Johann Nikolaus Tetens (1736–1807): Philosophie in der Tradition des europäischen Empirismus 9783110367331, 9783110372373

Johann Nikolaus Tetens (1736–1807) was among the most influential figures of the European Enlightenment. He systematical

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Johann Nikolaus Tetens (1736–1807): Philosophie in der Tradition des europäischen Empirismus
 9783110367331, 9783110372373

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Johann Nikolaus Tetens und die Tradition der europäischen Aufklärung
I. LOGIK, METAPHYSIK UND THEOLOGIE
Tetens und Wolff
Tetens’ ›Metaphysik‹ (1789): Systematische Architektonik und historischer Kontext
Psychologie der ersten Ursache. Tetens’ rationaltheologischer Umgang mit der Krise des Theismus
II. ERKENNTNISTHEORIE IM KONTEXT
Johann Nikolaus Tetens und die Humesche Herausforderung
Zwischen Empirischer Psychologie und Rationaler Seelenlehre. Tetens über das Selbstgefühl
Analyzing Apperception (Gewahrnehmen)
Tetens und die Widerlegung des Idealismus im 5. Versuch
Tetens’ Refutation of Idealism and Properly Basic Belief
Der siebente Versuch Über Tetens’ Begriff der subjektivischen Notwendigkeit
Einheit der Vernunft und subjektivische Notwendigkeit. Tetens’ Version einer Common Sense-Philosophie
Tetens über die Freiheit als Vermögen der Seele
III. ANTHROPOLOGIE, MORAL, RECHT UND GESCHICHTE
Eine »dritte Mittelidee von der Beschaffenheit des Seelenwesens«. Johann Nikolaus Tetens und die Annäherung von Influxus physicus und Harmonismus
Vervollkommnung und Glückseligkeit bei Tetens
Weder Wolff noch Bonnet, sondern Epigenesis durch Evolution. Tetens über die Ausbildung der Seele (14. Versuch)
Geschichtsphilosophie und »Perfectibilität« der Menschheit bei Johann Nikolaus Tetens
Naturrecht, Völkerrecht und Revolution – Bemerkungen zu Johann Nikolaus Tetens’ Betrachtungen über die gegenseitigen Befugnisse der kriegführenden Mächte und der Neutralen auf der See (1802)
IV. DICHTUNG, SPRACHE, REZEPTION
»Die Dichtkraft ist […] keine Schöpferkraft« Tetens über reproduktive und selbsttätige Einbildungskraft – auch ein Beitrag zur Assoziationstheorie der Aufklärung
»Wortforschen ist nicht Becanissen …« Tetens Sprachkritik und Philosophiereform
Etymologie als Voraussetzung einer »vernünftigen Metaphysik«: Tetens’ Frühschriften zur Etymologie
Seichtes Gefälle. Zur Funktion der deichbautechnischen Schriften Johann Nikolaus Tetens’ für Theodor Storms Schimmelreiter
V. ANHANG
Zeittafel
Bibliographie
Personenregister.

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Johann Nikolaus Tetens (1736–1807)

Werkprofile Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts

Herausgegeben von Frank Grunert und Gideon Stiening Wissenschaftlicher Beirat: Wiep van Bunge, Knud Haakonssen, Marion Heinz, Martin Mulsow, Merio Scattola und John Zammito

Band 6

Gideon Stiening, Udo Thiel (Hrsg.)

Johann Nikolaus Tetens (1736–1807) Philosophie in der Tradition des europäischen Empirismus

DE GRUYTER

Abbildung auf S. 5: Radierung von Johann Daniel Laurenz nach einer Zeichnung von Gerhard Ludwig Lahde. ‚Neue allgemeine deutsche Bibliothek‘, 83. Bd., 1. Stück, 1803.

ISBN 978-3-11-037237-3 e-ISBN 978-3-11-036733-1 ISSN 2199-4811 Library of Congress Cataloging-in-Publication data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI book GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Johannes Nikolaus Tetens (1736–1807)

Inhaltsverzeichnis

GIDEON STIENING, UDO THIEL Einleitung Johann Nikolaus Tetens und die Tradition der europäischen Aufklärung ................................. 13

I. LOGIK, METAPHYSIK UND THEOLOGIE ACHIM VESPER

Tetens und Wolff ............................................................................................................................... 27

MICHAEL SELLHOFF

Tetens’ ›Metaphysik‹ (1789): Systematische Architektonik und historischer Kontext ................................................................ 45

RODERICH BARTH

Psychologie der ersten Ursache. Tetens’ rationaltheologischer Umgang mit der Krise des Theismus ........................................... 63

II. ERKENNTNISTHEORIE IM KONTEXT HOLM TETENS

Johann Nikolaus Tetens und die Humesche Herausforderung ................................................... 79

UDO THIEL

Zwischen Empirischer Psychologie und Rationaler Seelenlehre. Tetens über das Selbstgefühl ............................................................................................................ 89

8

Inhaltsverzeichnis

PATRICIA KITCHER

Analyzing Apperception (Gewahrnehmen) ........................................................................................ 103

JULIEN LACAILLE

Tetens und die Widerlegung des Idealismus im 5. Versuch ......................................................... 133

SCOTT STAPLEFORD

Tetens’ Refutation of Idealism and Properly Basic Belief............................................................. 147

GIUSEPPE MOTTA

Der siebente Versuch Über Tetens’ Begriff der subjektivischen Notwendigkeit. ............................................................ 169

NELE SCHNEIDEREIT

Einheit der Vernunft und subjektivische Notwendigkeit. Tetens’ Version einer Common Sense-Philosophie....................................................................... 181

ANDREE HAHMANN

Tetens über die Freiheit als Vermögen der Seele. .......................................................................... 199

III. ANTHROPOLOGIE, MORAL, RECHT UND GESCHICHTE FALK WUNDERLICH

Eine »dritte Mittelidee von der Beschaffenheit des Seelenwesens«. Johann Nikolaus Tetens und die Annäherung von Influxus physicus und Harmonismus. ............................................................................................. 219

FRANK GRUNERT

Vervollkommnung und Glückseligkeit bei Tetens. ........................................................................ 251

MARTIN SCHMEISSER

Weder Wolff noch Bonnet, sondern Epigenesis durch Evolution. Tetens über die Ausbildung der Seele (14. Versuch) . ................................................................... 265

ANDREAS URS SOMMER

Geschichtsphilosophie und »Perfectibilität« der Menschheit bei Johann Nikolaus Tetens. ............................................................................................................. 285

Inhaltsverzeichnis

9

DIETER HÜNING

Naturrecht, Völkerrecht und Revolution – Bemerkungen zu Johann Nikolaus Tetens’ Betrachtungen über die gegenseitigen Befugnisse der kriegführenden Mächte und der Neutralen auf der See (1802) . ....................... 303

IV. DICHTUNG, SPRACHE, REZEPTION GIDEON STIENING

»Die Dichtkraft ist […] keine Schöpferkraft« Tetens über reproduktive und selbsttätige Einbildungskraft – auch ein Beitrag zur Assoziationstheorie der Aufklärung. ............................................................ 323

HANS-PETER NOWITZKI

»Wortforschen ist nicht Becanissen …« Tetens Sprachkritik und Philosophiereform. .................................................................................. 343

JUTTA HEINZ

Etymologie als Voraussetzung einer »vernünftigen Metaphysik«: Tetens’ Frühschriften zur Etymologie. ............................................................................................ 365

UDO ROTH

Seichtes Gefälle. Zur Funktion der deichbautechnischen Schriften Johann Nikolaus Tetens’ für Theodor Storms Schimmelreiter. ....................................................... 377

V. ANHANG Zeittafel. ............................................................................................................................................... 409 Bibliographie. ...................................................................................................................................... 413 Personenregister. ................................................................................................................................ 431

EINLEITUNG

GIDEON STIENING, UDO THIEL

Einleitung Johann Nikolaus Tetens und die Tradition der europäischen Aufklärung

Dass die Bildung einer genuin empiristischen Schule in der Philosophie der deutschsprachigen Aufklärung nicht allein ausgefallen, sondern gar verhindert bzw. behindert worden sei, während vor allem im Großbritannien und Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts eine bis heute einflussreiche empiristische Tradition entstand, zählt zu den wirkmächtigen und nur allmählich sich aufklärenden Vorurteilen einer bestimmten Philosophiegeschichtsschreibung.1 Zwar ist nicht zu bestreiten, dass die Entwicklungen der deutschsprachigen Philosophie des 18. Jahrhunderts hinter dem langen Schatten der Leistungen Leibnizens und Kants zu verschwinden scheinen, aber der philosophiehistorischen Entwicklung zwischen 1740 und 1781 entspricht dieser Anschein nicht. Bei diesem ›Schein‹ spielen normative Vorgaben – und damit vor allem eine unreflektierte Methode der nachfolgenden Philosophiegeschichtsschreibung – eine gewichtigere Rolle als die tatsächlichen zeitgenössischen Vorgänge, so beispielsweise bei der Behauptung Benno Erdmanns und Karl Vorländers, Johann Georg Heinrich Feder – neben Christoph Meiners, Ernst Platner und Johann Nikolaus Tetens einer der bekanntesten und einflussreichsten akademischen Philosophien empiristischer Provenienz in den 1770er Jahren – sei ein schlechter Theoretiker gewesen und seine Texte daher »zu Recht vergessen«.2 Solcherart normativ überlagerte Vorurteile konnten allerdings lange Zeit den Eindruck erwecken, als habe es tatsächlich eine Verhinderung des deutschsprachigen Empirismus, wenigstens aber seiner Geschichtsschreibung, gegeben. Dennoch können beiderlei Fehlurteile nicht darüber hinwegtäuschen, dass es der Sache nach seit den 1750er Jahren eine breite Rezeption des britischen Empirismus3 und des französi-

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So Kurt Röttgers in seinem schon beinahe berühmt zu nennenden Aufsatz: J. G. H. Feder – Beitrag zu einer Verhinderungsgeschichte eines deutschen Empirismus. In: Kant-Studien 75 (1984), S. 420–441. Vgl. Benno Erdmann: Kant’s Kriticismus in der ersten und zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Leipzig 1878; Karl Vorländer: Immanuel Kant. Der Mann und der Werk. Hamburg 31992, S. 415. Vgl. hierzu u.a. Klaus P. Fischer: John Locke in the German Enlightenment: An Interpretation. In: Journal of the History of Ideas 36 (1975), pp. 431–446; Günter Gawlick, Lothar Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987 sowie Annette Meyer: Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung. Tübingen 2008.

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Gideon Stiening, Udo Thiel

schen Sensualismus4 in der deutschen Philosophie gab und auf dieser Grundlage eigenständige philosophische Entwürfe entstanden, die sich vom Rationalismus vorsichtig abzusetzen versuchten. Ohne sich je vollständig von den Grundlagen zu lösen, die Leibniz und Wolff durch ihre philosophischen Arbeiten gelegt hatten,5 suchte die deutschsprachige Philosophie die grundlegenden Neuerungen aufzunehmen, die von John Locke, Étienne Bonnot de Condillac, David Hume oder auch der schottischen Common Sense-Philosophie ausgingen.6 Erkennbar wird diese zunehmende Rezeption der europäischen Philosophie durch eine Vielzahl von Übersetzungen befördert, die schon in den 1750er Jahren erscheinen7 – so die Übertragung und Herausgabe des humeschen Enquiry concerning human understanding durch Johann Georg Sulzer im Jahre 1755.8 1756 bringt Gotthold Ephraim Lessing Francis Hutchesons System on Moral Philosophy unter dem Titel Sittenlehre der Vernunft in eigener Übersetzung heraus9 und schon ein Jahr später erlebt die Öffentlichkeit die erste deutsche Übersetzung des lockeschen Essay concerning human understanding durch Heinrich Engelhardt Poleyen;10 allen drei Übersetzungen wird eine breite Rezeption zuteil. In den 1760er Jahren kamen in schneller Folge die Werke Rousseaus, Helvétius’, Henry Homes oder Shaftesburys dazu, so dass schon vor dem Auftreten eines systematischen Empirismus in deutscher Sprache bei Johann Georg Heinrich Feder in den späten 1760er Jahren von einer immerhin intensiven Rezeption des französischen und britischen Sensualismus und Empirismus in der deutschsprachigen Öffentlichkeit gesprochen werden kann. In den 1770er Jahren ist die Übersetzungstätigkeit vor allem von Sachbüchern aus dem Englischen kaum noch zu übersehen.11 Dabei sind die Motive und Gründe der Beschäftigung mit dieser europäischen Entwicklung äußerst vielfältig: Der Wolffianer Sulzer kritisiert zwar den Skeptizismus Humes, sieht aber die Schreib- und Darstellungsweise des schottischen Philosophen als ein herausragendes Vorbild 4

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Vgl. hierzu u.a. Roland Mortier: Diderot en Allmagne. Paris 1986; Wolfgang Proß: Herder und die Anthropologie der Aufklärung. In: Johann Gottfried Herder: Werke in drei Bänden. Hg. von Wolfgang Proß. Darmstadt 1984–2002, Bd. II, S. 1128–1216; Roland Krebs: Helvétius en Allmagne ou la tentation du matérialisme. Paris 2006; Martin Schmeisser: Baron d’Holbach in Deutschland. Reaktionen in deutschen Zeitschriften der Aufklärung. In: Christine Haug, Winfried Schröder (Hg.): Geheimliteratur und Geheimbuchhandel in Europa im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 2011, S. 85–108. Zur weit ins späte 18. Jahrhundert hineinreichenden Bedeutung der Philosophie Christian Wolffs vgl. u.a. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 31973, S. 160ff. sowie Udo Thiel: The Early Modern Subject. Self-Consciousness and Personal Identity from Descartes to Hume. Oxford 2011, pp. 279–380. Vgl. hierzu u.a. Manfred Kühn: Scottisch Common Sense in Germany, 1768–1800. A Contribution to the History of Critical Philosophy. Kingston, Montreal 1987. Vgl. hierzu die keineswegs vollständige Liste bei Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Hildesheim 1992, S. 270f. David Hume: Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntniß. Hamburg, Leipzig 1755 [ND Reception of the Scottish Enlightenment in Germany: Six Significant Translations, 1755–1782. 7 vols., ed. and with introductions by Heiner F. Klemme. Bristol 2000, vol. I]. Francis Hutcheson: Sittenlehre der Vernunft. Aus dem Englischen übersetzt [von Gotthold Ephraim Lessing]. 2 Bde. Leipzig 1756. Herrn Johann Lockens Versuch vom Menschlichen Verstande. Aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Heinrich Engelhardt Poleyen. Altenburg 1757. Siehe hierzu u.a. Alexander Nebrig: Die englische Literatur in Friedrich Nicolais Übersetzungsprogramm. In: Rainer Falk, Alexander Košenina (Hg.): Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. Hannover 2008, S. 139–164.

Einleitung

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für eine gewünschte Entwicklung auch der deutschen Philosophie nach dem Tode Wolffs an.12 Lessing hingegen sucht und findet in Hutchesons Moralphilosophie Grundlagen für seine im Aufbau befindliche Mitleidsethik, die er in Miß Sara Sampson 1755 schon dramatisch erprobt hatte;13 und Herder erkennt in Condillacs Sensualismus die entscheidenden Grundlagen für seine letztlich theonome Vermittlung von Sinnlichkeit und Verstand sowie von Glauben und Wissen. Lockes Essay indes gilt schon weit vor der Übertragung ins Deutsche vielen Theoretikern als das Grundlagenbuch des 18. Jahrhunderts, von dem aus alles Denken und Handeln im Hinblick auf die Prinzipien der Aufklärung verändert werden könne und solle14 – mit der Herausgabe der leibnizschen Nouveaux Essais im Jahr 1765 erhielt diese Annahme neue, wenngleich nicht unumstrittene Aktualität.15 Insbesondere für die 1770er Jahre, die durch Philosophen wie Feder, Meiners, Platner oder Irwing, aber auch Literaten und Publizisten wie Wieland, Forster, Herder oder Wezel beherrscht wurden und so eine merkliche Dominanz einer dem Empirismus affinen Theorie und Literatur ausbildeten, kann man von einem echten ›Bedürfnis nach Locke‹ sprechen. Einer der selbständigsten und bedeutendsten Leser nicht allein der lockeschen und leibnizschen Essais, sondern vor allem des Treatise und der Enquiry David Humes sowie vieler anderer europäischer Philosophen von Rang war Johann Nikolaus Tetens.16 Schon seit den späten 1750er Jahren publizistisch tätig, entwickelt er in den 1760er und vor allem in den 1770er Jahren ein durchaus eigenständiges erkenntnistheoretisches Konzept mit starken empiristischen Elementen, das ihm als Grundlagenwissenschaft dienen sollte, um auf diesen Fundamenten eine Ontologie ebenso wie eine Ethik, Politik und eine Geschichtsphilosophie zu entwerfen. Mit seinen 1777, dem »annus mirabilis des deutschsprachigen Empirismus«,17 veröffentlichten Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwicklelung18 bündelt und systemati12 13 14

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Siehe Johann Georg Sulzer: Vorrede. In: David Hume: Philosophische Versuche (s. Anm. 8), unpag. [S. I– XX, hier S. IVf.]. Vgl. hierzu Jan Engbers: Der »Moral-Sense« bei Gellert, Lessing und Wieland. Zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland. Heidelberg 2001, S. 67ff. So auch Meyer: Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit (s. Anm. 3), S. 29–31; es mag daher Zweifel wecken, wenn Jonathan I. Israel meint, »that Germany was an exception with comparatively little interest in Locke there in the eightennth century« (vgl. Radical Enlightenment. Philosophy an the Making of Modernity 1650–1750. Oxford 2001, pp. 523–524). Nicht einmal für die erste Hälfte des Jahrhunderts, die Israel betrachtet, ist diese These zutreffend: Wenn schon der Hamburger Musiker und Musiktheoretiker Johann Mattheson in seinem zeitgenössisch berühmten Der vollkommene Capellmeister von 1739 ausführlich auf Lockes Essay zu sprechen kommt, und zwar unter positiver Aufnahme wichtiger epistemologischer Grundannahmen, dann dürfte die These Israels einer Prüfung zu unterziehen sein. Vgl. hierzu Albert Heinekamp: Louis Dutens und seine Ausgabe der Opera omnia von Leibniz. In: ders. (Hg.): Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz. Stuttgart 1986, S. 1–28. Vgl. hierzu auch Gawlick, Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung (s. Anm. 3), S. 125–128 u.ö. sowie Manfred Kühn: Hume and Tetens. In: Hume-Studies XV.2 (1989), pp. 365–375. So Falk Wunderlich: Assoziationen der Ideen und denkende Materie. Zum Verhältnis von Assoziationstheorie und Materialismus bei Michael Hißmann, David Hartley und Joseph Priestley. In: Heiner F. Klemme, Gideon Stiening, Falk Wunderlich (Hg.): Michael Hißmann (1752–1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung. Berlin 2013, S. 63–84, hier S. 81. Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig 1777 [im Folgenden zitiert als: PV Band, Seitenzahl (Versuch, Kapitel, Abschnitt)].

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Gideon Stiening, Udo Thiel

siert Tetens nicht allein die seit Feder und Platner in schneller Folge veröffentlichten Konzepte zu einer empirischen Psychologie und Anthropologie im deutschsprachigen Raum;19 er nimmt darüber hinaus für sich in Anspruch, sowohl die Mängel des leibnizschen und des wolffschen Rationalismus als auch die Problemlagen des lockeschen Empirismus sowie des humeschen Skeptizismus in ihren Gründen erkannt und in einer beide philosophische Paradigmen vermittelnden Konzeption behoben zu haben.20 Ausdrücklich heißt es schon 1775, in Über die allgemeine speculativische Philosophie, über Locke: »Man muß den Weg verfolgen, auf den Locke zuerst geführt hat, mit der Fackel der Beobachtung in der Hand, die Empfindungen aufsuchen, aus denen die allgemeinen Notionen gezogen werden […]«; aber Tetens führt den Satz fort mit dem Hinweis »und diese genauer, als es Locke gethan hat, von den Wirkungen unsrer schöpferischen Dichtkraft unterscheiden«.21 Diesen Ausgang von Locke will Tetens aber vor allem im Hinblick auf eine allgemeine Vernunftlehre, die empirisch nicht zu gewinnen sei, mit Elementen der leibnizschen Philosophie verbinden; nur einige Seiten weiter in dem Programmtext von 1775 heißt es nämlich: Wie ich meyne, hat unser Leibnitz weit tiefer, schärfer und richtiger die Natur des menschlichen Verstandes, seine Denkart, und insbesondere die transcendenten Vernunfterkenntnisse eingesehen, als der mit mehr Geflissenheit beobachtende Lock [sic!]. Er hat weiter gesehen, als der sonst scharfsinnige Hume, als Reid, Condillac, Beattie, Search und Home.22

Für die 1770er Jahre ist diese Parteinahme für Leibniz gegen die gesamte europäische Tradition starker Tobak; vor allem dokumentiert sie, dass Tetens keineswegs zur Gruppe der empiristischen Psychologen der 1760er und 1770er Jahre gezählt werden kann, wie dies in der Forschung häufig geschieht23 und durch die Bezeichnung eines »deutschen Lokke« ausgedrückt wird.24 Vielmehr zeigt Tetens sowohl in der Schrift von 1775 als auch in seinem großen Entwurf von 1777 mit Nachdruck, dass er von der Notwendigkeit einer Vermittlung der beiden großen erkenntnistheoretischen Paradigmen oder Schulen, die die philosophischen Debatten des 18. Jahrhunderts prägten, überzeugt ist; den Grund für diese Notwendigkeit sieht er in der folgenden unhintergehbaren Gegebenheit: Die Philosophen haben eine Wahrheit gesagt, wenn sie behauptet, es sey unmöglich, aus der metaphysischen Monadologie die Phänomene der Körperwelt zu erklären. Eine von den Ursachen davon lieget in der angeführten Regel der Fiktion. Zwischen dem S i n n l i c h e n und dem T r a n s c e n d e n t e n ,

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Vgl. hierzu die kenntnisreichen Überblicke bei Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York 2003 sowie Falk Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts. Berlin, New York 2005. Zu dieser Vermittlungsleistung vgl. auch den Beitrag von Udo Thiel in diesem Band. Johann Nikolaus Tetens: Über die allgemeine speculativische Philosophie. In: ders.: Über die allgemeine speculativische Philosophie. Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Erster Band. Hg. von Wilhelm Uebele. Berlin 1913, S. 57. Ebd., S. 70. Vgl. hierzu schon aber auch Meyer: Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit (s. Anm. 3), S. 31, S. 258ff. u.ö. Inauguriert wurde die Formel von Karl Rosenkranz: Geschichte der Kant’schen Philosophie. Leipzig 1840, S. 65; aufgenommen (doch mit einem Fragezeichen versehen und letztlich negativ beantwortet) jüngst bei Marta Zappalorto: Johann Nicolaus Tetens: Il Locke tedesco? Soveria Mannelli 2011, spez. S. 132f.

Einleitung

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zwischen Metaphysik und Physik, und ebenso zwischen Metaphysik und Psychologie ist eine Kluft, über welche gar nicht wegzukommen ist.25

Wie kommt es zu dieser für das 18. Jahrhunderts ebenso bemerkenswerten wie paradigmatischen Aussage? Ein kurzer Blick auf Tetens Werdegang kann hier vorläufigen Aufschluss bieten:

Johann Nikolaus Tetens – eine biographische Skizze Johann Nikolaus Tetens26 wurde am 16. September 1736 als Sohn des Gastwirtes Jakob Tetens in Tetenbüll, einer kleinen Gemeinde im damaligen Herzogtum Schleswig, geboren. Über seine Kindheit und Jugend ist wenig bekannt – als Sohn eines Gastwirtes im bäuerlich geprägten, ärmlichen Nordfriesland dürfte diese frühe Zeit aber von Entbehrungen gekennzeichnet gewesen sein. Erst für das Jahr 1755 ist verbürgt, dass er sich an der Universität Rostock als Student der Mathematik, der Physik und der Philosophie einschrieb und bis 1758 sowohl hier als auch in Kopenhagen studierte. Dabei dominiert offenbar zunächst deutlich das Interesse an der Mathematik, das Tetens zeitlebens nicht loslassen wird.27 Dennoch schließt er sein Studium mit einem Magisterabschluss im Fach Philosophie ab, nachdem er vor allem durch den DarjesSchüler Johann Christian Eschenbach (1719–1759)28 sowie den Wolffianer Angelius Johann Daniel Aepinus (1718–1784) unterrichtet und wohl auch anfänglich beeinflusst worden war; allein an der Tatsache, dass Tetens bei Vertretern zweier sich wissenschaftstheoretisch und wissenschaftspolitisch befehdender Fraktionen studierte,29 zeigt weniger seinen Hang zum Eklektizismus als vielmehr seine schon früh dokumentierbare Befähigung zur kritischen Selbstständigkeit.30 Schon im Sommer 1760 erhält er nach einer öffentlichen Disputation zum Thema De causa caerulei coeli coloris die Lehrbefugnis und liest seit Oktober 1760 als besoldeter Privatdozent an der neu gegründeten Akademie in Bützlow. Diese Universität war aufgrund theologischer und finanzpolitischer Streitigkeiten zwischen dem Herzog von Mecklenburg und der Stadt Rostock 25 26

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PV I, S. 128 (1. XV. 5.). Zum Folgenden vgl. insbesondere Wilhelm Uebele: Johann Nicolaus Tetens nach seiner Gesamtentwicklung betrachtet. Mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zu Kant. Unter Benützung bisher unbekannt gebliebener Quellen. Berlin 1911, S. 5–25 sowie Holm Tetens: Der Eiderstedter Philosoph Johann Nicolaus Tetens. In: Nordfriesisches Jahrbuch 2009, S. 19–32. Vgl. hierzu Rüdiger Thiele: Tetens als Mathematiker und Mechaniker. In: Johann Nikolaus Tetens: Kleinere Schriften. Teil 1. In Zusammenarbeit mit Rüdiger Thiele und Robert Mößgen ausgewählt, eingeleitet und hg. von Jürgen Engfer. Hildesheim 2005 (= Johann Nikolaus Tetens: Die philosophischen Werke 3), S. XLIII–LIII. Zu Eschenbach vgl. [Art.] Johann Christian Eschenbach. In: Dictionary of Eighteenth-Century German Philosophers. Hg. von Heiner F. Klemme, Manfred Kuehn. London 2008, Bd. I, S. 292f. Joachim Georg Darjes war Crusius-Schüler und als solcher dem Rationalismus wolffscher Prägung kritisch gegenüber eingestellt; zur Kontroverse zwischen Crusianern und Wolffianern vgl. Wundt: Die deutsche Schulphilosophie (s. Anm. 7), S. 254ff. sowie Martin Krieger: Geist, Welt und Gott bei Christian August Crusius. Würzburg 1993, S. 44–73. So auch Uebele: Johann Nikolaus Tetens (s. Anm. 26), S. 18.

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Gideon Stiening, Udo Thiel

aus der Taufe gehoben worden und Tetens wurde wie viele seiner Kollegen von Rostock nach Bützlow abgeordert.31 Trotz des im Lande wütenden 7-jährigen Krieges konnte der Lehrbetrieb aufrechterhalten werden. Und so hielt Tetens Vorlesungen über Logik u.a. nach Hermann Samuel Reimarus, Metaphysik nach Gottlieb Alexander Baumgarten, Naturrecht und Moral nach Joachim Georg Darjes und Naturlehre nach Johann Andreas von Segner. Der junge Privatdozent lehrte also nahezu die gesamte Palette philosophischer Disziplinen und dies nach ebenso kanonisierten wie zeitgenössisch aktuellen Autoren, die erneut nicht einer bestimmten Schule angehören. Der Lehrerfolg blieb dabei offenbar nicht aus; schon 1763, und damit noch kurz bevor er als Nachfolger seines Lehrer Aepinus die ordentliche Professur für Logik und Metaphysik übernahm, disputiert unter seiner Leitung der nachmals berühmt werdende Aufklärer und Popularphilosoph Johann Jakob Engel.32 Schon seit den späten 1750er Jahren hatte Tetens über Themen der anthropologisch und kulturhistorisch interessierten Aufklärung publiziert, so vor allem über das Thema des Einflusses des Klimas auf den Menschen.33 1760 lässt er seine erste Vorlesung in Bützlow in ausgearbeiteter Form drucken, die sich durchaus polemisch der philosophischen Fachwelt präsentiert, und zwar mit einem kritischen Text, der die Leistungsfähigkeiten der Metaphysik als Wissenschaft grundlegend in Frage stellt.34 Als Gründe nennt er vor allem methodische Mängel dieser Disziplin – und damit meint Tetens vor allem die Verwendung unpräziser Begriffe35 –, die anders als in der Mathematik und den empirischen Naturwissenschaften dazu führe, dass es in dieser Grundlagendisziplin seit Aristoteles kaum Fortschritte gegeben habe: »Die Metaphysik hingegen hat das Schicksal, dass in ihr wohl das Gebiet der Hypothesen und Phantasien nicht aber der evidenten Wahrheiten vergrößert wird«.36 Diese deutliche Kritik am Wahrheitsstatus metaphysischer Aussagen impliziert für Tetens aber schon 1760 nicht, dass man sich von dieser Disziplin verabschieden könne; vielmehr ist er davon überzeugt, dass es einer allgemeinen Grundlagenwissenschaft, der Ontologie, bedarf, für die allerdings erst eine präzise Sprache und in dieser klare Prämissen zu formulieren seien. Tetens’ Ziel ist also schon 1760 nicht die Abschaffung der Metaphysik, sondern ihre Verwissenschaftlichung. 31 32 33

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Siehe hierzu Günter Camenz: Die Herzoglichen Friedrichs-Universität und Paedagogium zu Bützow in Mecklenburg 1760–1789. Bützow 2004. Zu Engel vgl. u.a. Alexander Koşenina (Hg.): Johann Jakob Engel. Philosoph für die Welt, Ästhetiker und Dichter. Hannover 2005. Johann Nikolaus Tetens: Gedanken von dem Einfluß des Climatis in die Denkungsart des Menschen. In: Schleswig-Hollsteinische Anzeigen von politischen, gelehrten, und andern Sachen 1759, 29. St., Sp. 454–460, 30. St., Sp. 470–476; zur seit Montesquieu kontrovers debattierten Rolle des Klimas für den Kulturprozess der Menschheit vgl. u.a. Gonthier-Louis Fink: Von Winckelmann bis Herder. Die deutsche Klimatheorie in europäischer Perspektive. In: Gerhard Sauder (Hg.): Johann Gottfried Herder 1744–1803. Hamburg 1987, S. 156–176; Wolfgang Proß: Kommentar. In: Herder: Werke (s. Anm. 4), Bd. III.2, S. 398–445 sowie Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin, New York 2007, S. 83–114. Johann Nikolaus Tetens: Gedancken über einige Ursachen, warum in der Metaphysik nur wenige ausgemachte Wahrheiten sind, als eine Einladungs-Schrift zu seinen den 13ten October auf der neuen Bützowschen Academie anzufangenden Vorlesungen, entworfen von Johann Nicolaus Tetens. Bützow, Wismar 1760. Ebd., S. 12, 29, 49 u.ö. Ebd., S. 9.

Einleitung

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Zwischen 1763 und 1776 lehrt Tetens ohne Unterbrechungen in Bützlow; zwischen 1765 und 1770 übernimmt er zusätzlich die Leitung des Pädagogium, das als vorbereitende Anstalt für die Universität vom Herzog eingerichtet wurde. Tetens engagiert sich intensiv auf schul- und hochschulpädagogischen Feldern, eine Praxis, die er in einer Reihe von Schulschriften mit seinem Aufklärungsverständnis zu reflektieren weiß.37 Seine umfangreiche Publikationstätigkeit erstreckt sich allerdings nicht allein auf den Bereich der Metaphysik und der Pädagogik, sondern auch auf die Physik im weiteren Sinne, die Mathematik sowie auf Sprachwissenschaften und -philosophie;38 ein besonderes Interesse verbindet ihn mit der noch in den Kinderschuhen steckenden Meteorologie.39 Wie schon im Hinblick auf seine Beschäftigung mit dem Klima sowie sein Interesse an der Meteorologie beweist Tetens auch in anderen Zusammenhängen eine zeittypische Ausrichtung seines wissenschaftlichen und publizistischen Tuns auf Fragen der Volksaufklärung. So tritt er energisch und öffentlich für Versuche mit der Kuhpockenimpfung ein, weil sie aus Passivität und Schicksalsergebenheit gegenüber dieser schweren Krankheit herausführen.40 Anders als Kant, der diesen Versuchen kritisch gegenüberstand,41 erblickte Tetens in diesen Experimenten einen echten Fortschritt. Neben einer Vielzahl mathematischer Arbeiten beschäftigte sich Tetens in Bützlow aber hauptsächlich mit Fragen der Metaphysik und der empirischen Psychologie. Vor allem war es dem jungen Philosophen um das Verhältnis beider Disziplinen zu tun, was er schon früh zu behandeln ankündigte, und zwar in einer Arbeit »[Ü]ber die Grund-Triebe des Menschen«.42 Tatsächlich ausarbeiten wird Tetens fast zehn Jahre später zunächst eine Programmschrift, mit der er den aus seiner Sicht weitgehend desolaten Zustand der philosophischen Wissenschaften Europas um 1770 beschreibt und sodann mit einem umfangreichen philosophischen Entwurf, der sich ausgehend von der empirischen Psychologie mit weiteren Feldern der Philosophie, so der Moral, der Politik und der Geschichte befasst; dabei handelt es sich um Tetens’ opus magnum, die Philosophischen Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung aus dem Jahre 1777. Zwischendurch, im Jahre 1776, erhält Tetens einen Ruf auf eine ordentliche Professur für Philosophie an der Universität Kiel, den er annimmt und daher ab dem Wintersemester 1776 dort Vorlesungen hält, bis er im Jahre 1789 erneut Beruf und Standort wechseln sollte.

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Vgl. hierzu u.a. Johann Nikolaus Tetens: Ausführliche Nachricht von der Einrichtung des Herzoglichen Paedagogium zu Bützow. Auf gnädigsten Befehl durch öffentlichen Druck bekannt gemacht. Auf Kosten des Paedagogium. Bützow 1767. Dieser sprachphilosophische Schwerpunkt seines Arbeitens hat noch im 20. Jahrhundert das Interesse der Forschung geweckt, vgl. Johann Nikolaus Tetens: Sprachphilosophische Versuche. Mit einer Einleitung von Erich Heintel. Hg. von Heinrich Pfannkuch. Hamburg 1971. Vgl. hierzu u.a. Johann Nikolaus Tetens: Meteorologische Beobachtungen. In: Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1766. Johann Nikolaus Tetens: Von der Einpfropfung der Blattern. In: Gelehrte Beyträge zu den MecklenburgSchwerinschen Nachrichten 1766. Vgl. hierzu Karl Vorländer: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk. 2 Bde. Hamburg 31992, Bd. 2, S. 130f. Tetens weist darauf, dass er an dieser Arbeit schon länger arbeitet, in Ueber den Uhrsprung der Ehrbegierde. In: Schleswig-Hollsteinische Anzeigen von politischen, gelehrten, und andern Sachen auf das Jahr 1766, 43. St., Sp. 689Anm. hin.

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Gideon Stiening, Udo Thiel

Der Programmschrift von 1775 gibt Tetens den bezeichnenden Titel Von der allgemeinen speculativischen Philosophie, und er zeigt in diesem Text, dass es neben den Formen der empirischen Wissenschaften wie Psychologie, Anthropologie oder Naturlehre eine allgemeine Grundlagenwissenschaft geben müsse, die er wie folgt definiert: Was ist denn aber diese s p e c u l a t i v i s c h e P h i l o s o p h i e , und was soll sie seyn? […] Sie soll eine e n t w i c k e l t e , das ist, eine in Ordnung und Zusammenhang gebrachte, eine genau bestimmte, von allen falschen Nebenideen gereinigte, verlängerte, erhöhete und mehr bevestigte Vernunftkenntniß seyn; sie soll eine stärkere Ueberzeugung mit sich führen, als jene; eine solche nämlich, die aus dem deutlichen Bewußtseyn der Gewisheit in uns entstehet. Dies ist der wahre Geist der Philosophie, und dies ist ihr Zweck, den man bey allen Fehltritten einzelner Philosophen dennoch als das Ziel erkennet, wornach die systematische Philosophen, die sich von den philosophischen Raisonneurs unterschieden wollen, gelaufen sind.43

Wie bereits angedeutet, sieht Tetens die Ermöglichung der wissenschaftlich gesicherten Konstitution einer solchen Grundlagenphilosophie nur in einem spezifischen Zusammenspiel zwischen lockeschen und leibnizschen Theoremen, zwischen empiristischer Erkenntnistheorie und rationalistischer Metaphysik. Dieses Programm sucht Tetens in einem ersten Schritt mit seinem opus magnum auszugestalten und er macht schon in der Vorrede deutlich, dass die zweibändigen mehrhundertseitigen Versuche einerseits hochambitioniert sind, andererseits erst den Auftakt bilden sollten zu einer grundlegenden ›Revision der Philosophie‹: Die nachstehenden Versuche betreffen die Wirkungen des menschlichen V e r s t a n d e s, seine Denkgesetze und seine Grundvermögen; ferner die thätige W i l l e n s k r a f t, den G r u n d c h a r a k t e r d e r M e n s c h h e i t, die F r e y h e i t, die N a t u r d e r S e e l e, und ihre E n t w i c k e l u n g. Dieß sind ohne Zweifel die wesentlichsten Punkte in unserer Natur. Ich verehre die großen Männer, die ihren Scharfsinn auf diese Gegenstände schon verwendet haben, und ich habe gesucht, ihre Bemühungen zu nutzen. Aber ich meine nicht, daß daraus ein Vorurtheil gegen die meinigen, wenn sie auch jener ihren nicht gleichen, entstehen werde. Die Menschheit ist noch lange eine Grube, aus der sich jeder Forscher eine gute Ausbeute versprechen kann, und ich möchte hinzusetzen, auch dann sogar, wenn er nur die schon oft bearbeiteten Gänge von neuem vornimmt. Denn auch bey den angelegentlichsten Wahrheiten, über welche schon einiges Licht verbreitet ist, fehlet noch hie und da sehr viel an der völligen Evidenz, die alle vernünftige Zweifel ausschließt.44

Tatsächlich wird Tetens dieses Programm einer neuen Psychologie und Anthropologie bis zum letzten Versuch, der gleichsam eine Binnenmonographie zum Begriff der Entwicklung und dessen Stellung in der Natur- und der Kulturgeschichte enthält, durchführen. Dabei entfalten die ersten vier Versuche eine methodisch und systematisch schlüssige, konsequente und umfassende empirische Psychologie, die die Vermögen der Seele möglichst detailliert beschreibt und in ihrem Zusammenhang analysiert. Gleichwohl zielt das konsequent empirische Unternehmen, das programmatisch mit experimentellen Selbstbeobachtungen arbeitet, auf eine letztlich nicht empirische Problemlage, nämlich die Beantwortung der Frage, ob es eine durch alle verschiedene Vermögen der Seele hindurch wirkende Grund- oder Urkraft gebe; von der Antwort auf diese Frage hängt nach Tetens vieles ab, und doch kann er sich 1777 zu keiner endgültigen Theorie durchringen: »Dieß ist die größte Frage in der Psychologie. Ich weiß nichts darauf zu

43 44

Tetens: Über die allgemeine speculativische Philosophie (s. Anm. 21), S. 12f. PV I, S. III (Vorrede).

Einleitung

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antworten, als nur disjunktive: entweder es lässet sich gar keine Vorstellung von der Grundkraft machen, oder nur Eine«.45 Zwischen der Formulierung des Anspruchs in der Vorrede und dem Eingeständnis des noch Vorläufigen im Elften Versuch liegen weite Strecken exzellenter Theorie, auf denen Tetens gewichtige und grundlegende Themen der empirischen Psychologie der Spätaufklärung46 minutiös und innovativ behandelt, so das Vermögen des Selbstgefühls, die Assoziationstheorie der empiristischen Aufklärungspsychologie, die er – wie dann Kant – in ihrem Geltungsstatus erheblich einschränken wird, der Begriff des Gefühls überhaupt, den Tetens in grundlegend neuer und zukunftsweisenden Art bestimmt, oder die Frage der Existenz der Außenwelt. Den neuen Begriff der »Gewahrnehmung« führt Tetens ebenso ein, wie er im berühmten und für sein gesamtes Konzept grundlegendenen Siebenten Versuch die spezifische Gewissheit der Notwendigkeit allgemeiner Vernunftwahrheiten, jener also, die nicht induktiv zu gewinnen sind, zu klären unternimmt. Das Verhältnis der Erkenntnisvermögen zueinander, das er schon im Sechsten Versuch mit weitreichenden Folgen für die Psychologie der 1770er Jahre beantwortet, basiert auf der folgenden Prämisse: Zuerst muß der Gedanke entfernet werden, daß die a l l g e m e i n e n n o t h w e n d i g e n G r u n d s ä t z e, A b s t r a k t i o n e n a u s E r f a h r u n g e n sind. Dieß sind sie nicht, und können es auch nicht seyn, und nur aus Mißverstand hat man sie dafür angesehen.47

Damit werden jedem strengen Empirismus Grenzen gesetzt; die allgemeinen Vernunftwahrheiten, d.h. die notwendigen Grundsätze sind nach Tetens nicht durch Induktion zu gewinnen. Von hier aus führt ein Weg zu den Thesen von den zwei Quellen des menschlichen Erkennens; es führt ein durchaus möglicher Weg zu Kants vier Jahre später vorgelegtem Entwurf einer Kritik der reinen Vernunft. Wie weit dieser Weg aber trägt, ist umstritten, und dies nicht nur in der bisherigen, sehr schmalen Forschung zu Tetens’ opus magnum,48 sondern auch in den Beiträgen des nachfolgenden Bandes. Bevor diese Beiträge vorgestellt werden können, soll noch kurz der weitere Gang der tetensschen Biographie verfolgt werden. Schon unmittelbar nach der Publikation der Philosophischen Versuche beginnt der Kieler Professor ab dem Jahre 1778 mit umfangreichen Arbeiten zur angewandten Mathematik: Im Auftrage der Regierung bereist er mehrfach die Marschländer an der Nordsee, und zwar von Hoyer in Jütland bis nach Flandern, um den Zustand der Deiche 45 46 47 48

Ebd., S. 733 (11. I. 1.). Vgl. hierzu u.a. Fernando Vidal: La Sciences de l’Âme. XVI–XVIII siècle. Paris 2006, pp. 113–173. PV I, S. 466 (6. II. 3.). So heißt es bei Ernst Cassirer (Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Darmstadt 1991, Bd. 2, S. 570), und zwar mit explizitem Bezug auf den Sechsten Versuch: »Mit diesen Sätzen [aus PV I, S. 427] hat Tetens eine entscheidenden Schritt vollzogen: er hat, wenngleich seine ganze Grundabsicht zunächst rein psychologisch gerichtet war, das psychologische Problem bis zu der Grenze hingeführt, an der es sich mit dem Transzendentalen berührt.« Demgegenüber lautet das Fazit bei Wolfgang Röd (Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau [Geschichte der Philosophie, Bd. VIII] München 1984, S. 279–281, spez. S. 281): »Trotzdem bleibt ein wesentlicher Unterschied bestehen: Tetens war von Kant insofern denkbar weit entfernt, als er seine Aufgabe als psychologische verstand und nicht als transzendentalphilosophische. Damit verlieren die angedeuteten Parallelen an Gewicht, da sie Auffassungen betreffen, die jeweils einem wesentlich verschiedenen systematischen Kontext angehören und dadurch unterschiedlichen Stellenwert erhalten.«

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Gideon Stiening, Udo Thiel

und den Stand der Deichbautechnik zu überprüfen. Tetens’ Expertise fällt verheerend aus: das Gros der tatsächlichen Deichbauarbeiten wird nach längst überkommenen Vorgaben ausgeführt, die meisten der für den Deichbau Zuständigen seien ihrer Aufgabe nicht gewachsen und die Bevölkerung der Marschen leide an Aberglauben, der eine angemessene Versorgung der Deiche behindere. Tetens erweitert und bearbeitet seine Berichte an die dänische Regierung sprachlich und stilistisch und formt daraus eine typische Publikation der popularphilosophischen Aufklärung: Gelehrte Briefe über seine Reisen durch die Marschländer der Nordsee.49 Noch auf einem zweiten Feld der angewandten Mathematik macht sich Tetens intensiv zu schaffen: der Berechnung von Leibrenten, die er als ein gewichtiges Feld aufklärerischen Versicherungswesens verstand. Seine umfangreiche Publikation50 wird zu einer Pionierarbeit des Versicherungswesen und damit aufklärerischer Sozialpolitik.51 Es sind diese Arbeiten in der angewandten Mathematik, namentlich der Rentenberechnung, die Tetens schon im Jahre 1787 die Mitgliedschaft in der Königlich Dänischen Akademie der Wissenschaften in Kopenhagen eintragen und zwei Jahre später das Angebot, in die dänische Finanzpolitik zu wechseln, das er annimmt. In den folgenden Jahren bis zu seinem Tode 1807 macht er innerhalb der politischen Verwaltung des dänischen Königsreiches eine steile Karriere, sicherlich auch befördert durch seine energische Gegnerschaft zur Französischen Revolution. An dieser intellektuellen und politischen Biographie, die in ihrer eigentümlichen Verbindung von akademischer Theorie und politischer Praxis durchaus beispielhaft für einen spätaufklärerischen Lebenslauf ist, bleibt dennoch auffällig, dass sich Tetens nach seinem opus magnum kaum mehr zu Fragen der Erkenntnistheorie und Metaphysik geäußert hat. Vor allem die Tatsache, dass er zu Kants Transzendentalphilosophie öffentlich keinerlei Stellung eingenommen hat, wirkt irritierend – und dies nicht nur, weil Kant große Hoffnung in dieser Sache auf Tetens setzte52 –, muss aber bis zur Publikation neuer Archivfunde53 oder gar dem Auffinden des tetensschen Nachlasses in ihren Gründen ungeklärt bleiben.

Aufbau und Beiträge des Bandes Der nachfolgende Band versucht, das weit gespannte Œuvre Johann Nikolaus Tetens’ interpretierend zu erfassen und in seinem Zusammenhang darzustellen. Zu diesem Zweck wurden vier systematische Schwerpunkte der tetensschen Philosophie rekonstruiert und durch einzelne Studien bearbeitet. 49 50 51 52 53

Johann Nikolaus Tetens: Reisen in die Marschländer an der Nordsee zur Beobachtung des Deichbaus in Briefen. Erster Band. Leipzig 1788. Johann Nikolaus Tetens: Einleitung zur Berechnung der Leibrenten und Anwartschaften die vom Leben und Tode einer oder mehrerer Personen abhangen mit Tabellen zum practischen Gebrauch. Leipzig 1785. Vgl. hierzu Peter Koch: Johann Nicolaus Tetens. In: ders.: Pioniere des Versicherungsgedankens. 300 Jahre Versicherungsgeschichte in Lebensbildern. 1550–1850. Wiesbaden 1968, S. 187–191. Vgl. hierzu die Zusammenstellung bei Uebele: Johann Nikolaus Tetens (s. Anm. 26), S. 184ff. Angekündigt ist die Publikation einer Mitschrift zu einer tetensschen Metaphysik-Vorlesung aus dem Jahre 1783, die kommentierende Bezüge zu Kant aufweisen soll; vgl. hierzu den Beitrag von Michael Sellhoff in diesem Band.

Einleitung

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Einen ersten Schwerpunkt bilden drei Studien zu Tetens’ Metaphysik und Theologie. Achim Vesper geht hierbei den Spuren der Wolff-Rezeption nach, die erkennbar Tetens’ gesamtes Werk prägen. Michael Sellhoff stellt die Gründzüge einer von ihm z. Z. edierten Mitschrift einer tetensschen Metaphysik-Vorlesung vor und stellt dabei fest, dass Tetens – seinen frühen Ansprüchen an diese Wissenschaft entsprechend – der Disziplin tatsächlich eine eigene Ordnung zu geben vermochte. Roderich Barth zeigt dagegen, dass die noch bei Christian Wolff mögliche strenge Vermittlung von Metaphysik und rationaler Theologie bei Tetens brüchig wird, weil dessen empirische Psychologie als Wissenschaft in eine Krise des Theismus führen müsse. Die zweite Abteilung befasst sich mit einigen zentralen Theoriestücken der Psychologie und Erkenntnistheorie der Philosophischen Versuche. Holm Tetens dokumentiert die Wege, auf denen Tetens den Herausforderungen des humeschen Skeptizismus begegnete. Udo Thiel rekonstruiert Tetens’ Theorie des Selbstgefühls, das als ein Erkenntnis überhaupt fundierendes Vermögen die Stellung der tetensschen Philosophie zwischen empirischer Psychologie und rationaler Seelenlehre deutlich werden lässt. Patricia Kitcher unternimmt im Anschluss daran den ebenso weit gespannten wie differenzierten Versuch, den für Tetens eigentümlichen Begriff des ›Gewahrnehmens‹ aus dem Dritten Versuch zu analysieren und zu interpretieren. Julien Lacaille widmet sich anschließend der tetensschen Auseinandersetzung mit dem Idealismus George Berkeleys, die zeigt, dass auch für den Kieler Philosophen dieses Konzept einen »Skandal der Philosophie« ausmachte,54 und Scott Stapleford ergänzt dieses Thema durch eine minutiöse systematische Rekonstruktion dieser tetensschen Widerlegungsarbeit. Giuseppe Motta und Nele Schneidereit setzen sich in der Folge mit der Sollbruchstelle der Philosophischen Versuche auseinander, dem im Siebten Versuch ausgeführten Unternehmen, die Notwendigkeit der allgemeinen Vernunftwahrheiten als vollkommen gewisse und doch subjektivische auszuweisen. Nicht zufällig scheint Kant eben diesen Begriff in der Kritik der reinen Vernunft vermieden zu haben. Andree Hahmann leitet mit seiner Rekonstruktion des Freiheitsbegriff, den Tetens im Zwölften Versuch entfaltet, zu den Bereichen der praktischen Philosophie über, wenngleich auch diese Fähigkeit vor allem als Vermögen der Seele bestimmt wird. In diesem Zusammenhang zeigt sich Tetens’ ebenso erstaunliche wie weitgehende Abhängigkeit von den Vorgaben der leibnizschen Philosophie. Mit Falk Wunderlichs Studie zu Tetens’ Behandlung des Leib-Seele-Problems beginnt die dritte Abteilung des Bandes, die sich mit anthropologischen, ethischen, rechtlichen und geschichtsphilosophischen Fragestellungen des Kieler Philosophen beschäftigt. Wunderlich zeigt, dass Tetens im weit ausdifferenzierten Feld der Körper-Seele-Theorien des 18. Jahrhunderts eine eigenständige Position zu kultivieren weiß. Frank Grunert verortet Tetens’ Moralphilosophie in den Kontext der eudämonistischen Theoriemodelle seit Christian Thomasius; Martin Schmeisser dokumentiert Tetens’ kompetente Versuche, in dem seit den 1750er Jahren tobenden naturhistorischen Streit zwischen Präformationisten und Epigenetikern zu vermitteln und Andreas Urs Sommer zeigt anschaulich, dass Tetens auch im komplexen Feld der zeitgenössischen Geschichtsphilosophien, der dieser im Vierzehnten der Philosophischen Versuche abhandelt, einen eigenen Standort einnimmt. Dieter Hüning beschließt diese Sektion mit einem Beitrag zu Tetens’ später Ausei-

54

So Kant in der KrV B XXXIX.

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Gideon Stiening, Udo Thiel

nandersetzung mit Erscheinungsformen der politischen Revolution, die den Dänischen Finanzrat als konservativen Kritiker der französischen Ereignisse ausweisen. Die vierte Abteilung erörtert Tetens’ Überlegungen zur Dichtung, zur Sprache und zur literarischen Rezeption seiner Popularphilosophie. Gideon Stiening betrachtet die Theorien zur Phantasie und zur Dichtkraft, die Tetens im Ersten Philosophischen Versuch entwickelt; Hans-Peter Nowitzki setzt sich mit den sprachphilosophischen Konzeptionen auseinander, die Tetens in den frühen 1770er Jahren und im Anhang zum ersten Band der Versuche entwarf, und Jutta Heinz rekonstruiert Tetens’ frühe Entwürfe zur Etymologie aus den 1760er Jahren, die er als gewichtige Voraussetzungen für jede philosophische Reflexionen erachtete. Udo Roths Studie beschließt den Band, indem sie vorführt, in welcher Weise und in welchem Umfang Tetens’ popularphilosophische Briefe über den Deichbau Theodor Storms Schimmelreiter noch 100 Jahr nach ihrer Publikation beeinflussen konnten. Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die im Februar 2012 mit großzügiger Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, der Karl-Franzen-Universität Graz sowie der Stadt Graz am Arbeitsbereich Geschichte der Philosophie des Institut für Philosophie der Karl-FranzenUniversität stattgefunden hat. Für die wertvollen praktischen und administrativen Hilfen vor, während und nach der Tagung sei an dieser Stelle Frau Ingeborg Röllig sowie den Mitarbeitern Hannes Fraisler und Thomas Valentin Harb ganz herzlich gedankt. Zu danken ist darüber hinaus Dr. Oliver Bach (München), der sich mit Geduld und Umsicht der Druckvorlage angenommen hat. Schließlich gilt ein letzter Dank dem Verlag Walther de Gruyter – und dabei insbesondere der Lektorin Dr. Gertrud Grünkorn –, die sich für unseren Sammelband zu Johann Nikolaus Tetens mit großem Engagement eingesetzt haben. Graz und Köln im Mai 2014

I. LOGIK, METAPHYSIK UND THEOLOGIE

ACHIM VESPER

Tetens und Wolff

Gewöhnlich wird Tetens als ein Philosoph betrachtet, der an den britischen Empirismus anschließt.1 Vor diesem Hintergrund mag es überraschen, dass sich Tetens in seinen philosophischen Werken immer wieder auf Wolff beruft oder ihm bei Gelegenheit anhaltenden Ruhm voraussagt.2 Das positive Ansehen Wolffs überdauert dabei auch Tetens’ philosophische Meinungsänderungen. Thematisch betrifft seine Auseinandersetzung mit Wolff die Fragen nach der philosophischen Methode (1), gültigen Gottesbeweisen (2) und dem Beitrag der rationalen Untersuchung zur Metaphysik (3).

1. Tetens und die philosophische Methode bei Wolff In den Gedancken über einige Ursachen, warum in der Metaphysik nur wenige ausgemachte Wahrheiten sind von 1760 geht Tetens der Frage nach, auf welche Weise sich in der Metaphysik Wissen erlangen lässt. In Übereinstimmung mit ihrer Gliederung bei Wolff umfasst die Metaphysik auch nach Tetens die Ontologie als allgemeinen Teil und die Wissenschaften von der Welt, der Seele und von Gott als spezielle Teile.3 Relevanz kommt der Metaphysik in allen ihren Teilen laut Tetens deshalb zu, weil Psychologie und Theologie einen direkten Nutzen für die menschliche Glückseligkeit besitzen und diese wiederum auf Ontologie und Kosmologie aufbauen. Dabei muss die Ontologie in der Ordnung der Wissenschaften nach Tetens wie Wolff die erste Stelle einnehmen, da ihre Lehrsätze den anderen Disziplinen zugrunde liegen. Allerdings hält Tetens die Ontologie nur dann für systematisch produktiv, wenn ihre Lehrsätze »ausgemachte Wahrhei1 2

3

Vgl. Tetens’ Bezeichnung als ›deutscher Locke‹ in: Karl Rosenkranz: Geschichte der Kant’schen Philosophie. Leipzig 1840, S. 65. Vgl. Johann Nikolaus Tetens: Gedancken über einige Ursachen, warum in der Metaphysik nur wenige ausgemachte Wahrheiten sind, als eine Einladungs-Schrift zu seinen den 13ten October auf der neuen Bützowschen Academie anzufangenden Vorlesungen. In: ders.: Kleinere Schriften. 2 Tle. Hildesheim, Zürich, New York 2005, Tl. 1, S. 9– 76 (im Folgenden nach Originalpaginierung ausgewiesen), hier S. 4f. Christian Wolff: Philosophia rationalis sive Logica, methodo scientifica pertractata et ad usum scientiarum atque vitae aptata. Praemittitur discursus praeliminaris de philosophia in genere [Discursus Praeliminaris]. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u.a. Abt. II, Bd. 1.1. Hildesheim, Zürich, New York 1983, § 79.

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Achim Vesper

ten« darstellen.4 Ausgemachte Wahrheiten bestehen nach seiner Erläuterung dabei in sicheren Überzeugungen, deren Wahrheit allgemein anerkannt wird. Demnach kommen als Fundament der Metaphysik nur solche Lehrsätze in Frage, die dank ihrer Evidenz unumstritten sind. Im Unterschied zu anderen Bereichen der Wissenschaft sind laut Tetens in der Metaphysik jedoch keine unumstrittenen Lehrsätze vorhanden. Stattdessen ist die Metaphysik in allen Bereichen von Kontroversen geprägt – so wurden zum Beispiel fast alle in der Geschichte der Philosophie entwickelten ontologischen Lehrsätze auch wieder in Zweifel gezogen. Laut Tetens enthält die Ontologie insgesamt »nur wenige fruchtbare Lehrsätze, die zugleich ausgemachte Wahrheiten sind«.5 Auch Descartes oder Leibniz haben seiner Auffassung nach die Grenzen der Metaphysik nicht erweitert,6 weil sie nicht zu »gewissen und zugleich von allen angenommenen Wahrheiten« gelangt sind.7 Wie Tetens hervorhebt, sind auch Prinzipien Wolffs – wie das Prinzip des zureichenden Grundes oder das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren – Disputen zum Opfer gefallen.8 Weil in der Metaphysik keine unbezweifelten Überzeugungen erreicht wurden, kann sie nach seiner Diagnose nicht mit der Entwicklung anderer Wissenschaften wie der Mathematik und der Naturlehre mithalten. Während die Metaphysik stagniert, sind die theoretische Mathematik und die Naturlehre als angewandte Mathematik zu allgemein akzeptierten Lehrsätzen gelangt. Da es seiner Meinung nach zu einem der Entwicklung in Mathematik und Naturwissenschaft vergleichbaren Fortschritt nur dann kommen kann, wenn auch in der Metaphysik unbezweifelbare Lehrsätze aufgefunden werden, untersucht Tetens die Hindernisse, die dem Gewinn evidenter Lehrsätze in der Metaphysik entgegenstehen.

1.1 Verteidigung der mathematischen Methode Mit den Gedancken beteiligt sich Tetens an dem um die Mitte des 18. Jahrhunderts breit geführten Streit über die mathematische Methode, die laut Wolff das Vorbild für die philosophische Untersuchung liefert.9 Ihren Höhepunkt findet die Debatte bekanntlich in der 1761 für das Jahr 1763 ausgeschriebenen Preisfrage der Berliner Akademie, ob in der Metaphysik und insbesondere in Moralphilosophie und natürlicher Theologie eine der Geometrie ebenbürtige Gewissheit erreichbar ist.10 Im Unterschied etwa zu Kant hält Tetens jedoch nicht die mathematische Methode für verantwortlich dafür, dass im Bereich der Metaphysik kein der Entwicklung der Ma-

4 5 6 7 8 9

10

Tetens: Gedancken über einige Ursachen (s. Anm. 2), S. 6. Ebd. Ebd., S. 9. Ebd., S. 8. Ebd., S. 7. Vgl. allgemein zur mathematischen Methode u.a. Giorgio Tonelli: Der Streit über die mathematische Methode in der Philosophie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die Entstehung von Kants Schrift über die »Deutlichkeit«. In: Archiv für Philosophie 9 (1959), S. 243–294; Hans Werner Arndt: Methodo scientifica pertractatum. Mos geometricus und Kalkülbegriff in der philosophischen Theoriebildung des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin, New York 1976; Hans-Jürgen Engfer: Philosophie als Analysis. Studien zur Entwicklung philosophischer Analysiskonzeptionen unter dem Einfluß mathematischer Methodenmodelle im 17. und frühen 18. Jahrhundert. StuttgartBad Cannstatt 1982. Vgl. zu den Preisfragen der Berliner Akademie von 1761 sowie 1805 und 1809 ebd., S. 26–43.

Tetens und Wolff

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thematik und der Naturwissenschaften vergleichbarer Fortschritt eingetreten ist.11 Stattdessen behält er die Meinung bei, dass die mathematische Methode metaphysischen Überzeugungen Gewissheit verschaffen kann. So schreibt er: Ein gewisser grosser Mathematiker in Deutschland hält es für unglaublich, daß unsre Erkenntniß von den Größen allein so sehr deutlich sein könne, von den übrigen Dingen aber nicht, und scheinet der Vernachlässigung der mathematischen Methode die Streitigkeiten der Philosophie beizumessen. Das folgende wird zeigen, daß dieser Gedanke mehr Grund habe, als es anfangs scheint, obgleich nach Wolfens Zeiten alle Beweise in die Form der mathematischen Demonstration sind eingekleidet worden.12

Tetens zufolge resultiert der mangelnde Fortschritt in der Metaphysik nicht aus der Wahl der falschen Methode, sondern aus ihrer inkonsequenten Anwendung. Die zeitgenössischen Kontroversen in der Metaphysik gehen nach seiner Meinung nicht auf die mathematische Methode, sondern auf ihre mangelhafte Umsetzung zurück. Auch Wolff selbst betrachtet die mathematische Methode deshalb als wertvoll, weil sie zu Gewissheit führt.13 Wie eine Reihe von Autoren des 17. Jahrhunderts ist er der Auffassung, dass die Philosophie das Verfahren in der Mathematik nachahmen soll, weil es ein Vorbild an epistemischer Sicherheit darstellt. Im Unterschied zu anderen Philosophen arbeitet Wolff jedoch die an der Mathematik orientierte Methode detailliert aus und verpflichtet sich auf ihre genaue Einhaltung. Über die mathematische Methode äußert er sich besonders eingehend im Kurtzen Unterricht von der Mathematischen Methode, oder Lehrart,14 im Kapitel Von der Lehr-Art des Autoris in der Ausführlichen Nachricht 15 sowie im Abschnitt über die philosophische Methode im Discursus Praeliminaris der lateinischen Logik.16 In diesen Texten begründet er die Auffassung, dass die in der Mathematik verfolgte Methode der Demonstration von ihrem Inhalt abstrahiert 11

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Immanuel Kant: Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften [u.a.]. Berlin 1900ff. (im Folgenden: AA Band, Seitenzahl); hier AA II, S. 273–301. Vgl. Hans-Jürgen Engfer: Zur Bedeutung Wolffs für die Methodendiskussion der deutschen Aufklärungsphilosophie. Analytische und synthetische Methode bei Wolff und beim vorkritischen Kant. In: Werner Schneiders (Hg.): Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hamburg 1983, S. 48–65. Tetens: Gedancken über einige Ursachen (s. Anm. 2), S. 11. Vgl. Wolff: Discursus praeliminaris (s. Anm. 3), § 137. Zur mathematischen Methode bei Wolff vgl. u.a. Arndt: Methodo scientifica pertractatum (s. Anm. 9), bes. S. 125–148; Engfer: Philosophie als Analysis (s. Anm. 9), bes. S. 219–263; ders.: Zur Bedeutung Wolffs für die Methodendiskussion der deutschen Aufklärungsphilosophie (s. Anm. 11); ders.: Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas. Paderborn u.a. 1996, S. 168–274; Lothar Kreimendahl: Christian Wolff: Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen. In: ders.: Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie. Rationalismus und Empirismus. Stuttgart 1994, S. 215–246; ders.: Einleitung. In: Christian Wolff: Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen. Hg. und übers. von Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. IX– XLVIII; Juan Ignacio Gómez Tutor: Die wissenschaftliche Methode bei Christian Wolff. Hildesheim, Zürich, New York 2004. Vgl. Christian Wolff: Anfangs-Gründe aller mathematischen Wissenschaften. In: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u.a. Abt. I, Bd. 12. Hildesheim, Zürich, New York 1999, S. 1–32. Vgl. Christian Wolff: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften, die er in deutscher Sprache heraus gegeben. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean Ècole u.a., Abt. I, Bd. 9. Hildesheim, Zürich, New York 1973, S. 52–124 Christian Wolff: Discursus praeliminaris (s. Anm. 3), §§ 115–139.

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und auf die Philosophie übertragen werden kann. In der Ausführlichen Nachricht wie im Discursus Praeliminaris behauptet er weitergehend, dass die mathematische und die philosophische Methode identisch sind, weil beide »die natürliche Art zu gedenken«17 darstellen und der »verior logica«18 entstammen. In der lateinischen Schriftenreihe bringt Wolff darüber hinaus die Universalität der mathematischen Methode dadurch zum Ausdruck, dass er sie unter den allgemeinen Titel der wissenschaftlichen Methode stellt. Allgemein kennzeichnend für die mathematische Methode ist dabei das Gebot deduktiver Geschlossenheit, nach dem »dasjenige vorauszuschicken ist, wodurch das Folgende verstanden und erwiesen wird«.19 Die Ausführliche Nachricht erklärt den die mathematische Methode anleitenden Regelkanon wie folgt: In meinem Vortrage habe ich hauptsächlich auf dreyerlei gesehen, 1. daß ich kein Wort brauchte, welches ich nicht erkläret hätte, wo durch den Gebrauch des Wortes sonst eine Zweydeutigkeit entstehen könte, oder es an einem Grunde des Beweises fehlete: 2. daß ich keinen Satz einräumete, und im folgenden als einen Förder-Satz in Schlüssen zum Beweise anderer brauchte, den ich nicht vorher erwiesen hätte: 3. daß ich die folgende Erklärungen und Sätze mit einander beständig verknüpffte und in einer steten Verknüpffung aus einander herleitete. Jedermann weiß, daß dieses die Regeln sind, nach welchen man sich in der Mathematick richtet.20

Demnach bestehen die Merkmale der mathematischen Methode im Gebrauch wohldefinierter Begriffe, aus den Begriffen hergeleiteter Grundsätze und aus den Grundsätzen durch gültige Schlüsse gefolgerter Lehrsätze. In anderen Worten wird etwas mit mathematischer Gewissheit ausgeführt, wenn »man alles deutlich erkläret, gründlich erweiset und eine Wahrheit mit der andern beständig verknüpfft«.21 Obgleich sich Tetens in den Gedancken zur mathematischen Methode bekennt, bestehen seiner Meinung nach besondere und von Wolff nicht berücksichtigte Hindernisse für ihre Anwendung in der Philosophie. Dabei identifiziert er drei Schwierigkeiten für die Anwendung der mathematischen Methode, die er für den mangelnden Fortschritt in der Ontologie verantwortlich macht. Diese Schwierigkeiten betreffen (1) die Deutlichkeit der Begriffe, (2) die Bedeutung der Wörter und (3) die Möglichkeit der Begriffe. Zu diesen Schwierigkeiten kommen in der speziellen Metaphysik weitere hinzu. Tetens beabsichtigt, diese Schwierigkeiten aufzulösen und die mathematische Methode zu verbessern, wofür er auch Korrekturen an Wolff vornimmt.

1.2 Zurückführung auf einfache Begriffe Zunächst beschuldigt Tetens die bisherigen Autoren in der Metaphysik eines Verstoßes gegen die Regel, dass nur deutlich erklärte Begriffe für Beweise zugelassen sind: »Eine Ursache, warum in der Metaphysik so wenige ausgemachte Wahrheiten sind, ist das verworrene und dunkle 17 18 19

20 21

Wolff: Ausführliche Nachricht (s. Anm. 15), § 22. Wolff: Discursus praeliminaris (s. Anm. 3), § 139. »[...] hanc supremam methodi philosophicae legem esse apparet, quod ea sint praemittenda, per quae sequentia intelliguntur & adstruuntur.« Ebd., § 133 (Übersetzung nach Wolff: Einleitende Abhandlung [s. Anm. 13], S. 80f.). Wolff: Ausführliche Nachricht (s. Anm. 15), § 22. Ebd., § 23.

Tetens und Wolff

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in den Begriffen, aus welchen die Säze bestehen, und welches in die Beweise derselben einen Einfluß hat.«22 Ihm zufolge muss man eingestehen, »daß der Mangel der gehörigen Deutlichkeit eine Mutter so vieler verworrenen Lehrsäze und daher entstehender Streitigkeiten sei; und folglich verursache, daß in der Metaphysik so wenige ausgemachte Wahrheiten anzutreffen«.23 Auch Wolff kritisiert er dafür, dass er philosophische Begriffe ohne einen den Anforderungen der Metaphysik angemessenen Grad von Deutlichkeit zulässt. Exemplarisch lastet ihm Tetens einen Fehler in der Demonstration des Satzes des zureichenden Grundes – »nihil est sine ratione sufficiente, cur potius sit, quam non sit«24 – durch die Verwendung eines verworrenen Begriff des »Nichts« an: »Nichts kann das widersprechende Nichts sein, aber auch das blosse Nichts.«25 In der Folge spricht Tetens dem Satz des zureichenden Grundes den Rang einer evidenten Wahrheit ab. Nach seiner Kritik liegt den im Satz des zureichenden Grundes wie in anderen Grundsätzen enthaltenen Begriffen keine zur Beseitigung von Ambiguität ausreichende Definition zugrunde. Da sich jedoch die Grundsätze aus den Erklärungen ergeben sollen und aus den Grundsätzen auf die Lehrsätze geschlossen werden soll, hängt die Wahrheit aller Sätze innerhalb der mathematischen Methode von den Erklärungen ab.26 Ihre Brisanz erhält Tetens’ Kritik an der fehlenden Deutlichkeit der Definitionen dadurch, dass im Verfahren der deduktiven Ableitung Fehler in den Definitionen weitere Irrtümer nach sich ziehen. Im Verständnis Wolffs werden Definitionen durch deutliche und zugleich ausführliche Begriffe gebildet.27 Dabei ist ein Begriff laut Deutscher Logik deutlich, wenn er in die Lage versetzt, »Merckmahle, daraus wir eine Sache erkennen, einem anderen herzusagen«,28 und darüber hi22 23 24 25

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Tetens: Gedancken über einige Ursachen (s. Anm. 2), S. 13. Ebd., S. 21. Christian Wolff: Philosophia prima, sive ontologia. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u.a. Abt. II, Bd. 3. Hildesheim, Zürich, New York 2001, § 70. Tetens: Gedancken über einige Ursachen (s. Anm. 2), S. 17. Wolffs Beweis des Satzes des zureichenden Grundes in der Deutschen Metaphysik lautet: »Wo etwas vorhanden ist, woraus man begreiffen kann, warum etwas ist, das hat einen zureichenden Grund [...]. Derowegen wo keiner vorhanden ist, da ist nichts, woraus man begreiffen kann, warum etwas ist, nehmlich warum es würcklich werden kann, und also muß es aus Nichts entstehen. Was demnach nicht aus Nichts entstehen kann, muß einen zureichenden Grund haben, warum es ist, als es muß an sich möglich seyn und eine Ursache haben, die es zur Würcklichkeit bringen kann, wenn wir von Dingen reden, die nicht nothwendig sind. Da nun unmöglich ist, daß aus Nichts etwas werden kann [...]; so muß auch alles, was ist, seinen zureichenden Grund haben, warum es ist, das ist, es muß allezeit etwas seyn, daraus man verstehen kann, warum es würcklich werden kann« (Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt [Deutsche Metaphysik]. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u.a. Abt. I, Bd. 2.1. Hildesheim, Zürich, New York 2003, § 30). Anscheinend hält Tetens den Beweis für ungültig, weil nicht zwischen dem Indefinitpronomen »nichts« und dem Substantiv »Nichts« unterschieden wird. Auch der inhaltlich abweichende Beweis des Satzes des zureichenden Grundes in Wolffs lateinischer Ontologie beruht auf einer Hypostasierung des »nichts« zum »Nichts«; vgl. Wolff: Philosophia prima, sive ontologia (s. Anm. 24), § 70. Zur Ableitung der Grundsätze aus Erklärungen vgl. u.a. Wolff: Kurtzer Unterricht (s. Anm. 14), § 31. Christian Wolff: Von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit [Deutsche Logik]. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u.a. Abt. I, Bd. 1. Hildesheim, New York 1978, § 36. Zu Wolffs Definitionstheorie vgl. Engfer: Philosophie als Analysis (s. Anm. 9), bes. S. 245–255; ders.: Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 13), S. 274–283; Tutor: Die wissenschaftliche Methode bei Christian Wolff (s. Anm. 13), S. 120–168. Wolff: Deutsche Logik (s. Anm. 27), § 13.

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naus ausführlich, »wenn die Merckmahle, so man angiebet, zureichen, die Sache jederzeit zu erkennen, und von allen andern zu unterscheiden«.29 Ein ausführlicher Begriff ist nur durch die Arteigenschaften des Gegenstands bestimmt bzw. so beschaffen, »daß er nicht mehrern Dingen als von einer Art zukommet«.30 Die weiterreichende Auffassung, dass Begriffe für ihre Erklärung restlos in Merkmale zerlegt werden müssen, lehnt Wolff ab. So lautet seine Antwort auf die Frage, wie weit die Begriffe zergliedert werden sollen: »Doch ist keineswegs vonnöthen, auch gar selten möglich, daß wir diese Zergliederung zu Ende bringen, das ist, bis auf solche Begriffe hinaus führen, die sich vor und an sich selbst nicht mehr zergliedern lassen, weil sie nicht mehr vieles von einander unterschiedenes in sich fassen«.31 Damit bestreitet Wolff, dass die Erklärung von Begriffen bis zu den primitiven Begriffen fortgeführt werden muss, denen Leibniz in den Meditationes de cognitione, veritate et ideis von 1684 den höchsten Grad von Deutlichkeit und die höchste Stellung in der Hierarchie der Erkenntnisarten zuspricht.32 Tetens opponiert der Definitionstheorie Wolffs und behauptet, dass die Ontologie nur von Begriffen mit der höchsten Deutlichkeit ausgehen darf und nur einfache Begriffe über den höchsten Grad von Deutlichkeit verfügen. Anders als Wolff stellt er damit die Forderung auf, dass die Analyse von Begriffen nicht bei ausführlichen Begriffen stehen bleiben darf, sondern bis zu einem Ende in nicht weiter definierbaren Begriffen fortgesetzt werden muss. So formuliert er in Antwort auf die Frage, »wie weit die Entwicklung der Begriffe in der Metaphysik gehen soll«: »Man kann überhaupt die Frage so beantworten, daß man biß auf die allereinfachesten Begriffe, welche schlechterdings nicht weiter von uns entwickelt und deutlich gemacht werden können, hinauf gehen müsse.«33 Nach diesem Verständnis müssen die Ausgangspunkte der Ontologie in irreduziblen Begriffen bestehen. Tetens unterbreitet auch einen Vorschlag, auf welche Weise der Ontologie eine Basis in absolut einfachen Begriffen gegeben werden kann. Seiner Meinung nach kann die für die Ontologie besonders relevante Forderung nach restlos deutlichen Begriffen auf empiristischer Grundlage eingelöst werden. Dabei beruft er sich auf eine von ihm unausgewiesene Stelle bei Locke, nach der die – von Tetens als einfache Begriffe bezeichneten – einfachen Ideen in der Wahrnehmung diskriminiert werden können. Einfache Begriffe dieser Art sind laut Tetens »Vorstellungen von Veränderungen, bei welchen nichts voneinander zu unterscheidendes mit Bewußtsein gemerkt wird«.34 Daneben gibt es eine weitere Gruppe von einfachen Begriffen, bei der die individuierenden Umständen von Begriffen durch Abstraktion weggelassen werden. Wie Locke nach Tetens »in der angeführten Stelle deutlich erweiset«, werden einfache Begriffe der zweiten Art erworben, »indem die Seele gewisse Bestimmungen auch bei den einfachsten Empfindungen von den übrigen trennet, bis sie endlich an dem Gegenstand nichts mehr gewahr wird, welches noch ferner zergliedert werden könnte«.35 Dabei sind die durch fortgesetzte Abstraktion erworbenen Begriffe deutlich und restlos einfach, wohingegen die in einfachen Empfindungen 29 30 31 32 33 34 35

Ebd., § 15. Ebd., § 36. Ebd., § 18. Gottfried Wilhelm Leibniz: Meditationes de cognitione, veritate et ideis. In: ders.: Sämtliche Schriften und Briefe (Akademie-Ausgabe). Reihe VI, Bd. 4. Berlin 1999, S. 585–592. Tetens: Gedancken über einige Ursachen (s. Anm. 2), S. 22. Ebd., S. 23. Ebd., S. 25.

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bestehenden Begriffe verworren sind. Da die durch Abstraktion ermittelten einfachen Begriffe in allen Vorstellungen von Objekten enthalten sind, schreibt Tetens ihnen zudem eine ontologische Bedeutung zu. Wie Tetens damit anhand von Locke aufzuzeigen glaubt, können der Ontologie Begriffe zugrunde gelegt werden, von denen nicht weiter abstrahiert werden kann. Diese invarianten Begriffe sind nach Tetens zunächst die des Etwas und des Nichts sowie des Unmöglichen als Zusammensetzung aus den Ideen des Etwas und des Nichts, ferner die von »bei einander sein« und »nach einander sein«.36 Die Disziplin der Ontologie ist ihm zufolge herausgefordert, die Liste der einfachen abstrakten Begriffe weiterzuführen und in der Metaphysik kontroverse Begriffe wie die der Kraft oder des Raums auf ihre unauflösliche Einfachheit zu prüfen. Unklar ist allerdings, auf welche Stelle sich Tetens bei Locke »in seinem vortreflichen Buche vom menschlichen Verstande» bezieht.37 Nach Locke klassifizieren wir Gegenstände, indem wir Begriffe durch Abstraktion von ihren raumzeitlichen und individuellen Bestimmungen lösen.38 Dabei werden mit den abstrakten Ideen von Sorten oder Arten Gegenstände mit ähnlichen Eigenschaften zu Bündeln zusammengefasst. Anders aber als Tetens behauptet Locke nicht, dass abstrakte Ideen einfacher als konkrete Ideen sind und ihnen ontologische Bedeutung zukommt. Gegen den Universalienrealismus bestreitet Locke ausdrücklich, dass Allgemeines existiert: »General and Universal, belong not to the real existence of Things, but are the Inventions and Creatures of the Understanding, made by it for its own use.«39 Offenkundig verfügt Tetens’ Meinung, dass die abstrahierten Begriffe eine ontologische Bedeutung besitzen, über keine Basis bei Locke. Wodurch aber gelangt Tetens zu der Auffassung, dass wir durch eine bis an ihr Ende fortgesetzte Abstraktion zu existierendem Allgemeinen geführt werden? Vermutlich stellt die erste deutsche Übersetzung des Essay concerning Human Understanding aus dem Jahr 1757 von Heinrich Engelhard Poley eine Quelle für Tetens dar.40 Poley ist kein wohlmeinender Übersetzer; so versieht er den Text mit Kommentaren, in denen er die Autorität von Leibniz und Wolff gegen Locke ins Feld führt. Im Kapitel »Of simple Ideas« behauptet Locke, dass die einfachen Ideen in der Wahrnehmung separiert werden können und dem Wahrnehmenden klar und deutlich präsent sind: And there is nothing can be plainer to a Man, than the clear and distinct Perception he has of those simple Ideas; which being in itself uncompounded, contains in it nothing but one uniform Appearance, or Conception in the mind, and is not distinguishable into different Ideas.41

36 37 38 39

40 41

Ebd. Ebd., S. 23. Vgl. John Locke: An Essay concerning Human Understanding. Hg. von Peter H. Nidditch. Oxford, New York 1975, Book 2, Chapter 11, Section 9; Book 3, Chapter 3, Section 6–9. Ebd., Book III, Chapter 3, Section 11. Locke lehnt Theorien ab, »nach denen es etwas Allgemeines gibt, das dem Sein nach und nicht bloß der Repräsentation nach allgemein ist« (Rainer Specht: Das Allgemeine bei Locke. Berlin, Boston 2011. S. 291f.). John Locke: Herrn Johann Lockens Versuch vom Menschlichen Verstande. Aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Heinrich Engelhard Poleyen. Altenburg 1757. Locke: Essay concerning Human Understanding (s. Anm. 38), II.ii.1.

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Zunächst unterdrückt Poleys Fehlübersetzung Lockes Behauptung, dass alle einfachen Ideen in der Wahrnehmung deutlich sind: Und es kann einem Menschen nichts handgreiflicher seyn, als die klaren Empfindungen, welche er von solchen einfachen Begriffen hat, welche, da iedwede derselben an sich unzusammengesetzet ist, nichts in sich enthalten, als eine einförmige Erscheinung, oder einen einförmigen Gedanken in der Seele, der sich nicht in verschiedliche Begriffe unterscheiden läßt.42

Außerdem versteht Poley das »or« im Relativsatz fälschlich als ausschließend und nicht als explikativ; auf dieser Basis nimmt er eine Disjunktion im Verständnis der einfachen Idee bzw. des einfachen Begriffs vor und trennt den einfachen Begriff, der eine »einförmige Erscheinung« enthält, vom einfachen Begriff, der einen »einförmigen Gedanken in der Seele« umfasst. Der Übersetzung fügt Poley einen Kommentar hinzu, in dem er die Disjunktion ausdrücklich macht und lediglich einer der beiden Klassen von einfachen Begriffen Deutlichkeit zuspricht: Es giebt in zweyfachem Verstande einfache und zusammengesetzte Begriffe: erstlich der Sache nach (materialiter), das ist, im Absehen auf die Dinge, welche wir uns vorstellen; und sodann dem Begriffe nach (formaliter), das ist, im Absehen auf die Art, nach welcher uns die Dinge darstellen. Einfache Begriffe im erstern Verstande sind alle diejenigen, die wir von GOTT, von einem Geiste, und von den Elementen oder Monaden haben; ingleich solche abgesonderte Begriffe, die sich nicht weiter zergliedern lassen, dafern wir dazu zu gelangen vermögend sind. Im zweyten Verstande sind es alle klare Begriffe, insonderheit diejenigen, die wir vermittelst der Sinne überkommen: denn diese stellen wohl die Dinge im Ganzen klar; aber dabey noch allemahl verwirret und undeutlich vor.43

Ohne Grundlage bei Locke unterscheidet Poley durch Abstraktion gewonnene deutliche und unzerlegbar einfache Begriffe von in der Wahrnehmung enthaltenen verworrenen einfachen Begriffen.44 Außerdem kommt nach seiner Erklärung lediglich bei durch Abstraktion gebildeten Begriffen die Einfachheit nicht nur den Begriffen, sondern auch den Sachen zu – während die Abstraktion zu einfachen Phänomenen führt, gelangen wir in der Wahrnehmung nur zu einfachen Repräsentationen. Abweichend von Locke, aber in Übereinstimmung mit Poley geht auch Tetens davon aus, dass durch Abstraktion gebildete einfache Begriffe im Gegensatz zu in der Wahrnehmung enthaltenen einfachen Begriffen unauflösbar einfach sind und etwas Existierendes repräsentieren. Daher darf man annehmen, dass die von Tetens Locke zugeschriebene Stelle in Wahrheit eine Stelle bei Poley ist. Anders aber als nach Poley tragen die durch Abstraktion gebildeten Begriffe nach Tetens keinen apriorischen Charakter. Im Unterschied zu Poley identifiziert Tetens die Abstraktion bei Locke nicht mit einer von Erfahrung unabhängigen Analyse von Begriffen. Tetens zufolge erlangen die einfachen abstrakten Begriffe eine besondere Rolle, weil sie zwar »durch die Abstraktion einfach gemachte« Begriffe ausmachen,45 aber »auch zulezt aus Empfindungen« entstehen.46 Unter allen Begriffen kommt ihnen ein besonderer Rang zu, weil sie eine über Er42 43 44

45 46

Locke: Herrn Johann Lockens Versuch vom Menschlichen Verstande (s. Anm. 40), S. 99. Ebd. Auch Lockes Ausführungen über Klarheit und Deutlichkeit erwidert Poley mit einem Referat der Begriffstheorien von Leibniz und Wolff. Vgl. Locke: Herrn Johann Lockens Versuch vom Menschlichen Verstande (s. Anm. 40), S. 372–377. Tetens: Gedancken über einige Ursachen (s. Anm. 2), S. 26. Ebd., S. 25

Tetens und Wolff

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fahrungsbegriffe hinausgehende Deutlichkeit besitzen und dennoch Inhalte von Erfahrung darstellen. Zusammengefasst behauptet Tetens mit Locke, dass wir durch eine Abstraktion von einfachen Empfindungen zu abstrakten Ideen oder Begriffen gelangen, und mit Poley, dass sich durch Abstraktion gebildete restlos einfache Begriffe auf existierendes Allgemeines beziehen. Empiristisch ist diese Konzeption, weil sie der Ontologie Begriffe zugrunde legt, die sich der Analyse primitiver Erfahrungsgegebenheiten verdanken. Generell empfiehlt Tetens, Streitigkeiten über die Natur von Begriffen dadurch aufzulösen, »daß man auf die Empfindungen zurück gehe, aus welchen der bestrittene Begriff entstanden ist, und genau beobachte, was man sich vorstellet, wenn man diese Idee in den Gegenständen gewahr wird«.47 Der Untersuchung von Erfahrung erkennt er die Fähigkeit zu, Kontroversen über die Grundbegriffe der Ontologie aufzulösen: »Ueberhaupt ist es nicht genug anzupreisen, daß man bei Beurtheilung der Begriffe die Empfindungen untersuchet und auseinander sezet, die man hat, wenn der zu untersuchende Begrif in der Erfahrung vorkömt.«48 Die unauflösbar einfachen Begriffe, die in der Empfindung von Gegenständen enthalten sind, sollen der Ontologie als erstem Teil der Metaphysik zugrunde gelegt werden und die Basis für Schlussfolgerungen liefern. Auch in seinen Ausführungen zum philosophischen Sprachgebrauch bringt Tetens zum Ausdruck, dass die aus der Analyse von Empfindungen gewonnenen einfachen Begriffe besondere Dignität genießen. Neben der mangelnden Deutlichkeit von Begriffen stellt das Verwenden philosophischer Termini mit schwankender Bedeutung laut Tetens eine weitere Ursache für die Defizite der Metaphysik dar. In diesem Rahmen wendet er sich gegen die Auffassung Wolffs, dass sich der Gebrauch von Begriffen am gewöhnlichen Sprachgebrauch orientieren sollte.49 Die Forderung Wolffs hält Tetens nicht für umsetzbar, weil alltägliche und philosophische Rede unterschiedlichen Gewohnheiten folgen und es keinen einheitlichen gewöhnlichen Sprachgebrauch gibt.50 Wortstreitigkeiten lassen sich seiner Meinung nach stattdessen durch Erklärungen von Begriffen beheben, wenn diese bis zu den einfachsten Ideen fortgesetzt werden.51 In diesem Zusammenhang spricht sich Tetens für den Gebrauch von Symbolen für einfache Begriffe als kleinste semantische Einheiten aus.52 Damit folgt er der Vorstellung, dass die Bedeutung philosophischer Termini durch ihre Herleitung aus einfachsten Ideen abgesichert werden kann.

1.3 Ablehnung apriorischer Begriffe Auch über die ontologischen Grundbegriffe hinaus rügt Tetens eine unkontrollierte Verwendung von Begriffen innerhalb der Metaphysik. Wolff unterscheidet in der deutschen wie in der lateinischen Logik drei Wege, um zu Begriffen zu kommen. Mit der Terminologie der lateinischen Logik gelangen wir zu neuen Begriffen entweder aposteriorisch durch (1) eine reflexio auf 47 48 49 50 51 52

Tetens: Gedancken über einige Ursachen (s. Anm. 2), S. 27. Ebd., S. 28. Wolff: Discursus Praeliminaris (s. Anm. 3), § 142. Tetens: Gedancken über einige Ursachen (s. Anm. 2), S. 34. Ebd., S. 40f. Ebd., S. 43.

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die Teilwahrnehmungen in der Wahrnehmung eines Gegenstands oder apriorisch durch (2) eine abstractio in der Bildung neuer Begriffe auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten vorhandener Begriffe oder (3) eine determinatio arbitraria, bei der wir die Bestimmungen eines vorhandenen Begriffs variieren.53 Allgemeinbegriffe werden dabei entweder durch die Reflexion auf die beständigen Bestimmungen einer Sache oder durch die Abstraktion, bei der »wir die Begriffe verschiedener Dinge gegen einander halten« und ermitteln, »worinnen sie einander ähnlich sind«,54 oder durch die »willkührlich formirten Begriffe« erworben, bei denen wir anhand eines vorhandenen Begriffs »eines und das andere weglassen, wodurch die Sache in sich determiniret ist«, oder »anders determiniren, was noch nicht determiniret ist«, oder »was schon determiniret ist, auf eine andere Art determiniren«.55 Kritisch verhält sich Tetens gegenüber der willkürlichen Bildung von Begriffen bzw. der determinatio arbitraria. Diese stellt für ihn die dritte Ursache für die Stagnation in der Metaphysik dar: »Man legt Begriffe zum Grunde, man leitet aus ihnen Folgerungen her, ohne gehörig erwiesen zu haben, daß diese Begriffe nichts unmögliches in sich fassen.«56 Gemäß seiner Kritik lassen sich auch solche Begriffe willkürlich bilden, die keine real möglichen Gegenstände repräsentieren. Allerdings verweist Wolff selbst darauf, dass »unser Wille [...] nichts möglich machen« kann, und verlangt nach Beweisen dafür, dass die durch willkürliche Bestimmung erlangten Begriffe »etwas mögliches in sich fassen« und nicht »nur leere Worte« sind.57 Willkürlich gebildete Begriffe dürfen nach Wolff nur dann akzeptiert werden, wenn (1) entweder der dem Begriff entsprechende Gegenstand wirklich oder (2) herstellbar ist oder (3) die Teilbegriffe des Begriffs keinen Widerspruch enthalten. Entsprechend können wir gemäß der Deutschen Logik nachweisen, dass Begriffe möglich sind, indem »wir uns in der Welt umsehen und acht geben, ob wir etwas finden, welches mit ihm übereinkommt«,58 oder herausfinden, »wie dergleichen Sache entstehen köne« oder »ob etwas daraus fliesse, davon wir schon wissen, ob es möglich sey, oder nicht«.59 Erfüllt ein Begriff eine dieser Bedingungen, so repräsentiert er gemäß Wolff eine Sache, die wirklich ist oder werden kann. Die dritte Bedingung ist dabei schon dadurch erfüllt,

53

54 55 56 57

58 59

Vgl. Christian Wolff: Philosophia rationalis sive Logica, methodo scientifica pertractata et ad usum scientiarum atque vitae aptata. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u.a. Abt. II, Bd. 1.2. Hildesheim, Zürich, New York 1983, § 716. Zu den Arten der Begriffsbildung bei Wolff vgl. Winfried Lenders: Die analytische Begriffs- und Urteilstheorie von G. W. Leibniz und Chr. Wolff. Hildesheim 1971, bes. S. 97–108; Engfer: Philosophie als Analysis (s. Anm. 9), S. 245–255; ders.: Zur Bedeutung Wolffs für die Methodendiskussion der deutschen Aufklärungsphilosophie (s. Anm. 11), S. 57–59; ders.: Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 13), S. 274; Tutor: Die wissenschaftliche Methode bei Christian Wolff (s. Anm. 13), S. 136–140, S. 160–168. Wolff: Deutsche Logik (s. Anm. 27), § 26. Ebd., § 30. Vgl. zur Bildung von Allgemeinbegriffen und dem Aufsuchen von Definitionen Wolff: Kurtzer Unterricht (s. Anm. 14), §§ 15–19. Tetens: Gedancken über einige Ursachen (s. Anm. 2), S. 49. Wolff: Deutsche Logik (s. Anm. 27), § 33. Die Parallelstelle im Kurtzen Unterricht bezieht den Begriff der Möglichkeit ausdrücklich auf das real Mögliche. Dort heißt es, dass die Möglichkeit »auf der Natur und Beschaffenheit der Sache« beruht (Wolff: Kurtzer Unterricht [s. Anm. 14], § 21). Wolff: Deutsche Logik (s. Anm. 27), § 34. Ebd., § 35.

Tetens und Wolff

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dass ein Begriff nicht aufgrund eines Widerspruchs zwischen seinen Teilbegriffen unmöglich ist.60 Nach Tetens kann die Möglichkeit eines Begriffs entweder aposteriorisch »aus der Wirklichkeit des Dings, oder seiner Wirkungen«61 oder apriorisch »aus dem Begriffe des Dinges selbst«62 erwiesen werden. Zwar teilt Tetens die Meinung, dass »wir an der Möglichkeit gar nicht mehr zweiffeln, wenn wir die Entstehungsart eines Dinges einsehen, weil diese jene nothwendig voraussezet«, er verwirft aber die Auffassung, dass die Möglichkeit einer Sache aus der Widerspruchslosigkeit ihres Begriffs nachgewiesen werden könne.63 Mit Blick auf das Verfahren, »die Möglichkeit einer Sache a priori, wie man redet, oder aus dem Begriffe des Dinges selbst« zu erweisen, schreibt Tetens, dass »dieser Beweis [es ist], den man in der Metaphysik nicht gehörig führet«.64 Begriffen, die aus Teilbegriffen zusammengesetzt sind, deren Definitionen einander nicht ausschließen, kommt nach Tetens lediglich eine »negative Möglichkeit« zu, die ihren Realitätsgehalt nicht garantiert.65 Anders als eine unzureichende negative Möglichkeit kennt er aber auch eine »wahre Möglichkeit«, bei der die einem Begriff zugrunde liegenden einfachen Ideen in allen Hinsichten miteinander verträglich sind.66 Die umstrittenen metaphysischen Begriffe wie die der Substanz oder der Kraft hält er aber für zu komplex, um ihre wahre Möglichkeit zu überprüfen. Da kontroverse metaphysische Begriffe weder aufgrund ihrer negativen Möglichkeit akzeptiert werden dürfen noch ihre wahre Möglichkeit ermittelt werden kann, bestreitet Tetens ihre apriorische Beweisbarkeit. Im Unterschied zu Wolff lässt er nur solche Begriffe als Grundlage für gültige Beweise in der Metaphysik zu, die entweder primitive Bestandteile von Erfahrungen darstellen oder bei denen die Entstehungsbedingungen der von ihnen repräsentierten Gegenstände bekannt sind. Gleichwohl kommt auch in der Begriffstheorie Wolffs ein Primat der Erfahrung zum Ausdruck, weil auch die Abstraktion und die willkürliche Bildung von Begriffen auf der Grundlage von aus der Erfahrung gewonnenen Begriffen ausgeübt werden. In Verbindung mit Wolffs Aussage, dass die historische Erkenntnis das Fundament für die philosophische liefert, lässt sich darin ein empiristisches Element erkennen.67 Während aber Wolff lediglich von einem genetischen Primat der Erfahrung für die Bildung von Begriffen ausgeht, artikuliert Tetens die strikte empiristische These, dass nur erfahrungsbezogene Begriffe Bedeutung haben. Entsprechend fasst Tetens seine Ausführungen in der Aussage zusammen: »Es ist gar unmöglich, daß wir die Möglichkeit solcher Dinge, von denen wir nur einen symbolischen, aber keinen anschauenden 60 61 62 63 64 65 66 67

Vgl. Wolff: Kurtzer Unterricht (s. Anm. 14), § 24. Tetens: Gedancken über einige Ursachen (s. Anm. 2), S. 50. Ebd., S. 51. Ebd., S. 53. Ebd., S. 51. Ebd., S. 54. Ebd. Wolff: Discursus Praeliminaris (s. Anm. 3), § 10. Vgl. Engfer: Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 13), S. 275; zu Formen des Empirismus bei Wolff vgl. u.a. Hans Werner Arndt: Rationalismus und Empirismus in der Erkenntnislehre Christian Wolffs. In: Schneiders (Hg.): Christian Wolff (s. Anm. 11), S. 31–47; Lothar Kreimendahl: Empiristische Elemente im Denken Christoph Wolffs. In: Jürgen Stolzenberg u. OliverPierre Rudolph (Hg.): Christian Wolff und die Europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen ChristianWolff-Kongresses. 5 Tle. Hildesheim, Zürich, New York 2007–2010, Teil 1, S. 95–112; Luigi Cataldi Madonna: Erfahrung und Intuition in der Philosophie von Christian Wolff. In: ebd., Teil 2, S. 173–193.

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Begriff haben, aus ihnen selbst, oder a priori sollten einsehen können.«68 Dennoch schränkt er seine Kritik an der Verwendung apriorischer Begriffe in einer Nebenbemerkung zum ontologischen Gottesbeweis ein. Um den Preis der Inkonsistenz räumt Tetens ein, dass die Existenz Gottes aus seinem Begriff beweisbar ist.69 Mit den willkürlich gebildeten Begriffen bezieht sich Tetens auf ein für die Kontroverse über die mathematische Methode folgenreiches Thema; auch die Ablehnung der mathematischen Methode bei Kant basiert auf einer Kritik der willkürlich gebildeten Begriffe.70 Tetens und Kant gehen gemeinsam davon aus, dass die von Wolff vorgesehenen Möglichkeitsbeweise nicht den Realitätsgehalt der Begriffe garantieren. Im Unterschied zu Kant führt diese Überzeugung bei Tetens jedoch nicht zur Ablehnung der mathematischen Methode; seiner Meinung nach sollte die mathematische Methode beibehalten und auf aposteriorische Grundlage gestellt werden.

1.4 Empirische Forschung in Psychologie und Theologie Auch in den speziellen Teilen der Metaphysik nimmt Tetens Korrekturen an Wolff vor und leugnet, dass eine rein rationale Erkenntnis von Welt, Seele und Gott möglich ist. Stattdessen stellen Seele, Welt und Gott ihm zufolge Gegenstände dar, die wir durch ihre kausale Einwirkung kennenlernen können: »Die ganze Seelenlehre und Gottesgelahrtheit, und zum Theil die Cosmologie, sind Wissenschaften von wirklichen Dingen, deren Würckungen wir nur erfahren, von welchen wir durch Hülfe der allgemeinen Grundsäze auf die innere Beschaffenheit derselben zurückschließen müssen.«71 Demnach können auch der speziellen Metaphysik Erfahrungen zugrunde gelegt und vor allem Seele und Gott anhand ihres Einflusses auf die Erfahrung erforscht werden: Kennen wir nun die Würkungen noch nicht genau, und fehlt es uns an richtigen und volständigen Erfahrungen: oder wenn diese da sind, sind die Ursachen dieser Wirckungen zu weit von uns entfernet, daß wir dieselbe niemals durch unser Nachdenken erreichen können; so werden wir auch mit unser besten Theorie hierinnen wenig ausmachen. Beides findet statt in der Metaphysik. Wir haben noch nicht Erfahrungen genug.72

Seiner Aussage zufolge hängt der Fortschritt vor allem in Psychologie und Theologie davon ab, dass die empirische Forschung ausgeweitet wird und Hypothesen erstellt, geprüft und in zustimmungsfähige Lehrsätze umgewandelt werden. Ungeachtet seiner gelegentlichen Unterstützung des ontologischen Gottesbeweises verpflichtet er Psychologie und Theologie damit auf ein streng erfahrungswissenschaftliches Programm. Den empirischen Teilen der Wissenschaften von Seele, Welt und Gott spricht auch Wolff epistemischen Wert zu. Zum Beispiel soll laut Deutscher Metaphysik die empirische Psychologie – die der Aufgabe folgt, »bloß zu erzehlen, was wir durch die tägliche Erfahrung von ihr [der 68 69 70 71 72

Tetens: Gedancken über einige Ursachen (s. Anm. 2), S. 56. Ebd., S. 57. Kant: Über die Deutlichkeit (s. Anm. 11). Tetens: Gedancken über einige Ursachen (s. Anm. 2), S. 60. Ebd.

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Seele] wahrnehmen« – die rationale Psychologie überprüfen.73 Über das Verhältnis von empirischer und rationaler Untersuchung der Seele äußert sich Wolff wie folgt: »Und solchergestalt siehet man, daß dasjenige, was oben von der Seele aus der Erfahrung angeführt worden, der Probier-Stein desjenigen ist, was hier von ihrer Natur und Wesen, und denen darinnen gegründeten Würckungen gelehret wird, keineswegs aber das, was hier gelehret wird, der Probier-Stein dessen, was uns die Erfahrung lehret.«74 Als Probierstein erhält die empirische Psychologie bei Wolff eine falsifizierende Rolle für die rationale Psychologie. Nach Tetens gelangt man aber zu keinem realistischen Bild wissenschaftlichen Fortschritts, wenn der empirischen Untersuchung eine lediglich korrigierende Funktion beigemessen wird. Ihm zufolge muss eine breite empirische Forschung zukünftigen Innovationen im Bereich der Metaphysik vorausgehen, da es unmöglich ist, »daß wir die Natur der wirkenden Ursachen ohne eine volständige historische Erkenntnis der Wirkungen sollten erkennen können«.75 Zu Entdeckungen über die Gegenstände von Seele oder Gott werden wir laut Tetens nur durch die empirische Forschung und nicht durch rationale Untersuchung geleitet. Tetens und Wolff unterscheiden sich in den Ansichten darüber, ob die Metaphysik allein durch Erfahrung begründet werden kann. Nicht nur mit der These, dass nur aus der Analyse von Erfahrungen gewonnene einfache Begriffe als ontologisches Fundament in Frage kommen, spricht sich Tetens gegen die Tradition der rationalen Untersuchung aus. Auch den Gewinn von Erkenntnis über die speziellen Gegenstände der Metaphysik verspricht sich Tetens von der Beobachtung kausaler Wirkungen und dem Rückschluss auf ihre Ursachen. Zu Erkenntnissen etwa über die einfache oder zusammengesetzte Natur der Seele oder über die Existenz Gottes gelangt die Wissenschaft den Gedancken zufolge nur auf empirischer Basis.

2. Tetens und Wolff über aposteriorische Gottesbeweise Ähnliche Überzeugungen formuliert Tetens auch in seiner Schrift von 1761 über Gottesbeweise, der Abhandlung von den vorzüglichsten Beweisen des Daseins Gottes.76 Anders als in den Gedancken verhält sich Tetens in dieser Schrift strikt ablehnend zum apriorischen Gottesbeweis in seinen verschiedenen Versionen von Anselm bis Wolff. Tetens’ Reform der Metaphysik geht stattdessen mit einer Aufwertung des aposteriorischen Gottesbeweises einher. Gemeinsam kennzeichnen lassen sich apriorische Argumente für die Existenz Gottes ihm zufolge dadurch, dass sie 73

74 75 76

Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 25), § 191. Zum Verhältnis von empirischer und rationaler Seelenlehre bei Wolff vgl. Roderich Barth: Von Wolffs ›Psychologia Empirica‹ zu Herders ›Psychologie aus Bildwörtern‹. Beobachtungen zur Umformung des Seelenbegriffs in der Aufklärung. In: Katja Crone, Robert Schnepf u. Jürgen Stolzenberg (Hg.): Über die Seele. Berlin 2010, S. 174–209, bes. S. 181–191. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 25), § 727. Tetens: Gedancken über einige Ursachen (s. Anm. 2), S. 62. Johann Nikolaus Tetens: Abhandlung von den vorzüglichsten Beweisen des Daseins Gottes. In: ders.: Kleinere Schriften (s. Anm. 2), Tl. 1, S. 133–209 (im Folgenden nach Originalpaginierung ausgewiesen). Auch in seiner zweiten 1778 und 1783 in zwei Teilen erschienenen Schrift über Gottesbeweise setzt sich Tetens mit Wolff auseinander. Vgl. ders.: Ueber die Realität unsers Begriffs von der Gottheit. In: ders.: Kleinere Schriften (s. Anm. 2),Tl. 2, S. 95–258; vgl. hierzu auch den Beitrag von Roderich Barth in diesem Band.

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»ohne Voraussetzung eines wircklichen Dinges, aus unserer Idee von dem höchsten Wesen« hergeleitet werden.77 Während apriorischen Gottesbeweisen seiner Meinung nach die Evidenz fehlt, hält er Gottesbeweise für leistungsfähig, bei denen aus der Wirklichkeit der Welt oder der Ausstattung der Welt auf die Existenz eines unabhängigen hervorbringenden Wesens gefolgert wird. Über aposteriorische Gottesbeweise schreibt er: Man sieht leicht, daß alles auf diese zwei Säzze ankomme. Es ist etwas wircklich, das zu der Welt gehört, oder sie selber ist es. Dies muß zulezt, so viele Zwischen-Ursachen man auch dichtet, eine Wirckung eines nothwendigen und weisen Wesens sein. Der erste ist ein Grundsaz, dessen Wahrheit die Empfindung lehret, und die Quelle, woraus durch die Vernunft der zweite Saz hergeleitet wird.78

Demnach sind nur solche Gottesbeweise zulässig, die wie (1) der teleologische Gottesbeweis von der wirklichen Beschaffenheit der Welt oder (2) der von Kant als kosmologisch bezeichnete Gottesbeweis von der Wirklichkeit der Welt auf die Existenz Gottes schließen. Den teleologischen Gottesbeweis hält Wolff nur eingeschränkt für produktiv.79 Auch wenn die Teleologie laut Ausführlicher Nachricht zeigen soll, »wie es möglich ist, aus der Welt zu erkennen, daß ein GOtt sey«,80 zählt Wolff nicht zu den Anhängern des teleologischen Gottesbeweises. So setzt der teleologische Gottesbeweis nach der Ratio Praelectionum zirkulär voraus, dass in der Natur göttliche Absichten vorhanden sind.81 Wie Wolff relativiert auch Tetens die Sicherheit des teleologischen Gottesbeweises im Schluss von der Einrichtung der Welt auf eine absichtsvolle Hervorbringung durch ein intelligentes Wesen. Ausdrücklich in Reaktion auf Humes Kritik schreibt er dem teleologischen Gottesbeweis nur Wahrscheinlichkeit zu.82 Im Unterschied zu Hume behält aber er einen Nutzen der teleologischen Naturbetrachtung für die Gotteserkenntnis bei, obgleich die Existenz Gottes nicht aus ihr bewiesen werden kann. In Übereinstimmung mit Wolff hält auch er die Teleologie deshalb mit Einschränkung für nützlich, weil sie die Eigenschaften Gottes »verständlicher« macht.83 Absolute Sicherheit genießt nach Tetens dagegen der aposteriorische Gottesbeweis am Leitfaden der Begriffe von Wirkung und Ursache. Das Modell lässt sich in Wolffs Gottesbeweis aus der Kontingenz erkennen, der gemäß der Deutschen Metaphysik von der Seele und der Welt, die 77 78 79

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Ebd., S. 16. Ebd., S. 19. Vgl. zu Wolff über den teleologischen Gottesbeweis u.a. Hans Poser: Teleologie als Theologia experimentalis. Zum Verhältnis von Erfahrung und Finalität bei Christian Wolff. In: Friedrich Wilhelm Korff (Hg.): Redliches Denken. Festschrift für Gerd-Günther Grau zum 60. Geburtstag. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, S. 130– 143; Ferdinando Luigi Marcolungo: Christian Wolff und der physiko-theologische Beweis. In: Aufklärung 23 (2011), S. 163–174. Wolff: Ausführliche Nachricht (s. Anm. 15), § 187. Christian Wolff: Ratio Praelectionum. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u.a. Abt. II, Bd. 36. Hildesheim, Zürich, New York 1972, Sectio II, Caput III, § 45. Tetens: Abhandlung von den vorzüglichsten Beweisen des Daseins Gottes (s. Anm. 76), S. 21. 1761 kann sich Tetens nur auf Humes Kritik am teleologischen Gottesbeweis aus der Enquiry Concerning Human Understanding beziehen, die 1748 zunächst als Philosophical Essays Concerning Human Understanding erscheint und 1755 erstmalig ins Deutsche übersetzt herauskommt (David Hume: Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntniß. Hamburg, Leipzig 1755). Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge [Deutsche Teleologie]. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u.a. Abt. I, Bd. 7. Hildesheim, Zürich, New York 1980, § 5; vgl. Tetens: Abhandlung von den vorzüglichsten Beweisen des Daseins Gottes (s. Anm. 76), S. 76f.

Tetens und Wolff

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als kontingente Gegenstände ihren Grund außerhalb ihrer selbst haben, auf einen zureichenden Grund in einer Entität schließt, die als notwendiger Gegenstand ihren Grund in sich selbst hat.84 Während Wolffs Gottesbeweis auf dem Satz des zureichenden Grundes basiert, erstellt Tetens einen Gottesbeweis durch eine Anwendung des Kausalprinzips. Anhand einer Diskussion des Reihenbegriffs gewinnt Tetens die beiden nur scheinbar unverträglichen Annahmen, dass (1) innerhalb einer Reihe jede Wirkung eine Ursache besitzt, die selbst Wirkung einer weiteren Ursache ist, und (2) es keine unendliche Reihe von Ursachen und Wirkungen geben kann: »Es ist also eine Reihe von Ursachen und Wirckungen ohne Anfang eine Erdichtung; die Reihen in der Welt haben dahero einen Anfang gehabt«.85 Da nach beiden Prämissen die Reihen einen Anfang besitzen müssen, es unter den Gliedern der Reihe aber keinen Anfang geben kann, muss der Anfang außerhalb der Reihe liegen. Tetens zufolge bilden Wirkungen und Ursachen eine fortlaufende Reihe innerhalb der Welt, die aber einen Anfang in einer Ursache außerhalb der Welt besitzt. Tetens’ Gottesbeweis beruht auf der Voraussetzung, dass das Kausalprinzip gilt und die Welt kausal geschlossen ist. Es ist jedoch überraschend, dass Tetens mit dem Kausalprinzip eine Spezifizierung des Satzes des zureichenden Grundes für seinen Gottesbeweis in Anspruch nimmt. Dem Satz vom zureichenden Grund hatte er ein Jahr zuvor in den Gedancken zwar systematischen Nutzen zugestanden, aber seine Begründbarkeit in Zweifel gezogen. Mit der Diskussion der Gottesbeweise aus der Abhandlung stößt das von Tetens befürwortete empiristische Programm ersichtlich an eine Grenze.

3. Tetens über Wolff als Vertreter der rationalen Metaphysik Mit dem im Kontext der Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwickelung entstandenen Aufsatz Ueber die allgemeine speculativische Philosophie von 1775 wendet sich Tetens erneut der Struktur von metaphysischem Wissen zu.86 Nun weist er jedoch die skeptische Auffassung der »beobachtende[n] Philosophie« zurück, dass es kein erfahrungstranszendentes und über die Meinungen des common sense hinausreichendes Wissen gibt.87 Anders als zuvor nimmt Tetens jetzt die rationale Untersuchung in der Ontologie gegen die empiristische Kritik in Schutz, wobei er Wolff die Rolle des Kronzeugen beimisst: Von der Zeit an, da die alte Scholastic ihr Ansehen verloren hat, ward die brittische Philosophie fast allein eine beobachtende Philosophie, eine Erfahrungs-Physic über den Menschen. Die deutsche neuere 84

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Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 25), § 928–930. Zu Wolffs aposteriorischem Gottesbeweis in der Deutschen Metaphysik im allgemeinen Kontext seiner Gottesbeweise vgl. u.a. Robert Theis: »Ut & scias, & credas, quae simul sciri & credi possunt«. Aspekte der Wolffschen Theologie. In: Aufklärung 23 (2011), S. 17– 39. Tetens: Abhandlung von den vorzüglichen Beweisen des Daseins Gottes (s. Anm. 76), S. 74f. Johann Nikolaus Tetens: Ueber die allgemeine speculativische Philosophie. In: ders.: Kleinere Schriften (s. Anm. 2), Tl. 2, S. 1–94 (im Folgenden nach Originalpaginierung ausgewiesen). Zu Tetens und der Philosophie des common sense vgl. Manfred Kuehn: Scottish Common Sense in Germany 1768–1800. A Contribution to the History of Critical Philosophy. Kingston, Montreal 1987, S. 119–140, sowie den Beitrag von Nele Schneidereit in diesem Band.

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Achim Vesper Philosophie empfing dagegen ihren Schwung, aus dem sie noch jetzt nicht ganz wieder zurück gekommen ist, von Wolfen, von dessen Vorschriften und Vorgang. Aber Wolfen war der Genius der mathematischen Wissenschaften bekannt und beständig vor Augen, als er Methoden und Plan vestsetzte. Aus dem Tschirnhausen kannte er dazu den Weg der Speculation. Daher kam ihm eine allgemeine Grundwissenschaft unentbehrlich vor. Das richtige und das vortheilhafte, das mangelhafte, das falsche, und, wenn man will, das schädliche, was er, einiger Meynung nach, unsrer Philosophie eingeprägt haben soll, dahin gestellet gelassen; so war es doch eine Folge von Wolfens Methode, daß die deutschen Philosophen nach ihm, so weit sie auch in dem System selbst von ihm abgingen, dennoch alle voraussetzten, es gebe eine solche Wissenschaft, und sie müsste bearbeitet und eingerichtet werden.88

Obwohl sich Tetens mit seiner Ehradresse gegenüber Wolff in die Tradition der rationalen Metaphysik stellt, verabschiedet er die mathematische Methode.89 Zwar soll die Ontologie als eine »Grundwissenschaft« oder auch »transcendente Philosophie« fortgeführt werden, die sich mit dem beschäftigt, »was möglich oder nothwendig ist bey allen Arten von Dingen überhaupt«,90 sie darf jedoch nur »reelle Begriffe« enthalten, »die den Gegenständen außer dem Verstande entsprechen«.91 Mit der Forderung nach reellen Begriffen schließt sich Tetens den von ihm als Skeptikern bezeichneten Berkeley, Hume und Locke an, die auf einem Realitätsnachweis für Begriffe bestehen. Systematische Philosophen wie Wolff kritisiert er erneut dafür, dass sie Begriffe aus willkürlich gebildeten Definitionen ohne Nachweis ihrer Realität herleiten.92 So formuliert Tetens mit Blick auf das von ihm aufgestellte Gebot der »Realisierung« von Begriffen: »Dies ist das wesentliche Bedürfniß, das die systematischen Philosophen selten stark genug fühlen, und das die sceptischen für unabheflich ansehen.«93 In Abkehr vom Empirismus behauptet Tetens allerdings, dass die Zurückführung von Begriffen auf Empfindungen keine notwendige Bedingung für »eine Probe auf die Realität der Begriffe« darstellt:94 »Die Vorschrift, man solle die metaphysischen Begriffe auf Empfindungen reduciren, ist in der That nur eine sehr unbestimmte Vorschrift, die etwas aber nicht vielmehr saget, als die allgemeine Regul, daß man sie realisiren, oder ihre Uebereinstimmung mit den Objecten darthun solle.«95 Anders als in

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Tetens: Ueber die allgemeine speculativische Philosophie (s. Anm. 86), S. 89f. Nach Tetens sind Zweifel an »synthetischen Speculationen aus allgemeinen Begriffen« berechtigt. Dabei identifiziert er die mathematische Methode mit dem synthetischen Verfahren in der Philosophie, wohingegen er u.a. Locke, Hume und Condillac das analytische Verfahren zuschreibt (vgl. ebd., S. 84–86). Vgl. allgemein zur Unterscheidung von synthetischer und analytischer Methode Engfer: Philosophie als Analysis (s. Anm. 9); ders.: Zur Bedeutung Wolffs für die Methodendiskussion der deutschen Aufklärungsphilosophie (s. Anm. 11). Tetens: Ueber die allgemeine speculativische Philosophie (s. Anm. 86), S. 24. Als »Grund-Wissenschaft« bezeichnet auch Wolff die Ontologie, »weil man in diesem Theile der Welt-Weisheit die ersten Gründe der Erkäntnis erkläret« (Wolff: Ausführliche Nachricht (s. Anm. 15), § 17). Zum Begriff des Transzendentalen bei Wolff vgl. seine Definition der »Cosmologia generalis vel transcendentales« als Erklärung der Gemeinsamkeiten von existierender Welt und allen anderen möglichen Welten (Wolff: Discursus Praeliminaris (s. Anm. 3), § 78). Tetens: Ueber die allgemeine speculativische Philosophie (s. Anm. 86), S. 26. Anders als zu metaphysischen Begriffen gehören zu empirischen Allgemeinbegriffen nach Tetens aber auch willkürlich gebildete bzw. »selbstgemachte Begriffe« (ebd., S. 67). Ebd., S. 26. Ebd., S. 48. Ebd.

Tetens und Wolff

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den Gedancken geht Tetens nun davon aus, dass die Realität von Begriffen nicht nur durch die Zurückführung auf Empfindungen nachgewiesen werden kann. Für die Realisierung der »allgemeinen Grundbegriffe und Grundsätze«96 differenziert Tetens zwischen »ersten Grundsätzen« und »transcendenten Begriffen«.97 Grundsätzen wie den Sätzen der Identität oder des ausgeschlossenen Widerspruchs kommt seiner Meinung nach Realität zu, weil ohne sie der Begriff eines Verstandes nicht gebildet werden kann und sie nur mit Selbstwiderspruch bestritten werden können: Ist es also vielleicht blos menschliche Denkart in dem gegenwärtigen Zustande unsers Geistes? Oder ist selbige vielmehr so tief, so allgemein, so innig in der Natur des Verstandes, in so ferne es Denkund Urtheilskraft ist, gegründet, daß der Verstand, der sie bezweifeln und bestreiten will, auch dies nicht kann, ohne sie bey seinem Zweifeln zu befolgen, und also als richtig vorauszusetzen? Wenn dies ist; so muß die Verstandeskraft, als Verstandeskraft auch in andere Wesen, selbst der unendliche Verstand, in so ferne wir von ihm einen Begrif haben können, auf die nämliche Art urtheilen. Solche Untersuchungen machen das Realisieren der Grundsätze aus.98

Anders als die Realisierung der Grundsätze verdankt sich die Realisierung der transzendenten Begriffe einer »Absonderung des Immateriellen und des Materiellen von dem ihnen gemeinschaftlichen Transcendenten«.99 Nach Tetens umfasst der Bereich der Erfahrungsgegenstände sowohl materielle Gegenstände als auch die intellektuellen Gegenstände von Seele und Gott. Während dabei körperliche Begriffe auf äußere Empfindungen und intellektuelle Begriffe auf innere Empfindungen zurückgeführt werden können, sind transzendente Begriffe in den Beschreibungen von Gegenständen sowohl der inneren als auch der äußeren Empfindung enthalten. Die Menge der transzendenten Begriffe wird aus den Begriffen gebildet, über die wir auch wahlweise ohne innere oder ohne äußere Empfindungen verfügen würden.100 In anderen Worten bestehen die transzendenten Begriffe aus den Begriffen, über die Wesen wie wir, aber ohne innere Empfindungen und Wesen wie wir, aber ohne äußere Empfindungen gemeinsam verfügen. Während die Begriffe der Substanz oder der Ursache nach Tetens transzendente Begriffe ausmachen, weil sie sowohl in der inneren als auch in der äußeren Empfindung vorkommen,101 behandelt er zum Beispiel den Begriff des Raumes nicht als transzendenten Begriff, weil er der visuellen Wahrnehmung materieller Gegenstände entstammt.102 Da die transzendenten Begriffe nicht auf eine der beiden Sorten von Empfindungen zurückgeführt werden können, stellen sie laut Te96 97 98 99

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Ebd., S. 27. Zu den Grundsätzen des Verstandes vgl. ebd., S. 35–44; zu den transzendenten Begriffen vgl. ebd., S. 49–62. Ebd., S. 38. Ebd., S. 51. Wahrscheinlich mit Blick auf De Mundi Sensibilis atque Intelligibilis Forma et Principiis von 1770 sieht Tetens hier eine Übereinstimmung mit Kant: »wenn Hr. Kant so sehr auf die Unterscheidung der reinen Verstandesbegriffe von den Begriffen der sinnlichen Erkenntniß dringet; so kömmt mir dieses am Ende als die nämliche Forderung vor, die ich thue, daß das eigentliche Transcendente abgesondert werde« (ebd., S. 52). Vgl. ebd., S. 56. Vgl. ebd., S. 55. Tetens zufolge scheitert Hume schon daran, den alltäglichen Sinn von Kausalaussagen zu analysieren, da wir laut Tetens mit ihnen etwas über die Welt und nicht über einen Zwang des Geistes behaupten. Vgl. ebd., S. 73–77. Zu Tetens und Hume vgl. Manfred Kuehn: Hume and Tetens. In: Hume Studies 2 (1989), S. 365–376 sowie den Beitrag von Holm Tetens in diesem Band. Vgl. Tetens: Ueber die allgemeine speculativische Philosophie (s. Anm. 86), S. 54.

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tens keine Inhalte, sondern Bedingungen von Erfahrung dar. Aufgrund ihrer »characteristischen Allgemeinheit« bilden die transzendenten Begriffe zusammen mit den allgemeinen Grundbegriffen die »allgemeinen Verstandesbegriffen«.103 Tetens modernisiert die Ontologie, indem er sie in eine Rekonstruktion von Verstandesbegriffen überführt, die den möglichen Inhalt menschlicher Erfahrung begrenzen. In diesem Rahmen kommt der Analyse von Empfindungen lediglich die negative Aufgabe zu, empfindungsbasierte Begriffe aus der Menge der Verstandesbegriffe auszuschließen. Deshalb hebt Tetens hervor, dass dem Vorhaben einer »Physic des Verstandes« auch bei einem Zuwachs an Erfahrungen eine Grenze gezogen ist; nun hält er »es nicht für möglich, daß die allgemeine Philosophie ganz entbehrlich werden könne, woferne die Erkenntnis deutliche Einsicht seyn soll, und nicht für wahrscheinlich, daß es geschehen werde«.104 In einem auch bei Kant prominenten Bild vergleicht Tetens die Philosophie mit einer Schifffahrt, »bei der man immer ein Auge auf die Erfahrungen« hat und sich soweit möglich nach ihnen »wie nach Ufern und Leuchtthürmern« richtet.105 Im Unterschied zu anderen Bereichen der Philosophie bildet aber »die Metaphysic eine Reise um die Welt, über den Ocean, wo man nur hie und da an einigen allgemeinen Erfahrungssätzen etliche Insuln und Ufer antrift, durch die man von ihrer genommenen Richtung belehret werden kann«.106 Tetens gibt damit die Hoffnung auf, dass sich die Metaphysik vollständig in ein erfahrungswissenschaftliches Projekt überführen lässt, und argumentiert für die Unverzichtbarkeit der rationalen Untersuchung in der Metaphysik.107 Nun versteht er sich als Erben Wolffs, weil er metaphysischem Wissen eine zum Teil rationale Grundlage zuschreibt.

4. Schluss Wolff wird von Tetens dauerhaft wertgeschätzt. 1760 beruft sich Tetens auf Wolff als Verfechter der mathematischen Methode, die er empiristisch zu korrigieren beabsichtigt. 1761 beruft er sich auf Wolff als Autor des Gottesbeweises aus der Kontingenz, den er in einen kausalen Gottesbeweis transformiert. 1775 verfolgt er dagegen nicht mehr das Ziel, die mathematische Methode oder einzelne Argumente Wolffs zu verbessern; stattdessen verteidigt er die rationale Metaphysik in der Tradition Wolffs gegen den Skeptizismus. Anhand seiner Auseinandersetzung mit Wolff wird der Wandel deutlich, den Tetens vom Empiristen zu einem zumindest partiellen Kritiker des Empirismus durchläuft.

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Ebd., S. 60. Ebd., S. 22. Ebd., S. 20. Vgl. Immanuel Kant: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. In: AA II, S. 63–163, hier S. 65f.; ders.: Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl. 1787). In: AA IV, S. 202f.; ders.: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781). In: AA IV, S. 247. Ebd. Dagegen geht Engfer von einer stärkeren Kontinuität mit den früheren Schriften aus. Vgl. Jürgen Engfer: Einleitung. In: Johann Nikolaus Tetens: Kleinere Schriften. 2 Tle., Hildesheim u.a. 2005, Tl. 1, S. XV–XLI, bes. S. XXI.

MICHAEL SELLHOFF

Tetens’ ›Metaphysik‹ (1789): Systematische Architektonik und historischer Kontext

1. Vorbemerkungen Bekanntlich ist die Quellenlage zu Johann Nikolaus Tetens denkbar unbefriedigend: Neben den von Hans-Jürgen Engfer herausgegebenen Philosophischen Werken steht der Forschung keine weitere Überlieferung zur Verfügung – keine bekannten Briefe, kein Nachlass. Dieser Zustand wird noch verschärft durch den Umstand, dass sich Tetens nach dem Erscheinen der kantischen Kritik der reinen Vernunft nicht mehr substantiell philosophisch geäußert hat.1 Nachdem Tetens 1789 in den dänischen Staatsdienst eintritt, verstummt seine philosophische Stimme ganz. Durch glückliche Zufälle hat sich dieser Befund etwas geändert: Vor wenigen Jahren ist in schwedischem Privatbesitz eine Handschrift mit dem Titel »Metaphysik bey dem H. Profeßor Tetens« aufgefunden worden, deren kommentierte Edition der Verfasser vorbereitet. Es handelt sich bei dem Manuskript um ordentlich gebundene, grob beschnittene 397 Seiten, die allem Anschein nach ein vollständiges Kolleg enthalten. Die elaborierte Sprache, die geringe Anzahl an Streichungen und Abkürzungen wie auch die hohe Gleichförmigkeit der Handschriften im Verlauf des Manuskripts sprechen meines Erachtens klar für eine Rein-, nicht eine Mitschrift. Obwohl das Manuskript undatiert ist, lässt es sich zeitlich genau einordnen: Der »Vorbericht« nennt unter den jüngsten zur Metaphysik gehörenden Schriften den Versuch über Gott, die Welt, und die menschliche Seele von Heinrich Corrodi (1752–1798), der im Jahr 1788 erschienen ist. Da Tetens in Kiel stets im Winter über Metaphysik gelesen hat, und das letztmalig im Wintersemester 1788/89,2 so kommt allein diese Vorlesung in Frage. Die Nachschrift gibt also ausgerechnet Tetens’ letzte philosophische Vorlesung überhaupt, gewissermaßen seine Abschiedsvorlesung an der Kieler Christian-Albrechts-Universität unmittelbar vor seiner Übersiedlung nach Kopenhagen wieder. Vor dem Hintergrund dieses Fundes stellt sich die Frage des tetensschen Verhältnisses zur philosophischen Tradition wie zu zeitgenössischen Strömungen neu, dürfen darüber wie auch über die Details seiner Kenntnisnahme der kritischen Philosophie Kants neue Aufschlüsse er1 2

Mit Ausnahme der theologischen Aufsätze von 1783 sowie des Beytrags zur Geschichte der Toleranz in protestantischen Ländern von 1786. Vgl. den Index praelectionum in Academia Regia Christiano-Albertina [...] habendarum, Kiliae Holsatorum der Jahre 1776 bis 1789.

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wartet werden. Die gängigen, in älterer wie jüngerer Literatur wiederholt genannten Rezeptionslinien der Philosophie Tetens’ beziehen sich nahezu ausschließlich auf die den Philosophischen Versuchen teils direkt, teils implizit ablesbaren Referenzen: Max Dessoir nennt allgemein »Wolff, Search, Hartley, Helvetius und Bonnet«;3 die genauere Analyse bei Sommer zeigt die Einflüsse Leibniz’, Reimarus’ und auch Hallers, vor allem aber, dass Tetens’ methodisches Vorgehen »als konsequente Uebertragung von Lambert’s rationellem Empirismus bei Behandlung der äusseren Sinnesempfindung auf das Gebiet der inneren Erfahrung zu verstehen ist«.4 Daneben stehen in der jüngeren Forschung vor allem ertragreiche Einzelinteressen im Fokus bzw. die Situierung der tetensschen Philosophie innerhalb der Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie oder Anthropologie der Spätaufklärung.5 Mit dem Fund des Vorlesungsmanuskripts rückt Tetens’ Beziehung zur systematischen Metaphysik der Zeit verstärkt in den Blick. Deshalb beabsichtigt der vorliegende Beitrag, in einem ersten Schritt durch eine eingehende Untersuchung der Bützower und Kieler Verzeichnisse die Vorlesungstätigkeit Tetens’ zu rekonstruieren. Diese soll in einem zweiten Schritt als eine Suchbewegung interpretiert werden, in der Tetens die Metaphysik seit Wolff lehrend prüft. Der Begriff der »systematischen Architektonik der Metaphysik« dient dabei der Fassung der konzeptionellen Verschiebung in den jeweiligen Anordnungen der Teile der Metaphysik und ihren verschiedenen Begründungen. So soll drittens der Aufbau der Vorlesung von 1789 als das Ergebnis der tetensschen Reaktion auf die »cognitive crisis«,6 auf die Krise des metaphysischen Systemdenkens lesbar werden.

2. Tetens’ Vorlesungstätigkeit Nach seiner Promotion wird Tetens zuerst besoldeter Privatdozent, dann ordentlicher Professor der Physik an der neu gegründeten Friedrichs-Universität – kurz: »Akademie« – in Bützow.7 Über immerhin 16 Jahre, von 1760 bis 1776, erstreckt sich seine dortige Lehrtätigkeit. In Wilhelm Uebeles Gesamtdarstellung zu Tetens’ intellektueller Biographie ist über die Bützower Vorlesungen lediglich zu erfahren,8 dass er im Winter 1760 folgende Veranstaltungen abgehalten hat: Logik nach Corvinus’ Institutiones Philosophiae Rationalis Methodo Scientifica Conscriptae, Me3 4 5

6 7

8

Max Dessoir: Geschichte der neueren deutschen Psychologie. Berlin 1902, S. 336. Robert Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Aesthetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller. Würzburg 1892, S. 262. Vgl. bspw. Dirk Westerkamp: Der Anfang der Vernunft. Johann Nicolaus Tetens und die Sprachphilosophie der Aufklärung. In: Christiana Albertina: Forschungen und Berichte aus der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 64 (2007), S. 6–20 und Gideon Stiening: »Grade der Gewißheit«: Physische Anthropologie als Antiskeptizismus bei Ernst Platner, Johann Nicolaus Tetens und Johann Karl Wezel. In: Wezel-Jahrbuch 10/11 (2007), S. 115–146. Manfred Kühn: Scottish Common Sense in Germany 1768–1800. Kingston 2004, S. 36. Für Tetens’ Biographie und akademischen Werdegang vgl. vor allem Otto Hintze: Die Eiderstedter Ahnen und die Lehrer des Philosophen Johann Nicolaus Tetens. Garding 1936; Max Dessoir: Des Nic. Tetens Stellung in der Geschichte der Philosophie. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 16 (1892), S. 355– 368 und Wilhelm Uebele: Johann Nicolaus Tetens nach seiner Gesamtentwicklung betrachtet, mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zu Kant. Berlin 1911. Vgl. ebd., S. 7.

Tetens ›Vorlesung über Metaphysik‹ (1789)

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taphysik nach Baumgarten, Naturrecht und philosophische Moral nach Darjes, Naturlehre nach Segner. Hinsichtlich der darauf folgenden Semester bemerkt Uebele allein, im Jahr 1761 habe Tetens »wesentlich dasselbe« gelesen, nur habe er von nun an die Logik nach der Vernunftlehre von Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) abgehalten. Doch die im Universitätsarchiv Rostock, wenn auch nicht lückenlos, verfügbaren Verzeichnisse verraten mehr:9 Von Winter 1765 bis Sommer 1767 liest er Metaphysik auf der Grundlage von Willem Jacob’s Gravesandes (1688–1742) Introductio ad philosophiam, metaphysicam et logicam continens. Von Zeit zu Zeit aber auch mehrmals ohne eine Vorlage, wie es heißt: »delineationem aliquam a se ipso conscriptam«.10 Ab dem Wintersemester 1769 liest Tetens dann Logik und Metaphysik jeweils nach dem im selben Jahr erschienen und eben Logik und Metaphysik betitelten Lehrbuch Johann Georg Heinrich Feders, im Wintersemester 1774/75 wie im Sommer 1775 hält er gar – durchaus überraschend – eine Vorlesung über Ästhetik auf der Grundlage von Charles Batteux’ Einleitung in die Schönen Wissenschaften.11 Meines Wissens ist dies der erste Beleg dafür, dass Tetens sich überhaupt in irgendeiner Form mit Ästhetik im Sinne von Kunsttheorie befasst hat. So sehr auch die Untersuchung der Einbildungs- und Dichtkraft im Zentrum der Philosophischen Versuche steht: Es bleibt doch stets bei eher rhapsodischen Bemerkungen zur Dichtung, zum Geniebegriff etc. Allein in der Abhandlung von den vorzüglichsten Beweisen des Daseins Gottes von 1761 findet sich ein ausführlicheres Eingehen auf Fragen der Kunst – Tetens diskutiert dort vergleichend die Implikationen von Kunstwerk und Schöpfung. Mit dem vorliegenden Hinweis auf Tetens’ Bützower Vorlesungen verändert sich allerdings das Bild, wird erstmals die Tatsache einer systematischen Beschäftigung mit der Ästhetik sichtbar. Möglicherweise bildet die Arbeit mit Batteux die kunsttheoretische Ergänzung zu der ihm aus der baumgartenschen Metaphysica bekannten Ästhetik als »gnoseologia inferior«.12 Über Tetens’ Auftakt in Kiel weiß Uebele jedenfalls aus der Kielischen Gelehrten Zeitung zu berichten,13 im Winter 1776 habe er – neben vier mathematischen Vorlesungen – bereits Geschichte der Philosophie nach Büschings Grundriß und Logik nach Reimarus gegeben. Nachdem Tetens im Sommer 1777 sowohl Logik als auch Metaphysik nach Johann August Heinrich Ulrich (1764–1813) gelesen hat, werden, wie Uebele sagt, »die philosophischen Vorlesungen bald einförmig«.14 Während er in der Logik der reimarusschen Vernunftlehre treu bleibt, liest er im Sommer 1778 erstmals Metaphysik »ad dictata sua«15 bzw. »ad propria praecepta«,16 wie den Vorlesungsverzeichnissen zu entnehmen ist – und dabei wird es bis zu seinem Ausscheiden im Jahr 1789 bleiben: Er liest stets sommers Logik und winters Metaphysik. Uebele merkt lako-

9 10 11 12 13 14 15 16

Vgl. Elenchus praelectionum [...], quibus in Academia Fridericiana Buetzoviensi, [...] operam navabunt. Bützow 1760 und die folgenden Jahre. Etwa: »Nach ziemlich von ihm selbst verfasster/m Darstellung/Abriss«. Also vermutlich nach der 1756 erschienenen Übersetzung von Carl Wilhelm Ramler. Wie sie in den §§ 519–623 der Metaphysica behandelt und in deren § 533 als »Aesthetica« definiert wird. Uebele: Gesamtentwicklung (s. Anm. 7), S. 18. Ebd. Index praelectionum (s. Anm. 2), Sommer 1778. Ebd., Winter 1778.

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nisch an: »Dieselben [also die eigenen Diktate; MS] waren nicht mehr zu bekommen«.17 Mit der vorliegenden Nachschrift kommen wir ihnen zumindest einen Schritt näher.

3. »Metaphysik bey dem H. Profeßor Tetens« Im Vorbericht seiner Metaphysik-Vorlesung aus dem Wintersemester 1788/89 hebt Tetens nicht unmittelbar mit einer Definition des Gegenstandes an, sondern zählt die üblicherweise enthaltenen Teile auf und gibt alternierende Bezeichnungen an; wörtlich heißt es dort: »[U]nter dem Namen Metaphysik begreift man gewöhnlich folgende phylosophische Wißenschaften«: die Wissenschaft von der Seele, also Psychologie oder Pneumatik; die Wissenschaft von der Welt im Allgemeinen oder allgemeine Kosmologie; die Wissenschaft von Gott oder Theologie der Vernunft sowie die Wissenschaft von einem Dinge überhaupt, Grundwissenschaft, Ontologie oder allgemeine Philosophie, die Tetens dann auch als »Metaphysik im engeren Sinne« bezeichnet. In einer den Paragraphen beschließenden Anmerkung gibt Tetens dann doch eine Definition des Gegenstandes: Metaphysik ist »die Vernunftwissenschaft von immateriellen und transcendentalen18 Gegenständen (von den nicht sinnlichen und übersinnlichen Gegenständen). Sie macht den größten Teil der Intellektualphilosophie aus«.19 – Tetens nimmt hier mit dem Terminus »Intellektualphilosophie« einen zentralen Begriff seiner Schrift von 1775 wieder auf, wo es heißt: Sie [sc. die Ontologie, als ›eigne Wissenschaft für sich‹; MS] ist der gemeinschaftliche Stamm zu den zweyen großen Aesten der theoretischen Philosophie, davon die Philosophie über die Seelen und Geister und über Gott, einen ausmachet, dessen Gegenstände die unkörperlichen und immateriellen Wesen sind, und den ich deswegen Philosophie vom Unkörperlichen, oder Intellectual-Philosophie, nennen mögte. Diesem stehet der zweyte Zweig […] – Physic und Mathematic größtentheils – gegen über.20

Dass die Ontologie mit der Intellektualphilosophie einen »Codex unter der Benennung von Metaphysic«21 bildet, liegt daran, dass »die Lehrsätze aus der Psychologie […] weniger von den 17 18

19

20 21

Uebele: Gesamtentwicklung (s. Anm. 7), S. 19, Anm. 1. Es ist heute wohl kaum möglich, bei dem Begriff »transzendental« nicht gleich zumindest auch an die kantische Philosophie zu denken. Für eine Darstellung der tetensschen Verwendungsweisen des Begriffs sowie wichtige Hinweise auf die Beeinflussung Tetens’ bspw. durch Baumgarten und Lambert vgl. Alexei N. Krouglov: Der Begriff ›transzendental‹ bei J. N. Tetens. In: Karl Eibl (Hg.): Frühaufklärung (= Aufklärung 17/2005), Hamburg 2005, S. 35–75. Metaphysik bey dem H. Profeßor Tetens (unveröffentlichtes Manuskript), [Kiel 1789], Vorbericht, § 1. – Dass zwischen Metaphysik und Intellektualphilosophie das Verhältnis einer Hyponymie bestehen sollte, erscheint deutlich weniger plausibel als das in den Druckschriften beschriebene umgekehrte Verhältnis. Neben dem fehlenden Grund für eine solche Neuordnung in der Vorlesung müsste auch ungeklärt bleiben, was denn (neben der Metaphysik) den anderen Teil der Intellektualphilosophie bilden könnte. Es ist also wohl von einem Verständnisfehler des Skribenten auszugehen. Johann Nikolaus Tetens: Ueber die allgemeine speculativische Philosophie. In: ders.: Die philosophischen Werke. Hg. von Jürgen Engfer. 4 Bde. Hildesheim [u.a.] 2005, Bd. 4, S. 1–94; hier S. 23. Ebd., S. 25.

Tetens ›Vorlesung über Metaphysik‹ (1789)

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Beobachtungen, und mehr von den allgemeinen ontologischen Raisonnements, abhängen. Hier wird also die Grundwissenschaft mehr gebraucht als in der Physic und Mathematic«.22 In den §§ 2 und 3 des Vorberichts bestimmt Tetens dann in Hinsicht auf die Architektonik der Metaphysik: Sie zerfalle »natürlich«, also den Gegenständen gemäß, in die genannten Teile, welche allerdings verschieden angeordnet werden könnten. Stünde in einem »völlig synthetischen Vortrage« die Grundwissenschaft (Ontologie) an erster Stelle, hält Tetens die empirische Psychologie andererseits für geeignet, »den Verstand zur Bearbeitung der Gemeinbegriffe in der Ontologie vorzubereiten«.23 – Bereits in der systematisch-architektonischen Grundlegung der Metaphysik-Vorlesung findet sich also an prominenter Stelle die empirische Psychologie, an deren Methode Tetens sich ja auch in der Vorrede der Philosophischen Versuche angeschlossen hatte: »Was die Methode betrifft, […] [s]ie ist die beobachtende, die Lock bey dem Verstande, und unsere Psychologen in der Erfahrungs-Seelenlehre befolgt haben«.24 Beide Male verwendet er einen Begriff für die psychologia empirica, der sich schon in den Gedancken von 1760 findet,25 jedoch zumindest im exakten Wortlaut vor 1789 kaum gebräuchlich ist: Johann Gottlob Krüger, auf den Tetens sich in den Gedancken affirmativ bezieht,26 veröffentlicht 1756 den Versuch einer Experimental-Seelenlehre, Karl Philipp Moritz verwendet statt Experimental- Erfahrungsseelenkunde.27 Erst 1789 hebt Mauchart den von Tetens präferierten Begriff in den (Unter-)Titel einer Monographie.28 Weiter führt Tetens aus, dass Psychologie und Theologie den Zweck der übrigen Teile der Metaphysik darstellen, die allgemeine Kosmologie dabei Teile enthält, die von der Theologie unzertrennlich sind, die Ontologie auf der anderen Seite unentbehrlich für die Theologie wie auch zum Teil für die Psychologie ist.29 Damit ergibt sich der folgende Aufbau der MetaphysikVorlesung: I. Vorbericht II. Psychologia empirica III. Die allgemeine Philosophie IV. Grundsätze der raisonnirenden Psychologie

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Ebd. Metaphysik bey dem H. Profeßor Tetens (s. Anm. 19), Vorbericht, § 2. Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig 1777, Bd. I, [im Folgenden zitiert als: PV Band, Seitenzahl (Versuch, Kapitel, Abschnitt)], hier Vorrede, S. IIIf. Vgl. v. a. den § 35 in Johann Nikolaus Tetens: Gedancken über einige Ursachen, warum in der Metaphysik nur wenige ausgemachte Wahrheiten sind, als eine Einladungs-Schrift zu seinem den 13ten October auf der neuen Bützowschen Academie anzufangenden Vorlesungen. In: ders.: Die philosophischen Werke (s. Anm. 20), S. 9–76; hier S. 69f. Tetens verwendet auch einmal Krügers Begriff; vgl. Tetens: Gedancken (s. Anm. 25), S. 13. Bekanntlich auf Ratschlag von Moses Mendelssohn, vgl. Karl Philipp Moritz: Vorschlag zu einem Magazin für Erfahrungs-Seelenkunde. In: Deutsches Museum, Bd. 1, 1782, S. 485–503, hier S. 503. Immanuel David Mauchart: Phänomene der menschlichen Seele: eine Materialiensammlung zur künftigen Aufklärung in der Erfahrungs-Seelenlehre. Stuttgart 1789. Metaphysik bey dem H. Profeßor Tetens (s. Anm. 19), Vorbericht, § 3.

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V. Cosmologie VI. Theologie der Vernunft Auf den ersten Blick bemerkenswert an der tetensschen Architektonik der Metaphysik ist neben der an die erste Stelle gerückten Erfahrungsseelenlehre vor allem die Bezeichnung des zweiten psychologischen Teils, sie verweist auf das zentrale methodologische Programm. Als Gegenbegriff zur empirischen wird von der »raisonnirenden« Psychologie gesprochen: Die Wissenschaft von der Seele »wird in die betrachtende (psychologia empyrica) und in die raisonnirende (rationalis) abgeteilt«.30 Man könnte geneigt sein, dies simpel als Übertragung von »rationalis« in das Deutsche zu übergehen, und die Parallelführung der Begriffe in der Eingangsbestimmung der Erfahrungsseelenlehre legt das zunächst auch nahe. Doch hätte Tetens in diesem Falle – wie auch Kant – bereits den Begriff »rationale Psychologie« verwenden können.31 Mit »raisonnirend«, nach dem Zedlerschen Wörterbuch »ein gar gewöhnliches Wort, so man im gemeinen Leben brauchet, wenn man von einer Sache ein Urtheil fället«,32 knüpft Tetens demgegenüber an den programmatischen »allerersten« der Philosophischen Versuche33 an. Den dort beabsichtigten Entwurf einer »allgemeinen speculativischen Philosophie« setzt Tetens noch in der »Vorerinnerung« in Beziehung zur Trias zeitgenössischen Philosophierens; dem »Brittischen beobachtenden[, dem] Französischen raisonnirenden [und dem] geometrischen Genius der Leibnitz-Wolfischen« Philosophie.34 Reids, Homes, Beatties und Oswalds empirische Philosophie des gemeinen Menschenverstandes sei höchst verdienstvoll: »Es gibt eine Menge theoretischer Vernunfterkenntniße […], die von allen Systemen der Metaphysic unabhängig«35 sind, die »ohne vorhergegangene allgemeine Speculationes über Substanz, Raum und Zeit, u. d. g«.36 auskommen. Das »Gefühl des Wahren […] sey der Führer«37 zur Gewissheit bei einer solchen Kombination aus Beobachtung und schlussfolgerndem Denken, das noch diesseits der »Speculation«, also der rationalen Methode operiere. Solche »philosophische[n] Raisonnements, die die wahre populaire Philosophie ausmachen«38 sind »Metaphysic des gemeinen Menschenverstandes«.39 Die britische Philosophie habe sich lediglich »durch den Mißbrauch der Speculation in dem [sic!] Scepticismus verleiten«40 lassen. Um sich dem Ziel einer »physischen Metaphysic«41 anzunähern, bedarf es, so Tetens’ Folgerung, einer »reelle[n] speculativische[n] Philosophie«, einer Metaphysik, die die gesamte »Intellektual-Philosophie« (Wissen30 31 32 33

34 35 36 37 38 39 40 41

Ebd., Erfahrungsseelenlehre, § 1. Vgl. KrV A 343, 347 [Transzendentale Dialektik: Von den Paralogismen der Vernunft]. Vgl. [Art.] Raisoniren. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste. Leipzig, Halle 1741, Bd. 30, Sp. 710. Tetens: Speculativische Philosophie (s. Anm. 20), S. 1: »Anfangs war dieser Versuch bestimmt, der erste in einer Sammlung von mehrern zu seyn, die zur beobachtenden Philosophie gehören [...]«. Vgl. Uebele: Gesamtentwicklung (s. Anm. 7), S. 16. Tetens: Speculativische Philosophie (s. Anm. 20), S. 1f. Ebd., S. 13f. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Ebd. Ebd., S. 12, Überschrift. Ebd., S. 16. Ebd., S. 21.

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schaft von den immateriellen Gegenständen), insbesondere aber die transzendente Philosophie (Ontologie) mit dem Erfahrungsfundament der beobachtenden Wissenschaften versieht:42 »Die transcendente Philosophie, oder Grundwissenschaft, muß zuvörderst als ein Theil der beobachtenden Philosophie von dem menschlichen Verstande und seinen Denkarten, seinen Begriffen und deren Entstehungsarten, behandelt werden«.43 Hier tritt gleichfalls die für Tetens vorrangige Bedeutung der Erfahrungsseelenlehre zu Tage. Tetens beabsichtigt also eine spezifische Vermittlung zwischen empirischem und rationalem Zugriff, mit Robert Sommer können wir von einem »rationellen Empirismus« sprechen.44 Die Markierung dieser neuen Synthese empirischer, sensualistischer und rationalschulphilosophischer Methodik ist die Absicht, die hinter den tetensschen Termini »raisonniren, raisonnirend« steht. Das Vorlesungsmanuskript kann belegen, in welchem Umfang Tetens entschlossen war, der gesamten Metaphysik eine Erfahrungsbasis zu unterlegen: Alle Teile gliedern sich nicht nur durch Grund- und Lehrsätze, sondern auch durch so genannte und betitelte Erfahrungssätze. Tetens löst damit eine Forderung vom Beginn seiner philosophischen Tätigkeit ein: Bereits in der »Einladungs-Schrift zu seinen den 13ten October auf der neuen Bützowschen Academie anzufangenden Vorlesungen«, den Gedancken von 1760, hatte er die verworrenen und dunklen Begriffe besonders der Ontologie zu den maßgeblichen Hindernissen eines Fortschritts in der Metaphysik gezählt.45 Abhilfe erwartet Tetens auch zu diesem Zeitpunkt schon von dem Erfahrungswissen und empfiehlt hinsichtlich einfacher Begriffe wie der Kausalität, des Raums und der Zeit, »daß man auf die Empfindungen zurück gehe, aus welchen der bestrittene Begrif entstanden ist, und genau beobachte, was man sich vorstellet, wenn man diese Idee in den Gegenständen gewahr wird«.46 Ist ein Fortschritt der Metaphysik ohne erfahrungsbasierte Verbesserung der Ontologie geradezu unmöglich,47 so fehlen doch gleichfalls der Psychologie, Kosmologie und Theologie Erfahrungen, entstehen aus diesem Mangel »zuweilen […] gar Erschleichungsfehler«.48 Dieser Diagnose und den daraus resultierenden Schlüssen wird Tetens in den Philosophischen Versuchen wie auch in der Metaphysik-Vorlesung von 1789 verbunden bleiben, in ihr gründet sein beinahe drei Jahrzehnte lang konsequent verfolgtes philosophisches Programm.

