungszeit — 1940 — kaum anmerkt, verpflichtet, Grillparzer vor dem „Vorwurf" der Judenfreundlichkeit „aufs nachdrücklichste zu schützen"; 32 ein in der offensichtlichen Distanzierung von der bisherigen Grillparzer-Forschung für das Verständnis des Textes hochinteressantes Rezeptionszeugnis. Es ist selbstverständlich methodisch unzulässig, eine frühe Notiz ohne weiteres als Grundlage für die Interpretation eines fast dreißig Jahre später entstandenen Stückes heranzuziehen, zumal sich zwischen 1824, dem Datum der Notiz, und 1851, dem (vermutlichen) Abschluß des Dramas, gerade in Hinblick auf die rechtliche und gesellschaftliche Stellung der Juden sehr viel verändert hat. Doch machen die Formulierungen dieser frühen Notiz überdeutlich, daß mindestens die erste Konzeption des Dramas nicht vom christlich-jüdischen Konflikt bestimmt war. Alonso, jünger aufgefaßt, als er, nach der Geschichte, zur Zeit jenes Liebesverhältnisses eigentlich war, ein, im guten Sinne des Wortes wohl erzogener Prinz; ohne die Liebe eigentlich je zu kennen, schon früh mit einer Prinzessin vermählt, in der er für alles Befriedigung findet, was der Umkreis seiner Wünsche bisher erreichte. [...] Da erscheint jene Jüdin, und ein Etwas wird in ihm rege, von dessen Dasein er bis jetzt noch keine Ahnung gehabt: die Wollust. In seinem Garten [...] fällt die schöne Jüdin zu des Königs Füßen; ihr üppiger Busen wogt an seine Knie gepreßt und — der Schlag ist geschehn. Das Bild dieser schwellenden Formen, dieser wogenden Kugeln [...] verläßt ihn nicht mehr. (Tgb. 1330, 1824; IV, S. 381f.)

Im Drama selbst bleibt dieses Motiv durchaus erhalten. Die „wogenden Kugeln" werden wörtlich wiederaufgenommen: Und wie das wogt und wallt und glüht und prangt. (2. Aufzug, V. 641 ) 3 3 28 W. E. Yates: Grfflpaizer. A Critical Introduction. Cambridge 1972. S. 178-189. 29 Eric A. Blackall: Grillparzer: „Die Jüdin von Toledo" (1962). In: Interpretationen 2. Deutsche Dramen von Gryphius bis Brecht. Hrsg. von Jost Schillemeit. Frankfurt 1965 (= Fischer Bücherei 699). S. 240-252. Hier S. 241. 30 Heinz Politzer Franz Grillparzers Spiel vom Fall: Die Jüdin von Toledo. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 86 (1967). S. 509-533. Hier S. 530. 31 Ebd. S. 512. 32 Backmann (Anm. 14). S. 317. 33 Dazu Yates (Anm. 28). S. 185f.

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Von „schwellenden Formen" ist zwar nicht die Rede, sehr wohl aber, und mehrfach, von einem Tuch, das Rahel über eben diesen trägt und vor dem König abnimmt (1. Aufzug, vor V. 317; V. 359; indirekt V. 3 6 4 ) . 3 4 Das Erotische steht hier eindeutig im Vordergrund;35 wenn Grillparzer statt einer spanischen eine bayerische Geschichte gelesen hätte, hätte eine ganz ähnliche Notiz Uber Agnes Bernauer entstehen können. Obwohl Raheis Judentum für das Drama nicht absolut nötig ist, 3 6 so ist allerdings doch nicht zu leugnen, daß das Exotische der spanischen Jüdin von Grillparzer als Steigerung des erotischen Reizes empfunden worden sein mag. 37 Jedenfalls hat er den Stoff nicht der bayerischen und auch nicht einer ihm bekannten ähnlichen Episode der dänischen Geschichte entnommen.38 Ein zeitgenössisches — und vom Judentum völlig unabhängiges — Ereignis der bayerischen Politik kommt allerdings als Anregung für die Wiederaufnahme der Arbeit an der Jüdin von Toledo sehr wohl in Frage: die Affäre um die Tänzerin Lola Montez, die Geliebte König Ludwigs I. 3 9 Immerhin haben diese Vorfälle auch in zwei Epigrammen Grillparzers und in einem Gedicht Lola Montez von 1847 ihren Niederschlag gefunden; die beiden letzten Strophen des Gedichtes lauten: Denn harrtest du, bis aus Vernunft und Recht Entstünde, was das Recht und die Vernunft gebot. Schlimm wäre bestellt ums menschliche Geschlecht, Der Trieb erzeugt die Handlung, die uns not. Drum kehrt euch nicht verachtend von dem Weib, In deren Arm ein König ward zum Mann, Sie gab dem besseren Gedanken Leib, Verlor sich selbst, allein die Welt gewann. (I, S. 311)40 34 Über den Zusammenhang jener frühen Notiz mit dem fertigen Drama vgl. Politzer (Anm. 30). S. 511. 35 Siehe auch Karl Eibl: Ordnung und Ideologie im Spätweik Grillparzen. Am Beispiel des argumentum emblematicum und der Jüdin von Toledo. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte S3 (1979). S. 74-95. Hier S. 85. 36 Charlene A. Lea: Emancipation, Assimilation and Stereotype. The Image of the Jew in German and Austrian Drama (1800-1850). Bonn 1978 (= Modem German Studies 2). S. 72. 37 Ruth Κ. Angress: Wunsch- und Angstbilder. Jüdische Gestalten aus der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Hrsg. von Albrecht Schöne. Band 1. Tübingen 1986. S. 84-96. Hier S. 93ff. 38 Harold F. H. Lenz: Franz Grillparzer's Political Ideas and Die Jüdin von Toledo. New York 1938. S. 41 erwähnt den von Grillparzer 1836 gelesenen Roman „Wilhelm Zabem" von J. C. Hauch, der eine vergleichbare Geschichte aus dem Leben des dänischen Königs Christian Π. erzähle. Gegen eine Überschätzung dieser Anregung Backmann (Anm. 14). S. 321. 39 Schon Ludwig Speidel hat 1873 diese Parallele gesehen; vgl. Backmann (Anm. 14). S. 339. Femer ebd. S. 323. Vgl. auch Yates (Anm. 28). S. 181.

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Zwei Gedanken des Gedichts sind in Parallele zur nun auch zeitlich nahen Jüdin von Toledozn sehen: der König, der in den Armen der schönen Geliebten eine neue Erfahrung machte; die, in Grillparzers Augen, vom Trieb bestimmte Entscheidung, eine konservative durch eine liberale oder doch liberalere Regierung zu ersetzen, die objektiv eine Verbesserung gegenüber den bisherigen Verhältnissen brachte. Grillparzers Ansicht über die Ereignisse am Münchener Hof braucht uns im einzelnen nicht zu kümmern; die aktuelle Anregung, die sie für die endgültige Fassung des Dramas geboten haben dürften, macht aber ein weiteres Mal wahrscheinlich, daß nicht das Judentum der schönen Rahel Grillparzer in erster Linie an dem vorgefundenen Stoff interessiert hat, sondern die Thematik von Macht und Trieb. Im folgenden soll nicht eine neuerliche Interpretation der Jüdin von Toledo vorgelegt, sondern der Versuch unternommen werden, aus anderem, weniger schwer interpretierbarem Material die Autorintention Grillparzers zu rekonstruieren, seine Einstellung zum Judentum, die wahrscheinlich auch der Jüdin von Toledo zugrundeliegt. Auf das Trauerspiel wird die Arbeit dann schließlich wieder zurückkommen. So fragwürdig die Ermittlung der Autorintention sonst als Zielsetzung der Literaturwissenschaft ist, so sinnvoll scheint mir diese Fragestellung in diesem Zusammenhang einer historisch orientierten Beschäftigung mit dem Autor. Da kann dann zunächst mit der Biographie Grillparzers argumentiert werden, mit seinen häufigen Kontakten zu Juden in Wien und anderswo. Lasher-Schlitt stellt zu Recht fest, daß Grillparzer mehr Gelegenheiten zu Begegnungen mit Juden hatte als etwa Lessing, Schiller oder Goethe. 41 Sie trägt aus verschiedenen Quellen die Belege für diese Kontakte zusammen, 42 von den jüdischen Mitgliedern der Ludlamshöhle über die der Concordia zu den jüdischen Salons der Eskeles, Arnstein-Pereira und Wertheimstein und zur Bekanntschaft mit Frankl. Auf seinen Reisen hat Grillparzer die Begegnung mit Rahel Varnhagen besonders beeindruckt; von ihrem Sprechen war er „bezaubert" (iSelbstbiographie; IV, S. 137. Vgl. auch das Zeugnis über ein Gespräch mit Grillparzer, IV, S. 921). Die Begegnung mit den vermögenden Wiener jüdischen Familien — denen der Autor ein willkommener Gast gewesen zu sein scheint, ohne daß er ihrer Förderung bedurft oder eine solche erwartet hätte — hat ihren Niederschlag auch in Gelegenheitsversen gefunden, etwa der 40 Zu diesem Gedicht siehe Dieter Borchmeyer: Franz Grillparzer: Die Jüdin von Toledo. In: Deutsche Dramen. Interpretationen zu Werken von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hrsg. von Harro Müller-Michaels. Kronberg 1981. S. 200-238. Hier S. 207f. 41 Lasher-Schlitt (Anm. 1). S. XI. 42 Ebd. S. 16-67.

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Grabschrift für Bernhard von Eskeles (1839; I, S. 437). Es sind wie so oft bei Grillparzer formal wie gedanklich konventionelle Verse, doch besteht kein Grund, an der Aufrichtigkeit der darin ausgedrückten Achtung für den verstorbenen jüdischen Bekannten zu zweifeln. Trotz solchen Versen, trotz einer Reihe von Äußerungen der Wertschätzung über dieses jüdische Milieu darf man aus dem Verkehr Grillparzers mit Juden und von Juden mit ihm nicht zu viel ableiten; denn offensichtlich haben sich bis ins 20. Jahrhundert gesellschaftlicher Umgang mit Juden und judenfeindliche Haltung durchaus miteinander vertragen. Und es gibt auch bei Grillparzer mindestens eine Tagebuchstelle, die eine gewisse Distanz zur Wiener jüdischen Gesellschaft artikuliert. 1826 notiert er in Berlin: Wenn die christlichen Einwohner beider Städte verschieden sind, so gleichen sich dagegen die Juden auf ein Haar. Bei Mendelssohn gewesen. Er, ein tüchtiger Mann, besser als die Wiener-Juden [!], Madame dagegen und die liebe Familie, wie nach den Arnstein, Pereiras, Herz u.s.w. kopiert, oder vielmehr jene nach diesen. (Tgb. 1542, 1826; IV, S. 423) Andere Indizien sprechen für eine tolerante Einstellung Grillparzers gegenüber den Juden. Aussagekräftig scheint mir zu sein, daß er nur äußerst selten vermerkt, wenn Personen, denen er begegnet, Juden sind. Schon gar nicht löst eine solche Zugehörigkeit bei ihm Abneigung oder Widerwillen aus. Ganz anders bei Kathi Fröhlichs Neffen Wilhelm Bogner, in dessen Aufzeichnungen von einer Reise mit dem Dichter sich Stellen finden wie: [...] da (von mir aus: Gott sei Dank) Wertheimstein zurückblieb [...] (Tgb. 3915, 1847; IV, S. 694) (Ob das „von mir aus" als Distanzierung von Grillparzers freundlicherer Haltung zu Wertheimstein verstanden werden kann, muß selbstverständlich offen bleiben.) [Ich] kam deshalb auf die leider nur zu wahre Vermutung, daâ [in Ischl] zahlreiche Juden sich befinden, die Grillparzer und somit auch meine Wenigkeit in Anspruch nehmen könnten. (Tgb. 3973, 1847; IV, S. 712) [...] eine Landpartie [...], welche wir in seiner, und der Gesellschaft einer zahlreichen Judenfamilie machen sollten, worüber mir jedes Haar zu Berge stand, [...] (Tgb. 3974, 1847; ebenda) [Dessauer] ist, nach Aussage Grillparzers, ein recht verständiger gebildeter Mann; aber doch JudU (Tgb. 3973, 1847; ebenda) Und sogar: Abfahrt nach Nürnberg, Mein Disput mit einem alten Saujuden der sein Gepäcke unter den Sitz geben und mich genieren wollte. (Tgb. 3930, 1847; IV, S. 700)

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Derartiges war also 1847 schon möglich, vielleicht üblich — aber gewiß nicht bei Grillparzer, bei dem sich derartige Äußerungen nicht nur nicht über den von ihm geschätzten Komponisten Dessauer finden — den er in einem Epigramm von 1854 gegen Heine verteidigt hat (I, S. 526) —, sondern auch kaum über Juden, von denen er keine hohe Meinung hatte. Selbst dem von ihm wahrlich nicht geliebten Saphir 4 3 gibt er seine „völlige Verachtung zu erkennen" (1835; III, S. 825), ohne diesem Vertreter des „Rezensentenpöbels" (ebd.) die jüdische Abstammung vorzuhalten. Nur ein einziges von bei 20 Epigrammen gegen diesen Kritiker zeigt, daß Grillparzer über die Vorurteile, die Bogner artikuliert, doch nicht ganz erhaben war: Fehlgeburt Der Teufel wollte einen Mörder schaffen Und nahm dazu den Stoff von manchem Tiere: Wolf, Fuchs und Schakal gaben her das ihre; Nur eins vergaß der Ehrenmann: den Mut Da drückt' er ihm die Nase ein voll Wut Und rief: Lump, werd ein Jud und rezensiere! (1840; I, S. 440) 44

Was für Saphir gilt, gilt auch für Rothschild und andere. In einer längeren Satire (Publikationen die Kaiser Ferdinands Nordbahn betreffend, 1839; III, 91-93) und mehreren Epigrammen auf die von Unfällen heimgesuchte, unter maßgeblichem Einfluß der Familie Rothschild stehende Nordbahn wird zwar das Unternehmen angegriffen, aber ohne judenfeindliche Rhetorik.45 Auch werden wir Prozent und Zins dort wagen müssen, Hier zahlt den Zinsfuß man mit seinen eignen Füßen. (1839; I, S. 436)

Daß der Dichter auf die jüdische Abstammung abgelehnter Personen als (Schein-Argument) gegen Feinde weitgehend verzichtet hat, obwohl dieses ,Argument' bei den Bogners in Wien schon in den dreißiger und vierziger Jahren seine Wirkung offenbar nicht verfehlt hätte, scheint mir Grillparzers relative Vorurteilsfreiheit gegenüber Juden wahrscheinlicher zu machen als sein Verkehr in jüdischer Gesellschaft und seine Begegnung mit Juden auf verschiedenen Reisen. (Das gilt wohl auch dann, mindestens eingeschränkt, wenn man bedenkt, daß die Zugehörig43 Zum Verhältnis Grillpaizer-Saphir ebd., S. 38-45. 44 Lasher-Schlitt (Anm. 1). S. 45 verzichtet auf eine Interpretation und gibt nur die Verbitterung Grillparzen nach dem Mißeifolg seines Lustspiels als Ursache für das Epigramm an. 45 Allenfalls könnte man in der kurzen Notiz Treffen bei Branowitz (Tgb. 3484, 1839; ΙΠ, S. 93), in der Rothschild als „Anführer der Perser" erscheint und in der es ebenfalls um ein Eisenbahnunglück geht, eine judenfeindliche Anspielung erblicken.

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keit Saphirs und der Rothschilds zum Judentum allgemein bekannt gewesen sind.) Grillparzers Liberalismus kann hier als bekannt vorausgesetzt werden; mit ihm ist wohl auch in seiner Haltung gegenüber den Juden zu rechnen. Zurecht betont Frankl, wie sehr der greise, den Sitzungen des Herrenhauses sonst fernbleibende Dichter Wert darauf legte, 1868 für die liberalen Religionsgesetze zu stimmen.46 Seine Abneigung gegen religiöse Intoleranz — etwa im Jahr 1837 (Die Tiroler Religionsgeschichte; I, S. 423) —, gegen das altdeutsche Getue und den Nationalismus brauche ich im einzelnen nicht in Erinnerung zu rufen. An einigen Stellen wird, nicht unbedingt in Hinsicht auf aktuelle Politik, diese Grundhaltung liberaler Toleranz auch gegenüber den Juden, die Ablehnung der Judenverfolgungen ausgesprochen. So schreibt Grillparzer schon in einem frühen Aufsatz über die Kreuzzüge ironisch: Die Stimmung des Kreuzheeres offenbarte sich nur zu bald. Das Jammergeschrei der Kölnischen und Mainzischen Juden, die rauchenden Trümmer von Ungarns geplünderten Städten zeugen laut für die Göttlichkeit ihres Berufs. (1813; EŒ. S. 952)

Im weiteren spricht der junge Grillparzer von der durch diese Mordbrenner „verhöhnten Menschheit". Mit ähnlicher Ironie schreibt Grillparzer in einer Notiz über ein altes spanisches Esther-Drama (von Felipe Godinez) von Mardochais „Verbrechen, ein Jude zu sein" (ΠΙ, S. 629), das ihm gnädig verziehen werde. Ähnlich dürfte auch eine vermutlich nach 1839 entstandene Notiz über Las pazes de los Reyes von Lope de Vega, das Vorbild der Jüdin von Toledo, zu verstehen sein: Merkwürdig ist übrigens, daß Lope de Vega sich so ziemlich auf die Seite der Jüdin stellt. Sie ist durchaus edel gehalten und selbst den Makel des Judentums nimmt er für den Zuseher dadurch hinweg, daß sie vor ihrem gewaltsamen Tode begehrt eine Christin zu werden. Wieder ein Beweis von seiner Vorurteilsfreiheit. (ΠΙ, S. 527)

Man kann davon ausgehen, daß Grillparzer historisch genug dachte, um „Vorurteilsfreiheit" hier nicht ironisch zu meinen: im Spanien des 17. Jahrhunderts gab es eben keine andere Möglichkeit als ein solches Taufbegehren, um eine jüdische Figur positiv zu zeichnen. Dieser Aufsatz ist auch sonst in diesem Sinne interessant. Grillparzer vermutet in Lopes Titel — „Die Versöhnung der Majestäten" — „eine versteckte Ironie", da „das Pfand des Friedens der Tod der von allen am wenigsten schuldigen Jüdin" sei (ebd.). Das ist selbstverständlich keine Selbstinterpretation, sondern ein Urteil über Lope de Vega; aber dieses Urteil zeigt doch deutlich Wertvorstellungen Grillparzers, die sich mit Judenfeindschaft kaum vereinbaren lassen. 46 Frankl (Anm. 20). S. 59. Zitiert nach Lasher-Schlitt (Anm. 1). S. 7.

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Eine dritte Äußerung ist hier noch zu zitieren, auch wenn ihre Authentizität nicht ganz gesichert ist. 47 Gegenüber Auguste von Littrow-Bischoff soll der Dichter 1868 in Zusammenhang mit Esther einerseits eindringlich über die Verfolgung der Juden gesprochen (IV, S. 980f.), andererseits wörtlich über die Absicht des Fragment gebliebenen Dramas gesagt haben, daß er darin Ideen von Staatsreligion und Duldung aussprechen wollte, die mich hauptsächlich auf diesen Stoff geführt hatten, und die Religion und nicht die Liebe sollte den Inhalt dieses Dramas ausmachen [...] (IV, S. 978)

Im weiteren stellt Grillparzer einen Zusammenhang zwischen dieser Thematik und der Heirat des Erzherzogs Karl mit einer protestantischen Prinzessin her; wegen dieser beliebten Fürstin sei es in Wien zu vielen Gesprächen „über Religionsfreiheit und derartige Dinge" gekommen (ebd.). Daß er die Arbeit an Esther 1829, im Todesjahr der Prinzessin Henriette, begonnen hat, kann als Bestätigung dieser Selbstaussage angesehen werden; möglicherweise ist das Stück auch eine Reaktion Grillparzers auf die Opposition des Wiener Klerus gegen die kirchliche Bestattung der Prinzessin.48 Daß Grillparzer die „Ideen von Staatsreligion und Duldung" nicht unbedingt an einem habsburgischen Thema aus der Gegenreformation demonstrieren konnte oder wollte, leuchtet ein. Daß er aber ein alttestamentarisch-jüdisches Motiv gewählt hat, ist nicht selbstverständlich, setzt es doch voraus, daß ihm auch die Toleranz gegenüber den Juden ein wichtiges politisches Ziel gewesen ist. Trotz diesem Eintreten für die Toleranzidee ist das zitierte Epigramm auf Saphir mit dem Nasen-Motiv nicht der einzige Beleg für Grillparzers Anteil an den Vorurteilen seiner Zeit, und es geht nicht an, die (zugegeben wenigen) hier zu zitierenden Tagebuchstellen nur mit Depression und Unwohlseins des Dichters zu erklären.49 Die Stelle über das Prager Ghetto von 1826 mag zunächst noch eine realistische Beschreibung der besuchten Stätte sein: In der Judenstadt gewesen. Schmutz, Schmutz, Schmutz. (Tgb. 1495, 1826; IV, S. 409)

Die Fortsetzung urteilt dann aber in sehr generalisierender Manier:

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Man begreift warum dies Volk keine Schweine ißt, es wäre eine eigentliche Hypophagie (Anthropophagie). Und doch sah ich 3 der schönsten Mädchen, die ich je gesehen, in dieser Judenstadt, [...] (ebd.) 47 Yates (Anm. 28), S. 191, vertraut, Skreb (Anm. 27), S. 179, mißtraut der Zeugin, im übrigen beide mit ähnlichen Argumenten. 48 Backmann (Anm. 14). S. 410. 49 Lasher-Schlitt (Anm. 1). S. 68. 50 Lasher-Schlitt (Anm. 1), S. 68f., äußert sich sehr apologetisch zu diesen Stellen.

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Ähnliche Vorurteile werden auch in Reisenotizen wie den folgenden artikuliert (wobei man annehmen muß, daß die Juden, denen Grillparzer auf Reisen begegnet ist, anders als die Dessauer und Wertheimstein, auch äußerlich sehr deutlich zu erkennen waren): Im Wagen ein Kaufmann aus Wien und 2 Juden. Höchst unangenehm. (Tgb. 1482, 1826; IV, S. 405) Den Tag im Wagen zugebracht wie man ihn nach einer durchwachten Nacht, zerschüttelt, von Hitze und dem ungeheuersten Staube gequält, vis à vis von 2 Juden zubringen kann. (Tgb. 1484, 1826; ebd.)

Immerhin ist Grillparzer im Einzelfall auch bereit, das Vorurteil zu revidieren. 1843 notiert er, wiederum auf einer Reise: Ein einäugiger Berliner, wohl gar Jude, ohne jedoch die doppelte Berechtigung unangenehm zu sein, zu benützen. (Tgb. 3635, 1843; IV, S. 650)

Diese Stelle ist auch deshalb bemerkenswert, weil sie zeigt, daß Grillparzers Vorurteil sich nicht nur gegen Juden, sondern überhaupt gegen Fremde, etwa hier gegen Berliner, richtet. In den literarisch durchgeformten Texten sind solche Vorurteile in dieser Form kaum faßbar. Doch gibt es einige Epigramme, in denen es zu einer Gleichsetzung von Juden und Finanzwelt kommt, einer Gleichsetzung, die damals in Österreich den sozialen Verhältnissen durchaus entsprach. 51 Nicht viele, nur etwa 10 von weit über 1000 Epigrammen, haben diese Thematik; doch in ihnen ist sie sehr deutlich artikuliert. Etwa: An den Finanz-Reformator * * A. Das soll der neue Heiland sein? Das redet man mir nimmer ein! B. Und doch gewinnt es so den Schein, Sieh nur, wie sich die Juden freun! (1816; I, S. 374)

,Juden" ist hier wie in dem wesentlich späteren Epigramm Finanzen O alter Rudolf von Habsburg, So gehst du auf die Börse, Betrittst das Judenkaffeehaus Mit deiner gepanzerten Ferse? (1856; I, S. 538) 52

fast ein Synonym für Vertreter moderner Wirtschaftsformen; die Abneigung gegen diese wird damit freilich in Abneigung gegen eine 51 Wolfdieter Bihl: Die Juden in der Habsburgermonarchie 1848-1918. In: Studia Judaica Austriaca 8. Zur Geschichte der Juden in den östlichen Lindern der Habsburgermonarchie. Eisenstadt 1980. S. 5-73. Hier S. 35f. 52 Bei Lasher-Schlitt (Anm. 1) nicht behandelt.

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bestimmte Gruppe der Bevölkerung verwandelt. Hier ist zweifellos auch bei Grillparzer eine solche Abneigung ausgesprochen, nicht nur ein gelegentliches privates Vorurteil notiert. Während aber hier doch in erster Linie Juden in einer bestimmten gesellschaftlichen Funktion — der Isaaks in der Jüdin von Toledo53 — getroffen werden, haben einige späte Epigramme einen noch generelleren Charakter. Sie müssen als Reaktionen des alten Mannes auf die raschen sozialen Veränderungen nach 1848 verstanden werden, als Reaktionen, die die Juden als dessen vielleicht sichtbarste Repräsentanten für eben diesen Wandel insgesamt haftbar machen.54 Am zugespitztesten scheint mir das späteste dieser Epigramme, 1865 niedergeschrieben: Emanzipation Spät ward man billig eurem Geschlechte, Das Haß und Rachsucht mit Schmach beluden, Ihr habt nun alle Bürgerrechte, Nur freilich bleibt ihr immer Juden. (I, S. 577)

Die Schärfe des Epigramms liegt vor allem darin, daß Grillparzer sich durchaus noch im Sinne des Josephinismus zum Gedanken der Emanzipation bekennt und sich von Verfolgungen distanziert, andererseits aber das Scheitern einer wirklichen inneren Emanzipation, ein Verharren bei „Börsenspiel und Trödelbuden" (I, S. 574) konstatiert. Aus diesem Verharren der Juden ergibt sich das Überlegenheitsgefühl des NichtJuden, der das Wort .Juden" — deutlich durch den Kontext, durch die Stellung im Satz und durch den Gebrauch als Pointe des Epigramms — wie ein Schimpfwort gebraucht. Im Grunde wird den Juden hier jede Möglichkeit der Entwicklung abgesprochen, es wird eine statische Gesellschaftsordnung behauptet, behauptet im doppelten Sinn. Man soll dem Epigramm keinen zu hohen Stellenwert einräumen, muß auch wie stets bei Grillparzer mit momentanen Gefühlen persönlicher Zurückweisung rechnen — dennoch bleibt Emanzipation ein Text, der ganz gut in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts paßt, in denen Angst vor den Juden und Haß gegen sie zunehmen. Diese letzten Epigramme können allerdings auf keinen Fall für die Interpretation der Jüdin von Toledo herangezogen werden, die schon ein Jahrzehnt vorher abgeschlossen worden war. Sie zeigen aber, wie die gesellschaftliche Entwicklung im Habsburgerreich auch einen alten josephinischen Liberalen, der ohne Zweifel eine Reihe von Juden schätzte 53 Vgl. Politzer (Anm. 30), S. 53 lf., über Grillparzers Kritik am Kapitalismus; ähnlich Borchmeyer (Anm. 40). S. 233. 54 Unter anderen sind zu nennen Juden und Polen (1848), I, S. 493; Warum bin ich nicht ein Bauer (1852), I, S. 514; Es steht ein Christ, L. N„ In gebildeten Ländern (1864-65), I, S. 574.

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und dem das Prinzip der Toleranz wichtig war, in gelegentlichen, allerdings nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Äußerungen zu einer Artikulation von Vorurteilen brachte, wie man sie sonst bei expliziten Judenfeinden findet. Kümberger scheint eine ähnliche Entwicklung durchgemacht zu haben. Von den politisch aktiven Judenfeinden unterscheidet Grillparzer freilich die geringe Zahl einschlägiger Äußerungen. Trotz einigen hier nicht erwähnten Notizen und Exzerpten zum Thema kann man von einem besonderen Interesse Grillparzers an jüdischen Fragen doch wohl nicht sprechen.55 Dieses insgesamt doch relativ geringe Interesse an der .Judenfrage' scheint mir ein nicht unwesentliches Argument dafür, in der Jüdin von Toledo, auf die nun noch einmal zurückzukommen ist, auch nicht ein vorwiegend einem jüdischen Thema gewidmetes Drama zu sehen. Andere Themen sind Grillparzer wichtiger gewesen. Eine Vermittlung der Jüdischen' Thematik mit den anderen Themen der Tragödie kann hier nicht geleistet, ihre Möglichkeit nur angedeutet werden, zumal es alles eher denn einen Konsens über das Verständnis der Jüdin von Toledo gibt. Soweit das Drama, an dem sich die Auseinandersetzung mit Grillparzers Verhältnis zum Judentum doch stets eher entzündet hat als an den verstreuten und zum Teil entlegenen Bemerkungen, die ich hier zusammengestellt habe, überhaupt die .Judenfrage' behandelt, läßt sich darin eine ähnliche Widersprüchlichkeit wie im Epigramm Emanzipation feststellen. Wie in jenem Epigramm haben wir im Drama die dezidierte Absage an alle Judenverfolgung, an „Haß und Rachsucht" einerseits, andererseits aber doch deutlich negative Züge einer jüdischen Hauptfigur. Ruth K. Angress, die sich allerdings nicht mit dem Drama insgesamt, sondern nur mit diesem Aspekt beschäftigt, hat es in diesem Sinn wohl zu Recht „das merkwürdigste Gemisch" von Bestätigungen judenfeindlicher Vorurteile und „beschwichtigenden Rücksichtnahmen" genannt 56 Ähnlich spricht Charlene A. Lea von einer eigentümlichen Verbindung von Antisemitismus und Josephinismus.57 Grillparzer kann es nach all dem, was er sonst über Juden gesagt und gedacht hat, nicht um ein judenfeindliches Tendenzdrama gegangen sein. Stereotype vom Juden und von der Jüdin mit der „erotischen Attraktion der Andersartigen", 58 von der „juive fatale" 59 mit ihrer Zauber55 Lasher-Schlin (Anm. 1) dürfte die Bedeutung des Problems für Grillparzer überschätzen. Wilhelm Bücher Grillparzers Verhältnis zur Politik seiner Zeit. Marburg 1913 (= Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft 19) erwähnt beispielsweise Grillparzers Einstellung zum Judentum überhaupt nicht, was allerdings auch mit Büchers engem Begriff von Politik zu tun haben mag. 56 Angress (Anm. 37). S. 94. 57 Lea (Anm. 36). S. 75.

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kraft 60 sind jedoch ohne Zweifel in das Stück eingegangen, und ganz besonders in die negativ gezeichnete Figur des Isaak. Daß der Zerfall der staatlichen Ordnung am Beginn des 3. Aufzugs durch die Handlungen dieser jüdischen Figur zum Ausdruck kommt,61 macht eine judenfeindliche Lektüre des Stückes denkbar. Es ist kein Zufall, daß die Verse So itlhrt von euch vielleicht die neue Ordnung, Nach der ein Dreier nur zwei Groschen gilt? (3. Aufzug, V. 835f.)

an das schon zitierte Epigramm An den Finanz-Reformer ** von 1816 erinnern.62 Doch neben solcher Bestätigung judenfeindlicher Vorurteile gibt es eben auch die „beschwichtigende Rücksichtnahme", zuvörderst im Protest gegen jede Judenverfolgung, der das Stück durchzieht, z.B. 1. Aufzug, V, 284ff.; 2. Aufzug, V. 615f.; vor allem aber in dem lakonischen Vers 1796 des 5. Aufzugs: MANRIQUE: Weib, wir sind Christen. ESTHER:

Nun, ihr habts gezeigt

Wichtig für diesen Aspekt des Bilds der Juden im Drama ist vor allem die Figur Esther, die von der Dramaturgie her, anders als Isaak, nicht notwendig ist: dieser wird als Repräsentant der Unordnung gebraucht, die durch das rechtswidrige Handeln des Königs entsteht; jene hat als eindeutig positiv gezeichnete Figur die nicht dramaturgisch, wohl aber thematisch wichtige Funktion, eine tendenziöse Lektüre des Stücks zu verhindern, Isaak, „eine Vogelscheuche aus der judenfeindlichen Literatur",63 nicht als Alleinrepräsentanten des Judentums erscheinen zu lassen. Ein Merkmal der Figurenkonstellation, das ebenfalls ein Verständnis Isaaks „als Abklatsch populärer Vorurteile" verhindern sollte, ist die Isolierung dieser Figur, die nirgends „als Exponent einer Gruppe" auftritt, „die ihm gleichgeartet wäre".64 In Politzers witziger Formulierung: Isaak steht „völlig allein", vertritt keineswegs „eine Verschwörung, die etwa von einer toledanischen Filiale der Weisen von Zion gegen das angestammte Königshaus angestiftet worden" wäre.65 Dagegen 58 Angress (Anm. 37). S. 94. Vgl. auch die zitierte Stelle über die Jüdinnen im Prager Ghetto. 59 Vgl. Lea (Anm. 36). S. 61-77. Über Grillparzer besonders S. 69-77. 60 Ebd. S. 73f. 61 Sehr interessante Beobachtungen zur Funktion Isaaks finden sich schon in einer Rezension der Uraufführung (1872) von H. Gr., abgedruckt bei Backmann (Anm. 14), S. 329-332. hier S. 331. 62 Zu Grillparzers Kapitalismus-Kritik siehe Politzer und Borchmeyer, wie Anm. 53. 63 Angress (Anm. 37). S. 95. 64 Politzer (Anm. 30). S. 530. 65 Ebd.

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könnte man freilich wiederum anführen, daß Isaak sehr deutlich als .typischer' Jude dargestellt ist. Diese Figurenkonstellation wie der Protest gegen die Judenverfolgung und die immer wieder gestellte, aus der Zeit Josephs II. bekannte Frage nach der Schuld der Christen am Schicksal der Juden — die mir mehr als eine „liberale Platitüde" 66 zu sein scheint — lassen die Rezeption des Dramas durch Friedrich Schütz doch als adäquat erscheinen, der die Verse des Königs Ich selber lieb es nicht, dies Volk, doch weiß ich, Was sie verunziert, es ist unser Werk. Wir lahmen sie und grollen, wenn sie hinken. (2. Aufzug, V. 485ff.)

als ein Plaidoyer für Toleranz rühmt. Auch die folgenden Verse des Königs sollte man nicht überlesen; gewiß sind sie Figurensprache und nicht Ausdruck der Position Grillparzers, doch wirken sie im Kontext des Stücks ebenfalls als Gegengewicht zur Darstellung der Untugenden Isaaks: Zudem ist etwas Großes, Garceran, In diesem Stamm von unstet flüchtgen Hirten. Wir andern sind von heut, sie aber reichen Bis an der Schöpfung Wiege [...] (ebd.) 67

Diese Motive wie die Figurenkonstellation machen es mindestens sehr wahrscheinlich, daß Grillparzer die jüdische Problematik in seinem Drama durchaus gesehen hat, obwohl es nicht sein Drama über das Judentum, 68 sondern eher sein Drama über die Sexualität69 — Rahel ist Das Weib als solches, nichts als ihr Geschlecht, (3. Aufzug, V. 859)

— und sein Drama über den Staat70 ist. In der Haltung gegenüber dem Judentum zeigt sich in der Jüdin von Toledo wie überhaupt bei Grillparzer Widersprüchlichkeit und Unentschlossenheit; die humanistisch tolerante Haltung, die von der josephinischen Aufklärung herkommt, gerät in Widerstreit mit Vorurteilen und Ängsten seiner Zeit, über die er ganz offensichtlich nicht erhaben 66 67 68 69

Ebd. Vgl. dazu Politzer, S. 512. Das ist auch Lasher-Schlitts Ansicht (Anm. 1), S. 87f. Vgl. Borchmeyer (Anm. 40). S. 209: „wie ein vorweggenommenes Fin de siècleDrama". 70 Lenz' (Anm. 38) Hypothese, Die Jüdin von Toledo sei ein Drama über die Behauptung des individuellen Willens zu leben gegen die beengenden Kräfte der Gesellschaft (S. 76), hat viel für sich, ist aber in der Forschung bisher kaum diskutiert worden. Als Stück über den Staat sieht auch Eibl (Anm. 35) das Drama, wenn er vom Thema der „Ideologeme und Selbsttäuschungen" spricht (S. 91) und das Drama „eine fast allegorische Formulierung der Dialektik der Restauration" nennt (S. 94).

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ist, ohne sich ihnen ausliefern zu wollen oder auszuliefern. Daß das Trauerspiel mit „radikaler Skepsis" schließt,71 also keineswegs die Haltung des Hofs und des Königs legitimiert, läßt sich durchaus mit einem solchen Verständnis von Grillparzers Haltung gegenüber dem Judentum vereinbaren. Zwar wird die Ordnung des Staates durch Rahel und die ihren gestört — und daß Rahel Jüdin ist, also Außenseiterin der Gesellschaft, macht diese Störung noch gravierender 72 —, aber die Wiederherstellung der Ordnung durch Mord und Gewalt ist für Grillparzer offensichtlich keine Lösung, und selbstverständlich auch keine Lösung für die gesellschaftliche Stellung der Juden. Wir sind wieder bei dem von Angress beobachteten Gemisch von Vorurteilen und Rücksichtnahme, das sich in der Jüdin von Toledo zeigte. So sehr wir uns von den Vorurteilen abwenden müssen, die etwa die Figur des Isaak bestimmen, so sehr sollten wir doch auch die Rücksichtnahme anerkennen, das Bemühen um Ausgewogenheit. Viele Zeitgenossen Grillparzers waren zu einem solchen Bemühen, zu einer solchen Kontrolle ihrer Vorurteile nicht mehr bereit.

71 Borchmeyer (Anm. 40). S. 225. 72 Lenz (Anm. 38). S. 75.

Horst Denkler (Berlin)

„Lauter Juden" Zum Rollenspektrum der Juden-Figuren im populären Bühnendrama der Metternichschen Restaurationsperiode (1815-1848)

Als Julian Schmidt 1848 in der auflagenstarken, weitverbreiteten und tonangebenden Zeitschrift „Die Grenzboten" einen bilanzierenden Grundsatzartikel über Theater-Juden veröffentlichte, 1 hätte ihm niemand vorwerfen können, ein ablegenes oder belangloses Thema aufgegriffen zu haben. Denn so manches aktuelle Zugstück bot „Lauter Juden und doch keine Handlung", wie dem jüdischen Börsenspekulanten Zwickauer in David Kalischs Posse Einmalhunderttausend Taler (1848) aufgefallen war; und nicht wenige zeitgenössische Spielpläne bestätigten die Behauptung des gleichen Beobachters: „Man gibt nur Stücke von unsere Leut'."2 Was Kaiisch im Witzwort auf den Punkt brachte, ist von Elisabeth Frenzel und Charlene A. Lea in umfassenden, aber durch ihr antisemitisches oder philosemitisches Erkenntnisinteresse begrenzten Dissertationen ausgebreitet und belegt worden: 3 In der Dramatik und auf der Bühne der Metternichschen Restaurationsepoche wimmelte es von JudenFiguren, die als einzelne oder zu mehreren und manchmal sogar unter Ausschluß anderer dramatisch eingesetzt wurden und für sämtliche Rollenfächer vom Komparsen über den Chargendarsteller bis zum Helden Spielmöglichkeiten boten. Da diese Bühnen-Juden aber — wie Harry Breßlau 1880 rückblickend festgestellt hat — durchweg ins Ideale emporstilisiert bzw. ins Gemeine herabgewürdigt waren und deshalb entweder Unglauben oder Entrüstung erregt haben, 4 sind wir heute gern geneigt, sie zu übersehen und zu vergessen. So verwundert es nicht, daß die jüdischen Rollenfiguren in den bekannten Theaterstücken der literaturgeschichtlich kanonisierten Dramatiker Christian Dietrich Grabbe, Georg Büchner, Franz Grillparzer 1 2 3

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J[ulian]. S[chmidt]: Theater-Juden. In: Die Grenzboten 7 (Leipzig 1848) 2. Semester. Bd. 4. S. 15-25. Die Zeitschrift hatte damals eine Auflage von 3000 Stück. David Kaiisch: Einmalhunderttausend Taler. Posse mit Gesang in drei Abteilungen. In: Das Berliner Lokalstück. Eingeleitet von Georg Hermann. Berlin 1920. S. 151. Elisabeth Frenzel: Judengestalten auf der deutschen Bühne. Ein notwendiger Querschnitt durch 700 Jahre Rollengeschichte. München o. J. [1942]. - Charlene A. Lea: Emancipation, Assimilation and Stereotype. The Image of the Jew in German and Austrian Drama (1800 - 1850). Bonn 1978. Harry Brefilau: Zur Judenfrage. In: Der Berliner Antisemitismusstreit. Hrsg. von Walter Boehlich. Frankfurt am Main 1965. S. 75f.

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und Friedrich Hebbel meistens nur verlegen wahrgenommen und am liebsten unerwähnt gelassen werden: - der grotesk-burleske J u d e " , „Bürger" und „Berliner Freiwillige" Ephraim in Napoleon oder Die hundert Tage (1831), dem der Kopf von einer französischen Kanonenkugel abgerissen wird, nachdem er seine jüdisch-preußische Identität gegen die judenfeindlichen Anwürfe eines Kameraden mit einer „gewaltigen Ohrfeige" verteidigt hat;s - der zynisch-böse namenlose „Jud" in Woyzeck (1879, entstanden 1836), der dem Geld höhere Achtung entgegenbringt als dem Menschenleben;6 - die auf ihre Geschlechtlichkeit reduzierte jüdische Versucherin in der Jüdin von Toledo (1873, entstanden zwischen 1824 und den fünfziger Jahren), die die „heil'ge Ordnung" der Ehe und des Staates stört und dafür büßen muß;7 - die tragischen, tragikomischen und komischen Juden-Figuren der Judith, des „alten Juden" und Benjamins in den Dramen Judith (1841), Genoveva (1843) und Der Diamant (1847), die sich hohe moralische Ziele setzen, aber ihren niederen Trieben nachgeben und damit das überlieferte Vorurteil stützen, Juden seien lüstern, feige, unredlich und habgierig.8 Werden die jüdischen Personen des literarhistorisch beglaubigten Dramenkanons allem berechtigten oder unberechtigten Unbehagen zum Trotz im Gedächtnis der Literaturkenner bewahrt, sind diesem Gedächtnis die zahllosen Juden-Figuren der kurzlebigen, aber wirkungsmächtigen zeitgenössischen Unterhaltungsdramatik längst entschwunden. Doch gerade weil solche Massenliteratur — wie Robert Prutz bereits 1847 festgestellt hat — als „verbreitetste" die „eigentlich herrschende [...] Literatur der Zeit" ist,9 lohnt es sich, die Menge des von ihr vorgestellten Juden-Personals querschnittartig zu vergegenwärtigen. Dabei fällt auf, daß sich die Figurengestaltung der zeitgenössischen Unterhaltungsdramatiker in Grenzen bewegt hat, die von historisch 5

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Christian Dietrich Grabbe: Napoleon oder Die hundert Tage. Ein Drama in fünf Aufzügen. In: Werke und Briefe. Hrsg. von Alfred Bergmann. Bd. 2. Emsdetten 1963. S. 435. Zu weiteren Juden-Figuren bei Grabbe siehe: Horst Denkler Restauration und Revolution. Politische Tendenzen im deutschen Drama zwischen Wiener Kongreß und Märzrevolution. München 1973. S. 239f. Georg Büchner: Woyzeck. In: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Werner R. Lehmann. Bd. 1. Darmstadt 1967. S. 388 und 424. Franz Grillparzer: Die Jüdin von Toledo. Historisches Trauerspiel in fünf Aufzügen. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von August Sauer. Bd. 9. Stuttgart o. J. S. 173 und 188. Friedrich Hebbel: Judith. Eine Tragödie in fünf Acten. In: Sämtliche Wetke. Hrsg. von Richard Maria Werner. Bd. 1. Berlin 1901. S. 72. - Ders.: Genoveva. Eine Tragödie in fünf Acten. Ebd. S. 127. - Ders.: Der Diamant. Eine Komödie in fünf Acten. Ebd. S. 327f. Robert Prutz: Über die Unterhaltungsliteratur, insbesondere der Deutschen. In: Kleine Schriften. Zur Politik und Literatur. Bd. 2. Merseburg 1847. S. 19.

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vorgegebenen und verstandenen Rieht- und Leitfiguren gezogen waren: von Christopher Marlowes Barrabas und William Shakespeares Shylock als Inkarnationen des Bösen sowie von Gotthold Ephraim Lessings Reisendem samt seinem Nathan und Richard Cumberlands Shewa als Verkörperungen des Edlen, Weisen und Guten.10 Bahnbrechend wirkten August Wilhelm Iffland und August von Kotzebue, die auch nach ihrem Tod (1814 bzw. 1819) die Spielpläne mit ihren Stücken füllen halfen. Führte Iffland in Verbrechen aus Ehrsucht (1784) noch den herzlosen Kleiderhändler und Kreditgeber Salomon ein, um den leichtsinnigen Helden des „Familiengemäldes" und alle Gleichgesinnten unter den Zuschauern und Lesern zu lehren, sich vor solchen Geschäftemachern zu hüten, so ließ der Autor in Dienstpflicht (1795) den fleißigen, genügsamen, redlichen, mutigen, klugen, frommen, hilfsbereiten, mildtätigen und rundherum vernünftigen „Handelsjuden" Baruch Lieb auftreten, der die betrügerischen Intrigen habgieriger Christen durchkreuzt, dadurch einen „ehrlichen Mann" rettet und dafür nichts anderes erwartet als Gotteslohn.11 Wie aus diesem Juden „der ganze Mensch" hervorblickt, 12 sind auch die großmütigen, barmherzigen und opferwilligen jüdischen Randfiguren in Kotzebues frühen Dramen Das Kind der Liebe (1790) und Der Opfer-Tod (1798) darauf angelegt, den „Glauben an die Menschheit" wiederzuerwecken, den unchristliche Christen erstickt haben. 13 Dagegen ist die judenverherrlichende Stimmung in dem (vom Nationalismus der Befreiungskriege stimulierten) „Sittengemälde" Der deutsche Mann (1818) umgeschlagen: Der Titelheld, ein Baron Schreckhom, wird als jüdischer Hochstapler namens Israel Kautzmann sowie als ehemaliger Spion der Franzosen entlarvt und unsanft aus dem Kreise vornehmer Deutschtümler verwiesen. „Kinder, seyd fröhlich! die Luft ist rein," 14 feiert man seinen Hinauswurf. Anders ausgerichtet sind Ernst von Houwalds Lehrstücke für Heranwachsende. Sie folgen der einsträngigen Tendenz, die voreingenommen-unduldsamen Christen durch das „Herz", die „Tugend" und die Gottesfurcht „guter, ehrlicher" Juden zu beschämen. 15 Der „arme Jüd 10 Christopher Mariowe: Der Jude von Malta (1633). - William Shakespeare: Der Kaufmann von Venedig (1600). - Gotthold Ephraim Lessing: Die Juden (1754) und Nathan der Weise (1779). - Richard Cumberland: Der Jude (1794). 11 August Wilhelm Iffland: Verbrechen aus Ehrsucht. Ein Familiengemälde in fünf Aufzügen. In: Theatralische Werke in einer Auswahl. Bd. 5. Leipzig 1859. S. 25 - 27 und 52f. - Den.: Dienstpflicht. Ein Schauspiel in fünf Aufzügen. Ebd. Bd. 3. S. 156, 182 und 266. 12 Ders.: Dienstpflicht. Ebd. S. 234. 13 August von Kotzebue: Das Kind der Liebe. Ein Schauspiel in fünf Aufzügen. In: Theater. Bd. 3. Prag 1817. S. 9f. - Ders.: Der Opfer-Tod. Ein Schauspiel in drey Acten. Ebd. Bd. 11. Prag 1818. S. 28 - 30. 14 Ders.: Der deutsche Mann und die vornehmen Leute. Ein Siuengemählde in vier Acten. Ebd. Bd. 59. Prag 1824. S. 123. 15 Emst von Houwald: Der Schuldbrief. Ein Schauspiel in einem Aufzuge. In: Sämmtliche

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Schmul" in dem Dramolett Der Zigeunerbube (1832) hilft einem deutschen Patrioten, französischen Verfolgern zu entkommen, die von einem verräterischen Deutschen auf die Spur geschickt worden sind.16 Der mit „Hepp! Hepp! "-Geschrei gehetzte „arme fremde Jude" in dem Einakter Der Schuldbrief (1824) gibt sich als der verschollene Freund Moses Hanoch zu erkennen und beweist sich als „braver Jude", „guter Mensch" und „Engel in der Noth", indem er eine ohne eigenes Verschulden verarmte Familie vor der Vertreibung von Haus und Hof rettet.17 Ähnlich .brave Männer' sind der jüdische Handelsmann Silvandro in Carl Blums Lustspiel Tempora mutantur (1844) oder der „Handelsjude" Samuel in Charlotte Birch-Pfeiffers Schauspiel Der Pfarrherr (1848):18 Aus Großmut oder Mitleid Erwerbsrechte aufgebend und Einkommensverluste hinnehmend, tragen sie zur philanthropischen Lösung der zwischenmenschlichen Handlungskonflikte bei. Aber auch zur dramaturgischen Lösung der szenischen Konflikthandlungen werden positiv oder negativ bestimmte Juden-Figuren eingesetzt. Karl Gutzkows Jude Ephraim aus dem Schauspiel Die Schule der Reichen (1842) hintertreibt als „Unglücksprophet" eine Geldheirat und führt so den Umschwung der dramatischen Handlung herauf. 1 9 Ernst Raupachs Jude Mendel aus dem Lustspiel Der Wechsler (1832) hilft als „rechtschoffner Israelit" gemeinsam mit .seine Leit', einem widerspenstigen Brautvater die Zustimmung zur Heirat seiner Tochter abzunötigen, und verhält sich damit ähnlich peripetiefördernd. 20 Adolf Bäuerles Jude Aron aus der Posse Die falsche Primadonna (1818) zerschlägt den dramatischen Knoten, indem er die wahre Identität der verkleideten Titelfigur enthüllt;21 und August von Platens Jude Schmuhl aus der (gegen die zeitgenössische Trivialdramatik gerichteten) Literaturkomödie Die verhängnißvolle Gabel (1826) erfüllt neben der Rolle des intriganten Schatzsuchers die Funktion des „Chorus", der als Sprachrohr des Dichters die sinndeutenden Schlußparabasen spricht.22

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Werke. Bd. 4. Leipzig 1859. S. 411. - Ders.: Der Zigeunerbube. Ein Drama in zwei Aufzügen. Ebd. Bd. 5. S. 372. Den.: Der Zigeunerbube. Ebd. Bd. 5. S. 372. Den.: Der Schuldbrief. Ebd. Bd. 4. S. 379, 411 und 386. Carl Blum: Tempora mutantur, oder: Die gestrengen Herren. Lustspiel in drei Aufzögen. In: Theater. Bd. 4. Berlin 1844. S. 78. - Charlotte Birch-Pfeiffer: Der Pfarrherr. Original-Schauspiel in fünf Acten. In: Gesammelte Dramatische Werice. Bd. 2. Leipzig 1863. S. 240 - 242. Karl Gutzkow: Die Schule der Reichen. Schauspiel in fünf Aufzügen. In: Dramatische Werke. Bd. 2. 2. Aufl. Leipzig 1846. S. 196. Ernst Raupach: Der Wechsler. Lustspiel in drei Akten. In: Dramatische Werke komischer Gattung. Theil 2. Hamburg 1832. S. 175. Adolf Bäuerle: Die falsche Primadonna [auch: Die falsche Catalani]. Posse mit Gesang in zwei Akten. In: Alt-Wiener Volkstheater. Hrsg. von Otto Rommel. Bd. 6. Wien, Teschen und Leipzig o.J. S. 158. August von Platen: Die verhängnisvolle Gabel. Ein Lustspiel in 5 Akten. Hrsg. von

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Daneben tummeln sich im Unterhaltungsdrama der Restaurationszeit jedoch die destruktiv wirkenden Juden-Figuren, die von den nicht-jüdischen Personen durchschaut, bloßgestellt, abgeschüttelt, besiegt und deren Machenschaften im Handlungsverlauf unschädlich gemacht werden müssen. In Karl Immermanns Lustspiel Die Verkleidungen (1828) fällt der jüdische Laienspieler Mendel aus der Rolle des Theseus, als „De Masematten [...] ihm [...] kapaures" zu gehen drohen, und beweist sich damit als Spielverderber, der seine materiellen Interessen nicht verleugnen kann. 23 Für Theodor Heils vielgespieltes Lustspiel Der Beruf hat ein Anonymus 1816 die Figur der aufdringlichen Jüdischen Handelsjungfer" Rachelchen erfunden, die sich nicht abschütteln läßt und beim Schachern nur mit ihren eigenen Waffen zu schlagen ist. 24 Adolph Müllners Komödie Die Zurückkunft aus Surinam (1812) führt mit dem emsigen, geizigen, hartherzigen „Geldmäkler" Isaak Krumm einen gefühllosen Geschäftemacher vor, der seine leiblichen Kinder aus Profitsucht verkuppeln will und „zum Narr'n" gehalten werden muß, soll die Liebe triumphieren. 25 In Carl Friedrich Solbrigs Posse Die Judenschaft in der Klemme (1818) werden Geiz und Feigheit der „Mauschels" auf entehrende, demütigende und räuberische Weise bestraft und grundsätzliche Warnungen vor dem Umgang mit Juden ausgesprochen;26 in Josef Alois Gleichs Wiener Volksstück Die Musikanten am Hohen Markt (1815) wirft der Hausvater den „Schacher" suchenden Handelsjuden Aron unter Anwendung von Körpergewalt hinaus; 27 in Carl Lebrüns Schwank Der Sylvesterabend oder Die Nachtwächter (1820) wird für den betrügerischen Hoflieferanten und Bankier Abraham Levi rhetorisch „Quartier" in der „Hölle" gemacht. 28 Wie im Verlauf der Dramengeschichte des 19. Jahrhunderts an die Stelle der jüdischen Trödler und Kleinhändler mehr und mehr die

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Irmgard und Horst Denkler. Stuttgart 1979 (= Reclams UB, 118). S. 48 - 50, 62 - 64, 76 - 78, 89 - 91, 101 - 104. Karl Immermann: Die Verkleidungen. Lustspiel in drei Aufzügen. Hamburg 1828. S. 123. [Anonym:] Neuer Auftritt zum "Beruf [von Theodor Hell, d.i. Karl Gottfried Theodor Winkler]. In: Geschichte eines Heißhungers und seiner Stillung, oder Unser Verkehr in Berlin. Mit einer Anzeige über den endlich gefundenen Mimus der Norddeutschen. Berlin 1816. S. 43. Adolph Müllner Die Zurückkunft aus Surinam. Lustspiel in drei Akten, nach Voltaire's ,1a femme qui a raison* frei bearbeitet. In: Dramatische Werke. Bd. 5. Braunschweig 1828. S. 94 und 183. Cari Friedrich Solbrig: Die Judenschaft in der Klemme. Eine Posse in einem Aufzuge. Seitenstück zu .Unser Verkehr'. Nach einer wahren Anekdote aus dem siebenjährigen Kriege frei beaibeitet. Leipzig ο. I. S. 114. Josef Alois Gleich: Die Musikanten am Hohen Maikt. Eine lokale Posse mit Gesang in drei Aufzügen. In: Alt-Wiener Volkstheater. Hrsg. von Otto Rommel. Bd. 2. Wien, Teschen und Leipzig o. J. S. 16. Carl Lebriin: Der Sylvesterabend oder Die Nachtwächter. Ein Schwank in zwei Abtheilungen, nach einer Erzählung. In: Neueste kleine Lustspiele und Possen. Mainz 1820. S. 48.

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jüdischen Börsenspekulanten, Großkaufleute, Bankbesitzer traten, die mit ihrem kulturlosen „Gemauschel" — nach einer Dialogaussage in Pius Alexander Wolffs Posse Der Kammerdiener (1832) — „Migraine" erzeugen, 2 9 so rückten allmählich die kulturellen Aufsteiger und Anpasser in die Riege der .Theater-Juden' ein, um dem Gelächter, der Verachtung oder dem Zorn preisgegeben zu werden. Der Börsenspekulant Zittauer in David Kalischs Berliner Volksstück Einmalhunderttausend Taler (1848) rechtfertigt seine Unkenntnis der Namen Gutzkow und Strauß mit der Ausrede: „Wer kann alle Jüden kennen." 30 „Mussje Wolf, Mischores [d.h. Diener]" aus der Frankfurter Lokalposse Das Stelldichein im Tivoli (1832) von Carl Malß mißt den ästhetischen Wert von Bühnenkostümen und -dekorationen am Geldaufwand und zischt im Theater, obwohl ihm die Aufführung gefällt. 31 Der Zeitungs-„Mitarbeiter" Schmock, „ein ordinärer Mensch, aber [...] brauchbar", verrät in Gustav Freytags Lustspiel Die Journalisten (1854) seine Gesinnungslosigkeit mit dem Geständnis: „Ich habe geschrieben links, und wieder rechts. Ich kann schreiben nach jeder Richtung."32 Mit dem korrupten Konjunkturschriftsteller Morgenroth in Eduard von Bauernfelds Lustspiel Der literarische Salon (1836), der über gleiche Talente verfügt wie Schmock, soll neben „Lüge und Heuchelei im Leben wie in der Literatur" der übelbeleumdete Publizist Moritz Gottlieb Saphir, ein getaufter Jude, angeprangert werden.33 In der „aus dem Leben gegriffenen" dramatischen Szene Heinrich Leo vor Gericht (1838) von A. Hegeling nennt sich der (vom jüdischen Glauben, Burschenschaftertum und Hegelianismus zum staatstragenden preußischen NeuPietismus konvertierte) Titelheld „Leo den Wechsler oder die Wetterfahne", was auf Herkunft wie Gesinnungswandel anspielt, und bekräftigt: „Ich bin jetzt durchaus nicht mehr derselbe, der ich damals war!" 34 Gegen solche abstoßenden Beispiele aus dem Geschäfts- und Kulturleben setzten einige ernste Dramen jüdische Tugendhelden und -heldinnen, die mit ihrer Existenz für Opfersinn, Duldung, Menschenliebe bürgen und damit für Judenemanzipation und -integration werben: Die Tochter Jephthas (1820) von Ludwig Robert und Karl Gutzkows Uriel Acosta 29 Pius Alexander Wolff: Der Kammerdiener. Posse in vier Aufzügen. O. O., o. J. S. 14. 30 Kaiisch: Einmalhunderttausend Taler (Anm. 2). S. 144. 31 Carl Malß: Das Stelldichein im Tivoli, oder Schuster und Schneider als Nebenbuhler. Lokalposse mit Gesang in zwei Akten. In: Volkstheater in Frankfurter Mundart. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1850. S. 2 und 33. 32 Gustav Freytag: Die Journalisten. Lustspiel in 4 Acten. In: Dramatische Werke. Bd. 2. 5. Aufl. Leipzig 1890. S. 8 und 56. 33 Eduard von Bauernfeld: Der literarische Salon. Lustspiel in drei Acten. In: Gesammelte Schriften. Bd. 3. Wien 1871. S. 323. 34 A. Hegeling [Arnold Ruge?]: Heinrich Leo vor Gericht. Dramatische Scene, aus dem Leben gegriffen. Leipzig 1838. S. 35.