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Vgl. ebd., S. 24f. Ebd., S. 72. Vgl. Sommer: Grundzüge (s. Anm. 4), S. 280f. und Jürgen Engfer: Einleitung: In: Tetens: Die philosophischen Werke (s. Anm. 20), Bd. III, S. xv–xli, hier S. xvi–xxi. – Allerdings ist gegen Engfer, S. xvi zu betonen, dass Tetens sich zumindest in den Philosophischen Versuchen von der analytischen Methode distanziert und, wie Stiening: »Grade der Gewißheit« (s. Anm. 5), S. 129 treffend formuliert, den darin enthaltenen Materialismus »schroff zurück[weist]«. Vgl. Tetens: Gedancken (s. Anm. 25), S. 13. Ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 58. Ebd., S. 60.

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4. Die systematische Architektonik der Metaphysik im 18. Jahrhundert Eine monographische Studie, selbst ein übergreifender Aufsatz zu der Frage nach der »systematischen Architektonik der Metaphysik« im 18. Jahrhundert ist Desiderat; es fehlt tatsächlich jegliche systematisch-philosophiegeschichtliche Untersuchung der Frage nach den verschiedenen Strukturen der Metaphysik und ihren Begründungen. Dabei ist kaum zu übersehen, dass einerseits mit der Verbreitung der wolffischen Philosophie ein teils manifest, teils latent geführter Streit über die Anordnung der Teile der Metaphysik entbrennt. Ausgetragen wird dieser Streit sowohl in der konkreten Ausgestaltung von Werken, Lehr- und Handbüchern als auch in den bisweilen mehr als engagiert verfassten Vorreden und Journal-Streitschriften. Andererseits ringt aber bereits Christian Wolff selbst unübersehbar mit der »Ordnung der Teile der Metaphysik«, ersichtlich in der dahingehenden Grundlegung im Discursus praeliminaris de philosophia in genere49 wie auch in der davon abweichenden wie untereinander differierenden Ausführung des Systems in den deutschen und lateinischen Hauptschriften. Dieses Ringen um die systematische Architektonik der Metaphysik hebt mit Wolff zum Zeitpunkt ihrer wohl höchsten Geltung an. Zugleich ist es Vorzeichen für die »Krise der Metaphysik«,50 in die sich auch Tetens mit den Schriften von 1760 und 1775, den Gedancken und der Speculativischen Philosophie, einschaltet und zu deren Besserung er in beiden Texten programmatisch argumentiert. Das Manuskript der Metaphysik-Vorlesung von 1789 gibt Material an die Hand, um gegenüber diesen problemorientierten Aufsätzen die tatsächliche Ausführung des gesamten Systems in einen Vergleich mit den rezipierten Autoren zu stellen. Wolff — Der Anspruch der rationalistischen Aufklärungsphilosophie tritt in Christian Wolffs Discursus praeliminaris von 1728 in aller Schärfe zutage: Wolff beabsichtigt zu Beginn der Reformulierung seines Werkes in lateinischer Sprache nichts geringeres als die Grundlegung eines deduktiv geschlossenen Systems aller Wissenschaften, d. h. einer Systematisierung des menschlichen Wissens überhaupt. Soll die Philosophie Wissenschaft sein,51 so muss sie ihre Aussagen »aus gültigen und unerschütterlichen Grundsätzen durch gültigen Schluß [herleiten]«.52 Über die zweifache empirische Fundierung der Grundsätze53 und die Anwendung der mathematischen Methode hinaus bedarf es zu der geforderten Gewissheit54 eine lückenlose systematische Geschlossenheit in der Anordnung der Teile der Philosophie. Um in der Philosophie gültiges Schließen zu ermöglichen, darf sich der Philosoph nicht undefinierter Ausdrücke und nicht-bewiesener Grundsätze bedienen, sondern es müssen diejeni49

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Vgl. die §§ 87–99, Christian Wolff: Discursus praeliminaris de philosophia in genere = Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen. Hg. von Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl (FMDA, Bd. I/1). Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 93–109. Vgl. Michel Puech: Tetens et la crise de la métaphysique allemande en 1775 (Über die allgemeine speculativische Philosophie). In: Revue philosophique de la France et de l’Étranger 182.1 (1992), S. 3–29. Vgl. Wolff: Discursus praeliminaris (s. Anm. 49), § 29. Ebd., § 30. Vgl. ebd., § 34: Ableitung aus Erfahrung, Bestätigung durch Experimente und Beobachtung. Vgl. ebd., § 33.

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gen Teile der Philosophie »vorangehen, von denen die anderen Grundsätze entlehnen«.55 Die im Discursus praeliminaris entworfene Anordnung weicht in zwei wesentlichen Punkten von diesem Grundsatz ab: Zum einen stellt er die Logik aus didaktischen Gründen an die erste Stelle,56 zum anderen bedarf es in der Psychologie analog zur experimentellen Physik eines empirischen Teils,57 der dem rationalen Teil58 vorangestellt wird, da die Kenntnisse noch nicht ausreichten, um rein »durch die Vernunft herleiten« zu können.59 Damit ergibt sich im Anschluss an die Logik der folgende Aufbau der Metaphysik:60 I. Ontologie II. Allgemeine Kosmologie III. Empirische Psychologie IV. Rationale Psychologie V. Natürliche Theologie Bekanntermaßen war Wolff aber in seiner nicht minder einflussreichen Deutschen Metaphysik (1720) von dieser ex post im Discursus praeliminaris gegebenen Rationalisierung abgewichen: Nicht nur hebt er mit einer Grundlegung der gesamten Metaphysik im Bewusstsein an,61 sondern er lässt auch gegen die Architektonik des Discursus und der lateinischen Schriften den empirischen und den rationalen Teil der Psychologie auseinander treten, zieht die Empiricam vor die Kosmologie.62 Wie Roderich Barth überzeugend dargelegt hat,63 baut Wolff durch das erste »Methodenkapitel« aus dem »genuinen Gegenstandsbereich [seiner] empirische[n] Psychologie«64 im Zusammenspiel mit ihrer »kriteriologischen Funktion für die Begründungshypothesen der Seelenmetaphysik«65 geradezu seine gesamte Metaphysik auf die erfahrungsbasierte Untersuchung der »mentalen Operationen der Seele«. Insgesamt steht Wolffs metaphysisches Programm quer zum Zerrbild des rationalistischen Schulphilosophen, er vollzieht eine manifeste »psychologische[ ] Genetisierung«.66

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Ebd., § 87. Ebd., § 88. Ebd., § 111. Dem dogmatischen in der Physik. Christian Wolff: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache heraus gegeben (Gesammelte Werke, Bd. I/9), Hildesheim [u.a.] 1973, § 164. – Abweichend von der Parallelisierung von Physik und Psychologie im Discursus praeliminaris hält Wolff hier noch fest, dass »was ich schon selbst in der Metaphysik auch von unserer Seele unternommen, gehet in der Physick noch nicht an.« Vgl. Wolff: Discursus praeliminaris (s. Anm. 49), § 99. Vgl. Wolff: Vernünfftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Gesammelte Werke, Bd. I/2), Hildesheim 2003, Kapitel I, §§ 1–9. Vgl. ebd., S. 114, »Inhalt des ganzen Buchs«. Roderich Barth: Von Wolffs ›Psychologia empirica‹ zu Herders ›Psychologie aus Bildwörtern‹. Beobachtungen zur Umformung des Seelenbegriffs in der Aufklärung. In: Katja Crone u. a. (Hg.): Über die Seele. Frankfurt a. M. 2010, S. 174–209. Ebd., S. 182. Ebd., S. 184. Ebd., S. 189.

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So erscheint zumindest rein architektonisch das lateinische Werk als »Rückschritt«, als traditionalistischere Lösung. Die festzustellende Unentschiedenheit hinsichtlich des systematischen Orts der Psychologie und der ihr nahestehenden Logik ist meines Erachtens symptomatisch. Die Krise der Metaphysik geht, um eine Wendung Fernando Vidals aufzugreifen, im »Century of Psychology«67 auf dessen Leitwissenschaft, also die Psychologie zurück. Ausgehend von der für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts maßgeblichen Ausgestaltung der Psychologie durch Christian Wolff – und sie unmittelbar selbst betreffend – wird der Philosophie, genauer der Metaphysik im Spannungsfeld von naturwissenschaftlicher Wissensexpansion, empirischen, anthropologischen und materialistischen Tendenzen insbesondere die Psychologie zum Problem. Wie kommt Tetens vor diesem Hintergrund dazu, in seiner Metaphysik-Vorlesung von 1789 die empirische Psychologie nicht nur wie Wolff vor die Kosmologie, sondern gar vor die Ontologie an die erste Stelle zu setzen? – Tetens’ lapidar anhebende Formulierung erinnert zunächst an Wolffs nachträgliche didaktische Rechtfertigung zum Aufbau der Metaphysik, in der Wolff bemerkt: […] so habe ich den einen Theil von der Psychologie, nemlich die Empiricam, vor die Cosmologie gesetzet, weil sie leichter als diese ist und Anfängern anmuthiger fället, denen der Verdruß dadurch benommen wird, den sie bey der Ontologie gehabt, indem sie auf verschiedenes genauer haben acht geben müssen, als sie zu thun etwan gewohnet sind.68

Doch Tetens argumentiert über das »es hindert nichts« hinaus, und zwar auch dezidiert inhaltlich, denn die Erfahrungsseelenlehre soll »den Verstand auf die Gemeinbegriffe der Ontologie [vorbereiten]«.69 Dient also die Voranstellung der Erfahrungsseelenlehre dem tetensschen Anliegen, die Erneuerung der Metaphysik durch einen stärkeren Einbezug von Erfahrungswissen zu befördern, so lassen sich anhand der wechselnden Vorlagen seiner über die Jahre abgehaltenen Metaphysik-Vorlesungen Stationen eines zu diesem Zweck selbst gesetzten Arbeitsprogramms und die daraus resultierenden Einflüsse identifizieren. Eschenbach — Das Studium in Rostock hatte Tetens in Berührung mit dem Wirken Johann Christian Eschenbachs d. Ä. (1719–59) gebracht,70 der 1756 eine Übersetzung und Studie zum Idealismus George Berkeleys und Arthur Colliers veröffentlicht hatte71 und deshalb als Kenner der britischen Philosophie gelten darf. Mit seiner Logic von 1756 und der Metaphisic oder Haupt67 68 69 70

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Fernando Vidal: The eighteenth century as ›century of psychology‹. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), S. 407–434. Wolff: Ausführliche Nachricht (s. Anm. 59), § 79, 232. Metaphysik bey dem H. Profeßor Tetens (s. Anm. 19), § 2. Paul Falkenberg: Die Professoren der Universität Rostock von 1600 bis 1900 ([Manuskript um 1900] = Catalogus Professorum Rostochiensium (CPR) [Online-Lexikon]). Rostock o.J., S. 209 notiert, Eschenbach sei seit Sommer 1750 ordentlicher Professor der Poesie in Rostock gewesen, »las aber nur Logik, Metaphysik und Naturrecht«; begab sich 1753 auf Reisen, um sich ganz der Jurisprudenz zu widmen; seit Ende 1754 Dr. juris in Rostock. – Von daher ist es unklar, ob Tetens ihn überhaupt bzw. dessen philosophischen Vorlesungen gehört hat. Es ist aber wohl mit Sicherheit davon auszugehen, dass Tetens Eschenbachs Werke und Lehrbücher bekannt waren. Johann Christian Eschenbach: Sammlung der vornehmsten Schriftsteller die die Würklichkeit ihres eignen Körpers und der ganzen Körperwelt läugnen. Rostock 1756.

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wissenschaft von 1757 hat Eschenbach zwei für Rostock damals maßgebliche Lehrbücher vorgelegt. Seine Logic oder Denkungswissenschaft, ein schulphilosophisch ableitender Cursus eigenen Zuschnitts, beginnt Eschenbach bereits in der Inhaltsangabe mit dem Bekenntnis, er habe sich in diesem Buch »unter andern bemühet die Lehre von der Untrieglichkeit der sinnlichen Vorstellungen […] auf festen Fuß zu setzen«.72 Philosophie als die Wissenschaft von den Dingen, »die die blosse sich selbst gelassene menschliche Vernunft erkennt«,73 »gründet sich […] auf untriegliche Erfahrungen und vor sich unläugbare Wahrheiten«,74 wobei letztere von Eschenbach mit Verweis auf Locke ebenfalls durch die Erfahrung erklärt werden: »Nihil est in intellectu quod non antea fuerit in sensu«.75 Wie er dem lagerbildenden Dogmatismus eine deutliche Absage erteilt – »[ein Philosoph] macht sich also zwar die Meinungen aller Secten in der Philosophie bekannt. Allein er bleibt doch im philosophiren ein Eclecticus«76 –, so differenziert Eschenbach die Anordnung der Teile der Philosophie didaktisch weiter aus: Das Studium wie der zweckgerichtete Vortrag haben sich nach dem Lernenden zu unterscheiden – dem angehenden Theologen anempfehle sich eine andere Auswahl und Zusammenstellung als dem Juristen.77 Die nur ein Jahr später erschienene Metaphisic oder Hauptwissenschaft handelt, so gleich der erste Paragraph, »von der Natur und Beschaffenheit des Menschen, und zeigt, daß er nicht nur ein körperliches, sondern auch denkendes Ding sei«,78 das Scholion formuliert: »Metaphysica continet Anthropologiam sive Psychologiam«. Die Seelenlehre solle »füglicher« als Menschenlehre betrachtet werden, denn man [weiß] von Anfang bis fast zu Ende zwar, daß der Mensch gedenke, Verstand und Willen habe; nicht aber daß man eine Sele habe, und daß die Sele gedenke u. s. w. Es ist irrig, wenn einige glauben, wir erkenneten ehe das Dasein unsrer Sele, als unsers Körpers; man weiß, wo man nicht den Redegebrauch verlassen will, nicht ehr daß wir eine Sele haben, bis man weiß daß die Ursache der Gedanken in uns, ein vom Körper wesentlich unterschiedenes Ding sei. Man hat wichtige Gründe, hierauf zu achten, um der Materialisten willen.79

Eschenbach übt scharfe Kritik an »barbarischen Distinctiones und Wortverdrehungen«, die der Metaphysik gegenwärtig Verachtung eintrügen.80 Zur ihrer Verbesserung empfiehlt er – darin ein Vorbild für Tetens’ Gedancken von 1760 – (1) den gemeinen Redegebrauch ohne willkürliche Einteilungen und Erklärungen; (2) das Gründen auf Erfahrungssätzen oder unmittelbare Stützung durch sie; (3) undogmatische Wahrheitssuche ohne Blendung durch große Namen; (4) Voransetzung der Teile der Metaphysik, durch die die nachfolgenden zu verstehen sind.81 Deshalb halte er es für die beste Ordnung, nach der Ontologie die Menschenlehre, darauf die Kosmologie und endlich die Theologie zu behandeln. 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81

Johann Christian Eschenbach: Logic oder Denkungswissenschaft. Rostock 1756, [S. 3]. Ebd., § 1, S. 5. Ebd., § 4, S. 10. Ebd., Anm. Ebd., § 17, S. 28. Vgl., ebd., § 26, S. 41. Johann Christian Eschenbach: Metaphisic oder Hauptwissenschaft. Rostock 1757, § 1. Ebd., § 1, S. 6f. Vgl. ebd., § 3, S. 9f. Vgl. ebd., § 4, S. 11f.

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Baumgarten, Gravesande — Tetens beginnt seine eigene Lehrtätigkeit mit der baumgartenschen Metaphysica. Mit diesem wohl einflussreichsten nach-wolffischen Lehrbuch wählt er zwar eine Vorlage, in der allein durch die äußerste Verknappung der lateinischen Formulierungen das Erfahrungswissen beinahe völlig zurücktritt,82 doch erarbeitet er sich hier gleichwohl das Novum einer elaborierten Logik des unteren Erkenntnisvermögens, die Baumgarten im Rahmen seiner empirischen Psychologie sehr detailliert und raumgreifend erläutert. Die angestrebte empirisch-sensualistische Basis der tetensschen Metaphysik-Erneuerung wird gewissermaßen in die Sphäre der rationalistisch-spekulativen Philosophie gehoben. Im Anschluss an Robert Sommer lässt sich pointieren: Tetens erarbeitet sich mit diesem in die baumgartensche Metaphysica eingelassenen Fundament einer Aisthesiologie das Bindeglied zwischen Monadologie und Psychologie.83 Die 1765 bis 1767 abgehaltene Gravesande-Lektüre referiert ein Werk gänzlich anderer Art: Zwar erhält auch hier die Psychologie einen hohen Rang, besteht doch die im ersten Buch der Introductio ad philosophiam entworfene Metaphysik überhaupt nur aus Ontologie und Psychologie. Zugleich stellt diese Metaphysik einen auf das Äußerste reduzierten Cursus dar, der auf bloß 80 Seiten wenige zentrale Begriffe und Grundprobleme behandelt. Beinahe drei Viertel des Werks widmen sich der im zweiten Buch folgenden Logik als Urteils-, Anleitungs- und Methodenlehre. Über Tetens’ Gründe, sich ausgerechnet die Metaphysik nach Willem Jacob ’s Gravesande vorzunehmen, kann lediglich spekuliert werden. Auch heute noch heißt es, Gravesande »had a powerful influence on experimental physics for most of the eighteenth century«,84 ist Gravesande außerdem für die Verbreitung der newtonschen Naturphilosophie bekannt.85 Tetens als Professor der Physik, dem in Bützow »eine für jene Zeiten reich ausgestattete Sammlung physikalischer Apparate zur Verfügung stand«,86 könnte Gravesandes kurze Metaphysik mit Ausführungen zu experimentellen Untersuchungen verbunden haben, wie er sie auch gelegentlich in die Philosophischen Versuche integriert hat.87

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Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, Einleitung der Herausgeber, S. xxxvii–xxxix. Sommer, zu dessen Lieblingsmetaphern das »Bindeglied« gehört, weist auf die Parallelität der systematischen Perspektiven Lamberts und Tetens’ in Bezug auf ihre Neubewertung der Sinneswahrnehmungen hin, diese ist ohne Baumgartens »Logik des unteren Erkenntnisvermögens« undenkbar; vgl. Sommer: Grundzüge (s. Anm. 4), S. 260–266. Museo galileo: Institute and Museum of the History of Science, Multimedia Catalogue: Biographies: [http://brunelleschi.imss.fi.it/museum/esim.asp?c=300288, 10. Juni 2012]. Vgl. seine mehrfach aufgelegten Physices elementa mathematica, experimentis confirmata, sive introductio ad philosophiam Newtonianam von 1720. Dessoir: Des Nic. Tetens Stellung (s. Anm. 7), S. 356. Vgl. bspw. die Messung der Dauer von Nachempfindungen; PV I, S. 32f. – Der Zedler vermerkt zum Lemma Experimentum, Versuch, dass »die Observationes [...] nicht allezeit zulänglich« sind: »Man muß dahero sich Mühe geben zu versuchen, ob man die Natur nicht dahin vermögen könne, daß sie uns dasjenige sehen lasse, was zu unserem Unterrichte dienet« ( [Art.] Experimentum, Versuch. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste. Bd. 8, Leipzig, Halle 1734, Sp. 2344f.; hier Sp. 2344; Hvhb. im MS). Der Physiker Tetens, so lässt sich vor diesem Hintergrund der Titel seines Hauptwerkes lesen, versucht auf philosophische Weise die Natur des Menschen und insbesondere seiner Seele, damit sie dessen Wesen mitteile. Tetens Doppelprofession entspricht der wolffschen Pa-

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Feder — Ab 1769 widmet sich Tetens in seinen Logik- und Metaphysik-Vorlesungen der kurz zuvor erschienenen Logik und Metaphysik Johann Georg Heinrich Feders. Dieser hatte bereits in seinem frühen Grundriß der Philosophischen Wissenschaften die systematische Architektonik der Metaphysik geöffnet, indem er die Logik psychologisch wendete88 und die Untersuchung der Wirkungen der Denkkraft wie der Fähigkeiten der Seele in sie einbezog: Die Logik sei »der bequemste Ort«, um das Empfindungsvermögen, den äußeren und inneren Sinn, das Selbstgefühl und die Einbildungskraft zu behandeln.89 Indem Feder im Vorbericht seiner Logik und Metaphysik zunächst – ähnlich Wolff in Hinsicht auf die Logik, aber weitergehend als dieser – die philosophische Lehrart von dem rein systematischen Aufbau der Philosophie differenziert, hält er fest: Wenn man die gesamte Philosophie ohne systematische Rücksichten lehren wolle, »so wäre vielleicht keine Ordnung zuträglicher, als wenn man, unter Anleitung der Erfahrung, von den Betrachtungen über die menschliche Seele, ihre verschiedene Modificationen und Fähigkeiten anfienge [...]« .90 Dieser gewissermaßen idealtypisch didaktisierenden Anordnung trägt Feder im tatsächlich durchgeführten Aufbau des Werkes Rechnung, indem er »die Logik mit empirischer Psychologie anfange, und überhaupt viel von letzterer in die Logik bringe«91. Feder wählt also eine hybride Form, er beginnt (in meiner Paraphrase) mit einer (Psycho-)Logica generalis (Seelenlehre überhaupt, Erkenntnisvermögen, Ideen und ihr Ursprung, Assoziation),92 fügt dann eine rudimentäre Sprachphilosophie als Bindeglied ein, um dann die Logik im engeren Sinn zu behandeln (also eine Logica specialis: Urteile und Sätze, Syllogistik) und darauf den ersten Hauptteil mit einer »praktischen Logik« über Wahrheit und Vermeidung des Irrtums zu beschließen. Die Metaphysik im engeren Sinne hebt dann mit der Ontologie an.

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rallelisierung von experimenteller Physik und experimentell-empirischer Psychologie (s. oben; vgl. ferner die Hervorhebung des Experiments in Sommer: Grundzüge [s. Anm. 4], S. 262). So auch Reinhard Brandt: Feder und Kant. In: Kant-Studien 80.3 (1989), S. 249–265, hier S. 253, doch ist gegen Brandts Bewertung zu betonen, dass Feder in der Ausgestaltung des Lehrbuchs eben gerade nicht mehr »bloß die auch in den Disziplinen des Lehrstuhls ausgedrückte Addition der beiden Hauptgebiete der theoretischen Philosophie« (S. 252f.) umsetzt, sondern eine für diese Zeit bedeutende Verschiebung in der systematischen Architektonik der Metaphysik vollzieht. Johann Georg Heinrich Feder: Grundriß der Philosophischen Wissenschaften nebst der nöthigen Geschichte zum Gebrauch seiner Zuhörer, Coburg 1767, S. 52f. Johann Georg Heinrich Feder: Logik und Metaphysik, Göttingen 1769, § 3. Ebd., Anm. Der Tendenz nach ist Feders Psychologisierung der Logik verwandt mit der traditionsreichen, aber besonders seit Wolffs Betonung an Bedeutung gewinnenden »logica naturalis«. Von Wolffs ›Logica‹ strahlt die Denkfigur der Opposition natürlichen vs. künstlichen Philosophierens sowohl auf die metaphysica und aesthetica naturalis bei Baumgarten aus, als sie auch letztlich mit der Common-sensePhilosophie gemeinsame Wurzeln teilt (vgl. das instruktive Kapitel bei Claus Langbehn: Vom Selbstbewußtsein zum Selbstverständnis: Kant und die Philosophie der Wahrnehmung. Paderborn 2012, »Logica naturalis und logica artificialis«, S. 194–209). – Feder legt seiner architektonischen Argumentation in der Logik und Metaphysik einen unexplizierten Begriff natürlicher Logik zugrunde und teilt dabei die zeitgenössisch weit verbreitete Diktion des »gemeinen Menschenverstandes«.

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5. Tetens’ Programm Tetens erarbeitet sich mit Feders Logik und Metaphysik nicht nur der Struktur und Anordnung nach eine Psychologie als propädeutische Grundwissenschaft, er findet darüber hinaus auch eine epistemologische Funktion, die meines Erachtens für die Ausarbeitung und Komplettierung seiner Theorie der Einbildungskraft von großer Bedeutung ist: Feder setzt zwischen die reproduktive Einbildungskraft und das Dichtungsvermögen ein »sinnliches Absonderungsvermögen« als dasjenige Vermögen der Einbildungskraft, »weniger denn in der vorhergehenden Empfindung einer Sache lag, sich vorzustellen, aber doch nur unter einem Bilde«.93 Die so gewonnenen »sinnlichen Abstracta« scheidet Feder kategorisch von »intellectualen Abstracta, [den] allgemeinen Begriffe[n], die in Worten liegen«, gleichen erstere doch, »indem es Bilder sind, immer mehr einem Individuo, als dem andern«. Trotz dieser nach Vernunftmaßstäben unvollständigen Abstraktionsleistung ist diese Wirkung der Einbildungskraft von großem Nutzen: »Vermöge dieser allgemeinen Bilder, oder wenn dieser Ausdruck zu hart seyn sollte, vermöge dieser bildlichen Grundbegriffe bemerken wir schon bey der gemeinen und sinnlichen Erkenntniß die Arten und Gattungen«, in diesen Allgemeinbildern »[obschwebet] dem Geiste vorzüglich klar«94 das ihnen gemeinsam Zukommende. Dass Feders Formulierung quer zu der gängigen Dichotomie von abstrakt und individuell steht und deshalb die nominalistische wie realistische Perspektive als an ein Oxymoron grenzend zu provozieren vermag, dessen dürfte er sich bewusst gewesen sein.95 Die verborgene Quelle zu Feders »abstrahierender Einbildungskraft« dürfte in den cartesischen Regulae ad directionem ingenii liegen.96 Descartes hatte in seiner erst posthum 1701 erschienenen philosophischen Erstlingsschrift von 1628 die Grundlegung seines Wahrheits- und methodischen Wissenschaftsbegriffs entwickelt. Sein Ausgangspunkt ist dabei zunächst die Anerkenntnis der Tatsache, dass im Vergleich zum göttlichen Denken und zur unendlichen Mannigfaltigkeit der Natur das menschliche Erkenntnisvermögen begrenzt ist. Dass unser endlicher Verstand dennoch zum Schluss kommt, also sich ein Urteil über die Dinge bilden kann, ist Descartes zufolge wesentlich der Einbildungskraft zu verdanken. Ihr eignet eine produktive Freiheit zur Reduktion von Komplexität, die das »übergroße« Objekt der Erkenntnis überhaupt erst handhabbar, also erkennbar macht.97 93 94 95

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Feder: Logik und Metaphysik (s. Anm. 90), § 11, S. 36. Alle zitierten Passagen ebd. Bevor Kant später den Kern des Universalienproblems durch die Unterscheidung von Anschauung, empirischen und reinen Begriffen zu klären beabsichtigt (vgl. KrV B377), deutet sich bei Feder und Tetens mit dem Konzept »sinnlicher Abstrakta« eine ähnliche, darauf vorausweisende erkenntnistheoretische Position an, die beabsichtigt, die Frage nach der Apriorität entweder des Individuellen oder des Allgemeinen zurückzuweisen, indem die Abstraktion zumindest teilweise in den Bereich der Sinnlichkeit vorgezogen wird und damit diese Funktion eine erkenntnisermöglichende Bedeutung zugewiesen bekommt. Dieser Ansatz ließe sich meines Erachtens als ein realistischer Nominalismus apostrophieren. Denn Descartes formuliert meines Wissens zuerst eine (auch) reduzierende statt ›bloß‹ verbindende und erfindende Wirkung der Einbildungskraft. Vgl. Josef Simon: Freiheit und Erkenntnis. In: ders. u. Helmut Fahrenbach (Hg.): Freiheit: theoretische und praktische Aspekte eines Problems. Freiburg i. Br. 1977, S. 11–35, hier insbes. S. 15–21 sowie ders.: Wahr-

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Doch zumindest Tetens dürfte ein ähnlicher konturierter Gedanke auch von Charles Bonnet bekannt sein: Im Essai analytique sur les facultés de l’âme von 1760 (dt. von C. G. Schütz 1771) behandelt dieser im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Ideen die »idées sensibles«, deren Einteilung in einfache und konkrete sowie, noch vor der Imagination, die »abstractions sensibles«.98 Bonnet fasst das Zustandekommen solcher sinnlichen Abstraktionen, deren Produkte sinnliche Ideen bleiben,99 allerdings als ein Produkt der Aufmerksamkeit.100 Tetens übernimmt jedenfalls – als unmittelbares Ergebnis seiner Feder-Lektüre und -Bearbeitung in seinen MetaphysikVorlesungen, wie ich meine – ab 1772 die »sinnlichen Abstrakta« und verwandte Termini in seine Druckschriften. In Ueber den Ursprung der Sprachen und der Schrift von 1772 analysiert Tetens die Genese der Sprache erkenntnistheoretisch im Rückgang auf die zeichenproduzierende Einbildungskraft.101 Dass die Fragen nach dem Sprachursprung bisher stets auf große Schwierigkeiten gestoßen seien, so Tetens, liege vor allem an der Herleitung der Allgemeinbegriffe. Denn man habe stets übersehen, dass – und hier ergreift er Feders Lehrstück – der »logischen Abstraction des Verstandes [die sinnliche Abstraction] vorher[gehet]«, und diese sei »eine Wirkung der Einbildungskraft und des Witzes«.102 Gewissermaßen ist dieses Bemerken des Allgemeinen bereits in der Sinnlichkeit, schon vor dem Zugriff der Vernunft lediglich die Kehrseite unseres Umgangs mit Allgemeinbegriffen überhaupt, wie er ausführt: Jeder Gemeinbegrif, den wir in uns haben, wird von der Phantasie individualisirt, so oft wir uns bemühen, ihn zum Anschaun in uns gegenwärtig zu erhalten. Die Phantasie mahlt das allgemeine, als die hervorstechenden Züge, auf die wir aufmerksam sind, zu einem vollen Bilde aus, dessen Gränzen schwanken, und jeden Augenblick sich abändern. Diese Bilder kann man als die individuellen Ideen ansehen, wozu der Gemeinbegrif das Abstractum ist. […] Der Kopf des Erfinders individualisiret seine Gemeinbegriffe, die er vorher zusammen gesetzt hatte […].103

Mit anderen Worten: Das menschliche Erkenntnisvermögen, genauer: die Einbildungskraft, macht sich die Wahrnehmungsinhalte nach den jeweiligen Umständen zuhanden. Im KonkretSinnlichen schafft die Einbildungskraft durch sinnliche Abstraktion die Vorausbedingung für

98 99 100 101 102 103

heit als Freiheit. Berlin 1978, S. 130: »Jedenfalls spielt die produktive Einbildungskraft oder zeichenerzeugende Phantasie und damit eine kreativ-künstlerische Komponente für den neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff, wie Descartes ihn vorstellt, eine große Rolle. An sich kann die Einbildungskraft, die als individuelles Vermögen gemäß der Sprache der philosophischen Tradition auch nach Descartes zum Körper gehört (XII, 8), als ›verkehrt verbindende Einbildungskraft‹ zu falschen Urteilen führen (male componentis imaginationis judicium fallax. III, 5). Andererseits ist sie aber für uns unerläßlich, wenn es darum geht, dem Ingenium so vorzuarbeiten, daß es, als ›Intuition‹, mühelos notwendige Verbindungen einsehen kann. In dieser Beziehung kann von einer bestimmten Stufe der Komplexität an nichts mehr ohne Hilfe der Einbildungskraft vollzogen werden (nihil sine imaginationis auxilio. XIV, 9).« Charles Bonnet: Essai analytique sur les facultés de l’âme. Kopenhagen 1760, Kapitel IV, §§ 193–216, S. 144–157. Ebd., § 209, S. 154. Ebd., § 207, S. 153. Vgl. Westerkamp: Anfang der Vernunft (s. Anm. 5), S. 8–12. Johann Nikolaus Tetens: Ueber den Ursprung der Sprachen und der Schrift. In: ders.: Die philosophischen Werke (s. Anm. 3), Bd. 3, S. 471–549; 503. Tetens: Speculativische Philosophie (S. Anm. 20), S. 68–69; vgl. zu den »sinnlichen Abstracta« ebd., S. 66.

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Erkennen und Bezeichnung, bedarf es einer Vorstellung des Allgemeinen, so kommt die Phantasie mit einer bildlichen Ausgestaltung zu Hilfe.104 In den Philosophischen Versuchen macht Tetens weiteren, systematisch elaborierten Gebrauch vom Theorem der »sinnlichen Abstrakta«. Im sechsten Versuch über den »Unterschied der sinnlichen Kenntniße und der vernünftigen« bereitet er mit ihrer Hilfe seine im siebten Versuch ausgeführte These von der »subjectivischen Nothwendigkeit« vor: »Es giebt allgemeine Erfahrungssätze […]. Solche Sätze sind allgemeine Abstrakta von allen in den Empfindungen wahrgenommenen Verbindungen der Ideen«.105 Gleich darauf, in der für seine Denk- und Schreibart so typischen unmittelbaren Behandlung möglicher Einwände, löst Tetens diese Begriffe aus ihrer vermeintliche Abhängigkeit von den Empfindungen. »Es ist nur Eine Klasse von Gemeinbegriffen, die man für Abstrakta von Empfindungen ansehen kann. Der größte Theil derselben ist nur dem Stoff nach, aus den Empfindungen, sonsten aber ein Werk der selbstbildenden Dichtkraft«.106 In seiner »Metaphysik« von 1789 stellt Tetens dann die »sinnlichen Abstracta oder Gemeinbilder« gleich an den Beginn seiner Psychologia empirica und behandelt sie als wesentliche Grundfunktion der Einbildungskraft, mit deren Erzeugnissen unmittelbar »Worte als Zeichen derselben verbunden [werden, um diese] leichter wieder gegenwärtig« machen zu können.107

6. Schluss Die Generation derjenigen Philosophen, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts an die Öffentlichkeit treten, eint, so die These Manfred Kühns, eine »cognitive crisis«.108 Diese Krise der Orientierung ist philosophisch wesentlich eine Legitimationskrise der sogenannten leibnizwolffischen Schulphilosophie und insofern nicht erst 1775 eine »crise de la métaphysique«.109 Insbesondere wird der Metaphysik die seit der wolffschen Begründungsleistung ›boomende‹ Psychologie zum Problem: Sie kann die Seelenlehre als metaphysische Propädeutik und Grundlagenwissenschaft kaum mehr widerspruchsfrei in ihre systematische Architektonik integrieren. Dynamisierend wirkt zugleich die Anerkenntnis des unteren Erkenntnisvermögens durch die Ästhetik als Aisthesiologie. Mit dieser ›Schützenhilfe‹ läuft die Psychologie zum letzten Drittel des 18. Jahrhunderts hin mehr und mehr auf eine echte Anthropologie hinaus und zugleich der umfassenden Metaphysik als System den Rang ab. Die Pole möglicher Reaktionen aus dem 104

105 106 107 108 109

Tetens’ produktive Neubewertung der Einbildungskraft auf der Grundlage der sinnlichen Abstrakta kann als Bedingung der Einheit menschlicher Erfahrung aufgefasst werden, die in die Nähe der kantischen Synthesis-Leistung der Einbildungskraft rückt: »Sinnlichkeit gibt uns Formen (der Anschauung), der Verstand aber Regeln« (KrV A126). Dementsprechend ist es natürlich einer polemischen Zuspitzung der eigenen Leistung geschuldet, wenn Kant – die elaborierte tetenssche EinbildungskraftTheorie unterschlagend – stichelt: »Daß die Einbildungskraft ein notwendiges Ingrediens der Wahrnehmung selbst sei, daran hat wohl noch kein Psychologe gedacht« (KrV A120, Anm.). PV I, S. 464. Ebd., S. 468. Metaphysik bey dem H. Profeßor Tetens (s. Anm. 19), § 6. Vgl. Kühn: Scottish Common Sense (s. Anm. 6), S. 36. Vgl. Puech: Tetens et la crise de la métaphysique allemande (s. Anm. 50).

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Bewusstsein dieser Krise sind einerseits die skeptische Erledigung der Metaphysik und die Abwendung von im engeren Sinne systematischer Philosophie überhaupt wie andererseits die Bestrebungen zur Erneuerung der Metaphysik. In dem anti-skeptischen und ambitionierten Vorsatz einer Neubegründung der Metaphysik treffen sich Johann Nikolaus Tetens und Immanuel Kant: Dieser entwirft aus der Frage, wie eine künftige Metaphysik möglich ist, »die als Wissenschaft wird auftreten können«110 die transzendentale Perspektive der kritischen Philosophie, jener entwickelt bereits in den Gedancken über einige Ursachen, warum in der Metaphysik nur wenige ausgemachte Wahrheiten sind ein Programm zur Renovierung der philosophischen Hauptwissenschaft, dem er bis zum Ende seiner akademischen Tätigkeit verbunden bleiben sollte. Tetens diagnostiziert 1760 zunächst in der bisherigen Metaphysik einen Mangel an »ausgemachten Wahrheiten«, also an Lehrsätzen, die gewiss und zugleich von allen akzeptiert sind, dieser Befund trifft insbesondere und mit gravierenden Folgen die Gegenstände der Ontologie.111 Bereits in seiner Bützower Antrittsrede übt Tetens eine vehemente Sprachkritik und fordert die Deutlichkeit der ontologischen Begriffe und Sätze.112 Abhilfe verspricht Tetens die »Realität der allgemeinen Grundbegriffe und Grundsätze«, da viele von ihnen »für sich eine so hervorstechende und auffallende Evidenz besitzen, daß sie aufsuchen und hinsetzen, eben so viel ist, als ihre […] Wahrheit zu beweisen«;113 dies sind die »arithmetischen, […] auch die geometrischen Begriffe, Postulate und Axiome«.114 Die »Realisierung« der übrigen »GrundGemeinsätze«115 erfolgt über einen, wie Tetens beschreibt, lockeschen Rückgang auf die ersten Vorstellungsinhalte des menschlichen Verstandes. Dass die Ontologie zu diesem Zweck »ein Theil der beobachtenden Philosophie« werden kann und muss,116 verdankt sich zunächst der Erfahrungsseelenlehre als metaphysische Grundwissenschaft, die die empirische Basis für die »Realisierung der Grundbegriffe« bereitzustellen vermag. Zugleich aber zieht Tetens mit der Funktion der »sinnlichen Abstracta« das entscheidende Bindeglied ein, um einerseits den »blinden Fleck« des Übergangs von individuellen Vorstellungen zu allgemeinen Begriffen zu vermeiden, andererseits durch das teils vorbewusste Wirken der Einbildungskraft zur Entstehung der allgemeinen Bilder den in den Philosophischen Versuchen entwickelten Begriff der »subjektivischen Nothwendigkeit« grundzulegen. Die in den Philosophischen Versuchen letztgültig dargelegte rational-empirische Erkenntnistheorie mit dem Ziel einer Verbesserung der Metaphysik erarbeitet sich Tetens seit der programmatischen Bützower Rede in dem Pensum der wechselnden Vorlagen zu seinen Metaphysik-Vorlesungen. Tetens nimmt die starken empirischen und psychologischen Strömungen der Zeit auf und vermag sie vor allem aus seiner minutiösen Aufstellung und im besten Wortsinne kleinschrittigen Analyse der Seelentätigkeiten heraus zu der avanciertesten Vorstellungstheorie der Aufklärungsphilosophie zusammenzufügen. Seine elaborierte Theorie der Ein110 111 112 113 114 115 116

Vgl. Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Riga 1783. Vgl. Tetens: Gedancken (s. Anm. 25), S. 14f. u. S. 21. Vgl. ebd., S. 31–39. Tetens: Speculativische Philosophie (s. Anm. 20), S. 27. Ebd., S. 28–29 Ebd., S. 35. Vgl. oben Anm. 43: Tetens: Speculativische Philosophie (s. Anm. 20), S. 72.

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bildungskraft als maßgebliche Schnittstelle zwischen Gefühl und Verstand greift bis an die äußerste Grenze vorkritischer Möglichkeiten. Ebenso folgerichtig wie die anthropologische Durchformung der Philosophischen Versuche ist dabei die Voranstellung der empirischen Psychologie im Metaphysik-Kolleg von 1789: Diesen Ansatz teilt noch Mitte der 1760er Jahre auch Kant, der zu dieser Zeit, wie Clemens Schwaiger festhält, aus Hochschätzung für Baumgarten »die empirische Psychologie als ›die metaphysische Erfahrungswissenschaft vom Menschen‹ ›durch eine kleine Biegung‹ […] ganz an den Anfang des Metaphysikkollegs rückt«.117 In der die philosophische Tätigkeit Tetens’ beschließenden Metaphysik-Vorlesung von 1789 ist all dies trotz des schulphilosophischen Korsetts deutlich erkennbar enthalten. Meines Erachtens erreicht Tetens dort auch das Ende des Jahrzehnte andauernden Ringens um die systematische Architektonik der Metaphysik und führt damit auf die Spitze, was recht eigentlich ein Streit um die Rolle der Psychologie gewesen ist. Dabei nimmt Tetens Kant zur Kenntnis, nennt – neben den Schriften anderer Autoren – die Kritik der reinen Vernunft und die Prolegomena als zu rezipierende Werke der jüngsten Metaphysik. Ob und wieweit Tetens in der Vorlesung auch auf den kritischen Kant reagiert, ob unter der nahezu verweisungsfreien Oberfläche des Kollegs eine wie auch immer geartete und wie auch immer umfangreiche Positionsveränderung sichtbar werden wird, kann hier nicht mehr Gegenstand sein und wird die weitere Arbeit an der kommentierten Edition des Manuskripts erweisen.

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Clemens Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten – Ein intellektuelles Porträt. Studien zur Metaphysik und Ethik von Kants Leitautor. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 38.

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Psychologie der ersten Ursache Tetens’ rationaltheologischer Umgang mit der Krise des Theismus

1. Tetens, Hume und die Religionsphilosophie der Aufklärung Sucht man nach Spuren, die Johann Nikolaus Tetens in der Geschichte der Theologie oder Religionsphilosophie hinterlassen hat, so muss man sich schon ins sprichwörtliche Unterholz begeben. Sowohl in klassischen als auch in neueren Darstellungen der Epoche finden sich nicht einmal Erwähnungen, geschweige denn weiterreichende Würdigungen.1 Anders sieht es freilich aus, wenn man klassische Darstellungen der Aufklärungspsychologie heranzieht.2 Hier begegnet Tetens mit einer Häufigkeit, die mit Leibniz, Locke, Wolff oder Kant mithalten kann. Folgt man dieser Spur und wendet sich den psychologisch Versierten innerhalb der neueren Religionstheorie zu, so wird man fündig. So hat Rudolf Otto seiner großen Studie zur WestÖstlichen Mystik aus dem Jahre 1926 einen Anhang zur Problemgeschichte des Gefühlsbegriffs beigegeben, der für seine eigene Religionstheorie zentral ist. Die heutige Psychologie – so Otto in besagter Abhandlung – stehe in »der Nachfolge von Tetens«.3 Gemeint ist mit dieser These näherhin zweierlei: Erstens, die Differenzierung des Gefühls von »den Funktionen des Erkennens und des Willens«4 und, zweitens, die Bestimmung des Gefühls als Zustandsbewusstsein der Seele. Diesen psychologischen Weichenstellungen Tetens’ sei Kant in seiner Dreivermögenstheorie gefolgt, Schleiermacher wiederum habe mit seiner Verortung der Religion im Gefühl die religionsphilosophischen Konsequenzen daraus gezogen und bis in die zeitgenössische Psychologie sei jenes Gefühlsverständnis bestimmend. Otto steht dieser auf Tetens zurückgeführten Traditionslinie jedoch aus religionstheoretischen Gründen kritisch gegenüber. Die Auffassung des Gefühls als Bewusstsein subjektiver Zustände sei eine Engführung, die dessen Intentionalität nicht gerecht werde. Gefühl sei auch eine Art intuitives Objekterfassen. 1

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Vgl. beispielsweise Karl Aner: Theologie der Lessingzeit. Hildesheim 1964 (ND Halle 1929); Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. 5 Bde. Gütersloh 31964; Albrecht Beutel: Aufklärung in Deutschland. Göttingen 2006. Vgl. Robert Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Ästhetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller. Würzburg 1892; Max Dessoir: Geschichte der neueren deutschen Psychologie. 2., völlig umgearb. Aufl. 1 Bd.. Berlin 1902. Rudolf Otto: West-Östliche Mystik. Vergleich und Unterscheidung zur Wesensdeutung. Gotha 1926, S. 383. Ebd.

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Es wäre nun durchaus reizvoll, am Gefühlsverständnis von Tetens’ Philosophischen Versuchen Ottos problemgeschichtliches Urteil sowie sein systematisches Anliegen zu überprüfen. Dies gilt zumal, als gerade die gegenwärtige Emotionsdebatte in Philosophie und Kulturwissenschaften um ganz ähnliche Probleme kreist – freilich ohne Kenntnis der einschlägigen Diskurse der Aufklärungspsychologie. Doch im Folgenden soll es um eine Würdigung der ohne Nachhall gebliebenen rationalen Theologie gehen, wobei noch zu fragen sein wird, was genau das bei Tetens eigentlich heißt. Zur rationalen Theologie als Teil der speziellen Metaphysik im Sinne der ›Deutschen Schulphilosophie‹ sind jedenfalls einige kleinere Schriften zu rechnen, die Jürgen Engfer in den letzten beiden Bänden der Philosophischen Werke Tetens’ erst jüngst wieder herausgegeben hat: die frühe Abhandlung von den vorzüglichsten Beweisen des Daseins Gottes (1761), die große, zweiteilige Studie Ueber die Realität unseres Begriffs von der Gottheit (1778/1783), die explizit auf die zwei Jahre zuvor erschiene Kritik der reinen Vernunft Bezug nehmende Abhandlung Von der Abhängigkeit des Endlichen von dem Unendlichen sowie der Aufsatz Über die göttliche Gerechtigkeit, den Zweck der göttlichen Strafen (beide 1783).5 Ich werde mich im Folgenden auf die Abhandlung Über die Realität unseres Begriffs von Gott konzentrieren. Für die Frage nach Tetens’ Verhältnis zur Tradition des europäischen Empirismus ist nämlich vor allem sie einschlägig, da er sich hier – wie bereits der Untertitel des zweiten Teils verrät – explizit mit David Hume auseinandersetzt.6 Hume ist aber eben nicht nur Hauptvertreter des europäischen Empirismus, sondern er war es auch, der das ehemals imposante und stolze Gebäude der rationalen Theologie sturmreif schoss. Was Rationalismus, älterer Empirismus und selbst die materialistische Religionskritik nicht vermocht hatten, das bewirkte der feine Agnostizismus David Humes. Tetens’ rationaltheologische Abhandlung ist nicht zuletzt deswegen interessant, weil sie für diese nachhaltige Wirkung Humes auf die philosophische Theologie exemplarisch ist. Bevor ich auf Tetens’ Studie eingehe, sind noch einige Vorbemerkungen zur geistesgeschichtlichen Einordnung angebracht. Die Philosophie und Theologie der Neuzeit in ihrer wechselvollen Geschichte hatte den neuen Typus aufgeklärter Vernunftreligion hervorgebracht. In dessen facettenreichen Spielarten begann sich das kritische Bewusstsein zusammen mit ausgewählten Traditionen der christlichen Religion einzurichten. Ein dogmatischer Materialismus konnte die metaphysischen Prämissen dieses philosophischen Theismus nicht aus den Fugen heben und so schienen Vernunft und Erfahrung ein harmonisches conubium eingehen zu können – um eine Lieblingsmetapher Wolffs zu gebrauchen.7 Doch David Hume hat den Restbestand metaphysischer Evidenzen in der so 5

6 7

Johann Nikolaus Tetens: Kleinere Schriften. In Zusammenarbeit mit Rüdiger Thiele und Robert Mößgen ausgewählt, eingeleitet und herausgegeben von Jürgen Engfer. Hildesheim, Zürich, New York 2005 [Johann Nikolaus Tetens: Die philosophischen Werke. 4 Bde. Hildesheim, Zürich, New York 1979–2005, Bd. 3 u. 4; im Folgenden KS, Band, Seitenzahl]; die oben genannten Titel finden sich in der genannten Reihenfolge in KS 1, S. 133–210; KS 2, S. 95–258, S. 259–330 u. S. 331–372. Johann Nikolaus Tetens: Über die Realität unseres Begriffs von der Gottheit [1778/1783]. In: KS 2, S. 165: »Zwote Abtheilung. Ueber den Verstand in der Gottheit gegen Hume.« Vgl. Ulrich Barth: Die Religionsphilosophie der westeuropäischen Aufklärung. Deismus in England und Frankreich; sowie ders.: Von der Theologia naturalis zur natürlichen Religion. Wolff – Reimarus – Spalding. Beide in: ders.: Gott als Projekt der Vernunft. Tübingen 2005, S. 127–144; 145–171; Günter Gawlick: Christian Wolff und der Deismus. In: Werner Schneiders (Hg.): Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen seiner Philosophie und deren Wirkung, Hamburg 1983, S. 139–147.

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genannten ›natürlichen‹ Vernunftreligion mit sicherem Gespür identifiziert und mit seiner ruhigen Skepsis zerstört. Dabei ist weniger an die bekannte Wunderkritik aus dem 10. Stück seines Enquiry zu denken, die sich ja durchaus noch in das Aufklärungsbestreben unter dem Programmtitel einer natürlichen Religion integrieren ließe.8 Hume zielte vor allem mit zwei Angriffen auf die aufgeklärte Vernunftreligion selbst. Zum einen hat er in seiner 1757 veröffentlichten und nur zwei Jahre später ins Deutsche übersetzten Natural History of Religion mit religionsgeschichtlichen und religionspsychologischen Mitteln eine bis dato weitgehend unhinterfragte Voraussetzung ad absurdum geführt – die Voraussetzung nämlich, dass die so genannte natürliche Religion auch die ursprüngliche sei. Zugespitzt formuliert lautet Humes Gegenthese: Die natürliche Religion der Aufklärer ist alles andere als natürlich. Die natürliche Religion, so wie sie sich in den Geschichtsquellen zeigt und zugleich psychologisch verstanden werden kann, ist ein aus Angst und Furcht vor den Unwägbarkeiten des Lebens geborener Aberglaube. Alle Rationalität in den Religionen ist also historisch und psychologisch sekundär und daher potentiell gefährdet.9 Zum anderen zielt Hume auf die Physikotheologie, die sich angesichts des Aufschwungs der Natur- und Erfahrungswissenschaften zum Signum der Epoche gemausert hatte.10 Überall in der Natur und der Gesellschaft – so schwärmten fromme Naturforscher, nach dem Nutzen fragende Weltweise und philosophische Dichter – zeige sich der menschlichen Erfahrung wunderbare Vollkommenheit und Ordnung, die einen weisen und sittlich-guten Urheber der Welt offenbare. Doch auch dieser Versöhnung von Jenseits und Diesseits hält Hume ebenso nüchtern wie nachhaltig irritierend entgegen, dass der Anschein, hierbei handele es sich um eine von Erfahrung und wissenschaftlichem Vernunftgebrauch getragene Erkenntnis, trügerisch sei. Die religiöse Hypothese eines persönlichen Urhebers der Welt sei vielmehr das Produkt von Phantasie und Vorurteil und zu alledem auch noch moralisch entbehrlich. Ansätze der Argumentation finden sich etwa schon in An Enquiry Concerning Human Understanding (1748; dt. 1755) und werden dann in den Dialogues concerning Natural Religion ausführlich ventiliert. Welche Sprengkraft diese Thesen in ihrer Zeit hatten, zeigt sich nicht nur daran, dass Hume seine persönliche Position in diesen Angelegenheiten gekonnt im Labyrinth der Gespräche versteckt, sondern auch daran, dass er die Dialoge erst posthum zur Veröffentlichung freigab. 1779 erscheint die Originalausgabe, die vor allem in Deutschland auf sehr große Resonanz stößt. In mehreren deutschen Magazinen wird die Schrift besprochen, 1781 gibt Ernst Platner die erste deutsche Übersetzung (von Carl Gottfried Schreiter) heraus, aber schon ein Jahr zuvor hatte Johann Georg Hamann, der Humes Kritik an der natürlichen Religion aus ganz anderen Motiven heraus willkommen hieß, eine eigene Übersetzung angefertigt und u. a. an Kant weitergereicht. Dieser wiederum reagiert schon in seiner ersten Kritik auf die Debatte und nimmt dann in den Prolego-

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9 10

David Hume: An Enquiry Concerning Human Understanding (1748). In: ders.: The Philosophical Works. Ed. by Thomas Hill Green a. Thomas Hodge Grose. Aalen 1964 (Reprint of the new edition London 1882), vol. 4., pp. 1–135. David Hume: The Natural History of Religion. In: ebd., pp. 307–363. Wolfgang Philipp: Physicotheology in the age of Enlightenment. Appearance and history. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 57 (1967), pp. 1233–1267.

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mena zu einer jeden künftigen Metaphysik, erschienen im Frühjahr 1783, ausdrücklich Stellung zu den Dialogen.11 In diese Zeit fällt also auch die Veröffentlichung der von mir zu untersuchenden Studie Tetens’. Über die merkwürdigen Publikationsumstände lässt uns die Werkausgabe leider im Unklaren. Die Erste Abteilung über die Realität unsers Begriffs von dem Unendlichen erscheint bereits 1778 in den vom Kieler Theologieprofessor Johann Andreas Cramer herausgegebenen Beyträgen zur Beförderung theologischer und andrer wichtigen Kenntnisse. Die Zwote Abteilung über den Verstand in der Gottheit gegen Hume erscheint ebenda, aber erst fünf Jahre später, also 1783. Ausdrücklich erwähnt, ja sogar ausgiebig zitiert wird zwar nur Humes Enquiry, ein Zusammenhang mit der durch Humes Dialoge ausgelösten Debatte ist nach oben Gesagtem jedoch durchaus wahrscheinlich. Ob es gar rezeptionsgeschichtliche Bezüge zu Kants Auseinandersetzung mit den Dialogen in den Prolegomena (1783) gibt, kann hier nicht entschieden werden. Auf inhaltliche Parallelen werden wir eingehen.

2. Beweisziel der Studie Ueber die Realität unseres Begriffs von der Gottheit (1779/83) Auf den ersten Blick scheint es, als ob die beiden fünf Jahre auseinander liegenden Teile der Abhandlung nicht viel mehr als die allgemeine Überschrift miteinander teilen. Beide Teile behandeln zwar den »Begriff von der Gottheit«, jedoch unter ganz unterschiedlichen Leitgesichtspunkten. Während im zweiten Teil eine explizite Auseinandersetzung mit Humes Einwänden gegen einen philosophischen Theismus erfolgt, wird Hume in der ersten Abteilung »über die Realität unsers Begriffs von dem Unendlichen« nur beiläufig erwähnt. Als Referenzgröße erscheint hier vielmehr Christian Wolff. Tetens eröffnet seine Abhandlung förmlich mit einer Bescheidenheitsadresse: Ohne den geringsten Anspruch zu machen, daß ich etwas mehr darüber sagen, oder es besser sagen werde, als es von andern, besonders von Wolfen schon gesagt ist, glaube ich die Gedanken vortragen zu dürfen, die mich selbst beruhiget haben.12

Im Verlauf der Abhandlung folgen dann aber doch einige kritische Anfragen und kleine Akzentverschiebungen gegenüber Wolff. Und auch der im Zitat zum Ausdruck kommende Rückzug auf den Standpunkt einer subjektiven Vergewisserung kann bereits eine Distanz gegenüber dem für Wolffs Denken charakteristischen Anspruch auf objektiv demonstrierbare Wahrheiten erahnen lassen. Doch die vermeintliche Beziehungslosigkeit der beiden Teile täuscht. Trotz der genannten Differenzen und der einleitend wahrscheinlich gemachten Vermutung, dass im zweiten Teil ein Niederschlag der sich ab 1779 verschärfenden Debatte über Humes Kritik an einer sich für aufgeklärt haltenden Religionsphilosophie gesehen werden könnte, lässt sich die zweiteilige 11 12

Vgl. dazu die Einleitung des Herausgebers in: David Hume: Dialoge über natürliche Religion. Hg. von Günter Gawlick. Hamburg 2007, S. IX–XXXVIII. Tetens: Gottheit (s. Anm. 6), S. 99.

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Abhandlung durchaus als eine thematisch geschlossene und methodisch angelegte Studie interpretieren. Bei Lichte besehen zielt nämlich bereits der erste Teil auf die Theismusproblematik, also die Frage, ob man den Begriff von der Gottheit mit »geistigen Prädikaten« näher bestimmen könne oder ob darin nicht vielmehr ein der wissenschaftlichen Vernunft widersprechender, wenn auch »feine[r] Anthropomorphism[us]« liege.13 Entsprechend heißt es dann im zweiten Teil: »Die Erste Ursache der Welt oder Gott unter dem bestimmten Begriff eines geistigen Wesens vorstellen, ihm Verstand, Willen und daher Weisheit und Güte und Fürsehung beylegen, das nennen einige Theismus«.14 Wie schon dieser distanzierende Hinweis vermuten lässt, spielt der Theismus-Begriff als solcher bei Tetens zwar keine herausgehobene Rolle. Das damit angesprochene Sachproblem jedoch verbindet beide Teile der Studie und ist sogar das eigentliche Thema derselben. Das wird nicht zuletzt auch an einer terminologischen Besonderheit der Abhandlung erkennbar: dem Begriff der Gottheit. Dass Tetens nämlich nicht nur in der Hauptüberschrift, sondern durchgängig den Begriff Gottheit verwendet und nur selten von Gott spricht, ist kein Zufall, sondern Ausdruck eines begriffsgeschichtlichen Wandels, der unmittelbar mit der virulenten Krise des Theismus zusammenhängt. Denn der traditionell als Substanz- oder Qualitätsbegriff – etwa in der Rede von der Gottheit Christi – verwandte Terminus rückt im 18. Jahrhundert zunehmend an die Stelle des personalen Gottesbegriffs. Auf diese Weise wird eine gewisse Distanz gegenüber den dogmatischen Traditionen der Orthodoxie erzeugt, ohne die radikale Konsequenz der Bestreitung einer personalen Gottesvorstellung zu ziehen. Der Begriff der Gottheit ist förmlich Signum einer entwickelten Aufklärung, die »grobes Anthropomorphosiren« bereits hinter sich gelassen hat, den »reine[n] Begriff von dem Unendlichen« kennt und Gott so als »das unendliche Wesen, das All der Vollkommenheiten und Realitäten« versteht.15 Dass der Begriff der Gottheit darüber hinaus auch in der Verwendung für Götter außerchristlicher Religionen begegnet, kann jene Konnotation noch verstärken. Vor allem im Gefolge des Deismus wird mit Gottheit also »das umfassende, jenseitige, höhere Wesen benannt, das auf dem Wege einer natürlichen Religion dem Denken und Empfinden der Menschen zugänglich ist (ohne allerdings biblisch-christliche Elemente gänzlich von sich auszuschließen) [...]. Die inhaltliche Unverbindlichkeit empfahl das Wort jenen, die sich gerade bei der Benennung des biblischen Gottes von dem dogmatisch stärker fixierten Begriff ›Gott‹ distanzieren wollten«.16 In Tetens’ Abhandlung über die Realität unseres Begriffs von der Gottheit – so kann man als Zwischenergebnis zusammenfassen – geht es also um die Frage, ob der Begriff von der Gottheit auch im Sinne einer personalen Gottesvorstellung näher bestimmt werden darf oder nicht. Dabei handelt es sich durchaus um eine Schicksalsfrage der rationalen Theologie. Denn sie markiert den Übergang zwischen spekulativem Gottesgedanken und den Vorstellungen 13 14 15 16

Ebd., S. 156. Ebd., S. 166. Ebd., S. 97f. u. S. 100. Vgl. Axel Horstmann: Art. Gottheit I. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter u. a. Bd. 3. Darmstadt 1974, Sp. 836–840, hier Sp. 839. Unter den von Horstmann angeführten, größtenteils recht späten Belegen für die Verwendung von Gottheit oder Wendungen wie ›Begriff‹ oder ›Idee der Gottheit‹ hätte Tetens’ Abhandlungstitel durchaus als einschlägiger Beleg fungieren können.

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eines persönlichen Gottes, wie ihn die biblische Religion kennt. Ließen sich Prädikate wie Verstand und Vernunft, Wille und Freiheit, Weisheit und Güte nicht mehr im Kontext einer philosophischen Gotteslehre rechtfertigen, so würde nichts weniger als der Beziehungsgrund zwischen Vernunft und Offenbarung entfallen. Tetens konzentriert sich in seiner Studie also auf dieses Kernproblem einer philosophischen Gotteslehre, ein Problem, das sich in den folgenden Jahrzehnten, ja über die Spätaufklärung hinaus mit wechselnden Schlagwörtern und Protagonisten krisenhaft zuspitzen wird. Ich werde im Schlussabschnitt darauf noch einmal zurückkommen. Jetzt soll zunächst der Beweisgang der Abhandlung in den Blick genommen werden. Mit der Themenwahl als solcher ist bereits eine argumentative Strategie verbunden: Andere strittige Themen der rationalen Theologie werden methodisch ausgeklammert: So wird etwa die Frage, »ob und wie ferne die Idee von Gott in der Natur des Verstandes liege, oder gar ihm angeboren sey«,17 ebenso ›übergangen‹ wie die nach dem Dasein Gottes. Die Möglichkeit eines Existenzbeweises, dem Tetens ja immerhin 1761 eine eigene Studie gewidmet hatte, wird jedoch vorausgesetzt. Im zweiten Teil unserer Studie heißt es in Anspielung auf das für Humes Skeptizismus typische Verschleierungsspiel mit der Autorschaft: Mit Hume dem Atheisten wird hier nicht gestritten, falls er einer gewesen ist, was ich nicht glaube; Zweifler war er, wenigstens in den Augenblicken, wenn er über die Beweise der Philosophen für Gottes Daseyn raisonirte. Es ist also auch hier ein Grundsatz, es giebt einen Gott, eine erste Ursache der Welt. Was diese Ursache sey, was für eine Vorstellung die reine Vernunft sich von ihr machen könne, insonderheit, ob man Gründe habe, sie für ein verständiges Wesen zu halten? Dies ist die Frage.18

Übereinstimmend damit hatte Tetens bereits im ersten Teil die Existenzproblematik ausgeschlossen: Es gehe beim Thema der »Realität unseres Begriffs von der Gottheit« nicht um die Frage, »ob ein ihm [sc. dem Begriff] entsprechendes Objekt vorhanden sey«, sondern um Realität im Sinne der »innere[n] Möglichkeit des Begriffs«.19 Gegenstand der Untersuchung ist die Vereinbarkeit des theistischen Gottesgedankens mit den Grundsätzen der aufgeklärten Vernunft.20 Aus der Retrospektive der kantischen Kategorienlehre könnte man sagen, ›Realität‹ – im Sinne des Titels von Tetens’ Abhandlung – ist eine Kategorie der Qualität und nicht zu verwechseln mit ›Dasein‹ als einer Modalitätskategorie. Da von Tetens jedoch noch eine schulphilosophische Ontologie bzw. ein Essentialismus wolffscher Provenienz vorausgesetzt wird,21 ist 17 18 19 20

21

Tetens: Gottheit (s. Anm. 6), S. 97. Ebd., S. 177. Bereits in der Abhandlung von den vorzüglichsten Beweisen des Daseins Gottes (1761) hatte Tetens auf Humes Kritik Bezug genommen, vgl. KS 1, S. 153f. Tetens: Gottheit (s. Anm. 6), S. 103. Vgl. ebd., S. 99f.: Grundmotive des Kritizismus klingen an, wenn Tetens mit Bezug auf den Gottesbegriff nach der »Grenze, bis wohin die Vernunft mit Sicherheit gehen kann,« fragt – »die Vernunft, die aufgeklärte nämlich, die allein hier nur zu rechtfertigen ist«. Vgl. Christian Wolff: Vernünftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u. a. I. Abt., Bd. 2. Hildesheim, New York 1962, § 33: »Dasjenige, darinnen der Grund von dem übrigen zu finden, was einem Dinge zukommt, wird das Wesen genennet. Wer also das Wesen eines Dinges erkennt, der kan den Grund anzeigen von allem, was ihm zukommet. Man erkennt aber das Wesen eines Dinges, wenn man versteht, wodurch es in seiner Art determiniert ist«. Zum Verständnis von Realität vgl. auch Christian Wolff: Theologia naturalis. Pars II. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u. a. II. Abt. Bd. 8. Hildesheim, New York 1981, S. 3

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Wirklichkeit der Inbegriff einer geistigen Ordnung im Sinne eines widerspruchslosen und durchgängig begründeten Zusammenhangs. Daher enthalten die Erörterungen über die Realität im Sinne der Möglichkeit des Gottesbegriffs immer auch ontologische Implikationen. Aus diesem Grund wird verständlich, dass Tetens trotz seiner methodischen Einschränkung immer wieder darauf hinweist, dass zumindest das Dasein einer ersten Ursache der Welt allgemein vorausgesetzt werden könne. Dies werde selbst vom Materialismus zugestanden,22 womit aber die weitergehenden Ansprüche eines Theismus noch nicht gerechtfertigt sind. Die Frage, ob der allgemeine Gottesbegriff auch als ein geistiges Wesen näher bestimmt werden kann, lässt sich nach Tetens methodisch auf zwei Wegen angehen. Und genau diesen zwei methodischen Zugängen entspricht die Zweiteilung der Studie. Die Methode des ersten Teils fasst der zweite rückblickend prägnant zusammen: Der Beweis aus dem Begriff der Unendlichkeit besteht im dem Schluß, daß Verstand und geistige Natur wahre, reine Realitäten sind, die dem Unendlichen nicht fehlen können, und vorausgesetzt wird es als schon erwiesen, daß die Ursache der Welt mit dem unendlichen Wesen einerley sey. [...] Ich bin sehr überzeugt, daß die Vernunft auf dem ersten Wege zu der vollen Einsicht gelangen könne, die sie nöthig hat. Aber sie begegnet einem Mann, wie Hume, auf diesem Wege nicht.23

Daher erfolgt ein methodisch anders verfahrender, zweiter Beweisgang, den Tetens als einen Beweis »aus der Caussalität« näher bestimmt, also ein Rückschluss von den Wirkungen auf die Ursache.24 Diese Differenzierung zweier Beweisverfahren wird jedoch nicht erst zur Rechtfertigung des Neuansatzes im zweiten Teil der Studie eingeführt. Schon zu Beginn des ersten Teils wird ein ›metaphysischer Beweis‹ aus dem Begriff von dem »Weg der Kausalität« unterschieden, wobei zugleich auf den scholastischen Hintergrund verwiesen wird.25 Die zweigliedrige Methodik bestätigt also die thematische Einheit der beiden publikationstechnisch weit auseinander liegenden Teile. Und ebenfalls zu Beginn seiner Studie weist Tetens darauf hin, dass die für den zweiten Teil einschlägige Methodologie für den »unmetaphysischen aber gesunden und aufgeklärten Menschenverstand die einzige« sei.26 Dennoch wolle er zuerst den metaphysischen Beweis prüfen und berichtigen, da er nicht nur den zweiten Beweisgang entlasten könne, sondern weil eine solche »Theologie der Vernunft« – obwohl von den neueren Philosophen für »minder nothwendig und brauchbar« angesehen – doch »zu ihren erhabensten Bestrebungen« gehöre.27 Es wäre nun aber irreführend, wollte man diese von Tetens geltend gemachte Methodendifferenz als Alternative zwischen einem rein apriorischen und einem rein aposteriorischen Beweisverfahren deuten. Dass vielmehr in beiden Beweisverfahren sowohl apriorische wie aposteriorische Elemente miteinander verbunden werden, entspricht nicht nur seinem erkenntnistheoretisch-methodischen Credo einer Verschränkung von Beobachtung und Vernunfträ-

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(§ 5): »Realitatis nomine hic nobis venit, quicquid enti alicui vere inesse intelligitur, non vero per perceptiones nostras confusas inesse videtur.« Tetens: Gottheit (s. Anm. 6), S. 178. Ebd., S. 172. Ebd., S. 173. Ebd., S. 100 (via negationis, via eminentiae und via causalitatis). Vgl. ebd., S. 100f. Ebd., S. 101.

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sonnement, sondern zeigt sich auch an der näheren Durchführung beider Beweisverfahren. Sie sollen nun im Folgenden wenigstens in ihren Grundzügen vorgestellt werden. Die Frage, ob geistige Beschaffenheiten als Prädikate des Unendlichen gedacht werden können oder sogar müssen, soll im ersten Beweisgang aus dem Begriff geführt werden. Dementsprechend untersucht Tetens zunächst den Begriff der Gottheit auf seine ontologische Möglichkeit. Zugleich soll er aber auch als ein den Bedingungen menschlicher Erkenntnis konformer Begriff ausgewiesen werden. Was die epistemologischen Zugangsbedingungen betrifft, so folgt Tetens auch mit Bezug auf den Begriff vom Unendlichen seinen empiristischen Prämissen, denen zufolge »der Stoff zu unseren Notionen in unseren Empfindungen« gegeben sein müsse.28 Da aber jede »Realität, die wir empfinden, [...] endlich, eingeschränkt, unrein, vermischt mit Verneinungen« sei,29 genügen zur Bildung des Begriffs eines unendlichen Wesens nicht allein Abstraktion und Verbindung, sondern es müssen zusätzlich dazu noch alle Endlichkeitsmerkmale negiert werden. Auf diese Weise lasse sich ausgehend vom allgemeinsten Elementarbegriffe, dem Begriff des Etwas bzw. dessen Vergegenständlichung als »ens reale«30 das gesuchte Konzept bilden. Bereits die Bildung des Begriffs von einem »unendlichen Wesen [...], einem Wesen, worinn alle mögliche reine Realitäten in dem möglich höchsten Grade beysammen sind,«31 verdankt sich somit einer Verschränkung von Beobachtung und Räsonnement.32 Den auf diesem Wege gewonnenen und nach allen Regeln der schulphilosophischen Kunst auf seine innere Realität, d. h. logische Möglichkeit, überprüften Begriff eines ens realissimum33 gilt es nun aber hinsichtlich möglicher Näherbestimmungen zu untersuchen. Tetens steigt dabei umfangslogisch von den so genannten ›transzendenten Begriffen‹ wie »Seyn, dauern, für sich bestehen, oder Substantialität, Kraft, Ursache, Würksamkeit, Unabhängigkeit« usw. zu Begriffen ab, die nur auf immaterielle Objekte zutreffen.34 Genau an dieser Stelle wird nun die Abweichung gegenüber Wolff markiert – während dieser die ontologischen Grundbegriffe von Gott (Substanz, Kraft, Tätigkeit) nur per eminentiam prädizieren wollte, würden Verstand und Wille bedenkenlos im eigentlichen Sinne angewandt.35 Wie bereits an Tetens’ methodischer Zweiteilung seiner rationaltheologischen Studie ersichtlich ist, steht hier Wolffs lateinische Theologia naturalis im Hintergrund, in der dieser anders als in seiner Deutschen Metaphysik auch die Gottesgelehrtheit einer Differenzierung von empirischer und rationaler Durchführung unterzogen hatte. Ursprünglich hatte Wolff diese Differenzierung bekanntlich an der Psychologie entwickelt. Tetens’ metaphysische Beweisart entspricht dabei dem zweiten Teil (ex notione) von Wolffs Theologia naturalis. Dort finden sich in der Tat entsprechende Aussagen über die Anwendung unter-

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Ebd., S. 105. Ebd., S. 111. Ebd., S. 108. Ebd., S. 116. Vgl. dazu Johann Nikolaus Tetens Ueber die allgemeine speculativische Philosophie [1775]. In: KS 2, S. 1–94. Vgl. Tetens: Gottheit (s. Anm. 6), S. 120: »In diesem All der Realitäten ist kein innerer Widerspruch. So viel ist evident. Aber ist dies es eben so, daß dies All in Einem Wesen seyn können?« Vermittelt wird der Übergang zum ens realissiumum – wie bei Kant – also durch die Idee einer omnitudo realitas. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 576/B 604. Tetens: Gottheit (s. Anm. 6), S. 137; vgl. ebd., S. 104. Ebd., S. 137f.

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schiedlicher Prädikatenklassen auf den Begriff eines vollkommensten Wesens.36 Gegenüber Wolff sieht Tetens die Problematik bzw. Beweislast hier also genau anders herum gelagert: Während die ontologischen Bestimmungen lediglich von ihren Endlichkeitsmerkmalen befreit werden müssten, so sei die Anwendung psychologischer Begriffe auf das allerhöchste Wesen alles andere als selbstevident und erfordere eine eingehende Analyse – ein weiterer Hinweis also auf die gesteigerte Sensibilität für das Theismusproblem.37 Um also das bei Wolff diagnostizierte Defizit zu beheben, werden zunächst die ontologischen Verhältnisbegriffe analysiert und als mögliche Prädikate des Unendlichen ausgewiesen,38 um sich dann mit ganzer psychologischer Beobachtungs- und Auflösungskunst den »geistigen Beschaffenheiten« zuzuwenden.39 Sind also – so lautet die vernunftkritische Frage – Verstand, Wille, Weisheit »bloß analogische Ideen«, die »unvermerkt das Unendliche vermenschliche[n]«?40 Nun lasse sich leicht zeigen, dass die menschlichen Vermögen, wie sie dem Selbstgefühl und der psychologischen Analyse zugänglich sind, allesamt »Mängel und Einschränkungen in sich fasse[n]«.41 Das trifft nach Tetens selbst auf das Denken zu, das sich auf nicht-spontan erzeugte Vorstellungen beziehen müsse. Jedoch lasse sich an den im ›Selbstgefühl‹ gegebenen psychologischen Vermögen ein gleichsam transzendenter Bedeutungskern herauslösen, der dann auch als Näherbestimmung des Unendlichen fungieren könne. Die so aus der psychologischen Analyse und Abstraktion von Endlichkeitsmerkmalen gewonnenen Näherbestimmungen des unendlichen Wesens lauten: »eine innere, auf sich selbst und seine eigene innere Beschaffenheiten gerichtete Würksamkeit« einer »einfachen Kraft«.42 Im Ergebnis kommt Tetens damit also durchaus zur Bestätigung seiner rationaltheologischen Vorlage, denn bereits Wolff habe die vorstellende Kraft nach dem »Allgemeinbegriff von einer inneren thätigen Kraft« konzipiert.43 Und diese Näherbestimmungen ließen sich »nicht anders, als mit Benennungen, die Beschaffenheiten unserer Seele ausdrucken, bezeichne[n]«.44 Auch wenn sie letztlich den Gottesbegriff 36

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Vgl. Wolff: Theologia naturalis. Pars II (s. Anm. 21), S. 27 (§ 47); S. 47f. (§§ 73f.). Wie von Tetens (Gottheit [s. Anm. 6], S. 137f.) behauptet, sagt Wolff hier Substanz, Kraft und Tätigkeit nur per eminentiam und nicht proprie loquendo von Gott aus. Demgegenüber bestehe zwischen göttlichem und menschlichen Intellekt – gleiches gilt für den Willen – nicht das Verhältnis der Analogie, sondern der graduellen Steigerung; vgl. Wolff: Theologia naturalis. Pars II (s. Anm. 21), S. 93f. (§ 113); vgl. S. 41f. (§ 70). Tetens: Gottheit (s. Anm. 6), S. 152: »Wolf schrieb ohne weitere Bestimmung oder Einschränkung, Gott eine vorstellende Kraft zu, von der er, als Grundsatz, annahm, daß sie etwas reelles bey der menschlichen Seele sey. Wie kann man das, ohne vorher ihre Würkungen, die wir Vorstellen und Denken nennen, aufgelöset zu haben?« Vgl. dazu Abschnitt 4 (Tetens: Gottheit [s. Anm. 6], S. 136–148), der jedoch eigentlich der 5. Abschnitt ist (vgl. S. 116; falsche Zählung). Sinnliche Reste in diesen Begriffen, die Wolff zur Einschränkung auf bloß analogische Prädikate veranlasst hatten, gesteht Tetens letztendlich zu. Sie seien jedoch unproblematisch, so lange man aus ihnen nichts schlussfolgere. Ebd., S. 150. Der kurze Zwischenabschnitt 5 (eigentlich 6; ebd., S. 147–150) behandelt der materiellen Welt entnommene Prädikate, die nur via eminentiae (»durch die Erhebung«, S. 148) auf das Unendliche anzuwenden seien, wie etwa die Vorstellung der Allgegenwart. Ebd., S. 151 u. S. 152. Ebd., S. 153: »Da er sich in dieser Allgemeinheit hielt, blieb er innerhalb der Gränzen der eigentlichsten Wahrheit, ohne diese Gränze selbst deutlich angegeben zu haben«. Ebd., S. 162 u. S. 158. Ebd., S. 153. Ebd., S. 162.

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der traditionellen Schulmetaphysik bestätigt, so schärft Tetens’ Problematisierung gleichwohl den kategorialen Unterschied zwischen endlichem Verstand (und Willen) und der Idee des Unendlichen ein: Eine vollständige Verrechenbarkeit der transzendenten Idee einer auf innere Gehalte bezogenen Kraft mit den geläuterten Begriffen von Verstand und Wille sei unmöglich, da in letzteren immer ein unaufgelöster Rest an sinnlichen Vorstellungen zurückbleibe. Zwischen Metaphysik und Psychologie bestehe eine »unübersteigliche Kluft«,45 die jedoch, solange man sich ihrer bewusst bleibe und sich in den Schlussfolgerungen auf den transzendenten Kern beschränke, unproblematisch sei. Doch weil diese »metaphysische Theologie«46 einen Hume nicht überzeugen könne, setzt Tetens im zweiten Teil seiner Studie noch einmal neu an – und zwar bei der von Hume inkriminierten Beweisart von den in der Welt erkennbaren Wirkungen auf ihre Ursache. Dass mit einem unspezifischen Begriff einer Ursache und vordergründigen Analogien nichts gewonnen sei, gesteht Tetens freimütig ein und referiert auch sehr treffend das Hauptargument Humes, demzufolge gerade die Einzigartigkeit der geltend gemachten göttlichen Ursache über jede Erfahrung hinaus in das Reich der anthropomorphen Phantasie weise.47 Eine direkte Widerlegung dieser Einwände erfolgt jedoch nicht und könne, da sie bis zu den Grundlagen des philosophischen Systems zurückgehen müsse, in diesem Rahmen auch gar nicht geleistet werden. Daher grenzt Tetens mehrfach sein Beweisziel ein und hofft auf eine Plausibilisierung des Theismus durch eine Argumentation, die den eigenen, von Hume grundlegend verschiedenen methodisch-systematischen Prämissen folgt.48 Zu diesen Prämissen gehören Voraussetzungen wie die bereits oben erwähnte von der Existenz einer ersten Ursache und allgemeine Grundsätze des Verstandes wie der über die Analogie zwischen Ursache und Wirkung oder über die nicht geringere Vollkommenheit der ersteren gegenüber der letzteren.49 Vor allem aber steht hinter der gesamten Argumentation der unausgesprochene Satz vom zureichenden Grunde, während im ersten Teil der Satz vom Widerspruch leitend war. Das zeigt sich bereits an dem mehrfach gegen Hume geltend gemachten Hinweis auf das Letztbegründungsdenken der Vernunft.50 Voraussetzung ist er aber vor allem für die Schlussfolgerungen ex contingentia mundi leibnizianischwolffscher Provenienz,51 die sich Tetens in diesem Beweisverfahren zumindest insoweit zueigen macht, wie sie seinem Beweisziel, nämlich dem Begriff einer vorstellenden Ursache dienlich

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Ebd., S. 160. Vgl. zur Metapher der Kluft zwischen Metaphysik und Psychologie auch Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. In: ders.: Die philosophischen Werke. [ND Leipzig 1777], Hildesheim, New York 1979, Bd. 1, S. 128 (1. Versuch XV. 5.). Tetens: Gottheit (s. Anm. 6), S. 158. Ebd., S. 165–176. Ebd., S. 170, 172f., 177, 182f., 235, 246f., 258. Tetens verweist unter anderem auch auf die Kritik des Herausgebers der deutschen Übersetzung des Enquiry, vgl. S. 174. Damit ist Johann Georg Sulzer gemeint: David Hume: Philosophische Versuche über die menschliche Erkenntnis. Hg. von Johann Georg Sulzer. Hamburg, Leipzig 1755. Eine Auseinandersetzung mit Humes erkenntnistheoretischen Anfragen an das Kausalitätsprinzip findet sich bei Tetens in Über die allgemeine speculativische Philosophie (s. Anm. 32), S. 73ff. Tetens: Gottheit (s. Anm. 6), S. 177–183 u. S. 240ff. Ebd., S. 207f., 217f., 223. Ebd., S. 218ff.

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sind.52 Auch hier folgt Tetens also dem Ansatz der zweiteiligen Theologia naturalis Christian Wolffs.53 Leitend ist die Auseinandersetzung mit Humes Kritik an einem theistischen Vorsehungsglauben, wie er im 11. Abschnitt des Enquiry zu finden ist. Zentral für Tetens ist daher die These, dass die Welt in ihrem geordneten Zusammenhang, der auch anders hätte bestimmt sein können und insofern zufällig ist, den Grund dieser Ordnung nicht in sich selber tragen könne. Als hinreichender Grund müsse ein einfaches Prinzip gedacht werden, das zumindest eine mögliche Ordnung aus sich selbst erzeugen könne. Damit ist nun aber der Begriff der Ursache in einer Weise näher bestimmt, dass er sich trefflich zur Verschränkung mit psychologischer Analyse eignet. Denn »[n]ach Leibnitzens Art zu reden ist jedes Vielfache in dem Einfachen, das sich nemlich auf andere Objekte beziehet, ein Inbegriff von Vorstellungen«.54 Ausführlich widmet sich Tetens daher auch hier psychologischen Untersuchungen, arbeitet präzise den Begriff des menschlichen Vorstellungsvermögens im Unterschied einerseits zu Naturursachen und instinktivem Verhalten heraus, andererseits die Differenz gegenüber einem intellectus archetypus, der spontan konstruiert und Gegenstände erzeugt ähnlich wie in der theoretischen Mathematik.55 Aber auch subtilen Differenzierungen zwischen der einfachen Kraft, ihren Determinationen und Tätigkeiten wird minutiös nachgegangen.56 Auffällig ist jedoch, dass Tetens hier anders als im ersten Beweisschritt hinsichtlich der Frage wesentlich zurückhaltender bleibt, ob man die innere Bestimmung des einfachen Prinzips, also den ›Plan‹ oder ›Typus‹ der dann durch die Kraft tätig zu realisierenden Ordnung, nach Maßgabe des psychologischen Vorstellungsparadigmas zu denken habe oder nicht. Zwar lehrten uns, wie die erste Ursache zu denken sei, »die vorstellenden Wesen, und nur diese«,57 wobei freilich auch hier von der spezifischen Endlichkeit, d. h. vor allem der Passivität bzw. Rezeptivität des menschlichen Vorstellungsvermögens abstrahiert werden müsse. Doch, so wird umgehend eingeschränkt, »wenn anders einem vernünftigen Denker ein Wort anstößig seyn könnte, so sage man, sie [sc. die Gottheit] sey eine der vorstellenden analoge Ursache, eine übervernünftige«.58 In dem Stichwort ›übervernünftig‹ verdichtet sich somit eine Strategie, die gleichsam einen Mittelweg zur exklusiven Alternative von vernunftkonform und widervernünftig sucht. Das damit angeschnittene Problem drängt Tetens nachgerade zu einem ausführlichen Exkurs über verschiedene Verwendungen des Analogiebegriffs.59 Das dem ›Eigentlichen‹ entgegen gesetzte Analogische, also das Bilderwerk der Phantasie und der Ideenassoziation, das im ersten Teil 52

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Auch hier geht es also weder um den Beweis der Existenz Gottes noch um die weiterreichende Problematik der Entstehung der Welt, welche den Begriff des ens necessarium voraussetzen würde; vgl. ebd., S. 205. Vgl. Christian Wolff: Theologia naturalis. Pars I.1. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École u. a. II. Abt., Bd. 7.1. Hildesheim, New York 1978, S. 6 (§ 6) u. S. 24ff. (§ 24ff). Tetens: Gottheit (s. Anm. 6), S. 187. Ebd., S. 225. Ebd., S. 220. Ebd., S. 224. Ebd., S. 230: »Wir haben den Begriff von einer Vernunftähnlichkeit, die unter der Vernunft ist. Es läßt sich also auch eine denken, die über ihr ist.« Ebd., S. 232–239 (Abschnitt 9); vgl. bereits im ersten Teil S. 109ff. Grundlegend sind die beiden Gegensatzpaare eigentlich-analog und anschaulich-analog bzw. anschaulich-symbolisch, welch Letzteres soviel wie zeichenhaft im Gegensatz zu intuitiv bedeutet.

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noch tunlichst vermieden werden sollte, wird nun als bei nicht anschaulichen Vorstellungen als »in gewisser Hinsicht unentbehrlich« nobilitiert.60 Nicht nur sind Vorstellungen qua Vorstellungen analogisch im Sinne einer symbolischen (zeichenhaften) Repräsentation, sondern gerade bei nichtanschaulichen Vorstellungen ist die Analogie im Sinne einer Versinnlichung eines der Sinnlichkeit Transzendenten unhintergehbar. Eine letzte Wendung nimmt sodann der Schlussabschnitt, der literarisch als eine Antwort auf ein langes Zitat des humeschen Epikurs (Enquiry, 11. Abschnitt) entworfen wird.61 Tetens versucht Humes skeptisches Argument, dass die Annahme einer verständigen Ursache für die Ordnung der Welt entbehrlich sei, weil sie zur Begründung der Tugend nicht mehr beitragen könne als die bloße Welterfahrung, gegen ihren Urheber selbst auszuspielen. Nicht nur seien die Annahmen einer skeptischen Beurteilung der Weltordnung mindestens ebenso spekulativ wie die einer Grundsatzphilosophie. Sondern gerade mit Blick auf die »Folgerungen für die praktische Religion«62 sei die skeptische Spekulation desaströs, da sie bei Lichte besehen die Hoffnung auf ein zukünftiges Wohlergehen des Tugendhaften zersetzen könne. Nicht so sehr aus spekulativen Gründen, wo man ja auch selbst »nicht alle Schlüsse, die von Philosophen und von Priestern aus dem Begriff Gott sind«,63 verteidige, sondern unter praktischen Gesichtspunkten zeigten sich also triftige Gründe für die Annahme eines theistischen Gottesgedankens im Sinne einer mit sich identischen, weisen und gütigen Ursache des Weltlaufs, d. h. dogmatisch gesprochen, für die Annahme einer göttlichen »Fürsehung«.64

3. Das Profil von Tetens’ rationaler Theologie (1) Gerade das zuletzt erwähnte Motiv einer Unterwerfung der Spekulation unter das Nützlichkeitskriterium bzw. das Ideal einer ›praktischen Religion‹, das in dieser Studie immer wieder begegnet und den Abschluss bildet, kann uns zu einem ersten Merkmal von Tetens’ rationaler Theologie hinleiten. Denn mit diesen Ideen ist das Leitthema aufgeklärter Religiosität intoniert. Ihm ist auch Tetens offensichtlich verpflichtet: Das ›Läutern‹ unserer religiösen Vorstellungen inklusive Entrümpelung des überkommenen Lehrbestands, das unvoreingenommene Prüfen von Einwänden am Maßstab menschlicher Vernunft und Erfahrung, die Ablehnung bloßer Spekulation durch die Ausrichtung auf den praktischen Nutzen – all diese Motive können als Kernbestand eines aufgeklärten Umgangs mit Religion gelten. Und in dieser Hinsicht kann sich Tetens durchaus mit einem Grundanliegen des neuzeitlichen Empirismus, ja selbst der Skepsis und Metaphysikkritik eines David Hume verbunden wissen. (2) Doch trotz dieser grundsätzlichen Aufgeklärtheit zeigen Tetens’ Abhandlungen über die rationale Theologie zugleich auch einen gewissen Konservatismus. Das lässt sich nicht zuletzt anhand eines Vergleichs mit Christian Wolff verdeutlichen. Denn wie wir gesehen hatten, orien60 61 62 63 64

Ebd., S. 238. Ebd., S. 246–258. Ebd., S. 230; vgl. S. 161, 166, 174, 240. Ebd., S. 258. Ebd., S. 254.

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tiert sich Tetens an dessen lateinischem Werk, das sich nicht nur auszeichnet durch »eine Weitläufigkeit, die nicht nöthig war«,65 sondern insgesamt stärker den Geist der schulmetaphysischen Traditionen atmet als das deutsche. Das gilt insbesondere für die natürliche Theologie. Hatte Wolffs Deutsche Metaphysik unter dem Einfluss des Empirismus – wie dann auch Tetens frühe Studie zu den Gottesbeweisen (1761) – noch ausschließlich auf einen vom Selbstbewusstsein ausgehenden Gottesbeweis ex contingentia mundi vertraut, so holt die lateinische Fassung nicht nur den ontologischen Gottesbeweis der Schultradition nach, sondern bestimmt diesen förmlich zum Ausgangspunkt einer zweiten Fassung der natürlichen Theologie: Sie führt den Beweis der Wirklichkeit und der Eigenschaften Gottes aus dem Begriff eines vollkommenen Seienden. Dass Wolff auch dabei wiederum von der menschlichen Seele ausgehen konnte,66 bot natürlich für Tetens eine ideale Vorlage, um Metaphysik und psychologische Analysis miteinander zu verschränken. Unbeschadet der von Tetens offen zugestandenen Unmöglichkeit, damit einen empiristischen Kritiker überzeugen zu können, ist die Rehabilitierung des dem ontologischen Beweis zugrunde liegenden Gottesgedankens (ens realissimum/perfectissimum) allerdings aus der inneren Logik der rationalen Theologie heraus betrachtet durchaus folgerichtig, wie dann nicht zuletzt Kants Kritik der reinen Vernunft zeigen wird.67 (3) Doch der Vergleich mit Wolff offenbart noch eine weitere Eigentümlichkeit von Tetens’ rationaler Theologie. Gerade in der Reformulierung von metaphysischen Spitzentheoremen zeigt sich eine Entfremdung von der Vergewisserungsstrategie des neuzeitlichen Rationalismus. Obwohl der rationalistische Systemgedanke noch vorausgesetzt wird, bleibt Tetens bei der bloßen Appellation an dessen Durchführbarkeit. Daran wird erkennbar, dass das Zutrauen in die Evidenzbasis der schulmäßigen Metaphysik schwindet. Während bei Wolff aus dem gedoppelten Gottesbeweis der Gegenstand der rationalen Theologie förmlich erzeugt wird, um dann aus dem so gewonnenen Begriff alle Eigenschaften und Tätigkeiten Gottes zu entwickeln, finden wir bei Tetens’ nur noch mehr oder weniger lose verbundene ›Versuche‹, ›Gedanken‹ und Mikroanalysen, die jeweils bloß Teilaspekte des Lehrsystems verhandeln und bereits angrenzende Problemfelder methodisch ausgrenzen müssen. An die Stelle der Entfaltung des Systems tritt eine Plausibilisierung durch Beobachtung und psychologische Analyse, die freilich in der natürlichen Theologie laufend an ihre metaphysischen Grenzen stößt bzw. eine ›Kluft‹ aufdeckt. Aufs Ganze gesehen stehen so in Tetens’ rationaler Theologie weitreichende, gleichwohl nicht mehr argumentativ entwickelte ontotheologische Prämissen neben psychologischen und epistemologischen Miniaturen, allenfalls noch vermittelt durch das metaphysische Seelenkonzept leibnizianischer Provenienz. Ob die Edition der Metaphysik-Vorlesung Tetens’ dieses Bild zu korrigieren vermag, bleibt abzuwarten – die mögliche Differenz zum veröffentlichen Œuvre bliebe freilich zu erklären.68 (4) Gerade in ihrer vielschichtigen Ambivalenz muss die Studie jedoch als ein früher Ausdruck eines Epochensyndroms gewürdigt werden: Tetens hat in seiner Abhandlung Ueber die Realität unseres Begriffs von der Gottheit mit sicherem Instinkt die Krise des Theismus identifiziert: 65 66 67 68

Ebd., S. 138. Wolff: Theologia naturalis. Pars II (s. Anm. 36), S. 41f. (§ 70). Vgl. dazu die ersten beiden Abschnitte des dritten Hauptstücks des zweiten Buchs der transzendentalen Dialektik – Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 567/B 595–A 583/B 611). Vgl. dazu den Beitrag von Michael Sellhoff in diesem Band.

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An die Stelle eines geschlossenen Lehrstücks De Deo treten weit vorsichtiger am Begriff der Gottheit orientierte Reflexionsgänge. Tetens stellt sich damit der Krise eines Paradigmas, die mindestens die folgenden Jahrzehnte den religionsphilosophischen Diskurs beherrschen und letztlich zur Herausbildung einer Theorie des religiösen Bewusstseins beitragen wird. Diese übernimmt dann das Erbe der traditionellen Ontotheologie. Ich erinnere nur an den zwei Jahre später, also 1785, von Jacobi ausgelösten Pantheismusstreit, der auf ganz eigene Weise die Theismuskrise markiert und gegen Jacobis Intentionen allererst die Sympathien der Gebildeten für den Spinozismus offenbart. Eine andere Konstellation begegnet im Atheismusstreit um Fichte, und auch Schleiermachers das Jahrhundert abschließende ›Reden über die Religion‹ sind ein Manifest für eine religionsphilosophische Alternative zum herkömmlichen Theismus.69 Demgegenüber zielt Tetens’ sich an Humes Positivismus ab-arbeitende Auseinandersetzung mit jener Krise nicht auf eine Überwindung des Theismus, sondern auf den Versuch seiner Plausibilisierung. Das Festhalten an einer rationalistischen Ontotheologie dürfte dabei aus heutiger Sicht nur noch von historischem Interesse sein. Das gilt aber schon nicht mehr für die religionsphilosophische Würdigung einer personalen Gottesvorstellung. Vor allem die sich in der Studie selbst abzeichnende Abwertung eines spekulativen Gottesgedankens zugunsten einer aus dem (praktischen) Selbstbewusstsein motivierten religiösen Weltdeutung sowie die vollzogene Neubewertung des analogischen Ausdrucks präfigurieren dabei eine Theorieform, die auch für die weitere Geschichte der Religionsphilosophie Relevanz hat. Das belegt nicht zuletzt ein Vergleich mit demjenigen Zeitgenossen, mit dem verglichen zu werden zum Schicksal für Tetens im positiven wie im negativen Sinne geworden ist. Denn Kants Kritizismus vollzieht die Umstellung von Ontotheologie auf Theorie des religiösen Bewusstseins mit aller Konsequenz, wobei bekanntlich die teleologische Urteilskraft dabei zum Schlüsseltheorem avanciert. Und in den im selben Jahr wie der zweite Teil von Tetens’ Studie über den Begriff der Gottheit erschienenen Prolegomena kann Kant seinerseits in Auseinandersetzung mit der Theismuskritik Humes einen »dogmatischen Anthropomorphismus« zwar ablehnen, einen »symbolischen Anthropomorphism« aber vor den »Anmaßungen« des Empirismus verteidigen.70

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Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die gebildeten unter ihren Verächtern. In: ders.: Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Hans-Joachim Birkner u. a., Bd. I,2. Berlin, New York 1984, S. 185–326. Neben den Spitzenbegriffen des Universums oder des Unendlichen findet sich hier ebenfalls die Verwendung des Begriffs der Gottheit, während die ›von der Richtung der Phantasie‹ abhängende personale Gottesvorstellung religionsphilosophisch depotenziert wird; vgl. ebd., S. 110–115. Vgl. Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. In: Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften [u. a.]. Berlin 1900ff., 1. Abt., Bd. 4. Berlin 1911, S. 357, 351 (§ 57).

II. ERKENNTNISTHEORIE IM KONTEXT

HOLM TETENS

Johann Nikolaus Tetens und die Humesche Herausforderung

1. Humes Herausforderung Sehr viele Wissenschaftsphilosophen und die Mehrheit der Wissenschaftler beschreiben die zentrale Aufgabe der Naturwissenschaften immer wieder in folgender Weise: Die Naturwissenschaften erklären die Ursachen von Phänomenen in der Natur, indem sie sie unter Naturgesetze subsumieren. Drei Begriffe kommen damit ins Spiel: »Naturgesetz«, »Kausalität«, »Kausalerklärung«. Die eben in Erinnerung gerufene Standardbeschreibung für die Ziele der Naturwissenschaften wird freilich nur in dem Maße gehaltvoll, wie die aufgeführten Begriffe und weitere zureichend geklärt werden. Daran arbeitet sich die Wissenschaftsphilosophie ab. Bis heute tut sie sich mit den aufgeführten Begriffen schwer. So viel freilich lässt sich immerhin sagen: Gelingt es einen der Begriffe halbwegs präzise zu explizieren oder gar zu definieren, bereiten die anderen Begriffe keine Schwierigkeiten mehr. Angenommen, wir verfügten über einen hinreichend geklärten Begriff von Naturgesetz, dann ließen sich die Begriffe »Kausalität« und »Kausalerklärung« in folgender Weise definieren: Ein Ereignis X verursacht ein Ereignis Y genau dann, wenn es ein Naturgesetz N gibt, sodass aus der Beschreibung des Ereignisses X und des Naturgesetzes N eine Beschreibung des Ereignisses Y logisch gültig folgt. Das Argument, das den verlangten Schluss beinhaltet, nennen wir dann eine »Kausalerklärung«. Doch was ist ein Naturgesetz? Bis heute steht eine verbindliche Definition des Begriffs aus. Einig ist man sich allerdings darüber, dass zum Beispiel die Stoßgesetze, die zeitabhängige Schrödingergleichung der Quantenmechanik oder die Feldgleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie Naturgesetze sind. Gerhard Vollmer verdanken wir eine Aufzählung aller Sätze, denen niemand den Ehrentitel »Naturgesetz« ernsthaft streitig macht.1 Logisch betrachtet sind alle Sätze der Liste allquantifizierte Wenn-Dann-Aussagen oder eben mathematische Gleichungen zwischen Größen. Reicht das zur Charakterisierung eines Naturgesetzes? Nein, das reicht nicht. Denn wir können uns leicht Umstände denken, wo wir zum Beispiel ständig und ausnahmslos beobachten, dass auf ein Ereignis vom Typ A immer ein Ereignis vom Typ B folgt, wo aber dieser empirische stets erneut beobachtete und daher sich bestäti1

Gerhard Vollmer: Kandidaten für Naturgesetze. In: Philosophia Naturalis 37 (2000), Heft 2, S. 193–204.

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gende Zusammenhang trotzdem rein zufällig ist und daher keinen wirklich naturgesetzlichen Zusammenhang darstellt. Denn der Zusammenhang zwischen den Ereignistypen darf nicht zufällig sein, er muss auf irgendeine Weise als notwendig verstanden werden. Was aber heißt hier »Notwendigkeit«? Darauf antwortet Hume, das heiße gar nichts, denn wir beobachteten nun einmal nie etwas anderes, als dass auf ein Ereignis vom Typ A stets ein Ereignis vom Typ B zeitlich folgt. Mehr gebe die Erfahrung nicht her. Wenn wir eine weitergehende Notwendigkeit des Zusammenhangs behaupten, können wir uns, so Hume, auf Erfahrung nicht mehr berufen. Nach Hume legitimiert Erfahrung solche Notwendigkeitsbehauptungen nicht. Das ist der Kern von Humes Herausforderung.2 Humes Herausforderung ist weiterhin aktuell. Schon Johann Nikolaus Tetens fühlte sich durch Hume herausgefordert. An mehreren Stellen seiner philosophischen Schriften nimmt er sich dieser Herausforderung an, in seiner philosophieprogrammtischen Schrift Über die allgemeine speculativische Philosophie aus dem Jahre 1775 und dann gleich zweimal in längeren Passagen in seinem Hauptwerk, den Philosophische[n] Versuche[n] über die menschliche Natur und ihre Entwickelung aus dem Jahre 1777. Tetens ist Empirist. Was das bei ihm bedeutet, werden wir gleich noch genauer zu betrachten haben. Empirist ist Tetens erst einmal darin, dass er Humes Verweis auf die zentrale Rolle von Beobachtungen zeitlich aufeinander folgender Ereignisse beipflichtet. Doch schickt Tetens ein »Aber« hinterher. Zu beobachten, wie Ereignisse zeitlich aufeinander folgen, sei zu wenig. Humes skeptischer Resignation, eine vernünftige Rechtfertigung für Notwendigkeitsbehauptungen im Zusammenhang mit Kausalität und Kausalerklärungen sei unmöglich, erteilt Tetens eine schroffe Absage. Eine Ursache stehe mit ihrer Wirkung in einem »notwendigen« Zusammenhang. Daran möchte Tetens nicht rütteln lassen, genauso wenig wie daran, dass das allgemeine Kausalprinzip »Jedes Ereignis ist verursacht« eine notwendig wahre Vernunfterkenntnis sei. So muss Tetens, will er Empirist bleiben, gegen Hume bezweifeln, dass man mit diesen beiden Zugeständnissen dem Empirismus den Rücken kehrt. Bei Tetens steht zwar die damalige Metaphysik von Leibniz und Wolff im Vordergrund, doch auch ohne diesen speziellen philosophiehistorischen Kontext verdient Tetens insofern unsere Aufmerksamkeit, als er über ein Problem nachdenkt, das bis heute nicht überzeugend gelöst ist. Zwei Teilantworten von Tetens auf die humesche Herausforderung sind besonders interessant. Ich werde mich mit ihnen nacheinander befassen. Später werde ich zeigen, dass sie nicht zusammenpassen.

2. Rational begründete Naturgesetze Tetens wendet kritisch gegen Humes Überlegungen unter anderem ein: Man setze, ein überlegender Mann sehe eine Kugel auf eine andere zufahren, und an selbige anstoßen, und es höre in diesem Augenblick die Empfindung auf; sollte er den Erfolg nicht von selbst sich ausdenken können, wenigstens im Allgemeinen und unbestimmt, ohne ihn jemals empfunden zu haben? vorausgesetzt, dass er mit den nöthigen Vorbegriffen von der Bewegung und von der Undurchdring2

Vgl. David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Hamburg 1964, S. 74–95.

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lichkeit versehen ist. Kann und muss nicht seine Ueberlegungskraft den Gedanken, dass der Zustand der Einen oder der andern dieser beiden Kugeln, oder beider nothwendig eine Veränderung erleiden müsse, von selbst aus der Vergleichung jener Grundbegriffe hervorbringen? Muß nicht der fortarbeitende, und den Stoß, so weit er ihn empfunden hat, sich vorstellende Verstand durch Raisonnement zu dem Schlußurtheil kommen, dass irgendwo eine Veränderung von dem Stoße entstehen müsse? Die eine Kugel nimmt ihren Weg auf die andere zu, und zwey Körper können nicht zugleich denselbigen Ort einnehmen. Dieß würde Statt finden müssen, wenn die anstoßende Kugel ihren Weg ungehindert verfolgen und die ruhende ihre Stellung unverändert behalten sollte.3

Was Tetens hier sagt, ist verblüffend. Wir sind nicht auf Beobachtungen angewiesen, diese Beobachtungen können wir uns unterbrochen denken, und trotzdem wüssten wir a priori, und zwar aus der Kenntnis entsprechender Begriffe, was passieren wird, wenn eine Kugel ungehindert direkt auf eine andere Kugel zurollt. Der folgende Satz ist nämlich analytisch wahr, er folgt aus begrifflichen Bestimmungen: »Wenn ein bewegter Körper X an einen für ihn undurchdringlichen Körper Y stößt, so wird mindestens der Bewegungszustand eines der Körper durch den Stoß verändert«. Wer die Bedeutung der Begriffe »für einander undurchdringlicher Körper«, »Bewegung«, »Schnelligkeit«, »Richtung«, »Berührung«, »derselbe Körper« überhaupt verstanden hat, weiß dann auch, dass der obige Satz wahr ist. Dieser analytisch oder begrifflich wahre Satz lässt sich als Schlussprinzip für ein Argument verwenden, mit dem man voraussagt, was passieren wird, sieht man eine Billardkugel auf eine andere zurollen, vorausgesetzt man weiß, dass die Kugeln für einander undurchdringlich sind. Man kann das Argument, das Tetens im Sinn hat, so darstellen: 1. 2. 3.

Prämisse: Die Billardkugel a bewegt sich ungehindert direkt auf die für sie undurchdringliche und ruhende Billardkugel b zu. Schlussprinzip: Wenn ein bewegter Körper X an einen für ihn undurchdringlichen Körper Y stößt, so wird mindestens der Bewegungszustand eines der Körper durch den Stoß verändert. Konklusion: Mindestens bei einem der beiden Körper a und b wird der Bewegungszustand, den er vor dem Stoß hatte, durch den Stoß verändert.

Inwiefern wendet Tetens diese Überlegungen kritisch gegen Hume? Hume zeichnet in gewisser Weise eine Karikatur von der Vorgehensweise der Naturwissenschaften. Es ist keineswegs so, dass wir nichts anderes in der Hand haben als die Erfahrung, dass bestimmte Typen von Ereignissen regelmäßig einander zeitlich folgen. Immer wieder kommt Tetens in den Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwickelung darauf zu sprechen, dass wir auch verlangen, dass sich die Zusammenhänge »begreifen« lassen, wie er sagt. Die Fallunterscheidung dessen, was beim Zusammenstoß zweier für einander undurchdringlicher Körper geschehen wird, ist als analytisch wahrer Satz sehr gut zu begreifen. Überhaupt »begreifen« wir naturgesetzliche Zusammenhänge dann als nicht bloß »zufällige«, wenn sie sich aus einfachen evidenten Prinzipien logisch ableiten lassen.

3

Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig 1777 [im Folgenden zitiert als: PV Band, Seitenzahl (Versuch, Kapitel, Abschnitt)], hier Bd. I, S. 318f.

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Lassen sich die wichtigen Naturgesetze aus ganz einfachen Prinzipien herleiten? Ja, das ist nicht nur möglich, das geschieht auch oft und ist sogar in gewisser Weise nötig.4 Allzu oft wird das übersehen. Hume ignoriert es vollständig. Ein Meister darin, die Naturgesetze aus ganz einfachen Prinzipien logisch zu deduzieren, war der Empirist Ernst Mach. Sein Buch Die Mechanik. Historisch-kritisch dargestellt enthält eine Fülle solcher Ableitungen.5 Wichtige Gesetze der Mechanik leitet Mach zum Beispiel aus dem Prinzip her: Die Bewegung eines Körpers kann nur durch andere Körper außerhalb derselben bestimmt sein. Dieses Prinzips lässt sich auch so formulieren: Wenn sich die Bewegung eines Körpers ändert, so muss die Bewegungsänderung durch die dem Körper äußerlichen Umstände und damit durch andere Körper in seiner Umgebung erklärt werden. Dies ist ein methodologisches Metaprinzip, und die rationalistischen Metaphysiker hätten es ebenso wie Tetens sicher als eine Vernunftwahrheit akzeptiert. Den Energieerhaltungssatz hält Mach sowieso für nichts anderes als eine Umformulierung des Kausalprinzips.6 Mach steht nicht alleine mit seiner Idee, alle Naturgesetze möglichst auf wenige einfache und einsichtige, vor allem methodologische Metaprinzipien zurückzuführen. Ähnliches unternimmt Kant in seiner Schrift Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft; Ähnliches versuchen Carl Friedrich von Weizsäcker und sein Schüler Michael Drieschner und, noch auf andere Weise, auch der theoretische Physiker Peter Mittelstaedt für die Quantenmechanik.7 Weitere Namen ließen sich aufzählen.8 Auch Tetens ist hier zu nennen. Er hat zwar eine rational begründete Physik nicht ausgearbeitet, aber sie schwebt ihm ganz offenkundig vor Augen. Kommen wir noch einmal auf das Beispiel von Tetens zurück. Natürlich sind wir mit der analytisch wahren Aussage darüber, was nach dem Stoß zweier Kugeln passieren wird, noch nicht bei den Stoßgesetzen, also dem Impulserhaltungssatz und für den elastischen Stoß zusätzlich bei dem Satz von der Erhaltung der kinetischen Energie. Aber die Sachlage ändert sich, sobald man den analytisch wahren Satz von Tetens in folgender Weise ergänzt: Die Änderung des Bewegungszustandes bei mindestens einem der beiden Körper ist allein auf den Stoß zurückzuführen, sodass die Bewegungszustände (Geschwindigkeiten) nach dem Stoß allein eine Funktion sind der Bewegungszustände der Körper im Augenblick des Stoßes und des unterschiedlichen Widerstands, den jeder Körper einer Bewegungsänderung entgegensetzt (= träge Masse). Daraus lässt sich der Impulserhaltungssatz herleiten, was hier aber nicht vorgeführt werden soll. 4 5

6 7

8

Vgl. auch Holm Tetens: Selbstreflexive Physik – Transzendentale Physikbegründung am Beispiel des Strukturenrealismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 3/2006, S. 431–448. Vgl. Ernst Mach: Die Mechanik. Historisch-kritisch dargestellt. Unveränderter reprografischer Nachdruck der 9. Auflage [EA Leipzig 1933]. Darmstadt 1976; vgl. dazu auch die instruktiven Überlegungen in: Hugo Dingler: Die Grundgedanken der Machschen Philosophie. Leipzig 1924, besonders S. 33–53. Vgl. Ernst Mach: Die Geschichte und die Wurzel der Geschichte der Arbeit. Prag 1872. Vgl. Carl Friedrich von Weizsäcker: Aufbau der Physik. München 1985; Michael Drieschner: Voraussage – Wahrscheinlichkeit – Objekt. Über die begrifflichen Grundlagen der Quantenmechanik. Berlin, Heidelberg, New York 1979; Michael Drieschner: Moderne Naturphilosophie. Eine Einführung. Paderborn 2002; Peter Mittelstaedt: Über eine rationale Rekonstruktion der Quantenmechanik. In: Peter Bernhard u. Volker Peckhaus (Hg.): Methodisches Denken im Kontext. Festschrift für Christian Thiel. Paderborn 2008, S. 303–314. Etwa Emile Meyerson: Identität und Wirklichkeit. Leipzig 1930, oder auch die Schule des Erlanger Konstruktivismus.

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Tetens ist ein sehr früher Vertreter einer wissenschaftlichen und wissenschaftsphilosophischen Tradition, für die, im Gegensatz zu Mach, der humesche Traditionsstrang des Empirismus immer blind gewesen ist. Will man diese wissenschaftsphilosophische Tradition ganz kurz zusammenfassen, so lautet ihre Hauptthese: Wie gut Experimente und Beobachtungen eine mathematische Gleichung auch bestätigen, die Gleichung stellt erst dann ein quantitatives Naturgesetz dar, wenn zumindest die Form der Gleichung a priori aus der Analyse von Begriffen und metatheoretischen Prinzipien logisch abgeleitet werden kann. Jedes Naturgesetz weist bestimmte a priori begründbare Aspekte auf. Tetens korrigiert also Humes Fehleinschätzung, wonach Naturgesetze nichts anderes seien als induktiv verallgemeinerte Beobachtungen, dass auf Ereignisse eines bestimmten Typs stets Ereignisse eines anderen Typs zeitlich folgen. Aber Tetens geht in seiner Kritik an Hume weiter. Man muss eine Feststellung wie »Stoßvorgänge gehorchen dem Impulserhaltungssatz« unterscheiden von dem generellen Kausalprinzip, das Tetens so formuliert: »Nichts entstehet ohne eine Ursache«.9 Er nennt es ein »Axiom der Vernunft«10 und »schlechthin nothwendig«,11 jedenfalls in bestimmten Fällen. Das alles richtet sich erneut gegen Hume. Wenden wir uns den Überlegungen von Tetens zum Kausalprinzip zu.

3. Eine denkpsychologische Begründung des Kausalprinzips? In seiner Programmschrift Über die allgemeine speculativische Philosophie fasst Tetens seine Spielart des Empirismus einmal in folgender Weise zusammen: Die transcendente Philosophie, oder die Grundwissenschaft, muß zuvörderst als ein Theil der beobachtenden Philosophie von dem menschlichen Verstande und seinen Denkarten, seinen Begriffen und deren Entstehungsarten, behandelt werden, ehe sie zu einer allgemeinen Vernunftwissenschaft von den Gegenständen ausser dem Verstande gemacht werden kann.12

Für den Empiristen Tetens gibt es Vernunftwahrheiten. Aber welche Sätze Vernunftwahrheiten sind und warum sie es sind, das kann allein eine empirische Psychologie des menschlichen Erkenntnisvermögens entdecken und begründen. Was ist von diesem Programm zu halten? Ein Psychologe kann bei anderen Menschen beobachten, welche Meinungen sie äußern oder welchen Meinungen sie zustimmen, welche Schlussfolgerungen sie ziehen, wie sie Begriffe verwenden und definieren. Dass der Psychologe das beobachtet, heißt vor allem, dass er erst einmal selber die Meinungen, Schlussfolgerungen und Begriffsexplikationen nicht als wahr oder falsch, gültig oder ungültig, angemessen oder unangemessen beurteilt. Als Psychologe kann er zum Beispiel den Befund erheben, dass alle oder fast alle Menschen einer bestimmten Meinung zustimmen oder eine bestimmte Folgerung ziehen, obwohl er selbst diese Meinung für falsch 9 10 11 12

PV I, S. 501 (7. II. 9.). Ebd. Ebd., S. 497f. (7. II. 8.). Johann Nikolaus Tetens: Ueber die allgemeine speculativische Philosophie. Bützow, Weimar 1775, S. 72 (zitiert nach dem Nachdruck: Neudrucke seltener philosophischer Werke. Hg. von der Kantgesellschaft. Band IV. Berlin 1913).

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oder die Folgerung für einen glatten Fehlschluss hält. Aber wie soll sich aus einem empirischen Befund über das Denken der Menschen entdecken und begründen lassen, dass etwas von dem Gedachten wahr ist, gar, dass es notwendigerweise wahr ist? Nun denkt Tetens, das zeigen seine Texte deutlich, nicht in erster Linie an so etwas wie empirische Meinungserhebungen, obwohl auch Bemerkungen von dieser Art in seinen Schriften gelegentlich vorkommen. In erster Linie geht es bei Tetens um Selbstbeobachtungen. Allein, wie beobachte ich mein eigenes Denken? Erst einmal muss ich etwas gedacht haben. Erst danach vermag ich in einem zweiten Schritt auf der Metastufe festzustellen, dass ich das und das gedacht habe, dass ich das und das dabei fühle und empfinde und so weiter. Aber in einem strengen Sinne »beobachte« ich das eigene Denken nur dann, wenn ich mein Urteil über die Wahrheit des Gedachten unterdrücke oder einklammere. Mithin kann ich in der Selbstbeobachtung bestenfalls Sachverhalte der Art feststellen: Immer wenn die Umstände U vorliegen, denke ich begleitet von einem starken Evidenzgefühl, dass etwas auf Gegenstände eines bestimmten Typs zutrifft. Kann ich daraus schon erkennen, ob es sich tatsächlich so verhält, gar, ob es sich notwendigerweise so verhält? Wie Tetens Vernunftwahrheiten durch Beobachtung unseres Denkens rechtfertigen will, lässt sich in folgender Weise als Argument rekonstruieren: 1. 2. 3. 4.

Prämisse: Unter dem Umstand U sieht sich jedermann genötigt zu denken, dass auf G-Gegenstände F zutrifft. Prämisse: Wenn unter den Umstand U sich jedermann genötigt sieht zu denken, dass auf G-Gegenstände F zutrifft, so ist es notwendig wahr, dass auf G-Gegenstände F zutrifft. Schlussprinzip: Besteht eine hinreichende Bedingung dafür, dass x der Fall ist, so ist x der Fall. Konklusion: Also ist es notwendig wahr, dass F auf G-Gegenstände zutrifft.

Eine Prämisse vom Typ 2 ist allerdings prinzipiell problematisch. Entweder denken unter dem Umstand U alle Personen, dass G-Gegenstände die Eigenschaft F besitzen, und das stellt sich jedes Mal nachträglich als wahr heraus. Dann jedoch hat man die Aussage »Für G-Gegenstände gilt F« mit Hilfe bestimmter Gründe verifiziert. Und es sind diese Gründe, die es vernünftig erscheinen lassen, die Aussage für wahr zu halten. Oder aber der Umstand U ist selber ein vernünftiger Grund dafür, dass G-Gegenstände die Eigenschaft F besitzen. Erneut ist nicht die empirische Tatsache, dass wir unter der Bedingung U faktisch immer denken, auf G-Gegenstände treffe F zu, der Grund für die Wahrheit des Gedankens. Letztlich liegt dem Programm von Tetens ein eigentlich leicht zu durchschauender Fehlschluss zugrunde. Eine Aussage wie »p ist der Fall« folgt ohne weitere Prämissen weder aus der Aussage »Alle Menschen denken, dass p« noch aus der Aussage »Alle Menschen fühlen sich genötigt zu denken, dass p der Fall ist«. Nein, so wie Tetens sich programmatisch die Rechtfertigung von Vernunftwahrheiten zurechtlegt, lassen sie sich niemals rechtfertigen. Diese grundsätzlichen Bedenken werden noch deutlicher, betrachtet man, wie Tetens das Kausalprinzip zu rechtfertigen versucht. Er schreibt: Der Dummkopf denket nicht weiter, als auf die ihm vorliegende Idee von dem werdenden Ding; seine Reflexion ist mit der Ergreifung dieser Idee schon genug beschäftigt, und endiget dabey ihre ganze Wirksamkeit. Er denket also gar nicht an eine Ursache, und läugnet sie ebenso wenig ab, als er sie be-

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hauptet. Was er erlanget, ist eine Idee von den Dingen, die geworden sind, aber er stellt sich solche nicht als gewordene Dinge vor. Man mache den Versuch, sich entstandene Dinge als entstandene, ohne Ursache vorzustellen, so wird das innere Selbstgefühl es sagen, daß mit der Idee des Entstehens und des Werdens die Idee von einer hervorbringenden Ursache […] innig verbunden sey.13 In der Tat enthält unser gewöhnlicher Grundbegriff von dem Entstehen schon die Idee von einer Abhängigkeit und ursachlicher Verbindung in sich.14

Tetens konstatiert also, dass wir uns das Entstehen eines Sachverhalts nicht ohne Ursache denken können, obwohl wir oft Sachverhalte wahrnehmen, deren Ursache wir nicht beobachtet haben. Warum müssen wir so denken? Die Zitate legen mehr als nahe, dass Tetens begrifflich notwendige Zusammenhänge vor Augen stehen. Sachlich ist das freilich nicht einsichtig. Der Begriff des Entstehens eines Sachverhaltes beinhaltet begrifflich notwendig, dass es in der Vergangenheit einen Zeitpunkt gegeben haben muss, zu dem er noch nicht bestand. Dass der Sachverhalt nur entstehen konnte, weil er durch etwas anderes verursacht wurde, ist hingegen nicht definitorisch im Begriff des Entstehens eingeschlossen, jedenfalls nicht offenkundig. Und selbst wenn es so wäre, könnte eine solche Definition ja unangemessen sein; zum Beispiel deshalb, weil gewisse Sachverhalte unverursacht entstehen. Wollte Tetens nicht gerade das Letztere erst als Vernunfteinsicht begründen? Wenn jedoch der Zusammenhang zwischen dem Eintreten eines Ereignisses und seiner Verursachung nicht deshalb gedacht werden muss, weil die entsprechenden Begriffe nicht anders sinnvoll definiert werden können, aus welchen Gründen muss er dann gedacht werden? Tetens klärt das nicht auf. Diese Erklärungslücke tut sich drastisch an der Stelle in den Philosophischen Versuchen auf, wo er seine Überlegungen zum Kausalprinzip noch einmal zusammenfasst: Der Satz: Nichts wird ohne Ursache, ist darum ein nothwendiger Grundsatz unseres Verstandes, weil wir die Idee des Werdens theils nicht erlangen, und in uns gegenwärtig haben, ohne den Gedanken, daß das entstandene Ding von einem andern als von seiner Ursache abhange, theils aber, was hier das vornehmste ist, diesen Begriff auf kein Ding anwenden können, ohne den Gedanken von ursächlicher Verbindung hineinzutragen.15

Was Tetens hier sagt, deutet bestenfalls vage abermals einen begrifflichen Zusammenhang an. Er führt den begrifflichen Zusammenhang jedoch nicht aus. Aber Begriffsdefinitionen vermögen hier sowieso nichts auszurichten. So bleibt am Ende nur: Für Tetens ist es ein denkpsychologisches Faktum, dass wir uns jedes Ereignis verursacht denken. Dieses denkpsychologische Faktum als solches begründet jedoch nicht, warum das Kausalprinzip uneingeschränkt gelten soll. Ein einsichtiger Grund, warum wir das Entstehen eines Sachverhalts nicht ohne eine Ursache denken können, steht weiterhin aus.

13 14 15

PV I, S. 502 (7. II. 9.). Ebd., S. 506 (7. II. 9.). Ebd., S. 515 (7. II. 11.).

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4. Kant und Tetens über das Kausalprinzip Tetens war nicht der Einzige, der die Humeschen Herausforderung meistern wollte. Noch viel berühmter als Tetens’ Auseinandersetzung mit Hume ist Kants Kritik an Hume. Zu Recht, wie sich schnell ersehen lässt. Denn in seiner Kritik der reinen Vernunft greift Kant auf dialektisch ungewöhnlich geschickte und scharfsinnige Weise Humes Skepsis gegenüber dem Kausalprinzip an. Hume zweifelt nicht, dass wir objektiv beobachten können, wenn ein Ereignis zeitlich auf ein anderes folgt. Dagegen bezweifelt er die Möglichkeit, das Kausalprinzip rational zu rechtfertigen. Daran stößt sich Tetens, und daran stößt sich Kant. Aber Tetens, auf dem Boden einer empirischen Denkpsychologie verharrend, misslingt ein Ausweg. Kant geht viel tiefsinniger zu Werke. Er entdeckt bei Hume eine fundamentale Inkohärenz. Man kann, so Kant, die zeitliche Reihenfolge von Ereignissen gar nicht objektiv beobachten, ohne sich auf das Kausalprinzip zu stützen. Kants Überlegung ist im Prinzip einfach.16 Wer eine Aussage wie »Das Ereignis E2 tritt zeitlich später als das Ereignis E1 ein« als objektives Erfahrungsurteil behauptet, müsse, so Kant, zwischen der subjektiven zeitlichen Reihenfolge seiner Wahrnehmungsakte und der objektiven Reihenfolge der Wahrnehmungsinhalte unterscheiden. Für diese Unterscheidung müsse man jedoch auf das Kausalprinzip zurückgreifen. Denn ein Ereignis E1 ist zeitlich früher als ein Ereignis E2, wenn der Akt der Wahrnehmung von E1 dem Akt der Wahrnehmung von E2 vorausgeht und man diese Reihenfolge nicht hätte umkehren können. Dass man diese Reihenfolge nicht umkehren könne, wisse man aber erst, nachdem man E1 und E2 als durch ein Kausalgesetz miteinander verbunden erkannt habe. Einen objektiven Beobachtungssatz der Form »Das Ereignis E1 findet zeitlich früher als das Ereignis E2 statt« zu begründen, verweist uns nach Kant auf das Kausalprinzip. Oder anders gesagt: Wer das Kausalprinzip mit Berufung auf objektivierbare Beobachtungssachverhalte in Raum und Zeit bestreitet, setzt sich mit dem Inhalt seiner Behauptung in Widerspruch zu den Bedingungen, ohne die er seine Kritik am Kausalprinzip gar nicht vernünftig zu begründen vermag. Kant argumentiert also folgendermaßen: 1. 2. 3. 4. 5.

16

Prämisse: Wir können das Entstehen von Sachverhalten objektiv beobachten. Prämisse: Wir können das Entstehen von Sachverhalten nur objektiv beobachten, wenn wir zwischen der zeitlichen Reihenfolge der Wahrnehmungsakte und der zeitlichen Reihenfolge des Wahrgenommenen unterscheiden. Prämisse: Wir können beides nicht unterscheiden, ohne einen Sachverhalt zeitlich vor dem entstandenen Sachverhalt über ein Kausalgesetz mit dem letzteren verbunden zu denken. Schlussprinzip: Was als notwendige Bedingungen für die objektive Erkennbarkeit von Gegenständen hinreichend begründet ist, gilt von allen erkennbaren Sachverhalten. Konklusion: Also gilt für alle erkennbaren Sachverhalte, dass sie ohne Ursache nicht entstehen können.

Vgl. die Überlegungen Kants zur Begründung der »zweiten Analogie der Erfahrung« in der Kritik der reinen Vernunft, B 232–256.

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Das Schlussprinzip des obigen Arguments »Was als notwendige Bedingungen für die objektive Erkennbarkeit von Sachverhalten hinreichend begründet ist, gilt von allen erkennbaren Sachverhalten« ist Kants Grundsatz der Transzendentalphilosophie: Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung.17 Mit diesem Schlussprinzip ist auch ein Grund gefunden, der es erlaubt, von einem Satz der Art »Menschen denken, dass p« auf »p ist der Fall« zu schließen. Wenn sich nämlich ohne den Gedanken, dass auf Gegenstände etwas Bestimmtes zutrifft, gewisse Gegenstände gar nicht erkennen ließen, die wir jedoch offensichtlich erkennen können. Einen solchen Grund bleibt Tetens uns schuldig, so lange er gewisse Gedanken nur als »psychologischen Denkzwang« ausweist. Denkt er den Gedanken als transzendental, d.h. als notwendig für die Erkennbarkeit von Gegenständen, hat er den Beobachterstandpunkt des Psychologen eingetauscht gegen ein sachbezogenes Denken. Er ist nun nicht mehr Beobachter, sondern Teilnehmer am Spiel, Gründe zu geben und zu nehmen. Kant hat, wie wir aus schriftlichen Zeugnissen Kants wissen, Tetens als Weggefährten der eigenen Philosophie geschätzt. Dieses Wohlwollen Kants Tetens gegenüber kann man durchaus nachvollziehen. Vom Ergebnis her will Tetens in der Auseinandersetzung mit Hume auf dasselbe hinaus wie Kant. Auch darin ist Tetens für Kant Bündnispartner, als Tetens die Möglichkeiten und Grenzen der Metaphysik ausloten will, und zwar durch eine kritische Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens. Allerdings trennt sie etwas Entscheidendes: Kant betätigt sich vom Teilnehmerstandpunkt des Gebens und Nehmens von Vernunftgründen aus als Kritiker der Metaphysik. Das Subjekt der Metaphysikkritik ist bei Kant die Vernunft selber. Tetens hingegen will die Kritik der Metaphysik vom Beobachterstandpunkt empirischer Denkpsychologie aus vollziehen. Ist das nicht ein Unterschied ums Ganze? Nun, es ist in der Tat ein Unterschied, dass Tetens auf ein Argumentationsmuster mit einer mehr als fraglichen Prämisse zurückgreift. Hier noch einmal dieses Argumentationsmuster: 1. 2. 3. 4.

Prämisse: Unter dem Umstand U sieht sich jedermann genötigt zu denken, dass auf GGegenstände F zutrifft. Prämisse: Wenn unter den Umstand U sich jedermann genötigt sieht zu denken, dass auf G-Gegenstände F zutrifft, so ist es notwendig wahr, dass auf G-Gegenstände F zutrifft. Schlussprinzip: Besteht eine hinreichende Bedingung dafür, dass x der Fall ist, so ist x der Fall. Konklusion: Also ist es notwendig wahr, dass F auf G-Gegenstände zutrifft.

Kant hingegen benutzt für seine Rechtfertigung gewisser Vernunftwahrheiten ein Argumentationsmuster, das sich diesen Vorwurf nicht zuzieht. Man könnte es so zusammenfassen: 1. 2. 3.

17

Prämisse: Wir erkennen Gegenstände der Art G auf die Weise W. Prämisse: Gegenstände der Art G lassen sich nur auf die Weise W erkennen, wenn wir von ihnen denken, dass auf sie F zutrifft. Schlussprinzip: Was als notwendige Bedingungen für die objektive Erkennbarkeit von Gegenständen hinreichend begründet ist, gilt von allen erkennbaren Sachverhalten.

Vgl. ebd., B 197.

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Holm Tetens

4.

Konklusion: Also gilt für alle erkennbaren Sachverhalte der Art G, dass auf sie F zutrifft.

Ist Kant dieser erhebliche Unterschied zu Tetens nicht aufgefallen? Darüber will ich nicht spekulieren. Aber eines ist auffällig: Entgegen seiner Programmatik nimmt Tetens in vielen seiner Überlegungen nicht den Beobachterstandpunkt des Denkpsychologen ein und beobachtet nicht das Denken. Vielmehr denkt er mit Gründen nach. Das belegen seine überaus klugen und überraschenden Überlegungen zur kausalen Analyse am Beispiel von Stoßvorgängen. Freilich, Diskrepanzen zwischen der methodischen Selbstkommentierung eines Philosophen und dem, was er tatsächlich tut, kommen so selten nicht vor in der Geschichte der Philosophie. Außerdem, wie oft lassen gerade solche und andere Diskrepanzen einen Denker eher interessanter werden. Diese metaphilosophische Bemerkung zur Analyse der Philosophiegeschichte bewahrheitet sich bei Johann Nikolaus Tetens aufs Neue.

UDO THIEL

Zwischen Empirischer Psychologie und Rationaler Seelenlehre. Tetens über das Selbstgefühl

Wie sein schottischer Zeitgenosse Thomas Reid betreibt Tetens Philosophie mit historischem Bewusstsein. Immer wieder verortet er seine Position im Kontext der philosophiegeschichtlichen Vorgaben und verweist dabei auf eine Vielzahl von Denkern. In den Beiträgen zu diesem Band ist einiges zu lesen über Tetens und Berkeley, über sein Verhältnis zu Wolff, Reid, Bonnet und anderen.1 In der Vorrede zu seinen Philosophischen Versuchen von 1777 bekennt Tetens sich auch zu einer ganz bestimmten Tradition, der des Empirismus. Er spricht sich für eine an der Beobachtung orientierten Herangehensweise aus und stellt sein Hauptwerk als eine »psychologische Analysis der Seele« dar, »die auf Erfahrungen beruhet«.2 Des Weiteren sagt er zu seiner Methode: Was die Methode betrifft, deren ich mich bedient habe, so halte ichs für nöthig, darüber zum voraus mich zu erklären. Sie ist die beobachtende, die Lock bey dem Verstande, und unsere Psychologen in der Erfahrungs-Seelenlehre befolgt haben. Die Modifikationen der Seele so nehmen, wie sie durch das Selbstgefühl erkannt werden; diese sorgfältig wiederholt, und mit Abänderung der Umstände gewahrnehmen, beobachten, ihre Entstehungsart und die Wirkungsgesetze der Kräfte, die sie hervorbringen, bemerken; alsdenn die Beobachtungen vergleichen, auflösen und daraus die einfachsten Vermögen und Wirkungsarten und deren Beziehungen aufeinander aufsuchen.3

Dies, so sagt Tetens, seien die »wesentlichsten Verrichtungen«4 einer psychologischen Analyse der Seele. Und in der Tat beruft sich Tetens in seinen Versuchen wiederholt auf Erfahrung und Beobachtung. Dies bedeutet allerdings nicht, dass er eine bloße Ansammlung beobachtbarer Fakten anstrebt oder eine bloße Beschreibung der »Wirkungen der Seele« und ihrer »Verbindungen«.5 Vielmehr geht es ihm darum, auf dieser Grundlage »Grundsätze zu finden, woraus 1

2

3 4 5

Vgl. Zum Einfluss der schottischen Common Sense Philosophie auf Tetens vgl. Manfred Kuehn: Scottish Common Sense in Germany, 1768–1800. A Contribution to the History of Critical Philosophy. Kingston, Montreal 1987, S. 119–140. Kuehn behandelt nicht den Themenkomplex ›Selbstbewusstsein‹: siehe aber auch den Beitrag von Nele Schneidereit in diesem Band. Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig 1777, [im Folgenden zitiert als: PV Band, Seitenzahl (Versuch, Kapitel, Abschnitt)], hier Bd. 1, S. IV (Vorrede). Ebd., S. IIIf. (Vorrede). Ebd., S. IV (Vorrede). Ebd.

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Udo Thiel

sich mit Zuverlässigkeit auf ihre Ursachen schließen« lasse, um dann »etwas gewisses […] über die Natur der Seele, als des Subjekts der beobachteten Kraftäußerungen, festsetzen« zu können.6 Tetens’ Ziel scheint also eine Metaphysik auf empirischer Grundlage zu sein, und zur Erreichung dieses Ziels, so betont er, ist offensichtlich nicht nur Beobachtung erforderlich, sondern auch »Raisonnement«. »Am Ende sind es doch die Reflexionen und Schlüsse, die die simpelen Beobachtungen erst recht brauchbar machen, und ohne die wir beständig nur auf der äußern Fläche der Dinge bleiben müßten«.7 Tetens möchte nicht an der Oberfläche bleiben, sondern auf Grundlage von »Reflexionen und Schlüssen« etwas über die »Natur der Seele« ausmachen. Bereits mit diesen Hinweisen unterscheidet sich Tetens trotz aller Vorsicht, die er bei Wesensaussagen über die Seele walten lässt, deutlich von John Locke, als dessen deutscher Repräsentant er ja bezeichnet worden ist.8 Denn Locke hatte argumentiert, das Wesen der Seele wie auch das der körperlichen Natur sei für den menschlichen Verstand unerkennbar.9 In dem oben zitierten Passus zur Methode kommt der Begriff des Selbstgefühls vor. Tetens’ Aussage macht deutlich, dass dieser Begriff für ihn von zentraler Bedeutung für die »psychologische Analysis der Seele« ist. Seine Ausführungen zum Selbstgefühl sind allerdings komplex und weit verzweigt, und es bedarf einiger Anstrengung, sie zu rekonstruieren und die relevanten Begriffsbestimmungen und -relationen aufzuklären. In diesem Beitrag sollen vor allem folgende Fragen untersucht werden: Was ist der Gegenstand des Selbstgefühls? Was für eine Art von Bezugnahme auf seinen Gegenstand stellt das Selbstgefühl dar? Wie verhält sich das Selbstgefühl zum Bezugnehmen auf das Ich durch das, was Tetens Bewusstsein, Selbstbewusstsein und inneren Sinn nennt? Wie verhält es sich zur Wahrnehmung äußerer Gegenstände, die bei Tetens mit dem Terminus »Apperzeption« assoziiert ist? Schließlich wird in kritischer Absicht die Frage zu stellen sein, ob Tetens in seinen Ausführungen zu diesem Themenkomplex nicht nur über das hinausgeht, was durch Erfahrung und Beobachtung direkt beschreibbar ist, sondern auch über das, was aus »Reflexionen und Schlüssen« mit Bezug auf das in der Erfahrung gegebene Material und in Übereinstimmung mit diesem heraus »raisonnirt« werden kann. Der heute in der Philosophie eher unübliche Terminus »Selbstgefühl« erfreute sich in den 1770er Jahren in Untersuchungen, die im weitesten Sinne mit der empirischen Psychologie zu tun hatten, großer Beliebtheit. Es handelte sich um eine Art Modewort, das noch relativ neuen Datums war. Es wurde wohl von Johann Bernhard Basedow 1764 in die philosophische Terminologie eingeführt,10 obwohl ähnliche Ausdrücke wie etwa »inneres Gefühl« natürlich schon früher eine Rolle spielten.11 Populär dürfte der Begriff durch Johann Georg Heinrich Feder, 6 7 8 9 10 11

Ebd. PV I, S. XXX (Vorrede). Vgl. die Hinweise hierzu bei Manfred Kuehn: Hume and Tetens. In Hume Studies 15 (1989), S. 365–376, hier S. 368. Vgl. John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Ed. by Peter H. Nidditch. Oxford 1975. Zitiert wie üblich nach Buch, Kapitel, Sektion, hier: II.i.4. Johann Bernhard Basedow: Philalethie. Neue Aussichten in die Wahrheiten der Religion und Vernunft bis in die Gränzen der glaubwürdigen Offenbarung. 2 Bde. Altona, Bd. 2, § 10. Georg Friedrich Meier: Metaphysik. 4 Bde. Halle 1755–1759, hier Bd. 3, S. 10 u. S. 21. Isaak Iselin spricht von der »innerlichen Empfindung«, die er bestimmt als »das Bewusstseyn seiner selbst und der Veränderungen, welche in ihm vorgehen«. (Isaak Iselin: Über die Geschichte der Menschheit. Frankfurt, Leipzig 1764, hier zitiert nach der fünften Auflage, Basel 1786, S. 4).

Tetens über das Selbstgefühl

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insbesondere durch seine vielfach aufgelegte und einflussreiche Logik und Metaphysik von 1769 geworden sein.12 Schließlich verfasste ein gewisser Michael Ignaz Schmidt 1772 sogar eine Monographie mit dem (aus heutiger Sicht irreführenden) Titel Die Geschichte des Selbstgefühls.13 Allerdings ist nicht immer klar, was genau mit diesem Ausdruck gemeint ist. Jedenfalls wird der Terminus von den vielen Autoren, die ihn gebrauchen, in unterschiedlicher Weise gedeutet. Darauf weist der Göttinger Philosoph Michael Hißmann bereits 1777 hin, was ihn jedoch nicht daran hindert, diesen Ausdruck selbst zu verwenden und mit einer wiederum ihm (und Christoph Meiners) eigenen Bedeutung zu versehen.14 Diesen komplexen historischen Verflechtungen und den damit verbundenen systematischen Fragen soll hier nicht nachgegangen werden, zumal dies an anderer Stelle bereits geschehen ist.15 Hier wird nur auf einige wenige Aspekte verwiesen, die für Tetens besonders relevant sind.

1. Selbstgefühl und Innerer Sinn: Zum Gegenstand des Selbstgefühls Der Begriff des Selbstgefühls wurde oft mit dem Begriff des inneren Sinns in Verbindung gebracht, also mit dem, was Locke »Reflection« nannte.16 Basedow wollte den Ausdruck »innerer Sinn« durch »Selbstgefühl« geradezu ersetzen, weil »innerer Sinn« eine unangemessene Analogie zum »äußeren Sinn« nahelege. Für Feder ist das Selbstgefühl nicht mit dem inneren Sinn identisch, sondern eine bestimmte Art des inneren Sinns: er unterscheidet mit Bezug auf diesen die Gefühle des Wahren, Schönen, Guten und eben das Selbstgefühl. Dieses bestehe in der »Gewahrnehmung«, wie Feder sagt, von den eigenen Zuständen und Eigenschaften sowie von der eigenen Existenz.17 Tetens scheint das Selbstgefühl, als Vermögen gedacht, in ähnlicher Weise mit dem inneren Sinn zu verbinden. Das Gefühlsvermögen überhaupt ist für Tetens eines der drei Grundvermögen der menschlichen Seele, denen er seinen zweiten Versuch widmet. Er unterscheidet zwischen Gefühl und Empfinden mittels des Objektbezugs. Während sich das Gefühl »mehr auf den Aktus des Empfindens, als auf den Gegenstand desselben« bezieht, weist das Empfinden »auf einen Gegenstand hin«.18 Das Selbstgefühl müsste demnach eine Unterart des Gefühls oder der Empfindungsakte überhaupt sein. Und in der Tat argumentiert Tetens, dass das Selbstgefühl zu den »inneren Empfindungen […] gehöret«. Es sei »das Gefühl jedweder Art von innern Zuständen und Veränderungen für sich betrachtet, so wie sie für sich in uns vor12

13 14 15 16 17 18

Johann Georg Heinrich Feder: Logik und Metaphysik. Göttingen, Gotha 1769, S. 116, 267f. Wie aus dem Beitrag von Michael Sellhoff in diesem Band hervorgeht, war Feder eine wichtige Quelle für Tetens. Michael Ignaz Schmidt: Die Geschichte des Selbstgefühls. Frankfurt, Leipzig [i.e. Würzburg] 1772. Michael Hißmann: Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik. Frankfurt, Leipzig 1777, S. 144. Udo Thiel: Varieties of Inner Sense. Two Pre-Kantian Theories. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 79 (1997), S. 58–79. Locke: Essay II.i.4 Feder: Logik und Metaphysik (s. Anm. 12), S. 116; 7. Aufl., Göttingen 1790, S. 29. PV I, S. 167f. (2. I.)

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handen sind«.19 Ähnlich wie Feder fasst Tetens den inneren Sinn oder die innere Empfindung demnach weiter als das Selbstgefühl: Denn zu den Gegenständen der inneren Empfindung gehören auch »die Verhältnisse und Beziehungen« von Objekten, die »in uns selbst sind«.20 Hierzu ist beispielsweise das »Gefühl der Einerleyheit und Verschiedenheit« zu zählen.21 Des Weiteren schließen die Gegenstände der inneren Empfindungen »die subjektivischen Verhältnisse und Beziehungen der Gegenstände und der Veränderungen auf unsern jetzigen Zustand« ein.22 Hierzu gehört wie bei Feder »das Gefühl des Schönen, des Guten, des Wahren«.23 Schließlich fühlen wir auch die Gegenstände und Veränderungen in ihrem »Einfluss auf unsere selbstthätige Kraft, auf dieser ihre Wirksamkeit und auf unsere neuen folgenden Zustände, die davon abhangen. Hierher gehört das Gefühl des Interesse, der Wichtigkeit, der Kraft, des Lebens, der Stärke aufs Herz u.s.f.«.24 Mit dieser Bestimmung des Selbstgefühls als einer Art innerer Empfindung oder des inneren Sinnes ist wenigstens ein Gegenstandstyp des Selbstgefühls bezeichnet: innere Zustände der Seele, ihre Tätigkeiten und Wirkungen oder Modifikationen.25

2. Was für eine Art von Bezugnahme auf seinen Gegenstand stellt das Selbstgefühl dar? Zur Frage nach der Weise des Bezugnehmens auf die »inneren Zustände und Veränderungen«, um die es sich beim Selbstgefühl handelt, hat Manfred Frank behauptet, Tetens’ Äußerungen seien nicht einheitlich und widersprächen einander sogar.26 Tetens schwanke hin und her zwischen einem Modell der heute sogenannten second-order-Konzeptionen des Bewusstseins einerseits, »wonach Bewusstsein ein zweiter Akt ist, der einen ersten (unbewussten) Akt allererst bewusst macht«, und einem first-order-Modell, wonach Bewusstsein ein wesentliches und »unmittelbares und immanentes Charakteristikum« der mentalen Akte selbst ist.27 Es erweist sich jedoch, dass Tetens weder schwankt noch sich widerspricht, sondern zwei unterschiedliche Weisen der Bezugnahme auf innere Zustände voneinander unterscheidet. Für die Zuschreibung eines second-order-Modells scheinen Tetens’ Kommentare über das »Ich denke« des Descartes und über die Descartes-Kritik von Johann Bernhard Merian zu spre-

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26 27

Ebd., S. 190 (2. III. 4). Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 190f. Vgl. auch die Ausführungen zum inneren Sinn in PV I, S. 29f. (1. IV.). Tetens’ Darstellung von Lockes »Reflection« ist jedoch problematisch, zumal er diese nicht wie Locke als inneren Sinn, sondern als »die denkende Kraft der Seele« auffasst (ebd., S. 338 [4. VI. 2.]). Manfred Frank: Selbstgefühl. Frankfurt a.M. 2002, S. 199. Ebd., S. 204 u. S. 199.

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chen.28 Tetens argumentiert ähnlich wie schon Leibniz in seiner Kritik an Locke und Hobbes gegen Descartes,29 dass man zu dem Zeitpunkt, an dem man sich eines Gegenstandes bewusst sei (und damit das Denkvermögen auf ihn anwende), nicht denken könne, dass man denke: Man ist sich nicht bewußt, daß man sich einer Sache bewußt sey; jenes nemlich nicht in demselbigen Augenblick, worinn man dieses ist. Ueber unsere eigene Reflexion reflektiren wir nicht in demselbigen Augenblick, in dem wir mit ihr bey einem Gegenstand beschäftiget sind.30

Ein unmittelbares Bezugnehmen auf mentale Zustände oder Akte ist nicht möglich, scheint Tetens zu sagen, gerade weil es sich dabei um eine second-order-Aktivität handeln müsste. Die Seele könne aber nicht einen Gegenstand denken und unmittelbar dieses Denken des Gegenstandes denken, da die Denkkraft dann zwei Tätigkeiten gleichzeitig verrichten müsste.31 Im Sinne einer second-order-Aktivität könne sich Bewusstsein oder Reflexion nur auf vergangene Gedanken beziehen: Sobald wir auf das Denken selbst zurücksehen, so ist der Gedanke entwischet, wie das gegenwärtige Zeitmoment, das schon vergangen ist, wenn man es ergreifen will. [...] Der Zeitpunkt der Handlung schließet die Reflexion über dieselbige Handlung aus. Diese letztere folget erst auf jene. Hr. Merian hat hierauf seine Kritik über des Descartes Grundsatz: ich denke gebauet, an dessen Statt es seiner Meinung nach heißen müßte: ich habe gedacht.32

Allerdings spricht Tetens an dieser Stelle gar nicht vom Selbstgefühl, sondern vom Bewusstsein, das er hier als Reflexion und damit als second-order-Aktivität auffasst. Dies lässt (wie bei Merian) die Möglichkeit einer anderen, unmittelbaren Art von Bezugnahme auf innere Zustände offen. Tetens nennt als Beispiel hierfür mentale Zustände wie Lust, Zufriedenheit, Ärger, Liebe usw. Diese fühlen wir, während wir sie haben,33 denn sich zu ärgern ist nichts anderes als zu fühlen, dass man sich ärgert. Dementsprechend sagt Tetens: »Die leidenden Gemüthszustände stehen also in einer anderen Beziehung auf das Bewußtseyn, als die Selbstthätigkeiten«.34 Aber auch Denkakte sind uns nach Tetens in einem unmittelbaren Sinne präsent, nämlich dann, wenn ich das »Ich denke« nicht als Reflexionsakt auffasse, also damit nicht sagen will, dass ich mein Denken denke oder dass ich weiß, dass ich denke. 28

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Vgl. Johann Bernhard Merian: Mémoire sur l’apperception de sa propre existence. In Histoire de l’Académie Royale des Sciences et Belles Lettres. Année 1749. Berlin 1751, S. 416–441. Zur Merians Apperzeptionsbegriff vgl. Udo Thiel: Between Wolff and Kant: Merian’s Theory of Apperception. In Journal of the History of Philosophy 34 (1996), S. 213–232; ders.: The Early Modern Subject. Self-consciousness and Personal Identity from Descartes to Hume. Oxford 2011, S. 365–376. Vgl. hierzu ebd. S. 48 u. S. 299. PV I, S. 46 (1. VII.). Tetens fügt in einer Fußnote auf derselben Seite hinzu: »Man sehe des Hrn Merians Abhandlung darüber, in den Schriften der Berlinischen Akademie der Wissenschaften. 1762«. Vgl. auch PV I, S. 386, wo Tetens ähnlich argumentiert, ohne sich allerdings auf Merian zu beziehen. Tetens’ Datierung von Merians Abhandlung ist fehlerhaft. Diese erschien zuerst 1751 auf Französisch (siehe oben, Anm. 28), dann 1778 auf Deutsch als Ueber die Apperzeption seiner eignen Existenz. In Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte. Aus den Jahrbüchern der Akademien angelegt. Hg. v. Michael Hissmann. Göttingen, Lemgo 1778, Bd. I , S. 89–132. Vgl. Frank: Selbstgefühl (s. Anm. 26), S. 203f. PV I, S. 47 (1. VII.). Ebd., S. 53 (1. VII.). Ebd.

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Ich kann auch in der gegenwärtigen Zeit sagen: ich denke; denn dieß soll nur den Aktus des gegenwärtigen Denkens ausdrücken; nicht aber so viel heißen, als: ich denke, daß ich denke, oder ich weiß, daß ich denke.35

Diese unmittelbare Präsenz ist, wie wir noch sehen werden, bei Tetens mit dem Selbstgefühl gemeint. Damit unterscheidet sich dieses nicht nur von der Reflexion im Sinne eines second-orderAktes des Denkens, sondern auch von dem Lockeschen Verständnis von Reflection als innerem Sinn. Denn auch die Tätigkeit des inneren Sinnes ist bei Locke als second-order-Aktivität aufzufassen. Die Reflexion, dies scheint Tetens zu meinen, setzt aber das Selbstgefühl voraus. Denn dieses gibt erst das Material an die Hand, das dann zum Gegenstand der Reflexion werden kann. Ein Schwanken zwischen den beiden Modellen des Bezugnehmens auf »innere Zustände und Veränderungen« oder gar eine Widersprüchlichkeit liegt bei Tetens jedenfalls nicht vor.