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(1847), Karl Becks Saul (1841) und Salomon Hermann Mosenthals Deborah (1850).35 In diesen Thesenstücken geraten die Titelfiguren jedoch in den Schlagschatten der .guten Sache', für die sie kämpfen und für die sie sich opfern: Unter dem Eindruck des dargestellten Sieges der Idee ließ sich leicht verdrängen, daß es Juden sind, die sich zum Sprachrohr der siegenden Idee aufgeschwungen und sie mit ganzem Einsatz vertreten haben. Ihr heroisches Vorbild wirkte jedenfalls zu wenig nach, um die judenfeindlichen Klischeevorstellungen ausräumen zu können, die das Unterhaltungsdrama auch nach der 1848/49 verkündeten staatsbürgerlichen Gleichstellung der Juden weitertransportierte. So spielt sich der paßlose Schmuggler Mayer Hirsch Langeselbold in Carl Malß' Frankfurter Lokalposse Herr Hampelmann im Eilwagen (1834/1850) bei einem harmlosen Zusammenstoß mit einem verspäteten Mitreisenden großmäulig auf: „Sie hawe mer gestoße — ich losse mer nicht stoße — ja — mer losse uns nicht mehr stoße!" 36 Und in Carl Toepfers Komödie Rosenmüller und Finke (1851) verweigert der raffgierige Wucherer Moses Hirsch Aron konkurrierenden christlichen „Blutsaugern" den Vortritt bei der Pfändung eines Schuldners mit dem auftrumpfenden Einwurf: „Sain mer nich mit in de Grundrechte?" 37 Mit dem Verhalten des einen wie des anderen sollte vor Augen geführt werden, daß beide von der Emanzipationsgesetzgebung in ihrer Unverschämtheit oder Habsucht bestärkt worden sind und nicht bewegt werden konnten, solche ihnen traditionell unterstellten Erblaster abzuwerfen. Läßt man diesen (mit vergröbernder Vereinfachung wiedergegebenen) Figurenreigen an sich vorüberziehen, werden Gemeinsamkeiten sichtbar, die die Beliebtheit der ,Theater-Juden' erklären helfen. Von einigen Ausnahmen abgesehen, bewähren sie sich als Vermittlungspersonal zwischen den Nichtjuden, weil sie über Geld verfügen, das Toepfer in dem zuletzt erwähnten Lustspiel „die Seele alles Verkehrs zwischen civilisirten Menschen" genannt hat.38 So wenig dieser generell vorausgesetzte Kapitalbesitz mit den realen Einkommensverhältnissen der zeitgenössischen Juden übereinstimmt, so wenig entspricht die Häufigkeit der dramatischen Juden-Figuren dem damaligen jüdischen Bevölke35 Ludwig Robert: Die Tochter Jephthas. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Stuttgart und Tübingen 1820. - Karl Gutzkow: Uriel Acosta. Trauerspiel in fünf Aufzügen. In: Dramatische Werke. Bd. 5. 2. Aufl. Leipzig 1850. - Kart Beck: Saul. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Leipzig 1841. - Salomon Hermann Mosenthal: Deborah. Leipzig 1850. 36 MalB: Herr Hampelmann im Eilwagen. Hampelmannniade in sechs Bildern. In: Volkstheater in Frankfurter Mundart (Anm. 31). S. 19. 37 Carl Toepfer: Rosenmüller und Finke, oder Abgemacht. Lustspiel in fünf Aufzügen. In: Gesammelte dramatische Werke. Hrsg. von Hermann Uhde. Bd. 1. Leipzig 1873. S. 63 und 55. 38 Ebd. S. 60.

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rungsanteil. Daß sie dennoch in der beschriebenen Häufigkeit auftreten, hat wahrnehmungspsychologische, theaterästhetische und kulturgeschichtliche Gründe. Als „einem fremdartigen Elemente der Europäischen Gesellschaft" wandte sich ihnen — wie Moritz Veit 1837 beschrieben hat 39 — die besondere Aufmerksamkeit der angestammten Bevölkerungsmehrheit zu: Abweichungen in Sprache, Kleidung, Verhaltensweise mußten genauso auffallen wie das Eindringen der sogenannten .Judenfrage' in die öffentliche Diskussion und das Vordringen der jüdischen Minderheit an Orten, in Gesellschaftsschichten und auf Karrierebahnen, die ihnen versperrt gewesen waren. Eben darin beruhte jedoch auch der theatralisch-szenische Reiz der Juden-Rollen. Zum einen boten sie Gelegenheit zur komischen oder tragischen Überschreitung der Normen ästhetisch sanktionierter Menschendarstellung, die sich an den stilbildenden Hoftheatern in Weimar, Berlin und Wien für Sprechweise, Gestik, Kostümierung usw. herausgebildet hatten. Zum andern besaßen sie aktuellen Bedeutungswert, und zum dritten gingen sie den Lesern und Zuschauern besonders nahe, weil sie deren geheime Hoffnungen oder Ängste ansprachen. Denn die dramatischen Juden-Figuren waren locker, aber unablösbar in die Emanzipations-, Akkulturationsund Assimilationsgeschichte des deutschen Judentums von der Dohmschen Reformphase bis zur Gesetzgebungsperiode der Achtundvierziger eingebunden. Ob der ,edle Jude' durch seine Existenz für staatsbürgerliche, privatrechtliche, gesellschaftliche Anerkennung und Gleichstellung plädieren sollte oder der für unintegrierbar ausgegebene jüdische Außenseiter, Parvenü und Streber das Gegenteil zu bezeugen hatte, stets blieb unverkennbar, daß die ,Theater-Juden' ideologisches Argumentationsmaterial lieferten, welches über ihre innerdramatisch-handlungsbedingte Funktion weit hinausreichte. Daher konnte Harry Breßlau noch 1880 mit Zustimmung rechnen, als er im Verlauf des .Berliner Antisemitismusstreites' betonte, jeder einzelne Jude müsse seine bürgerliche und gesellschaftliche Stellung gegen die Klischeevorstellungen erkämpfen, die von den fiktiven Juden-Gestalten in der Literatur und auf der Bühne erweckt worden seien.40 Offensichtlich läßt sich gerade nicht verallgemeinern, was Ludwig Börne 1819 bei der Aufführung von Richard Cumberlands Schauspiel Der Jude (1794) beobachtet hatte: „Fällt der Vorhang, dann ist alles vorüber. Der Weg führt vom Leben zur Bühne, aber nicht zurück."41 Inwieweit die .Theater-Juden' und die Juden-Dramen in das Leben einzugreifen vermochten oder an ihm 39 Moritz Veit: Legenden. Nach dem Talmud. In: Dioskurcn. Für Wissenschaft und Kunst. Schriften in bunter Reihe. Hrsg. von Theodor Mündt. Bd. 2. Berlin 1837. S. 194. 40 BreBlau: Zur Judenfrage (Anm. 4). S. 75f. 41 Ludwig Börne: Der Jude. Schauspiel von Cumberland. In: Gesammelte Schriften. Neue vollständige Ausgabe. Bd. 4: Dramaturgische Blätter. Hamburg und Frankfurt am Main 1862. S. 136.

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vorbeigegriffen haben, soll abschließend am Beispiel einiger ausgewählter Theaterstücke gezeigt werden. Auf die „giftige" Wirkung42 der — laut Vorrede — „scherzhaften Kleinigkeit" Unser Verkehr (1813/15) von Karl Borromäus Alexander S essa 43 ist häufig hingewiesen worden.44 Denn Aufruhr und „großes Lärmen" um das 1815 ausgesprochene Aufführungsverbot für Berlin und die vom Berliner Publikum tumultuatiseli erzwungene Aufführungserlaubnis haben dieser .Judenbeschimpfenden Posse" gesteigerte Aufmerksamkeit sichern können.45 Hatte Ludwig Devrient, der Freund des Autors, Befürworter des Stückes und sein Hauptdarsteller, in dem diffamatorischen Text nach Angabe seines Biographen nur einen „derben Ulk" sehen wollen, der Gelegenheit bot, „die Gegensätze der Rassen [...] unter Lachen" zu „begraben", so erkannten jüdische Zeitgenossen mit Schrecken, „was daraus folgen und die Zeit hervorbringen könne":46 Ganz abgesehen von den privaten Konsequenzen, die Verunglimpfung, Verachtung, Abscheu, Ekel und Haß für den einzelnen Juden heraufbeschwören mußten, beklagten die Berliner „Freimüthigen Blätter für Deutsche" das Sessasche Sensations- und Skandaldrama als Rückschlag für die Judenemanzipation, freute sich die Leipziger „Zei42 David Honigmann: Die deutsche Belletristik als Vorkämpferin für die Emancipation der Juden. Ein literarhistorischer Umriß. In: Der Freihafen. Hrsg. von Theodor Mündt. 7 (Altona 1844) H. 2. S. 64. 43 [Karl Borromäus Alexander Sessa:] Unser Verkehr. Eine Posse in Einem Aufzuge. Nach der Handschrift des Verfassers. 2. Aufl. mit einigen Zusätzen. Leipzig 1815. S. 3. (Uraufführung 1813 in Breslau.) Sessa hatte für das Stück den Titel „Die Judenschule" gewählt; aus Zensurgründen wurde er durch „Unser Verkehr14 ersetzt. Das Zensurexemplar ist im Stadtarchiv Berlin (West) nicht mehr vorhanden (nach Auskunft der Sachbearbeiterin umfaßt die doit aufbewahrte Sammlung von Zensurexemplaren nur Theaterstücke, die nach der Märzrevolution 1848/49 in Berlin zur Aufführung gekommen sind). Von Sessa, der 1813 starb, sind zwei weitere Possen überliefert: Die Luftschiffer. Posse in einem Aufzuge. In: Jahrbuch deutscher Nachspiele 5 (Breslau 1824) S. 289-343 und: Die Sonntagsperücke. Posse in einem Aufzuge. In: Jahrbuch deutscher Bühnenspiele 4 (Berlin 1825) S. 129-174. 44 Frenzel (Anm. 3). S. 87 - 106. - Denkler (Anm. 5). S. 142 - 145. - Lea (Anm. 3). S. 80 - 86. - In den Druckfahnen hat mir vorgelegen: Hans-Joachim Neubauer: Auf Begehr Unser Verkehr. Über eine judenfeindliche Theaterposse im Jahre 1815. In: Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss. Hrsg. von Michael Schmidt und Rainer Erb. Berlin 1987. S. 313 - 327. Außerdem konnte ich auf die ungedruckte Seminararbeit „Das judenfeindliche Denkmuster in .Unser Verkehr'" zurückgreifen, die Oliver Sichert im Rahmen meines Hauptseminars „Antisemitismus im Drama?" (Freie Universität Berlin, Fachbereich Germanistik, Wintersemester 1986/87) verfaßt hat. Für die Niederschrift des vorliegenden Aufsatzes hat mir Hans-Joachim Neubauer zusätzliches Material über Sessa zur Verfügung gestellt. Dafür möchte ich ihm danken. 45 Jüdische Romantik und Wahrheit. Von einem getauften Israeliten. Hrsg. von Julius von Voß. Berlin 1817. S. 287. - Ferdinand von Biedenfeld: Das deutsche Theater in seinen Verhältnissen zum deutschen Volke. In: Minerva (Jena 1847) S. 104. 46 Georg Altman: Ludwig Devrient. Leben und Werke eines Schauspielers. Berlin 1926. S. 148f. - Sfabattja]. J. Wolff: Wieder Juden. Sendschreiben an Herrn Julius v. Voß, veranlaßt durch die, von ihm mir gewidmete, Schrift ,die Hep Heps', zur Verteidigung der Christen. Berlin 1819. S. 42.

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tung für die elegante Welt" an seiner Tendenz, sämtliche Juden als „Sekte" bloßzustellen, die „in ihren Gebräuchen zu unsern Staatseinrichtungen" nun einmal nicht passe.47 Ob Unser Verkehr — wie Julius von Voß und Sabattja Wolff nahezulegen scheinen und der .Goedeke' unterstreicht — „das Signal" zum „Aufflammen" der ,Hep-HepStiirme' in Süddeutschland gegeben hat, 48 mag dahingestellt bleiben. Festzuhalten ist jedoch, daß die Fabel vom Aufstieg und Fall des (irrtümlich zum Lotterielosgewinner erklärten) jüdischen Trödlers Jakob Hirsch judenfeindliche Ressentiments zu schüren weiß und bereits antisemitische Denkmuster vorwegnimmt. Denn sie unterstellt den Juden aller Gesellschaftsschichten und Assimilationsgrade die gleiche Besitzgier, Machtlust und Genußsucht, ordnet sie einem kollektiven, rassisch verkitteten Stammesverbund zu, spricht ihnen jegliche soziale Integrationsfähigkeit ab und warnt vor den ökonomischen, politischen, kulturellen und sozialen Gefahren des .Verkehrs' mit den „Pauchern [d.h. Kerlen] vom Soomen Israel". 49 Wer sich mit ihnen einlasse, so suggeriert das Stück, habe nicht nur mit materiellem Schaden zu rechnen, weil die Juden ausgezogen seien, sich ihr „Erbtheil" von „de raiche Gois [d.h. Christen]" zu nehmen; er müsse auch um seine gesellschaftliche Vorrangstellung fürchten, hätten die Juden doch erkannt: „Mit en Gelde kummt der Verstand, mit en Gelde de Gewalt und de Tugend und's Recht!" 5 0 Besonderen Nachdruck erhält diese Botschaft durch das dramatische Geschick des Autors. Er hat es nämlich verstanden, populäre Vorurteile wie Geiz, Gewinnsucht, Feigheit, Geilheit in handlungsstiftende Motive zu überführen, stereotype Personenklischees zu profilierenden Charakterisierungsmerkmalen zu verdichten, gängige Jargonfetzen zur sozialhistorisch treffsicheren Dialogsprache zusammenzuschweißen und das banale Einortgeschehen mit dem abgeschmackten Mittelpunkthelden zur Herausforderung für effektlüsterne Schauspieler, zum Anreiz für schadenfrohe Zuschauer zu gestalten. Was Wunder, daß ein Berliner Anonymus dieser handwerklich perfekten Posse 1816 die „Stillung" des „Heißhungers" nach dem komödiantischen „Mimus" zugute hielt und von der „vis comica" der „Israeliten" auf der Bühne die Wiedergeburt des vertriebenen Hanswurst erwartete, der dem ersehnten norddeutschen Volksstück zum Durchbruch verhelfen sollte.51 47 Die Juden und .unser Verkehr' in staatsrechtlicher Hinsicht. In: Freimüthige Blätter für Deutsche 2 (Berlin 1816) H. 5 - 8. S. 132 - 136. - Fr. K. Jul. Schütz: Ueber die Posse: .Unser Verkehr', und ihren Verfasser. BeschluB. In: Zeitung für die elegante Welt (Leipzig 6.11.1815) Sp. 1748. 48 Julius von Voß: Die Hep Heps in Franken und anderer Orten. Teutonien [Berlin?] 1819. - Wolff: Wieder Juden (Anm. 46). - Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Hrsg. von Cari Diesch. Bd. 11. 2. Aufl. Düsseldorf 1951. S. 435. 49 Sessa (Anm. 43). S. 11. 50 Ebd. S. 11 und 73. 51 [Anonym:] Geschichte eines Heißhungers (Anm. 24). S. 28, 24 und 38f.

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Mit solchem Erfolg konnten sich die projüdischen Trauerspiele Der Paria (1826) von Michael Beer, Lea (1848) von Albert Dulk und Clothar und Sulamith (1835) von Sigismund Wiese nicht messen.52 Wie David Honigmann 1844 zutreffend festgestellt hat, verschleierte Beer in seiner allzu „diplomatischen Tragödie" die „scharfe politische Beziehung" zur „Gegenwart" der „europäischen Judenfrage", indem er auf „weit hergeholte" Analogien aus dem fernen Indien zurückgriff und sich die Möglichkeit zu aktuell-tendenziösen Anspielungen durch die klassizistische Strenge der harmonisch abgerundeten Form beschnitt: „Michael Beer hatte die Kraft, aber nicht den Muth [...], der Vorkämpfer einer Partei zu sein [...]." 53 Dulk und Wiese verfügten dagegen über den Mut ohne die Kraft. Der erstere steigerte den Prozeß gegen den jüdischen Hoffaktor und Finanzminister Joseph Süß Oppenheimer zur dramatischen Abrechnung mit dem unmenschlich-bigotten „.Christenthum'" und dem christlichen Staat. 54 Der letztere ließ den auf partnerschaftliche Geschlechtsliebe gegründeten Versöhnungsversuch zwischen Juden und Christen im Blut der Verfeindeten versinken. Beide warben für die Freiheit und Gleichheit aller Volksgruppen; ihre jambischen Appelle erschöpften sich jedoch in leerem Pathos und blieben Papier, zumal der ästhetische Höhenflug der Tragödiensprache keine Abstecher in die publikumswirksamen Niederungen des pittoresken Juden-Mimus erlaubte. Nach Maßgabe der Aufführungsdaten und Nachspielserien55 hat nur eine tragisch-ernste Spielhandlung mit projüdischer Tendenz Sessas judenfeindliche Posse ausstechen und ihren Erfolg übertreffen können: Jacques Fromental Halévys historische Oper Die Jüdin mit dem Libretto von Eugène Scribe in den Übersetzungen von Carl August von Lichtenstein und Friederike Ellmenreich.56 Vom Rache- und Blutdurst spätmittelalterlicher Christen getrieben, läßt sich die Titelheldin Recha, eine jüdisch aufgezogene Christin, mit ihrem jüdischen Pflegevater Eleasar hinrichten: Sie hilft ihm damit nicht nur, sich an ihrem leiblichen christlichen Vater für dessen Judenverfolgungen zu rächen, sondern bekräftigt so zugleich ihr Bekenntnis zum gemeinsamen 52 Michael Beer Der Paria. Trauerspiel in einem Aufzuge. In: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Eduard von Schenk. Leipzig 1835. S. 233 - 284. - Albert Dulk: Lea. Drama in fünf Aufzügen nach Wilhelm Hauffs Novelle ,Jud Süß'. In: Sämmtliche Dramen. Hrsg. von Emst ZieL Bd. 1. Stuttgart 1893. S. 375 - 488. - Sigismund Wiese: Clothar und Sulamith. Trauerspiel in drei Acten. In: Drei Trauerspiele. Leipzig 1835. S. 217 - 306. 53 Honigmann (Anm. 42). S. 65f. 54 Dulk (Anm. 52). S. 488. 55 Carl Friedrich Wittmann: Einleitung. In: Jacques Fromental Halévy: Die Jüdin. Oper in fünf Aufzügen. Dichtung von Eugen Scribe (Lichtenstein - Ellmenreich). Leipzig o. J. (= Reclams UB, 2826). S. 24f. 56 Halévy: Die Jüdin. Große Oper in fünf Aufzügen. Nach dem Französischen des Scribe, übersetzt von Baron von Lichtenstein. Text der Gesänge. Leipzig o. J. [um 1835]. Ders. (Anm. 55).

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jüdischen Glauben: „Muß ich auch unterliegen, / Wankt doch mein Glaube nicht.", singen beide in Lichtensteins Fassung, während die Ellmenreichsche Version diese Zeilen für Eleasar vorbehält und Recha ergänzen läßt: „Was versagt mir hienieden, / Beut der Himmel mir!" 57 Die tragischen Helden erwarten von ihrem Gott aber nicht nur himmlisches Heil; sie vertrauen auch darauf, daß er seinem Volk „einst / Freiheit und Ruhm und Macht" gewähren bzw. es „zu rächen wissen" werde. 58 Verstärkt durch eine eklektizistisch-effektvolle Partitur, die der herkömmlichen Baßpartie des Heldenvaters Eleasar eine Tenorstimme zugesteht, ist das melodramatische Rührstück zur ,Trotz-Oper' gegen christliche Judenmission, Judenunterdrückung und Judenverfolgung gesteigert und als .große Oper' ermächtigt, mit geballten Bühnenmitteln die Rechte der Juden szenisch einzuklagen. Theaterwirksame Zugstücke, die „die Sitte der Gegenwart zeichnen" und die Zuschauerräume füllen, 59 wollte schließlich auch Julius von Voß, einer der fruchtbarsten Bearbeiter gängig-einschlägiger Juden-Motive, verfassen. Suchte er mit dem Lustspiel Die Griechheit (1807) die Berliner Salonjüdinnen zu treffen, indem er den „Eigennutz" und die „prosaische Natur" der „idealischen" Kulturschwärmerin Rahel Joab bloßstellte, 60 prangerte er in dem Marionettenspiel Das Judenkonzert in Krakau (1826) „die jüdische Spekulirkunst auf Kunst" (mit kostspieligen fremden Virtuosen zum Nachteil heimischer Künstler) an, die er den Aktionären des 1824 eröffneten Königstädtischen Theaters in Berlin vorwerfen zu müssen glaubte.61 Doch wie er sich 1819 unter dem Eindruck der süddeutschen Judenpogrome mit einer judenemanzipatorischen Programmschrift gegen Die Hep Heps in Franken und anderer Orten wandte und sich wehrte, wegen seiner Verwendung der Jüdischen Carricatur in Schauspielen und Romanen" zu den Judenfeinden gezählt zu werden,62 so setzte er 1816 der Sessaschen „Judenfarze"63 die Posse Euer Verkehr entgegen, in der Einzelheiten des Berliner Aufführungsskandals herangezogen sind, um den Spieß herumzudrehen, die Raffgier und Gesinnungslosigkeit der „Christen" aufzudecken und die Juden .zuletzt' und mithin ,am besten' lachen zu lassen.64 Verunsichernd und 57 58 59 60 61

Fassung Lichtenstein (Anm. 56). S. 51. - Fassung Ellmenreich (Anm. 55). S. 108. Fassung Lichtenstein (Anm. 56). S. 44. - Fassung Ellmenreich (Anm. 55). S. 96. Julius von Voß: Vorrede. In: Lustspiele. Bd. 1. Berlin 1807. S. I f. Ders.: Die Griechheit. Original-Lustspiel in fünf Aufzügen. Ebd. S. 120 und 58. Ders.: Das Judenkonzert in Krakau. Marionettenspiel in Einem Aufzug. In: Neue Possen und Marionettenspiele. Zur Erschütterung des Zwerchfells. Berlin 1826. S. 277. - Vgl. Goedeke (Anm. 48). S. 554 und 565 sowie Gerhard Wahnrau: Berlin Stadt der Theater. Der Chronik I. Teü. Berlin 1957. S. 334 - 351. 62 von Voß: Die Hep Heps (Anm. 48). S. IV. 63 [Anonym:] Geschichte eines Heißhungers (Anm. 24). S. 16. 64 von Voß: Euer Verkehr. Posse in einem Aufzug. Gegenstück zur .Judenschule' oder .Unserm Verkehr', von Herrn Dr. Sessa. In: Possen und Marionettenspiele. Zur Er-

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bestürzend wirkt jedoch, daß der Autor seine szenische Argumentationshilfe für die beleidigte jüdische Minderheit in einem Dramenband mit zwei weiteren Juden-Possen drucken ließ, die wiederum judenfeindliche Vorurteile schüren. Die Frankfurter Messe (1816), lokalisiert in Frankfurt an der Oder und damit dem Ostjudentum nähergerückt, führt neben gleichgearteten und gleichgesinnten Christen vor allem Juden und Jüdinnen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten beim Warenhandel oder Heiratsgeschäft vor, wobei die Sachen und die Personen weniger an ihrem Wert als an ihrem Preis gemessen werden.65 Das Mährchen von der Tonne (1816) verknüpft die stereotypen Vorwürfe jüdischer Habsucht und Geschlechtsgier, bestraft den Kaufmann Abraham für seinen „unbarmherzigen Wucher" und seinen „Wollustkitzel" mit großem „Schoden", gibt ihm den Stoßseufzer ein: „Ich wollt, ich hätt können bezwingen meine Natur." und läßt seine Überwinder jubeln: „Das Werk ist vollendet, / Der Jude geprellt, / Die Noth hat geendet, / Geregnet das Geld."66 Daß diese Szenen „zur Erheiterung in trüben Stunden" dienen konnten, wie der Autor mit dem Untertitel seiner Dramensammlung versprach,67 mögen pointensichere Dialoggestaltung und Handlungsführung gewährleistet haben; ob er mit der Absichtserklärung durchgedrungen ist, er wolle mit Hilfe von Juden-Karikaturen den „Israeliten" die „Wahrheit" sagen und sie in ihrem eigensten Interesse bessern und veredeln,68 erscheint zweifelhaft. Denn der volkserzieherische Anspruch des Spätaufklärers von Voß wurde — wie es im „Allgemeinen Theater-Lexikon" 1842 bedauernd heißt — nur allzu deutlich von seiner Neigung zu anstößigem „Cynismus" durchkreuzt.69 Darüber hinaus stellen sich mit seinen ideologisch zwiespältigen und wirkungsintentional auseinanderdriftenden, aber dramentechnisch gelungenen Juden-Possen grundsätzliche Fragen, die auch für andere dramaturgisch perfekte Juden-Stücke gelten: Dürfen und können die ins Tragische, Tragikomische oder Komische getriebenen ,Theater-Juden' mit jener „ästhetischen Freiheit" betrachtet, genossen und gewürdigt werden, die Julian Schmidt nach Erlaß der Emanzipationsgesetze für gegeben hielt?70 Ist solcher skrupellosen Unbefangenheit die moralische Legitimation nicht endgültig seit dem Holocaust zu verweigern? Vielleicht heiterung in trüben Stunden. Berlin 1816. S. 325f. 65 Ders.: Die Frankfurter Messe. Posse in zwei Aufzügen. Ebd. S. 1 - 108. 66 Ders.: Das Mährchen von der Tonne. Fastnachtsposse in drei Aufzügen. Ebd. S. 131 194; S. 192, 190, 163 und 193. 67 VgLAnm. 64. 68 von Voß: Die Hep Heps (Anm. 48). S. V. - Ders.: Das Judenkonzert in Krakau (Anm. 61). S. 291f. 69 Dg. [Heinrich Döring?]: Julius von Voß. In: Allgemeines Theater-Lexikon oder Encyklopädie alles Wissensweithen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreunde. Hrsg. von R[obert]. Blum, K[arl]. Herloßsohn und H[errmann]. Marggraff. Bd. 7. Altenburg und Leipzig 1842. S. 179. 70 Schmidt (Anm. 1). S. 25.

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läßt sich am besten mit einer Antwort leben, die Betroffenheit, Rezeption svergniigen und Bewältigungspflicht gleichermaßen respektiert: .Trauerarbeit' ist nur zu leisten, wenn mit der Aufarbeitung deutscher Vergangenheit auch das gesamte literarische Erbe als ästhetisch gestaltetes Zeugnis deutscher Wahrnehmungs-, Bewußtseins- und Projektionsgeschichte angetreten und die mitvermachten Hypotheken nicht ausgeschlagen werden. Das schließt — wie Ruth K. Angress 1986 unterstrichen hat — die Bereitschaft ein, „sich mit moralischen und ästhetischen Widersprüchlichkeiten [...] auseinanderzusetzen". 71 Wer seiner eigenen Geschichte ins Auge sehen will, darf sich nicht vor dem Gorgonenantlitz fürchten, das ihm aus den literarischen Quellen entgegenstarren mag. Und er sollte sich nicht wundern, wenn es außer seiner Schreckensmiene auch eine lustig-lächerliche Grimasse zeigt: Verstörend wirken sie beide. Doch versteinern lassen sollten wir uns von ihnen nicht. Nachbemerkung Die Ursachen, die Vielfalt und die Wirkungen der ,Juden-Dramen' in der Metternichschen Restaurationsperiode sind noch weitgehend unerforscht. Auch hier sollte nur auf die Menge einschlägiger Stücke und entsprechender Rollenfiguren hingewiesen und damit zu weiterführenden Untersuchungen angeregt werden. Daß in deren Verlauf territoriale Sonderbedingungen wie Zensurverhältnisse und Theaterzustände zu beachten wären, versteht sich von selbst. Darüber hinaus müßten jedoch auch lokalgeschichtliche Eigenentwicklungen berücksichtigt werden. Welche Folgen sich aus ihnen ergeben konnten, zeigt sich an einem Beispiel aus der Theatergeschichte der Stadt Berlin. Dort hatte — wie Ludwig Reilstab in seinem Stadtführer Berlin und seine nächsten Umgebungen (Darmstadt 1852) berichtet — ein „Particulier jüdischer Religion" (65), nämlich Friedrich Cerf, 1822 die Konzession für das Königstädtische Theater erhalten und sie einem „Aktienverein" (66) übertragen, der die Geldmittel für den 1824 beginnenden Spielbetrieb bereitstellte: „Da das Theater gewissermaßen jüdischen Ursprungs war, viele jüdische Banquiers sich in der neuen Aktiengesellschaft und auch im leitenden Personal befanden, so wurden auch der Spöttereien aus diesem Fundament her viele in Bewegung gesetzt. Wie wenig sie sich davor scheue, wie gleichgültig sie dagegen sei, zeigte die Verwaltung dadurch, daß sie selbst ein Stück, in dem das jüdische Element, und der Scherz, der damit getrieben wird, die Grundlage bildete, zur Aufführung brach71 Ruth K. Angress: Wunsch- und Angstbilder. Jüdische Gestalten aus der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VU Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Hrsg. von Albrecht Schöne. Bd. 1. Tübingen 1986. S. 96.

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te, ,die polnische Schenke' [von Louis Angely], in der namentlich [Heinrich Ludwig] Schmelka den gemeinen Juden unvergleichlich charakteristisch darstellte." (67 f.) Diese „geschickten und kecken Manövres" (68) mögen mit dazu beigetragen haben, daß die ,Theater-Juden' in die Berliner Lokalpossen eingedrungen sind und sich als Standard-Figuren im Berliner Possen-Repertoire bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts behauptet haben.

Jürgen Hein (Münster i.W.)

Judenthematik im Wiener Volkstheater

Hinsichtlich Material- und Forschungslage sowie Methode sind ein paar Vorbemerkungen zu machen. Für die hier ins Auge gefaßte Thematik fehlen Vorarbeiten und Analysen.1 Die Schwierigkeiten beginnen auf 1

Zum Wiener Volkstheater allgemein vgl. Otto Rommel: Die Alt-Wiener Volkskomödie. Ihre Geschichte vom barocken Welttheater bis zum Tode Nestroys. Wien 19S2. Jürgen Hein: Das Wiener Volkstheater. Raimund und Nestroy. Darmstadt 1978 (= Erträge der Forschung, 100). - Zur Klärung literarischer Zusammenhänge und methodische Fragen wurden folgende Titel benutzt: Leif Ludwig Albertsen: Der Jude in der deutschen Literatur 1750-1850. Bemerkungen zur Entwicklung eines literarischen Motivs zwischen Lessing und Freytag. In: Arcadia 19 (1984) S. 20-33. - Ruth Κ. Angress: Wunsch- und Angstbilder. Jadische Gestalten aus der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. In: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Bd. 1. Tübingen 1986. S. 84-87. - Elisabeth Frenzel: Judengestalten auf der deutschen Bühne. Ein notwendiger Querschnitt durch 700 Jahre Rollengeschichte. München 1940. - Helmut Jenzsch: Jüdische Figuren in deutschen Bühnentexten des 18. Jahrhunderts. Eine systematische Darstellung auf dem Hintergrund der Bestrebungen zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden, nebst einer Bibliographie nachgewiesener Bühnentexte mit Judenfiguren der Aufklärung. Diss. Hamburg 1974. - Jüdische Komponenten in der deutschen Literatur — die Assimilationskontroverse. Hrsg. von Walter Röll, Hans-Peter Bayerdörfer. In: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Bd. 5. Tübingen 1986. S. 105-265. - Charlene A. Lea: Emancipati«!, assimilation and stereotype. The image of the Jew in German and Austrian Drama (1800-1850). Bonn 1978 (= Modem Gemían Studies 2). - Stéphane Moses/Albrecht Schöne (Hrsg.): Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion. Frankfurt/M. 1986. Marcel Reich-Ranicki: Ober Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur. München 1973. - Egon Schwarz: Schmelztiegel oder Hexenkessel? Juden und Antisemiten im Wien der Jahrhundertwende. In: E. Sch.: Dichtung, Kritik, Geschichte. Essays zur Literatur 1900-1930. Göttingen 1983. S. 27-47 (zuerst in englischer Sprache in: David Bronsen [Ed.]: Jews and Germans from 1860 to 1933: The problematic symbiosis. Heidelberg 1979. S. 262-287). - Joannes Wilhelmus Heniicus Stoffers (Wilhelm Stoffers): Juden und Ghetto in der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Weltkrieges. Diss. Nijmegen 1939 [Graz 1939 (= Deutsche Quellen und Stadien 12)]. Herbert A. Strauss und Christhard Hoffmann (Hrsg.): Juden und Judentum in der Literatur. München 1985. - Rose Schipper Wightman: The changing image of the Jew as reflected in the German Drama in the time von Lessing and Heine. Diss. Wayne State Univ. 1967. - W. Edgar Yates: Das Vorurteil als Thema im Wiener Volksstück. In: Jürgen Hein (Hrsg.): Theater und Gesellschaft. Das Volksstück im 19. und 20. Jahrhundert Düsseldorf 1973 (= Literatur in der Gesellschaft 12), S. 69-79. Die genannte Literatur berücksichtigt das Volksstück so gut wie nicht; für die Quellenerfassung ist man z.T. auf tendenziell gefärbte oder antisemitische Literatur angewiesen. Den Zusammenhängen zwischen Volkstheater und Populärliteratur, darunter auch der Jugendliteratur, ist noch nachzugehen, vgl. dazu Heinrich Pleticha (Hrsg.): Das Bild des Juden in der Volks- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis

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der institutionellen Seite des Volkstheaters, das ja — anders als die .Literatur' — als Massenmedium ganz andere und unmittelbare Wirkungen hat, was sowohl für die .Konfiguration Jude' als auch für die Darstellung der spezifischen Thematik des Selbstbestimmungs- und Assimilationsprozesses von besonderer Bedeutung ist. Es fehlen Repertoirebeschreibung und Spielplananalysen, Untersuchungen zu Autoren, Publikum, Zensur und Theaterkritik unter dieser Perspektive. Auch gattungspoetische, funktionale und stilistische Fragen sind noch zu beantworten, so etwa Bewertung und Wandel des Volksstücks, seine unterschiedlichen Funktionen zwischen bloßer Unterhaltung, pädagogischem Anspruch der Vermittlung sozialer und anderer Gegensätze, sozialkritischer Intentionen und politischer Tendenz, die Übergänge und Parallelen zu anderen theatralischen Formen (Posse, Schwank, Oper und Operette), die sprachliche Differenzierung (z.B. durch .Judendeutsch' oder Jiddisch), ferner wirkungsästhetische Momente (z.B. Funktion der Judendarstellung in der .Lachkultur' des Volkstheaters; philosemitische Aufklärung und antisemitische Tendenzen; Klischeebildung und Typisierung ohne erkennbare Wertung). Das Volkstheater erreichte eine andere Öffentlichkeit als die des Lesepublikums und ist mit seiner konkreten Vergegenwärtigung von Figuren, Sprache und Handlung auch für ein anderes Judenbild verantwortlich. Seine theatralischen Gattungen — Lokalstück, Posse, Parodie, Zauberspiel, Lebens- und Charakterbild, Volksstück — zeichnen sich durch eine besondere Dramaturgie aus, die in der Fiktion immer Anlässe schafft, auf die zitierte und ins Spiel gebrachte aktuelle Zeitwirklichkeit zu blicken. Dies gilt vor allem für die Räsonnements der Komischen Figur und die fiktionsbrechenden musikalischen Einlagen. Die Stücke hatten auch die Funktion, das Publikum interessierende Stoffe und Themen sowie Ereignisse der Realität für das Vorstadttheaterpublikum in theatralischer Form zu .transportieren'. Die Autoren bedienten sich dabei häufig bereits populärer Literatur und partizipierten von Bearbeitungen des internationalen Unterhaltungstheaters (z.B. Roman-, Melodram-, Opern- und Vaudeville-Adaptionen, z.T. mit lokaler oder regionaler Akzentsetzung). All dies müßte für die hier interessierende Problematik erst aufgearbeitet werden, ebenso der Zusammenhang mit anderen Formen theatralischer Volkskultur (z.B. Volksschauspiel, Brauchtumsspiel, Puppenspiel) sowie Parallelen oder 1945. Würzburg 1985 (= Schriftenreihe der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur Volkach e.V., 7). - Beate Ori and: Literarische Klischees als Humus für Antisemitismus. Jude und Judentum in der Trivialliteratur des Vormärz. In: forschung. Mitteilungen der DFG. 1987. H. 1, S. 4-7. Zur sprachlichen Analyse sei zuletzt hingewiesen auf: Hans Peter Althaus: Das Jiddische als Stilmittel in der deutschen Literatur. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 100 (1981). Sonderband. S. 212-232, der die Frankfurter Lokalposse, nicht aber das Wiener Volkstheater erwähnt.

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Unterschiede zum Volkstheater anderer Städte und Regionen. Ein oberflächlicher Blick auf die Geschichte des Wiener Volkstheaters zeigt: Es kommen kaum Juden vor, ihre Lebenswelt wird in nur wenigen Stücken thematisiert, es gibt so gut wie keine Autoren jüdischer Abstammung, aber Juden haben als Publikum, in der Theaterkritik, vielleicht auch im Bereich des Unternehmerischen, eine wichtige Rolle im Theaterbetrieb gespielt. Nach übereinstimmenden Berichten gab es im Theater in der Leopoldstadt (später: Carltheater) einen hohen Anteil jüdischer Besucher, und zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden Juden als Künstler und Publikum gleichermaßen zur Zielscheibe von deutschnationalen, antisemitischen Angriffen im Zusammenhang der VolkstheaterNeugründungen. Auf dem Hintergrund der z.T. gut dokumentierten Geschichte der Juden in Wien überrascht der geringe literarische Niederschlag im Volksstück, insbesondere bis zum Jahre 1848. 2 Von den in den Theaterkatalogen nachgewiesenen, nur zum kleineren Teil gedruckten, z.T. verschollenen unzähligen Stücken des Wiener Volkstheaters bis 1850 und den im repräsentativen „Wiener Theater-Repertoir" (1853-1887) enthaltenen über 380 Stücken sind kaum über zwanzig mit jüdischer Thematik und nicht viel mehr mit jüdischem Personal. 3 In Moriz Enzingers Bestandsaufnahme der Motive und Stoffe fehlt der Hinweis auf die Thematik.4 Weitaus die meisten, vor allem die ungedruckten Stücke wären noch unter dieser Perspektive zu erfassen und zu analysieren. Wo Posse, Lebensbild und Volksstück sonst mit wirk2

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Zur Geschichte der Wiener Juden vgl.: Ludwig Bato: Die Juden im Alten Wien. Wien 1928. - John Bunzl/Bemd Martin: Antisemitismus in Österreich. Sozialhistorische und soziologische Studien. Innsbruck 1983. - Anna Drabek et al.: Das österreichische Judentum. Voraussetzungen und Geschichte. Wien, München 1974. - Hugo Gold: Geschichte der Juden in Wien. Ein Gedenkbuch. Tel-Aviv 1966. - Wolfgang Häusler: Der Weg des Wiener Judentums von der Toleranz zur Emanzipation. In: Jahrbuch des Vereines für Geschichte der Stadt Wien 30/31 (1974/75) S. 84-124 [mit Quellen und weiterführender Literatur]. - Ders.: Sigmund Engländer - Kritiker des Vormärz, Satiriker der Wiener Revolution und Freund Friedrich Hebbels. In: Walter Grab/Julius H. Schoeps (Hrsg.): Juden im Vormärz und in der Revolution von 1848. Stuttgart, Bonn 1983 (= Studien zur Geistesgeschichte 3). S. 83-137. - Sigmund Mayer: Die Wiener Juden. Kommerz, Kultur, Politik 1700-1900. Wien und Berlin 1917. Österreich im Jahre 1840. Staat und Staatsverwaltung, Verfassung und Cultur. Von einem österreichischen Staatsmanne. Leipzig 1840. Bd. 2. S. 38-59. - Hans Tietze: Die Juden Wiens. Geschichte, Wirtschaft, Kultur. Wien, Leipzig 1933. - Gerson Wolf: Geschichte der Juden in Wien (1156-1876). Wien 1876. Vgl. Kail Goedeke: Gmndriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Bd. 11, 2. Düsseldorf 2 1953. - Franz Hadamowsky et al.: Katalog der „Alten Bibliothek" des Theaters an der Wien. Wien 1928 (= Kataloge der Theatersammlung der Nationalbibliothek Wien, 1). - Den.: Das Theater in der Wiener Leopoldstadt 1781-1860. Bibliotheks- und Archivbestände in der Theatenammlung der Nationalbibliothek Wien. Wien 1934 (= Kataloge der Theatersammlung [...], 3). - Wiener Theater-Repertoir. 383 Lieferungen. Wien 1853-1887. Moriz Enzinger: Die Entwicklung des Wiener Theaters vom 16. zum 19. Jahrhundert. (Stoffe und Motive). 2 Teile. Berlin 1918/19 (= Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte, 28/29).

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lichkeitsgesättigtem Lokal und aktueller Thematik aufwarten, scheint die jüdische Thematik ausgespart, und es stellt sich die Frage, warum hier die sonst feststellbare Kongruenz zwischen sozialgeschichtlicher Entwicklung und Possenwirklichkeit fehlt. Für diesen ersten Versuch eines Überblicks und Forschungsberichtes wurden folgende Stücke ermittelt, die allerdings nicht alle eingesehen werden konnten: 1771 Josef Felix von Kurz-Bernardon: Die [lustige] Judenhochzeit oder Bernardon, der betrogene Rabiner. Ein komisches Singspiel. 1774 Josef von Pauersbach: Der redliche Bauer und großmütige Jud oder der glückliche Jahrtag. Lustspiel. 1791 Karl Friedrich Hensler: Das Judenmädchen von Prag. Originallustspiel. Fortsetzung: Die israelitische Braut oder Papillons Abenteuer (1793). 1798 Richard Cumberland: Der Jude. Aus dem Englischen übersetzt (mehrere Fassungen, u.a. 1847, 1851). 1803 Josef Ferdinand Kringsteiner: Der Jude von Frankfurt. Lustspiel. 1807 Gottfried Julius Ziegelhauser: Die Juden. Eine bürgerliche Szene. 1809 K. Hampel: Die Judenhochzeit von Nikolsburg. Eine komische Pantomime. 1810 Josef Alois Gleich: Moses in Egypten. Historisches Schauspiel. 1814 Adolf Bäuerle: Kursspekulanten (auch u.d.T. Der edle Jude). 1817 P. Rainoldi: Judith und Holofernes. Mimisches Tableau. 1833 Franz Xaver Told: Das Judenmädchen von Frankfurt (nach Spindlers Roman Der Jude). 1848 K. Schmidt: Der ewige Jude. Dramatisches Gemälde (nach Sue). 1849 Salomon Hermann Mosenthal: Deborah. Volksschauspiel. Johann Nepomuk Nestroy: Judith und Holofernes. Travestie mit Gesang. 1859 O. F. Berg (Ottokar Franz Ebersberg): Einer von unsere Leut'. Posse mit Gesang. Johann Heinrich Miraiii: Eine Judenfamilie. OriginalCharakterbild. 1866 Carl Elmar (Carl Swiedack): Ein jüdischer Dienstbote. Charakterbild. 1867 Friedrich Kaisen Neu-Jerusalem. Original-Zeitbild. 1869 L. Rosenfeld: Der letzte Jude. 1871 O.F. Berg: Isaak Stern (Neufassung von Einer von unsere Leut"). O.F. Berg: Nr. 28. Lebensbild mit Gesang. Hugo Müller: Onkel Moses. Ludwig Anzengruber: Der Meineidbauer [Hausierer Levy], Aufgrund der gedruckten Stücke ergibt sich als grober Überblick vom 18. bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, wobei man keinesfalls von einer Entwicklung sprechen kann: Die frühen Stücke nach dem noch in der Hanswurst-Tradition stehenden Theater von Kurz sind Lehrstücke, die den Toleranzgedanken in volkstümlicher Handlung veranschaulichen und die Figur des „edlen Juden" aus der Aufklärungsdramatik übernehmen. 5 Die Dramatiker der Kongreß- und Nachkongreßzeit, vor allem Adolf Bäuerle, Karl Meisl und Josef Alois Gleich mit zusammen fast 500 Stücken, lassen vereinzelt Juden im lokalen Milieu auftreten. Es S

Vgl. die vorbildliche Untersuchung von Jenzsch (Anm. 1).

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gibt Hinweise auf Juden als Händler und Tandler; der Jude als literarische oder soziale Konfiguration scheint aber für das Volkstheater kein Thema gewesen zu sein, allerdings gibt es Belege dafür, daß die Theaterzensur hierfür mitverantwortlich war. 6 Dies ist vielleicht auch der Grund dafür, daß in Raimunds Werk, soweit ich sehe, kaum Juden vorkommen noch auf sie angespielt wird. In Die unheilbringende Zauberkrone (1829) merkt in I, 13 die Komische Figur zum Stichwort „verhandeln" an: „Zu verhandeln, sagt er. Auf die Letzt halten s' uns für Juden" (SW II, S. 255). Raimunds Vermeiden des Konflikts mit der Zensur ist bekannt, und er galt als .Vollender' des Wiener Volksstücks. In einem der meistgespielten Zauberstücke der Zeit, dem in der Raimund-Nachfolge stehenden Der Zauberschleier (1842) von Franz Xaver Told, bis 1849 400 mal aufgeführt, tritt der geldleihende Jude Aron ohne jegliche wertende Anspielung auf. Juden scheinen zum selbstverständlichen Wiener Alltag in der Vorstadt gehört zu haben, man brauchte sie im Theater nicht eigens hervorzuheben. Auf Nestroy und die Sonderstellung seiner Travestie Judith und Holofernes innerhalb der hier skizzierten Bestandsaufnahme komme ich später zu sprechen. Wichtig für das Volkstheater ist auch Salomon Hermann Mosenthals Volksschauspiel Deborah geworden, das die im Umkreis der Revolution von 1848 wiederbelebte Vorurteils-Thematik aufgreift und an die Toleranz appelliert. In den .Tendenzstücken' nach 1850, vor allem bei Kaiser, Berg und Elmar, finden wir theatralisch idealisierte Verwirklichungen des Emanzipations-, Assimilations- und Toleranzgedankens, bestimmen christliche und jüdische Handlungsträger das Geschehen. Bei Anzengruber, dem letzten Glied der Kette und vergeblichen (?) „Reformator" des Volksstücks, spielt in Der Meineidbauer ein Jude nur noch eine Nebenrolle. Trifft dies eher die Realität als die Verklärungen in den tendenziellen „Zeitbildern"? Der sogenannte Niedergang des Volkstheaters nach 1850, von der Forschung heute relativiert und unter anderem Blickwinkel als neue produktive Phase gesehen, wird mit der veränderten Publikumsstruktur und den gewandelten Bedürfnissen nach Operette und internationaler Unterhaltung begründet, insbesondere auch durch das rapide Anwachsen der Bevölkerung Wiens in Zusammenhang gebracht, wobei die verschiedenen Nationalitäten innerhalb des Vielvölkerstaates in gegenseitige Konkurrenz traten. Wien hatte 1820 260.000, 1850 426.000 und Mitte der sechziger Jahre ca. 600.000 Einwohner, wobei nach Schätzungen der Anteil der Juden von 3,4 % in den vierziger Jahren auf etwa 10 % bis zum Ende des Jahrhunderts anstieg. Welche Rolle die Juden im Kampf 6

Vgl. Yates (Anm. 1), Hein (Anm. 1). - Nestroy hat auf Veranlassung der Zensur oder durch .Vorzensur' beim Aufuittslied des Lips in Der Zerrissene (1844) den „ewigen Juden" ebenso verändert wie den Titel Zwei ewige Juden für einen (1846), eine SueBearbeitung, die dann unter dem Titel Der fliegende Holländer zu Fuß aufgeführt wurde!

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um eine auch kulturelle Gleichberechtigung spielten, kann man an den Hetzkampagnen im Umkreis der neuen Theatergründungen zur .Hebung' des Volksstückes ablesen (1893: Raimundtheater, 1889: Deutsches Volkstheater, 1898: Kaiser-Jubiläum-Stadttheater); das Stadttheater wurde gar als „antisemitisches Hetztheater" bezeichnet.7 Zurück zum eigentlichen Wiener Volkstheater der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als welches das Leopoldstädter Theater galt; die Leopoldstadt war neben der Inneren Stadt der Teil Wiens, in dem die meisten Juden wohnten. Eine Analyse des Spielplans und der Stücke dieses Theaters ergibt jedoch keine spezifische Einstellung auf einen als sicher anzunehmenden größeren jüdischen Zuschaueranteil. War die Darstellung jüdischen Milieus und der Assimilationsproblematik für das Volksstück nicht interessant oder relevant, hat gar, wie zu vermuten, die Theaterzensur entsprechende Charakterisierungen und Lokalisierungen unmöglich gemacht, oder praktiziert das Volkstheater in der Zusammensetzung des Publikums und im Spielplan bereits die in der Realität noch auf Konflikte stoßende Integration und verzichtet daher auf eine besondere Herausstellung der Juden oder jüdischer Thematik auf der Bühne? Dies muß aufgrund der Quellen- und Forschungslage ebenso eine Frage bleiben wie die, ob hier ein bewußter Verzicht auf möglicherweise provozierende Abbilder Leopoldstädter Juden vorliegt, um den Prozeß der Gleichstellung nicht zu gefährden. Gerade das auffällige Nicht-Vorkommen der Juden auf dem Theater muß als Symptom gewertet werden. Freilich muß man auch sehen, daß das nichtsubventionierte Theater um seiner Existenz willen auf sein Stammpublikum angewiesen war und es nicht durch einseitige Tendenz spalten durfte. Vielleicht liegt hier schon eine Antwort auf die gestellten Fragen.8 Juden in Wien, Wiener Juden, Juden und ,Volk', Juden als Volk im Vielvölkerstaat: wie immer man auch den Akzent setzt, was Thematik und Personal sowie Autoren angeht, ist der Niederschlag im Volksstück angesichts der sozialgeschichtlichen Bedeutung gering. Wohl hat es im Kulturbetrieb von Sonnenfels bis Saphir, Frankl und Engländer eine Reihe, meist getaufter, Juden gegeben, die für die Entwicklung der Gattung des Volksstücks und deren literaturkritische Bewertung wichtig gewesen sind. Wenn in Volksstücken bis 1850 Juden im Personal vorkommen, wobei 7

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Vgl. Richard S. Geehr: Adam Müller-Guttenbrunn and the Aryan Theater of Vienna: 1898-1903. The Approach of Cultural Fascism. Göppingen 1973 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 114). - Johann Hüttner: Volkstheater als Geschäft. Theaterbetrieb und Publikum im 19. Jahrhundert. In: Jean-Marie Valentin (Hrsg.): Volk Volksstück - Volkstheater im deutschen Sprachraum des 18.-20. Jahrhunderts. Bern, Frankfurt/M., New York 1986 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, 15). S. 127-149. Zu Erkläiungsansätzen für diese Zurückhaltung vgl. u.a. Gustav Krojanker (Hrsg.): Juden in der Deutschen Literatur. Essays über zeitgenössische Schriftsteller. Berlin 1922. S. 9 sowie die Thesen von Jacob Katz.

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wir unter Volksstück hier unter Absehung spezieller Genrebezeichnungen generell .Produktion des Volkstheaters' verstehen wollen, greifen die Autoren auf bewährte Darstellungsmuster zurück: der edle Jude, die schöne Jüdin, die komische Figur, die milieubestimmte Nebenfigur (Trödler, Hausierer, Geldverleiher, Kaufmann), z.T. mit den bekannten Anspielungen, ferner taucht der Jude als Außenseiter (Religion, soziale Motive) und als integrierte Volksfigur auf. Soweit mir die Quellen bekannt sind, hat das Wiener Volkstheater keine spezifische Konfiguration ,Jude' hervorgebracht, auch nicht das komische Rollenfach des „Theaterjuden" wie in der norddeutschen Theatertradition.9 Insbesondere unter dem Aspekt realistischer Darstellung und des Bestrebens der Volkstheater-Produktionen, die fiktionalen Spielmodelle mit Personal und Handlungsmotiven der sozialen Wirklichkeit anzureichern, fällt auf, daß das Volksstück jüdische Thematik ausspart; dies gilt auch für die Zurückhaltung in der Vorlagenbearbeitung. Auswirkungen der Judengesetzgebung, „Judensteuer", Bedeutung des Getauftseins für Berufsausübung und soziale Geltung, kommerzielle Bedeutung, Juden verschiedener Herkunft in der Nicht-Ghetto-Situation (z.B. Abgrenzung von den Ostjuden), die vorenthaltene Gleichstellung mit Wiener Bürgern und daraus folgende Konsequenzen, z.B. das SichEinfügen in das Wiener Volksleben, werden vom Volksstück nicht thematisiert. Nach Ludwig Bato tauschten die Juden „das JüdischDeutsch und den Sarkasmus des Ghetto gegen den Dialekt und den jovialen Ton des Wieners ein", Wienertum des Vormärz und Wiener Gemütlichkeit färbten ab, was einen Verfall des jüdischen Lebens, den Verlust des Gefühls der Zusammengehörigkeit und des Selbstbewußtseins bewirkt hätte. 10 Auch das erklärt vielleicht das Fehlen jüdischer Thematik im Volksstück des Vormärz trotz ihrer Brisanz für die Zeitgenossen. Nach 1848 erfuhr, insbesondere durch die Publizistik unterstützt, der Emanzipationsgedanke eine Wiederbelebung, was seinen Niederschlag im Volksstück der fünfziger bis siebziger Jahre fand, im Gegenzug die Formierung antisemitischer Strömungen auf den Plan rief (z.B. Forderung eines „Anti-Semitengesetzes" 1886), auf deren Hintergrund wiederum die Idee eines ,Judenstaates" (Th. Herzl 1895/96) zu sehen ist. 11 Die dem Volksstück zuwachsende Aufgabe der theatralischen Vermittlung konnte dieses im Spannungsfeld der Probleme nicht leisten, weil es einerseits zu tendenziös war, andererseits sich nur am Tagesgeschmack orientierte und in dramatischer Schablonentechnik verharrte. Anzengrubers Reformierungsversuch der Verbindung zeitgenössischer Problematik 9

Vgl. Frenzel (Anm. 1). S. 111 und 118ff., deren Ausführungen zum Lokalstück kritisch zu überprüfen sind. 10 Vgl. Bato (Anm. 2), S. 251f u. 253. 11 Vgl. vor allem die Darstellung Häuslers (Anm. 2).

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und appellativer Dramaturgie kam zu spät oder ging in die falsche Richtung. Theater und Öffentlichkeit, für das frühere Volkstheater konstitutiv, hatte keine gemeinsame Kommunikationsstruktur mehr. Dennoch verdienen die Stücke der Kaiser, Berg, Elmar u.a. mehr Beachtung, als ihnen bisher in der Geschichte des Volksstücks geschenkt wurde, weil der Blick auf sie durch die Thesen vom „Verfall" und „Niedergang" verstellt war. Sie sind zumindest wichtige Dokumente für den Zusammenhang von Theater und Sozialgeschichte. Sie zeigen auf dem Hintergrund der Tradition des Wiener Volkstheaters den Funktionswandel theatralischer Unterhaltung von „des sittlichen Bürgers Abendschule" um 1800 über die patriotische, lehrhafte und unterhaltende Posse der zwanziger Jahre, Raimunds märchenhaft-poetisches und Nestroys satirisches Volksstück bis zum aktuelle Themen aufgreifenden Unterhaltungstheater nach 1850.12 Was fehlt, ist eine zusammenhängende Analyse der Wiener Theaterzeitschriften und Feuilletons unter dem Aspekt der uns hier interessierenden Thematik. Sie könnte uns Aufschlüsse über die Kongruenz von Zeitgeschichte und VolksstückWirklichkeit, über Konstanten und Veränderungen der VorurteilsBildung, über Rezeption und kulturelles Klima geben. Für die Judenthematik im Wiener Volkstheater von Pauersbach bis Kaiser war die Wirkungsgeschichte der Aufklärung in Österreich und besonders Lessings wichtig, dessen Nathan der Weise in Wien allerdings erst 1819 aufgeführt wurde. Bis dahin war die Aufführung des vollständigen Textes verboten, aus Rücksicht auf die christliche Religion! 1 3 Die Stücke nach 1850 prägte stärker die publizistische Auseinandersetzung um die Juden-Emanzipation; man kann von einem Neben- und Ineinander von Feuilleton und Theater sprechen.14 Ansonsten speiste sich die Dramatik, wie schon gesagt, aus den traditionellen Stoff- und Motivsträngen des Volkstheaters, und das bedeutete, daß jüdische Figuren wie bodenständige Wiener Typen dargestellt werden und gleichsam assimiliert sind, z.B. Trödler, Händler, Hausierer, wie in Gleichs Der Hölle Zaubergaben (1819), Die Musikanten am Hohen Markt (1815), in Bäuerles Die falsche Primadonna (1818) oder Meisls Die Geschichte eines echten Schals in Wien (1820); bei Bäuerle wird der Jude Aron „ehrlich" genannt, in Gleichs Die Wiener im künftigen Jahrhundert (1816) erklärt ein Jude den Zinsverfall 1816/1916; seit Hensler finden wir auch das Motiv der Juden-Verkleidung. Die jüdischen 12 Vgl. Hilde Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert. Wien, München 1980. Ferner: Rommel (Anm. 1) und Hein (Anm. 1). 13 Vgl. Yates (Anm. 1). S. 69. 14 Vgl. Häusler 1983 (Anm. 2) und ders.: Die Revolution von 1848 und die österreichischen Juden. Eine Dokumentation. In: Studia Judaica Austriaca 1 (1974) Nr. 101-117. - Ferner: Walker (Anm. 21). - Als Beispiel für das Feuilleton sei genannt: Daniel Spitzer: Wiener Spaziergänge. Hrsg. von Walter Obermaier. Bd. 1 und 2. Wien 1986/87 [weitere Bände folgen].

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Figuren sind mit ihren komischen Schwächen oder metierspezifischen Besonderheiten genauso gezeichnet wie die Böhmen, Italiener, Franzosen, Engländer auf dem Volkstheater, d.h. als Typen, die mit der Realität der Juden im Vormärz so gut wie nichts zu tun haben, wenngleich nicht ausgeschlossen werden kann, daß jüdische Typen bestehende und erneuerte Vorurteile anders bestätigten als vielleicht böhmische oder italienische Figuren. Dies gilt vor allem für das alte, tiefsitzende und weitverbreitete Vorurteil der skrupellosen Gewinnsucht, ein Element der traditionellen Judensatire, das auch Nestroy in Judith und Holofernes aufgreift. Erst die Volksdramatiker nach 1850 haben dem entgegenzuarbeiten versucht. Insbesondere Friedrich Kaiser, „der als Dramatiker seine Pflicht gegenüber dem volkstümlichen Publikum vor allem als eine didaktische Pflicht auffaßte", trat mit seiner Flugschrift Über die Juden. Ein Wort an das Volk (1848) dem Vorurteil entgegen und bezeichnete es als den einzigen Feind, der angesichts der errungenen Freiheiten noch zu bekämpfen bleibe. 15 Er erinnert an die patriotische Rolle der Juden in der Revolution und verteidigt „diese von so vielen mit Unrecht Verachteten und Geschmähten" (S. 8), geht dabei insbesondere auf das Argument ein, man hasse die Juden nicht ihres Glaubens, sondern ihres Verhaltens wegen und deckt die Hintergründe der Diskriminierung auf:

[...] Es gibt eine Menge Vorurtheile, aber ich will vor der Hand nur von Einem sprechen weil dies in dieser Zeit mir am wichtigsten scheint, und weil dieses Vorurtheil so vielen ganz fälschlich, wie ein Theil ihrer eigenen Religion erscheint, es ist das Vorurtheil gegen die Anhänger eines anderen Glaubens, namentlich das Vorurtheil gegen die Juden. Ich weiß es, es ist nicht so ganz Eure Schuld, sondern vielmehr eine natürliche Folge der dichten Finsternis, in welchen das ganze Volk durch lange Jahre gehalten wurde, daß so manche unter Euch den Juden gar nicht wie einen Menschen betrachten wollen, daß sie ihm jedes natürliche ihm so gut wie Euch von Gott verliehene Recht abstreiten und entziehen wollen, daß sie, so viele Beweise auch gegen ihre Meinung vorliegen, es für unmöglich halten, daß ein Jude ein redlicher, ein guter Mensch seyn könne. Und auf was begründet sich diese verderbliche Meinung? allein darauf, daß der Jude nicht alles das glaubt, was Ihr glaubet! Aber ich frage, bringt sein Glaube denn irgend etwas mit sich, daß Euch nachtheilig ist, etwas was mit den Gesetzen unseres Landes im Widerspruch steht? Nein! — [...] Es werden mir vielleicht einige von Euch entgegen: „Wir haßen die Juden nicht Ihres Glaubens, sondern ihres Charakters, ihrer Handlungsweise wegen, sie suchen uns bei jeder Gelegenheit zu übervortheilen, sie treiben in ihrem Schachern Wucher!" Und wenns so wäre — wer ist Schuld daran? Wir selbst, unsere bisherige 15 Vgl. Yates (Anm. 1). S. 73. - Friedrich Kaiser: Über die Juden. Ein Wort an das Volk. [Wien 1848]; zitieit wird nach dem Exemplar der Wiener Stadt- und Landesbibliothek.