3. Selbstgefühl im Verhältnis zu Bewusstsein, Apperzeption, Selbstbewusstsein und Reflexion Was ist nun bei Tetens mit »Bewusstsein« gemeint? Der Begriff des Bewusstseins schien ja bereits eben in der Descartes-Kritik auf. Wie verhält sich dieser Begriff zu dem des Selbstgefühls? Und wie steht es um die Begriffe der Apperzeption und des Selbstbewussteins und der Reflexion, derer sich Tetens auch bedient? In Bezug auf Apperzeption und Bewusstsein schließt sich Tetens nun nicht der empiristischen Tradition an, sondern folgt weitgehend Christian Wolff, auch wenn er sich nicht explizit auf Wolff beruft und seine Terminologie gegenüber der Wolffs etwas verrutscht.36 Beginnen wir mit der Apperzeption. Diese wird von Tetens nicht, wie es häufig geschieht, als Selbstbewusstsein aufgefasst, sondern als »Gewahrnehmen« (von Gegenständen) übersetzt. In diesem Sinne ist für die Apperzeption (wie bei Wolff für das Bewusstsein) die Aktivität des Unterscheidens wesentlich: »Gewahrnehmen ist ein Unterscheiden«.37 Wir apperzipieren einen Gegenstand oder nehmen diesen gewahr, wenn wir seiner Unterschiedenheit von anderen Gegenständen gewahr werden. Wenn die Seele [...] einen Gegenstand nun als einen besondern Gegenstand fasset, ihn auskennet unter andern, ihn unterscheidet; dann ist dasjenige vorhanden, was ein Gewahrwerden oder ein Gewahrnehmen, oder die Apperception genennet wird.38

Da nun das Unterscheiden eine Aktivität der Denkkraft ist, schreibt Tetens das Gewahrnehmen bzw. die Apperzeption der Denkkraft zu, denn das Wesen des Denkens bestehe darin, »Verhältnisse und Beziehungen in den Dingen überhaupt« zu erkennen.39 Des Weiteren argumen35 36 37 38 39

Ebd., S. 48 (1. VII.). Vgl. zu letzterem beispielsweise schon Falk Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts. Berlin, New York 2005, S. 75f. Vgl. zu Wolff auch die Hinweise unten in Anmerkung 43. PV I, S. 262 (3. I.). Ebd. Tetens fügt hinzu: »Ohne Zweifel hat dieß Wort […] ursprünglich eine viel eingeschränktere Bedeutung.« PV I, S. 295 (4. I.).

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tiert Tetens, ähnlich wie Wolff (in Bezug auf das Bewusstsein), dass Aufmerksamkeit und Reflexion notwendige Bedingungen der Apperzeption seien40 und dass Reflexion als ein Vergleichen von Dingen oder Vorstellungen von Dingen zu verstehen sei.41 Die Apperzeption scheint demnach für Tetens nicht wesentlich einen Selbstbezug zu involvieren, es ist auch gar kein Gefühl, sondern ein intellektuelles Vermögen. Dies verhält sich anders beim Bewusstsein. Tetens bestimmt dieses, anders als der Passus über das »Ich denke« es nahelegt, nicht als Reflexion. Es führt vielmehr zurück zum Selbstgefühl. Das Bewusstsein involviert zwar eine Handlung des Unterscheidens, und damit das Gewahrnehmen oder die Apperzeption. Das Bewusstsein ist aber für Tetens ein mentaler Zustand, in dem man durch die Unterscheidungshandlung nicht nur auf einen Gegenstand oder eine Vorstellung davon Bezug nimmt, sondern auch auf sein eigenes Ich als Subjekt dieser Handlungen. Das Bewusstsein ist ein Gefühl, das das Fühlen des Gegenstandes und des Ich vereine. Es involviere eine Handlung des Unterscheidens zwischen dem gefühlten Gegenstand und dem eigenen Ich: Sich einer Sache bewußt seyn, drucket einen fortdaurenden Zustand aus, in welchem man einen Gegenstand oder dessen Vorstellung unterscheidend fühlet, und sich selbst dazu. Das Bewußtseyn ist von Einer Seite ein Gefühl, [...] mit dem ein Unterscheiden der gefühlten Sache und Seiner selbst verbunden ist. Gefühl und Gewahrnehmung [also Apperzeption] sind die beiden Bestandtheile des Bewußtseyns.42

Schon dieses Zitat weist darauf hin, dass für Tetens Gegenstandsbezug und Ich-Bezug »unzertrennlich«, wie er sagt, zusammengehören. Tetens argumentiert, dass es ohne Objekt-Bezugnahme keine Bezugnahme auf das Ich geben könne: Konnte der Mensch sein Ich kennen, und unterscheiden lernen, ohne zugleich einen Begrif von einem wirklichen Objekt zu erhalten, das nicht sein Ich ist? Und wenn diese beiden Begriffe unzertrennlich sind, so war es doch eben so möglich, daß die beiderley Arten von Urtheilen; dieß ist in mir, und: jenes ist nicht in mir, zu gleicher Zeit sich entwickelt hatten, ohne daß das letztere das erste voraussetze, und nachher mittels anderer Gedanken, die noch gesammelt werden mußten, hervorgebracht werden dörfe.43

Das Selbstgefühl ist mit dem Selbstbewusstsein jedoch nicht einfach gleichzusetzen. Hierzu schreibt Tetens: 40 41

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Ebd., S. 282–285 (3. IV. 2.). Ebd., S. 264 (3. II.). Tetens unterscheidet zwischen Gewahrnehmen und Bemerken. »Das Bemerken will etwas mehr sagen, als Gewahrnehmen. Wer etwas bemerket, suchet an der gewahrgenommenen Sache ein Merkmal auf, woran sie auch in der Folge gewahrgenommen und ausgekannt werden könne« (ebd., S. 263 [3. I.]). Ebd. Ebd. S. 379 (5. II.). Für ein ähnliches Verhältnis von Objekt- und Ich-Bezug hatte bereits Wolff argumentiert, allerdings sagt er nicht nur, dass die beiden Begriffe unzertrennlich sind und dass wir keinen Ich-Bezug ohne Objekt-Bezug haben, sondern auch, dass wir ohne Ich-Bezug keinen ObjektBezug haben können. Er legt also eine wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis nahe, ohne dies freilich im einzelnen zu erläutern; vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Halle 1751 [ND Hildesheim 1983], § 730. Vgl. dazu Udo Thiel: Zum Verhältnis von Gegenstandsbewußtsein und Selbstbewußtsein bei Wolff und seinen Kritikern. In: Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolph (Hg.): Christian Wolff und die Europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses. 5 Tle. Hildesheim, New York 2007–2010, Tl. 2, S. 377–390; Thiel: The Early Modern Subject (s. Anm. 28), S. 304–311; Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien (s. Anm. 36), S. 77.

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Es sind alsdenn klare Empfindungen und klare Empfindungsideen, Wirkungen aus Perception, Gefühl und Apperception zusammengesetzt, so wie das vorzüglich starke Gefühl unserer Selbst nicht mehr ein bloßes Gefühl, sondern ein klares Gefühl, eine Empfindung, ein Bewußtseyn unsers Selbst ist. Denn es vereiniget sich mit dem Gefühl das Unterscheiden der gefühlten Modifikation und des fühlenden Subjekts, und die Beziehung jener Modifikation auf das Subjekt, worinn sie ist.44

Das Bewusstsein enthält für Tetens neben dem Gegenstandsbezug bereits ein unmittelbares Selbstgefühl. Im Selbstbewusstsein werden noch einmal die Modifikationen des Subjekts vom fühlenden Subjekt unterschieden und auf es bezogen. Erst durch diese Bezugnahme wird aus dem Selbstgefühl ein Selbstbewusstsein. Gegenüber dem (unmittelbaren) Selbstgefühl ist das Selbstbewusstsein bei Tetens eine vermittelte Bezugnahme auf das Ich.45 Schließlich unterscheidet Tetens zwischen dem starken und unmittelbaren Selbstgefühl einerseits und dem Reflektieren auf das Ich, das uns befähigt, Aussagen über uns formulieren zu können andererseits. Dies entspricht der oben diskutierten Unterscheidung, wonach Bewusstsein als Denken des Denkens und damit als Reflexion und second-order-Aktivität gilt, während das Selbstgefühl unmittelbar ist. Die Reflexion verdankt sich dem Denkvermögen oder der »Denkkraft«. Der Gedanke, dass dies ich bin und dass diese Gedanken in mir vorgehen, setze sorgfältige Selbstreflexion voraus. Die Erfahrung zeige, daß die Reflexion der Seele über sich selbst und insbesondere der Gedanke, das bin ich, und das ist in mir, und geht in mir vor, ebenfalls zu den Wirkungen der Denkkraft gehöre, wozu diese sich nur nach und nach entwickelt, und daß eine sorgfältige Beobachtung seiner selbst voraussetze, daß man schon aus der Kindheit heraus sey. Aber wer wird darum das starke Selbstgefühl in Zweifel ziehen?46

4. Das Ich als Gegenstand des Selbstgefühls. Tetens’ Kritik an Humes Bündeltheorie. Die obigen Ausführungen über das Bewusstsein machen es erforderlich, dass wir zur Frage nach dem Gegenstand des Selbstgefühls zurückkehren. Denn bislang wurden ja nur innere Zustände und Tätigkeiten als sein Gegenstand dargestellt (»die innern Modifikationen, deren Gefühl unser Selbstgefühl ausmachet«).47 Im Bewusstsein soll aber laut Tetens ein Fühlen des Ich als des Subjekts dieser Zustände und Tätigkeiten enthalten sein. Im Rahmen seiner Kritik an Humes Bündel-Theorie führt Tetens diesen Gedanken weiter aus. Es verhält sich nicht so, wie es Hr. Hume angegeben hat, und dieß kann man behaupten, ohne etwas mehr für wirklich vorhanden anzunehmen, als was er selbst dafür erkennet; nur so viel nemlich, als wir uns unmittelbar bewußt sind. Hr. Hume hat aber einen wichtigen Umstand übersehen. Ich fühle eine Vorstellung; noch eine andere, auch eine Denkungsthätigkeit, eine Willensäußerung, u.s.w. und diese Empfindungen sind unterschieden, und wirklich. Aber ich empfinde noch mehr. So oft ich eine Vorstellung empfinde, gewahrnehme, und mich ihrer unmittelbar bewußt bin, so bin ich mir eben so gut bewußt, daß dieß Gefühl meiner Modifikation nur ein hervorstechender Zug in einem viel größern, 44 45 46 47

PV I, S. 298f. (4. II.). Vgl. zu einer anderen Interpretation dieser Zusammenhänge Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien (s. Anm. 36), S. 77f. PV II, S. 174 (13. III. 2.). PV I, S. 154 (1. XVI. 3.).

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ausgebreitetern, stärkern, obgleich in seinen übrigen Theilen dunklen, oder doch wenig klaren Gefühl sey; und dieses letztere bin ich mir eben so bewußt, und auf dieselbige Art, wie ich es in Hinsicht der besonders gewahrgenommenen einzelnen Beschaffenheit nur immer seyn kann, so nemlich wie man sich überhaupt einer Sache unmittelbar bewußt seyn kann. Ich habe also eine solche Empfindung, die mich auf die nemliche Art zu dem Gedanken bringet, daß ein Ding und eine Beschaffenheit in diesem Dinge vorhanden ist, als ich nach Hrn. Hume’s eigener Einräumung zu dem Gedanken gebracht werden kann: da ist eine Beschaffenheit wirklich. Und in dieser ganzen Empfindung ist der dunkle Grund von ihr immer eben derselbige, wenn ich anstatt eines sich ausnehmenden Zuges einen andern verschiedenen in mir als gegenwärtig gewahrnehme. Dieser Grund der ganzen Empfindung [...] ist bey allen besondern Veränderungen, in der Empfindung und in der Vorstellung eben derselbige.48

Tetens scheint hier gegen Hume zu argumentieren, dass das Selbstgefühl zum Begriff eines identischen Ich führe und dass Hume diese Tatsache einfach »übersehen« habe. Man könne dies zeigen, ohne dass man mehr an Erfahrungsgegebenheiten akzeptieren müsse als Hume, mit anderen Worten, auch dann, wenn wir uns nur auf die Dinge bezögen, derer wir uns unmittelbar bewusst sind. Wir fühlten, wie Hume ja zugestehen würde, eine Vielheit von Perzeptionen, doch fühlten wir mehr als nur diese. Wenn immer wir eine Perzeption fühlten, seien wir uns auch dessen bewusst, dass dieses Gefühl Teil eines »größeren« und »stärkeren«, wenn auch »dunkleren« Gefühls von einem Grund unserer Perzeptionen sei, der bei allen Veränderungen der Perzeptionen derselbe bleibe.49 Daher sei die Vorstellung von unserem Ich mehr als eine bloße Ansammlung von Perzeptionen, die die Einbildungskraft zusammengefügt habe: Eine […] Folge davon ist, daß die Idee oder Vorstellung von meinem Ich, keine Sammlung von einzeln Vorstellungen sey, welche etwan die Einbildungskraft zu einem Ganzen gemacht hat, wie sie die einzelnen Vorstellungen von Soldaten zu einer Vorstellung von Einem Regiment vereiniget. Jene Vereinigung liegt in der Empfindung selbst, in der Natur, nicht in einer selbst gemachten Verbindung. Daher entstehet eine Vorstellung von Einem Subjekt mit verschiedenen Beschaffenheiten, das heißt, die aus der Empfindung unmittelbar entstehende Vorstellung muß so gedacht, und zu einer solchen Idee gemacht werden, wozu der gemeine Menschenverstand sie wirklich machet.50

Tetens stimmt Hume demnach zu, dass von dem auszugehen sei, was unmittelbar dem Bewusstsein gegeben ist. Er kritisiert allerdings Humes Auffassung, dass nur Ansammlungen von einzelnen Perzeptionen gegeben seien.51 Ohne sich auf Hume zu beziehen, behauptet Tetens an 48

49 50 51

PV I, S. 393f. (5. V.). Vgl. zum Gedanken des »dunklen Grundes« auch Alexander G. Baumgarten, der in seiner Metaphysica (1. Aufl. 1739) die Gesamtheit der dunklen Perzeptionen den »Grund der Seele« (fundus animae) nennt. Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Historisch-kritische Ausgabe. Übers., eingel. u. hg. von Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 270 (§ 511). Vgl. zu diesem Thema Frank: Selbstgefühl (s. Anm. 26), S. 203f. Vgl. auch PV I, S. 261 (2. VIII.): »Begleitet nicht ein gewisses dunkles Selbstgefühl alle unsere Zustände, Beschaffenheiten und Veränderungen von der leidentlichen Gattung?« Ebd, S. 394 (5. V.). In diesem Punkt stehen wir Manfred Kuehns Interpretation näher als der Falk Wunderlichs. Kuehn argumentiert, dass »Tetens does not so much offer a fundamental criticism of Hume’s approach or philosophical method, as claim that Hume has made a mistake in one of the particulars« (Kuehn: Hume and Tetens [s. Anm. 8], S. 367). Wunderlich meint, diese Lesart sei »untertrieben«, da die Annahme, dass die Vorstellungen »vereinzelt« auftreten, »eine zentrale Prämisse Humes« sei (Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien [s. Anm. 36], S. 77). Es geht Hume jedoch wie Tetens um das, was uns unmittelbar präsent ist. Dass nur aufeinanderfolgende (nicht »vereinzelte«) Vorstellungen gegeben sind, ist für Hume eine Tatsache des Bewusstseins, aber keine »Prämisse«.

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anderer Stelle, dass das Ich als leib-seelische Ganzheit den Gegenstand des Selbstbezugs ausmacht (und nicht nur aufeinanderfolgende Vorstellungen): »Es ist der Mensch, der von dem Menschen gefühlet wird«.52 Oder, etwas genauer formuliert: Wenn ich mich selbst und meine Aktionen fühle, was ist alsdenn das Objekt meines Gefühls? Die reine Beobachtung kann [...] nichts anders antworten, als es sey das Ich, was ich fühle, das fühlende, denkende und wollende Ganze, das aus einem Körper und aus einer einfachen Seele bestehet, die eingekörperte Seele.53

Im 18. Jahrhundert war die These, dass eine angeblich einfache seelische Substanz Gegenstand eines unmittelbaren Gefühls sei, durchaus verbreitet. Sie stellt jedoch offensichtlich eine recht problematische Behauptung dar. Tetens drückt sich gelegentlich etwas vorsichtiger aus und versucht, soweit es um das Selbstgefühl geht, metaphysisch neutral zu bleiben: Die menschliche Seele im psychologischen Verstande genommen [i.e. die Seelennatur des Menschen], ist das Ich, das wir mit unserm Selbstgefühl empfinden und beobachten können. Es mag aus einem einfachen immateriellen Wesen allein bestehen, oder aus diesem, und einem innern körperlichen Werkzeug des Gefühls und des Denkens zusammengesetzt seyn, oder, um kein psychologisches System auszuschließen, es mag nichts als der innere organisirte Körper seyn. Genug es ist das fühlende, denkende und wollende Eins, der innere Mensch selbst.54

Hiernach ist zu unterscheiden zwischen dem, was dem Selbstgefühl zugänglich ist, und dem, was dem Gefühlten ontologisch zu Grunde liegt. Die reale Essenz, wie Locke gesagt hätte, mag so oder so beschaffen sein, dies ist letztlich nicht relevant für das Selbstgefühl. Tetens selbst unterscheidet von der Seele als Gegenstand des Selbstgefühls, also der Seele im psychologischen Verstande, die »Seele im metaphysischen Verstande«,55 die nicht Gegenstand des Selbstgefühls sei. Bei der Seele im psychologischen Verstande handelt es sich nur um »Erscheinungen«: Was endlich die Natur unsers Selbstgefühls und der Vorstellungen betrifft, die wir von unsern eigenen Wirkungen haben, so können sie […] nichts mehr als Schein seyn; so wie die unmittelbare Beobachtung uns auch nicht berechtiget, sie für etwas mehr anzusehen […]. Denn wir empfinden die Aktus unsers Gefühls, und des Denkens, und des Wollens nur in ihren Wirkungen, das ist, in den Veränderungen und Folgen, die davon in dem gesammten Seelenwesen, das ist, in einem zusammengesetzten Wesen abhangen.56

Diese »Erscheinungen« beziehen sich zwar »mittelbar auf die Beschaffenheiten, Kräfte und Vermögen des einfachen Ichs«, und insoweit sind sie Vorstellungen von dem Einfachen, aber nur in einem indirekten oder relativen Sinne.57 Dennoch nimmt die Behauptung dieser mittelbaren Beziehung offensichtlich die Existenz eines einfachen Ich an. Und in der Tat läuft Tetens’ Denken letztlich auf einen Seelenbegriff im metaphysischen Verstande hinaus. Hiernach ist die Seele das »einfache, von dem organisirten Körper unterschiedene [also immaterielle] Wesen«.58 52 53 54 55 56 57 58

PV II, S. 173 (13. III. 2.). PV II, S. 170 (13. III. 2.). PV I, S. 740 (11. II. 1.). Ebd., S. 739 (11. II. 1.). PV II, S. 212f. (13. IV. 8.). Ebd., S. 213 (13. IV. 8.). PV I, S. 739 (11. II. 1.).

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Diese Überlegungen beziehen sich auch auf die von Tetens schon in seiner Hume-Kritik behauptete Einheit des Ich.

5. Ist die Einheit des Ich als Gegenstand des Selbstgefühls oder als notwendige Bedingung mentaler Aktivitäten zu denken? Wie kommen wir nun im Denken von der Seele im psychologischen Verstande, der »beobachteten Einheit des Ichs«, zur Seele im metaphysischen Verstande, zur »substantiellen Einheit der Seele«?59 Zum einen scheint das unkörperliche Ich insofern Gegenstand des Selbstgefühls zu sein, als es Teil des Ganzen ist, das der Mensch fühlt, wenn er den Menschen fühlt, wie wir oben sahen. An anderer Stelle argumentiert Tetens jedoch, dass das unmittelbare Selbstgefühl auf ein unkörperliches Ich nur verweise, dass der Gedanke eines solchen Ich sich »aufdränge«: Sobald das Gefühl von Ich, das klare Bewußtseyn unser selbst, unsers innern Wohls und Wehs, unsers Denkens und Wollens und unserer Freyheit wieder lebhaft wird, so dränget sich uns auch wiederum der Gedanke auf: dieß sey doch mehr als ein Spiel der Fasern, mehr als ein Zittern vom Aether und als Gehirnsbewegungen, was dahinter stecke. Mein Ich ist Eins, nicht ein Haufen von mehrern Dingen.60

Hiernach legt das Selbstgefühl den Gedanken von einem »Eins« wenigstens sehr nahe; aber schon dies bedeutet, dass die unkörperliche Einheit jedenfalls nicht selbst Gegenstand des Selbstgefühls ist. Zum dritten scheint für Tetens gar »theoretische Spekulation über die Natur des Seelenwesens« erforderlich zu sein, um zum Gedanken der substantiellen Einheit des Ich zu kommen.61 Tetens versucht, den Einheitsgedanken (und andere metaphysische Thesen) durch rationale Argumentation zu erweisen, die auf die Bedingungen nicht speziell der Erfahrung, sondern des Denkens überhaupt zielt. Er fragt sich, wie aus der beobachteten auf die substantielle Einheit »gefolgert werden könne«.62 Wenn auf die Einheit der Seele »gefolgert« werden muss, ist sie offensichtlich nicht unmittelbar im Selbstgefühl gegeben. Tetens’ Argumentation ist hier zwar nicht besonders originell, geht aber über seine anfangs deklarierte empiristische Methode hinaus. Zunächst geht es nur darum zu zeigen, dass das Vorstellen äußerer Objekte ein Urteilen voraussetze und dass es hierfür wiederum einer Verknüpfungs- und Unterscheidungsleistung zwischen Ding außer mir, Sache in mir und Selbst bedürfe. Mit allen Vorstellungen des Gesichts, des Gefühls und der übrigen Sinne wird der Gedanke verbunden, daß sie äußere Objekte vorstellen. Dieser Gedanke bestehet in einem Urtheil, und setzet voraus, daß schon eine allgemeine Vorstellung von einem Dinge, von einem wirklichen Dinge, und von einem äußern Dinge, vorhanden, und daß diese von einer andern allgemeinen Vorstellung von unserm Selbst, und von einer Sache in uns, unterschieden sey.63

Hier geht es zwar noch nicht um die »substantielle Einheit der Seele«, aber doch um einen Begriff vom »Selbst«, das nicht als Gegenstand eines Gefühls angesehen wird, sondern als etwas, 59 60 61 62 63

PV II, S. 175 (13. IV.). Ebd., S. 178 (13. IV. 1.). PV I, S. 740 (11. II. 1.). Ebd. Ebd., S. 344 (4. VI. 3.).

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das zur Erklärung des bloßen Vorstellens äußerer Objekte gedacht werden muss. Ohne einen solchen Begriff vom Selbst, als unterschieden von der Vorstellung anderer Dinge gefasst, ließe sich die Möglichkeit des Urteilens über die Existenz äußerer Gegenstände nicht denken. Tetens versucht aber darüber hinaus noch zu zeigen, dass auch die substantielle Einheit der Seele gedacht werden müsse. Denn ohne diese wären die Handlungen der Seele nicht möglich: »Die kollektiven Kräfte und Wirkungen setzen eine substantielle Einheit voraus, in der die Kollektion geschieht und in Hinsicht auf welche sie nur solche Kräfte und Wirkungen sind, als sie sind«.64 Selbst für Einzelhandlungen ist eine solche Einheit vorausgesetzt. Wenn Handlungen des Geistes »aus einer Menge anderer Kraftäußerungen zusammengesetzt« sind, können diese Bestandteile nur dann zu einem Akt werden, wenn sie einer substantielle Einheit angehören: Denn wenn die verschiedenen Bestandtheile des Aktus durch mehrere verschiedene Wesen vertheilet sind, davon jedes einzeln, nur einen einzelnen von jenen Aktus hervorbringet: so ist zwar ein Haufen von Elementen des Gefühls in mehrern Dingen vertheilte vorhanden; aber nirgends ist ein Gefühl, nirgends das vereinigte Ganze aus ihnen, das nach der Voraussetzung, heterogen von seinen Elementen, erst ein Gefühl wird, wenn jene Elemente zusammen genommen werden.65

Diese Argumentation ist wie angedeutet keineswegs originell. Sie findet sich in ähnlicher Form bei verschiedenen anti-materialistisch orientierten Denkern des 18. Jahrhunderts. Kants Lehrer Martin Knutzen beispielsweise argumentiert lange vor Tetens, dass die Unterscheidungshandlung (und damit das Denken überhaupt) die »absolute Einheit des Subjekts« voraussetze. Einmal in dem Sinne, dass die Vorstellungen der Dinge in einem einheitlichen Subjekt existieren müssten; denn ohne eine solche Einheit der Vorstellungen wäre ein Unterscheiden zwischen einzelnen Vorstellungen gar nicht möglich; und zweitens insofern es eines aktiven Subjekts bedürfe, das sowohl die Handlungen des Unterscheidens und Vergleichens ausübt als auch die mentalen Akte, die auf diese Weise unterschieden und verglichen werden. Ähnlich wie später Tetens versucht Knutzen zu zeigen, dass diese Einheit des Subjekts nichts anderes als die Einheit einer immateriellen Seelensubstanz sei.66 Der Gedanke, dass ein einheitliches und identisches Ich in jeder Urteilshandlung als Bedingung vorausgesetzt ist, wird bekanntlich von Kant in einem anderen systematischen Kontext weiterentwickelt, ohne dass auf die Substantialität oder gar Immaterialität der Seele geschlossen wird. Kant war, wie wir wissen, mit Knutzen und Tetens und anderen Denkern, die ähnlich argumentierten (Rousseau), vertraut. Es ist daher müßig, einen von diesen als seinen besonderen diesbezüglichen »Vorläufer« identifizieren zu wollen. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass Tetens, Rousseau und Knutzen im Gegensatz zu Kant diese Argumentation im Rahmen eines anti-materialistischen metaphysischen Programms entwickeln. Im Übrigen ist diese Argumentation für die immaterielle Substantialität der Seele kaum überzeugend. Schon Materialisten des 18. Jahrhundert weisen darauf hin. Joseph Priestley beispielsweise, einer der wichtigsten materialistischen Denker in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der großen Einfluss auf die deutsche Diskussion ausübte, argumentierte: Selbst wenn wir eine notwendige Einheit des Ich denkend voraussetzten oder sogar ein Einheitsgefühl kon64 65 66

PV II, S. 175 (13. IV.). Ebd., S. 197 (13. IV. 4.). Martin Knutzen: Philosophische Abhandlung von der immateriellen Natur der Seele. Königsberg 1744, §§ 3, 18. Zu Knutzen vgl. auch Thiel: The Early Modern Subject (s. Anm. 28), S. 329–331.

Tetens über das Selbstgefühl

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zedierten, folge daraus und aus den Aktivitäten der Seele keineswegs deren Einfachheit und Immaterialität. Aus einem solchen Einheitsgefühl könne allenfalls dies geschlossen werden, dass man nur eine Person, ein empfindendes und denkendes Wesen sei und nicht zwei Personen oder zwei empfindende Wesen. Zwar könne in der Tat ein empfindendes Wesen nicht in zwei empfindende Wesen aufgeteilt werden, da eine solche Teilung das eine ›system of intelligence which we call the soul of man‹ zerstören würde, aber natürlich könne die Seele des Menschen so geteilt oder aufgelöst werden »as to become no system of intelligence at all«.67

6. Schluss Wir sahen, dass es für Tetens erstens eine empirische Einheit des Ich als Tatsache des Bewusstseins gibt: »Es kann als ein unläugbarer Erfahrungssatz angesehen werden, daß unser Ich sich selbst als ein fühlendes und denkendes Wesen erscheine«.68 Es zeige »sich unmittelbar aus den Beobachtungen eine gewisse Einheit unsers Ichs«.69 Und so überrascht es nicht, dass Tetens folgende Aussage als »Beobachtungssatz« ansieht: Ich, der ich fühle, denke, afficirt werde, leide, handle, bin so sehr Eins und dasselbige Wesen, Ding oder Kraft, wie man es nennen will, daß ich keinen Begriff von einer größern Identität habe, als diese Identität meines Ichs ist.70

Schon dieser Gedanke der Einheit des Ich im psychologischen Verstande wirft allerdings eine Frage auf: ob sie wirklich Gegenstand der bloßen Beobachtung oder des Gefühls sein kann, wie Tetens behauptet. Fühlen wir diese Einheit oder nicht doch bloß die verschiedenen, aufeinander folgenden inneren Modifikationen, wie Hume wohl gegen Tetens argumentiert hätte? Kurz: Handelt es sich dabei mehr um eine behauptete als eine »beobachtete« Einheit? Des Weiteren ließe sich einwenden: Selbst wenn wir mit Tetens annähmen, es gebe ein Gefühl, das uns bedeute, wir seien kein »Haufen von mehrern Dingen«,71 sondern ein einheitliches Wesen, so könnte ein solches Gefühl uns doch täuschen. Wir könnten uns auf seiner Grundlage für einheitlich und identisch halten, ohne es aber tatsächlich zu sein. Tetens hielte dagegen, dass dieses Gefühl nicht bloß illusorisch sein könne, sondern auf eine reale Einheit verweise. Denn die Existenz des Gefühls fiele weg, sagt er, »wenn nichts weiter, als eine Menge von Wesen da ist, deren jedwedes allein für sich ganz etwas anders als ein Fühlen hervorbringt«.72 Dennoch gesteht Tetens zu, dass der Hinweis auf die »beobachtete Einheit« nicht ausreiche, sondern dass es zweitens einer rationalen Argumentation bedürfe, die zur »substanziellen Einheit« der Seele, zur Seele als immaterieller Substanz führe.73 Wie gesehen führt für Tetens die rationale Analyse mentaler Akte zum Gedanken der Notwendigkeit einer solchen substantiellen Ein67 68 69 70 71 72 73

Joseph Priestely: Disquisitions relating to Matter and Spirit. London 1777, S. 86f. PV II, S. 197 (13. IV. 4.). Ebd., S. 191 (13. IV. 3.). Ebd. Ebd., S. 178 (13. IV. 1.). Ebd., S. 197 (13. IV. 4.). Ebd., S. 194 (13. IV. 3.).

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heit. Die Frage, die im Titel des vorherigen Abschnitts gestellt wurde, lässt sich also so beantworten, dass Tetens die Einheit des Ich, in jeweils unterschiedlicher Hinsicht, sowohl als Gegenstand des Selbstgefühls als auch als notwendige Bedingung mentaler Aktivitäten gilt. Eingangs wurde darauf hingewiesen, dass es Tetens um eine Verbindung von »psychologischer Analyse« und »theoretischer Spekulation« gehe. Diese Hinweise gelten nach dem Gesagten nicht zuletzt für seine Ausführungen zum Selbstgefühl. Tetens kann nur dann als reiner Empirist missverstanden werden, wenn man seine Äußerungen zur Rolle von Erfahrung und Beobachtung isoliert betrachtet. In Ueber die allgemeine speculativische Philosophie betrachtet Tetens die empiristische Herangehensweise nur als einen ersten Schritt in seinen Untersuchungen. Dann komme es auf »die Speculation aus allgemeinen Gründen« an. Hier behauptet Tetens, vielleicht im Anschluss an Leibniz, sogar von den »Scholastikern« könne man hier noch etwas lernen.74 Wie man sich das Verhältnis von empiristischer Methode und »Speculation aus allgemeinen Gründen« im Einzelnen vorzustellen hat, wird allerdings nicht ganz klar, auch das gilt für seine Ausführungen zum Selbstgefühl. Klar ist jedoch, dass in Bezug auf den Themenkomplex ›Selbstbewusstsein‹ Tetens’ Verhältnis zur Tradition des Empirismus uneindeutiger und komplexer ist, als es zunächst erscheinen mag. Das sollte auch berücksichtigt werden, wenn man das Verhältnis Tetens-Kant betrachtet.

74

Johann Nikolaus Tetens: Ueber die allgemeine speculativische Philosophie. Bützow, Wismar, 1775, S. 86. Vgl. auch S. 73 u. S. 89. Tetens betont: »Die Brittischen Philosophen mögen unsre Muster im Beobachten seyn; aber sie sollten es nicht seyn in der speculativischen Philosophie« (ebd., S. 87).

PATRICIA KITCHER

Analyzing Apperception (Gewahrnehmen)

1. The Observational Method Although Tetens’s lengthy volumes seldom employ the term ›apperception‹, the concept is the topic of the third of his Philosophical Essays on Human Nature and its Development (Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung).1 It is also discussed extensively in other sections of volume 1, especially Essay 4. His preferred expression is »Gewahrnehmen«,2 which I simply translate as ›apperception‹. Tetens prefaces the Essays with an account of his method. He describes it as having been pioneered by Locke and followed by recent psychologists. It is a matter of observing the effects of mental faculties under different conditions and of analyzing the results with a view to discovering the simplest faculties of the mind.3 An obvious concern about the method is how theorists are able to observe the capacities and effects that are to be distilled into their fundamental activities. The faculty of apperception appears in the study in two guises. It is one of the faculties through which complex capacities are decomposed into their more basic subcapacities, one of the faculties through which various effects are explained. It is also an analysandum. One of Tetens’s central questions is whether apperception can be reduced to a more basic faculty. Although Tetens thinks that contemporary psychologists mainly follow Locke, he objects that some deviate from the method in two different ways. The French (later Swiss) naturalist Charles Bonnet had argued that the only way to study the soul is through its faculties and that the only way to study these faculties is through their effects.4 Yet, as Tetens points out, Bonnet injects metaphysical assumptions into his work.5 First, he is always concerned to explain mentality in terms of neural action and these accounts considerably outrun the observational data.6 1 2 3 4 5 6

Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 vol. Leipzig 1777 [in the following cited as PV vol., page (Essay, Chapter, Paragraph)]. Ibid., I, p. 262 (3. I.). Ibid., I, pp. III–IV. Charles Bonnet: Essai de psychologie. London 1755, p. 122. PV I, p. V. Ibid.

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Second, he makes an error which is common to the work of Claude Adrien Helvétius and Étienne Bonnot de Condillac. Like Leibniz and Christian Wolff, these theorists assume that, since the soul is in itself a simple being, then its various activities must be expressions of a single basic faculty.7 Tetens’s critique is not so much of the assumption of a fundamental faculty as of its pernicious effects on the work of analysis. It is not enough just to abstract from differences across faculties or to try to tie them together in a single name. There must be a genuine resolution that makes obvious the inner identity of the (apparently) different activities.8 Although he greatly admires Bonnet’s explanations of the effects of the soul’s faculties, explanations that he thinks are distinguished by their precision and practical brilliance,9 he cannot go along with his attempt to account for consciousness and apperception in terms of feeling and sensing [Empfinden]. That is a bold leap of imagination that goes beyond the bounds of intelligibility.10 Tetens’s prefatory remarks indicate his fealty to Locke’s methods. With one large exception, he mainly accepts his theories as well. In particular, Tetens devotes considerable efforts to defending two of Locke’s central theses: Nothing is in the mind which was not first in the senses; concepts are nothing outside the mind. As has often been noted, these doctrines are in some tension. There is no hint of anything artificial or conventional in the way in which the senses ›furnish the mind with ideas‹. They simply convey perceptions or sensations from external objects into the mind.11 On the other hand, Locke is adamant that general terms are conventional, »are creatures of our own making«.12 On Locke’s account, humans acquire general terms, e.g. ›man‹, through forming general ideas on the basis of sensing particulars, e.g., Peter, Jane, Mary, and James. He recognizes that it seems puzzling »how general Words could be made«.13 The puzzle he focuses on is metaphysical: How can humans use general terms to refer to things when the world is made up of individuals? There is, however, an equally obvious puzzle in his epistemology. How can natural interactions of sensing particulars lead to the formation of conventional general words? His solution to the metaphysical problem and (de facto to the epistemological one) is his theory of resemblance and abstraction. The idea of ›man‹ is formed when cognizers retain qualities that are common to the sensory representations of different humans and leave out qualities in which they differ,14 and when they leave out the particularity of the particulars, the time, location and fact of existence of the individual.15 Although Tetens doesn’t frame his discussions in terms of reconciling Locke’s Empiricism and his conventionalism, he ends up claiming that his own account of apperception provides a way of reconciling the doctrines. 7 8 9 10 11 12 13 14 15

PV I, p. 4 (1. I.). PV I, pp. 5–7 (1. I.). PV I, p. 291 (3. VI.). PV I, p. 7 (1. I.). See John Locke: Essay Concerning Human Understanding. Ed. by Peter H. Nidditch. Oxford 1975, 2.1.2– 5, pp. 104–106. Ibid., 3.3.11, p. 414. Ibid., 3.3.6, p. 410. Ibid., 3.3.8, p. 411. Ibid., 2.9.9, p. 159.

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Tetens parts company with Locke on the long-running disagreement over unconscious ideas. Since he takes apperception to be the differentia of conscious as opposed to unconscious ideas, his theory of apperception is also a significant departure from Lockean orthodoxy. Locke had been clear that all ideas must be conscious. He began the second book of the Essay Concerning Human Understanding with the declaration that every man is conscious to himself that he thinks. This need not imply that whenever a man thinks, he is conscious of doing so, but shortly afterwards, he explains that »it [is] […] hard to conceive that anything should think and not be conscious of it«.16 Further, in his familiar account of what ›person‹ stands for, he again ties thinking to consciousness: a thinking intelligent Being, that has reason and reflection, and can consider itself as itself, the same thinking thing, in different times and places; which it does only by that consciousness which is inseparable from thinking, and as seems to me essential to it: It being impossible for any one to perceive, without perceiving, that he does perceive […] this consciousness always accompanies thinking.17

Although Leibniz later disputes Locke’s position, he seemed originally to think that the mind perceived its perceptions. He writes in an early theological writing, The Confession of Nature against Atheists (1669), that [i]f one of the actions of a being is thinking, one of its actions is immediately perceptible, without supposing any parts in it. For thought is (1) a thing that is immediately perceptible, mind being immediate to itself when it perceives itself thinking. (2) Thought is a perceptible thing without being aware of its parts.18

Somewhat later, in unpublished notes on metaphysics from April of 1676, he expresses doubts about the perceptual model. In our mind there is perception or a sense of itself as of a certain specific thing; this is always in us, because, as often as we use the name, we at once recognize it. As often as we will, we recognize that we perceive our thoughts, that is, that we have thought a little earlier. Therefore intellectual memory consists not in what we sense but in that we sense – that we are those who sense. This is what we commonly call identity.19

Although Leibniz claims that we perceive both ourselves and our thoughts, he ends up denying that this is really a matter of sensing. Rather, we recognize that we think and perceive. By the time of the New Essays on Human Understanding (1704, published 1765), Leibniz had firmly rejected the view that all thinking is self-conscious at least on the model of perceiving perceptions. He offers the now familiar criticism that such a model would involve an infinite regress: »It is impossible that we should always reflect explicitly on all our thoughts; for if we did, the mind would reflect on each reflection, ad infinitum«.20 He also offers a memorable example as evidence for unconscious perceptions: the sounds of individual waves that make up 16 17 18 19 20

Ibid., 2.1.11. Ibid., 2.27.9, emphasis mine. Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophical Papers and Letters. Trans. and ed. by Leroy E. Loemker. Second Edition. Boston 1969, p. 113. Ibid., pp. 161–162. Gottfried Wilhelm Leibniz: New Essays Concerning Human Understanding. Trans. and ed. by Peter Remnant a. Jonathan Bennett. New York 1996, p. 118 (2.1.19).

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the roar of the ocean, but that cannot be separately differentiated.21 The example is not entirely convincing, since people may not hear the individual waves, but only their combination. By the time that Tetens considers the issue, better examples are available. In. Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (1751), better known as the German Metaphysics, Christian Wolff also rejects the claim that nothing can be in the mind of which it is unaware.22 »I see in a far away field something white, but do not know what I can make of it not being able to distinguish one part from the other; so the thought that I have of it is obscure«.23 In the Essay on the Origin of Human Knowledge Condillac argues for unconscious perceptions through the example of reading.24 It seems as though one is only conscious of the ideas and not of the letters. On the other hand, a reader must be conscious of the letters. Without such consciousness, he could be aware of neither the words nor the ideas. As was often the case with disputants over unconscious perceptions, Condillac tries to solve the puzzle by appealing to memory: Readers are aware of all the impressions, but the awareness is so superficial that it leaves no memory trace.25 Tetens maintains that there are representations that are unconscious26 and offers similar examples: One cannot distinguish even the fronts of the different leaves in a tree swaying in the distance or the different sounds of the instruments in a concert, yet these visual and sound pieces must be pieces of the whole perceptions.27 Tetens’s concern with unconscious representations is not so much with their existence, but with how to understand the difference between representations that are conscious and those that are not. As he observes, it is not useful to know that there are unconscious representations unless we know in what sense.28 This problem is central to his account of apperception, because, as noted, conscious representations are those that are apperceived.29 In the course of analyzing apperception, Tetens discusses a number of issues, including the status of the cogito and the origin of the concept of the self. But he develops his theory of apperception in response to the demands of the controversy over unconscious perceptions, the one fundamental faculty thesis, and Locke’s claims for the necessary sensory basis – and conventionality – of thought. Sometimes he wonders whether these systematic concerns lead him, as well as his opponents, to outrun the data of observation.30 Tetens’s Essays have been of great interest to Kant scholars, because he is known to have read them with some care in the crucial years just before the appearance of the first edition of 21 22

23 24 25 26 27 28 29 30

Ibid, p. 54. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt [Deutsche Metaphysik]. In: ders.: Gesammelte Werke. Ed. by Jean École u.a. Abt. I, Bd. 2.1. Hildesheim, Zürich, New York, § 193. Ibid., §199. Étienne Bonnot de Condillac: Essay on the Origin of Human Knowledge. Trans. and ed. by Hans Aarsleff. Cambridge 2001, p. 6. Ibid., p. 12. PV I, p. 265 (3. II.). Ibid, pp. 172–173 (2. II. 2.). Ibid., p. 265 (3. II.) Ibid., pp. 262–263 (3. I.). Ibid., pp. 293–294.

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the Critique of Pure Reason.31 Since the »transcendental unity of apperception« lies at the heart of the Critique, I will conclude by briefly contrasting Tetens’s Empiricist account of apperception with Kant’s transcendental one. I will also briefly consider Kant’s objection to those who confuse apperception with inner sense, since his target may well have been Tetens. Most of chapter will, however, be devoted to laying out and evaluating Teten’s theory of apperception.

2. Essay 3: On Apperception and Consciousness, Sections 1–3 2.1. Locating Apperception Like Wolff before him and Kant after him, Tetens takes the basic genus of the mental realm to be ›representation‹. Within that class, he distinguishes the conscious from the unconscious. Consciousness has two constituents: feeling and apperception.32 Feeling is essential to consciousness because it supplies the qualities of which the subject is conscious. He characterizes the other essential element of consciousness as ›apperception‹, because he takes that to be the genus for a variety of more specific mental operations, including noticing, becoming conscious of something, being conscious, recognizing something and so forth.33 His description of the genus is analogical; it also seems far closer to Wolff’s picture of consciousness as active differentiating than to Locke’s idea that consciousness comes along with or accompanies passively received representations: When the soul says internally as though to itself, and where this act is especially lively, it really expresses it thusly: See; when namely it apprehends an object as a particular object, knows it among others, distinguishes it; then what is present is called coming to apperceive or apperceiving.34

Further, this distinguishing includes a representation of the self: »Consciousness is on one side a feeling, but a clear feeling, a clear impression, which is connected with distinguishing between the felt thing and the self«.35 After considering the relation between feeling and apperceiving, I turn to the issue of the relation between the thing distinguished and the self.36 Having analyzed consciousness into two 31

32 33 34 35

The oft-recounted story from Hamann is that Tetens’s book lay open on Kant’s desk as he wrote the Critique (see Jürgen Bona-Meyer: Kants Psychologie. Berlin 1870, p. 56). Kant reports his reading in a letter to Marcus Herz of April 1778: »Tetens, in his diffuse work on human nature, made some penetrating points; but it certainly looks as if for the most part he let his work be published just as he wrote it down, without corrections. […] After exhausting himself and his reader [in a discussion of freedom from the second volume] he left the matter just as he found it, advising his reader to consult his own feelings (see Kants gesammelte Schriften. Ed. by the Königliche Preußische Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. [in the following: AA vol., page], X, p. 232). Wolfgang Carl (Der schweigende Kant: Die Enwürfe zu einer Deduktion der Kategorien. Göttingen 1989, p. 115) discusses additional evidence, including notes in Kant’s hand in his copy of Tetens. PV I, p. 263 (3. I.). Ibid., p. 262 (3. I.). Ibid., p. 242 (3. I.). Ibid., p. 263 (3. I.).

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aspects in the first section, Tetens considers in the second whether apperceiving is one and the same as the act of feeling or one and the same as the act of representing.37 He notes that Condillac held that attending, comparing and reflecting were merely higher degrees of feeling.38 He then turns to a result from the First Essay. A sensed object is not apperceived in the first moment when the impression is received. Apperception takes place through ›Nachempfindung‹.39 Unfortunately the First Essay’s explanation of the notion of Nachempfindung (literally ›afterimpression‹) is unclear. It offers the analogy of a musical string. A string is bowed and it continues to vibrate.40 Similarly when a stream of light falls on the eye, the change persists in us for a while: »There [in the persisting modification] is the after-impression or the sensory representation of the present object or, as well, the impression itself regarded as a representation of an object«.41 The string analogy was very popular in speculating about the motions of the nerves, but Tetens seems to appeal to it just to illustrate what he was certain that people observed anyway: Their sensations continue after the stimulus is past.42 It is unclear, however, how a continuing sense impression is thereby understood to represent a present object. Perhaps the connection is indirect. Continuation or memory of a sensation was widely believed to be crucial to consciousness and consciousness is necessary for object representation. After revisiting the delay before apperceiving in Essay 3, Tetens moves from unapperceived (first) impressions to the question of the sense in which there are representations without consciousness. He thinks that the question is not answered by appeals to memory. Undifferentiated representations can also be repeated.43 Since repetition is not the differentia of conscious representations, he tries to turn the debate in a more promising direction.44 The underlying issue is whether there are representations that are sufficiently clearly and strongly represented that they could be apperceived, even though they are not yet apperceived. More briefly, are there nonapperceived but apperceptible representations? Are there representations in us, regarded as images and signs, which are sufficiently expressed, and strongly enough separated from others in the fantasy, that they and through them their objects can be distinguished from others? ... Or must they perhaps receive that material clarity only through the same act, through which they are actually apperceived, and actually used as images and signs? through the act whereby they are animated with consciousness and become ideas?45

This question is crucial, because if representations are fully apperceptible prior to being apperceived, then apperceiving would not alter their contents. The soul would add only consciousness to an already fully expressed representation.46 Under these circumstances, two key issues would be settled. There would be unconscious representations in the sense of fully formed re36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46

See below p. 119ff. Ibid., p. 263 (3.I.). Ibid. p. 264. (3.II.) Ibid., p. 264 (3. II.). Ibid., p. 31 (1. V.). Ibid., p. 32 (1. V.). Ibid., pp. 32–33. Ibid., p. 265 (3. II.). Ibid., p. 266 (3.II.). Ibid., p. 260 (3.II.). Ibid., pp. 271–272 (3. II.).

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presentations that are not conscious; the difference between sensory images and ideas would be one of degree, not kind (of content). Ideas would just be stronger, clearer images and the one faculty thesis would be vindicated. Having cast the issue of unconscious representations in this way, Tetens considers the evidence on both sides. On the one hand, it seems probable that we could not have a visible figure present in us that we do not at the same time see; on the other it seems that we see so much in a representation when we turn our full attention to it that we do not recall noticing in the impression.47 He then turns to two further considerations that point to a negative answer, although he doesn’t consider them decisive. If it is relations that we apperceive in comparing the present representation of something that is [just] absent with other [previous] representations that we have, then this [extra content] is a new effect of our reflection.48 The thinking power adds these relational thoughts to the representations; by contrast absolute properties can only be added by the fantasy or perhaps through the association of ideas. In these cases, the additions are either fictional or accidental.49 The second consideration is that when the thinking power expresses itself, intercedes with a representation, it must modify it. If the thinking power added only consciousness to a fully complete representation and did not alter it, then the case would differ from other similar cases.50 Tetens doesn’t say which cases he has in mind, but the next section considers relations of sameness and difference and placing objects in spatial and temporal relations, and these species of relations involve additional content. So perhaps his two arguments against the possibility of apperceptible but unapperceived representations and so, unconscious perceptions in this specific sense, are merely two ways of making the point that an [active] mental power of apperception expresses itself by adding relational content to representations. On his Wolffian view, a feeling or representation becomes conscious or becomes an object of consciousness by being separated out from something else and that activity ipso facto adds relational content, of the representation to a background.

2.2. Apperception, Relations and Subjectivity Section three elaborates the connection between apperception and thoughts of relations, and the possibility of reducing that faculty to feeling. Because apperceiving is a matter of differentiating, it must give rise to the idea of a relation between one thing and others.51 This property of apperceiving provides a criterial difference with feeling. The proper objects of feeling are absolute qualities, not relational ones. Tetens notes that one might try to find a common genus for these two sorts of properties or predicates, the absolute and the relational.52 This would, however, be just the sort of papering over differences with a common name that he decried in Essay 1 (above, p. 2). Although he does not claim to have fully proven that the acts of feeling and 47 48 49 50 51 52

PV I, p. 268 (3. II.). Ibid., p. 268 (3.II.). Ibid., p. 271 (3. II.). Ibid., p. 272 (3. II.). Ibid., p. 273 (3. III.). Ibid., p. 275 (3. III.).

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apperceiving are at bottom different, he thinks the proposition that they are has been made probable.53 Within the overarching project of section three, that of advancing the discussion of reducibility, Tetens raises several interesting contemporary issues. One concerns Descartes’s thesis of ›material falsity‹.54 Can only judgments be false or is it possible to have a false idea? The issue arises, because Tetens tries to determine whether apperceiving or differentiating is a type of judging. Insofar as judging is a matter of relating ideas, apperceiving could not be a type of judging. Such judging presupposes ideas and ideas only arise through differentiating. On the other hand, apperceiving must be considered as a kind of judging, because it produces the thought of one particular object – the object that is seen – in relation to others. Apperceiving »consists in distinguishing and knowing that I have this thought in me, even if it is neither present in the form of a full judgment, nor signified in actual words«.55 Again, I consider below what Tetens might mean by ›in me‹.56 Here my concern is with his claim that apperception alters a representation by imbuing it with a relational aspect: It is singled out in relation to some undifferentiated background. Tetens uses his account of apperception to answer the Cartesian question about false ideas. Since apperceiving inevitably relates a representation/object to a background, it can be considered a kind of judging. In that case, all errors would be errors of judgment. If these are removed, then nothing would remain of our cognition except mere images. And however unnatural, unsuitable to their objects and full of mistakes they might be, they could not amount to error, because there would be no act of the thinking faculty.57 Here it seems clear that Tetens considers apperceiving to be a source of error and a kind of judging, because it is an act of the thinking faculty. Apperceiving introduces relational properties into representations, so those properties are its special province as opposed to the absolute properties that are the objects of feeling. The relational properties produced by apperceiving belong to what Tetens characterizes as the ›first species‹ of relations, relations of sameness and difference. He thinks that, in this first species, we can see very clearly the difference between the absolute qualities of things, their sizes, shapes, weights and colours, which are objective and objects of the faculty of feeling, and relative or relational properties. The similarity of two things cannot be located in the objects; the relations must be subjective, produced by the thinking faculty: The thought of a relation is produced by the thinking power, and is nothing outside of the understanding […] a concoction of that power, with which we compare those present representations of things in us as objects, and then so to speak impress them with a seal of our comparing activity.58

Although the metaphor of a seal is quite striking, Tetens goes on note that the ›seal‹ is an example of a broader phenomenon:

53 54 55 56 57 58

Ibid., p. 275 (3.III.). Ibid., p. 274 (3. III.). Ibid., p. 273. See below p. 119ff. Ibid., p. 274 (3. III.). Ibid., p. 276 (3. III.).

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When the thought of the relation is once produced, then the power of the soul has expressed its activity, and this action is a change in the soul, which, like every other, leaves traces behind, which in a similar manner as other representations, can be reawakened without it being the case that the first or original act of thinking itself is repeated.59

Under these circumstances, when an apperceived representation, say of a linden tree, is reawakened, it will not be a bare tree image, but a representation of a tree-image as singled out. Tetens tries to avoid a possible misunderstanding of the view that a mental act of relating leaves its seal on the singled out representation. The act of relating may be reawakened as part of the content of the enhanced representation – tree or tree image as singled out – but that should not lead to a false view of the concept of relation. One complains about the subtlety; I have no objections. But it is still so; one must look on all sides. It is one thing, first to elucidate things as the same or to distinguish them; and it is another to imagine these thoughts again, to abstract from them, to separate out the commonality in many relational thoughts and from that draw out a universal concept of relational thought and of relations themselves.60

His point is that although we cannot single out things without identifying them or differentiating them and cannot form the concept of relation without comparing cases and abstracting from their differences, the two sorts of activities have different effects. Apperceiving produces relations of singled out to background that cannot be understood in terms of comparing ideas, because it is the source of ideas. He proceeds to offer examples of other relations that do not involve comparison, viz., spatial, temporal and causal relations among real objects. In the Fourth Essay, he presents another important counter-example to the thesis that all relations include the idea of comparison: How could the reference of a representation to an object be a matter of comparison?61 The theory about mental action and content that Tetens offers in these passages does involve a subtle distinction. Apperceiving a tree produces a representation of a tree representation/object as singled out in relation to a background; the act imbues the image with relational content by means of a trace of the action. This enhanced representation is not the concept of relation, however, any more than a judging is the idea of judging.62 When subjects form the concept of relation, they must compare different cases of relational representations; although comparing and abstracting are necessary for forming the concept of relation, that concept does not include the idea of comparing. We can see this, because some relations, e.g., singling out, being next to or ahead of or behind, reference to an object, do not involve a comparing of ideas. Tetens does not spell out why some mental actions leave their seal on representations where others do not, but the two cases involve a crucial difference in level. Concept formation requires conscious representations. What it means for a representation to be conscious is that it is singled out. Hence the materials from which concepts are abstracted are singled out representations. By contrast, comparing is an operation carried out on conscious representations. If that 59 60 61 62

PV I, p. 276 (3. III.). Ibid., p. 276f. (3.III.). Ibid., p. 364 (4. VII. 5.). Ibid., p. 339 (4. VI. 2.).

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action also added content to the compared representations, then the process would never terminate, since the representations would need to be compared in respect of that additional content on infinitum.63 Yet it seems obvious to Tetens and his contemporaries that subjects are able to form concepts by engaging in activities of comparing and abstracting. Further, since those activities were widely thought to be necessary to form any concept, then if the concept of ›relation‹ includes the concept of comparing, so should the content of, e.g., the concept of a ›tree‹. On the other hand, if all concepts are produced through abstracting and comparing, then the concept of ›concept‹ should include the idea of comparing. And that seems to be Tetens’s point. Those who think the idea of relation must include that of comparison are confusing the contents that fall under the concept ›relation‹ with the process by which the universal concept ›relation‹ is formed. Although Tetens is not explicit that the relational content introduced into representations by apperception is subjective until Essay 4,64 the earlier discussions contain ample hints of that view. These relational contents belong to the species of relations of sameness and difference that is the parade case of content that does not reside in objects, but is created by the subject. At this point we can begin see the shape of a possible Tetensian reconciliation of Empiricism and the conventionality of thought. Apperceived representations or ideas, and concepts and judgments are of a piece in being subjective and so nothing but creatures of the mind. Lockean Empiricism explains the needed fit between sensory representations and concepts by having sensory representations lead the way. Concepts are made by comparing and abstracting from similar representations, representations that are copies of sensory representations, so there is no mystery how concepts can be applied on the basis of sensory perceptions. Locke sees a world of individuals and the absence of an epistemic route to real essences; he notes the divergences across concepts in different language communities and so takes concepts to be conventional. He can remain true to Empiricism by explaining concept formation in terms of (objective) agreement or resemblance across representations65 and the comparing and abstracting of various properties. As J. L. Mackie, among others, noted, resemblance and abstraction are not sufficient to resolve the issue of conventionality. Locke must also appeal to something like selective attention and assume that there is an oversupply of ›agreeing‹ qualities, so that members of one language community could selectively attend to qualities a,b,e, and f and so use those as the ›nominal essence‹ of ›man‹ and another selectively attend to qualities a,c,d.66 Tetens does not rest his claims for the subjectivity of thought on linguistic differences. On his account subjectivity enters cognition at the ground floor of conscious representations. Representations are made conscious by the active faculty of apperception. It is a basic capacity of the mind that underlies judging, concept formation and clarifying the parts of concepts.67 Rep63

64 65 66 67

This seems inconsistent with Tetens’s claim at PV I, p. 276, that apperceiving is a matter of comparing and that comparing leaves its seal on the representation. In other places, however, Tetens is clear that apperceiving cannot be a matter of comparing, although it is like it in some respects. Since he is discussing apperceiving in this passage, I read this passage as using ›comparing‹ in the looser sense in which apperceiving is a kind of comparing. PV I, p. 303 (4. III. 1.). Locke: Essay (see note 11), 3.3.7, p. 411 and 3.3.9, p. 412. John Leslie Mackie: Problems from Locke. Oxford, Toronto 1976, p. 136. PV I, p. 310, p. 311 (4. III. 2.), p. 299 (4. II.).

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resentations and their constituents become available for the formation of concepts through comparison and abstraction only because they have been made conscious or singled out. For example, I can form the concept of a tree only because I have apperceived representations of the trunks, leaves, and branches of linden trees, spruces, willows, etc., and can compare those representations with respect to similarity and difference. For Tetens, these comparisons do not reflect objective similarities, but create subjective relations of sameness and difference across representations.68 Before comparing can take place, apperceiving has already introduced two sorts of subjectivity into the process. The first sort is causal: The singling out is an activity of the thinking power, so that what is singled out is a product of that power which expresses its nature. The second sort is representational: The representations that I use to form the concept of a tree are all stamped with the seal of being singled out. Because Tetens maintains that representations are not merely accompanied by consciousness, but must be made conscious through acts of apperceiving, his understanding of the relation between percepts and concepts differs from Locke’s in two crucial respects. First, conscious representations are like concepts in being creatures of the mind; since they are creatures of the same active thinking faculty, there is no tension either between natural perceptions and artificial concepts, or between subjective representations of different faculties. Singling out cannot be exactly the same operation as comparing representations, because prior to the singling out there are no representations available to compare. Still, Tetens thinks that the operations are analogous and that they are different expressions of the same basic power. Second, the harmony of percepts and concepts is thus due to the active involvement of the thinking power at all levels of conscious representation. Although Tetens takes himself to be providing a robust defense Locke’s view that concepts are mind-dependent, he concedes in Essay 4 that he might be charged with betraying his Empiricism. Don’t his observations about relational representations imply counter-examples to the universal rule that all ideas and concepts arise from impressions?69 He replies to the anticipated objection by arguing that his position is just the refinement of Empiricism that Locke had pioneered. The objection errs in assuming an Aristotelian version of the doctrine that nothing is in the mind which is not first in the senses. Locke, on the other hand, explained quite clearly that he also counted self-feelings among impressions.70 If we look back at how relational thoughts arise, then we see that the prima facie doubtful case is no such thing. Relational thoughts are brought about through an activity that expresses the thinking power.71 This activity must have lasting effects that are felt and sensed; a felt modification must have its after-impression and its left behind trace. Those re-awakeable impressions of the singled out, apperceived and distinguished are then the basis for the relational thought or idea of the singled out (and part of the material for forming the universal concept of relation). In this case as in all others, it is impossible for anyone to have an idea – here a relational idea – without first having an impression of

68 69 70 71

Locke also thinks that relations are not contained in the real existence of things, but are extraneous, super-induced (Locke: Essay [cf. Note 11], 2.25.7, p. 122). PV I, p. 336 (4. VI. 1.). Ibid. p. 338 (4. VI. 2.). Ibid., p. 338 (4.VI.2).

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the activity of relating as well as (previous) impressions of the materials related.72 Given Locke’s refinement, Tetens faults Leibniz for holding that his version of the Empiricist credo, ›nothing is in the mind which is not first in the senses, except the mind itself‹, represents a new insight.73 Locke had already dealt with the activities of the faculties in producing representations when he introduced the notion of an ›inner sense‹. Despite Tetens’s eagerness to align his theories with those of his predecessor, his understanding of the role that Locke assigns to inner sense is tendentious. Locke does not posit a faculty of inner sense to explain how human representations of things have subjective elements. He introduces the faculty to explain how humans have ideas of mental activities such as perceiving, thinking, believing, reasoning and willing.74 More, importantly, Tetens can honor the Empiricist credo only by sliding between two candidates for the relational content added by apperceiving. What content is to be traced back to the impression of the act of apperceiving? At the beginning of the discussion, the claim is that through apperceiving »there arises in us a thought of a relation of one thing against [gegen] others«.75 This account fits with Tetens’s earlier claim that the relation produced by apperceiving belongs to the first species of sameness and difference. The trace that is reawakened, however, is not the after-impression of the relation of one thing to a background, but the after-impression of the act of relating one thing to a background. The difference between the two contents is evident when we ask about the relata: Are they the object or image singled out and a background, or the object and the act of ›seeing‹ that object? If they are the former, then the Empiricist credo has been violated, because there is no impression of such a relation. If they are the latter, then there is no thought (content) of a thing against others.76 Further, the point of tracing concepts back to representations of sense is to guarantee that they have application to some actual objects. By tracing relational properties back to impressions of mental activities, Tetens would have shown that they are nothing outside the mind. Under these circumstances, why assume that they can be employed to make true judgments about objects? Further still, if the content of the thought or idea is a relation between an object or image and an act of apperceiving/›seeing‹, then Tetens has offered an account of how apperceiving leads cognitive subjects to recognize representations as products of their cognitive activities and so, perhaps, as representations. In that case, however, he would be explaining the origin of the metacognitive idea of a representation, and not the origin of the relational contents of particular 72 73 74

75

76

Ibid., p. 339 (4. VI. 2.). Ibid., p. 337 (4. VI. 2.). Locke: Essay (see note 11), 2.1.4, p. 105. Tetens agrees with Locke that no one could have an idea of reasoning or insight into the connections among things who had not experienced her own reasoning or recognizing of connections. PV I, p. 273 (3.III.). In the case of the representation and idea of space, Tetens is clear that although acts of relating are required to produce the representation of space that is apperceived and so the idea of space, the actual material for the idea of space is the unified image and not the acts of unifying (PV I, p. 360 [4. VII. 4.]). On the other hand, the Third Essay suggests that with apperceiving, the reawakened trace is of an object or image as singled out (by an act). It doesn’t help to suggest that the impression is of an act of relating an object to a background, since that is still an impression of an act, not that of two items standing in a relation.

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representations. That is a useful thing to explain and, as noted above (p. 110f.), he thinks that cognizers do recognize their representations as such through apperceiving; still it is not what he is trying to explain in defending the Empiricist credentials of his theory of relational content. Tetens realizes that tracing representational contents back to the activities of the thinking faculty does not explain their objectivity, though he doesn’t discuss the problem until Essay 7. Thoughts of sameness and difference are clearly subjective. That may or may not be the case for other relations, e.g. those of co-existence and causation. (In Essay 3, he noted that Leibniz, Mendelssohn and Kant had all maintained different versions of the thesis that spatial and temporal relations were subjective.77) Even if all relational thought were subjective, however, what would that mean?78 If the relations that we encounter in our impressions were bound to our sort of impression, then they would have to be considered merely subjective. If, however, the relations were independent of our kind of impression, and were the same for every other thinking being, then they would be objective.79 It’s not possible to press the question further, because then one would have to ask whether there were relations that could be apperceived by creatures with a different thinking power. Although there is no way to eliminate this possibility, there is also nothing to be done with it. Since we can think at all only by thinking in terms of, e.g., sameness and difference, we could never understand the mind of a god or angel who did not think as our mind thinks.80 Tetens doesn’t advocate completely abandoning any distinction between appearance and reality,81 but rather giving up the terms ›objective‹ and ›subjective‹ and using the expressions ›inalterably subjective‹ and ›alterably subjective‹ instead.82 It is, however, unclear how he proposes to establish that some feature of our representations is ›inalterably subjective‹. I will not try to evaluate Tetens’s proposal for ›reforming‹ the concept of objectivity. It rests on the familiar move that humans must take the ›laws‹ that govern their own thinking to be privileged in some way, because they are incapable even of entertaining, no less evaluating, other allegedly possible modes of thought; it is also not particularly developed and would take us to far from the topic of apperception. By contrast, Tetens’s spends considerable effort in supporting and developing his claim that the relational character of apperceiving is the basis of the subjective character of thought; at an abstract level at least, this fits well with his appeal to apperception to resolve the question of unconscious representations. Apperception is criterial for conscious representations and, as noted, this would explain how those representations are a suitable basis for the application of concepts that are nothing outside the mind. Concepts are products of the mind’s creative powers and they can be applied to perceptions or conscious representations, because the latter are also products of the mind’s active powers. On the other hand, as we have just seen, it is not clear that this theory is consistent with Lockean Empiricism.

77 78 79 80 81 82

PV I, p. 277 (3. II.). Ibid., p. 538–539 (7. IV. 2.). Ibid., p. 538 (7. IV. 2). Ibid., p. 538 (7. IV. 2). Ibid., p. 536 (7. IV. 2). Ibid., p. 540 (7. IV. 2).

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3. Essay 3: On Apperception and Consciousness, sections 4–6 3.1. Apperceiving Apperceiving Having presented an analogical description of apperceiving and explained its role in the creation of relational thought (thereby contrasting it with the faculty of feeling), Tetens tries to provide a more precise characterization of the elements of apperceiving. Apperceiving presupposes the presence in the mind of a representation or feeling to be apperceived.83 This point does not require independent observation, but follows from the role of apperception in thinking. In the absence of a representation or feeling, there would be nothing for the faculty to ›see‹. He reverts to the method of observation in characterizing the elements of apperceiving and how it arises. As a preliminary, he tries to explain how we observe this activity: »The act of apperceiving can be observed only when a thing has already been apperceived. For in the moment when one apperceives one cannot also apperceive what thereby proceeds«.84 The argument for this claim was given in Essay 1, in the discussion of ›inner sense.‹ Cognizers cannot apperceive their apperceiving while they are doing it, because that would require them to divide their consciousness.85 For this reason, cognizers can observe their apperceiving and their thinking only ›from behind‹.86 Tetens appeals to the impossibility of the thinking faculty dividing itself in order to perform two simultaneous activities as part of his defense of Locke’s introduction of inner sense. He implies that Wolff errs in having very little to say about representations of mental activities.87 Since humans cannot apperceive and apperceive that they do, how do they know about their thinking? Locke was right to explain humans’ understanding of their own mental activities in terms of an inner ›sense.‹ Inner sense is a sense, because it has the same differentia as outer sense. Wolff maintained that the representations of outer sense represent objects, because sensations arise in the mind as effects of those objects; this theory can be extended to mental activities. We have already considered the basic assumption that stands behind Tetens’s account of internally sensing apperceiving (thinking): a change is caused in the representations No change can arise in representations that is not connected to a certain modification in the brain which belongs to it [those who identify brain and soul can substitute ›soul‹]. […] Thus if a change is caused in the representations from an outwardly directed effort of the thinking power, that change is herewith connected to a change in the organ [brain or soul], which [change] can again be sensed by the soul. In this way it is comprehensible how a sensation of action on ideas in the soul could arise in the manner in which a sensation is produced from an impression that an external object creates on the [sensory] organ.88

83 84 85 86 87 88

PV I, p. 281 (3. IV.). Ibid., p. 281 (3. IV.). Ibid. pp. 46–47 (1. VII.). Ibid., p. 49 (1. VII.). Ibid., p. 45 (1. VII.). Ibid., p. 49 (1. VII.).

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Inner sense works in the same way that outer sense does. As objects cause impressions in sensory organs that give rise to sensations that represent the objects, (mental) acts cause impressions on the mind/brain organ that give rise to sensations – which then represent the actions. These impressions remain and can be reawakened and apperceived; whence the possibility of apperceiving apperceiving and determining its properties. Immediately after arguing that thinking can be observed only ›from behind‹ in Essay 1, Tetens weighs the implications of this doctrine for a current controversy. He takes it to lie behind Johann Bernard Merian’s critique of the cogito. If thinking can be observed only ›from behind‹, then Descartes should not have said ›I think‹ but ›I have thought‹. Tetens thinks that this is right in a sense, although in another sense, it is sophistry.89 Merian is correct if the cogito is understood as asserting that I know that I think or that I think that I think. It is, however, possible to say ›I think‹ concurrently with the thinking, because that merely expresses the act of thinking.90 I take Tetens’s point to be that sensing thinking and then apperceiving the impression are necessary only for observing thinking and constructing theories of it. He complains that the representations of inner sense are very obscure.91 He doesn’t explain why this is unfortunate, but it may be because it makes the work of psychologists and philosophers difficult and controversial. Conversely, thinking itself can operate perfectly well without being observed and theorized. That is why Merian’s criticism of the cogito might be sophistical. A cognizer who apperceives P can think P without either sensing or apperceiving his apperceiving. Since Descartes took mental activities to be transparent in that subjects who engaged in any of the various forms of thinking must be conscious that she is doing so, he would very probably reject Tetens’s attempt to save him from his critics.

3.2. The Elements (and Mechanics) of Apperceiving Returning to Essay 3, Tetens presents the results of apperceiving apperceiving through the impressions that it leaves behind. One distinguishing feature of apperceiving is that it makes the representation preeminently lively and separated from others. (In Essay 4, this act is further divided into one of isolating or segregating and one of relating to other non-apperceived representations.92) A second distinguishing feature of apperceiving is that it involves a turning back to the representation. The powers of the soul, whether they are sensing faculties or representing ones are active, restless, inclined to move from one representation on to another. In apperceiving, the power moves on from the representation and then turns back to it. It is as though the power is bound to the representation.93 This is the basis of his claim that apperceiving belongs to the species of relation of sameness and difference. The latter relation arises by going back and forth between different representations and he claims to observe a similar movement in apperceiving – not moving between representations, since this is the process of becoming con89 90 91 92 93

In Patricia Kitcher: Kant’s Thinker. New York 2011, I only presented Tetens’s endorsement of what he took to be Merian’s critique of the Cogito. PV I, 48 (1. VII.). Ibid., p. 45 (1. VII.). Ibid., pp. 350–351 (4. VII. 2.). Ibid., pp. 281–284 (3. IV.).

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scious of representation – but moving away from the representation and back to it. Nevertheless the back and forth movement in apperceiving is both the seed for and an analogue of the activity of comparing representations.94 Tetens claims that this sort of physical turning back to the representation is clear in many examples, but he doesn’t give any.95 And, despite his efforts to show that apperceiving can be observed and so analyzed into its elements, his views about how it works seem grounded in theory. The doctrine that the powers of the soul (even the sensing ones!) are active seems theoretical and was, as he knows, denied by ›observers‹ such as Condillac, Bonnet and Search. They take the thinking faculties to be like sense in being passive.96 Further, it is hard to see how observation could support his claim that distancing oneself from a representation and then returning to it is an ›essential factor‹ in producing a differentiation.97 Section 5 takes up the question of the passive or active character of apperceiving, with Tetens coming down firmly on the side of action. He also repeats the surprising claim that since apperceiving is a matter of working up and making an impression or a representation »it is without doubt an action of the feeling or representing faculty«.98 At this point, we can begin to see the basis of his disagreement with Bonnet and others. It’s not so much that he thinks they err in finding commonalities between apperceiving and feeling; they err in taking the feeling faculty to be passive. Tetens tries to explain how theorists have come to the mistaken view that apperceiving is passive. Comparing, combining and abstracting seem to be activities, but they are ascribed to the faculty of willing, because that is taken to be the faculty that determines the self-activity of the mind to some sort of efficacy. With this division, the understanding is relegated to the position of a purely passive faculty of receptivity. This, however, is an artificial division of the faculties of the soul. Why isn’t it better to distinguish a faculty that is self-active, but directed toward knowledge, from a self-active faculty that is directed outward to actions, that causes changes in humans and in the world that do not consist in representing and thinking?99 Tetens’s question seems to be a good one. If the mind is efficacious, capable of producing representations that lead to action, why can’t it also produce representations that are part of cognition? Here, again, however, he seems to be running afoul of the basic rationale for Empiricism. If representational elements are tied to the mind’s activities rather than to what the senses receive, then there is an issue about how representations with those elements can be applied to objects of the senses. Besides this erring systematic division, there is also the fact that the German language distinguishes apperceiving from coming to apperceive. Coming to apperceive can happen both intentionally and in the absence of intention.100 Sometimes we compare ideas with a view to discovering the relations in them; at other times we apperceive a relation without having tried to do so. Tetens asks: isn’t it the same act of differentiating that occurs in both cases? But he 94 95 96 97 98 99 100

PV I, 285 (3. V.). Ibid., p. 284 (3. IV. 2). Ibid., p. 7 (1. I.), p. 264 (3. II.), p. 285 (3. V.). Ibid., p. 284 (3. IV. 2). Ibid., p. 289 (3. V.); emphasis mine. Ibid., 286 (3. V.). Ibid., p. 286 (3. V.).

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doesn’t think the issue is easy to resolve. Further, in the case of hearing the sound of a drum, apperceiving may be not just unintentional, but contrary to the subject’s intention. The forced character of apperceiving may suggest that it is passive. All it really proves, however, is that the subject cannot withhold the action – and not that apperceiving is not an action. He thinks that the balance of evidence suggests that it is more reasonable to regard apperceiving as an additional action of the soul and so the faculty of apperception as active.101

3.3. Apperception and Self-Consciousness Apperception is standardly understood as involving ›self-consciousness‹ and this is also an element of Tetens’s analysis. Earlier he had suggested that apperceiving involves disguising between the object and the self or the thought that a representation is in me.102 In section 5, he explains that in apperceiving something, we so to say in respect of this object come upon [it] as from a sleep. We grasp, apprehend it, we apprehend [fassen] ourselves in respect to it, think or remember [besinnen] ourselves and begin a new series of ideas.103

In both these contexts he seems to be drawing attention to the fact that where there is an action, where there is a representation/object discerned there must also be an agent, a subject who acts, who is in some sense the correlate of the object discerned. When Tetens explicitly takes up the question of the representation of the ›I‹ and the identity of the ›I‹, in Essay 5, however, he presents a very different account. He frames his theory in relation to Hume’s infamous denial of a self. It’s not clear whether he thinks that Hume was following the method of observation when turned his gaze inward and stumbled on only particular perceptions.104 If he was, however, he did it badly, because he missed something essential. When Tetens engages in this exercise he reports that I feel a representation; still another, also an activity of thinking, an expression of will and so forth, and these impressions are distinguished, and actually, however, I sense still more. As often as I sense, apperceive, am directly conscious of, a representation, so am I as well conscious that this feeling of my modification is only a conspicuous feature in a much larger, more extensive, stronger (although obscure or less clear in its other elements) feeling.105

Despite its unclear elements, he maintains that he is directly conscious of this large feeling. He claims further that the obscure ground or floor of the large feeling is the same across different modifications. The concept of the identity of the I arises from the comparison of the present larger feeling with similar past feelings.106

101 102 103 104 105 106

PV I, p. 287–290 (3. V.). Ibid., p. 273 (3. III.). Ibid., p. 290 (3. V.). David Hume: A Treatise of Human Nature. Ed. by Peter H. Nidditch. (Revision of L. A. Selby-Bigge. Second Edition). Oxford 1978, p. 252 PV I, p. 393 (5. V.). Ibid., pp. 393–394 (5. V.).

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Tetens had touched on this issue earlier in Essay 3, when he raised the question of the sense in which unconscious representations are unconscious. As noted, he claimed that undifferentiated elements of representations could be recalled by the imagination. Indeed, he claims that it is obvious that all the elements of a representation, the obscure as well as the clear, leave traces behind. For that reason he asserts that »[t]he foundation and basis of the soul consists, as Leibniz said, in unperceived representations«.107 With the ›conscious of self‹ aspect of apperception, Tetens seems again to have strayed from the path of observation to that of metaphysical speculation. The view that all aspects of all representations of the mind are retained by it in the form of traces could not be based on observation both because of its scope and because it invokes mental or neural traces. Further if the self-feeling is large and the observational method at all reliable, then how could other theorists, (e.g. Hume) have overlooked this essential factor?108 Tetens was not alone among 18th century theorists in linking apperception or selfconsciousness to self-feeling.109 Bonnet, for example, tried to understand apperception (or the feeling of perception) in terms of a self-feeling.110 Perhaps that is why the view did not strike Tetens as speculative. Still, it seems open to obvious objections. Besides the methodological problems noted above, there is considerable tension between the requirements of the metaphysics of identity and those of the epistemology of comparing. Comparing presupposes apperceiving and so separating out the representations to be compared; but all of a soul’s states belong to it – the obscure and well as the clear – and so a feeling of a whole self must involve them all. Further, as the soul has more and more representations, how could feelings of this ever enlarging totality at different times be the exactly the same? Finally, insofar as Tetens’s goal is to replace Hume’s no-self theory with something more adequate, something that does not present the self as a product of the combination of representations into a whole by the imagination, his theory seems to fall short. In so far as the concept or idea of the identity of the self arises through acts of comparison, then it is a product of the thinking faculty and subjective for that reason. He is not presenting evidence of a perduring self, but describing how cognizers claim ›same subject‹ through (subjective) acts of comparison. Tetens seems aware of the problem. He asserts that one consequence of his view is that the representation of my ›I‹ is not the representation of a collection, as soldiers in a regiment. Rather the unity lies in the impression itself, in nature and not in a ›made‹ combination.111 The problem is that although this may be true of each apperceived representation of something, it doesn’t seem to be true for the representation of a (continuing) ›I‹ just because that representation is produced through comparison. Although not all relations involve comparison, comparison is a form of relating and thus a ›concoction‹ of the thinking power.112

107 108 109 110 111 112

PV I, p. 265 (3. II.). Ibid., p. 393 (5. V.). See Udo Thiel: Varieties of Inner Sense: Two Pre-Kantian Theories. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 79 (1997), pp. 58–79. Bonnet: Essai (see note 4), p. 115. PV I, p. 394 (5. V.). Ibid., p. 276 (3. III.).

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The last section of Essay 3 returns to the issue of the relation between apperceiving and feeling. It turns out that there is a close connection between apperceiving (relations) and feelings. Feelings are absolute, but there is nonetheless a feeling of relation.113 He still cannot agree with Bonnet that judgments of relation are nothing more than feelings of relation, however, since it is incomprehensible to him how a feeling of relation, however clear or strong, can lead to a yes or no judgment.114 Judging, e.g., that the moon is not the same as the sun must be something active. Yet he has doubts about the firmness of observations in this area. Perhaps the feeling of relation is the cause that stimulates the thinking faculty into activity.115

4. Apperception as an Essential Element of Thinking The topic of Essay 4 is thinking and the power of thinking. Apperceiving is not so much the analysandum as part of the analysans. Apperceiving is the first and most basic action of the thinking faculty, the faculty through which humans recognize the relations and connections among objects.116 It is also an element in the other most important simple (i.e. non-derivative) actions of the thinking faculty,117 including judging, inferring and deducing.118 Insofar as apperceiving is necessary for forming ideas (through comparing) and ideas are necessary for judgments (that relate ideas) and judgments are necessary for inferences and deductions that relate them, this role was foreordained by the nature of apperceiving. Tetens maintains, however, that it plays a further crucial role in deductions (inferences with more than one premise). To bring out that role, he contrasts merely placing propositions together and apperceiving the relations among them with making an inference or a deduction. The former could happen by combining simple sentences in a new total judgment: A and B and C. By contrast, if someone derives C from A, then the premise and the conclusion are not so much related to each other by the thinking faculty as the conclusion is produced by the action of the thinking faculty upon its modification by the premise. The action of deriving produces a relation of ideas that hadn’t been there before.119 (On the other hand, he maintains that deriving is an expression of the faculty of relating ideas, but one with a higher or stronger effect.).120 The producing of one proposition from others is only half of the act of inferring; if it were all, then there would be nothing but an obscure or unconscious inference. The second essential part of inferring and deducing is apperceiving the relation between the conclusion that is produced and the premise(s) from which it follows.

113 114 115 116 117 118 119 120

Ibid., pp. 291–293 (3. VI.). PV I, pp. 291–292 (3. VI.). Ibid., p. 294 (3. VI.). Ibid., p. 293 (3. VI.). Ibid., pp. 346–347 (4. VII. 1.). As do other scholars of this period (e.g. Kant), Tetens distinguishes deductions (Schlusse) which require more than one premise, from immediate inferences (Folgerungen) that do not. See also PV I, p. 322 (4. IV. 4.). Ibid., pp. 369–370 (4. VII. 7.).

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This relationship consists in dependency and belongs to the relations which arise from a causal connection […] Inference is deriving one [proposition] from another, and apperceiving the dependency of the last upon the first.121

Tetens’s view about the requirements of deductions, or what we would call inferences seems correct. It is not enough to produce a conclusion from premises; inferring requires that the subject grasp the rational dependency of the conclusion on the premises. But how on his theory can the dependency be apperceived? According to Tetens the act of producing the conclusion must leave a trace on the mind/brain, a trace that can be reawakened and apperceived. This ›from behind‹ mechanism cannot, however, provide an account of the subject’s appreciation of the relation of dependency between premise(s) and conclusion. Since the original activity was unconscious, reawakening the trace would reproduce the unconscious act of producing. Apperceiving the reawakened trace – separating the impression of unconsciously producing a representation out of others from other representations – would not help. At most that would inform the subject of a causal dependency between her representations, but not of their rational relations. She would be ›inferring‹ while being blind to the rational connection between the claims. To avoid this difficulty, what is apperceived in the trace would have to be very rich, not just an action with obscure elements, but the premise(s), the conclusion and the act of deriving of the latter from the former. It is not possible for the subject to apperceive a trace of an act of deriving, however, because deriving or inferring requires apperceiving and, by hypothesis, there is no apperceiving and hence no deriving in the original act. (This differs from cases of later apperceiving elements in a trace that were not noticed the first time; in this case, the required element is simply not in the trace.) All that could be apperceived is a trace of unconsciously producing the conclusion from the premises. And that would not enable her to understand the distinctive way in which the products of reasoning depend on their premises. Tetens sees that an appreciation of rational dependence is essential for inferring or deducing, but he confuses himself and his readers by trying to segregate this appreciation from the production of the conclusion. His wording suggests that the deriving and the appreciating of the dependence relation are separate elements of a total process. The appreciation of the rational relations and the production of the conclusion can, however, be distinguished only analytically; the appreciation of the rational relations is an inseparable aspect of the act of deriving. If reasoning requires being conscious of or apperceiving relations of rational dependence between premises and conclusion and that cannot be done after the fact – by being conscious of a past unconscious action – then the apperceiving must be coeval with the act of producing the conclusion. Inferring need not violate Tetens’s principle that a mind can perform only one act at a time. Inferring would be a matter of drawing one claim from another while being conscious of or apperceiving the rational causal dependence of the conclusion on the premises. The problem with his analysis does not lie in the one mental activity at a time principle, but in his Lockean theory of mental act consciousness. He sees that inferring must involve appreciating relations of rational dependency and he does not fill in the details about how this is possible. He also sees 121

Ibid., p. 371 (4. VII. 7.).

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that this dependency is a variety of causal dependency. Above, I draw out the implications of his analysis. Since rational dependency is a kind of causal dependency, apperceiving that dependency must be a matter of apperceiving the production of the conclusion – on the Lockean model, of apperceiving the impression left by the act of producing the conclusion. Given his account of apperceiving mental acts, through reviving traces left by non-apperceived acts, it is not possible to apperceive deriving or inferring – unless they already were conscious activities. Descartes, Locke and Leibniz, among many others, held that thinking was conscious or transparent. They had trouble explaining how that was possible. Leibniz backed off the perceptual model that he initially accepted and Locke didn’t develop his account of inner sense. Tetens undertakes this Lockean project, but doesn’t spell out how retaining traces of mental activities that can later be objects of discernment, consciousness, apperceiving provides the sort of self-consciousness of mental activities that is essential to their rational character. When the details are filled in, his theory does not explain how an inner sense whose contents are later apperceived accounts for mental operations such as inferring and deducing, but how and why it is inadequate for the task. As noted, Kant is widely believed to have made a serious study of Tetens’s Essays. From the early 60’s to the mid-70’s, Kant took inner sense to be the key faculty required for the kind of cognition distinctive of humans. He is especially clear on this point in an early essay, The False Subtlety of the Four Syllogistic Figures (1762): The faculty of inner sense, that is to say, the faculty of making [zu machen] one’s own representations the objects of one’s thought. This faculty cannot be derived from any other faculty. It is, in the strict sense of the term, a fundamental faculty, which in my opinion, can only belong to rational beings. But it is upon this faculty that the entire higher faculty of cognition is based.122

Although the evidence is less straightforward, he seems to have retained this view through the mid-seventies.123 As every reader of the Critique knows, his mature theory is very different. It is apperception and not inner sense that makes cognition possible. Inner sense plays several important roles in his epistemological theory, but one is to present a contrast case to the active faculty of apperception that is crucial to higher cognition.124 It seems a reasonable interpretive hypothesis that his extensive reading of Tetens may have helped him to appreciate the problems with his original view that inner sense is the key faculty in judging and reasoning. Some years ago, T. H. Weldon suggested that Kant was largely in agreement with Tetens’s theory of inner sense. In Weldon’s view, although Kant thought that apperception and not inner sense provided immediate awareness of thinking, he agreed that inner sense could still be an awareness of an awareness or awareness of a past act of perceiving.125 Kant’s most explicit statement on this issue occurs in the section of the B Deduction where he contrasts inner sense and apperception: »[S]ynthesis is nothing but the unity of the understanding’s act: the act of 122 123

124 125

AA II, p. 60. According to student lecture notes (e.g. 28.276), a not completely reliable source, he continued to stress the importance of inner sense through the 70’s. In an important set of Reflections, the so-called Duisburg Nachlass (1776–1778), he again mentions inner sense in connection with the use of the higher powers. See Kitcher: Kant’s Thinker (see note 89), p. 21, for further discussion. See KrV, B 152f., see also AA VII, p. 135. Thomas D. Weldon: Kant's Critique of Pure Reason. Second Edition. Oxford 1958, p. 262.

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which the understanding is conscious as an act even apart from sensibility«.126 This text is reflected in Weldon’s interpretive claim that, for Kant, consciousness of thinking is achieved through apperception. In suggesting that cognizers can be conscious of their thinking apart from sensibility, however, Kant moves decisively away from Tetens’s Lockean orientation. Further, as we have just seen, Tetens’s theory of how mental activity is apperceived via a key contribution from inner sense reveals that inner sense cannot play a role in explaining Kant’s target, viz. the possibility of higher cognition of empirical objects. For these reasons I think it is doubtful that Kant agreed with Tetens that inner sense provides any awareness of thinking.127 Further in introducing ›inner sense‹ in the Transcendental Aesthetic, he presents it as the faculty by means of which the mind is aware of its states. Through inner sense the mind »intuits itself, or [that is] its inner state, although it gives no intuition of the soul itself as an object«.128 There is no hint that the faculty also registers impressions or intuitions of actions, as is expressly the case for Tetensian inner sense.

5. The One Faculty Thesis Defended In Essay 9 (On the Fundamental Principle of Sensing, Representing and Thinking) Tetens tries to show that, despite his objections and those of others, there is one fundamental faculty of which others are mere expressions. The key to resolving the puzzle lies in recognizing that feeling or sensing cannot be a pure receptivity.

126 127

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KrV, B 153. Weldon takes Kant to agree with Tetens that inner sense provides an awareness of awareness as well as an awareness of thinking. The question of whether Kant thinks that inner sense provides an awareness of perceiving – as opposed to an awareness of perceptions – is less clear cut. The key text is a footnote from Anthropology from a Pragmatic Point of View: »If we consciously imagine for ourselves the inner action (spontaneity), whereby a concept (a thought) becomes possible we engage in reflection; if we consciously imagine for ourselves the susceptibility (receptivity), whereby a perception (perciptio), i.e. empirical observation, becomes possible, we engage in apprehension; however, if we consciously imagine both acts, then consciousness of the self (apperceptio) can be divided into that of reflection and that of apprehension. Reflection is a consciousness of the understanding, while apprehension is a consciousness of the inner sense; reflection is pure apperception, and apprehension is empirical apperception; consequently the former is falsely referred to as the inner sense« (AA VII, p. 134). Here Kant invites us to imagine that we are applying a concept or perceiving and then to consider the two different sorts of self-consciousness that are involved. Since we are invited to imagine an act of receiving an impression, perhaps this is a case of being aware of an awareness through inner sense. But the whole thing is odd, since Kant is describing the reception of sensory information as an act. Weldon may have been influenced in this discussion by Ryle’s famous ›one-step behind‹ analysis of thinking. Like Tetens, Ryle believed that an intellectual act (performance in Ryle’s terminology) could only be the concern of a higher order performance and not of itself (Gilbert Ryle: The Concept of Mind. Chicago 1963, p. 188, originally published in 1949). For reasons we have seen, however, neither Tetens nor Ryle can adequately explain the self-awareness that permits higher level thinking itself – let alone a later commentary on it. KrV, A 22/B 37.

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Is this act [of apperceiving] something other than an expression of the same power to which the feeling of relations is ascribed? Is it not the effect of this faculty, in so far as it is an active power, namely, in so far as it does not merely record and feel modifications, and retroact or react [zurückwirket] to them, but also in so far a new activity is combined with this reaction? An active faculty of sensing is thus the faculty that produces the thought of relation.129

An obvious question to ask about this theory is whether it is faithful to Tetens’s standard of finding real resolutions that display the underlying commonalities across seemingly diverse activities. It seems reasonable to object that he has found a common faculty simply by grafting an active discerning faculty onto a passive sensing one. It’s not obvious how to settle such a question, however, and there are more straightforward objections to the theory. The idea that sensory systems are not merely passive recipients of impressions but actively engaged in seeking sensory data has often been bruited, e.g. by the psychologist James J. Gibson (1966).130 That, however, cannot be Tetens’s position. The relations produced by the power of apperceiving are ›nothing outside the mind‹. Under those circumstances, the senses cannot actively look for relations that are not out there. Rather, what would be produced by Tetensian active sensing would be representations with elements that do not derive from objects. As with his earlier pass at explaining the origin of ideas of relations, however, this expansion of the contents that are ›in the senses‹ undermines the point of the Empiricist credo. Earlier he had countered the objection that relations that are ›creatures of the mind‹, are not in the senses, by maintaining that inner sense records the activities that relate different objects or images. Here he comes at the problem from a somewhat different angle. It is not that the (inner) sense records the activities that produce relations, but that the senses directly produce relational thoughts themselves. Again, however, if mind-engendered representations are in the senses by virtue of being their creations, that in no way guarantees their fidelity to objects, and the cardinal virtue of Empiricism is lost. In the B Deduction discussion where Kant contrasts inner sense and apperception, he starts with the paradox that subjects know themselves only as they appear. This seems paradoxical because the human mind would thus be active and passive in the same transaction.131 It’s not clear why this should be a problem within his theory, since he carefully distinguishes the passive and active faculties. On the other hand, anyone who accepts a one fundamental faculty thesis (e.g. Tetens) will have that faculty, or its differing expressions, being active and passive in the same transaction. Kant explains that psychologists get out of the conundrum by incorrectly identifying inner sense [a faculty that registers states] and apperception [a faculty that produces states with additional representational content]. In Tetens’s case, the active faculty of apperception is ›reduced‹ to a faculty of feeling that engages in active sensing. Kant objects that, in humans, the active power of the understanding/apperception is not a power of intuitions.132 Intuiting with the understanding would involve divine intellectual intuitions. As already mentioned, he also notes that the sort of consciousness that is required by the activities of the understanding, viz. 129 130 131

132

PV I, p. 607, see also p. 609 (9. VI. 1.). See James J. Gibson: The Senses Considered as Perceptual Systems. Boston 1966. See KrV, B 152f. Kant’s diagnosis seems far-fetched. Presumably his readers were perplexed not about active and passive powers, but about his prima facie bizarre claim that humans know themselves only as appearances. KrV, B 153.

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conscious synthesizing or combining,133 is not provided by the senses. In sum, an active faculty that produces new representational contents cannot be a source of the sorts of sensory representations that are required for an Empirical grounding of cognition, nor does inner sense produce the act consciousness required for cognition. Whether or not an active faculty of feeling is a metaphysical mongrel, Kant’s argument implies that it has no place in an analysis of cognition. It can account for neither the receiving of impressions nor the combining of representations in thought. On the other hand, if Tetens is correct that relational ideas are ›nothing outside the mind‹, then since the mental states that are accessed through inner sense stand in temporal relations, inner sense does not present the mind as it is – independently of the mind’s way of representing its own states – but only as it appears. The contents that are accessed through inner sense would have been ›determined‹ or given special relational contents by the active powers of the mind, as Kant maintains. Although Tetens seems to flout his own observational and explanatory standards in pressing for the one-faculty thesis, he is epistemologically modest about what can be known about the fundamental faculty. The difficulty is that we could know the nature of this faculty only if we could have some idea of its first effect as a natural power. Feeling is the first expression of the power – but we have no traces of the activities that produce that first expression.134 Hence at the end, we are where we were at the beginning, with no idea about the original acts of the power; we cannot determine whether its activities are those of a simple immaterial thing or a bodily brain.135

6. Relating Tetens’s Theory of Apperception to Kant’s Several scholars have drawn connections between Tetens’s theories and Kant’s. As just noted, Weldon maintains that Kant more or less took over Teten’s theory of inner sense. In his extensive study of the Transcendental Deduction, Herman Jan de Vleeschauwer argues that Tetens’s Essays provided a psychological background that enabled Kant finally to complete his analysis of the conditions required for objective cognition in 1781. De Vleeschauwer maintains, in particular, that Kant owes his theory of the productive imagination to Tetens. He also sees important parallels between Tetens’s theories and the three syntheses of the A Deduction, though he thinks there are important differences in the case of the third synthesis, that of recognition (A103) or of apperception (A94n., A115).136 Wolfgang Carl has recently disputed any idea that Kant rejected the teachings of Rational Psychology only to be lured into Tetens’s empirical psychology. He thinks that Kant’s methodology is so different from Tetens’s that the influence cannot be very deep.137

133 134 135 136 137

KrV, A 104f., B 133. PV I, p. 737 (11. I. 3.), p. 687 (10. IV. 1.). Ibid., p. 739 (11. II. 1.) Herman Jan de Vleeschauwer: The Development of Kant's Thought. New York 1962, pp. 82ff. Carl: Der schweigende Kant (see note 31), pp. 115–126 and p. 183.

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We are now in a position to take a fresh look at one question about influence. What are the relations between Tetens’s views and those of his most celebrated reader on a topic that is central to both of their theories, apperception? The question is difficult, because after two and a quarter centuries of scholarly effort, there is still no consensus on Kant’s theory of apperception. I start with some fairly non-controversial points and move on to others that may be disputed. Tetens and Kant agree on the existence of unconscious representations. Tetens holds that representations become conscious through being apperceived. Kant seems to hold a similar view. In the A edition Deduction chapter, he claims that unless representations could become conscious they would be nothing for the subject as a cognitive being;138 and he seems to equate becoming conscious with being empirically apperceived.139 Like Tetens’s, Kant’s apperceptive faculty is active. He underscores that point through the contrast with inner sense. In the A Deduction, Kant calls apperception a ›root faculty‹.140 It is possible to read this claim as akin to Tetens’s view that apperception is a simple, fundamental, non-derivative faculty. Tetens tries to provide analyses of various cognitive capacities that reveal apperceiving’s role as a basic activity of the mind. Kant’s argument for the root character of the faculty of apperception in the Deduction chapter seems, however, to have a different source. He introduces this ›root faculty‹ in trying to explain a consequence of his theory, the strange and quite preposterous [claim] that nature should conform to our subjective basis, apperception – indeed that nature should in regard to its law-governedness depend on this basis […] we see nature in its unity merely in the root power for all our cognition, viz., in transcendental apperception.141

The explanation for the preposterous claim is not that various thinking activities can be seen to be variants of apperceiving. Rather transcendental apperception is a root power, because any representation must belong to the unity of apperception. The highest principle of cognition is the principle of apperception,142 the principle that representations represent something in me only inasmuch as together with all others they belong to one consciousness; and hence they must at least be capable of being connected in it.) This principle holds a priori, and may be called the transcendental principle of the unity of whatever is manifold in our representations.143

138 139 140 141 142 143

See KrV, A 120, A 116, A 116a, cf. B 131f. Ibid, A 107, A 115. Ibid., A 114. Ibid.; emphasis mine. Ibid., A 117n., B 136. Ibid. A 116. In the B-edition, Kant presents a different principle as the principle of apperception, viz. »All my representations in some given intuition must be subject to the condition under which I can ascribe them as my representations to an identical self, and hence under which alone I can collect them together [Zusammenfassen] as synthetically combined in one apperception through the common expression ›I think‹« (B 138). This principle is not offered as a necessary condition for cognition, but as an analytic claim: if something is a representation of mine, then it must meet whatever conditions are necessary for belonging to me. Nevertheless in the B Deduction as well as the A, Kant also stresses the necessity of different representations belonging to a single self for cognition – e.g. in the famous claim at B 132 that the ›I think‹ must be able to accompany all my representations.

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Transcendental apperception is a ›root faculty‹ for all cognition, not because it is a simple power that is presupposed in the operations of other powers, but because the unity of apperception that it produces is a requirement for all cognitions. In the Dialectic, Kant does take up the ›one-faculty project‹ with which Tetens is so engaged. He considers the ideal of reducing all the powers of the soul to a single power,144 but his point is largely a critical one. Some who pursue this project (probably Wolff145) err in mistaking a regulative idea of reason – reason prods us to look for ever more basic faculties – for a proof that there is a single power of the simple soul. Tetens was also sceptical about merely assuming a basic power on the grounds of the simplicity of the soul. He thought the assumption could lead to superficial and incorrect analyses of the faculties involved in cognition. On this point Tetens and Kant agree that the division of the mind into faculties must proceed on the basis of analysis and not through a pre-commitment to the result.146 Tetens thinks the analysis is based on observation of the faculties’ effects, whereas Kant expresses serious reservations about the trustworthiness of observation of the soul’s states and activities in Anthropology from a Pragmatic Point of View.147 Kant refers both to a faculty of apperception and to a ›transcendental unity‹ of apperception. The point of his remarks about empirical consciousness or apperception is that it presupposes the transcendental unity of apperception. Insofar as ›transcendental‹ is understood as making reference to necessary conditions for cognition,148 there is a sense in which Tetens’s Fourth Essay is a ›transcendental‹ inquiry. Its thesis is that apperceiving is one of the basic faculties required for thinking or cognition.149 But Kant’s notion of ›transcendental‹ is also firmly tied to a priori representations: »The term ›transcendental‹ […] signifies such knowledge as concerns the a priori possibility of knowledge«.150 That is, transcendental philosophy is concerned with the necessary conditions for cognition, insofar as they are a priori, and, as we have just seen, Tetens’s inquiry is fundamentally different in being based, or allegedly based, in observation. Tetens’s inquiry into the unity of the soul or the ›I‹ is also based in observation. Subjects become aware of that unity in apperceiving representations of objects: When a representation (of an object) is apperceived, the subject is also aware of the myriad of unconscious representations that coalesce into a feeling that can be compared with previous feelings. Through this (subjective) comparison of similar feeling representations, the cognizer forms the idea of a single I across different conscious states. For Tetens, knowledge of the ›I‹ comes in the course of apperceiving objects or images. Kant understands the relation between object cognition and the unity of the self to be even

144 145 146 147 148 149 150

See KrV, A 682/B 710 See Kitcher: Kant’s Thinker (see note 89), pp. 176ff. See also AA XX, p. 206. AA VII, p. 133. KrV, A 94/B 126, A 783/B 811. PV I, p. 295 (4. I.). KrV, A 56/B 80f.

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closer. Most commentators agree that he claims that object cognition and the unity of apperception to mutually imply each other.151 He expresses the view in both editions: The unity that the object makes necessary can be nothing other than the formal unity of consciousness in the synthesis of the manifold of the representations.152 The reference of representations to an object consists solely in this unity of consciousness […].153

In the B edition Paralogisms chapter he is particularly clear about the necessity of object cognition to a subject’s recognition of her own unity: »We are acquainted with the unity of consciousness itself only by its being for us an indispensable requirement for the possibility of experience [empirical cognition]«.154 Finally, most commentators agree that the unity of apperception requires some sort of synthesis. This point is reasonably obvious in the text: I am […] conscious of the self as identical, as regards the manifold of the representations given to me in an intuition, because I call them one and all my representations that make up one representation. That is tantamount to saying that I am conscious of a necessary synthesis of them. This synthesis is called the original synthetic unity of apperception.155

In Kant’s view the idea of an identical self does not arise through comparison of representations, but through a combination or synthesis of them. The gulf between Tetens’s and Kant’s views about the unity of the ›I‹ is large, because both argued that the operations of comparing and combining are distinct. As we saw above, Tetens contrasts combining premises in a conclusion – producing a new judgment – with merely relating propositions [e.g. by comparing them]. In his handwritten logic notes, Kant distinguishes comparing representations for the purpose of forming a general concept and connecting the various determinants of a thing in an object [representation, which can then be part of the basis for comparing that leads to the concept].156 Tetens claims that the result of comparing feelings at different times is the idea or concept of an ›I.‹ Kant scholars disagree about the representations produced by synthesis. In his seminal book on Kant’s notion of synthesis, Hansgeorg Hoppe argues that despite Kant’s equation of apperception and self-consciousness, the unity of apperception is nothing more than the unity among representations required for reference to objects.157 Further, ›synthesis‹ should not be thought of as a process or procedure for uniting representations, but as the (united) condition in which representations must stand to have an object.158 In Hoppe’s view Kant should have claimed that the unity of apperception is the holding together of different representations as representations of a single object that is required for cognition of objects. He is clear, however,

151

152 153 154 155 156 157 158

See Peter Strawson: The bounds of sense: An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason. London 1966, pp. 89ff. and p. 98ff.; Henry E. Allison: Transcendental Idealism: An Interpretation and Defense. New Haven 1983, p. 144; Quassim Cassam: Self and World. New York 1997, p. 36, p. 91. KrV, A 105. KrV, B 137. Ibid., B 420, see also A 107, B 133. Ibid, B 135f. See AA XVI, p. 30. Hansgeorg Hoppe: Synthesis bei Kant. Berlin 1983, pp. 119–121. Ibid., p. 121.

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that he is presenting what he takes to be defensible in Kant’s theory of the unity of apperception and not being faithful to his interest in ›Egology‹ (the ›I‹-theory).159 Kant certainly understood objective reference to be a requirement for cognition. Further, he connects this requirement to apperception: Now there can take place in us no cognitions, and no connection and unity of cognitions among one another, without that unity of consciousness which precedes all data of intuitions, and by reference to which all representation of objects is alone possible. Now this pure, original, and immutable consciousness I shall call transcendental apperception.160

Still identifying the unity of apperception with the unity of representations in the representation of an object in general seems to leave out some distinctive features of his doctrine about the unity of self-consciousness. Kant maintains that the unity of apperception is produced by synthesizing representations: […] this unity of consciousness would be impossible if the mind, in cognizing the manifold could not become conscious of the identity of function whereby it synthetically connects the manifold in one cognition.161 This synthesis is called the original synthetic unity of apperception. All representations given to me are subject to this unity; but they must also be brought under it through a synthesis.162

Further, he claims in the B edition Deduction that a subject can refer to or represent her own unity only by being conscious of the synthesizing that produces it: This same thoroughgoing identity of the apperception of a manifold given in intuition contains a synthesis of representations, and is possible only through the consciousness of this synthesis. For the empirical consciousness that accompanies different representations is intrinsically scattered [zerstreut] and without any reference to the subject’s identity. Hence this reference comes about not through my merely accompanying each representation with consciousness, but through my a d d i n g one representation to another and being conscious of their synthesis. Hence only because I can combine a manifold of given representations i n o n e c o n s c i o u s n e s s , is it possible for me to represent the i d e n t i t y i t s e l f o f t h e c o n s c i o u s n e s s i n t h e s e r e p r e s e n t a t i o n s .163

In Kant’s view, subjects do not form the representation ›I-think‹ by comparing a myriad of obscure feelings, but by combining some representations to produce others. When a subject (consciously) combines some representations in others, she is conscious of the dependence of the latter representations on the representations from which it was produced.164 Tetens gives an example of this phenomenon in discussing deductions: In a deduction, the subject produces the conclusion upon modification by the premises, the conclusion thus depends on the premises and the subject must apperceive this relation of dependency. In Kant’s view, these conditions must be met by any act of higher cognition, judging as well as inferring or deducing.165 Insofar as a cognizer apperceives (is conscious of) some of her mental states as depending on others, 159 160 161 162 163 164 165

Ibid., p. 119–121. KrV, A 107. Ibid., A 108. Ibid., B 135f. Ibid., B 133, amended translation, emphasis mine; cf. A 108 above. See Kitcher: Kant’s Thinker (see note 89), p. 129. Ibid., pp. 267–268.

Analyzing Apperception (Gewahrnehmen)

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however, she understands them to stand in relations of necessary connection: The judgment or conclusion could not exist without the mental states that produce it; the latter states could not be part of cognition unless they produced judgments.166 Hume thought that there were two ways to avoid the no-self conclusion that he could not himself escape.167 Find a constant impression of a self to which different mental states can be attached or establish that the states have a ›real bond‹ or necessary connection across them.168 What Kant realized was that ›higher cognition‹ – judging and inferring – required just the sort of real bond across mental states that made them states of a single ›I‹. Hence he realized that his analysis of empirical cognition was simultaneously an account of the ability of cognizers to use the a priori representation ›I-think‹. Mental states belong to the same ›I-think‹ insofar as they are or could be169 connected to each other through acts of higher cognition; cognizers can represent their identity, because higher cognition also involves (as Tetens partly saw) a recognition or apperceiving of the relations of dependency that it creates. On most readings of the unity of Kantian apperception, he addresses the problem through his analyses of the requirements of empirical cognition. By contrast, Tetens sees no direct connection between his account of the essential roles of apperceiving in cognition and the problem of the unity of the self. Instead he tries to meet Hume’s challenge by finding a constant impression of an obscure feeling across different episodes of apperceiving. On the issue of apperception, Carl is obviously correct that Tetens’s and Kant’s methods are very different. As we have seen, Tetens doesn’t merely report observations about the soul’s activities in cognition, but goes to great efforts to try to systematize them with respect to a few fundamental faculties. What he doesn’t do – and can’t do while remaining faithful to Locke – is consider the possibility that the I-representation has no basis in sensory representations, but is completely a priori. Despite Tetens’s conviction that he succeeded, his use of Hume’s method led him, as it led Hume, to an implausible theory of subjects’ understanding of their own identity. Where Hume had subjects recalling and running together resembling perceptions, Tetens has them recalling and noting similarities across extensive but obscure feelings. Tetens chastises fellow psychologists for their departures from the observational method and tries to guard against such lapses in his own work. From a Kantian perspective, however, he diligently follows a method that is incapable in principle of resolving the problem of the necessary unity of the apperception.170

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170

Ibid., p. 130f. Hume: Treatise (see note 104), pp. 633–636. Ibid., p. 250, p. 252, p. 259. Mental states could be connected with other states insofar as the cognizer can access them through memory. Although memory thus plays an important role in Kant’s account of the unity of apperception, he is not offering a memory criterion. Unlike Locke, he is not concerned with what is now called ›episodic‹ memory, memory of doing or undergoing experiences. Like all epistemologists, he assumes that subjects have access to earlier mental states, perceptions or judgments, states whose contents they can draw on in forming a cognition on the basis of their current states. What is crucial on Kant’s account is not the requirement of accessibility that he shares with every epistemologist, but his insistence on conscious active combination. States belong to the same ›I-think‹ when they can be connected or combined. For further discussion, see Patricia Kitcher: Précis: Kant’s Thinker. Replies to Rödl, Ginsborg and Allais. In: Philosophy and Phenomenological Research 87.1 (2013), pp. 237–247. KrV, A 107.

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Patricia Kitcher

What about Tetens’s more central concerns, the differentia of conscious and unconscious perceptions, the subjectivity of concepts and the one-faculty thesis? As we have seen, his Wolffian approach to distinguishing leads to a substantive and plausible account of what happens to representations when they become conscious: Qualities that have been received by the senses are singled out against a background and hence have acquired a new relational content. Representations are not accompanied by consciousness, but altered by the active powers of the mind in such a way that they can be compared and so be the basis of concepts and play a role in cognition. Although concepts are ›creatures of our own making‹, they are produced by the same active faculty that originally produces conscious representations. For this reason, no miracles need be invoked to explain the needed fit between sensory representations and conceptual ones. States that play a role in cognition are subjectively determined – and by the same faculty – at both levels. Given this connection between the perceptual and the conceptual, Tetens proposes that the one-faculty thesis be approached in a different way. Previous theorists have erred in assuming that sensing was completely passive. Under those circumstances, they had to maintain the implausible view that judging ›yes‹ or ›no‹ was not an action, but also a matter of passive reception. If, however, judging and inferring are clearly actions, then the one-faculty thesis will be viable only if sensing is also an action. Since the assumption that (conscious) perception must be understood as an action is also necessary if we are to make sense of the debate over unconscious representations, there are strong systematic reasons for accepting the notion of active sensing. Tetens worried about approaching the phenomena systematically rather than observationally, but the more interesting aspects of his analyses of apperception are those that are systematically interconnected. He falls into inconsistency not because he mixes systematic considerations with observational ones, but because the systematic and so strongest parts of his theory undercut the Empiricism he aims to defend. Locke no less that Kant would object to a theory that has active faculties producing the impressions or intuitions that enable humans to have empirical knowledge.

JULIEN LACAILLE

Tetens und die Widerlegung des Idealismus im 5. Versuch

Nach Tetens gibt es zwei Illusionen, denen die räsonierende Vernunft verfallen kann: Einerseits jener des Idealismus, deren zentraler Vertreter Berkeley ist, und andererseits jener des Skeptizismus, welcher in Hume seinen prominentesten Anhänger findet. In einem gewissen Sinne ist der Idealismus von Berkeley das Gegenbild des humeschen Skeptizismus: Der erste leugnet die Existenz des Körpers (jeder materiellen Substanz nämlich), aber behauptet die Existenz der Seele; der zweite leugnet die Existenz der Seele (als geistiger Substanz), erkennt aber die Wirklichkeit des Körpers an. Tetens hält diese Philosophien für zwei entgegen gesetzte, dennoch sich ergänzende Systeme, die bekämpft werden müssen, weil sie beide gleichermaßen falsch sind. Dies hält ihn indes nicht davon ab, die Scharfsichtigkeit seiner beiden Gegner zu loben, umso mehr, als sie beide in ihrer Argumentation völlig konsequent sind. Ich werde mich im Folgenden damit begnügen, die Beziehung von Tetens zu der Philosophie Berkeleys zu untersuchen.1 Der Ansatz von Tetens geht vom common sense aus. Wir wissen, dass die empfundenen Körper wirklich außer uns existieren. Aber woher wissen wir dies? Auf diese Frage können wir mit dem gesunden Menschenverstand einvernehmlich antworten, dass wir um die Existenz der äußeren Objekte wissen, weil wir sie sehen, berühren und mit den anderen Sinnen empfinden können. Zwar ist es uns unmöglich zu bezweifeln, dass wir sie empfinden, aber nichts beweist, dass sie wirklich existieren. Eben darin besteht der Einwurf Berkeleys: Nichts gestatte die Behauptung, dass das, was in uns diese Empfindung erzeuge, ein außerhalb von uns liegender und auf uns wirkender Körper sei. Der Fall des Traumes ist ein hinreichender Beweis dafür, dass die Empfindung keine Garantie für die Existenz eines äußeren Objektes ist. Das Erkennen der Existenz des äußeren Objektes ist kein Empfinden, es ist ein Akt des Urteils über unsere Empfindung. Die Widerlegung, die Tetens im fünften Versuch seines Hauptwerks2 entwirft, ist für das Studium der Rezeption des Berkeley’schen Idealismus im deutschen Sprachraum des

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Über die Beziehung Tetens’ zum Hume’schen Skeptizismus siehe Manfred Kuehn: Hume and Tetens. In: Hume Studies 15 (1989), pp. 365–375. Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig 1777 [im Folgenden zitiert als: PV Band, Seitenzahl (Versuch, Kapitel, Abschnitt)].

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18. Jahrhunderts nicht ohne Interesse.3 Tetens entwickelt eine eigenständige Strategie, die darin besteht, die Vernunft zu reflektieren, um sie mit ihrer eigenen Verwirrung zu konfrontieren und so den Weg der Wahrheit, der dem gemeinen Verstand eigen ist, wieder finden zu lassen. Mit Ausnahme von Kant4 scheint Tetens’ Widerlegung des Idealismus bei seinen Zeitgenossen auf wenig Aufmerksamkeit gestoßen zu sein; der Grund liegt wahrscheinlich darin, dass Tetens ihr keine systematische Form gab. Er begnügte sich mit einigen vereinzelten Bemerkungen, auf deren Basis es zunächst schwer fällt, die Strenge, die Stichhaltigkeit und die Originalität des vorgebrachten Arguments zu begreifen. Die Widerlegung ist nicht das Hauptziel des fünften Versuchs. Der Zweck dieses Versuchs besteht vielmehr darin, zu verstehen, wie unsere Urteile über die Existenz der Dinge entstehen; ob diese Urteile begründet sind oder nicht, ist für Tetens nebensächlich.5

1. Die Verirrungen der Vernunft Zwischen 1755 und 1757 studierte Tetens an der Rostocker Universität unter der Leitung des Professors Johann Christian Eschenbach (1719-1758).6 Eschenbach war der erste, der die Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous ins Deutsche übersetzte.7 Diese 1756 herausgegebene Arbeit berief sich auf eine französische Übersetzung. Eschenbach fügte außer einigen Noten auch einen Appendix hinzu, in dem er versuchte, den Idealismus zu widerlegen. Es kann somit durchaus vorausgesetzt werden, dass Tetens über die Ideen des Bischofs von Cloyne und die Argumente gegen den Idealismus unterrichtet war8. Er kannte somit auch die Debatten, in welchen sich die Philosophen der schottischen Schule (besonders Reid9 und Beattie) auf den Im3

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Zur Rezeption Berkeleys in Deutschland siehe Wolfgang Breidert: Die Rezeption Berkeleys in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Revue internationale de Philosophie 154 (1985), S. 223–241; sowie Dietmar Heidemann: Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus. Berlin, New York 1998, S. 15–46; siehe auch die ältere Studie von Eugen Stäbler: George Berkeley’s Auffassung und Wirkung in der deutsche Philosophie bis Hegel. Tübingen 1935. Über Tetens’ Beitrag zu der kantischen Widerlegung des Idealismus siehe Scott Stapelford: A Refutation of Idealism from 1777. In: Idealistic Studies 40 (2010), pp. 139–146. »Von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit unserer Urtheile über die Existenz der äußern Dinge ist hier bey der gegenwärtigen Betrachtung eigentlich die Frage nicht, sondern wie diese Urtheile entstehen, und von der Ordnung in der sie entstehen.« PV I, S. 403 (5. VII.). [Art.] Johann Christian Eschenbach. In: Dictionary of Eighteenth-Century German Philosophers. Hg. von Heiner F. Klemme, Manfred Kuehn. London 2008, Bd. I, S. 292f.; zu Eschenbach und Tetens vgl. auch den Beitrag von Michael Sellhoff in diesem Band. Johann Christian Eschenbach: Sammlung der vornehmsten Schriftsteller, die die Würklichkeit ihres eignen Körpers und der ganzen Körperwelt läugnen. Rostock 1756. Diese Ausgabe enthält überdies eine Übersetzung des Clavis universalis von Arthur Collier. Man ist gleichwohl im Recht zu fragen: Welche Kenntnis hatte Tetens wirklich von der Philosophie Berkeleys? Man kann mit Gründen vermuten, dass Tetens die Drei Dialoge in der Übersetzung von Eschenbach gelesen hatte. Aber waren Tetens die englischen Schriften Berkeleys bekannt, und wenn ja, welche? Es ist überraschend, dass Tetens niemals von den Schriften des Bischofs von Cloyne spricht, obwohl er dies bei anderen Verfassern, besonders bei David Hume, so handhabt. Über die Beziehung zwischen Tetens, Reid und Kant verweise ich auf Scott Stapelford: Reid, Tetens and Kant on the external world. In: Idealistic Studies 37 (2007), pp. 87–104.

Tetens und die Widerlegung des Idealismus

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materialismus von Berkeley einließen. Jene setzten der Schwärmerei des irischen Philosophen die Evidenz des ›gemeinen Verstandes‹ (common sense) entgegen: Die Körper, die wir empfinden, existieren wirklich außerhalb von uns. Zweifel sind unnötig, denn instinktiv wissen wir darum. Es gibt in uns eine selbsttätige Tendenz (jenseits jeder Reflexion), die uns an die Existenz der für uns äußeren Objekte glauben lässt, insofern als diese in uns die Ursache der Empfindungen sind, die wir durch ihre Berührung fühlen. Das ist die These, die auch Reimarus, Henry Home und d’Alembert stützen. Für Tetens hingegen ist die Berufung auf den common sense eine ganz und gar ungenügende Erklärung – so berechtigt sie auch sei. Und dies aus zweierlei Gründen: Erstens, selbst wenn dieser Glaube natürlich wäre, so würde er nichts daran ändern, denn er bliebe doch ein Glaube. Die Anführung eines Instinkts (als Argument) genügte nicht, um den Idealismus zu widerlegen. Zweitens bereite es jeder psychologischen Untersuchung ein schnelles Ende, unseren Glauben an die Existenz der äußeren Welt einzig auf »eine unmittelbare Wirkung des Instinkts«10 zu beschränken. In der Tat, so Tetens, »ist es ein Fehler, wenn man sich bey einzelnen besondern Wirkungen, unmittelbar auf den Instinkt beruft. Das heißt die Untersuchung allzu voreilig abbrechen, wobey der philosophische Psycholog so wenig befriediget wird, als der philosophische Naturforscher, wenn man ihm sagt, es sey ein Instinkt des Magneten, daß er Eisen anziehe«. Wir müssen dagegen die psychologische Untersuchung weiter vertiefen, um zu verstehen, wie die Urteile über die Existenz der Dinge hervorgebracht werden, und um uns nicht mit »der alten bequemen Methode, sich auf qualitates occultas zu berufen,«11 zu begnügen. So realitätsfern der Idealismus erscheinen mag, so ist er doch eine vollkommen konsequente Lehre. Die Vernunft verfällt nicht aufgrund mangelnder Strenge in Idealismus oder Skeptizismus; vielmehr ist es Produkt größter Strenge, dass sie sich verirrt, weil sie sich auf falsche Vorsätze stützt. Um die Vernunft zu reflektieren, reicht es also nicht aus, nur ihre Illusionen anzuprangern, indem ihnen, nach Reids oder Beatties Art, die Selbstverständlichkeit des gemeinen Verstandes entgegengesetzt wird; man muss auch verstehen, wie die räsonierende Vernunft dazu kommt, den gemeinen Verstand, gegen jede Evidenz, anzuzweifeln: Wenn jemand von ganzem Herzen Meinungen für richtig hält, die der natürlichen Art zu denken so sehr entgegen sind, als diese; so ist es nicht nöthig, mit mehrern und stärkern Gründen die gewöhnlichen Aussprüche des gemeinen Menschenverstandes zu bestätigen, sondern es ist genug, wenn man nur das Grundleere der entgegenstehenden Zweifel ins Licht setzet.12

Wer den Idealismus widerlegen will, muss die Gründe verstehen, die die Vernunft dazu führen, von dem gemeinen Verstand abzuweichen, und er muss zeigen, dass diese in Wirklichkeit unbegründet sind.

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PV I, S. 375 (5. I.). Ebd., S. 375f. Ebd., S. 496f. (7. II. 7).

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2. Die Fiktion des ersten Menschen Die Grundregel, nach der wir uns bald auf einen äußeren Körper, bald auf unseren eigenen Körper, bald auf unser Ich beziehen, setzt in der Tat voraus, dass die Begriffe vom äußeren Körper, vom eigenen Körper und vom Ich, die Tetens »Vorbegriffe« nennt, schon gebildet sind. Aber woher kommen diese Begriffe? Tetens, der die Existenz angeborener Ideen entschieden ablehnt, behauptet, dass diese Vorbegriffe aus den Empfindungen heraus entstehen. Folglich muss man ihre Entstehung darstellen und sich fragen, nach welcher Ordnung sie aus den ersten Empfindungen hergeleitet worden sind. Tetens ist nicht der erste Philosoph, der versucht, zu verstehen, wie die Begriffe von der Seele, von dem Körper und von den äußeren Objekten sich aus einer sinnlichen gemeinsamen Quelle konstituiert und differenziert haben. Andere empirische und besonders sensualistische Philosophen beschäftigen sich ebenfalls mit dieser Frage. Ein Beispiel ist jenes von GeorgeLouis Leclerc, Graf von Buffon (1707–1788), dessen Lehrsätze Tetens im fünften Versuche untersucht. Im Jahre 1749 publiziert der Naturforscher Buffon als dritten Band seiner enzyklopädischen L’Histoire naturelle eine Naturgeschichte des Menschen, in der er seine eigene anthropologische Auffassung darlegt.13 Im Kapitel »Von der Natur des Menschen« verwirft Buffon die materialistische Auffassung, die nach La Mettrie zwischen Mensch und Tier nur einen graduellen Unterschied findet, während Buffon einen qualitativen Unterschied der animalischen und humanen Natur erkennt. Die Unlöslichkeit der menschlichen Seele von der körperlichen Realität führt Buffon dazu, einen metaphysischen Dualismus anzunehmen: Die menschliche Natur ist doppelseitig, sie besteht aus einer geistigen und einer materiellen Substanz.14 Während uns aber die Existenz der Seele versichert scheint, denn »Seyn und Denken sind für uns dieselbe Sache«,15 können wir uns der Existenz der Körper nicht vollkommen sicher sein. Buffon tendiert nach und nach zu einer zunehmend idealistischen Position: Das Daseyn unseres Körpers und der anderen äußeren Gegenstände ist für den, der ohne Vorurtheil seine Vernunft gebraucht, zweifelhaft; denn diese Ausdehnung, in Länge, Breite und Tiefe, welche wir unsern Körper nennen und die uns so nahe anzugehören scheint, was ist sie anders, als eine Beziehung unserer Sinne? Was sind die materiellen Organe unserer Sinne anders, als Übereinstimmungen mit dem, was sie affiziert, und hat unser innerer Sinn, unsere Seele irgend etwas Ähnliches, irgend etwas mit der Natur dieser äußeren Organe Gemeinschaftliches?16

Zwischen den Empfindungen, die wir im Kontakt mit den Objekten fühlen, und den Beschaffenheiten der Objekte selbst gibt es keine Ähnlichkeit, da diese und jene zu ganz verschiedenen Naturen gehören. Auf dieser Grundlage wird die Existenz der Materie unsicher: 13

14 15 16

George-Louis Leclerc de Buffon: De L’Homme. Paris 1749. Eine deutsche Übersetzung von B. Rave findet sich unter den Titel »Geschichte des Menschen« im vierten Band von Buffon’s sämmtlichen Werke des Jahres 1840. Vgl. hierzu auch Annette Barkhaus: Vom ›Mängelwesen‹ zum Herrscher über Mensch und Tier. Eine Analyse der Anthropologie Buffons. In: Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie IV (1997), S. 197–218. George-Louis Leclerc de Buffon: Sämmtliche Werke. 9 Bde. Übersetzt und mit Erläuterungen versehen von Heinrich J. Schlatenbrand. Köln 1833–1840, hier Bd. IV, S. 95. Ebd.

Tetens und die Widerlegung des Idealismus

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Diese Ausdehnung , die wir mit den Augen wahrnehmen, diese Undringlichkeit, von der uns der Tastsinn eine Vorstellung gibt, alle diese vereinten Eigenschaften, welche die Materie ausmachen, möchten vielleicht nicht vorhanden seyn, indem unsere innere Empfindung und das, was sie uns unter Ausdehnung, Undurchdringlichkeit vorstellt, weder ausgedehnt noch undurchdringlich ist und nichts gemein mit diesen Eigenschaften hat.17

Buffon bedient sich auch des Traumarguments, um den Zweifel zu verstärken, indem er unterstreicht, dass die wirkliche Existenz von Objekten außerhalb von uns nicht nötig sei, um ihre Eigenschaften wahrzunehmen. Sollte man demnach Buffon doch für einen Anhänger von Berkeley halten? Tatsächlich leugnet Buffon die Existenz der körperlichen Substanz nicht; er verlässt sich auf den gemeinen Verstand: »Inzwischen können wir glauben, daß etwas wirklich außer uns ist; aber wir sind dessen nicht sicher; wogegen wir der Existenz alles dessen, was in uns ist, versichert sind«.18 Da er gleichwohl die Anschuldigungen gegen den Idealismus ahnte,19 wusste Buffon, dass er eine Antwort auf das Problem der objektiven Existenz der Körper finden musste. Er musste den gemeinen Verstand rechtfertigen und erklären, wie die Seele zu der Überzeugung gelangt, dass die äußeren Dinge wirklich existieren und nicht nur Erscheinungen sind. Aus diesem Grund führt er im Kapitel »Von den Sinnen in Allgemeinen« eine Fiktion ein, in der er sich »einen Menschen [vorstellt], wie man glauben kann, daß der erste Mensch im Augenblick der Schöpfung war, d. h. dessen Körper und Organe völlig gebildet waren, der aber ganz neu für sich selbst und die ganze Außenwelt erwachte«.20 Buffon will so den Weg beschreiben, durch den der Mensch seiner selbst, seines eigenen Körpers, der äußeren Wirklichkeit bewusst wird, indem er die unterschiedlichen Sinne und Empfindungen miteinander vergleicht. Buffons Fiktion des ersten Menschen ist somit eine in der Ich-Form geschriebene Darstellung, die schildert, durch welche Etappen beim Entdecken der äußeren Welt der Mensch zu seiner eigenen Selbstkenntnis gelangt. Bei diesem Vorgang lassen sich vier wesentliche Schritte ausmachen: Zunächst öffnete der erste Mensch die Augen und sah alle Dinge, die ihn umgaben. Da er sich noch nicht des Unterschieds zwischen seinem Ich und den äußeren Dingen bewusst war, schloss er daraus: »Ich glaubte Anfangs, daß alle diese Gegenstände in mir wären und einen Theil von mir selbst ausmachten«.21 Geblendet vom Licht, schloss er seine Augen sofort wieder. Nun war ihm, als seien alle Dinge, die er gesehen hatte, verschwunden: »In diesem Augenblicke der Dunkelheit glaubte ich mein ganzes Wesen verloren zu haben.« Er hörte jedoch ein melodisches Singen, durch welches er verstand, dass er gar nicht zu existieren aufgehört hatte, und dies brachte ihn zu der Überzeugung, »daß diese Harmonie Ich sey«. Die Dinge hatten ursprünglich in sich keine Existenz; sie existierten nur, weil er sie in Bezug zu seiner eigenen Existenz setzen konnte. Er 17 18 19

20 21

Ebd. Ebd., S. 96. Im Jahre 1753 wurde Buffon von der Pariser Fakultät der Theologie des Idealismus bezichtigt und aufgefordert, sich bezüglich der anklagenden Sätze zu rechtfertigen. Zu Beginn des – im selben Jahre herausgegebenen – vierten Bandes der Geschichte des Menschen weist er daraufhin die Anklage des Idealismus zurück und behauptet wieder, seine anthropologische Auffassung stünde mit der Lehre der katholischen Kirche im Einklang. Buffon: Sämmtliche Werke (s. Anm. 15), Bd. IV, S. 277. Ebd., S. 278.

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brauchte nur die Augen zu öffnen oder zu schließen, um sie erscheinen oder verschwinden zu lassen. Es schien, sagte der erste Mensch, dass »Ich die Macht besitze, diesen schönen Theil meiner selbst zu zerstören und wieder hervorzubringen; […] glaubte Ich doch zu erkennen, daß alles in einem Theil meines Wesens enthalten sey«.22 In einem zweiten Schritt erzählt Buffon, wie sich der Mensch seines eignen Körpers bewusst wurde. Der Tastsinn spielt hierbei eine zentrale Rolle: »Ich führte die Hand nach meinem Kopfe, berührte Stirn und Augen, betastete den ganzen Körper; meine Hand schien mir das Hauptorgan meines Daseyns zu seyn«.23 Als er die Hand auf seine Stirn legte, fühlte er eine doppelte Empfindung: die der Hand überlagerte sich mit jener der Stirn. Jedes Mal, da er einen Teil seines Körpers berührte, fühlte er zwei unterschiedliche, aber gleichzeitige Empfindungen. »Bald nahm ich wahr, daß die Fähigkeit zu empfinden in allen Theilen meines Wesens vertheilt sey, und erkannte bald die Grenzen meines Daseyns, das mir früher unendlich an Ausdehnung erschienen war«.24 Der dritte Schritt machte dem ersten Menschen die äußere Realität der äußeren Dinge bewusst, d. h. jener Dinge, die außerhalb von ihm und nicht nur in ihm wirklich existierten. Es bedurfte dazu beispielsweise nur, dass er gegen einen Baum stieß. Die Berührung mit diesem Objekt unterschied sich von der mit seinem eigenen Körper. Er berührte das Objekt mit seiner Hand, ohne eine doppelte Empfindung zu fühlen. Er sagte: »[Ich] erkannte zum ersten Male, daß es etwas außer mir gebe.«25 Dennoch konnte einzig der Tastsinn ihm den Beweis von der Existenz der äußeren Welt geben: Beim Nachdenken über diesen Gegenstand kam ich auf den Schluß, daß ich über die äußern Gegenstände urtheilen müsse, wie ich über Theile meines Körpers geurtheilt hatte, und daß nur der Tastsinn mich über ihr Daseyn versichern könne.26

Buffons ›Geschichte des ersten Menschen‹ endet mit dem Bewusstwerden des Anderen als eines von mir unterschiedlichen, gleichwohl jedoch wirklich existenten Wesens. Einmal mehr ist es der Tastsinn, der mir versichert, dass der Andere kein bloßes Spiegelbild meines eigenen Körpers ist. Sein Körper existiert wirklich und unterscheidet sich von meinen eigenen Körper. Der Andere ist aber nicht nur ein Körper außerhalb von mir, sondern auch ein empfindendes und denkendes Wesen, das ich erkenne: »Ich sah sie in meinen Augen Gedanken annehmen; die ihrigen gossen in meine Adern eine neue Lebensquelle, ich hätte ihr mein ganzes Wesen geben mögen; dieser lebhafte Wille vollendete mein Daseyn und ich fühlte einen sechsten Sinn entstehen.«27 Die Liebe erwacht mit der Entdeckung des Anderen, und das Bewusstsein, das ich dieses entstehende Gefühl habe, erweitert die Erkenntnis, die ich über mich selbst habe: ›Das bin nicht nur Ich als ein Körper, dessen ich mir bewusst werde, sondern da bin Ich als eine Seele, deren inneren Veränderungen ich empfinde.‹

22 23 24 25 26 27

Ebd. Ebd. Ebd., S. 279. Ebd. Ebd. Ebd., S. 280.

Tetens und die Widerlegung des Idealismus

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Die Fiktion des ersten Menschen geht von einem Prinzip aus, das man insofern ›egoistisch‹28 nennen könnte, als der erste Mensch anfangs davon überzeugt ist, dass alles, was er wahrnimmt, zu seiner eigenen Existenz gehört. Indem er sich der Grenzen seines eigenen Körpers bewusst wird, beginnt der Mensch den Unterschied zwischen den Dingen in ihm und außerhalb von ihm zu fassen. Mit der Erkenntnis über die Existenz äußerer Körper überwindet er seinen Egoismus und scheint eine mit den Grundsätzen des gemeinen Verstandes übereinstimmende realistische Position einzunehmen. Es ist offensichtlich, dass zwischen dem am Ende der adamischen Geschichte geschlossenen Realismus und dem in dem ersten Kapitel bekanntgegebenen Idealismus ein Widerspruch existiert. Wenn Buffon ernsthaft glaubt, den Solipsismus, in welchem der erste Mensch gefangen war, überwunden zu haben, weshalb behauptete er dann zuvor: »Das Daseyn unseres Körpers und der anderen äußeren Gegenstände ist für den, der ohne Vorurtheil seine Vernunft gebraucht?« Es scheint, dass dieser Widerspruch sich auflöst, wenn wir die Geschichte des ersten Menschen als das begreifen, was sie ist, nämlich als die Beschreibung des Vorgang, durch den der Verstand die Existenz der äußeren Dinge erkennt; es geht nicht darum, die Realität der körperlichen Substanzen zu beweisen, sondern darum zu zeigen, wie sich unsere Urteile bilden. Buffons Fiktion ist keine Widerlegung des Idealismus. Es ist nach Buffon sehr wohl möglich, die Entstehung unserer Begriffe der Seele, des Körpers und der äußeren Dinge zu erklären und zugleich eine idealistische Position zu verteidigen. Diese ist zwar dem gemeinen Verstand entgegengesetzt, intellektuell jedoch befriedigender, da sie die Unmöglichkeit eines Beweises der äußeren Dinge zur Kenntnis nimmt.

3. Zu Genealogie des epistemologischen ›Egoistismus‹ Mit Bezug auf die Fiktion Buffons beabsichtigt Tetens zu zeigen, wie die Vernunft sich verirrt und dem Idealismus verfällt. Die Geschichte von Buffon beschreibt, wie sich der Verstand auf natürliche Weise seiner eigenen Existenz, seines Körpers und dann der äußeren Dinge bewusst wird. Die Ordnung, in der die Begriffe aufeinander folgen, sorgt dafür, dass die Erkenntnis der äußeren Dinge niemals die erste ist, sondern stets die Folge eines Vorgangs, durch den der Verstand vorgibt seinen Egoismus zu überwinden. Allerdings schafft es der Verstand niemals vollständig, seinen Egoismus zu überwinden. In Wirklichkeit gibt es nichts, das die Existenz der äußeren Körper beweisen könnte. Buffon zieht daraus konsequenterweise einen idealistischen Schluss. Die Strategie von Tetens besteht hier indes darin, zu zeigen, dass dieser Gedankengang aus einer falschen Prämisse entspringt: Hr. von Buffon setzt voraus, der sich bildende Verstand habe zuerst den ganzen Inbegriff seiner Empfindungen in Ein Ganzes vereiniget, und aus ihnen allen Eine Existenz gemacht. Alsdenn müßte jede einzelne bemerkte Modifikation mit seinem Ganzen Selbst verglichen, auf solches bezogen worden 28

Man unterscheidet den Egoismus, der die äußere ganze Realität (einschließlich der Existenz unseres eignen Körpers) leugnet, gegenüber dem Idealismus, der die Existenz der Materie (d. h. alle körperlichen Substanzen) leugnet, aber die Existenz anderer Geister annimmt. In diesem Sinn ist der Idealismus Berkeleys ein Immaterialismus.

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seyn, und sich als einen Theil oder Zug unsers Ichs, das heißt, als eine Beschaffenheit desselben dargestellt haben.29

Indem Buffon alle Wahrnehmungen im Ursprung auf das Ich bezieht, als sei dieses bereits vor jeder Wahrnehmung konstituiert, schließt er sich in einen Solipsismus ein, aus dem es kein Entkommen gibt. Zwar kann er beschreiben, wie Urteile über die Existenz äußerer Körper entstehen, aber es ist ihm unmöglich zu beweisen, dass diese Dinge außerhalb von ihm wirklich existieren. Der Irrtum Buffons, so Tetens, besteht darin, nicht zu erkennen, dass das Urteil des ersten Menschen zum einen bereits andere Urteile voraussetzt und zum anderen Begriffe verwendet, die im Ursprung noch nicht gebildet worden waren. Letzteres betrifft besonders den Begriff des Ich, der kein ursprünglicher Begriff ist; er ist selbst das Ergebnis eines Arbeitsvorgangs, durch den der Verstand unter den ursprünglichen Empfindungen jene unterscheidet, die zum Selbst, und jene, die nicht zur Empfindung des Selbst gehören: Ist es nicht vielmehr eben so natürlich, und eben so leicht zu erwarten, wenn die Reflexion bis dahin gekommen ist, wohin sie seyn muß, ehe sie etwas in sich selbst hinsetzen, und als ein Theil ihrer eigenen Existenz ansehen kann, daß sie alsdenn auch schon zu der Idee von der äußern Existenz gelanget seyn, und diese einigen ihrer Empfindungen zuschreiben müsse? Konnte die Vorstellung und der Begrif von der subjektivischen Existenz abgesondert seyn, ohne daß auch der Begrif von der objektivischen äußern Existenz es geworden? Konnte der Mensch sein Ich kennen, und unterscheiden lernen, ohne zugleich einen Begrif von einem wirklichen Objekt zu erhalten, das nicht sein Ich ist?30

Nach Tetens hinterlässt die Antwort darauf keinen Zweifel: Es ist unmöglich, das Ich als wirkliches Subjekt zu begreifen, ohne gleichzeitig die Idee von etwas äußerem, nämlich dem Begriff des wirklichen Objekts, zu bilden. Die beiden Begriffe sind unzertrennbar: Der Unterschied zwischen dem Objektivischen und dem Subjektivischen erfolgt aus einer ursprünglichen Verteilung innerhalb eines »ganzen Chaos von Empfindungen«,31 woraus die Begriffe des Ichs, des eigenen Körpers und der fremden Körper gebildet werden konnten. Dennoch ließe sich ein idealistischer Philosoph auf diese Weise wohl nicht überzeugen und könnte beispielsweise einwenden, dass der Begriff, durch den wir einen Gegenstand als wirklich erkennen, doch aus dem Gefühl des Selbst, aus der Sicherheit unserer eignen subjektiven Existenz hergeleitet wird. Denn wir zweifeln nicht an der Existenz unseres eigenen Ichs, und Jeder erkennt durch das Gefühl seiner eigenen Existenz, dass das Ich etwas wirkliches ist, eine Substanz, ein von selbst bestehendes Wesen, trotz all seiner Veränderungen. Aber wenn wir behaupten, dass die äußeren Körper ebenfalls wirklich sind, schreiben wir diesen Objekten – so der Standpunkt der Idealisten – ein Prädikat zu, das nicht zu ihnen gehört, weil dieser Begriff aus dem inneren Gefühl aber nicht aus den äußeren Empfindungen hergeleitet ist. Es ist [nach ihnen] nur das Selbstgefühl der Seele […], woraus die Idee von einem existierenden Dinge entstehen kann. Die übrigen Empfindungen werden so bald nicht unterschieden und gekannt, als sie auch schon auf unser Ich, mit dessen Gefühl sie unzertrennlich verbunden sind, bezogen, und wie Beschaffenheiten in einem Subjekt gedacht werden. Die äußeren Empfindungen können für sich also in der Vorstellung als solche völlig abgesonderte Ganze nicht erscheinen, und also keinen Stoff zu der 29 30 31

PV I, S. 411f. (5. VII.); Hvhb. im Original. Ebd., S. 378f. (5. II.); Hvhb. im Original. Ebd., S. 386 (5. IV.).

Tetens und die Widerlegung des Idealismus

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Idee eines wirklichen Dinges hergeben. Daher auch das Prädikat der Existenz auf die äußern Objekte nur aus innern Empfindungen übertragen werden kann, und, wie die gedachten Philosophen hinzusetzen, ohne hinreichenden Grund übertragen wird.32

Das ganze Problem besteht also darin zu beweisen, dass sich der Begriff der Realität aus den äußeren Empfindungen herleiten lässt und dass diese letzteren den Stoff ausmachen, aus dem der Verstand die Idee der körperlichen Substanz herstellen kann. Um zu diesem Schluss zu gelangen, ist es nötig, den Begriff der Substanz in seine Bestandteile zu zerlegen. Was wir eine Substanz nennen, bezeichnet nach Tetens ein wirkliches Objekt, das für sich existiert, in der Zeit besteht und fortdauert. Dieses Objekt ist insofern wirklich, als es von der Vorstellung, die wir uns von ihm machen, unabhängig ist; es ist ein Ding, auf das sich die Empfindungen beziehen, die wir bei seinem Kontakt fühlen. Alle diese allgemeinen Begriffe der Dinge, der äußeren Objekte, der Substanzen müssen aus den äußeren Empfindungen hergeleitet werden können. Unter dieser Bedingung können wir es beweisen, dass die Realität der Körper kein Begriff ist, der aus dem Selbstgefühl kommt, und folglich, dass uns gleichzeitig die objektive Existenz unabhängig von der subjektiven gegeben ist.

4. Die Entstehung des Begriffes von der körperlichen Substanz Die Entstehung des Begriffes von der körperlichen Substanz ist ein Vorgang, der sich in drei Schritten beschreiben lässt: (1) In dem Urteil ›dieser Körper, den ich wahrnehme, ist etwas wirkliches‹ schreibe ich dem Körper das Prädikat eines Dinges zu. Aber was ist ein Ding? Nach Tetens bezeichnet dieses Wort das logische Subjekt des Urteils, d. h. jenes, worauf sich das Prädikat bezieht. Nun sind die Prädikate in einem Empfindungsurteil jedoch die Beschaffenheiten des Objektes: Dieser Körper ist fest, kalt, ausgedehnt, glatt usw. Dies sind Beschaffenheiten, d. h. Empfindungen, die ich einem Objekt zuschreibe, das da vor mir ist. Das Ding ist also das, worauf sich die Beschaffenheiten beziehen, und zwar das Substrat der Wahrnehmung. Die ganze Schwierigkeit liegt hierbei darin, zu zeigen, wie der Begriff von einem Ding, d. h. von einem Substrat, aus der äußeren Empfindung hergeleitet werden kann.33 32 33

Ebd., S. 405 (5. VII.). Das Hauptargument von Berkeley ist dies: Ich urteile, dass ein Ding existiert, denn ich nehme es wahr. Was aber ist die Wahrnehmung dieses Objekts, wenn nicht die Wahrnehmung seiner Beschaffenheiten? In anderen Worten: Was ist die Wahrnehmung dieses Objekt anderes, als die Summe der Empfindungen, die ich fühle, wenn ich es als Ganzes empfinde? Um zu behaupten, dass dieses Objekt unabhängig von meiner Wahrnehmung existiert, muss man annehmen, dass seine Beschaffenheiten sich auf ein Substrat beziehen, das nicht wahrnehmbar ist. Wie kann ich aber auf die Existenz eines Objekts schließen, von dem ich nur seine Beschaffenheiten wahrnehme, wenn es mir unmöglich ist, das Substrat wahrzunehmen, worauf diese Beschaffenheiten beruhen? Die einzige Gewissheit, so Berkeley, ist, dass ich die Beschaffenheiten dieses Objekts empfinde und dass diese Beschaffenheiten in mir Empfindungen sind, deren Existenz ich nicht leugnen kann. Esse ist percipi. »Sein ist Wahrgenommenwerden.« Wenn die abstrakte Idee des Substrats (oder der materiellen Substanz) eine unverständliche und vage Idee ist, muss man ihrer entsagen: Dieses Objekt, das ich sehe, dieser Tisch, existiert –

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Diese Frage ist wesentlich, denn auf diesen Punkt konzentriert sich die gesamte idealistische Argumentation. Die Wahrnehmung des Objekts ist nach Berkeley nicht mehr als die Wahrnehmung seiner Beschaffenheiten, d. h. der Inbegriff der gegenwärtigen Empfindungen. Zwar könne man diese Empfindungen in andere kleinere Empfindungen zerteilen, das Ganze aber belaufe sich letztlich immer auf die Summe seiner Teile oder Elemente. Nicht so für Tetens: Diese Empfindung mag aus einer Menge, und aus einer unzähligen Menge von kleinern Gefühlen bestehen, die auf einander folgen; und jedes auf einmal vorhandene Gefühl mag mehrere einfachere gleichzeitige in sich enthalten, so ist es doch für mich Ein Gefühl, und Ein und derselbige Aktus des Bewußtseyns, womit ich diese Summe von Gefühlen, oder was es ist, zusammennehme, und daher als Eine Empfindung unterscheide.34

Um das Ganze wahrzunehmen, muss sich die Wahrnehmung mit einem »Aktus des Bewußtseyns« verbinden, durch den das Ensemble der Empfindungen vereinigt wird. Dies ist die Bedingung dafür, dass ich ein Ding, und nicht einen verwirrten Haufen von Empfindungen wahrnehmen kann. Wenn ich also sage, dass der Tisch ein festes Ding ist, unterscheide ich eine Beschaffenheit – die Festigkeit – von anderen. Was sich zunächst einstellt, ist die Wahrnehmung des Ganzen; die Wahrnehmung der einzelnen Beschaffenheit folgt erst danach, indem sie von der Wahrnehmung der übrigen abgesondert wird. Wenn die ganzen Empfindungen in der Wahrnehmung des Objekts ›ein vereinigtes Ganzes‹ ausmachen, so geschieht dies tatsächlich deswegen, weil die Wahrnehmung des Ganzen immer jener seiner Teile vorausgeht. So eine Empfindung, die eine ganze ungetheilte, zugleich vorhandene Empfindung ist, und in der Ein unabgesonderter, mit dem übrigen vereinigter Zug sich vor andern an leichterer Apperceptibilität ausnimmt, ist eine solche, aus der die Denkkraft die Idee von einem Dinge und von einer Beschaffenheit macht.35

Dieses Ding, auf das sich die gefühlten Beschaffenheiten beziehen, ist noch keine Substanz und eben noch kein Objekt, aber es ist das, was das Subjekt – für Tetens: das Substrat – der Wahrnehmung ausmacht. (2) Ist dieses Ding, das wir wahrnehmen, ein wirkliches Ding? Es handelt sich in diesem Zusammenhang nicht nur darum zu zeigen, dass die Beschaffenheiten des Objektes sich auf ein Ding beziehen, sondern dass dieses Ding ein außerhalb des Verstands existierendes Objekt ist, welches zudem von der Wahrnehmung unabhängig ist. Wie gelingt es Tetens nun, aus der Wahrnehmung des Objekts zum Objekt der Wahrnehmung überzugehen? Denn nach Berkeley verwirrt sich das Objekt der Wahrnehmung mit der Wahrnehmung des Objekts – die nichts anderes als ein Inbegriff der gleichseitigen Empfindungen ist. Wie könnte man aus der Empfindung die Existenz eines Objekts entziehen, das unabhängig von der Empfindung wäre? Für Berkeley ist die Vorstellung eines sich äußeren, für sich vorhandenden materiellen Objekts ein Trugbild. Folglich existiert das Objekt, das ich wahrnehme, aber seine Exis-

34 35

aber nur im Verhältnis zu meiner Wahrnehmung. Nichts ließe mich behaupten, dass dieses Objekt außerhalb von mir wirklich existiert, das heißt unabhängig von meiner Wahrnehmung. PV I, S. 389 (5. V.); Hvhb. im Original. Ebd., S. 390.