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Verfassung, die, es steht zu hoffen, nun wol bald eine andere werden wird. Wir selbst haben den Juden bisher ausgeschlossen von jedem redlichen Gewerbe — er kann unter uns in keinem Handwerke, wenn er auch noch so geschickt und fleißig wäre, ein Meisterrecht erlangen, er kann kein Bürger werden, der Staatsdienst ist ihm, wenn er auch alle Studien mit dem glänzendsten Erfolge zurückgelegt hätte, verschlossen, und selbst jene wenigen Kreise, in denen er sich bewegen kann, werden ihm verbittert und vergällt durch die Lieblosigkeit und Geringschätzung, womit er von seiner christlichen Umgebung behandelt wird. Was bleibt ihm also übrig, um doch sein Leben zu fristen, der Handel, das Geschäft mit Geld, und wenn Ihr hierin von ihm übervortheilt werdet, so liegt die Schuld an Eurem eigenen Verstände — seht zu, daß Ihr nicht übervortheilt werdet. — Hat Euch je ein Jude um ein Paar Gulden betrogen, so bedenkt, daß Ihr mit Euern Vorurtheilen ihn um sein ganzes Lebensglück betrogen habt, und Ihr werdet selbst fühlen, daß Ihr ihm mehr, viel mehr genommen habt, als Ihr ihm je zurückerstatten könnt. Und warum hebt Ihr denn gerade bei dem Juden seine Fehler so stark heraus? — werft doch einen Blick auf unsere eigenen Glaubensgenossen; seid Ihr nie von einem christlichen Krämer übervortheilt worden? findet Ihr nicht unter Christen auch Wucherer, die Eure Noth benützen, und das Geld zur Waare machen, bei der sie oft mehr, als hundert Prozente zu gewinnen suchen? [...] Und sie haben uns nicht nur mit ihrem Gelde, sie haben uns auch mit ihrem Verstände, mit ihrer Gesinnung geholfen. Unter den kräftigen Rednern, welche unsre Rechte am 13. März d. J. im Hause der Landstände vertheidigt haben, waren auch Juden — Juden, welche Freiheit und Leben zu opfern bereit waren, um das Wohl eines Landes zu fördern, in welchem ihnen bisher noch so wenig Gerechtsame zustanden, und es waren nicht nur Worte es war auch ihr Blut, welches ihre Gesinnung bewies, denn unter den Gefallenen waren auch Juden, und wie bei dem großartigen Leichenbegängnisse der jüdische Rabbiner neben dem katholischen und protestantischen Priester friedlich einherschritt, so mögen auch die Anhänger der verschiedenen Religionen fortan in Liebe und Frieden vereinigt sein, und der Unterschied unsrer Religion soll sich nur darin zeigen, daß wir die Fremdgläubigen an Liebe überbiethen. Können wir sie durch die Ausübung jener Tugenden, welche uns unsere Religion eingepflanzt hat, überzeugen, daß diese Religion eine bessere, edlere sei, und sie dadurch zum Uebertritte bewegen, dann erst dürfen wir uns des neuen Glaubensbruders freuen. Bis dahin aber gleiche Freiheit, gleiches Recht, gleiche Liebe für die Anhänger eines jeden Glaubens. [...] (S. 6, 9f. u. 12f.) Kaiser schrieb übrigens auch den Prolog zur Uraufführung von Mosenthals Deborah im Theater an der Wien (10. März 1849) und behandelte den historischen Aspekt der Thematik in dem Kapitel „Ein getaufter Jude" seines Abraham a Sancta Clara-Romans Ein Pfaffenleben (1871). Sein „Original-Zeitbild" Neu-Jerusalem (1867) wirkt wie eine Dramatisierung der Flugschrift Über die Juden. Bei diesem wie den im folgenden kurz skizzierten Stücken ist noch zu untersuchen, ob und in welcher Weise sie die zeitgenössische Stimmung und das Zeitbewußtsein widerspiegeln, ob sie eine breite Wirkung beim Volk erzielten, ferner, in welchem Zusammenhang Judenthematik, Publizistik sowie inhaltlicher

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und formaler Wandel des Volksstücks stehen. 16 In Neu-Jerusalem hat Kaiser den liberalen Gedanken und Appell nach dem Vorbild Lessings in eine theatralische Demonstration umgesetzt: einer der beiden Helden ist ein Christ, der andere ein Jude, und es stellt sich erst am Schluß heraus, daß der vermeintliche Christ ein Jude, der vermeintliche Jude aber Christ ist. Am Ende blicken junges Judentum und junges Christentum in eine gemeinsame Zukunft: „wir haben uns ein neues Jerusalem erobert" (S. 52). Die Dialoge werden von Themen und Argumenten der zeitgenössischen Publizistik bestimmt, die Figuren sind mehr oder weniger Idealbilder oder Bösewichte, die über die Stellung der Juden und das .richtige' Judentum in der Zeit räsonieren. Die folgenden Textausschnitte belegen, in welcher Weise Kaiser die Repräsentanten unterschiedlichen Judentums auch sprachlich charakterisiert (z.B. Erziehung Leib Wölfeis, Lehrer Ephraim, Doktor Löbenstein) und das Mittel fiktionsbrechender musikalischer Einlage nutzt, im Kommentar die zeitgenössische Realität miteinzubeziehen: I, 14 [...]Doctor (immer mehrin's Feuer gerathend) . O, ich erkenne und würdige die vortrefflichen Eigenschaften uns'res Volkes, die es allein möglich machten, daß es sich, überall verfolgt und unterdrückt, dennoch durch Jahrtausende erhielt. Sie mußten z u s a m m e n ein Volk bilden, da man den Einzelnen nicht als Bürger anerkennen wollte. Es war die Pflicht der Nothwehr, daß Ihr, so lange Euch jeder andere Weg, zur Bedeutsamkeit zu gelangen, verschlossen war, Geld zu sammeln, und Euch durch dieß zu einer Macht zu erheben suchtet — jetzt aber sind alle Schranken gefallen — Befähigung habt Ihr zu Allem, denn am Himmel der Künste und Wissenschaften prangen Sterne erster Größe, die, aus unserer Mitte emporgestiegen, von der Welt verehrt werden! — Straft doch einmal diejenigen Lügner, welche sagen, daß Ihr nichts versteht, als das Geld an Euch zu ziehen! A r o n . Hm! es gibt doch auch unter uns Arme genug — ich weiß wirklich nicht, wie wir gekommen sind in solchen Verruf! Ephraim. Wie wir sind gekommen dazu? Ich will Ihnen erzählen: „Es waren einmal ein paar Bauersleute, die gehabt haben ein kleines Kind; als ist krank geworden einmal das Kind, haben sie zuerst versucht allerlei Hausmittel — das Kind ist nicht geworden besser — haben sie kommen lassen den Viehhirten, der hat ihm gekocht ä Tränkel, — das Kind ist geworden darauf noch schlimmer — haben se geholt den Dorfbader, der hat wieder eingegeben was Anders, bis das Kind schon ist dagelegen in den letzten Zügen — jetzt sein sie gelaufen zu einem echten Doctor, der ist gekommen und hat noch etwas verschrieben — aber das Kind ist doch gestorben. Da haben die Leut' geschrien: ;,Der Doctor ist schuld, daß wir verloren haben unser Kind!" Nu, sehen Sie, gerade so geht's, wenn Einer ist in Geldnoth; zuerst geht er zu die Freunde, wenn ihm die nicht helfen, geht er zu die christlichen Wucherer, wenn er dann gekommen ist noch tiefer hinein und ihm schon Niemand mehr was gibt, geht er zum Juden; der gibt ihm noch was, und wenn er hernach doch geht zu Grund, dann sagt er: „Der Jud' hat mich zu Grund' gerichtet!" 16 Hinweise, allerdings kritisch zu überprüfen, bei Stoffers (Anm. 1) S. 400; die herangezogenen Stücke werden sämtlich nach den Drucken im „Wiener Theater-Repeitoii" (Anm. 3) zitiert.

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Doctor. Deshalb befaßt Euch nicht fast Alle ausschließend mit Geldgeschäften, macht aus eurem Gehirn nicht b l o ß eine Rechentafel, bestimmt eure Kinder nicht alle zum Handel, laßt sie ihre Kräfte auch anders verwerthen. Mit Einem Worte — bleibt Juden nach eurem Glauben, aber seid kräftige deutsche Männer nach eurem Charakter und eurer Haltung! Ephr. {schüttelt das Haupt ). Doctor zu Ephr. Können Sie mir widersprechen? E p h r . Ich werd' Ihnen erzählen eine Geschieht'! Ich habe gekannt Einen von unsere Leut', der hat gehabt einen (die Hand an der Höhe der Brust haltend) so langen schwarzen Bart, — da sind gekommen die Maler, und haben ihn gebeten, er soll ihnen sitzen zum Modell, und haben ihn theuer bezahlt für jede Stund' — hat sich der Mann gedacht, wenn ich schon so gefalle m i t meinem Barte, wie werde ich ihnen erst gefallen, wenn ich mir wegnehmen laß' den Bart, und er hat's gethan! Als er aber ist gekommen ohne Bart in ein Atelier, hat ihm gewiesen der Maler die Thür. Sehen Sie, so ein Bart sind die Sitten und Lebensweis' unserer Väter; nehmen wir die weg, so werden wir aufhören zu sein das auserwählte Volk! Fünfzehnte Scene. Vorige,

Leib

Wülfel.

Wölfel (ein verkommener Judenbursche in zerrissenen, ihm nirgends passenden Kleidern, einen zerdrückten Hut auf dem wirren Haare, einen Bündel auf dem Rücken, ist während der letzten Rede Ephraims vom Hintergrunde rechts gekommen, hat sich scheu bis zu Aron vorwärts geschlichen, befühlt den Oberrock, welchen dieser auf dem Arme trägt, dann sprechend). Baruch habbe! Wollen Se tommer verkafen den Rock? Aron (beleidigt) . Welche Frechheit? Doctor. Hahaha! (tritt zu Leib, faßt seine Hand und spricht, mit der andern Hand auf ihn weisend, zu Ephraim). Soll das auserwählte Volk auch künftig noch solche Musterkarten in die Welt schicken? Leib (verwundert). Was gucken mich so an die Raboißes? Aron (zu Leib) . Bursche! warst Du nicht heute Morgens bei mir betteln? Leib. Oßer! Ich hab' nicht gebettelt! ich hab' nur a wenig geschnorrt! Aron. Und jetzt gehst Du handeln? Leib. Ewadde! Sehen Sie, das ist die Unterscheidung zwischen uns und die Goims! Wir schnorren zuerst und dann handeln wir, die G o i m s handeln zuerst und dann geh'n sie schnorren! Doctor. Wie nur der Kerl spricht! Leib. Verzeihen Se — es is doch die Loschen, die haben geschmuest, mei Tate und mei Mamme olewescholem! Doctor. Wie alt bist Du? Leib. Siebzehn Jahre wer' ich auf Jonteff Peissach! Doctor (zu Aron). Das Holz ist noch grün, es läßt sich vielleicht noch formen. Aron (zum Doctor) . Was willst Du Dich befassen mit so einem Burschen? Was geht er Dich an? Doctor. Uns Alle geht er an! Gerade wo wir unter der J u g e n d — unseres Volkes noch solche Verkommenheiten finden, soll Jeder nach seinen Mitteln dahinwirken, den Sinkenden aus dem Schlamme zu ziehen! (Zu Leib.) Steh' gerade! Leib. Ich trau mer nicht!

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Doctor. Warum nicht? Leib. Wenn ein Schnorrer so gerad' steht vor solche Szrores (sich demäthig verneigend), werden Sie mich halten für ein Lahochez! Doctor. Für einen M e n s c h e n werden sie Dich halten, und nicht für einen kriechenden Wurm! (Ihn am Kinn in die Höhe richtend.) Gerade steh'! und nun sprich deutsch! Leib. Stellen Se ä Kasche, geb' ich a Tschuwe! Doctor. Sag' mir, was hast Du gelernt? Leib. Wai! Ich bin nicht gekommen viel über's Alef Beis! denn mein Tate war der ärmste in der Kille! — Unser Melamed hat wohl gesagt: ich hätt' e große Gewure und ich könnt' werden a Bocher — der Tate hat aber gemeint, der Melamed wär' a Chamer und hat gesagt, ich soll lieber kennen lernen die Schaure, dann werd' ich kilmmen zu Neschires, und so hat er mich geschickt, wie ich war erst sieben Jahr alt, zu hausiren mit Streifhölzer — 's ist bis heut' nichts mit die Neschires, und nur der Dalles guckt heraus aus der Löchersammlung. (Auf die zerrissenen Aermel weisend.) Doctor. Und wenn ich Dich nun in meine Dienste nehm'? Leib (sich kaum fassend vor Freude). Was? Treiben Sie kein Stuß? Ich — ich — der arme Leib Wölfel soll weiden der Meschores von so ein Szrore! Die Kowed! das Naches — der Tag ist für mich ä Szimches Toire — Gott, der Gerechte! ich werd' meschugge! (Herumspringend.) Maßel tow! Maßel tow! Doctor. Freu' Dich nicht zu früh, denn ich werde streng sein, aber versuchen will ich's doch an Einem Exemplare, ob nicht auch die Schattenseite unseres Volkes von dem Lichtstrahle der neuen Sonne beleuchtet und belebt werden kann. Folge mir! (Ab nach rechts.) Leib. Jo! jo! ich werde folgen in Allem! ich werd' werden so fein, und so nobel, wie die goldbeschlagenen Meschores von die Goims! — Ich werf weg den Bünkel — (will das Bündel wegwerfen, besinnt sich aber.) Nein! ich werf s doch nit weg - es ist darin ein' alte Manchesterhos — aber tragen will ich's nicht auf dem Rücken — so ( hängt das Bündel über den Arm) als wär's a persischer Shwal. So (eine stolze Haltung annehmend) das ist eine Nobligkeit — kakesch! Wer mer gut's ginnt! (Geht nach rechts ab.) Aron zu Ephr. Da haben Sie meinen Bruder! Er will anders erziehen unser ganzes Volk, und hat doch nicht erziehen können seinen eigenen Sohn; den hat er, wie er noch ganz klein war, gegeben in ein Institut im Auslande, von wo er noch nicht ist gekommen zurück! (S. 14—16) Π.7 [·.·] Fanni (zu Leib). Du darfst vom Glück sagen, daß sich der Doctor um Dich so annimmt! Leib. Ja — er hat einmal seine Passion an mir! — Er sagt immer, er will machen aus mir ein M e n s c h e n ! Hab' ich doch gedacht, dafür hätt' schon gesorgt der Tate und die Mamme, aber der Doctor sagt, ich soll nix mehr schachern geh'n, sondern lernen Geld zu verdienen durch Arbeit, darum hat er mich gegeben in die Lehr zum Gärtner vom Herrn Baron! Fanni. Und bist gem gegangen in die Lehr' daher — zu ein'm Christen! Leib. Ist doch besser for mich zu sein in der Arbeit bei ein Christen. Warum? darum? Am Schabbes arbeit' ich nicht, am Sonntag laßt er nicht arbeiten, hab' ich zwa Feiertag — heißt ä Geschäft! Fanni. Fällt Dir d'Arbeit dann so schwer? Leib. Die Arbeit fallt mir nicht so schwer als das Reden! Der Doktor will

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immer, daß ich mir soll abgewöhnen die hebräischen Wort, und soll reden wie and're Leut' — nu ich streng mich auch an — nebbich! Fannl (lachend). Ich hör's! — Was soll nun das wieder heißen: „Neppich?" Leib. „Nebbich!" davor find' ich in's Deutsche kein rechtes Wort, ich känn's nur erklären durch eppes ein Beispiel! Geben Sie Acht! — (Nachdenkend) nebbich! — nun wenn Einer z.B. hat liegen zehntausend Gülden in Pest-Losonczer Actien! das ist nebbich! [...] (S. 25) ΠΙ, 13 Ephraim. [...] Mag der Doctor schwärmen von ein' neuen Jerusalem, ich lass' mir's nicht nehmen, es war doch besser früher in unserem alten Jerusalem. Lied. Als H am an einst Minister war Beim König Ahasver, War er sehr stolz, verlangt sogar, Daß man ihn göttlich ehr'; Doch Mardachai, der alte Jud', Der grüßte H am an nie, Er wußte ja, der meint's nicht gut, D'rum beugt' er nie das Knie, Und wenn er selbst um's Leben käm'. Das war in Alt=Jerusalem. Doch gibt es jetzt Manchen, der jede Ex'llenz Verfolgt katzenbuckelnd und voll Referenz; Zehnmal abgewiesen noch antichambrirt. Sogar den Lakaien submissest hofirt. Weil gern' er ein Bändchen in's Knopfloch bekäm', So macht man's im neuen Jerusalem. Als Salomon durch seinen Geist War weit und breit bekannt. Da kam zu ihm auch hingereist Aus einem fernen Land' 'Ne Königin gar wunderhold Und gab ihm zum Geschenk Ein hundertzwanzig Centner Gold, Daß Ihrer er gedenk'. Und bat noch schön, daß er das nähm'. Das war in Alt=Jerusalem. Wann jetzt an ein Juden, der reich und gescheidt, Sich Könige wenden von nah' und von weit. Schenkt ihm einer Geld? nein! ganz au contrarr, Sie kommen zu ihm, damit er Geld geb' her, Und daß er ein Anleh'n ein neues übernehm', So geschieht es im neuen Jerusalem! Als einst Eliah' der Profet Sah', wie das Volk bethört.

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Statt Gott, zum Baal dem Götzen bet', Da war sein Herz empört, Er griff die Götzenpriester an, Fünfhundert an der Zahl, Am Bache Kidron er sodann Sie schlachtet allzumal. Damit das Volk zur Einsicht käm', Das war in Alt=Jerusalem! Wenn jetzt in der Zeit, die man heißt aufgeklärt, So Manches dem Volke den JudenhaB lehrt. Der ist auch ein Baaldiener (achselzuckend) wir lassen ihn reden. Doch er, wenn er könnte, von un'sre Leut' jeden Gleich fressen, das wäre dem Manne angenehm, Solche Leute gibt's im neuen Jerusalem! (Ab.) [...] (S. 46f.) Die jüdischen Handlungsträger bei Kaiser, Berg und Elmar sind durchweg als hilfreich, edel und gut dargestellt; für die Christen lohnt es sich immer, gut zu denen „von unsere Leut'" zu sein: Isaak Stern rehabilitiert im gleichnamigen Stück den zu Unrecht verhafteten Schlossermeister Frühauf, der ihn — ,,ein[en] Binkeljude[n], zerlumpt und häßlich" — mit seiner Familie aufgenommen hat, und bringt ihn zur Revision seines Vorurteils den Juden gegenüber. In Nr. 28, ebenfalls von Berg, kommt es am Ende zu einer „Civil-Ehe" zwischen dem reichen Juden Morgenstern und der gedemütigten Christin Susi, Wirtschafterin eines wohlhabenden Bürgers. Sie ist aus Enttäuschung darüber, daß ihr Herr nicht sie zur Frau genommen hat, ins Kloster gegangen und pflegt dort eine kranke Jüdin. Dort wird sie als barmherzige Schwester, bei der die „moderne Toleranz-Idee überraschend schnell Wurzel gefaßt hat" (S. 21), wegen „Umgang mit einem sträflichen Israeliten" (S. 34) des Klosters verwiesen. Gleichzeitig ist die Ehe ihres ehemaligen Herrn in die Brüche gegangen, was Morgensterns Spott über den „Segen der Kirche" (S. 42) herausfordert. Susi und Morgenstern geben für alle — vor allem für das Publikum — ein Beispiel der Versöhnung zwischen Christ und Jude. Vor den staunenden Anwesenden bittet Susi gar Morgensterns Vater — in der auffälligen Tracht eines polnischen Juden — um seinen Segen. Auch in Miranis Eine Judenfamilie kommt es am Ende anläßlich des Weihnachtsfestes doch noch zur Versöhnung, nachdem zuvor der Jude Aron Hellmann seinen Sohn, der eine Christin geheiratet hat, im Widerstreit zwischen Glaube und Gefühl verflucht hat: Aron (abwehrend, aber in tiefster Seele ergriffen)·. Laßt ab von mir — ich kann nicht anders. Festhalten muß ich an meinem Glauben, ich darf nur hören des starken Gottes Stimme, nicht die des schwachen Herzens. {Jetzt ertönt ein Choral von Kinderstimmen — der Vorhang öffnet sich, und

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man sieht einen großen Weihnachtsbaum, den weiß gekleidete Mädchen umgeben.) Aron (von dem Anblick überrascht). Was ist das? Wilhelmine (feierlich). Die Weihnachtsfeier ist's, die Feier des Tages, welcher der Menschheit den Versöhner brachte, es ist die Feier des allgemeinen Versöhnungsfestes. Aron (erschüttert). Das allgemeinen Versöhnungsfestes? Das Versöhnungsfest feiert auch der Jude. Ich verstehe dich, Jehova! — Du gebietest — ich gehorche. Der greise Jude Aron feiert das Versöhnungsfest mit seinem Sohne, dem Christen. (S. 59)

In Elmars Ein jüdischer Dienstbote hat die Wirtschafterin Sarah so viel „christliche Lieb" (S. 4) erfahren, daß sie den Haß ihrer Herrin Gabriele —„Sie ist mir verhaßt wie ihre ganze Nation" (S. 11) — erduldet, die selber, ohne es zu wissen, einen jüdischen Kavalier hat. Tief beleidigt verläßt Sarah dann doch ihren Herrn und prophezeit feierlich „Gottes Fluch" über das Haus, der sich am Ende des II. Aktes erfüllt: Sarah entlarvt den Kavalier als jüdischen Spekulanten Moriz, den sein Vater verstoßen hat. Gabriele sieht in ihrem Liebhaber jetzt nur den „Sohn eines gemeinen Juden" (S. 23) und wird von ihrem Mann verstoßen. Sarah zwingt Moriz, ihrem in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Herrn zu helfen, indem sie ihm ein Dokument seines Vaters präsentiert. Moriz erkennt seine Schuld, nennt sie einen Liebesengel Jehovas, der dem Menschengeschlecht die Straße nach Zion weise (vgl. S. 26). Sarah resümiert, alle, Juden und Christen, sprächen auf die gleiche Art, wenn sie mit der Seele sprächen. Zum Schluß rettet Moriz noch Gabriele, die, vergeblich auf Verzeihung durch ihren Mann hoffend, sich in einen Waldbach stürzt. Sarah ist der „Versöhnungsengel" (S. 32), Mann und Frau finden wieder zusammen, und Sarah willigt ein, des gebesserten Moriz' Gemahlin zu werden. Gleichsam als Appell ans Publikum wiederholt sie am Ende ihre Devise vom Anfang: „Thue das Gute, wirf es in's Meer! / Weiß es der Fisch nicht, weiß es der Herr!" (S. 32). Mag man auch in diesen Stücken die wenig überzeugende Idealisierung und konstruierte Handlung tadeln,17 diese Lebens- oder Zeitbilder in Possenform als ,Tendenzstücke ' abtun, so verraten sie doch etwas von dem Bemühen der Volkstheater-Autoren, die aktuelle Thematik aufzugreifen und in bühnenwirksame Geschichten umzusetzen, die ja nicht unbedingt dem Anspruch auf .Realismus' genügen mußten. Daß es zum Teil keine Eintagsfliegen waren, beweist Bergs Einer von unsere Leut', in dem Nestroy in einem Jahr allein 58mal in der komischen Rolle des Apothekergehilfen Stößl auftrat. Zur gleichen Zeit ist Anzengruber, von vielen als Reformator der dem Tagesgeschmack verfallenen Volksbühne ersehnt, in seinen Volksstücken mit der Thematik vorsichtiger umgegangen: Der Hausierer Levy in Der Meineidbauer ist als Jude 17 Vgl. Yates (Anm. 1). S. 75.

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nur eine Episodenfigur, die freilich realistischer als bei Kaiser, Berg und Elmar ihre Situation reflektiert. In Die Tochter des Wucherers (1873) wird der Wucher selbst kritisiert, es gibt keine Anspielung auf das tiefsitzende Vorurteil den Juden gegenüber, und auch der Wechselstubeninhaber Breslauer in Aus'm gewohnten Gleis (1879) ist nicht als Judenfigur angelegt.18 Für Anzengruber scheint die Emanzipationsthematik kein Volksstück-Sujet gewesen zu sein. Wie schon eingangs gesagt, kommt Nestroys Travestie Judith und Holofernes innerhalb der hier vorgestellten Textreihe eine Sonderstellung zu, zum einen wegen des Genres und des Zusammenhangs von Parodie und Literatursatire, zum anderen auf dem Hintergrund der Revolution von 1848. Die Uraufführung war anonym am Jahrestag der Revolution (13. März 1849), und Nestroys wechselnde Einstellung zu den Ereignissen von 1848 — in Stücken und Briefen der Jahre 1848/50 dokumentiert — hat zu Reaktionen auf jüdischer Seite geführt. So zitiert Wolfgang Häusler Sigmund Engländers Meinung zu Nestroys Freiheit in Krähwinkel (1848), dieser habe „auf eine so brutale Weise die heiligsten Errungenschaften in den Kot gezerrt".19 Über Nestroys Beziehung zum Judentum läßt sich wenig sagen. Mir sind keine Belege für eine antijüdische Haltung bekannt; es gibt überhaupt nur wenige diesbezügliche Äußerungen: in seinem Rollentagebuch während seines Engagements am Deutschen Theater in Amsterdam 1823/25 und eine Briefstelle aus dem Jahre 1861.20 Die Amsterdamer Zeit Nestroys ist noch nicht genügend erhellt; hier scheint er Zeuge eines bis in Tätlichkeiten ausartenden Streits zwischen jüdischem und nichtjüdischem Theaterpublikum geworden zu sein. Beim Auftritt eines neu engagierten Tenors kam es im Juli 1824 zum „Tumult im Publikum von Seite der Juden"; „Der jüdische Pöbel war so wüthend, daß wir unter Bedeckung der Polizey nach Hause gebracht werden mußten", notiert Nestroy. Anlaß zu erneuten Unruhen war das Engagement einer jüdischen Sängerin, deren Debut die Anhänger einer Konkurrentin mit Pfiffen quittierte. Es kam zu „Thätigkeiten [...] auf Seite der Juden" und es „artete die Sache in eine furchtbare Schlägerey aus. Die Vorstellung konnte nicht zu Ende gespielt werden" (Rollentagebuch 15. und 23. Oktober 1824). Eine noch zu leistende Analyse der Bedeutung und Funktion der Juden im Amsterdamer Kulturleben sowie der Rolle des Deutschen 18 Frenzel (Anm. 1) führt das Stück in ihrem chronologischen Verzeichnis (S. 265) aufl 19 Vgl. Häusler 1983 (Anm. 2). S. 132, Anm. 107. 20 Zur Briefstelle vgl. Anm. 38. - Zitate aus Nestroys „Rollen-Tagebuch" (Wiener Stadtund Landesbibliothek I. N. 135.821). Den hier angedeuteten Zusammenhängen bin ich im Februar 1986 in Amsterdam nachgegangen und habe meine Recherchen mit Nestroys Angaben überprüft; zu ersten Ergebnissen vgl.: Nestroy in Amsterdam. In: Neue Zürcher Zeitung. 16./17. Mai 1987. S. 68. - In der Wiener Stadt- und Landesbibliothek befindet sich ein unsere Thematik beriihrender Brief-Entwurf (?) Nestroys (I. N. 137.073) über eine jüdische Betrugsaffare, der sich wie die Fabel zu einem Drama liest.