Tetens und die Widerlegung des Idealismus

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tenz besteht bezüglich meiner einigen Wahrnehmung, nämlich in Bezug auf mich, der ich wahrnehme. Tetens gesteht gern ein, dass »das Wort Seyn oder Wirklichseyn« zuerst ausdrückt: »gefühlet und empfunden werden, und ein Subjekt oder Ding seyn«.36 Das heißt so viel wie, dass ›wirklich sein‹ und ›gefühlt sein‹ ursprünglich in derselben Idee verwickelt sind. »Aber es kam noch hinzu, daß das gefühlte Subjekt auch ohne Rücksicht darauf, daß es wirklich gefühlet ward, doch fühlbar sey, und gefühlet werden konnte.« Um gefühlt zu werden, muss das Ding fühlbar sein. Eben diese Verschiedenheit ist wesentlich: Durch sie können wir das Objekt der Vorstellung von der Vorstellung des Objekts unterscheiden. Denn wenn das, was gefühlt wird, notwendigerweise fühlbar ist, ist es möglich, dass ein Ding fühlbar wäre, ohne gefühlt zu sein. Diese Folgerung stellt das idealistische Prinzip Berkeleys gründlich in Frage. Gehen wir nämlich davon aus, dass ein Ding fühlbar sei, ohne gefühlt zu werden, so erkennen wir an, dass ein Objekt unabhängig von der gegenwärtigen Wahrnehmung existieren kann. Folglich ist »das Wirkliche […] etwas objektivisches, ein Gegenstand, etwas, das von der Empfindung und Vorstellung unterschieden ist.«37 Wie können wir aber die Verschiedenheit zwischen ›gefühlt sein‹ und ›fühlbar sein‹ (also zwischen dem, was wirklich wahrgenommen wird und was wahrgenommen werden kann) begreifen? Tetens erklärt, dass wir diesen Unterschied erkennen, indem wir unsere vergangenen Vorstellungen mit unserer gegenwärtigen Wahrnehmung vergleichen. Wenn ich meinen Kopf zur rechten Seite drehe, höre ich auf, das links liegende Objekt wahrzunehmen; richte ich nun den Kopf auf die linke Seite, so nehme ich dieses Objekt wieder wahr, welches verschwunden schien. Ich sehe dasselbe Objekt sowohl vorher wie nachher. Daraus schließe ich, dass im Moment, als ich den Kopf abwandte, das Objekt weiterhin da war, dass es fühlbar, nur eben nicht gefühlt war. Das Objekt hört nicht auf zu existieren, sobald es aus meinem Blickfeld verschwindet; es existiert weiter, obgleich ich es nicht sehe. Ein idealistischer Philosoph könnte dennoch auch hierauf einwenden, dass die Existenz dieses Objekts als ein von der gegenwärtigen Wahrnehmung unterschiedenes nur möglich ist. Ebenso wie das gefühlt zum fühlbar übergeht, verhält es sich mit der wirklichen zur möglichen Existenz. Das Argument ist unwiderlegbar. Tetens kann indes erwidern: Warum sollen wir zweifeln, dass dieses Objekt alsdann wirklich zu existieren aufhört, wenn es aus unserem Blickfeld verschwindet? Eine Frage, auf die der idealistische Philosoph nur mit einem Teufelskreis antworten kann. (3) Durch den Unterschied zwischen dem Objekt der Empfindung und der Empfindung des Objekts leitet Tetens einen entscheidenden Schritt ein. Was ich fühle, ist etwas wirkliches, aber diese Wirklichkeit ist nicht nur die Wirklichkeit der Empfindung, sondern jene, auf die sich die Empfindung bezieht. Dennoch, »der Begrif von einem Objekt ist noch nicht der Begrif von einem für sich bestehenden Dinge oder von einer Substanz, die für sich allein besonders vorgestellt, als ein wirkliches Objekt gedacht werden, und daher außer dem Verstande, es seyn kann«.38 Wenn ich Töne höre, fällt es mir manchmal schwer, einem äußeren wirklichen Objekt diese Empfindungen zuzuschreiben. Sie sind Eindrücke, die vergehen und nicht andauern. Ebenso schwebt ein 36 37 38

Ebd., S. 395 (5. VI.) ; Hvhb. im Original. Ebd. Ebd., S. 399 (5. VI.) ; Hvhb. im Original.

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Duft in der Luft, ohne dass ich im Stande bin zu wissen, woher dieser Geruch kommt. Nach Tetens gestatten diese Empfindungen allein nicht die Idee einer körperlichen Substanz. Für ihn liefert das Sehvermögen, vor allem aber der Tastsinn die Materie, aus der die Denkkraft den Begriff der körperlichen Substanz ausarbeitet, nämlich den Begriff eines für sich existierenden und in der Zeit andauernden Objekts. In anderen Worten, um ein in der Zeit bestehendes Objekt zu denken, muss die Wahrnehmung von dem letzteren, wenn nicht andauernd, so zumindest wiederholbar sein. Es ist zwar wohl möglich, dass sich das Objekt in diesem Wahrnehmungszusammenhang verändert, zum Beispiel in Bezug auf seine Farben, seine Figur oder den Ort, an dem es sich befindet; aber dies sind nur Beschaffenheiten des Objekts, die sich verändern, während die Wahrnehmung des Ganzen gleich bleibt. Wie können wir erklären, dass das wahrgenommene Objekt mit sich selbst identisch bleibt, trotz seiner Veränderungen? Wie wir es schon angegeben haben, ist die Wahrnehmung des Ganzen mehr als die Wahrnehmung seiner Teile. Aber im Fall einer Substanz muss die Wahrnehmung des Ganzen so vollständig sein, dass das Objekt – als ein von den übrigen unabhängiges Ganzes – abgesondert werden könnte. Das Objekt wird als eine Substanz unter der Bedingung wahrgenommen, dass es als Ganzes nicht als ein Element oder eine Beschaffenheit in einem anderen Ganzen empfunden werden kann: So ein abgesondertes ganzes Gefühl, aus dem die Abstraktion von einer Substanz entstehet, muß eine gewisse innere Vollständigkeit besitzen. Es muß allein für sich vorhanden seyn, und also die fühlende Seele während des Gewahrnehmens so ganz ausfüllen können, daß kein anderes größeres und weiter sich verbreitendes Gefühl, welches jenes in sich schließet, als gleichzeitig vorhanden bemerket werde.39

Es ist also die ›innere Vollständigkeit‹ der Empfindung, die uns dieses Objekt als eine Substanz wahrnehmen lässt, nämlich als ein für sich existierendes, wirkliches Objekt, das in der Zeit und im Raum mit sich selbst identisch ist – und dies trotz seiner inneren Veränderungen. Im Ganzen gesehen zielt Tetens’ Erörterung nicht darauf ab, die Realität der äußeren Körper zu beweisen, sie zeigt vielmehr, dass dieser Begriff der Realität aus äußeren Körpern entstammt, d. h. aus tatsächlich empfundenen Objekten. Es handelt sich um eine Antwort an die Idealisten, die der Meinung sind, dass der Begriff der Substanz, den wir gebrauchen, um den Gegenstand unserer Wahrnehmung als eine objektive Realität zu denken, aus unserem Selbstgefühl, aus dem Gefühl unserer subjektiven Existenz entspringt, und daher die objektive Realität der Körper leugne. Wenn der Begriff der körperlichen Substanz aus der äußeren Wahrnehmung hergeleitet werden kann, gibt es keinen anderen Grund mehr, die Realität der äußeren Dinge zu bezweifeln.40

39 40

Ebd., S. 399f. ; Hvhb. im Original. Es bleibt nur noch zu bestimmen, worauf sich unser Glaube an eine objektive Realität stützt. Tetens skizziert im siebten Versuche (PV I, S. 563 [IV. 10.]) eine mögliche Antwort: »Die Gewißheit, die wir überhaupt von der Wirklichkeit äußerer Dingen haben, […] beruhet doch darauf, daß wir Gefühle in uns gewahrnehmen, die aus uns selbst nicht entstehen, und also außer uns Ursachen vorhanden seyn müssen, die auf uns wirken.« In diesen Worten findet sich das Prinzip der Kausalität, das den Grund unseres Glaubens ausmacht. Da es keine Wirkung ohne Ursache gibt, beziehen wir notwendigerweise die äußeren Empfindungen auf die Objekte, die sie hervorbringen. Tetens erkennt indes die Schwäche dieser Antwort: »Das Daseyn dieser Gefühle erkennen wir durch das unmittelbare Bewußtseyn; aber daß solche nicht aus uns selbst entstehen, woher wissen wir dieses?« Schon das Traumargument zieht

Tetens und die Widerlegung des Idealismus

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Was aber beweist, dass die äußeren Objekte, die wir empfinden, wirklich existieren? Es ist in diesem Kontext wichtig, das Folgende zu betonen: Tetens strebt nicht danach, die Realität der äußeren Welt zu beweisen, denn ein solches Vorhaben setzt in gewissem Sinne schon einen idealistischen Standpunkt voraus; für ihn geht es stattdessen nur darum zu belegen, dass der gemeine Verstand richtig urteilt, wenn er den Dingen eine Existenz außerhalb von ihm zugesteht. Tetens zufolge besteht die ganze Raffinesse der Idealisten darin, die Beweislast umzukehren und ihre Gegner vor ein Problem zu stellen, auf das sie keine Antwort finden können. Das einzige Mittel, diejenige Falle, in welche die räsonierende Vernunft geht, zu vermeiden, besteht darin, den Idealisten zu entgegnen: Welchen Grund haben wir, die Realität der Körper zu leugnen, die wir wahrnehmen? Warum sollte man das, was der gemeine Verstand für evident und wahr hält, bezweifeln? Die Strategie von Tetens besteht also letztlich darin, die Einwände der Anhänger dieser Philosophie zurückzuweisen und zu illustrieren, dass sich die vorgebrachten Argumente auf falsche Vorsätze stützen. Wenn es keinen Grund gibt, die objektive Existenz der äußeren Körper zu bezweifeln, muss man annehmen, dass der gemeine Verstand richtig urteilt: Seine Urteile sind begründet, weil die Annahmen des Idealisten unbegründet sind. Bei der letzten Untersuchung muss sich daher die Vernunft mit dem gemeinen Verstand versöhnen. Es könnte daher sein, dass Tetens der Auffassung Berkeleys näher war, als er selbst wahrhaben wollte. Tetens behauptet, dass die Körper, die wir wahrnehmen, wirklich existieren, dass sie Substanzen sind, uns äußere Objekte, die für sich bestehen, unabhängig von der gegenwärtigen Wahrnehmung, darbieten. An keiner Stelle seines Textes findet sich jedoch das Wort Materie, also die Existenz eines Substrats, worauf die Beschaffenheiten des Objekts beruhen könnten. Aber entgegen der Behauptungen Tetens (dem Vorurteil seiner Zeitgenossen folgend), leugnet Berkeley die Existenz der äußeren Körper nicht. Die Objekte hören nicht auf zu existieren, sobald man den Blick abwendet. Denn wenn alle Dinge, die ich wahrnehme, für Berkeley Ideen sind, so sind die Ideen Dinge, die wirklich existieren, unabhängig von meiner gegenwärtigen Wahrnehmung. Diese Ideen indes haben nur für den Geist Bestand, der sie begreift. Die Dinge existieren wirklich außerhalb von uns, insoweit sie Ideen von Gott sind. Was Berkeley leugnet, ist die Existenz der Materie, d. h. die Tatsache, dass die Dinge für sich selbst – mithin vom Denken unabhängig – existieren könnten bzw. außerhalb des göttlichen Geistes, aus dem sie ihre Existenz beziehen. Sollte es sich daher bei Tetens um einen unbewussten Anhänger Berkeleys handeln? Es wäre, so scheint es, ein Irrtum, Tetens zu einem idealistischen Philosophen zu erklären. Einerseits ist der ganze theologische Hintergrund, der das theoretische Gebäude von Berkeley trägt, bei Tetens verschwunden. Ohne sein theologisches Fundament degeneriert der Idealismus allerdings unvermeidlich zum ›Egoismus‹ – eine Auffassung, die Tetens entschieden verwirft. Andererseits leugnet Tetens die Existenz der Materie nicht, d. h. ein Substrat, auf welches sich die Beschaffenheiten des Objekts beziehen. Wenn Tetens jedoch niemals das Wort Materie benutzt, um dieses Substrat zu bezeichnen, so geschieht dies vielleicht, weil das Wesen der Materie für sich selbst unerkennbar ist. Wir kennen davon nur die Beschaffenheiten, d. h. die Dinge, wie sie uns erscheinen: die Phänomene. Zwischen dem Phänomenalismus Tetens’ und dem Immaterialismus Berkeleys besteht folglich ein unüberschreitbarer Abgrund. die Existenz einer sich äußeren Ursache in Zweifel: Die Objekte, die ich im Traum wahrnehme, existieren, aber nur in mir, bezüglich meiner eigenen Einbildungskraft.

SCOTT STAPLEFORD

Tetens’ Refutation of Idealism and Properly Basic Belief

Tetens endorses two seemingly incompatible theses in his refutation of idealism. On the one hand, he claims that judgements about the existence of external objects are no more problematic than judgements about the contents of our own minds: Both are perfectly natural and both are justified by experience independently of philosophical argumentation. On the other hand, he claims that judgements about the existence of external objects are threatened by the sceptical idealism of Berkeley and Hume: Philosophical argumentation is needed to back knowledge claims about the existence of objects outside us. I want to suggest that the tension here is only apparent. Drawing a distinction between first-level immediate justification and higher-level epistemic justification will not only eliminate the appearance of conflict; if I am right, it will also show that Tetens’ argument contains an important philosophical insight that is otherwise obscured. The distinction between first-level immediate justification and higher-level epistemic justification comes from William Alston. I doubt if Alston ever read Tetens (or even heard of him), but the fact that Thomas Reid was the most significant historical influence on both thinkers may help to explain the aptness of Alston’s distinction for clarifying Tetens’ position.1 Tetens is too remote a figure to have influenced Alston himself – he’s hardly known outside of Germany – but, like Alston, his basic approach to epistemology is firmly rooted in Scottish common sense philosophy. That we find broad agreement on certain points is therefore unsurprising, and the attempt to read levels of justification into Tetens’ refutation of idealism is more a matter of refining, than of revising, ideas that Tetens himself was struggling to express. The paper has three sections. In Section 1, I explain the notion of proper basicality, which will be central to my interpretation of Tetens. In Section 2, I outline Tetens’ argument. In Section 3, I indicate how Alston’s distinction between levels of justification can help explain why Tetens offers a philosophical defence of our belief in the existence of external objects when, according to his own theory, such beliefs are justified independently of all reasoning and argumentation. 1

Alston’s indebtedness to Reid is well known. For some indication of the importance of Reid to Alston’s thinking, see his Thomas Reid on Epistemic Principles. In: History of Philosophy Quarterly 2.4 (1985), pp. 435–452. For the influence of Reid on Tetens, see Manfred Kuehn: Scottish Common Sense in Germany, 1768-1800. Kingston, Montreal 1987, specifically Chapter 7.

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1. Proper Basicality My goal in this section is to explain what a properly basic belief or proposition is.2 Many of the things we believe, we believe on the basis of other things we believe. I believe that my sister has lungs, for instance, because I believe that she is a mammal and I believe that mammals have lungs. I also believe that I am tired. But I don’t believe that I am tired because of any other beliefs that I hold. My grounds for believing that I am tired are entirely non-propositional. They do not include any further beliefs, say, about my not having slept much last night or about my not having had enough tea. Propositions about the likely effects of lack of sleep or lack of tea could reinforce my belief that I am tired, but that’s not the case right now – or at least it wasn’t a moment ago before I started thinking about them. Propositions held to be true independently of any further beliefs are called ›basic‹. Propositions held to be true at least partly on the basis of other beliefs are called ›nonbasic‹. The distinction between basic and nonbasic beliefs can be expressed as follows: S’s belief that P is basic for S if and only if S’s grounds for holding that P do not include any other beliefs of S. S’s belief that P is nonbasic for S if and only if S’s grounds for holding that P do include other beliefs of S. According to this characterization, my belief that I am tired right now is basic for me because my grounds for holding that I am tired do not include any other propositions that I believe. But that does not imply that my belief is groundless. If someone were to ask me, ›Why do you believe that you are tired?‹, I wouldn’t cite any other proposition. But I also wouldn’t say, ›For no reason at all‹. Though I might not know exactly how to describe or point to the grounds of my belief, I do have grounds, and so the belief is not held arbitrarily. There is a characteristic experience I am undergoing that not only causes the belief that I am tired. It also justifies it. By contrast, if I were to form the belief that everything will turn out for the best on the basis of a hunch or some other indeterminate feeling, my belief, though caused – by the hunch – would not be justified. My belief that everything will turn out for the best would be basic, but it wouldn’t be properly basic, since its ground would have no justificatory force. The characteristic experience that grounds my belief that I am tired, on the other hand, does possess justificatory force. Let’s say that a basic belief whose grounds have justificatory force is properly basic:3 2

3

It will not be necessary for our purposes to draw a clear distinction between beliefs and propositions. Very roughly, a proposition is the object of a belief. I will also alternate between the language of judgement and the language of belief, since judging that P seems to be equivalent to forming the belief that P for Tetens. The term ›properly basic‹ comes originally from Alvin Plantinga, another reformed epistemologist who was influenced decisively by Reid. My formulation differs from Plantinga’s, but it is meant to be consistent with it. See Alvin Plantinga: On Taking Belief in God as Basic. In: John Hick (ed.): Classical and Contemporary Readings in the Philosophy of Religion. Upper Saddle River, New Jersey 1990, pp. 484–499.

Tetens’ Refutation of Idealism

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S’s belief that P is properly basic for S if and only if (1) S’s grounds for holding that P do not include any other beliefs of S, and (2) S’s belief that P is justified for S. A belief is properly taken to be basic only if certain conditions are met. It is not easy to spell out in a general way what those conditions are, but, as we have just seen, that does not prevent us from identifying certain beliefs as having proper basicality (such as the belief that I am tired) and others as lacking it (such as the belief that everything will turn out for the best). Commitment to the existence of properly basic beliefs distinguishes foundationalist from non-foundationalist theories of knowledge. Foundationalism comes in many forms, but the core principles are these: F1: There are properly basic beliefs. F2: All justified nonbasic beliefs are justified by virtue of standing in some appropriate relation to properly basic beliefs.4 It seems to me that Tetens accepts F1, but since I’m unsure about F2, I won’t call him a foundationalist. Nevertheless, our account of proper basicality will be enhanced by a brief consideration of two ways in which foundationalists differ with respect to F1. Restricting our attention to F1, we can generate different versions of foundationalism by offering different answers to the following two questions:5 (1) What kinds of propositions can properly be taken as basic? (2) What is the epistemic status of properly basic propositions? Starting with (1), we’ll use Triplett’s term ›psychological foundationalism‹ for the view that only propositions describing a person’s mental states can be properly basic for that person: ›I am appeared to greenly‹ will be properly basic for me if I believe it in the appropriate epistemic circumstances.6 Psychological foundationalism provides a poor platform for combating idealism, since no conjunction of propositions describing a person’s mental states entails the existence of the objects those mental states are ostensibly about. But a more liberal understanding of proper basicality is also possible. External-world foundationalists hold that ordinary propositions about everyday objects are properly basic for a subject when relevant conditions obtain. In my current epistemic circumstances the proposition ›There is a table in front of me‹ is properly basic. The characteristic perceptual experience I am having right now justifies my belief that there is a table in front of

4 5

6

See Richard Feldman’s similar account of foundationalism in Chapter 4 of Epistemology. Upper Saddle River, New Jersey 2002, specifically p. 52. Additional questions can be asked in order to generate yet further versions of foundationalism, but they won’t play any role here. For an exhaustive taxonomy, see Timm Triplett: Recent Work on Foundationalism. In: American Philosophical Quarterly 27.2 (1990), pp. 93–116. I rely heavily on Triplett in this and the next two paragraphs. I adopt Mark Nelson’s definition of ›epistemic circumstances‹: »Our epistemic circumstances are, roughly, those aspects of our circumstances that count in favour of the truth or falsity, probability or

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me, and since I haven’t inferred it from any propositions describing my mental states – nor from any other propositions – it is properly regarded as basic. The second question concerns the degree of justification that basic propositions admit of. Classical foundationalists such as Descartes insisted that the foundations of knowledge must be justified to the very highest degree: Basic propositions were supposed to be indubitable, incorrigible and absolutely certain. Triplett calls this stringent view ›superior basics foundationalism‹. Few epistemologists today require such ›high performance‹ foundations for a theory of knowledge. Modest basics foundationalism – by far the dominant view – requires only that the basic propositions have some degree of justification, but they needn’t be invincible. Suppose for a moment that external-world foundationalism is correct. Given my current sensory experiences, the proposition ›There is a table in front of me‹ is justified. But that doesn't mean that I couldn’t be mistaken about it – a belief needn’t be indefeasible in order for me to be ›modestly‹ (that is to say, prima facie) justified in holding it. If it turns out that I was hallucinating and I had no reason to think that I was, the qualitative features of my table-like experience still made it more reasonable than not for me to suppose that there was a table in front of me. My idea is that Tetens is committed to the foundationalist understanding of proper basicality in the external-world, modest basics sense, and that his argument against idealism turns on it. Here is what I have in mind: According to some external-world, modest basics foundationalists, propositions such as (1) and (2) can be properly basic for a person in the appropriate epistemic circumstances: (1) There is a tree in front of me. (2) There is a house in front of me. The truth of either of these propositions immediately and self-evidently entails the truth of propositions (3) and (4): (3) There are external objects. (4) The external world exists. Of course the truth of either (3) or (4) entails the falsity of (5) and (6), which are the central theses of Berkeleyen and Humean idealism, respectively: (5) The only things that exist are minds and ideas. (6) The only things that exist are ideas. If propositions (1) and (2) are properly basic, then we are prima facie justified in believing that (5) and (6) are false. And if we are prima facie justified in believing that (5) and (6) are false, then we have, if not a disproof of idealism, then at least a good bet against it. This is more or

improbability, of certain propositions.« Mark Nelson: We Have No Positive Epistemic Duties. In: Mind 119 (2010), pp. 83–102, specifically p. 86.

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less the argument that I think Tetens wants to give. I will make a case for this interpretation in Section 2.

2. Philosophical Psychology Tetens’ refutation of idealism occurs in the fifth Philosophical Essay, »On the Origin of our Knowledge of the Objective Existence of Things«.7 The argument opens with a remark on the signifying role of representations: Representations are for themselves signs of other things to which they refer themselves. But this is what they are for us as well. We represent things (Sachen) to ourselves through them. They are a script by which we distinguish not only the letters and words, and read them, but we also understand them, and underlay them with a sense in that we don’t just regard them as changes in ourselves but as things (Dinge) and qualities (Beschaffenheiten) which have an objective existence. Some ideas represent us and our modifications; others are representations of our body and its modifications; others show us objects (Objekte) outside of us and properties of them.8

Tetens seems to think that every experience is representational and that representations are natural signs for us: some representations refer to external objects, some refer to the body and some are associated with the mind. Like a script that is scarcely noticed when it is being read, they suggest their objects without reflection and provide immediate evidence of their existence. A feeling of joy is attributed to my mind, a certain odour is attributed to my nose and a certain colour is attributed to the sky.9 The existence of the mind, the body and the external world are taken as given when we undergo experiences – that is to say, when we have representations – of certain kinds. The question that most concerns Tetens is how we come to judge that external objects exist on the basis of representations in us: How, in which way, by which means, according to what laws, does the understanding pass from representations to objects, from the ideational (Ideellen) in us, to the objective outside of us, and how do we attain to the thought that there are external things, which we recognise in us through our representations?10

In keeping with the empiricist tradition of Locke and Hume, and in sharp contrast to the rationalist tradition of Wolff and Kant, Tetens’ approach to the question of idealism is clearly psychological:

7

8 9 10

Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig 1777 [in the following: PV, Vol., page]. (All translations are my own.) In this section I am reworking some material that I presented in two earlier papers: Reid, Tetens and Kant on the External World. In: Idealistic Studies 37.2 (2007), pp. 87–104; A Refutation of Idealism from 1777. In: Idealistic Studies 40.1-2 (2010), pp. 139–146. PV I, p. 373. PV I, p. 373. PV I , p. 373.

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The correctness or incorrectness of our judgements concerning the existence of external objects is not actually the question in the present investigation, but rather the manner in which these judgements come to be and the order in which they arise.11

From the rationalist perspective of Tetens’ better-known German contemporaries, an exercise in descriptive psychology is not going to be of much service in overcoming sceptical doubts. But Tetens, whose affinity with the British empiricists is exhibited on almost every page, clearly considers the practice of mental geography to be an indispensible component of conscientious philosophical investigation. By mapping the basic laws of thought and referring them back to the first principles covering them, the philosophical psychologist provides a justificatory framework that is grounded in the actual workings of the human mind, rather than the metaphysical fictions of a priori speculation. In the fifth Essay in particular, Tetens will try to show that judgements about the existence of objects outside of us issue from a fundamental faculty (a Grundvermögen) of the power of thinking (Denkkraft) in accordance with a first principle – one capable of conferring justification on judgements falling under it, but which cannot itself be justified. As naturally necessary laws of thought, the first principles of human knowledge mark the limits of philosophical explanation and can therefore be cited in defence of particular judgements whose legitimacy has been called into question by the sceptic. If Tetens can identify the highest principle covering judgements about the existence of objects outside us, he will have provided a satisfactory explanation of their origin and to that extent validated our confidence in their grounds.12 The principle Tetens invokes rests on an elaborate psychological theory purporting to explain the genesis of conscious experience – the cognition of ourselves as mental-physical beings located in a world of numerically distinct sensible objects – out of the raw material of sensation. Order is originally conferred on the sensory manifold by means of a pre-theoretical sorting mechanism: Since at first the sum total (Inbegriff) of sensations and sensory representations […] was present almost like one whole sensation, the first effect of the soul upon them must therefore have consisted in this: that they were distributed (vertheilet) and sorted into different heaps.13

Tetens conjectures that at the earliest stages of cognitive development we are confronted with an undifferentiated sensory mass that the mind must somehow convert into an intelligible form. The first level of cognitive processing involves ›distribution‹: clusters of representations that exhibit relevantly similar qualitative features are sorted into one of three classes: »This occurred such that inner sensations were assigned to one class, outer ones arising from our body to another, and those from foreign objects to a third, and were then perceived as distinguishable 11

12

13

PV I, p. 403. Tetens speaks of judgements concerning the existence of external objects as well as judgements concerning the objective existence of things. I take these to be equivalent. Likewise, by judgements concerning ›subjective existence‹ I take it he means judgements concerning existence within the mind. It will become clear in Section 3 that it is our confidence in the grounds of our judgements about the existence of external objects that is validated through appeal to a highest principle rather than the judgements themselves. I missed this important distinction entirely in my previous papers on Tetens (see note 7). The two preceding sentences in the main body of the text are ambiguous on this point. The ambiguity will be eliminated once we have applied a levels distinction to Tetens’ analysis. PV I, p. 380.

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kinds.«14 The sorting mechanism – Tetens refers to it mysteriously as the Unterscheidungskraft – operates on a principle of association (»nach dem allgemeinen Gesetz des Unterscheidens«),15 assigning representations to different locations in the sensory field based on their internal, qualitative features. The upshot is a phenomenology of the inner (comprising representations belonging to the mind), the relatively outer (sensations experienced in the body), and the absolutely outer (perceptions of external objects). Much of Tetens’ investigation is devoted to speculating on the probable criteria of distribution. Visual and auditory sensations are generally experienced as occurring outside of us.16 Tetens reasons that they are distributed outwards on account of their fleetingness and variability: they »arise without inner preparation« and »fade away again without noticeable consequences«,17 leaving minimal traces in the mind. He offers the example of a man on the verge of fainting while viewing a dizzying prospect. If he closes his eyes, the disorienting scene vanishes; if he looks the other way, it is replaced with a different, perhaps steadier perspective. The example is meant to illustrate how easily visual representations are detached from the mind and the body. Bodily sensations, especially painful ones, are anchored more securely and focus the attention more acutely: But the pain in the body, its disturbance in the soul, was present to it [the mind] for longer, however much the scene changed itself. His active power was more occupied here, and more strongly; and he noticed in this case more, and more diverse, circumstances and consequences.18

Representations arising from the »inner feeling of the self« are also stronger and more absorbing than most visual and auditory sensations and are therefore distributed to the inside.19 »This alone suffices«, Tetens assures us, »to distinguish both of these great clusters (Haufen) of inner and outer sensations from each other«.20 Bodily sensations and purely mental representations are not always fully separated from each other, and the criterion for distinguishing them when they are is somewhat difficult to make out. My sense is that Tetens has something like the following in mind. When I am experiencing a sharp pain in my side, or a bad burn on my finger, there is no distinction between the mental representation and the bodily sensation – they are blended together and experienced as one. By contrast, the feeling of hopefulness belongs to my mind alone, while the tactile sensations of a handshake are associated primarily with the hand. The reason that handshake sensations have been distributed to the body and the feeling of hopefulness to the mind is that perceiver and perceived are less intimately connected with each other in the former case than they are in the latter. More generally, where bodily sensations and purely mental representations are separable, it is easier to be self-reflexively aware of the bodily ones while they are occurring 14 15 16 17 18 19

20

PV I, p. 380. PV I, p. 386. PV I, p. 416. PV I, pp. 384–385. PV I, p. 385. Tetens is inconsistent in his classification of bodily sensations: He regards them as both outer and inner depending on whether the contrast is with representations of the mind or perceptions of external objects. In any case, the important distinction is between the mental and the non-mental. PV I, p. 385.

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than it is of the mental ones.21 I can perceive the handshake sensations in my hand and at the very same moment be self-reflexively aware of myself as having them. But the feeling of hopefulness is associated with my mind alone, since it is difficult to be self-reflexively aware of my having a feeling of hopefulness at the very moment in which I am hopeful: By contrast, the sensations of our ego – particularly our representations and thoughts, which first distinguish themselves as belonging to this particular class – are so intimately mixed with the power which perceives them that one cannot perceive them in the moment when they occur (wenn sie da sind), but rather must recognise them only from behind, when they are [already] over, in the traces they leave behind.22

Distribution is also facilitated by the tendency of representations belonging to the same sensory modality to appear and disappear en masse: »As soon as the eyes are closed, for instance, the entire mass of visual sensations disappears at once; were they opened again, an entire scene of infinite variety restores itself.«23 Tetens’ presentation is cluttered and confusing, but the crucial point for his argument against idealism is relatively clear: The sensory field is divided – representations are distributed to the inside and the outside – independently of volition and conscious thought, »before the power of thinking begins to compare and perceive differences«.24 As we shall see, the status of perceptual beliefs as basic depends essentially on the prior distribution of the sensory data. The spontaneous division of the field of experience into the inner, the relatively outer and the absolutely outer is a cognitively necessary condition of acquiring the concepts of the mind, the body and an external object: »And before such a separation had occurred, how could the idea of a real thing, and of our ego as a thing have arisen?«25 Possession of these concepts is itself a necessary condition of making judgements about the existence of our minds and bodies, of mental and physical states in us, and of objects and their properties outside of us: These common concepts must […] already be present before any one of our judgements about the objectivity of representations and about the subjective and objective reality of objects can come about. The thought: That which I see is a tree which stands before me, a particular thing, or a real object that is not identical to me; and »The motion and figure, which I perceive, is a property of this external thing«, and other expressions of that kind, require that ideas of these general predicates […] are in us.26

So equipped, the power of thinking learns to make judgements about the existence of itself as a thinking thing with an inner mental life as well as a body, and about the existence of external objects and their properties: From here on the power of thought went further. It framed for itself an idea of itself and its inner life (Ihrem Innern), it acquired another of its body, and a third of an external object. And because it now re-

21 22 23 24 25 26

PV I, p. 386. PV I, p. 386. PV I, pp. 386–387. PV I, p. 387. PV I, p. 412. Cf. pp. 413–14. PV I, p. 388.

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ferred particular sensations to the concepts of itself, of its body and of the external object, judgements pertaining to the subjective and objective existence of sensed objects (empfundenen Objekte) arose.27

These are the second and third levels of cognitive processing required for the production of conscious experience: acquisition of the concepts of mind, body and object, plus activation of the capacity for making judgements about their existence. The relevant concepts are »abstractions […] from sensations«, according to Tetens, which the power of thinking has »processed« (bearbeitet), »prepared« (zugerichtet), and worked up into »ideas and common concepts«.28 Tetens is confident he can run his argument against idealism, though his theory of abstraction lacks detail and precision. The question of how we acquire the concepts of mind, body and external object is »difficult, and, if answered in its full extent, lengthy«. Tetens does little more than »sketch the terrain of this fruitful investigation«, referring the reader to Locke and Leibniz for the rest.29 The essential thing is to recognise that the concepts of inner (subjective) and outer (objective) existence arise only in conjunction because they are grounded originally in the same cognitive act: Could the representation and the concept of subjective existence be set apart, without also the concept of objective external existence being so? Could the person know his ›I‹, and learn to distinguish it, without at the same time acquiring a concept of an actual object that is not his ›I‹?30

Division of the sensory field between the inner and the outer also gives rise to the concept of the subject’s own body: [W]hen reflection was already so far along that it could connect with this totality of inner sensations the thought: Our ego is a real thing for itself, it must have also found in itself the representations of its body, and the external objects – prepared in the same manner – such that it could likewise make them into ideas of external things.31

Their joint dependence on a prior act of distribution implies a formative link between the concepts of mind, body and external object: If the conditions are in place for one to appear, they are there for the other two. What remains to consider is the origin of judgements concerning the subjective and objective existence of things: When the general classification is once established, it [the soul] judges in particular cases [that] the sensed thing [Sache] is either in itself, or in its body, in this or that part of it, or outside of itself. According to which general laws of thought is it determined in these judgements?32

Once the incoming sensory elements have been distributed to suitable locations in the sensory field, the power of thinking is activated and begins to make judgements about the existence of particular objects and their states. The question of epistemological importance is what determines us in making such judgments and forming the corresponding beliefs. What makes us judge that this thing is outside of us and this other thing a property of our mind or our body? What rule do we follow in making these judgements? Tetens’ answer is elegant in its simplicity: 27 28 29 30 31 32

PV I, p. 380. PV I, p. 389. PV I, p. 388. PV I, p. 379. PV I, p. 414. PV I, p. 381.

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This rule is as follows: ›We posit every sensation in that thing, in the simultaneous sensation of which it is contained like a part in a whole.’ In short, ‘every sensation is posited there where we sense it. For it is sensed there and in that thing, where and in the sensation of which it is itself comprehended (begriffen ist)‹.33

If I understand correctly, the rule is this: We judge that a sensation exists as an object or a property of an object in precisely that location where we perceive it. For example, I judge (and so believe) that a tree exists in the garden outside of me simply because I see it there.34 A cluster of characteristic colours and figures have been channelled to the outside and saturate a certain portion of my visual field. Given that I possess the concept of an external object – and of a tree – I posit the tree ›out there‹ in the garden, not ›in here‹ in me. I posit the tree outside of me just because I see it there. This is not a matter of inference: My belief that a tree is standing in the garden before me is the direct result of my seeing it there. In other words, the grounds of my belief include only my experience as of a tree before me. Tetens considers applications of the principle in connection with various modalities. I believe that a feeling of joy belongs to my mind because I perceive it there along with many other representations of inner sense.35 I believe that a certain taste is on my tongue and a certain smell in my nose because I »sense them in the organ«.36 By contrast, I do not normally believe that sounds of moderate volume occur in my ears. The reason, once again, is that I do not perceive them there: »With the ordinary sensations of hearing we do not feel the organ itself« and »cannot feel the tone in the ears«.37 Sounds are not invariably distributed to the inside either: »The sensation does not belong in the class of our inner feelings of self. Thus it is not there.«38 Sounds seem to exist outside of us – I hear a voice right now in the other room. But sounds do not have the »completeness« and »persistence« that objects do, and so we look for an object in which to place them. When the sound blends well with other simultaneous sensations of an external object, we experience the sound as a property of that same object: I see my girlfriend talking right now and I hear her voice over there. When the sound does not blend well with other simultaneous perceptions of an external object – this happens more frequently – we experience it as something mental: The music that I am listening to right now seems to be occurring in my mind. Occasionally, a sound is so loud that it causes pain in the organ and is experienced as a bodily sensation: When the smoke detector goes off, I normally believe that the sound is occurring right there in my ears – even after I shut it off.39 Visual sensations of colour and figure are normally taken to be properties of external objects, because they are perceived outside of us and because they do not cause any disturbance in the organs. When the eyes are overly sensitive, however, or the light source unusually bright, we

33 34 35 36 37 38 39

PV I, pp. 415–416. Cf. Tetens’ carnation example at p. 418. Vide PV I, p. 418. PV I, p. 417. PV I, p. 417. PV I, p. 419. PV I, p. 419. This notion of blending (or ›uniting‹) with the »übrigen gleichzeitigen Empfindung des Instruments« is horribly obscure. My examples concerning sound may well misrepresent Tetens’ position. See the discussion at PV I, 419–420.

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become aware of the instrument rather than the object, and attribute the sensations to the eyes themselves: To visual sensations of colours and figures we ascribe, almost without exception, a reality outside of us. Why do we not posit these impressions in the eyes or on the retina? The reason is because these soft and delicate impressions go lightly through the organs without producing vibrations. […] When the weak eye is attacked by the light to the point of blindness, then we feel that we are seeing with the eyes. […] In the normal cases we thus never see the thing in the eye.40

Visual representations also have a tendency to cluster together and cohere. Unlike sounds and smells, they come in highly unified packets of colour and figure – Tetens calls them »ganze Haufen vereinigter Empfindungen« (»whole heaps of united sensations«): The sight of a tree, of its figure, colour, motion, is such a cluster of sensations, which – united – can represent a complete thing. Therefore, every visual sensation appears either itself as a complete substance, which is outside of us and our body – that is, which is really distinct from both – or as a property of such a thing.41

Appearing outside of us as a unified whole, the sight of a tree is naturally taken to indicate the presence of an external object, numerically distinct from the self. Tetens lays heavy emphasis on the abnormal cases: When an organ is shaken or disturbed by an unusually intense stimulus – Tetens speaks of »violent« impressions on the nerve endings – or a representation is particularly obscure, the natural doxastic responses are inhibited: [T]he darker an idea is, the more we become aware that it is a modification of us and [exists] in us. […] The less clarity there is in a representation, the more confused and dark it is, the more we sense that the representation is an occurrent alteration of us, and the more easily is reflection drawn to consider it in this light, and so we see more the representation in us than an object through it. We see the mirror, not the things whose images are displayed in it; we see the glass of the window, not the external objects from which light is reflected.42

If we just give Tetens his representational theory of perception, then the window metaphor is apt. Looking out a clean window at a tree, I don’t often suppose that I am looking at a glass pane. I forget the window and take myself to be looking at a tree directly, though strictly speaking I am looking at a tree through a window. Only if the window is very dirty do I focus on the fact (and form the belief) that I am looking at a tree through a window. Similarly, in normal perceptual circumstances, when my representation of a tree is clear, I don’t believe that I am perceiving a tree by way of a tree-image in my own mind. I believe that I am perceiving a tree. But if I scratch my cornea, or get a ›floater‹ in my eye, my representation will be cloudy and I may form the belief that I am perceiving a tree through a tree-image (this actually happened to me). When our vision is good, »when we are only gently touched and the sensation is clear«,43 representations are »pictures of objects for us«44 and we form beliefs about the objects, not about the pictures.45 40 41 42 43 44 45

PV I, p. 420. PV I, pp. 420–421. PV I, pp. 99–100. PV I, p. 421. PV I, p. 98. See further comments on this at p. 407 and p. 416.

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A significant feature of this account is that judgements concerning the inner and outer existence of the objects of perception are instinctively guided by the pre-reflective distribution of the sensory elements. Representations distributed to the outside – and perceived there – are normally regarded as properties of objects. Representations distributed to the inside are normally regarded as properties of the mind.46 More simply, where an object is perceived to exist determines where it is believed to exist. All of this fits remarkably well with the idea that perceptual beliefs are properly basic when formed in the right perceptual circumstances. To return to the case of vision, when the eyes are working properly and the conditions for visual perception are normal, we take colours and figures to be properties of objects outside us. It is only when the organ is in an unnatural state or the conditions for perception are abnormal that we attribute visual sensations to the eyes themselves, or to the mind, rather than to the objects that cause them. This implies that the natural response to the intake of visual data is the spontaneous formation of belief – specifically, belief in the existence of the objects that appear to be in front of us. When the eyes and the conditions for perception are normal, our grounds for belief do not include any other propositions believed – we are guided by location in the visual field alone – and so perceptual beliefs thus formed are basic. The point can be generalized. Spatially located representations draw the attention outward, away from the perceiving subject: Every external sensation of a peculiar strength and duration possesses the force to draw the soul out of itself, at least for a while, to the extent that it forgets itself as [a] counteracting, representing, thinking and willing being, and occupies itself alone with the modification brought to it, without perceiving its own activities thereby. This is experience.47

When I turn my head now and look out the window, my perceptual circumstances are such that I form the belief that there is a tree. What grounds my belief is not any act of reflection on the characteristic sensory experience I am undergoing, nor any inference from other propositions I hold to be true. For instance, I do not first form a belief about myself as a thinking being conscious of a mental image resembling a tree, on the basis of which I then infer an external cause of my tree-like sensations. I formed the belief in the existence of a tree naturally and spontaneously as a direct result of undergoing characteristic sensations: »And with such sensations the occasion is lacking altogether to posit them in oneself.«48 It would be unnatural in my current sensory environment for me to posit my sensations – more accurately, the object of my sensations – in my own mind. My experience furnishes immediate, non-propositional grounds for

46

47 48

The rule holds even in dreams: »Our judgements about the subjective and objective existence of sensations stick so firmly to these [sensations] that they also stay bound up with them in reproduction. In dreams we represent the seen things, figures and colours as external objects, never as something in us – and the movements of our mind, by contrast, as something that is in us, never as external objects.« PV I, p. 422. PV I, pp. 407–408. PV I, p. 408.

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positing the existence of objects outside of me: »We posit them all therefore also outside of us, for we must indeed perceive that they are things distinct from our ego«.49 Though Tetens claims that the correctness or incorrectness of judgements concerning the subjective and objective existence of things is not the issue in the current investigation, he is concerned with the question of their justification.50 That Tetens is concerned with justification is evidenced by the fact that his psychological theory is put forward as an answer to sceptical idealism. Above all, it is the naturalness of perceptual beliefs that justifies them, according to Tetens. I do not believe that a completely naturalized epistemology is ultimately capable of answering normative epistemological questions concerning justification, but neither does Tetens. It is true that he tries to account for the psychological origin of our judgements about the existence of objects outside of us and, like Reid, he emphasizes their naturalness. But that’s not all. I think he has, in addition, an anti-sceptical argument based on the formative link alluded to earlier. As we shall see in a moment, the naturalness of judgements about the objective existence of things is tied to the naturalness of judgements about the subjective existence of things. Since no one doubts the validity of the latter, no one should doubt the validity of the former. This requires some explanation. The highest principle covering judgements about the subjective and objective existence of things was formulated above as follows: We judge that an object or property exists in exactly that place where we perceive it. The perceptual location of objects and their properties is determined pre-theoretically by the spontaneous distribution of the sensory elements to the inner and outer regions of the sensory field. Since the act of distribution is a cognitively necessary condition of acquiring the concepts of the inner and the outer in the first place, we are capable of making judgements about the subjective and objective existence of things only if the sensory manifold is already divided. And since in normal cases of perception our judgements about the existence of objects track their location in the sensory field naturally and without reflection, the grounds on which we hold such beliefs do not include any other propositions believed. They are therefore basic. But does the naturalness and immediacy of perceptual beliefs really justify them? The sceptic worries that outer sensations may not be reliable indicators of the presence of external objects. Given the truth of representationalism – which Tetens accepts as »the fundamental principle of philosophy«51 – sensations are the very opposite of indicators. They are representational intermediaries that block access to the external world. Since we have no evidence that outer sensations do in fact signal the presence of external objects, perceptual beliefs, though formed naturally, are unjustified. Tetens’ response to this line of reasoning is to insist that the evidence for such beliefs as ›I exist‹ or ›I am feeling tired‹ (which concern subjective existence) is of the same kind and quality 49

50 51

PV I, p. 408. Cf. pp. 420–21 and p. 395: »We do not take sensations and representations to be their [own] objects; rather [we] presuppose something else aside from the representation that is the source of sensation, and could also produce these latter at times when we don’t have them […]. The real is something objective, an object, something that is different from the sensation and representation.« Whether or not a judgement is correct is an ontological question concerning truth. Whether we have reason to believe that a judgement is correct is an epistemological question concerning justification. PV I, p. 403.

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as the evidence for such beliefs as ›There is a tree‹ or ›That carnation is yellow‹ (which concern objective existence). The reason he rates the evidence for both sorts of belief at the same value is that the principle governing them is identical: Perceptual location guides judgements about the subjective and objective existence of things. Some things and their properties are believed to exist outside of us because they appear externally. Others are believed to exist in the mind because they appear internally. The criterion for ascribing internal or external existence to something is one and the same: immediate perception of its location in our experience. So the two types of judgement rest on the same foundation. And even the idealist admits that we are immediately justified in believing that our minds and mental states exist (Hume is the one exception to the former).52 The two types of judgement are therefore justified to exactly the same degree. Tetens asserts the epistemic parity of such judgements in the following passages: The result of these remarks on the origin of the fundamental concepts of the understanding is evident of itself. First, ›that it is just as natural, just as necessary, and follows in accordance with the same causal laws, when I think: My body is a really existing object, and is not my ego; the tree which I see and touch is a really existing object for itself, and [is] neither my soul nor my body.‹ These judgements are just as natural, so near the first activities of reflection, as when I think: ›I, as soul, am a really existing thing.‹ This conclusion is against Hume and Berkeley.53 [I]t is just as necessary to think: The tree is a real object, as it is to think: I myself am something real.54

»Everything contained in the grounds of doubt of these philosophers«, Tetens asserts confidently, rests on the false assumption that the two types of judgement are dissimilar in some epistemically relevant way. Had they only recognised that the criterion for attributing real existence to external objects and their properties is exactly the same as the criterion for attributing real existence to the mind and its states, »neither Berkeley nor Hume would raise any objection against the reliability of our judgement«.55 We take judgements about the existence of the mind and its states to be immediately justified by our experience. So, on pain of inconsistency, we ought to take judgements about the existence of external objects and their states to be immediately justified by our experience as well. Having misconstrued the order of priority amongst judgements regarding the existence of the inner and the outer, idealists mistakenly suppose that we need to infer the existence of external objects from the existence of our mind and its states: Was the course of the self-developing understanding such that at first all sensations were taken for properties of our ego and the correct knowledge could only be attained afterwards through a certain process of reasoning? Or was the latter just as natural – and in fact [a sort of] instinct in the understanding – as the judgements about our own existence itself and about what is in this?56

52

53 54 55 56

For some reason, Hume’s thesis that we have no evidence for the existence of our minds does not feature in Tetens’ account. But Hume does at least recognise the existence of ideas, so perhaps Tetens can argue that he should accept the existence of external properties and leave it at that. Tetens would have done better to focus on the Descartes of the first Meditation than on Berkeley and Hume. PV I, p. 411. PV I, p. 405. See also p. 401. PV I, p. 402. PV I, pp. 403–404.

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Because judgements regarding inner and outer existence stem from a single, naturally necessary law, belief in the existence of the mind and its states enjoys no epistemic priority over belief in the existence of external objects and their states. It follows that idealistic doubts about the existence of objects outside of us are an unnatural deviation from normal human psychology. We have immediate, though non-demonstrative, evidence for the existence of outer objects that differs in no essential way from our evidence for the existence of inner objects. Since the available grounds are non-propositional and possess a degree of justificatory force that we take to be sufficient, belief in the existence of external objects is properly basic in the defeasible, modest basics sense.

3. Levels of Justification What might seem genuinely troubling about the proper basicality reading that I am proposing is that Tetens takes great pains to provide us with grounds for believing that judgments such as ›There is a tree in front of me‹ are justified in the right perceptual contexts. But the grounds he provides are all propositional (he produces an argument, and arguments contain propositions). So how can such beliefs be properly basic? Recall that a belief is properly basic for me if and only if my grounds for holding it do not include any other propositions believed and I am justified in holding it on the basis of these grounds. If my belief in the existence of a tree is justified for me only to the extent that I can defend it by way of philosophical argumentation, then what sense does it make to call it properly basic? And if I am even vaguely aware of the sceptical scenarios that render such beliefs doubtful, then surely I am not justified in holding any one of them unless I have a ready answer for the sceptic either in the shape of an argument or some less formal line of reasoning. This is the apparent inconsistency that I mentioned at the outset: Tetens wants to show that propositions such as ›There is a tree in front of me‹ are properly basic when the perceptual context is favourable, but showing this seems to nullify their status as basic. I suggest that this worry is based on a confusion, specifically, the levels confusion first identified clearly by William Alston. Let ›P‹ stand for ›There is a tree in front of me‹ and consider the following two propositions: (1) P (2) I am justified in believing that P. It is quite tempting to suppose that I am justified in believing (1) only to the extent that I am justified in believing (2). Many foundationalists have thought so and thereby opened their theories to a seemingly fatal objection. A brief consideration of this objection will facilitate understanding of Alston’s levels distinction. Laurence Bonjour was an early advocate of this particular objection to foundationalism. His version goes something like this. If a belief is properly basic, then it must possess some feature that qualifies it as properly basic. That feature – the one that qualifies a belief as properly basic – must also constitute a good reason for thinking that the belief is true. Call this feature ›Φ‹. Bon-

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jour claims that if some belief that P is to qualify as basic, then the premises of the following justificatory argument must themselves be at least justified, if not true: The Feature-Φ Argument: (a) Belief P has feature Φ. (b) Beliefs having feature Φ are highly likely to be true. (c) Therefore, P is highly likely to be true. For my belief that P to be justified for me, (a) and (b) must be justified for me. But then P is not basic, since it depends for its justification on at least one other belief. This argument holds for any candidate basic belief. So no belief is basic. And if no belief is basic, then no version of foundationalism is correct.57 Alston argues convincingly that this objection blurs the distinction between levels of justification. Something along the lines of Bonjour’s feature-Φ argument may well be needed in order for me to be justified in believing that (2), but, if Alston is right, no such argument is needed in order for me to be justified in believing that (1). I can be justified in believing (1) without being justified in believing (2). To see that this is so, consider a proposition that I am unquestionably justified in holding right now, say, the proposition that I am tired. Let ›Q‹ stand for ›I am tired‹ and consider the distinction between (3) and (4): (3) Q (4) I am justified in believing that Q. My grounds for holding (3) in my current epistemic circumstances are immediate and nonpropositional, if any grounds are. What justifies me in holding (3) is a familiar experience that I can’t describe adequately, but which I find absolutely compelling. Anyone who has been in epistemic circumstances similar to those in which I find myself now – and I assume that this includes everyone – will agree that my grounds for holding (3) are justificatory and yet nonpropositional. They consist solely in my feeling tired. But notice this. Proposition (4) concerns, at least in part, the epistemic status of (3). It is a higher-level claim about the epistemic status of a lower-level claim. Alston asks: [I]s it credible that I should be justified in a belief that is, in part, about the epistemic status of a given proposition […] just by virtue of feeling tired? At the very least, the claim to higher-level truth-justification raises questions that are quite different from the claim to lower-level justification.58

The idea that I can be justified in believing that one of my beliefs has a certain epistemic status just by virtue of feeling tired has near-zero plausibility. And we agreed that my justification for

57 58

Laurence Bonjour: Can Empirical Knowledge Have a Foundation? In: American Philosophical Quarterly 15.1 (1978), pp. 1–13. The objection occurs in Section 2. William Alston: Level Confusions in Epistemology. In: William Alston: Epistemic Justification: Essays in the Theory of Knowledge. Ithaca, London 1989, pp. 153–171, specifically pp. 158–159. See also: Two Types of

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(3) consists solely in my feeling tired. So if I am justified in believing (4), my justifying grounds for that belief must include something more than is included in my justifying grounds for (3) (perhaps they include an act of higher-order reflection on my grounds for (3)). And if my justifying grounds for (4) include more than my justifying grounds for (3), then, presumably, I can be justified in holding (3) without being justified in holding (4). These reflections cast serious doubt on the cogency of Bonjour’s argument against all forms of foundationalism. It appears that I can in principle be justified in holding a belief such as (1) without being justified in holding a belief such as (2). (I may not even have a justification available for (2) and yet still be justified in believing (1)). At best, the feature-Φ argument as employed by Bonjour shows that (2) is not properly basic. But it is powerless to show the same of (1).59 The foregoing considerations also clarify the distinction between first-level immediate justification of the sort I have for (1) and (3), and higher-level epistemic justification of the sort I have for (2) and (4). In order to establish that Tetens is not guilty of inconsistency in offering a refutation of idealism that appeals to the proper basicality of perceptual beliefs it will be useful to introduce a final set of distinctions. The concepts of justification, warrant and knowledge have received an enormous amount of attention in contemporary epistemology. They are doxastic assets, signifying some sort of positive epistemic status or evaluation: A belief that is justified or warranted, or which constitutes knowledge, is evaluated positively from an epistemic point of view and it has, by virtue of possessing justification or warrant, or by virtue of constituting knowledge, positive epistemic status. Defeasibility is a doxastic liability. It consists in the proneness of a belief to lose its positive epistemic status or its fitness for positive epistemic evaluation. A defeater actualizes the potential of a belief to lose its positive epistemic status or its fitness for positive epistemic evaluation.60 Very simply, if I have grounds for believing P – the grounds may be propositional or non-propositional – a defeater defeats those grounds.

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60

Foundationalism, Has Foundationalism Been Refuted? and What’s Wrong with Immediate Knowledge?, all in the same volume. I have set this up in such a way that it may appear that we are simply begging the question against the anti-foundationalist argument insofar as you are asked to just agree that my grounds for holding (3) are justifying and non-propositional. But the point is to appeal to the reader’s own intuitions about whether or not she ever has non-propositional, justifying grounds for a belief such as (3). If the reader agrees, then she may begin to suspect that there is something wrong with the anti-foundational argument. Alston’s distinction is meant to clarify exactly where the problem lies. Once we introduce a distinction between first-level immediate justification for a perceptual belief and higher-level epistemic justification for a belief about the epistemic status of a perceptual belief, it becomes plausible to suppose that a feature-Φ-type argument is needed to justify beliefs having the form of (2) and (4), but not to justify beliefs having the form of (1) and (3). Moreover, one could just turn this around and say that Bonjour is begging the question against foundationalism insofar as he asks us to just agree that the premises of the feature-Φ argument must be justified in order for my belief that P to be justified. In the end, however, I don’t think that any questions are being begged. Rather, intuitions are being called in to provide guidance in selecting our principles. See Michael Sudduth: Defeaters in Epistemology (Internet Encyclopedia of Philosophy). Available at http://www.iep.utm.edu/ep-defea.

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Scott Stapleford

John Pollock introduced a distinction between rebutting defeaters and undercutting defeaters.61 I will adopt Pollock’s distinction here, but with a modification. Where Pollock speaks of the reasons for our beliefs getting defeated, I will speak more generally of their grounds getting defeated. I assume that grounds can be propositional or non-propositional, whereas reasons are more naturally thought of as being exclusively propositional. This extension will allow us to accommodate Tetens’ views more readily. Now for the distinction: If I have grounds for believing some proposition P, a rebutting defeater gives me a reason62 for holding the negation of P. An undercutting defeater gives me a reason for no longer believing P on the basis of these grounds (but without giving me a reason to believe the negation of P). Next I want to introduce a contrast class for defeaters. Let’s call them confirmers. If I have grounds for believing some proposition P – again, the grounds may be propositional or nonpropositional – a confirmer confirms these grounds. And just as there are two types of defeaters, so there are two types of confirmers: supplementary confirmers and stabilizing confirmers. Suppose I have grounds for believing P. A supplementary confirmer gives me a new reason for believing P (it supplements my grounds for so believing). A stabilizing confirmer gives me a reason for continuing to believe P on the basis of my original grounds (but without giving me a new reason to believe it). Supplementers and stabilizers are something like the inverse of rebutters and undercutters. Examples should make this more intuitive. Suppose I am looking across the street one night at my neighbour’s well-lit garden and I see what appear to me to be a number of yellow carnations. My current sensory experience gives me immediate, non-propositional justification for the belief ›There are yellow carnations in my neighbour’s garden‹ (assuming that some version of modest basics, external-world foundationalism is correct). Suppose, further, that when I go back in my house I decide to ring my neighbour and congratulate him on the beautiful yellow carnations. But let’s say he tells me in no uncertain terms, »There are definitely no yellow carnations in my garden.« He has given me a rebutting defeater for my evidence that there are yellow carnations in his garden – he has given me a reason to believe not-P (that there are no yellow carnations there). Now change the story slightly. Suppose that when I ring him my neighbour tells me that he has installed a few yellow bug lights in the garden that cause white flowers to appear yellow.63 He has given me an undercutting defeater for my evidence that there are yellow carnations in his garden. My grounds for believing it are no good, in other words. What I took to be immediate, non-propositional evidence for my belief that there are yellow carnations in my neighbour’s garden has been neutralized by his testimony about the bug lights: I no longer have grounds for believing that P. Let’s modify the example once again in order to illustrate the role of confirmers. Suppose I go back inside and my neighbour’s wife rings me on the phone to tell me about the beautiful 61 62

63

John Pollock: Contemporary Theories of Knowledge. Savage, Maryland 1986. See the section on defeasible reasons, pp. 37–39. Defeaters themselves are most naturally thought of as propositional, so there’s no objection in speaking more narrowly of defeaters giving us reasons, though I don’t see any reason in principle why we couldn’t have non-propositional defeaters as well. This is a variation on an influential example due to Chisholm. See Roderick Chisholm: Theory of Knowledge. Englewood Cliffs, New Jersey 1966, specifically p. 48.

Tetens’ Refutation of Idealism

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yellow carnations that her husband has just planted in the garden that day. I have my sensory evidence for the belief that there are yellow carnations in his garden, but now I have something else. I have supplementary confirmation of my evidence by way of her testimony. She has given me additional grounds – a new reason – for believing that P. Finally, suppose that while I am standing there looking at the garden from across the street my neighbour comes over and tells me about the yellow bug lights. My grounds for believing that he has yellow carnations in the garden have been undercut. But suppose that when I go back inside his wife rings to tell me that he was mistaken: The yellow bug lights gave her headaches, so she had them all removed but forgot to tell her husband. The lighting in the garden, she assures me, is normal. Now my sensory evidence, which up until that moment had been neutralized by her husband’s claim about the bug lights, has been brought back into play. Her testimony that she removed the bug lights serves to validate the evidence I originally thought I had for believing that there are yellow carnations in my neighbour’s garden. She has given me grounds, not for believing that P, but for believing that my grounds for believing that P are good. In my terminology, she has stabilized my evidence for P. With these distinctions in mind what I wish to claim is that Tetens is perfectly consistent in regarding perceptual beliefs as properly basic in the right conditions and simultaneously offering a defence of them. Here’s how it works. Recall that ›P‹ stands for ›There is a tree in front of me.‹ We distinguished the following two propositions: (1) P (2) I am justified in believing that P. I have argued that Tetens thinks propositions having the form of (1) are properly basic for a subject when the subject is in an appropriate sensory environment. I look out my window again and undergo characteristic tree-like sensations. According to Tetens, I am immediately justified in believing (1) on the basis of my experience. But the sceptic comes along and tells me that I am mistaken. My sensations are representations in my mind that may be caused by an evil demon, and there is no tree if I live in the demon world. Or perhaps I am dreaming. Maybe I’m a brain suspended in a vat of nutrient fluids tended by automatic machinery. There are indefinitely many sceptical alternatives consistent with my current tree-like sensations in which there is no tree in front of me. So, according to the sceptic, my grounds for believing that P – for believing (1) – are inadequate. It is important to note that the sceptical argument is not a rebutting defeater of my evidence for P. It doesn’t give me a reason to believe not-P, since the sceptic isn’t advertising the alternatives as true. He just points out that they are possibly true. And hearing about that possibility gives me a reason to stop believing P, just as hearing about the bug lights gave me a reason to stop believing that my neighbour has yellow carnations.64 The sceptic has undercut the grounds of my belief.

64

Note that hearing about the mere possibility of the bug lights would still have been enough to defeat my evidence for the yellow carnations. If my neighbour told me that he had several bug lights installed alongside the normal lights and that he wasn’t sure which set of lights were on now, my grounds for believing that the carnations are yellow would still be undercut. What makes something an undercutter

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Scott Stapleford

Inversely, the anti-sceptical argument that Tetens launches in the fifth Essay is not a supplementary confirmer of my evidence for P – it doesn’t give me a reason to believe (1). It is a stabilizing confirmer of my evidence for P – it gives me a reason to continue believing P on the basis of my evidence. It persuades me that my evidence for (1) arises naturally and is of the same kind and quality as my evidence for the existence of my own mind and its states. It validates my evidence for (1) without giving me any new evidence for it. In other words, it gives me evidence for (2): It gives me a reason to believe that I am justified in believing that P on the basis of my (sensory) evidence for P. To suppose that the anti-sceptical argument gives me a reason to believe (1) – or is required in order for me to be justified in believing (1) – is to conflate higherlevel epistemic justification with first-level immediate justification in just the way that Alston thought advocates of the feature-Φ argument against foundationalism had done. But Tetens is not guilty of this confusion. According to him, my experience of tree-like sensations provides first-level immediate justification for my belief that there is a tree in front of me. But since my evidence for (1) is prima facie and defeasible, it is susceptible to sceptical attack. The sceptic does not attack my belief that P. The sceptic attacks my belief that I am justified in believing that P on the basis of my sensory experience. If the sceptic were attacking (1) directly, he would be providing a rebutting defeater for (1), thereby giving me a reason to believe not-P. But that is clearly not his aim. The sceptic is attacking (2), the idea that I am justified in believing (1) on the basis of my evidence. Tetens’ naturalistic anti-sceptical argument is an attempt to defeat that defeater – to reinstate or stabilize my evidence for (1) by showing that I have no good reason to hesitate in the face of it. That piece of anti-sceptical reasoning is a distinctively higher-level, epistemological analysis that has no tendency whatever to render my belief that P non-basic. Furnishing grounds for believing (2) is precisely equivalent to justifying the claim that (1) is properly basic. Consider it one last time from a slightly different angle. To know that there is a tree in front of me I don’t need reflective knowledge of my knowledge or of the epistemic status of my belief ›There is a tree in front of me.‹65 This belief is basic. But I do need such higher-level knowledge in order to deal effectively with the sceptic. Tetens’ novel strategy is to endeavour to show that a class of beliefs that the sceptic accepts as justified has no epistemic priority over the class of beliefs whose grounds he wants to undercut. Take the proposition ›I am tired.‹ Even the sceptic will admit that in certain epistemic circumstances I am immediately justified in holding it to be true. ›I am tired‹ does not need to be inferred from or to draw support from any other propositions that I believe. It is properly taken as basic when I am feeling tired. Tetens’ point is that the same thing is true of the proposition ›There is a tree in front of me‹ when the relevant perceptual conditions obtain. The sceptic wants an argument to show that we are justified in inferring this proposition from our sensations and, given the possibility that one

65

is that it gives someone a reason to deny that the grounds she has would not be there unless P were true. Cf. Pollock: Contemporary Theories of Knowledge (see note 61), p. 39. The distinction between showing that a belief is justified (a task for the epistemologist) and a belief’s being justified (something that may just happen) is explained by Alston in What’s Wrong with Immediate Knowledge (see note 58), pp. 70–72. As Alston puts it: »[W]e can’t require S to have actually gone through the activity of justifying B in order to be justified in accepting B.« In fact, S need not even be capable of justifying B in order to be justified in accepting B (see p. 71).

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of the sceptical scenarios holds, he assumes that no such argument is forthcoming. But this demand presupposes a false starting point. It presupposes that beliefs about our own mental states enjoy some sort of logical or psychological advantage over beliefs about external objects. But this is an entire mistake, according to Tetens. Beliefs regarding the existence of our mental states and beliefs regarding the existence of external objects arise naturally, necessarily and concurrently in accordance with the very same cognitive principle. They are grounded in our immediate experience and are prima facie justified by it. But the proposition ›I am justified in believing that there is a tree in front of me on the basis of my sensory experience‹ does require justification through philosophical argumentation. That belief is not justified by experience alone, since it concerns the justificatory status of another belief and it is completely implausible to suppose that experience, independently of all reflection, could justify me in holding a higherlevel belief about the epistemic credentials of a lower-level belief. A little more abstractly, undergoing the relevant sensory experience for some perceptual belief that P does give me a justification for believing that P. But believing that P on the basis of my experience does not automatically give me the belief, or give me a justification for the belief, that my belief that P is justified. Evidence for that higher-order belief about the epistemic status of my belief that P may be available through simple reflection or subtle argumentation, but such reflection or argumentation is something additional to my perceptual evidence for P. So although P may be properly basic for me – it may be a justified basic belief – the higher-level belief that P is properly basic – that I am justified in believing that P – is not basic. Its justification requires, minimally, some process of reflection on the nature of my evidence for P. And any such process presupposes a shift in perspective vis-à-vis the evidence, a move from the sensory level of cognition to the rational and reflective. Believing P is therefore not the same thing as believing that I am justified in believing that P. Likewise, being justified in believing that P is not the same thing as being justified in believing that I am justified in believing that P. Tetens’ refutation of idealism makes no sense if we do not suppose that he was at least vaguely aware of all this. Considered from a purely historical point of view I have gone far beyond what can be attributed to him with any certainty, and I would do well to stress the vaguely part of my last claim. But I submit that Tetens had some notion of what he was doing in presenting a reasoned defence of beliefs that he took to be generated and justified without reason. The clearest indication of this is to be found in his comments on Reid: Reid, in his Inquiry into the Human Mind […] regards these judgements about the objective reality of things as instinct-like effects of the understanding, of which no further ground can be given.66 In our ordinary ideas of sensation the thought that we represent other objects is so interwoven, and we are so little aware of any preceding act of reflection, that one does not have to blame Reid […] and others, if they took the thought of the objective and subjective existence of things for an immediate effect of instinct. In a certain respect they didn’t say anything incorrect.67 What Mr Reid and Beattie said against him [Hume] is well-known, namely, that this is contrary to human understanding. The answer is not incorrect, just unphilosophical.68

66 67 68

PV I, p. 382. PV I, p. 375. PV I, p. 393.

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Scott Stapleford

Reid’s answer to Hume was not incorrect, according to Tetens, just unphilosophical. My suggestion is that we interpret Tetens’ qualified backing of Reid as follows: Reid was right to identify perceptual beliefs formed under appropriate conditions as basic. They acquire first-level immediate justification through experience. But Reid’s answer was unphilosophical since he failed to provide us with any reason to think that such beliefs are properly regarded as basic. The sceptic’s doubts seem to neutralize our first-level immediate justification for our perceptual beliefs by undercutting their grounds, and so it falls to the philosopher, who is concerned with higherlevel epistemic justification, to validate these grounds through reasoning and argumentation and afford us thereby reflective knowledge of our evidential situation. The non-philosopher may be justified in believing that there is a tree in front of him. But the philosopher can give reasons for thinking that he is justified in believing that there is a tree in front of him. That such a distinction matters, or even exists, was more obvious to Tetens than it was to any of his celebrated contemporaries. For this insight he deserves recognition.

GIUSEPPE MOTTA

Der siebente Versuch Über Tetens’ Begriff der subjektivischen Notwendigkeit

Mit Beginn der ersten Sätze des siebten der Philosophischen Versuche (»Von der Nothwendigkeit der allgemeinen Vernunftwahrheiten, deren Natur und Gründen«)1 betont Johann Nikolaus Tetens die besondere Relevanz einer möglichst umfangreichen und präzisen Untersuchung der so genannten »subjektivischen Nothwendigkeit« der Urteile. Denn über die »objektivische Nothwendigkeit« der Urteile, welche mit der Gültigkeit unserer Sätze verbunden sei, sei gar nichts zu sagen, »ehe man die subjektivische [Nothwendigkeit] untersucht«2 habe. Nach eigener Aussage stehe Tetens hier, am Anfang des siebten Versuchs, einer seiner »vornehmsten und schwierigsten Untersuchungen«3 bevor. Diese Untersuchung hat einerseits den empirischen Charakter einer psychologischen Beschreibung der »Denkkraft«, denn die Methode der Philosophischen Versuche ist im Allgemeinen »die beobachtende, die Lock bey dem Verstande, und unsere Psychologen in der Erfahrungs-Seelenlehre befolgt haben«.4 Dieselbe Untersuchung umfasst andererseits eine sehr anspruchsvolle Auseinandersetzung mit den klassischen Begriffen der Modalität: »Möglichkeit«, »Unmöglichkeit«, »Wirklichkeit«, »Notwendigkeit«, »Zufälligkeit« und nicht zuletzt »Wahrscheinlichkeit«. Erstes Ziel der nachfolgenden Studie ist es, die Grundzüge dieser modalen Untersuchung der Denkkraft oder – umgekehrt – dieser psychologischen Untersuchung der Modalität möglichst genau wiederzugeben, denn hier finden wir – so meine Einschätzung – einen der wichtigsten und interessantesten Texte der Philosophie des Subjekts im 18. Jahrhundert. Ein zweites Ziel der Untersuchung besteht in der kurzen, aber möglichst erhellenden Darlegung von »Vergleichen« mit anderen Philosophen des 18. Jahrhunderts: mit Wolff, Baumgarten, Hume, mit den schottischen Philosophen des common sense und mit Kant. 1

2 3 4

Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig, 1777, hier Bd. I, S. 470–570 [im Folgenden zitiert als: PV Band, Seitenzahl (Versuch, Kapitel, Abschnitt)]. PV I, S. 471 (7. I. 1.). Man beachte dazu den Anfang des IV. Kapitels des 7. Versuchs: »Auf [die] subjektivische Nothwendigkeit gründen wir die o b j e k t i v i s c h e « . (PV I, S. 531; Hvhb. im Original). Ebd., S. 459. PV I, Vorrede IV. Siehe dazu auch beispielsweise Johann Nikolaus Tetens: Über die allgemeine speculativische Philosophie. Bützow, Wismar 1775, S. 85f.: »Laßt nur vorher die G r ü n d e l e h r e als eine Physic des menschlichen Verstandes bearbeitet, und ihre reelle Begriffe und Principe aus Beobachtung aufgesuchet und gesammlet worden seyn; – dies ist die analytische Methode, nach der L o c k e , H u m e , C o n d i l l a c und andere, auch unter den deutschen Philosophen gearbeitet haben«. Vgl. hierzu auch Manfred Kuehn: Hume and Tetens. In: Hume Studies 15.2 (1989), pp. 365–375, hier p. 368.

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Eine korrekte Beschreibung der Notwendigkeit unserer Urteile muss laut Tetens die Darlegung der Notwendigkeit 1. des Aktes des Urteilens, 2. der Form der Urteile und 3. der Korrespondenz zwischen subjektiven und objektiven Wahrheiten enthalten. Dabei handelt es sich um die dreifache Struktur der siebten Sektion der Philosophischen Versuche. Die hier vorgeschlagene Zusammenfassung wird dieser Struktur folgen. Erläutert wird zunächst Tetens’ Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit des Aktes des Urteilens, d. h. die Beschreibung und Darstellung der Tatsache, dass unsere Urteile im Grunde keine freien oder zufälligen Tätigkeiten, sondern ein von der Denkkraft erzwungener Akt des Subjekts sind (Teil 1.). Von größerer Bedeutung ist jedoch die Analyse der Form (Teil 2.) und der Objektivität unserer subjektiv notwendigen Urteile (Teil 3.).

1. Die Notwendigkeit des Akts des Urteilens Die Notwendigkeit des Akts des Urteilens lässt sich am besten anhand ganz einfacher Beispiele erläutern. Würde ich eine rote und eine weiße Katze aus einer Kiste nehmen und auf einen Tisch vor manchen Zuschauer oder Freund setzen, dann wären diese Freunde sozusagen gezwungen, die zwei Katzen nicht nur zu sehen, sondern sie auch als »identisch« (als Tier) und als »unterschiedlich« (der Farbe nach) zu beurteilen. Diese und andere Urteile würden notwendigerweise aus der plötzlichen Präsenz der beiden Tiere erfolgen. Man kann diese Notwendigkeit der Entstehung der Urteile (und hiermit die Kraft des Denkens selbst) fühlen. Das Beispiel lässt sich nun leicht ergänzen: Säße eine dritte Katze bereits vorher auf dem Tisch, dann würde sie die zwei neuen zwar notwendigerweise wahrnehmen, nicht aber über sie urteilen. Denn dem Menschen – und nur ihm, soweit wir wissen – ist eine notwendige Disposition zum Urteilen zueigen, welche den Akt des Urteilens selbst notwendig macht. Dieser Akt fußt einerseits auf der oben erwähnten subjektiven Disposition zum Urteilen. Andererseits folgt er auf eine konkret sinnliche Empfindung. Man könne Tetens zufolge die Phasen der Entstehung eines solchen Urteils zwar schwerlich, jedoch – wie die verschiedenen Farben in einem Prisma – mit einer gewissen Sicherheit und Genauigkeit voneinander unterscheiden. Unmittelbare Folgen der Empfindung seien: 1. eine sinnliche Vorstellung, 2. das Gefühl der Verhältnisse innerhalb der Vorstellung, 3. die Unterscheidung und 4. die konsequente Beziehung von unterschiedlichen Vorstellungen innerhalb der ersten ursprünglichen Vorstellung, 5. die Gewahrnehmung (Apperzeption) dieser Beziehung der Vorstellungen und 6. die konsequente Erkenntnis des Verhältnisses zwischen den Vorstellungen. Der Effekt dieser Erkenntnis der Verhältnisse sei schließlich 7. ein in dem Menschen notwendiges, wenn auch nicht notwendigerweise ausgedrücktes, Urteil.5 Als »subjektivisch notwendig« erklärt Tetens hiermit a) den Ansatz der Denkkraft zum Urteilen, d. h. die ursprüngliche Disposition des Subjekts zum Denken, b) die Aktion selbst, d. h. den unvermeidlichen Akt des Urteilens, und c) die Wirkung und das Resultat dieser Aktion, d. h. das Urteil selbst.

5

Vgl. PV I, S. 473 (7. I. 1.).

Tetens Begriff der subjektiven Notwendigkeit

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Man solle darüber hinaus bedenken, dass auch der Akt einer Korrektur oder Verbesserung unserer Urteile nach einer subjektiven Notwendigkeit geschehe. Wir seien in diesem Sinne innerlich subjektiv gezwungen, unsere aus dunklen oder verworrenen Vorstellungen entstandenen Urteile, wenn möglich, zu korrigieren. Wir können zum Beispiel heute nicht denken, dass Sonne und Mond gleich groß sind, obwohl die Annahme lange Zeit verbreitet war.6 Eine ähnlich subjektive Notwendigkeit charakterisiert laut Tetens schließlich auch das Entstehen von Folgerungen und Schlüssen, wobei eine Folgerung () in seinen Worten: »eine Fortsetzung des Reflexionsaktus von einem Verhältnißgedanken zu einem andern über ebendieselbigen Gegenstande«7 sei und bei einem Schluss (+) »der Gedanke von dem Verhältniß zweyer Dinge aus den vorhergehenden Gedanken von ihrem Verhältniß gegen ein drittes«8 erwachse. Man sieht hiermit, wie komplex die psychologische Beschreibung der subjektivischen Notwendigkeit des Akts des Urteilens ist. Sie enthält zugleich a) die Notwendigkeit des Ansatzes bzw. der subjektiven Disposition, b) die Notwendigkeit des Akts selbst, c) die Notwendigkeit des Urteils, d) die Notwendigkeit einer möglichen Korrektur, und die Notwendigkeit von e) Folgerungen und f) Schlüssen. So breit ist das Spektrum der subjektivischen Notwendigkeit des (in Tetens Analyse inhaltlich, d. h. formal noch nicht bestimmten) Akts des Urteilens.

2. Die Notwendigkeit der Form des Urteilens Nach der Darlegung der Notwendigkeit des Akts des Urteilens analysiert Tetens in der zweiten Sektion des 7. Versuchs die subjektivische Notwendigkeit der Form der Urteile. Die Hauptfrage, die er hier zu beantworten versucht, ist diese: »Wird die f orme l le Beschaffenheit des Urtheils nothwendig durch die Ursachen und Gründe bestimmt, durch welche der Verhältnißgedanke veranlasset wird?«9 Das heißt, knapp und einfacher formuliert: Ist die Form der Urteile eine subjektiv notwendige? Tetens Antwort enthält – in wenigen Worten – die Hauptthese und den Sinn des ganzen 7. Versuchs: Jeder Verhältnißgedanke hat in uns seinen völlig determinierenden Grund. Ist dieser da, bestehet und wirket er auf die Denkkraft in dem Augenblick, in welchem diese den Verhältnißgedanken hervorbringet, so ist es auch unmöglich, daß die Kraft anders denken könnte, als wie sie denket.10

Die Form der Urteile kann und soll demzufolge als eine subjektiv notwendige analysiert werden. Es gibt nach Tetens allerdings einen entscheidenden Unterschied zwischen notwendigen und zufälligen Urteilen. Notwendig seien jene Urteile, die außer den Vorstellungen des Subjekts und des Prädikats gar nichts enthalten, wodurch die Denkkraft zum Urteil bestimmt wird. Zu6 7

8 9 10

Vgl. ebd., S. 450–459. Vgl. ebd., S. 481. Die Notwendigkeit des Akts des Urteilens wird von Tetens ab sofort (7. I. 1.) mit Hilfe des Beispiels einer notwendigen Folgerung: »Laß z. B. zwo Vorstellungen von zween geradelinigten Triangel gegenwärtig seyn, in denen beiden zwey Seiten und der von diesen Seiten eingeschlossene Winkel schon als gleiche Größen erkannt wird. Was wird noch mehr erfordert, […] wenn der Gedanke, ›daß diese beiden Triangeln sich decken‹, entstehen soll?« (PV I, S. 471; Hvhb. im Original). Vgl. ebd., S. 481. Ebd., S. 483. Ebd., S. 483f.

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fällig seien dagegen die Urteile, bei denen »die Aktion der urtheilenden Kraft noch überdieß von einem andern gegenwärtigen, mit den Ideen des Subjekts und des Prädikats verbundenen, Umstande, abhänget«.11 Assoziationen der Einbildungskraft, Gewohnheiten oder weitere künstlich gebildete Vorstellungen und Täuschungen, welche die Denktätigkeit in ihrer direkten Beziehung zum Subjekt und Prädikat des Urteils beeinflussen, lassen das Urteil selbst zufällig sein. Doch, so Tetens, »wenn solch eine vorläufige Association keinen Einfluß in den Aktus des Denkens hat, so erfolget dieser seiner Fo rm nach, nothwendig so, wie er erfolget, daferne die Vorstellungen und Ideen, als die Gegenstände der Denkkraft, unverändert bleiben«.12 Dass es der Form nach subjektiv notwendige Urteile gibt, heißt noch lange nicht, dass wir von Anfang an wissen, wann wir ein solches Urteil haben. Tetens zufolge kann man zunächst drei unterschiedliche Arten oder Formen von notwendigen Urteilen bestimmen: (1) Notwendig sind zunächst alle Gedanken, die bloß aus dem Vergleich, aus der Identität oder Verschiedenheit von Subjekt und Prädikat entstehen. Notwendig sind mit anderen Worten alle Urteile, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft »analytisch« nennt. Denn – so Tetens – »wenn das Prädikat einerley ist mit dem Subjekt, oder mit einem Teil oder Beschaffenheit derselben; wenn es in ihr lieget […] oder wenn das Gegentheil von diesem statt findet, und die Vergleichung wird nur auf dieselbige Art angestellt, so muß auch die Wirkung der Denkthätigkeit, oder das Urtheil in allen Fällen dasselbige seyn«.13 (2) Subjektivisch notwendig sind darüber hinaus alle Urteile über Gegenstände, die im Bewusstsein unmittelbar als »wirklich« wahrgenommen werden: »Ich höre, ich sehe, ich fühle Schmerz, ich denke, ich stelle mir etwas vor, ich erinnere mich; und alle dergleichen Grund-urtheile über unsere Empfindungen […]«.14 (3) Notwendig sind drittens alle Urteile, die aus anderen Urteilen als Folge oder Schluss – beispielsweise nach den Gesetzen der Denkbarkeit, nach dem der Identität, nach dem Grundgesetz der beiden entgegenstehenden möglichen Fälle, nach dem Gesetz des Substitution usw. – abgeleitet werden. Als könnte man die Kraft der Notwendigkeit selbst messen, behauptet Tetens, dass »die subjektivische Nothwendigkeit, mit der unsere Reflexion in diesen drey angeführten Fällen so wirket, wie sie wirkt, […] von einer unüberwindlichen Stärke [ist]«.15 Erwähnt wurden bisher drei unterschiedliche Arten der subjektivischen Notwendigkeit; ein vierter (und letzter) Fall gilt jedoch als der wichtigste, obgleich er der am schwierigsten zu begreifende ist: (4) Es handelt sich um jene unserer Urteile, die sich auf die Relation von Ursache und Wirkung beziehen: »Es gehöret zu den natürlich nothwendigen Denkarten, sich ein entstehendes Ding, als ein verursachtes von einem andern, vorzustellen, oder, zu einem Dinge, welches w ird , sich

11 12 13 14 15

Ebd., S. 484. Ebd., S. 486; Hvhb. im Original. Ebd., S. 487. Ebd., S. 491. Ebd., S. 493.

Tetens Begriff der subjektiven Notwendigkeit

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eine Ursache zu gedenken, von der es hervorgebracht wird«.16 Dass zum Beispiel das Tageslicht auf die Wirkung der Sonne zurückgeführt wird, sei ein subjektivistisch notwendiger Gedanke. Inwiefern sind Urteile über Ursache-Wirkungs-Beziehungen subjektiv notwendig? Der Verhältnisgedanke, »daß ein Ding die Ursache von einem andern sey«,17 könnte an sich wohl für zufällig (besser: als Feststellung einer zufälligen Assoziation) gehalten werden. Doch laut Tetens gilt es zu bedenken, dass die »Begreiflichkeit« der Wirkung (im obigen Beispiel: des Lichtes) von ihrer Ursache abhängt. Wir können überhaupt nicht begreifen, was Licht ist, wenn wir nicht auf eine Quelle desselben hinweisen. Aus dieser Perspektive ist auch »das Kennzeichen der Abhängigkeit des Einen von dem andern untrüglich«.18 Öfters erfahren wir Wirkungen, ohne zugleich die Ursachen wahrzunehmen. Unwiderruflich begeben wir uns auf die Suche nach diesen, denn das Entstehen selbst ist in uns mit dem Begriff der »Abhängigkeit« verbunden.19 Diese Verbindung hänge in keiner Weise »von einer bloßen A ss oc ia ti o n verschiedener, an sich trennbarer, Ideen in der Einbildungskraft« ab.20 Sie liege ganz im Gegenteil in der tiefsten Natur unserer Denkkraft.21 »Nichts entsteht ohne eine Ursache«: Das sei, so Tetens, ein subjektivisch notwendiges Axiom der Vernunft.22 Tetens leitet die Idee der Notwendigkeit der Ursache-Wirkungs-Beziehung aus der ihm wohl bekannten Metaphysica von Alexander Baumgarten her: »Nihil est sine ratione, seu, posito aliquo, ponitur aliquid eius ratio«.23 Zunächst meint dies, dass nichts ohne zureichenden Grund ist, aber auch und vor allem, dass das Seiende selbst in seiner Bestimmung (determinatio) nur unter Berücksichtigung seiner Ursachen und Folgen begriffen werden kann. Ausdrücklich ausgehend von dem Begriff »Grund« (ratio) entwickelte Baumgarten den gesamten Plan und Inhalt seiner Metaphysik. Zwischen Sektion I (Possibile) und Sektion III (Ens) des Kapitels 1 der Ontologia (Tractatio de praedicatis entium universalibus) fügt Baumgarten eine entscheidende zweite Sektion über das Connexum (Metaphysica, §§ 19–33) ein. Nexus (Zusammenhang) sei die Verbindung, vermöge deren etwas als Grund und als begründet erkannt wird. Ein ens sei das Mögliche, welches in seiner Wirklichkeit bestimmt wird. Ein non ens sei dagegen das Mögliche, welches unbestimmt bleibt (§§ 61f.). Bedingt (respectiva) heißt hiermit die nicht absolute (rein rationale) Bestimmung »quando spectatur in nexu« (§ 37). Tetens rekurriert im siebten Versuch auf die Argumente Baumgartens bzw. auf ähnliche Argumente der rationalistischen Tradition, um die subjektivische Notwendigkeit der Kausalität zu beweisen. Diese Transposition der Prinzipien der rationalistischen Philosophie der wolffschen Tradition auf dem Niveau einer psychologischen bzw. physiologischen Beschreibung der Denkkraft 16 17 18

19 20 21 22 23

Ebd., S. 507; Hvhb. im Original. Ebd., S. 497. Ebd., S. 498. Man kann umgekehrt auch die Begreiflichkeit der Ursache selbst durch ihre Wirkungen bestimmen. So kann man zum Beispiel die Tatsache, dass das Feuer das Holz verbrennt, an sich nicht als notwendig erklären; man kann aber feststellen, dass »dem Feuer ein Vermögen zum Verbrennen [zukommt]« (PV I, S. 567). Ebd., S. 498. Ebd., S. 499; Hvhb. im Original. Vgl. ebd., S. 504. Ebd., S. 501. Gottlieb Alexander Baumgarten: Metaphysica (1739). Vierte Ausgabe. Halle 1757, § 20; Hvhb. im Original.

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kann allgemein als das Hauptmerkmal von Tetens’ Philosophie bezeichnet werden. Vor allem in einem Punkt muss aber die Distanz zwischen Christian Wolff und den Wolffianern einerseits und Tetens andererseits betont werden: Bei Tetens kommt dem fundamentalen Begriff der »Möglichkeit« nahezu keine ontologische Bedeutung mehr zu; er bekommt eine eher psychologische und erkenntnistheoretische Bedeutung. Die Möglichkeit gilt nicht mehr – wie bei den Wolffianern – als die Definition des Seins und des Seienden selbst. »Möglich« sei zugleich – wie auch bei Kant – das, was mit den Strukturen a priori der Erfahrung zusammenpasst.24 Auf Grund der obigen Reflexionen über die vier Fälle der Notwendigkeit der Form der Urteilen behauptet Tetens, dass »die na tür l ic he, die subjektivische N ot h wend igk e it […] w ir kl i ch vorha nden [sei]«.25 Insbesondere die Kraft des Denkens gelte für uns als tatsächlich vorhandene und unbezweifelbare Realität. In einem zweiten Versuch, die Formen der subjektivischen Notwendigkeit genauer zu bestimmen – denn die Philosophischen Versuche enthalten in der Tat mehrere Ordnungs- und Definitionsversuche –, wird die strikte Abhängigkeit der Reflexionen Tetens’ von der Definition der klassischen Prinzipien des Rationalismus noch deutlicher. Tetens teilt in Sektion 11 des II. Kapitels die unterschiedlichen Formen der Notwendigkeit nicht mehr in vier, sondern in nurmehr zwei allgemeine Klassen: (1) In einem ersten Fall hängt die Notwendigkeit der Denkkraft von der Form der Urteile ab. Hierunter versteht Tetens alle universellen Gesetze des Verstandes (das Gesetz der Denkbarkeit und des Widerspruchs, das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten) und die so genannte »Sätze des unmittelbaren Bewusstseins«.26 (2) In einer zweiten Klasse sind alle Urteile zusammengefasst, deren Notwendigkeit »von den Ideen und deren Beschaffenheit, das ist, von der Mate ri e de s Urt he i ls abhängt«.27 Hiermit sind alle geometrischen Lehrsätze, manche Prinzipien, zu denen das der Ursache-WirkungsBeziehung zählt, und die Verhältnisse zwischen Substanz und Akzidenzien benannt. Die Reflexion über das Problem der Kausalität ist nach Michel Puech als fundamentaler Grund für die Trennung der formalen von den materiellen Prinzipien des Verstandes in Tetens’ Philosophie zu bewerten28. Der ersten Gruppe schreibt Tetens »absolute Nothwendigkeit« zu. Der 24

25 26 27 28

Vgl. zum Beispiel Tetens: Über die allgemeine speculativische Philosophie (s. Anm. 4), S. 24. Diese Verschiebung der Bedeutung der Möglichkeit bei Tetens sollte ausführlich in einem ganzen Aufsatz betrachtet werden. Über die Möglichkeit bei Kant siehe Giuseppe Motta: Die Postulate des empirischen Denkens überhaupt. Kritik der reinen Vernunft, A 218–235/B 265–287. Ein kritischer Kommentar. Berlin, Boston 2012, S. 43f., S. 47–52, S. 93–108, S. 173–175, S. 217–241. PV I, S. 503. Ebd., S. 512–515. Ebd., S. 515. So Michel Puech: »Le problème général de la causalité apparait ici sous sa forme wolffienne et ontologiquement enrichie: Aus Nichts wird Nichts. Il donne lieu à une distinction essentielle, entre les principes formels, ou purement logiques, et les principes matériels, tel ce principe de causalité lui-même« (Tetens et la crise de la métaphysique allemande en 1775 (Über die allgemeine speculativische Philosophie). In: Revue philosophique 1992.1, pp. 3–29; Hvhb. im Original).

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zweiten Gruppe eine so genannte »physische Nothwendigkeit«.29 Eine dritte fundamental wichtige Form von Notwendigkeit sei nach Tetens die »hypothetische Nothwendigkeit«, die er in Sektion 12 des II. Kapitels auch als die »Gewohnheitsnothwendigkeit« bezeichnet – in Kontrast zur »Naturnothwendigkeit«, welche die zwei ersten Formen der »absoluten« und der »physischen« Notwendigkeit umfasst.30 Die hypothetische Notwendigkeit hat, wie die Wahrscheinlichkeit, mit der sie eng assoziiert ist, verschiedene Grade. Die Vorstellungen, die das hypothetisch notwendige Urteil verbindet, seien nach Tetens »an sich unterschieden«, »von einander trennbar«, und allein durch »das Gesetz der Assoziation in der Einbildungskraft« miteinander verbunden.31 Die »hypothetische Notwendigkeit« kann daher mit der »subjektiven Zufälligkeit« gleichgesetzt werden. Aus diesen Überlegungen stammt Tetens’ deutlichste Kritik an Hume: »Hr. Hume und nach ihm andere Philosophen, haben [die Gewohnheitsnotwendigkeit] mit jener ersten Naturnothwendigkeit verwechselt, oder vielmehr sie für die einzige erkannt«.32 Hume habe Tetens zufolge die »absolute« genauso wie die »physische Nothwendigkeit« (der Beziehung Ursache-Wirkung) auf die »hypothetische Nothwendigkeit« und damit auf die subjektive Zufälligkeit reduziert. Hume habe zwar Recht, wenn er im Allgemeinen das Verhältnis Ursache-Wirkung auf den Plan der subjektiven Notwendigkeit reduziert. Was der Edinburgher Philosoph aber übersehen habe, sei die Natur dieser subjektiven Notwendigkeit bzw. die Tatsache, dass diese – mit den Worten Manfred Kuehns – »a necessity of the understanding and not one of the imagination« sei.33 Tetens Einstellung zu Hume wird treffend von Michael Puech zusammengefasst: »Si un peu de psychologie empirique mène au scepticisme, beaucoup, pense Tetens, permet d’en sortir«.34 Tetens greift in der Tat die Idee von Hume auf, man könne und solle die Philosophie in eine Psychologie der Erkenntnis umgestalten. Er glaubt aber, dass die psychologische Untersuchung sich bis zur Definition der ersten Prinzipien der Erkenntnis, d. h. bis in die Begründung eines Rationalsystems der Philosophie, vertiefen ließe. Er transformiert hiermit – konträr zu Hume – die empirische Psychologie selbst in ein System der »allgemeinen« bzw. »transcendenten« Vernunft- und Erfahrungssätze.35

3. Von den objektivisch notwendigen Wahrheiten Die Struktur des 7. Versuchs ist eigentlich komplexer als hier dargestellt wurde. Statt in drei gliedert sich der Versuch in vier Kapitel bzw. Hauptteile. Nach der Auseinandersetzung mit der subjektiven Notwendigkeit des Akts des Urteilens (d. h. der Tatsache, dass man notwendigerweise urteilt) im ersten Teil und nach der komplexen Analyse der Formen der »subjektivischen Nothwendigkeit« (d. h. des wie man urteilt) im zweiten Teil, eröffnet Tetens im dritten Teil (vor 29 30 31 32 33 34 35

PV I, S. 516. Vgl. ebd., S. 516–519. Ebd., S. 518. Ebd., S. 516f. So Kuehn: Hume and Tetens (s. Anm. 4), p. 371. Puech: Tetens et la crise (s. Anm. 28), p. 18. PV I, S. 460–469.

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der Betrachtung des Verhältnisses zwischen subjektiver und objektiver Notwendigkeit) eine interessante Auseinandersetzung mit den schottischen Philosophen des ›common sense‹ und mit dem Gemeinsinn als allgemeiner Denkart. Gegenüber den Hauptgedanken der schottischen Philosophen behält Tetens eine zweifache Haltung: einerseits zustimmend und sehr positiv bezüglich einer langen Reihe von Positionen, andererseits negativ und sehr kritisch gegenüber dem mangelhaften Charakter ihrer philosophischen Analysen. So schätzt er zum Beispiel Reids Kritik an Berkeley und Hume; bemängelt aber zugleich die ernsthafte Transposition dieser Kritik auf einer strikt philosophischen Ebene.36 Er bewundert im siebten Versuch Beatties vielfältige und weit reichende Untersuchung der Formen der Notwendigkeit in An Essay on the Nature and Immutability of Truth (1770), vermisst aber auch hier eine philosophische und psychologische Analyse der Gründe dieser Notwendigkeiten. Erstaunlicherweise definiert Tetens in Kapitel III des 7. Versuchs seine eigene Philosophie der Denkkraft als eine Lehre des sensus communis. Man könne nämlich die »menschliche Erkenntniskraft« mit dem »gemeinen Menschenverstand« gleichsetzen: »Dieser Men sc he n vers ta nd ist […] also nichts anders, als die De n k kraf t, in so ferne diese aus einer u nm itte l bare n Be zie hu ng über die Dinge urtheilet«.37 Die unterschiedlichen Stufen der Entwicklung des Menschenverstandes in der Geschichte des Menschen seien daher zugleich als Stufen der Entwicklung der Denkkraft zu betrachten. Die erste Stufe sei der »allgemeine Menschenverstand« bzw. die Übereinstimung aller Menschen über manche Wahrheiten.38 Zweite Stufe sei der »kultivirte Menschenverstand« der so genannten »polizirten Völker«.39 Die dritte Stufe bilde der »gelehrte Menschenverstand« oder »Schulverstand« der aufgeklärten Menschen.40 Die Folge dieser Gleichsetzung der Denkkraft mit dem Gemeinsinn ist eine interessante Beschreibung der Kraft des Verstandes auf einem kulturellen, sozialen und geschichtlichen Niveau des Diskurses. Das Hauptziel dieses neuen Verständnisses der Denkkraft als Gemeinsinn ist jedoch ein anderes. Die vorläufige Adaptation des common sense ermöglicht Tetens eine sehr elegante wie auch viel leichtere Lösung der schwierigen Frage nach dem Verhältnis zwischen »subjektivischer« und »objektivischer« Notwendigkeit der Urteile. Das stellt das Hauptthema des ganzen Kapitels IV des 7. Versuchs dar, in dem Tetens eine Liste von sowohl subjektiv als auch objektiv unbezweifelbaren Wahrheiten darlegt: Wir können erstens »A ist nicht-A« nicht denken. Ebenso wenig können wir uns vorstellen, dass es rationale Wesen gebe, die einen solchen Widerspruch denken können.41 Wir können darüber hinaus behaupten (hier ist der Übergang vom Subjektiven zum Objektiven), dass ein widersprüchliches Ding »kein wirkliches Objekt ist« oder sein könne.42

36

37 38 39 40 41 42

Man beachte dazu vor allem Scott Stapleford: Reid, Tetens and Kant on the External World. In: Idealistic Studies 3.2 (2007), pp. 87–104, vor allem pp. 95–97 sowie Scott Stapleford: A Refutation of Idealism from 1777. In: Idealistic Studies 40.1–2 (2010), pp. 139–147. PV I, S. 522; Hvhb. im Original. Ebd., S. 523f. Ebd., S. 525. Ebd., S. 525f. Vgl. ebd., S. 532. Ebd., S. 541.

Tetens Begriff der subjektiven Notwendigkeit

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Als »objektiv« bzw. »objektivisch« kann zweitens die Existenz von den externen Dingen gehalten werden, die wir unmittelbar subjektiv als existierend wahrnehmen. Ich kann zwar die unterschiedlichsten Zweifel haben und zum Beispiel – so Tetens – »Brandtwein« mit »Wasser« verwechseln;43 ich kann aber sicherlich nicht bezweifeln, dass ich, wenn ich das volle Glas sehe, etwas an sich objektiv existierendes vor Augen habe.44 Schließlich gibt es Fälle, bei denen wir sicher sein können, »daß die Verhältnisse und Beziehungen, welche wir ihnen zuschreiben, ihnen auch wirklich, unabhängig von unsern gegenwärtigen Denkthätigkeiten und Reflexionen über sie, das ist, Obj e kt i vi sc h zukommen«.45 Tetens stützt hiermit seine Definition der objektiven Wahrheit selbst auf den in seinem System entscheidend wichtigen Begriff der »Analogie«: Wenn die W a h r h e i t für die Uebereinstimmung unserer Gedanken mit den Sachen, erkläret wird, so kann diese U e b e r e i n s t i m m u n g nichts anders seyn, als eine A n a l o g i e , nach welcher Idee zur Idee sich verhalten soll, wie Sache zur Sache.46

Interessanterweise verteidigt Tetens in Kapitel IV des siebten Versuchs die Reduktion der Objektivität auf Subjektivität mit den Argumenten (und zum Teil sogar mit dem anti-idealistischen Witz) der schottischen Philosophen des common sense. Wie Beattie in An Essay on the Nature and Immutability of Truth schon schrieb: »My neck, Sir, may be an idea to you, but to me it is a reality, and an important one too«.47 Dass unsere Ideen mit einer objektiven Realität korrespondieren, lasse sich – so Tetens – nicht bezweifeln.48

4. Schluss In der Analyse des siebten Versuchs wurden ausschließlich Autoren des 18. Jahrhunderts erwähnt, mit denen sich Tetens (explizit oder implizit) auseinandersetzte. Es ist aber für uns fast unmöglich geworden, Tetens überhaupt zu lesen, ohne zugleich an Kant zu denken (man könnte fast sagen: ohne die phantasmatische Präsenz von Immanuel Kant unaufhörlich zu spüren). Dies hängt wenig von dem unzweifelhaften Einfluss ab, den der Kieler Philosoph auf den Königsberger ausgeübt hat; und noch weniger von dem Einfluss, den Kants Dissertatio von 1770 auf Tetens hatte. Es ist für uns unvermeidbar, die zwei philosophischen Wenden, die sowohl Tetens wie auch Kant mit derjenigen des Kopernikus gerne verglichen sahen,49 als zwei eng

43 44 45 46

47 48 49

Ebd., S. 550. Vgl. ebd., S. 549. Ebd., S. 553. Ebd.; auch Tiere mit völlig unterschiedlichen Sinnenorganen wie unsere nehmen, wenn nicht ähnliche Impressionen, wenigstens ähnliche Relationen zwischen Dingen und ähnliche Veränderungen der Dinge wahr (vgl. PV I, S. 551f. und S. 560f.). So Beattie an Berkeley in An Essay on the Nature and Immutability of Truth in Opposition to Sophistery and Scepticism. Edinburgh 1770, London 41773, p. 275. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Julien Lacaille in diesem Band. Vgl. bei Tetens: Über die allgemeine speculativische Philosophie (s. Anm. 4), S. 17f., S. 35 sowie bei KrV, B XVI.

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verbundene und daher vergleichbare Ereignisse nebeneinander zu betrachten. Man kann diesbezüglich einen kleinen, m. E. aber sehr wichtigen Punkt herausgreifen: Der Begriff der subjektiven bzw. »subjektivischen Nothwendigkeit«, der eine zentrale Rolle in Tetens’ Philosophischen Versuchen spielt, ist der gleiche Begriff, den Kant in der Kritik der reinen Vernunft am deutlichsten vermeidet. Kein anderes Konzept scheint für Kant eine so große Gefahr zu bergen, wie dieser Begriff. In den »Postulaten des empirischen Denkens überhaupt« definiert Kant das Notwendige als das, »dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrungen bestimmt ist«.50 Von einer ›subjektiven Notwendigkeit‹ ist jedoch in den »Postulaten« nie die Rede.51 Das Vermögen, Notwendigkeit zu erkennen, ist im Allgemeinen die Vernunft; auch diesbezüglich wird die Notwendigkeit nie als ›subjektiv‹ bezeichnet.52 Selbst in der »Deduktion der Kategorien«, in der Kant die vereinigende Funktion der synthetischen Einheit der Apperzeption beschreibt, schreibt er nicht von einer ›subjektiven Notwendigkeit‹.53 Der Ausdruck ›subjektive Notwendigkeit‹ wird von Kant nicht nur deswegen vermieden, weil die Notwendigkeit als solche immer objektiv ist, sondern auch deshalb, weil – innerhalb der transzendentalen Philosophie – die Notwendigkeit des Gesetzes und der Norm die Definition der Objektivität selbst bietet. Wir finden daher in der Kritik der reinen Vernunft die »subjektive Notwendigkeit«, nur um eine irrtümlich als objektiv durch Gewohnheit54 oder als Schein (in der »Transzendentalen Dialektik«)55 assumierte Notwendigkeit zu bezeichnen. Erst relativ spät – im § 18 der Kritik der Urteilskraft – thematisiert Kant eine positive, kritische Bedeutung der ›subjektiven Notwendigkeit‹. Nicht aber die Subjektivität des Objektiven, sondern – konträr dazu – die Notwendigkeit des Zufälligen und eine mögliche (reflexive) Festlegung der Objektivität des Subjektiven werden hier beschrieben. Das ist mit anderen Worten genau das Gegenteil dessen, was Tetens unter »subjektive[r] Nothwendigkeit« versteht, denn hier wird das Subjektive selbst (das Zufällige) endgültig ›objektiviert‹. Die letzte Frage dieser Abhandlung folgt aus diesen Überlegungen: Worauf beruht dieses radikal unterschiedliche Verhalten von Tetens und Kant gegenüber dem Begriff der subjektiven Notwendigkeit? Weshalb erfährt der Begriff extreme Hochschätzung bei dem ersten und die genau so auffällige Verdrängung bei dem zweiten? Die beste Antwort darauf gibt Kant selbst, wenn er in einer Reflexion aus den Jahren 1776–1778 schreibt: »Tetens untersucht die Begriffe der reinen Vernunft blos subiectiv (Menschliche Natur), ich obiectiv. Jene analysis ist empirisch, diese transscendental«.56 Kants Philosophie enthält eine neue Definition der Objektivität. Im Gegensatz zu Tetens lässt sich seine Lehre weder als ›rationalistisch‹ noch als ›empiristisch‹ bezeichnen. Sie lässt sich vor allem nicht auf die Beschreibung der Subjektivität reduzieren. Tetens’ Theorie der subjek50 51 52 53 54 55 56

KrV, A 218/B 266. Siehe auch Motta: Die Postulate des empirischen Denkens (s. Anm. 24), S. 124–135. Ebd., S. 45f. Ebd., S. 261. KrV, B 5 sowie A 759/B 787. KrV, A 297/B 353. Immanuel Kant: Reflexionen, R. 4901. In: Kants gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff., hier Bd. XVIII, S. 23.

Tetens Begriff der subjektiven Notwendigkeit

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tivischen Notwendigkeit ist nicht nur für sich selbst genommen höchst interessant, sondern leistet darüber hinaus einen unabdingbaren Beitrag zum besseren Verständnis der Philosophie Kants und der Philosophie des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen.

NELE SCHNEIDEREIT

Einheit der Vernunft und subjektivische Notwendigkeit Tetens’ Version einer Common Sense-Philosophie1

Zwei Jahre vor seinem Hauptwerk veröffentlicht Johann Nikolaus Tetens den Versuch über die allgemeine speculativische Philosophie (1775). In dieser programmatischen Schrift erläutert er Bedarf und Zuschnitt einer Grundwissenschaft, die das Fundament zu allen Wissenschaften – metaphysischen und physischen – legen soll. Diese Grundwissenschaft ist eine allgemeine Theorie der Vernunft und dass es sie gibt, zeigt die Common Sense-Philosophie von Thomas Reid, James Oswald, James Beattie und Henry Home (Lord Kames), so Tetens.2 Diese Grundwissenschaft systematisiert und sichert die Grundsätze der Vernunft, über die sowohl der gemeine Verstand als auch die räsonierende Vernunft bis hin zu metaphysischen Systemen verfüge und die nicht aus Erfahrung abstrahiert werden können. Tetens versteht seine Philosophie als den Versuch der Explikation dieser Grundsätze und damit als Fortsetzung des Programms, das die Common Sense-Philosophen begonnen, aber vorzeitig abgebrochen hatten, indem sie niemals nach den Gründen des Fürwahrhaltens fragten. Anfänge zu diesem System einer Grundwissenschaft findet Tetens bei Christian Wolff und vor allem Gottfried Wilhelm Leibniz, methodisch soll seine Arbeit aber eine »Gründelehre als eine Physic des menschlichen Verstandes«3 im An1 2

3

Für Anregungen und Diskussion danke ich Scott Stapleford, Martin Sticker und Giuseppe Motta. Johann Nikolaus Tetens: Über die allgemeine speculativische Philosophie. In: Philosophische Versuche von Johann Nicolaus Tetens. Hg. von Wilhelm Uebele. Berlin 1913 (Neudrucke seltener philosophischer Werke. Bd. IV), S. 1–73, hier S. 10. Ebd., S. 66; Hvhb. im Original. Ob Tetens in theoriegeschichtlicher Hinsicht eher dem Empirismus oder einer empiristischen Form des Rationalismus angehört, ist eine in der Forschung häufig behandelte Frage. Wilhelm Uebele ist der Ansicht: »Synthese Locke Leibniz. Grundsätzlich steht T. dabei mehr auf Leibniz, kongenialer ist ihm Locke.« (Wilhelm Uebele: Johann Nicolaus Tetens nach seiner Gesamtentwicklung betrachtet, mit besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zu Kant. Berlin 1911, S. 151.) Christian Hauser nimmt an, dass Tetens’ Philosophische Versuche als »Paradebeispiel für den äußerst starken Rezeptionsanstoß oder vielmehr für den Rezeptionsbeginn der Leibnizschen Philosophie gelten« können, der in den 1760er Jahren mit der Veröffentlichung der Nouveaux Essais begann (Christian Hauser: Selbstbewußtsein und personale Identität: Positionen und Aporien ihrer vorkantischen Geschichte. Locke, Leibniz, Hume und Tetens. Stuttgart 1994, S. 130). Zum Anschluss von Tetens an Leibniz in seiner Theorie des Bewusstseins vgl. die knappen Ausführungen bei Falk Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts. Berlin, New York 2005, S. 73–76, dort auch allgemein zu den Voraussetzungen bei Locke, Leibniz, Hume und Reid, S. 7–17. Gideon Stiening und Hans-Jürgen Engfer hingegen sind der Ansicht, Tetens habe sich konsequent vom Rationalismus entfernt. Vgl. Gideon Stiening: Physische Anthropologie als Antiskeptizismus bei Platner, Tetens und Wezel. In: Wezel-Jahrbuch

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schluss an John Locke und David Hume sein. Die Ausarbeitung dieser ›transcendenten Grundwissenschaft‹ erfolgt 1777 in den Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Im Folgenden werde ich Tetens’ eigene Idee einer Philosophie darstellen, insofern sie im Einklang mit den Grundüberzeugungen der Philosophie des gemeinen Menschenverstandes steht. Grundlegend ist dabei der realistische Impuls der Common Sense-Philosophie gegen die ›vernünftelnden‹ Ideen George Berkeleys und David Humes. Zudem will Tetens das Programm des Empirismus Lockes nicht aufgeben, so dass er es als seine Aufgabe versteht, die Anteile notwendiger Denkarten und ›transcendenter Begriffe‹ an unserem Wissen nicht nur ausfindig zu machen, sondern im Rahmen einer Grundwissenschaft zu begründen. Das Verhältnis von Tetens zur Common Sense-Philosophie ist einer der wenigen Gegenstände, über die in der Literatur schon einmal gehandelt wurde; Manfred Kuehn ist zu dem Schluss gekommen, dass Tetens weder im Anspruch noch im Ergebnis über die Common Sense-Philosophie hinausgegangen sei.4 Herausgefordert durch diese These, möchte ich hier dafür argumentieren, dass Tetens in verschiedener Hinsicht sehr wohl über Reid und Beattie hinausgeht bzw. einen ganz eigenen Ansatz zu einer Common Sense-Philosophie verfolgt. Am Ende konnte er zwar die Probleme, vor die er sich durch den Skeptizismus Humes und den Idealismus Berkeleys sowie die Unzulänglichkeiten des leibniz-wolffischen Rationalismus gestellt sah, nicht zufriedenstellend lösen, doch immerhin zog es ihn in eine Richtung, die Kant später Transzendentalphilosophie nennen sollte. Tetens wird man aber eher gerecht, wenn man ihn nicht vom ›Ende der Geschichte‹, sondern von seinem spezifischen Problembewusstsein her versteht. Und hier kann als seine Grundintuition aufgefasst werden, dass Wissenschaft nur möglich ist, wenn man gegenüber dem Skeptizismus an der Möglichkeit von Erfahrungswissen festhält, ohne dabei allen Anspruch auf vernünftige Begründung überhaupt aufzugeben, wie es in der Common SensePhilosophie geschehen ist, sondern indem man die Einheit der Vernunft und ihre Fähigkeit zur Selbstkorrektur aufweist.

4

10/11 (2007/2008), S. 115–146, hier S. 130, der auf Hans-Jürgen Engfers Einleitung zum Nachdruck von Tetens’ Kleinen Schriften (Hildesheim, Zürich, New York 2005) verweist. Vgl. Manfred Kuehn: Common Sense in Germany 1768–1800. A Contribution to the History of Critical Philosophy. Montreal 1987, p. 139; vgl. auch ders.: Hume and Tetens. In: Hume Studies 15.2 (1989), p. 365– 375, p. 374. Scott Stapleford geht in seiner einflusshistorischen Analyse auf diese Kritik ein und kann sie unter Einbeziehung von Kant jedenfalls in einer Hinsicht ausräumen. Er zeigt, dass Reid und Kant bezüglich der Frage möglichen Wissens über die Außenwelt darin übereinstimmen, dass wir äußere Objekte unmittelbar wahrnehmen und dass innere Erfahrung keinen (epistemischen, logischen, zeitlichen) Vorrang vor äußerer Erfahrung hat. Kant gehe aber über Reid hinaus, insofern er die philosophische Rechtfertigung von Existenzurteilen über äußere Objekte für möglich und notwendig hält und insofern er von der Abhängigkeit der inneren von der äußeren Erfahrung bzw. deren Interdependenz ausgehe. In beiden Punkten könne ein Einfluss von Tetens auf Kant vermutet werden, der systematisch zwar noch nicht hinreichend, aber zu Kant hinführend und über Reid jedenfalls hinausreichend sei. (Vgl. Scott Stapleford: Reid, Tetens, and Kant on the External World. In: Idealistic Studies 37.2 (2007), p. 87–104, hier p. 90; vgl. auch ders.: A Refutation of Idealism from 1777. In: Idealistic Studies 40.1 (2010), p. 139–146.) Erste Hinweise zum Verhältnis Tetens’ zur Common SensePhilosophie finden sich auch bei Uebele: Tetens (s. Anm. 3), S. 73 sowie mit Blick auf den antiskeptischen Zug bei Tetens bei Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Wissenschaft und Philosophie der neuern Zeit. Bd. 2 (1907). Gesammelte Werke. Bd. III. Hg. von Birgit Recki. Hamburg 1999, S. 484.

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1. Die Einheit von räsonierender Vernunft und gemeinem Menschenverstand Der englische Terminus common sense firmiert in Deutschland unter dem Begriff des gemeinen Menschenverstandes. Dieser Begriff ist nicht zentral in Tetens’ Schriften, doch sieht er sich durch die angesprochenen theoriegeschichtlichen Entwicklungen zu einer Stellungnahme aufgefordert. Beginnt doch einerseits die Erfolgsgeschichte des Common Sense im anglophonen Raum mit der Aufwertung von Erfahrung durch Locke, an den Tetens in so starkem Maße anschließt, und hängt doch das ganze Projekt der Aufklärung an der »Demokratisierung der Vernunft«5 durch die Aufwertung des ungebildeten bzw. bildungsfähigen Alltagsverstands. Andererseits steht seit den 1760er Jahren mit der schottischen Common Sense-Philosophie eine Entwicklung im Raum, die nicht nur Tetens als Bedrohung für Philosophie und Wissenschaft überhaupt ansah, da sie als Absage an wissenschaftliche Standards verstanden werden konnte. Man könnte sagen, es geht Tetens um die Rettung des gemeinen Menschenverstandes vor seinen Verehrern. Entsprechend stellt er als ein mögliches Resultat der Philosophischen Versuche die Beseitigung der Probleme die Bestimmung des Verhältnisses von gemeinem Menschenverstand und spekulierender Vernunft betreffend vor. Eines dieser Probleme ist die Frage, auf welches Vermögen man sich berufen soll, wenn sie einander widersprechen. Die normative Entgegensetzung von common sense zu learning/reason und Pedanterie ist eine grundlegende Idee für Autoren wie den 3rd Earl of Shaftesbury, Alexander Pope, Reid und Beattie. Mit Blick auf den Skeptizismus geißelte man philosophische Spekulation als Sophisterei, der gegenüber man sich auf den gesunden, d. h. nicht durch unnütze Spitzfindigkeiten verstellten Menschenverstand verlassen solle, der zudem einem Primat des Praktischen und der Weltklugheit gehorche. Von der rationalistischen Seite her nimmt z. B. Wolff an, der gemeine Menschenverstand befasse sich gar nicht mit der Suche nach Gründen und sei daher unphilosophisch.6 Dieser ausschließenden Entgegensetzung von gemeinem Menschenverstand und Philosophie widersetzt sich Tetens. 5

6

Helga Pust: Common Sense bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. In: Johann Knobloch u.a. (Hg.): Europäische Schlüsselwörter. Bd. II.1 Wörter im geistigen und sozialen Raum. München 1964, S. 92–140, hier S. 100. Vgl. z. B. die klassische Stelle in Descartes’ Discours de la méthode: »Der gesunde Verstand ist die bestverteilte Sache der Welt; [...] die Kraft gesund zu urteilen und Wahres von Falschem zu unterscheiden – was man recht eigentlich ›gesunden Verstand‹ (bon sens) oder ›Vernunft‹ (raison) nennt – [ist] von Natur gleich […] bei allen Menschen.« (René Descartes: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs im der wissenschaftlichen Forschung. In: ders.: Philosophische Schriften in einem Band. Hg. von Rainer Specht. Hamburg 1996, S. 1–183, hier S. 3.) Zum Begriff des common sense im 18. Jahrhundert vgl. auch Kuehn: Common Sense (s. Anm. 4); Walther Chr. Zimmerli: »Schulfüchsische« und »handgreifliche« Rationalität – oder: Stehen dunkler Tiefsinn und Common sense im Widerspruch? In: Hans Poser (Hg.): Wandel des Vernunftbegriffs. Freiburg i. Br. 1981, S. 137–175; Robert Nehring: Kritik des Common Sense. Gesunder Menschenverstand, reflektierende Urteilskraft und Gemeinsinn – der Sensus communis bei Kant. Berlin 2010, insbes. S. 20–46. Wolff unterscheidet in der Deutschen Logik von 1713 gemeine Vernunft und Weltweisheit entlang dem Verlangen nach Begründung: »§ 6 Hierdurch wird die gemeine Erkäntnis von der Erkäntnis des Welt-Weisen unterschieden. Nemlich einer, der die Welt-Weisheit nicht verstehet, kan wohl auch aus der Erfahrung vieles lernen, was möglich ist: allein er weiß nicht den Grund anzuzeigen, warum es seyn kan. Z.E. Er lernet aus der Erfahrung, daß es regnen könne, kan aber nicht sagen, wie es zugehet, daß es regnet, noch die Ursachen anzeigen, warumb es regnet.« (Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von den Kräfften des menschlichen Verstandes Und ihrem Richtigen Gebrauche In Erkäntniß der Wahrheit [»Deutsche

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Durch genaue Beobachtung der Natur des Verstandes, so heißt es in der Vorrede zu den Philosophischen Versuchen, hören z. B. die Verwirrungen in der Lehre vom gemeinen Menschenverstande von selbst auf. Die heftigen Angriffe auf die raisonnierende Vernunft, welche den Menschenverstand aufheben sollte, und die Ungewißheit, woran man sich zu halten habe, wenn das Raisonnement wirklich von dem gemeinen Verstande abweichet, [...] hat keinen Grund als Mißkenntnis von beiden und von ihrer natürlichen Beziehung aufeinander, die man nicht genau genug betrachtet hatte.7

Von dieser Beziehung und dem Begriff des gemeinen Menschenverstandes überhaupt handelt Tetens explizit an zwei Stellen. Erstens in methodenkritischer Absicht zu Beginn der programmatischen Schrift Über die allgemeine speculativische Philosophie, zweitens in den Philosophischen Versuchen in den Versuchen 7 und 8. Definiert wird der Begriff des gemeinen Verstandes dort im Abschnitt III. des 7. Versuchs, in dem es um die Notwendigkeit allgemeiner Vernunftwahrheiten in Abgrenzung zum reinen Empirismus, also um die Ausarbeitung der 1775 geforderten Grundwissenschaft geht. Tetens beschreibt den gemeinen Menschenverstand behelfsmäßig entlang des tradierten Gegensatzes von gemeinem Verstand und räsonierender Vernunft als undifferenziertes Urteilsvermögen: ›Das gesammte Beziehungsvermögen des Menschen, in so ferne es unmittelbar aus der Gegeneinanderhaltung der Vorstellungen, ohne eine merkliche Entwickelung allgemeiner Begriffe, und ohne merkliche Folgerungen aus diesen entwickelten Begriffen, über die Sachen urtheilet‹, ist überhaupt der Menschenverstand, als ein Vermögen betrachtet, in so ferne er der raisonnirenden Vernunft entgegengesetzet wird.8

Der gemeine Verstand urteilt instinktiv und unmittelbar, ohne seine Begriffe zuvor deutlich bestimmt und von subjektiven Beimengungen gereinigt zu haben.9 Zudem geschieht ihm das Urteilen mehr, es ist keine bewusste und planvoll ausgeführte Tätigkeit. Das aktive, zugreifende Folgern und Schließen ist als solches Geschäft der räsonierenden Vernunft. Darüber hinaus aber unterscheiden sich gemeiner Verstand und spekulative Vernunft nicht in ihren Urteilsformen, sondern lediglich in ihren Entwicklungsgraden. Tetens unterscheidet zunächst dunkelunbewusste von klar-bewussten Urteilen, dann Urteile, die erstmalig gefällt werden von solchen, die wiederholt gefällt werden, sowie unmittelbare Urteile von mittelbaren, die das eigentliche Räsonnement sind. Der gemeine Menschenverstand verfügt über all diese Urteilsarten. Auch die ›ersten Schlussgedanken‹ sind Produkte des gemeinen Menschenverstandes, so zum

7

8 9

Logik«]. Gesammelte Werke. I. Abtlg. 1. Bd. Hg. von Hans Werner Arndt. Hildesheim, Zürich, New York 1978, S. 3; Hvhb. im Original). Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig 1777 [im Folgenden zitiert als: PV Band, Seitenzahl (Versuch, Kapitel, Abschnitt)], hier Bd. I, S. XVI. Ebd., S. 520; Hvhb. im Original. So auch Beattie: »Common Sense« bezeichnet das Vermögen »which perceives truth, or commands belief, not by progressive argumentation, but by an instantaneous, instinctive and irresistible impulse«, der aus der Natur des Menschen selbst stamme. (James Beattie: An Essay on the Nature and Immutability of Truth in Opposition to Sophistry and Scepticism. London 1770 [Reprint: James Beattie. The Philosophical Works. Bd. I. Hg. von Friedrich O. Wolf. Stuttgart-Bad Cannstatt 1973], p. 41).

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Beispiel die ersten Urteile, »daß es Körper außer uns gebe, daß die Seele in den Körpern wirke«.10 Im Gegensatz zu Reid und Beattie, die unter Common Sense die »power by which we perceive self-evident truth«,11 also ein eigenes Vermögen verstehen, das nicht auf »Reason« reduzierbar ist,12 weist Tetens immer wieder auf die Einheit der Vermögen des gemeinen Menschenverstandes und der räsonierenden Vernunft hin. Dass er sie überhaupt trennt, ist allein dem Umstand geschuldet, dass man es in der Vergangenheit getan hat, um entweder das eine oder das andere Vermögen in Verruf zu bringen. Auch eine Zuordnung zu Sinnlichkeit und Verstand lehnt Tetens ab; er ist der Ansicht, dass die urteilstheoretische Entgegensetzung (dunkel vs. klar) ebenso wenig sinnvoll ist wie die von mundus sensibilis und mundus intelligibilis, also sinnlicher und vernünftiger Erkenntnis,13 da die Erkenntnisvermögen Fühlen, Vorstellen und Denken aufeinander irreduzible Modifikationen eines einzigen Vermögens der Erkenntnis sind. Daher will er auch nicht von gemeinem Menschensinn sprechen, da dieser Begriff eine Zuweisung des Vermögens zur sinnlichen Erkenntnis impliziert.

1.1 Grade des gemeinen Menschenverstandes Tetens nimmt eine Unterteilung des gemeinen Verstandes in drei Grade vor, die allerdings weitgehend ungenutzt bleibt und deren mittlerer Bereich eher eine Art Sammelbecken für alles ist, was nicht unter den 1. oder 3. Grad fällt. Als ersten Grad des gemeinen Verstandes bezeichnet er – wie Descartes und Locke – die Urteilsfähigkeit aller gewöhnlichen, erwachsenen »vollständigen Menschen«.14 Diesen nennt er den Sensus communis hominum.15 Dieser sensus com10 11

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PV I, S. 477. Beattie: Essay (s. Anm. 9), p. 32. Reason hingegen definiert Beattie wie folgt: »In a word, it is that faculty which enables us, from relations or ideas that are known, to investigate such as are unknown ; and without which we never could proceed in the discovery of truth a single step beyond first principles or intuitive axioms.« (Ebd., p. 38). Vgl. ebd., pp. 41–51. Vgl. PV I, S. 570. Ebd., S. 523. Dass Tetens für gemeinen Menschenverstand zuweilen die latinisierte Fassung Sensus communis statt des englischen common sense verwendet, ist sicherlich der lateinischen Schultradition, in der er steht, geschuldet. Allerdings ist der lateinische Begriff des Sensus communis, wie er im 18. Jahrhundert und bis heute im Raum steht, mit allerlei Merkwürdigkeiten behaftet, lässt er sich doch in der vielfältigen Bedeutung, die er zu diesem Zeitpunkt annimmt, gar nicht so ohne Weiteres aus den römischen Quellen herleiten. Vermutlich hat man es mit einem Rezeptionsphänomen zu tun. Shaftesbury macht in seiner Schrift Sensus communis in einer langen Fußnote mit einer Reihe von griechisch-römischen Scheinetymologien unter Rückgriff auf einige wenig bekannte Renaissance-Autoren den Anfang, und dann zitieren alle immer wieder Juvenal, Cicero und Horaz. So z. B. Beattie in seinem Essay (s. Anm. 9), S. 33, Fußnote; Reid übernimmt diese Herleitung in seinem Hauptwerk von 1785 (Essays on the Intellectual Powers of Man, Kap.VI.2). Eine Aufklärung über die antiken Wurzeln des Begriffs, die die bis heute perpetuierten Fehletymologien korrigiert, bietet jetzt Antje Junghanß: Sensus communis als sense of public weal? Shaftesbury und die antiken Wurzeln des Gemeinsinns. In: Martin Jehne, Christoph Lundgreen (Hg.): Gemeinsinn und Gemeinwohl in der römischen Antike. Stuttgart 2013, S. 151–175. Tetens kann die latinisierte Fassung von Beattie haben, es kann aber auch sein, dass der Begriff einfach virulent war; jedenfalls gab es Mitte des Jahrhunderts einige Anläufe, Shaftesburys Schrift zu

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munis ist das normal entwickelte Erkenntnisvermögen, das allen Menschen durch innere Anlage gewöhnlich zukommt und durch Einwirkung relativ ähnlicher äußerer Umstände zu einem allgemeinen Bestand gewöhnlichen Wissens führt.16 Der zweite Grad des gemeinen Menschenverstandes ist der »kultivirte Menschenverstand«17 – ein nicht weiter differenzierter und daher ziemlich unklarer Grad, der zugleich den größten Bereich umfasst. Wir haben es vermutlich mit einem sensus communis hominum plus x zu tun, wobei x Kultur, aber auch besondere individuelle Veranlagung oder Bildung sein kann. Klarer wird es drittens beim »gelehrten Menschenverstand«, der durch Ausbildung und eigenes Nachdenken entwickelt wird. Es handelt sich um »gelehrte[n] Schulwitz, oder Schulverstand«.18 Es handelt sich hier um die Vollform entwickelter und planvoll entwickelnder Vernunft, die über allgemeine Begriffe und Grundsätze verfügt, die sie zu einem Theoriegewebe versponnen hat, das sie bei Bedarf aktualisieren kann. Interessanterweise rechnet Tetens hier auch das zum gemeinen Menschenverstand, was traditionell seit dem Humanismus und in der Common Sense-Philosophie gerade nicht dazu zählt – den durch Bildung und Übung verfeinerten Verstand. Da die methodische Trennungslinie zwischen gemeinem Verstand und räsonierender Vernunft bei Tetens jedoch allein das Statthaben von bewusstem, aktivem Räsonnement ist, fällt der geübte Verstand auch unter den gemeinen Verstand. Er ist nämlich durch vergangene Entwicklung und Durcharbeitung seiner Begriffe sowie durch Auffindung von Mittelbegriffen zu einer Sicherheit und Unmittelbarkeit des Urteils gelangt, die der Instinktivität des Urteils des gemeinen Menschenverstandes durchweg entspricht. Diese Schnelligkeit des Urteils müsse eigentlich das Ziel philosophischer Bemühungen sein, das aber nicht durch einfaches Fürwahrhalten alltäglicher Überzeugungen zu erreichen sei. Die einfache wie auch die entwickelte Schnelligkeit und Instinktivität des Urteilens, die den gemeinen Menschenverstand in seinen drei Graden auszeichnet, entsteht, so Tetens, durch eine allgemeine Fertigkeit im Urteilen, die wiederum eine Gewohnheit des Urteilens und ein Wahrheitsgefühl bewirkt.19 Obwohl also planlos und unbewusst, ist doch das Verfahren des gemeinen Ver-

16 17 18 19

übersetzen, weil man sie für besonders wichtig hielt (vgl. Mark Georg Dehrmann: Das Orakel der Deisten. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. Göttingen 2008, Kap. VIII.3). Allerdings weist Beattie auf den Unterschied seines common sense-Begriffs zu Shaftesburys hin. Tatsächlich ist sein und auch Tetens’ Begriff des Sensus communis als allgemeines Erkenntnisvermögen näher an der römischen Verwendung des Begriffs (z. B. bei Lucrez und Seneca) als Shaftesburys gegen Hobbes gerichteter normativer Sozialsinn, der uns von Natur aus zu tugendhaften Wesen macht. Bei Cicero entspricht sensus communis ungefähr dem Begriff natura hominum. Die Form Sensus communis hominum freilich findet sich meines Wissens gar nicht. Tetens selbst bemerkt, dass die begriffliche Lage reichlich unklar ist. PV I, S. 523. Ebd., S. 525; Hvhb. im Original. Ebd.; Hvhb. im Original. Sicher steht hinter diesem Begriff die Prägung durch Locke, doch auch andere Quellen kämen infrage. So ist ›Fertigkeit‹ ein leibnizscher (habitude) und wolffscher Begriff. Im § 525 seiner überaus erfolgreichen Deutschen Metaphysik von 1720 spricht Wolff davon, dass der Verstand eine Fertigkeit zu denken und zu schließen durch Übung ausbilden könne. Die Übung entstehe durch Wiederholung der Gedanken. »Und die Fertigkeit so daraus erwächset, bestehet in einer Leichtigkeit dergleichen Handlungen zu vollziehen. Die Leichtigkeit erfordert Kürze der Zeit und wenigere Mühe. Nehmlich in der Seele kommet so wohl als im Leibe, alles nach und nach, nicht auf einmahl. Beyde sind zu vielem geschickt: aber nicht gleich darzu bereit.« (Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch von allen Dingen überhaupt. Gesammelte Werke. I. Abtlg. 2. Bd. Hg. von Charles

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standes, zu seinen Urteilen zu gelangen, keimhaft ganz dasselbe wie bei der philosophischen Untersuchung; er vergleicht seine Vorstellungen miteinander und setzt sie ins Verhältnis zu bestehenden Vorstellungen und notwendigen Ideen. Die spekulierende Vernunft entwickelt also keine neuen Verfahren, sondern eignet sich diejenigen bewusst an, mit denen jeder mit Verstand begabte Mensch ausgerüstet ist, verfeinert, befestigt, korrigiert und systematisiert sie.20 Die ganze Entwicklung vom ersten zum dritten Grad ist ein Prozess der Selbstbemächtigung, der das zunächst Unbewusste expliziert und sich das Eigene durch Selbsttätigkeit aneignet. Wo instinktmäßiges Urteilen ist, soll – ganz hegelianisch gedacht eigentlich – der Anteil der Denkkraft erhöht werden, die frei und selbstbestimmt, plan- und absichtsvoll durch allgemeine Begriffe und Ideen urteilt.21 Die Gradierung der Entwicklungsstufen stellt einen genetischen Zusammenhang zwischen gemeinem Menschenverstand und räsonierender Vernunft her, der Tetens’ Philosophie des menschlichen Verstandes deutlich von der Common Sense-Philosophie absetzt und im Zeichen der Einheit der Vernunft steht: Die raisonnierende Vernunft ist ein Zweig desselbigen Beziehungsvermögens, und derselbigen Denkkraft, welche den Sensus kommunis ausmacht. Sie ist das Vermögen zu folgern und zu schließen, ohne dessen Mitwirkung auch der gemeine Verstand das nicht seyn würde, was er ist, nur in vorzüglicher Stärke und auf die Grundbegriffe angewendet.22

Dagegen ist z. B. Beattie der Ansicht, »[t]hat there is a real and essential difference between these two faculties; [...] common sense cannot be accounted for by being called the perfection of reason, nor reason by being resolved into common sense«.23

1.2 Aufhebung vermeintlicher Widersprüche Die Frage nun, wie ein Widerspruch zwischen Urteilen des gemeinen Menschenverstandes und räsonierender Vernunft zu lösen wäre, ist bei Tetens nicht wie bei Reid oder Beattie durch den Hinweis der Dignität eines der beiden Vermögen entscheidbar – handelt es sich doch um ein und dasselbe Vermögen. Reid hatte betont, die Prinzipien des common sense seien »older, and

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A. Corr. Hildesheim, Zürich, New York 1983, S. 321f.; Hvhb. im Original). Der gemeine Menschenverstand hat also die Anlage, sein Urteilsvermögen zu einem durchgearbeiteten Wahrheitsgefühl auszuprägen, das er aber nicht von Natur aus hat. Vgl. Tetens: Speculativische Philosophie (s. Anm. 2), S. 12. Vgl. den 8. Versuch der Philosophischen Versuche. PV I, S. 571. Entsprechend geht es im 9. Versuch um die Einheit des Grundprinzips der Erkenntnisvermögen und im 11. Versuch um die in diesen Vermögen wirkende Grundkraft. Tetens legt dar, dass es sich bei den drei Vermögen Gefühl, Vorstellungskraft und Denkkraft um ein Prinzip der Erkenntnis handelt, in jeweils eher passiv-sinnlicher oder eher aktiv-vernünftiger Hinsicht. Es ist nur eine Grundkraft in uns tätig in ihren aufeinander irreduziblen Modifikationen, die mit den Graden der Selbsttätigkeit zusammenhängen. Tetens verweist in diesem Zusammenhang auf Leibniz (vgl. ebd., S. 762). Zum Begriff der Vorstellung bei Tetens vgl. James Engell: The Creative Imagination. Enlightenment to Romanticism. Cambridge Mass., London 1981, pp. 118–128. Zur Bedeutung des Begriffs der Dichtkraft als höchster Stufe des Vorstellungsvermögens bei Tetens vgl. Cassirer: Erkenntnisproblem (s. Anm. 4), S. 476f. sowie den Beitrag von Gideon Stiening in diesem Band. Beattie: Essay (s. Anm. 9), p. 41.

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of more authority, than Philosophy; she rests upon them as her basis, not they upon her«.24 Weiterführender hatte Beattie common sense zur Bedingung von reason gemacht: »[E]xcept we believe many things without proof, we never can believe any thing at all«, daher sei common sense »the ultimate judge of truth«.25 Anders als Reid und Beattie ist Tetens überzeugt, dass auch der gemeine Menschenverstand theoriedurchdrungen sowie korrigierbar durch Theorie sei. Nur methodisch, nicht aber der Sache nach können sich gemeiner und theoretischer Verstand in den wesentlichen Fragen widersprechen, da die Antworten, sofern sie notwendig sind, Resultat derselben subjektiv notwendigen Denkgesetze sind (vgl. dazu den folgenden Abschnitt).26 In allen Gradierungen der entwickelten Vernunft könne es jedoch zu assoziativen Fehlurteilen kommen, so Tetens. Zum Teil sind gemeiner Menschenverstand und Räsonnement zur Selbstkorrektur fähig, sie korrigieren sich jedoch auch gegenseitig, wie Tetens im 8. Versuch darlegt: Der gemeine Menschenverstand sorgt für die nötige Bodenhaftung bei den Höhenflügen des Räsonnements sowie dafür, dass das konkrete Einzelne und der theoretische wie praktische Gesamtzusammenhang der betreffenden Betrachtung im Blick behalten werden. Wenn zudem Systeme, wie die Humes, Leibniz’ und Berkeleys gegen die Evidenz der Sinne und des gemeinen Verstandes seien, dann stehe vermeintlich die Evidenz der Sinne gegen die der Vernunft, das aber »hieße eine Evidenz unserer Denkkraft gegen sich selbst«27 setzen, da es ja ein einheitliches Vermögen ist. Da diese Systeme aber auf der falschen Voraussetzungen beruhen, dass die Notwendigkeit der Annahme einer materiellen Welt oder des Einflusses der äußeren Objekte auf die Seele bloß eine zufällige Ideenassoziationen seien, können sie nicht als Widerspruch zum gemeinen Verstand aufgefasst werden. Hier habe also der gemeine Verstand die wahre Evidenz für sich und könne die Idealisten, Harmonisten und Skeptiker korrigieren. Die theoretische Vernunft hingegen beschneidet den gemeinen Menschenverstand um liebgewonnene, bloß für notwendig gehaltene Urteile, an denen die Phantasie (Einbildungs- oder auch Dichtkraft) zu einem zu hohem Grade beteiligt war. Sie erweitert ihn aber da, wo er mit seinem vornehmlich aus der sinnlichen Wahrnehmung gewonnenen Wissen zu falschen Schlüssen gekommen ist bzw. wie im Falle der Astronomie erst durch Arithmetik und Geometrie weiter kommen kann – wobei Tetens im Blick behält, dass Jäger und Schiffer diese Wissenschaften für ihre Praxis nicht benötigen.28 In gewissem Maße ist Tetens dennoch vom Nutzen der Wissenschaften und der Philosophie für das alltägliche Leben überzeugt – und steht damit gegen die Common Sense-Philosophie und gegen Hume in der Tradition Lockes, aber auch

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Thomas Reid: An Inquiry into the Human Mind. 3. Aufl. London 1769 (Reprint Charlottesville 1986), p. 15. Beattie: Essay (s. Anm. 9), p. 51. Hans-Ulrich Baumgarten sieht in diesem Zusammenhang eine Ähnlichkeit im Umgang mit der alltäglichen Erkenntnis bei Kant und bei Tetens (vgl. Hans-Ulrich Baumgarten: Kant und Tetens. Untersuchungen zum Problem von Vorstellung und Gegenstand. Stuttgart 1992, S. 50–52). Philosophie als Explikation der Grundintuitionen des gemeinen Verstandes sehen auch Paul Guyer und Karl Ameriks als Kants Programm einer Common Sense-Philosophie an; vgl. Paul Guyer: Kant on Common Sense and Scepticism. In: Kantian Review 7 (2003), p. 1–37 und Karl Ameriks: A Common Sense Kant? In: ders.: Kant and the Historical Turn. Philosophy as Critical Interpretation. Oxford 2006, pp 108–133. PV I, S. 583f. Vgl. Tetens: Speculativische Philosophie (s. Anm. 2), S. 7.

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Leibniz’ und vor allem Wolffs, die Utilitätsgesichtspunkte bei ihren philosophischen Betrachtungen stets im Blick behielten.29 Gemeiner Menschenverstand ist bei Tetens ein weder vermögens- noch urteilstheoretisch von der räsonierenden Vernunft abgehobener Begriff, mit dem vor allem das nicht bewusst von Theorie geleitete, unmittelbare Urteilen und Schließen bezeichnet wird. Methodisch fehlt es dem gemeinen Menschenverstand zwar an Systematik und Einsicht, aber er »denket nach allgemeinen Axiomen der Vernunft«.30 Deren Explikation ist Aufgabe der Philosophie, die dabei aber nicht auf ein ›Sondervermögen‹ zurückgreifen kann, sondern nichts als die Verfeinerung und Klärung der allgemeinen Gesetze des Denkens und deren Begründung ist. Durch die Betonung der Einheit der Vernunft kann einerseits dem Skeptizismus Einhalt geboten werden (Grundüberzeugung der Realität der Außenwelt des gemeinen Verstandes), andererseits aber auch der Absage an das Urteil der räsonierenden Vernunft durch die Common SensePhilosophie, die Tetens als geradezu »wider den Menschenverstand«31 ansah. Den Nachweis der Einheit der Vernunft versteht Tetens als zentrales Argument gegen den Skeptiker. Der »Ungrund des skeptischen Vorwandes« nämlich, der gemeine Verstand verwickele sich in »Widersprüche[] mit sich selbst und der raisonnierenden Vernunft«, könne durch diesen Nachweis aufgedeckt werden.32 Insofern die Common Sense-Philosophen es aber für hinreichende Rechtfertigung der Wahrheit alltäglicher Überzeugungen halten, dass wir diese Überzeugungen so haben und das Verhältnis zu den komplexeren Theoriegebäuden der räsonierenden Vernunft ungeklärt lassen, werden sie den Skeptiker nicht überzeugen. Dem Skeptiker müsse die nicht bloß assoziative, sondern durch die Natur des Denkens begründete Notwendigkeit der von ihm anerkannten Grundüberzeugungen (Denkgesetze, Urteile über unmittelbare Erfahrung) aufgezeigt werden. Dieses Theoriestück legt Tetens mit seiner Analyse der subjektivischen Notwendigkeit der Grundsätze unseres Denkens vor.33

2. Subjektivische Notwendigkeit Um über diese allgemeine Charakterisierung hinaus genauer zu verstehen, welche systematische Rolle der gemeine Menschenverstand bei Tetens spielt, ist es sinnvoll, den Begriff in seinen theoretischen Kontext einzubetten. Es zeigt sich dann, dass er eine enge Verbindung zum theoretischen Kernstück der Philosophischen Versuche hat. Dieses wiederum kann als Versuch der Ausarbeitung des Programms einer ›transcendenten Grundwissenschaft‹ verstanden werden, die die allgemeinen Grundsätze enthalten soll, »wornach wir über alle Dinge überhaupt, über alle Gattun29

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Zu Wertschätzung von Empirie und Lebensnähe der Philosophie Wolffs vgl. Günther Gawlick u. Lothar Kreimendahl: Einleitung. In: Christian Wolff. Einleitende Abhandlung über Philosophie im Allgemeinen (Discursus praeliminaris). Übers., hg. und eingel. von dens. Stuttgart-Bad Cannstatt, S. IX–XLIV, hier S. XVf. Tetens: Speculativische Philosophie (s. Anm. 2), S. 8f. PV I, S. 531. Vgl. ebd., S. 529. Zum Theoriestück der subjektivischen Notwendigkeit und seinem Verhältnis zur Tradition vgl. den Beitrag von Giuseppe Motta in diesem Band.

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gen wirklicher Wesen, über Geister und Körper […] urtheilen und schließen«34 und die alle Philosophie auf den Gang einer Wissenschaft nach dem Vorbild der Mathematik bringen soll.35 Diese Grundwissenschaft »hat mit wirklich vorhandnen Objecten nichts zu thun«, sondern »beschäftiget sich nur mit dem, was möglich oder nothwendig ist bey allen Arten von Dingen überhaupt«.36 Das von Tetens vorgeschlagene Verfahren der Auffindung der entsprechenden Grundsätze und transzendenter Begriffe (Substanz, Wirkung, Ursache etc.)37 heißt in dem Versuch über die allgemeine speculativische Philosophie ›Realisieren‹, d. h. alles bloß Zufällige oder Subjektivische von ihnen abziehen.38 Zwei Jahre später verwendet er den Begriff des Realisierens von Grundsätzen und Begriffen nicht mehr, sondern geht davon aus, dass wir zunächst die ›subjektivische Notwendigkeit‹ der allgemeinen Grundsätze freilegen müssen, bevor sich über ›objektivische Notwendigkeit‹ etwas sagen lässt.39 Auch wenn Tetens’ Darstellung der subjektivischen Notwendigkeiten des Beziehungsvermögens (Denken) weit hinter Kants Analytik der Begriffe und Grundsätze des Verstandes zurück bleibt, so muss doch festgehalten werden, dass er immerhin den Bedarf der Aufsuchung und Begründung solcher Prinzipien der Erfahrung sieht, die sich im Verstand selbst finden müssen.40 Die Durchführung im 7. Versuch zeigt, dass Tetens dieser Aufgabe nicht gewachsen war. Sie zeigt aber auch, dass Tetens das im Prinzip richtige Anliegen der Common Sense-Philosophie in Richtung einer Transzendentalphilosophie zu verbessern gewillt war.

2.1 Subjektivisch notwendige Urteile Tetens unterscheidet drei Momente der Notwendigkeit im Prozess des Denkens. Erstens fragt er, inwiefern der Akt des Urteilens selbst mit Notwendigkeit erfolgt, zweitens inwiefern die Form des Urteils notwendig ist und drittens, inwiefern wir zum Übergang von subjektivischen 34 35

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Tetens: Speculativische Philosophie (s. Anm. 2), S. 39. Hauser ist der Ansicht, dass Tetens’ transzendentalphilosophische Sicht von 1775 in den Philosophischen Versuchen von 1777 in den Hintergrund tritt. (Vgl. Hauser: Selbstbewusstsein und personale Identität [s. Anm. 2], S. 128, S. 139, auch S. 151.) Obgleich Tetens eine Reihe von Begriffen wie »Grundwissenschaft« oder »Realisieren« 1777 fallen lässt, kann der programmatische Zug m. E. auch 1777 identifiziert werden; vgl. z. B. PV I, S. 428. Tetens: Speculativische Philosophie (s. Anm. 2), S. 18. Vgl. ebd., S. 39f. Vgl. ebd., S. 20. Der Begriff des Realisierens ist in dem Versuch von 1775 ganz zentral. Wilhelm Uebele meint, er begegne in derselben Bedeutung wie bei Kant, aber auch bei Moses Mendelssohn komme der Begriff vor. (Vgl. Uebele: Tetens [s. Anm. 2], S. 193). Vgl. PV I, , S. 471. Auch Cassirer ist der Ansicht, dass Tetens immerhin das Programm einer transzendentalen Philosophie entfaltet, das er dann nicht durchzuführen weiß. (Vgl. Cassirer: Erkenntnisproblem [s. Anm. 4], S. 478ff.) Kuehn sieht Tetens in diesem Zusammenhang vor dem Hintergrund des wolffschen Anliegens, die Möglichkeit von Begriffen zu beweisen bzw. dessen weiterer Bearbeitung bei Johann Heinrich Lambert. Tetens gehe über beide hinaus, insofern er die Realität dieser Begriffe beweisen wollte, also »nicht mehr mit der bloß logischen Möglichkeit der Widerspruchslosigkeit zufrieden« war. Kants Deduktion der reinen Verstandesbegriffe gehe noch weit über Tetens hinaus, müsse aber vor diesem Hintergrund gesehen werden, so Kuehn weiter. (Vgl. Manfred Kuehn: Der Objektbegriff bei Wolff und Kant. In: Heiner F. Klemme u.a. (Hg.): Aufklärung und Interpretation. Studien zu Kants Philosophie und ihrem Umkreis. Würzburg 1999, S. 39–56, hier S. 45).

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Notwendigkeiten des Denkens zu objektivischen Notwendigkeiten der Verhältnisse der Dinge berechtigt sind. In Abschnitt 7. I. befasst sich Tetens mit der Notwendigkeit des Urteilsaktes; die ungeklärten »ersten Urtheile des gemeinen Verstandes, daß es Körper außer uns gebe, daß die Seele in unserem Körper wirke«,41 erfolgen mit Notwendigkeit – d. h., niemand kann dieses Urteil zurückhalten, es wird instinktiv gefällt. Auch einige Schlussgedanken geschehen mit derselben Unwillkürlichkeit. Über die Notwendigkeit von Form und Inhalt dieser unwillkürlichen Urteile handelt Tetens in Abschnitt 7. II., über die objektive Gültigkeit in 7. IV. Abschnitt 7. III. hat die Subjektivische Notwendigkeit in den Denkarten des gemeinen Verstandes zum Gegenstand, wodurch angezeigt ist, wie eng Tetens’ Analyse der subjektivischen Notwendigkeit mit seiner Fassung einer Common Sense-Philosophie in Verbindung steht. Ich werde diese Verbindung nun näher untersuchen, die sich als Tetens’ Versuch einer Lösung des Methodenproblems zwischen Humes Skeptizismus, Berkeleys Idealismus und Leibniz’ Rationalismus darstellt. Den ›Beweis‹ der objektiven Gültigkeit der subjektivischen Notwendigkeiten in 7. IV. werde ich aufgrund seiner Dunkelheit ausklammern – Kant hatte sicher nicht Unrecht, den Nachweis der objektiven Gültigkeit durch Analogie der subjektiven Denk- und objektiven Seinsverhältnisse bzw. mittels Ersetzung des Begriffs objektivisch durch »unveränderlich subjektivisch«42 (d. h. intersubjektiv gültig) für misslungen zu halten.43

2.2 Subjektivisch notwendige Urteilsformen Tetens erläutert in Abschnitt 7. II. vier mögliche Fälle subjektivischer Notwendigkeit (im Folgenden: SN) der Form von Urteilen, die den Äußerungen der Denkkraft (»das Unterscheiden, das Gewahrnehmen, das Beziehen der Dinge aufeinander, das Erkennen«44) entsprechen. Erstens sind Verhältnisurteile über »Einerleyheit und Verschiedenheit der Objekte nach den Ideen von ihnen«45 subjektivisch notwendig: (SN 1) Verhältnisurteile über Identität und Differenz (Identitätsprinzip) Zweitens sind die »Urtheile über die wirklichen unmittelbaren Gegenstände des Bewußtseyns« notwendig (»Ich höre, ich sehe, ich fühle Schmerz, ich denke, ich stelle mir etwas vor, ich erin-

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PV I, S. 477. Ebd., S. 540. Vgl. Kuehn: Hume and Tetens (s. Anm. 4), p. 366, allerdings ohne Verweis auf eine entsprechende Stelle bei Kant. Man darf aber mit Blick auf die Passagen zur objektiven Gültigkeit bei Tetens von der Triftigkeit der These ausgehen. Implizit äußert Kant sich in diesem Sinne, wenn er abgrenzend zu Tetens’ Versuchen meint, er selbst werde sich nicht mit der Entwicklung der Begriffe, sondern allein mit deren objektiver Gültigkeit befassen. (Vgl. Kants gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. Bd. XVIII. Handschriftlicher Nachlaß. Bd. 5. Metaphysik. 2. Teil, S. 23). PV I, Kap. 4. VII. 1. Ebd., S. 492; Hvhb. im Original.