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Theaters in der Zeit könnte Aufschluß darüber geben, ob hier antijüdische Ressentiments vorlagen oder die Theaterunruhen andere Gründe hatten. Auf Nestroys Werk jedenfalls, sein späteres Engagement in der Leopoldstadt und seine Tätigkeit als Theaterdirektor scheinen die im Rollentagebuch ausführlich geschilderten Eindrücke keinen Einfluß in Beziehung auf die hier interessierende Frage gehabt zu haben. Die Interpretationen zu Judith und Holofernes sind aspektreich, zum Teil widersprüchlich.21 Colin Walker hat eine differenzierte Analyse vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Antisemitismus-Diskussion vorgenommen, von Fred Walla noch um ein paar Aspekte ergänzt. Sie dokumentieren den gegenwärtigen Stand der Forschung und das Bemühen, der ästhetischen und sozialgeschichtlichen Bedeutung des Stücks gerecht zu werden. Die Palette der Interpretationen ist breit, sie reicht vom Antisemitismus-Vorwurf bis zum Leugnen der jüdischen Dimension überhaupt. Albertsen spricht von „zivilisatorischem Witz", jenseits von „Gut und Böse", Yates von Satire und Bosheit ohne Vorurteil, Lea und Hein haben antisemitische Aspekte gesehen, die aber im Kontext von Parodie und Revolutionssatire zu bewerten seien; Boege erkennt neben dem Witz Polemik gegen jüdische Bürger, und für Arntzen meinen die Juden die erbärmliche bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die keine heroische Gesinnung mehr kenne. Dies bedeutet denn doch eine schwer nachzuvollziehende Entwirklichung und Entlokalisierung des Stücks, wie auch Sengle bemerkt, dessen Deutung freilich auch zu relativieren ist: die possenhafte Darstellung der Juden sei, „gemessen an 21 Johann Nestroy: Judith und Holofernes. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Fritz Bnikner und Otto Rommel. Bd. 4. Wien 1925; zitiert nach der Reclam-Ausgabe, mit Nachwort hrsg. von Jürgen Hein, Stuttgart 1970. Folgende Interpretationen wurden herangezogen: Albertsen (Anm. 1). - Helmut Amtzen: Dementi einer Tragödie. Zu Hebbels und Nestroys Judith. In: H.A.: Zur Sprache kommen. Studien zur Literatur- und Sprachreflexion, zur deutschen Literatur und zum öffentlichen Sprachgebrauch. Münster 1983. S. 151-164. - Günther Boege: Nestroy als Bearbeiter. Studien zu Die verhängnisvolle Faschingsnacht, Der Unbedeutende und Judith und Holofernes. Diss. Frankfurt/M. 1968. - Max Bührmann: Johann Nepomuk Nestroys Parodien. Diss. Kiel 1933. Emst Fischer: Johann Nestroy. In: E.F.: Von Grillparzer zu Kafka. Wien 1962. S. 125-207. - Bruno Hannemann: Johann Nestroy. Nihilistisches Welttheater und verflixter Kerl. Zum Ende der Wiener Komödie. Bonn 1977. - Jürgen Hein: Spiel und Satire in der Komödie Johann Nestroys. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1970. - Lea (Anm. 1), - Franz H. Mautner Nestroy. Heidelberg 1974. - John R.P. McKenzie: Nestroy's Political Plays. In: W.E. Yates/John P.R. McKenzie (Hrsg.): Viennese Popular Theatre. A Symposium. Exeter 1985, S. 123-138. - Ulrich Scheck: Parodie und Eigenständigkeit in Nestroys Judith und Holofernes. Ein Vergleich mit Hebbels Judith. Frankfurt/M., Las Vegas, Bern 1981. - Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. 3. Stuttgart 1980. S. 249ff. - Colin Walker: Nestroy's Judith und Holofernes and Antisemitism in Vienna. In: Oxford German Studies 12 (1981) S. 85-110. - Fred Walla: Johann Nestroy und der Antisemitismus. Eine Bestandsaufnahme. In: Österreich in Geschichte und Literatur 29 (1985) H. 1. S. 37-51. - Hans Weigel: Nestroy. Velber b. Hannover 1967. - Yates (Anm. 1).

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Nestroys sonstiger Schärfe, gutmütig gehalten", die Feigheit entspreche „völlig der Unzulänglichkeitskomik des Hanswursttheaters" und „in der Judensatire [liegt] nur eines der vielen Zugeständnisse an das Lachtheater [...]. Persönlich war der erste Mitarbeiter Carls bestimmt kein Antisemit". 2 2 Interessant ist auch, daß Ernst Fischer, Hans Weigel, Franz H. Mautner, in dieser Sache seit 1938 besonders sensibilisiert, in Judith und Holofernes keine antisemitischen Ausfälle erkennen. Immer wieder werden dafür folgende Zitate genannt:23 Zehnte Szene [··.]

Ammon. Zernieren, das is a Manöver, wo die Kreuzersemmel steigt auf ein' Gulden; wo sie die Milch werden bringen auf die Börs' und aufwiegen mit klingendem Gold; wo's Rindfleisch a solche Rarität wird, daß einer den andern möcht' Schächten. Hosea. Da können wir machen a Geschäft Schießen wir zusamm'. Ammon. Zusamm'schießen? Den Holofernes und sein' Armee? Hosea. Was Holofernes! Wir schießen zusamm' unser Geld und kaufen alles auf, was is Eßbares in der Stadt; wenn dann wird kommen die Hungersnot, profitieren wir dreihundert Perzent. Ammon. Da verhungern wir dann als reiche Leut'. Elfte Szene Assad. Die Vorigen. Assad. Was steht ihr da ohne Waffen? Was is das? Hosea. Waffen, zu was Waffen? Assad. Alles muß sich bewaffnen, die ganze Bürgerschaft von Bethulien wird geteilt in zwei Glieder; ins erste Glied kommt der Besitz, ins zweite die Intelligenz. [...] (S. 11) Siebzehnte Szene Assad. Ammon. Hosea. Nabal. Die Vorigen. (Sie marschieren mit gezogenen Säbeln heraus.) Assad (als Korporal, die andern drei kommandierend). Eins! Zwei! Eins! Zwei! Eins! Zwei! Halt! Rachel. Und wie schön sie das machen! Hosea. Das Herumkommandieren fangt mich an zu verdrießen. Nabal. Is er mehr als wir? Ammon. Is nicht ein Jüd' als wie der andere? Assad (kommandierend). Marsch! Hosea. Wohin? Assad. Wer hat was zu fragen, wenn ich kommandier'? Hosea. Pack' ein, g'hörst auch nur unter die klein' Leut'! Assad. Supperdination! Habt acht! Ammon. Ich bin neugierig, auf was. Assad. Links g'schaut! Hosea. Warum? Links is gar nix! Warum sollen wir schauen links? Was ist da zu sehn? [...] (S. 20) 22 Vgl. Sengle (Anm. 21). S. 250. 23 Zitiert nach der in Anm. 21 genannten Ausgabe.

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Wie immer man die aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate deutet: Es kommt darauf an, ob man Antijüdisches, Antisemitisches sehen will oder nicht, ob man eher eine Parodie auf Hebbel oder eine Revolutionssatire zu erkennen vermeint. Auch die offensichtlich schon zu Lebzeiten in zwei Lager gespaltene Kritik kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es zwischen 1849 und 1862 67 Aufführungen des Stücks in der Leopoldstadt gegeben hat, was wohl den Antisemitismus-Vorwurf teilweise entkräftet. Es ist freilich darauf hinzuweisen, daß die Travestie zunächst anonym aufgeführt und trotz Kassenerfolgs nach sieben Aufführungen im März 1849 abgesetzt und erst 1856 wieder ins Repertoire genommen wurde. Gerade aus dieser Zeit ist uns ein Polizeibericht über das Carltheater in der Leopoldstadt bekannt, in dem es u.a. heißt: „Die Mehrzahl der Besucher besteht aus reichen Müßiggängern, aus Israeliten, Börsenmännern und Reisenden oder hier domizilierten Fremden".24 Die von Nestroys Juden vorgetragene Militärsatire, die wohl auch Elemente jüdischen Witzes enthält, ist, worauf Häusler und Walker im Kontext zeitgenössischer Publizistik hingewiesen haben, auch unter dem Aspekt zu sehen, daß Juden als Patrioten und Verteidiger des Vaterlandes das Bürgerrecht erhalten sollten, so jedenfalls der Tenor einer seit 1815 anhaltenden Diskussion; der josefinische Topos von der Feigheit der Juden erfuhr im Umkreis der Karikaturen, Flugblätter usw. des Jahres 1848 neue Nahrung, und es ist nicht auszuschließen, daß Nestroy auch von diesen Quellen angeregt wurde. 25 Die jüdische Zeitschrift „Sulamith" schrieb 1815: „Die Behauptung, daß die Juden das Vaterland nicht verteidigen könnten, war vorzüglich die Achse, um welche sich alles drehte, was Judenfeinde von jeher gegen das den Juden zu erteilende Bürgerrecht vorbrachten." 26 Neue Bewegung kam in diese Diskussion durch die Märzrevolution 1848, unter deren Opfern auch zwei Juden waren, an deren Grab der Rabbi Mannheimer unter anderem sagte: „Ihr habt gewollt, daß die toten Juden da mit Euch ruhen, in einer Erde. Sie haben gekämpft für Euch, geblutet für Euch! Sie ruhen in Eurer Erde! Vergönnt nun aber auch denen, die den gleichen Kampf gekämpft und den schwereren, daß sie mit Euch leben auf einer Erde, frei und unverkümmert wie Ihr." 27 Aber das Vorurteil der Disziplinlosigkeit und Feigheit blieb unrevidiert, wie eine Vielzahl von Pamphleten aus der Zeit beweist. Andererseits ist die Unterscheidung zwischen jüdischem Witz und antijüdischer Satire nicht immer leicht, wenn man z.B. den von Engländer und Beck 1848 veröffentlichten Text Ein unfreiwilliger Freiwilliger liest:28 24 Vgl. Johann Nestroy: Sämtliche Werke. Bd. 15. Wien 1930. S. 392 und die Informationen bei Walla (Anm. 21). 25 Vgl. Walker (Anm. 21). S. 89 und die erhellenden Darstellungen Häuslers (Anm. 2 und 14). 26 Zitiert nach Walker (Anm. 21). S. 89. 27 Zitiert nach Walker (Anm. 21). S. 90.

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Itzig soll zum Militär, Und das kränkte ihn so sehr, Zwar er fürchtet nicht den Knall, Doch der Schuß ist sehr fatal!

In diesem Lichte gesehen, nehmen sich dann auch die Nestroy-Zitate anders aus, und es kommt darauf an, zwischen geweckten Empfindlichkeiten und bestätigten Vorurteilen zu unterscheiden. Anders als in früheren Stücken — z.B. Der Feenball, Die beiden Herren Söhne, Prinz Friedrich —, wo Juden als Stereotype des Wiener Lokalstücks auftreten wie Böhmen, Italiener usw.,29 stellt Nestroy in Judith und Holofernes die Juden als Volk dar, wobei die Satire auf aktuelle Ereignisse im Umkreis der Ereignisse von 1848 insbesondere den anachronistischen Gegensatz zwischen den biblischen Hebräern und den zeitgenössischen Wiener Juden ausspielt. So gesehen ist die Juden-Darstellung in der Travestie mehrdimensional, spielt sowohl mit Motiven der Revolutionssatire wie mit denen traditioneller Judencharakteristik; McKenzie meint dazu: „By ascribing to Hebbel's Hebrews the supposed characteristics of Viennese immigrant Jews Nestroy was able to create the necessary distance for his audience: in laughing at the antics of the Leopoldstädter Jews, the Viennese were really laughing at themselves."30 Parodie und Satire konnten natürlich gleichermaßen auch dazu führen, vorhandene Vorurteile zu bestätigen, wie einzelne Kritiken zeigen. Es wurde jüdisches Empfinden verletzt, wie die Aufnahme einer Couplet-Strophe zeigt, die auf die Rolle Adolf Fischhofs in der Revolution anspielt: 4. Der ägyptische Josef hat g'schmacht't in Gefängnis, Da wendet ein Pharao-Traum sein Verhängnis, Sie hab'n ihn hervor'zog'n aus kerk'rischer Nacht Und gleich zum Minister des Innern gemacht. Das hab'n d'Leut' unerhört Für a Wunder erklärt. Solche Sprünge g'schehn häufig in neuester Zeit, Nur machen sie's umgekehrt meistens, die Leut'. Gleich im Anfang sehn sie sich als Minister ganz hoch. Man hilft ihnen aus'n Traum, und's Finale is's Loch 32 . So was nennt man kein Wunder jetzt mehr heutzutag', Man find's' ganz natürlich, und kein Hahn kräht danach! (S. 18)

Der Kritiker der „Ost-Deutschen Post" schrieb dazu:31

28 29 30 31

Zitiert nach Walker (Anm. 21). S. 98. Vgl. Walker (Anm. 21), S. 107 und Walla (Anm. 21). S. 44. John P. R. McKenzie (Anm. 21). S. 31. Vgl. Johann Nestroy: Sämtliche Werke (Anm. 21). S. 383 und Walker (Anm. 21). S. 101.

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[Das Publikum] schien die Beleidigung nicht zu fohlen, die darin lag, daß man es wagte, am 13. März 1849 den Mann, der am 13. März 1848 zuerst das Wort für die Freiheit ergriffen hatte, in einem erbärmlichen Couplet zu verhöhnen, während er wehrlos, unglücklich und gefangen ist. Ein Teil des Publikums jubelte sogar, als die Bekenner eines Glaubensbekenntnisses, wenige Tage, nachdem in der Verfassung die Gleichberechtigung aller Glaubensbekenntnisse ausgesprochen war, als lächerlich und verächtlich hingestellt wurden. Die Volksbühne des Carl-Theaters will also hinter unserem politischen Fortschritte zurückbleiben, sie will den JudenhaB und die Judenverachtung verewigen.

Ähnlich kritisierte „Der Wanderer", dabei betonend, „nicht zum Judenapostel berufen zu sein", Judenemanzipation und Gleichberechtigung der Menschenrechte hätten vom „bloßen Schicklichkeitsgefühl eines Dichters unserer Tage respektiert werden" müssen.32 Auffallend ist, daß Rommel in der Historisch-kritischen Ausgabe Nestroys nur einen kleinen — gewissermaßen neutralisierten — Ausschnitt aus den Theaterkritiken bringt, der pro- und antijüdische Aspekte so gut wie nicht berücksichtigt, was möglicherweise mit den Entstehungsjahren der Ausgabe zusammenhängt.33 Insbesondere sind es, wie Walker herausgefunden hat, die Äußerungen von Adolph C. Naske, die auch Rommel zitiert, aber ohne den Hinweis, daß dieser Autor in anderen Schriften eine eindeutige antisemitische Tendenz verfolgt; er lobt gerade jene Szenen von Judith und Holofernes, die Nestroy den Vorwurf des Antisemitismus eingetragen haben.34 Andererseits finden sich auch Stimmen, die das Stück als jüdische Selbstkritik, geschrieben von einem Juden, verstanden: „Au waih geschrien, das heiße ich linke Massamatten; — zuerst alle möglichen Grobheiten umsonst verschwendet, und zweitens einem von ,unseren Leuten' ohne zu wissen einen Patsch ins Bunen gegeben! schmaIsrael!!?".35 Es ist offensichtlich, daß Nestroy innerhalb der Travestie Themen aufgreift, die der antisemitischen Publizistik entstammen, wie er dies auch mit anderen aktuellen Themen tut. Er benutzt sie zunächst als Spielmaterial, eventuell auch, wie einige Forscher vermuten, als .Tarnung': „Nur in der doppelten Tarnung als literarische Parodie und als jüdische Satire konnte das Werk, das die blutige Niederwerfung der Wiener Revolution zum Inhalt hat, gerade am Jahrestag dieser Revolution über die Bretter gehen". 36 Freilich muß Nestroy mit Walker „insensitivity" vorgeworfen werden, eine Minorität in dem Augenblick des 32 Vgl. Walker (Anm. 21). S. 101. 33 Vgl. Walle (Anm. 21). S. 38 und die von Walker (Anm. 21) zitierten, weniger bekannten Rezeptionsdokumente. 34 Vgl. Walker (Anm. 21). S. 104. 35 Vgl. Walker (Anm. 21). S. 106. 36 Vgl. Walla (Anm. 21). S. 50, ferner Stoffers (Anm. 1). S. 347-350, Fischer (Anm. 21) und Hannemann (Anm. 21).

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Kampfs um ihre Rechte in einer kritischen Zeit dem Verlachen preisgegeben zu haben.37 Von der Rezeption her gesehen trägt das Stück Züge, die antisemitische Ressentiments weckten, der Autor jedoch ist vom Vorwurf antijüdischer Parteinahme freizusprechen; dies belegen sein ganzes Werk, nicht zuletzt auch die Amsterdamer Notizen und eine Briefstelle aus dem Jahre 1861, wo es im Kontext separatistischer Bestrebungen in der Monarchie besonders von Seiten der Ungarn heißt: „Vielleicht lassen sie jenseits der Leitha ihren Zorn an den Juden aus; die Emanzipierung, welche sie ihnen gewährten, ist zu zweydeutig gehalten, als daß sie dabey hinderlich seyn sollte; denn nur die Intelligenz der Juden wurde emanzipiert. Die Intelligenz steckt aber im Kopf — über den Toches ist noch Alles gräulich in der Schwebe."38 Nestroys Skepsis gegenüber jeder Ideologie, seine Kritik an den Revolutionsereignissen und ihren Folgen, insbesondere an den nicht eingelösten Forderungen, schloß auch das Problem der Judenemanzipation ein, das satirisch und parodistisch genauso behandelt wurde wie andere Aspekte der Revolutions- und Gesellschaftskritik — z.B. falsch verstandenes Freiheits-Pathos —, aber es traf auf andersgeartete Empfindlichkeiten. Der beim Publikum beliebte Nestroy hat dies sicher erkannt und in Text und Spiel auf einseitige Verstärkung der Motive verzichtet, die antijüdisch verstanden werden konnten. Ein Beleg dafür scheint mir der Erfolg von Judith und Holofernes in den fünfziger Jahren zu sein; ein weiteres Beispiel ist das Ersetzen des Geldverleihers Salomon Isaak durch die Figur des Gläubigers Hantig in Nur keckl (1855), einer Bearbeitung von Dion Boucicaults London Assurance.

37 Vgl. Walker (Anm. 21). S. 109. 38 Johann Nestroy: Briefe. Hrsg. von Walter Obeimaier. Wien, München 1977, S. 219.

Beate Orland (Berlin)

Nicht nur Stereotypen ... Von der Vielfalt jüdischer Romanfiguren im populären Roman der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Voß, Clauren, Seybold, Harring)

Wir wissen heute auf Grund zahlreicher Einzelstudien literatursoziologischer und kommunikationswissenschaftlicher Art, daß populäre Lesestoffe einen wichtigen Anteil an der nationalen Meinungsbildung, der Schaffung, Verfestigung und Verbreitung von Vorurteilen, Ressentiments und Aversionen auch hinsichtlich von Minoritäten und Rassen haben. Als ein Teil der „Volkskultur" reflektieren und tradieren sie u.a. Bilder und Stereotypen, die auf einen Konsens auch in den unteren Schichten zurückgeführt werden können. Wir müssen jedoch annehmen, daß ihr Einfluß im frühen 19. Jahrhundert beträchtlicher war als in unserem Zeitalter, in dem über das Buch hinaus andere populärere Massenmedien meinungsbildend wirken. Die Konsumenten dieser Literatur waren einerseits der Adel und das Bürgertum, andererseits aber auch jene „Näherinnen, Ladendiener, Studenten und Soldaten, Besucher von Herbergen und Benutzer von Leihbibliotheken", die der Biograph Karl Gottlob Cramers (einer jener Vielschreiber sowie ein Mode- und Erfolgsautor des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) als Leser und Leserinnen aufführt. Hauptfaktor bei der Verbreitung dieses Lesematerials waren — abgesehen von den Kolporteuren — vor allem die Leihbibliotheken. In den vergangenen zweieinhalb Jahren hatte ich die Gelegenheit, mich im Rahmen eines Forschungsprojektes, das am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin durchgeführt wurde, mit dem Bild des Juden und des Judentums im populären Roman der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beschäftigen, und damit die Möglichkeit, eine Fülle von Texten unterschiedlichster Autoren durchzusehen und zu lesen, etwa 150 inzwischen von über 300. Was dabei zutage kam, war eine überraschende Vielfalt von Themen, Motiven und Kontexten — und vor allem davon möchte ich sprechen:1 in exemplarischer Auswahl von Julius von Voß als einem Spätaufklärer, von 1

Auf das methodische Vorgehen hinsichtlich dieses komplexen und vielschichtigen Phänomens im Rahmen des Projektes kann an diesem Ort nicht eingegangen werden. Es versucht in einer Kombination von literarischer Strukturanalyse, literarhistorischbiographischer, kulturanthropologischer und sozio-historischer Fragestellung den Gegenstand zu erschließen.

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Beate Orland

Heinrich Clauren als einem Repräsentanten des Biedermeier und von Friedrich Seybold und Harro Harring als Vertretern revolutionär demokratischer Standpunkte, aber unterschiedlicher Haltungen dem Judentum gegenüber. Diese Autoren erscheinen mir unter dem Aspekt des Bewußtseins von der jüdischen Situation sowie gesellschaftlicher Vorurteile und Haltungen interessanter als etwa Carl Spindler, der ein Sittengemälde der spätmittelalterlichen christlichen Gesellschaft und ihrer Beziehungen zu den Juden in Zusammenhang mit einer Ritualmordanschuldigung darstellt, oder Eugène Sue, der mit dem Thema des ewigen Juden zwar ein altes literarisches Motiv aufgreift, dem es jedoch gar nicht primär um das jüdische Thema geht. Die erste literaturkritische Stellungnahme zu unserem Thema stammt aus dem Jahre 1834 und findet sich in dem Vorwort, das Selig Korn an die jüdischen Leser seines Romans Der jüdische Gil Blas, herausgegeben von einem Unbefangenen2 richtet. Er bemängelt dort die „Unbekanntschaft" der christlichen Autoren mit jüdischen Sitten und Gebräuchen. Gestalten wie Shewa, Nathan und Shylock streiften daher an Extreme und überschritten die Grenzen des Wahrscheinlichen, sowohl in den heroischen und sentimentalen Stoffen, als auch im Gebiet des Komischen. Als Beispiel nennt er die Posse Unser Verkehr3 und ihre Fortsetzung Jakobs Kriegsthaten und Hochzeit,4 Diese Charaktere seien Karikaturen und Fratzen. Was den Roman anbelangt, so würdigt Korn zwar die Tendenz Walter Scotts im Ivanhoe5 und Spindlers im Juden6, die die edleren Empfindungen des Lesers zu wecken beabsichtigten, aber auch hier seien keine jüdischen Charaktere, sondern nur abgenutzte „Romanenund Theatercoups" zur Darstellung gekommen. Die Unkenntnis der jüdischen Nationalität sei durch das Zurückverlegen der Handlung ins Mittelalter verdeckt. Einer „christlich frommen Frau" wie Wilhelmine S ostmann 7 vollends traut er nicht die Fähigkeit der Charakterschilderung eines polnischen Juden zu, da sie wohl nicht viel „mit polnischen Juden" conversiert habe. Alle bis dahin gedruckten Schauspiele und Romane zeigten als Hauptproblem den Juden im Konflikt mit seiner christlichen Umwelt. Was Korn vermißt, ist die Darstellung jüdischen Familienlebens. Er kritisiert

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Selig Korn: Der jüdische Gil Blas. Hrsg. und mit Anmerkungen begleitet von einem Unbefangenen. Leipzig 1834. [Karl Borromäus Alexander Sessa]: Unser Verkehr. Posse. Berlin 1815. Jakobs Kriegsthaten und Hochzeit. Fastnachts-Posse in 3 Akten. Auch als Fortsetzung zu „Unser Verkehr". Kanaan [d.i.: Frankfurt) 1816. Sir Walter Scott: Ivanhoe (1819) — Erste deutsche Übersetzung (1820) von K. L. Methusalem Müller. Carl Spindler: Der Jude. Deutsches Sittengemälde aus der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Stuttgart 1827. Wilhelmine Sostmann: Der polnische Jude. Historischer Roman. Braunschweig 1833.

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die ewigen Wiederholungen des oben erwähnten Thema's (von den schönen Judentöchtern, ihren christlichen, empfindsamen Freiern, und jenen, die Wünsche dieser zärtlichen Paare boshaft vernichtenden, garstigen, bärtigen, altgläubigen Schinkenscheuenden, beim Gotte Abrahams schwörenden, übrigens mit Gold und Schätzen schwer belasteten Väter der hypersentimentalen Zionsblumen) (S. ΧΠ) und fordert ein Buch, „dessen romanhafte Ingredienzien nicht die Hauptsubstanz bilden", sondern in dem „die politischen, religiösen und häuslichen Verhältnisse der Israeliten so umfassend" geschildert würden, „als es der begrenzte Raum der Romanform gestattet". Korn spricht mit dieser Kritik, die sich vor allem gegen den sentimentalen Roman in Scottscher Manier richtet, einen wichtigen Punkt an, wenn er darauf verweist, daß bei den christlichen Autoren sich der Mangel an Kenntnissen der jüdischen Kultur auf die Glaubwürdigkeit der Darstellung auswirke. In der Tat beginnt auch erst in den 30er Jahren in dieser Hinsicht ein Wandel, der durch jüdische Schriftsteller herbeigeführt wird, die eben diese Komponente in das Spektrum des Romangenres neu einführen. 8 Und in dieser Tradition oder Linie ist dann etwa auch ein Werk wie Hermann Schiffs Schief-Levinche und seine Kalle (1848) zu sehen. Schon vor Korn, ihm vermutlich nicht bekannt, veröffentlichte z.B. 1831 David Assur (ein Schwager Varnhagens und Onkel der Fanny Lewald) einen Roman Jom Kippur,9 und 1833 erschien in Wilna — also weitab vom Literaturbetrieb — Der Denunziant. Eine jüdische Begebenheit aus neuerer Zeit10 von W. Tugendhold, der als Zensor für jüdische Schriften im Bereich der Kulturvermittlung, des Kulturtransfers gewirkt hat. Eine Sonderstellung nehmen jene Konversionsromane ein, wie sie schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzten, etwa mit Johann Balthasar Kölbeles Schrift Die Begebenheiten der Jungfer Meyern, eines jüdischen Frauenzimmers, von ihr selbst beschrieben (1765) oder der deutschen Übersetzung von Antonio Piazzas Die Jüdin, oder Begebenheiten eines jüdischen Frauenzimmers von ihr selbst beschrieben (1770), und zu denen auch der Roman Die Familie de Lissa oder sonderbare Begebenheiten einer aus Polen nach London gezogenen, jüdischen Familie — als Bearbeitung eines englischen Romans — 1829 in Danzig verlegt — gerechnet werden muß — ein Roman, der trotz seiner klischeehaften Typen und Handlungsführung doch sehr gute Kenntnisse der Sitten und Gebräuche einer polnisch-jüdischen Familie 8

Siehe auch Hans Otto Horch: Jüdische Literaturdebatten im 19. Jahrhundert am Beispiel der „Allgemeinen Zeitung des Judentums". In: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses. Göttingen 1985. Bd. 5, S. 107-112. 9 [David Jacob Assur]: Jom Kippur der Versöhnungstag. Novelle von David Russa. Leipzig 1831. 10 W. Tugendhold: Der Denunziant. Eine jüdische Begebenheit aus neuerer Zeit. Wilna 1833.

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vermittelt und sich gerade deshalb dem christlichen Leser im Vorwort besonders anempfiehlt. Wenn auch Korns Kritik hinsichtlich dieser oben genannten Punkte im Wesentlichen zutrifft, so stimmt sie doch nicht, was die ständige Wiederholung derselben Thematik anbelangt und die Begrenztheit der dargestellten Typen. Diese sind aus heutiger Sicht vielfältiger, sowohl was ihre ethnische, religiöse als auch soziale Zuordnung anbelangt. Ich kann das an diesem Orte nur benennen, ohne es im Einzelnen zu belegen. Es tauchen an ethnischen Typen des Judentums sfardische (spanische, holländische, orientalische...) und aschkenasische (deutsche, polnische...) Juden auf, Vertreter unterschiedlicher geistiger und religiöser Richtungen, vom orthodoxen bis zum Reformjuden und vom aufgeklärten, assimilierten Juden bis zum Maranen. Und auch ihre soziale Zugehörigkeit zeigt die Spannweite von den untersten Schichten, vom Bettler, Trödler, Räuber bis zum Repräsentanten der kleinen, aber von der antisemitischen Polemik immer wieder attackierten Oberschicht, dem Arzt, Hoffaktor, Bankier, Rabbiner und Philosophen. Unter den mir bekannten Autoren unseres Zeitraums ist es der literarisch äußerst fruchtbare, in Berlin ansässige Julius von Voß, Zeitgenosse Rahel Vamhagens — eine persönliche Bekanntschaft hat sie offensichtlich bewußt vermieden, wie aus einem Brief an ihren Bruder hervorgeht 11 —, in dessen Werk am häufigsten Juden und Jüdinnen auftreten. Abgesehen von den Judenrollen in seinen Dramen12 kommen Juden und Jüdinnen in folgenden Romanen vor: in einer Episode des Eulenspiegel im 19. Jahrhundert oder Narrenwitz und Gimpelweisheit (Berlin 1809), in Der Berlinische Robinson. Eines jüdischen Bastards abentheuerliche Selbstbiographie (Berlin 1810), in dem im folgenden Jahr veröffentlichten Roman Nino de Santa Cruz oder die Engländer in Spanien (1811), in Gemälde der Verfinsterung in Abessinien (1818) sowie in Die 16 Ahnen des Grafen von Lustheim. Eine Familienchronik (Berlin 1821) und in dem komischen Roman Die Schildbürger (Berlin 1823). Beiläufig erwähnt seien hier nur noch die Erzählungen Bekehrungsanstalt für schöne Jüdinnen (in: Satyren und Launen die Zeit betrachtend, Breslau 1812), sowie der Band Jüdische Romantik und Wahrheit. Von einem getauften Israeliten (Berlin 1817). Ich beschränke mich an diesem Ort auf die wichtigsten Figuren und werde kurz über Rabbi Joel und den Typus der femme savante sprechen. Voß widmete seinen umfangreichen utopischen Aufklärungsroman 11 Brief von Rahel Vamhagen-Levin vom 23. Juni 1806 an ihren Bruder Ludwig Robert in Paris. Sie schreibt: .Julius von Voß soll uns ein Lessing sein! Mich zwingt keiner durch drucken lassen zum Umgang mit ihm." In: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. 1. T. Berlin 1834. Hrsg. von Konrad Feilchenfeldt u.a., München 1977, S. 290f. 12 Vgl. dazu den Beitrag von Horst Denkler.

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Nino de Santa Cruz dem Bankier Ezekiel „aus Achtung und Landsmannschaft". Es handelt sich offensichtlich um den in den Judenbürgerbüchern verzeichneten Carl Emanuel Ezechiel, Kgl. Kommerzienrat und Bankier aus Brandenburg. 13 Im Vorwort zu diesem Roman, das er im April 1811 niederschrieb, bemerkt Voß selber, daß er hier seine Einstellung zum Judentum dargelegt habe: „Was ich jedoch über das alte und neue Judentum (Moseslehre und Jesuslehre) im Emst denke, habe ich in dem Roman niedergelegt" (S. XXIII 0 · Rabbi Joel, auf dessen Gesellschaft Nino, der Protagonist des Romans — bis dahin aus traditionell christlicher Haltung heraus ein „Judenhasser" — auf einer Schiffsüberfahrt von Amerika nach Europa als einzigem Passagier angewiesen ist, stammt aus Polen. In langen Gesprächen, die auf französisch geführt, aber deutsch wiedergegeben werden, erfahren wir etwas über den Lebens- und Bildungsweg sowie die religiöse und philosophische Einstellung Joels. In Rabbi Joel schildert Voß einen jener polnisch jüdischen Rabbiner, die in idealer und eindrucksvoller Weise traditionelle jüdische Bildung und säkulare, philosophische und wissenschaftliche Bildung in sich vereinen: gelehrt in der Mischna, dem Talmud und jüdischen Kabbala, der sich in seiner Heimat auf eine witzige Exegese gelegt hatte, und mittels einer spitzfündigen Dialektik, in den rabbinischen Schriften Widersprüche zu entdecken verstand, wo keine lagen, und dagegen, wo man sie auf das gröblichste antraf, sie zum Staunen seiner Mitbrüder abzugleichen wußte. Späterhin ging er nach Berlin als Jugendlehrer, studierte dort mit großem Eifer Philosophie, zuerst die Werke der alten Tiefdenker seiner Nation, als Maimonides, Spinoza, dann der neueren, als Mendelssohn, Salomon Maimón, und daneben Griechen und Römer, zugleich Leibniz, Wolf, Kant, Fichte, mit dem regsten Eifer. Er trieb Mathematik und Sprachen, genug, er füllte sein von Natur sehr empfängliches Gedächtnis mit einem ungeheuren Reichtum von Wissen aller Art an. (S. 2S7)

Es scheint mir außer Frage zu stehen, daß Voß, der selber gelegentlich sagte, er gestalte gern nach der Wirklichkeit, hier seinen Bekannten und Freund Salomon Maimón zum Vorbild nahm, dessen Lebensgeschichte Karl Philipp Moritz 1792/93 veröffentlicht hatte, und von der Voß 1817 in dem Sammelband Jüdische Romantik eine Kurzfassung herausgab. Es ist der aus Armut zur Auswanderung gezwungene polnische Jude, der in Amerika eine neue Existenz findet. Ein utopischer Aufklärungsroman der Tendenz nach, endet er in Amerika mit der Versöhnung der drei Religionen, wobei die Vernunftreligion der Aufklärung als triumphierende Siegerin propagiert wird, unter Wahrung nationaler Eigenheiten, besonders der der jüdischen Religion. Rabbi Joel ist der Progressive und die motivierendste Figur in dieser Hinsicht. Er ist es auch, der zum Schluß die beiden Liebenden Nino und Isabella durch seine 13 Siehe Jacob Jacobsohn (Hrsg.): Die Judenbürgerbücher der Stadt Berlin Berlin 1962.

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weise Argumentation sicher dem Judentum zuführt. Der Gestalt des Rabbi Joel entspricht keine von Vossens jüdischen Frauengestalten. Es ist vor allem ein Typus, der mehrfach vorkommt: die „femme savante", die gelehrte Frau, 14 welcher allerdings nicht seine Bewunderung, sondern vielmehr seine satirische Aufmerksamkeit gilt, und „deren man" — wie Voß im Vorwort zum Travestierten Nathan sagt —, „dank sei es der Kultur in den großen Städten die Menge antrifft". Es sind nicht jene oben zitierten, hypersentimentalen Romanfiguren, jene schönen Jüdinnen, die allein um ihrer orientalischen, fremdländischen Reize willen faszinieren und bezaubern, sondern es sind die zwar auch schönen, aber selbstbewußten, sich emanzipierenden, den Generationskonflikt provozierenden Kinder ihrer Zeit, die Kolleginnen der Rahel Varnhagen, Hörerinnen Berliner Vorlesungen, Anhängerinnen und Verehrerinnen der neuesten philosophischen Systeme oder literarisch„germanistischer" Richtungen. Die Trödlerstochter Rebecca liest Otfried, Wolfram von Eschenbach und das Nibelungenlied und erhält bei der Taufe den „nibelungischen Namen Sigeminne". Vossens Blick ihnen gegenüber ist kritisch, und er sieht in diesem Bildungshunger eher einen Bildungsopportunismus, eine geistige Modeerscheinung, und ebenso in der Konversion. Bei aller idealischen Tendenz, aller Bildungsbesessenheit und Modesüchtigkeit sind sie doch gleichzeitig durchgängig sehr lebensund geschäftstüchtig und anspruchsvoll — was in gewissem Kontrast zu ihrem Idealismus steht; dies gilt sowohl für Ruth im Berlinischen Robinson als auch für Rebecca in der Verfinsterung von Abessinien oder für Recha im Travestierten Nathan. Voß war sich wie wenige Autoren des Kulturkontrastes als Quelle des komischen Effektes bewußt und erkannte in diesem Zusammenhang auch klar die Rezeptionsproblematik. Das wird u.a. in seinen Vorworten zu Nino de Santa Cruz sowie zum Travestierten Nathan deutlich, in denen er von den verschiedenen Leserklassen und ihren spezifischen Erwartungshaltungen spricht. Den „Nathan in mutwilliger Faschingstracht", wie er ihn nennt, widmete er „nicht der Lesewelt im Ganzen, denn darunter dürfte wohl ein mächtiger Theil Versündigung und Entweihung rufen — sondern dem engeren Ausschuß, der auch wohl einmal an dergleichen Behagen nimmt" (S. XI). Ob sein Nathan jemals aufgeführt wurde, ist nicht bekannt. Gegen den Vorwurf einer antijüdischen Einstellung verteidigt er sich 1811 im Vorwort zu Nino de Santa Cruz mit folgenden Worten: Man hat mir vorgeworfen, ich pflegte in Schauspielen oder Romanen oft Bekenner der mosaischen Theologie auf eine nachtheilige Art einzuführen. Oft 14 Damit reiht sich J. v. Voß in die Molière-Tradition ein, denn „die gelehrten oder literarischen .Weiber' [sind] ein sehr beliebter Gegenstand" in dieser Zeit. Vgl. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Bd. Π, Stuttgart 1972, S. 414.

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nicht, doch Einigemal ist es geschehen. Aber aus keinem anderen Grund, als weil — bei den Ungebildeten, wie sich von selbst versteht — manche abweichende Sitte und Ansicht bei ihnen, ihres Kontrastes halber, zu einer scherzhaften Darstellung geeignet sind. Dies räumen unterrichtete Juden selbst ein, es findet sich bei vielen christlichen Ständen eine ähnliche Anwendbarkeit für den Scherz — und Scherz ist immer ja keine Anfeindung.

(S.XXm) Die Verbreitung und Wirkung unserer Romane im einzelnen nachzuweisen, dürfte einem gesonderten Forschungsprojekt vorbehalten bleiben. Daß aber Heinrich Clauren — zum Ärgernis manches Kollegen (ich erinnere nur an die berühmte Controverspredigt von Wilhelm Hauff) — zu den meistgelesenen Autoren seiner Zeit gehörte, ist hinlänglich bekannt, und so ist es gewiß nicht unwichtig, auch seine Einstellung zu Juden und Judentum miteinzubeziehen. Abgesehen von seiner 1826 erschienenen Erzählung Der holländische Jude, in der er einen .guten Juden' darstellt, der aus Dankbarkeit zum Wohltäter einer christlichen Familie wird, begegnen wir in seinem 1829 erschienenen Roman Leopoldine und Molly einem weiteren Vertreter dieses Typus.15 Aber nicht nur die Darstellung des guten, ehrlichen, rechtlichen und unbescholtenen Abraham Moses und seiner Tochter Veilchen — „eines der niedlichsten Kinder des alten Bundes", mit „schwarzen, brennenden Augen in dem sehr hübschen, rein orientalisch geformten Gesicht" (S. 65) — ist erwähnenswert, sondern auch, daß von der Volksmeinung über die Juden und einem latenten Antisemitismus im Volke gesprochen wird. An Abraham Moses, einem nicht besonders wohlhabenden Provinzjuden, aber mit Verbindungen zu den ersten Häusern in der ganzen Stadt und in der Residenz, beeindrucken sein „sanfter Duldersinn", seine Lebenskenntnis, seine „praktische Weltweisheit". Er weiß, daß in der Welt ohne Geld kein Fortkommen ist, und daß man seine Verbindungen haben und die Schwächen der Menschen kennen muß, um weiter zu kommen. Mit „Schwächen der Menschen" meint er die Korrumpierbarkeit der meisten. „Ich habe meine Leute, und die haben wieder ihre Leute, und da muß Eins das Andere bearbeiten" [...]; „wenn man den Leuten nur erst abgemerkt hat die schwache Seite", dann läßt sich seiner Ansicht nach die „Maschinerie" des Fortkommens schon in Gang setzen. Die Einstellung des Volkes den Juden gegenüber sieht er als ein Resultat aus Mißtrauen, Neid und einem negativen Judenbild. Das Volk beklage sich zu recht, daß die Juden allein alle Geschäfte machten und allein reich würden, meint Moses, aber gleichzeitig sorgt er auch für die Erklärung dieses Zustandes, der auf der Anpassung an das negative Vorurteil beruhe. „Uns trauen sie, weil sie meinen, wir seyen schlechter und feil IS Sein Roman Der Blutschatz (Dresden 1823; =Scherz und Ernst Π, 3) war mir nicht zugänglich.

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für Gold", um aber die Kundschaft nicht zu verlieren, „thun wir so, als hätten wir keine Ehre im Leibe, darum nehmen sie uns lieber zu Geschäftchen als die christlichen Leut, denen sie nicht trauen" (S. 7). Diese Meinung hätten die Schlauesten unter ihnen sich in der letzten Zeit gar fein zunutze gemacht und darum alle großen Geschäfte an sich gezogen. Durch seinen Stolz über die Tüchtigkeit seiner Glaubensgenossen trägt er zur Bestätigung der Vorurteile bei, wenn er sagt: „Sie haben dadurch alles in ihrem Solde, und wirken überall, und wissen alles, sind reich geworden, und mächtig und groß" (S. 7). Eigennutz und Pflichtwidrigkeit auf christlicher Seite hätten dazu beigetragen. Wie hartnäckig aber die latente antijüdische Vorurteilstradition doch ist, wie ambivalent das Verhältnis der christlichen Majorität zur jüdischen Minorität, davon zeugt das Selbstgespräch des jungen Gerichts-Assessors und IchErzählers. Indem er das großzügige, uneigennützige, aus Dankbarkeit resultierende Handeln des Moses erkennt, gleichzeitig aber in Gedanken mißtrauisch ihn verdächtigt, erschrickt er über sich selbst: „Aber pfui, wie konnte ich in die Seele des alten Moses, von dem ich bis jetzt nichts als Gutes wußte, einen so argen Gedanken schieben." Und entschuldigend fährt er fort: Doch — wie die Furcht vor Gespenstern oft auch den Vernünftigsten noch aus Ammenzeiten seiner frühesten Jugend anwandelt, so ist zuweilen auch der Billigste, der Vorurteilsfreieste, ebenfalls aus den Tagen jenes kindischen Alters her, von dem albernen Hange nicht frei, die Genossen dieses Glaubens jeder niedrigen Handlung fähig zu halten (2. Buch, S. 80f.).

Und an anderem Ort bemerkt der Ich-Erzähler selbstkritisch sich anklagend: „daß ich mich vom Argwohn gegen diese spekulative Klasse von Menschen doch nie ganz losmachen konnte" (2. Buch, S. 84). Das objektiv wahrgenommene Bild des Juden gerät also immer wieder in Konflikt mit dem traditionellen, unreflektierten, mythischen, latent negativen, „dem alten Sauerteig von Vorurteilen gegen den Judaismus", wie es der Protagonist selber bezeichnet. Die biedermeierliche Idylle ist nur eine vordergründige. Rabbi Joel und Abraham Moses sind beides Individuen in romanhaften, zeitnahen Handlungszusammenhängen, jedoch nicht auf eine konkrete historische Situation bezogen. Das ist anders in den Romanen von Friedrich Seybold und Harro Harring, die beide bestimmte regionale und zeitliche Orte ansprechen und persönliche Erfahrungen aus unterschiedlichen Positionen heraus verarbeiten. Seybolds Hintergrund bildet die badische Provinz, für die er 1819 als Abgeordneter der Stadt Brackenheim in die württembergische Kammer gewählt worden war, 16 und für Harring sind es die Vorbereitungen zum polnischen Aufstand in Warschau von 1830.17 16 Siehe dazu den Artikel bei Goedeke. 17 Er hielt sich von 1828 bis zum Juli 1830 doit auf, hat also den Aufstand selber nicht

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Ich kenne keinen Roman in dem von mir untersuchten Zeitraum, der die Emanzipations- und Akkulturationsproblematik so treffend charakterisiert hat wie Seybolds sich als „komischer Roman" ausgebendes satirisches Werk Der Patriot, das 1830 erschien. Der Ort der Handlung ist eine Provinzstadt, die Haupt- und Residenzstadt Spießburg des Fürstentums Flachsenfingen, das eine neue Verfassung bekommen soll. Die Verfassungsvorlage der Regierung enthält unter anderem einen Paragraphen über die Emanzipation der Juden, der — während man sich über alle anderen schnellstens einigt — zu einer hitzigen Debatte in der Ständeversammlung führt, da der Spießburger Repräsentant der christlich-patriotischen Opposition Isembart Pfefferkorn, ein romantischpatriotischer Schwärmer, gegen den Zutritt der Juden zu den bürgerlichen Gewerben auftritt und im Unterhaus „eine donnernde Rede gegen die Juden" hält. Es ist eine antisemitische Hetzrede par excellence, die sich aller bekannten stereotypen Vorurteils- und Verleumdungsphrasen bedient und in ihrer Art unter den mir bekannten Romanen einzig dasteht. Sie erfährt eine Entgegnung durch den Sprecher der Regierung, den Präsidenten der Versammlung, mit einer Verteidigungsrede in aufklärerischer Absicht, in der er die Juden in Schutz nimmt, ihre Lage und Mißstände in historischer Perspektive aus sozio-ökonomischen Umständen heraus erklärt und für ihre Emanzipation plädiert. „Alle diese Gründe prallten jedoch an der hartnäckigen Opposition der Flach senfîngischen Deputierten ab, und die Sitzung wird zuletzt aufgehoben, ohne daß über den in Frage stehenden Artikel etwas entschieden war" (S. 200). Aber die Kontroverse zwischen Volksvertreter und Regierungsrepräsentant hat tags darauf ein literarisches Nachspiel in einem anonymen, mehrstrophigen, antijüdischen Hetzlied, das man am Wohnhaus des Präsidenten der Deputiertenkammer angeklebt findet und dessen letzte Zeile an die Juden gerichtet lautet: „Fort und siedelt im gelobten Lande" (S. 203). Die Debatte bzw. Kontroverse über den Emanzipationsparagraphen bringt die Flachsenfingische Ständeversammlung an den Rand einer Revolution, und nur außenpolitischer Druck vermag die Krise zu überwinden und bewirkt die Einigung und Annahme, mit Ausnahme eines Abgeordneten: „eine Stimme ließ sich verneinend vernehmen — die des patriotischen Isembart" (S. 208). Er hat denn auch die Volksstimmung von Spießburg auf seiner Seite, dessen Patrioten ihre Gemüter in den Wirtshäusern erleichtern, „wo sie aßen und tranken, und über die Juden schimpften" (S. 203). Die tragikomische Komponente gewinnt der gesellschaftspolitische Konflikt in dem Einzelschicksal des baronisierten und zum Ehrenbürger ernannten Hofjuden Samuel Levi, welches Seybold im neunten Kapitel schildert. Nachdem Samuel Levi „durch das Steigen der Papiere fast über mehr miterlebt.

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Nacht um etliche hunderttausend Gulden reicher geworden war" und „am rechten Orte ein paar tausend Dukaten" geopfert hatte, wurde er „um seiner Verdienste willen" in den Flachsenfingischen Adelsstand erhoben. Seine freisinnige Handlung — nachdem er nämlich „alle Vorurteile des Judentums" abgeschüttelt hatte, ließ er „im liberalsten Geiste, in sämtlichen Kirchen der Hauptstadt Spießburg die Altäre neu bekleiden" — bewirkt durch einen Wink von oben seine Ernennung zum Ehrenbürger. Und hier nun wird die Akkulturationsproblematik deutlich. Die Assimilation gelingt ihm in Kleidung und Sprache weitgehend, aber Stil und Verhalten bewirken schon bei der Verleihungszeremonie den komischen Effekt. Der Emporkömmling, der die gesellschaftliche Realität seiner neuen Umgebung nicht genau kennt und daher abhängig ist vom Rat und Urteil anderer, fällt auf den Schein herein und wird schließlich zum Gespött der ganzen Stadt. Die Zwiespältigkeit der Gesellschaft zeigt sich schon, als Levi den Stadtrat und die angesehensten Bürger Spießburgs zum Souper und Ball zu sich einlädt. Die Geistlichkeit gibt sich bedenklich, sieht sich gegenüber der jüdischen Einladung im Konflikt mit ihrer amtlichen Würde und ihren geistlichen Obliegenheiten und sagt nur zu „mit dem mentalen Vorbehalt, daß sie mit dem Baron, und nicht mit dem Juden speisen" würde. Der Aufwand, den der Jude bei dieser Gelegenheit machte, war fürstlich und sein Benehmen sollte es seyn: er war herablassend und fast zärtlich gegen den schlichten Bürger, aufmerksam und freundlich gegen die sogenannten Standespersonen und vertraulich mit den adeligen Lumpen, die sich eingefunden hatten (S. 242f.).

Während das Fest zu einem Bacchanal ausartet und der Wein den Gästen die letzten Befangenheiten nimmt, wird die Idee vorherrschend, „daß man sich im Judenhause nicht zu genieren brauche", und das tut man denn auch keineswegs. Diese Episode schließt mit der Bemerkung des Erzählers: „Die Bewohner von Spießburg freuten sich lange dieses herrlichen Tages und erzählen noch heute ihren Kindern von dem Sauleben im Judenhaus, als der Samuel Levi Baron und Ehrenbürger von Spießburg wurde" (S. 243f.). Aber man lebt nicht nur auf des Juden Samuel Levis Kosten, sondern man lacht auch auf seine Kosten. Durch die Intrige eines seiner adligen Schuldner, welcher die Erhebung eines Juden in den Adelsstand als Affront empfindet und sich auf subtile, hinterlistige Weise an ihm schadlos halten will, wird er zum Gespött der ganzen Stadt; denn die vermeintliche vornehme Dame, angebliche Primadonna der Wiener Oper, deren Bekanntschaft dieser adlige sogenannte Freund ihm vermittelt, entpuppt sich als eine Dirne, die ihn in der Liebesnacht bestiehlt und

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bloßstellt, indem er, seiner Börse und Beinkleider beraubt, als „israelitischer sansculotte" in panischem Schrecken nach Hause enteilt, wo der Intrigant ihm auflauert und ihn in ein Zimmer zerrt, in dem eine Abendgesellschaft versammelt ist. Dem Gespött entkommend, zeigt er der Gesellschaft „im Fliehen ein Gesicht, das man nicht täglich sieht", kommentiert der Erzähler den Vorgang (S. 255). Dennoch ist die Tendenz des Autors durchaus nicht die, den Juden selbst negativ darzustellen, sondern dieser ist nur das Mittel, das Exemplum gleichsam, durch das er seine Kritik demonstriert. Es geht ihm vielmehr um die Entlarvung der korrupten, engen bürgerlichen, ja buchstäblich spießbürgerlichen Gesellschaft, deren Konservativismus, Vorurteile, Neid, Mißgunst als fatale Handlungsmotive zum Tragen kommen und die Verwirklichung der Emanzipation gefährden. Die Mißgunst des Adels, der alten privilegierten und auf ihre Privilegien bedachten Oberschicht, gegenüber den in ihren Stand erhobenen Juden wird — das sei nur am Rande erwähnt — hier nicht zum ersten Mal zum literarischen Motiv. Wir begegnen ihm schon 1823 in dem Roman von Jean Pierre Eissig Schmuel oder die Mißheiraten. Seybolds Roman entstand auf dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen als Abgeordneter und aufmerksamer Beobachter der politischen Verhältnisse und Entwicklungen in seiner badischen Heimat. Wie langwierig der Emanzipationsprozeß dort war und wie eng verknüpft mit der Akkulturationsfrage, ist aus der historischen Forschung hinlänglich bekannt.18 Gegenüber den drei bisher besprochenen Autoren nimmt Harro Harring insofern eine besondere Position ein, als er in seinem dreibändigen Roman Der Pole eine eindeutig antisemitische Einstellung erkennen Iäßt.19 „Den edlen Deutschen Frauen und Jungfrauen", die sich um die verwundeten Polen des Freiheitskampfes verdient gemacht hatten, „als ein Denkmal der Verehrung Deutschen Hochsinnes und Deutscher Frauen-Tugend" gewidmet, erschien dieser Roman 1831 in 1000 Exemplaren in Bayreuth, wurde jedoch schon bald darauf in Preußen, Sachsen, Rußland und Polen auf Grund seiner antirussischen Tendenz verboten.20 18 Siehe z.B. Reinhard Rünip: Die Emanzipation der Juden in Baden. In: Emanzipation und Antisemitismus. Göttingen 197S (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 15). S. 37ff. 19 Eine eingehendere Analyse dieses Romans beabsichtige ich in den Mitteilungen der Harro-Haning-Gesellschaft zu veröffentlichen. Abgesehen von einem späteren Drama mit alttestamentarischer Thematik scheint Harring die jüdische Thematik nicht weiter beschäftigt zu haben. Zu diesem Zeitpunkt (1831) stand Harring offensichtlich noch stark unter dem Einfluß Follens und burschenschaftlichen Gedankengutes. Für diesen Hinweis danke ich Walter Grab. 20 Siehe Ulrich Schulte-Wülwer: Harro Harring und die Folgen der Julirevolution — die Unruhen in Sachsen und der polnische Freiheitskampf 1830/31. In: Mitteilungen der

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Es ist besonders die Figur des Baruch Adonis, eine wichtige Nebenfigur im Roman, an der diese antijüdische Einstellung ablesbar ist. Ein Neffe des früheren Pianolehrers und Klaviervirtuosen, wird er in derselben Position im Hause der polnischen Gräfin Bogumila angestellt. Der Autor führt ihn folgendermaßen ein: Baruch Adonis war ein junger Mann von mittlerer Größe und nach seiner eigenen Überzeugung, sehr liebenswürdig. Sein Antlitz bedarf weder einer Beschreibung, noch eines Titelkupfers, wenn wir bemerken, daß es mit unübertrefflicher Wahrheit das Charakterbild eines — Juden darstellte, dessen Ausdruck weder durch die Taufe, noch durch den Reichs- Adel verändert werden würde. Er gieng aufs Aeußerste nach der letzten Mode gekleidet (S. 61); und an anderer Stelle: Dieser junge Jude hatte als Eigentümlichkeit seines Volkes, eine sogenannte Einbildung von sich selbst, die alle Grenzen überschritt. Sie sprach sich bei jeder Gelegenheit in Selbstschätzung seiner Talente und seiner Kenntnisse, seiner Erfahrungen und Bildung und natürlich seiner körperlichen Schönheit, so unumwunden als Eitelkeit und Arroganz aus, daß er überall, wo man ihn kannte, zum Sprichworte geworden war, was er selbst aber vor lauter Einbildung durchaus nicht bemerkte. Seine zuversichtliche Schönheit ward bereits oben als stehende Form seiner ganzen Nation bezeichnet. Seine Gesichtszüge trugen jene Eigenschaften der Arroganz und des Dünkels so auffallend zur Schau, daß sie den Ausdruck beherrschten und alles Uebrige, was etwa in seinem Charakter verborgen lag, als nicht vorhanden zurückdrängten (S. 163). Baruch Adonis konvertiert aus Opportunismus zum Katholizismus — (er liebt die Gräfin Bogumila und möchte sie für sich gewinnen) —, nachdem er sich allerdings zuvor bei einem Priester der englischen Mission zur Bekehrung der Juden danach erkundigt hatte, was eine Taufe koste. Sein Erstaunen darüber, daß die Konversion kostenlos vollzogen wird, erklärt der Autor folgendermaßen: Nach jüdischer Ansicht hatte er vielleicht geglaubt, die Christen machten mit ihrem Glauben ,ein gutes Geschäft', da es ihm wohl natürlich schien, den Glauben hie und da als ein Kapital auf Procente unterzubringen und etwa mit dem Zeichen: Kapital einer Glaubens-Versicherungs-Anstalt zu begründen, ganz nach Art der Speculanten aller Welt. Diese Enttäuschung schien den jungen Juden ein wenig zu verwirren (S. 186). In der Taufe erhält er den Namen Baptist. Seine Hoffnungen auf die angebetete polnische Gräfin Bogumila erfüllen sich jedoch auch nach der Konversion nicht, er wird zum Polizeispion und endet schließlich als Verräter, aufgeknüpft an einem Warschauer Laternenpfahl. Außer Baruch alias Baptist Adonis kommen noch Juden der Unterschichten vor, ein bezahlter Informant, ein Leibjude eines russischen Offiziers und Fuhrleute, deren Beschreibungen antisemitische Klischees aufweisen. Sie werden als gewinnsüchtig, ehrlos, feige, kriecherisch, Harro-Haning-Gesellschaft Heft 3, Husum 1984, S. 22 u. Anm. 81.

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denunziatorisch dargestellt und sprechen zum Teil ein karikiertes Judendeutsch, da sich, wie der Erzähler anmerkt, „der Charakter des Juden nicht in Deutschem Stile aussprechen kann" (S. 184). Die Sprache als wichtiger Faktor im Akkulturations- und Assimilationsprozeß gehört zum zentralen Argumentationsinstrumentarium der Auseinandersetzungen um die Emanzipation und Integration der Juden in die christliche Gesellschaft im allgemeinen und der Erziehungstheorien im besonderen.21 Sie ist nicht zuletzt der Gradmesser, an dem sich die Position bzw. die Offenheit gegenüber diesem Prozeß ablesen läßt. Als Charakterisierungsmittel bei der Darstellung von Juden und Jüdinnen spielt sie sowohl in der Prosaliteratur als auch im Drama eine Rolle, die bisher noch nicht genügend untersucht worden ist. Abschließend darf jedoch festgestellt werden, daß die Verwendung des Judendeutschen oder Jiddischen, allgemein gesprochen der Dialektsprache bzw. des Soziolekts, als Charakterisierungsmittel nicht von vorneherein als ein negatives Stereotyp verstanden werden darf. Die Behauptung George Mosses,22 daß in den populären Romanen der J a r gon" als negatives Charakterisierungsmittel durchgängig sei, ist nicht aufrecht zu erhalten.

21 Siehe vor allem den Artikel von Peter Freimark: Sprachvethalten und Assimilation. Die Situation der Juden in Norddeutschland in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Saeculum Bd. 31. 1980. S. 240ff. 22 George Mosse: The Image of the Jew in German Popular Literature: Felix Dahn and Gustav Freytag. In: Germans and Jews. London 1971. S. 6Iff. Ich beziehe mich auf die Äußerung S. 64: „a mixture of Yiddish and German, the special .language* that Jews will speak throughout such popular literature".

Itta Shedletzky (Jerusalem)

Zwischen Stolz und Abneigung Zur Heine-Rezeption in der deutsch-jüdischen Literaturkritik

Nicht nur in Düsseldorf, auch in Tel Aviv gibt es Kontroversen, wenn man Heines Andenken ehren will. Als vor einiger Zeit eine Tel Aviver Straße nach ihm benannt werden sollte, mußte man einen Kompromiß finden. .Heinrich Heine-Straße', auf den Namen eines getauften Juden, das ging nicht an. Man einigte sich auf ,Rabbi von Bacherach-Straße', zu Ehren des — eben doch —jüdischen Dichters. Der Tel Aviver Akt an sich bestätigt — nur etwas unversöhnlicher —, was Gustav Karpeles 1906 in einem Artikel zu Heines fünfzigstem Todestag schrieb: „Für uns aber ist und bleibt er ein Stolz unseres Volkes, wenn er auch in den Tagen seiner Jugend übermütig von uns abgefallen." 1 Stolz auf Heine, Liebe und Verehrung für „den ersten großen jüdischen Dichter in Deutschland" (Moritz Goldstein) 2 und für sein Werk bestimmten die Grundhaltung eines breiten jüdischen Leserpublikums in Mittel- und Osteuropa spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Der Rabbi von Bacherach, die Hebräischen Melodien, aber auch Das Buch der Lieder und Die Harzreise gehörten zur Standardlektüre in jüdischen Häusern aller konfessionellen Schattierungen. Davon war, zumindest in Mitteleuropa, auch die Orthodoxie nicht ausgenommen. 3 1 2 3

Gustav Karpeles: Heinrich Heine. Zum 16. Februar 1906. In: Ost und West. Dlustriette Monatsschrift für modernes Judentum 6 (1906), Heft 1, Sp. 23-28. Moritz Goldstein: Geistige Organisation des Judentums. In: Ost und West (Anm. 1), Heft 8/9, Sp. 513-526. Über Heine: Sp. 522. Ein bemerkenswertes Beispiel orthodoxer Heine-Rezeption findet sich in der kürzlich erschienenen Studie von Mordechai Breuer: Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871-1918. Frankfurt am Main 1986. S. 214, 428. In einem Abschnitt über die Bedeutung des Sabbat im täglichen Leben der orthodoxen Kaufleute schreibt Breuer u.a.: „Er gab den Handelsmännern, den großen und den kleinen, eine Selbstachtung und eine Respektabilität, die sie für die vom Religionsgesetz auferlegten Entbehrungen und für manche Mißachtung seitens der Außenwelt entschädigte" (S. 214). In Breuers Anmerkung dazu heißt es dann: „Vgl. Heinrich Heines Gedicht .Prinzessin Sabbath'" (S. 428). Auch aus eigener Erfahrung in ihrem orthodoxen Elternhaus weiß die Verfasserin, daß sich die Haltung der Orthodoxie zu Heine nicht so pauschal vereinfachen läßt, wie Jost Hermand dies im Vorwort zu seinem Forschungsbericht tut, wo es heißt: Heine war „den orthodoxen Juden ein böser Stachel im Fleische". Jost Hermand: Streitobjekt Heine. Ein Forschungsbericht 1945-1975. Frankfurt am Main 1975. S. 10.