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nere mich«), denn sobald die Denkkraft wirkt, »so sind dieß ihre Wirkungen«46 und sie kann deren Gegenteil nicht erkünsteln: (SN 2) Wahrnehmungsurteile Drittens sind zudem Schlussfolgerungen aus Vordersätzen, die den formellen Denkgesetzen (»Gesetz der Denkbarkeit, der Identität, […] Grundgesetz der beiden entgegenstehenden Fälle«47) entsprechen, ihrer Art nach notwendig: (SN 3) Logische Schlüsse Die Urteilsarten SN 1 und SN 3 sind offenbar miteinander verbunden, insofern der Verhältnisgedanke von Identität und Differenz in SN 3 wieder als formelles Denkgesetz begegnet. Da wir nicht zugleich denken können ich fühle und ich fühle nicht, lässt sich auch SN 2 als Anwendungsfall der formellen Denkgesetze verstehen, die SN 3 regieren und die Tetens mit Ausnahme von SN 1 nicht eigens als subjektivische Notwendigkeit ausweist. Dies sind nur zwei der zahlreichen Querverbindungen der subjektivischen Notwendigkeiten untereinander, die sich dadurch einerseits zu einem durchaus komplexen Theoriegebäude verbinden, andererseits aber bezweifeln lassen, was Tetens unablässig betont, nämlich, dass sich die subjektivischen Notwendigkeiten nicht (wie von Wolff behauptet) auf den Satz vom Widerspruch oder das Identitätsprinzip reduzieren ließen.48 Diese drei Urteilsformen seien unbestreitbar und so finde der Skeptizismus an ihnen seine Grenze, so Tetens. Allerdings gesteht er selbst, dass ihm in diesen Punkten weder Hume noch Berkeley widersprochen hätten,49 da es bislang überhaupt noch nicht um irgendeine Form der Aussage über Objektverhältnisse geht. Diese werden nun in der folgenden Art subjektivischer Notwendigkeit thematisch, und hier muss Tetens sehr viel mehr Aufwand betreiben, um von absoluter Notwendigkeit sprechen zu können. Da Tetens – wie ich gleich zeigen möchte – die subjektivische Notwendigkeit der vierten Urteilsform nicht nachweisen kann, sondern an dieser Stelle selbst den Fehler begeht, sich methodisch auf das Urteil des gemeinen Verstandes zu berufen, möchte ich hier kurz innehalten, um einige Unterschiede zur Common SensePhilosophie Tetens’ und der Schotten zu skizzieren.

2.3 Subjektivische Notwendigkeit und Common Sense-Philosophie Tetens selbst bringt den Aufweis der subjektivischen Notwendigkeit mit Reid und Beattie in Verbindung und ist im Ansatz mit deren Vorgehen einverstanden. So sind es die Urtheile über das Daseyn der wirklichen Welt, über die ursachlichen Verbindungen der Dinge in der Welt; die Unterscheidung des Gegenwärtigen in der Empfindung von dem Vergangenen durch Wi46 47 48 49

Vgl. ebd., S. 491. Ebd., S. 492; Hvhb. im Original. Vgl. ebd., S. 487ff.; auch S. 514. Vgl. ebd., S. 492f.

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dererinnerung, und von dem Künftigen; unser Glaube an fremdes Zeugniß […] Wirkungen und Aeußerungen des Menschenverstandes,

die subjektivische Notwendigkeit haben.50 Nach eigenem Bekunden will Tetens im Gegensatz zu Reid und Beattie die Grundüberzeugungen des Common Sense nicht nur beschreiben, sondern er versuche, den »Grund dieser Nothwendigkeit« im Verstand aufzusuchen.51 Diese Begründung will Tetens in Abschnitt 7. II. 11 leisten, wo er die subjektivisch notwendigen Denkarten nach der Verschiedenheit ihrer Gründe in drei Gruppen unterteilt. Erstens nennt er die notwendigen Urteilsformen, die »in der Natur der Denkkraft an sich gegründet« sind;52 darunter fallen bei Tetens SN 1 bis SN 3.53 Zwar unterscheidet sich diese ›Begründung‹ nicht von der bei Reid und Beattie, aber Tetens selbst sagt in der Speculativischen Philosophie, dass ein Beweis allgemeinster Sätze nicht möglich sei.54 Der Unterschied zur Common Sense-Philosophie liegt eher darin, dass nicht die konkreten Urteile des gemeinen Menschenverstandes selbst zum Standard der Wahrheit gemacht werden, sondern dass er die allgemeinen Formen dieser Urteile aus der Natur des Verstandes herleitet, sich also gar nicht auf der Ebene konkreter Überzeugungen bewegt und bislang auch noch nichts über die objektive Gültigkeit der aufgezählten drei Formen gesagt hat. Über die Common Sense-Philosophie hinaus geht Tetens weiterhin durch die Differenzierung in zwei weitere Arten der Begründung von subjektivischer Notwendigkeit. Zweitens gebe es subjektivische Notwendigkeit, die von der »Materie des Urtheils« abhänge.55 Dies scheinen Erfahrungssätze zu sein, die unter unabänderlichen Umständen, von denen wir keine Ausnahme kennen, entstehen (»physische Notwendigkeit«56); Tetens erwähnt hier in etwas undeutlicher Weise SN 2 und den allgemeinen Teil von Kausalurteilen (SN 4a, dazu unten). Schließlich gebe es drittens »hypothetische oder Gewohnheitsnotwendigkeit«, die in unterschiedlicher Stärke begegnet, aber doch durchweg zufällig ist.57 Gegenüber dem gemeinen Menschenverstand und damit der Common Sense-Philosophie versteht Tetens es als Leistung der Philosophie, bei allen intuitiven Urteilen nach den Anteilen subjektivischer Notwendigkeit und bloßer Gewohnheit der beteiligten Denkgesetze zu differenzieren. Er moniert, dass Reid und Beattie dies versäumt hätten und dass dadurch die Anzahl von ›First Principles‹ bei diesen viel zu groß sei. Hinsichtlich der Instinktivität und Art des Urteilens ist Tetens durchaus einig mit der Common Sense-Philosophie, er meint aber, dass diese Prinzipien nicht vom Himmel fallen, sondern im Rahmen einer Grundwissenschaft expliziert, realisiert und nach ihren notwendigen und bloß assoziativen Anteilen systematisiert werden müssen und dass es die selben sind, mit denen die räsonierende Vernunft operiert. Die Philosophischen Versuche zeigen, dass Tetens diesem Anspruch insofern 50 51 52 53

54 55 56 57

Ebd., S. 527. Vgl. ebd., S. 490; Hvhb. im Original. So auch sein Urteil über den gemeinen Menschenverstand 1775, vgl. Tetens: Speculativische Philosophie (s. Anm. 2), S. 7. PV I, S. 524f; Hvhb. im Original. Diese Begründung unterscheidet sich allein durch ihren ›säkulareren‹ Charakter von Reids »simple and original principles of [our] constitution for which no account can be given but the will of our Maker« (Reid: Inquiry [s. Anm. 24], S. 6). Vgl. Tetens: Speculativische Philosophie (s. Anm. 2), S. 34. PV I, S. 515; Hvhb. im Original. Ebd., S. 516; Hvhb. im Original. Vgl. ebd., S. 516f. ; Hvhb. im Original.

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gerecht wird, als er innerhalb der ›Principles of Common Sense‹ nach Art, Ursache und subjektivisch notwendigen oder assoziativen Anteilen differenziert, so dass auch die Gruppe infallibler Sätze des Alltagsverstandes sehr viel kleiner wird als in der Common Sense-Philosophie.

3. Methodischer Rückfall Tetens’ Versuch einer Widerlegung des Skeptizismus durch Nachweis der subjektivischen (und damit schließlich objektivischen) Notwendigkeit von Kausalurteilen misslingt,58 und die Wahrnehmung dieses Scheiterns führt bei ihm geradezu reflexartig zu einer Berufung auf die Urteile des gemeinen Verstandes. Hier hat Kuehn also durchaus recht, dass Tetens nicht über Reid und Beattie hinaus geht, gleichwohl würde ich immer noch dafür halten, dass der programmatische Ansatz seines Unternehmens in der bereits ausgeführten Weise es sehr wohl tut. Doch der Reihe nach.

3.1 Subjektivische Notwendigkeit von Kausalurteilen Einige Urteile über Kausalverhältnisse sind notwendig, so Tetens, allerdings nur in ihrem allgemeinen Teil, der dem Denkgesetz »Aus Nichts wird Nichts«59 oder auch »Nichts ohne Ursache«60 entspricht. Sobald wir es mit einem konkreten Urteil über ein Ursache-Wirkungsverhältnis zu tun haben, folgt dieses allein durch Beobachtung des zeitlich und räumlich Naheliegenden und entsprechender Ideenassoziation der Einbildungskraft (Gewohnheit). Nur da, wo eine Wirkung vollständig durch ihre Ursache erklärt wird, erfolgt das Urteil der kausalen Verbindung mit der gleichen Notwendigkeit wie im allgemeinen Urteil über die Notwendigkeit kausaler Abhängigkeit von Entstehendem als solchem. Die subjektivische Notwendigkeit von Kausalurteilen ist also komplexer als die bisherigen drei Urteilsformen: (SN 4) Urteile über Kausalverhältnisse, bestehend aus: (SN 4a) Prinzip der notwendigen Verursachung (allgemeines Seinsgesetz) (SN 4b) Proximitätsprinzip (A → B) (SN 4c) Analytizität von Ursache und Wirkung (A → A’) Bei SN 4b handelt es sich um ein »Beyspiel von subjektivischen bedingt nothwendigen Urtheilen«,61 d. h. es kann im Prinzip verändert werden, auch wenn diese Änderung einiger Anstrengung bedarf. Es beruht auf dem ›Naturgesetz der Denkkraft‹, dass wir nur Gegenstände der 58 59 60 61

Zum Problem der Kausalität im 18. Jahrhundert vgl. Eric Watkins: Kant and the Metaphysics of Causality. New York 2005. PV I, S. 495; Hvhb. im Original. Ebd., S. 502; Hvhb. im Original. Ebd., S. 496.

Einheit der Vernunft und subjektivische Notwendigkeit

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inneren oder äußeren Erfahrung als wirklich verstehen; SN 4b ist mithin zwar begründet durch ein Denkgesetz, aber eben doch empirisch und damit nicht mehr notwendig. Dies ist eine der Stellen, an denen die Vernunft den gemeinen Verstand korrigiert, indem sie ihn auf den Scheincharakter seiner Idee der Realität hinweist und aufdeckt, dass objektivisch (d. h. subjektivisch unveränderlich) allein das Verhältnis der Eindrücke (also SN 4a) sein kann.62 Tetens beharrt zwar darauf, dass es schlechthin subjektiv notwendige Urteile über Kausalverhältnisse gebe (SN 4c), die nicht durch Assoziation entstehen, sondern durch allgemeine Gesetze der Denkkraft (SN 1 und SN 3) erfolgen. Das aber wäre nur dann möglich, wenn die Wirkung bereits in der Ursache enthalten bzw. mit dieser oder Teilen von ihr identisch sei.63 SN 4c wäre also eher ein analytisches Urteil (im kantischen Sinne), das kein Verhältnis zwischen unterschiedenen Dingen herstellen kann und das darüber hinaus kaum einen Anwendungsfall hat, da wir »bey den wirklichen Verursachungen manches, aber keine von ihnen völlig« begreifen.64 Konkrete Kausalurteile bedürfen assoziativ gewirkter Nebenideen, so dass sie in der Praxis überhaupt keine Notwendigkeit beanspruchen könnten. Tetens kann gegen den nun drohenden Skeptizismus nur stark machen, dass SN 4a ein unvermeidbares Denkgesetz sei, dessen Grund nicht Gewohnheit ist,65 sondern das aus der Übertragung der »Unentbehrlichkeit einer ideellen Ursache zu der ideellen Existenz in uns« (epistemisches Prinzip der notwendigen Begründung) auf die Objektwelt (ontologisches Prinzip der notwendigen Verursachung) stammt. Es sei eigentlich die »Abhängigkeit des Gedankens« von einem anderen Gedanken als seinem »ideellen Grund[]«, 66 die wir dann auf das Verhältnis zwischen Objekten als Ursache und Wirkung übertragen. Offenbar löst Tetens das Problem des Skeptizismus, indem er einen subjektivisch notwendigen Anteil der konkret bloß gewohnheitsmäßigen Kausalurteile sichern will. Doch auch dieser Anteil bereitet ihm in seiner Begründung Probleme, die er durch einen Sprung von der denkökonomisch geforderten Begründung zur Verursachung in der Objektwelt zu beseitigen sucht.67 Ich kann diese Analysen hier nicht weiter vertiefen, meine Vermutung wäre aber, dass Tetens hier mit der Ambivalenz der ontologischen und epistemischen Bedeutung des Satzes vom zureichenden Grund arbeitet (Tetens verwendet die Formel selbst nicht),68 durch die er den durchweg prekären Status der Kausalurteile zu sichern bemüht ist.

62 63 64 65 66 67

68

Vgl. ebd., S. 561. Vgl. ebd., S. 499. Ebd.; Hvhb. im Original. Vgl. ebd., S. 503. Ebd., S. 506. Im Grunde wird Kant einen ähnlichen Weg beschreiten, nämlich Kausalität als ein zu uns gehöriges Verhältnis der Erscheinungen zu verstehen. Die Notwendigkeit des Kausalitätsbegriffs aber zeigt Kant als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt – ein Motiv, das bei Tetens zwar ›herumgeistert‹, aber so eben nicht vorkommt, weil ihm die Differenz zwischen Dingen an sich und Erscheinungen zwar irgendwie bewusst war (vgl. Tetens: Speculativische Philosophie [s. Anm. 2], S. 5), er sie aber nicht in ihrer vollen Konsequenz für seine Ausformulierung einer Grundwissenschaft produktiv machen konnte. In Verbindung mit »Aus Nichts wird Nichts« erwähnt Tetens in der Speculativischen Philosophie noch das Prinzip »von der zureichenden Ursache, dem Leibnitzschen vom zureichenden Grunde«, das zwar umstritten sei, dessen Ableitbarkeit vom Prinzip des Widerspruchs er aber zu Recht bezweifelt (ebd., S. 30f.; Hvhb. im Original).

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Fest steht jedoch, dass SN 4a zunächst ein epistemischer Satz ist, der dann durch »Substitution«69 auf die Objektwelt übertragen und so ein ontologischer Satz wird. Wenn meine Vermutung stimmt, stellt sich die Sache wie folgt dar: (SN 4) Urteile über Kausalverhältnisse (SN 4a‘) Prinzip der notwendigen Begründung (Epistemisches Prinzip) → (SN 4a) Prinzip der notwendigen Verursachung (Seinsgesetz) (SN 4b) Proximitätsprinzip (A → B) SN 4b ist empirisch, und den Übergang von SN 4a‘ zu SN 4a kann Tetens nicht rechtfertigen, denn im 4. Versuch sagt er selbst, dass es sich hierbei um ein »Postulat« handelt: »Wir haben keine andere Idee von der objektivischen Verursachung, als diese innere subjektivische Verursachung in dem Verstande.«70 Damit aber gibt es keine subjektivische Notwendigkeit von Kausalurteilen (daher schon gar keine objektivische), und Tetens kann den Skeptizismus und übrigens auch Leibniz’ Harmonismus nicht zurückweisen.

3.2 Kausalurteile – Eine »physische Notwendigkeit« des Alltagsverstandes Insofern Tetens in diesem Teil seiner Analyse allein damit befasst war, die notwendigen Denkarten aufzuzeigen, deren objektivische Notwendigkeit noch gar nicht feststeht, könnte man sich ins Faktische retten: Es muss dann gar nicht gerechtfertigt sein, von der epistemisch geforderten Begründung zum ontologischen Prinzip der Verursachung überzugehen. Es muss sich nur im Prozess des Denkens beobachten lassen, dass das Denken formal so operiert. Allerdings wird es Tetens selbst hier offenbar etwas mulmig, denn ausgerechnet bei den Kausalurteilen beruft er sich auf die Urteile des gemeinen Verstandes. Methodisch wird Tetens an genau diesem sensiblen Punkt nun selbst zum Common Sense-Philosophen, der bloßes Fürwahrhalten bereits für das hinreichende Anzeichen von Wahrheit hält. So etwa bei der empirisch bedingten SN 4b: Obgleich doch alle Menschen zunächst bestimmte Kausalurteile fällen wie z.B. die »Bewegung des Arms nach dem Willen der Seele für eine Wirkung unsers Wollens« zu halten, so sei doch eine Hinderung dieses Urteils durch den »neue[n] Gedanke[n]« möglich, dass die Bewegung des Körpers nicht aus der Seele, sondern allein »aus den Kräften des Körpers« entstehe.71 Es sei dem Idealisten und Harmonisten, also Berkeley und Leibniz, aber nur durch eine beständige Anstrengung möglich, sich in dieser Überzeugung zu halten, weil sie dem Instinkt (der Natur des Denkens) so sehr widerspricht. Es sei gegenüber diesen neuen Ideen nicht nötig, die Überzeugungen des gemeinen Menschenverstandes zu rechtfertigen, sondern es reiche aus, auf die 69 70

71

PV I, S. 507; Hvhb. im Original. Ebd., S. 327. Dazu Kuehn: »This means that Tetens has not refuted Hume in the sense that he has shown causality not to be a ›fiction‹ in any sense, but one only in the sense that it is not a fiction of the imagination, but of the understanding«; Kuehn bezweifelt, dass Hume dem überhaupt widersprochen hätte. (Kuehn: Hume and Tetens [s. Anm. 4], p. 372.). PV I, S. 495.

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mangelnde Begründung (»Grundleere«72) der neuen Ideen hinzuweisen. Sei die Unmöglichkeit der Begründung der neuen Idee eingesehen, so erzwinge der »natürliche Menschenverstand« durch ein »Gesetz des Beyfalls«73 die Rückkehr zur (bedingten) subjektivischen Notwendigkeit (hier SN 4). Dort, wo es auf »Meinungen des Sensus kommunis ankommt«, sei es »physisch« unmöglich, dass der Verstand wirklich von ihrem Gegenteil oder auch nur ihrer Falschheit überzeugt sei.74 Hier ersetzt nun bloßes Fürwahrhalten die von Tetens gegenüber der Common SensePhilosophie geforderte Begründung: Gegen Humes Kritik am Kausalitätsbegriff weist Tetens in der Speculativischen Philosophie wiederholt auf das Gefühl eines inneren Zwangs, Ursache und Wirkung zu denken, als die physische Ursache der Ideenfolge und so subjektivisch unveränderlichen (= objektivische) Notwendigkeit hin.75 Es sei hier gar nicht angeraten, den Grundbegriff der Kausalität zu ›realisieren‹ (d. h. auf seine Objektivität hin zu prüfen), denn dadurch entstehe nichts als Verwirrung.76 Das sagt er, obwohl er eingangs eben dort gegen die Common SensePhilosophen eingewandt hatte, dass sie bei der Anlage einer Grundtheorie der Vernunft bloß intuitiv, geleitet durch ein »Gefühl des Wahren« vorgegangen seien und dadurch bloß Meinungen aufsammeln, aber kein Wissen begründen konnten.77 Mit dem Hinweis auf die physische Notwendigkeit der alltäglichen Überzeugung, dass ich meinen Arm willentlich bewegen kann, lässt sich Humes Skeptizismus nun freilich nicht ausräumen, denn der hatte ja gerade gesagt, dass sich im Alltag überhaupt nichts ändert. Nur die Hybris der Wissenschaft, Gewissheit über Ursache-Wirkungsverhältnisse erlangen zu können, hatte bei Hume zunächst ein Ende, dem auch Tetens nichts entgegensetzen kann. Gleichwohl muss man sagen, dass die Differenzierung nach formal-notwendigen und konkret-zufälligen Anteilen des Kausalurteils deutlich über das hinaus geht, was z.B. Beattie zur Frage der Kausalität zu sagen hat: [T]his axiom [what ever begins to exists proceeds from some cause] is one of the principles of common sense, which every rational mind does and must acknowledge to be true; not because it can be proved, but because the law of nature determines us to believe it without proof, and to look upon its contrary as perfectly absurd, impossible, and inconceiveable.78

Tetens hat weder zeigen können, inwiefern unsere konkreten Urteile über Kausalverhältnisse subjektiv notwendig sind, noch inwiefern sie objektiv gültig sein können; seine Forderung nach einer transzendenten Grundwissenschaft weist aber in die Richtung einer transzendentalen Wissenschaft, die freilich in einer Weise an Humes Problem anschloss, die Tetens noch nicht zugänglich war.79 72 73

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Ebd., S. 497. Ebd., S. 504; Hvhb. im Original. Gemeint ist damit, dass uns die Erfahrung, für sich genommen, weder Anlass zum Urteil bloßer Koexistenz noch von Kausalität gibt, sofern nicht ein äußerer Grund unseren Beifall zu einem Urteil erzwinge. Dieser Grund liege in der subjektivischen Notwendigkeit des Prinzips notwendiger Verursachung. Ebd., S. 497. Vgl. z. B. Tetens: Speculativische Philosophie (s. Anm. 2), S. 59. Vgl. ebd., S. 67. Vgl. ebd., S. 11; Hvhb. im Original. Beattie: Essay (s. Anm. 9), S. 111. Uebele hat vermutlich recht, wenn er meint, dass es Tetens »nie in den Sinn gekommen« wäre, »[d]as Erfahrungsprinzip als Spitze gegen alle Metaphysik zu kehren – der Punkt neben der kritischen

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Die Spezifik von Tetens’ Version einer Common Sense-Philosophie liegt erstens darin, sie als Explikation und Systematisierung der formalen Elemente notwendiger Urteile zu verstehen und dabei eine Reihe bloß für notwendig gehaltener Urteile aufzudecken. Das Kriterium der Wahrheit alltäglicher Überzeugungen ist nicht (wie in der Common Sense-Philosophie), dass wir sie für wahr halten, sondern dass sie sich auf ›transcendente Begriffe‹ und notwendige Urteilsformen zurückführen lassen, die wir zwar aus der Erfahrung kennen, die aber nicht aus ihr, sondern aus der Natur unseres Denkens stammen. Der methodische Bruch mit diesem Standard bei der Analyse der Kausalurteile zeigt, an welchen Stellen die anvisierte Theorie der Vernunft in Richtung einer kritischen Philosophie weiterentwickelt werden muss – keine ganz kleine Umstellung, aber auch nicht in unendlich weiter Ferne zu Tetens’ Ansatz. Zweitens betont Tetens gegenüber Reid und Beattie, dass die Vernunft ein einheitliches Vermögen ist, dessen Erkenntnisprinzipien weder nach Dunkelheit und Klarheit noch nach Sinnlichkeit und Verstand noch nach Einfachheit und Komplexität in zwei Vermögen (common sense und reason) auseinander fallen. Da in beiden Ausprägungen des menschlichen Verstandes dieselben notwendigen Grundsätze am Werk sind, können sie sich in diesen nicht widersprechen.

Fragestellung, auf dem Kant am tiefsten von Hume beeinflußt wurde«. (Vgl. Uebele: Tetens [s. Anm. 3], S. 151).

ANDREE HAHMANN

Tetens über die Freiheit als Vermögen der Seele

Die Frage danach, ob freie Handlungen durch zureichende Gründe bestimmt sind oder nicht, ist eines der schwerwiegendsten Probleme in der Willensfreiheitsdebatte.1 Die aktuelle Debatte unterscheidet vier Positionen, die auf zwei Fragen antworten. So geben Deterministen und Indeterministen eine Antwort auf die Frage, ob der Determinismus wahr ist oder nicht. Was allerdings unter der These des Determinismus zu verstehen ist, wird wiederum kontrovers diskutiert.2 Als Minimalkonsens kann gelten, dass der Determinismus als These besagt, »dass es zu jedem Zeitpunkt genau eine physikalisch mögliche Zukunft gibt.«3 Das wird von Deterministen bejaht und von Indeterministen bestritten. Die weitergehende zweite Frage lautet nun, ob der Determinismus mit moralischer Verantwortung kompatibel oder inkompatibel ist. Kompatibilisten sind der Ansicht, dass moralische Verantwortung kompatibel ist, was von Inkompatibilisten geleugnet wird. Das stärkste Argument der Inkompatibilisten beruht auf der menschlichen Intuition. Danach scheinen wir intuitiv der Ansicht zu sein, dass Moralität die Freiheit voraussetzt, auch anders handeln zu können, als man es tatsächlich getan hat. Auf Grundlage dieser Intuition ist das Prinzip alternativer Handlungsmöglichkeiten (im Folgenden: PAH) als Voraussetzung für moralische Verantwortung entwickelt worden.4 Geht man davon aus, dass der Determinismus wahr ist, d. h. also, dass es zu jedem Zeitpunkt nur eine physikalisch mögliche Zukunft gibt, da alle Ereignisse durch zeitlich vorausgehende Ursachen eindeutig bestimmt werden, so kann es auch keine wirkliche Alternative zum tatsächlichen Verlauf der Dinge gegeben haben. Der Determinist hat folglich zwei Optionen: Entweder nimmt er eine kompatibilistische Position ein und bestreitet die Gültigkeit von PAH oder er ist ein Inkompatibilist und nimmt

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Tetens unterscheidet nicht zwischen Ursachen und Gründen, weshalb auch in diesem Aufsatz Ursache und Grund synonym verwendet werden sollten. Zu einem besseren Verständnis auch der einzelwissenschaftlichen Standpunkte siehe Robert Kane (ed.): The Oxford Handbook of Free Will. Oxford, New York 2002. Peter van Inwagen: An Essay on Free Will. Oxford 1986, p. 3; siehe auch Ulrich Pothast: Die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise. Frankfurt a. M. 1980, S. 42: »Die Ereignisse der Welt stehen unter Gesetzen derart, daß einem Zustand des Systems Welt ein und nur ein anderer Zustand desselben Systems folgen kann.« Vgl. Robert Kane: Introduction: The Contours of Contemporary Free Will Debates. In: ders. (ed.): The Oxford Handbook of Free Will (s. Anm. 2), pp. 22–26.

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damit eine revisionistische Position im Hinblick auf die allgemeine moralische Praxis ein.5 Der Kompatibilismus dominiert nun seit Beginn des 20. Jahrhunderts die philosophische Debatte.6 Das hängt wiederum damit zusammen, dass der Inkompatibilismus selber mit zwei schwerwiegenden Problemen belastet ist. So stellt der deterministische Inkompatibilismus, wie gesagt, die moralische Praxis infrage, wohingegen indeterministische Inkompatibilisten mit einer besonderen Schwierigkeit zu kämpfen haben. Der Indeterminismus kann zwar als Begründung der Freiheit von Naturgesetzen angeführt werden, gleichwohl lässt sich die Freiheit des Willens auf diese Weise nicht erklären. Setzt man nämlich voraus, dass sich nicht für jedes Ereignis eine eindeutig bestimmbare Ursache angeben lässt, so stellt sich die weitergehende Frage, wie unter dieser Voraussetzung der Urheber der Handlung und dessen vernünftiges Motiv als Ursache der Handlung zweifelsfrei feststehen. Anders gefragt, wie kann die Handlung eindeutig zugeschrieben werden, wenn sie zufällig, d. h. unverursacht, zustande gekommen sein soll? Wird die Handlung allerdings durch eine vorausgehende zureichende Ursache herbeigeführt, so wäre zu fragen, wie die Handlung frei sein kann, da sie doch zureichend bestimmt ist. Geschieht sie aber nicht frei, so wird sie auch moralisch nicht zurechenbar sein. In diesem Dilemma zeigt sich ein Hauptproblem der Debatte um die Willensfreiheit und moralische Zurechnung. Denn moralische Zurechnung und die eindeutige Zuschreibung einer Handlung scheinen sich wechselseitig auszuschließen. Die Frage nach der Zurechnung (oder Imputabilität) wurde auch im 18. Jahrhundert intensiv diskutiert. Den Höhepunkt hat die Diskussion sicherlich mit dem Beitrag Kants erreicht. Kant macht diese Frage gar zum Auslöser seiner kritischen Philosophie7 und die Kritik der reinen Vernunft widmet ihr die dritte Antinomie – die sogenannte Freiheitsantinomie. Die Möglichkeit zur Hebung des Problems bietet sich Kant durch den transzendentalen Idealismus, d. h. der kritischen Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung.8 Diese Unterscheidung erlaubt es Kant, sowohl eine deterministische Position im Hinblick auf die nach Gesetzen der Natur geordnete Welt der Erscheinungen einzunehmen als auch eine transzendentale Freiheit 5

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Der Indeterminist kann zwar grundsätzlich auch eine kompatibilistische Position einnehmen, aber die Frage ist für ihn natürlich witzlos, da er bereits voraussetzt, dass der Determinismus falsch ist, weshalb er natürlich kein Problem im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Moral und Determinismus hat. Von den Kompatibilisten sind ganz unterschiedliche Strategien entwickelt worden, mit dem oben dargestellten Problem umzugehen. So hat man etwa im Anschluss an Moore versucht, das Problem durch Sprachanalyse wegzuerklären; oder aber man ist Frankfurt darin gefolgt, PAH durch die Konstruktion geschickter Beispiele zu entkräften. Siehe Georg Edward Moore: Freier Wille. In: Ulrich Pothast (Hg.): Seminar: Freies Handeln und Determinismus. Frankfurt a. M. 1978, S. 142–156 sowie die einschlägigen Aufsätze von Frankfurt in deutscher Übersetzung in Harry G. Frankfurt: Freiheit und Selbstbestimmung. Hg. von Barbara Guckes u. Monika Betzler. Berlin 2001. Einen ähnlichen Weg geht auch Daniel C. Dennett: Elbow Room: The Varieties of Free Will worth Wanting. Cambridge Mass. 1984. So heißt es etwa in einer Notiz der frühen 1790er Jahre: »Ursprung der critischen Philosophie ist Moral, in Ansehung der Zurechnungsfähigkeit der Handlungen« (AA, XX, 335). Kants Schriften werden hier zitiert nach: Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften [u.a.]. Berlin 1900ff. (im Folgenden: AA, Band. Seitenzahl). Die Angabe von Stellen aus der Kritik der reinen Vernunft folgt dabei der Paginierung der Originalausgaben der ersten (A) und zweiten Auflage (B). Zum Zusammenhang zwischen Willensfreiheit und transzendentalem Idealismus sowohl aus systematischer als auch exegetischer Perspektive siehe ausführlich Mario Brandhorst, Andree Hahmann u. Bernd Ludwig (Hg.): Sind wir Bürger zweier Welten? Freiheit und moralische Verantwortung im transzendentalen Idealismus. Hamburg 2012.

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der Dinge an sich zu behaupten. Entscheidend für die Motivation der kantischen Position ist jedoch, dass es sich bei den Antinomien um Probleme handelt, die sich nicht auf begrifflichem Weg auflösen lassen, oder kantisch gesprochen: Es darf sich nicht um Scheinprobleme handeln.9 Genau das bestreitet wiederum ein von Kant geschätzter und auch gelesener Zeitgenosse, um den es uns in diesem Aufsatz zu tun ist. Johann Nikolaus Tetens ist nämlich der Meinung, dass das Problem auf eine begriffliche Verwirrung zurückzuführen ist. Deshalb wird auch eine allein auf Erfahrung gestützte Introspektion seiner Ansicht nach das Problem in den Griff bekommen. Auf die Anwendung dieser besonderen Methode, der ein Großteil seines Hauptwerkes gewidmet ist, legt Tetens sehr viel Gewicht. Er stellt ihr die allgemeine Spekulation gegenüber, die die Philosophen erst in ihre missliche Lage versetzt haben soll. Der Hauptfehler besteht nach Tetens darin, dass beide Methoden zu früh miteinander in Verbindung gebracht worden sind, was letztlich zum problematischen Gehalt der Begriffe ›Notwendigkeit‹ und ›Zufälligkeit‹ geführt haben soll.10 Tetens positive These lautet dagegen, dass die menschliche Freiheit auf einem besonderen Vermögen beruht, und zwar ihrer Selbstmacht.11 Eine so verstandene Freiheit kann keine philosophische Spekulation »wegphilosophieren«,12 da sich jedem Einzelnen in der inneren Erfahrung mit Gewissheit zeigt, auch anders handeln zu können, als man es tatsächlich tut.13 Vor dem Hintergrund der ausgeführten Unterscheidungen erscheint die Position Tetens aus systematischer Perspektive interessant, da er an der uneingeschränkten Gültigkeit von PAH als Voraussetzung für einen freien Willen festhält und zugleich konstatiert, dass dieselbe Beobachtung die Notwendigkeit eines völlig zureichenden Grundes – den er in den individuellen Umständen verortet – für die freie Handlung aufzeigt. Tetens hält also zumindest dem ersten Anschein nach wie Kant an beidem fest: Jedes Ereignis soll einen zureichenden Grund haben und zugleich soll PAH als Voraussetzung für Zurechnung gelten. Damit würde Tetens das oben angesprochene Dilemma umgehen und könnte die eindeutige Zuschreibung der Handlung un9

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Zur Struktur und zum Aufbau der Antinomien siehe Andree Hahmann: Freiheit und Ding an sich: die kosmologischen Antinomien als Probe des transzendentalen Idealismus (§§ 50–56). In: Holger Lyre u. Oliver Schliemann (Hg.): Kommentar zu Kants Prolegomena. Frankfurt a. M. 2012, S. 215–234. Johann Nicolas Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig 1777 [im Folgenden zitiert als: PV Band, Seitenzahl (Versuch, Kapitel, Abschnitt)], hier Bd. II, S. 2. Ebd., S. 125: »In dem freyen Wesen ist außer dem Vermögen, etwas thun zu können, und zwar außer der wirklichen Applikation dieses Vermögens auf die Handlung noch ein drittes vorhanden, nämlich das physische Vermögen zu unterlassen. Die unfreye Kraft enthält nur zwey von diesen dreyen Stücken.« Ebd., S. 4. Die Ansicht, dass man die Freiheit auf eine Art innere Empfindung oder Gewissheit gründen könne, ist unter unter Tetens’ Zeitgenossen sehr verbreitet. So hebt etwa auch Leonhard Euler (Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie. Zweyter Theil. Leipzig 1769, S. 23) die Verbindung zwischen der Empfindung der Freiheit und der Freiheit hervor. Denn niemand soll sich in Absicht seiner eigenen Freiheit irren können, »sobald er sich für frey hält, ist er auch in der That frey.« (Ebd., S. 24.) Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Kant später in der Kritik der praktischen Vernunft die Freiheit aus dem unmittelbaren Bewusstseinsfaktum des Sittengesetzes ableiten wird.

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beschadet ihrer moralischen Zurechung erhalten. Hinzu käme der weitere Vorteil, dass der von ihm eingeschlagene Weg anders als die kantische Lösung, die zu einer vermeintlichen ZweiWelten-Ontologie des transzendentalen Idealismus führt, ohne große metaphysische Annahmen auskommt, da er das Problem als Scheinproblem entlarvt. Damit wäre der Rahmen für diese Untersuchung gesteckt: Wir werden so vorgehen, dass wir Tetens’ Ausführungen folgen und zunächst die von ihm durch Introspektion festgestellte Selbstmacht, die Tetens als Voraussetzung der freien Handlung ansieht, diskutieren. Entscheidend in der Bestimmung der Selbstmacht sind drei Punkte: zuerst das Vermögen zur Handlung oder die Spontaneität des Handelnden, zweitens das Vermögen zur Unterlassung der Handlung und drittens die bestimmte Anwendung der Kraft, wozu Vernunft erfordert wird. Mit dieser Unterscheidung gewappnet fokussieren wir mit Tetens dann die beiden Begriffe ›Notwendigkeit‹ und ›Zufälligkeit‹. Schließlich werfen wir mit Kant einen Blick auf Tetens und bewerten die systematische Tragfähigkeit seiner Position. Sollte Tetens mit seinem Vorhaben erfolgreich sein, so empfiehlt er sich nicht nur für Philosophiehistoriker als ein interessanter Gegenspieler zu Kant, sondern er könnte auch für gegenwärtige Positionen, die sich durch ihre Abneigung gegen größere metaphysische Projekte im kantischen Sinne auszeichnen, interessante Impulse geben.

1. Die Selbstmacht der Seele Es ist bereits zur Sprache gekommen, dass die Inkompatibilisten als stärkstes Argument die menschliche Intuition auf ihrer Seite glauben, dass moralische Verantwortung notwendig die Freiheit voraussetzt, auch anders handeln zu können. In seiner Untersuchung stellt Tetens diese Intuition zunächst in Frage. So bezweifelt er, wonach das Selbstgefühl untrüglich zeigen könne, dass man in der Tat hätte anders handeln können. Dass man nicht ohne weiteres davon ausgehen dürfe, macht Tetens an einem Beispiel deutlich: Man stelle sich einen Menschen vor, der zu fortgeschrittener Stunde eine Dosis Opium zu sich nimmt. Angenommen, die Wirkung des Opiats setzt genau zu dem Zeitpunkt ein, an dem er für gewöhnlich schläfrig wird und wie an jedem anderen Tag zu Bett geht. Sodann wird dieser Mensch davon ausgehen, dass es seine eigene freie Entscheidung gewesen sei, sich genau zu dem Zeitpunkt schlafen zu legen, als zufällig auch die Wirkung des Opiats einsetzt. Er wird der festen Überzeugung sein, seiner selbst mächtig gewesen zu sein und dieselbe Handlung auch hätte unterlassen zu können. Offensichtlich irrt er sich aber darin, denn selbst wenn er es gewollt hätte, hätte er sich dem Schlafe nicht entziehen können.14 Hätte er sich nämlich anders entschieden, als er es tatsächlich getan hat, dann wäre er durch die Kraft des Opiums zum Schlaf gezwungen worden. Also auch dann, wenn es seine freie Entscheidung gewesen sein sollte, sich der Abendgesellschaft zu entziehen

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Siehe PV II, S. 9f.: »Er wird glauben, es sey seine ganz freye Handlung, wenn er dem Antriebe der Natur nachgiebt, von seiner Arbeit abricht und sich zu Bette leget; er meinet, sich seiner völlig darinnen mächtig zu seyn, und es unterlassen zu können, wenn es ihm gefällig wäre. Aber eine physische Kraft zwinget ihn, und wenn er wollte, würde er sich in dem Wachen nicht erhalten können.«

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und sein Bett aufzusuchen, so hatte er doch gleichwohl nicht die Macht, auch anders zu handeln, als er es tatsächlich getan hat. Mit diesem Beispiel, welches die im 20. Jahrhundert von Harry G. Frankfurt konstruierten Fälle antizipiert,15 will Tetens demonstrieren, dass man den eigenen Empfindungen nicht ohne weiteres vertrauen kann, sondern dass diese durchaus täuschen können. Im Gegensatz zu Frankfurt zieht Tetens daraus aber nicht den Schluss, dass PAH als Voraussetzung für moralische Verantwortung aufgehoben werden müsse. Ohne an dieser Stelle weiter auf die Details der modernen Diskussion einzugehen, dürfte klar sein, worauf der Schluss von Frankfurt beruht. Sollte man nämlich den betreffenden Personen die Zurechnung für ihre Handlungen zusprechen, obwohl sie offensichtlich zu diesem Zeitpunkt nicht anders handeln konnten, dann wäre PAH offenkundig keine Voraussetzung für moralische Verantwortung.16 Ganz ähnlich hat bereits John Locke in seinem Essay argumentiert.17 Locke hat vermutlich sowohl für Tetens als auch für Frankfurt mit dem von ihm gegebenen Beispiel die Vorlage geliefert.18 Vor diesem Hintergrund wird man Tetens’ Schluss als Replik verstehen müssen. So nimmt er das Beispiel nur als Aufforderung, nicht voreilig zu urteilen. Denn auch, wenn man sich den eigenen Empfindungen folgend über die zur Verfügung stehende Selbstmacht täuschen kann, wie die Illusion des Opiatkonsumenten eindringlich zeigt, so soll das gerade nicht zu dem Schluss verleiten, den eigenen Empfindungen überhaupt kein Vertrauen zu schenken und die Selbstmacht vollkommen aufzugeben. Vielmehr können diese Empfindungen zuverlässig sein bzw. werden.19 Hierzu muss man aber lernen, sich in seinen Schlüssen ganz auf die Introspektion zu stützen. Was hingegen an der Gültigkeit der Schlüsse zweifeln lässt, sind äußere Umstände oder Leidenschaften der Seele, die ebenfalls in einem gewissen Sinn äußerlich sein sollen.20 Doch darauf will ich später zurückkommen. Sehen wir uns zunächst die besagte Introspektion etwas genauer an. Was zeigt sie uns an? Nach Tetens offenbart sie diverse Fähigkeiten und

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Die Frankfurt selbst ausgehend von John Locke entwickelt hat. Siehe Frankfurt: Freiheit und Selbstbestimmung (s. Anm. 6). John Locke: An Essay concerning Human Understanding, II.21. § 10 (in: The Works of John Locke. Vol. I. With a new Introduction by John Yolton. London 2002), pp. 225-226. Die Anleihen, die Tetens bei Locke nimmt, sind in der ganzen Behandlung der Thematik sowie allgemein in der von Tetens dargelegten Vermögenslehre offenkundig. Zur hier behandelten Frage siehe daher parallel Kapitel 21 des II. Buchs von Lockes Essay (Of Power). Unter seinen Zeitgenossen galt Tetens auch als der deutsche Locke. Indirekt bezieht Tetens sich an anderer Stelle auf das Beispiel von Locke. Siehe PV II, S. 9: »Wie jemand, der in einem Zimmer ohne sein Wissen verschlossen ist, nicht daran zweifelt, daß er nicht herausgehen könne, wenn es ihm beliebe, da er es doch wirklich nicht vermag, und darinnen verbleibet, ohne zu wissen, daß er darinnen verbleiben müsse.« Ebd., S. 16: »Es liegt also nicht in der Natur der Sache, sondern an unsern Uebereilungen, wenn die Empfindungen von der Selbstmacht über uns unächt und falsch sind; sie können zuverlässig seyn und werden.« Ebd., S. 18: »Wir empfinden die allmählig abnehmende Besonnenheit, und fühlen uns auch alsdenn noch, wenn wir schon so weit sind, daß wir uns dem Strome leidenschaftlich übergeben müssen.« Aber auch dann, wenn wir von den Leidenschaften und Begierden mitgerissen werden, gibt es noch immer Augenblicke, an denen wir die Macht über uns zurückgewinnen können, »aber auch an diesen Fällen läßt uns das Selbstgefühl die Stelle bemerken, wo der Widerstand noch möglich war« (ebd.).

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Vermögen, die wir in uns entdecken können.21 Aus den vorgefundenen Vermögen und Fähigkeiten, die Tetens zusammengenommen als Empfindung behandelt, wird ein Allgemeinbegriff abgeleitet, der sowohl Vermögen als auch Fähigkeit und Kraft umfasst. Wie die meisten anderen Allgemeinbegriffe ist auch dieser zuerst unaufgeklärt und bedarf daher einer weiteren Erläuterung. Durch die Introspektion wird es nun möglich sein, Kraft von Schwäche, Fähigkeit von Unfähigkeit, Macht von Ohnmacht genauso klar durch das Gefühl zu unterscheiden wie das Weiße vom Schwarzen mithilfe des Gesichts. Tetens versteht die Introspektion daher analog zur Sinneswahrnehmung, d. h., die Sicherheit, die durch die Wahrnehmung erreicht werden kann, ist seiner Ansicht nach auch durch die Introspektion zu erlangen. Die inneren Empfindungen erschließen uns also innere Vermögen.22 In welchem Verhältnis steht die Freiheit zu diesen Vermögen? Freiheit, so Tetens, findet sich bei allen Arten von Tätigkeiten der Seele. Tätigkeiten gibt es aber so viele, wie es wirkende Kräfte in der Seele gibt. Man muss hiervon bloß die Tätigkeiten abziehen, die gemeinhin als Formen des Erleidens betrachtet werden, so etwa die Wahrnehmung. Spontan sind wir hingegen beim Nachdenken oder Vorstellen. Woran zeigt sich die Spontaneität? Offensichtlich ist es möglich, ganz nach Belieben Vorstellungsreihen zu unterbrechen und von Neuem zu beginnen. Unter den Vorstellungen gibt es wiederum solche, über die wir eine unmittelbare Gewalt haben. In diesen besonderen Vorstellungen sollen die älteren Philosophen die Freiheit der Erkenntniskraft gesehen haben, die wiederum von der Freiheit des Willens distinguiert werden muss. Unter die Freiheit der Erkenntniskraft wurde beispielsweise das Vermögen der Aufmerksamkeit gerechnet. Durch die Aufmerksamkeit wird die Wahrnehmung geleitet. So ist man frei darin, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Gegenstände zu richten, die dann den Wahrnehmenden affizieren.23 Doch über allem steht die Selbstmacht der Seele: Ueberhaupt die Sache betrachtet, so kann man sich allenthalben eine Selbstmacht über sich in der Seele vorstellen, wo sie mit ihrer Selbstthätigkeit arbeitet; sie beschäftige sich als Erkenntnißkraft, sie mache Vorstellungen, sie erwecke sie wieder, sie verbinde sie, sie trenne sie; oder sie bearbeite solche als Denkkraft, sie urtheile, sie überlege, sie schließe; oder endlich sie wirke mit ihrer Aktivität, sie bewege den Körper und ihre Sinnglieder, oder sie modificire sich selbst.24

Die Selbstmacht der Seele reicht also so weit, wie die »Sphäre der thätigen Kraft der Seele«.25 Bei all diesen Tätigkeiten soll sich nun »als möglich vorstellen [lassen: A.H.], daß sie sich in ihrer Gewalt habe«.26 Das bedeutet wiederum nichts anderes, als dass sie jederzeit ihre Tätigkeit unterlassen könne. Eben das soll die Selbstbeobachtung lehren. Doch soll diese Beobachtung nicht zu dem Schluss verleiten, dass die Seele tatsächlich jederzeit frei ist. Hierbei handelt es sich um eine bloße erste Bestimmung. Denn nicht jede Selbsttätigkeit wird, so Tetens, zugleich 21

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Lewis White Beck (Early German Philosophy. Kant and his Predecessors. Bristol 1996 [EA 1969], pp. 416– 417) hat versucht, die unterschiedlichen Vermögen der Seele, von denen Tetens in seinen Werken spricht, in einem Schaubild anzuordnen. Beck zufolge kann man je nach Blickwinkel von einer Zwei-, Drei- oder Viervermögenslehre sprechen. PV II, S. 12–13. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21; Hvhb. im Original. Ebd. Ebd.

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eine freie Selbsttätigkeit sein.27 Selbsttätig wirkt beispielsweise auch eine Feder, die einmal aufgezogen losschnellt oder das Wasser, welches aus der Öffnung an einem Gefäß hervorsprudelt. Von all diesen Tätigkeiten behauptet Tetens, dass sie spontan erfolgen, da sie sich so wie die von dem Stoiker Chrysipp angeführte Walze, die aus eigenem Antrieb einen Abhang hinabrollt,28 aufgrund eines inneren Prinzips ergeben.29 In diesem inneren Prinzip gründet Tetens die Spontaneität, die jedoch nicht mit der freien Selbstmacht identifiziert werden darf.30 Das verlangt nach einer weiteren Differenzierung. So ist nach Tetens zwischen einer unmittelbaren und einer mittelbaren Freiheit zu unterscheiden.31 Manchmal ist nämlich nur der erste Ansatz zu einer bestimmten Aktion eine freie Tätigkeit, alles Nachfolgende hängt von diesem ersten Ansatz ab. Wie etwa ein Mensch, der einen Berg hinunterläuft, frei entschieden haben kann zu laufen, während des Laufes aber nicht jederzeit frei anhalten kann. Dasselbe lässt sich beobachten, wenn man sich dem Fluss der Gedanken hingibt, der einen unter Umständen mit sich reißen kann, sodass ein Gedanke notwendig auf den nächsten zu folgen scheint. Nichtsdestotrotz ist es aber so, dass immer wieder auch Punkte erreicht werden, an denen eine neue, stärkere Intention erfordert wird, um mit dem bereits Begonnenen fortzufahren oder einen neuen Gedanken anzustoßen.32 An diesen Punkten wird die Seele ihrer selbst mächtig die Aufmerksamkeit erneut auf den Gegenstand richten müssen. Man hüte sich aber nach Tetens, hieraus den Schluss zu ziehen, dass die Selbsttätigkeit der Seele allein auf die Aufmerksamkeit einzuschränken wäre. Denn unter dieser Voraussetzung würden alle darauf folgenden Aktionen der Seele unfrei geschehen.33 Zum Kern seiner Freiheitstheorie macht Tetens vielmehr das Vermögen der Seele, unter gleichen Umständen auch anders handeln zu können.34

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Siehe ebd., S. 8. SVF II 974 = Stoicorum Veterum Fragmenta, collegit Ioannes ab Arnim. Vol. I–III. Leipzig 1903–1905. PV II, S. 7f. So haben bereits die Stoiker die Freiheit des Menschen trotz vollkommener kausaler Determination durch die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Ursachen zu erhalten versucht. Siehe ausführlich und mit weiteren Literaturangaben Andree Hahmann: Was ist Willensfreiheit? Alexander von Aphrodisias über das Schicksal. Marburg 2005. PV II, S. 8: »Die bewegende Aktion erfolgte aus einem innern Princip. Da ist also Spontaneität.« Ebd., S. 22. Ebd. Ebd., S. 23f. Ebd., S. 26: »Eine völlige Selbstmacht über sich würde nur da statt finden, wo das gleichzeitige Vermögen zu dem Entgegengesetzten in der Seele eine solche Stärke besitzet, daß es eben so leicht ist, die wirkliche Aktion zu unterlassen, als sie vorzunehmen, oder gleich leicht, sie anders einzurichten, als sie so zu lassen wie sie ist. [...] Es ist eine thätige Kraft da, welche handelt, und zugleich ein Vermögen zu dem Gegentheile.« Siehe auch ebd., S. 125, zitiert in Anm. 11.

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2. Das Vermögen, unter denselben Umständen anders handeln zu können Tetens ist der Ansicht, dass die Seele so viele Vermögen hat, wie es Kraftäußerungen in ihr gibt.35 Jede Tätigkeit der Seele setzt also ein Vermögen voraus. Im weiteren Verlauf der Untersuchung differenziert Tetens diese Vermögen weiter aus. Besonders wichtig ist jedoch festzustellen, dass ein Vermögen nicht unbedingt realisiert werden muss, d. h. jedes Vermögen kann auch bloßes Vermögen bleiben.36 Wie ist das im Einzelnen zu verstehen? Unter der Aktualisierung eines Vermögens versteht Tetens die Anwendung der entsprechenden Kraft. Die Anwendung der Kraft erfordert wiederum Beweggründe. Beweggründe sind laut Tetens innere wie äußere Reize. Aber auch wenn diese Beweggründe gegeben sind, so folgt daraus nicht notwendig die Realisierung des Vermögens. Denn der Mensch hat überdies ein Vermögen, den bewegenden Gründen zu widerstehen. Dieses Vermögen nennt Tetens das Vermögen zur gegenteiligen Handlung.37 Worin besteht dieses besondere Vermögen? Tetens hebt hervor, dass mit Blick auf die menschliche Handlung zwei Vermögen von Bedeutung sind: eines zu tun und eines zu unterlassen.38 Das Vermögen zu unterlassen wird größer sein als das Vermögen zu handeln, da es die Kraft des anderen überwinden muss. Zusammengenommen machen diese beiden Vermögen, so Tetens, die physische Größe der freien Kraft im handelnden Wesen aus und damit das Maß der Freiheit.39 Wenn man also etwas tun will, so wird man sogleich auch das Vermögen zum Gegenteil haben. Folglich ist das Vermögen, anders handeln zu können, ein aktives inneres Vermögen, welches Tetens neben das Vermögen zu handeln stellt. Auf diesen Umstand können wir mit eindeutiger Gewissheit aus dem Bewusstsein schließen, welches den Sachverhalt unter-

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Ebd., S. 104. Dass die Seele mehrere »Grundtriebe« hat, wird schon von Crusius gegen Leibniz und Wolff betont. Siehe Christian August Crusius: Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten wiefern sie den zufälligen entgegen gesetzet werden. Leipzig 1766, S. 919. Beck (Early German Philosophy [s. Anm. 21], p. 414) betont zwar die Nähe von Tetens zu Crusius (und Lambert), er hebt aber zugleich hervor, dass Tetens Crusius explizit ignoriert habe und sich stattdessen den englischen und französischen Empiristen zugewandt habe. Zu Leibniz’ Konzeption einfacher Substanzen siehe Daniel Garber: Leibniz: Body, Substance, Monad. Oxford 2009. Zu Wolff siehe Andree Hahmann: Wolff im Widerspruch zu Leibniz? Die Frage nach dem Inneren der Substanz. In: Herbert Breger, Jürgen Herbst u. Sven Erdner (Hg.): Natur und Subjekt. IX. Internationaler Leibniz-Kongress. Hannover 2011, S. 425–433. PV II, S. 104: »Aber diese Vermögen zu dem Gegentheil von dem, was wir wirklich wollen und vornehmen, diese Vermögen, uns selbst anders zu bestimmen, bleiben nur bloße Vermögen.« Ebd., S. 32: »Aber worinn bestehet das Vermögen zu dem Gegentheile, dies unthätige, todte Vermögen, welches bloßes Vermögen bleibet, und nicht wirket [...]? In anderer Hinsicht hat dieß gleichzeitige Vermögen zum Gegentheile allerdings seine Folgen und Wirkungen in jeder freyen Handlung [...]. Denn in der freyen Handlung ist ein Charakter von der Freyheit, mit der die Ursache gewirket hat, ein Zeichen von der wirklichen Gegenwart des Vermögens, sich auf eine entgegenstehende Art bestimmen zu können.« Siehe ebd., S. 125, zitiert in Anm. 11. Ganz ähnlich hat bereits Crusius argumentiert, indem er gewisse »Grundthätigkeiten« postuliert hat, die unter denselben Umständen geschehen oder auch unterlassen werden können. Siehe Crusius: Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten (s. Anm. 35), S. 148. PV II, S. 26.

Tetens über die Freiheit als Vermögen der Seele

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mauert und bestätigt.40 Ferner erhellt die Erfahrung, dass die Freiheit mit der Vernunft und den höheren Denkkräften in Verbindung steht. Deshalb ist auch das vernunftlose Tier kein frei handelndes Wesen. Tetens erinnert daran, dass die Freiheit deshalb in der wolffischen Tradition notwendig auf der Vernunft beruht.41 Wie sieht Tetens das Verhältnis von Freiheit und Vernunft? Nach Wolff kann sich das vernünftige Wesen durch seine klaren und deutlichen Vorstellungen zur Handlung bestimmen. Das macht für Wolff die Freiheit des Menschen aus.42 Demzufolge beruht Freiheit auf Einsicht und Vernunft. Dagegen wendet Tetens ein, dass nicht notwendig zur Freiheit erforderlich ist, dass es eine deutliche Vorstellung als Beweggrund zur Handlung gibt. Denn häufig wird man von verwirrten Bildern heimgesucht und erhält gleichwohl die Herrschaft über sich. Man fühlt sein Vermögen, anders handeln zu können. Also handelt man auch dort frei, wo man nicht nach klaren und deutlichen Vorstellungen handelt.43 Trotzdem bestreitet Tetens nicht die Verbindung, die zwischen Vernunft und Freiheit zu sehen ist.44 Denn die selbsttätige Kraft besteht darin, den guten Gedanken zu gebrauchen. Notwendig ist hierfür nur, dass Besinnung und vernünftige Überlegung erhalten bleiben.45 Tetens nähert sich der wolffischen Position mit dem Zugeständnis an, dass man sich nur dann, wenn man ein Bewusstsein von einer Sache hat, d.h., völlig klare Vorstellung von dieser hat, auch in deutlicher Rücksicht auf das Gegenteil bestimmen könne. Denn unter dieser Voraussetzung steht zweifelsfrei fest, dass man das Vermögen hat, das Gegenteil genauso wie die Handlung selbst auszuführen.46 Wenn die Seele sich aber während der ganzen Aktion aufgrund eines klaren Bewusstseins ihrer Wirksamkeit in ihrer Gewalt hat, dann kann sie die Vorstellung der entgegengesetzten Handlung bewahren und damit den durch die Vorstellung bewirkten Druck auf das Handlungsvermögen aufrechterhalten. Eben das versteht Tetens als die fortdauernde Gegenwart des Geistes. Denn anders als eine einmal gespannte und dann ihrer Spontaneität überlassenen Feder kann die Seele über den gan40 41

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Zur besonderen Bedeutung des Bewusstseins der Freiheit siehe oben, Anm. 13. PV II, S. 33. Siehe Christian Wolff: Vernünftige Gedancken von Gott, der Welt, und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik). Halle 1747, § 520: »Da nun die Einsicht in den Zusammenhang der Dinge zeiget, was gut und böse, was besser und schlimmer sey [...]; so ist die Vernunft der Grund der Freyheit [...].« Beck (Early German Philosophy [s. Anm. 21], p. 271) zufolge ist das eine direkte Folge aus der »one-faculty theory« der Seele, die Wolff von Leibniz übernommen hat. Für beide ist das Vermögen der Seele als Monade die vis repraesentativa, aus der sich alle Aktivitäten der Seele ableiten lassen. Wolff (Deutsche Metaphysik [s. Anm. 41], § 519) definiert Freiheit wie folgt: »Wenn wir dieses alles zusammen nehmen; so erhellet, daß die Freyheit nichts anders ist, als das Vermögen der Seele durch eigenen Willkühr aus zweyen gleich möglichen Dingen dasjenige zu wehlen, was ihr am meisten gefället [...].« PV II, S. 37: »Das Gemüth wird oftmals im Gewühl der Geschäffte von verwirrten Bildern sehr lebhaft angegriffen, und man bestimmt sich nach diesen unentwickelten Vorstellungen, und behält demunerachtet die Herrschaft über sich, fühlt sein Vermögen anders zu handeln, und handelt mit Freyheit.« Crusius erhebt als Voluntarist gegen Wolff den Vorwurf, den Willen nichts als selbstständiges Vermögen zu bestimmen. Das Wesen des Willens besteht nach Crusius in der Freiheit, d. h. der Fähigkeit, sich willkürlich so oder anders zu bestimmen. Siehe Max Wundt: Kant als Metaphysiker – Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert. Hildesheim, Zürich, New York 1984, S. 62–64. PV II, S. 38. Ebd., S. 107f.

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zen Zeitraum der Handlung hinweg auch die Vorstellung von der gegenteiligen Handlung bewahren und sie sich daher jederzeit präsent machen. Hierin erkennt Tetens den besonderen Charakter der menschlichen Seele und das, was ihre Selbstmacht auszeichnet.47 Die Selbstmacht und die daran geknüpfte Selbstbestimmung kann beim Menschen also in unterschiedlichen Graden vorhanden sein, und zwar den unterschiedlichen Graden der Klarheit bzw. der Bewusstheit entsprechend.48 Eine direkte Folge daraus ist, dass freie Handlungen einem vernünftigen Wesen in höherem Maße zuzurechnen sind als die unfreien Handlungen einem unvernünftigen Wesen, da nämlich frei handelnde Wesen in einem höheren Sinn Urheber ihrer Handlungen sind. Sodann ist der freie Mensch Ursache seiner Handlung in einem doppelten Sinn, und zwar »einmal darum, weil e[r] sie gethan hat: und dann zweytens darum, weil e[r] sie nicht unterlassen hat, wozu e[r] ein Vermögen besaß«.49

3. Zurechnung und zureichender Grund Haben die freien Handlungen einen zureichenden Grund? Tetens unterstreicht, dass jede Handlung, auch die freie, teils in der Seele, teils in der Beziehung auf das äußere Objekt ihren völlig zureichenden Grund hat. Dieser bestimmt eindeutig, warum die Handlung auf solche Art und nicht anders zustande gekommen ist. Dass es sich so verhalten muss, wird seiner Ansicht nach durch die Erfahrung hinreichend gezeigt. Denn es soll offenkundig sein, dass die Bestimmung der Kraft der Seele einen vorausgehenden zureichenden Grund verlangt. Die Feststellung, dass jede Handlung einen zureichenden Grund hat, ist nach Tetens somit ein psychologischer Erfahrungssatz und kein metaphysischer Grundsatz.50 Gleichwohl soll der Satz so stark sein, dass man keine Bedenken haben wird, ihn für einen allgemeinen Satz zu nehmen. Daraus folgt aber auch, dass es zum Beweis desselben nicht nötig sein wird, das Prinzip vom zureichenden Grund heranzuziehen, welches seinerseits die Erfahrung übersteigt. Wer dem Satz daher widerspricht, der stellt sich gegen die evidente Erfahrung. Also muss der Indeterminist die Last auf sich nehmen, nachzuweisen, dass es einen solchen bestimmenden Grund nicht gibt.51 Was bestimmt die Handlung? Der bestimmende Grund ist oft nur, was uns im Augenblick der Bestimmung zuerst in den Sinn kommt. In den meisten Fällen sind sowohl ein innerer als auch ein äußerer Grund zusammen vorhanden; häufig jedoch gibt es nur einen äußeren Grund dafür, dass man sich so und nicht anders verhält.52 Tetens fragt, was es bedeuten soll, unabhängig und aus voller Eigenmacht zu handeln, obgleich zur Realisierung der selbsttätigen Kraft ein 47 48 49 50

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Ebd., S. 121. Ebd., S. 113. Ebd., S. 125. Ebd., S. 42: »Es giebt keinen psychologischen Erfahrungssatz, der eine stärkere Induktion für sich habe, als dieser [dass alle Handlungen durch die Seele und äußere Umstände bestimmt werden; A. H.]. So lange man nur bey der Erfahrung allein stehen bleibt, und die Spekulationen aus Begriffen bey Seite setzet, wird man kein Bedenken haben, ihn für einen allgemeinen Satz zu erkennen. Es ist unnöthig, das metaphysische Princip vom zureichenden Grunde hieher zu ziehen.« Ebd., S. 41. Ebd., S. 45.

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äußerer Reiz erforderlich ist.53 Er differenziert hierbei zwischen den äußeren Umständen, die als notwendige Erfordernisse für das Zustandekommen der Handlung hinzutreten, sowie der selbsttätigen inneren Kraft der Seele. Je mehr sich eine Handlung auf die innere Kraft zurückführen lässt, d. h., je weniger sie von den äußeren Umständen abhängt, desto selbsttätiger geschieht sie. Die Selbsttätigkeit als solche ist daher die Unabhängigkeit eines tätigen Wesens in seinem Wirken von den Kräften und Aktionen anderer äußerer Dinge.54 Tetens illustriert seinen Gedanken am Beispiel einer Feder. Auch hier sind unterschiedliche Kräfte an der Hervorbringung einer Aktion beteiligt. Zum einen die Bewegung des Körpers, der auf eine Feder stößt und sie zusammendrückt. Die Bewegung wird aufgehoben und eine neue Bewegung in derselben Materie wird hervorgebracht. Beides sollen selbsttätige Aktionen oder Bewegungen sein.55 Eine vollständige Selbsttätigkeit ist dann gegeben, wenn die ganze Aktion »aus der Kraft der wirkenden Substanz hervorgehet«.56 Die selbsttätige Kraft der Feder wird auch nicht dadurch beeinträchtigt, dass sie von einer äußeren Kraft bzw. einem äußeren Körper hervorgerufen worden ist, der die Feder seinerseits angestoßen und gespannt hat. Denn Tetens unterscheidet zwei Formen der Selbsttätigkeit: die Wirksamkeit aus eigener Macht und die Wirksamkeit aus fremder Macht.57 Wichtig ist nur, dass die Tätigkeit ihre Stärke und Richtung ganz aus dem Inneren des handelnden Wesens schöpft, d. h., dass sie darin ihren ganzen zureichenden Grund hat. Damit hebt Tetens die Bedeutung der Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Gründen zur Bestimmung reiner Selbsttätigkeit hervor.58 Er leugnet also nicht, dass es einen zureichenden Grund gibt, der die Handlung vollständig determiniert hervorbringt. Gleichwohl soll es eine absolute Selbsttätigkeit geben, die sich in erster Linie daran zeigt, dass der zureichende Grund ein innerer ist.59 Also trotz vollkommener Bestimmung wird man selbsttätig aufgrund einer inneren Verursachung sein. Hängt der zureichende Grund der erfolgten Aktion ausschließlich vom Vermögen der tätigen Substanz ab, so wird das Wesen vollkommen unabhängig und nur aus Eigenmacht handeln. Denn in diesem Fall ist der zureichende Grund der Handlung zugleich das innere Prinzip des Handelnden.60

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Ebd., S. 46. Ebd., S. 47: »Je mehr alle Thätigkeit aus dem Innern der thätigen Kraft entspringt, und je mehr alle umgebende und mit ihr verbundene Gegenstände bloß leidentlich sich dabey verhalten, desto mehr selbstthätig ist die Aktion in Hinsicht des Dinges, dem sie zugeschrieben wird.« Ebd., S. 47f. Ebd., S. 49. Der enge Zusammenhang, der zwischen Kraft und Substanz gesehen wurde, spiegelt sich etwa in Leibniz’ Definition der Substanz: »La substance est un être capable d’action.« Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Schriften. Hg. von Carl J. Gerhardt. 7 Bde. Berlin 1875–1890, hier Bd. VI, S. 598; siehe noch Kant: KrV A204/B250: »Wo Handlung, mithin Tätigkeit und Kraft ist, da ist auch Substanz [...].« PV II, S. 49. Siehe zum stoischen Ursprung dieser Unterscheidung Anm. 28. Eine Freiheit, die nur auf der inneren Verursachung beruht, wird von Kant despektierlich die Freiheit eines Bratenwenders genannt. Siehe Kant: Kritik der praktischen Vernunft. In: AA V, S. 97. PV II, S. 53. Ebd., S. 54: »Der innere zureichende Grund der erfolgenden Aktion kann aber so in der thätigen Substanz vorhanden seyn, daß er ganz allein von dieser selbst, ihrer Natur, oder ihren zwar erworbenen aber beständig fortdaurenden Vermögen abhänget, und daß, um sich auf eine solche Art zu äußern, es durchaus keiner neuen Modifikation von einem andern Dinge, und keines äußern Einflusses einer fremden Ursache,

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Selbsttätig ist das Wesen aber auch dann, wenn es nicht aufgrund eines inneren Prinzips wirksam wird, sondern von einem fremden Wesen abhängt. Denn meist hängt der innere zureichende Grund zum Teil von der Natur oder dem Wesen der Substanz ab und zum anderen Teil von äußeren Ursachen.61 Wichtig ist, dass es sich bei den äußeren Ursachen bloß um den Anlass handelt und der eigentliche zureichende Grund im Inneren ist. Denn unter dieser Voraussetzung hat man es mit einer selbsttätigen Kraft zu tun, die zur Erweckung nur einen äußeren Anreiz nötig hat. Zusammenfassend muss man also sagen: je weniger von dem inneren zureichenden Grund der Aktion einer Substanz von äußeren Ursachen abhängt, desto größer ist auch die Eigenmacht der Substanz.62 Dass man aber nach seiner Argumentation selbst dem Wasser, welches in einem Gefäß eingeschlossen seinen Weg nach draußen sucht, Selbsttätigkeit zusprechen muss, versteht Tetens nicht als reductio ad absurdum, sondern er zieht vielmehr den gegenteiligen Schluss: Da wir sogar bey Körpern Beyspiele von Handlungen finden, die aus voller Eigenmacht entstehen, so haben wir doch wohl noch weniger Ursache zu vermuthen, daß unser Selbstgefühl uns betrüge, wenn wir dergleichen auch bey unserer Seele gewahrnehmen.63

Auch zu den in ihr entstehenden Leidenschaften, die Tetens zu den passiven Affektionen rechnet, trägt die Seele aktiv bei.64 Entscheidend ist für Tetens allein, dass die zureichenden vorausgehenden Gründe die Handlung nicht erzwungen, sondern den Menschen hierzu lediglich geneigt gemacht haben.65

4. Zufall und Notwendigkeit Wie kann es freie Ursachen geben und in ihren Kraftäußerungen und Handlungen eine Zufälligkeit stattfinden, wenn doch gelten soll, dass Ursache und Wirkung notwendig verknüpft sind? Wie kann die Wirkung durch ihre vorhergehenden Ursachen und Umstände im Voraus und in jeder Hinsicht vollständig bestimmt sein und zugleich das Prinzip alternativer Handlungsmöglichkeiten aufrechterhalten werden? Das diesen Fragen zugrunde liegende Problem beruht, so Tetens, auf einer grundsätzlichen Verwirrung in den Begriffen, die er selbst in seinen abschließenden

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mehr bedarf. In diesem Fall handelt so ein Wesen völlig unabhängig, und allein aus Eigenmacht, und ist ein selbstthätiges Wesen [...].« Ebd., S. 56. Ebd., S. 57. Ebd., S. 62. Siehe ebd., S. 68. Auch wenn das Vermögen der Seele von außen erweckt werden muss, beruht die Realisierung auf einem inneren Prinzip. Ebd., S. 71; S. 93: »Nur die äußern Umstände führen auf jenes. Aber diese Umstände enthalten auch von nichts mehr den bestimmenden Grund in sich, als davon, daß die Kraft auf einen bestimmten Gegenstand angewendet wird, und nicht auf einen andern. Sie geben keine innere Bestimmungsgründe her zu der Art der Handlung; und werden nicht zu Bestandtheilen des ganzen innern zureichenden Grundes der Aktion; keine Ergänzung zu diesem.« Ebd., S. 62. Auf die Einzelheiten der Bestimmung des inneren Prinzips, die Tetens detailliert beschreibt und die beispielsweise das Besinnen und das Gefühl des Gefallens, die der Kraftanspannung vorausgehen oder die Reproduktionsmechanismen der Vorstellungskraft einschließt, möchte ich nicht weiter eingehen. Siehe hierzu PV II, S. 91–96.

Tetens über die Freiheit als Vermögen der Seele

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metaphysischen Spekulationen über Zufälligkeit und Notwendigkeit zu beheben sucht. Nach Tetens wäre es um die ganze philosophische Debatte der Willenfreiheit viel besser bestellt gewesen, wenn man ganz auf Begriffe wie ›Zufall‹ und ›Notwendigkeit‹ verzichtet hätte.66 Aufgrund der Bedeutung, die ihnen jedoch in der Entscheidung über die Möglichkeit der freien Selbstbestimmung zukommt, sieht Tetens sich genötigt, die wahre, nicht verwirrte Bedeutung kurz zu umreißen. Dass jede hervorgebrachte Wirkung sowie jede Sache und entstehende Handlung ihren völlig bestimmenden zureichenden Grund haben, von dem die Entstehung abhängt, ist nach Tetens ein Grundsatz, dem auch er zustimmt.67 Doch besteht er auf einer Modifikation dieses Satzes: Laß die vollständig bestimmende Ursache von einer Wirkung vorhanden seyn, so ist es zwar ein Axiom: ›Wenn jene Ursache vorhanden ist, so erfolget auch die Wirkung‹ [...]; aber es stehet eine Einschränkung dabey, oder sie muß dabey stehen, nämlich diese: daferne kein Hindernis im Wege lieget.68

Damit möchte Tetens darauf hinweisen, dass es nicht ausreicht, einen zureichenden Grund anzunehmen, von dem die Wirkung abhängt, sondern zugleich muss auch die Abwesenheit möglicher Hindernisse angenommen werden, die dazwischen treten könnten, und auf diese Weise die Wirkung des zureichenden Grundes verhindern.69 Aus dem Umstand also, dass die Entfaltung der Wirkung verhindert werden kann, zieht Tetens den Schluss, dass die Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung eine bloß zufällige Verknüpfung ist.70 Die Ursache zieht in diesen Beyspielen nicht nur die Wirkung nicht nothwendig nach sich, wenn sie zuerst vorhanden ist, sondern auch, wenn sie gleich unverändert bestehet und so bleibet wie sie ist. Die Ursache selbst und das Gegentheil von ihrer Wirkung können also zugleich, in eben dem Zeitmoment, mit einander bestehen.71

Folgender Einwand liegt auf der Hand und wird von Tetens selbst thematisiert: Man wird wohl kaum von einem zureichenden Grund sprechen können, wenn nicht auch die äußeren Bedingungen (d. h. auch die Abwesenheit von Hindernissen) berücksichtigt werden.72 Tetens versucht, diesem Einwand zu entgehen, indem er zwischen positiven und negativen Umständen unterscheidet. Positiv soll all das sein, was im zureichenden Grund selbst enthalten ist. Abwesenheit kann jedoch nicht positiv bestimmt werden. Das sind negative Bestimmungen, die folglich den positiven Gehalt des Grundes nicht betreffen. Tetens gesteht selbstverständlich ein, 66

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Ebd., S. 146. Tetens kritisiert Hume an dieser Stelle auch für seine Definition des Notwendigen. »Denn Nothwendig ist mehr, als beständig auf einerley Art seyn« (ebd.). Zu Tetens’ Kritik an Hume siehe auch Manfred Kuehn: Hume and Tetens. In: Hume Studies 15.2 (1989), pp. 365–376; zu Tetens’ Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Notwendigkeit siehe Manfred Kuehn: Scottish Common Sense in Germany, 1768–1800. A Contribution to the History of Critical Philosophy. Kingston, Montreal 1987, pp. 133–135 sowie die Beiträge von Nele Schneidereit und Giuseppe Motta in diesem Band. PV II, S. 131. Ebd., S. 132. Ebd., S. 132f. Siehe hierzu Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 69), § 517: »Hätten die BewegungsGründe die Sache nothwendig gemacht; so wäre es nicht möglich gewesen, daß etwas hätte dazwischen kommen können [...].« PV II, S. 135. Ebd., S. 135f. Ebd., S. 136.

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dass der zureichende Grund zusammen mit der Abwesenheit äußerer Hindernisse die Wirkung mit Notwendigkeit herbeiführen wird.73 Trotzdem wird damit nicht die Möglichkeit des Zufalls aufgehoben. Denn zufällig soll eine Wirkung oder die Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung sein, wenn alle positiven Umstände vorhanden sind und trotzdem ein neues Hindernis dazwischentreten kann, was das Eintreten der Wirkung aufhält bzw. verhindert.74 Den Zufall andererseits unterscheidet Tetens in eine innere und äußere Zufälligkeit. Eine äußere Zufälligkeit soll dann vorliegen, wenn von außen etwas dazwischentritt, was die Ursache in ihrem Wirken behindert. Wir haben gesehen, dass bei selbsttätigen Aktionen von freien Wesen durchaus etwas dazwischentreten kann, was die Aktion unterbricht oder verhindert. Hierbei muss es sich aber nicht um eine äußere Zufälligkeit handeln. Denn Tetens spricht den Menschen wie gesagt ein Vermögen zum Gegenteil zu, d. h. ein Vermögen, aufgrunddessen die Handlung selbst unterlassen werden kann. Noch einmal: Ein menschliches Vermögen kann den notwendigen Ablauf unterbrechen.75 Die Anwendung des Vermögens ist eine innere Kraft, die die Handlung aussetzt oder verhindert. Hierbei handelt es sich, so Tetens, um eine innere Zufälligkeit. Diese innere Zufälligkeit kann durch keine Gewalt von außen aufgehoben werden. Eine freie Handlung kann also an ihrer Realisierung gehindert werden, indem ein Hindernis von außen oder innen hinzutritt. In der Auflösung dieser Frage erkennt Tetens den Beweis dafür, dass Vernunft und Erfahrung miteinander in Einklang stehen und keinesfalls, wie es zunächst den Anschein haben mag, einander widersprechen. So zeigt uns die innere Erfahrung, dass wir frei sind, was die Vernunft wiederum durch Aufklärung der Allgemeinbegriffe beweist, solange sie sich nur auf die unmittelbare innere Erfahrung beruft. Denn diese kann den oben festgestellten Widerstreit zwischen Zurechnung und Zuschreibung auflösen. Dass man sich nämlich die Handlung eindeutig zuschreiben kann, ist eine Folge der zureichenden inneren Bestimmung derselben. Diese innere Bestimmung oder innere Spontaneität macht zusammen mit dem Vermögen zum Gegenteil, aufgrund dessen man auch anders handeln kann, den Grund der Zurechenbarkeit aus. Letzteres ist nun vom spekulativen Standpunkt der Vernunft aus betrachtet eine innere Zufälligkeit, die scharf vom blinden Zufall des Indeterministen unterschieden werden muss. Denn anders als der blinde Zufall stellt die innere Zufälligkeit keine Gefahr für die Zuschreibung der Handlung dar, da der innere zureichende Grund hierdurch nicht aufgehoben wird.76

5. Kant über Tetens Schauen wir uns nun exemplarisch für die Reaktion der Zeitgenossen auf den von Tetens unternommenen Versuch über die Freiheit des Willens das von Kant über Tetens gefällte Urteil an. Dass Tetens für die Entwicklung der kritischen Philosophie einige Bedeutung zukommt,

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Ebd., S. 137. Ebd., S. 137f. PV II, S. 142f. Ebd., S. 144f.

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wird von Kant selbst in Briefen und Reflexionen bekundet.77 Kant findet also durchaus lobende Worte für unseren Autor. Vor allem Tetens’ Werk über die menschliche Natur gewinnt seinen Beifall.78 Tetens wird von Kant oft zusammen mit Garve und Lambert für ihre Verdienste um die Philosophie gepriesen. Diese positive Einschätzung ist auf der Folie der oben ausgeführten Behandlung des Problems der Willensfreiheit jedoch nur schwer nachvollziehbar. Am ehesten lässt sich dies wohl aus der gemeinsamen Abneigung gegen die wolffische Schulphilosophie verstehen. In dieser Hinsicht scheint Tetens – aber auch wegen seiner Vermögenslehre – neben den englischen Empiristen auch der Philosophie von Crusius nahe zu stehen.79 Denn genauso wie Tetens hebt auch Crusius in seiner Kritik an der wolffischen Philosophie die nicht hintergehbaren Vermögen der Seele hervor.80 Die kantische Kritik an Wolff ist von anderer Art. Denn Kant zufolge hat Wolff genauso wenig wie Leibniz gesehen, dass die Anschauung eine eigenständige Erkenntnisquelle ist. Dieser Fehler hat wesentlich zu seinem Vernunftdogmatismus beigetragen, den Kant in der Dialektik der Kritik der reinen Vernunft kritisch revidiert.81 Von besonderer Bedeutung ist hierbei, wie wir bereits angedeutet haben, die Auflösung der dritten, sogenannten Freiheitsantinomie. Die Auflösung der Frage, wie Freiheit in den Handlungen und Notwendigkeit in der Natur miteinander vereinbar sind, wird von Kant selbst als Hauptmotiv der kritischen Philosophie präsentiert. Tetens rügt Wolff für die Identifikation von Vernunft und Freiheit. Derselbe Vorwurf findet sich der Sache nach auch bei Kant. Vor allem ab der Kritik der praktischen Vernunft hebt Kant hervor, dass man von der Spontaneität des Denkens nicht auf die Freiheit schließen könne.82 Dessen ungeachtet lobt Kant Wolff wegen seiner Gründlichkeit als »größte[n] unter allen dogmatischen Philosophen«,83 der durch sein Beispiel »der Urheber des bisher noch nicht erloschenen Geistes der Gründlichkeit in Deutschland wurde«.84 An Gründlichkeit lässt jedoch die Arbeit von Tetens nach Kants Urteil zu wünschen übrig. Tetens legt zwar besonderes Gewicht auf das, was er unter Anschauung versteht – vor allem die Introspektion ist, wie wir gesehen haben, für seine philosophische Methode bedeutsam –, doch schießt er weit über das Ziel hinaus, indem er der inneren Anschauung eine zu hohe Begründungslast aufbürdet. Kant kontrastiert seine eigene philosophische Methode mit derjenigen Tetens, der seiner Meinung nach nur subjektiv und empiristisch verfährt. Kant selbst verfolgt hingegen eine objektive und transzendentale Methode.85 Die andersgeartete Methode führt infolgedessen zu ganz unterschiedli77 78 79 80 81 82

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Zur Bestimmung des Einflusses von Tetens auf Kant (vor allem im Hinblick auf Kants HumeLektüre) siehe Kuehn: Hume and Tetens (s. Anm. 66), pp. 373–374. Kant: Briefwechsel 1778. In: AA X, S. 232. Auch wenn Tetens, wie Beck (Early German Philosophy [s. Anm. 21], p. 414) bemerkt, Crusius’ Philosophie zu ignorieren versucht. Siehe oben, Anm. 35. Siehe oben, Anm. 35. Zum Projekt der kritischen Revision der Metaphysik siehe Hahmann: Freiheit und Ding an sich (s. Anm. 9), S. 215–234. Zur Entwicklung der kantischen Position in dieser Frage siehe Bernd Ludwig: Die »consequente Denkungsart der speculativen Kritik«. Kants radikale Umgestaltung seiner Freiheitslehre im Jahre 1786 und die Folgen für die Kritische Philosophie als Ganze. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58.4 (2010), S. 595–628. Kant: KrV B XXXVI. Ebd. Siehe eine Reflexion Kants aus den Jahren 1778–1780: 4901. υ2-3. M XVI. E II 230, AA XVIII, S. 23; sowie Kant: AA X, Briefwechsel 1783, S. 346.

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Andree Hahmann

chen Ergebnissen und einer völlig verschiedenen Einschätzung der Freiheit. Denn Kant zufolge ist das Problem der Vereinbarkeit von Freiheit und Naturnotwendigkeit nicht durch Introspektion und Entwirrung der Begriffe auflösbar. Tetens eigener Versuch stiftet jedenfalls mehr Verwirrung, als dass er zur Klärung des Problems beiträgt, oder wie Kant die Sache sieht: Tetens [...] hat viel scharfsinniges gesagt; aber er hat ohne Zweifel so wie er schrieb es auch drucken zum wenigsten stehen lassen. Es kömmt mir vor: daß, da er seinen langen Versuch über die Freyheit im zweyten Bande schrieb, er immer hoffete er würde vermittelst einiger Ideen die er im unsicheren Umrisse sich entworfen hatte, sich wohl aus diesem Labyrinthe herausfinden. Nachdem er sich und seinen Leser ermüdet hatte blieb die Sache doch so liegen wie er sie gefunden hatte und er räth dem Leser an seine Empfindung zu befragen [...].86

6. Ergebnis Ich fasse zusammen: Ich habe den Ausgangspunkt der Untersuchung in moderner Terminologie beschrieben als die Frage nach der Vereinbarkeit von Zurechnung und Zuschreibung. Zurechnung setzt das Prinzip alternativer Handlungsmöglichkeiten voraus, Zuschreibung hingegen einen zureichenden Grund für die Handlung. Auch wenn Tetens nicht mit dieser Terminologie vertraut gewesen sein sollte, so findet sich doch bei ihm der Sache nach eine Behandlung des dahinter stehenden Problems. Sein Lösungsversuch erscheint allerdings aus heutiger Sicht kurios. Neben der unter Kompatibilisten gängigen und seit der Antike verfolgten Strategie, die Selbstmacht des Handelnden grundsätzlich auf eine Form der inneren Verursachung zurückzuführen, setzt Tetens ein sonderbares Vermögen ein, unter denselben Umständen auch anders handeln zu können. Die Aktualisierung dieses Vermögens ist wiederum abhängig von inneren wie äußeren Ursachen oder Beweggründen. Bei vernünftigen Wesen hat die Vernunft als aktives Reflexionsvermögen Einfluss auf die Auswahl des Beweggrundes. Die Folge ist, dass Freiheit verstanden als Selbsttätigkeit in verschiedenen Graden vorhanden sein kann, abhängig davon, ob es sich bei den Beweggründen um innere oder äußere handelt. Wie ist aber nun das Vermögen zum Gegenteil mit der Beobachtung vereinbar, dass alle Handlungen einen zureichenden vorausgehenden Grund haben? Als Antwort hierauf bietet Tetens seine Theorie der inneren und äußeren Zufälligkeit an, wonach die Verhinderung der Handlung aufgrund der Aktualisierung des Vermögens zum Gegenteil als eine innere Zufälligkeit verstanden wird. Gestehen wir Tetens die Existenz dieses geheimnisvollen Vermögens einmal zu, so kann seine Theorie jedoch aufgrund der eigenen Voraussetzungen nicht überzeugen, da auch die Aktualisierung dieses Vermögens wiederum notwendige Gründe, und zwar innere wie äußere, voraussetzt, die zusammengenommen die Handlung notwendig hervorrufen. Der Satz des zureichenden Grundes gilt zuletzt doch uneingeschränkt und eine jede Handlung wird mit Notwendigkeit so und nicht anders geschehen müssen. Denn auch das Vermögen zum Gegenteil kann das Prinzip alternativer Handlungsmöglichkeiten (PAH) nicht in seiner starken Form, d. h., zu derselben Zeit anders handeln zu können, sondern nur abgeschwächt (und zwar in zeitlicher Folge) bewahren. Dadurch ist aber nichts gegenüber anderen kompatibilistischen Positionen, die ohne 86

Kant: Briefwechsel 1778. In: AA X, S. 232.

Tetens über die Freiheit als Vermögen der Seele

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das mysteriöse Vermögen zum Gegenteil auskommen, gewonnen. Zudem trifft Tetens damit nicht den Kern der Sache. Es kommt nämlich nicht darauf an, anders handeln zu können, wenn die Umstände anders gewesen wären. Gemeint sind vielmehr die Verhältnisse, wie sie nun einmal waren. Und genau hier liegt, wie 200 Jahre nach Tetens John Langshaw Austin konstatieren wird, der Hase im Pfeffer.87

87

John L. Austin: »Falls« und »Können«. In: Pothast (Hg.): Freies Handeln und Determinismus (s. Anm. 6), S. 198: »Betrachten wir den Fall, wo ich beim Golf einen sehr einfachen Schlag nicht ins Loch schieße und mich deshalb ohrfeigen könnte, weil ich ihn ins Loch hätte schlagen können. Es liegt nicht daran, daß ich getroffen hätte, falls ich’s versucht hätte – ich habe es ja versucht und es nicht geschafft. Es kommt auch nicht darauf an, daß ich getroffen hätte, wenn die Umstände anders gewesen wären. Das hätte natürlich der Fall sein können, aber ich spreche über die Verhältnisse, wie sie nun einmal waren, und behaupte, daß ich hätte treffen können. Da liegt der Hase im Pfeffer. ›Diesmal kann ich ihn ins Loch schlagen‹ bedeutet auch nicht, daß ich diesmal treffen werde, falls ich es versuche oder falls etwas anderes der Fall ist. Es kann nämlich sein, daß ich es versuche und wieder nicht treffe, trotzdem brauche ich nicht davon überzeugt zu sein, daß ich es nicht hätte schaffen können. Tatsächlich können weitere Experimente meine Ansicht bestätigen, daß ich es hätte schaffen können, obgleich es mir nicht gelungen ist. Aber wenn ich mich etwa besonders angestrengt und nicht getroffen hätte, dann muss es doch gewiss etwas gegeben haben, das mein Versagen bewirkt und es mir unmöglich gemacht hat, zu treffen. Also so, daß ich nicht hätte treffen können. Nun ja, vielleicht stimmen wir diesem Argument aufgrund eines modernen Wissenschaftsglaubens, wonach es für alles eine Erklärung gibt, zu, aber ein solcher Glaube steht nicht im Einklang mit der traditionellen Überzeugung, die im Wort können verkörpert ist. Ihnen zufolge ist menschliches Vermögen oder Macht oder Können wesentlich der Möglichkeit ausgesetzt, gelegentlich und ohne besonderen Grund erfolglos zu bleiben (oder sind Pech und schlechte Form manchmal Gründe?«

III. ANTHROPOLOGIE, MORAL, RECHT UND GESCHICHTE

FALK WUNDERLICH

Eine »dritte Mittelidee von der Beschaffenheit des Seelenwesens« Johann Nikolaus Tetens und die Annäherung von Influxus physicus und Harmonismus1

Neuzeitliche Theorien des physischen Einflusses von Körper und Seele (Influxus physicus) genießen kein besonders hohes philosophisches Ansehen. Zu offenkundig scheinen ihre Probleme zu sein: Da sie auf dem Substanzdualismus basieren, unterstellen sie, dass Körper und Seele radikal verschieden sind, was sie Frage aufwirft, wie diese dann überhaupt interagieren können. Nimmt man an, dass die materielle Welt kausal geschlossen ist, so fragt sich, wie immaterielle Agentien dennoch einen Einfluss auf körperliche Dinge ausüben können. Auch scheinen Influxus-Theorien zu postulieren, dass das Prinzip der Energieerhaltung nicht gilt, denn wenn Seelen Körper in Bewegung setzen können, dann muss es möglich sein, dass der Welt zusätzliche Energie zugeführt wird.2 Umso überraschender nimmt es sich da aus, dass Johann Nikolaus Tetens im zentralen »Dreyzehnten Versuch« seiner Philosophischen Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung behauptet, die Influxus-Lehre stelle den zu seiner Zeit allgemein anerkannten Theoriestandard dar: Da nun der Instinkt den Philosophen sowohl als den Nichtphilosophen unaufhörlich anlieget, sich für diese Meinung [die Influxus-Lehre, FW] zu erklären, und die Vernunft nach der schärffsten Auflösung der Begriffe nichts dagegen zu sagen hat, sondern vielmehr beystimmet, so ist es endlich unter den neuern Philosophen so gut als ausgemacht angenommen, daß sie die wahre Vorstellung von der Union sey.3

Haben wir es hier also mit philosophischer Regression zu tun? Sind die Einsichten so subtiler Entwürfe wie des Okkasionalismus Malebranches oder der prästabilierten Harmonie Leibniz’, 1

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3

Der vorliegende Beitrag ist Teil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts »Denkende Materie versus Influxus physicus« (WU 695/1-1). Ich danke der DFG für die großzügige Förderung, ebenso wie für die Unterstützung durch das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (Berlin). Erik Eschmann danke ich für seine Hilfe bei der Überarbeitung des Beitrages. Diese Auffassung der meist Descartes zugeschriebenen Influxus-Theorie ist vor allem in Einführungen in die gegenwärtige Philosophie des Geistes weit verbreitet, vgl. etwa Ansgar Beckermann: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes. Berlin 22000, S. 43–56; John Heil: Philosophy of Mind. A contemporary introduction. New York, London 22004, pp. 20–26; Sven Walter: Mentale Verursachung. Eine Einführung. Paderborn 2006, S. 22–26. Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Leipzig 1777 [im Folgenden zitiert als: PV Band, Seitenzahl (Versuch, Kapitel, Abschnitt)], hier Bd. 2, S. 217.

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die die gravierenden Probleme der Influxus-Theorien minutiös vorgeführt haben, in den 1770er Jahren in Vergessenheit geraten? Der vorliegende Beitrag wird zu dem Ergebnis gelangen, dass es sich mitnichten so verhält. Tetens’ Absicht ist es, so wird dieser Beitrag zeigen, Elemente aus Leibniz’ Lehre von der prästabilierten Harmonie in seine eigene Influxus-Theorie zu integrieren und diese zugleich als »dritte Mittelidee« gegenüber anderen, einseitigeren Influxus-Varianten zu profilieren. Nach einem kurzen Überblick über die neuzeitliche und gegenwärtige Diskussion der Influxus-Theorien (Kapitel 1) werden Tetens’ Begründung seiner Influxus-Theorie (Kapitel 2) und ihre nähere Ausarbeitung (Kapitel 3) beleuchtet. Schließlich wird Tetens’ Theorie in den Zusammenhang des erneuerten Interesses am Influxionismus im zweiten Drittel des 18. Jahrhundert gestellt (Kapitel 4).

1. Influxus-Theorien in der Diskussion Im Allgemeinen basieren Influxus-Theorien auf drei Behauptungen. Erstens setzen sie voraus, dass Geist und Körper in der einen oder anderen Weise real verschieden sind. Dies findet seinen klassischen Ausdruck in Descartes’ Substanzdualismus, demzufolge Menschen aus zwei vollständig heterogenen Substanzen zusammengesetzt sind.4 Zweitens behaupten sie, dass trotz dieser Verschiedenheit direkte, reale Einflüsse in beide Richtungen stattfinden, vom Körper auf den Geist und vom Geist auf den Körper. Drittens gehen Influxus-Theorien mit der Behauptung einher, Körper und Geist stünden in einer besonders engen, als »Einheit« bezeichneten Beziehung, die dadurch von der mehr äußerlichen anderer kausaler Relata unterschieden ist. Eine für den deutschen Sprachraum einschlägige Charakterisierung der influxionistischen Position bietet Christian Wolff in seiner Deutschen Metaphysik. In einer längeren Passage versammelt er alle wichtigen Aspekte der gängigen Auffassung über diese Lehre: Insgemein glaubt man, daß durch die Kraft des Cörpers Gedancken in der Seele und durch die Kraft der Seele Bewegungen im Leibe hervorgebracht werden. Nehmlich man bildet sich ein, daß, wenn durch die cörperlichen Dinge, welche die Gliedmassen unserer Sinne rühren, eine Bewegung in den Nerven und der darinnen befindlichen flüßigen Materie erreget wird, diese subtile Materie durch ihre Bewegung die Gedancken in der Seele hervorbringe, die wir Empfindungen nennen [...], und dadurch wir uns die ausser uns befindlichen Cörper vorstellen, welche die Veränderung in den Gliedmassen der Sinnen verursachen [...]: hingegen wiederum die Seele durch ihre Kraft, das ist, durch ihren Willen, gewisse Bewegungen in den Gliedmassen des Leibes hervorbringe, wodurch der Leib dasjenige ausführet, was die Seele haben will [...]. Und diese Meinung, welche der gemeine Mann hat, ist auch lange Zeit unter den Welt-Weisen im Schwange gegangen, obwohl heute zu Tage wenige ihr beypflichten. Man hat aber diese Würckung der Seele in den Leib und des Leibes in die Seele einen natürlichen Einfluß eines Dinges in das andere genennet, und daher behauptet, die Gemeinschaft des Leibes mit der Seele gründe sich auf einen natürlichen Einfluß eines Dinges in das andere. Daß man diesen Einfluß

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Heterogenität von Körper und Seele setzt allerdings nicht zwingend einen so ausgestalteten Substanzdualismus voraus, wie die Influxus-Theorien aus dem Umkreis des neuzeitlichen Atomismus oder der Scholastik zeigen; vgl. dazu grundlegend Eileen O’Neill: Influxus Physicus. In: Steven Nadler (Hg.): Causation in Early Modern Philosophy. University Park 1993, pp. 27–55.

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der Seele in den Leib und des Leibes in die Seele weder begreifen, noch auf eine verständliche Art erklären könne, hat man leicht zugegeben; allein man hat vermeinet, er sey in der Erfahrung gegründet.5

Es handelt sich bei der Influxus-Theorie also Wolff zufolge um eine Common Sense-Lehre, die sich aus unreflektierten Alltagsverständnissen ergibt. Aus diesem Grund werde sie, zum Zeitpunkt des Erscheinens der Deutschen Metaphysik, in der Philosophie mehrheitlich nicht mehr als tragbar angesehen. Schließlich lasse der im Influxionismus verbreitete Ausdruck »natürlicher Einfluß« bereits erkennen, dass diese Theorie die entscheidenden Erklärungsleistungen nicht zu erbringen vermag: Da der wechselseitige Einfluss der beiden Substanzen (aufgrund ihrer Heterogenität) nicht verständlich erklärt werden könne, werde stattdessen einfach auf die Erfahrung solcher Interaktionen verwiesen. Die Ausgangslage für influxionistische Theorien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts scheint also ungünstig zu sein. Es hat vielleicht auch mit diesem schlechten Ansehen der Influxus-Theorien zu tun, dass selbst die entsprechende Forschung sehr wenig entwickelt ist. Eine Ausnahme stellt hier nur die sehr differenzierte Literatur zu Descartes dar.6 Zu den wenigen übergreifenden Darstellungen zählen Eileen O’Neills Untersuchung zum Influxionismus der Scholastik sowie die von Eric Watkins zu den Entwicklungen in der deutschen Aufklärungsphilosophie und Hans-Peter Nowitzki zur medizinischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts.7 Diese Forschungen legen aus unterschiedlichen Perspektiven nahe, dass es sich bei den Influxus-Theorien keineswegs um ein einheitliches Phänomen handelt, sondern vielmehr um recht unterschiedliche Ansätze, die auch die drei eingangs erwähnten grundlegenden Behauptungen nicht vollständig teilen oder zumindest nicht gleich gewichten. Diese drei Behauptungen stehen nämlich vor allem bei Descartes im Mittelpunkt, während etwa in neuplatonischen, scholastischen und atomistischen Modellen ganz andere Aspekte betont wurden. Dort geht es etwa um die Frage, ob das, was in die andere Substanz einfließt, zur emittierenden Substanz gehört oder ihr nur ähnelt und sie kopiert, ob die emittierende Substanz dabei etwas von ihren Kräften verliert oder nicht, ob der Einfluss einen Oberflächenkontakt voraussetzt oder nicht und ob er an einen bestimmten Ort gebunden ist oder zu einer bestimmten Zeit stattfindet.8 Ebenso verschieben sich in der deutschen Diskussion des 18. Jahrhunderts die Akzente erheblich in Richtung einer Integration des Harmonismus, wie in Kapitel 4 ausführlich 5 6

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8

Christian Wolff: Vernünfftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Halle 111751 (Reprint Hildesheim 1997), S. 471f. Vgl., um aus der umfangreichen Diskussion nur einige Beiträge zu erwähnen, Marleen Rozemond: Descartes’ Dualism. Cambridge, Mass. 1998; Daniel Garber, Margaret Wilson: Mind-Body Problems. In: Daniel Garber, Michael Ayers (Ed.): The Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy. Cambridge 1998, pp. 833–867; Lilli Alanen: Descartes’ Concept of Mind. Cambridge, Mass. 2003; Tad M. Schmaltz: Descartes on Causation. Oxford 2008. O’Neill: Influxus Physicus (s. Anm. 4). Eric Watkins: The Development of Physical Influx in Early EighteenthCentury Germany: Gottsched, Knutzen, and Crusius. In: Review of Metaphysics 49 (1995), pp. 295–339; ders.: From Pre-established Harmony to Physical Influx. In: Perspectives on Science 6 (1998), pp. 136–203. Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin 2003. Vgl. zu Ernst Platner Werner Euler: Commercium mentis et corporis? Ernst Platners medizinische Anthropologie in der Kritik von Marcus Herz und Immanuel Kant. In: Aufklärung 19 (2007), S. 21–68 sowie zum französischen Influxionismus des 18. Jahrhunderts John W. Yolton: Locke and French Materialism. Oxford 1991, pp. 86– 109. Vgl. O’Neill: Influxus physicus (s. Anm. 4).

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zu sehen sein wird. Bei Tetens äußert sich dies auch darin, dass die beiden ersten eingangs erwähnten Behauptungen bei ihm kaum eine Rolle spielen, während die dritte von zentraler Bedeutung ist. Besonders auffällig ist schließlich der Umstand, dass die Bezeichnung »Influxus physicus« anscheinend gar nicht von den Vertretern dieser Lehre selbst eingeführt worden ist, sondern vielmehr von einem Gegner, nämlich Leibniz.9 Damit stellt sich erneut die Frage, wie viel Einheitlichkeit man bei einer Gruppe von Theorien erwarten darf, die erst vom Gegner als solche konstruiert wurde. Dass die Standard-Ansichten über Influxus-Theorien diese als unphilosophische Alltagstheorien in keinem guten Licht erscheinen lassen, verwundert dann nicht mehr besonders.

2. Tetens’ Begründung der Influxus-Theorie Aller Dunkelheit zum Trotz, die mit dem Leib-Seele-Problem einhergeht, soll es Tetens zufolge zwei »Grundsätze« geben, die, wie er sich ausdrückt, »über die Natur der Seele Leuchtthürme für uns seyn müssen«.10 Der erste Grundsatz soll sich durch die Erfahrung stützen lassen und besagt: Zu jedweder Seelenäußerung wirket ein gewisser innerer Theil unseres Körpers bey; wir mögen diesen Theil das Gehirn, das sensorium commune, Seelenorgan, schema perceptionis, oder wie wir wollen, benennen.11

Der zweite Grundsatz lautet: Es giebt außer den gedachten körperlichen Seelenorganen in uns ein Wesen, das zwar in Vereinigung mit jenen wirkt, aber für sich ein eigenes bestehendes Ding oder eine Substanz ist, die wir die Seele in psychologischer Bedeutung oder unser Ich nennen.12

Allgemein betrachtet positioniert sich Tetens also eindeutig: Aus der Kombination der beiden Grundsätze ergibt sich eine Variante der Influxus-Lehre. In der Absicht, diese zu begründen, versucht Tetens im »Dreyzehnten Versuch« zunächst die wichtigsten Konkurrenztheorien aus dem Weg zu räumen: Erst widerlegt er den Materialismus, um seinen zweiten Grundsatz zu stützen, denn der Materialismus bestreitet eben die Existenz der Seele als eines unkörperlichen, für sich bestehenden Dinges. Sodann verteidigt er seinen ersten Grundsatz, indem er, neben dem Appell an die Erfahrung, die internen Schwierigkeiten derjenigen dualistischen Systeme 9

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Auf den Ursprung der Bezeichnung bei Leibniz macht O’Neill, Influxus physicus (s. Anm. 4), pp. 28–29 aufmerksam, sie findet sich etwa in § 59 der Theodicée oder im Système nouveau (Gottfried Wilhelm Leibniz: Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels. Hg. von Artur Buchenau. Hamburg 1996 [11710], S. 128f. (im Original Die philosophischen Schriften. Hg. von Carl I. Gerhardt. Berlin 1875ff., Bd. 6, S. 135); ders.: Neues System der Natur und der Gemeinschaft der Substanzen, wie der Vereinigung zwischen Körper und Seele [1695]. In: ders.: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Hg. von Ernst Cassirer. Hamburg 1966, Bd. 2, S. 258–271, hier S. 268; im Original Die philosophischen Schriften, Bd. 4, S. 484). PV II, S. 158. Ebd. Ebd.

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geltend macht, die reale Interaktion leugnen. Tetens’ Beweisstrategie ist also zunächst indirekt, insofern er den wichtigsten Konkurrenztheorien hinreichend große Schwierigkeiten nachzuweisen beabsichtigt. Das zweite Kapitel dieses Beitrags wird sich mit diesem indirekten Beweisschritt beschäftigen, bevor im dritten Kapitel den Fragen nachgegangen wird, wie Tetens’ eigene Theorie innerhalb des weiten Feldes der Influxus-Theorien zu verorten ist und welche direkten Begründungen er dafür anbietet.

2.1 Ausschluss des Materialismus Tetens fasst die Folgen des zweiten Grundsatzes so zusammen, dass in unserem Seelenwesen »außer dem körperlichen Antheil desselben ein immaterielles Wesen mit jenem verbunden sey«, und weiter, dass »dieß letzere eigentlich unser Ich ausmache«.13 Um diese Behauptungen plausibel zu machen, setzt sich Tetens zunächst mit einem klassischen Argument gegen den interaktionistischen Dualismus auseinander, das er hier der materialistischen Begründungsstrategie zuordnet: Gegen die Annahme, dass der Mensch aus zwei grundsätzlich verschiedenen Substanzen zusammengesetzt sei, materiellem Körper und immaterieller Seele, spreche eben die Ungleichartigkeit und gegensätzliche Beschaffenheit dieser beiden Substanzarten, da insbesondere nicht klar ist, wie sich wechselseitige Einflüsse derart heterogener Substanzen verstehen lassen. Tetens’ Reaktion auf diesen Einwand ist für einen Anhänger der Influxus-Theorie auf der ersten Blick erstaunlich: Er schlägt vor, auf die leibnizsche Monadenlehre zurückzugreifen.14 Monaden unterscheiden sich, dieser Lehre zufolge, von zusammengesetzten Wesen nur durch ihre Einfachheit; zusammengesetzte Wesen bestehen aus einfachen Monaden.15 Tetens setzt dem Heterogenitäts-Einwand die Behauptung entgegen, dass sich der Unterschied von Seelensubstanz und körperlicher Substanz ausschließlich auf die Unterscheidung von einfachen und zusammengesetzten Dingen zurückführen lässt. Unter dieser Voraussetzung bestünde die Welt (Tetens zufolge) also aus einfachen Seelen und aus aggregierten Körpern, die aus einfachen, seelenähnlichen Monaden bestehen.16 Tetens scheint dies wirklich für die Lösung des Heterogenitätsproblems zu halten, und fasst entsprechend zusammen: »Das immaterielle Ich ist als ein

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PV II, S. 176. An dieser Stelle ist im Vorgriff auf eine wesentliche Differenzierung hinzuweisen, die Tetens später vornimmt. Dass die Seele »eigentlich unser Ich« ausmachen soll, bedeutet keineswegs, dass sie allein mentale Ereignisse initiieren kann und das Gehirn ausschließlich passiv ist. Vielmehr beansprucht Tetens, gerade hinsichtlich dieser Frage eine mittlere Position einzunehmen, s. unten 3.8. Dass harmonistische Anleihen aber durchaus häufig vorkamen, wird in 4. wieder aufgegriffen. So beispielsweise in Leibniz’ Monadologie: »Die Monade, von der hier die Rede sein soll, ist nichts andres, als eine einfache Substanz, die in das Zusammengesetzte eingeht. [...] Einfache Substanzen muß es aber geben, da es zusammengesetzte gibt; denn das Zusammengesetzte ist nichts andres, als eine Anhäufung, ein Aggregat der einfachen.« Gottfried Wilhelm Leibniz: Die »Monadologie«. In: ders.: Hauptschriften (s. Anm. 9), Bd. 2, S. 435–456, hier S. 435. Dass es sich dabei um keine isolierte Behauptung handelt, zeigt sich beispielsweise, wenn er das Gehirn aus einfachen Wesen bestehen lässt (PV II, S. 296). Auf die offenkundigen Probleme einer Auffassung, die ausgedehnte Körper aus der Aggregation unausgedehnter Elemente zu erklären beabsichtigt, soll hier nicht weiter eingegangen werden.

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solches nur Ein Ding, und das materielle Gehirn ist eine Menge vereinigter Dinge.«17 Plausibel machen möchte er dies u.a. per Analogie zum Atomismus: Wer glaube, dass die letzten Elemente der Materie einheitlich sind, der könne in Leibniz’ Hypothese keine Unmöglichkeit finden, wonach auch Materie und Seele auf derselben Art von einfachen Elementen beruhen, nämlich perzipierenden Monaden.18 Was ist sachlich von dieser Anleihe bei Leibniz zu halten? Zunächst drängt sich ein interner Einwand auf: Bei Leibniz stehen alle Monaden in einer durchgängigen Hierarchie, es kann also keine Rede davon sein, dass sich Einfaches vom Zusammengesetzten nur durch die Zusammensetzung unterscheidet. Einfache Monaden sind Seelenmonaden untergeordnet, und die Seelenmonaden wiederum den Geistmonaden, und alle schließlich Gott.19 Daher ist es auch gerade nicht möglich, dass jede beliebige Monade zu einer Geistmonade (der Zentralmonade eines Menschen) wird. Tetens’ Argument beruht aber gerade darauf, dass die einfachen Elemente grundsätzlich gleichartig und alle Unterschiede auf die Aggregation zurückzuführen sind. Völlig gleichartig können die Monaden für Leibniz aus einem weiteren Grund ohnehin nicht sein, nämlich wegen des Prinzips der Identität des Ununterscheidbaren.20 Schließlich ist Leibniz’ Monadenlehre eigentlich überhaupt keine dualistische Theorie, sondern vielmehr ein panpsychistischer Monismus: Alle Substanzen in der Welt haben Leibniz zufolge Bestrebungen und Vorstellungszustände, die sich nur hinsichtlich ihrer Klarheit und Deutlichkeit unterscheiden.21 Ich sehe nicht, wie Tetens diese panpsychistischen Folgelasten seiner Leibniz-Anleihe vermeiden kann, auch wenn er durchaus auf sie hinweist; sie scheinen auch mit seinem Empirismus generell schwer verträglich zu sein.22 Dennoch ist dieser affirmative Bezug zur harmonistischen Theorierichtung für Tetens’ eigenes Modell entscheidend, wie im weiteren Verlauf in Kapitel 3 noch deutlicher zu sehen sein wird. Dabei ist letztlich weniger wichtig, wie stark Tetens von

17 18

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PV II, S. 183. Dass es sich dabei um keine isolierte Überlegung handelt, wird beispielsweise in der Auseinandersetzung mit Joseph Priestleys Argument gegen den Dualismus deutlich. Priestley spezifiziert das bekannte Heterogenitätsargument dahingehend, dass die Attribute von Körper und Seele entgegengesetzt seien (er behauptet z.B., dass dem Dualismus zufolge Körper und Seele kein einziges gemeinsames Attribut aufweisen; Joseph Priestley: Hartley’s theory of the human mind, on the principle of the association of ideas; with essays relating to the subject of it. London 1775, p. xx). Tetens wendet auch hier ein, dass dem Dualismus nur die Unterscheidung von einfachem und zusammengesetztem Ding zugrunde liegt (vgl. PV II, S. 181). Affirmative Bezugnahmen auf die Monadenlehre finden sich aber auch in anderen Kontexten der Philosophischen Versuche, etwa in seiner Kritik an Humes Theorie des Geistes; dort argumentiert er, dass die Seele in unbewusster Form schon alle Erfahrungen enthält, die sie in der Zukunft machen wird (PV I, S. 393). Vgl. z.B. Leibniz: Monadologie (s. Anm. 15), S. 439–440. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Metaphysische Abhandlung. In: ders.: Hauptschriften (s. Anm. 9), Bd. II, S. 144f.; ders.: Monadologie (s. Anm. 15), S. 437. Aus diesem Grund ist Tetens’ Vergleich mit dem Atomismus auch unangemessen: die Annahme qualitativ identischer Atome verletzt das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren. Eine differenzierte Analyse dieses Leibniz-Verständnisses bietet Andreas Blank: Leibniz und die panpsychistische Deutung der Theorie der einfachen Substanzen. In: Studia Leibnitiana 32 (2000), S. 117–125. So spricht er ganz selbstverständlich davon, »daß die Elemente des Körpers mit der Seele gleichartiger, vorstellender Natur sind« (PV II, S. 182, Hervorhebung FW). Wie sollen sich derartig weitreichende Behauptungen mit den Mitteln der Erfahrung und Beobachtung begründen lassen?

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Leibniz’ ursprünglichen Intentionen abweicht, sondern wie er genau harmonistische Elemente in die Influxus-Theorie einbindet und beide dadurch modifiziert. Von den Leibniz-Anleihen unabhängig und zugleich traditioneller sind einige weitere Argumente, die Tetens gegen den Materialismus vorbringt. Er diskutiert dazu die Frage, wie die Seele als einfaches Wesen zugleich eine Mannigfaltigkeit von Vermögen und Veränderungen enthalten kann. Tetens erklärt diese Möglichkeit dadurch, dass die Seele nicht aus abtrennbaren Teilen zusammengesetzt sei, sondern ein Kontinuum darstelle.23 Wichtig ist daran insbesondere die Folgerung, dass aus diesem Grund Veränderungen der Seele immer unmittelbar das gesamte Ich betreffen und nicht nur einzelne Aspekte oder Teile. Tetens hält letztere Überlegung für zugleich auch durch unsere Selbstbeobachtung gesichert und führt sie daher des Öfteren seinerseits gegen den Materialismus ins Feld: Materialisten müssten der Tatsache Rechnung tragen, dass mentale Veränderungen immer das Ich als Ganzes betreffen. Ein Schmerz beispielsweise ist zwar im Hinblick auf ein Zentrum lokalisierbar, aber es ist dennoch der ganze Mensch, der Schmerzen hat. Durch die Distribution des Ich auf ausgedehnte Teile haben Materialisten Schwierigkeiten, diesem Phänomen Rechnung zu tragen. Sie müssten zeigen, wie Vorstellungszustände in einem zusammengesetzten Wesen als kontinuierliche möglich sind, und nicht »wie die Geschäfte eines Kollegiums zwischen mehreren Mitgliedern desselben« verteilt.24 Diese Überlegung führt Tetens direkt zu einer Variante des wohlbekannten »Achilles-Arguments« gegen den Materialismus. Achilles-Argumente beabsichtigen zu zeigen, dass die Einheit von Gedanken oder mentalen Zuständen grundsätzlich nicht mit einer Distribution auf mehrere Teile eines Aggregats verträglich ist, sondern ein einfaches Substrat erfordert.25 Hier liegt ein Achilles-Argument vor in Form der Überlegung, dass mentale Vorgänge nicht als über mehrere Entitäten verteilt gedacht werden können, weil ihnen dann diese eigentümliche Kontinuität nicht zukäme. Tetens folgert daraus, dass die Seele in jedem Fall unabhängig von körperlicher Organisation sein muss und auch nicht der Inbegriff ihrer Teile sein kann, denn keines der Sinnesorgane ist in der geforderten Weise kontinuierlich mit den anderen verbunden. Tetens beruft sich noch auf eine weitere Variante des Achilles-Arguments, wobei er ausdrücklich auf Moses Mendelssohns Phädon Bezug nimmt:26 Angenommen, ein Gefühl oder ein Gedanke sei ein kollektiver Akt, bei dem solche Bestandteile zusammengenommen werden, die für sich allein keine Gefühle oder Gedanken sind. Damit bei diesem kollektiven Akt ein Gefühl oder ein Gedanke resultiert, so Tetens mit Mendelssohn, werde ein einheitliches Ding benötigt, das die Bestandteile kolligiert. Denn sonst resultierte nur ein Aggregat von Elementen des Gefühls bzw. des Gedankens, wobei diese aber selbst keine Gefühle bzw. Gedanken darstellen. Tetens ergänzt diese Überlegungen gegen den Materialismus mit einer weiteren, die man in heutiger Terminologie als den Vorwurf einer Erklärungslücke im Materialismus bezeichnen könnte. Tetens hält materialistische Erklärungen »aus dem Mechanismus der Gehirnfasern« 23 24 25

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PV II, S. 188. Ebd., S. 192. Zur langen Geschichte dieses Argumenttyps vgl. Ben Lazare Mijuskovic: The Achilles of rationalist arguments. Den Haag 1974; Thomas Lennon, Robert Stainton (Hg.): The Achilles of Rationalist Psychology. Dordrecht 2008. Moses Mendelssohn: Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele. Hg. von Dominique Bourel. Hamburg 1979 [11767].

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insoweit für zulässig, als sie sich auf »das Spiel der Bilder in der Phantasie« beschränken.27 Solcher Erklärung grundsätzlich unzugänglich sind Tetens zufolge jedoch viele höhere kognitive Leistungen, insbesondere solche, die Selbstbewusstsein und Freiheit einschließen; diese müssten »doch mehr als ein Spiel der Fasern« sein und verweisen insofern auf eine Erklärungslücke in materialistischen Theorien.28 In Verbindung mit dem Kontinuitätsargument stellt diese Überlegung Tetens’ entscheidenden Zug gegen den Materialismus dar. Dass alle mentalen Akte »zusammenlaufen und sich irgendwo in Einem Dinge vereinigen, damit ihre Kollektion ein Fühlen und Denken werden könne«, einem einfachen und damit immateriellen Ding also, besitzt für Tetens, wie er sagt, »vollkommenste Evidenz«.29 Er bezeichnet dieses Resultat allerdings, wie mir scheint unzutreffender Weise, als eine Zwischenposition zwischen Materialismus und Immaterialismus. Vom gewöhnlichen Immaterialismus grenzt er sich nämlich nicht in den ontologischen Grundlagen, sondern nur hinsichtlich von dessen weiterreichenden Folgerungen ab, etwa zur Frage, ob das Ich ohne Beteiligung des Körpers Gedanken von Gegenständen oder auch Selbstbewusstsein besitzen kann. Letzteres hält Tetens für noch unentscheidbar (er hält es also für möglich, dass der Körper hierzu unerlässlich ist), was jedoch nichts daran ändert, dass er grundsätzlich die Annahme einer immateriellen Seele als unverzichtbar ansieht. Gleichwohl beansprucht er nicht, über einen regelrechten Beweis für den Substanzcharakter und die Einfachheit des Ich zu verfügen. Die Beobachtung zeigt nur eine verwandte, weniger anspruchsvolle Einheit des Ich in Form der synchronen Einheit verschiedener Tätigkeiten und Vermögen: Es ist dasselbe Ich, das den einzelnen Sinnesmodalitäten gegenübersteht und ihre Leistungen vereinigt.30 Doch auch diese schwächere Form von Einheit muss von allen konkurrierenden Theorien erklärt werden, und auch hier sieht Tetens den Substanzdualismus zumindest als die plausiblere Möglichkeit an, obgleich es an einem Beweis letztlich mangelt.

2.2 Verortung innerhalb der »sogenannten psychologischen Systeme« Nachdem Tetens den Materialismus ausgeschlossen und die Existenz einer immateriellen Seelensubstanz als eines wesentlichen Akteurs unseres mentalen Lebens etabliert hat, stellt sich die Frage, wie diese Substanz des Näheren mit dem Körper zusammenwirkt – das Leib-SeeleProblem in seiner klassischen Form der drei »sogenannten psychologischen Systeme« also.31 Hierbei geht es zunächst um die Alternative, ob zwischen einem Zustand der Seele und einem des Gehirns »eine wahre ursachliche Verbindung« besteht, bei der eines das andere hervorbringt, oder nur eine »harmonische Gesellschaft«, die nur ein beständiges Zusammentreffen beider ohne kausale Einwirkung bedeutet. Unterstellt man letzteres, so ergeben sich Tetens zufolge zunächst drei Möglichkeiten:

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PV II, S. 178. Ebd. Ebd., S. 204. Diese Einheit bezeichnet Tetens präziser so: »Ein Ding [ist] vorhanden, was ich vorzugsweise mein Ich nenne, und dieß ist in allen den genannten Seelenäußerungen immer ebendasselbige« (ebd., S. 192). Ebd., S. 213.

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(1) Man kann mit Leibniz argumentieren, dass Seele und Gehirn ihre Zustände jeweils parallel durch die ihnen eigenen Kräfte hervorbringen, ohne dabei in irgendeinen Kontakt zu anderen Entitäten zu treten. Kausaltheoretisch lässt sich diese Hypothese wie folgt zusammenfassen: NON-INFLUX global 1 Seele und Körper sind kausal abgeschlossen und bewirken nur ihre eigenen Zustände, sie interagieren nicht. (2) Man kann sich Malebranches System der »durchgängigen Assistenz« anschließen und behaupten, dass Gott jeweils unmittelbar in Seele und Gehirn wirkt.32 Kausaltheoretisch zusammengefasst: NON-INFLUX global 2 Seele und Körper sind grundsätzlich kausal unwirksam und interagieren nicht. Die Gemeinsamkeit dieser beiden Systeme liegt, wie bereits erwähnt, im globalen Ausschluss kausaler Einwirkung sowohl der Seele auf den Körper, als auch des Körpers auf die Seele. NON-INFLUX global 2 ist insofern stärker als NON-INFLUX global 1, als es sogar die Einwirkung der Seele auf ihre eigenen Zustände ausschließt, die NON-INFLUX global 1 zulässt. (3) Davon unterscheidet sich das dritte System insofern, als hier kausale Wirksamkeit nur im Hinblick auf einige mentale Zustände, vornehmlich Empfindungen, ausgeschlossen wird: Dem von Tetens so genannten System der »gelegentlichen Assistenz« zufolge wird Gott nur dann und insofern tätig, als es zur Erhaltung der allgemeinen Harmonie erforderlich ist.33 Dieser Auffassung zufolge stammen nur die passiven Empfindungen der Seele direkt von Gott. Hat die Seele sie empfangen, kann sie sie selbsttätig bearbeiten und Handlungen initiieren.34 Tetens schreibt das System dieser »gelegentlichen Assistenz« Descartes zu, der in den heute üblichen Darstellungen eher dem System des Influxus physicus zugerechnet wird, im 18. Jahrhundert dagegen in der Regel dem Okkasionalismus.35 »Gelegentliche Assistenz« lässt sich damit so zusammenfassen: 32 33 34

35

Ebd., S. 214. Vgl. Nicolas Malebranche: De la recherche de la vérité. In: Œuvres de Malebranche. Hg. von Geneviève Rodis-Lewis. Paris 1991 [11674/75]. PV II, S. 214. Vorteil des Systems der gelegentlichen Assistenz soll sein, dass, wenn Gott die passiven Seelenveränderungen hervorbringt, die Seele zugleich selbständig aktiv werden und die passiven Seelenveränderungen bearbeiten kann; und wenn damit eine harmonische Bewegung im Gehirn (als Wirkung von Gott) verbunden ist, dann kann auch der Körper aus seinen eigenen Kräften neue Bewegungen initiieren – also behalten Seele und Körper ihre Spontaneität, die ihnen das System der durchgängigen Assistenz nehmen wollte. Gott wirkt so viel, wie zur allgemeinen Harmonie erforderlich ist, ohne den endlichen Substanzen wie bei Malebranche jegliche Eigentätigkeit zu entziehen. Dass Descartes im Hinblick auf die kausale Wirksamkeit von ausgedehnten Substanzen Okkasionalist war, wird in der Gegenwart z.B. behauptet von Daniel Garber: Descartes and Occasionalism. In: Steven Nadler (Hg.): Causation in Early Modern Philosophy. University Park 1993, pp. 9–26; für die gegenteilige Annahme vgl. z.B. Tad Schmaltz: Descartes on Causation. Oxford 2008, pp. 129–177. Im 18. Jahrhundert scheint Descartes jedoch fast ausnahmslos zum Okkasionalismus gezählt worden zu sein, während die Influxus-Lehre mit Neuplatonismus und Spätscholastik in Verbindung gebracht wurde. Tetens bewegt sich hier also im Rahmen des Üblichen, argumentiert aber differenzierter. So firmiert Descartes bei

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NON-INFLUX lokal Seele und Körper interagieren in einigen Fällen kausal, in anderen Fällen wie namentlich der Empfindung dagegen nicht. Tetens will diese metaphysischen Überlegungen aber nicht weiterverfolgen, »da sie so sehr durchgemuthmaßet, durchvernünftelt und durchgedacht sind, daß man dies Feld für ganz ausgebaut ansehen kann«, und es frühestens nach einiger Zeit des Brachliegens vielleicht wieder neu bestellt werden könnte.36 Von diesen drei harmonistischen Systemen unterscheidet Tetens das »gemeine System« oder das »natürliche System des gesunden Menschenverstandes«.37 (4) Das »gemeine System« unterscheidet sich von den zuvor diskutierten eben darin, dass es eine »wahre physische Verbindung« zwischen Körper und Seele behauptet.38 In allgemeiner Hinsicht bevorzugt Tetens dieses System gegenüber den Varianten des Harmonismus. Auch wenn es, mangels genauerer physiologischer Kenntnisse, nur auf Wahrscheinlichkeiten beruht, so habe sich bisher Tetens zufolge »kein einziger Grund gefunden, der uns nöthigte, in das gemeine Raisonnement des Verstandes ein Mißtrauen zu setzen«.39 Kausaltheoretisch zusammengefasst: INFLUX Seele und Körper interagieren, die Seele wirkt kausal auf den Körper ein, der Körper auf die Seele. Für das System des Influxus physicus im Allgemeinen soll also gewissermaßen der gesunde Menschenverstand sprechen, wohingegen die konkurrierenden Systeme »nichts für sich [haben], als bloß ihre innere Möglichkeit«.40 Zwar sind prästabilierte Harmonie und Okkasionalismus nicht zu widerlegen, es liegen aber auch keinerlei positive Gründe für sie vor. Das bedeutet nun aber keineswegs, dass Tetens sich seinerseits dem »gemeinen System« umstandslos anschließt; dies wird in 3.8. zu sehen sein, wenn die weiteren Grundlagen seiner Konzeption deutlich geworden sind. Tetens leugnet nicht, dass auch mit dem Influxionismus Probleme verbunden sind. Den Grund der Schwierigkeiten sieht er zum einen im bislang noch mangelnden Verständnis, worin die Relation von Ursache und Wirkung eigentlich besteht, zum anderen in der im Allgemeinen mangelhaften Bekanntschaft mit der inneren Natur der Dinge. Doch diese Schwierigkeiten eignen auch den anderen Systemen und sind nicht auf die Influxus-Theorien eingeschränkt. Über solche Einwände hinaus, die gegen alle Systeme vorgebracht werden könnten, gebe es aber keine für die Influxus-Theorien spezifischen, und somit auch keine dagegen, dem gemeinen Menschenverstand in dieser Hinsicht grundsätzlich zu vertrauen. Also lässt sich

36 37 38 39 40

Leonhard Euler z.B. umstandslos als Begründer des Okkasionalismus (Leonhard Euler: Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie. Braunschweig 1986, S. 92 [11769–1773]); s. auch den Artikel »Natürlicher Einfluß« in Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste. Halle, Leipzig 1732, Bd. 23, S. 980–986. PV II, S. 215. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 216.

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zumindest festhalten, dass die Influxus-Theorien auf wahrscheinlichen Grundsätzen beruhen, wenn sich auch die gegenteiligen Annahmen nicht ausschließen lassen. Das ist immerhin noch mehr, als die nicht-interaktionistischen Systeme (NON-INFLUX) für sich reklamieren können: Für sie spricht nichts außer ihrer inneren Möglichkeit und Widerspruchsfreiheit.

2.3 Tetens’ Strategie Tetens’ Argumentstrategie lässt sich also wie folgt zusammenfassen: (1) Die bekannten harmonistischen Systeme (NON-INFLUX) haben sich als nicht ausreichend begründbar erwiesen. Sie erwiesen sich lediglich als intern konsistent, konnten aber weder durch die Erfahrung gestützt werden, noch die jeweils konkurrierenden Positionen widerlegen. Damit ist keine begründete Entscheidung zwischen ihnen möglich und die Diskussionen um sie bleiben ohne Ergebnis. (2) Der Materialismus könnte als monistische Theorie die Schwierigkeiten der dualistischen Systeme vermeiden. Er lässt sich jedoch zurückweisen aufgrund von Überlegungen (a) zur leibnizianischen Relativierung der Heterogenität der beiden Substanzen und (b) aus dem Umkreis des Achilles-Arguments; er lässt sich maximal als Erklärung für Empfindungen halten. (3) Per Ausschlussverfahren bleiben damit nur influxionistische Theorien (INFLUX) übrig. Zusätzlich sollen sie sich durch empirische Gründe stützen lassen, die ihnen zumindest einen gewissen Grad an Wahrscheinlichkeit verleihen. Von den beiden eingangs diskutierten Grundsätzen41 kann nunmehr der zweite als etabliert betrachtet werden, demzufolge es neben den körperlichen Seelenorganen eine Seele als eigenständige Substanz geben muss; und ebenso, dass beide grundsätzlich in einem Interaktionsverhältnis stehen. Der erste Grundsatz besagte, dass bei jeder Aktivität der Seele ein Teil des Körpers (Gehirn und/oder Nervensystem) mitwirkt; mit diesem Grundsatz, der die für Tetens spezifische Variante innerhalb der Influxustheorien markiert, beschäftigt sich das folgende Kapitel.

3. Der Aufbau von Tetens’ Influxus-Theorie Im folgenden Abschnitt werden zunächst die zentralen Elemente von Tetens’ eigentümlichem Influxus-Verständnis herausgearbeitet: Eine Anthropologie, die die Einheit des ganzen Menschen in den Mittelpunkt stellt (3.1.) und die sich in den vielfältigen Weisen der Kooperation von Körper und Seele ausdrückt (3.2.), die bis zum wechselseitigen Ersatz einzelner Leistungen der jeweils anderen Substanz reicht (3.3.). An den Erklärungen von Empfindungsideen (3.4.), unwillkürlichen (3.5.) und willkürlichen Bewegungen (3.6.) lassen sich zentrale Anwendungen von Tetens’ Theorie studieren. Weiterhin wird das in Tetens’ Augen zentrale Problem für den 41

Ebd., S. 158.

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Influxionismus, die Lokalisierung der Vorstellungen, kurz angesprochen (3.7.) und schließlich seine zentrale Hypothese, die »dritte Mittelidee von der Beschaffenheit des Seelenwesens« untersucht (3.8.).

3.1 Anthropologie Hinsichtlich der Frage, was der Mensch am grundsätzlichsten ist, schließt sich Tetens mit Nachdruck Johann August Unzer an:42 »Der Mensch ist ein Thier, und hat als Thier eine thierische Natur.«43 Als Tier, so Tetens, besitzt der Mensch zwei Arten von Kräften, Seelenkräfte und körperliche Kräfte. Die körperlichen lassen sich weiter unterscheiden in mechanische einerseits und Nervenkräfte andererseits, die auf der »Organisation« beruhen, die biologische Organismen auszeichnet. Diese Unterscheidung reflektiert die zentrale Einsicht, dass sich nicht alle körperlichen Prozesse rein mechanisch, also durch Druck, Stoß und die Lageveränderung von Teilen, erklären lassen. Tetens konstatiert klare Grenzen mechanischer Erklärung und bemerkt zugleich, dass unser Wissen von den andersartigen Gesetzmäßigkeiten, denen die Nervenkräfte folgen, noch sehr beschränkt ist. Jedoch glaubt Tetens zu wissen, aus welcher Richtung eine Verbesserung dieser Lage zu erwarten wäre: aus der »Mechanik der flüssigen elastischen Körper«, der Imponderabilienphysik also, die besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts florierte und versuchte, thermische, elektrische, magnetische und chemische Phänomene mittels der imponderablen Fluida zu erklären.44 Auch wenn wir nicht viel über die Nervenkräfte wissen, so wissen wir doch im Grundsatz, dass es sich um materielle Kräfte handelt, dass sie mit den Seelenkräften zusammenwirken und in dieser Verbindung die tierische Natur des Menschen konstituieren – ein großer Teil von Tetens’ Bemühungen dient dazu, diese Überzeugungen näher auszuarbeiten und zu begründen. Tetens’ Behauptung, dass der Mensch am grundsätzlichsten ein Tier sei, ist also wiederum nicht materialistisch zu verstehen, denn alle Tiere sind entgegen der cartesianischen Tradition dualistisch aufzufassen: »Das Thier ist das aus Seele und organisiertem Körper bestehende Ganze.«45 Daraus ergibt sich unmittelbar, dass Nerven- und Seelenkräfte grundsätzlich zusammenwirken. Diese Verbindung ist so innig, dass es Tetens zufolge schwierig ist und bleiben wird, ihre Wirkungen je für sich allein zu betrachten.

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45

Tetens bezieht sich auf Unzers Hauptwerk, Erste Gründe einer Physiologie. Leipzig 1771. Grundsätzlich stellt Unzer eine wichtige Quelle für die physiologischen Annahmen dar, die Tetens zugrunde legt, und auch ein Teil seiner Terminologie wie etwa der Begriff der tierischen Natur des Menschen oder die Unterscheidung von Nerven- und Seelenkräften gehen auf Unzer zurück; letzteres gibt Tetens in PV II, S. 304 selbst zu Protokoll. Ausdrücklich hebt er die »Bemühungen des Hrn. D. Unzers« in der Physiologie und Medizin hervor (PV II, S. 301). Ebd., S. 149. Radikal wäre die These aber nur, wenn er hier behaupten würde, dass es keine davon unterschiedene Vernunft gibt, was wohl nicht der Fall ist. Beispielsweise verwendet er die übliche, auf Leibniz zurückgehende Unterscheidung der geistigen Natur des Menschen von der auch den »vernunftlosen Thieren« zukommenden Seelennatur (ebd., S. 150). Zu den imponderablen Fluida zählen üblicherweise Äther, Wärmematerie, elektrische Materie, magnetische Materie und Lichtmaterie, vgl. Ferdinand Rosenberger: Die Geschichte der Physik in Grundzügen. Braunschweig 1882, Bd. 2, S. 1–183. PV II, S. 150.

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Will man die Frage beantworten, was das Ich denn nun sei, dem verschiedene mentale Zustände wie Empfindung, Denken und Wollen zukommen, dann lautet Tetens’ Antwort: der Mensch, also das ganze, aus Körper, Gehirn und Seele zusammengesetzte Wesen. Weder das Gehirn noch die Seele bestimmen allein, was das Ich am grundsätzlichsten ist. Tetens versucht dies durch eine Analogie aus der Musik zu erläutern: Was ist das einen Ton hervorbringende Wesen? Weder der das Instrument betätigende Spieler allein, noch das Instrument allein. Vielmehr ist der Spieler tätig und wirkt auf die Saiten des Instruments, und diese wirken sodann auf die Luft und bringen eine »zitternde Bewegung« hervor, die das Ohr empfängt, und diese wiederum empfinden wir und nennen sie Schall. Ein komplexes Wechselverhältnis also; problematisch an dieser Analogie sei allerdings, dass Körper und Seele so »innig« miteinander vereinigt sind, dass jeder Vergleich mit anderen Arten der Vereinigung etwas unpassendes habe; so wirkt z. B. das Instrument nicht auf den Spieler zurück, indem es ihn etwa zum Spielen anreizt.46 Diese Überlegungen zur Einheit von Körper und Seele sind zentral für Tetens’ InfluxusTheorie insgesamt. Die Besonderheit seines Ansatzes besteht darin, einen wechselseitigen Einfluss von Körper und Seele nicht nur allgemein zu postulieren, sondern ihre Wirkungsweise sehr detailliert zu charakterisieren. Generell steht der Aspekt der Einheit im Vordergrund, im Unterschied zu den beiden anderen oben (in Kap. 1) diskutierten Grundproblemen der Möglichkeit der Interaktion und der Heterogenität der Substanzen. Zugleich ist seine Theorie deutlich anti-cartesianisch:47 Während bei Descartes die immaterielle Seele dasjenige ist, was ein Subjekt wesentlich ausmacht und deren Existenz daher auch von einem radikalen Skeptiker nicht bestritten werden kann, so fasst Tetens den Aspekt der Einheit insofern stärker, als er die wechselseitige Abhängigkeit beider Seiten für grundlegend erklärt und daher das Subjekt wesentlich sowohl Körper als auch Seele sei.48 Entsprechend spezifiziert Tetens das wechselseitige Verhältnis der beiden Elemente als eines der Kooperation: Beide wirken in Vereinigung mit einander, und eine Seelenäußerung, die beobachtet und untersucht worden, ist eine Wirkung des ganzen Seelenwesens, und ist in diesem Ganzen, so, daß beide Arten von Kräften, die Kraft der Seele, und die körperlichen Kräfte des Organs oder des Gehirns, das Ihrige dazu beytragen.49

In der Betonung des Einheitscharakters des Körper-Seele-Verhältnisses und seiner Spezifizierung durch die Analyse verschiedener in Kooperation erbrachter Leistungen besteht also Tetens’ eigentümlicher Ansatz, der sich in dieser Hinsicht von alternativen Influxus-Theorien abhebt. Zugleich nimmt Tetens eine Einschränkung im Hinblick auf die mögliche Reichweite seiner Folgerungen vor. Er möchte nicht weiter gehen als bis zu der Feststellung, »daß in dem menschlichen Seelenwesen, außer dem körperlichen Organ, ein einfaches unkörperliches Wesen, eine wahre substantielle Einheit vorhanden sey, welche eigentlich das fühlende, denkende und wol46 47 48

49

Ebd., 170. Vgl. Descartes’ zweite Meditation (René Descartes: Meditationes de prima philosophia. Hamburg 1992, S. 41–61 [11641]). Auch die Formulierung des zweiten Grundsatzes ist vor diesem Hintergrund zu sehen (PV II, S. 176f.); dort hatte Tetens behauptet, dass die immaterielle Seele »eigentlich« unser Ich ausmacht, was aber eben nicht bedeutet, dass die Seele allein bestimmendes und agierendes Element ist; s. dazu näher unter 3.3. PV II, S. 303.

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lende Ding ist«.50 Abgesehen von der Existenz der beiden Elemente und einer gewissen, wenn auch stark relativierten Dominanz der Seele (dazu genaueres unter 3.2.) soll sich nichts Näheres über sie etablieren lassen. Damit steht Tetens wiederum in einer Linie mit Lockes Agnostizismus in Bezug auf Substanzen – wir wissen Locke zufolge nur, dass es Substanzen als Substrate wahrnehmbarer Eigenschaften gibt, aber nicht, wie sie näher beschaffen sind.51 Dem entspricht Tetens’ Behauptung, dass die Erkenntnis der Seele nur scheinbar dunkler ist als die des Körpers, denn über die letztendliche Natur körperlicher Substanzen und ihrer Kräfte wüssten wir auch nicht mehr als über die der Seele.52 Dieser Substanz-Agnostizismus findet seinen Niederschlag schließlich auch in Tetens’ Diskussion der Unsterblichkeit der Seele. Auch hier ist der Bereich dessen, was sich wirklich etablieren lässt, klein. Hat man gezeigt, dass die Seele einfach und unkörperlich ist, so folgt nur, dass sie derjenigen Art von Zerstörung entzogen ist, die wir bei materiellen Dingen beobachten. Keineswegs folgt daraus aber, dass die Seele nach dem Tod der Körpers in derselben Weise wie vorher, d.h. als denkendes und fühlendes Wesen, fortexistiert.53

3.2 Kooperation und Einheit von Körper und Seele Es lassen sich Tetens zufolge Beobachtungen anstellen, die eine nähere Bestimmung des allgemeinen Begriffs von der tierischen Natur des Menschen ermöglichen. Hier zeigt sich nun, inwiefern Tetens sich hinsichtlich der drei Grundbehauptungen des Influxionismus auf den der Einheit konzentriert.54 Tetens zufolge beruht die tierische Natur des Menschen auf der Einheit zweier ungleichartiger Kräfte, der Seelen- und Nervenkräfte, die in Kooperation mentale Zustände hervorbringen. Anstatt also die Heterogenität der Substanzen bzw. Kräfte zum Anlass zu nehmen, die Möglichkeit ihres Zusammenwirkens überhaupt in Frage zu stellen, bestimmt Tetens ihre Kooperation als den Grundmodus, in dem beide Substanzen je verschiedene und in gewisser Hinsicht auch irreduzible Beiträge leisten. Er fasst den Ansatz seiner Theorie entsprechend so zusammen: In der Seelennatur wirket das Ich mit seinem körperlichen Organ in Verbindung, und die Wirkungen ihrer vereinigten Kraft sind theils Seelenveränderungen, theils sinnliche Bewegungen in dem Organ; in der thierischen Natur wirket das Seelenwesen mit seinem organisirten Körper in Verbindung, und die Wirkungen davon sind theils Veränderungen des Seelenwesens selbst, theils thierische Bewegungen in dem Körper, und zu beiden Arten dieser Wirkungen kommen die beiden Grundkräfte der thierischen Natur zusammen. Beide wirken, wenn Empfindungen und Triebe in der Seele entstehen, und beide wirken vereiniget, wenn thierische Bewegungen in dem Körper erfolgen.55

Doch die Beobachtung zeigt Tetens zufolge auch, dass bei gewissen Wirkungen die eine Gattung von Kräften die andere in gewissem Ausmaß ersetzen und also Bewegungen hervorbringen 50 51 52 53 54 55

Ebd., S. 210. Vgl. John Locke: An Essay concerning Human Understanding. Ed. by Peter H. Nidditch. Oxford 1975, pp. 295–317. PV II, S. 174. Ebd., S. 200. Vgl. Kapitel 1. PV II, S. 305.

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kann, die sonst nur durch das Zusammenwirken beider erklärt werden können.56 Die Einheit und enge Verbindung der beiden Kräfte ist also so spezifiziert, dass sie unter bestimmten Umständen wechselseitig in begrenztem Maße die Stelle der jeweils anderen einnehmen können.57 Im Folgenden werden einige weitere Aspekte von Tetens’ zentralem Lehrstück über Kooperation (3.2.) und wechselseitigen Ersatz (3.3.) von körperlichen und seelischen Kräften untersucht. (1) Die enge Verbindung von Körper und Seele kommt auch in der Tatsache zum Ausdruck, dass es eine »durchgängige Mitveränderung des Gehirns zu allen Seelenveränderungen« geben soll.58 Dass eine solche Verbindung existiert, ist für Tetens nicht mehr in Zweifel zu ziehen, denn Physiologie und Psychologie hätten entsprechend »so viele Fakta gesammelt«, die dies hinreichend belegen.59 Jeder mentale Zustand sei mit einer gewissen Modifikation des Gehirns verbunden, ohne die der Zustand nicht vorhanden oder zumindest nicht nachweisbar sei. Auch in zeitlicher Hinsicht und im Hinblick auf die Intensität sei ein Zusammenhang feststellbar: Die Gehirnveränderungen sollen ebenso lange andauern wie die Seelenveränderungen, und ihre Intensität soll proportional zu- und abnehmen.60 Wenn nun ein äußerer Eindruck sich auch in der Seele als Gefühl und Empfindung niederschlägt, »so ist auch eine Reihe von Veränderungen da, die bis zum Gehirn hinauf, und durch und über die Seele gehet«.61 Diese Reihe kann jeweils länger oder kürzer sein; sie kann aus einer Impression auf die Seele und aus einer Zurückwirkung der Seele auf das Organ bestehen, auf die wiederum ein neuer Druck gegen den Körper folgen muss; oder die Reihe kann weiter in der Seele wirksam sein und zuerst eine Empfindung hervorbringen, dann die Vorstellungskraft und das Überlegungsvermögen wecken und nach einer Reihe von Überlegungen eine Willensäußerung bewirken. (2) Oft will die Seele eine Bewegung hervorbringen und bemüht sich, scheitert aber dabei, oder scheitert doch teilweise, indem ihre Absicht nicht im vollen Maße oder in unzulänglicher Weise umgesetzt wird.62 Solche Fälle stellen für Tetens’ Kooperationsmodell des Influxus keine größere Schwierigkeit dar, denn einerseits sind immer beide Kräfte beteiligt, andererseits schließt das natürlich gerade nicht aus, dass ihr jeweiliger Anteil unterschiedlich groß sein kann. Die metaphysische Frage nach der generellen Möglichkeit physischen Einflusses verwandelt sich damit in der Tat in eine fallbezogene (oder in einem weiten Sinne auch empirisch zu nennende) und zugleich der Graduierung fähige. 56 57

58 59 60 61 62

Ebd., S. 312. Näheres dazu unter 3.3. Tetens erwähnt Beobachtungen, denen zufolge bestimmte Tiere wie Schildkröten auch nach Verlust des Gehirns (und der Seele) noch Bewegungen hervorbringen können, die sonst üblicherweise auf die Seele oder das Gehirn zurückgeführt werden (PV II, S. 310); ebenso beruft er sich darauf, dass eine lebhafte Einbildung auch ohne vorhergehenden körperlichen Eindruck solche Bewegungen entstehen lassen kann, die normalerweise eines äußeren Eindrucks bedürfen (ebd., S. 311). Ebd., S. 159. Tetens hält diese Mitveränderung des Gehirns wirklich für eine Tatsache, die durch Beobachtungen aus Physiologie und Psychologie gesichert ist. Ebd. Hier knüpft Tetens ersichtlich an das »Empfindungsgesetz« Krügers und Unzers an; vgl. Kap. 4. PV II, S. 307. Ebd., S. 308.

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Eine Graduierung resultiert auch im Hinblick auf die klassische Unterscheidung zwischen unwillkürlichen und mechanischen Bewegungen einerseits und willkürlichen andererseits. Bei näherer Betrachtung zeige sich hier, dass beide Arten von Bewegungen in der Regel sowohl vom Einfluss des Willens als auch dem der Organisation bestimmt sind, und der Unterschied liege nur darin, dass im einen Fall die Seele, im anderen der Mechanismus des Körpers »die vornehmste und meist bestimmende Ursache« sei.63 Ihr Unterschied beruht also »auf dem Mehr und Minder in dem Verhältnisse«, und es gibt, je nach Mischungsverhältnis, zwischen den am stärksten unwillkürlichen und den am stärksten willkürlichen »unzählige Mittelarten«.64 Auch hier ermöglicht Tetens’ Theorie eine differenziertere Betrachtung als jene, die willkürliche und unwillkürliche Bewegungen als vollständig disjunkt ansehen. Was die jeweils »bestimmende Ursache« bei einer Bewegung oder einer Reihe von Veränderungen ist, muss im Einzelfall ermittelt werden und ergibt ein Übergewicht jeweils einer Seite. Einige organische Reihen von Veränderungen wie etwa die Muskelkontraktion bei entsprechend vorliegendem Reiz sind »natürlich nothwendig«, und bei ihnen ist der Eindruck die »bestimmende Ursache«.65 Daneben gibt es andere organische, aber doch zufällige Verbindungen, die nicht völlig durch die Natur des Körpers bestimmt sind, sondern durch zufällige äußere Umstände und die Lage des Körpers gegen andere Dinge. Wenn beispielsweise alle Gliedmaßen bis auf die Füße gefesselt sind und ein Schmerzreiz erfolgt, werden vermutlich die Füße bewegt werden; ohne Fesselung wären vermutlich andere Körperteile bewegt worden. (3) Für auf dem gegebenen Kenntnisstand nicht zufriedenstellend beantwortbar (aber dennoch relevant) hält Tetens die Frage, ob eine Seelenveränderung immer mit einer bestimmten Gehirnveränderung einhergeht. Wir wissen Tetens zufolge bisher nur, dass Seelenveränderungen zusammen mit Gehirnveränderungen auftreten und umgekehrt. Aber muss es sich dabei immer um dieselbe Gehirnveränderung handeln, die eine Seelenveränderung begleitet, oder könnten es auch andere sein? Letzteres sei möglich, und es sei zumindest vorstellbar, dass gewisse Vorstellungen mit unterschiedlichen Gehirnveränderung zusammengehen und umgekehrt, »nach der Verschiedenheit der Umstände und der Lage der Phantasie«.66 Gäbe es einen solchen, von Tetens bezeichnenderweise »Harmonie« genannten Zusammenhang zwischen Seelen- und Körperbeschaffenheiten, dann ließe sich auch vom Vorliegen bestimmter Seelenmodifikationen auf das Vorliegen bestimmter Modifikationen des Körpers schließen, et vice versa.67 Zumindest für Empfindungen und lebhafte Einbildungen und ihre materiellen Korrelate im Gehirn geht Tetens von einem solchen direkten Entsprechungsverhältnis aus, während er für weniger auf die Sinne bezogene Ideen eher wechselnde Korrelationen annimmt, die sich nur hinsichtlich ihrer Funktion gleichen, d.h. der Funktion, zur Entstehung einer bestimmten Idee zu kooperieren.

63 64 65 66 67

Ebd., S. 315. Ebd. Ebd., S. 316. Ebd., S. 160. Allgemeiner ergibt sich daraus die Frage, »wie weit nur die eigentliche sogenannte Harmonie sich erstrecke, und wie weit also von dem Daseyn bestimmter Seelenmodifikationen auf das Daseyn bestimmter Körpereigenschaften, und umgekehrt, geschlossen werden könne?« (PV II, S. 162).

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(4) Näher könne man zumindest das Fühlen und Empfinden als eine Reaktion der Seele auf eine Gehirnveränderung verstehen. Jedes Gefühl ist ein Aktus der modifizierten Seele, mit dem sie »gegen eine Gehirnveränderung thätig« ist.68 Dabei verändert die Seele sich selbst und wirkt zugleich auf das Gehirn und die materielle Idee in demselben als das »nächste Objekt« zurück.69 Wenn wir entsprechend in dieser Rückwirkung der Seele auf das modifizierte Gehirn den wesentlichen Aspekt des Fühlens und Empfindens sehen, dann könnten wir fälschlicherweise darauf verfallen, das resultierende Gefühl ausschließlich der Seele zuzuschreiben (da es ja nur im zurückwirkenden Akt besteht) und nicht dem Ganzen aus Seele und Gehirn. Tatsächlich aber setzt die Rückwirkung der Seele auf das Gehirn eben eine bestimmte Modifikation in demselben voraus, und zugleich postuliert Tetens ohne weitere Begründung, dass auch die Rückwirkung der Seele auf das Gehirn immer mit einer gleichzeitigen Aktion des Gehirns auf die Seele einhergeht.70 Daraus ergibt sich, dass für Tetens weder Gehirn noch Seele Träger des Fühlens sind, sondern immer der ganze Mensch als Träger anzusehen ist.

3.3 Wechselseitiger Ersatz von körperlichen und seelischen Kräften Wie bereits in 3.2. erwähnt, ist für Tetens die Möglichkeit, mentale Leistungen der Seele durch solche des Körpers zu ersetzen (und umgekehrt), ein zentrales Element seiner Theorie. Der Ersatz der Leistungen einer der beiden Kräfte durch solche der je anderen ist dabei eine besonders enge Form der grundsätzlich das Körper-Seele-Verhältnis kennzeichnenden Kooperation: die Kooperation ist in einigen Fällen so eng, dass in gewissen Rahmen Leistungen der je anderen Kraft übernommen werden können. Tetens appelliert auch hier wieder an die Erfahrung und den Stand der relevanten Wissenschaften. Einige neuere Beobachtungen hätten gezeigt, dass bei zu tierischen Bewegungen vereinigten Wirkungen von Seelen- und Nervenkräften oft auch »fast dieselbigen oder doch ähnliche Wirkungen erfolgen, wo Eine oder die andere Art derselben ihren gewöhnlichen Beytrag nicht geleistet hat; und dass da, wo sonsten nur Eine allein oder doch vornämlich zu wirken pfleget, zuweilen die andere jene ihrer Stelle in etwas ersetzen könne.«71 Beobachtungen über Tiere wie z.B. Schildkröten, denen Kopf und Gehirn entfernt wurde (und damit, wie Tetens erstaunlicherweise behauptet, auch die Seele) und die trotzdem noch auf bestimmte sinnliche Eindrücke mit körperlichen Bewegungen zu reagieren scheinen, dienen hierbei als Beleg. Auch für fast alle Wirkungen der Einbildungskraft gelte, dass oft auf eine lebhafte Einbildung und auf das damit verbundene Wollen der Seele auch ohne einen vorhergegangenen sinnlichen Eindruck solche Bewegungen im Körper erfolgen, die sonst nur entstehen, wenn ein sie bewirkender Eindruck von außen vorhanden ist.72 Diese Beobachtungen belegen Tetens zufolge zugleich die enge Kooperation von Körper und Seele, die sich darin auswirkt, 68 69 70 71 72

Ebd., S. 171. Ebd. Ebd., S. 172. Ebd., 305f. Ebd, S. 311. Eines der von Tetens aus ärztlichen Berichten übernommenen Beispiele: »So hat z. B. jemanden geträumet, daß er ein Purgirmittel eingenommen; und es ist entstanden, was sonsten nur von der Arzney gewirket wird« (ebd.).

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dass entgegen dem Anschein solche Reihen von Veränderungen, die nur mechanisch und auf organisierte Körper eingeschränkt zu sein scheinen, »dennoch in einer Kommunikation unter einander stehen, die von der Seele abhängt«.73 Auch der umgekehrte Fall der Ersetzung organischer Kräfte durch seelische lässt sich Tetens zufolge in der Erfahrung finden, beispielsweise in der Macht der Einbildungskraft über den Körper »bey empfindlichen, bey hypochondrischen und hysterischen Personen«.74

3.4 Die Erklärung von Empfindungsideen Einen Einblick in die von Tetens postulierten, komplexen Mechanismen der Kognition bietet seine Erklärung der »Empfindungsideen«, also der mentalen Repräsentation von Sinneseindrücken.75 Diese Ideen bilden sich Tetens zufolge in fünf Schritten: (1) Wir empfinden oder fühlen im Gehirn einen Eindruck, der von äußeren Gegenständen ausgeht. (2) Daran anschließend geht etwas »in uns« vor und die Seele wirkt zurück auf das Gehirn, indem ihre Kraft von dessen Bewegung modifiziert wird.76 (3) Nun hinterlässt der Aktus des Gefühls (damit dürfte die Rückwirkung der Seele aus (2) gemeint sein) eine Spur. Es könne unentschieden bleiben, ob diese Spur in der Seele, im Gehirn, oder in beiden lokalisiert ist; entscheidend ist nur, dass eine solche in unserem »Seelenwesen« zurückbleibt (d.h. in dem Ganzen aus Körper und Seele). (4) Diese hinterlassene Spur muss von neuem gefühlt und unterschieden werden, um eine Vorstellung von diesem Akt des Fühlens entstehen zu lassen. Der vorhergegangene Akt des Gefühls muss, genauer gesagt, in seiner fortdauernden Wirkung nochmals gefühlt und unterschieden werden. (5) Der Aktus des Gefühls erfordert eine gleichzeitige Veränderung des Gehirns, und auch diese muss entsprechend wiederholt werden. Daraus folgt, dass unsere Vorstellung von unserem Fühlen auch von der Einrichtung des inneren Organs abhängt. Fühlen und Empfinden werden von Tetens also als Reaktionen der Seele auf Gehirnveränderungen verstanden. Dabei verändert sich die Seele selbst, und sie wirkt zugleich auf das Gehirn und dessen materielle Ideen zurück, wobei sie wiederum eine materielle Spur hinterlässt. In einem weiteren Schritt kann die Seele sich nun auf diese Spur beziehen und dadurch reflexiv eine Vorstellung von dem ursprünglichen Gefühl erwerben. Hier zeigt sich besonders gut, wie weit sich Tetens bereits von den klassischen, am Problem der Heterogenität der Substanzen und ihrer Kräfte orientierten Leib-Seele-Diskussionen entfernt hat. An dieser Stelle wird zugleich auch ein Problem besonders deutlich, das für Tetens’ Ausführungen insgesamt besteht, nämliche terminologische Instabilität. So ist manchmal mit einer

73 74 75

PV II, S. 312. Ebd., S. 334. Ebd. S. 155.

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Empfindung der Sinneseindruck gemeint, der der Empfindungsidee als mentaler Repräsentation vorhergeht, manchmal dagegen die Idee selbst, manchmal der beide einschließende Prozess. Dies ist auch Ausdruck bewusst in Kauf genommener theoretischer Unentschiedenheiten oder anerkannter Wissensdefizite, wenn Tetens etwa hinsichtlich der Beschaffenheit der körperlichen Spuren im Gehirn (der materiellen Ideen) konstatiert: »Worinn diese Spur bestehe, weiß ich nicht. Vielleicht ist es die nämliche oder doch eine gleichartige Modifikation, wie die Empfindung selbst war, nur geschwächt«.77

3.5 Unwillkürliche Bewegungen Die körperlichen Bewegungen, so Tetens, werden für gewöhnlich in zwei Klassen eingeteilt, unwillkürliche (mechanische oder organische), die auf den »Gesetzen der Organisation« beruhen, und willkürliche, die vom »Einflusse des Willens« abhängen.78 Doch auch hier zeigt genauere Beobachtung, dass die meisten von ihnen Aspekte beider Seiten in je unterschiedlicher Stärke aufweisen. Im einzelnen Fall überwiegt nur jeweils die Seele oder der Mechanismus des Körpers, je einer ist in diesem Sinne »vornehmste und meist bestimmende Ursache«, und ihr Unterschied »beruhet also auf dem Mehr oder Minder in dem Verhältnisse«.79 Es gibt dementsprechend »unzählige Mittelarten« zwischen den beiden äußersten Arten.80 Dennoch untersucht Tetens die beiden äußersten Arten detailliert, da sich auf diese Weise die Prinzipien, die auch den Mittelarten zugrunde liegen, am besten studieren lassen. Die folgenden Abschnitte 3.5. und 3.6. beschäftigen sich mit Tetens’ Analyse der beiden Extremfälle. Organische Reihen von Veränderungen werden ganz durch die Beschaffenheit des Organismus bestimmt. Einige von ihnen sind Tetens zufolge, wie bereits in 3.2. diskutiert, »natürlich nothwendig« wie etwa die Muskelkontraktion bei entsprechender Reizung,81 von denen Tetens solche organischen Verbindungen als zufällig unterscheidet, die nicht völlig durch die Beschaffenheit des Organismus bestimmt sind, sondern durch zufällige äußere Umstände. Diese Beispiele wertet Tetens als Belege dafür, dass es eine Art Assoziation organischer Bewegungen im Körper gibt, die derjenigen in der Seele darin ähnelt, dass mehrere Bewegungen, die nicht unmittelbar voneinander abhängen, sich dennoch verbinden. Dass es solche körperlichen Assoziationen gibt, ist für Tetens durch die zahlreichen Beispiele körperlicher Gewohnheiten ersichtlich.82 Die »natürlich notwendigen« bilden die kleinste Klasse innerhalb der organischen Veränderungsreihen; Tetens weist darauf hin, dass in verschiedenen Fällen unter den Physiologen

76 77 78 79 80 81 82

Vgl. ebd., S. 171: Jedes Gefühl ist ein Aktus der modifizierten Seele, mit dem sie »gegen eine Gehirnveränderung thätig« ist. Ebd., S. 218. Ebd., S. 315. Ebd. Ebd. Ebd., S. 316. Auch die von Haller beschriebene Irritabilität vom Körper getrennter Muskeln zählt Tetens dazu (ebd., S. 324). Ebd., S. 319. Komplizierter und schwieriger zuzuordnen sind Bewegungen, die ihren ursprünglichen Grund in der zufälligen Lage des Körpers haben und sich danach durch Gewohnheit festsetzen, wie beispielsweise die Präferenz für die linke oder rechte Hand (ebd., S. 324).

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noch Uneinigkeit hinsichtlich dieser Zuordnung besteht, wie beispielsweise bei der Erklärung des Atmens.83 Organische Reihen weisen Tetens zufolge zwei Charakteristika auf: (1) Sie sollen ihren Grund allein in den körperlichen Kräften haben, ohne dass die Seele einen kausalen Einfluss ausübt. Sie ist dabei höchstens in einem allgemeinen Sinne als eine Art Lebensprinzip überhaupt wirksam.84 (2) Sie sind nur bestimmt hinsichtlich der Art der Bewegung und der Art und Weise der Tätigkeit, nicht aber hinsichtlich der äußeren Gegenstände, auf die sich die Tätigkeit richtet. D.h. die Bewegungen können durch organische Kräfte nicht weiter bestimmt werden als dahingehend, dass in gewissen Teilen des Körpers gewisse Bestrebungen und Bewegungen stattfinden, nicht aber dahin, dass diese besonders auf ein gewisses Objekt gerichtet sind. Alle organischen Handlungen sind also »nur der Form nach« bestimmt, d.h. insoweit sie in gewissen Tätigkeitsarten und Kraftäußerungen bestehen.85 Wie weit hängt die Verknüpfung bei organischen Bewegungsreihen nun von der Seele ab, und wie weit kann diese durch ihren Willen die organischen Kräfte ersetzen? Die Antwort auf diese Frage soll eine Folgerung erlauben, die im »analogischen Schluß« von der tierischen Natur auf die seelische gebraucht werden kann: Es ist in diesen Reihen eine Verbindung zwischen dem verursachenden Eindrucke und der erfolgten Bewegung, die nur durch den Körper gehet. Aber bey einigen von ihnen zum mindesten ist doch auch zugleich eine Verbindung zwischen ihnen, die über die Seele gehet; so daß der erste Eindruck auf die organischen Kräfte des Körpers von einem Gefühl in der Seele, und die erfolgende Bewegung von einer bestimmten Kraftanwendung oder von einem Wollen der Seele, begleitet wird.86

Entscheidend ist hier, dass es Tetens zufolge einige zunächst nur körperliche Bewegungen gibt, die parallel von seelischen Bewegungen nur begleitet werden, näher spezifiziert zum einen als Gefühl, zum anderen als Wollen. Solche Reihen organischer Bewegungen sind sowohl im Körper verbunden und bilden parallel eine begleitende Reihe von Empfindungen, Vorstellungen und Willensäußerungen in der Seele.87 Die Reihe in der Seele kann sodann wiederum auf die körperliche zurückwirken, indem sie diese stärkt oder schwächt.88 In dieser Begleitung kommt erneut eine der Formen der oben genannten Kooperation von Körper und Seele zum Ausdruck (s. 3.2.). Der Grad des seelischen Einflusses ist dabei je unterschiedlich groß und eben von den Umständen des Einzelfalls abhängig, die empirisch und nicht durch metaphysische Betrachtung zu bestimmen sind. 83 84

85

86 87 88

Ebd., S. 324. Es gibt »keinen weitern Einfluß [...] als insofern sie durch ihre Aktion die wirksame organische Kraft in dem Körper überhaupt in Thätigkeit erhält« (ebd., S. 321). Beispiele für solche rein organischen Veränderungen sind die Wirkung von Arzneien auf den Körper oder Schreckreaktionen. Tetens spezifiziert den Beitrag der Seele hierbei auch so, dass sich zwar ihre »Beywirkung« als wirklich annehmen lässt, diese aber in der Anwendung »für nichts geachtet« werden kann (ebd., S. 323). Ebd., S. 322. Tetens’ Beispiel hier: Ein »hitziger Kopf« wird auf der Gasse am Arm gestoßen und greift zum Degen. Unter anderen Umständen hätte er nach einem Stock o.ä. gegriffen, die organische Bewegung ist nicht originär auf den Degen als bestimmtes Objekt gerichtet, sondern auf eine beliebige, gerade verfügbare Schlagwaffe. Ebd., S. 328. Ebd., S. 332. Ebd. Das belegt wiederum das Kardinalbeispiel für seelischen Einfluss auf den Körper, nämlich die körperliche Auswirkung lebhafter Einbildungen.

Tetens und die Annäherung von Influxus physicus und Harmonismus

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Hinsichtlich der Frage, ob die Kraft der Seele in bestimmten Fällen körperliche Kräfte ersetzen kann, verweist Tetens hier noch einmal auf die entsprechenden Erfahrungen, welche die unmittelbar körperlichen Wirkungen der Einbildungskraft bei hysterischen und hypochondrischen Personen belegen sollen.89 In diesen Fällen werden Tetens zufolge körperliche Ursachen durch seelische ersetzt. Er schränkt jedoch sehr zu Recht ein, dass viele dieser Beispiele eben doch nicht zweifelsfrei die Aussagekraft besitzen, die ihnen zugeschrieben wird: Es ist wohl zu unterscheiden, ob die Einbildungskraft und das Wollen der Seele die wahre bewegende Ursache sey, die als physische Körperkraft wirket, oder ob die Einbildung nur die Aktion der reizenden Körperkräfte begleite; und ob es nicht der gewöhnliche Mißgriff der Ursachen sey, wenn der letztern das zugeschrieben wird, das in der That einer andern Ursache, die in dem Körper selbst liegt, zukommt?90

In vielen Fällen ist also nicht klar zwischen einer tatsächlichen kausalen Wirksamkeit der Seele und einer bloß epiphänomenalen Begleitung körperlicher Wirkungen zu unterscheiden. Es lässt sich nämlich nicht ausschließen, dass die Einbildung ihrerseits durch körperliche Ursachen erweckt wurde. Doch selbst in denjenigen Fällen, in denen sich eine Ersetzung körperlicher durch seelische Kräfte etablieren lässt, kann diese nur »unvollständig und mangelhaft« sein und die körperlichen Kräfte nur in gewissem Grad, aber nie vollständig ersetzen.91

3.6 Willkürliche Bewegungen Nach der Untersuchung der am stärksten körperlich bedingten Bewegungen wendet sich Tetens den am meisten mit der Seele verbundenen zu, den willkürlichen. Zu den willkürlichen Reihen von Bewegungen zählen alle diejenigen, »in welchen die Verbindung in ihrer Folge, ohne Dazwischenkunft der Vorstellungskraft und des Bestrebens in der Seele, nicht entstanden ist.«92 Alle körperlichen Handlungen des Menschen, in denen sich Begierden äußern, die auf vorgestellte Gegenstände gerichtet sind, gehören zu dieser Klasse (wie etwa die Entscheidung, eine vorgesetzte Speise zu verzehren). Es ist dabei zu beachten, dass viele der willkürlichen Bewegungen auch aus rein körperlichen Ursachen erfolgen können, etwa im Fall krampfartiger Bewegungen. Die Bewegung ist dann dieselbe wie die durch eine Entscheidung bedingte, sie erfolgt aber aufgrund vollständig anderer Ursachen. Tetens sieht vier hauptsächliche Aspekte derjenigen Fähigkeiten, die bei willkürlichen Bewegungen vorausgesetzt sind.93 In der Darstellung dieser Fähigkeiten konkretisiert er die Weisen der Kooperation von Körper und Seele weiter: (1) Die Seele muss fähig sein, die dazu gehörigen Vorstellungen zu reproduzieren. Dies ist der originäre Anteil der Seele an willkürlichen Bewegungen. Die Bedeutung dieser Fähigkeit 89 90 91 92

93

Ebd., S. 334. Ebd., S. 334. Ebd., S. 335. Ebd., S. 339. Es sei darauf hingewiesen, dass Tetens hier und an einigen anderen Stellen Kausalverhältnisse in einer heute sehr gebräuchlichen Weise beschreibt, nämlich als kontrafaktische Konditionale: Willkürlich ist eine Bewegung, die ohne Einfluss der Seele nicht zustande gekommen wäre; vgl. David Lewis: Counterfactuals. Oxford 1973. PV II, S. 341–345.

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zeigt sich beispielsweise beim Musiker: Lernt er, schneller sein Instrument zu spielen, dann muss die Folge der Noten und Töne auch in der Vorstellung entsprechend an Geschwindigkeit zunehmen. (2) Zugleich muss im Körper eine organische Fertigkeit vorliegen, solche Bewegungen aufeinander folgen zu lassen. D.h. auch im Körper muss es eine Verbindung der aufeinander folgenden willkürlichen Bewegungen geben, durch die sie sich gegenseitig erwecken können. Für Tetens steht außer Frage, dass der Erwerb von Fertigkeiten wie denen des Schreibens, des Tanzens oder des Spielens von Musikinstrumenten nicht nur in der Seele lokalisiert ist, denn es reicht nicht aus, sich die dazu gehörige Reihe von Vorstellungen in der Seele so bekannt zu machen, dass uns ihre Reproduktion leicht fällt. Man muss auch selbst handeln und üben, einerseits, weil ohne die Handlung vorzunehmen auch die Vorstellung von ihr nicht anschaulich genug werden kann (eine solche Idee zu haben setzt die wirkliche Verrichtung voraus); andererseits kann der Körper ohne Übung nicht die notwendige Geschwindigkeit bei diesen Bewegungen erreichen. (3) Die Kooperation von Körper und Seele bei willkürlichen Bewegungsreihen kommt vornehmlich darin zum Ausdruck, dass die Fertigkeiten beider sich gegenseitig modifizieren und einander »zu Hülfe kommen«.94 Diese Kooperation ist so eng, dass sich eigentlich nur von einer Fertigkeit des Menschen insgesamt sprechen lässt, deren körperliche und seelische Aspekte nur analytisch zu unterscheiden sind.95 (4) Auf dem gegebenen Stand der Wissenschaften lässt sich noch nicht entscheiden, ob körperliche Assoziationen von Bewegungen in der Lage sind, die Beiwirkung der Seele vollständig zu ersetzen. Bisher lässt sich nur feststellen, dass einerseits die Fertigkeit der Seele nicht völlig den Mangel an körperlicher Fertigkeit ersetzen kann (etwa beim Erlernen von Musikinstrumenten), andererseits auch die körperliche Assoziation nicht so stark werden kann, dass sie einen Mangel der Ideenassoziation in der Seele völlig ersetzen könnte; auch der Virtuose muss selbst beim Spielen des einfachsten Stückes geistig präsent sein.

3.7 Die Lokalisierung von Vorstellungen und die Erinnerung Das Problem der Lokalisierung von Vorstellungen stellt sich besonders für Influxus-Theorien, denn anders als für harmonistische und monistische gibt es eben grundsätzlich drei Möglichkeiten: Vorstellungen können im Gehirn, in der Seele oder auf beide verteilt lokalisiert sein, setzt man das »System der ursachlichen Verknüpfung« zwischen Seele und Körper voraus.96 Klassischerweise werden diese Fragen meist im Hinblick auf die Erinnerung diskutiert, die auf »Spuren« irgendeiner Art beruhen muss, denn sonst ist nicht erklärlich, wie ein vergangener mentaler Zustand in der Gegenwart wieder aktualisiert werden kann.97 Der »Mittelpunkt der Sache« liegt 94 95 96 97

Ebd., S. 344. »Die Fertigkeit in dem Körper ist ein wesentliches Stück der ganzen menschlichen Fertigkeit, davon das zweyte in der Seele ist« (ebd., S. 344). Ebd., S. 216. Zum Lokalisierungsproblem vgl. zeitgenössisch Justus Christian Hennings: Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere. Halle 1774, S. 265–273. Vgl. Walther Riese, Ebbe C. Hoff: A History of the Doctrine of Cerebral Localization. In: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 5 (1950), pp. 50–71; Timo

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also in der Frage: »Ist die von der Empfindung in dem Seelenwesen zurückgebliebene Spur, eine bleibende Beschaffenheit der Seele, oder des Organs? Hat das Gedächtniß dieses Ideen aufbewahrende Vermögen, seinen Sitz in der Seele oder in dem Gehirn?«98 Tetens sieht hier grundsätzlich vier Möglichkeiten:99 (1) Die Erinnerungsspuren sind ausschließlich Seelenbeschaffenheiten. (2) Die Erinnerungsspuren sind ausschließlich Beschaffenheiten des Gehirns. (3) Alle Erinnerungsspuren sind Beschaffenheiten in beiden Substanzen. (4) Einige Erinnerungsspuren residieren in der Seele, andere im Gehirn. Gegen die erste Variante – Erinnerungen residieren nur in der Seelensubstanz – spricht vor allem die Beobachtung, dass die Qualität der Erinnerung in vielfacher Weise von der körperlichen Konstitution beeinflusst wird. Ist der Körper durch Krankheit oder Alter geschwächt, ist auch eine Schwächung des Gedächtnisses zu beobachten, was die Hypothese infragestellt. Die zweite Variante – Erinnerungen liegen ausschließlich im Gehirn –, die Tetens auf Bonnet zurückführt, kann diese Phänomene erheblich besser erklären. Dagegen hat diese, wenig überraschend, Schwierigkeiten, die »selbsttätigen Kraftäußerungen der Seele« zu erklären.100 Tetens räumt jedoch ein, dass weder die erste noch die zweite Variante von den Beobachtungen gänzlich entkräftet werden kann. Er spricht sich jedoch schließlich für die dritte Variante ganz im Sinne seines Kooperationsmodells aus: es finden sich grundsätzlich Erinnerungsspuren in beiden Substanzen. Dies soll deswegen notwendig sein, weil die Beobachtung zeige, dass sowohl materielle Ideen im Gehirn einander unmittelbar hervorrufen können, als auch intellektuelle Modifikationen einander in der Seele.101 Da diese Hervorbringung neuer Ideen immer die Erinnerung an vorherige Ideen voraussetzt (wohl entsprechend den Assoziationsgesetzen), müssen beide Substanzarten selbständig Erinnerungen aufbewahren. Tetens schließt jedoch mit der einschränkenden Feststellung: »Beweise, daß diese Vermuthung mehr als Vermuthung sey, weiß ich nicht.«102

98 99 100 101 102

Kaitaro: Ideas in the brain: The localization of memory traces in the eighteenth century. In: Journal of the History of Philosophy 37 (1999), pp. 301–322. PV II, S. 220 f. Tetens diskutiert besonders die beiden ersten Hypothesen sehr ausführlich (ebd., S. 223–283), dies lässt sich aus Platzgründen hier jedoch nur summarisch behandeln. Ebd., S. 278. Ebd., S. 293–295, vgl. S. 219. Ebd., S. 299. Dennoch gehen seine Überlegungen über die zugrunde liegenden Mechanismen teils sehr ins Detail, etwa wenn er die Reihenfolge der Abläufe bei der Erinnerung von Empfindungen darstellt: »Impression von außen aufs Organ, oder materielle Idee; dann Seelenveränderung oder intellektuelle Idee; darauf Aktion der Seele aufs Organ; alsdenn die zwote materielle Idee in dem Organ; und dann die zwote intellektuelle Idee in der Seele« (ebd., S. 288).

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3.8 Tetens’ zentrale Hypothese: die »dritte Mittelidee von der Beschaffenheit des Seelenwesens« Tetens entwickelt seinen eigenen Lösungsvorschlag schließlich in direkter Abgrenzung von zwei konkurrierenden, influxionistischen »Erklärungsarten«, nämlich derjenigen Charles Bonnets und der bereits bekannten »gemeinen«. Wie bereits in 2.2. bemerkt, schließt sich Tetens der dort als hauptsächliche Alternative zu den harmonistischen Erklärungen eingeführten eben nicht ohne weiteres an. Bonnet zufolge ist der Beitrag der auch von ihm als immateriell angesehenen Seele zu den »organischen Bewegungen« des Gehirns sehr gering: Sie werden von der Seele gefühlt, wenn sie gegenwärtig sind, und ihre mögliche Wirkung beschränkt sich darauf, die organischen Bewegungen zu verstärken oder abzuschwächen, indem sie ihre Kraft in geringerem oder größerem Maße auf andere Bewegungen richtet, die sich ihr zugleich darbieten.103 Bonnet steht also Pate für eine, von der Seele aus betrachtet, minimale Influxus-Theorie: INFLUX minimal Kausal entscheidend für das mentale Geschehen ist das Gehirn, der Beitrag der Seele beschränkt sich auf die nachträgliche Stärkung oder Schwächung organischer Bewegungen. Im Gegensatz dazu ist der Einfluss der Seele dem »gemeinen System« zufolge ungleich größer, nämlich durchgängig so groß, wie Tetens nur im Hinblick auf die willkürlichen Bewegungen angenommen hatte: sie folgen »nur durch die von den Vorstellungen bestimmte Seelenkraft auf einander«.104 Der Anteil des Gehirns beschränkte sich dann darauf, ein »geschmeidiges und der Seele unterworfenes Organ« zu sein, das für sich allein nicht einmal materielle Ideen an einander reihen kann.105 Das Gehirn stellt nur die einzelnen Gedächtnisinhalte zur Verfügung und bewahrt sie zur weiteren Verwendung auf, in Analogie zur Rolle des Körpers bei den Kunstfertigkeiten. Zusammengefasst stellt die »gemeine« Erklärung also eine, von der Seele aus betrachtet, maximale Influxus-Theorie dar: INFLUX maximal Kausal entscheidend für das mentale Geschehen ist die Seele, das Gehirn stellt nur das Material für die seelische Aktivität zur Verfügung und ist in einem allgemeinen Sinn Bedingung für die Möglichkeit seelischer Aktivität überhaupt.106 103

104 105 106

Ebd., S. 357, vgl. zu Bonnet auch ebd., S. 323. Ob Bonnet hier zutreffend wiedergegeben wird, erscheint jedoch fraglich, vgl. Charles Bonnet: Essai analytique sur les facultes de l’âme. Kopenhagen 1760, S. 277–317. Bonnet zeichnet dort ein wesentlich differenzierteres und weit weniger entschiedenes Bild. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sich Tetens auf Bonnets Essai analytique bezieht, da ihm nicht bekannt ist, dass Bonnet auch den anonym erschienenen Essai de psychologie (London 1755) verfasst hat (vgl. PV II, S. 248). Vgl. zu Bonnet insgesamt u.a. Timo Kaitaro: Brain-mind identities in dualism and materialism: a historical perspective. In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 35 (2004), pp. 627–645. PV II, S. 357. Ebd., S. 357f. So verstehe ich die nicht sehr klare Analogie zu den Kunstfertigkeiten. Eine ähnliche Funktion besitzt die Seele in Tetens’ eigener Theorie im Fall der organischen Bewegungen als Lebensprinzip überhaupt. Mögliche Vertreter dieser Auffassung wären Georg Ernst Stahl und seine Schule, vgl. Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch (s. Anm. 7), S. 105.

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Zwischen Bonnets im Hinblick auf die Seele minimales Modell des physischen Einflusses und das im Hinblick auf die Seele maximale Modell des »gemeinen Systems« stellt Tetens nun eine »dritte Mittelidee von der Beschaffenheit des Seelenwesens«, die seinen eigentlichen, eigenen Lösungsvorschlag bildet. Wenn diese »Mittelidee« sich halten ließe – Tetens hält sich weise mit zu entschiedenen Festlegungen zurück –, dann hätte sie den Vorteil, die Einseitigkeiten Bonnets und des »gemeinen« Systems zu überwinden. Worin besteht nun Tetens’ »dritte Mittelidee«? Er sieht es zunächst als erwiesen an, dass materielle Ideen im Gehirn unmittelbar andere materielle Ideen hervorrufen können. Wenn aber diese Möglichkeit besteht, so Tetens weiter, dann sei es ebenso wahrscheinlich, dass auch die »intellektuellen Modifikationen« in der Seele einander unmittelbar wachrufen können.107 So, wie sich die wechselseitige Hervorbringung materieller Ideen daran zeigt, dass sich Vorstellungen entgegen dem Bestreben der Seele aufdrängen, so können intellektuelle Ideen ihrerseits insofern auf das Gehirn zurückwirken, als sie es »auch wenn es nicht zum besten dazu aufgelegt ist, in die zugehörigen sinnlichen Bewegungen« versetzen kann.108 So, wie die Seele in der Lage ist, ihre einmal empfangenen Modifikationen aus sich selbst heraus zu erneuern und erst anschließend aufgrund ihrer Aktivität die entsprechenden materiellen Ideen im Gehirn wachzurufen, so belegt umgekehrt die Macht, die die Phantasie über uns hat, dass es im Gehirn eine von der Seele unabhängige »wiederschwingende Kraft« gibt. Beide Möglichkeiten sind Tetens zufolge hinreichend durch entsprechende Erfahrungen zu belegen.109 Aus diesen Überlegungen folgt, so Tetens, dass wahrscheinlich sowohl auf der körperlichen als auch auf der seelischen Seite ähnliche Assoziationsprinzipien wirksam sind. Diese Assoziationsprinzipien sollen insbesondere in der Lage sein, die Rolle der jeweils anderen Kraft bei der ursprünglichen Entstehung einer Vorstellung zu ersetzen: Körper bzw. Gehirn und Seele bringen ursprünglich kooperativ eine Vorstellung hervor; diese kann jeweils wieder wachgerufen werden von anderen intellektuellen oder materiellen Ideen allein, wenn sie mit ihr assoziiert sind. Wie Tetens richtig feststellt, setzt dies voraus, dass parallel sowohl in der Seele als auch im Gehirn Spuren der ehemaligen Modifikationen aufbewahrt werden müssen. Aus diesen Überlegungen gewinnt Tetens eine »Hypothese«, die den Vorteil beanspruchen kann, »einförmig« zu sein und alle relevanten Phänomene erklären zu können. Diese Hypothese besagt zusammengefasst: Sowol in der Seele selbst, als in dem Gehirn oder dem innern Organ der Seele, bleiben Spuren zurück, theils von den Impressionen, die wir von außen erhalten, theils auch von den übrigen Modifikationen, 107

108 109

In terminologischer Hinsicht ist also zwischen den materiellen Ideen oder Modifikationen als Zuständen des Gehirns und den intellektuellen Ideen oder Modifikationen als solchen der Seele zu unterscheiden. PV II, S. 293. »Man hat Beyspiele, daß eine starke Seele, die sich zu fassen weis, so gar die aus einer Krankheit entspringenden Unordnungen der Phantasie bis auf einen gewissen Grad bezähmen und mäßigen kann« (ebd., S. 294). Als Beispiel schildert Tetens den Fall von Wilhelm III., Prinz von Oranien, der durch »Standhaftigkeit und Geistesstärke« die psychischen Folgen einer Pockenerkrankung überwunden habe. Generell zeige die Erfahrung das Phänomen der Willensstärke oder eine Macht der Seele, wenn »wir standhaft wollen«, auch solche Ideen hervorzubringen, die den vom Gehirn vorgegebenen zuwiderlaufen.

244

Falk Wunderlich die durch innere Ursachen hervorgebracht werden, und die wir vermittelst des Selbstgefühls erkennen.110

Die Existenz derartiger Spuren im Gehirn als Grundlage der Erinnerung (unter verschiedenen Bezeichnungen wie der der materiellen Ideen) wird meist zugestanden; neu ist dagegen Tetens’ Vorschlag, entsprechendes auch auf Seiten der Seele zu verorten. Wenn eine Mannigfaltigkeit an Beschaffenheiten des Gehirns eingeräumt wird, so Tetens, warum sollte man eine solche dann nicht auch in der Seele selbst postulieren?111 Zusammenfassen lässt sie die »Mittelidee« also wie folgt: INFLUX mittel Sowohl Gehirn als auch Seele sind kausal wirksam, und zwar sowohl im Hinblick auf ihre eigenen Modifikationen, als auch auf die der jeweils anderen Substanz. Tetens spezifiziert seine Hypothese sodann im Hinblick auf Assoziationsprinzipien, die sowohl materielle Ideen im Gehirn als auch intellektuelle in der Seele verbinden und Übergänge von Idee zu Idee ermöglichen: »›Sowohl in der Seele, als in dem Gehirn, kommt eine solche Association der nachgebliebenen Spuren zu Stande, daß sie sich einander unmittelbar erneuern können.‹«112 Damit ist gemeint, dass die Seele von einer intellektuellen Idee zur anderen übergehen kann, ohne dass daran ein »Eindruck vom Gehirn« (eine materielle Idee also) beteiligt ist, und dasselbe gilt umgekehrt für das Gehirn: Im Gehirn kann eine Schwingung eine andere hervorrufen, ohne dass die Seele beteiligt ist. Auf diese autonome Entstehung erfolgt jedoch sogleich eine Rückwirkung der vorher unbeteiligten Kraft: »Wenn eine materielle Idee im Gehirn erneuert wird, so erfolgt wegen der Vereinigung des Organs mit der Seele, und ihrer ununterbrochenen Wirkung und Rückwirkung auf einander die intellektuelle Vorstellung in der Seele.«113 Erst, wenn beide Kräfte beteiligt sind, kann man mit Tetens von einer »ganze[n] Vorstellung« sprechen, die als solche apperzipiert werden kann.114 Doch auch hier gibt es wieder Möglichkeiten der Abstufung. Die »ganze Vorstellung« wird in der Seele jeweils mehr oder weniger weit entwickelt, in Abhängigkeit vom jeweiligen Grad der Aktivität der Seele. Überlässt sie dem Gehirn weitgehend die Tätigkeit, so wird die Vorstellung in der Seele weniger entwickelt, als wenn sie »ihre Kraft selbstthätig anwendet«.115 Dasselbe gilt wiederum umgekehrt für materielle Ideen. Seine Hypothese, so fasst Tetens zusammen, bietet eine Reihe von Erklärungsvorteilen. Sie könne »des Menschen Größe und Schwäche« erklären.116 Sie macht deutlich, wie wenig Seele und Gehirn für sich allein zu leisten vermögen, und wie sehr sie wechselseitig wiederum von 110 111

112 113 114 115 116

PV II, S. 296. Den möglichen Einwand, ein einfaches Wesen könne keine Mannigfaltigkeit in sich schließen, weist Tetens als unphilosophisch zurück und rät: »Wenn es denen, die nicht Metaphysiker sind, etwan zu schwer ankommt, sich in dem Einfachen eine Mannichfaltigkeit vorzustellen, so steht es ihnen frey, diesem Dinge eine ideelle Ausdehnung beyzulegen, wodurch die sinnliche Vorstellung in der Phantasie erleichtert wird« (ebd., S. 297). Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 298. Damit bezieht sich Tetens vermutlich auf die S. 294 diskutierten Beispiele der Überwindung körperlicher Schwierigkeiten durch besondere geistige Anstrengung.

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den Einflüssen abhängen, die auf den jeweils anderen einwirken. Sie soll auch den Unterschied zwischen unwillkürlichen und selbstbestimmten Vorstellungen begreiflich machen (wohl durch die jeweils unterschiedlich großen Anteile von Gehirn und Seele an ihnen), und schließlich erklären, warum sich trotz wechselseitiger Abhängigkeit die Stärke der Seele von der des Gehirns unterscheiden kann. Er räumt zugleich ein, dass er auch hier über keine eigentlich so zu nennenden Beweise für seine Hypothese verfügt, die so eine »Vermuthung« bleiben muss.117 Zusätzliche gestützt wird sie allerdings durch den in 3.5. diskutierten »analogischen Beweis« aus der tierischen Natur des Menschen, durch den sich zeigen lassen sollte, dass zumindest in einigen Fällen rein organisch erscheinende Bewegungsreihen zugleich mit entsprechenden seelischen Reihen vergesellschaftet sind. Tetens diskutiert noch einige weitere Folgen aus seiner Hypothese, die hier kurz beleuchtet werden sollen: (1) Es gibt im menschlichen Körper und auch im Gehirn selbst rein mechanische Bewegungen, an denen die Seele gar keinen Anteil nimmt, oder nur den, Lebensprinzip für den Körper im Allgemeinen zu sein. Darunter sind solche, die die Seele nicht einmal fühlt und die sie weder sich bewusst machen noch willentlich beeinflussen kann. (2) Jede tierische Bewegung muss eine Wirkung der körperlichen Kraft gewesen sein, bevor die Seele sie sich vorstellen und entsprechend dieser Vorstellung einen Willen entwickeln kann. Auch dies gilt namentlich für diejenigen Bewegungen, die im Gehirn durch die Kraft der Seele erweckt werden sollen: Auch sie müssen zuvor durch einen körperlichen Eindruck auf das Gehirn bewirkt worden sein, mit anderen Worten: »Alle unsre Vorstellungen entstehen aus den Empfindungen.«118 (3) Im Körper entstehen durch die Wiederholung derselben Art tierischer Bewegungen gewisse Leichtigkeiten zu ähnlichen Bewegungen, die sich auch als bleibende Spuren dieser früheren Bewegungen auffassen lassen; auf diese Weise lässt sich der Effekt der Übung sowohl körperlicher als auch geistiger Abläufe erklären. (4) In den organischen Bewegungsreihen bringt der Eindruck auf die Nerven die nachfolgenden Bewegungen körperlich hervor und bestimmt die Nervenkraft, auf eine bestimmte Art und in eine bestimmte Richtung zu wirken. Sooft derselbe Eindruck erneut auftritt, sooft entsteht dieselbe Wirkung, sofern sie nicht durch andere Faktoren verhindert wird. (5) Die Seele verfügt über viele Fähigkeiten, die über die bloß organischen Bewegungen hinausgehen. Insbesondere kann sie mittels der Phantasie organische Bewegungen hervorbringen, auch wenn die sonst dafür erforderlichen organischen Ursachen nicht vorhanden sind. Die Seele enthält Vorstellungen von diesen körperlichen Ursachen und kann durch die Phantasie, die diese Vorstellungen herausbildet, auf den Körper wirken und in ihm Bewegungen hervorrufen. Auch in diesem Sinne kann die Seele also unter bestimmten Bedingungen körperliche Ursachen ersetzen. (6) Die Tatsache, dass es unwillkürliche Vorstellungen gibt, die anfangs willkürlich in uns gelangt sind, danach aber auch gegen unseren Willen auftreten, zeigt, dass sich auch sinnliche Bewegungen im Gehirn assoziieren. Dies wirkt sich so aus, dass eine Vorstellung eine assoziierte hervorruft, noch bevor diejenige Handlung der Seele geschieht, die die Assoziation ursprünglich hervorgebracht hat. 117

Ebd., S. 299.

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(7) Bei denjenigen willkürlichen Bewegungen, die zu den Kunstfertigkeiten gehören, sind die Vorstellungen in der Seele und ihre Folge die »vornehmsten« Ursachen, wodurch die jeweilige Abfolge von körperlichen Bewegungen bestimmt wird.119 Das bedeutet, dass sie nur auf eine unvollkommene Art durch die organische Assoziation im Körper ersetzt werden können. Ebenso verhält es sich mit der Reproduktion der willkürlichen Vorstellungen: Diese ist in erster Linie die Abfolge der intellektuellen Ideen im Ich, wodurch jeweils eine Abfolge dazugehöriger materieller Ideen im Gehirn bestimmt wird. Hier ist die organische Verknüpfung als solche allein unfähig, sie in gleicher Ordnung wieder hervorzubringen. Also lassen sich nicht alle Seelenwirkungen im gleichen Maße oder in der gleichen Güte ersetzen. (8) Ursprünglich entstehen die Vorstellungen von einzelnen körperlichen Handlungen in der Seele so, dass die Veränderung im Körper vor der Idee vorhergeht. Sind diese Vorstellungen aber einmal vorhanden, werden sie oft noch vor ihrer jeweiligen Erneuerung durch eine erneute körperliche Handlung reproduziert. Tetens hält es für wahrscheinlich, dass es sich mit den intellektuellen Ideen in der Seele ähnlich verhält: Auch wenn sie ursprünglich durch materielle Gehirnveränderungen in die Seele gelangt sind, treten sie danach in Verbindungen untereinander, die es ermöglichen, dass sie sich gegenseitig wachrufen. (9) Analog zu den Kunstfertigkeiten, die sowohl Fertigkeiten der Seele als auch organische im Körper sind, bestehen auch erworbene Vollkommenheiten der Seele, des Verstandes und des Willens sowohl aus einer Erhöhung der Kraft der immateriellen Seele als auch einer Einrichtung des Gehirns, die es zu einem besseren Werkzeug für die Seele machen.

4. Zwischen Harmonie und Influxus Es sollte deutlich geworden sein, dass einerseits Influxus-Theorien alles andere als naive Erzeugnisse des Common Sense darstellen und andererseits eine große Bandbreite solcher Theorien existiert, unter denen durchaus unterschiedliche Grundannahmen und Fragestellungen zu finden sind. Bezieht man sich auf die als typisch angesehenen drei Annahmen der InfluxusTheorien – die beiden Substanzen sind real verschieden, dennoch liegen reale Einflüsse zwischen ihnen vor, und sie bilden eine Einheit –, so zeigte sich mehrfach, dass Tetens die erste Annahme für wenig problematisch hält, die zweite wenig diskutiert und die dritte dagegen in den Mittelpunkt stellt. Dies ist insofern konsequent, als die zweite Annahme nur dann problematisch ist, wenn die erste ein Problem darstellt. Relativiert sich die Annahme der realen Verschiedenheit der Substanzen, dann ist auch leichter verständlich, wie sie interagieren können, und auch ihr als Einheit spezifizierter Zusammenhang erscheint weniger erklärungsbedürftig. Tetens beschäftigt sich besonders mit einer bestimmten Weise der Interaktion, der Kooperation von Körper und Seele, sowie dem wechselseitigen Ersatz körperlicher und seelischer Leistungen als eines Sonderfalls der Kooperation. Auch damit verschiebt er den Akzent im Vergleich zur klassischen Debatte: es geht Tetens weniger darum, wie der Körper auf die unkörperliche Seele einwirken kann und umgekehrt, sondern darum, wie sich Vorstellungen durch 118 119

Ebd., S. 359. Ebd., S. 361.

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ein komplexes Wechselspiel der beiden Substanzen erklären lassen, bei dem die gegenseitige Einwirkung nur einen Teilaspekt darstellt. Dabei unterscheidet er solche mentalen Gehalte, die gänzlich oder überwiegend einer der beiden Substanzen zuzuordnen sind und solche, die nur durch das Zusammenspiel beider erklärbar sind. Tetens grenzt sich damit nicht nur von harmonistischen Systemen ab, sondern auch von weniger komplexen InfluxusVarianten: Seine »dritte Mittelidee« soll zwischen den Extremen der bonnetschen Minimaltheorie seelischen Einflusses (INFLUX minimal) und der Maximaltheorie des »gemeinen Systems« (INFLUX maximal) lokalisiert sein. Schon aufgrund der Komplexität seiner Theorie lässt sich Wolffs eingangs zitierter Vorwurf der sozusagen eingeborenen Naivität des Influxionismus im Hinblick auf Tetens sicher nicht halten. Auch der oft bemühte Hinweis auf die Erfahrung, den Wolff gerade als Surrogat für ernsthafte philosophische Argumentation wertet, lässt sich nicht in dieser Weise gegen Tetens wenden. Denn er beruft sich nicht in erster Linie auf die vermeintlichen Gewissheiten der Alltagserfahrung, sondern auf die aktuelle Wissenschaftsentwicklung in Physiologie und Medizin, besonders auf Haller und Unzer.120 Durch die Betonung der Kooperation von Körper und Seele eignet Tetens’ InfluxusTheorie schließlich ein deutlich harmonistisches Element. Damit gehört Tetens zu einer größeren Entwicklungstendenz in der deutschen Philosophie, die bereits in den 1730er Jahren beginnt und sich allgemein als ein Prozess der wechselseitigen Annäherung und Durchdringung harmonistischer und influxionistischer Theorien beschreiben lässt. Dieser Prozess ist bisher nur in Grundzügen erforscht und kann hier nur angerissen werden.121 Er setzt damit ein, dass der Influxus physicus überhaupt wieder als ernsthafte Option wahrgenommen wird, erstmalig wohl von Johann Christoph Gottsched in der Vindiciarum systematis influxus physici und den Ersten Gründen der gesammten Weltweisheit.122 Äußerlich betrachtet lassen sich in Deutschland zwei Entwicklungslinien dieses erneuerten Influxionismus unterscheiden: die mehr in den inneren Zirkeln des Wolffianismus entwickelte, die neben Gottsched etwa Johann Peter Reusch, Andreas Böhm und Martin Knutzen einschließt, von der stärker aus Medizin und Physiologie hervorgehenden Richtung, für die Johann Gottlob Krüger und Johann August Unzer stehen.123 Zwischen beiden Richtungen gibt es eine tiefgreifende Gemeinsamkeit, und diese besteht eben in ihrer harmonistischen Tendenz. Diese Tendenz ergibt sich bei Gottsched und Knutzen, wie Eric Watkins gezeigt hat, unmittelbar aus dem Versuch, Leibniz’ Kritik an den InfluxusTheorien zu integrieren und die erneuerte Variante des Influxus an seine Anforderungen anzu-

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Dies bleibt kein bloßer Gestus, sondern lässt sich auch in den Einzelheiten zeigen. So führt Tetens die relative Autonomie der seelischen und körperlichen Kräfte, die ihren wechselseitigen Ersatz allererst ermöglicht, direkt auf die »Unzersche Physiologie, und auf die von Herrn Unzern gebrauchte Hallerische Physiologie« zurück (PV II, S. 303). Pionierarbeit auf diesem Terrain haben vor allem Hans-Peter Nowitzki und Eric Watkins geleistet, auf deren Forschungen die Folgerungen in diesem Abschnitt vollständig beruhen. Vgl. Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch (s. Anm. 7); Watkins: Development of Physical Influx (s. Anm. 7); ders.: From Preestablished Harmony to Physical Influx (s. Anm. 7). Johann Christoph Gottsched: Vindiciarum systematis influxus physici sectio posterior philosophica, caput secundum anti-Leibnitianum. Leipzig 1729; ders.: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Leipzig 1733/34. Christian August Crusius nimmt eine gewisse Sonderstellung ein, die hier nicht näher untersucht werden kann.

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Falk Wunderlich

passen.124 Hans-Peter Nowitzki wiederum hat zwei m.E. für Tetens entscheidende Aspekte bei Unzer und Krüger herausgearbeitet: Krüger formuliert erstens ein »Empfindungsgesetz«, das Unzer mehrfach umgestaltet; sie fassen den Körper-Seele-Zusammenhang damit nomologisch.125 Schon allein damit (unabhängig von der genauen Form des Gesetzes) wenden sie sich von wörtlichen Verständnissen etwa im Sinne des Hereinfließens von Attributen oder der Kontaktkausalität ab und der Postulierung von gesetzmäßig auftretenden Entsprechungsverhältnissen zu, nämlich solchen der Proportionalität von Empfindungen und Bewegungen.126 Zweitens versucht Unzer zu verschiedenen Zeitpunkten ausdrücklich, Aspekte der Lehre von der prästabilierten Harmonie, wie er sie von Georg Friedrich Meier und Alexander Gottlieb Baumgarten aufgenommen hat, in seine Formulierung des Empfindungsgesetzes zu integrieren.127 Schließlich ist zu beachten, dass auch aufseiten der verbliebenen, orthodoxeren Anhänger der prästabilierten Harmonie Entwicklungen zu verzeichnen sind, die auf eine Aufweichung der Unterschiede zwischen den Systemen hindeuten. Zum einen ist dies bei Baumgarten selbst in der von Meier besorgten Übersetzung der Metaphysica zu sehen.128 Diese wird von Unzer wiederum für die begriffliche Grundlegung verwendet und zugleich umgedeutet: Wenn aus einer Handlung eines Dinges eine Veränderung in einem anderen zureichend erkannt werden kann; so hat das erste einen Einfluß in das andere, Baumg. Met. §. 140. 141. und der Zusammen-

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Watkins: Development (s. Anm. 7). Gottsched argumentiert u.a., dass die Unverständlichkeit der Interaktion auf die noch zu dunklen Begriffe von Körper und Seele zurückzuführen sein könnte, über die wir bisher verfügen, sowie dass Influxus nicht wörtlich zu verstehen sei als Hineinfließen von Attributen einer Substanz in eine andere, sondern als Fähigkeit, direkt auf eine andere Substanz einzuwirken. Knutzen (Systema causarum efficientium, seu commentatio philosophica de commercio mentis et corporis per influxum physicum explicando. Leipzig 1745) bietet vier Argumente für den Influxionismus auf: (1) Wenn eine Substanz, wie Leibniz und Wolff unterstellen, die Fähigkeit der Ortsveränderung besitzt, dann muss sie auch in der Lage sein, andere Substanzen von deren Ort zu verdrängen und also direkt auf sie einwirken. (2) Die Undurchdringlichkeit von Substanzen ist nur vorstellbar, wenn sie in der Lage dazu sind, aktiv anderen zu widerstehen. (3) Perfektere Substanzen können immer auf weniger perfekte Substanzen einwirken, und also zumindest die Seele auf den Körper. (4) Die Influxus-Theorie besitzt mehr Wahrscheinlichkeit als die anderen Systeme, weil sie mit der Erfahrung übereinstimmt und die einfachste mögliche Erklärung darstellt. Dieses mehrfach umgestaltete Gesetz kann hier nicht im Detail erörtert werden; grundsätzlich wird eine Proportionalität zwischen der körperlichen Bewegung am Ort des sinnlichen Eindrucks und der damit zusammenhängenden Empfindung in der Seele postuliert. Vgl. Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch (s. Anm. 7), S. 57–74 u. S. 87–162; Johann Gottlob Krüger: Naturlehre. Halle 1740–1749; Johann August Unzer: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig 1771. Interessanterweise fassen Perler und Wild die gesamte Influxus-Theorie als eine nomologisch geregelter Korrelationen (in Absetzung von der »mysteriösen« Interaktionstheorie) auf; vgl. Dominik Perler, Markus Wild: Einleitung. In: dies. (Hg.): Sehen und Begreifen. Wahrnehmungstheorien in der frühen Neuzeit. Berlin, New York 2008, S. 24. Nowitzki, Der wohltemperierte Mensch (s. Anm. 7), S. 60. Die einzelnen Varianten dieser Entwicklung über Unzers Schaffen hinweg können hier nicht näher diskutiert werden; s. dazu eingehend Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch (s. Anm. 7), S. 87–162. Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik. Übers. von Georg Friedrich Meier. Halle 1766, S. 135f. Im lateinischen Original der Metaphysica (Halle 71779, Reprint Hildesheim 1982) S. 147f.; hier findet sich bereits die von Meier selbst betonte Bestimmung von realem und idealem Einfluss.

Tetens und die Annäherung von Influxus physicus und Harmonismus

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hang, in welchen sie, durch ihren gegenseitigen Einfluß in einander gesetzet werden, ist ihre Gemeinschaft. Baumg. Met. §. 328.129

Man könnte dies einen epistemischen Influxus-Begriff nennen, der zugleich viel formaler und frei von Hineinfließens-Metaphern ist, die sich bei Baumgarten sehr wohl noch finden, freilich ohne dass sich Baumgarten der Influxus-Theorie selbst anschließen würde.130 Dieser Begriff ist relativ anspruchslos, insofern, als es bereits als Erklärung gelten würde, wenn wir aus der Handlung des Agenten eine zureichende Erklärung der Veränderung des Rezipienten gewinnen können. Meier wiederum postuliert selbst, seinerseits in Anlehnung an Baumgarten, einen »idealischen Einfluß« aller in der Welt Substanzen aufeinander, der von einem physischen im Sinne des Influxionismus allerdings kaum noch zu unterscheiden ist:131 »Da [...] alle Substanzen dieser Welt, ausser einander vorhanden sind, so würcken sie alle in einander, oder es befindet sich unter ihnen ein allgemeiner gegenseitiger Einfluß (influxus mutus universalis).«132 Dieser idealische Einfluss soll sich vom reellen Meier zufolge nur hinsichtlich der Ko-Aktivität des Rezipienten unterscheiden. Ein reeller Einfluss des Körpers auf die Seele läge also dann vor, wenn die Seele sich gegenüber einem körperlichen Ereignis ausschließlich leidend verhielte, ein idealer Einfluss aber bereits dann, wenn sie nur geringfügig zur resultierenden Vorstellung beitrüge. Das jedoch trifft wiederum bei Tetens auf all jene Vorstellungen zu, die sich aus einer Kooperation von Körper und Seele erklären lassen, sie wären also für Meier bereits Fälle idealischen Einflusses. Es zeigt sich somit, dass im 18. Jahrhundert die Grenzen der »drei Systeme« auf allen Seiten in Bewegung geraten. Die bis zum gegenseitigen Ersatz reichende, enge Kooperation der Substanzen verflüssigt bei Tetens auch den Substanzdualismus, und überdies hat er ihre Heterogenität auch dadurch weitgehend beseitigt, dass er wiederholt ihren Unterschied auf den von Einfachem und Zusammengesetztem reduzierte. Dabei ist er jedoch, wie in diesem Abschnitt gesehen, grundsätzlich in bester Gesellschaft. Vom Standpunkt einer orthodoxen Auffassung der »drei Systeme« als klar abgegrenzter, monolithischer Blöcke sind diese Entwicklungen sicher schwer verständlich. Jedoch erweist sich schließlich gerade jene klare Abgrenzung als historische Fiktion.

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Unzer: Erste Gründe (s. Anm. 125), S. 336. Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik (s. Anm. 128), S. 56. So auch die direkt an Meier gerichtete Kritik von Johan Ernst Gunnerus: Beurtheilung des Beweises der vorherbestimmten Uebereinstimmung. Jena, Leipzig 1748. Georg Friedrich Meier: Beweis der vorherbestimmten Uebereinstimmung. Halle 1743, S. 17.

FRANK GRUNERT

Der Begriff des Glücks in den Philosophischen Versuchen von Johann Nicolas Tetens

Das bemerkenswerte Interesse, das schon seit einiger Zeit dem Thema »Glück« entgegengebracht wird, lässt erwarten, dass »Glück« bzw. »Glückseligkeit« als philosophiehistorischer Untersuchungsgegenstand inzwischen großräumig erforscht ist. Insofern hätte man eigentlich gute Gründe für die Annahme, dass dies insbesondere für das 18. Jahrhundert gilt, das der Niederländer Peter Buijs mit einigem Recht als »eeuw van het geluk«1 bezeichnet. Doch dies ist – vor allem mit Blick auf die deutsche Aufklärung – nicht bzw. nicht im unterstellten Umfang der Fall: Trotz wichtiger Einzelstudien, die durchweg die Bedeutung des Themas belegen,2 kann von einer wirklich angemessenen Erforschung der Vorstellungen von Glück mit seinen theoretischen wie praktischen Valenzen nicht die Rede sein. Das mag viele Gründe haben. Die extreme Unübersichtlichkeit der Quellenlage,3 die die zeitweilige faktische Ubiquität des Begriffs mit

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Peter Buijs: De eeuw van het geluk. Nederlandse opvattingen over geluk ten tijde van der Verlichting. 1658–1835. Hilversum 2007. Abgesehen von der bereits erwähnten Studie von Peter Buijs (wie Anm. 1) siehe etwa die folgenden einschlägigen Arbeiten: Claudia Cesa: Armonia e felicità. Dall’illuminismo all’idealismo. In: Romeo Crippa (Hg.): Piacere, felicità , fortuna e declino. Atti del 3º Convegno tra studiosi di filosofia Morale. Padova 1982, S. 79– 104; Ulrich Engelhardt: Zum Begriff der Glückseligkeit in der kameralistischen Staatslehre des 18. Jahrhunderts (J.H.G. v. Justi). In: Zeitschrift für Historische Forschung 8 (1981), S. 37–39; Frank Grunert: Objektivität des Glücks. Aspekte der Eudämonismusdiskussion in der deutschen Aufklärung. In: ders. und Friedrich Vollhardt (Hg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Tübingen 1998, S. 351–368; Beatrix Himmelmann: Kants Begriff des Glücks. Berlin 2003; Robert Mauzi: L’Idee de bonheur dans littérature et la pensée Française au XVIIIe siècle. Paris 1979; Darrin McMahon: Happiness. A History. New York 2006; Massimo Mori: Glück und Autonomie. Die deutsche Debatte über den Eudämonismus zwischen Aufklärung und Idealismus. In: Studia Leibnitiana 25 (1993), S, 27–42; Clemens Schwaiger: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs. Eine quellen-, begriffs- und entwicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbegriffen seiner Ethik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995; ders.: Zur Theorie des Glücks bei Christian Wolff und Alexander Baumgarten. In: Jürgen Stolzenberg und Oliver-Pierre Rudolph (Hg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses, Halle (Saale), 4.-8. April 2004. Teil 5. Hildesheim, Zürich, New York 2010, S. 31–43; Cornel Zwierlein: Das Glück Bürgers. Der aufklärerische Eudämonismus als Formationselement von Bürgerlichkeit und seine Charakteristika. In: Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis u. Marianne Willems (Hg.): Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Tübingen 2006, S. 71–113. Es spricht für sich, dass Buijs für seine auf die Niederlande bezogene Studie 1600 Einzelquellen im Zeitraum zwischen 1600 und 1830 hat erheben können, wovon allein in den Jahren zwischen 1760 und 1810 nicht weniger als 955 Titel erschienen sind. Vgl. Buijs: De eeuw van het geluk (wie Anm. 1),

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Frank Grunert

sich bringt, gehört sicher ebenso dazu, wie die vornehmlich im deutschen Kontext wirksame Tatsache, dass Immanuel Kant die Lehre vom Glück geradezu philosophisch aussortiert hatte. Denn wer mit Kant das Glück für eine »schwankende Idee«,4 für einen »unbestimmten Begriff« hält, dessen »Elemente […] insgesamt empirisch«5 sind, so dass er als Ableitungsbasis für ein allgemeingültiges Sittengesetz untauglich ist, der dürfte Mühe haben, die Kant vorausgehenden, das ethische Gewicht des Glücks in der Regel gerade betonenden Glückseligkeitslehren philosophisch ernst zu nehmen. Angesichts dieser Sachlage wäre es schon einigermaßen erstaunlich, wenn ausgerechnet der Glücksbegriff eines vergleichsweise wenig beachteten Philosophen wie Johann Nicolas Tetens Gegenstand des philosophiehistorischen Interesses geworden wäre. Auch dies ist – man ist versucht zu sagen: selbstverständlich – nicht der Fall. Weil Tetens aber zum einen an dem für das Selbstverständnis seiner Zeit charakteristischen Glücks- bzw. Glückseligkeitsdiskurs teilnimmt und zum anderen sein philosophisches Hauptwerk, die 1777 erschienenen Philosophischen Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung prägnant mit Ausführungen zur Beziehung zwischen der Vervollkommnung des Menschen und seiner Glückseligkeit abschließt, dürfte eine Untersuchung von Tetens’ Glücksbegriff – auch wenn sie am gegebenen Ort nur skizzenhaft bleiben muss – doch von Interesse sein. Um einen Aufriss des philosophiehistorischen Horizontes zu bieten, innerhalb dessen Tetens Glücksbegriff zu verorten ist, darf hier auf Beobachtungen zurückgegriffen werden, die ich bereits vor etlichen Jahren unter dem Titel Die Objektivität des Glücks. Aspekte der Eudämonismusdiskussion in der deutschen Aufklärung6 publiziert habe. Anhand der damaligen Befunde hat sich zeigen lassen, dass die Philosophie der Aufklärung in Deutschland – und zwar grosso modo bis Kant – bestrebt war, Glück als etwas Objektives aufzufassen, das als »wahres Glück« von den Zufälligkeiten eines bloß subjektiven und daher nur scheinbaren Glücks theoretisch wie praktisch abzuheben war. Glück mochte zwar subjektiv empfunden werden, doch konnte sein eigentlicher Gehalt objektiviert werden, d. h. er lässt sich nach zeitgenössischer Auffassung definitiv erkennen, normativ wenden und im Prinzip auch praktisch verwirklichen. Im Grunde wurde vor Kant genau das behauptet, was dieser später in Abrede stellen sollte. In der vielfach revidierten Tradition antiker – aristotelischer, epikuräischer und stoischer – Ethiken hielten die vorkantischen Philosophen der deutschen Aufklärung an einer aristotelischen Einsicht fest und definierten Glück als »Endziel des uns möglichen Handelns«,7 auf diese Weise machten sie es in der Tat zu einem Schlüsselbegriff des Zeitalters. Die Rekonstruktion des damaligen Diskussionsstandes hat im Anschluss an Vorgaben, die sich in prominenter Weise etwa bei Christian Thomasius finden lassen, sachlich aber zweifellos älteren Datums sind,8 drei Problemkomplexe ergeben, die einen sinnvollen Zugang zu den gängigen philosophischen Glückskonzepten der vorkantischen Aufklärung ermöglichen. Es sind

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S. 25. Mauzi hat für seine als Standardwerk zu betrachtende Arbeit 749 Einzeltitel herangezogen. Vgl. die Bibliographie in Mauzi: L’Idee de bonheur (wie Anm. 2), S. 659–703. Immanuel Kant: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, BA 12. Ebd., BA 46. Das dies freilich nicht die ganze Wahrheit ist, hat bereits Himmelmann überzeugend gezeigt: vgl. Himmelmann: Kants Begriff des Glücks (wie Anm. 2), S. 149ff. Grunert: Objektivität des Glücks (wie Anm. 2), S. 351–368. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier. 10. Auflage Berlin 1999, 1097b. Vgl. dazu Zwierlein: Das Glück des Bürgers (wie Anm. 2), S. 76ff.

Tetens’ Begriff des Glücks

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dies 1. die Unterscheidung zwischen ewiger und zeitlicher Glückseligkeit; 2. die Differenzierung zwischen äußerlicher und innerlicher Glückseligkeit, und damit in Zusammenhang stehend: 3. das Verhältnis von Glück und Tugend. Es ging dabei jeweils um signifikante Verhältnisbestimmungen von jeweils zwei Momenten. So stellte sich etwa die Frage, ob die ewige Glückseligkeit in einen theoretisch wie praktisch gehaltvollen Zusammenhang mit der zeitlichen Glückseligkeit gedacht werden muss, oder ob die ewige Glückseligkeit nur als chronologische Folge der zeitlichen begriffen und damit deswegen aus dem philosophischen Diskurs ausgeschieden werden muss, weil die ewige Glückseligkeit als theologische Frage philosophisch nicht verhandelbar ist. Die weitreichenden Folgen einer solchen Überlegung liegen auf der Hand und sind nicht zu überschätzen. Zudem fragte sich: Welchen Stellenwert hat die äußerliche Glückseligkeit, was sind ihre Attribute und wie wird sie realisiert? Und schließlich ging es im Kontext des Verhältnisses zwischen Glück und Tugend um die Frage, ob Glück in einer signifikanten Korrelation zur Tugend steht, Glück also etwa der unausbleibliche Lohn der Tugend ist, oder ob umgekehrt Glück unabhängig von Tugend ist, so dass Letztere für Ersteres bedeutungslos ist. Wirft man einen Blick in das im Folgenden vornehmlich interessierende, bereits erwähnte letzte Kapitel von Tetens’ Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwickelung,9 das von der »Beziehung der Vervollkommnung des Menschen auf seine Glückseligkeit«10 handelt, dann wird rasch klar, dass Tetens noch immer mit derlei Fragen befasst ist. Freilich unter theoretischen Voraussetzungen, die die frühe und vor allem die mittlere Aufklärung in Deutschland – also etwa Wolff und seine unmittelbaren Anhänger und Nachfolger – zumindest teilweise zwar kannten, aber eben nicht teilten. Sein Bekenntnis zu Locke und der »beobachtenden« Methode, schon gleich zu Beginn der Vorrede zum ersten Band der Philosophischen Versuche11, spielt auch in dem Kapitel über Vollkommenheit und Glück eine wichtige Rolle. Häufiger ist von Beobachtung die Rede, von dem »unvoreingenommenen Beobachter«, dem sich zeige, wie es sich mit dem Menschen und seinem Glück »wirklich« verhält.12 Zweifellos sind es diese theoretischen Voraussetzungen, die dafür sorgen, dass Tetens über den rationalistischen Rahmen eines Teils seiner Vorgänger deutlich hinauskommt, allerdings bleiben die Verbindungen zu dem durch Wolff und seine Anhänger beeinflussten philosophischen Mainstream der Zeit immer noch sichtbar. Schon mit der Beziehung zwischen Glückseligkeit und Vollkommenheit greift er ein zentrales Moment der Glückseligkeitslehre von Christian Wolff auf, freilich ohne deren philosophische Begründung der Beziehung zwischen Glück und Vollkommenheit zu akzeptieren.13 Im Folgenden sollen mit Blick auf die drei genannten Problemkomplexe vier Fragen bearbeitet werden: 1. Wird nach einer Definition von Glück bei Tetens gefragt, wobei schon an dieser Stelle bemerkt sei, dass Tetens selbst leider keine bündige Definition liefert, es kann also 9 10

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Johann Nicolas Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig 1777. [im Folgenden zitiert als: PV Band, Seitenzahl (Versuch, Kapitel, Abschnitt)]. Das Kapitel »Von der Beziehung der Vervollkommnung des Menschen auf seine Glückseligkeit« schließt als »siebenter Abschnitt« den Vierzehnten Versuch. Ueber die Perfektibilität und die Entwickelung des Menschen an. In: PV II, S. 791–834. PV I, S. IV. Ebd. Siehe dazu ausführlich Schwaiger: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs (wie Anm. 2), bes. S. 93ff.

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Frank Grunert

hier im Augenblick nur um eine erste Annäherung gehen. Im 2. Abschnitt geht es um das Verhältnis von Glück und Tugend, worauf dann 3. die Beziehung zwischen Glückseligkeit und Vervollkommnung untersucht wird. Im letzten Abschnitt soll 4. mit Blick auf ihre Bedeutung für den Glücksbegriff das Verhältnis zwischen Jenseits und Diesseits thematisiert werden. Um die theoretischen Besonderheiten von Tetens’ Glückseligkeitslehre hinreichend klar herausarbeiten zu können, werden sie mit den Glückseligkeitskonzepten von Christian Wolff und seiner Schule kontrastiert werden. In diesem Zusammenhang bietet sich neben Wolffs eigenen Ausführungen nicht zuletzt das Glückseligkeitskapitel aus Gottscheds Ersten Gründen der gesamten Weltweisheit an, denn angesichts der bemerkenswerten Verbreitung, die Gottscheds Weltweisheit bis in die siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts erfahren hat, darf man dem Text – trotz philosophischer Unzulänglichkeiten – zweifellos ein beträchtliches Maß diskursiver Präsenz konzedieren.14

1. Glück bei Tetens – Annäherung an eine Definition Tetens entwickelt seinen Glücksbegriff in einem fortlaufenden Diskurs entlang gemachter Beobachtungen und in vergleichsweise engem Kontakt zu anderen Autoren und Positionen, allerdings ohne zu einer Definition in einem vollen Sinne zu gelangen. Dennoch wird klar, worauf es ihm ankommt und wogegen er sich absetzt. Zwar werden in der Auseinandersetzung mit anderen Positionen nicht immer deren Urheber hinlänglich kenntlich gemacht, Wolff etwa taucht gar nicht namentlich auf, obwohl sich das gesamte Kapitel als Gegenentwurf zur Auffassung Wolffs und seiner Adepten lesen ließe. Nicht selten greift er einen Begriff auf, bestätigt ihn partiell und entwickelt dann eigene, differenziertere Vorstellungen, die dann kritisch gegen Vorläuferpositionen in Stellung gebracht werden. Diese Vorgehensweise begegnet etwa bei der Erörterung der Beziehung zwischen Vollkommenheit und Glück und zeigt sich nicht zuletzt bei der von ihm behaupteten Unzulänglichkeit einer Vorstellung von Zufriedenheit als Synonym für Glückseligkeit, hierbei wendet er sich explizit sowohl gegen die Stoa als auch gegen Rousseau15: »Zufriedenheit« – so stellt Tetens fest – »ist zur Glückseligkeit unentbehrlich«16 aber, so ist gleich hinzuzufügen, nicht hinreichend. Als Ebenmaß zwischen den Begierden und ihrer Befriedigung ist sie eigentlich nur die »Abwesenheit des Schmerzes«, zu dessen wohltuender Empfindung auch das Tier fähig sei. Was fehlt, ist die »positive Glückseligkeit«, die nicht in der einfachen Sättigung des Bedürfnislosen bestehen kann: »Wir wünschen« – so heißt es bei Tetens – »die Ruhe und Sorglosigkeit der

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Zu Johann Christoph Gottsched vgl. Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1999; sowie neuerdings: Eric Achermann (Hg.): Johann Christoph Gottsched (1700–1766). Philosophie, Poetik, Wissenschaft. Berlin 2014. Die vergleichsweise entwickelte und von Autoren wie Andreas Rüdiger und Christian August Crusius dominierte Diskussion des Begriffs »Zufriedenheit« in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt Tetens unberücksichtigt. PV II, S. 792.

Tetens’ Begriff des Glücks

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Kinder und der Wilden; aber wir wollen unsere männlichen Kräfte, unsere Kenntnisse und unser Leben des Verstandes behalten«.17 Und so wird denn folgender Grundsatz formuliert: Es ist nicht die Ruhe, die Schmerzenlosigkeit, oder ein Gleichmaß der Kräfte und ihrer Wirkungen [...], sondern die positive Größe, Stärke und Menge der Empfindungen, die nach dem Abzuge der unangenehmen Gefühle übrig bleiben, wornach die Größe und die Stufen der menschlichen Wohlfahrt zu schätzen sind.18

Glück ist daher wesentlich Tätigkeit, die freilich nicht, oder allenfalls ausnahmsweise mit Anstrengung verbunden ist, sie ist vielmehr »leichter, ungehinderter, schmerzloser Gebrauch der Kräfte«. Denn »die Menschen wollen leben und des Lebens genießen, sich beschäftigen können ohne Mühe, wenn die Kräfte munter sind; ruhen können, wenn sie müde sind«.19 Und als Beweis dafür, dass der »gesunde und muntere Mensch mit seinen Vermögen wirken und durch Thätigkeit unterhalten werden müsse, um glücklich zu seyn«, führt Tetens die »verschiedenen Arten von Zeitvertreib, Spielen, Gesellschaften« an, die man deswegen erfunden habe, »um sich freiwillig gewisse Angelegenheiten zu machen, die vor der Langeweile schützen und weder durch eine zu heftige Anstrengung, noch durch die Furcht vor Mangel [...] beschwerlich sind«.20 Trotz dieses von Tetens unverkennbar behaupteten Vorrangs der Tätigkeit, betont er zugleich, dass der Mensch nicht nur ein tätiges Wesen sei, vielmehr habe er »auch seine leidentlichen Veränderungen, und ist einer Glückseligkeit aus den letztern fähig, wie die aus den Eindrücken auf die Sinne ist«.21 Diese Unterscheidung ist ihm nicht zuletzt deswegen wichtig, weil Glück nicht nur aus der »inneren Quelle« durch eigene Tätigkeit erreicht wird, sondern auch von außen verursacht werden kann: »Einige Vergnügen« – so hält Tetens denn auch fest – »erfodern durchaus die Einwirkung oder das Zuthun äußerer Wesen, und hangen von den Beziehungen des Menschen auf äußere Dinge ab«,22 und zwar sowohl im Positiven wie im Negativen, denn äußere Umstände sind bekanntlich durchaus in der Lage, das Glück der eigenen Tätigkeit zu verhindern. Wenn – wie Tetens feststellt – »die Glückseligkeit des Menschen aus der Summe seiner angenehmen Empfindungen entspringe, die alsdann aber nur erst so heißen kann, wenn sie die Summe der ihr entgegenstehenden überwieget«, dann stellt sich die Frage: »Was ist die eigentliche Quelle des Vergnügens?«.23 Tetens Antwort ist vierfach differenziert, sie erhebt nicht den Anspruch erschöpfend zu sein, sondern soll lediglich einseitigen Begriffen vorbeugen, die immer dann virulent werden, wenn »man nicht auf die ganze Vielseitigkeit unserer Natur siehet«:24 1. Alle angenehmen Gefühle, sind »Gefühle von Veränderung«.25 2. Der Mensch ist »nicht bloß Seele, noch bloß Körper«. Will man also die »ganze Vollkommenheit des Menschen haben«, dann muss man die Gefühle aus dem Wohlstande der Seele als auch die aus dem Wohlstand des 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Ebd., S. 794. Ebd. PV II, S. 798f. Ebd., S. 799. Ebd., S. 800. Ebd., S. 805. Ebd. Ebd., S. 806. Ebd., S. 807.

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Körpers berücksichtigen,26 eine Beschränkung auf sublime kontemplative Genüsse findet hier also nicht statt. 3. Angenehm ist das Selbstgefühl der Seele: »Je voller, mannichfaltiger, ausgedehnter, intensiv stärker die Modifikation ist, die auf einmal gefühlet wird, desto größer ist sozusagen das gegenwärtige Seyn der Seele, die indem sie ihre Veränderungen fühlt, ihr Daseyn, oder sich selbst, fühlt.«27 Die Formulierung ließe eigentlich auch negative Empfindungen als Voraussetzung für angenehme Gefühle zu. Insofern kommt es Tetens auf folgendes an: Ob etwas als angenehm oder unangenehm erfahren wird, ist abhängig von der Verfassung der Seele, derselbe Reiz kann je nach Befindlichkeit sowohl als angenehm als auch als unangenehm erfahren werden. Tetens spricht in diesem Zusammenhang von einer »Relation«, in der sich Übereinstimmung und Widerspruch zwischen der Seele und dem auf sie treffenden Reiz manifestiert. 4. Wenn Veränderung aufgrund einer Disposition der Seele als angenehm oder unangenehm empfunden wird, dann braucht diese Veränderung nicht die Folge von Tätigkeit sein, Veränderung kann auch im Übergang zur Ruhe bestehen. Tetens spricht von Ruhe als einem »positiven Hang der Seele [...], sich aus dem Stande der Thätigkeit und des Bewußtseyns ihrer selbst herauszusetzen. Sie will nicht mehr fühlen noch empfinden, oder unterhalten seyn, weil dieß alles sie zu stark angreift«.28 Für Tetens ist Glückseligkeit die Summe angenehmer Empfindungen abzüglich der unangenehmen Empfindungen, die je nach Seelendisposition des Einzelnen als solche empfunden werden. Sie aktualisieren sich vor allem in einer mühelosen, auf Veränderungen angelegten Tätigkeit des ganzen, nämlich Körper und Seele umfassenden Menschen, wobei etwa das Spiel paradigmatisch für die gemeinte Tätigkeit ist. Dabei sind es drei Merkmale, die für Tetens Glücksbegriff charakteristisch zu sein scheinen: 1. Individualisierung, 2. Intensivierung und 3. Dynamisierung. Ad 1.) Auch wenn Tetens daran festhält, dass die »wesentliche Aehnlichkeit« der menschlichen Naturen ihrer jeweiligen »Glückseligkeit dieselbigen wesentlichen Beschaffenheiten«29 verleiht, ist Glück als empfundenes Glück seiner individuellen Voraussetzungen wegen immer individuell. Wiederholt weist er in verschiedenen Formulierungen darauf hin, dass »die menschliche Glückseligkeit in den verschiedenen Individuen und in den verschiedenen Völkern […] ebenso verschiedene Gestalten als die Menschheit selbst«30 hat. Das zuvor im Glückseligkeitsdiskurs der Aufklärung als objektiv bzw. objektivierbar apostrophierte Glück wird bei Tetens auf der Grundlage von Beobachtungen insofern subjektiviert, als er als eine »allgemeine Folgerung« festhält, »daß es in jedem Fall nicht ganz allein von der absoluten Beschaffenheit der Veränderung, die gefühlet wird, abhange, daß sie angenehm oder widrig ist, sondern daß es hierbey gleichfalls auf ihre Beziehung, auf den dermaligen Zustand der Seele ankomme, und folglich zum Theil auf dem letztern beruhe«.31 Ad 2.) Neben dieser bemerkenswerten Individualisierung des Glücks steht eine Intensivierung der Empfindung, die zugleich mit der Entwicklung sowohl des Einzelnen als auch der 26 27 28 29 30 31

Vgl. ebd., S. 808. Ebd., S. 809. Ebd., S. 813. Ebd., S. 806. Ebd., S. 820. Ebd., S. 810.

Tetens’ Begriff des Glücks

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allgemeinen Kultur in Verbindung gebracht wird. Denn die »Größe und die Stufen der menschlichen Wohlfahrt« bemessen sich nach der »positiven Größe, Stärke und Menge der Empfindungen«,32 wobei diese sich wiederum in dem Maße intensivieren als der Mensch sich vervollkommnet: »Seine Bestrebungen werden vervielfältiget und verstärket, wie seine thätigen Kräfte wachsen; und der Umgang und die Stärke seiner Empfindungen wächset mit der Erhöhung seiner Empfindsamkeit, die wiederum von der Ausbildung am Verstande abhängt«.33 Dies ist nicht nur eine individuelle Leistung, sondern sie fußt auf und verbindet sich mit allgemeinen Anstrengungen, die idealtypisch von der gesamten Menschheit unternommen werden. Vergleicht man nämlich – so hält Tetens fest – die »menschliche Glückseligkeit in den verschiedenen Individuen und in den verschiedenen Völkern« der Größe nach miteinander, so lässt sich konstatieren, dass das Glück des Einzelnen in »beinahe demselbigen Verhältniß stehe, wie die innere Auswickelung und Vollkommenheit, zu der die Menschheit gekommen ist«.34 Dabei ist Tetens sich darüber im Klaren, dass bei »entwickelten Menschen […] die Augenblicke einer uneingeschränkten Befriedigung sehr selten« sind. Denn zum einen erzeugt ihre innere Tätigkeit fortlaufend neue Begierden und zum anderen lässt es sich nicht vermeiden, dass sich bei der mit der Kultivierung einhergehenden Anhäufung von Gedanken und Vorstellungen auch »unangenehme Erinnerungen« oder »traurige Vorhersehungen« einstellen. Allerdings sind diese – nach Auffassung von Tetens – am Ende doch nichts weiter als »unerhebliche Dissonanzen, die das Gefühl der Harmonie erhöhen«.35 Ad 3.) Indem Tetens den Begriff der »Veränderung« in den Vordergrund stellt, der nicht nur Tätigkeit impliziert, sondern auch den Übergang von Aktivität zur Ruhe oder den reflektierenden Genuss von aktuell gar nicht ausgeübten Vermögen36 markiert, erhält der von ihm entwickelte Glücksbegriff ein stark dynamisierendes Element. Er setzt sich damit deutlich von zuvor dominierenden stoisch inspirierten Glückskonzepten ab, die gerade nicht auf Intensivierung und Dynamik setzen, sondern die Bedeutung von Beruhigung und Balance, insbesondere in Form von Gemütsruhe betonen.

2. Glück ohne Tugend? Während die Aufklärungsphilosophie im Rückgriff auf antike Tradition – und zwar nicht nur in Deutschland – Glückseligkeit und Tugend insoweit miteinander verbindet, dass Letztere als die konstitutive Voraussetzung der Ersteren begriffen wird,37 fällt auf, dass Tetens die Beziehung 32 33 34 35 36 37

Ebd., S. 794. Ebd., S. 815. Ebd., S. 820. Ebd., S. 793. Vgl. Ebd., S. 826f. Siehe dazu das Kapitel »Deugd alleen is gelukzaligheid: Geluk en de klassieke traditie« in: Buijs: De eeuw van het geluk (wie Anm. 1), S. 51–84. Mit »Deugd alleen is gelukzaligheid« zitiert Buijs eine 1772 von Betje Wolff vorgelegte Übersetzung von Popes Ausspruch: »Virtue alone is happiness below.« Buijs stellt dazu mit Recht fest: »Deze regel werd in de resterende jaren van de de achttiende eeuw de liijfspreuk van talloze schrijvers over geluk« (S. 63).

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zwischen Glück und Tugend mindestens lockert, wenn nicht sogar gänzlich löst. Bemerkenswert ist immerhin, dass alle bisher dargestellten Ausführungen ohne Verweise auf eine Beziehung zwischen Moral und Glück auskommen, von einer das Glück bedingenden Tugend ist erst Recht nicht die Rede. Und dennoch lässt Tetens die Tugend – wie zu zeigen sein wird – nicht völlig außer Acht, allerdings führt er sie in einer Weise ein, die sogleich zu erkennen gibt, dass er ein dezidiert psychologisch-anthropologisches und eben kein moralphilosophisches Projekt verfolgt – und dies im genauen Unterschied zu seinen unmittelbaren Vorgängern. Dass es ihm um Glück als das Ziel menschlichen Handelns geht und dabei das Glück als die Folge richtigen Handelns aufzufassen ist, deutet Christian Wolff bereits mit dem Titel seiner Deutschen Ethik an, denn hier präsentiert er Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen, Zu Beförderung ihrer Glückseligkeit. Die Beziehung zwischen Glück und Tugend wird mit Hilfe eines Begriffs von Vollkommenheit nicht nur eng geknüpft, sondern genau genommen in ein Kausalitätsverhältnis gesetzt. Wolffs Argumentationslinie ist hierbei einigermaßen stringent, sie setzt mit der Vollkommenheit ein: Vollkommen ist der Zustand des Menschen, wenn der »gegenwärtige Zustand mit dem vorhergehenden und dem folgenden und aller zusammen mit dem Wesen und der Natur des Menschen zusammen stimmet«, und er wird »um so viel vollkommener, je grösser diese Übereinstimmung ist«.38 Diese Feststellung wird sogleich normativ gewendet: gut ist, was den innerlichen wie äußerlichen Zustand vollkommener macht, böse sind Handlungen, die das Gegenteil bewirken.39 Indem hier die Natur des Menschen mit einer Norm verbunden wird, ist es die Natur, die den Menschen dazu verpflichtet, alles zu tun, was seinen Zustand vollkommener macht. Entsprechend ist die Regel: »Thue, was dich und deinen Zustand vollkommener machet und unterlaß, was dich und deinen Zustand unvollkommener machet«40 ein Gesetz der Natur. Das beständige Fortschreiten von einer »besonderen Vollkommenheit zu einer anderen« ist das höchste für den Menschen erreichbare Gut und damit der Inbegriff seiner »Seeligkeit«,41 die er nur durch die Befolgung des Gesetzes der Natur erlangen kann. Dieses Fortschreiten von einer Vollkommenheit zur anderen verschafft ihm ein »beständiges Vergnügen«, das Wolff als »Glückseeligkeit« bezeichnet.42 Auf diese Weise »ist das höchste Gut mit der Glückseeligkeit« und die Glückseligkeit mit dem Naturgesetz verbunden, denn weil das »höchste Gut« durch die Erfüllung des natürlichen Gesetzes erhalten wird, »so ist auch die Beobachtung dieses Gesetzes das Mittel, wodurch man seine Glückseeligkeit erhält«.43 Wenn Wolff nun die Tugend als eine Fertigkeit begreift, seine Handlungen nach den normativen Erfordernissen des natürlichen Gesetzes einzurichten, dann ist das Ziel seiner Argumentation erreicht: Weil die Beobachtung des natürlichen Gesetzes den Menschen glückselig macht und die Tugend ihm diese ermöglicht, beruht seine Glückseligkeit auf seiner Tugend. Wolff stellt dazu zusammenfassend fest: »Die Beobachtung des Gesetzes der Natur ist es, so den Menschen glückseelig machet. Da nun die Fertigkeit dem Gesetze der Natur gemäß zu leben 38

39 40 41 42 43

Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen, Zu Beförderung ihrer Glückseligkeit. Zuerst: Halle 1720. Repr. der 4. Auflage Frankfurt u. Leipzig 1733 in: Christian Wolff: Gesammelte Werke. I. Abteilung. Deutsche Schriften. Band 4. Hildesheim, Zürich, New York 1996. § 2, S. 5. Ebd., § 3, S. 6. Ebd., § 19, S. 16. Ebd., § 44, S. 31f. Vgl. ebd., § 51f., S. 35. Ebd., § 53, S. 35.

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die Tugend ist; so machet die Tugend den Menschen glückseelig. Und demnach kann man niemanden ohne Tugend glückseelig nennen.«44 Die damit greifbare Kausalitätsbeziehung zwischen Tugend und Glück wird etwa von Johann Christoph Gottsched mit der folgenden Formulierung auf den Punkt gebracht: »Glückseligkeit [ist] die unausbleibliche Belohnung der Tugend. Ein Tugendhafter muss nothwendig glücklich werden!«45 Diese moralphilosophische Begründung von Glück, die Glück als Wirkung der Tugend betrachtet und damit erst rechtfertigt, ist in der Philosophie der Aufklärung nicht nur unter den Anhänger Wolffs verbreitet, in den Philosophischen Versuchen von Johann Nicolas Tetens spielt sie nun eben so wenig eine Rolle, wie die zahlreichen moralpädagogischen Anleitungen, mit denen Autoren wie Wolff oder Gottsched ihrer Leserschaft über die Mittel informieren, die Glückseligkeit zu erlangen.46 Dennoch ist bei Tetens von Tugend die Rede, allerdings nicht als Voraussetzung oder gar als Bedingung der Möglichkeit des Glücks, sondern vielmehr als ein gewertschätztes, aber eben nicht notwendiges und daher nur am Rande behandeltes Moment des Glücks. Im 12. und letzten Absatz seiner Philosophischen Versuche kommt Tetens an zwei Stellen auf die Tugend zu sprechen, und zwar zunächst gleich zu Beginn seiner Ausführungen zu der Feststellung, dass Kräfte und Vermögen nicht nur in ihren Wirkungen empfunden werden, sondern dass das Bewusstsein ihres Besitzes auch »ohne Rücksicht auf den Nutzen, den sie durch ihren Gebrauch gewähren«47 als angenehm empfunden werden. Darin kommt die Empfindung des eigenen Werts des Menschen zum Ausdruck, die Tetens als »Folge seines feinern Selbstgefühls, seiner Thätigkeit und seines Bewußtseyns«48 beschreibt. Die Tugend ist hierfür ein Beispiel. Sie wird von Tetens als »größte und edelste aller Seelenvermögen« bestätigt, das »für sich selbst ein Gut« darstellt und daher durch seinen bloßen Besitz, den man fühlt und dessen man sich bewusst ist, »glücklich macht«.49 Warum Tetens die Tugend – wie üblich – als größtes und edelstes Seelenvermögen begreift, wird an dieser Stelle nicht ersichtlich. Allerdings ist bemerkenswert, dass ihr theoretischer Wert für Tetens’ Glücksbegriff, trotz der zum Ausdruck gebrachten Hochschätzung, sogleich durch die Bemerkung relativiert wird, dass nicht nur 44

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Ebd., § 66, S. 42f. Siehe sowohl zum Begriff der Vollkommenheit als auch zum Begriff des Glücks bei Christian Wolff: Schwaiger: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs (wie Anm. 2), S. 93ff. und S. 161. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, Praktischer Theil. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von P. M. Mitchell. Fünfter Band, zweiter Teil. Berlin, New York 1983. S. 109. Vgl. dazu etwa »Das 3. Capitel. Von der Art und Weise, wie der Mensch das höchste Gut oder seine Glückseeligkeit auf Erden erlangen kann«. In: Wolff: Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen (wie Anm. 38). Ganz ähnlich und im Anschluss an Wolff hält Gottsched fest, dass derjenige, der »sich in der Welt glücklich« machen will, mit »viel Fleiß, Verstand, Ernst und einer langen Übung« eine Reihe von »Hauptpflichten« beobachten muss: So ist erstens geboten, »in Gehorsam gegenüber dem Gesetz der Natur tugendhaft zu leben; zweitens muss man einen ernstlichen Vorsatz [...] dazu in sich entzünden; drittens soll man die Urteilsfähigkeit des eigenen Verstandes schärfen und viertens die Herrschaft über seine Sinne und Einbildungskraft zuwege bringen«. Hilfreich ist hierbei ein bereits von Wolff vorgegebenes, vierstufiges, am besten täglich zu absolvierendes Trainingsprogramm, das den Glückseleven in die Lage versetzen soll, jede seiner Handlungen mit dem letzten Endzweck aller seiner Handlungen widerspruchslos zu verbinden. Siehe Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, Praktischer Theil (wie Anm. 45), S. 118 u. S. 116. PV II, S. 827. Ebd., S. 830. Ebd., S. 827.

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der bewusste Besitz der Tugend glücklich macht, sondern dies auch für den Besitz von »Kunst und Geschicklichkeit« und selbst für körperliche Eigenschaften wie »Schönheit, Gesundheit und Stärke«50 gilt. Auch an der zweiten Stelle, an der die Tugend thematisiert wird, ist sie lediglich ein Beispiel und eben kein konstitutives Moment des Glücks; der Zusammenhang ist der Folgende: Tetens konstatiert als Ergebnis psychologischer Beobachtungen, dass »die Vorstellung von dem Werth auch wahrer gefühlter Vollkommenheit nicht bey allen Menschen denselbigen Grad der Stärke erlanget«,51 daher wird die jeweilige wahre Vollkommenheit eben auch nicht von allen Menschen in gleicher Weise angestrebt. Tetens führt dies auf »unendlich viele Veranlassungen« zurück, die dazu führen können, dass die »Vorstellung von einer Seelenkraft und dem Werthe derselben«52 bei dem Einzelnen nicht zu entsprechenden Bestrebungen führen. Als Beispiel führt er dazu den »weichen Wollüstling« an, der »nur Freuden kennt, die von äußern Eindrücken kommen« und sich daher nicht von »höheren Gütern«53 angezogen fühlt. Doch lässt sich das Gefühl und damit die Wertschätzung für innere Vollkommenheiten kultivieren, und zwar in einem Maße, »daß die Begierde nach derselben auch nicht einmal von dem Gedanken, wir werden vielleicht nie einen erheblichen Gebrauch von ihr machen, völlig vernichtet wird«.54 Allerdings – so wendet Tetens ein – müsse man sozusagen umgekehrt zugeben, dass sich das Gefühl und die Wertschätzung einer inneren Vollkommenheit reduziert, wenn man jemanden davon überzeugt, das ihm diese jeweilige Vollkommenheit »auf die Zukunft ganz unnütz sey«.55 In dem Fall könne die Wertschätzung nur erhalten bleiben, wenn sie »von Zeit zu Zeit durch andere Ursachen erneuert wird«.56 Die Tugend dient genau hierfür als Beispiel. Zwar erkennt Tetens ausdrücklich an, dass die Tugend nach stoischer Auffassung ihr eigener Lohn sei, denn sie könne »unaufhörlich im Innern«, nämlich als Moment des eigenen empfundenen Wertes genutzt werden. Doch hält Tetens es für fraglich, ob dieser Lohn für alle Menschen hinreiche und so zur Tugendhaftigkeit motivieren könne. Die stoische Moral sei am Ende doch eher nur eine Moral für sehr wenige Menschen; für die meisten indes sei »es durchaus nöthig, daß eine Erwartung künftiger sinnlicher Freuden, als Gefolge der Tugend, hinzukomme, wenn die letztere ihre Achtung behalten soll.« Und, so fügt er hinzu, »wo bliebe diese letztere, wenn die Tugend nicht die Verheißungen der Zukunft bey sich führte«.57 Diese Verheißungen beziehen sich nicht auf das Diesseits, also auf das diesseitige Glück als Lohn der Tugend, sondern vielmehr auf einen Nutzen nach dem Tod. Dieser wird üblicherweise mit der ewigen Glückseligkeit identifiziert, doch ist bei Tetens hier von ewiger Glückseligkeit – so naheliegend dies auch sei – nicht die Rede. Tugend – so lässt sich auch an dieser Stelle abschließend konstatieren – wird selbstverständlich geschätzt, ihre Beziehung zur Glückseligkeit bleibt aber allenfalls beiläufig.

50 51 52 53 54 55 56 57

Ebd. Ebd., S. 831. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 832. Ebd.

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3. Vervollkommenheit und Glückseligkeit Wenn bei Christian Wolff und im Wolffianismus derjenige glücklich ist, der das Vollkommenheitsgebot des Naturrechts befolgt, bedeutet dies eine weitgehende Übereinstimmung von Glück und Vervollkommenheit bzw. Vervollkommnung, und genauso wird es etwa von Gottsched formuliert: Ein Vergnügen, welches aus wahren Vollkommenheiten entsteht, ist ein beständiges Vergnügen: und also verschaffet derjenige, der sich immer vollkommener zu machen bemühet ist, sich immer ein neues Vergnügen. Ein solcher Zustand aber ist ja dasjenige, was wir die Glückseligkeit nennen: daher stimmet denn die Beförderung unserer Vollkommenheit, mit der Bemühung glücklich zu sein, vollkommen überein.58

Tetens widerspricht, und will vor dem Hintergrund eines anderen Begriffs von Vollkommenheit und eines weitgehend moralindifferenten Glückseligkeitsbegriffs die Unterschiede und Beziehungen zwischen Glück und Vollkommenheit genauer untersuchen. Weil die Glückseligkeit angenehmen Gefühlen entspringe und die Gefühle innerer Vollkommenheiten angenehm sind, hält es Tetens für auffällig, dass »die erstere von den letztern abhängt«.59 Doch ist dies in seinen Augen nicht genug, »um beyde für einerley zu halten, oder auch nur die Größe der einen nach der Größe der andern zu bestimmen«.60 Insofern scheint die Verbindung zwischen Glückseligkeit und Vollkommenheit zwar eng zu sein, doch bleiben beide voneinander unterschieden. In manchen Fällen besteht nicht einmal die behauptete Verbindung, nämlich dann, wenn Vollkommenheiten gegeben sind oder behauptet werden, die bei einzelnen Personen ohne Genuss bleiben – was bei Wolff ganz undenkbar wäre –, oder wenn die Einbildung stark genug ist, um ohne eine faktische Beziehung zu irgendeiner Vollkommenheit Glück zu imaginieren. In diesen Fällen sind Glück und Vervollkommnung, wobei Letzteres nichts anderes meint als die Erhöhung der Vermögen und der Kräfte des Menschen, zwei »sehr unterschiedene Dinge«.61 Ihre entschiedene Differenz wird auch deutlich, wenn Tetens festhält, dass mit Blick auf die Vervollkommnung des Menschen gerade Unglück und Schmerz Faktoren darstellen, die »ungemein nützlich« sind, denn Widrigkeiten strengen die Kräfte an und führen dazu, dass sie sich im Kampf gegen Hindernisse weiterentwickeln. Die von Tetens behauptete Nichtidentität von innerer Vollkommenheit und Glückseligkeit beruht zudem und nicht zuletzt auf der Abhängigkeit der Glückseligkeit von äußeren Ursachen, wäre es anders, dann wäre die innere Vollkommenheit allein bestimmend und »Vervollkommnung und Beglückung [wären] einerley«. Das Ideal einer vollständigen Autarkie nach stoischem Vorbild hält Tetens aber für nicht realisierbar, denn die »vollkommene Unabhängigkeit von außen ist [...] keine mögliche Eigenschaft des Menschen, wenigstens in dieser Welt nicht«.62 Doch abgesehen von den physischen Notwendigkeiten müssen für die Empfindung des Glücks die Vermögen der Seele »lebendige Kräfte seyn und in Thätigkeiten sich offenbahren, welche 58 59 60 61 62

Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, Praktischer Theil (wie Anm. 45), S. 105. PV II, S. 791. Ebd. Ebd., S. 792. Ebd., S. 816.

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gefühlt und genossen werden«.63 Daher müssen »Reizungen von äußern Ursachen hinzukommen oder doch Veranlassungen und schickliche Objekte der Kraft vorliegen«, denn »der Besitz der Vermögen für sich macht den Menschen nicht glücklich, sondern ihre freye und ungehinderte Anwendung«.64 Die innere Vollkommenheit ist auf diese Weise lebensweltlich eingelassen und das Glück den Kontingenzen der Lebenswelt ausgesetzt. Ist nämlich das Glück davon abhängig, dass die Vermögen der Seele mit der Hilfe äußerer Umstände lebendig und tätig werden, dann können günstige Umstände das Glück befördern, weniger günstige aber das Glück be- oder gar verhindern. Und so resümiert Tetens: Diese Verschiedenheit der angenehmen Empfindungen, in Hinsicht ihrer Abhängigkeit von der innern Verfassung des Menschen und von äußern Umständen hindert es, daß man den Menschen nicht [sic!] in der gleichen Maße für glückselig halten kann, wie er innerlich vollkommen ist.65

Andere, d.h. theoretisch interessante Perspektiven ergeben sich, wenn man die Verbindung von Glück und Vervollkommnung auf der Basis ihrer Unterscheidung in den Blick nimmt. Denn Tetens räumt durchaus die Richtigkeit des Grundsatzes ein, »daß je mehr der Mensch vervollkommnet wird, einer desto größern Glückseligkeit […] er fähig«66 werde. Und dieser impliziert mit Blick auf Tetens’ Vollkommenheits- bzw. Vervollkommnungsbegriff, der eben auf die Steigerung der Kräfte und Vermögen angelegt ist, die folgende Überlegung: Durch die Vervollkommnung werden »seine Bestrebungen […] vervielfältigt und verstärket, […] seine thätigen Kräfte wachsen; und der Umfang und die Stärcke seiner Empfindungen wächset mit der Erhöhung seiner Empfindsamkeit die wiederum von der Ausbildung am Verstande abhängt. [...] jede Erhöhung der Vollkommenheit der Natur [ist] eine Vermehrung eines innern Schatzes [...], aus dessen Besitz die edelsten und feinsten Vergnügungen entstehen, die am tieffsten eindringen und am dauerhaftesten und unabhängigsten von äußeren Zufällen sind. Jeder Zuwachs an innerer Menschengröße macht die Quelle der Glückseligkeit größer«,67 dies gilt nicht nur individuell, sondern bezogen auf die Menschheit insgesamt, so dass Glückseligkeit nicht zuletzt Ergebnis einer Kulturentwicklung darstellt.68 Auch wenn Tetens auf der Unterscheidung zwischen Vervollkommnung bzw. Vollkommenheit und Glückseligkeit besteht, hält er an ihrer Beziehung doch fest. Ihm geht es gegenüber den Vorgänger-Positionen um eine psychologisch sachangemessene Differenzierung. Der normative Gehalt von Vervollkommnung als Erweiterung und Erhöhung der Vermögen und Kräfte des Menschen bleibt dabei genau genommen erhalten und wird dazu noch in eine – wenn auch nicht ausgebaute – geschichtsphilosophische bzw. kulturgeschichtsphilosophische Perspektive gebracht. Mit Blick auf die Vervollkommnung, ist der Erwerb der Glückseligkeit doch nicht so qualitativ offen, wie es vorhin schien. Die glücksverheißende ungehinderte Tätigkeit bleibt orientiert an der Erhöhung von Vermögen und Kräften, d. h. Tetens vermag sich mit einer Auffassung wie der Diderots, der niemandem das Recht streitig machen will, auf seine Weise glücklich zu werden, nicht bzw. nicht ganz abzufinden. 63 64 65 66 67 68

Ebd., S. 816. Ebd. Ebd., S. 817. Ebd., S. 815. Ebd. Vgl. ebd., S. 820.

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4. Das Jenseits im Diesseits Die Unterscheidung zwischen ewiger und zeitlicher Glückseligkeit wird im Diskurs über Glückseligkeit entweder dazu verwendet, die philosophisch zu verhandelnde zeitliche Glückseligkeit von der in die Kompetenz der Theologie fallenden ewigen abzugrenzen, um damit das eigene theoretische Terrain zu definieren. Ewige Glückseligkeit kann dann außer Acht bleiben.69 Oder die Differenzierung kann dazu führen, beide Glückseligkeiten in eine nicht nur chronologische Beziehung zu setzen, sondern die zeitliche als Vorschein oder Bedingung der ewigen Glückseligkeit aufzufassen, was selbstverständlich vor allem für Theologen attraktiv ist.70 Gottsched etwa hält eine Verknüpfung beider Varianten für richtig, die die Bedeutung der ewigen Glückseligkeit für die zeitliche unauffällig dequalifiziert. Konzeptuell bleibt alles, wie es ist; inhaltlich ist alles selbstverständlich noch vollkommener. Die künftige Glückseligkeit ist als Glückseligkeit weiterhin ein Zustand eines beständigen Vergnügens, der auch nicht anders als die durch die Beobachtung des Gesetzes der Natur erlangt werden kann. Und weil das Gesetz der Natur ein göttliches Gesetz ist, »und derjenige, der ihm nachkömmt, sich als ein guter Bürger in der Stadt Gottes verhält; so kann ein Tugendhafter versichert seyn, daß dieser allervollkommenste Monarch, es ihm auch nach dem Tode, nicht an dem Lohne guter Handlungen wird fehlen lassen«.71 Tetens geht ganz anders vor, vorsichtiger und indirekter. Von ewiger Glückseligkeit spricht er – wenn ich richtig sehe – an keiner Stelle, doch bezieht er eine Reflexion auf das Jenseits in seine Überlegungen zur diesseitigen Glückseligkeit ein. Und zwar ist hier an seinen Ausführungen zur Abhängigkeit angenehmer Empfindungen von äußeren Umständen anzuschließen, denn in diesem Zusammenhang kommt er auf die Bedeutung von Furcht und Hoffnung für die Glückseligkeit zu sprechen. Furcht und Hoffnung wirken auf die Vermögen und machen sie lebendig. »Dabei hängt viel von den zufälligen Kenntnissen, Ueberredungen und Einsichten, die durch glückliche Anführungen eingeflößt sind, und in einem andern Verhältnisse ihre seligen und unseligen Wirkungen äußern, als worin die Verstandeskräfte stehen, bei dem Glaubenden, dem Zweifler und dem, der sich vom Gegenteil überzeugt hält?«.72 Die Hoffnung auf das Seelenheil im Jenseits wirkt auf die Glückseligkeit im Diesseits, daher musste – nach Tetens’ Auffassung – »das trostlose System« des Spinoza seinen Schöpfer bei all seinem Verstande »um alle Freuden bringen, welche die Aussicht in die Zukunft giebt«.73 Gleiches gilt für pagane Philosophen: Die »innige das ganze Herz ausfüllende Seligkeit«, die durch die »lebhaftere Ueberzeugung von der Ewigkeit auch bey [...] schwächeren Seelen bewirkt wird«, bleibt ihnen verwehrt. »Ruhe und Gleichmüthigkeit war das höchste, was jenen ihr Bewußtseyn innerer Güte geben konnte, das aber die höchste Stufe der Glückseligkeit nicht ist«.74 Hier wird mit psychologischen Argumenten das Glück des Jenseits pragmatisch für das Glück des Diesseits genutzt. 69 70 71 72 73 74

Vgl. dazu Christian Thomasius. Siehe Grunert: Die Objektivität des Glücks (wie Anm. 2), S. 353f. Vgl. dazu Johann Joachim Spalding: Die Bestimmung des Menschen. Greifswald 1748. Dazu Grunert: Die Objektivität des Glücks (wie Anm. 2), S. 355f. Gottsched: Weltweisheit (wie Anm. 26), S. 119. PV II, S. 818. Ebd. Ebd.

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Wie es sich tatsächlich mit dem Jenseits verhält, teilt Tetens nicht mit – es ist schlicht nicht sein Thema. Nur ganz am Ende des Abschnitts, und d. h. am Ende der Philosophischen Versuche insgesamt, wird noch einmal vorsichtig ein Jenseitsbezug hergestellt, und zwar als Vorschlag zur Erklärung der Beobachtung, dass sich jeder sein Leben angenehm zu machen sucht und sich dazu in einem Umfang »Vermögen und Kräfte« zu verschaffen sucht, die der Begrenztheit des diesseitigen Lebens faktisch nicht angemessen sind. Um dieses Missverhältnis zu erklären, gibt Tetens zu bedenken: »Mich deucht, es sey auffallend, daß es auch hier in unserer Natur Kräfte und Bestrebungen gebe, die nach Punkten hingehen, welche jenseits des Grabes liegen«.75 Damit wird nicht die geglaubte Realität eines personalen Gottes konzeptuell eingeholt, sondern in erster Linie eine psychologische Beobachtung mitgeteilt. Gleichwohl wird hier doch, und zwar mit der größten Zurückhaltung, eine transzendente Perspektive vorgestellt, deren weitere Verfolgung sich der Autor freilich deswegen versagt, weil sie über den selbstgesteckten psychologischen Rahmen hinausgeht. Tetens markiert hier eine theoretische Grenze, die er nicht zu überschreiten gedenkt – vielmehr lässt er seine Philosophischen Versuche nicht ohne Grund genau hier enden.

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Ebd., S. 834.

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Weder Wolff noch Bonnet, sondern Epigenesis durch Evolution Tetens über die Ausbildung der Seele (14. Versuch)

1. Präformisten versus Epigenetiker: Tetens’ Vermittlungskonzept Um der für die Lebenswissenschaften zentralen Frage nach der Funktionsweise der Zeugung und Vermehrung der Lebewesen auf den Grund zu gehen, entwickelten im 17. Jahrhundert die Naturforscher zwei gegensätzliche Theorieansätze, die noch bis ins 19. Jahrhundert diskutiert wurden. Die Endrunde der erbittert geführten Auseinandersetzungen wurde erst 1824 eingeläutet, denn in diesem Jahr gelang es Jean-Louis Prévost (ca. 1790–1850) und Jean-Baptiste André Dumas (1800–1884), die Befruchtung der Eizelle durch die Spermatozoiden nachzuweisen.1 Dieses für die Entwicklungsbiologie revolutionäre Ergebnis veröffentlichten die beiden Franzosen in ihrer Nouvelle théorie de la génération (Paris 1824). Bis zu diesem Zeitpunkt war die Wissenschaft aber in zwei Lager geteilt, nämlich die Evolutionisten oder Präformationisten einerseits und die Epigenetiker andererseits.2 Der Ausdruck »Evolution« wurde im 17. und 18. Jahrhundert noch nicht benutzt, um etwa im Sinne des Lamarck’schen Transformismus oder gar des Darwinismus den graduell verlaufenden Prozess der phylogenetischen Weiterentwicklung der Tiere und Pflanzen zu bezeichnen.3 Diese heute gebräuchliche Bedeutung wurde erst 1816 durch den Lamarck-Kritiker Julien-Joseph Virey (1775–1846) eingeführt.4 Zuvor war der Begriff jedoch mit dem des Prä1 2

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Siehe beispielsweise Jean-Louis Fischer: [Art.] Génération. In: Michel Delon et al. (Éd.): Dictionnaire européen des Lumières. Paris 2007, p. 569–573, hier insb. p. 573. Zur Kontroverse zwischen präformistischer und epigenetischer Theorie siehe beispielsweise Abba Gaissinovitch: Die Entwicklung der biologischen Wissenschaften in der Epoche der bürgerlichen Aufklärung – historische und ideologische Voraussetzungen. In: Ilse Jahn u.a. (Hg.): Geschichte der Biologie. Theorien, Methoden, Institutionen, Kurzbiographien. Jena 1982, S. 226–265, insb. S. 247ff. Siehe hierzu etwa Robert J. Richards: The Meaning of Evolution. The Morphological Construction and Ideological Reconstruction of Darwin’s Theory. London, Chicago 1993. Siehe hierzu Pietro Corsi: Lamarck. Genèse et enjeux du transformisme (1770–1830). Paris 2001, p. 210 sowie Julien-Joseph Virey: [Art.] Animal. In: Nouveau Dictionnaire d’histoire naturelle, appliqué aux Arts, à l’Agriculture, à l’Économie rurale et domestique, à la Médecine, etc. Par une société de naturalistes et d’agriculteurs. Nouvelle Édition presqu’entièrement refondue et considérablement augmentée. Vol. II. Paris 1816, p. 1–81, hier p. 30: »Il est donc vraisemblable que, par cette évolution successive, la nature s’est élevée depuis la moisissure imperceptible jusqu’au cèdre majestueux, au pin gigantesque, comme

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formationismus identisch. Letzter steht der Idee des biologischen Evolutionismus sogar diametral entgegen, denn er impliziert die essentielle Unveränderlichkeit der Arten: Die Präformationisten gehen davon aus, dass der Embryo in seiner Gänze (oder zumindest weitgehend) virtuell in seinem Keim vorgebildet ist; eine wirklich neuartige Lebensform kann folglich nicht entstehen, denn die Entfaltung des Werdenden ist im ausgeformt Bestehenden schon stets prädeterminiert. Gegen diese Vorstellung opponierte bereits William Harvey (1578–1657), indem er ihr in seinen 1651 erschienenen Exercitationes de generatione animalium die Epigenese entgegensetzte. Nach seiner Ansicht besteht der Prozess der Embryogenese in der graduellen Entstehung der Organe aus zuvor amorpher Materie: Die Formung der Teile eines Lebewesens, so erklärte er, würde bei einem ursprünglichen Teil einsetzen, aus dem sich die übrigen Gliedmaßen progressiv entwickelten.5 Als Gegner Harveys positionierte sich der niederländische Entomologe und Calvinist Jan Swammerdam (1637–1680). Wie er in seiner Historia insectorum generalis (1669) darlegt, liege ein Insektenembryo bereits vollständig vorgeformt und gleichsam en miniature im weiblichen »Samen« vor; um den Keim zu erwecken, um die belebende Ausfaltung (die Evolution) und das Wachstum seiner Gliedmaßen zu initiieren, ist nach Swammerdams Ovismus lediglich die Stimulation durch den männlichen Samen vonnöten.6 Die Zeugung im herkömmlichen Sinne, bei der die Eltern die Hauptakteure sind, ist hier ausgeschlossen, denn gemäß der Konzeptionen Swammerdams ist es Gott, der ursprünglich alle Keime erschaffen hat; diese liegen ineinander eingeschachtelt seit Anbeginn der Schöpfung vor.7 Vollkommen zu Recht hat daher Jean-Louis Fischer in Anschluss an Jacques Rogers Rede von einem »théocentrisme biologique«8 die Lehre von der Präexistenz der Keime als eine »idéologie catholique, politique et sociale« charakterisiert, die kaum einer »pure conviction scientifique« entsprochen habe.9 Im Zeitalter der Aufklärung war der bedeutende Philosoph und Naturforscher Charles Bonnet (1720–1793) sicherlich der wirkmächtigste Vertreter der Präformationstheorie, die im

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elle s’est élaborée et perfectionnée depuis l’animalcule microscopique jusqu’à l’homme, roi et dominateur de tous les êtres animés.« Siehe etwa Jacques Roger: Les sciences de la vie dans la pensée française au XVIIIe siècle. Paris 1993, p. 119sq. sowie William Harvey: Exercitationes de Generatione Animalium. Quibus accedunt quaedam De Partu: de Membranis ac humoribus Uteri: & de Conceptione. London 1651, insb. S. 121 (Exercitatio 44): »Horum fabrica à parte aliquâ, tanquam ab origine, incipit; ejúsque ope reliqua membra adsciscuntur: atque haec per epigenesin fieri dicimus; sensim nempe, partem post partem; éstque istæc, præ altera, propriè dicta generatio.« Jan Swammerdam: Historia Insectorum Generalis, ofte Algemeene Verhandeling vande Bloedeloose Dierkens. Utrecht 1669; zur Kritik an Harvey siehe insb. S. 35ff. Siehe hierzu etwa Fischer: [Art.] Génération (s. Anm. 1), p. 570 sowie Richards: The Meaning of Evolution (s. Anm. 3), p. 5. Jacques Roger: Réflexions sur l’histoire de la biologie (XVIIè–XVIIIè siècles): problèmes de méthodes. In: Revue d’histoire des sciences et de leurs applications 17.1 (1964), p. 25–40, hier p. 34: »Il y a, à la fin du XVIIe siècle et au début die XVIIIe, un théocentrisme biologique aussi net que le théocentrisme théologique.« Fischer: [Art.] Génération (s. Anm. 1), p. 571: »La doctrine de la préexistence des germes correspond plus à un ›théocentrisme biologique‹ (J. Roger, 1962 [sic!]), à une idéologie catholique, politique et sociale, qu’à une pure conviction scientifique«. Angesichts der Tatsache, dass Swammerdam und Bonnet als Hauptvertreter des Präformismus keine Katholiken waren, wäre es präziser gewesen, allgemein von einer »idéologie chrétienne« zu sprechen.

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Mittelpunkt seiner Lehre stand. Die Konzeptionen Bonnets knüpfen einerseits durch die mechanistisch-sensualistische Ausrichtung seiner »Fibernpsychologie«10 an die Tendenzen der säkularen und empirisch orientierten Naturforschung der Aufklärung an. Insbesondere seine Entwicklungspsychologie lieferte hierdurch Impulse für den Materialismus; wie es sich nachweisen lässt, sind etwa die systematischen Grundlagen der Seelenlehre Michael Hißmanns (1752–1784) den Ideen Bonnets verpflichtet.11 Andererseits ist aber auch die theologische und apologetische Zielsetzung der Naturphilosophie Bonnets offensichtlich: Seine Intention war es, als Protestant auf der Grundlage einer durch Leibniz beeinflussten Keimtheorie die Wahrheit des Christentums und des Unsterblichkeitsdogmas gegen den Materialismus zu beweisen. Bekanntermaßen ist dies in seiner erstmals 1769 in Genf erschienenen Abhandlung La Palingénésie philosophique ou Idées sur l’état passé et sur l’état futur des être vivans besonders deutlich. In diesem in Europa viel rezipierten Werk formuliert Bonnet die Annahme, dass den Tod und den Zerfall eines Organismus ein im Gehirn enthaltener »germe incorruptible« überdauern würde, der den eigentlichen Sitz der immateriellen Seele darstelle. Im Anschluss an die biblische Geschichtsschreibung ging er ferner davon aus, dass der Erdball periodisch wiederkehrenden Umwälzungen (wie die Sintflut) unterworfen sei, wobei aber auf jeden verwüstenden Kataklysmus ein neues Erdzeitalter folge, das den unzerstörbaren Keimen eine Entfaltung und Wiedergeburt zu neuen Formen pflanzlicher und animalischer Organisation ermögliche.12 Dabei erreichen die Lebensformen eines jeden neuen Zeitalters einen höheren Komplexitätsgrad als ihre Vorgänger.13 Vorraussetzung und gedankliche Basis für diese Ideen war der Präformismus: Bonnet glaubte (in Anschluss an Swammerdam), dass die im Laufe der Generationenfolge hervorgebrachten Individuen im Ei der Mutter präexistierten, sie alle seien ineinander eingeschachtelt dem durch Gott erschaffenen Urweibchen ihrer Art eingepflanzt worden.14 Bonnets stärkster Antagonist war der deutsche Wissenschaftler Caspar Friedrich Wolff (1734–1794), dessen 1759 erschienene Theoria generationis als die zentrale Verteidigungsschrift der Epigenese in die Geschichte der Entwicklungsbiologie einging.15 Wachstum und Fortpflan-

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Siehe hierzu etwa Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin 2003, insb. S. 232ff. Siehe hierzu Martin Schmeisser: »Der eigentliche Materialist […] weiß von keiner unkörperlichen gehirnbewegenden Kraft«: Michael Hißmann und die Psychologie Charles Bonnets. In: Heiner Klemme, Gideon Stiening u. Falk Wunderlich (Hg.): Michael Hißmann (1752–1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung. Berlin 2012, S. 99–118. Siehe Olivier Rieppel: Unterwegs zum Anfang. Geschichte und Konsequenzen der Evolutionstheorie. München 21992, S. 61. Ebd.; obschon er im Anschluss an Leibniz die Idee einer »Échelle des êtres naturels« hatte, war Bonnet die Vorstellung einer phylogenetischen Evolution im Sinne Lamarcks oder Darwins fremd: Die Lehre von der Präformation war mit Schöpfungsglauben und Konstanzlehre auf das engste verbunden. Siehe hierzu Gaissinovitch: Die Entwicklung der biologischen Wissenschaften (s. Anm. 2), S. 252. Siehe hierzu etwa Rieppel: Unterwegs zum Anfang (s. Anm. 12), S. 60. Zu Bonnets Keimtheorie allgemein siehe Roger: Les sciences de la vie (s. Anm. 5), p. 712–725. Siehe hierzu etwa Gaissinovitch: Die Entwicklung der biologischen Wissenschaften (s. Anm. 2), S. 241–247, Olaf Breidbach: Einleitung. Zur Mechanik der Ontogenese. In: Caspar Friedrich Wolff: Theoria Generationis. Ueber die Entwicklung der Pflanzen und Thiere. Übers. u. hg. von Paul Samassa. Thun, Frankfurt a. M. 1999, S. I–XXXIV sowie der kurze (unsignierte), aber pertinente Überblicks-Aufsatz La formation sans

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zung waren für Wolff (so erklärt Olaf Breidbach) »Resultat einer Ablagerung organischer Stoffe nach Maßgabe der ihnen innewohnenden Agglutinierungseigenschaften«.16 Der Grundstoff eines jeden pflanzlichen oder tierischen Organismus sind für Wolff Bläschen, welche die zunächst undifferenzierten Gewebeanlagen darstellen, von denen die Entwicklung des Organismus ihren Ausgang nimmt; diese Bläschen bilden aber keine »Miniaturausgaben« der späteren Organe. Letztere entstehen vielmehr durch Materialien, die durch zirkulierende Flüssigkeiten zwischen den Bläschen abgelagert werden.17 Die in diesen Flüssigkeiten enthaltenen Stoffe werden entweder für das Wachstum eines Gefüges resorbiert oder zur weiteren Produktion von Bläschen und Organanlagen eingesetzt, oder aber zur »Versteifung der Architektur« genutzt.18 Die Organogenese ist also für Wolff ein in Stadien verlaufender Differenzierungsprozess von Strukturen; in der Embryogenese legen sich bestimmte Organe im Verlauf der Gesamtentwicklung auch erst später und ohne »erkennbaren direkten Vorläufer« an.19 Von Bedeutung ist ferner, dass Wolff und Bonnet gleichermaßen auf die Vorstellung der Stufenleiter der Wesen zurückgegriffen haben, um die unterschiedliche Komplexität der pflanzlichen und tierischen Organisationen zu begründen. Trotz der Tatsache, dass Wolffs Ansätze insbesondere für die Entwicklung des französischen Transformismus grundlegend waren (man denke etwa an Étienne Geoffroy Saint-Hilaires evolutionistische Umdeutung der Theorien Johann Friedrich Meckels auf der Basis der Epigenetik20) legte er selbst jedoch keine phylogenetisch gedachte Evolutionstheorie vor. Anders als bei Bonnet ist bei Wolff das Erscheinen abgestuft komplexer Formen in der Natur selbstverständlich auch nicht als die hierarchische Entfaltung eines seit der Schöpfung in Keimen existierenden Bestandes zu erklären. Eine niedere Organisationsstufe bildet vielmehr die Existenzgrundlage für die nachfolgenden höheren Formen, welche die niederen assimilieren. Das Resultat sind höhere Lebensstufen. Wie Breidbach darlegt, sind die »Grundreaktionsprinzipien der jeweils höheren Stufe« insoweit zwar neu, sie konstituieren aber nicht »völlig Neues, da sie die Reaktionseigenschaften der unteren Stufen« nur komplizieren. Diese Stufung sei (so Breidbach) keineswegs als »reale Evolutionsreihe« vorzustellen, sondern sie sei vielmehr »ein Schema, in dem die verschiedenen, in der Natur realisierten Ordnungsmuster, als Abstufung einer Naturreaktion« begriffen würden.21 Zur Erklärung der unterschiedlichen Ausformungsweisen des Organischen rekurriert Wolff auf den Begriff der vis essentialis; wie er verdeutlicht, ist dieser aber nicht im Sinne von Johann Friedrich Blumenbachs (1752–1840) »Bildungstrieb« vitalistisch zu deuten, sondern er dient lediglich dazu, die »Identität der beschriebenen Mechanik einer Entwicklung verschiedener Organismen« zu kenn-

16 17 18 19 20

21

préformation: C. F. Wolff (1759). In: Georges Canguilhem et al. (Éd.): Du développement à l’évolution au XIXe siècle. Paris 22003, p. 19–26. Breidbach: Einleitung (s. Anm. 15), S. I. Ebd., S. XVII. Ebd. Ebd., S. XVI. Siehe hierzu Georges Canguilhem: La mise en correspondance de l’embryologie et de l’anatomie comparée: J.-F. Meckel, É. Geoffroy Saint-Hilaire, É. R. A. Serres. In: Canguilhem et al. (Éd.): Du développement à l’évolution (s. Anm. 15), p. 27–39. Breidbach: Einleitung (s. Anm. 15), S. XX.

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zeichnen:22 Der Ernährungs- und Wachstumsprozess besteht nach Wolff im Eindringen und in der Verfestigung oder Erstarrung von Säften; gewährleistet wird dieser Vorgang seiner Ansicht nach eben durch physikalische Bewegungskräfte.23 In der theologisch aufgeladenen Auseinandersetzung zwischen Präformationisten und Epigenetikern, im Konflikt zwischen Bonnet und Wolff, positionierte sich auch der Aufklärer Johann Nikolaus Tetens in der über 450 Seiten starken anthropologisch-psychologischen Abhandlung »Ueber die Perfektibilität und Entwickelung des Menschen«, die den 14. seiner Philosophischen Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung (1777) darstellt.24 Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ergreift Tetens nach eindringlicher Analyse der gegensätzlichen Erklärungsmodelle und ihrer empirischen Belege aber überraschenderweise für keinen der beiden Widersacher bedingungslos Partei. Durch die kritische Auseinandersetzung mit ihren Ideen formuliert er vielmehr eine neuartige Theorie, die als Synthese zwischen den beiden Hypothesen vermitteln soll. Über seinen Ansatz »Epigenesis durch Evolution« bietet Tetens eine Erklärung für die progressiv-graduelle Entwicklung der geistigen Fähigkeiten des Menschen, die aus seiner Sicht analog zur Ausbildung des Körpers verläuft. Ähnlich wie bei Bonnet bildet daher für Tetens die Physiologie die Vorlage und den Ausgangpunkt zur Fundierung einer Entwicklungspsychologie. Er greift zur systematischen Ausarbeitung seines Modells aber überdies auch auf Konzeptionen zurück, die ihren Ursprung in der Naturphilosophie des französischen Materialismus und bei Autoren wie Claude-Adrien Helvétius (1715–1771) oder Paul-Henri Thiry d’Holbach (1723–1789) haben; diese Vertreter der Lumières hatten vermutlich eine besondere Attraktionskraft auf Tetens, weil er ebenfalls bestrebt war, durch eine streng empirische und rationalistische Argumentation eine szientifische Seelenlehre zu begründen. Wie Helvétius begreift auch Tetens die Psychologie als die Basis der philosophischen Anthropologie; beide Disziplinen stehen hierbei im Dienste der Ethik, insofern insbesondere die Kenntnis des Seelenwesens (und seiner Entwicklung) den Weg zur sittlichen Vervollkommnung der menschlichen Natur aufzeigt. Sowohl für die Materialisten als auch für Tetens ist mithin die Erziehung der Schlüssel zur Veredelung des Menschen im Sinne der Aufklärung: »Si je démontrois«, erklärt Helvétius in den Einführungskapiteln seiner Abhandlung De l’homme (1773), »que l’homme n’est vraiment que le

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Ebd., S. XXIXf. Siehe Gaissinovitch: Die Entwicklung der biologischen Wissenschaften (s. Anm. 2), S. 242. Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig 1777 [im Folgenden zitiert als: PV Band, Seitenzahl (Versuch, Kapitel, Abschnitt)], hier Bd. II, S. 368–834. Zur Psychologie und Erkenntnistheorie Tetens’ siehe auch die älteren Studien von Otto Ziegler: Johann Nicolaus Tetens’ Erkenntnistheorie in Beziehung auf Kant. Leipzig 1888; Gustav Störring: Die Erkenntnistheorie von Tetens: eine historisch-kritische Studie. Leipzig 1901; Julius Lorsch: Die Lehre vom Gefühl bei Johann Nicolas Tetens. Giessen 1906; Wilhelm Uebele: Johann Nicolaus Tetens: nach seiner Gesamtentwicklung betrachtet, mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zu Kant. Berlin 1911; Erich Simons: Die Entwicklung der Gefühlspsychologie in der Philosophie der Aufklärung bis auf Tetens. Köln 1916 und Hans-Ulrich Baumgarten: Kant und Tetens: Untersuchungen zum Problem von Vorstellung und Gegenstand. Freiburg i. Br. 1992.

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produit de son éducation, j’aurois sans doute révélé une grande vérité aux nations. Elles sauroient qu’elles ont entre les mains l’instrument de leur grandeur et de leur félicité […]«.25 Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen der Göttinger Schule, Michael Hißmann und Christoph Meiners (1747–1810), war der Materialismus für Tetens allerdings in keiner Weise eine tragbare philosophische Option.26 Die Psychologie ist aus seiner Sicht nicht als Teildisziplin der Physiologie zu definieren. Er verteidigt vielmehr gleich Bonnet vehement die Einfachheit und die Immaterialität der Seele, die sich des Körpers lediglich als Werkzeug bediene. Dementsprechend sieht Tetens, der sich somit gegen den kritischen Extremismus der Lumières positioniert, keinen unüberwindlichen Gegensatz zwischen Religion und Aufklärung. So wie in dem Streit zwischen Wolff und Bonnet will er offenbar auch in diesem Punkt vermitteln, indem er die Religion als ein Mittel zur Erhöhung der geistigen Fähigkeiten und der Vernunft des Menschen charakterisiert. Ferner lehnte Tetens den bei d’Holbach vorliegenden Gedanken der spontanen Generation und der Variabilität der Arten ab, weshalb seine Theorie von der Entwicklung und »Perfektibilität« des Menschen auch keine phylogenetische Evolutionstheorie im Sinne der modernen Evolutionsbiologie darstellt: Obschon er Bonnet kritisiert, verwirft Tetens die Präformationslehre nicht gänzlich. Seiner Ansicht nach bedarf eine biologische Organisation immer auch gleichartiger organischer Ursachen. Anders als die Auffassungen d’Holbachs implizieren demzufolge Tetens’ Theorien zwar keine indirekte Kritik an der Schöpfungstheologie. Seine Ideen belegen aber dennoch eindeutig die These, dass das anstößige Gedankengut des Materialismus sich insbesondere auf dem Gebiet der Seelenlehre in Deutschland einer breiten Rezeption erfreute, und dies auch durch die gemäßigten und sogar materialismuskritischen Vertreter der Aufklärung. Vor diesem Hintergrund ist der in der Forschung immer noch weit verbreitete Befund, dass der Materialismus in Deutschland kaum Fuß fassen konnte, mehr als nur fragwürdig.27

2. Die »Ausbildung des Menschen an seiner Seelennatur« Wie Tetens einleitend zum 14. Versuch darlegt, ist es seine Absicht, einige Betrachtungen über die »entwickelte menschliche Natur« vorzulegen.28 Ein Hauptgegenstand seiner Untersuchung ist dabei das Seelenwesen des Menschen. Im Anschluss an den 13. Versuch, in dem die Natur und die Funktionen der Psyche untersucht wurden, behandelt Tetens hier die Formen, die sie

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Claude-Adrien Helvétius: De l’homme, de ses facultés intellectuelles, et de son éducation. Tome premier. Paris 1989, p. 45. Zum Materialismus von Meiners und Hißmann siehe beispielsweise Udo Thiel: Varieties of Inner Sense. Two Pre-Kantian Theories. In: Archiv für Geschichte der Philosophie, 79.1 (1997), S. 58–79, insb. S. 74f. u. ebd. Fn. 51. sowie Schmeisser: »Der eigentliche Materialist […] weiß von keiner unkörperlichen gehirnbewegenden Kraft« (s. Anm. 11). Siehe hierzu etwa Heinz Thoma: [Art.] Matérialisme. In: Delon et al. (Éd.): Dictionnaire européen des Lumières (s. Anm. 1), p. 769–773. Nach Thoma hätte es in Deutschland nur »de rares traces de matérialisme« gegeben (siehe ebd., p. 771sq.). PV II, S. 371 (14. Vorerinnerung).

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annehmen kann,29 ihre Entwicklung und ihre »Perfektibilität«, wie der Titel des Versuchs schon ankündigt. Die zentrale Frage, was aus dem Menschen im Lauf seiner Entwicklung werden könne und »was und wie« man es aus ihm machen solle, könne man schließlich nur dann »gründlich und bestimmt« beantworten, wenn man vorher die theoretische Frage nach seiner Natur – »was ist der Mensch? was wird er und wie wird ers in den Umständen und unter dem Einflusse der moralischen und physischen Ursachen, unter denen er in der Welt sich befindet?« – ganz geklärt habe.30 Die Ursache, warum so manche »Vorschrift der Moral und der Erziehungskunst« unbestimmt und einseitig sei, sei nämlich darin zu suchen, »daß man die Aussicht über den Menschen nicht genug erweitert, und die Vervollkommnung unserer Natur nicht an allen ihren Seiten und in allen ihren Theilen und Gestalten« aufsuche, »wie sie doch in der wirklichen Welt« vorkomme.31 Die Erforschung der menschlichen Natur und ihrer Ausbildungsmöglichkeiten steht damit offenbar bei Tetens wie bei Helvétius im Dienste einer Ethik, die nach der Veredelung und Verbesserung des Menschen über die Erziehung strebt. Darauf wird zurückzukommen sein. Tetens postuliert im Anschluss an seine vorherigen Untersuchungen, dass das »Seelenwesen im Menschen« gewisse »Grundkräfte« besitze, die ihm bereits zukämen, wenn er »in die Welt gesetzt« werde, nämlich das Gefühl, der Verstand und der Wille. Diese Trichotomie findet sich in entsprechender Form übrigens bereits bei Bonnet, der sie gleich in der Einleitung zu seinem Essai analytique sur les facultés de l’âme einführt.32 Alle restlichen Vermögen, die in der »entwickelten Seele« festgestellt werden, definiert Tetens als abgeleitete Vermögen, »welche aus jenen, durch die Erhöhung, Verstärkung und Verlängerung in verschiedenen Richtungen, und durch neue Verbindungen unter ihnen entstanden sind«.33 Die Ansicht von Edward Search (i.e. Abraham Tucker, 1705–1774), der Mensch könne seine natürlichen Seelenfähigkeiten wie die des Verstandes eigentlich nicht vergrößern, sondern nur ihre »Wirkungssphäre« und gleichsam ihr Gesichtsfeld durch die Aneignung »neuer Ideenreihen« erweitern,34 wird vom streng empirisch35 argumentierenden Tetens als erfahrungswidrig abgelehnt. Er weist dagegen auf, dass sowohl die aktiven als auch die passiven Seelenvermögen durch Tätigkeit und Übung modifiziert und ausgebaut werden: Aus den Erfahrungen ergebe sich doch nur soviel, »daß zur Erzeugung einer Fertigkeit allerdings eine Anreihung von Vorstellungen unentbehrlich sey«; es zeige sich aber nicht, »daß diese letztere alles ausmache, was in der ganzen Fertigkeit lieget«.36 Die Erwägung der Wirkungen, welche aus der »Uebung der Vermögen in uns« entstünden, mache vielmehr deutlich, »daß selbige noch tiefer in die Kraft und in die Vermögen selbst eindringe, 29 30 31 32

33 34 35 36

Ebd. Ebd., S. 373. Ebd. Charles Bonnet: Essai analytique sur les facultés de l’âme. In: ders.: Œuvres d’histoire naturelle et de philosophie. Tome treizième. Neuchâtel 1782, p. 1sq.: »Quelle est la nature de nos Facultés? […] Que sont le Sentiment, la Pensée, la Volonté, l’Action? En un mot, qu’est ce que l’homme?« PV II, S. 374 (14. 1. I. 1.). Ebd., S. 367–385 (14. 1. I. 1. u. 2.). Zu Tetens’ Bewusstseins- und Erkenntnistheorie siehe Falk Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts. Berlin 2005, S. 69ff. PV II, S. 385 (14. 1. I. 2.).

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und hier einen Zusatz bewirke«, der »etwas anders« sei, »als die Fertigkeit Ideen von den Gegenständen zu erwecken«.37 Tetens zeigt dies unter anderem an Beispielen, die bei der »Erhöhung der Verstandeskräfte« gefunden werden.38 So sei es etwa ein großer Unterschied, »ob jemand eine geometrische Demonstration nur allein mit dem Gedächtnisse gefaßt, oder sie mit dem Verstande durchdacht habe«.39 Die Wirkungen, die in beiden Fällen entstünden und im Verstandesvermögen von der geistigen Ertüchtigung zurückblieben, seien nämlich sehr unterschiedlich: Wer die erste Hälfte einer Wissenschaft durchdacht hat, findet die zwote viel leichter: nicht so, der sie auswendig lernet; auch wenn jener weniger im Gedächtnisse aufbehalten hat, als dieser, findet er doch, daß er sich in Hinsicht des folgenden vorgearbeitet habe.40

Überdies lehre die Erfahrung, dass die »Uebung des natürlichen Verstandes in den Sprachen, Künsten und in der Geschichte« eine Vorbereitung desselben zu »höheren Wissenschaften« sei. Obschon es wohl sein möge, dass »ein Kopf in einer Erkenntnißart weit fortgehen, und in einer anderen zurückbleiben« könne, so sei es doch »wider die Erfahrung zu behaupten, daß die Anwendung des Verstandes bey einer Wissenschaft nicht etwas hinterlasse, wodurch die natürliche Fähigkeit zu einer anderen verstärket und erhöhet werde«.41 Ferner äußert sich die Verstärkung eines besonderen Seelenvermögens stets auch auf die übrigen rückwirkend; die Seelenkräfte versteht Tetens also gleichsam als ein organisch wachsendes Ganzes: Jede Uebung, die zunächst nur ein besonderes Seelenvermögen entwickelt, hinterläßt eine Wirkung, welche sich auch über andere Vermögen ausbreitet, und in einiger Maße wenigstens über die gesammte Seelenkraft. Was den Verstand stärket im Urtheilen, erhöht auch die Vernunft im Schließen. Wer seine Leidenschaften bezähmet, macht auch seine Denkkraft mächtiger. Die Kraft wird aufgelegter, auf andere Arten und in andern Richtungen hervorzugehen, wenn sie in einer Thätigkeit erhöhet ist. Man muntere den Menschen nur von einer Seite auf; dies giebt ihm eine Lebhaftigkeit an allen. Wird das Gedächtniß gestärket, so bekommt die Einbildungskraft eine größere Fassung, und kann, in die gehörige Richtung gelenket, auch als selbstthätige Dichtkraft sich beweisen.42

Bei den passiven Seelenvermögen vergrößert sich und wächst hingegen die Rezeptivität durch Tätigkeit und Übung. Für Tetens arbeiten sie in dieser Hinsicht wie die körperlichen Sinnesorgane, wie er am Beispiel des Auges verdeutlicht: »Selbst die Uebung, die von der bloßen Natur veranlasset wird, bessert das Organ bey dem Gebrauch. Das Auge wächst nicht allein in der Kindheit, sondern bekommt auch eine etwas andere Figur, und wird geschickter die Bilder von den Gegenständen aufzunehmen«.43 Die Verbesserung der Sinne korreliert wiederum direkt mit dem Aufbau der leidenden Vermögen. Mit einer »Fertigkeit des Sinnes« entstünde nämlich »eine Leichtigkeit, auf die ähnliche Art modificirt zu werden«; diese mache »eine Erweiterung und Verfeinerung der Empfänglichkeit in der Seele aus«.44 Zudem erzeuge »die Uebung der Sinne 37 38 39 40 41 42 43 44

Ebd. Ebd. Ebd., S. 386 (14. 1. I. 2). Ebd. Ebd. Ebd., S. 394 (14. 1. II. 4.). Ebd., S. 413 (14. 1. III. 1). Ebd., S. 416 (14. 1. III. 3).

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bey einer Gattung von Gegenständen« spezifische Ideenreihen, die das Mittel seien, Eindrücke von außen »empfindbar und beobachtbar zu machen, die für sich die Aufmerksamkeit der Seele nicht auf sich gezogen hätten«.45 Nach Tetens lernt die Seele dabei insgesamt, »sich gegen solche sie modificirende Objekte zu öffnen, sich in solcher Lage bloß zu stellen«, dass sie die Eindrücke auf die »beste Weise« empfängt.46 Sie werde von jeder Empfindung und jedem äußeren Eindruck modifiziert und jede Modifikation hätte wiederum ihre »bleibende Spur in ihren Kräften, die nur, insoferne sie sich auf die erste Modifikation und deren äußere Ursache bildlich bezieht, die Vorstellung von dem Objekt ist, eigentlich aber eine Vorstellung von dem ursprünglichen Gefühl selbst ausmacht, und die Anlage modificirt zu werden vergrößert, oder zu einer Leichtigkeit macht«. Dies sei aber die Erhöhung des Gefühlsvermögens.47 Schließlich stellt Tetens fest, dass es sich mit den passiven Seelenvermögen ebenso wie mit den aktiven verhält, insofern jedes Wachsen, jede Vollendung und jede Entwicklung eines Teils sich auch immer auf die übrigen auswirkt; auch hier besteht wieder ein gleichsam organischer Zusammenhang. Endlich bestätigt laut Tetens die Erfahrung »bey dem leidenden Vermögen der Seele, was sie bey dem thätigen lehret, daß nämlich jede Erhöhung, Ausdehnung, Verfeinerung der Receptivität der Seele an einer Seite sich überhaupt ausbreite, und zugleich ihre ganze Empfänglichkeit vergrößere«.48 Zusammenfassend erklärt er: Die Seele nimmt Eindrücke von außen an, wirkt auf sie zurück, fühlet sie angenehm oder widrig, und wird hierdurch gereizt, außer sich heraus zu wirken, und den Körper zu verändern. Diese ersten einfachen Folgen machen, so zu sagen, die Grundfasern aus. Sie werden verstärkt, verlängert, ausgebreitet und vervielfältigt von allen Seiten her; dann mit einander auf manche Art verbunden; und daraus erwächst der an Gefühl, Empfindsamkeit, Vorstellungskraft, Vernunft und Thätigkeit ausgebildete Mensch. Jede Empfindung hinterläßt eine Leichtigkeit das Bild von diesem wiederzuerwecken. Jede Empfindung stärkt also das Gefühl und zugleich die Vorstellungskraft.49

Wie Tetens präzisiert, stellen Hunger, Durst und Schmerzen die Primärbedürfnisse der Natur dar. Diese würden ihrerseits beim Kind die ersten »thierischen Begierden« erzeugen, die darauf ausgerichtet seien, diese abzuwenden: Die körperlichen Instinkte der Schmerzstillung machten die »ersten thierischen Triebe zur Erhaltung und Gegenwehr« aus, und aus diesen würden Begierden, wenn deren Gegenstände bekannt seien und die Vorstellungen von diesen sie leiten würden. Die Vermögen der Seele zu Handlungen, die der Stillung von Hunger und Durst dienen, würden daher auch »die ersten Fertigkeiten in dem Willen« und die ersten Leidenschaften werden.50 Habe sich der Körper in der Pubertät weiter ausgewachsen, so stelle sich wieder »ein neues Gefühl, eine neue Unruhe, und ein neuer Trieb« ein, der Trieb zur Fortpflanzung – und 45 46 47 48 49

50

Ebd., S. 415 (14. 1. III. 2). Ebd. Ebd. Ebd., S. 420 (14. 1. III. 4). Ebd., S. 422 (14. 1. IV. 1); Hvhg. im Original. Zum Begriff des Gefühls bei Tetens siehe etwa Ernst Stöckmann: Anthropologische Ästhetik. Philosophie, Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung. Tübingen 2009, S. 183ff.; Wolfgang Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel. Frankfurt a. M. 1997, S. 393ff. PV II, S. 423 (14. 1. IV. 1).

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so fort. »Jede Entwickelung des Gefühls«, so konstatiert Tetens, sei dabei auch »mit einer Entwickelung der vorstellenden Kraft vergesellschaftet,« und je freier und selbsttätiger diese werde, desto deutlicher offenbare sich auch »die selbstthätige Zurückwirkung auf die von einander gesonderten Vorstellungen«, nämlich die »Gewahrnehmung der Verhältnisse als die Wirkung der Denkkraft«.51 In jeder Entwicklungs- und Wachstumsphase, so kann man Tetens’ nachfolgende Überlegungen zusammenfassen, wird der Mensch empfänglicher für neue Reize, seine Sinne verfeinern sich, wobei sich zugleich progressiv Gefühl und Vorstellungskraft ausbilden, die ihrerseits auf die Entfaltung der Denkkraft einwirken; es entstehen neue Vergnügen, die wiederum neue Bedürfnisse und neue Triebe zeitigen, bis sich mit einem erhöhten Grad der »Selbstthätigkeit« jene inneren Gefühle manifestieren, für welche die Seele »ohne vorhergegangene Bearbeitung ihres Innern wenig Empfänglichkeit hat«, die Gefühle des Wahren, des Guten und des Schönen.52 Ist die Bedingung der Sorglosigkeit und Ruhe gegeben, so zeigen sich schließlich nach den »eigennützigen Empfindungen« zudem die »geselligen und wohlthätigen«, die dem »Mitgefühl entspringen«.53 Äußere Umstände sind dabei aber stets maßgeblich; sind diese nicht gegeben, so ist die moralische Idealentwicklung des Menschen gehemmt: »Elende Völker, die alles thun müssen um nur zu leben«, werden aufgrund ihrer Anstrengungen etwa der Schönheit der Natur kaum Aufmerksamkeit widmen,54 noch werden Notleidende sich um das Wohl anderer bekümmern.55 Anzumerken ist, dass Tetens’ Ansicht, die Entfaltung der Seelenfähigkeiten und der Sittlichkeit sei von externen Faktoren abhängig, in ähnlicher Form ebenfalls im Materialismus der Lumières begegnet. So konstatiert etwa Helvétius in seiner anthropologischen Hauptschrift De l’esprit (1758), dass geistige Vollkommenheit am Menschen stets durch günstige Bedingungen verursacht sei; eine besondere Bedeutung misst bezeichnenderweise auch er dem staatlichen Wohlstand, der politischen Regierung und der angemessenen Ausbildung bei.56 Fernerhin ist zu konstatieren, dass für Tetens offenbar eine enge Korrelation zwischen dem Wachstum und der Entwicklung der beiden Wesenskomponenten des Menschen besteht, seiner psychisch-sittlichen Dimension und seiner physisch-sinnlichen Dimension. Er vermerkt demgemäß, dass das »Gesetz der Ausbildung des Menschen an seiner Seelennatur« dem Gesetz ähnlich sei, wonach der Körper wachse.57 Der »Nahrungssaft«, welcher die seelische Grundkraft reize und in Tätigkeit versetze, seien hier die »Gefühle und Vorstellungen«; jede »thätige Aeußerung der Kraft« stärke sie dabei selbst.58 Die Empfindungen59 (so heißt es an anderer Stelle) entsprächen dem, was »bey der Entwickelung des Körpers« die »Nahrung« sei:

51 52 53 54 55 56 57 58

Ebd. Ebd., S. 425. Ebd., S. 425f. Ebd., S. 424. Ebd., S. 426. Claude-Adrien Helvétius: De l’esprit. Paris 1759, p. 352sq.: »L’homme de génie [so folgert er dementsprechend] n’est donc que le produit des circonstances dans lesquelles cet homme s’est trouvé.« PV II, S. 426f (14. 1. IV. 1.). Ebd., S. 427.

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So wie jene in den Körper aufgenommen, durch ihn vertheilet und mit ihm vereiniget wird, und dann die Fibern ausdehnet und vergrößert: so werden die Eindrücke von außen, und von innen, in die Seele aufgenommen und den schon vorhandenen Bestimmungen ihrer Natur einverleibet.60

Nach Tetens kann man die Seele also ebenso durch Nahrung und Ertüchtigung bilden wie die Körpermuskeln. Außerdem existiert aus seiner Perspektive eine direkte Analogie zwischen der allmählichen Verkomplexifizierung der Organisation der Seele einerseits und der graduellen Entwicklung der organischen Körper andererseits. Tetens greift nämlich auf das naturwissenschaftliche (bzw. naturgeschichtliche) Ordnungsmodell der »Stufenleiter der Wesen« zurück, um den allmählichen Aufstieg der psychischen Vermögen zu wirklichen Seelenfertigkeiten zu veranschaulichen: Es giebt hierinn eine Stufenleiter von den bloßen Vermögen an bis zur völligsten Fertigkeit, auf der man einige Grade durch die erwähnten Benennungen von Anlagen, Fähigkeiten, Geschicklichkeiten und Fertigkeiten bemerklich machet. […] Der niedrigste Punkt ist das bloße Vermögen, als Möglichkeit zu wirken betrachtet. Diese erfodert schlechthin noch etwas, das anderswoher zu ihr kommen muß, ehe sie weiter erhoben werden kann. Der höchste Punkt ist die Fertigkeit; und in dieser stellen wir uns die Kraft vor, als eine solche, welche nur Veranlassung haben darf, um aus sich selbst hervorzuwirken.61

An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob bei Tetens nicht im Sinne des Materialismus Entwicklungsbiologie (insoweit der Begriff »Biologie« vor Lamarck und Treviranus hier adäquat ist) und Entwicklungspsychologie identisch sind; oder anders: ob für ihn nicht Seele und Körper identisch sind, weil sie kongruenten (physikalischen) Bildungsgesetzen gehorchen. Die Korrelation zwischen der graduellen Entwicklung von Körper und Geist konstituierte schließlich ein empirisches Argument für den Materialismus: »Il ne faut que des yeux«, so heißt es in La Mettries Homme machine (1748), »pour voir l’influence nécessaire de l’âge sur la raison. L’âme suit les progrès du corps«.62 Dementsprechend korreliert die Entwicklungsstufe eines Lebewesens für den Franzosen direkt mit der Ausformung und Komplexität seines Gehirns. »Les poissons«, so bemerkt er anbei ironisch, »ont la tête grosse mais elle est vide de sens, comme celle de bien des hommes«.63 Auch La Mettrie war überdies schon davon überzeugt, dass man die Vorstellungskraft und die kognitiven Fähigkeiten durch Übung und Tätigkeit erhöhen könne: »Plus on exerce l’imagination ou le plus maigre génie, plus il prend pour ainsi dire d’embonpoint, plus il s’aggrandit, devient nerveux, robuste, vaste et capable de penser«.64 Vor diesem Hintergrund ist nicht zu leugnen, dass Tetens methodisch-sachliche Affinitäten und ein durchaus produktives Verhältnis zum Denken des Materialismus hatte. Wie nun zu zeigen sein wird, war er aber zugleich auch weit davon entfernt, ihm in allen Konsequenzen zu 59

60 61 62 63 64

Wie etwa Bonsiepen darlegt, unterscheidet Tetens zwar zwischen Gefühl und Empfindung, subsumiert aber auch beides unter dem weiteren Begriff Empfindung. Siehe Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie (s. Anm. 49), S. 395, Fn. 1050. PV II, S. 548 (14. 3. IV.). Ebd., S. 428 (14. 1. IV. 1.). Julien Offray de La Mettrie: L’homme machine. In: ders.: Œuvres philosophiques. Éd. par Jean-Pierre Jackson. Paris 2004, p. 43–84, hier p. 49. Ebd., p. 52. Ebd., p. 58.