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Wesentlich ambivalenter wurde Heine zu seinen Lebzeiten und danach von jüdischen Literaturkritikern und -historikern rezipiert. Für die Beziehung der Juden zu Heine gilt ganz besonders, was seine nachhaltige Wirkung überhaupt kennzeichnet. Mit seinem Tode „kam dieses wilde Leben zur Ruhe, um seine Wanderung durch die Zeiten zu beginnen und nicht mehr zu enden". So schließt Werner Krafts Nachwort zu seiner Auswahl Heine. Gedicht und Gedanke, welche 1936 in Berlin in der .Bücherei des Schocken Verlags' erschien (S. 85). Und es gilt hier auch, was Kraft dort eingangs schreibt: man „wird verwickelt durch das moralische Problem, das immer, im Guten und im Bösen, mitschwingt, wenn von Heine die Rede ist". (S. 79) Es scheint so selbstverständlich zu sein, daß Juden ein ganz spezifisches und intensives Verhältnis zu Heine hatten und haben, und doch — oder gerade deshalb — ist dies in der Forschung fast unbeachtet geblieben. 4 Man hat komplexe Themenbereiche wie .Heine und das Judentum' 5 oder .Heine in Deutschland' 6 mehrfach analysiert und dokumentiert, ohne jedoch den Aspekt ,die Juden und Heine' wesentlich zu berücksichtigen, geschweige denn systematisch zu behandeln. Der folgende Versuch, die deutsch-jüdische Heine-Rezeption anhand einiger repräsentativer Texte und Positionen zu skizzieren, wurde angeregt während einer Untersuchung der Literaturdiskussion in den jüdischen Zeitschriften im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, nicht von Heine ausgehend, jedoch unwillkürlich immer wieder mit ihm konfrontiert. In den historischen Kontext der deutsch-jüdischen Literaturdiskussion — geprägt von Emanzipation, Assimilation, Antisemitismus und Zionismus — gehört auch die intensivste Phase der Auseinandersetzung von Juden mit Heine. Nach Texten datiert, handelt es sich um den Zeitraum zwischen Ludwig Philippsons Rezension des Rabbi von Bacherach in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums 1841 und Jakob Wassermanns Mein Weg als Deutscher und Jude (1921). Mit leitmotivischer Sicherheit fällt in dieser Zeit in den Schriften deutsch-jüdischer Literaturkritiker der Name Heine — mehr oder weniger akzentuiert —, wenn von deutscher oder jüdischer Literatur, aber auch allgemein von jüdischer oder deutsch-jüdischer Identität die Rede ist.7 4

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Eine Ausnahme bildet das Kapitel: Ludwig Börne und Heinrich Heine: die Wiedergewinnung zweier verlorener Söhne. In: Hans Otto Horch: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der .Allgemeinen Zeitung des Judentums' (1837-1922). Frankfurt am Main 1985. S. 104-115. Dies fällt besonders auf in so wichtigen Studien wie: Hartmut Kircher: Heinrich Heine und das Judentum. Bonn 1973, und: S. S. Prawer: Heine's Jewish Comedy. A Study of his Portraits of Jews and Judaism. Oxford 1983. Karl Theodor Kleinknecht (Hrsg.): Heine in Deutschland. Dokumente seiner Rezeption 1834-1956. Tübingen 1976. Kleinknecht konstatiert diese Lücke in seiner Einleitung: „Die weitere Rezeption Heines durch das deutsche Judentum [außer Gabriel Riesser] wäre eigens zu untersuchen" (S. XXV, Anm. 49). Itta Shedletzky: Literaturdiskussion und Belletristik in den jüdischen Zeitschriften in

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Weder der Rahmen dieses Referats noch der Stand der Forschung ermöglichen eine detaillierte und umfassende Darstellung der deutschjüdischen Heine-Rezeption. Auch beschränkt sich der folgende Versuch, dieses weite Feld durch den Hinweis auf einige Punkte und Zusammenhänge erst einmal abzustecken, auf den erfaßbaren, weil artikulierten Bereich der Literaturkritik. Es geht hier, wie in der Kritik, vor allem um das Jüdische': Heines Verhältnis zum Judentum und die jüdische Substanz seines Werks. Zwischen Kritikern und .Normallesern' (Kleinknecht) besteht wohl immer eine gewisse, wenn auch schwer nachweisbare Wechselbeziehung. In der zeitlichen Folge ist das Urteil jeder Leser- und Kritikergeneration — bewußt oder unbewußt — mitgeprägt vom Rezeptionsverlauf ad hoc. Dies gilt um so mehr in einem intimen Rezeptionsbereich wie der deutsch-jüdischen Öffentlichkeit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Intimsphäre der Juden unter sich' umfaßte — auf der Bewußtseinsebene — auch im Zeitalter der Emanzipation, trotz fortschreitender Assimilation, immer noch weite Kreise, auch außerhalb der jüdischen Gemeinden und Organisationen. Ton und Argumentation der deutschjüdischen Heine-Kritik sind ein eloquentes Indiz für das Weiterbestehen dieser Intimsphäre mit ihrem Anspruch auf Zusammengehörigkeit und Verantwortung .aller für alle'. Dies äußert sich in der Art und Weise, wie Heine — „im Guten und im Bösen" (Werner Kraft) — als .einer der unseren' behandelt wird und als Katalysator dient für die deutschjüdische Position und Problematik der Kritiker, je nach ihrer Affinität zu den dominanten Tendenzen der Zeit: religiös-liberal, zionistisch, deutschjüdisch8 oder ausgesprochen deutsch. Im Lauf der Versuche, jüdische Literatur zu definieren und zu programmieren, wurde Heine vom religiös-liberalen Rabbiner Ludwig Philippson entrüstet abgelehnt,9 später vom ähnlich affilierten HeineForscher Gustav Karpeles .heimgeholt' und liebevoll verklärt, 10 und dann von Moritz Goldstein, aus nationaljüdischer Sicht, kritisch anerkannt. 11 Im frühen 20. Jahrhundert macht sich — vom Zionismus ausDeutschland 1837-1918. Diss. Jerusalem 1986. Doit wird die Heine-Rezeption nur ganz nebenbei erwähnt. Etwas ausführlicher dann in: I. Sh.: Im Spannungsfeld HeineKafka. Deutsch-jüdische Belletristik und Literaturdiskussion zwischen Emanzipation, Assimilation und Zionismus. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Tübingen 1986. Bd. 5, S. 113-121. 8 Den Begriff .Deutschjudentum' als Gegensatz zum .Nationaljudentum' und Bezeichnung für die geistige Haltung assimilierter Juden hat Gershom Scholem geprägt in seinem Aufsatz: Jüdische Jugendbewegung. In: Der Jude 1 (1916/17), S. 824. 9 Literarische Nachrichten. In: Allgemeine Zeitung des Judenthums 5 (1841), No. 1, S. 7-8. 10 Gustav Karpeles: Heinrich Heine und das Judenthum. Breslau 1868. Ders.: Heinrich Heine und .Der Rabbi von Bacharach*. Wien 1895. Zu Karpeles' zahlreichen Aufsätzen über Heine in der .Allgemeinen Zeitung des Judentums' s. die ausführliche Bibliographie bei Horch (Anm. 4), S. 325-497.

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gehend — eine verschärfte Tendenz bemerkbar, Heine für gewisse jüdische Positionen zu annektieren, mit fast derselben Vehemenz, mit der ihn um diese Zeit Adolf Bartels und andere ausgesprochene Antisemiten attackieren. 12 Für Max Jungmann war Heine ein .Nationaljude', 1 3 für Nathan Birnbaum gar ein potentieller Zionist,14 wogegen Georg J. Plotke dann 1913 seine These vom Reformjudentum des reifen Heine entwickelte. 15 Einen ersten Versuch in dieser Richtung, Heines .Judentum' ethisch-universalistisch zu interpretieren, hatte der junge Hermann Cohen schon 1867 unternommen.16 Auch außerhalb des offiziell-jüdischen Bereichs der konfessionellen und kulturpolitischen Publizistik nahmen Literaturkritiker jüdischer Herkunft oft und manchmal auch entscheidend Bezug auf Heine, wenn sie sich mit deutscher Literatur und Sprache auseinandersetzten. In diese Kategorie gehören das Kapitel über Heine in Samuel Lublinskis Litteratur und Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert (1899-1901), der Essay Heine und Nietzsche des Naturalisten Leo Berg (1908) und natürlich Heine und die Folgen von Karl Kraus (1910). Fritz Mauthner bildet in diesem Kontext insofern eine Ausnahme, als er sich auf Heine nicht in seiner Kritik der Sprache (1901/02) bezieht, sondern ihm in seinen Gespräche[n] im Himmel (1914) eine Art .nationaldeutsche Ehrenrettung' bereitet. Als eigenartige Variante wäre hier noch Max Fischers Heinrich Heine der deutsche Jude (1916) hinzuzufügen, geschrieben aus der Perspektive eines überzeugt katholisch gewordenen Juden. Im Zusammenhang mit Max Fischers Buch zeigt eine kuriose Episode, wie komplex deutsch-jüdische Heine-Rezeption sein kann, wie fragwürdig und gleichzeitig doch relevant in diesem Kontext die Begriffe .deutsch' und .jüdisch' sind. Kurz nach dem Erscheinen des Buches im 11 Außer dem Artikel aus dem Jahr 1906 (Anm. 2) s. Moritz Goldstein: Deutsch-jüdischer Pamaß. In: Der Kunstwart 25 (1912), Heft 11, S. 289, sowie Ders.: Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur. Berlin o.J. [1912]. S. 6, 14, 15. 12 Adolf Bartels: Heinrich Heine. Auch ein Denkmal. Dresden und Leipzig 1906. 13 Max Jungmann: Heinrich Heine ein Nationaljude. Eine kritische Synthese. Berlin 1896. 14 Mathias Acher (= Nathan Birnbaum): Heinrich Heine, der Jude. In: Die Welt. Zentralorgan der zionistischen Bewegung 10 (1906), No. 9, S. 14-15. 15 Georg J. Plotke: Heinrich Heine als Dichter des Judentums. Leipzig o. J. [1913]. Jost Hermand (Anm. 3) S. 127 nimmt es nicht sehr genau, wenn er schreibt, „erst" Georg Plotke habe versucht, „Heine als positiven Vorläufer des Zionismus hinzustellen". Erstens haben dies deutsche Zionisten schon 1896 und 1906 getan (Anm. 13, 14). Zweitens scheint Hermand Plotkes Buch nicht zu Ende gelesen zu haben. Sonst hätte er doch merken müssen, daB Heines .Zionismus' sich für Plotke auf die kurze Zeit seiner Mitgliedschaft im .Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden' beschränkt, und daß Plotke — gerade gegen die zionistische Vereinnahmung Heines — dessen „Entwicklung vom Nationaljuden zum Reformjuden" (S. 100) nachzuweisen sucht 16 Hermann Cohen: Heinrich Heine und das Judentum. Zuerst anonym in Fortsetzungen erschienen in: Die Gegenwart. Berliner Wochenschrift für Jüdische Angelegenheiten 1 (1867), No. 1-11. Später abgedruckt in: Hermann Cohens jüdische Schriften. Hrsg. von Bruno Strauss. Berlin 1924. Zweiter Band: Zur jüdischen Zeitgeschichte. S. 2-44.

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Jahre 1916 lernte Gershom Scholen) Max Fischer in Heidelberg kennen. Scholem erwähnt diese Begegnung in seiner Autobiographie Von Berlin nach Jerusalem. Sie war für ihn wichtig, denn er hatte hier „zum ersten Mal einen Juden getroffen, der aus Überzeugung katholisch geworden war", 17 was Scholem aber, als er das Buch über Heine las, noch nicht wußte: So las ich Max Fischers erstes Buch, das gerade erschienen war, Heinrich Heine der deutsche Jude, mit starkem Interesse als die Analyse eines Deutschen, der sich über die Juden überhaupt und über die Figur von Heine ernstlich Gedanken gemacht hatte, und staunte über die Einsicht, die ein Deutscher hier auch in der Kritik bewies. Drei Tage vor meiner Abreise aus Heidelberg verriet er mir, daß er Konvertit sei und aus der Situation eines jüdischen Konvertiten heraus geschrieben habe. (S. 99)

Der neunzehnjährige Scholem las also das Buch unter der Prämisse, daß man nur als Jude die Juden — in diesem Fall Heine — wirklich und einfühlsam verstehen könne. Er selber aber merkte bei der Lektüre nicht, daß Fischer Jude war. Andererseits rechtfertigt die Entdeckung von Fischers jüdischer Herkunft im Nachhinein Scholems Prämisse, zumindest was das Verständnis von Heine betrifft. In diesem Punkt bezeugt jedoch die deutsch-jüdische Heine-Rezeption als ganzes, daß die jüdische Herkunft der Kritiker zwar zu intensiver Auseinandersetzung mit Heine herausfordert, den Blick auf ihn und sein Werk aber nicht unbedingt klärt. Ist man bei der Lektüre von Fischers Buch über seine „Situation eines jüdischen Konvertiten" orientiert, so merkt man deutlich den durchgehenden Ton des Bedauerns für den zwar nicht genialen, aber doch sehr talentierten Heine, der den Weg zum rechten Glauben nicht finden konnte. Und man hört unmißverständlich heraus, daß hier einer spricht, dem dieses Glück widerfahren ist. Für Fischer „ist die Tragik Heines" diejenige „derer, die beten wollen und nicht aufs Knie fallen können; es ist die Tragik derer, die reinen Klang sehnen, und ihre Stimme zeugt nur wehe Dissonanz" (S. 64). Die Wallfahrt nach Kevlaar interpretiert Fischer als Ausdruck von Heines starkem katholischen Glaubenspotential: Hier ist katholische Frömmigkeit und innerliche Religiosität von dem ungläubigen protestantischen Konvertiten so stark anempfunden worden, daß die Demut christlicher Herzen und die Weihe gläubiger Stimmung in ihm Gestalt gewonnen hat. (S. 41-42)

Im Anschluß an die Analyse dieses frühen Gedichts von Heine wird dann das persönliche Anliegen und Bedauern des Konvertiten Fischer ganz deutlich vernehmbar: So stark war die Seele Heinrich Heines empfänglich, die Weihe alter Symbole und wundersamer Gläubigkeit in sich nachzittern zu lassen. Wäre es nicht 17 Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Frankfurt am Main 1977. S. 99.

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vielleicht möglich gewesen, daß er dort eine Heimat gefunden hätte, wo solche Gläubigkeit schwang, wo solches Erleben Formen besaß und sich notvoll zur Wehr setzen mußte gegen den Geist der Zeit, der rational und irreligiös, wirtschaftlichen und organisatorischen Interessen zugewandt war und der die Seele darben ließ? War es nicht ein Verleugnen seines besseren Ich zugunsten seiner flächenhaften Begabungen und seiner äußeren Antriebe, wenn er das Lager, in dem Friedrich Wilhelm IV., Friedrich Julius Stahl und Radowitz standen, oder jenes andere, welches von dem Geist des wundervollen Görres erfüllt war, nicht nur mied, sondern bekämpfte? Waren es nicht seine niedersten Triebe, seine äußerlichsten Talente, die zum Ausbruch kamen, nun, da er statt eines Apostels des geistigen Deutschlands ein Volkstribun und ein Possenreißer zu werden gewillt war? Er stand am Scheidewege, aber er hatte weder die Kraft, ganz das eine zu tun noch ganz das andere. Weder trat er auf die Seite des romantischen Empfindens, ein lohender Prediger wider den Nützlichkeitsgeist der Zeit; noch besaß er elementarische Kraft genug, um die Brandfackel der Revolution schleudern zu können wider das Deutschland Metternichs und Friedrich Wilhelms IV. Er ging nach Paris ins selbstgewählte Exil und erlebte schlaffe Jahre in der äußerlichen Sinnenfreudigkeit der französischen Hauptstadt (S. 42-44).

Diese Passage hat der junge Scholem wohl nicht mit voller Aufmerksamkeit gelesen. Oder er identifizierte sich — entsprechend seiner damaligen Situation — dermaßen mit Fischers Klage über Heines Unvermögen, klare Entscheidungen zu treffen, daß er dabei die moralistisch katholizierende Tendenz übersah. Es könnte auch sein, daß Fischers Religiosität und ernsthafte Suche nach einem Glauben der Haltung des jungen Scholem zum Judentum nicht unähnlich war. Am Ende der besonders intensiv engagierten Rezeptionsphase steht Jakob Wassermann, auf seinem Weg als Deutscher und Jude auffallend stark irritiert durch Heine, gegen den er sich „von Anfang an in einem Verhältnis des Widerstrebens, ja der heftigen Abneigung" befand.18 Das extreme Ausmaß der persönlichen und ideologischen Vereinnahmung Heines durch die Kritik von Philippson bis Wassermann zeigt sich noch deutlicher, wenn man einen vergleichenden Blick wirft auf die deutschjüdische Heine-Rezeption nach 1933. So voneinander verschiedene Autoren wie Max Wiener, Max Brod und Hannah Arendt lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen, was ihre ausgewogenen und sachlich fundierten Äußerungen über Heine in den Jahren 1933-1948 betrifft, bei allen Unterschieden der Person und der Weltanschauung und trotz des beträchtlichen ideologischen Engagements. Die Ereignisse der Zeit und der größere zeitliche Abstand von Heine spielen dabei wohl gleichermaßen eine Rolle. Heine war in dieser Zeit vielleicht relevanter und man stand ihm näher als je zuvor. Es änderte und entschärfte sich der Ton der 18 Jakob Wassermann: Mein Weg als ¡Deutscher und Jude. Zitiert nach: Jakob Wassermann. Deutscher und Jude. Reden und Schriften 1904-1933. Hrsg. von Dierk Rodewald. Heidelberg 1984. S. 35-131. Über Heine: S. 74 (Zitat) - 76.

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Kritik, und man hatte, gerade in jüdischen Belangen, mehr Distanz gewonnen. Das Urteil über Heine ist bei der politischen Jüdin Hannah Arendt, bei dem Zionisten Max Brod, aber auch bei dem religiösliberalen Rabbiner Max Wiener verbunden mit Kritik an der deutschjüdischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Daraus resultiert aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichem Wertungsakzent das allen drei Autoren gemeinsame Fazit, Heine sei den Juden seiner Zeit voraus gewesen. Was Max Wiener in diesem Zusammenhang schreibt — im Schlußkapitel „Judentum als Stimmung" seines Buches Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation (1933) — ist seinerseits nicht unbedingt positiv gemeint, erklärt aber treffend sowohl Heines Position als auch den möglichen Grund seiner Popularität um die Jahrhundertwende: Er bleibt Liberaler der bürgerlichen Emanzipationsschicht, begeisterter Freund der Ideen von 1789, soweit ihre Konsequenzen, wie er sie fühlt und fürchtet, nicht eines Tages zur kommunistischen Revolution führen, kurz, Jude von der Art, wie sie für die Gesinnung des späteren 19. Jahrhunderts bei den nicht gerade fanatischen Assimilanten typisch geworden ist. (S. 260)

In seiner skeptischen Einschätzung von Heines jüdischem Engagement folgt Wiener — zwar sehr gemäßigt und differenziert — der Tradition der religiösen Reformbewegung, gibt aber auch gleichzeitig eine plausible Erklärung, warum Heines religiös-liberale Zeitgenossen so heftig gegen ihn auftraten und sich so völlig von ihm distanzierten: So zeigt sich wohl in der gesamten Haltung zum Judentum eine Verstärkung der positiven Ansätze. Gleichwohl möchte man in stimma urteilen, daß Heines Heimkehr zum Judentum doch eben nur die Rückkehr zu einem Boden ist, in dem er nie sonderlich tief gewurzelt hat. Sein Schwerpunkt war niemals in diesem gelagert Das Schwankende, Unsichere bloßer Stimmungen läßt wohl nicht mehr wie einst und wie beim schlechthin romantischen Geist die Umrisse der festen Dinge je nach momentaner Gemütserregung ins Vage verschwimmen. Aber die Einsamkeit seines Judentums, sein persönlicher Abstand von den konkreten Tagessorgen seiner Gemeinschaft läßt eine Haltung, eine deutliche bindende Stellungnahme zu den konkreten Gedanken der jüdischen Lehre nicht aufkommen. Er denkt viel mehr wohlwollend über das Judentum, als daß er für sich selbst eine starke Position in ihm suchte. (S. 261)

Ludwig Philippson und Gabriel Riesser sahen ihre Lebensaufgabe darin, sich um die „konkreten Tagessorgen [ihrer] Gemeinschaft" zu kümmern und — im Fall Philippsons — sich zu bemühen um eine zeitgemäße Form für die „konkreten Gedanken der jüdischen Lehre". Heines „persönlicher Abstand" von der jüdischen Gemeinschaft konnte nur ihr Ressentiment erregen und verstellte ihnen den Blick dafür, daß er doch — trotz seiner Taufe — „wohlwollend über das Judentum" dachte. Gabriel Riesser ging so weit, sich im Namen der Emanzipation öffentlich von Heine zu distanzieren, als Reaktion auf Gustav Pfizers

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,Vorwurf\ es hätten diejenigen Juden, „die am lautesten die Emancipation fordern, nicht aufgehört, Heine insgeheim als den Ihrigen zu betrachten":19 Die Juden haben aber Heine nie anerkannt, sie haben sich nie anders als gleichgültig zu ihm verhalten; sie haben seine poetischen und stilistischen Talente nicht mehr als Andere bewundert; sie haben für seine Gesinnungen, für seine Spöttereien über jüdische und christliche Religionsvorstellungen nie Sympathie gehegt; sie haben ihn stets, wie er sie, verleugnet, wenn er ihnen aufgebürdet werden sollte; nie hat sich ein Jude, der als Solcher, der im Namen und Sinne seiner Glaubensgenossen über Heine redete, anders als zurückweisend, als jede Gemeinschaft ernst und offen ablehnend, über ihn geäußert.20 Ludwig Philippsons Kritik an Heine bezog sich vor allem auf das literarische Werk. Weder Der Rabbi von Bacherach noch der Romanzerò paßten in das von Philippson konzipierte und in seinen eigenen Erzählungen realisierte Programm einer didaktischen jüdischen Belletristik'. 21 Die „ergötzlichen Figuren des Marchese Gumpelino und des Hirsch Hyacinthos" konnte Philippson gerade noch goutieren, weil hier getaufte, neureiche und opportunistische Juden lächerlich gemacht wurden: Sie sind ächt jüdische Karrikaturen von der unschuldigsten Seite, und mit voller satyrischer Ladung auf die lächerlichen Gestalten, die durch den Zusammenstoß der alten und modernen Zeiten geknetet worden. Gestalten, die in den zwanziger Jahren namentlich häufig gesehen wurden. Mit dieser Anerkennung für Heines satirisches Talent leitet Philippson seine Besprechung des Rabbi von Bacherach ein, 22 um dann desto schärfer die unmoralische Pietätlosigkeit „dieses Fragments" — und des ganzen vierten Bandes des Salons — anzuprangern. Die von Philippson konzipierte .jüdische Belletristik' sollte den Lesern die Lehren und Ideale eines ethisch-universalistischen Judentums vermitteln. Nichts war — aus Philippsons Sicht — davon weiter entfernt als Heines „Schilderung alter jüdischer Sitten" im Rabbi: Was soll dieses ewige Widerkäuen alter jüdischer Sitten? Was tischt Ihr daran der Lesewelt immer wieder auf? was wandelt Ihr alte, ehrwürdige Gebräuche, die, wenn sie beibehalten werden, mit Sinn und Gemüth aufgefasst werden müssen, wo nicht aber, liegen bleiben mögen, zu Spielpuppen Eurer kraftlosen Gaukeleien um? Habt Ihr, entnervte Lüstlinge, nicht in Eurer flachen, charakterlosen Sphäre Gegenstände zu Tändeleien genug? — Aber halt! Herrn Heine eine moralische Vorlesung halten, wäre zu lächerlich. Lieber den Nagel auf den Kopf getroffen — es sollen Büchlein geschmiert werden, und wenn dazu das große Genie kein Fünkchen Inhalt, kein Stäubchen produzirten 19 Gustav Pfizer: Heine's Schriften und Tendenz. In: Deutsche Viertel-Jahrsschrift. Jg. 1838, S. 216. Zitiert nach Kleinknecht (Anm. 6), S. XXV. 20 Zitiert nach Kleinknecht (Anm. 6), S. XXV. 21 Vgl. Horch (Anm. 4) und Ders.: Jüdische Literaturdebatten im 19. Jahrhundert am Beispiel der .Allgemeinen Zeitung des Judentums*. In: Kontroversen, alte und neue (Anm. 7), S. 107-112. Vgl. auch Shedletzky (Anm. 7). 22 Literarische Nachrichten. In: Allgemeine Zeitung des Judenthums 5 (1841). S. 7-8.

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wenn dazu das große Genie kein Fünkchen Inhalt, kein Stäubchen produzirten Stoff in sich verspürt, so holt man sein vergessenes Judenthum aus den Winkeln des wüsten Gedächtnisses hervor, um daraus eine pikante Sauce zu fabriziren, die irgend einen verdorbenen Lesergaumen noch eine halbe Stunde zu reizen mag.

Mit herablassender Ironie diskreditiert Philippson dann die Figur des Don Isaak Abarbanel als Selbstvergötterung des Genußmenschen Heine, ohne ihm hier auch nur eine Spur von Selbstkritik zuzugestehen: Einen solchen Heros zu schildern, ist der Heine'sche Pinsel ganz geeignet, und wollen wir ihm die Freude an dergleichen Meisterwerken nicht verderben. Wer weiß, wie lange Heine dieses Laster schon treibt. Daß er sich in diesem Fragment mit dem ehrwürdigen Namen Don Isaak Abarbanel benennt, vergebe ihm dieser große Schatten. Wahrscheinlich ist es eine Verwechselung mit dem nach einer Sage verlorenen Sohn von Isaak Abarbanel. Herr Heine kann so leicht in die Verwechselung mit einem verlorenen Sohn verfallen.

Die .Heimkehr des verlorenen Sohnes' begrüßt Philippson dann — nach Erscheinen der Geständnisse (1854) — nicht weniger herablassend.23 Max Brod nimmt in der zionistischen Heine-Rezeption eine ähnliche Position ein wie Max Wiener in der religiös-liberalen Kritik. Bei aller wortreichen Überschwenglichkeit gelingt es Brod an einigen Stellen in seiner Heine-Biographie (1934), die überspannte zionistische Definition von Heines .Nationaljudentum' sinnvoll zu moderieren. Für die zionistische Literaturkritik des frühen 20. Jahrhunderts war Der Rabbi von Bacherach „schönste und zaubervollste GhettoPoesie", 24 und man betonte den ,echt jüdischen' Klang der Hebräischen Melodien.25 Heines .Judenschmerz' und .Zerrissenheit' wurden regelrecht gefeiert, denn genau aus dieser Empfindung war man selber zur Erkenntnis der nationalen Zugehörigkeit zum Judentum und zur Idee der Jüdischen Renaissance' gelangt Diese Tendenz ging bei Nathan Birnbaum so weit, daß er Heine zum potentiellen Zionisten erklärte: „Und wir empfinden es in sieghafter Gewißheit: Derselbe Heine hätte als unser Zeitgenosse gewußt, wohin er gehört".26 Die von Gustav Karpeles schon 1868 initiierte Verklärung von Heines Werk und Person27 steigert sich bei den Zionisten fast zur .Apotheose'. Für Karpeles beginnt mit Heine — konträr zu Philippson — nicht nur die deutsch-jüdische .Poesie' und .Belletristik', sie ist zugleich auch der Inbegriff des Jüdischen' und der Kunst schlechthin, wie er 1886 in seiner Geschichte der jüdischen Literatur betont: 23 Horch (Anm. 4), S. 107-110. 24 Robert Jaffé: Die Poesie des Judentums. In: Die Weh 4 (1900), No. 15, S. 2-4. Zitat: S. 3. 25 A. Coralnik: An Heines Grabe. Zu seinem 50-jährigen Todestag. In: Die Welt (Anm. 14), No. 8, S. 13-15. 26 Nathan Birnbaum (Anm. 14), S. 15. 27 Vgl. Anm. 10.

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Gleichen Schritt mit der Erweckung des jüdischen Lebens in der Poesie hielt auch die Darstellung des Judentums, seiner Lehre und Geschichte in der Belletristik [...] Auch diese literarische Strömung ist von Heinrich Heine ausgegangen. Sein „Rabbi von Bacharach" ist in der Tat .ganz aus der Liebe hervorgegangen'; kein anderes Werk des Dichters ist so großartig angelegt, so künstlerisch ausgeführt wie dieses, dessen tiefere sittliche Tendenz in dem Worte gipfelt, das der flüchtige Rabbi zu seinem geliebten Weibe spricht: .Sieh, schöne Sarah, wie schlecht geschützt ist Israel! Falsche Freunde hüten seine Tore von außen, und drinnen sind seine Hüter Nanheit und Furcht!