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folgen, um dann mit anderen deutschen Autoren der Aufklärungszeit wie Hißmann oder Meiners die Immaterialität und die Einfachheit des Seelenwesens zu verwerfen.65 Aus Tetens’ augenscheinlich vom Empirismus geprägten Sicht ist die Seele freilich bei der inneren Entfaltung und der nach außen gerichteten Artikulation ihrer Kräfte und Vermögen auf die Kräfte des Leibes und die Sinnlichkeit angewiesen; ist die Tätigkeit des Gehirns etwa durch krankheitsinduzierte Fehlfunktionen eingeengt, so wird dies auch die Möglichkeiten der Seele einschränken, ihre Kräfte zu äußern.66 Wie aus Tetens’ Überlegungen demgegenüber aber gleichfalls klar hervorgegangen ist, sind die Kräfte der Seele ihrer Substanz ganz eigen. Die inwendige Tätigkeit der Seelekräfte, wie das Denken, vollzieht sich nach seiner Auffassung folglich unabhängig vom Körper. Seine dezidiert anti-materialistische Position begründet Tetens, indem er auf die bereits bei Aristoteles vorliegende Vorstellung vom Körper als Organ der Seele oder mit ihr zusammengewachsenes Werkzeug zurückgreift. Viele seiner Zeitgenossen wie Bonnet, Platner oder Samuel Thomas Soemmerring, der 1796 die mit einem Vorwort Kants versehene Abhandlung zur Gehirnanatomie Ueber das Organ der Seele publizierte, taten es ihm im übrigen gleich.67 Für Tetens ist es demnach sehr »wahrscheinlich«, dass das Gehirn »als Seelenorgan mit den Kräften der Seele sich selbst entwickele«.68 Wenn es »permanente Spuren der empfangenen sinnlichen Eindrücke in dem Gehirn […] wie in der Seele« gäbe, so könne auch mittels derselben auf gleiche Weise »nicht nur die Leichtigkeit, solche Eindrücke zu erneuern und die ehemaligen Bewegungen in etwas wiederzuerwecken, erzeugt werden, sondern auch eine Leichtigkeit, solche das Zweytemal mehr und geschwinder von außen anzunehmen«; jeder »Eindruck aufs Organ« könne es so »empfänglicher gegen ähnliche machen, und seine wirksame Nervenkraft erhöhen«.69 Diesen Äußerungen entsprechend besteht also keine Identität von Leib und Seele, sondern es existiert nur eine strukturelle Analogie zwischen den Substanzen, insofern die Ausbildung der Seele und die Ausbildung des Körpers (bzw. des Gehirns) empirisch betrachtet Parallelitäten aufweisen.70 Dabei bedingt aber gemäß der soeben zitierten Passage offensichtlich die Entwicklung des Seelenwesens die des Gehirns: Weil das Seelenwesen über den Körper seine »Nahrung«, die Eindrücke, bezieht, wächst auch das Gehirn; das Werkzeug passt sich den Fähigkeiten des ›Werktätigen‹ an, und nicht umgekehrt, wie bei den Materialisten, die auf der

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Siehe auch hierzu auch PV II, S. 540–542 (14. 3. II.). Ebd., S. 429f. (14. 1. IV. 1.) Diese Feststellung wurde bezeichnenderweise auch durch fast alle materialistischen Autoren als Beleg für ihre Auffassungen ins Feld geführt. Siehe etwa Joseph Priestley: Disquisitions relating to Matter and Spirit. To which is added, The History of the Philosophical Doctrine concerning the Origin of the Soul, and the Nature of Matter; with ist Influence on Christianity, especially with Respect to the Doctrine of the Pre-existence of Christ. London 1777, p. 27sq. Siehe beispielsweise Aristoteles: Ethica Eudemia 1241b 18–25. Zur Rezeption und Entwicklung dieser Vorstellung siehe Ernst Florey u. Olaf Breidbach: Das Gehirn – Organ der Seele? Zur Ideengeschichte der Neurobiologie. Berlin 1993. PV II, S. 431 (14. 1. IV. 2.). Ebd. Ebd., S. 542 (14. 3. III): »In dem embryonischen Zustande des Menschen, in welchem der Körper seine völlige Bildung empfängt, wird ohne Zweifel das Werkzeug der Seele und mit diesem die Urkraft der Seele selbst eine ähnliche erhalten. Die Wirkung hievon führet endlich zu dem Zustande der Seele

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Basis des Sensualismus die Tätigkeit der Seele als Resultat von Gehirnprozessen deuten. Dieser Versuch, den Materialismus zurückzuweisen, ist allerdings meines Erachtens nicht ganz widerspruchsfrei: Wie gezeigt wurde, hatte Tetens zuvor noch dahingehend argumentiert, dass die Vervollkommnung der »Fertigkeit des Sinnes« eine »Erweiterung und Verfeinerung der Empfänglichkeit in der Seele« bedinge.71 Diesem Denkansatz zufolge wären wie im Sensualismus die Vervollständigung der körperlichen Organisation (bzw. des Nervenapparats) und die zugleich anwachsenden neurophysiologischen Reize als der Ursprung der graduellen Verstärkung der Seelentätigkeit zu betrachten. Tetens versucht jedoch gegenüber dem Materialismus zu verdeutlichen, dass die empirisch feststellbare Analogie zwischen Leib und Seele nur eine relative sein kann; ähnlich Bonnet argumentiert er, dass im Gegensatz zum Körper die Seele schließlich keine zusammengesetzte, sondern eine einfache und immaterielle Substanz sei. Daher sei es im Grunde ebenso widersinnig, sich innerhalb der »substanziellen Einheit« und des »immateriellen Wesens«, das unser Ich ausmache, die »Entwickelung einer Organisation vorstellen zu wollen«, als die »Ausbildung des organisirten Gehirns mit den Kräften zu verwechseln, die alsdenn in den Kräften der einfachen Bestandtheile des Gehirns« vorgingen.72 Bei letzteren fiele schließlich mit »der körperlichen Größe und Zusammensetzung« auch »die Idee von körperlicher Vergrößerung und Ausdehnung weg«.73 Da aber »die Veränderung in der Verbindung der einfachen Bestandtheile eine Modifikation in den Kräften und Vermögen des Einfachen« nach sich ziehen würde, und diese »Kräfte und Beschaffenheiten in dem Innern der Substanzen« ebenso einer Veränderung fähig seien, wie die »zusammengesetzten organisirten Körper«, so ließe sich in der unkörperlichen Seele »nicht nur eine gewisse Ausbildung in dem Innern, sondern auch eine gewisse Aehnlichkeit in der Folge und in den Gesetzen dieser Ausbildung gedenken, die auf die Entwickelung des Gehirns in einer ständigen Beziehung« stehe.74 Damit ist zumindest aus seiner Sicht das Problem der Korrelation zwischen Körper und Seele geklärt.

3. Die Seelenentwicklung: Epigenesis oder Evolution? Nachdem er die Modalitäten der graduell verlaufenden Seelenentwicklung bestimmt hat, stellt sich Tetens der Herausforderung, nun noch einmal präzise das Problem zu klären, ob die Seele bei diesem Prozess »ein neues Vermögen« hervorbringe, oder ob sie lediglich das schon in der Natur vorhandene Vermögen dahin stärke und erhalte, dass es sich unter günstigen Umständen »äußern und hervorgehen« könne.75 Mit anderen Worten ist die Frage, ob die Ausbildung der Seelenvermögen »eine Evolution schon vorhandener Naturanlagen oder eine Epigenesis sey«,

71 72 73 74 75

hin, worinn sie sich bei der Geburt befindet. Und dieser Zustand ihrer leidenden und thätigen Vermögen und Kräfte macht die angeborne Seelennatur aus.« Ebd., S. 416 (14. 1. III. 2.). Ebd., S. 539 (14. 3. I.). Ebd. Ebd., S. 539f. Ebd., S. 434 (14. 1. IV. 3.).

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die neue Vermögen hervorbringe, »wozu vorher nicht mehr als die Empfänglichkeit sie anzunehmen« vorhanden gewesen sei. Tetens zufolge würde man diese Sache zwar in Hinsicht des Körpers »mit besonderem Fleiße« untersuchen, »in Hinsicht der Seelenentwickelung« habe man sie aber »in ihrem ganzen Umfange noch nicht einmal aufgeworfen«.76 Festzustellen sei jedoch, dass die deutschen Philosophen »fast alle Epigenesisten bey der Seele« und die deutschen Physiologen »Evolutionisten bey dem Körper« seien.77 Welchen Weg geht Tetens, entscheidet er sich für Bonnet oder für Wolff und die deutschen Philosophen? Tetens erläutert die Grundbegriffe ihrer beiden Theorien, wobei er eine Kritik an Bonnet und Wolff formuliert, die in vielerlei Hinsicht Johann Friedrich Blumenbachs Beurteilung der Präformations- und Epigenesislehre vorwegnimmt.78 Wie Blumenbach führt Tetens gegen die Präformation das »Phänomen der Regeneration von Körperteilen« an, wodurch die »selbsttätige Entstehung neuer Formen« dokumentiert wird.79 Wie Tetens es formuliert, »scheinen einige Beobachtungen doch schlechthin auf den Satz zu führen, daß neue Formen entstehen, und zwar dadurch, daß mehrere, sich entwickelnde, verschiedene Formen zusammengehen, und eben durch diese ihre Verbindungen neue Formen machen«.80 Hierzu rechnet er etwa »die Beyspiele von dem Zusammenwachsen der gepfropften thierischen und Pflanzentheile mit ihren Stämmen«; die Erfahrung lehre hier, »daß die Verbindung zwischen zusammengewachsenen Theilen an den Stellen, wo sie sich vereiniget haben«, oftmals stärker seien »als selbst die Theile, welche zusammengewachsen sind«, vorher gewesen seien.81 So sei die geheilte Bruchstelle bei einer Knochenfraktur stärker »als der Knochen vor dem Bruch an eben der Stelle war«.82 Blumenbach, der gegen Bonnets Verständnis der Evolution unter anderem das Beispiel eines Menschen ins Feld führt, bei dem sich bei der Heilung einer Unterarmfraktur ein neues Gelenk gebildet habe, fragt demgemäß, wozu es denn überhaupt der ganzen »Einschachtelungshypothese« brauche, wenn »ganz neue ungewöhnliche Gelenke, neue organische Häute« da sich bilden würden, »wo an keinen präformirten Keim« zu denken sei.83 Aber auch die Epigenesistheorie von Wolff weist für Tetens gewisse Unzulänglichkeiten auf. Seiner Ansicht nach begründet sie nämlich nicht die »Einheit und Zielgerichtetheit der organischen Prozesse«.84 Zwischen organischen und anorganischen Formen, die durch die rein mechanische Apposition von Materieteilen entstehen, besteht eine substanzielle Differenz: Es entstehet etwas in den organisirten Körpern durch die bloße Ausführung gewisser Säfte aus gewissen Gefäßen, indem solche Säfte sich absetzen und verdicken. Aber was durch bloße Apposition erzeuget wird, kann schwerlich für sich etwas Organisirtes seyn.85

76 77 78 79 80 81 82 83 84 85

Ebd. Ebd. Siehe hierzu auch Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie (s. Anm. 49), S. 115. Ebd. PV II, S. 505 (14. 2. IV. 4.). Ebd., S. 507. Ebd. Johann Friedrich Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb. Göttingen 1791, S. 74. Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie (s. Anm. 49), S. 115. PV II, S. 514 (14. 2. V. 1.).

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Organisation bedürfe daher organischer Ursachen; die im Materialismus systematisch begründete und gegen die Schöpfung gerichtete Theorie der spontanen Generation aus unbelebter Materie,86 die »ungleichartige Erzeugung«, ist Tetens folglich ein Unding, denn »jede neue Organisation in der Natur« erfordere vorher eine »ihr entsprechende gleich große Organisation«.87 Blumenbach hatte ähnliche Schwierigkeiten mit Wolff; auch für ihn besteht eine Kluft zwischen der belebten und unbelebten Schöpfung, zwischen den organisierten und den »unorganischen Geschöpfen«.88 Ursache für die Formbildung im Reich des Organischen ist seines Erachtens ein im Sinne des Vitalismus zu deutender »Bildungstrieb«, eine »Lebenskraft«, die als solche »in der unbelebten Schöpfung nicht denkbar« sei.89 Tetens erarbeitet hingegen eine in gewisser Hinsicht sehr viel wissenschaftlichere Lösung, die weder auf okkulte Kräfte zurückgreift noch auf rein mechanistische Konzeptionen reduzierbar ist: Seine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung und der Entwicklung des Organischen lautet »Epigenesis durch Evolution« oder »Evolution, welche durch neue Verbindungen neue Formen hervorbringet«.90 Die organisierten Körper entstehen gemäß seiner Annahme zwar aus Keimen, die das »Princip der Bildung« oder gewisse Anlagen enthalten würden. Sie enthielten aber nicht »die Bildung selbst«.91 Tetens Hypothese lässt damit zu, dass »Theile in einem organisirten Körper entstehen, wozu kein besonderer Keim vorhanden war«;92 neue Formen und Modifikationen, die »durch ganz zufällige äußere Umstände veranlaßt werden«,93 sind also möglich, wie er ja anhand der Kombinationen gezeigt hat, die beispielsweise beim Pfropfen oder bei Frakturen entstehen. Augenscheinlich musste Tetens einerseits als methodischer Empiriker insbesondere aufgrund der auch durch Blumenbach zitierten Beobachtungsbefunde aus den Bereichen der Medizin und der Botanik der Epigenesis zustimmen. Andererseits konnte er auch die damals noch in der Naturwissenschaft weithin anerkannte Keimlehre Bonnets nicht gänzlich verwerfen, denn nur diese gab ihm die Möglichkeit, gegenüber den mechanistisch-materialistischen Theorien die (scheinbare) Teleonomie der organischen Strukturen zu rechtfertigen, ohne dabei Gefahr zu laufen, in unwissenschaftliche oder gar rein theologisch-apologetische Spekulationen abzugleiten. Infolgedessen unternahm Tetens den Versuch, gegen die einseitige Haltung der deutschen Physiologen zwischen der Position Wolffs und der Bonnets mithilfe einer synthetischen Interpretation zu vermitteln. Seine lebenswissenschaftlichen Prinzipien überträgt Tetens in die Psychologie, die er (wie die Materialisten und Bonnet) methodisch und systematisch stets in Korrespondenz zur Physiologie begreift. Auch hier gilt demnach der Grundsatz »Epigenesis durch Evolution«, und auch in der Seelennatur des noch nicht entwickelten Menschen liegen (wie oben bereits erläutert 86 87 88 89 90 91 92 93

Siehe etwa Paul-Henri Thiry d’Holbach: Système de la Nature. In: ders.: Œuvres philosophiques complètes. Tome II. Éd. par Jean-Pierre Jackson. Paris 1999, p. 162–643, hier p. 180sq. PV II, S. 472 (14. 2. II. 8.). Blumenbach: Ueber den Bildungstrieb (s. Anm. 84), S. 79. Ebd., S. 80. PV II, S. 513 (14. 2. V. 1.). Ebd., S. 529 (14. 2. V 6.). Ebd., S. 515 (14. 2. V. 2.). Siehe Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie (s. Anm. 49), S. 115.

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wurde) gewisse Naturanlagen und Kräfte vor, die sich in gleichsam organischer Verbindung verändern und gedeihen, auf deren Grundlage sich tatsächlich Neues bilden kann, zu dem primär in nucleo nur eine reine Empfänglichkeit vorlag. Dies sind die »abgeleiteten Vermögen« und vornehmlich die inneren moralischen Gefühle der Schönheit, der Tugend und des Anstandes, die (so Tetens) nicht »zu solchen Naturanlagen gerechnet werden, die sich von selbst unter allen Umständen entwickeln, wo sich nur die Menschheit entwickelt«.94 Als »Analogon« zu Wolffs vis essentialis definiert Tetens die vorstellende, assoziierende und dichtende Kraft der Seele, die durch die Kombination von Ideen Produkte von neuer Form schafft.95 Tetens ist davon überzeugt, dass die Optimierung des Menschen und die Entfaltung der Sittlichkeit in hohem Maße von äußeren Umständen abhängig ist: Das Wirksamste, was zur Verbesserung der Menschheit in dem nachfolgenden Geschlechte geschehen kann, beruhet auf der Einrichtung und Festsetzung der äußern Ursachen, durch deren Einfluß die Naturkraft am leichtesten und am vollkommensten entwickelt wird. 96

Demgemäß definiert er den Menschen als »das geschmeidigste Wesen«, dessen »modifikable Natur weicher als Wachs« sei.97 Wie ihm die Erfahrung und die Beobachtung der kulturellen und moralischen Differenzen unter den Menschen demonstriert, ist hierbei die Erziehung von zentraler Bedeutung: »Die Erziehung und Anführung ist es aber, welche den Menschen in Hinsicht seiner moralischen Gefühle seine Form giebet. Der Abscheu vor Menschen- und Pferdefleisch ist eben so wenig natürlich bey uns, als der Abscheu vor dem Ochsenfleisch bey den Banianen«.98 Tetens weist demzufolge darauf hin, dass die »Schulanstalten in der Welt, alle ausbildenden Ursachen nämlich hierunter begriffen«, etwas vorteilhafter für die Nachkommenschaft gemacht werden könnten: »Das ist es, wobey sich das meiste thun läßt, und wovon auch das meiste zu hoffen ist«.99 Auch in diesem Punkt ist bei Tetens eine große Nähe zum französischen Materialismus festzustellen. Nicht nur Helvétius, sondern insbesondere d’Holbach vertritt in seinem Système de la Nature (1770) die Ansicht, dass der Mensch bei seiner Geburt lediglich »le besoin de nous conserver et de rendre existence heureuse« mitbringe und die Tugendhaftigkeit immer das Resultat einer vernunftgemäßen Erziehung sei: Lorsque notre éducation, les exemples qu’on nous donne, les moyens que l’on nous fournit sont approuvés par la raison, tout concourt à nous rendre vertueux, l’habitude fortifie en nous ces dispositions et nous devenons des membres utiles de la société.100

Eine angemessene Unterweisung, die auf die Verbreitung der Wahrheit und Tugend abzielt, stellt daher gleichsam den Hauptmotor der progressiven Aufklärung und Vervollkommnung

94 95 96 97 98 99 100

PV II, S. 442 (14. 1. IV. 6.). Ebd., S. 552 (14. 3. V.). Siehe hierzu auch Johannes Bierbrodt: Naturwissenschaft und Ästhetik: 1750– 1810. Würzburg 2000, S. 199. Tetens: PV II, S. 775 (14. 6. III.). Ebd., S. 593 (14. 4. II. 2.). Ebd., S. 443 (14. 1. IV. 6.). Ebd., S. 775 (14. 6. III.). D’Holbach: Système de la Nature (s. Anm. 87), p. 162–643, hier p. 255sq.

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der Menschheit dar: »A mesure que l’homme s’instruit, ses forces et ses ressources augmentent avec ses lumières«.101 Insgesamt teilt Tetens in Anschluss daran die äußeren »Einrichtungen, wovon die Entwickelung der Menschheit abhängt« in zwei Klassen: »Einige gehen zunächst auf die Erhaltung und Vermehrung des Geschlechts, und auf die Erleichterung des thierischen Lebens; andere haben einen nähern und unmittelbaren Einfluß auf die Entwickelung der Seelenkräfte«.102 Die Gegebenheit der ersten betrachtet Tetens als die elementare Bedingung für die Realisation der zweiten, nämlich der Erziehung: »Wo das Leben mühselig ist […] da kann der Geist sich nicht erheben. […] Man biete keinem Volk den Unterricht und die Schulen an, so lange dafür nicht gesorgt ist, daß es sich ihrer bedienen kann, ohne dafür zu hungern, nackt zu gehen, oder in Sklaverey zu schmachten«.103 Diese dezidiert aufklärerische Auffassung findet sich in ähnlicher Form ebenfalls bei Helvétius, der wie Tetens in Armut und Elend ein Entwicklungshemmnis sah: »L’indigence soigne peu ses enfants, les nourrit mal, en éleve peu«.104 Tetens distanziert sich allerdings auch an dieser Stelle kategorisch von den französischen Materialisten, indem er der Religion die positivsten Wirkungen auf die Entwicklung des »innern geistigen Lebens« zuspricht; Aufklärung und Religion sind ihm kein Widerspruch: Was endlich die Kultur der höhern Verstandeskräfte und der sich darauf beziehenden erhabenern Denkarten […], das ist, die Entwickelung des innern geistigen Lebens betrifft, so sind die Wissenschaften die Mittel, wodurch selbige betrieben und ausgebreitet wird unter die Individuen. Allein wofern ihre Wirkung nicht ungemein eingeschränket seyn soll, so ist es nöthig, daß besonders […] die Religion und Moral, zu Gegenständen einer freyen Untersuchung für alle […] gemacht werden. Wo man aber dem Verstande es wehret über Sachen nachzudenken, die sich auf die Religion, auf innere Glückseligkeit […] beziehen, […] da ist an keine Aufklärung des Volkes zu gedenken. […] Sie [die Religion] ist für jeden Stand und für jedwede Art von Umständen. Sie greift den Menschen von allen Seiten an, und wirket am stärksten auf seine edelsten Kräfte.105

Die streng säkular orientierten französischen Materialisten, wie Helvétius und d’Holbach, denunzieren hingegen die Religion (mit dem Despotismus und als Form des Despotismus) als die Erstursache allen menschlichen Elends, der inneren Unmündigkeit und der äußeren Unterdrückung, die es im Sinne der Aufklärung durch die Vernunft zu bekämpfen gilt: »La théologie et ses notions [so heißt es bei d’Holbach], bien loin d’être utiles au genre humain, sont les vraies sources des maux qui affligent la Terre«.106 An »Mitteln und Ursachen«, so folgert Tetens schließlich, »fehlt es also in der Welt nicht, wodurch die Menschheit vervollkommnet werden könnte, wenn diese in Thätigkeit gesetzt und jene auf die gehörige gebraucht würden«.107 Und auch im Hinblick auf die Vervollkommnung der Menschheit ist Tetens zuversichtlich. »Aber warum denn [so fragt er] auch düstere Ahn101 102 103 104

105 106 107

Ebd., p. 404. PV II, S. 776 (14. 6. III.). Ebd., S. 776f. Claude-Adrien Helvétius: De l’homme. (s. Anm. 25), p. 599. D’Holbach sah im Gegensatz dazu in der Armut eine Entwicklungsursache; siehe d’Holbach: Système de la Nature (s. Anm. 87), p. 375: »L’indigence tend tous les ressorts de l’âme, elle est mère de l’industrie.« PV II, S. 779f. (14. 6. V.). D’Holbach: Système de la Nature (s. Anm. 87), p. 564. PV II, S. 780 (14. 6. VI.).

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dungen?« Der »Trieb zur Entwickelung« sei »wenigstens so stark, als in einem anderen Zeitalter«; berechtigt sey man daher, »das unsrige vergleichungsweise das philosophische zu nennen«, denn die »Empfindsamkeit, die Phantasie, der Verstand« würden »vorzüglich erwecket, gereizet und erhöhet« werden, und dies zunächst »in dem schreibenden und lesenden Publikum, und von da aus in dem übrigen Haufen«.108 Heißt dies etwa, dass Tetens im Gegensatz zu Bonnet und Wolff die Grundlagen zu einer Evolutionshypothese ersonnen hat? Begreift er bereits die graduelle Weiterentwicklung des Menschen als Evolution im Sinne Lamarcks und seiner Nachfolger? Die Ausbildung neuer Formen ist durch seinen synthetischen Ansatz »Epigenesis durch Evolution« an der menschlichen Natur möglich: »Das Klima und die Lebensart«, so stellt er überdies fest, »modificiren sonder Zweifel den menschlichen Körper, und seine Farbe und Größe«.109 Und demgemäß zieht er sogar eine Vervollkommnung der Naturanlagen bei den Kindern in Erwägung: Könnten nun die Kräfte und Vermögen stärker, lebendiger und treibender gemacht werden, so würden die so beglückten Nachkommen geschwinder und weiter fortkommen. Die Sinne würde feiner und schärfer seyn, besonders das innere Gefühl. Und dieß könnte ohne eine Verfeinerung und Stärke in der innern Organisation nicht stattfinden.110

Von fast identischen Ausgangspunkten gelangte schon d’Holbach zu dem Schluss, die Veränderung der äußeren Umstände induziere möglicherweise die Variabilität der Spezies, die des Menschen inbegriffen. Zwar formuliert er dabei keine systematische Evolutionstheorie, seine Ideen weisen aber bereits in diese Richtung:111 En supposant donc des changements dans la position de notre globe, l’homme primitif [différerait] peut-être plus de l’homme actuel que le quadrupède ne diffère de l’insecte. […] Ainsi le dernier terme de l’existence de l’homme nous est aussi inconnu et aussi différent que le premier. Ainsi il n’y nulle contradiction à croire que les espèces ne varient sans cesse, et il nous est aussi impossible de savoir ce qu’elles deviendront que de savoir ce qu’elles ont été.112

Für Tetens wären derartige Annahmen jedoch widersinnig: Die Entwicklung und Veredelung, so konstatiert er, hat Grenzen und kann daher unmöglich zu Formveränderungen führen, die den graduellen Übergang zu einer neuen höheren Art bewirken würden. Die Natur des Menschen sei nämlich »keiner immer steigenden Progression fähig«; wer würde denn schon hoffen, so fragt er, »daß unser Geschlecht jemals zu einem Riesengeschlecht am Körper und zu einem Engelsgeschlecht am Geiste« werden könne.113 Zugleich ist mit diesem Argument aber eine Entwicklung des Menschen im Sinne der Palingenese ausgeschlossen, denn Bonnet ging wie die späteren Evolutionstheoretiker davon aus, dass der Ausbildung der mentalen Fähigkeiten der Lebewesen durch die Reinkarnation in höher organisierten Körpern keine festen Barrieren entgegenstünden: »Pourquoi bornez-vous le cours de la BONTÉ DIVINE? […] Souffrez 108 109 110 111 112 113

Ebd., S. 789f. (14. 6. VII.) Ebd., S. 570 (14. 4. I. 3.). Ebd., S. 772 (14. 6. II.). Siehe hierzu beispielsweise Pierre Naville: D’Holbach et la philosophie scientifique au XVIIIe siècle. Paris 1967. D’Holbach: Système de la Nature (s. Anm. 87), p. 217. PV II, S. 773 (14. 6. II.).

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qu’ELLE éleve par degrés l’Ame de l’Huitre à la sphere du singe; l’Ame du Singe à la sphere de celle de l’Homme«.114 Tetens war augenscheinlich auch bei dieser Frage bemüht, einen Mittelweg als Lösung zu finden, die weder zu spekulativ noch zu naturalistisch und religionsfern ist. Seine Behutsamkeit (und letztlich sein Konservativismus) im Umgang mit philosophischen und naturwissenschaftlichen Problemstellungen, die theologische Implikationen beinhalten, ist (wie es sich an etlichen weiteren Beispielen nachweisen ließe) in vielerlei Hinsicht für die deutsche Aufklärung insgesamt charakteristisch.

114

Charles Bonnet: Essai de Psychologie. In: ders.: Œuvres d’histoire naturelle et de philosophie. Tome dixseptième. Neuchâtel 1783, p. 1–235, hier p. 155.

ANDREAS URS SOMMER

Geschichtsphilosophie und »Perfektibilität« der Menschheit bei Johann Nikolaus Tetens

Niemand wird behaupten, Tetens sei dank seiner Überlegungen zur Geschichtsphilosophie, näherhin zur Perfektibilität der menschlichen Gattung berühmt geworden. Er hat sich mit dem Thema nicht monographisch beschäftigt, sondern ihm nur einen Abschnitt innerhalb des 14. Versuchs »Ueber die Perfektibilität und Entwickelung des Menschen« gewidmet.1 Während der 14. Versuch mit 466 Druckseiten2 der letzte und längste aller Versuche ist, dessen Umfang ein Viertel des Gesamtwerkes ausmacht,3 ist der eigentlich geschichtsphilosophische 6. Abschnitt im 14. Versuch gerade einmal 23 Seiten lang. Er entspringt einer gewissen systemischen Zwangsläufigkeit:4 Spricht der 12. Versuch, mit dem der zweite Band beginnt, über die Selbsttätigkeit und Freiheit,5 die als »Selbstmacht der Seele«6 verstanden werden soll, und stellt der 13. Versuch

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Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde., Leipzig 1777 [im Folgenden zitiert als: PV Band, Seitenzahl (Versuch, Kapitel, Abschnitt)], hier Bd. II, S. 767–790. Ebd., S. 368–834. Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin, New York 2008, S. 374–376 macht in seinen instruktiven Erläuterungen zum 14. Versuch im Kontext der »Erfahrungs-Seelenkunde« darauf aufmerksam, dass dieser Teil die ursprüngliche Planung drastisch überschritten habe (zu Gisis Werk siehe auch meine Rezension in: Das Achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 33 (2009), S. 265–267). »Diese ziemlich umfangreiche Abhandlung [sc. der 14. Versuch] ist innerhalb der damaligen Psychologie der einzige gross angelegte Versuch einer umfassenden Darstellung der psychischen Entwickelung des Individuums, ihrer Voraussetzungen und ihrer Faktoren. Da sie aber in ihren letzten Abschnitten den Blick auch für das geheimnisvolle Werden der ganzen Menschheit öffnet, da sie auch das Wesen der psychischen Voraussetzungen, der Faktoren und des Zieles allgemein-menschlicher Vervollkommnung zu erforschen sucht, erweist sie sich in doppelter Hinsicht als das bedeutungsvollste psychologische Pendant jener mehr historischen Versuche, eine Entwickelung der ganzen Menschheit zu erweisen, die als Philosophien der Geschichte der Menschheit in der Zeit des deutschen Rationalismus erschienen sind«. (Felix Günther: Die Wissenschaft vom Menschen. Ein Beitrag zum deutschen Geistesleben im Zeitalter des Rationalismus mit besonderer Rücksicht auf die Entwickelung der deutschen Geschichtsphilosophie im 18. Jahrhundert. Diss. phil. Universität Leipzig. Gotha 1906, S. 82f.) Zu Tetens’ problematischem und partiell inkonsistentem Freiheitsbegriff vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Andree Hahmann. PV II, S. 5.

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das »Seelenwesen im Menschen« heraus,7 unter anderem die »Immaterialität unsers Ichs« behauptend,8 handelt Tetens im 1. Abschnitt des 14. Versuchs zunächst ausgiebig von der »Perfektibilität der Seelennatur und ihrer Entwickelung«,9 sodann im 2. Abschnitt von der »Entwickelung des menschlichen Körpers«.10 In diesem Zusammenhang stehen dann auch die bekannten Überlegungen zu Evolution und Epigenesis.11 Nach Tetens legt im Falle physischer Organismen »die Natur […] Eine Entstehungsart neuer Formen offenbar genug vor Augen«; es seien nämlich äußere und ganz zufällige Umstände, die ihre Erzeugung veranlassen. Ist diese Entstehungsart neuer Formen, nämlich durch die Entwickelung der vorhandenen Formen und durch ihre Verbindung, wirklich vorhanden: so hat man schon genug, um den unwahrscheinlichen Folgerungen, besonders von dem Einstecken der Keime in einander, auszuweichen, die mit dem System der durchgängigen Evolution verbunden sind. Zugleich macht diese Entstehungsart es begreiflich, wie neue Gefäße und Abänderungen in der Strucktur [sic] auch durch äußere Umstände veranlaßt werden können, die durch die Vorherbildung im Kein, zwar möglich waren, aber nicht durch sie bestimmt sind.12

Tetens weist also die damals Evolutionslehre genannte Theorie in ihrer strengen Form zurück, die besagt, dass alles, was an neuen Eigenschaften auftritt, sich nahtlos und notwendig aus vorgegebenen Anlagen, aus Keimen entwickelt. Die Implikation dieser Theorie, die in Aristoteles’ Entelechie-Gedanken vorgebildet ist, identifiziert Tetens als Determinismus: Nur, was bereits potentiell angelegt ist, kann Wirklichkeit werden. Ein solch naturalistischer (und an anderer Stelle auch psychologischer) Determinismus widerspricht nicht nur der Freiheitsemphase, mit der Tetens auftritt, sondern auch, wie er hier geltend macht, der Erfahrung, der Beobachtung natürlicher Phänomene. Entscheidende Macht räumt Tetens stattdessen der Kontingenz, dem Zufall äußerer Umstände ein – einem Zufall, der sozusagen die Kehrseite der Freiheit ist. Diese Überlegungen präludieren, was er später im geschichtsphilosophischen 6. Abschnitt zu bedenken gibt. Unter ihrem Eindruck verbietet sich ein fortschrittsdeterministisches Modell der Gattungsgeschichte. Im 3. Abschnitt des 14. Versuchs erörtert Tetens die Analogie zwischen der Körper- und der Seelenentwicklung, bevor er im 4. Abschnitt auf die »Verschiedenheit der Menschen in Hinsicht ihrer Entwickelung«13 zu sprechen kommt. Der 3. Absatz innerhalb dieses Abschnitts behandelt die »verschiedenen Formen der Menschheit«. Dort folgt er der Drei-Stadien-Theorie, die sein Hauptinspirator in geschichtsphilosophischen Belangen, Isaak Iselin, formuliert hat: Wie Iselin lässt Tetens die Menschen den »Stand der Wildheit, der Barbarey und der Verfeinerung«14 durchlaufen. Das hindert ihn freilich nicht, den 6. Absatz des 4. Abschnitts zu betiteln mit »Gleichheit der Menschen in Hinsicht ihrer innern Vollkommenheit«15 und ein Nachdenken

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Ebd., S. 149. Ebd., S. 175. Ebd., S. 373. Ebd., S. 448. Dazu der Beitrag von Martin Schmeisser im vorliegenden Band. PV II, S. 508. Ebd., S. 555. Ebd., S. 610. Ebd., S. 676.

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darüber zu empfehlen, wie äußere Faktoren auf die Vervollkommnung Einfluss nehmen.16 Dabei sind bei Tetens wie bei Iselin im ursprünglichen Stand der Wildheit »die äußeren Sinne und die körperlichen Kräfte« dominierend,17 im zweiten Stand der »Barbarey« die »sinnliche Vorstellungskraft« sowie die »Begierden und Leidenschaften«.18 Der dritte Stand der Kultiviertheit erlaube eine innere Differenzierung. Generell aber gilt dafür: »Die Empfindsamkeit, die Lebhaftigkeit, die Verständigkeit und die überlegende Thätigkeit sind gleichsam die Kardinalpunkte in der kultivirten Menschheit«.19 Unterscheiden kann man »die Stufen nach dem Mehr oder Weniger an Selbstthätigkeit der Seele«.20 All dies entspricht dem Iselin’schen Schema. Bemerkenswert ist das für den nächsten, den 5. Abschnitt gewählte Thema, nämlich die »Grenzen der Entwickelung« und die »Wiederabnahme der Kräfte«.21 Um Ermüdung, Alter und Tod machen amelioristische Geschichtsdenker gerne einen großen Bogen, zumal dann, wenn dies unangenehme Konsequenzen für die Grenzen des gesamtgeschichtlichen Wachstums und Fortschreitens zu haben scheint. Auf dieses Kapitel zum notwendigen Nachlassen der Kräfte bei allen Geschöpfen folgt der hier zu erörternde 6. Abschnitt »Von der fortschreitenden Entwickelung des menschlichen Geschlechts«.22 Daran schließt sich der 7. und letzte Abschnitt des 14. Versuchs und zugleich von Tetens Versuchen insgesamt an, die »Beziehung der Vervollkommnung des Menschen auf seine Glückseligkeit« beleuchtend.23 Die genaue System-Stelle des geschichtsphilosophischen Kapitels innerhalb der Versuche zu bestimmen, sei den eigentlichen Tetens-Experten überlassen. Hier möchte ich eine andere Form der Kontextualisierung versuchen, nämlich das fragliche Kapitel im Horizont der zeitgenössischen geschichtsphilosophischen Diskussion lesen. Das Folgende gliedert sich in einen langen und drei sehr kurze Abschnitte. Der erste Abschnitt will zeigen, wie stark Tetens Überlegungen aufgreift, die bereits aufklärerisches Gemeingut widerspiegeln. Gerade bei Tetens kann man zeigen, wie sehr Isaak Iselin geschichtsphilosophisch diskursbestimmend gewirkt hat. Dazu ist es erforderlich, den 6. Abschnitt des 14. Versuchs ausführlicher zu rekapitulieren. Als zweiter Abschnitt schließt sich eine knappe Reflexion auf eine bestimmte Art aufklärungsphilosophischen Schreibens an, die Tetens’ Versuche ebenso charakterisiert wie viele Werke seiner Zeitgenossen. Im dritten Abschnitt möchte ich zeigen, dass Tetens im Vergleich zum geschichtsphilosophischen Gemeingut seiner Zeit eine bemerkenswerte Umbesetzung vornimmt, nämlich beim Problem der Handlungsmotivierung. Tetens’ Überlegungen tendieren dahin, für Handlungsmotivierung und Aufklärung die Notwendigkeit des Vertrauens an einen Gattungsfortschritt zu bestreiten. In diesem Zusammenhang wird kurz zu diskutieren sein, inwiefern die Etiketten Rationalismus und Empirismus zum Verständnis von Tetens’ geschichtsphilosophischem Ansatz überhaupt hilfreich sind. Der vierte und letzte Abschnitt gibt einen Ausblick auf das hier nicht zu befriedigende Desiderat, den Zusammenhang von Fortschritt und Glück sowie denjenigen von Fortschritt und Trost bei Tetens genauer zu beleuchten. Bei alledem möch16 17 18 19 20 21 22 23

Ebd., S. 692. Ebd., S. 611. Ebd., S. 613. Ebd., S. 615. Ebd., S. 615. Ebd., S. 709. Ebd., S. 767. Ebd., S. 790.

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te ich möglichst nah bei den 23 Seiten bleiben, die Tetens der Geschichtsphilosophie widmet; versuche mich als Laie der Tetens-Forschung also in einem close reading.

1. Geschichtsphilosophische Gemeingüter Zunächst einmal überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit Tetens im 6. Abschnitt des 14. Versuchs die geschichtsphilosophische Münze ins Spiel bringt. Seine Frage ist nicht, wie denn der Begriff eines Fortschreitens der »Menschheit« verstanden werden könnte – eines Fortschreitens, das über Individuen und Individuengruppen (wie Völker) hinausreicht und die ganze Gattung umfasst. Seine Frage ist auch nicht, wie und woran denn dieses Fortschreiten zu erkennen wäre. Der Begriff des Gattungsfortschrittes und seine erwartbaren Erscheinungsformen werden als klar und deutlich bestimmt bereits vorausgesetzt, ohne weiterer Erläuterung zu bedürfen. Tetens fragt schlicht, ob es »eine fortschreitende Aufhellung, Entwickelung und Vervollkommnung in dem menschlichen Geschlecht« gibt, »und einen zur Seite gehenden Fortschritt an Wohlfahrt und Glückseligkeit im Ganzen«.24 Diese scheinbar einfache Frage hat die eine oder andere Implikation. Nur auf zwei dieser Implikationen will ich näher eingehen. Die erste besteht darin, dass ein Begriff des »menschlichen Geschlechts« als Kollektiveinheit gewonnen sein muss, die als ganze einer Entwicklung unterliegen kann, ungeachtet der Unterschiede, die zwischen den Entwicklungen von Individuen und Individuengruppen bestehen (können). Die Einheit des Menschengeschlechts wird gleich zu Beginn des 14. Versuchs aller weiteren Reflexion als Prämisse vorangestellt. Tetens gibt sich »sehr überzeugt«, dass die Menschen »alle Eines Geschlechts sind, in dem Sinne des Wortes, worinn die Naturkündiger es meistentheils zu nehmen pflegen, und daß die ganze Verschiedenheit in den Menschenarten nichts anders als eine Abänderung oder Varietät sey«.25 »Alle Menschen ohne Ausnahme sind Wesen Einer Natur und Eines Geschlechts, Eines Blutes«.26 Setzt man diese Einheit des Geschlechts, liegt es nahe, die Individuen und die Gattung denselben Einflussfaktoren unterworfen zu sehen.27 Was die Entwicklung des Individuums affiziert, wirkt sich auch auf die Entwicklung der Gattung insgesamt aus. Die zweite Implikation ist eine im deutschen Sprachraum rund anderthalb Jahrzehnte vor dem Erscheinen der Versuche einsetzende Debatte um die Zukunft der Menschheit und ihre Prognostizierbarkeit. Diese Debatte scheint vieles bis dahin Unerhörte zur Selbstverständlichkeit gemacht zu habe. Tetens nennt gleich zu Beginn des 14. Versuchs sowohl den Inspirator als auch den Namen der neuen philosophischen Disziplin:

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Ebd., S. 768. Ebd., S. 369f. Ebd., S. 561; Hvhg. im Original. Siehe Thomas Nutz: »Varietäten des Menschengeschlechts«. Die Wissenschaft vom Menschen in der Zeit der Aufklärung. Weimar, Wien 2009, S. 76.

Geschichtsphilosophie und »Perfektibilität« der Menschheit

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Der vortreffliche Plan einer allgemeinen Geschichte der Menschheit, den Herr Iselin entworfen, und die erste Linie davon mit scharfem Beobachtungsgeist gezogen hat, ist noch mehr eine Philosophie der Geschichte, als Geschichte selbst.28

Die Disziplin heißt also »Philosophie der Geschichte« und der Inspirator Isaak Iselin (1728– 1782). Der Basler Ratsschreiber und Aufklärungsdenker Iselin ist zwar im Kontext der schweizerischen Geistesgeschichte recht gut erforscht,29 jedoch selten in seiner Bedeutung für die Genese einer neuen philosophischen Reflexionsform im deutschen Sprachraum, der spekulativuniversalistischen Geschichtsphilosophie wahrgenommen worden.30 Man könnte mutmaßen, der wegwerfende Umgang mit Iselin in der allgemeinen deutschen Philosophiegeschichtsschreibung bis in jüngste Zeit sei von einem nationalistischen Vorurteil bestimmt, dem Vorurteil nämlich, eine so deutsche Disziplin wie die Geschichtsphilosophie könne unmöglich von einem Schweizer (mit)erfunden worden sein. Dass französische und britische Autoren zudem Prioritätsrechte beanspruchen könnten, interessiert bei diesen sehr deutschen Betrachtungen ohnehin nicht. Wie auch immer: Für Tetens ist Iselin die Referenzgröße bei seinen Erörterungen des geschichtlichen Menschheitsschicksals; schon der Titel seines Werks Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung liest sich wie eine Adaptation einschlägiger Iselin-Titel: Versuch über die Gesezgebung (1760), Philosophische und Politische Versuche (1760/67), Politischer Versuch über die Berathschlagung (1761), Versuch über die gesellige Ordnung (1772/1776), aber auch der ersten Auflage des geschichtsphilosophischen Hauptwerkes Philosophische Muthmassungen. Ueber die Geschichte der Menschheit (1764). Den Begriff der Vervollkommnung, der Perfektibilität31 konnte Tetens gleichfalls bei Iselin finden, und zwar in dessen Auseinandersetzung mit Rousseau: Nach Rousseau seien »die grösten [sic] Fähigkeiten der Seele nur Werkzeuge des menschlichen Elendes; und ist der Trieb zur Vollkommenheit nichts als ein betriegliches Geschenke der Natur, um ihre eigenen Absichten zu vereiteln. Sie hat den Menschen zu einem Thiere bestimmet, und dieser will ihn zu einem Engel machen«.32 Iselin sieht im »Trieb zur Vollkommenheit« den Grundtatbestand der men28 29

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PV II, S. 370. Auch Ulrich Im Hof: Isaak Iselin und die Spätaufklärung. Bern, München 1967, S. 96 verweist auf diese Stelle. Vgl. neben Im Hof: Isaak Iselin und die Spätaufklärung (s. Anm. 28) vor allem Ulrich Im Hof: Isaak Iselin. Sein Leben und die Entwicklung seines Denkens bis zur Abfassung der »Geschichte der Menschheit« von 1764. Erster Teil: Isaak Iselins Leben und Bildungsgang bis 1764. Zweiter Teil: Iselins Stellung in der Geistesgeschichte des XVIII. Jahrhunderts. Basel 1947, ferner Andreas Urs Sommer: Geschichte als Trost. Isaak Iselins Geschichtsphilosophie. Basel 2002. Dazu siehe neben Gisi: Einbildungskraft und Mythologie (s. Anm. 3) besonders Andreas Urs Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. Basel 2006, S. 247–268 und Lucas Marco Gisi u. Wolfgang Rother (Hg.): Isaak Iselin und die Geschichtsphilosophie der europäischen Aufklärung. Basel 2011. Gottfried Hornig: Perfektibilität. Eine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung dieses Begriffs in der deutschsprachigen Literatur. In: Archiv für Begriffsgeschichte 24 (1980), S. 221–257, hier S. 224 hält fest, dass sich der Perfektibilitätsbegriff nicht schon bei Leibniz finde, sondern in der deutschen Literatur erst mit der Rousseau-Rezeption namentlich bei Lessing, Mendelssohn, Reimarus und Tetens auftauche. Iselin wird hier nicht erwähnt. Isaak Iselin: Über die Geschichte der Menschheit. Neue mit dem Leben des Verfassers vermehrte Auflage. 2 Bde. Carlsruhe 1791, Bd. 1, S. 125.

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schlichen Natur und will Rousseau, der selber den Begriff von »perfectibilité« des Menschen geprägt hat,33 einen Widerspruch nachweisen: Einerseits sei der Stand der Natur das eigentlich Wünschenswerte, andererseits schaffe die Natur diesen ihren Stand selber ab, indem sie den Menschen mit einem Vollkommenheitstrieb ausstatte und ihn so zwinge, seiner vorgeblich wahren Bestimmung untreu zu werden. Rousseau hat nach Iselin keinen konsistenten Naturbegriff. Iselin eigenes Perfektibilitätsdenken will diesem Mangel abhelfen. Zu Beginn des geschichtsphilosophischen 6. Abschnitts bemüht Tetens sowohl Iselin und das hoffnungsfrohe Ende von dessen Geschichte der Menschheit als auch Louis-Sébastien Merciers Zukunftsutopie L’An deux mille quatre cent quarante. Rêve s’il en fut jamais (1771) als Referenzgrößen für Werke, die »erheiternde Aussichten in die Zukunft« geben.34 Diese scheinbar so zukunftsfrohen Werke werden denjenigen gegenübergestellt, die seit der Antike nur Verfall und Abstieg kommen sahen. Tetens warnt dabei vor einer einseitigen Beleuchtung – man müsse sowohl die hoffnungsvoll stimmenden »Vervollkommnungsmittel«, als auch die Hindernisse der Entwicklung sorgfältig studieren. Ein abschließendes Urteil über Fort- oder Rückschritt des Menschengeschlechts zu fällen, erweist sich dabei als äußerst schwieriges Unterfangen: Mag denn diese Veredelung nur langsam fortgehen; mag es Perioden des Stillstehens in ihr geben, oder gar solche, worinn sie etwas zurückgeht, die aber durch andere, in denen sie schneller wieder fortwächst, ersetzt werden? Oder sollte die Summe der menschlichen Vollkommenheit und Glückseligkeit im Ganzen vielleicht eine beständige Größe seyn, oder doch nur eine so wenig veränderliche, daß hierauf nicht zu rechnen wäre?35

Sicher dürfe man in bestimmten Ländern von Verbesserungen sprechen, könne aber zugleich Verschlechterungen in anderen Ländern nicht leugnen. Für Deutschland werde man sich die Zeit des Tacitus nicht zurückwünschen, während das gegenwärtige Griechenland (unter osmanischer Herrschaft) weit hinter dem antiken Griechenland zurückbleibe. Überschaut man nun den Entwicklungsgang des menschlichen Geschlechts insgesamt, bietet sich für Tetens eine Gliederung in drei Epochen an: Anfangs habe es seine »Kindheit« durchlaufen, sodann eine »mittlere Zeit der Finsterniß und der Barbarey«:36 Zwischen den bessern ältern Zeiten und den jetzigen hat es eine mittlere Zeit der Finsterniß und der Barbaren gegeben, die fast die ganze alte Welt bedecket und, das Vorteilhafte, was sie hatte, nicht übersehen, doch als ein Beyspiel von Verschlimmerung der Menschheit im Ganzen angeführet werden kann. Es scheinet doch wenigstens, als wenn die Geschichte den erstem Begriff von einer wachsenden Vervollkommnung der Menschheit, die aber langsam zunimmt, auch wohl ihre Epochen hat, in denen

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Im 1755 publizierten Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes bestimmt Rousseau die »perfectibilité« als die dem Menschen eigentümliche »faculté de se perfectionner«, nicht ohne sogleich zu bemerken, dass dieses Vermögen »la source de tous les malheurs de l’homme« sei (JeanJacques Rousseau: Œuvres complètes. Édition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond. Bd. 3. Paris 1964, S. 142). Ob es sich bei der »perfectibilité« um einen von Rousseau selbst geschaffenen Neologismus handelt, ist umstritten (vgl. ebd., S. 1317–1319 sowie Richard Baum u. Sebastian Neumeister: [Art.] Perfektibilität I. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd. 7. Basel 1989, Sp. 238–241, hier Sp. 239). PV II, S. 767. Zu den geschichtsphilosophischen Prämissen von Merciers Werk siehe Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? (s. Anm. 30), S. 268–291. PV II, S. 768. Ebd., S. 770.

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sie abnimmt und dennoch im Ganzen größer wird, mehr bestätige, als den zweeten von einer beständigen Gleichheit des Ganzen.37

Erst nach dieser Epoche der Barbarei könne sich in einer dritten Epoche die Vernunft allmählich durchsetzen. Tetens’ Schema mit der Zwischenstufe der Barbarei problematisiert also die Vorstellung eines gradlinigen Fortschritts; jeder scheinbare Rückfall in der Gesamtentwicklung kann mit dem Eintreten barbarischer Zustände der Wildheit erklärt werden. Die gattungsgeschichtliche Trias, mit der Tetens arbeitet, findet sich, wie gesagt, prominent schon bei Iselin, der die Gattung »in Rücksicht auf ihre Thätigkeit, wie in Rücksicht auf ihre Glückseligkeit« in »drey Hauptclassen« einteilt: »In die erstere sind diejenigen zu rechnen, welche unter der Oberherrschaft der Sinne, und der sinnlichen Triebe gleich den Thieren stehen«.38 »Wenn der grösste Theil eines Volkes noch in die erste Classe gehöret, so lebt es in dem Stande der Einfalt«.39 In die zweite Klasse gehören diejenigen, »welche ihre Seelenvermögen höher erhoben haben; bey denen die Einbildungskraft mächtiger ist, als die Sinne; die Vernunft aber schwächer, als die Einbildung«.40 Lasse sich die Mehrheit eines Volkes von »Leidenschaften dahin reissen«, statt »der Vernunft Gehör« zu schenken, »befinde es sich »in dem Stande der Barbarey«. Die Menschen, »bey welchen die Vernunft die Oberherrschaft über die Sinne und über die Einbildung behauptet«, machten die dritte Klasse aus:41 Nachdem hingegen unter einer Nation die höhern Fähigkeiten sich ausbreiten und verstärken; nachdem weise und vernünftige Anstalten Ordnung und Harmonie bey ihr vestsetzen [sic]: nachdem eine tugendhafte und erleuchtete Regierung sie handhabet, und zu Werkzeugen eines allgemeinen Wohlstandes machet, nachdem wird ein Volk gesittet, schätzbar und glücklich.42

Tetens ist wie Iselin der Auffassung, dass diese dritte und höchste Stufe der Entwicklung keineswegs flächendeckend erreicht sei. Im Unterschied zu Iselin füllt er an der fraglichen Stelle im 6. Abschnitt des 14. Versuchs die drei Stufen nicht inhaltlich; auch die verschiedenen Stufen der Vernunftentwicklung vom Gemeinen Menschenverstand über die polizierte bis hin zur gelehrten Vernunft im ersten Band der Versuche werden nicht auf die Gattungsgeschichte übertragen. Dafür hat er in einem früheren Kapitel wie erwähnt ebenfalls nach Iselins Vorgabe die Stufen den verschiedenen Seelenkräften, der Sinnlichkeit, den Begierden und der Vernunft zugeordnet und nach dem Grad an Selbsttätigkeit unterschieden.43 Weiteres Vervollkommnungspotential der Menschheit ist offenkundig heute gegeben – selbst dann, wenn nach dem Kreislaufmodell der antiken Kosmologie auf einen Fortschritt eine gleich lange Phase des Rückschritts folgend sollte. Aufschlussreich erscheint, dass Tetens zufolge die »Künste und Wissenschaften […] zwar ein Mittel« seien, »wodurch die Vervollkommnung befördert wird; allein, man würde sich übereilen, wenn man nach dem Grade der Erweiterung und Verbesserung derselben die Grade der Vollkommenheit der Menschen schätzen woll-

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Ebd. Iselin: Über die Geschichte der Menschheit. Bd. 1 (s. Anm. 32), S. 109. Ebd., S. 113. Ebd., S. 110. Ebd., S. 112. Ebd., S. 114; alle Hvhg. im Original. Vgl. Iselin: Über die Geschichte der Menschheit. Bd. 2 (s. Anm. 32), S. 610–622.

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te«.44 Einerseits wendet sich Tetens also gegen eine vorschnelle Identifikation von wissenschaftlichem und allgemeinem Fortschritt, verwahrt sich andererseits aber zugleich – ohne ihn zu nennen – gegen Rousseaus Verdacht, die Künste und Wissenschaften könnten in ihrem glänzenden Elend den eigentlichen sittlichen Fortschritt der Menschen gerade zunichte machen. Tetens’ Überlegungen zielen in eine andere, wir würden heute sagen: biopolitische Richtung: Wäre es möglich, wozu einige uns Hoffnung gemacht haben, daß die Naturanlagen in unsern Kindern verbessert werden könnten: so ließe sich ungemein viel zur Veredelung des künftigen Geschlechts ausrichten. Jedes Individuum muß immer von demselbigen Punkt anfangen, und hat dieselbigen Stufen seiner Entwickelung vor sich, die es von der untersten an durchgehen muß.45

Immerhin gebe es das eine oder andere Anzeichen einer solchen Veredelung der menschlichen Physis. »Ganze Völker werden durch die Vermischung mit andern, wie die Perser durch ihre Verbindung mit den cirkassischen Weibern, größer, stärker und wohlgebildeter am Körper. Viele Indianer mögen von den kultivirten Europäern eine muntrere, geschmeidigere und klügere Nachkommenschaft erhalten haben«.46 Man solle auf die »physische Erziehung der Kinder« ebensolche »Sorgfalt« anwenden wie man dies bei Pflanzen und Tieren tue. »Und man muß es mit Vergnügen bemerken, daß es jetzo anfängt wirklich zu geschehen, was noch allgemeiner werden wird, je mehr die philantropinische Erziehung sich ausbreitet«.47 Tetens weist also die Erwartung nicht rundweg ab, dass sich die menschliche Natur auf dem Wege der Zucht, die er mit Erziehung gleichsetzt, optimieren lasse. Allerdings sind diese Erwartungen durchaus gedämpft; von einer »immer steigenden Progression« dürfe man nicht träumen. »Denn wer wird hoffen, daß unser Geschlecht jemals zu einem Riesengeschlecht am Körper und einem Engelgeschlecht am Geiste werden kann?«48 Namentlich bestehe die Gefahr der einseitigen Konditionierung, z. B. der Körperkräfte zuungunsten der Geisteskräfte: Wenn wir nach der Analogie erwarten, daß eine Verbesserung in dem Menschengeschlecht möglich sey, wie sie es bey Thieren und Pflanzen ist: so erinnert man sich nicht, daß in dem Menschen das, was er durch die Ausbildung wird, weit weniger in seinen Naturanlagen bestimmt sey, als bey den übrigen organisirten Wesen. Und nicht nur das, was er werden, sondern auch das, was erwirken und wieder zeugen soll, hangt weit mehr von dem Zufall und von äußern Umstanden ab, die nicht in seiner Gewalt sind.49

»Äußere Umstände« sind ein zentrales Moment in Tetens’ Reflexion auf den Fortschritt der menschlichen Gattung – Umstände, die freilich dem menschlichen Handeln nicht grundsätzlich entzogen bleiben müssen. Vielmehr postuliert er programmatisch, dass es gerade auf eine aktive Gestaltung dieser Umstände ankomme, wolle man etwas für den Fortschritt tun: »Das Wirksamste, was zur Verbesserung der Menschheit in dem nachfolgenden Geschlechte geschehen kann, beruhet auf der Einrichtung und Festsetzung der äußern Ursachen, durch deren Einfluß die Naturkraft am leichtesten und am vollkommensten einwickelt wird«.50 Zu den »äußern Um44 45 46 47 48 49 50

PV II, S. 771. Ebd., S. 771f. Ebd., S. 772. Ebd. Ebd., S. 773. Ebd., S. 774. Ebd., S. 775.

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ständen« rechnet Tetens namentlich die Schulen, deren Verbesserung ein besonderes Augenmerk gelten solle. Auch die »Menschenfreunde« werden bei dieser Veränderung der sozialen Rahmenbedingungen in die Pflicht genommen: »Sollte die Vervollkommnung in dem ganzen Geschlechte siegen, so müßte dieß am meisten von der Vortrefflichkeit und von der Ausbreitung dieser äußern Einrichtungen zu erwarten seyn«.51 Dazu will Tetens nun einige Anmerkungen machen und meint, vielleicht sei am Ende weder ein Goldenes noch ein Eisernes Zeitalter zu erwarten, was aber echte Menschenfreunde nicht entmutigen könne. Es ist bemerkenswert und für den Gestus der deutschen Spätaufklärung charakteristisch, dass Tetens zu praktischen Folgerungen fortschreitet, ohne vorab die theoretische Eingangsfrage zu beantworten. Diese Eingangsfrage, ob das menschliche Geschlecht nämlich in einer Aufstiegs- oder in einer Abstiegsbewegung begriffen sei, steht nach wie vor unerledigt im Raum. Tetens unterläuft nun dieses Dilemma, indem er praktische Vorschläge macht, die auf beide möglichen Antworten, Fortschritt oder Verfall anwendbar sind. Er weicht mit anderen Worten der scheinbaren Grundsatzfrage aus und verschiebt mit seiner Strategie, Vorschläge zu formulieren, die für beide Fälle Gültigkeit haben, das Problem auf die Ebene des moralischen Sollens, das unabhängig von der Frage bleiben soll, was für ein Schicksal ein Handelnder dem menschlichen Geschlecht prognostiziert, damit unabhängig von der geschichtsphilosophischen Gretchenfrage, wie man es denn mit dem Fortschritt halte. Man könne nun in zweifacher Hinsicht durch »Einrichtungen« auf die »Entwickelung der Menschheit« Einfluss nehmen, nämlich einerseits dadurch, dass man »auf die Erhaltung und Vermehrung des Geschlechts, und, auf die Erleichterung des thierischen Lebens« abziele, also auf die physische Seite des Menschseins; andererseits dadurch, dass man auf »die Entwickelung der Seelenkräfte« einwirke.52 Nach den tierischen Bedürfnissen müssten diejenige der Vorstellungskraft und des Verstandes befriedigt werden. Für höhere Geistesbildung bedarf es nach Tetens der Muße. Das wiederum impliziert Freiheit und die Verbesserung der sozialen Bedingungen. Müsste es nicht soweit kommen, dass jeder nur noch 10 Stunden zu arbeiten braucht, um genügend zu essen und genügend Muße für seine Seelenbildung zu haben?53 Die Hauptsache wird freylich darauf ankommen, daß der Mensch aufgemuntert werde, sich als ein selbstthätiges und vernünftiges Wesen zu fühlen, und als ein solches zu handeln. Es muß ihm als eine Lehre seines Katechismus eingeschärfet werden, daß jeder nicht nur berechtiget, sondern auch verpflichtet sey, nach dem Maße seiner Zeit und Kräfte über das, was er gelehret wird, zu denken, so gut er kann es zu untersuchen, und durch Unterredungen mit andern sich darüber zu belehren.54

»Freiheit des Geistes« heißt dabei die Zielrichtung, wobei es stets eine Abwägungssache bleibt, wie weit man sich damit vorwagen will: Regierungen verfahren nach diesem Grundsatz. Nur die Grenzen jener Freyheit scheinen vielen noch zu schwer zu finden zu seyn. Denn man sieht ein, daß die ganz uneingeschränkte Preßfreyheit zwar

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Ebd. Ebd., S. 776. Vgl. ebd., S. 780. Ebd., S. 781; dazu Klaus Weyand: Kants Geschichtsphilosophie. Ihre Entwicklung und ihr Verhältnis zur Aufklärung. Köln 1964, S. 89: »Zwischen Kants Gedanken der Freiheit nach Gesetzen und Überlegungen von Tetens läßt sich eine gewisse Konkordanz nachweisen.«

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Andreas Urs Sommer ein starkes wirksames Mittel zur Aufklärung und Vervollkommnung ist; aber auch daß sie ein heroisches Mittel ist, das die Bosheit der Menschen zu einem allgemeinen Gift machen kann.55

Mit Johann Joachim Spaldings Begriff von der »Bestimmung des Menschen«56 erinnert Tetens zugleich daran, dass es nicht bloß darum gehen könne, den Menschen »zu einem gutgezogenen und glücklichen Thiere« zu machen, vielmehr bestehe sein Glück wesentlich in Selbsttätigkeit. Er sollte ein glückliches selbstthätiges Wesen werden. Dieser Zweck erfodert, daß ihm auch so viele äußere Unabhängigkeit und Freyheit in seinen Handlungen gelassen werde, als das allgemeine Wohl erlauben will. Ohne diese äußerliche Bürgerfreyheit erstickt auch die Freyheit des Verstandes im Denken, welche ohnedieß nur bey wenigen der Weg, ist, der zu Erhöhung der Selbstthätigkeit der Seele genommen werden kann. Für sich ist es freylich möglich, daß die Menschheit sich auch in der Sklaverey entwickele. Aber Seelen, wie des Epiktets, sind selten.57

Dies freilich will Tetens nicht als uneingeschränktes Plädoyer für die republikanische Staatsform verstanden wissen, denn es komme keineswegs nur auf die Form, sondern vor allem auch auf die Art des Regierens an.58 Gerade die politische Sphäre erinnert an die Diskrepanz zwischen der Entwicklung des Einzelnen und dem, was »aus der ganzen Menschheit« werden kann.59 Erneut verweist Tetens auf seinen geschichtsphilosophischen Hauptgewährsmann: Es hat Europa, wie Herr Iselin richtig bemerket, seinen gesitteten Zustand wenigen erleuchteten Einwohnern zu danken, die nicht den hundertsten, wer weiß welchen geringen, Theil aller Menschenseelen ausmachen. Sollte etwa die Natur unsers Geschlechts es mit sich bringen, daß es auf immer so bleiben müßte; daß die Summe der vorzüglich entwickelten und aufgeklärten in Vergleichung derer, die dableiben, wo der gemeine Haufe jetzo stehet, nur sehr geringe sey; und daß dieß Verhältniß zum Vortheil des Ganzen wenig verändert werden könne?60

Tetens gibt sich skeptisch im Blick auf die Entwicklungsfähigkeit der »größte[n] Menge«. Sie bestehe aus Menschen, »deren Schwäche, Trägheit und Hang zu dem Sinnlichen verhältnißmäßig zu groß ist, für den Entwickelungstrieb in den höhern Geisteskräften«.61 Ihr Trachten gehe auf Eigennutz, nicht auf Gemeinnutz. Der Unterschied in der Entwicklung der einzelnen Menschen, der Tetens mit einer elitären Konzeption von Aufklärung und dem aufgeklärten Absolutismus sympathisieren lässt, hänge daran, dass »Ursachen in der Welt vorhanden« seien, »welche eine gleiche Entwickelung in allen unmöglich machen; sie mögen nun in den Naturen selbst liegen, oder in den Umständen und unvermeidlichen Einschränkungen, die alsdenn entstehen, wenn viele zugleich zu vervollkommnen sind«.62 Tetens behauptet also gerade nicht, dass es nur äußerliche Faktoren seien, die das Entwicklungsgeschehen beim Einzelnen so unterschiedlich prägten. Vielmehr schließt er nicht aus, dass die Entwicklungsunterschiede eine biologische Basis haben können. Diese Kautele wiederum macht deutlich, weshalb Tetens trotz seines In55 56 57 58 59 60 61 62

PV II, S. 782. Dazu ausführlich Andreas Urs Sommer: Sinnstiftung durch Individualgeschichte. Johann Joachim Spaldings »Bestimmung des Menschen«. In: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 8 (2001), S. 163–200. PV II, S. 783. Auch hier sieht Weyand: Kants Geschichtsphilosophie (s. Anm. 54), S. 148 mit Recht eine Parallele zu Kant. PV II, S. 784. Ebd., S. 785. Ebd. Ebd., S. 786.

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sistierens auf die Verbesserung der äußerlichen Entwicklungsfaktoren, namentlich der sozialen Bedingungen menschlichen Lebens, in seiner geschichtsphilosophischen Skizze keineswegs für politischen Egalitarismus oder eine republikanisch-demokratische Staatsform plädiert. Weder den Egalitarismus noch die republikanisch-demokratische Staatsform stellt er als künftiges Geschichtsziel in Aussicht. Im Gegenteil: Er hält das gegebene Verhältnis von Sinnlichkeit und Vernunft, damit die bestehende Differenz der Individuen, nicht für revisionsbedürftig.63 Denn für das gesellschaftliche Ganze sei auch der körperlich Arbeitende unentbehrlich. »Es könnte«, und man glaubt eine Mahnung an die Adresse heutiger Bildungspolitiker zu hören, »[e]s könnte im Ganzen wohl des geistigen Wesens zu viel werden. Zum Glück ist dieß nun eben nicht leicht zu besorgen«.64 Der Ausgangspunkt bleibt für Tetens dabei unstrittig, nämlich die »natürliche Ungleichheit der Menschen«.65 Mit dieser Ungleichheit einher geht die Dominanz des Egoismus; die Absicht, die Menschheit zu vervollkommnen, sei die »Denkungsart des kleinsten Theils. Der größere hat kein Interesse an der Vervollkommnung der Menschheit«.66 Der Kampf zwischen Vernunft und Unvernunft halte ewig an, so dass »man leicht zu viel Gutes von der Zukunft hoffen kann«. Andererseits sei der »Trieb zur Entwickelung an allen Seiten jetzo sehr stark, wenigstens so stark, als in einem andern Zeitalter«,67 weshalb man dieses Zeitalter durchaus »das philosophische« nennen dürfe.68 Es gehe, so schließt Tetens den 6. Abschnitt seines 14. Versuchs, darum, dass keine der »einseitigen Denkungsarten« herrschend werde.69 Das klingt nach einer irenischen Moderierung verschiedener Wirklichkeitskonzeptionen, auf dass kein philosophischer – sprich materialistischer oder atheistischer – Extremismus sich durchsetze. Scheinbar bewegt sich Tetens ganz im Fahrwasser der geschichtsphilosophischen Theoriebildung seiner Zeit. Er stellt eine Analogie zwischen der von ihm breit dargestellten Vervollkommnungstendenz menschlicher Individuen und der Entwicklung der menschlichen Gattung als solcher her, ist doch aber vorsichtig genug, aus dieser Analogie keine Notwendigkeit der Höherentwicklung zu folgern.70 Wenn Entwicklung für das Individuum bedeutet, seine Anlagen zu entfalten und zu vernünftiger Selbsttätigkeit fortzuschreiten, so sieht er diesen individuellen Entwicklungsprozess zugleich abhängig von überindividuellen Rahmenbedingungen, zu denen 63

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»Wenn man auf den ersten Grund der Stufenverschiedenheit, die sich in der Entwickelung der Individuen findet, zurückgeht, und ihn in dem Verhältniß der Sinnlichkeit zu den höhern vernünftigen Seelentrieben aufsuchet, und dieß Verhältniß so nimmt, wie es in dem ganzen Geschlechte vorhanden ist, so kann man kaum einmal wünschen, daß es gar zu sehr verändert werde. Noch weniger findet man Ursache, der Vorsehung darüber Vorwürfe zu machen, daß es so sey, wie es von Natur ist.« (Ebd.) Ebd., S. 787. Ebd. Ebd., S. 788. Ebd. Ebd., S. 789. Ebd., S. 790. Für Tetens scheint nicht nur klar zu sein, was »Vervollkommnungsmittel« sind – Schulen z. B. –, sondern auch, dass sie wirklich vervollkommnen, und zwar nicht bloß die Individuen, sondern die Gattung. Nicht thematisiert wird die Frage, ob denn ein Vervollkommnungsmittel, das einzelne vervollkommnet, Schüler z. B., tatsächlich notwendig die Gattung oder das Menschengeschlecht vervollkommnet. Wie verhält sich überhaupt die Einzelvervollkommnung zur Gattungsvervollkommnung? Ist letztere einfach nur die quantitative Summe der Einzelvervollkommnungen?

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wesentlich der Entwicklungsstand des Menschengeschlechts als ganzes gehört. Seine vernünftige Selbsttätigkeit kann das Individuum nur dann entwickeln, wenn die menschliche Gesellschaft, in der es lebt, einen bestimmten Entwicklungsstand erreicht hat, sich am besten schon in jenem »philosophischen Zeitalter« befindet, das Tetens für die Gegenwart konstatiert. Zwischen der Individual- und der Gattungsentwicklung gibt es also ein Wechselverhältnis – und es muss dieses Wechselverhältnis für Tetens notwendig geben, da doch die Entwicklung des Individuums erklärtermaßen von äußeren Faktoren abhängig ist. Je mehr Spielraum das Individuum für seine eigene Entwicklung erhält, desto höher ist der Entwicklungsstand der Gesellschaft zu veranschlagen, in der es lebt – wobei natürlich die Entwicklung einer spezifischen Gesellschaft beispielsweise in Mitteleuropa noch nicht die Höherentwicklung der Gattung als ganzes indizieren muss. Aber der Entwicklungsprozess der Gattung ist doch offensichtlich das Resultat der Entwicklung einzelner Völker, die wiederum aufeinander einwirken und in erneuter Wechselwirkung das gesamte menschliche Geschlecht voranzubringen versprechen. Tetens spielt die schon etwas abgegriffene geschichtsphilosophische Münze aus, die namentlich Iselin in Umlauf gesetzt hat. Iselin bleibt diskursbestimmend, obwohl sein Ansatz in der Geschichte der Menschheit nach einer anthropologischen Exposition im 1. Buch gegenläufig zu demjenigen von Tetens war: Er betrachtete in einer großen Weltgeschichtserzählung die Entwicklung der Menschheit als ganzer, während Tetens zur Hauptsache die Entwicklung des Menschen als Individuum beleuchtet und die Entwicklung der Menschheit bei ihm nur als Folgethema auf wenigen Seiten in den Blick kommt. Die weitgehende Kongruenz in der Einschätzung dieser Menschheitsentwicklung fällt unmittelbar ins Auge. Beide machen für die Entwicklung sowohl des Individuums als auch der Gattung ein Wechselspiel innerer und äußerer Faktoren verantwortlich: Weder erschafft der Mensch sich und seine Geschichte ganz aus sich heraus, noch ist er mit seiner Geschichte bloßes Produkt der Gegebenheiten, die sein Dasein umrahmen. Die nicht-determistische Sicht auf die Entwicklungsgeschichte der Gattung, die Tetens mit Iselin teilt, bewahrt ihn noch entschiedener als den Schweizer Kollegen vor überspannter Fortschrittsgewissheit: Nach Tetens kann man keineswegs sicher sein, dass im Zuge der Gattungsgeschichte jeder den Stand vernünftiger Selbsttätigkeit oder die Gattung selbst ein Goldenes Zeitalter erreicht. Dieser geschichtsphilosophische ›Indeterminismus‹ ist grundiert in der Offenheit für die naturphilosophische Epigenesis-Theorie. Diese Theorie behauptet gerade nicht, es finde im Prozess der Entwicklung von Lebewesen eine zwangsläufige Ausfaltung eines schon Angelegten, damit die bloße Realisierung eines potentiell schon Vorhandenen statt: Die Blüthen und die Früchte des Baums sind ihrer Anlage nach in der jungen Pflanze, die aus der Erde hervorgeht. Aber auch nur der Anlage nach, welches freylich nach der Idee derer, die die Evolution behaupten, eben so viel ist, als dem Anfang nach. Indessen wenn auch die Anfänge oder die ersten Elemente vorhanden sind, so ist es doch mehr sinnreich und schön als philosophisch richtig gesagt, daß die Sache selbst schon im kleinen vorhanden sey. Die erfoderliche Größe giebt ihr erst ihr Wesen und ihren Namen, und der Anfang der Sache kann gar sehr von der Sache selbst unterschieden seyn.71

Zwar ist nach Auffassung der Epigenetiker eine primäre Anlage schon vorhanden, aber was genau und wie etwas aus dieser Anlage hervorgeht, ist offen. Es gibt also im Menschen durch71

PV I, S. 763.

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aus eine Anlage, die ihn der vernünftigen Selbsttätigkeit befähigt, aber weder waltet eine Naturnotwendigkeit, dass sich diese Anlage auch ausmünzt, noch wie sie sich ausmünzt, wenn sie sich denn ausmünzt. Die Einpassung der Epigenesis-Konzeption von Caspar Friedrich Wolff in das eigene Entwicklungsdenken ermöglicht es Tetens, der Suggestion gattungsgeschichtlicher Zwangsläufigkeiten von vornherein zu entgehen.

2. Zwischenbemerkung zum Schreibgestus der deutschen Aufklärungsphilosophie Auch wenn Tetens seinen Lesern keinen tröstlichen Geschichtsfahrplan der Vorsehung ins Stammbuch diktiert und durchaus die Möglichkeit im Raum stehen lässt, dass es mit der Höherentwicklung des Menschengeschlechts nicht sehr weit her sein könnte, schreibt er sich mit seinen Philosophischen Versuchen doch in eine Tradition ein, die die Werke der deutschsprachigen Aufklärung vielleicht seit Christian Thomasius und Christian Wolff, sicher aber seit Spalding und Iselin charakterisiert: Das philosophische Schreiben dieser Autoren hat erbauliche Zwecke vor Augen; es will die Seele der Leser erheben und zum Handeln, zum guten Handeln motivieren. Es ist Ausdruck eines Denkens, das praktisch werden will – daher erstaunt es nicht, dass weder Spalding noch Iselin als Professoren, sondern als Pastor und als Ratsschreiber amtieren, während Tetens zur Abfassungszeit der Philosophischen Versuche zwar noch Professor war, bald aber eine Laufbahn als politischer Beamter, nicht zuletzt als Deichbau-Fachmann einschlagen sollte. Falls man als Philosophiehistoriker das dringende Bedürfnis verspürt, die deutschsprachigen Philosophen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in verschiedene Gruppen einzuteilen, wäre es womöglich erfolgversprechender, sie nach ihrem Schreibgestus – erbaulich oder kritisch – zu sortieren als nach dem in deutschen Verhältnissen notorisch problematischen Schematismus Empirismus / Rationalismus.72 Vielleicht sollte man eher in einer besonderen Art des erbaulichen Schreibens als in angeblichen Differenzen zwischen Empirismus und Rationalismus ein spezifisches Charakteristikum der deutschen Aufklärungsphilosophie zu finden streben. Ziel und Haltung dieser philosophischen Anstrengungen liegen weit ab von demjenigen heutiger Philosophieprofessoren: Ihr Schreiben sollte die Vervollkommnung praktische Wirklichkeit werden lassen. Charakteristisch für diese Art der philosophischen Reflexion ist es, dass Schreiben, um den Ausdruck von Tetens zu gebrauchen, selbst ein »Vervollkommnungsmittel« ist.

72

Gideon Stiening: Facetten des Fortschritts. Iselin und Kant. In: Gisi u. Rother (Hg.): Isaak Iselin und die Geschichtsphilosophie (s. Anm. 30), S. 177–200, hier S. 181–183 sieht in Iselin sehr viel stärker den Wolffianer als ich es hatte wahrhaben wollen (Sommer: Geschichte als Trost [s. Anm. 29]) – insbesondere in seiner Anthropologie. Iselin sei Rationalist geblieben, der seinen Rationalismus mit gewissen Erfahrungselementen bloß angereichert habe.

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3. Umbesetzungen: Tetens und die Erhaltung des Status quo Man könnte nun denken, Tetens habe einfach nur eine Münze weiter in Gebrauch gehalten, die sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gerade in Deutschland großer Beliebtheit erfreute. Um dagegen Tetens’ Originalität auch in Fragen der Gattungsentwicklung herauszustellen, pflegt man ihn mit Etiketten zu belegen, die für ihn exklusiv reserviert bleiben sollen. So ist für Odo Marquard seine »beobachtende Methode« das Unterscheidungskriterium,73 als ob sich nicht schon Iselin ihrer vorzüglich zu bedienen gewusst hätte. Felix Günther, bei dem Tetens unter dem Label des »empirischen Sensualismus« läuft,74 will seinem Helden überhaupt die Schlüsselstellung in der Entwicklung des geschichtsphilosophischen Entwicklungsgedanken vorbehalten: Die für eine künftige Geschichtsphilosophie überaus wichtigen Ergebnisse dieser Betrachtungen dürften nach unserem Dafürhalten darin bestehen, dass an Stelle des bisher geltenden rationalistisch konstruierten utopistischen Glückseligkeitsbegriffes von Tetens ein Zustand menschlicher Vollkommenheit als Ziel aller geschichtlichen Entwickelung angenommen wird, der nur mit wirklich Erreichbarem rechnet; dass ferner zum ersten Male die Lösung der sozialen Frage in den Kreis der die geschichtliche Entwickelung der Völker bestimmenden Faktoren eingestellt und ihr dabei sogleich die erste Stelle unter denselben eingeräumt wird.75

Günther subsumiert m. a. W. die Geschichtsphilosophie vor Tetens unter »Rationalismus« und sieht erst mit Tetens eine empiristische Wende eintreten.76 Diese Behauptung wird aber mit Sicherheit keinem der beiden von Tetens selbst genannten geschichtsphilosophischen Gewährsmänner gerecht: Zumindest dem Anspruch nach will Iselin zunächst nur beschreiben, was er in der geschichtlichen Welt beobachten kann und erst aus diesen Beobachtungen dann allgemeine Schlüsse über den Verlauf der menschlichen Geschichte ziehen.77 Auf ihn scheint das Etikett des Rationalisten nicht zu passen, noch weniger aber auf den zweiten Gewährsmann, Louis-Sébastien Mercier, dessen An deux mille quatre cent quarante zwar ›utopistisch‹ ist, aber sicher nicht, weil es bloß auf einem rational konstruierten Glücksbegriff aufruhte. Gerade aus dem französischen Sensualismus speiste sich Merciers Zukunftsutopie. Vielleicht ist es vergebliche Liebesmüh’, Tetens als Geschichtsphilosoph zu nobilitieren, indem man ihm irgendein wohlklingendes philosophiehistorisches Etikett anklebt, das seine einschlägige Originalität ausweisen soll. Tatsächlich liegt diese einschlägige Originalität diesseits solcher Etiketten und erschließt sich erst bei genauerem Hinsehen ohne Rücksicht auf philosophiehistoriographische Sprachspiele. Diesem genaueren Hinsehen zeigt sich Tetens als Virtuose subtiler Umbesetzungen. Zunächst einmal fällt auf, dass Tetens geradezu systematisch die Frage verschleiert, worin denn eigentlich die Vervollkommnung der Gattung bestehen könnte. Er wägt die Wahrschein73 74 75 76

77

Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a. M. 1982, S. 220. Günther: Die Wissenschaft vom Menschen (s. Anm. 4), S. 79. Ebd., S. 126. »In Tetens’ Abkehr von der konstruierenden Methode des Rationalismus und in seiner Betonung dessen, was wirklich ist oder doch möglich sei, liegt noch ein anderes für die damalige Wissenschaft vom Menschen recht beachtenswertes Moment.« (Ebd.) Iselin: Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1 (s. Anm. 32), S. XXIXf.

Geschichtsphilosophie und »Perfektibilität« der Menschheit

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lichkeit der Gattungsvervollkommnung ab, aber macht weder klar, wie sie sich zur Einzelvervollkommnung verhält, noch, worin sie überhaupt bestehen sollte. Er redet über die Vervollkommnungsmittel, nicht über die Vervollkommnungsinhalte, als ob die bereits Routinebestandteile der praktischen Aufklärungsphilosophie wären. Diese Verschleierung könnte man ihm ebenso als Mangel an begrifflicher Schärfung ankreiden wie die Un- oder Unterbestimmheit des Verhältnisses von Individualfortschritt und Gattungsfortschritt. Aber damit würde man den Blick für das Wesentliche, nämlich die wirkliche Originalität trüben: Diese Originalität besteht wesentlich darin, dass es für Tetens’ praktische Strategie gar keine Rolle spielt, wie man die Gattungsvervollkommnung inhaltlich fasst oder wie sie sich zur Individualvervollkommnung verhält. Seine Pointe und seine Originalität kondensiert sich vielmehr darin, dass er es zu den angestrebten praktischen Zwecken völlig gleichgültig lassen kann, ob es einen Gattungsfortschritt gibt oder nicht – und auch, wie immer man ihn fassen mag. Auch wenn es einen solchen Fortschritt nicht gebe, könne dies den Eifer der Rechtschaffenen um die Erhebung der Menschheit nicht mindern. Sie mag im Ganzen nichts besser werden, als sie gegenwärtig ist, so ist Kraft und Thätigkeit genug nöthig, um nur zu verhindern, daß sie nicht schlimmer werde. Und dieß, meine ich, sey Belohnung genug für die Tugend, zu fühlen, daß man beygewirkt habe die gute Verfassung zu erhalten.78

Es ist noch nicht hinreichend bedacht worden, was diese vermeintliche Nebenbemerkung für die spekulativ-universalistische Geschichtsphilosophie bedeutet. Sie bedeutet nichts weniger, als dieser spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie die Geschäftsgrundlage zu entziehen. Denn die Vorstellungen einer besseren Gattungszukunft, wie sie, um wieder Tetens’ Gewährsmänner Iselin und Mercier zu nehmen, die Vorreiter der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie in ganz unterschiedlichen kulturellen Kontexten entwickelt haben, verfolgten in erster Linie den Zweck, die Menschen zum Handeln zu motivieren. Diese Motivation soll dadurch erfolgen, dass man entweder – wie Iselin – die Wahrscheinlichkeit künftiger besserer Zustände der Menschheit behauptet, oder aber – wie Mercier – ein farbiges Bild dieser besseren Zustände zukunftsutopisch konkret ausmalt. Das strategische Kalkül beider Gewährsmänner ist es dabei, dass das Versprechen künftiger besserer Menschheitszustände das Handeln der Individuen auf ungeahnte Weise zu beflügeln vermöge. Die spekulativ-universalistische Geschichtsphilosophie hat in ihrer anfänglichen Gestalt also eine wesentlich adhortative Funktion: Sie soll die Menschen dazu ermuntern, ihr eigenes Tun als einen wichtigen Beitrag für das Fortkommen nicht nur ihrer selbst, sondern der Menschheit insgesamt zu begreifen. Damit wird dieses Tun einerseits aufgewertet, andererseits mit einer erheblichen Verantwortung belastet. Tetens neutralisiert mit einem Federstrich diese adhortative Funktion geschichtsphilosophischer Fortschrittsfixierung: Auch wenn nichts besser wird als es schon ist, reicht es als »Belohnung« unserer »Tugend« völlig aus, wenn wir dank dieser Tugend wenigstens den Status quo erhalten können. Dies setzt voraus, dass die Gegenwart, in der der Leser lebt, wenigstens nicht so verwerflich ist, dass man den völligen Umsturz und die gänzliche Neugestaltung der Verhältnisse wünscht. Tetens hält für seine Gegenwart ja immerhin den Ehrentitel eines »philosophischen Zeitalters« bereit, der mindestens eine partielle Zufriedenheit anzeigt: Der in der Ge78

PV II, S. 775f.

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genwart erreichte Zustand ist offensichtlich so, dass er der Erhaltung würdig ist – dass es sich lohnt, um ihn zu kämpfen. Dies impliziert auch, dass Tetens einer politischen Umgestaltung im Sinne einer Revolution – wie Mercier sie später mit L’An deux mille quatre cent quarante vorweggenommen zu haben beansprucht – ablehnend gegenüberstünde, vielmehr geriert er sich als Gegenwartskonservativer. In seinem Handeln ist man hinreichend motiviert, wenn man handelt im Bewusstsein, das Eintreten schlimmerer Zustände, den Verfall nach Kräften zu bekämpfen. Tetens erkennt, obwohl er sich ganz in den spekulativ-universalistischen Geschichtsdiskurs seiner Zeit einschreibt, dass auch die Möglichkeit einer nicht-progressiven Gattungsentwicklung keineswegs das Handeln lähmen muss, sondern die Furcht vor dem Rückschritt dem Handeln ebenso die nötige Kraft gibt. Für ein aufklärerisches Geschichtsbild ist der Glaube an den Gattungsfortschritt nicht länger konstitutiv. Prämisse einer solchen zugleich nicht zwangsläufig progressivistischen und aufklärerischen Sicht ist aber eine moderat positive Beurteilung der Gegenwart, die nicht als verworfen, sondern in weiten Teilen als erhaltenswert erscheint. Tetens schreibt sich im geschichtsphilosophischen Abschnitt des 14. Versuchs einerseits also mit einer gewissen Selbstverständlichkeit in den bereits zu einem Ideologem geronnenen, progressivistischen Normaldiskurs der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie ein. Andererseits zeigt er aber die Nicht-Notwendigkeit dieses progressivistischen Normaldiskurses auf, wenn es um den angestrebten Zweck, nämlich die Handlungsmotivierung, geht. Man darf an den Fortschritt glauben, muss es aber nicht. Tetens erweist sich als ein idealtypischer aufklärerischer Relativierer: Die Aufklärung relativiert sich selbst. Sehr rasch ist der Fortschrittsglaube zum ideologischen Bestandteil der aufklärerischen Geschichtsphilosophie geworden. Ebenso rasch relativiert diese Geschichtsphilosophie sich selbst. Tetens’ Überlegungen erscheinen in Zeiten, die die ›Grenzen des Wachstums‹ anmahnen, unvermutet aktuell.

4. Unvorgreifliches zu Glück und Fortschritt, Fortschritt und Trost Durch die maßvolle Adaption des Gedankens von der Epigenesis wäre Tetens in besonderer Weise dafür prädestiniert, der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie den Weg in eine offene Zukunft zu weisen. Bis dahin hatten die starke Metapher des natürlichen Wachstums und die Analogie der Epochen zu den Lebensaltern diesen Typus der Geschichtsphilosophie in die Nähe eines quasi-biologistischen Determinismus gerückt, so sehr gerade Iselin die Freiheitsrhetorik bemühte. Überträgt man die Idee der Epigenesis auf die Gattungsentwicklung, so wird es denkbar, dass im Laufe dieser Entwicklung etwas gänzlich Neues geschieht, was nicht einfach ein fertiges Programm abspult. Die Epigenesis könnte es mit anderen Worten möglich machen, den Denkzwängen zu entrinnen, denen das Konzept von Vervollkommnung als Realisierung immer schon angelegter Möglichkeiten unterlag. Vervollkommnung könnte unter diesen Bedingungen gerade darin bestehen, völlig neue Möglichkeiten zu erschließen und nicht bloß darin, alte Möglichkeiten zu realisieren. Nun wird man freilich nicht behaupten können, Tetens habe gerade diese Chance energisch ergriffen und die Geschichtsphilosophie epigenetisch auf offene Zukunftsräume umgestellt.

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Stattdessen findet bei ihm eine Vergleichgültigung der Gattungszukunft statt – es wird irrelevant, welche Zukunft wir für unsere Gattung zu erhoffen haben; wichtig ist, dass wir den Niedergang des Erreichten verhindern. Entsprechend reserviert gibt sich Tetens im allerletzten Abschnitt des 14. Versuchs und damit seines Werkes überhaupt. Der Titel »Von der Beziehung der Vervollkommnung des Menschen auf seine Glückseligkeit«79 würde vielleicht eine positive Synthese erwarten lassen, eine Versöhnung von Glückseligkeit und Vollkommenheit nicht nur beim Einzelmenschen, sondern auch bei der Gattung insgesamt. Auf diesen vermeintlich höchsten Punkt steuern die Versuche zu. Aber Tetens’ Befund ist ausgesprochen ernüchternd: Die Glückseligkeitsbegriffe, die die Philosophie bis dahin im Angebot hatten, scheinen allesamt nicht zu genügen, ja kaum konsistent formulierbar zu sein.80 Zwar tut er gleich eingangs kund: »Die Glückseligkeit des Menschen entspringet aus seinen angenehmen Gefühlen, und die Gefühle innerer Vollkommenheiten sind angenehm«.81 Das führt aber nicht zu einer vorschnellen Identifikation von Vollkommenheit und Glückseligkeit. Das in der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie längst etablierte Zusammenspiel von Glücksstreben und Vervollkommnung wird unter Tetens’ kritischer Hand brüchig. Nicht nur, dass Tetens Fragen diskutiert wie: »Ob die Entwickelung der Menschheit zu weit gehen könne für ihre Glückseligkeit?« und »Gedanken einiger Neuern über die Grenze der Vervollkommnung« anführt, »wenn diese der Glückseligkeit nicht schädlich werden soll«.82 Vervollkommnung wird mit Tätigkeit assoziiert; wahre Glückseligkeit könne es auch nicht in untätigem Genuss geben. Trotzdem ist der Graben zwischen dem Glückbedürfnis und den Vervollkommnungstendenzen bei Tetens breit; viele Vergnügungen hängen offensichtlich nicht von der Vervollkommnung ab.83 Aber die Richtigkeit der Einsicht sei offenkundig, »daß je mehr der Mensch vervollkommnet wird, seiner desto großem Glückseligkeit werde er fähig«.84 Denn im Prozess der Vervollkommnung wachsen die Fähigkeiten und Möglichkeiten des Menschen ungemein an, entsprechend vermehren sich die Chancen seines Glücks – und, ist man hinzuzufügen geneigt, seines Unglücks. Dabei ist nach Tetens nicht davon auszugehen, dass die Glückseligkeit, wie bekanntlich viele antike Philosophen glaubten, von äußeren Ursachen völlig unabhängig sei: »so ist die Selbstgenügsamkeit der Stoiker offenbar etwas übertriebenes«.85 Wichtiger noch ist jedoch, dass Tetens mit der Vervollkommnung eine Diversifizierung auch des Glücks für unabweisbar hält: »Es hat die menschliche Glückseligkeit in den verschiedenen Individuen und in den verschiedenen Völkern, so wie sie wirklich in der Welt ist, eben so verschiedene Gestalten als die Menschheit selbst«.86 Sicher, man kann Parallelen in den Prozessen der Vervollkommnung zwischen Völkern und Individuen feststellen, aber dies gibt noch niemandem das Recht, jemand anderem seine Vorstellung vom Glück aufzunötigen.

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Ebd., S. 791. Vgl. auch den Beitrag von Frank Grunert im vorliegenden Band. PV II, S. 791. Ebd., S. 790. Ebd., S. 814. Ebd., S. 815. Ebd., S. 817. Ebd., S. 820.

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Wir sehen auch hier Tetens als vorsichtigen Kritiker und Umbesetzer am Werk: Er macht keine definitiven Versprechen einer Kongruenz von Vollkommenheit und Glückseligkeit; er bricht da seine Rede ab, wo man letzte Verhältnisbestimmungen erwartet hätte. Sein Konzept menschlicher Vervollkommnung ist das der Vervielfältigung von Möglichkeiten – damit wird auch die Reduktion der Menschenzukunft auf ein einheitliches Glück – Mercier hatte dergleichen noch visioniert – verunmöglicht. Tetens’ Rede von der Vervollkommnung indiziert, dass die Dinge nicht ein für allemal sind, sondern dass sie werden. Dass sie nicht fest gefügt sind, sondern relativ zur Zeit. Und die Zeit erscheint bei Tetens als die große Relativierungskünstlerin.

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Naturrecht, Völkerrecht und Revolution. Bemerkungen zu Johann Nikolaus Tetens’ Betrachtungen über die gegenseitigen Befugnisse der kriegführenden Mächte und der Neutralen auf der See (1802)1

1. Beamtenphilosophie So klein der Umfang dieser Schrift ist, so reich ist ihr Inhalt. Mit einem seltenen Scharfsinn und zugleich mit einer ansprechenden Bescheidenheit erforscht der Vf. die wichtigsten Grundsätze des Völkerrechts, überall geleitet durch seine tiefen Kenntnisse der menschlichen Natur und der gesellschaftlichen Verhältnisse. Durch die Analyse der einfachsten Sätze bereitet er sich die Auflösung verwickelter Fragen vor. Sein Werk ist eine wahre Bereicherung der Wissenschaft durch die scharfsinnige Erörterung der Grundsätze und durch die Klarheit der Darstellung: diese Vorzüge werden auch selbst von denjenigen anerkannt werden, die in einigen Behauptungen von dem Vf. abweichen möchten.2

Mit diesen enthusiastischen Worten beginnt in der Allgemeinen Literatur-Zeitung die anonyme Rezension der französischen Ausgabe von Tetens’ Schrift aus dem Jahre 1805, der drei Jahre zuvor eine anonyme deutsche Fassung mit dem Titel Betrachtungen über die gegenseitigen Befugnisse der kriegführenden Mächte und der Neutralen auf der See3 vorangegangen war.4 Was war der Anlass dieser Schrift, mit welcher der frühere Kieler, auch von Kant hochgeschätzte Professor der Philosophie Johann Nikolaus Tetens, nun auch als Verfasser einer völkerrechtlichen Abhandlung auftrat? Im Vorbericht gibt Tetens an, er habe die Schrift im März 1801 als ein »bloßes

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Sabrina Schneider (Trier) und Dr. Mikiko Tanaka (Marburg) danke ich für Korrektur und Kritik. Anonymus: Rez. von: Johann Nikolaus Tetens: Considérations sur les droits réciproques des puissances belligérantes et des puissances sur mer, avec des principes du droit de guerre en général. Kopenhagen 1805. In: Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 119, 1. Mai 1810, Sp. 1–6. Der Name des Rezensenten wird nicht genannt, es findet sich auch kein Namenskürzel. Johann Nicolas Tetens: Betrachtungen über die gegenseitigen Befugnisse der kriegführenden Mächte und der Neutralen auf der See. Kiel 1802. Tetens’ Autorschaft wird durch die französische Ausgabe, die drei Jahre später mit Nennung des Autors erscheint, verifiziert. Die Schrift gliedert sich in einen auf den Oktober 1801 datierten Vorbericht und sechs Abschnitte: I. Grundsätze, II. Die Wegnahme des feindlichen Eigenthums auf der See. Die Kaperey, III. Von der Contrebande, IV. Die Schiffahrt nach blokierten Plätzen, V. Untersuchung der Schiffe unter Bedeckung, VI. Einrichtung der Prisentribunale. Im weiteren Verlauf schwächt der Rezensent der Allgemeinen Literatur-Zeitung seine enthusiastischen Eingangsbemerkungen deutlich ab: Er erhebt zunächst »ein wichtiges Bedenken« (Sp. 4), um dann Tetens einen Widerspruch »mit sich selbst« (Sp. 5) und schließlich noch bloßes ein Bekenntnis »frommer Wünsche« (Sp. 6) vorzuwerfen.

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Erachten«5 – gemeint ist wohl: als eine Privatexpertise – verfasst, welche die »Irrungen« beleuchten sollte, die aus der im Jahr zuvor abgeschlossenen Nordischen Konvention entstanden waren.6 Die Schrift sei ursprünglich nicht zur Publikation bestimmt gewesen, sondern sollte als Handreichung »zum Gebrauch eines edlen Mannes, der mit dem Verfasser unter den damaligen Umständen das Unglück Europens beseufzte«, dienen. Bei dem edlen Manne handelt es sich vermutlich entweder um Christian Günther Graf von Bernstorff (1769–1835), den dänischen Außenminister, oder um Graf Ernst Heinrich Schimmelmann (1777–1831),7 den dänischen Finanzminister. Aus der Bestimmung der Schrift als Fachgutachten, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, ergibt sich nach Tetens auch die »größtentheils«8 aphoristische Form der Darstellung sowie der Verzicht auf die Auseinandersetzung mit den historischen und literarischen Aspekten des Problems,9 weshalb Tetens auf die Positionierung seiner Überlegungen im Kontext der neuzeitlichen Naturrechts- und Völkerrechtslehre verzichtet. Tetens’ Abhandlung weist darüber hinaus auch keine engeren Bezüge zu seinen früheren philosophischen Schriften auf. Es handelt sich somit um eine Schrift, die Tetens in seiner zweiten Karriere als hoher dänischer Beamter verfasst hat, nachdem er zuvor an den Universitäten Rostock, Bützow und Kiel Philosophie gelehrt hatte. Im Jahre 1789 hatte er die Kieler Professur aufgegeben und war nach Kopenhagen berufen worden, um dort zunächst als Assessor, ein Jahr später dann als Deputierter im Finanzkollegium zu arbeiten.10 Der Anlass seiner Berufung nach Kopenhagen war die Veröffentlichung seiner Schrift Reisen in die Marschländer an der Nordsee zur Beobachtung des Deichbaus, durch die er die Aufmerksamkeit der Regierung geweckt hatte.11 Der unmittelbare Anlass von Tetens’ Expertise war die kriegerische Situation, in der sich Skandinavien und insbesondere Dänemark um 1800 befand. Die politische Lage war gekennzeichnet durch die Spannungen zwischen dem napoleonischen Frankreich auf der einen und Großbritannien auf der anderen Seite, in die diverse europäische Staaten und so auch Dänemark hineingezogen wurden: Die Aussicht war höchst trübe, insonderheit für den Norden. Der Revolutionskrieg, der schrecklichste aller Meinungskriege, welche die Geschichte geliefert hat, war noch nicht geendigt, das stromweise ver-

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Tetens: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. III. Ebd., S. V. Zu Schimmelmann und den Handelsaktivitäten seiner Familie sowie zum dänischen Außenhandel, der bis zum Ende des 18. Jahrhunderts einen bedeutenden Schwerpunkt im sogenannten Atlantischen Dreieckshandel bzw. im Sklavenhandel hatte, vgl. Christian Degn: Die Schimmelmanns im atlantischen Dreieckshandel. Gewinn und Gewissen. Neumünster 1974. Schimmelmann war ursprünglich selbst Sklavenhändler, hatte aber im Jahre 1792, nachdem der dänische Sklavenhandeln aufgrund britischer Konkurrenz weitgehend zum Erliegen gekommen war, eine »Verordnung über den Negerhandel« initiiert, die dänischen Staatsangehörigen den Sklavenhandel verbot, die Einfuhr von Sklaven nach den dänischen Besitzungen in der Karibik aber noch bis 1803 erlaubte. Tetens: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. XIII. Ebd., S. XIIIf. Dieter Lohmeier: Die Universität Kiel als Stätte der Aufklärung. In: Klaus Bohnen u. Sven-Aage Jǿrgensen (Hg.): Der dänische Gesamtstaat: Kopenhagen. Kiel. Altona. Tübingen 1992, S. 81. Johann Nikolaus Tetens: Reisen in die Marschländer an der Nordsee zur Beobachtung des Deichbaus. Bd. 1, Leipzig 1788. Vgl. hierzu den Aufsatz von Udo Roth in diesem Band.

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gossene Blut rauchte noch, und schon war ein neuer Krieg im Ausbruche, der die gewöhnliche Bösartigkeit dieser Gattung von Kriegen anzunehmen schien.12

Wir haben es also bei Tetens’ Schrift mit einer völkerrechtlichen Gelegenheitsschrift eines hohen dänischen Staatsbeamten zu tun – es ist, wenn der Ausdruck erlaubt ist, ein Stück ›Beamtenphilosophie‹, nicht mehr und nicht weniger. Die Schrift ist in einer für den dänischen Staat kritischen Situation entstanden, ihr Autor erweist sich als Gegner der philosophischen »Neuerungen« auf dem Gebiet des Natur- und Völkerrechts und versucht demgegenüber mit traditionellen, v.a. an Grotius und Montesquieu orientierten Überlegungen die völkerrechtliche Fragestellung zu beantworten. Die naturrechtliche Grundlegung, die Tetens seiner Schrift gibt, beschränkt sich auf die Angabe der Grundsätze, eine ausführliche systematische Grundlegung war offenbar nicht beabsichtigt  und angesichts des Zuschnitts der Schrift wohl auch nicht erforderlich. Deshalb hat die Schrift offenbar  außer der oben erwähnten Rezension in der Allgemeinen Literatur-Zeitung  schon bei den Zeitgenossen keine größere Beachtung gefunden. Auch in den einschlägigen dogmengeschichtlichen Darstellungen des Völkerrechts bzw. des Neutralitätsrechts13 wird Tetens bestenfalls am Rande erwähnt. Ich werde mich bei meinen Ausführungen auf Tetens’ grundsätzliche Erwägungen beschränken und deshalb die Debatte der völkerrechtlichen Detailprobleme wie Kaperei, Konterbande bzw. Schmuggel, Seeblockade und Embargo, Kontrolle neutraler Schiffe usw. ausblenden. Während in der deutschen Ausgabe die naturrechtlichen Überlegungen zum Kriegsrecht verstreut sind, hat Tetens sie in der französischen Ausgabe seiner Schrift zum Kriegsrecht in drei längeren »Remarques« zusammengefasst, ohne dass jedoch größere systematische Änderungen festzustellen wären. Dazu heißt es im Vorwort: Il y dans l’édition allemande quelques observations éparses dans les notes sur le droit de faire la guerre. Ces idées, ont donné lieu à une exposition des principes du droit naturel, qu’on peut spécialement nommer le droit de guerre. Le premier de ces principes, sur lequel tous sont fondés, est celui, que la nécessité de conserver l’Etat est la seule base de la légitimité des guerres. Mais cette analyse de l’objet devenue trop longue pour être placée dans le texte, en est séparée ici, et a été mise à la fin du traité. Les opinions des docteurs sur ce point de droit, même de ceux qui se sont distingués par leurs recherches sur cette matière, différent beaucoup entr’elles, et pour la pluspart elles sont peu déterminées. Il est trés important cependant de les fixer plus précisément; et c’est ce que l’auteur a essayé de faire.14

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Tetens: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. IIIf. Johann Ludwig Klüber: Europäisches Völkerrecht. Stuttgart 1821, Bd. 1, § 235Amn. 291; George Fréderic de Martens: Précis du droit des gens moderne de l’Europe. Göttingen 1821, § 314; Friedrich Johann Jacobsen: Seerecht des Friedens und des Krieges in Bezug auf Kauffahrteischifffahrt. Altona 1815, S. 525; Carl von Kaltenborn: Grundsätze des praktischen Europäischen Seerechts. Berlin 1831, Bd. 2, § 223; Henry Wheaton: Elements of International Law. Oxford, London 1936, p. 529. Tetens: Considérations (s. Anm. 2), p. IVf.

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2. Der Anlass von Tetens’ Abhandlung: Die Debatte um den völkerrechtlichen Neutralitätsbegriff und die Nordische Konvention von 1800 Die Schrift betrifft einen Sonderfall des Völkerrechts, nämlich das Problem des Status neutraler Staaten im Kriegsfall unter besonderer Berücksichtung des Seehandels. Die Frage nach dem Recht neutraler Staaten steht also in Verbindung mit dem seit Beginn der Frühen Neuzeit entwickelten Grundsatz von der »Freiheit der Meere«,15 insofern das Meer »kein Eigenthum irgendeiner Macht, kein Gebiet, weder feindliches noch ein friedliches, auch kein neutrales« Gebiet ist.16 Tetens’ Schrift erweist sich als Versuch, aus dem Begriff des zivilisierten Krieges die Bedingungen des Kriegsrechts abzuleiten und im Lichte dieser Überlegungen die leitende Frage, »wie weit ist eine kriegsführende Macht berechtigt, das [sic] neutrale Handelsverkehr mit dem Feinde zu beschränken«, zu beantworten.17 Das Problem der völkerrechtlichen Stellung neutraler Staaten war im 18. Jahrhundert von verschiedenen Autoren, die aus Ländern kamen, die v.a. aus ökonomischen Gründen ein Interesse an der Klärung dieser Fragen hatten, als selbständiges Institut des Völkerrechts behandelt worden. Zu erwähnen sind hier der Niederländer Cornelius van Bynkerhoek, der Schweizer Émeric de Vattel, der Däne Martin Hübner und schließlich der Neapolitaner Fernando Galiani.18 Zu den mit dem Neutralitätsbegriff  formal im Sinne der Nichtbeteiligung an den kriegerischen Auseinandersetzungen Dritter  verknüpften völkerrechtlichen Problemen gehörte z.B. die Frage, ob kriegführende Staaten das Recht haben, neutralen Schiffen durch Blockade den Zugang zu feindlichen Häfen zu versperren, oder das Problem des Durchzugs von Truppen eines kriegführenden Staates durch neutrales Gebiet – eine Frage, die schon wegen der »Buntscheckigkeit der europäischen Landkarte« alles andere als eine Marginalie war.19 Die wichtigste Klärung des Neutralitätsbegriffs bestand in der Durchsetzung des Gedankens, dass ein formaler Neutralitätsbegriff nicht ausreicht, also Neutralität nicht einfach die Nichtbeteiligung am Krieg bedeutet, sondern dass darüber hinaus die Einhaltung bestimmter Regeln, insbesondere die Befolgung strikter Unparteilichkeit, erforderlich war. 15 16

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Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildet bekanntlich Hugo Grotius’ Mare liberum sive de iure quod Batavis competit ad Indicana Commercia dissertatio. Leiden 1609. Tetens: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 40f. Vgl. dazu auch Wilhelm G. Grewe: Epochen der Völkerrechtsgeschichte. Baden-Baden 21988, S. 481ff.; Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Berlin 1950, S. 143: »Das Meer bleibt außerhalb jeder spezifisch staatlichen Raumordnung. Es ist weder Staatsgebiet, noch kolonialer Raum, noch okkupierbar. Es ist frei von jeder Art staatlicher Raumhoheit.« Tetens: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 26. Grewe (s. Anm. 16), S. 433. Zu Galiani vgl. Paolo Luca Bernardini: Das Neutralitätsrecht der Spätaufklärung. Einige Bemerkungen zur deutschen Rezeption des Werkes von Ferdinando Galiani. In: Juristische Zeitgeschichte 9, (2007/2008), S. 3–22. Eine zeitgenössische Übersicht über die einschlägige Literatur gibt Ludolf Holst: Versuch einer kritischen Uebersicht über die Völker-Seerechte. Aus der Geschichte, der Staatslehre und der Philosophie in Hinsicht auf ihre Streitigkeiten bearbeitet. Hamburg 1802, Bd. I (Tetens wird von Holst noch nicht erwähnt). Grewe (s. Anm. 16), S. 445.

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Eines der mit dem Neutralitätsbegriff verknüpften Probleme war die Frage nach der völkerrechtlichen Beurteilung des Seehandels neutraler Staaten mit kriegführenden Staaten und insbesondere die Frage der Geltung des Grundsatzes Frei Schiff – frei Gut. Dieser Grundsatz war im Jahre 1778 erstmals im Handelsvertrag Frankreichs mit den Vereinigten Staaten formuliert worden und dann zwei Jahre später einer der vier Programmpunkte der so genannten Ersten Bewaffneten Neutralität von 1780, eines Neutralitätsbündnisses, zu dem sich veschiedene Staaten (Dänemark, Schweden, Niederlande) unter Führung Russlands gegen die britische Seekriegsführung zusammengeschlossen hatten.20 Demgegenüber war die dominierende Seemacht Großbritannien unter dem Stichwort »enemy ships – enemy goods, enemy goods – enemy ships«21 der Auffassung, dass feindliches Gut überall dort beschlagnahmt werden könne, wo es angetroffen werde.22 Im Jahre 1800 hatte Großbritannien dementsprechend erklärt, dass ein neutrales Kriegsschiff, das sich der Durchsuchung der von ihm begleiteten Schiffe eines Convois widersetzt, von der britischen Marine konfisziert werden könne. Als ein dänischer Fregattenkapitän tatsächlich die britische Durchsuchung seines Convois abwehrte, versuchte die britische Regierung Druck auf Dänemark auszuüben: Der Offizier sollte disziplinarisch belangt werden und Dänemark sollte sich außerdem für den Vorfall entschuldigen.23 Dieses Ansinnen wurde vom dänischen Außenminister jedoch zurückgewiesen. Aufgrund dieser Gefährdung des Handels neutraler Staaten durch die britischen Ansprüche lud der russische Zar Paul die Regierungen von Dänemark, Schweden und Preußen zur Erneuerung der Bewaffneten Neutralität, eines Bündnisses zur Sicherung des Handels der Neutralen, ein. Im Dezember 1800 wurde dann in St. Petersburg die so genannten Nordische Konvention nach dem Vorbild der Ersten Bewaffneten Neutralität von 1780/81 unterzeichnet, in welcher sich die beteiligten Staaten zur Sicherung des neutralen Seehandels verbanden.24 Daraufhin sandte Großbritannien, das die Nordische Konvention als feindseligen Akt betrachtete, im Frühjahr 1801 seine Flotte zur Durchsetzung seiner Forderungen in die Ostsee und vernichtete am 2. April die vor Kopenhagen liegende dänische Flotte. Im Oktober 1801, dem Monat, in welchem Tetens’ Gutachten erschien, sah sich die dänische Regierung zu einer Abmachung mit Großbritannien gezwungen, in der sie den britischen Standpunkt akzeptierte.25

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Ernst Reibstein: Völkerrecht. Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis. Freiburg, München 1963, Bd. 2, S. 107ff. Vgl. auch Grewe (s. Anm. 16), S. 448f.; Carl Bergbohm: Die bewaffnete Neutralität 1780– 1783. Eine Entwicklung des Völkerrechts im Seekriege. Berlin 1884, S. 134–138. Grewe (s. Anm. 16), S. 447. Bergbohm (s. Anm. 20), S. 261; Grewe (s. Anm. 16), S. 456. Bergbohm (s. Anm. 20), S. 257f. Sir Francis Piggot: The Freedom of the Seas historically treated. Oxford 1919, pp. 72–80. Die einschlägigen Dokumente finden sich in zwei umfangreichen Textsammlungen: James Brown Scott (ed.): The Armed Neutralities of 1780 and 1800. A Collection of Official Documents Preceded by the Views of reprensentative Publicists. Oxford 1918; Sir Francis Piggot a. Georg William Thomson Omond (eds.): Documentary History of the Armed Neutralities 1780 AND 1800. Together with Selected Documents Relating to the War of American Independance 1776–1783 and the Dutch War 1780–1784. London 1919. Grewe (s. Anm. 16), S. 456f.

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3. Die ›schädlichen Grundsätze der Revolutionssophisterey‹  Tetens’ Revolutionskritik Bevor die völkerrechtlichen Überlegungen von Tetens zur Problematik des Handels neutraler Staaten näher untersucht wird, soll zunächst geklärt werden, wie sich Tetens zu den politischen und theoretischen Auswirkungen der Französischen Revolution äußert. Auffällig ist die in seiner Abhandlung an vielen Stellen durchscheinende Kritik an den politischen Entwicklungen seit dem Ausbruch der Französischen Revolution, am so genannten »Revolutionsgeist« und an der namentlich nicht gekennzeichneten neueren Philosophie, die beide die »Abgeschmacktheit« zahlreicher »Einfälle in unserm an politischen Phantasien überfruchtbaren Zeitalter« bewirkt hätten.26 Mehrfach wird  in Übernahme eines Topos der nachrevolutionären Aufklärungsdebatten  der Unterschied zwischen »wahrer Aufklärung, die aber etwas anderes ist, als eine Mobilisirung der Sinnlichkeit und der Leidenschaften«27 und dem »schädlichen Grundsatze [...] der neuen Revolutionssophisterey«28 angeprangert sowie die Abweichung der letzteren vom »geraden Menschenverstand« beklagt.29 Tetens’ Polemik gilt insbesondere der »Revolutionstheorie von der Souverainität des Volks«: Nach diesem letzteren sollten die Regenten, die Functionairs, die Beamten des Volks, Krieg führen, und die Souverains selbst dabey in Person in Frieden mit einander bleiben können. Um diese Ungereimtheit zu decken, könnte man vielleicht eine neue hinzufügen, daß die Kriege alsdenn auch durch einen persönlichen Kampf der Regenten und der zur Regierung gehörenden Personen ausgemacht werden müßten. Die Geschichte zeigt leider! so frivole Kriege, aus bloß persönlichen Leidenschaften der Fürsten, oder ihrer Minister, sogar wohl der Soufleurs der Minister entsprungen, daß man zuweilen wünschen mögte, daß die Urheber selbst ins Feld und aufs Meer hin zum Schlagen geschickt werden müßten. Aber im Ernst kann doch wohl Niemand, der von der Natur der Staaten und von der Verbindung der Regierung mit den Regierten in ihnen nur einigermaßen richtige Begriffe hat, einer solchen Phantasie nachgehen, und Vorschläge darauf gründen wollen.30

Die große Mehrheit der deutschen Aufklärer  sowohl die Philosophen als auch die Literaten  hatte zunächst die Französische Revolution begeistert begrüßt. Allmählich hatte sich bei vielen Zeitgenossen angesichts der terreur in Frankreich Ernüchterung und Skepsis breit gemacht. Wenn man den von Alexei Kruglov31 angeführten zeitgenössischen Einschätzungen folgt, dann hat sich Tetens’ Stellung zur Revolution jedoch nicht geändert; vielmehr war er offenbar von 26 27 28 29

30 31

Tetens: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 11Anm.. In der Rezension der Allgemeinen Literatur-Zeitung von 1810 wird dieser Aspekt jedoch ausgeblendet. Tetens: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 40. Ebd., S. 33. Ebd., S. 37. Ähnlich äußert sich Tetens in der französischen Ausgabe von 1805, wo es heißt, die »philosophie moderne [...], à l’egard du sens commun, peut être considerée comme un globe isolé se mouvant autour d’un autre pôle.« Tetens: Considérations (s. Anm. 2), p. XIV. Tetens: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 11. Alexei Kruglov: Das Problem der Revolution in der Deutschen Aufklärung. Kant und Tetens. In: Luigi Cataldi Madonna u. Paola Rumore (Hg.): Kant und die Aufklärung. Akten der Kant-Tagung in Sulmona, 24.–28. März 2010. Hildesheim, Zürich, New York 2011, S. 371–391, hier S. 382. Kruglov vergleicht in seinem instruktiven Aufsatz die Einschätzung der Französischen Revolution durch Kant und Tetens und betrachtet sie als zwei Extrempositionen innerhalb der deutschen Aufklärung.

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Anfang an ihr Gegner. Schon die Zeitgenossen hielten Tetens wegen seiner Polemik gegen die Französische Revolution für einen gesinnungsmäßigen Aristokraten.32 Einer der Gründe für diese ablehnende Haltung liegt darin, dass die Präzisierung und die damit verbundene Radikalisierung der rechtlichen und politischen Prinzipien der Naturrechtslehre nach Tetens’ Einschätzung zur Verschärfung der politischen Gegensätze führt. Im Vorbericht beklagt Tetens, dass die völkerrechtlichen Debatten zwar »dem Ansehen nach« sich um die »Grundsätze des Natur- und Völkerrechts« drehten, dass aber die Art und Weise, wie gestritten wurde, bedenklich gewesen sei: Man bediente sich dabey einer aufflammenden Sprache (dieses Colorits der Leidenschaften, worin unser Zeitalter so stark ist), und sprach über die gegenseitigen Behauptungen in einem Tone ab, der an die schrecklichen Declamationen über Freyheit und Menschenrechte erinnerte. Man schien durchaus die allgemeine Meinung dahin stimmen zu wollen, als ob der neue Krieg auf eine Revolution in dem Völkerrechte auf dem Meere hinauslaufen sollte.33

Während einige Naturrechtslehrer unter dem Deckmantel allgemeiner Prinzipien dem »Revolutionsgeist« Vorschub leisteten und auf diese Weise das Naturrecht missbrauchten, hätten die Regierungen versucht, das Prinzipielle der Streitfrage herunterzuspielen: Nach den »öffentlichen Erklärungen der Höfe« handelte es sich nämlich nicht um eine Kontroverse in Bezug auf die »Grundsätze des Naturrechts«, sondern bloß um die Frage »von einem zweckmäßigen Verfahren in Seekriegen«, wobei das angestrebte Verfahren bloß eine allgemeine Vorschrift des »conventionellen Rechts« sein sollte.34 Diese Sichtweise wird von Tetens übernommen. Nach seiner Auffassung handelt es sich bei diesem Streit jedoch nicht um einen Streit um die Geltung naturrechtlicher Prinzipien, da überhaupt kein Streit hinsichtlich der »gegenseitigen Rechte« besteht, aber man hat verschiedene Meinungen über die Art und Weise, wie im Kriege Gebrauch von ihnen gemacht werden könne, welche nähere Bestimmungen und Modificationen sie annehmen sollen und müssen, um entweder nebeneinander zu bestehen, oder, wenn in den Fällen einer Collision auf einer oder der andern Seite Ausnahmen gemacht werden müssen, wie diese auf das billigste gegen einander ausgeglichen werden können.35

Deshalb erklärt er, dass die Irrungen der Theorie »weder die Weite noch die Tiefe« gehabt hätten, »die man ihnen zuschrieb« und die eine grundsätzliche Revision des Natur- und Völkerrechts erforderlich machen würden. Die Frage handele »nicht von den Grundsätzen des Naturrechts, sondern bloß von einem zweckmäßigen Verfahren in Seekriegen, wodurch die Rechte des Krieges auf einer Seite mit den Rechten des Friedens der Neutralen auf der andern, mit einander bestehbar gemacht werden könnten«.36 32

33 34 35 36

So die Einschätzung des Kieler Professors Carl Friedrich Cramers in einem Brief an Friedrich Gottlieb Klopstock vom 20. Dez. 1790. Cramer wohnte in Kiel in Tetens’ Haus, was Jens Baggesen in einem Brief vom 7. Sept. 1792 zu der Bemerkung veranlasste, »Nord- und Südpol sind einander nie so nahe gewesen«. Vgl. hierzu die Nachweise bei Kruglov: Kant und Tetens (s. Anm. 31), S. 382. Cramer verlor 1794 wegen seiner Sympathien für die Französische Revolution seine Professur. Zu Cramer vgl. Rüdiger Schütt (Hg.): »Ein Mann von Feuer und Talenten«. Leben und Werk von Carl Friedrich Cramer. Göttingen 2005. Tetens wird in diesem Buch allerdings nicht erwähnt. Tetens: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. IVf. Ebd., S. Vf. Beide Zitate ebd., S. IXf. Ebd., S. V.

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In einer längeren Anmerkung37 macht Tetens seiner Ablehnung bestimmter völkerrechtlicher Überlegungen der neueren Naturrechtslehre Luft: Er polemisiert dort gegen die »chimärische, in Rücksicht auf ihre Veranlassung vielleicht philanthropische Speculation« bzw. gegen die »Idee einiger neuern Naturrechtslehrer von dem Kriege«. Diese hätten den Krieg »als einem Kampfe der Regierungen der Völker, abgesondert von dem Volke selbst […] oder von den Unterthanen« betrachtet,38 »und daraus die Möglichkeit gefolgert: ›daß die letzteren im Stande des vollen Friedens gegen einander seyn und leben könnten, wenn gleich die Regierungen einander bekriegten‹«.39 Wen Tetens hier im Auge hat, kann nicht mit letzter Gewissheit bestimmt werden, da keine Namen genannt werden. Angesichts seiner Gegnerschaft gegen die neuere Naturrechtslehre liegt die Vermutung nahe, Tetens denke an Rousseau. In der Tat hatte dieser im Contrat social eine wichtige kriegstheoretische Bestimmung vorgenommen: La guerre n’est point une relation d’homme à homme, mais une rélation d’État à État, laquelle les particuliers ne sont ennemis qu’accidentellement, non point comme hommes ni même comme citoyens, mais comme soldats; non point comme membres de la patrie mais comme ses defenseurs.40

Hintergrund dieser Auffassung ist eine kritische Haltung zu den im 18. Jahrhundert in Europa vorherrschenden Kabinettskriegen. Rousseaus Differenzierung hatte dementsprechend die Bedeutung, zwischen den kriegstreiberischen Machenschaften der Regierungen auf der einen und den Rechtsbeziehungen der einzelnen Bürger auf der anderen Seite, die durch die Kabinettskriege nicht tangiert würden, zu unterscheiden. Die Konsequenz dieser polemischen Auffassung war  wie Tetens richtig herausstellt  die Ansicht, dass trotz des Krieges der Regierungen die Völker »im Stande des vollen Friedens gegeneinander seyn und leben könnten, wenngleich die Regierungen einander bekriegten«. Im Laufe der Französischen Revolution hätten sich deren führenden Protagonisten Rousseaus Konzeption zueigen gemacht und betont, dass die französische Republik Krieg nur gegen die auswärtigen Monarchen, nicht aber gegen die von ihnen beherrschte Bevölkerung führe. Eine Aussage Condorcets aus dem Moniteur des Jahres 1791 mag hier stellvertretend für diesen Einfluss zitiert werden:

37 38 39 40

Vgl. ebd., S. 7ff. Ebd. Vgl. hierzu die entsprechenden Ausführungen in der französischen Ausgabe S. 172ff. Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social I, 4 (Œuvres complètes. Édition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond. Tome III: Du contrat social, Écrits politiques, Paris 1964, p. 357). Jean-Étienne-Marie Portalis, ein hoher Justizbeamter und Minister des napoleonischen Kaiserreichs hatte diese Gedanken 1801 bei der Eröffnung des französischen Prisengerichtes in einem Vortrag übernommen, vgl. hierzu Schmitt: Der Nomos der Erde (s. Anm. 16), S. 121f.; Grewe (s. Anm. 16), S. 628. Übrigens hat Tetens im Jahre 1793 eine Abhandlung über Rousseaus Contrat social publiziert, die mir allerdings nicht zugänglich war: Hvorledes det mindre Antal kan udgiǿre fleste Stemmer? tilligemend nogle Anmǽrkninger over Rousseaus Contract social, og over den nyere franske Statsret. In: Minverva, et Maanedsskrivt II (1793), S. 64–109; III (1794), S. 1–41. Ich übernehme diese Angabe aus dem zitierten Beitrag von Alexei Kruglov. Der biographische Eintrag zu Tetens im Lexikon der schleswig-holsteinischen und eutinischen Schriftsteller. Hg. von Berend Kordes. Schleswig 1797 vermerkt dazu: Tetens’ Aufsatz über Rousseaus Contrat social »ist noch nicht vollendet. Der Verf. wird diese Materie auch nicht in der Minerva fortsetzen, sondern sie umgearbeitet mit einigen verwandten Materien dem Publicum mittheilen, vielleicht aber erst nach ein Paar Iahren« (S. 331). Eine solche Schrift ist aber offenbar nicht erschienen.

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La nation française [...] ne cessera point de voir un peuple ami dans les habitants des territoires occupés par les rebelles et gouvernés par des princes qui les protègent. Les citoyens paisibles dont ses armées occuperont le pays ne seront point des ennemis pour elle. Ils ne seront pas même ses sujets. La force publique dont la nationfrançaise deviendra momentanément dépositaire ne sera employée que pour assurer leur tranquillité.41

Nach Tetens liegt die »innere Ungereimtheit« dieser Konzeption auf der Hand. Er stellt die rhetorische Frage: »Womit soll eine Regierung den Krieg führen? Wo sollen die Kräfte, die Arbeiter und das Geld herkommen (was alles in so reichlicher Maaße zum Krieg erfordert wird), wenn die Unterthanen mit dem Streite nichts zu schaffen haben, nichts dazu beitragen und ihrer Regierung mit nichts beystehen und helfen sollen?« Auch nach seinen Ursachen und Veranlassungen ist jeder gerechte Krieg eine Angelegenheit des Staats, der Nation, des Volks in Vereinigung mit seiner Regierung. Sogar in solchen Fällen, wo die beleidigte Ehre des Regenten die Ursache der Zwistigkeiten seyn mögte, ist es doch immer die Sache des Volks, das in seinem Regenten vorgestellt wird, und in seinem Regenten beleidigt ist. Die Beleidigung des Letztern, wenn sie ungeahndet von fremden Staaten vorgenommen werden könnte, würde die Erhaltung des Staats und des Besitzes der einzelnen Bürger zum wenigsten unsicher machen.42

4. Die völkerrechtliche Streitfrage und die Grundsätze ihrer naturrechtlichen Lösung 4.1 Die Streitfrage Tetens versucht im Vorbericht seiner Schrift zunächst zu klären, worin eigentlich die Streitfrage besteht und ob sie auf der Grundlage eines veränderten Begriffs des Natur- und Völkerrechts beantwortet werden muss oder nicht. Der Gegenstand des Streites hat Tetens ausführlich beschrieben: Wenn man diese Differenz näher betrachtet, so läßt sie sich auf folgende Grundzüge zurückbringen. Die neutralen Mächte wollen die Energie der Kriegführenden, womit diese ihrem Feinde schaden können, nicht schwächen; sie wollen solche nur nicht gegen sich selbst gekehrt haben. Die kriegführende Macht mag das Recht haben, die Schifffahrt und den Handel ihres Feindes zu zerstören; nur der Handel und die Schifffahrt der Neutralen, die mit dem Streite nichts zu thun haben, muß nicht mit zerstört werden; das feindliche Eigenthum auf der See mag genommen werden, nur nicht das friedliche Neutrale. Es soll den militären Operationen der Kriegführenden kein Hinderniß in den Weg gelegt, nur das Meer, was keinem zugehöret, worüber keine Macht Gebietsrechte hat, soll den Unterthanen der Neutralen nicht nach Willkühr verschlossen werden. Die Neutralen wollen dem Feinde keine Hülfe leisten, aber auch das [sic] ihnen nothwendige und erlaubte Verkehr mit den feindlichen Ländern nicht aufgeben, was zur Vermehrung oder Verstärkung der Streitkräfte des Feindes nichts beyträgt. Die kriegführende Macht, welche jetzt die entgegengesetzte Parthey ausmacht, läugnet keine von diesen Forderungen im allgemeinen; wenigstens haben es die neuern Schriftsteller dieser Nation nicht gethan, die sich am ausführlichsten darüber erklärt haben. Worüber denn der Streit? Sie behauptet z.B., daß indem sie Schiff und Ladung von einander unterscheide, und bey jedem wiederum das feindliche 41 42

Zitiert nach: Georges Lassudrie-Duchêne: Jean-Jacques Rousseau et le droit des gens. Paris 1906, p. 404. Tetens: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 9Anm..

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Eigenthum von dem neutralen sondere, so verfahre sie nach einer gerechten Regel, die der Natur der Sache am angemessendsten sey. Dieß letztere, nämlich daß ihre Art zu verfahren und ihre angenommene Regel in der wirklichen Ausübung diejenige sey, bey der die Gerechtsame der Neutralen sich erhalten lassen; dies ist es, worüber man verschieden denkt.43

Es ist mit anderen Worten die Frage nach der Geltung des Prinzips »frey Schiff, frey Gut«, die den eigentlichen Streitpunkt bezeichnet: Der Streit betriff einen practischen Gegenstand, eine Regel für die wirkliche Ausübung der Rechte, für den Gebrauch, den man von seinen Befugnissen machen soll, wenn Seekriege geführt werden.44

Insofern es sich bei der völkerrechtlichen Problematik des Handels neutraler Staaten um einen Streit handelt, der »einen practischen Gegenstand, eine Regel für die wirkliche Ausübung der Rechte, für den Gebrauch, den man von seinen Befugnissen machen soll, wenn Seekriege geführt werden«, dreht, so ist es zur Klärung der Streitfrage (1) ausreichend, »bey den Principien des alten Naturrechts [zu] bleiben, wie der durch Erfahrung, Menschenkenntniß und Geschichte geschärfte, gerade Menschenverstand des Grotius sie gesammelt, und wie seine berühmten Nachfolger sie weiter erörtert und bestimmt haben«,45 (2) deshalb könne man problemlos auf die »theoretischen Speculationen der neuern Philosophie, die uns ein eignes Naturrecht der Vernunft dictirte«, verzichten.46

43

44

45 46

Ebd., S. VIff. Tetens macht aber deutlich, dass der Unterschied zwischen Land- und Seekrieg bei der Beantwortung der Streitfrage keine entscheidende Rolle spielt, weil nämlich »kein Benehmen eines Staats gegen einen andern auf dem Meere, es sey für sich gerecht oder ungerecht, erlaubt oder unerlaubt, seine rechtliche Qualität dadurch verändere, daß es auf der See statt findet. Der Ort und die Stelle auf See thut dazu nichts« (ebd., S. 41). Ebd., S. XI. Die allgemeinere Formulierung der Frage  »wie weit ist eine kriegführende Macht berechtigt, das [sic] neutrale Handelsverkehr mit dem Feinde zu beschränken?« (ebd., S. 26)  wurde oben bereits zitiert. Ebd., S. X. An einer Stelle beruft sich Tetens sogar auf »das gemeine Rechtsgefühl« (ebd., S. 25). Man kann vermuten, dass Tetens hier Kants Rechtsphilosophie im Auge hat. In Tetens’ Schrift findet sich  neben diesem Hinweis auf ein »Naturrecht der Vernunft«  eine Anmerkung, die an Kants Abhandlung Zum ewigen Frieden denken lässt. Dort (S. 39f.) sagt Tetens: »Es ist ein mehr gut gemeinter als gut gegründeter Wahn, wenn man als etwas Wünschenswerthes es ansieht, daß die Streitkräfte der Nationen, womit sie einander bekriegen können, geschwächt, oder in ihrem Gebrauche gelähmet werden mögten. [...] Das heißt mit einem Worte: man solle sich, wenn gleich der Krieg unvermeidlich ist, der stark wirkenden Mittel nicht bedienen, den Frieden zu erzwingen. Wenn der Krieg selbst mehr vermeidlich gemacht werden könnte, wenn wahre Aufklärung, die aber etwas anders ist, als eine Mobilisirung der Sinnlichkeit und der Leidenschaften, einen föderativen Zustand der Staaten herbeyführen würde, bey dem die öffentliche Ruhe mehr gesichert wäre; so könnte der Druck der Völker, den die beständige Bereitschaft zum Kriege, die Unterhaltung stehender Armeen und Flotten, der Magazine und Arsenale verursacht, vermindert, und Kräfte und Thätigkeiten, die der Wehrstand fordert, zur Producirung von Bedürfnissen und Bequemlichkeiten des Lebens verwendet werden. Aber wie sehr verschieden ist das Bemühen, politische Krankheiten zu vermindern, von dem vorgedachten, was dahin geht, die Heilmittel unkräftiger zu machen!«  Die Vermutung liegt sehr nahe, dass sich Tetens hier einen Seitenhieb auf Kants Friedensschrift erlaubt hat. Jedenfalls tauchen einige Argumente Kants, die allmähliche Abschaffung stehender Heere, die dadurch mögliche Beförderung der »Landesökonomie« (Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. In: Kants gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. [im Folgenden AA Band, Seitenzahl], hier Bd. VIII, S. 345) sowie der Staatenföderalismus auf.

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Allerdings sei es kein bloßer Zufall oder interpretatorische Willkür gewesen, wenn die theoretischen Debatten den »Anstrich von einem Streite über Grundsätze« erhalten hätten. Ein solcher Anstrich sei dadurch zustande gekommen, weil das zur Debatte stehende Problem des Handelsverkehrs neutraler Staaten als allgemeine Vorschrift, die »auch auf allgemeinen Gründen« beruhen würde, betrachtet wurde und deshalb auch »nach allgemeinen Grundsätzen beurtheilt werden müsse«.47  Sofern nur das Verhältnis zweier Staaten für sich betrachtet würde, handele es sich bei dem Streit um eine bloße »Kabinettssache«.48  »Aber soll die streitige Regel zu einer allgemeinen geltenden gemacht werden, so kommt man nothwendig bey der Untersuchung ihrer Schicklichkeit auf allgemeine Rechtsgründe und auf allgemeine und natürliche Verhältnisse der Staaten zurück. Und da findet sich auch immer eine Stelle, wo auch die neuere Philosophie, die um einen andern Pol sich drehet als die alte, mit ihren neuen Rechtsgrundsätzen eintreten, und also eine Controvers [sic] über Grundsätze hineinbringen kann«.49 Tetens unterscheidet in Bezug auf dieses völkerrechtliche Problem den theoretischen und den praktischen Aspekt: 

Zum einen lautet die Frage, »wie in dieser großen Völkergesellschaft jene Befugnisse in Uebereinstimmung zu bringen sind, so daß sie während eines Krieges neben einander sich erhalten lassen?«  Zum anderen stellt sich die praktische Frage, »welche Regeln alsdenn, wenn in einzelnen Fällen, was Rechtens ist, nicht nach der völligen Strenge in der Anwendung erhalten werden kann […], anzunehmen sind, durch deren Befolgung die gegenseitigen Nachgebundenen gegen einander ausgeglichen werden?«50  Dies seien, so Tetens, diejenigen Fragen, »die das Problem ausmachen, welches hier aufzulösen ist«. Die Quellen zur Beantwortung dieser Fragen liegen »in den Grundsätzen des natürlichen Völkerrechts, des conventionellen Völkerrechts, und, wenn von einzelnen Staaten in Verhältniß zu Einzelnen die Rede ist, in den zwischen ihnen bestehenden Verträgen gesucht werden«.51 Es wird deutlich, dass Tetens bestrebt ist, die theoretische Relevanz der Debatte abzuschwächen, weil er offenbar deren Radikalisierung im Geiste der Französischen Revolution fürchtet.

4.2 Die Grundsätze zur Lösung der Streitfrage In einem nächsten Schritt geht Tetens zu den Grundsätzen über, die nach seiner Ansicht bei der Lösung der Streitfrage zugrunde gelegt werden. Diese Lösung soll unter Rückgriff auf die 47 48 49 50 51

Tetens: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. XI. Ebd., S. XII. Ebd. Beide Zitate ebd., S. 12. Ebd., S. 12f.

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entweder in den »Lehren des allgemeinen Völkerrechts […] oder doch in dem conventionellen Europäischen Völkerrechte« zu findenden und niemals bestrittenen Grundsätze erfolgen. Diese Prinzipien sollen sich dadurch auszeichnen, dass sie »dem gesunden Menschenverstand […] als unmittelbare Folgen […] einleuchtend« sind52 und »ohne philosophische Speculation« gewonnen werden können,53 weil zu ihrem Verständnis die Analyse des Kriegsbegriffs und des Begriffs »vom Verhältnisse der Neutralität« ausreichend ist.54 Tetens unternimmt in Bezug auf die genannten Grundsätze keine umfassende philosophische bzw. völkerrechtliche Begründung, weil sie »dem gesunden Menschenverstande […] ohne philosophische Speculation, als unmittelbare Folgen, worauf der Begrif vom Kriege und von dem Verhältnisse der Neutralität hinweiset«, einleuchten würden. Darüber hinaus hätte auch das ältere Naturrecht, als dessen Vertreter namentlich Grotius genannt wird, diese Grundsätze nie bezweifelt.55 Tetens nennt insgesamt acht Grundsätze, von denen die ersten vier »die natürlichen Befugnisse der kriegführenden Mächte«, die letzten vier »die gegenseitigen natürlichen Befugnisse der Neutralen« betreffen. Die Befugnisse der Kriegsparteien sind die folgenden: 1. Jede kriegführende Macht kann die Hülfsleistung ihres Feindes, und die Vergrößerung und Verstärkung der feindlichen Streitkräfte verhindern, 2. Sie ist befugt, die Streitkräfte, welche der Feind besitzt, zu schwächen, und ihm Mittel zu ihrer Vermehrung und Verstärkung zu entziehen. Sie kann sich des Eigenthums, der Güter, der Schätze des Feindes bemächtigen. [...] 3. Jede unabhängige kriegführende Macht ist befugt, selbst die Aufsicht darüber zu führen und führen zu lassen, daß ihren Befugnissen und Rechten im Kriege nicht entgegen gehandelt werde. 4. [Sie ist auch, D. H.] befugt, selbst darüber zu urtheilen, ob in vorkommenden Fällen solches geschehen sey oder nicht?56

Demgegenüber lauten die natürlichen Befugnisse der neutralen Staaten wie folgt: 1. Jede neutrale Macht ist befugt, zu verhüten, daß ihr und ihrer Unterthanen Eigenthum, wenn diese sich gesetzmäßig betragen, von den kriegsführenden Mächten nicht verletzet werden. 2. Sie ist befugt, dafür zu sorgen, daß der Handel und die Schiffahrt ihrer Länder nicht gestöret werde. 3. Auch befugt, selbst die Aufsicht darüber zu führen und führen zu lassen, daß die Rechte ihrer Unterthanen nicht verletzet werden. Ingleichen 4. befugt, selbst darüber zu urtheilen, ob in vorkommenden Fällen ihren und ihrer Unterthanen Befugnisse entgegen gehandelt sey oder nicht.57

Dies seien die Grundsätze des ›gesunden Menschenverstandes‹, die der »gegenwärtigen Untersuchung zum Grunde gelegt werden können und müssen«. Sie enthalten die »natürlichen Befugnisse«, die von beiden Seiten geltend gemacht würden und woraus die »Irrungen« entstehen,58 weil diese Grundsätze von beiden Seiten für die jeweiligen einander widersprechenden Forderungen reklamiert werden.

52 53 54 55 56 57 58

Ebd., S. 2 Ebd., S. 5. Ebd. Ebd. Ebd., S. 2f. Ebd., S. 4. Ebd., S. 4f.

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5. Die Lehre vom gerechten bzw. zivilisierten Krieg Die Völkerrechtsdogmatik hat in der Umwandlung mittelalterlicher Kriege in nichtdiskriminierende Staatenkriege und der damit verbundenen Veränderung des Kriegsbegriffs ein zentrales Ergebnis der neuzeitlichen Völkerrechtslehre gesehen.59 Das wird auch mit Blick auf Tetens’ Abhandlung deutlich, denn das systematische Zentrum seines naturrechtlichen Lösungsversuchs ist die Lehre vom gerechten bzw. zivilisierten Krieg, die im wesentlichen zwei Aspekte umfasst: zum einen die gerechten Gründe des Krieges (die aber in die Entscheidungskompetenz jedes beteiligten Staates fallen), zum anderen aber  und dies ist der wichtigere Aspekt  die exakte Bestimmung der Grenzen legitimer Kriegsführung. Das Kriegsrecht ist kein »droit [...] indéfini«, ebenso wenig wie die Idee des Krieges eine »idée indéfinie« sei. Indem die anerkannten natürlichen und allgemeinen Prinzipien des Völkerrechts auf die besondere Situation der »Etats policés« in Europa angewandt werden, lassen sich nach Tetens die spezifischen Regeln »de ce qu’on appelle une guerre honnête« ableiten.60 Der Gerechtigkeit der Kriege, die Tetens in der »seconde remarque« der französischen Ausgabe behandelt, liegen drei fundamentale Rechte eines jeden Staates zugrunde, die Tetens in Analogie zum individuellen Recht auf Gewaltanwendung im Naturzustand begründet:61 (1) zunächst das Recht der Selbsterhaltung, das wiederum auch das Recht »d’agir par la force« umfasst; (2) das natürliche Recht »de se perfectionner, d’améliorer son état«; (3) schließlich das Recht »de faire du bien autant qu’on peut aux autres; de les perfectionner, et d’améliorer leur bien être«.62 (4) »Voilà les axiomes qui forment les bases cardinales du droit naturel, et du droit en général, soit à l’égard des individues, soit à l’égard des nations«.63 Die zeitgenössischen theoretischen Kontroversen um die Reichweite des Rechts des Krieges und insbesondere bezüglich der Frage, ob die kriegführenden Mächte die Befugnis haben, »sich des Privateigentums der feindlichen Unterthanen zu bemächtigen«, was von einigen der neueren Schriftsteller geleugnet wird, sind nach Tetens’ Auffassung darin begründet, dass man die Position des älteren Naturrechts unnötigerweise aufgegeben habe. Gegenüber den Neuerungen im Völkerrecht greift Tetens auf die »ältern Lehrer des Natur- und Völkerrechts« zurück.64 Hatte er schon in Übereinstimmung mit der naturrechtlichen Tradition die Grundsätze zur Lösung der Streitfrage als »unmittelbare Folgen« aus dem »Begrif vom Kriege und dem Verhältnisse der Neutralität« behauptet,65 so geht er nun zu einer genaueren Analyse des Kriegsbegriffs über. In Anknüpfung an die normativistische Tradition des Völkerrechts der wolffschen Schulphiloso59 60 61

62 63 64 65

Schmitt (s. Anm. 16), S. 123ff.; Grewe (s. Anm. 16), S. 240ff. Beide Zitate Tetens : Considérations (s. Anm. 2), p. 175. Ebd., p. 181: »Le droit de faire la guerre dérive des mêmes principes de justice, que le droit qu’ont les individues, placés hors des sociétiés civiles, d’employer la force, l’un contre l’autre, dans leurs discussions.« Ebd., p. 183. Ebd., p. 185. Tetens: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 6. Ebd.

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phie66 stellt Tetens Überlegungen an, ob nicht aus der Analyse des Kriegsbegriffs »nähere Bestimmungen und Gränzen« entwickelt werden können.67 Zu diesem Zweck unterscheidet er zunächst den »civilisirte[n] Krieg« vom »wilde[n] Krieg roher Völker, wo die Individuen der feindseligen Nationen sich einzeln als Feinde behandeln«.68 Im Unterschied zum wilden Krieg ist der zivilisierte Krieg ein »Kampf der Staaten gegen Staaten, das ist, der Regierung eines Volkes in Verbindung mit dem Volke gegen eine andere«, dessen Zweck in der Vernichtung des feindlichen Staatswillens besteht. Insofern ist zwar einerseits das Recht des Krieges »unbestimmt und unbeschränkt (jus belli in hostem infinitum)«,69 weil nicht bestimmt werden kann, welche Maßnahme zur Erreichung dieses Zwecks angemessen ist, aber die Kriegsführung steht andererseits unter der Bedingung, »daß nur Nothwendigkeit, zu diesem Zweck zu gelangen, die feindseligen Mächte bestimmen solle«.70 Die Notwendigkeit des Krieges ist zugleich die Bedingung seiner Rechtmäßigkeit: Die Nothwendigkeit ihn zu führen kann allein ihn rechtfertigen, und wenn man auf den letzten Grund geht, der diese Nothwendigkeit erzeugt, so ist es die Erhaltung und die um deswillen erforderlich Sicherheit des Staats.71

Gegenüber diesen Neuerungen entwickelt Tetens seine Lösungsvorschläge ganz traditionell aus dem Begriff des gerechten Krieges. Deshalb ist auch Tetens der Auffassung, dass die Klärung der Fragen, die mit dem Recht neutraler Staaten verknüpft, auf dem allgemeinen Völkerrecht »in seiner Anwendung auf Staaten, die in gesellschaftlichen Verhältnissen nach Grundsätzen der Humanität gegen einander stehen«, beruhen.72 Aus dieser Anwendung des allgemeinen Völkerrechts resultieren die Einschränkungen des Kriegsrechts. 66

67 68 69

70 71

72

Diese Nähe zu Wolff zeigt sich z.B. in der Übernahme des Prinzips der Vervollkommnung als oberstem Grundsatz der praktischen Philosophie. In der französischen Ausgabe seiner Schrift betont Tetens, es sei ein natürliches Recht »de se perfectionner, d’améliorer son état, sa situation, d’augmenter ses propriétés et ses biens« (Tetens: Considérations [s. Anm. 2], p. 183). Zu Wolffs Prinzip der Vervollkommnung vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseligkeit des Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. In: ders.: Gesammelte Werke. I. Abt., Bd. 3. Hildesheim, New York 1983, § 12 u. § 17; ders.: Philosophia practica universalis methodo scientifica pertractata. In: ders.: Gesammelte Werke. II. Abt., Bd. 10.1. Hildesheim, New York 1971, § 127 u. § 152. Tetens: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 5f. Ebd., S. 6f. Ebd., S. 5. Die Unbestimmbarkeit der Grenzen des Kriegsrechts gegen einen ungerechten Feind wurde von Christian Wolff (Grundsätze des Natur- und Völckerrechts. Halle 1754, § 1190), Emer de Vattel (Le droit des gens ou principes de la loi naturelle. Leiden 1758, III, ch. 8, § 136) und Gottfried Achenwall (Ivs natvrae. Göttingen 1763, pars I., § 265) behauptet. Ihnen schließt sich auch Kant an, vgl. hierzu auch die Vorlesungsnachschrift Naturrecht Feyerabend von Kants Naturrechtsvorlesung aus dem Jahre 1784: »Jus belli contra hostem injustum est infinitum« (AA XXVII/2,2, S. 1372); Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, § 60: »Das Recht eines Staats gegen einen ungerechten Feind hat keine Grenzen (wohl zwar der Qualität, aber nicht der Quantität, d. i. dem Grade nach): d. i. der beeinträchtigte Staat darf sich zwar nicht aller Mittel, aber doch der an sich zulässigen in dem Maße bedienen, um das Seine zu behaupten, als er dazu Kräfte hat« (AA VI, S. 348). Tetens: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 6. Ebd., S. 27; vgl. auch S. 28: »Wenn der Krieg gerecht ist, so ist er auch für den Staat, der ihn führt, nothwendig, um dasjenige sich zu erhalten, oder zu erlangen, was ihm ein andrer zu entziehen oder vorzuenthalten sucht.« Ebd., S. 20.

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Den grundsätzlichen Streitpunkt löst Tetens dadurch, dass er aus dem Begriff des zivilisierten bzw. gerechten Krieges drei Grundsätze entwickelt: 1. Dadurch, dass »die kriegführenden Staaten sich der Güter und des Eigenthums ihrer Feinde und feindlicher Unterthanen bemächtigen, es sey zu Lande oder auf dem Meere, so beleidigen sie dadurch die Neutralen nicht«.73 2. »Eine kriegsführende Macht, welche die bloßen Handels- und Schiffahrts-Verbindungen neutraler Staaten mit den Ländern ihres Feindes stört oder aufhebt, handelt wider die Rechte der Neutralen, stört dieser ihre Handlung und ihre Schiffahrt«.74 3. Allerdings »lehrt auch drittens das gemeine Rechtsgefühl sowohl in Land- als in Seekriegen, daß es erlaubt sey, dem Feinde die Zufuhr von Kriegsbedürfnissen zu hindern, ingleichen, daß es recht sey, nach einem belagerten oder bloquirten Orte hin alles Verkehr mit dem Feinde zu verwehren. Also giebt es eine gerechte Beschränkung des Handels der Neutralen mit dem Feinde, so lange der Krieg dauert, und eine gänzliche Unterbrechung desselben auf eine gewisse Zeit, denen das Recht der Neutralen, ihren Handel mit dem Feinde zu erhalten, nicht entgegengesetzet werden kann«.75

Zum Begriff des ›zivilisierten Krieges‹ gehört weiter die Bestimmung, dass »der einzelne Bürger des einen kriegführenden Staates kein persönlicher Feind eines Einzelnen des andern« ist. Der Krieg betrifft nur den Status des Menschen, sofern er Staatsbürger ist, während die übrigen »Verhältnisse der Individuen in feindlichen Staaten«, wie ihre »Verhältnisse als Gläubiger und Schuldner, als Verwandte, als Freunde« usw. durch den Krieg nicht berührt werden.76 Dass Tetens sich noch ganz im Banne des normativistisch-traditionellen Naturrechts bewegt, zeigen seine Ausführungen über den Krieg als eine auf dem Notrecht beruhende Befugnis zur Gewaltanwendung: »Das Recht des Krieges ist ein Nothrecht. Es ist das Recht[,] andern Böses zuzufügen, das Recht zu berauben, zu zerstören, zu verwunden, zu tödten; lauter Handlungen, welche nur die Nothwendigkeit gerecht machen kann«.77 Das jus ad bellum des Staates erscheint in dieser Betrachtung als Analogie zum »Zwangsrecht bey einzelnen Personen im außergesellschaftlichen Stande«. Eine solche Befugnis zur gewaltsamen Selbsterhaltung kann nach Tetens’ Auffassung nur aufgrund der Notwendigkeit, überhaupt einen Krieg zum Zwecke der Erhaltung und »Sicherheit des Staats« zu führen, legitimiert werden.78 Insofern die Selbsterhaltung die Bedingung der Legitimität von Kriegen ist, liegt hierin auch die »Grenze, wo sich der seine harte Pflicht befolgende Krieger von dem Räuber, dem Mörder und dem Barbaren unterscheidet«.79 Die Erhaltung des Staates ist der »letzte Grund und Zweck eines gerechten Krieges«.80 Aus der Bedingung des Kriegsrechts durch den Zweck der Selbsterhaltung folgt das Recht eines jeden Staates zu verhindern, dass der Feind Unterstützung erhält.81 Von der Erhaltung des Staates ist die Sicherheit zu unterscheiden. Diese ist nach Tetens dem »alleinigen Grundzweck« der Erhaltung immer untergeordnet.82 Auch die übrigen von der 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82

Ebd., S. 18f. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25. Beide Zitate ebd., S. 9f. Ebd., S. 26f. Beide Zitate ebd., S. 27. Ebd., S. 34. Ebd., S. 31. Ebd., S. 34. Ebd., S. 31.

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Dieter Hüning

Naturrechtslehre vorgebrachten Gründe eines gerechten Krieges wie »Genugthuung« oder »Bestrafung und Rache« scheiden als mögliche Zwecke aus.83 Schließlich kritisiert Tetens die ideologische Legitimierung von Kriegen aus den Gesichtspunkten der »höheren Zwecke der Menschheit«, wie »Zivilisation, Freymachung, Gleichmachung« usw. Damit werden die Kriegsgründe ins Unendliche vermehrt. Die Stoßrichtung dieses ideologiekritischen Arguments zielt allerdings in erster Linie auf die »schädlichen Grundsätze [...] der neuen Revolutionssophisterei«.84

6. Tetens’ Schwanken zwischen Naturrecht und Positivismus im Völkerrecht Ich möchte nun abschließend an einem Beispiel Tetens’ Argumentationsweise verdeutlichen. Wir werden sehen, dass es ihm nicht gelingt, zu einem überzeugenden Ergebnis zu gelangen. Der Grund hierfür liegt darin, dass Tetens nicht strikt zwischen prinzipientheoretischen Aspekten der Naturrechtstheorie einerseits und den Anwendungs- und Praxisfragen auf der anderen Seite unterscheidet. Das führt dazu, dass ihm fehlende Realisationsmöglichkeiten als relevanter Einwand gegen die naturrechtlichen Prinzipien und die daraus abgeleiteten Lösungsvorschläge gelten. Nachdem er die Frage der Möglichkeit einer »wahre[n] Neutralisirung des Handels und der Schifffahrt« diskutiert hatte, »der kein gerechter Vorwurf von Seiten der Kriegsführenden gemacht werden kann«,85 räumt er gleich darauf ein, es sei »nicht wahrscheinlich, daß solch eine wahre Neutralisation auch nur auf die Dauer des Krieges jemals von Erheblichkeit seyn werde«.86 Vielmehr würden die Händler versuchen, »Contrebande und feindliches Eigenthum der Aufmerksamkeit der kriegführenden Mächte zu entziehen«, so wie dieser wiederum alles daran setzen würden, »sich des einzigen Mittels [zu] bedienen, welches gegen solche künstliche Contraventionen wirksam ist, nämlich der angestrengten Aufmerksamkeit und der sorgfältigen Untersuchung« der Handelsschiffe, weshalb auch die üblichen Missbräuche  die Kaperei, das »Aufbringen der Schiffe aus Verdacht« usw.  nicht fehlen würden.87 Diese Probleme bei der Umsetzung der Prinzipien hat nach Tetens dazu geführt, dass man »auf andere Gesetze im Seerechte bedacht« gewesen sei, um insbesondere »der schweren Unterscheidung des neutralen Guts von dem feindlichen [...] auszuweichen«, weshalb man glaubte, sich mit einem anderen Prinzip  »frey Schiff[,] freye Ladung« glaubte behelfen zu können.88 83 84 85

86 87 88

Ebd., S. 32. Ebd., S. 33. Zu dieser »wahren Neutralisirung« des Handels gehört nach Tetens auch, dass die »Handelnde[n] eines kriegführenden Staats, wenn sie ihre Waaren auf der See den Angriffen des Feindes ausgesetzt sehen, und die Seemacht ihres eigenen Staats nicht im Stande ist sie zu beschützen, ihre Geschäfte unter gewissen Bedingungen an neutrale Kaufleute während des Krieges überlassen« (ebd., S. 71). Ebd., S. 72. Ebd., S. 77. Ebd., S. 78.

Naturrecht, Völkerrecht und Revolution

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Das Resultat dieses Prinzips sei nun, »daß es nicht das Interesse des erlaubten neutralen Handels sey, was durch die Einführung der Regel: frey Schiff, frey Gut, befördert wird. [...] Aber ganz anders verhält es sich mit dem Interesse Einzelner, die sich der im Kriege so häufig darbietenden Gelegenheiten, durch die Contrebande zu gewinnen, bedienen können«.89 Wir brauchen Tetens’ langwierigen Abwägungen nicht im einzelnen zu folgen, weil schon deutlich geworden sein dürfte, dass er nicht zwischen der systematisch-rechtstheoretischen und der pragmatisch-anwendungsorientierten Ebene seiner Argumentation unterscheidet und deshalb permanent von dem einen zum anderen Aspekt schwankt. Das wird auch bei seinem Resümee deutlich. Das erwähnte Prinzip frei Schiff, frei Gut könne »keine allgemeine Gesetzeskraft erhalten«, weil es mit dem »Interesse einer Seemacht im Kriege« im Widerspruch stehe und es deshalb begreiflich sei, »warum die nämlichen Staaten, die in den Tractaten des Kriegs davon abgegangen sind«. Begründet wird dies von Tetens mit einem quasi-psychologischen Argument unwirksamer Verpflichtungskraft: Denn von diesen Staaten eine solche »Enthaltsamkeit von den Gütern des Feindes« zu fordern, würde die vernünftige Forderung, durch Verpflichtungen »die Leidenschaften zu mäßigen«, überschreiten. »Aber Verpflichtungen, sie [d. h. die Leidenschaften, D. H.] gar nicht zu äußern, sind nicht geschickt, in das positive Völkerrecht« der zwischenstaatlichen »Tractate« aufgenommen zu werden.90 Was ist das Ergebnis unseres kursorischen Durchgangs durch Tetens’ Abhandlung? Die Schrift beruht, wie wir gesehen haben, auf Überlegungen, die sich auf den gesunden Menschenverstand berufen und behaupten, von der »philosophischen Speculation« abstrahieren zu können. Die rechtsphilosophischen Aspekte des völkerrechtlichen Problems spielen gegenüber den aktuellen Interessen an der Klärung der dänischen Position im Konflikt mit Großbritannien nur eine untergeordnete Rolle. Deutlich geworden ist die eher konventionell-pragmatische Herangehensweise von Tetens sowie seine Ablehnung der revolutionären Neuerungen – und zwar sowohl auf dem Gebiet der Philosophie wie auf dem Gebiet der Politik. Der Verzicht auf eine umfassende philosophische Behandlung der völkerrechtlichen Problematik kann selbstverständlich mit dem Zweck der tetensschen Schrift als Expertise für einen Minister und einer Stellungnahme in einer für den dänischen Staat dringlichen politischen Frage und in einer prekären Stellung begründet werden. Aber das ist bestenfalls ein Aspekt. Die Aufgabe der Kieler Professur und der Beginn der Verwaltungstätigkeit für die dänische Regierung fällt zeitlich zusammen mit der Französischen Revolution. Tetens’ Schrift ist in gewisser Weise exemplarisch für die Argumentationsweise einer Gruppe von europäischen Intellektuellen, die – unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse in Frankreich – zu konsequenten Gegnern der Revolution werden und ihre schriftstellerischen Fähigkeiten und philosophischen Kenntnisse in den Dienst der bestehenden Staaten bzw. Ständegesellschaften stellen. Die bekanntesten unter diesen Intellektuellen waren – in der Frühphase der Revolution – Friedrich Gentz oder August Wilhelm Rehberg, die sich auch durch ihre Auseinandersetzung mit Kants Schrift Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793) einen Namen gemacht haben.91 89 90 91

Ebd., S. 81. Ebd., S. 85f. Einen Überblick über die Positionen der Revolutionsgegner geben die beiden Sammelbände: Jörn Garber (Hg.): Kritik der Revolution. Theorien des deutschen Frühkonservatismus 1790–1810, Kronberg/Ts. 1976; Claus Träger u.a. (Hg.): Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur. Leipzig 1979.

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Tetens stand also mit seinem revolutionskritischen Einsatz als Intellektueller, der sich der Bewahrung des politischen status quo der Ständegesellschaft verschrieben hatte, nicht allein: Er reiht sich vielmehr ein in die Gruppe derjenigen Intellektuellen, die aus dem Verlauf der Französischen Revolution die politische Konsequenz der Ablehnung politischer Veränderungen gezogen hatten. Tetens gehört zu den – wie Kant in seiner Friedensschrift die konservativen Apologeten der bestehenden Verhältnisse tituliert – »falsche[n] Vertreter[n] der Mächtigen der Erde«. Diese müssen – »um dieser Sophisterei […] ein Ende zu machen« – durch die (aufgeklärte) Philosophie zu dem »Geständnis« gezwungen werden, »daß es nicht das Recht, sondern die Gewalt sei, der sie zum Vortheil sprechen, von welcher sie, gleich als ob sie selbst hiebei was zu befehlen hätten, den Ton annehmen«.92

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Das Standardwerk zur konservativen Revolutionskritik ist immer noch dasjenige von Klaus Epstein: Die Ursprünge des Konservatismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770–1806. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1973. Vgl. aber auch Fritz Valjavec: Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770–1815. Mit einem Nachwort von Jörn Garber. Kronberg/Ts. 1978, S. 255ff., sowie Roger Dufraisse (unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner) (Hg.): Revolution und Gegenrevolution 1789–1830. Zur geistigen Auseinandersetzung in Frankreich und Deutschland. München 1991 [Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquium 19]. Kant: Zum ewigen Frieden (s. Anm. 46), S. 376.

IV. DICHTUNG, SPRACHE, REZEPTION

GIDEON STIENING

»Die Dichtkraft ist […] keine Schöpferkraft« Tetens über reproduktive und selbsttätige Einbildungskraft – auch ein Beitrag zur Assoziationstheorie der Aufklärung Die Phantasie ist eine große Zauberinn, sie verwandelt dürre Sandwüsten in Paradiese, und elende Hütten in Paläste; aber mit großer Einschränkung. Vermag sie deswegen alles? J. N. Tetens

1. Einleitung – zu einer Dialektik der Einbildungskraft Anders als viele seiner philosophischen oder literarischen Zeitgenossen der 1770er Jahre1 hatte Johann Nikolaus Tetens ein eher ambivalentes Verhältnis zu den Vermögen der Einbildungskraft, d.h. der Phantasie und der Dichtkraft: Das schlimmste ist, daß man sich am meisten vor der Seelenkraft in Acht zu nehmen hat, die sonsten die besten Dienste thun kann, und auch wirklich thun muß, wenn der Blick in uns selbst etwas eindringen soll. Es ist die Phantasie, und noch näher die selbstthätige Dichtkraft, deren Eingebungen nur zu leicht mit Beobachtungen, und mit Begriffen aus Beobachtungen verwechselt werden.2

Tetens formuliert hier gleichsam eine Dialektik der Einbildungskraft, weil jenes eigentümliche Vermögen gerade in den Leistungen, die es besonders auszeichnen und die es für das menschliche Erkennen besonders wertvoll macht, zugleich besonders gefährlich ist, weil diese den schlechten Schein der Täuschung hervorzubringen vermögen.3 Einbildungskraft und das ihr

1

2

3

Gemeint sind hiermit insbesondere die Stürmer und Dränger, die diesen produktiven Vermögen nachgerade übermenschliche Fähigkeiten zuschrieben, indem sie u.a. das Genie als Meister der Phantasie interpretierten und diesen zu einem alter deus stilisierten; vgl. hierzu Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. 2 Bde. Darmstadt 21988, hier Bd. 1, S. 96–282. Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig 1777 [im Folgenden zitiert als: PV Band, Seitenzahl (Versuch, Kapitel, Abschnitt)], hier Bd. I, S. XVII. Von der Erkenntnis einer solcher Dialektik der Einbildungskraft ist die Wissenschaft um 1750, die sich intensiver mit diesem Vermögen auseinanderzusetzen beginnt, noch weit entfernt, vgl. die an Meier, Sulzer, Mendelssohn und anderen Wolffianern gewonnenen Erkenntnisse bei Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998.

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korrespondierende Genie4 sind also zugleich Fluch und Segen des menschlichen Erkennens und insofern ein herausforderndes philosophisches Problem der empirischen Psychologie. Tetens suchte dieses Problem durch eine differenzierte Analyse der drei vorstellenden Vormögen – Perzeption, Phantasie und Dichtungskraft – zu lösen, und es gelangen ihm hierbei in der Tat Distinktionsleistungen, die die Debatte um jene unteren und mittleren Vermögen des menschlichen Erkenntnisapparates substanziell voranbrachte.5 Erkennbar liefert Tetens in seinen Versuchen – und hier vor allem im Ersten Versuch über die »Natur der Vorstellung« – keine ausdifferenzierte Ästhetik oder Poetik,6 sondern vielmehr eine empirische Psychologie über die Vermögen der Phantasie und der Dichtungs- bzw. Dichtkraft, die auch Kant im Rahmen seiner Erkenntnistheorie als reproduktive und produktive Einbildungskraft bestimmen und unterscheiden wird, wobei erhebliche Unterschiede der beiden Konzeptionen zu verzeichnen bleiben.7 Schon Tetens geht es allerdings vor allem um die spezifische Differenz jener Vermögen untereinander und von den weiteren Vermögen der Seele,8 unter der Voraussetzung ihrer substanziellen Einheitlichkeit im Subjekt.9 Auch wenn also die Philosophischen Versuche keine Ästhetik oder Poetik enthalten, bedient sich Tetens zur Exemplifikation der zweiten Form der Einbildungs-, also der Dichtungskraft gerne der Literatur, wiewohl auch die Kochkunst, die Tonkunst und die bildende Kunst erwähnt werden.10 Für Tetens – wie für eine Reihe anderer Psychologietheoretiker der 1770er 4

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Vgl. hierzu PV I, S. 107 (1. XIII.): »Diese Verrichtungen gehören dem D i c h t u n g s v e r m ö g e n zu; einer schaffenden Kraft, deren Wirksamkeitssphäre einen größern Umfang zu haben scheinet, als ihr gemeiniglich zuerkannt wird. Sie ist die selbstthätige Phantasie; das Genie nach des Hrn. G e r a r d s Erklärung, und ohne Zweifel ein wesentliches Ingredienz des Genies, auch in einer weitern Bedeutung des Worts, die das Genie nicht eben allein auf D i c h t e r g e n i e einschränket.« So schon Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Darmstadt 1991, Bd. 2, S. 567–572. Obwohl er sich immer wieder zu grundlegenden Sachverhalten der Ästhetik äußert: »Es mag schöne Gegenstände geben, die es vor alle Menschen sind, von jedem Alter, zu allen Zeiten, unter allen Himmelsgegenden, deren Empfindung allen ohne Ausnahme, wie das Anschauen der Blumen gefalle, und die man als a b s o l u t e o b j e k t i v i s c h e S c h ö n h e i t e n ansehen kann: so beweiset dieß nichts mehr, als daß die Einrichtung der Seele, die Anlage, die bestimmte Beschaffenheit der Empfindungsund Vorstellungsvermögen, worauf solche Gegenstände auf eine angemessene Art wirken können, zu den gemeinschaftlichen Zügen der Menschheit gehören. Für Wesen anderer Art würden jene absoluten Schönheiten doch entweder gleichgültige, oder gar Gegenstände des Mißvergnügens seyn können, wie sie es wirklich sind« (PV I, S. 207 [2. IV. 4.]). Erkennbar ist Ästhetik für Tetens Teil einer übergreifenden Anthropologie; vgl. hierzu auch Robert Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Aesthetik von Wolff–Baumgarten bis Kant–Schiller. Würzburg 1892 (ND Hildesheim 1975), S. 260–302. Siehe hierzu Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. von Raymund Schmidt. Mit einer Bibliographie von Heiner Klemme. Hamburg 31990, A 100ff. u. A 120f. [im Folgenden KrV]. Die für Tetens durch das Gefühl und das Denken ausgemacht werden; vgl. PV I, S. 298 (4. II.): »Wenn das V e r m ö g e n, d i e V e r h ä l t n i s s e d e r D i n g e z u e r k e n n e n, als das dritte einfache Ingredienz der menschlichen Erkenntnißkraft angesehen, und mit dem Vermögen, Vorstellungen zu machen, und mit dem Gefühl zu dem Begrif von ihrer Grundkraft vereiniget wird, so haben wir eine vollständige Idee von der Seele […].« Vgl. hierzu ebd., S. 142ff. (1. XVI.). Ebd., S. 122f. (1. XV. 3.)

Phantasie und Dichtungskraft bei Tetens

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Jahre – entsteht über das Vermögen der Einbildungskraft eine enge Verbindung zwischen empiristischer Epistemologie und Poetik.11 Gleichwohl sind die – wenn auch seltenen – Beispiele aus der Literatur, die sich zumeist auf Klopstock und Milton,12 selten und auch nur versteckt auf Swift beziehen,13 historisch aufschlussreich. Denn der Kieler Philosoph – in den 1770er Jahren schreibend – lässt in seinen mehrhundertseitigen Essays keinerlei Bezüge auf Goethe, Merck oder gar Lenz erkennen, sieht man von den ostentativen Warnungen vor einer sich verselbständigenden Einbildungskraft ab, die Topoi der zeitgenössischen Werther-Kritik ausführen.14 Es zeigt sich also mit auffallender Deutlichkeit, dass Tetens – wie Kant15 – mit der damals hochaktuellen Sturm- und DrangBewegung nichts zu tun hatte, nichts zu tun haben wollte oder sie wenigstens für philosophisch nicht erwähnenswert hielt, obwohl er sich schon früh – nämlich 1775 – des Terminus Originalgenie bedient.16 Anders als Johann Gottfried Herder oder Michael Hißmann, die sich dem zumeist literarischen Sturm und Drang als philosophische und theologische Ratgeber und Experten anzudienen suchten,17 hält Tetens zu dieser kulturkritischen (Jugend-)Bewegung erkennbar Distanz. Bei all’ den Gemeinsamkeiten der Psychologen und Anthropologen der 1770er Jahre – so die empiristische Erkenntnislehre oder die Suche nach einem Ausgang alles Wissens und Handelns beim Menschen18 – bleiben doch erhebliche Unterschiede zu verzeichnen, die sich u.a. im Verhältnis zu der die 1770er Jahre prägenden literarisch-kulturkritischen Erscheinung des Sturm und Drang manifestieren. Dafür lassen sich einerseits weltanschauliche Gründe finden, denn als Vertreter einer strengen, weitgehend säkularen Konzeption von Aufklärung konnten Tetens, Platner oder Feder mit den enthusiasmierten, einer Gefühlsreligion zugetanen Junggenies wohl nicht viel anfangen oder standen ihnen gar kritisch gegenüber; es lassen sich andererseits auch philosophische

11 12 13 14 15 16

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Vgl. hierzu u.a. Rudolf Makkreel: Aesthetics. In: Knud Haakonssen (ed.): The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy. Cambridge 2006, pp. 516–556. Vgl. u. a. PV I, S. 125 (1. XV. 3.). Ebd., S. 136 (1. XV. 7.). Vgl. hierzu Matthias Luserke: Sturm und Drang. Autoren – Themen – Texte. Stuttgart 1995, S. 153ff. Zu Kants deutlich kritischem Verhältnis zum Sturm und Drang vgl. Karl Vorländer: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk. Hamburg 31992, S. 231–247. Siehe hierzu Johann Nikolaus Tetens: Über die allgemeine speculativische Philosophie. In: ders.: Über die allgemeine speculativische Philosophie. Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Erster Band. Hg. von Wilhelm Uebele. Berlin 1913, S. 26; erst 1771 hatte Christian Friedrich Michaelis den Terminus für die Übersetzung von Robert Woods Essay on the Original Genius of Homer geprägt und damit dem Sturm und Drang eine Schlüsselvokabel geliefert; vgl. Robert Wood: Versuch über das Originalgenie. Frankfurt a. M. 1771. Zu Herders Stellung im und zum Sturm und Drang vgl. Luserke: Sturm und Drang (s. Anm. 14), S. 40f.; zu Hißmanns Stellung zu dieser Bewegung vgl. Gideon Stiening: »Die Nerven deines Schönheitsgefühls«. Hißmann als materialistischer Ästhetiker und Theoretiker des Sturm und Drang. In: Heiner F. Klemme, Gideon Stiening u. Falk Wunderlich (Hg.): Michael Hißmann (1752–1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung. Berlin 2013, S. 253–276. Zu den Versuchen der 1760er und 1770er Jahre, Anthropologie zur Fundamentalwissenschaft, zu einer prima philosophia zu erheben vgl. u.a. Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin, New York 1996, S. 50ff., zu Tetens Stellung zu und in dieser ›Bewegung‹ vgl. Paola Rumore: L’anima dell’uomo: Psicologia e teoria della co-

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Gründe namhaft machen, denn anders als Goethe, Herder, Lenz oder Hamann19 bestimmte Tetens das Genie,20 das er dadurch definierte, dass es zu einem herausragendes Vermögen der Dichtungskraft befähig sei, gleichwohl nicht als alter deus, dem eine neuerliche creatio ex nihilo möglich ist. Die Parole »Hast du’s nicht alles selbst vollendet / Heilig glühend Herz?«, die Goethe seinen Prometheus ausrufen lässt,21 hätte Tetens als poetologische Maxime bzw. als Bestimmungsformel des Genies zurückweisen müssen, ausdrücklich heißt es bei ihm: Die Dichtkraft kann keine Elemente, keinen Grundstoff erschaffen, aus Nichts nichts machen und ist insoweit keine Schöpferkraft. Sie kann nur trennen, auflösen, verbinden, vermischen, aber dadurch eben kann sie neue Bilder hervorbringen, die in Rücksicht auf unser Unterscheidungsvermögen einfache Vorstellungen sind.22

Die Zurückweisung einer creatio ex nihilo ist hier so ostentativ formuliert, dass man den Eindruck gewinnen kann, diese Aussage sei explizit gegen die seit den frühen 1770er Jahren auffälligen Jünglinge aus Straßburg, Frankfurt und Weimar geschrieben, deren religiös anmutender Geniebegriff bei Tetens auf Kritik stoßen musste. Unabhängig von dieser nur schwer zu verifizierende These fällt deutlicher ins Gewicht, dass es in Tetens’ Überlegungen systematische Voraussetzungen und Demonstrationen gibt, die zu seiner für die 1770er Jahre bemerkenswerten Schlussfolgerung über die Dichtkraft führen. Diese Ausführungen im ersten der Philosophischen Versuche werden im Folgenden einer Betrachtung unterzogen. Ich werde dabei in drei Schritten vorgehen, nämlich zunächst Tetens’ Theorie der Phantasie zu rekonstruieren suchen, um hernach seine hiervon deutlich abgesetzte und doch die »Einartigkeit« aller Vorstellungsvermögen garantierenden Theorie der Dichtkraft zu erläutern. Abschließend werden einige Überlegungen über Tetens Gründe für sein Modell der zugleich notwendigen Identität und Differenz der vorstellenden Vermögen angestellt.

2. Die »Regellosigkeit der Phantasie« In 1.XIII. unterscheidet Tetens – weitgehend der Tradition verpflichtet, wie er selber sagt – zwischen drei verschiedenen Tätigkeiten der vorstellenden Kraft: erstens der Perzeption, zweitens der Phantasie oder Einbildungskraft und drittens der Dichtungskraft oder selbsttätigen Phantasie. Für alle drei Vermögen gilt die folgende Prämisse: Die ursprünglichen Empfindungsvorstellungen sind der Grundstoff aller übrigen. Die abgeleiteten werden alle ohne Ausnahme aus ihnen gemacht. Die Betrachtung über die Art und Weise, wie dieses geschieht, kann uns in die innere Werkstatt der Seele führen.23

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noscenza in Tetens. In: Massimo Mori, Stefano Poggi (Hg.): La misura dell’uomo. Antropologia, psicologia, filosofia. Bologna 2005, S. 71–102. Vgl. hierzu erneut Schmidt: Geschichte des Geniegedankens (s. Anm. 1), Bd. 1, S. 98ff. Vgl. hierzu insbesondere PV II, S. 658–662 (14. V. 7.). Johann Wolfgang Goethe: Prometheus. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich Trunz u.a. München 1988, Bd. 1, S. 44–47, hier S. 4533f.. PV I, S. 139 (1. XV. 8.). Ebd., S. 104f. (1. XIII.).

Phantasie und Dichtungskraft bei Tetens

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Blicken wir mit Tetens in diese »Werkstatt«, so stellen wir fest: Die Perzeption wird erstens bestimmt als Aufnahme ursprünglicher Vorstellungen aus der Empfindung und zweitens durch das Vermögen des ›Nachempfindens‹, das als aufgenommene Zeichnung von den empfundenen Objekten in uns gedeutet wird.24 Zu diesen Formen des Nachempfindens und deren konkreteren Bestimmungen hatte Tetens zu Beginn des ersten Versuches umfangreiche Ausführungen gemacht, die u.a. auf der Grundlage eigener experimenteller Untersuchungen entstanden waren.25 Zu diesem Zweck unterscheidet Tetens zwischen den ursprünglichen Empfindungen äußerer Gegenstände und dem Nachempfinden der gleichen Gegenstände, weil für ihn ein »Fortdauern des sinnlichen Eindrucks […] außer Zweifel« steht,26 und zwar auch und gerade dann, wenn der die Empfindung auslösende Gegenstand nicht mehr unmittelbar wahrgenommen werde. Tetens bedient sich u.a. des Beispiels der angeschlagenen Saite eines Musikinstrumentes, das nach dem Anschlag durch den Spieler »zu zittern fortfährt«. Nach Tetens ist dieses ›Weiterzittern‹ ein gegenüber dem ursprünglichen Anschlag eigenständiger, wenn auch nicht unabhängiger Zustand: Der stoßende Körper hat sich alsdenn entfernet, und die Rückwirkung hat aufgehöret. Ihre Bewegung in dem folgenden Augenblick ist die Fortsetzung derjenigen, welche sie von der wirkenden Kraft empfangen hat. Jene ist ein nachgebliebener Zustand in der Saite, in welchem sie nichts mehr von außen aufnimmt, und auch nicht mehr auf die äußere Kraft zurückwirket. Da ist also ein anderer von dem erstern unterschiedener, und wesentlich unterschiedener Zustand in ihr.27

Für Tetens ist diese Vorstellungsart des ›Nachempfindens‹ deshalb so wichtig, weil allererst sie über die Zwischenstufe der Einbildungskraft einen Übergang zur ›Gewahrnehmung‹ und zur Reflexion, mithin zu den Formen des Denkens ermöglicht;28 explizit heißt es, dass es keinen unmittelbaren Übergang vom Empfinden zum Denken gebe: Der Augenblick, in welchem der Gedanke in uns entsteht: ich sehe den Mond; oder der Mond sieht so aus; kurz d e r A u g e n b l i c k d e r R e f l e x i o n f ä l l t i n d a s M o m e n t d e r N a c h e m p f i n d u n g. Nicht während des ersten von außen entstehenden Eindruckes, wenn wir noch damit beschäftiget sind, die Modifikation von außen anzunehmen und zu fühlen, geschieht es, daß wir gewahrnehmen und mit B e w u ß t s e y n empfinden, sondern in dem Moment, wenn die Nachempfindung in uns vorhanden ist. Die Überlegung verbindet sich mit der E m p f i n d u n g s v o r s t e l l u n g, aber nicht unmittelbar mit der Empfindung selbst.29

Den Grund dieser bedeutenden Funktion des Nachempfindens für das korrelative Verhältnis der Erkenntnisvermögen des Menschen sieht der Kieler Philosoph in der relativen Unabhängigkeit des Nachempfindens von äußeren Ursachen: Die Nachempfindungen sind Modificationen in der Seele, so wie es die Empfindungen sind. Als Nachempfindungen sind sie zurückgebliebene und durch i n n e r e Ursachen und Kräfte fortdaurende 24 25 26 27 28 29

Vgl. hierzu schon Jeffrey Barnouw: The Philosophical Achievment and Historical Significance of Johann Nicolas Tetens. In: Studies in the Eighteenth-Century Culture 9 (1979), pp. 301–335, spez. pp. 314ff. PV I, S. 30ff. (1. V.); zur Stellung des Experiments in Methode und Systematik der Versuche vgl. Sommer: Grundzüge einer Geschichte (s. Anm. 6), S. 262f. PV I, S. 32 (1. V.); vgl. hierzu auch Karl Knüfer: Grundzüge der Geschichte des Begriffs ›Vorstellung‹ von Wolff bis Kant. Ein Beitrag zur Geschichte der philosophischen Terminologie. Halle 1991, S. 42–57. Ebd., S. 31 (1. V.). Vgl. hierzu einzig Sommer: Grundzüge einer Geschichte (s. Anm. 6), S. 273f. PV I, S. 33 (1. V.).

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Veränderungen. Hierinn sind sie von den sinnlichen Eindrücken unterschieden, als welche Wirkungen von ä u ß e r n Ursachen sind.30

Solcherart Nachempfindungen sind für ihn also schon Vorformen der Selbsttätigkeit bzw. Spontaneität, weil sie von äußeren Ursachen unabhängig und deshalb nicht rein rezeptiv sein können. Tetens war im Übrigen davon überzeugt, dass man diese Nachempfindungen messen könne, weil man »sogar die Länge dieser Dauer [des Eindrucks eines wahrgenommenen Gegenstandes] in den Nachempfindungen bestimmen« könne.31 Diese Hinweise dokumentieren nicht nur, dass der Autor der Philosophischen Versuche die Methode des experimentellen Selbstversuches in der empirischen Psychologie für ebenso möglich wie notwendig hielt; sie zeigen auch, dass den Ergebnissen dieser Wissenschaft nur empirische Allgemeinheit zukommt.32 Ausdrücklich hält der ›Psychologe der Nachempfindung‹ – Tetens ist der erste Theoretiker, der diese Vorstellungsform ›entdeckt‹ – fest: »Dieß Beyspiel soll nichts beweisen; sondern nur auf den Unterschied zwischen den Em pf i ndu ngen und den Nac hem pf i ndun ge n, als den zuerst entstehenden Em pf indu ngs v or ste llu nge n aufmerksam machen«.33 Über die Funktionsbestimmung für die Reflexion auf Empfindungen hinaus sucht Tetens zu zeigen, dass den ursprünglichen Empfindungen erst durch die Nachempfindungen konstitutive Bedeutung für die beiden Formen der Wiedervorstellung, der Phantasie und der Dichtkraft, zukomme: »Die Einbildung eines gesehenen Gegenstandes ist also die wieder erweckte Nachempfindung desselben, in einem schwächeren Grade ausgedrückt«.34 Diese nur graduelle Differenz zwischen den Empfindungsweisen und ihren Reproduktionen durch die Einbildungskraft gilt nach Tetens für alle Sinnesempfindungen gleich: Alles ist im Allgemeinen dasselbige bey den Vorstellungen aus dem G e h ö r, dem G e f ü h l, dem G e s c h m a c k und dem G e r u c h, wie bey den G e s i c h t s v o r s t e l l u n g e n. Die äußern Gegenstände modificiren die Seele. Es entstehet ein sinnlicher E i n d r u c k, der gefühlet wird, die E m p f i n d u n g. Die Empfindung hinterlässet eine N a c h e m p f i n d u n g, und die Einbildungen aus diesen Sinnen sind geschwächte Nachgepräge der ersten Nachempfindungen und der sinnlichen Eindrücke.35

An diesem Modell der Korrelation der Vorstellungsformen ist zum einen zu ersehen, dass Tetens der Selbstbeobachtung ebenso wie dem Selbstgefühl einen Status zugeschrieben hat, der deren Erkenntnis- oder Einsichtsprozessen objektivierbare, wenigstens aber intersubjektiv korrelierbare Ergebnisse zutraute.36 Zum anderen ist diese Konzeption unbestreitbar ein streng empiristisches Modell einer ›Epistemologie der Vorstellungskraft‹, und zwar sowohl systematisch als auch methodisch.37 Empfindungen werden als Ursprung aller Vorstellungen bestimmt und in 30 31 32

33 34 35 36 37

Ebd., S. 37 (1. V.). Ebd. Dieser empirischen Allgemeinheit kommt nach Tetens aber keine Notwendigkeit zu; so heißt es im Sechsten Versuch: »Zuerst muß der Gedanke entfernt werden, daß die allgemeinen nothwendigen Grundsätze, Abstraktionen aus Erfahrungen sind«. PV I, S. 466 (6. II. 3.); vgl. hier auch Hans-Ulrich Baumgarten: Kant und Tetens: Untersuchungen zum Problem von Vorstellung und Gegenstand. Stuttgart 1992, S. 43ff. PV I, S. 32 (1. V.). Ebd., S. 39 (1. V.). Ebd., S. 40 (1. VI.). Vgl. zu diesem Problemfeld auch den Beitrag von Udo Thiel in diesem Band. Vgl. hierzu insbesondere PV I, S. 45ff. sowie Cassirer: Das Erkenntnisproblem (s. Anm. 5), S. 568.

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ihrer spezifischen Wirkungsweise in der Seele charakterisiert, nämlich durch Konstitution von Abbildern der ursprünglich empfundenen Objekte; ein Prozess, der das Nachempfinden auslöst, aus dem allererst die Formen der Wiedervorstellung – Phantasie und Dichtkraft – hervorgehen könnten. Bei allen Begrenzungen, die Tetens im Hinblick auf die Grundsätze des Denkens einer empiristischen Epistemologie setzte,38 innerhalb seiner Theorie der Vorstellungskraft gelten deren induktive Grundsätze uneingeschränkt. Im Rahmen dieser strengen Systematik wird im Folgenden die einfache Einbildungskraft oder Phantasie wie folgt bestimmt: Diese Empfindungsvorstellungen werden reproduciret, auch wenn jene ersten Empfindungen aufgehöret haben, das ist, sie werden bis dahin wieder hervorgebracht, daß sie mit Bewußtsein wahrgenommen werden können.39

Tetens bezeichnet diese Vorstellungen der Einbildungskraft – wie erwähnt – auch als Wiedervorstellungen, womit das entscheidende Moment ihrer Nicht-Ursprünglichkeit, ihrer ReProduziertheit betont wird. Diese Wiedervorstellungen sind als Reproduktionen nicht nur von schwächerer Intensität, sie müssen als solche auch gewusst werden bzw. als solche nichtursprünglichen Vorstellungen dem Vorstellenden bewusst sein. Diese Reproduktionen erfolgen allerdings nicht willkürlich, gleichsam in einem wilden, ungeordneten stream of consciousness, wie dann beispielsweise in Carl Einsteins Bebuquin, dessen narratives Ordnungsprinzip gerade in der Aufhebung von Perzeptionsregeln besteht,40 sondern nach einem präzise benennbaren Gesetz, nämlich dem ›Gesetz der Assoziation der Ideen‹, das in Tetens Version wie folgt lautet: Das Gesetz der Association der Ideen ist daher zusammengesetzt. Die Vorstellungen werden auf einander wieder erwecket, nach ihrer vorigen Verbindung u n d n a c h i h r e r A e h n l i c h k e i t .41

Ganz der das 18. Jahrhundert prägenden Tradition von Assoziationstheorien entsprechend42 werden Ähnlichkeit und Kontiguität als die beiden entscheidenden Gesetzesformen der Assoziation von Vorstellungen aufgeführt. Wie man der ein Jahr vor den Philosophischen Versuchen publizierten Monographie Michael Hißmanns zur Geschichte der Lehre von der Association der Ideen entnehmen kann,43 sind es eben diese beiden Verbindungsarten einfacher Vorstellungen, Ähnlichkeit und raum-zeitliche Verknüpfung, die seit John Locke, vor allem aber seit David Hartley als entscheidende Gesetze der Neu-Verbindung ursprünglicher Vorstellungen galten.44 Auch in 38

39 40 41 42 43 44

Vgl. hierzu ebd., S. 570, mit Bezug auf PV I, 1.VI und 1.VII; erkennbar sind die Grenzen des Empirismus und damit der Psychologie auch und vor allem in der Programmschrift Über die allgemeine speculativische Philosophie (s. Anm. 16), S. 38ff. PV I, S. 105 (1. XIII.); Hvhb. von mir. Siehe hierzu Vanessa Geuen: Zwischen Philosophie und Literatur. Dichtung als Medium für eine neue Erkenntnistheorie am Beispiel von Carl Einsteins ›Bebuquin‹. Marburg 2009. PV I, S. 106f. (1.l XIII.). Vgl. hierzu u.a. Howard C. Warren: A History of the Association Psychology. London 1921. Michael Hißmann: Geschichte der Lehre von der Association der Ideen, nebst einem Anhang vom Unterschied unter associirten und zusammengesezten Begriffen, und den Ideenreyhen. Göttingen 1776. Vgl. hierzu auch Falk Wunderlich: Assoziationen der Ideen und denkende Materie. Zum Verhältnis von Assoziationstheorie und Materialismus bei Michael Hißmann, David Hartley und Joseph Priestley. In: Heiner F.

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den Erkenntnistheorien seiner Zeitgenossen Feder, Platner oder Wezel konnte Tetens diese Bestimmungen zur Assoziationstheorie finden;45 als besonders einflussreich erwies sich in diesem Zusammenhang diejenige Variante Charles Bonnets, die dieser im Essai analytique sur les facultés de l’âme im Jahre 1759 entworfen hatte;46 so heißt es bei Johann Karl Wezel: Unter allen Gedanken, die ich jemals hatte, bemerke ich dieses Übereinstimmende: die Vorstellungen, die ich oft beysammen und hinter einander dachte, gerathen in einer solche Verbindung, daß die eine allemal wiederkommt, wenn mir die andere mit oder ohne meinen Vorsatz gegenwärtig wird, und daß alle verwandte so lange folgen, bis mein Wille oder eine ganz unähnliche Idee den Lauf unterbricht: dies ist das längst entdeckte Gesetz der Erinnrung. Bonnet, der es in seinem Essai analytique weitläufig aus einander sezt, nennt es la liaison des idées.47

Tetens’ nähere Ausführungen zu diesem Gesetz – die sich ebenfalls mehrfach auf Bonnet, stärker aber auch David Hartley und Joseph Priestley beziehen48 –, zu dessen eigentümlichen Gehalt, dessen Geltung und deren durchaus enge Grenzen sind allerdings gegenüber dieser Tradition ungewöhnlich.49 Denn im folgenden, diesem Gesetz der Ideenassoziation gewidmeten Abschnitt führt Tetens dessen zentrale Stellung in der zeitgenössischen Psychologie vor und weist dessen Herkunft nach: Seitdem L o c k e das sogenannte Gesetz der I d e e n v e r k n ü p f u n g nicht zwar zuerst entdecket, aber doch deutlich wahrgenommen hat, ist dieß wie ein Grundgesetz in der Psychologie angesehen wor-

45 46

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48

49

Klemme, Gideon Stiening, Falk Wunderlich (Hg.): Michael Hißmann (1752–1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung. Berlin 2013, S. 63–84. Vgl. hierzu auch Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York 2003, S. 331ff. Charles Bonnet: Essai analytique sur les facultés de l’âme. Kopenhagen 1759, pp. 32–58 (Chap. VII e. VIII); zur noch wenig erarbeiteten Bonnet-Rezeption der deutschsprachigen Spätaufklärung vgl. u.a. Tobias Cheung: Der Baum im Baum. Modellkörper, reproduktive Systeme und die Differenz zwischen Lebendigem und Unlebendigem bei Kant und Bonnet. In: Ernst-Otto Onnasch (Hg.): Kants Philosophie der Natur. Berlin 2009, S. 25–50 sowie Martin Schmeisser: »Der eigentliche Materialist […] weiß von keiner unkörperlichen gehirnbewegenden Kraft«. Michael Hißmann und die Psychologie Charles Bonnets. In: Heiner F. Klemme, Gideon Stiening u. Falk Wunderlich (Hg.): Michael Hißmann (1752–1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung. Berlin 2013, S. 99–118. Johann Karl Wezel: Versuch über die Kenntnis des Menschen. In: ders.: Gesamtausgabe in acht Bänden. Hg. von Klaus Manger. Heidelberg 2000ff., Bd. VII [Versuch über die Kenntnis des Menschen. Rezensionen. Schriften zur Pädagogik. Hg. von Jutta Heinz u. Cathrin Blöss], S. 59. Vgl. PV I, S. 67 (1. VIII.), wobei Tetens hinzufügt, die entscheidenden Elemente des Gesetzes könnte man auch in Christian Wolffs Psychologie finden. Zur systematischen Bindung gewichtiger Begriffe und Grundsansätze der tetenschen Psychologie an die Philosophie Christian Wolffs vgl. Raffaele Ciafardone: Kraft und Vermögen bei Christian Wolff und Johann Nicolaus Tetens mit Beziehung auf Kant. In: Jürgen Stolzenberg, Oliver-Pierre Rudolph (Hg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses, Halle (Saale), 4.–8. April 2004. Hildesheim, Zürich, New York 2007, Teil 2, S. 405–414. Vgl. hierzu die, wenngleich äußerst skizzenhaften Anmerkungen bei Wilhelm Uebele: Johann Nicolaus Tetens nach seiner Gesamtentwicklung betrachtet. Mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zu Kant. Unter Benützung bisher unbekannt gebliebener Quellen. Berlin 1911, S. 119f. sowie Kenneth P. Winkler: Perception and Ideas. In: Knud Haakonssen (Hg.): The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy. Cambridge 2006, pp. 255–256.

Phantasie und Dichtungskraft bei Tetens

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den. Man hat es in allen seinen Anwendungen aufgespürt und einen Schlüssel zu den geheimsten und innersten Gemächern in der Seele darin gefunden.50

In Tetens’ »Werkstatt der Seele« sind solche »innersten Gemächer« allerdings nicht zu finden, der Schlüssel also blind: Das Gesetz der Assoziation ist nach Tetens zwar ein tatsächlich »wichtiger und fruchtbarer Grundsatz«, aber es ist nicht, wofür es von vielen Philosophen des 18. Jahrhunderts gehalten wird: ein »Grundgesetz in der Psychologie« bzw. das »einzige Gesetz, das durch die ganze menschliche Natur herrscht«.51 Galt der empiristischen Epistemologie – vor allem durch den bedeutenden Einfluss David Humes52 – das Gesetz der Ideenassoziation als Gesetz der Verknüpfung jeder Vorstellung, sei sie nun sinnlicher oder rationaler Natur, so schränkt Tetens den Geltungsumfang der Assoziationsgesetze erheblich ein: Beispielsweise hat dieses Gesetz für Ideen, die Tetens als »Vorstellungen mit Bewußtsein« definiert,53 keinerlei Geltung; auch die äußeren sowie der innere Sinn sind anderen Gesetzesmäßigkeiten als denen der Assoziation unterworfen und müssen daher bei deren Analyse unberücksichtigt bleiben: Die Sinne wollen wir ruhen lassen, wenn der Gang der P h a n t a s i e beobachtet werden soll; die Empfindungen von außen her sollen sich also nicht einmischen, und auch die innern Sinne nichts beytragen, sondern die Einbildungskraft soll freye Hände haben, zu arbeiten, so wie sie im Schlummer und im Traume sie hat.54

Nach diesen kritischen Grenzziehungen zu anderen Seelenvermögen, die neben dem Denken und den Sinnen erkennbar auch das Gefühl und den Willen und damit letztlich alle weiteren Fakultäten der Seele betreffen,55 kann Tetens den Geltungsbereich und die Grenzen des Assoziationsgesetzes präzise festlegen: Dieß Gesetz der Assoziation bestimmt nichts mehr, als die Ordnung, wie Vorstellungen auf einander folgen, wenn die Phantasie allein wirket. Es bestimmt nicht die ganze wirkliche Ordnung, in welcher die Vorstellungen erfolgen, und enthält auch das Gesetz der bildenden Dichtkraft nicht, wenn diese neue Ideen machet.56

Damit ist der Geltungsumfang des Assoziationsgesetzes gegenüber zeitgenössischen Auffassungen in den 1770er Jahren erheblich eingeschränkt; nicht zufällig hat Tetens für diesen Beweisgang deutliche Kritik im zeitgenössischen Rezensionswesen erfahren; so wirft ihm ein Rezensent im Zusammenhang der Darstellung der Ausführungen zum Gesetz der Assoziation ›geschraubte Schlüsse‹ und ›lächerliche‹ Ableitungen vor;57 und kein geringerer als der Göttinger 50 51 52

53 54 55 56 57

PV I, S. 108 (1. XIV.). So Wezel: Versuch (s. Anm. 47), S. 63. Tetens kommt auf Humes Variante des Assoziationsgesetzes schon in dem Aufsatz Über die allgemeine speculativische Philosophie von 1775 zu sprechen und unterzieht sie – vor allem aufgrund der Anwendung des Assoziationsbegriffes auf die Verknüpfung von Ursache und Wirkung – einer deutlichen Kritik; vgl. Tetens: Über die allgemeine speculativische Philosophie (s. Anm. 16), S. 58f. PV I, S. 96 (1. XII.); zur Problematik dieser Bestimmung vgl. auch Falk Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts. Berlin, New York 2005, S. 71f. PV I, S. 109 (1. XIV.). Siehe hierzu auch Christian Hauser: Selbstbewußtsein und personale Identität. Positionen und Aporien ihrer vorkantischen Geschichte: Locke, Leibniz, Hume und Tetens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 141ff. PV I, S. 110f. (1. XIV.). [Anonym.:] Rezension der Philosophischen Versuche. In: Auserlesene Bibliothek 13 (1778), S. 464–510, spez. S. 476ff.

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Ordinarius für Philosophie Johann Georg Heinrich Feder zeigt sich indigniert ob des – eigentlich doch milden – Spottes des Autors über die Beliebigkeit des Ähnlichkeitsbegriffes;58 das Assoziationsgesetz führte offensichtlich ins Zentrum empiristischer Epistemologie und durfte oder sollte daher als Grundgesetz nicht leichtfertig aufgegeben werde. Dabei hatte Tetens die besonderen Bestimmungen der Assoziation, nämlich die Kontiguität und die Ähnlichkeit, wie das Gros der zeitgenössischen Psychologie bestimmt und gar differenzierter korreliert: Die K o e x i s t e n z der Vorstellungen in der Empfindung verbindet sie unter einander wie ein Faden die auf ihn gezogenen Perlen. Die A e h n l i c h k e i t vereiniget sie, wie ein gemeinschaftlicher Mittelpunkt, um welchen herum mehrere ähnliche Ideen anliegen, so daß von der Einen zur andern ein unmittelbarer Übergang möglich ist, auch bey solchen, die sonsten in der Reihe der Koexistenz sehr weit von einander abstehen. Die Einbildungskraft wechselt mit beiden Arten der Verbindungen ab und machet neue Verbindungen. Nie ist sie Einer dieser Beziehungen allein nachgegangen, wenn wir eine ganze Reihe von Reproduktionen untersuchen, die eine merkliche Länge hat. Nur liebet sie unter gewissen Umständen mehr den einen, unter andern mehr den andern Hang.59

Ersichtlich sind die beiden Prinzipien der Assoziation für Tetens gleichursprünglich und – wenn auch stets miteinander verbunden – nicht auseinander abzuleiten; damit bezieht Tetens deutlich Stellung innerhalb der Theoriedebatten zum Assoziationsgesetz, und zwar gegen Versuche, »Ähnlichkeit auf Kontiguität oder auch umgekehrt« zu reduzieren bzw. »beide auf ein grundlegendes Prinzip der Wiedereinsetzung einer vergangenen Erfahrung« zurückzuführen.60 Gleichwohl geht Tetens in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Gesetz der Assoziation noch einen Schritt weiter: Denn er befragt auch noch einmal den spezifischen Gehalt der zentralen Gesetzmäßigkeiten jenes Gesetzes und kommt zu dem buchstäblich unerhörten Schluss, dass diese Regel nicht viel mehr festlege, als die Tatsache, welche Idee (d.h. hier Vorstellung) auf welche andere Vorstellung folgen könne (keineswegs müsse). Denn der Begriff der Ähnlichkeit ist ihm zu Recht zu unbestimmt, um aus ihm eine wirksame Regelhaftigkeit ableiten zu können: Ähnlich sind nämlich letztlich alle Vorstellung in irgendeiner Weise und zwar allein darin, dass sie Vorstellungen sind: Es gibt also fast keine Idee, von der, zumal in einer großen und reichen Einbildungskraft, nicht ein unmittelbarer Uebergang zu jeder andern vorhanden wäre, wenn gleich dieser Weg bey vielen eng und so ungewohnt ist, daß die Phantasie weit leichter und gewöhnlicher einen andern nimmt.61

Vor dem Hintergrund dieser zutreffenden Analyse des Begriffs der Ähnlichkeit kommt Tetens zu dem ebenso bemerkenswerten wie für die zeitgenössische Debatte revolutionären Schluss:62 Da also dieß Gesetz der Association nichts weiter lehret, als daß auf eine gegenwärtige Vorstellung eine andere folge, die mit ihr einen gemeinschaftlichen Vereinigungspunkt hat, oder eine solche, die ehedem mit ihr verbunden gewesen ist, so gibt diese Regel die wahre Folge der Ideen nicht bestimmter an, als wenn man sagte: »auf eine gegenwärtige Idee (Vorstellung) kann fast eine jedwede andere 58 59 60 61 62

[Anonym., d.i. Johann Georg Heinrich Feder:] Rezension der Philosophischen Versuche. In: Zugabe zu den Göttingischen gelehrten Anzeigen 33 (1777), S. 513–525. PV I, S. 109f. (1. XIV.). Vgl. Wunderlich: Assoziationen der Ideen (s. Anm. 44), S. 66. PV I, S. 111 (1. XIV.). Zu dieser Bewertung kommt auch Sommer: Grundzüge einer Geschichte (s. Anm. 6), S. 274: »Durch seine Auffassung des Dichtungsvermögens tritt nun Tetens in einen bewußten Gegensatz zu der von Locke angeregten Associationspsychologie.«

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folgen«. Wird die Regellosigkeit der Phantasie darum eine Regelmäßigkeit, weil die Ideen nach dieser Regel reprodiciert werden? Ist in einem Quodlibet deswegen eine ordentliche Gedankenfolge, weil diese Folge durch eine Regel bestimmet wird, welche saget, daß keine Ordnung darinn seyn soll.63

Damit hat Tetens umfassend und präzise den Gehalt eines der beiden zentralen Assoziationsgesetze erfasst: Die reproduktive Einbildungskraft erfolgt weitgehend regellos, und eben das macht ihre Gesetzmäßigkeit aus. Tetens macht aber unmissverständlich deutlich, dass dies nur ein Gesetz für jene einfache Einbildungskraft und eben nicht für andere Vermögen und schon gar nicht für deren Zusammenstimmen ist: »Noch weiter hinaus über die Wahrheit ist es, wenn einige in dem Gesetz der Association ein allgemeines Gesetz gefunden haben wollen«.64 Darüber hinaus legt er überzeugend dar, dass dieses – regellose – Vermögen nicht isoliert auftritt, sondern der reale Prozess reproduktiver Vorstellungsbildung stets im Verbund mit anderen Vermögen – u.a. der Dichtkraft – auftritt. Die entscheidende Aufgabe der Forschung, und das heißt der philosophischen Psychologie, besteht nach Tetens vor diesem Hintergrund darin, Gesetzmäßigkeiten für die je einzelnen Vermögen zu finden sowie insbesondere für deren Zusammenstimmung im tatsächlichen Prozess der Vorstellungsbildung. Gerade letzteres ist laut Tetens bislang aber nicht angemessen geleistet: Die durch die verschiedenen Vermögen der Seele, durch ihr Gefühl, ihre bildende Dichtkraft, die Reflexion und andere, alle Augenblicke hervorgebrachte Verbindungen, erfolgen jede nach ihren eigenen Gesetzen. Denn jedes Seelenvermögen beobachtet ein gewisses Gesetz, so oft es wirksam ist, und auch die schaffende Dichtkraft beobachtet die ihrigen, wenn sie neue Ideen hervorbringet. […] Es ist in der Seelenwelt wie in der Körperwelt. Die einzelnen Ursachen und ihre Wirkungsarten einzeln zu erkennen, das ist noch lange nicht die Erkenntniß der Regel, nach der die Wirkung erfolget, wenn diese mehreren Ursachen zugleich in Vereinigung mit einander wirken.65

Konsequent hält Tetens auch jenes Gesetz, nach dem die Ursachen – d.h. die einzelnen Vermögen in ihrer je eigenen Gesetzmäßigkeit – zusammenwirken, für empirisch ermittelbar. Fasst man die bisherigen Überlegungen zur Phantasie kurz zusammen, so lässt sich sagen, dass Tetens durch eine präzise Analyse der Begriffe der Ähnlichkeit und der Kontiguität und damit des Gesetzes der Asssoziation – so wie es bis zu jenem Zeitpunkt (1777, nicht 1781) bestimmt war – zu der Erkenntnis kommt, dass dieser von Locke inaugurierte und dann vor allem von Hartley, Priestley und Hißmann weiterentwickelte Begriff erstens in seinem Gehalt eine Regellosigkeit enthält bzw. ausführt und dass er eben deshalb zweitens in seinem Geltungsumfang eingeschränkt werden muss. Diese Bestimmung und damit Begrenzung der Geltung des Assoziationsbegriffs ist gegenüber den vorherigen Verwendungen ein erheblicher Distinktionsgewinn und damit ein deutlicher Fortschrift, an den Kant 1781 anknüpfen konnte. Einerseits bleiben auch für Kant die Regeln der Reproduktion von Vorstellungen auf einen nur »subjektiven und empirischen Grund« verwiesen; hierin ist Kant dem Kieler Kollegen gefolgt bzw. stimmt mit dessen Kritik überein. Andererseits sah Kant genauer,66 dass selbst diese Assozia63 64 65 66

PV I, S. 111f. (1. XIV.); Hvhb. von mir; dass diese methodische Perspektive der Regellosigkeit auch ontologisch als »Zufälligkeit« auszulegen ist, zeigt Tetens in ebd., S. 516ff. (7. II. 12.). Ebd., S. 112 (1. XIV.). Ebd., S. 113f. (1. XIV.). Zum insgesamt noch wenig erforschten philosophischen Verhältnis zwischen Kant und Tetens vgl. u.a. die Arbeiten von Alexei N. Krouglov: Der Begriff transzendental bei J. N. Tetens. Historischer Kontext und Hintergründe. In: Aufklärung 17 (2005), S. 35–75; ders.: Die Theologie der Vernunft bei J. N. Tetens. In:

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tionen der Vorstellung eines »objektiven Grundes« bedürfen, um überhaupt als einheitliche möglich zu sein, d.h. als Assoziationen eines Subjekts – auch wenn die Prinzipien, nach denen sie assoziiert werden, ohne Regel bleiben.67

3. Das »Eigene der Fictionen« – die Dichtkraft Besondere Anstrengungen verlegt der Autor der Philosophischen Versuche auf eine kohärente und möglichst differenzierte Bestimmung von Begriff und Sache der Dichtkraft. Sie spielt im Zusammenhang empiristischer Epistemologien, aber auch produktionsästhetischer Modelle von Poetiken ab 1740 eine besondere Rolle,68 weil sie auf der einen Seite an Sinnlichkeit und damit Rezeptivität gebunden bleibt, andererseits die unvergleichlichen Produkte des »Dichtergenies«69 ermöglichen können soll – und damit in besonderem Maße spontan sein kann und muss; Tetens stellt also fest: »Die bildende Dichtkraft habe ich mehrmalen erwähnt und ihr ein Vermögen, neue ei nf ac he Vorstellungen aus dem Stoff der Empfindungsvorstellungen zu bilden, beygelegt«.70 Im Unterschied also zur einfachen reproduktiven Einbildungskraft macht es die bildende Dichtkraft als einer »Selbstmacht der Seele« aus,71 grundlegend neue, und zwar neue einfache Vorstellungen ausbilden zu können. Auch hier gelingt Tetens ein erheblicher Distinktionsgewinn gegenüber zeitgenössischen Konzeptionen: Denn er befragt auch diese Bestimmungen des ›Neuen‹ als eines ›Einfachen‹ der Vorstellungen jenes produktiven Vermögens auf seinen genauen Gehalt. Die aus seiner Sicht geltende Annahme, dass – weil eben nur die Empfindung ursprüngliche Vorstellung hervorbringen kann – auch die produktive Einbildungskraft dadurch ausgezeichnet sei, dass sie durch einfaches »Zertheilen und Wiederzusammensetzen« das »Eigene der Fiktionen« erschaffe, weist Tetens mit Nachdruck zurück: Allein dies ist nur ein Z e r t h e i l e n und ein W i e d e r a n e i n a n d e r s e t z e n. Dieß ist noch nicht E n t w i c k e l n , kein A u f l ö s e n und W i e d e r v e r e i n i g e n , kein I n e i n a n d e r t r e i b e n und V e r m i s c h e n .72

Die Annahme, ein einfaches Zusammensetzen ursprünglicher Empfindungsvorstellungen sei schon das Herstellen von Neuem, also jenes »Eigene der Fiktionen«, kann Tetens deshalb zurückweisen, weil er diese Tätigkeit schon der einfachen reproduktiven Einbildungskraft zuschreiben konnte, gerade weil sie nach keiner bestimmbaren Regel jene ursprünglichen Vorstellungen beliebig zusammensetzte. Es erweist sich also als konsequenzenreich, dass Tetens das

67 68 69 70 71 72

Aufklärung 21 (2009), S. 103–116 sowie ders.: Das Problem der Revolution in der Deutschen Aufklärung. Kant und Tetens. In: Luigi Catalda Madonna, Paola Rumore (Hg.): Kant und die Aufklärung. Akten der KantTagung in Sulmona, 24.–28. März 2010. Hildesheim 2011, S. 371–392. Vgl. hierzu KrV A 121ff.; vgl. hierzu auch Reinhard Loock: Schwebende Einbildungkraft. Konzeptionen theoretischer Freiheit in der Philosophie Kant, Fichtes und Schellings. Würzburg 2007, S. 42ff. Siehe hierzu u.a. William Keach: Poetry after 1740. In: George Alexander Kennedy a. Hugh Barr Nisbet (ed.): The Cambridge History of Literary Criticism. Cambridge 1997, vol. 4, pp. 117–166. PV I, S. 107 (1. XIII.). Ebd., S. 115 (1. XV. 1.). Ebd., S. 116 (1. XV. 2.). Ebd., S. 117 (1. XV. 2.).

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Neue der Vorstellungen der Dichtungskraft damit verband, dass sie einfache (also nicht schlicht zusammengesetzte) Vorstellungen hervorzubringen in der Lage sein soll. Also muss das Spezifische der Dichtungskraft durch andere Bestimmungsmomente ausgemacht werden. Dabei ist zunächst wichtig zu erwähnen, dass Tetens die Dichtkraft als ein aktives Vermögen, d.h. als eine Selbstmacht, Selbsttätigkeit der Seele begreift, die er für paradigmatisch nicht allein in Bezug auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen erachtet: Da aber doch diese Seite unserer vorstellenden Natur an sich so erheblich und fruchtbar ist, das sie noch weiter führet, als auch die Kenntnißkraft, und auch über die Selbstthätigkeit der Seele bei äußeren Handlungen Licht verbreitetet, so will ich einige Bemerkungen hinzufügen.73

Dichtungskraft gilt ihm mithin als ein Teil oder eine Form jener Selbsttätigkeit und Selbstmacht der Seele, die sich auch in äußeren Handlungen realisiert. In diesem Verständnis von Selbstmacht ist er dem Sturm und Drang der 1770er Jahre also durchaus näher als bei der allgemeinen Bewertung der Einbildungskraft.74 Nur diese Selbstmacht aber ist nach Tetens in der Lage, die ursprünglichen Empfindungsvorstellungen soweit aufzulösen, dass sie bei ihrer neuerlichen Zusammenführung zu einer tatsächlich neuen und einfachen Vorstellung führen. Das heißt, die Dichtungskraft ist einerseits grundlegend unterschieden von der Phantasie, nämlich in ihren Produkten, andererseits aber nur durch eine Intensitätssteigerung der Analyse- und Synthesisleistungen der einfachen Einbildungskraft definiert und so mit ihr identisch. Tetens ist auf dieses Konstrukt ganz besonders stolz; die Dichtungskraft kann die ursprünglichen Vorstellungen schlicht besser in ihre einzelnen Momente auflösen und dadurch auch gleichsam organischer zusammenführen (vermischen) als die einfache Einbildungskraft. Ist die Differenz beider Vermögen in ihren Produkten qualitativ (zusammengesetzte versus einfache Vorstellungen), so ist sie es im Hinblick auf ihre ursächlichen Vermögensmomente nur quantitativ. Tetens bedient sich zur Erläuterung seiner Überlegungen eines Beispiels, und zwar desjenigen des Pegasus in seiner Funktion als Motiv der bildenden Kunst: Die Flügel des Pegasus mögen in dem Kopf des ersten Dichters, der dieß Bild hervorbrachte, ein reines Phantasma gewesen seyn; und die Vorstellung von dem Pferde gleichfalls. Aber da ist eine Stelle in dem Bilde an den Schultern des Pferdes, etwas dunkler, als die übrigen, wo die Flügel an dem Körper angesetzet sind; da fließen die Bilder von des Pferdes Schultern und von den Wurzeln der Flügel in einander; da ist also ein selbstgemachter Schein, der sich verlieret, wenn man das Bild vom Pferde und das Bild von den Flügeln deutlich von einander wieder abtrennet. Verbindet man blos diese beyden Bilder, so hat man die Flügel dicht an den Schultern des Pferdes angesetzet; aber dann erscheinen sie nicht so, wie vorher in der verwirrten Fiktion, nicht so, als wenn sie daran gewachsen sind; es ist kein in eins fortgehendes Ganze mehr da, wie es in der lebhaften Dichtung war, wo die beyden Bilder an ihren Gränzen mit einander vermischt und gleichsam in einander hineingesetzet waren, wovon ihre Vereinigung zu Einem Ganzen, und die Einheit in der Fiktion abhieng. Ist hier also nicht mehr als ein Aneinanderlegen zweyer Einbildungen?75

Als gelungene Umsetzung dieser Fiktion ist also erst jene zu bezeichnen und damit als Produkt der Dichtkraft zu verstehen, die die beiden Vorstellungen ›Pferd‹ und ›Flügel‹ nicht willkürlich 73 74

75

Ebd., S. 119 (1. XV. 3.). Vgl. hierzu auch Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 31973, S. 427ff. sowie demnächst Gideon Stiening: Die Philosophie des Sturm und Drang. In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Handbuch Sturm und Drang. Berlin 2015 [i.D.]. PV I, S. 118 (1. XV. 2.).

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zusammenfügt, gleichsam äußerlich und auch noch an der falschen Stelle verknüpft, sondern nur jene, die an den entsprechenden Muskelpartien der Schulter jene Flügel anbringt, sie aus diesen gleichsam hervorgehen lässt, was sich an dem Schattenspiel jener Muskulatur abzeichnen können soll. Das ist für uns Heutige vielleicht kein gelungenes Beispiel mehr, weil es der bildenden Kunst subkutan normative Vorgaben macht, die nur schwer zu begründen sind. Dennoch ist deutlich erkennbar, was Tetens mit der – von der Phantasie als einfacher und willkürlicher Zusammenstellung ursprünglicher Vorstellungen unterschiedenen – Dichtkraft meint: Sie fügt die vorgegebenen Momente der ursprünglichen Vorstellungen organischer zu einem neuen Einfachen zusammen, gerade weil sie die ursprünglichen Vorstellungen intensiver zerlegt, d.h. analysiert und bei der Synthesis mehrerer Vorstellungen auch Momente von diesen Beispielen wegzulassen versteht. Dichtkraft besteht damit zum einem nur in einer intensitätsgesteigerten Phantasie: Kann meine Phantasie jetzo, da ich Beispiele zum Experimentiren suche, schon etwas ausrichten, und etwan die Helfte der ganzen Wirkung hervorbringen, so zweifele ich nicht, sie werde solche völlig zustande bringen, wenn sie mit ihrer ganzen Macht in einem Milton und Klopstock in der Stunde der Begeisterung arbeitet. Alsdenn drängen sich Empfindungen und Ideen so ineinander und vereinigen sich zu neuen Verbindungen, daß man viel zu wenig sich vorstellet, wenn man die Bilder, die von diesen Poeten in ihrer lebendigen Dichtersprache ausgehauchet sind, für nichts anders als für eine aufgehäufte Menge von neben einander liegenden oder schnell auf einander folgenden einfachen Empfindungsideen ansieht.76

Damit wird ersichtlich, dass sich Dichtkraft zum anderen grundlegend von der Phantasie unterscheidet, weil sie substanziell neue Produkte hervorbringt, die mehr und anderes sind, als Zusammensetzungen aus vorgegebenen einfachen Vorstellungen. Für Tetens stehen reproduktive Phantasie und produktive Dichtkraft also in einem doppelten Verhältnis, d.h. in einer Kombination aus substanziellen und graduellen Differenzen. In ihrer Analysekompetenz ist die Dichtkraft schlicht gesteigerte Phantasie, in ihren Produkten jedoch »schöpferische Kraft«77 – nicht Schöpfungskraft – neuer einfacher Vorstellungen. Mit dieser komplexen Korrelation von Phantasie und Dichtkraft hat Tetens zugleich ein nicht unerhebliches Problem der Poetik seit Platon empirisch-psychologisch gebannt: Der Enthusiasmus der Dichter, den auch die Junggenies der 1770er Jahre wieder als unverfügbares, genialisches, durchaus religiöses Vermögen für sich in Anspruch nahmen,78 ist schlicht, aber präzise bestimmt als eine in ihrer Analysis- und Synthesisleistung intensivierte Phantasie. Und diese nüchterne, gleichsam depotenzierende Erklärung des genialischen Enthusiasmus ist nicht nur kohärent im Rahmen einer empirischen Vermögenspsychologie entwickelt, sie ermöglicht auch dessen Vermittlung mit den rationalen Vermögen, die Tetens erkennbar für jeden tatsächlichen Prozess von Dichtung für erforderlich hält. Es werden nämlich nicht allein Empfindungen, mithin einfache Vorstellung, organisch verbunden, sondern diese mit Ideen vermittelt, die – wie schon zitiert – als »Vorstellungen mit Bewußtsein« definiert worden waren, was eine Verbindung zum planvollen rationalen Vermögen erforderlich macht. Wenn Herder also schon 76 77 78

Ebd., S. 125 (1. XV. 3.). Ebd., S. 115 (1. XV. 1.). Vgl. hierzu Luserke: Sturm und Drang (s. Anm. 14), S. 66–80.

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1773 meinte feststellen zu müssen, dass »aber Genie bekanntermaßen mehr ist, als Philosophie, und Schöpfer ein ander Ding, als Zergliederer«,79 dann antwortet Tetens ihm in diesem Kapitel zur Dichtkunst, dass dieser genialische Schöpfer durchaus und in erheblichen Maße mit den Vermögen des Verstandes und der Vernunft begabt sein muss, gerade um in der Lage zu sein, »alles Originelle in unseren Vorstellung«,80 das nach Tetens allein von der Dichtkraft ausgeht, hervorzubringen. Dass sich Dichtkunst bei Tetens schlicht durch eine größere Quantität an Analysemacht vom Gedächtnis unterscheidet, zeigt erst recht einen grundlegenden Unterschied dieser Aufklärungspsychologie des Genies von den Theorien zum ›Originalgenie‹ des Sturm und Drang.81 Tetens wählt noch ein weiteres Beispiel, um die spezifische Wirkmacht der Dichtkraft zu exemplifizieren und damit deren Geltungsumfang – bei aller noch zu betrachtenden Grenzziehung – erneut erheblich auszuweiten. Denn unabdingbar ist die eigenständige Leistung der produktiven Einbildungskraft bei der Konstitution »sinnliche[r] Abstrakta oder allgemeine[r] sinnliche[r] Vorstellungen«.82 Den Prozess dieser Konstitution beschreibt Tetens wie folgt: In mehreren unterschiedenen Empfindungen ist etwas ä h n l i c h e s, gemeinschaftliches, einerley und dasselbige. Dieß ähnliche drückt sich stärker ab und tiefer ein, da es mehrmalen wiederkommt. Dadurch wird ein solcher Zug mehr bemerkbar, und also auch da bemerkbar, wo es die übrigen noch nicht sind.83

Weil aber die Gleichartigkeit dieser Empfindungen deren gegebene Verschiedenartigkeit »überwindet, und sie »sich in Eine« »vereinigen«, ergeben sich in der erkennenden Seele eigenständige einzelne Vorstellungen etwa von einem Baum oder von einem Dreieck. Tetens formuliert aus diesen Beobachtungen eine eigene Regel der Konstitution sinnlicher Abstrakta: Das erste, was sich hiebey am deutlichsten bemerken läßt, ist dieses: »Aehnliche Eindrücke, Vorstellungen und Bilder fallen in Eine Vorstellung zusammen, die aus ihnen bestehet, und diese wird eine mehr abgezeichnete und sich ausnehmende Vorstellung«.84

Weil diese Vorstellungen sinnlicher Allgemeinheiten jedoch gegenüber den ihnen zugrunde liegenden besonderen Wahrnehmungen substanziell eigenständige, d.h. neue Vorstellungen sind, muss von einer Beteiligung der Dichtkraft ausgegangen werden, die allererst in der Lage ist, jene für neue Vorstellungen erforderliche Synthesisleistung zu erbringen: Daraus folget – denn was von der allgemeinen Vorstellung der grünen Farbe wahr ist, das gilt, wie man leicht siehet, von einer jeden andern Empfindungsvorstellung – daß d i e a l l g e m e i n e n B i l d e r u r s p r ü n g l i c h w a h r e G e s c h ö p f e d e r D i c h t k r a f t s i n d, und aus einer Vereinigung mehrerer 79 80 81

82 83 84

Johann Gottfried Herder: Shakespear. In: ders.: Werke. 3 Bde. Hg. von Wolfgang Proß. Darmstadt 1984–2002, Bd. 1, S. 526–547, hier S. 535. PV I, S. 138 (1. XV. 8.). Es wird auf diese Unterschiede nur deshalb so deutlich hingewiesen, weil es in der gemanistischen Literaturforschung üblich geworden ist, den Sturm und Drang als Erscheinungsform der Aufklärung zu interpretieren; neben vielen anderen Beispielen zeigen allein die intensiven Debatten über das Genie, die die empirische Psychologie der Spätaufklärung führte, dass das zum Dogma geronnen Theorem von der »Dynamisierung und Binnenkritik der Aufklärung« (Luserke: Sturm und Drang [s. Anm. 14], S. 15ff.) durch den Sturm und Drang überprüft werden sollte. PV I, S. 129 (1. XV. 6.). Ebd., S. 130 (1. XV. 6.). Ebd., S. 131 (1. XV. 6.).

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Eindrücke bestehen, die einzeln genommen nicht vollkommen das sind, was das allgemeine Bild ist. Sie sind also selbst gemachte einfache Vorstellungen.85

Damit aber nimmt die Dichtkraft oder produktive Einbildungskraft nicht nur eine konstitutive Rolle bei der Erstellung der genuin neuen Vorstellungsprodukte des künstlerischen und anderweitiger Genies – wie viele seiner Zeitgenossen war Tetens davon überzeugt, dass sich ›Genie‹ auch in der Wissenschaft oder in der politischen Praxis realisieren könne86 –; vielmehr übernimmt die Dichtkraft auch in den gewöhnlicheren Erkenntnisprozessen eine ebenso eigenständige wie notwendige Funktion: Die h ö h e r n V e r n u n f t k e n n t n i s s e erfodern a l l g e m e i n e Urtheile, und diese setzen a l l g e m e i n e B e g r i f f e voraus. Was aber diese letztern betrift, so darf ich hier nicht wiederholen, was ich anderswo zur Erklärung ihres Entstehens in uns gesagt habe. Ihr Stoff lag in den Empfindungen. Diesen bearbeitete die Einbildungskraft und die Dichtkraft zu allgemeinen Bildern, welche denn durch die Denkkraft auf die nämliche Art, wie die sinnlichsten Bilder verglichen und unterschieden werden.87

Wenn Kant meinte, dass seine Theorie der Einbildungskraft neu sei, weil sie »ein notwendiges Ingrediens der Wahrnehmung selbst sei«,88 dann trifft das für die einfache Wahrnehmung durchaus zu; gleichwohl hatte schon Tetens erkannt, dass der produktiven Einbildungskraft selbst für gewöhnliche – d.h. nicht-genialische – Erkenntnisprozesse eine notwendige (Synthesis-)Funktion zukommt. Denn die durch die Arbeit der Dichtkraft entstehenden sinnlichen Abstrakta sind unabdingbare Übergänge der Sinnlichkeit zum Vermögen des Denkens: Die allgemeinen sinnlichen Vorstellungen sind noch nicht allgemeine I d e e n, noch keine Begriffe der Denkkraft und des Verstandes. Aber sie sind die Materie und der Stoff dazu, darum ist es so wichtig, jene zu untersuchen, wenn man diese kennen lernen will.89

Es gehört aber offenbar schon für Tetens zu seinem kritischen Geschäft, neben den Möglichkeiten auch die Grenzen dieser Dichtkraft aufzuzeigen. Diese Argumentation, die schon früh im Abschnitt über die Dichtkraft geführt wird, leitet auf eine der Grundfragen jeder Auseinandersetzung mit Tetens’ Philosophie: Nachdem er das Gesetz der Dichtkraft und die Regeln der Fiktion ausgeführt hat und noch bevor er zur Formulierung dreier Wirkungsgesetze der Dichtkraft übergehen kann, hält der Autor fest: Es gibt indessen eine Gränze, über die hinaus die mächtigste Dichtkraft unvermögend ist, diese Vereinigung von Empfindungsvorstellungen zu bewerkstelligen. Wenn die Empfindung, deren Phantasmate zu einer Fiktion vermischt sind, selbst in der Empfindung zu Einer neuen einfachen Empfindung vermischt sind, und dann davon ein Phantasma genommen wird, so ist dieß letztere lebhafter und fester, als die selbstgemachte Fiktion hat seyn können. Hier ist die Grenzlinie. »Die Dichtkraft kann keine einfache neue Scheine hervorbringen, die so voll und lebhaft sind, als die Wiedervorstellung von vermischten Empfindungen«.90

85 86

87 88 89 90

Ebd., S. 132 (1. XV. 6.). Vgl. hierzu ebd., S. 107 sowie Jacob Friedrich Abel: Rede über das Genie. Werden grosse Geister geboren oder erzogen und welches sind die Merkmale derselbigen? Stuttgart 1776 [ND hg. von Walter Müller-Seidel. Marbach 1955], S. 16. PV I, S. 460 (6. II. 1.). KrV A 120, Anm. PV I, S. 136 (1. XV. 7.). Ebd., S. 126 (1. XV. 4.); Hvhb. von mir.

Phantasie und Dichtungskraft bei Tetens

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Jede ursprüngliche Empfindung – und sei ihr veranlassender Gegenstand eine Fiktion der Dichtkraft – ist stärker, lebhafter, mithin intensiver als jene der Dichtkraft selber. Letztere bleibt von ursprünglichen Empfindungen abgeleitet und muss deren Intensität verpassen, denn sie bleibt abkünftig. Darüber hinaus bedeutet diese Grenze auch eine Grenze der Analyse- und Synthesisleistung der Dichtkraft selbst: Sie kann nicht jede mögliche Vorstellung auflösen und neu vermischen: »Die Kraft der Seele reicht nicht hin, die sinnliche Vorstellung von dem weißen Licht in die sinnlichen Vorstellungen von den prismatischen Farben zu zerlegen; und der einfache Schein von dem Grünen lässet sich in die einfachen Scheine von dem Gelben und von dem Blauen in dem Kopf nicht auseinander setzen«.91 So bleibt es für sinnliche Vermögen grundsätzlich unmöglich, die sinnlichen Vorstellungen des Körpers bis in dessen einfachste, erste Elemente zu zerlegen: Nach Tetens kommt man selbst in der bedeutendsten Dichtkraft eines Milton oder Klopstock nicht dazu, sinnliche Vorstellungen in ihre begrifflich einfachsten Momente zu zerlegen; Sinnlichkeit und Verstand bleiben – bei allem prätendierten Empirismus – für Tetens deutlich getrennte Vermögen, deren Leistungsfähigkeiten unterschiedlich bleiben.92 Auch für Tetens gibt es also untere und obere Erkenntnisvermögen; und dafür gibt es Gründe: Die Philosophen haben eine Wahrheit gesagt, wenn sie behauptet, es sey unmöglich, aus der metaphysischen Monadologie die Phänomene der Körperwelt zu erklären. Eine von den Ursachen davon lieget in der angeführten Regel der Fiktion. Zwischen dem S i n n l i c h e n und dem T r a n s c e n d e n t e n , zwischen Metaphysik und Physik, und ebenso zwischen Metaphysik und Psychologie ist eine Kluft, über welche gar nicht wegzukommen ist.93

Aufgrund dieser unüberwindlichen Kluft zwischen Metaphysik und Physik ist es Aufgabe der Wissenschaft, deren Gegenstände so zu vermitteln, dass zu einer kohärenten Konzeption der Vermittlung von Sinnlichkeit und Vernunft zu kommen ist. Indem Tetens die der Sinnlichkeit zuzuordnende Vorstellungskraft in ihren drei Erscheinungsformen so zu denken suchte, dass sie dem der Seite der Vernunft zuzuschreibenden Verstand gleichsam sich entgegen entwickelte, hoffte er einen Beitrag zur Lösung dieses Grundproblems der europäischen Philosophie zwischen Leibniz und Kant geleistet zu haben. Nachzuweisen blieb allerdings noch die Identität aller drei Formen der Vorstellung unter der Voraussetzung ihrer durchaus qualitativen Differenz.

91 92

93

Ebd., S. 127 (1. XV. 5.). Vgl. hierzu auch ebd., S. 427 (6. I. 1.): »Jedwede Erkenntniß ist als Erkenntniß ein Werk der D e n k k r a f t. Aber wir haben s i n n l i c h e Erkenntnisse, und wir haben v e r n ü n f t i g e. Das gemeine Gefühl empfindet diesen Unterschied. Bey jener wirket die Denkkraft das wenigste; bey dieser das meiste. Da sind also zwey von einander abstehende Seiten der Erkenntnißkraft.« Ebd., S. 128 (1. XV. 5.).

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4. Identität und Differenz: Zur »Einartigkeit« und »Verschiedenartigkeit« der Vorstellungskraft Tetens hatte ab dem 13. Kapitel des Ersten Versuches sehr deutlich auf die Unterschiede der drei verschiedenen Formen der Vorstellungskraft abgehoben: Die Perzeption war als weitgehend rezeptives Vermögen an äußere Verursachung gebunden worden, während die einfache Phantasie schon nahezu ausschließlich durch innere Ursachen bedingt zugleich an das durch die Perzeption geliefert Material einfacher Vorstellungen geknüpft worden war; die Dichtkunst hatte zwar auch die Vorgaben der perzipierten Vorstellungen zu berücksichtigen, konnte diese aber derart intensiv analysieren, dass in der wiedervorstellenden Zusammensetzung genuin neue einfache Vorstellungen entstanden. Dieses ausdifferenzierte Modell des Vorstellungsvermögens drängte zum Abschluss dieses Versuches in der Tat zu der Frage: Ist denn das V e r m ö g e n z u p e r c i p i r e n, das ist, Vorstellungen von gegenwärtigen Objekten bey der Empfindung anzunehmen, mit dem zwoten Vermögen, diese Vorstellungen w i e d e r h e r v o r z u z i e h e n in der Abwesenheit der Gegenstände, und ist beydes mit dem dritten Vermögen, mit der Dichtkraft, einartig, und wie weit sind sie alle Ein und dasselbige Vermögen?94

Schon zu Beginn des letzten, des 16. Kapitel dieses Ersten Versuches hatte Tetens allerdings deutlich gemacht, dass die Frage nach der Identität unterschiedener Entitäten allererst auf der Grundlage angemessen definierter Begriffe beantwortet werden könne. Dabei sollten diese Begriffe »generische Begriffe« sein, weil diese allein Prozesse zu erfassen vermögen sollten, die »Gleichartigkeit und Verschiedenartigkeit« von Entitäten zu denken ermöglichten.95 Darüber hinaus erlaubten solcherart ›generische Begriffe‹ Tetens, das Grundprogramm empiristischer Epistemologie – das Betreiben von Erkenntnistheorie als Erkenntnisgenese 96 – zu erfüllen. Tetens entwickelt nun drei verschiedene Formen einer Einartigkeit, die als Prozess gradualisierende Verschiedenartigkeiten ermöglichen können soll, nämlich »Verwandlung«, »Entwickelung« und »Ähnlichkeit«.97 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob diese Begriffe für das Verhältnis der Vorstellungsarten dergestalt anzuwenden sind, dass sie deren Identität und Differenz durch Quantifizierung zu denken erlauben, oder: »Wie kann ein erhöhtes Percipiren in ein Reproduciren verändert werden?«98 Die entscheidende Voraussetzung für eine positive Antwort auf diese Frage besteht erkennbar darin, die Perzeption nicht ausschließlich als rezeptives Vermögen zu bestimmen, d.h. produktive Momente – und damit Spontaneität – an ihr zu entdecken, damit diese Qualität nicht allein den ›relativ höheren‹ Formen der Einbildungskraft zugeschrieben werden muss.99 An dieser Stelle wird ersichtlich, welche bedeutende Funktion 94 95 96 97

98 99

Ebd., S. 154 (1. XVI. 4. ). Ebd., S. 143f. (1. XVI. 2.). Vgl. hierzu u.a. Cassirer: Aufklärung (s. Anm. 73), S. 229 u. S. 232ff. PV I, S. 152ff. (1. XVI. 3.); besonders überraschen muss hier der Begriff der Ähnlichkeit, hatte Tetens diesen doch im Zusammenhang seiner Kritik an den Variante zeitgenössischer Assoziationstheorie als unterbestimmt verworfen. Hier aber in dem Versuch die qualitative Differenz zwischen Wahrnehmung und Einbildungskraft zu quantifizieren, scheint dessen Unschärfe willkommen. PV I, S. 155 (1. XVI. 4.); Hvhb. von mir. Vgl. hierzu auch Corey W. Dyck: The Reception of Spontaneity: Crusius, Tetens, and Kant on the Spontaneity of the Mind. In: PhilPapers [online-resource: http://philpapers.org/archive/DYCTRO.pdf], spez. S. 10ff.

Phantasie und Dichtungskraft bei Tetens

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die von Tetens inaugurierte Theorie des Nachempfindens für die Kohärenz seiner gesamten Theorie der Vorstellung hat, wenigstens aber für sein Ansinnen einer kohärenten Konzeption der Einheit des erkennenden Subjekts: Da treffen wir aber auch, wie ich meine, bald auf den rechten Punkt. Die menschliche Seele ist fähig nachzuempfinden, und von diesen Nachempfindungen bestimmte und bleibende Spuren in sich aufzunehmen. Hiezu besitzet sie ein positives, reelles und absolutes Vermögen, und dieß Vermögen ist ein wirksames Vermögen. Es ist nicht blos Receptivität; es ist schon s e l b s t t h ä t i g und m i t w i r k e n d alsdenn, wenn die äußere Ursache Eindrücke auf die Seele hervorbringet. So etwas ähnliches ist auch die Elasticität in der Saite, welche nachzittert, und die Schwere in dem Perpendikul, der zu schwingen fortfähret. Aber noch mehr: Dieß Vermögen in der menschlichen Seele ist nicht von einer unveränderlichen Größe, sondern kann als ein s e l b s t t h ä t i g e s Vermögen erhöhet werden. D i e S e l b s t t h ä t i g k e i t i n i h m i s t d i e v e r ä n d e r l i c h e G r ö ß e.100

Damit ist Tetens zwar weit davon entfernt, den Verstand als den »Quell der Gesetze der Natur« zu bestimmen,101 gleichwohl hat er die Grenzen des humeschen perception-Begriffs, nach dem die Sinneswahrnehmung »als völlig passives Empfangsvermögen« zu bestimmen sei,102 überschritten. Diese Grenzen konnte er vor allem deshalb verlassen, weil er dem Nachempfinden, das mit dem ursprünglichen Empfinden eines Gegenstandes zugleich identisch und von ihm durch das Moment der Unabhängigkeit von der äußeren Ursache verschieden, d.h. hier relativ eigenständig ist, eine selbsttätige Seite zuschrieb.103 Diese Zuschreibung bleibt aber problematisch, weil die Abwesenheit von äußeren Ursachen nicht identisch ist mit einer eigengesetzlichen Selbsttätigkeit – was aber von Tetens unterstellt wird. Und das scheint auch eines der größeren Problemfelder der tetensschen Erkenntnistheorie zu bleiben: Spontaneität ist nicht stets und notwendig da anzunehmen, wo es an äußeren Ursachen mangelt! Gleichwohl ist dieses Moment relativer Selbständigkeit der Nachempfindung der Schlüssel zu Tetens’ Nachweisziel, dass nämlich alle Vorstellungsformen »Vermögen ein und derselben Kraft« sind.104 Es ist keineswegs die je besondere Befähigung, d.h. die spezifische Eigenschaft der einzelnen Vermögen, die durch Qualifizierung einen Übergang untereinander und damit eine substanzielle Identität ermöglicht; vielmehr ist es das Maß der allen drei Vorstellungsarten zugeschriebenen Spontaneität, die deren Einartigkeit und damit einen Übergang zwischen ihnen zu denken möglich macht. Tetens weist mit Nachdruck darauf hin, dass eine gute Beobachtungsgabe noch kein hervorragendes Gedächtnis hervorbringt, und dies vor allem deshalb, weil der Anteil an Selbsttätigkeit bei der wiederholenden Vergegenwärtigung des abwesenden Gegenstandes in der Erinnerung erheblich größer ist; gleiches gilt auch für die beiden Vermögen der Einbildungskraft: Die starke, feste und ausgedehnte Imagination des Ritters von Linné fasset eine unzählbare Menge klarer Empfindungsvorstellungen von körperlichen Gegenständen, und eine gleiche Menge gehörter und gelesener Töne; erhält solche in ihrer Deutlichkeit und reproduciret sie. Man vergleiche die starke 100 101 102 103 104

PV I, S. 155f. (1. XVI. 4.). So bekanntermaßen KrV A 126f. So zu Recht Heidrun Hesse: Eindrücke und Ideen. Die Funktion der Wahrnehmung. In: Jens Kuhlenkampff (Hg.): David Hume. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Berlin 1997, S. 37–52, hier S. 39. So auch Wolfgang Röd: Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau [Geschichte der Philosophie, Bd. VIII]. München 1984, S. 279–281, spez. S. 280. PV I, S. 160 (1. XVI. 5.).

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Seelenäußerung mit der Dichtkraft im Milton und Klopstock, die mit innerer Heftigkeit die Einbildungen bearbeitet, auflöset und vermischet, trennet und zusammenziehet, und neue Gestalten und Erscheinungen schaffet. […] Ein unermeßliches Gedächtniß kann ohne eine hervorragende Dichtkraft, und umgekehrt die letztere vorhanden seyn, ohne daß das Gedächtniß von vorzüglicher Größe sey.105

Erst die Erhöhung des Anteils der »Selbstthätigkeit« ermögliche einen Übergang von der Perzeption zur reproduktiven Phantasie und von dieser wiederum zur »selbstbildenden Dichtkraft«. Die entscheidende Voraussetzung dieser quantifizierenden Korrelation qualitativer Eigenschaftsdifferenzen ist die Zuschreibung einer – wenn auch ganz einfachen – Spontaneität zum Vermögen der dominant rezeptiven Perzeption; diese These, die zu einer letztlich ubiquitären Funktionalität der Spontaneität bei allen Vorstellungsvermögen führt, hält Tetens allerdings durch: Schon der allererste Eindruck des menschlichen Embryos trifft auf eine tätige Kraft im Prozess der Perception: »So verhält es sich auch bey der menschlichen Seele. Jeder Eindruck auf sie ist eine Impreßion auf eine perfektible selbstthätige Kraft«.106 ›Perfektibel‹ ist diese Kraft der Selbsttätigkeit in Bezug auf ihre zunehmende Bedeutung bei den je höheren Seelenvermögen; und sie allein bringt die aufeinander irreduziblen, qualitativen Unterschiede zwischen Perzeption, Phantasie und Dichtkraft hervor. Das »Feuer der Dichtkraft«,107 von dem auch Tetens zu sprechen weiß, ist damit zugleich unvergleichlich und als solches erklärbar.

105 106 107

Ebd., S. 159f. (1. XVI. 5.). Ebd., S. 164 (1. XVI. 7.). PV II, S. 433 (14. IV. 2.).

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»Wortforschen ist nicht Becanissen …«1 Tetens’ Sprachkritik und Philosophiereform

1. Einleitung Die große Attraktivität, die das Sprachursprungsproblem auf viele Philosophen des 18. Jahrhunderts ausübt, erwächst aus dessen immenser theologischer, anthropologischer, historischer und philosophischer Tragweite. Tetens, ein Exponent der analytisch verfahrenden Aufklärungsphilosophie im allgemeinen, der sprachanalytischen im besonderen,2 versucht wie viele andere Philosophen um die Mitte des 18. Jahrhunderts, den angelsächsischen Empirismus mit der Leibniz-Wolffschen Philosophie zu vereinen und die deutsche Schulphilosophie auf empiristischer Grundlage zu reformieren. Das zeigen nicht zuletzt auch seine Bemühungen zur empiristischen Grundlegung der Sprachphilosophie. Tetens’ sprachphilosophische Arbeiten, getragen von wissenschaftstheoretischen, linguistischen, psychologischen und erkenntniskritischen Interessen, setzen mit sprachkritischen Beiträgen ein, die, unter Zuhilfenahme etymologischer Untersuchungen, die philosophische Terminologie, insbesondere die der Ontologie, auf sichere Grundfesten stellen sollen. Im Zuge etymologischer Überlegungen berührt Tetens Fragen der Motiviertheit sprachlicher Zeichen und damit des Ursprungs menschlicher Sprachen. Einlässlich widmet er sich dem Problemkreis in seiner Abhandlung zum Sprachen- und Schriftursprung von 1772. Hier gelingt es ihm, die Zirkularität der dichotomisch verkürzten Sprachursprungsfrage durch die Hinzuziehung anthropologischer Aspekte zu durchbrechen und modallogisch konzis zu reformulieren. Im 11. 1

2

[Johann Nikolaus] T.[etens]: Über die Grundsätze und den Nutzen der Etymologie. In: Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten. 14tes Stück. Sonnabends, den 6ten April 1765, S. 53–56; 15tes Stück. Sonnabends, den 13ten April 1765, S. 57–60; 16tes Stück. Sonnabends, den 20ten April 1765, S. 61f. [ND in: Johann Nikolaus Tetens: Kleinere Schriften. In Zusammenarbeit mit Rüdiger Thiele und Robert Mößgen ausgewählt, eingeleitet und herausgegeben von Jürgen Engfer. Hildesheim, Zürich, New York 2005 [Johann Nikolaus Tetens: Die philosophischen Werke. 4 Bde. Hildesheim, Zürich, New York 1979–2005, Bd. III u. IV; im Folgenden KS, Band, Seitenzahl]; S. 257–260, 261–264, 265f.], hier KS 1, S. 53. Der niederländische Humanist Johannes Goropius Becanus (1519–1572) war berühmt-berüchtigt für seine abenteuerlichen ›etymologischen Ableitungen‹. Jürgen Engfer: Einleitung. In: KS 1, S. XV–XLI, hier S. XVIff. Vgl. auch Erich Heintel: Tetens als Sprachphilosoph. In: Johann Nicolaus Tetens. Sprachphilosophische Versuche. Mit einer Einleitung von Erich Heintel hg. von Heinrich Pfannkuch. Hamburg 1971, S. VII–XLVI.

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der Philosophischen Versuche bietet er eine anthropologisch-psychologische Aufklärung des Sprachenursprungsproblems, das zwischen der epistemischen Kontingenz und dem physikalischen Determinismus zu vermitteln sucht, womit er die Offenheit des Historischen zu wahren weiß. Geschichtsphilosophischen Entwürfen materialistischer, rationalistischer, idealistischer und theologischer Couleur setzt er die prinzipielle Kontingenz alles Historischen entgegen. Tetens’ sprachphilosophische und psychologisch-anthropologische Arbeiten weisen damit ein für die Philosophie jener Jahre typisches Gepräge auf. Dies gilt es im Folgenden zu zeigen. Den Anfang bildet die sachlich und chronologisch früheste akademische Abhandlung, die Einladungsschrift von 1760.

2. Ontologie und Sprachkritik In der Einladungsschrift zu seinen ersten akademischen Vorlesungen3 an der Bützower Universität fragt sich der soeben zum Doktor der Philosophie promovierte Johann Nikolaus Tetens: Woher kömt es, daß in der Metaphysik der ausgemachten Wahrheiten so wenige sind? Woher entstehen die Streitigkeiten über die ersten und wichtigsten Säze derselben? und warum herscht nicht in dieser Wissenschaft die Evidenz, die in der Mathematik angetroffen wird?4

Vor allem drei Ursachen meint er hierfür namhaft machen zu können: (1) die Vorurteile der Philosophen (subjektiv), (2) die Art der Wahrheiten in der Metaphysik (objektiv) und (3) die Art des Philosophierens selbst (methodisch).5 Abhilfe in methodischer Hinsicht verspreche allein die Befolgung der mathematischen Methode, die zu oft noch, vor allem in der Ontologie, vernachlässigt werde. Doch selbst wenn man die Methode mathematischer Demonstration auf das Genaueste befolge, werde man feststellen müssen, dass es um die Evidenz metaphysischer und mathematischer Wahrheiten unterschiedlich bestellt ist. Das liege vor allem daran, dass es in der Metaphysik weit schwieriger ist, deutliche Begriffe zu erlangen, zumal in der Ontologie, in der die »ersten und algemeinsten Grundsäze der menschlichen Erkenntniß« entwickelt werden und in der »die Begriffe weit reiner und deutlicher sein müssen, als in der Mathematik«.6 Hinzu komme, dass in der Metaphysik »weit mehrere Begriffe« festzusetzen sind als in der Mathematik.7 Ein dritter Aspekt, den es zu berücksichtigen gelte, ist der, dass es dem Mathematiker zu3

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Er kündigte in der prolusio zum Wintersemester 1760/61 Vorlesungen über Logik nach Christian Johann Anton Corvinus’ Institutiones philosophiae rationalis methodo scientifica conscriptae (1739 u. ö.) an; später beabsichtigte er statt nach Corvinus’ Institutiones nach Reimarus’ Vernunftlehre zu lesen. Darüber hinaus kündigte er Vorlesungen zur Metaphysik nach Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysica (21743, 31750), zum Naturrecht nach Joachim Georg Darjes’ Institutiones Iurisprudentiae Universalis (21745, [...], 71776), zur philosophischen Moral nach Darjes’ Ersten Gründen der philosophischen Sitten-Lehre auf Verlangen und zum Gebrauche seiner Zuhörer (21755, [...], 41782) und zur Naturlehre nach Johann Andreas Segners Einleitung in die Natur-Lehre (1746, 21754, 31770) an. Johann Nikolaus Tetens: Gedancken über einige Ursachen, warum in der Metaphysik nur wenige ausgemachte Wahrheiten sind. Bützow, Wismar 1760, S. 10 [ND in: KS 1, S. 9 – 68]. Ebd., S. 11. Ebd., S. 19. Ebd., S. 20.

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meist leichter falle, seine Begrifflichkeiten zu verdeutlichen, indem er »algemeine Begriffe, auch die von den Sinnen am entferntesten sind, durch Hülfe geschickter Zeichen der Einbildung als gegenwärtig« vorstellt.8 Dessen ungeachtet sei es keine »unnöthige Mückensäugerei«,9 sich der Deutlichkeit der Begriffe anzunehmen. Denn zumeist seien es verworrene und undeutliche Begriffe, die in der Metaphysik »Logomachien« entfesselten, »indem der eine mit diesen Worten eine andere Vorstellung verknüpft, als der andere«.10 Dem Umstand werde man nur mit Sprachkritik beikommen können. Im Rückgriff auf Lockes sprachphilosophische Programmatik skizziert Tetens Möglichkeiten, aber auch Grenzen, der metaphysischen Evidenz aufzuhelfen. So fordert er die Rückführung aller zusammengesetzten Begriffe auf einfache, wobei zwei Arten von einfachen Begriffen bzw. Ideen grundsätzlich zu unterscheiden seien: einerseits die ›einfachen Empfindungen‹, innere oder äußere, und andererseits durch Abstraktion gewonnene Ideen. Erstere seien bloß relativ einfach. Denn irgendwann einmal sei der Zeitpunkt gekommen, wenn selbst bei »genauer Beobachtung der Veränderung, die in uns vorgehet«, kein weiteres Merkmal mehr erkannt werden könne, das Phänomen als analysiert anzusehen, obgleich die Analyse noch nicht bis zu den letzten Elementen vorgedrungen ist. Bei solchen Erfahrungsbegriffen bleibe immer ein unanalysierbarer Rest, den »wir nicht anders als verworren und undeutlich uns vorstellen«. Denn es sind immer noch Empfindungen, wenn auch ›einfache Empfindungen‹, und als solche nicht in Gänze analysierbar.11 Ein weiteres Hindernis, die metaphysische der mathematischen Evidenz anzunähern, bildet der unterschiedliche Sprachgebrauch unter den Philosophen. Zwar seien diese gehalten, dem »Redegebrauch« zu folgen, »aber welchem?«: dem gemeinen oder dem gelehrten? Dem gemeinen könne man oft nicht folgen, weil dieser häufig der Vernunft zuwider sei, schreibt Tetens mit Hinweis auf Gottfried Profes Philosophische Gedanken von Sprachfehlern (1760), dem gelehrten ebenso wenig, weil hier nicht ausgemacht sei, welcher der richtige ist: »Welcher Philosoph soll das Muster sein, nach welchem wir die Bedeutung der Kunstwörter sezen wollen?«12 Und gesetzt auch, dass alle Philosophen darauf achteten, ihre Begriffsverwendungen hinreichend transparent zu machen, so würde man doch wieder und wieder Schwierigkeiten haben, Begriffsintensionen und -extensionen gehörig zu erfassen, denn: Die Natur unserer Sprache leidet es nicht, daß eine jede einfache Idee ihr besonderes Zeichen hätte, und daß diese Zeichen der einfachen Ideen in dem Zeichen eines zusammengesezten Begrifs so könten verknüpfet werden, daß aus demselben die einfachen Begriffen solten können erkant werden; da-

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Ebd., S. 21. »Dies ist die Ursache, warum ein Quadrat so leicht deutlich gedacht wird, da die Sinne und Einbildungskraft, dem Verstande zu Hülfe kommen. Weit schwerer ist es dem Verstande, in der Metaphysik den Begrif von der Substanz sich deutlich vorzustellen, weil diese Zeichen fehlen.« (Ebd.) Ebd. Ebd., S. 13 und S. 18. Vgl. auch ebd., S. 29ff. Ebd., S. 23f. »Will man die Streitigkeiten, welche hierüber [i. e. die ontologischen Begriffe] entstanden, entscheiden; so ist es am besten, daß man auf die Empfindungen zurück gehe, aus welchen der bestrittene Begrif entstanden ist, und genau beobachte, was man sich vorstellet, wenn man diese Idee in den Gegenständen gewahr wird.« (Ebd., S. 27.) Ebd., S. 34–39.

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Hans-Peter Nowitzki hero die Auflösung der Begriffe eines andern oft so schwer ist, daß man oft der wahren Meinung eines tiefsinnigen Weltweisen verfehlet.13

So viel versprechend Leibniz’ Konzeption einer auf einem calculus ratiocinator fußenden lingua universalis bzw. Charakteristik14 auch ist, bislang habe sich noch keiner gefunden, der sie ins Werk zu setzen vermochte, sehe man einmal von den Versuchen einiger Metaphysiker wie Johann Hinrich Tönnies15 und Christian August Crusius16 ab, die für den ontologischen Sprachgebrauch schon durchaus Beachtliches vorweisen könnten.17 Zumindest dem Sprachgebrauch in der Ontologie könne, so Tetens, durchaus die gleiche Exaktheit verschafft werden, wie sie der Geometrie eigen sei: Wir würden, wenn dieses geschähe, wenn alle Begriffe die gröste Deutlichkeit hätten; wenn jedes Wort seine bestimte und von allen angenommene Bedeutung hätte; wenn wir keinen Begrif zuliessen, dessen Möglichkeit nicht erwiesen; doch wenigstens die ersten Grundsäzen der menschlichen Erkentniß erweitern und so evident machen können, als die Lehrsäze der Geometrie.18

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Ebd., S. 41. – Die Überlegungen, wie eine ›allgemeine Sprache‹ beschaffen, ob sie künstlicher oder natürlicher Natur sein sollte, scheinen Tetens bewogen zu haben, sich unter anderem dem Problemkomplex ›Ursprache‹ mit ihren ›Wurzelwörtern‹ zuzuwenden, unter denen die »einfache Ideen« bezeichnenden »wesentlichen« bzw. »einfachen Zeichen« zu identifizieren und für den Aufbau einer solch »volständigen Sprache« heranzuziehen wären (ebd., S. 45f.). Es würde eine Sprache sein, »welche so bald würde verstanden werden, so bald man die wenige einfache Ideen, welche mit den primitiven Zeichen verbunden, und die Reguln, nach welchen die Zusammensezung geschähe, wüste« (ebd., S. 45). Griech. Χαρακτήρ, eigtl. das Eingegrabene, Eingeprägte; hier: das (Schrift-)Zeichen. – Diese Vorstellungen bestimmen noch 1784/85 Tetens’ Haltung gegenüber Klopstocks Orthographiereformen; vgl. Klopstocks Correspondenz mit Professor Tetens in Kiel, die deutsche Orthographie betreffend. In: Hamburg und Altona. Eine Zeitschrift zur Geschichte der Zeit, der Sitten und des Geschmaks 4 (1805), 1, S. 181–192 u. S. 257– 265, hier S. 183f. u. S. 188–191, insb., S. 190f. (KS 2, S. 433–444 u. S. 445–453). Johann Hinrich Tönnies: Tentamen academicum de logicae scientiae ad exemplar arithmetices instituenda ratione (Kiel, 20. Dezember 1752) sowie ders.: Grammatica universalis (Kiel, 24. Februar 1768; vgl. Johann Heinrich Lambert: Anlage zur Architectonic, oder Theorie des Einfachen und des Ersten in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß. Erster Band. Riga 1771, S. XX [Vorrede]). Vgl. dazu Max E. Eisenring: Johann Heinrich Lambert und die wissenschaftliche Philosophie der Gegenwart. Diss. Zürich 1941, S. 18f. u. S. 33f., sowie Lyik-Peir Luo u. Helmut Weiß: Art. Johann Heinrich Tönnies. In: Bio-bibliographisches Handbuch zur Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts. Die Grammatiker, Lexikographen und Sprachtheoretiker des deutschsprachigen Raums mit Beschreibungen ihrer Werke. Hg. von Herbert E. Brekle, Edeltraud Dobnig-Jülich, Hans Jürgen Höller u. a. Tübingen 2005, Bd. VIII: Schu–Z, S. 226–228. Christian August Crusius: Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegen gesetzet werden. Leipzig 1745, S. 925f. (§. 471); zum Verhältnis Crusius und Tetens vgl. Wilhelm Uebele: Johann Nicolaus Tetens nach seiner Gesamtentwicklung betrachtet mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zu Kant. Unter Benützung bisher unbekannt gebliebener Quellen. Berlin 1912, S. 33–36. Tetens: Gedancken über einige Ursachen (s. Anm. 4), S. 42–49. Ebd., S. 58.

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3. Etymologie und die ›Geschichtlichkeit des Denkens‹ Tetens akademische Einladungsschrift vom Oktober 1760 lässt bereits erkennen, dass und woran sich sein Interesse für sprachliche Probleme entzündete. Sein erkenntnistheoretischer und sprachkritischer Ansatz ist offensichtlich. In den beiden etymologischen Arbeiten aus den 1760er Jahren kommt er u. a. auf Fragen der Benennungsmotivationen und ihre Rubrizierung zu sprechen, und damit zugleich auch auf Aspekte des Sprachursprungs: Denn das »Wortforschen [...] leitet [...] uns in der Geschichte, und ist fast allein unsere Fackel, wenn wir in den entferntesten und dunkelsten Gegenden derselben den ersten Ursprung und die Verwandschaft der Nationen, die Entstehung und die Kindheit der menschlichen Sprachen, und Erkenntnise aufsuchen«.19 Die etymologischen Arbeiten nehmen zudem Problemlagen der akademischen Erstlingsschrift auf,20 um dann gleichsam in die Sprachenursprungsschrift von 1772 und in das Hauptwerk, die Psychologischen Versuche von 1777, einzumünden. Tetens ist bestrebt, der Etymologie eine ›Vernunftlehre‹ »und sichere allgemeine aus der Natur der Sache hergenommene Vorschriften«21 zu geben und seine Erkenntnistheorie22 mithilfe 19

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Tetens: Über die Grundsätze und den Nutzen der Etymologie (s. Anm. 1), S. 53. Auf den natürlichen, durch Triebe und Bedürfnisse bewirkten polygenetischen Sprachenursprung kommt er in den in vielem Profes Arbeit (s. Anm. 35) verpflichteten §§ 4–10 zu sprechen (ebd., S. 55–59). Zur natürlichen Bedeutung der Buchstaben vgl. § 5 (ebd., S. 56), zum »Hauptton der Sylbe oder des Worts« als dem so genannten »Radicalton«, der nicht mit dem Buchstaben schlechthin verwechselt werden darf und Grundlage der »natürliche[n] Abbildung der Sache« ist (ebd.). Die Unterschiedlichkeit der Sprachen resultiere aus den unterschiedlichen Klimaten, in denen sie gesprochen werden (ebd., §§ 6–10, S. 56– 58). Dort etwa, wo es um die Rückführung komplexer Wörter bzw. Ideen geht. Der Etymologie obliege es, »die Verwandtschaft und das Geschlechtsregister der Wörter in der Sprache« aufzusuchen: »Wenn ein Wort, nebst der Sache, die es anzeiget, gegeben ist, [hat man] zu finden, zu welchem Zweige von Wörtern es gehöre, und wenn man diesen bestimmet, den entfernten Stamm zu finden, und aus diesen die Wurzel, woraus es gesprossen. In Hinsicht der zusammengesetzten Wörter ist es nöthig die einfachen zu finden, woraus es bestehet; da denn diese einfache, als die Elemente angesehen werden, ausser welchen man gemeiniglich nichts weiter verlanget. Die Hauptsache dabey ist diese, daß ebenderselbe Stammbaum, der es vor die Wörter ist als äusserliche Zeichen, oder als Töne betrachtet, es auch sey in Hinsicht ihrer Bedeutungen: wie die Töne von den Tönen, so sollen die Ideen, die ihnen zukommen, von einander abhangen, und aus einander fliessen.« Ziel müsse sein, »zu den ersten Elementen der Sprache und zu den natürlichen Tönen, die der Keim aller Wörter sind, ziemlich weit hinauf[zu]kommen« (ebd., § 3, S. 54). Allgemein dazu Mechthild Böhm: Etymologie als Problem. Ein Beitrag zur Klärung des Verhältnisses von Philosophie und Etymologie unter Berücksichtigung von J. N. Tetens (1736– 1807). Diss. phil. Würzburg 1976. Tetens: Über die Grundsätze und den Nutzen der Etymologie (s. Anm. 1), S. 54. Vgl. [Johann Nikolaus] T.[etens]: Von der Verschiedenheit der Menschen nach ihren Haupt-Neigungen. In: Mecklenburgische Nachrichten, Fragen und Anzeigen. Anno 1762. 36tes Stück. Sonnabend, den 23. October, S. 305–308; 37tes Stück. Sonnabend, den 30. October, S. 318f.; 38tes Stück. Sonnabend, den 6. November, S. 325–327; 39tes Stück. Sonnabend, den 13. November, S. 337–339. Fortsetzung und Beschluß der im 39sten Stücke der Anzeigen voriges Jahrs abgebrochenen Abhandlung von der Verschiedenheit der Menschen nach ihren Hauptneigungen. In: Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten. 23tes Stück. Sonnabends, den 4ten Junii 1763, S. 91f.; 24tes Stück. Sonnabends, den 11ten Junii 1763, S. 93–95 (KS 1, S. 223–239), hier S. 326: »Sezt man die Gedanken in einer eingeschrenkten Bedeutung den Empfindungen entgegen, so sind sie doch nichts als getrennte, verknüpfte, mit einem Wort bearbeitete innere oder äussere Sensationen.«

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der Etymologie empirisch zu untermauern. Dabei ist der Stellenwert der Etymologie untrennbar mit der Beantwortung der Frage verknüpft, ob ›Sprache‹ arbiträren (willkürlichkonventionellen) oder natürlichen Ursprungs ist. Im zweiten Fall nämlich, der eine »Analogie zwischen den Tönen und ihren Bedeutungen, die [...] wie jene von einem Grundton, [...] von einigen Grund-Ideen abhangen«, voraussetzt, böte die Etymologie einen exklusiven Zugang zur »natürlichen Characteristik«, die die »ursprüngliche Ordnung« abbilde.23 Der »natürliche Weg zur Sprache«, den alle Nationen, die »auf einmal den Gebrauch ihrer Zunge mit dem Gebrauch der Vernunft erhalten« haben, gegangen sind, habe seinen Anfang mit der Bezeichnung derjenigen Empfindungen und Gegenstände genommen, die die Sinne am meisten und häufigsten gereizt und zur Bedürfnisbefriedigung beigetragen haben. Onomatopoetische, gegenstandsdarstellende und interjektionale, empfindungsausdrückende Töne, die mit den Gegenständen und Empfindungen »in einer natürlichen Verbindung« stehen, bilden den »erste[n] Grundstoff der Sprache«.24 Wachsende Erkenntnis und sich mehrende Bedürfnisse beförderten den Ausbau der Sprache, indem gleiche oder ähnliche Eigenschaften mit gleichen oder ähnlichen Tönen bezeichnet wurden. Auch das Deutsche, das wie das Griechische und Lateinische aus dem Keltischen hervorgegangen und älter sei als die so genannte Babylonische Sprachverwirrung, habe sich auf diese Weise entwickelt. Mit Leibniz und anderen Etymologen ist sich Tetens einig, dass man in den Buchstaben ihre ›natürliche Bedeutung‹ auffinden könne.25 Derlei »Primitiv- oder Anfangszeichen« belegten, dass die Sprache nur in den seltensten Fällen arbiträren Charakters ist: So will R eine heftige; W oder V eine gelinde Bewegung; L eine langsamere; H etwas Hohes; K. [G]. T[.] D. etwas, das nicht gerade, sondern gekrümt ist, etwas gewaltsames; N einen niedrigen Gegenstand, Qv. und dv. einen gezerreten, gedreheten; O und U. eine dunkle, oder wie ich glaube, eine unangenehme Sache überhaupt vorstellen; a, e, i aber ein Zeichen des Lichts, oder eines hellen Gegenstandes seyn, welches ich lieber auf das Angenehme überhaupt erweitern mögte.26

Doch sollte man als Etymologe nicht so sehr auf den Ton der einzelnen Buchstaben, sondern mehr auf den Hauptton, den so genannten »Radicalton«, der Silben oder Worte achten, da sich die Töne der einzelnen Buchstaben gegenseitig zu mildern oder zu verstärken pflegten. Diese ›einfachen natürlichen Töne‹, das ist zugleich der erste Grundsatz der Etymologie und der philosophischen Sprachlehre, sind die ersten und ältesten Worte gewesen. Sie sind bei allen Nationen »einerley«; allein das Klima sorgt dafür, dass die Völker auf verschiedene Art empfinden und sich auf unterschiedliche Weise ausdrücken.27 Insofern die ursprünglichen Worte bei allen Sprachvölkern die gleichen sind, haben die Tetensschen ›Radikaltöne‹ den Status von sprachlichen Transzendentalien.

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Tetens: Über die Grundsätze und den Nutzen der Etymologie (s. Anm. 1), S. 55 (§ 4). Ebd., S. 54 (§ 4). Ebd., S. 55f. (§ 5), u. S. 58 (§ 9). Vgl. Illvstris viri Godofr. Gvilielmi Leibnitii Collectanea etymologica, illvstrationi lingvarvm, veteris celticae, germanicae, gallicae, aliarvmqve inservientia. Cvm praefatione Jo. Georgii Eccardi, contenta seqvens pagina indicat. Hanoverae, Sumptibus Nicolai Foersteri. M DCC XVII. Pars II. Excerpta Meieriana, pp. 238–315. Tetens: Über die Grundsätze und den Nutzen der Etymologie (s. Anm. 1), S. 56 (§ 5). Ebd., S. 56 (§§. 5–6).

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Die etymologische Forschung vermag auf diese Weise über (a) die Beschaffenheit der Dinge28 Aufschluss zu geben und mit der Offenlegung der Benennungsgründe (b) Einblick in die Psychologie des sich eine Sprache bildenden Urmenschen, und zwar just zu dem Zeitpunkt, »als sein Verstand ohne Vorschrift und Kunst, sich selbst überlassen, sie [die Dinge seiner Vorstellungswelt] zu denken anfing«.29 Das impliziert die Absage an einen übernatürlichen, beispielsweise adamitischen und die Behauptung eines natürlichen Sprachursprungs.30 Auch an die in der akademischen Einladungsschrift von 1760 entwickelten Vorstellungen zur Sprachkritik knüpft er in seinen etymologischen Abhandlungen mit dem Vorschlag der Erarbeitung eines philosophischen Lexikons wieder an. Ein solches ›critisches philosophisches Lexicon der gemeinen Sprache‹, in dem nicht nur die eigentlichen, sondern auch die figürlichen, die engeren und weiteren Bedeutungen, »welche man den Wörtern im gemeinen Leben giebet«, gebucht und ihre etymologischen Ursprünge und Ableitungen angegeben würden, böte die Möglichkeit, falsche von wahren, in der Sprache gespeicherten Wissensbeständen zu unterscheiden. Zudem ließen sich mit einem solchen Allgemeinwörterbuch, das auf dem gemeinen Sprachgebrauch fußt, viele der die Philosophen beschäftigenden Wortstreitigkeiten beilegen. Konkret könnte das folgendermaßen geschehen: In der ›Philosophie der Sachen‹ würden die Gegenstände und Sachverhalte erforscht. Deckten sich die Ergebnisse mit den Erklärungen im Lexikon, so wüsste man, dass der (all)gemeine Sprachgebrauch zutreffend ist oder »nur ein bloßes Zeichen der Gegenstände überhaupt«,31 das ist ein Name, der nichts verrät über die Eigenschaften und Dinge des Bezeichneten. Das Lexikon enthielte dann gleichsam »ein ganzes Corpus der gemeinen, und einen grossen Theil der wahren Philosophie«, insofern letztere nichts ist »als der ausgebildete und entwickelte Mutterwitz«.32 Für die Philosophie bedeutete diese Art etymologisch fundierter Sprachkritik eine Versachlichung des Wissenschaftsdiskurses.33 Der mittelbare Zugewinn34 erwüchse dem Philosophen aus der Verbesserung und Erklärung der Sprache.

4. Der Ursprung der Sprachen und der Schrift Bereits sein akademischer Erstling von 1760 ließ Tetens’ besonderes Augenmerk für Arbeiten und Preisaufgaben der Berliner Akademie erkennen. Denn die von ihm dafür herangezogenen Philosophische Gedanken von Sprachfehlern (1760) Gottfried Profes entpuppen sich, näherhin besehen, als eine Bewerberschrift zu der von der Berliner Akademie für das Jahr 1759 ausgeschrie-

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[Johann Nikolaus] T.[etens]: Über den Nutzen der Etymologie. In: Gelehrte Beyträge zu den MecklenburgSchwerinschen Nachrichten. 35tes Stück. Sonnabends, den 30ten August 1766, S. 139f.; 36tes Stück. Sonnabends, den 6ten Septe[m]b. 1766, S. 141–144; 37tes Stück. Sonnabends, den 13ten Septemb. 1766, S. 145 (KS 1, S. 275f., S. 277–280 u. S. 281), hier S. 142. Ebd., S. 142. Ebd., S. 141. Ebd., S. 143. Ebd. – ›Mutterwiz‹ wird von Tetens im Sinne von ›gemeiner Menschenverstand‹ gebraucht; vgl. Tetens: Gedancken über einige Ursachen (s. Anm. 4), S. 16. Über den Nutzen der Etymologie (s. Anm. 28), S. 144.

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benen Preisfrage über den wechselseitigen Einfluss der Sprache auf die Meinungen und der Meinungen auf die Sprache,35 die Johann David Michaelis36 für sich entscheiden konnte. Michaelis war es bekanntlich auch, der der Akademie das Thema der Preisfrage für das Jahr 1771 nach dem Ursprung der Sprache nahe gelegt hatte, dem sich schließlich auch Tetens annahm. 1772 ließ Tetens in Bützow und Wismar seine fünf Oktavbogen starke Abhandlung unter dem Titel Über den Ursprung der Sprachen und der Schrift erscheinen. Bereits im Eingang nimmt er Bezug auf die Berliner Preisfrage. Uebele war sich seinerzeit noch unsicher, ob Tetens die Arbeit bei der Berliner Akademie eingereicht, diese sich möglicherweise sogar unter jenen befunden habe, denen man das Akzessit37 zuerkannte. Wahrscheinlich aber, mutmaßte Uebele, habe »er erst nachträglich das Wort ergriff[en]«.38 Erst Cordula Neis konnte in ihrer Dissertation, die sich mit den Berliner Archivalien zur Sprachursprungsfrage beschäftigt,39 überzeugend herausarbeiten, dass Tetens sich mit seiner Sprachenursprungsschrift in Berlin beworben hatte. Als 34 35 36

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Über den unmittelbaren Nutzen, den die Etymologie für die Philosophie zweifellos habe, verspricht Tetens dem Publikum spätere Rechenschaft. Bedauerlicherweise ließ er es beim Vorsatz bewenden. Gottfried Profens am Königl. Acad. Christianeo öffentlichen Lehrers Philosophische Gedanken von Sprachfehlern. Hamburg 1760, S. 6 u. S. 34. Johann David Michaelis: Dissertation qui a remporté le prix proposé par l’Académie Royale des Sciences et Belles Lettres de Prusse, sur l’influence réciproque du langage sur les opinions, et des opinions sur le langage, avec les pièces qui ont concouru. Berlin 1760 [ND 1974]. Vg. dazu Johann David Michaelis [...] Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt, mit Anmerkungen von Hassencamp. Nebst Bemerkungen über dessen litterarischen Character von Eichhorn, Schulz und dem Elogium von Heyne. Rinteln, Leipzig 1793, S. 57–59. Die von André Pierre Le Guay de Prémontval und Johann Bernhard Merian verdeutschte Fassung von Michaelis’ Preisschrift, Beantwortung der Frage von dem Einfluß der Meinungen in die Sprache und der Sprache in die Meinungen [...] welche den, von der königl. Academie der Wissenschaften für das Jahr 1759, gesetzten Preis erhalten hat (1760), zog Tetens später für seine sprachgeschichtlichen Studien heran, etwa für seinen Aufsatz Über den Nutzen der Etymologie (s. Anm. 28), S. 142. Lat. Accessit – ›er ist nahe gekommen‹, dem ersten nämlich, der das Vicit (lat.) – ›er hat es erreicht und wird gekrönt‹ zuerkannt bekam. Vgl. Uebele: Johann Nicolaus Tetens nach seiner Gesamtentwicklung betrachtet (s. Anm. 16), S. 15. Auf die Preisfrage gingen 30 Antworten ein. Im Aktenfaszikel wurden insgesamt 31 Manuskripte gezählt. Davon befinden sich derzeit noch 24 im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie (IM 663 bis 686), und zwar die Nummern 2, 3, 5 bis 8, 10 bis 14, 16 und 17, 19 bis 24, 26 und 27, 29 bis 31. Das Manuskript Nr. 18 hatte man versehentlich mit faszikuliert; es gehört jedoch nicht zu den Abhandlungen, die sich mit dem Sprachursprung beschäftigen. Nr. 29 (I-M 684) ist Herders Preisschrift. Nr. 1 hat Georg Christian Füchsel, Nr. 3 Etienne Mayet, Nr. 4 Tetens, Nr. 6 Francesco Soave, Nr. 14 den Abbé de Copineau, Nr. 15 Lorenz Philipp Gottfried Happach und Nr. 25 Johann David Michaelis zu Verfassern. Sechs der eingesandten Arbeiten, die Nummern 6, 7, 9, 13, 16, 27, haben das Accessit der Preisrichter zuerkannt bekommen, ein außergewöhnlicher Umstand angesichts der Tatsache, dass sich zumeist nur ein oder zwei Arbeiten dieser Wertschätzung erfreuen konnten. Zum Berliner Fundus vgl. Cordula Neis: Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache (1771). Berlin, New York 2003, S. 100–170. Einige der Arbeiten wurden von den Autoren publiziert: Anonymus [Georg Christian Füchsel]: Entwurf zu der ältesten Erd- und Menschengeschichte, nebst einem Versuch, den Ursprung der Sprache zu finden. Frankfurt, Leipzig, 1773; Francesco Soave: Ricerche intorno all’istituzione naturale d’una società, e d’una lingua e all’influenza dell’una, e dell’altra su le umane cognizioni. Milano 1772; Abbé de Copineau: Essai synthétique sur l’origine et la formation des langues. Paris 1774. Michaelis’ eigenhändiges Manuskript findet sich unter den Göttinger Handschriften unter der Sign. Cod. Michael. 72; am Ende des Manuskripts hat Michaelis hinzugesetzt: »Preisschrift vom Ursprung der Sprache, so ich am 12. Dec. 1770 an die Akademie zu Berlin gesandt habe« (zit. nach Neis: Anthropologie [s. Anm. 39], S. 508). Cod. Michael. 73 ist eine Abschrift fremder Hand.

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Herders Arbeit prämiert worden, Tetens’ Arbeit selbst das Accessit versagt geblieben war, bat er sich seine Abhandlung wohl wieder aus, um sie selbst zu veröffentlichen. Warum Tetens’ Studie keinen Beifall fand, bleibt offen. Die lakonisch referierende Beurteilung in den Mémoires pour le prix de la Classe spéculatives de 1771 jedenfalls lässt kaum Schlüsse zu. Sie lautet: »Bejahend. Es ist möglich, daß die Menschen die Sprache erfinden; dies muß aber nicht notwendig geschehen. Der Beweis der Möglichkeit reichte hin. Das Stück ist gut.«40 Anscheinend genügte der Jury das probabilistische Fazit nicht. Die seitens der Akademie mit nur mäßigem Beifall bedachte Studie hätte Tetens zufolge mehr Aufmerksamkeit verdient; jedenfalls glaubte er mit ihr einen ganz wesentlichen Beitrag zur zeitgenössischen Sprachenursprungsdiskussion geleistet zu haben. Nicht vielen seiner Schriften hat er eine über den Tag hinausgehende Bedeutung beigemessen; zu diesen zählt er seine Arbeit Über den Ursprung der Sprachen und Schrift (1772).41 Auch der Göttinger Philosoph Michael Hißmann hielt die Arbeit für wichtig und empfahl sie in seiner Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie (1778)42 neben fünf weiteren Arbeiten zum Thema. Und man wird Hißmann Recht geben dürfen, wie sich im Folgenden zeigt. Eingangs der Abhandlung widmet sich Tetens der Analyse folgender Fragestellung: »Ob Menschen, die ihren natürlichen Fähigkeiten allein überlassen wären, im Stande seyn würden, eine Sprache von selbst zu erfinden?«43 Er problematisiert sie schließlich hinsichtlich der ›natürlichen Fähigkeiten‹ und des ›sich allein Überlassenseins‹ und formuliert sie neu: Kan der Mensch, seinen natürlichen ihm angebornen Fähigkeiten allein überlassen, ohne Instruction, und ohne eine Sprache zu besitzen, von selbst einen Anfang in der Entwickelung seiner höhern Erkenntniskräfte, machen? Kan er von diesem Anfang weiter gehen, und nun auch eine Sprache erfinden? Oder kan er auf eine Sprache kommen ohne Vernunft, und alsdann durch jene auch diese an-

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»Affirmativ. Il est possible que les hommes inventent le langage; mais cela n’arrive pas nécessairement. La preuve de la possibilité suffisoit. La pièce est bonne.« (Zitiert nach Neis: Anthropologie [s. Anm. 39], S. 117.) Vgl. Lexikon der jetztlebenden Schleswig-Holsteinischen und Eutinischen Schriftsteller möglichst vollständig zusammengetragen von Berend Kordes Professor und Unterbibliothekar in Kiel. Schleswig 1797, S. 326: »Die meisten meiner Druckschriften, deren Verzeichniß ich mir selbst gemacht habe, im Fall ich einmal eine Revision darüber anstellen und mir selbst Rechenschaft davon ablegen würde, sind unbedeutend, und allenfalls wären nur die mit einem * bezeichneten insonderheit aufzuführen«; zur Sprachenursprungsschrift vgl. ebd., S. 328. Im § 53, »Ursprung der Sprache« überschrieben, verweist Hißmann auf die Arbeiten Süßmilchs (1766), Herders (1772), Tetens’ (1772), Tiedemanns (1772), Füchsels (1773) und Zobels (1773) (Michael Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie. Neue Auflage. Göttingen, Lemgo 1790 [11778], S. 114–116, hier S. 116. Anonymus [Johann Nikolaus Tetens]: Über den Ursprung der Sprachen und der Schrift. Bützow, Wismar 1772 (KS 1, S. 471–549), hier: S. 3. Vgl. dazu Wilhelm Uebele: Herder und Tetens. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 18 (1905), S. 216–249, sowie ders.: Johann Nicolaus Tetens nach seiner Gesamtentwicklung betrachtet (s. Anm. 14), S. 62–67. Gänzlich inhaltsleer Ernst Schwentner: Eine anscheinend unbekannte Schrift über den Ursprung der Sprache und Schrift. In: Annali. Istituto Universitario di Napoli. Sezione linguistica 3 (1961), S. 247–249. Die Berliner Preisfrage lautete: »En supposant les hommes abandonnés à leurs facultés naturelles, sont-ils en état d’inventer le langage? Et par quels moyens parviendront-ils d’eux-mêmes à cette invention?« Dt. »Haben die Menschen, ihrer Naturfähigkeit überlassen, sich Sprache erfinden können? Und auf welchem Wege wären sie am füglichsten dazu gelangt?«

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Hans-Peter Nowitzki bauen? Oder kan er beydes zugleich, Sprache und Vernunft in Verbindung mit einander, sich verschaffen?44

Die Zirkularität des Ursprungs von Sprache und Denken (A: Sprache ist so komplex, dass sie sich einer hoch entwickelten Vernunft verdankt; B: Vernunft bedarf einer hoch entwickelten Sprache) wird von Tetens durch die empiristische Annahme der Ableitbarkeit aller Verstandesoperationen aus inneren oder äußeren Empfindungen einerseits und der damit verbundenen wechselseitigen Abhängigkeit der sinnlichen Empfindungs- wie der Vernunftfähigkeit andererseits überwunden.45 Von Beginn an fragt sich Tetens, inwieweit die Umstände die natürlichen Fähigkeiten begünstigen oder beeinträchtigen. Es geht eben nicht nur darum, ob Sprache ohne Vernunft oder umgekehrt bildbar ist. Der Mensch muss als ein stets in spezifische Umstände eingebundenes Wesen aufgefasst werden. Reformuliert eröffnet die Sprachenursprungsfrage drei Alternativen: Lässt sich im Übergang vom Tierischen zum Menschlichen (a) ohne Instruktion und ohne Sprache Vernunftbildung und anschließend Sprachbildung, oder (b) ohne Instruktion und ohne Vernunft Sprachbildung, oder (c) ohne Instruktion Sprach- und zugleich Vernunftbildung annehmen? Beobachtungen belegten: Ohne menschliche Gesellschaft ist es dem Menschen schlichtweg unmöglich, das tierische Stadium zu überwinden. Und Versuche lehrten: Ohne menschliche Instruktion ist es dem Menschen auch in Gesellschaft von Artgenossen nicht vergönnt, ins vernünftige Stadium einzutreten. Wilde und unwissende Völker Südamerikas bestätigten dies. Sie bilden den einen Pol, Leibniz und Newton den anderen, zwischen denen die Möglichkeiten der Entwicklung des menschlichen Geschlechts variieren. Der Mensch zeigt sich in dieser Hinsicht als ein »ungemein beugsam[es]« Wesen, je nachdem, wie sich die äußeren Umstände jeweils ausnehmen. Eine rein essentialistische Betrachtungsweise ist demzufolge unangebracht, ist der Mensch doch zu keiner Zeit, und an keinem Orte, in einem blos natürlichen Zustande, (statu mere naturali,) vorhanden [...], das ist, nirgends und niemals kan die angeborne Natur dergestalt ganz allein wirksam seyn, daß nicht andere äussere Ursachen, von denen sie modificiret wird, in ihre Art zu wirken einen Einfluß haben und diese bestimmen sollten.46

Damit hat Tetens die beiden kommenden Untersuchungsschritte vorbereitet: Zunächst geht er der Frage nach, welche Fähigkeiten in welchem Grade dem Menschen natürlich sind. In einem zweiten Schritt fragt er, welche Entwicklungsmöglichkeiten sich den Fähigkeiten (1) »ohne alle Gesellschaft«, (2) »in Gesellschaft mit den Thieren« und (3) »in Gesellschaft mit seines Gleichen« eröffnen.47 Tetens rekurriert zur Bestimmung der ›natürlichen Fähigkeiten‹ auf den Menschen im Zustand glückender Selbsterhaltung. Danach ließen sich beim Menschen fünf ›natürliche Fähigkeiten‹ beobachten: (1) körperliche mechanische Instinkte, (2) das Vermögen, mit Gefühl Eindrü44 45 46 47

Tetens: Über den Ursprung der Sprachen und der Schrift (s. Anm. 43), S. 4. Ebd., S. 16f. Ebd., S. 8. Ebd., S. 18.

Tetens’ Sprachkritik und Philosophiereform

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cke äußerer Gegenstände aufzunehmen und diesen entsprechend zur Tätigkeit bestimmt zu werden, das sind Empfindlichkeit und Reizbarkeit, (3) das Gefühl eigener innerer Wirksamkeit, (4) das Nachahmungsvermögen und (5) das Dichtungsvermögen. Diese geben gleichsam die anthropologische Basis für die Ermittlung des natürlichen Sprachursprungs ab. Denn jene fünf Fähigkeiten haben die Menschen mit den Tieren prinzipiell gemeinsam, sie gehören zur »thierischen Natur des Menschen«.48 Sie sind die so genannten »niedern Fähigkeiten«. Der »Keim des vernünftigen Menschen« indes liege in dem »Vermögen der Vernunft« bzw. in der »Fähigkeit vernünftig zu werden« beschlossen. Dieses unterscheide den Menschen vom Tier: Das Thier hat eine Empfindung, eine Modification, oder ein Bild eines Gegenstandes in sich; der Mensch fasset eine Idee. Das Thier verbindet zwey Bilder oder zwo Empfindungen mit einander; der Mensch denket ein Urtheil; er denket die Verhältnisse der Dinge; nicht blos die ähnlichen Objecte; sondern ihre Ähnlichkeit. Bey dem Thier vereinigen sich zwar Empfindungen zu einer dritten, wie zwo Seitenbewegungen in einem Cörper zu einer dritten Diagonal-Bewegung: aber der Mensch folgert, und macht Schlüsse. Es fehlet den Wirkungen der thierischen Vorstellungskraft in allen ihren Vorstellungen dasjenige geistige und thätige, welches bey uns eine Folge der Vernunft ist.49

Dabei ist es gleichgültig, ob man tierische und menschliche Vorstellungskraft als wesentlich verschieden, wie Hermann Samuel Reimarus, oder nur graduell verschieden auffasst. Ausschlaggebend ist, dass eine »angeborne besonder[e] Disposition oder Stärke der menschlichen Denkkraft« und als solche eine natürliche Fähigkeit des Menschen Voraussetzung für Überlegung und Sprachgebrauch ist.50 Das Abhängigkeitsverhältnis der natürlichen Fähigkeiten spiegeln zwei allgemein anerkannte Erfahrungssätze: (1) »Ein jeder Gedanke, ein jeder allgemeiner Begrif, so wie jede Idee eines einzelnen Gegenstandes, ein jedes Urtheil und ein jeder Schluß, lässet sich auf eine äussere oder innere Empfindung reduciren«, und (2) »Die Äusserung unserer Vernunftfähigkeit erfordert eine gewisse Auseinandersetzung unserer Empfindungen; und eben so umgekehrt«: Retardierte Vernunft resultiert aus retardierter Empfindungs- und Einbildungsfähigkeit.51 Wie sich die sechs ›natürlichen Fähigkeiten‹ in unterschiedlichen Milieus entwickeln, legt Tetens im III. Kapitel seiner Sprachenursprungsschrift dar. Entscheidend ist danach, ob, wie und in welchem Umfang das sechste Vermögen, das der Vernunft, angesprochen wird. Der Mensch ohne alle Gesellschaft wäre danach überhaupt nicht lebensfähig. In Gesellschaft mit wilden Tieren würde der Mensch verwildern, d.h. im tierischen Zustand verharren. Die menschliche Natur bliebe gleichsam »in der wilden Form erstarret«. Vernunft und Überlegung ließen sich bei ihm nicht finden: »Alles Denken bestehet in einem dunklen und verwirrten Selbstgefühl«. Menschliche Sprache würde hier nicht entstehen können, allenfalls eine Tiersprache, »rohe Ausdrücke seiner dunklen Empfindungen«.52 Anders verhielten sich die Fähigkeiten zueinander, wenn der Mensch in Gesellschaft mit seinesgleichen ist: Hier könne er Mensch werden, indem »ein jedes einzelnes Mitglied von dem Andern lern[t], und zugleich Lehrer seyn

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Ebd., S. 15. Ebd. Ebd., S. 16. Ebd., S. 16f. Ebd., S. 20.

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[kann]. So kan wechselsweise einer den andern ausbilden. Dies kan geschehen.«53 Die Möglichkeit, dass hier menschliche Sprache entsteht, ist gegeben. Konkret könnte sich das folgendermaßen zugetragen haben: Zunächst habe der Mensch seine Empfindungen und Bedürfnisse den anderen mit »mechanische[n] Ausdrücke[n]« wie Schreien und Winseln zu verstehen gegeben – wie die Tiere auch. Diese »Thier-Sprache« besteht aus gänzlich unartikulierten natürlichen Tönen. (Tetens unterscheidet drei Arten von natürlichen Tönen: [1] »mechanische Töne, die der Mechanismus des menschlichen Körpers bestimmet«,54 [2] »mechanische Töne bey den unvernünftigen Thieren« und [3] die Töne bzw. Schälle, den »leblose Körper in der Natur [...] oder auch ihre Bewegungen« erzeugen oder begleiten wie das ›donnernde Gewitter‹, der ›rauschende Wald‹ und der ›rieselnde Bach‹.) In dieser Phase wird noch nichts bezeichnet, alles ist bloß mechanischer Ausdruck.55 Der »bloß thierische Mensch« wird durch »seine beugsame Natur«, seine, wie es Tetens nennt, Modifikabilität, dahin kommen, seine Empfindungen immer mehr ›auseinander zu setzen‹, weit mehr, als es die Tiere vermögen.56 Die menschliche Natur wird sich dadurch immer mehr entfalten, schließlich wird auch die Vernunft rege. An dem amorphen Knäuel von Empfindungen werden nunmehr spezifische Empfindungen wahrgenommen und miteinander verglichen. Die Klarheit in den Empfindungen ist Folge des entstehenden Bewusstseins, der Apperzeption. Die unbestimmte Empfindungsvorstellung wird zu einem geformten Gedanken, zu einer gefassten Idee, die mit einem wenngleich noch unartikulierten, aber nicht mehr tierischen Ton bezeichnet wird. Mit der Wahrnehmung und Benennung diskreter Empfindungen (objektivische Deutlichkeit) ist die Bewusstheit derselben (subjektivische Klarheit und Deutlichkeit) verknüpft; beide stimulieren einander wechselseitig. Dieser Prozess ist noch vorvernünftig, denn das Vermögen der diskreten Empfindungswahrnehmung und -bezeichnung wurzelt in der »blos thierischen aber geschmeidigen und zu mannigfaltigen Bestimmungen aufgelegten Natur des Menschen« und vollzieht sich noch »vor dem Gebrauch der Vernunft«.57 53 54

55 56

57

Ebd., S. 21. Als die Töne nicht mehr hinreichten, alle Empfindungen und Bedürfnisse zu benennen, habe der Mensch seine Fertigkeit, das Stimmorgan zu benutzen, verfeinert und sogenannte abgeleitete bzw. weiterentwickelte mechanische Töne, die zwar genauso natürlich, aber »mehr zufällig« waren, geformt (ebd., S. 41). Tetens widerspricht damit der Auffassung, wonach Wörter »willkürliche Zeichen der Gegenstände« sind. Sie seien vielmehr ›zufällige Zeichen‹, da sie nicht notwendig dazu bestimmt sind, etwas auszudrücken. Ihr Gebrauch resultiere allein aus natürlichen, wenngleich zufälligen Veranlassungen. Die ursprünglichen natürlichen Töne seien nur »etwas weniger zufällig, als die übrigen. [...] Außerdem daß [der Beiname Willkürlich] in vieler Rücksicht unrichtig ist, enthält diese Neben-Idee, als wenn eine gewisse Auswahl bey der ersten Erfindung der Wörter statt gefunden haben müsse, und also auch eine nach einer erkannten Absicht handelnde Überlegung. Dergleichen kan doch nur in seltenen Fällen voraus gesetzet werden« (ebd., S. 60). Ebd., S. 24–26. »Der Hunger z. B. ist eine andere Empfindung als der Durst. Ein Hund ist nicht im Stande, diese unterschiedene Empfindungen durch seine Töne auf eine verschiedene Art auszudrücken. Aber die geschmeidige Zunge des Menschen kan es thun, und wird es thun.« (Ebd., S. 28f.) Ebd., S. 30. »Der Anfang des ersten merklich vernünftigen Zustandes lieget nicht nur zunächst an dem thierischen, sondern ist schon in ihm enthalten, so bald die Sinnlichkeit etwas verfeinert ist.« Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig 1777, Bd. I, S. 784 (11. IV.) [im Folgenden zitiert als: PV Band, Seitenzahl (Versuch, Kapitel, Abschnitt)].

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Jene Art tierischer Protosprache und -vernunft der dem Urmenschen vorangehenden Protoplasten wird demnach erweckt von tierischer Empfindung. Die Entstehung von Protosprache und -vernunft mag sich vereinzelt zugetragen haben, ihre Entwicklung indes kann sich nur wechselseitig vollziehen. Von der Vernunft in ihrer ausgebildeten Form als der Einsicht in den Zusammenhang allgemeiner Wahrheiten ist Protovernunft noch weit entfernt, nimmt sie doch ihren Anfang im reflexiv-apperzeptiven Unterscheiden und Vergleich von Empfindungen,58 so Tetens. (Hierin schließt er sich Reimarus’ Begriffsbestimmung an.59) Das Gleiche gilt vom protosprachlichen Handeln. Erst wenn der Gedanke durch ein Zeichen ausgedrückt wird, erhebt sich »das anfängliche thierische Bestreben [...] zu einem vernünftigen Wollen«.60 Die Ursprache des Urmenschen wie sein Urzustand überhaupt sind Resultate vorgeschichtlicher und vormenschlicher Entwicklungen, und damit transzendente, die Erfahrung übersteigende Sachverhalte. Die Etymologie stellt ein Instrumentarium bereit, sich der Grenze von der Vor- zur Urgeschichte von Seiten des Geschichtlichen her anzunähern. Für die Sprachenentstehung beleiht Tetens die stoische Naturlautnachahmung (Onomatopoesie) wie die epikureisch-lukrezische, von Condillac erneuerte Naturlauttheorie (Interjektionen und Empfindungslaute). Subjektive Empfindung und Verlangen begleitende interjektionale Laute und ›sympathetisch‹ nachgeahmte objektive Naturlaute stehen somit am Beginn der Sprachenentstehung. Die Empfindungs- geht der Gegenstandssprache wie der Ausdruck des inneren Sinnes dem der äußeren Empfindung voraus; d.h. die Gegenstände bezeichnenden Nennwörter folgen den subjektives Erleben benennenden Tätigkeitswörtern. Dabei lässt sich der Übergang vom tierischen in den vernünftigen Zustand, die Entwicklung der Tier- zur Menschensprache, nicht losgelöst von der Gesellschaft denken: Die Empfindungen werden auseinander gesetzet und mit ihnen die Töne. Beydes gieng bey dem, der als ἀυτοδιδάκτος von sich selbst lernete, und der hernach bey andern Lehrer war, vor dem Unterscheiden der Vernunft vorher. Bey demjenigen aber, welcher von einem andern lernete, konnte die Verschiedenheit in den Tönen, die er hörte, vorangehen, und diese die Gelegenheit geben, die Empfindungen auseinander zu setzen, und diese Auseinandersetzung der Empfindungen die Reflexion erwecken.61

Die so genannte objektivische Deutlichkeit, wie sie in den mechanischen Tönen niedergelegt ist, heischt subjektivische Klarheit und Deutlichkeit und ›erweckt‹ gleichsam die Reflexion, die Vernunft. Der vorvernünftige Anfang des Denkens war danach insofern sprachunabhängig, als »[o]hne Sprache [...] diejenige Fähigkeit des Menschen wenigstens aufkeimen, und seine Entwickelung anfangen [kann], welche bey ihrem weitern Aufblühen sich als Verstand und Vernunft beweiset, und alsdenn von uns auch also genennet wird«.62 Auch musste die Sprache anfänglich 58 59

60 61 62

Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Buch 2, Kapitel 9, §§ 1–8, sowie PV I, S. 97 (1. XII). Hermann Samuel Reimarus: Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in dem Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Wiederspruchs hergeleitet. Zweyte verbesserte und mehr zu Vorlesungen eingerichtete Auflage. Hamburg 1758, S. 7f. (§§ 12f.), S. 13 (§ 19) u. S. 30 (§ 40). Tetens: Über den Ursprung der Sprachen und der Schrift (s. Anm. 43), S. 79. Ebd., S. 32 . Ebd., S. 38.

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nicht notwendig tönende Sprache gewesen sein. Mienen und Gebärden sind ihr vorausgegangen. Die tönende Wortsprache hingegen ist gebunden an die Vernunft: »Der Gedanke ward in dem Augenblick völlig geboren, da er durch ein Zeichen ausgedrücket werden sollte.«63 Er wird durch das Tonzeichen gleichsam »eingecörpert«.64 Darin liegt die Isomorphie von tönender Sprache und Verstand beschlossen, von Nationalsprachen und in ihnen niedergelegten Kenntnissen. Die tönende Sprache begann mit den mechanischen Tönen der Menschen (Interjektionen), wurde danach durch die Nachahmung der mechanischen Töne der Tiere und der leblose Körper begleitenden Geräusche bereichert (Onomatopöie). Später gesellte sich die vernunftgesteuerte Bereicherung der Tonsprache durch Nachahmung der Gegenstände und ihrer Eigenschaften hinzu.65 Letztere sind, obgleich sie nachahmen, ebenfalls natürliche Laute; es sind die natürlichen Laute des natürlichen Menschen. Dabei wirken die Empfindungen von den Gegenständen und Eigenschaften dergestalt auf den Körper, dass sie sich in den Musceln des Stimm-Organs wie in den Augen äusserlich abdrücken [...]. Soll nun die Empfindung durch einen Schall zu erkennen gegeben werden, so verfällt man ganz natürlich auf Töne, deren Aussprache jenen Beschaffenheiten angemessen ist, und welche schnell oder langsam, hart oder weich, sanft und in eins fortgehend, oder rauh und unterbrochen, hoch oder tief, gezogen oder fortrollend, über die Zunge gehen.66

Damit ist für Tetens die abbildliche Gegenstandsbezogenheit der ursprünglichen Töne gegeben. Drei Arten von Bezeichnungsvorgängen nimmt er in der Phase der Sprachentstehung an, denen sich eine Vielzahl »natürliche[r] Nahmen« verdanken. Zudem entsteht eine Vielzahl von »Wurzel-Wörter[n]«, die Ausgangspunkt für weitere Benennungen sind.67 Die nachahmenden Benennungen waren ursprünglich motiviert durch die Ähnlichkeit, woraus folgt, dass die ersten Sprachen »Bilder-Sprachen« gewesen sein müssen. Später hätte sie die Abbildlichkeit schließlich durch die zunehmende figürliche Weiterverwendung der Wörter verloren. Die Unterschiede der Benennungsmotive für ein und dasselbe Objekt resultierten aus der individuellen Betrachtungsweise der Namengeber,68 was sich am sinnfälligsten in der ›Synekdoche‹ niedergeschlagen habe, die eine universale Rede- und Denkfigur sei. 63 64 65 66 67

68

Ebd., S. 39. Ebd., S. 40. Vgl. Platon: Kratylos, 434a ff. Tetens: Über den Ursprung der Sprachen und der Schrift (s. Anm. 43), S. 45f. Neben Platon bezieht sich Tetens hierin auf Gottfried Wilhelm Leibniz und Gerhard Meier (1646–1703). Tetens unterscheidet drei (»vielleicht auch noch mehrere«) Ableitungsarten, denen die Sprachen ihre Ausdehnung verdanken: »1) Durch die Übertragung des Nahmens, womit eine Sache beleget war, auf eine andere, mit oder ohne eine Abänderung in dem Ton selbst. 2) Durch die Ableitung, (derivatio,) wohin auch die Flexion gehöret. Man behielt nämlich denselbigen Grund-Ton, weil eben dieselbige GrundIdee zu bezeichnen war, aber man gab ihm einige Zusätze, und fügte Neben-Töne hinzu, um die Neben-Ideen, welche die Merkmale der verschiedenen Conjugation ausmachen, zu erkennen zu geben. 3) Durch Zusammensetzung, da man durch Verbindung mehrerer Grund-Töne ein neues Wort machte, welches nicht allein die Sache im Ganzen anzeigte, sondern auch einige ihrer Beschaffenheiten besonders zu erkennen gab.« (Ebd., S. 49.) – Für den Etymologen sei es wichtig, darauf zu sehen, dass der herrschende Ton einer Sylbe für die Ableitung und Verwandtschaft der Wörter herangezogen wird (ebd., S. 64f.). Vgl. auch ebd., S. 56–58 u. S. 61.

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Die Entwicklung der Buchstabenschrift aus der tönenden Sprache beschreibt den fließenden Übergang vom Unartikulierten zum Artikulierten,69 vom Gesang zum Sprechen und Schreiben: Je kultivierter ein Volk, desto artikulierter seine Sprache. Man habe das Ähnliche70 immer mit demselben Ton und immer mit demselben Buchstaben benannt. Dabei sei nicht ausschlaggebend gewesen, dass alle Töne durch einen Buchstaben charakterisiert wurden. Man habe vielmehr nur den Hauptton der jeweiligen, anfänglich stets einfachen Silbe bezeichnet. Der übrigen Töne, so Tetens, hätte man sich im Schreiben enthalten. Nach und nach seien diese dann, da die Sprache »nachhero wieder aus der Schrift erlernet« worden ist, gänzlich verschwunden; die Aussprache bildet sich seitdem nach der Schrift.71 Mit diesen Überlegungen schließt Tetens seine Beweisführung, die die Möglichkeit einer natürlichen Sprachentstehung dartun sollte. Zu der Ansicht, dass es zur Sprachentstehung in jedem Fall notwendig hätte kommen müssen, kann er sich nicht überreden. Denn es sei beileibe nicht ausgemacht, wie einige behaupten, dass der Mensch »von Natur eben so nothwendig zum Sprechen bestimmt [sei], als der Vogel zum Fliegen, und der Hund zum Bellen«.72 Die grundsätzliche Schwierigkeit bei der Beantwortung der Frage, ob des Menschen natürliche Fähigkeiten hinreichend sind, ihn Sprache erfinden zu lassen, besteht darin, dass ›Fähigkeiten‹ zunächst einmal nur ›Vermögen‹ sind, also ›Dispositionen‹, »etwas zu werden, als wirkliche Triebe und Bestrebungen dazu«.73 Dieser Aspekt verlange jedoch eine eigene Untersuchung und wird von ihm einstweilen zurückgestellt. Damit schließt die Sprachenursprungsschrift wie sie begann: mit den ›Fähigkeiten‹ und ›Vermögen‹ und dem Wann und Wie ihrer Aktualisierung.

5. Philosophie und Sprache Im Jahre 1775 lässt sich Tetens in der gleichnamigen Abhandlung Über die allgemeine speculativische Philosophie vernehmen. In ihr kommt sein sprachkritischer Ansatz erneut zum Ausdruck wie sein Bemühen, der Ontologie sprachphilosophisch aufzuhelfen. Tetens, der sich selbst der so genannten ›spekulativischen Philosophie‹ zurechnet, die im Unterschied zur ›Popularphilosophie‹ nicht bei dem ›gemeinen Menschenverstand‹ stehen bleibe, sondern »die Natur der menschlichen Erkenntiß bis in ihre ersten Anfänge« nachzeichne und die Verstandes- und Vernunftoperationen »genauer und sorgfältiger« mustere, führt nun das bereits in den Gedancken über einige Ursachen, warum in der Metaphysik nur wenige ausgemachte Wahrheiten sind (1760) Skizzierte weiter aus und bereitet damit die zwei Jahre später erscheinenden Philosophischen Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung (1777) vor, in denen er sich als beobachtender philosophischer Raisonneur zeigt, der »die Gründelehre als eine Physic des menschlichen Verstandes bear69 70

71 72 73

Ebd., S. 63: »Der Unterschied unter articulirt seyn und unarticulirt seyn, beruhet auf ein Mehr und Weniger, wie der Unterschied zwischen Hart und Weich, zwischen Fest und Flüßig.« »Der Vorsatz, die Sachen in Gemäsheit mit den Wörtern zu bezeichnen, war ein viel glücklicherer Einfall, als der Gedanke; die Zeichen unmittelbar nach den Dingen selbst, und nach ihren Beschaffenheiten, einzurichten, wie in der Bilderschrift geschahe.« (Ebd., S. 72.) Ebd., S. 70. Ebd., S. 74. Ebd., S. 75.

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beitet, und ihre reelle Begriffe und Principe aus Beobachtung aufsuchet und sammlet«,74 ganz wie es der analytischen Methode entspricht.75 Den spekulativen Philosophen charakterisiere das Festhalten an der Ontologie als metaphysischer Grundlagenwissenschaft, die mithilfe »bestimmte[r] und reelle[r] Grundbegriffe, nebst evidenten Grundsätzen« bzw. »ersten Axiomen«76 eine »höhere Analysis der Dinge«77 erlaube. Die Abhandlung soll bei der allenthalben greifbaren Konjunktur des Empirismus (»der Brittischen beobachtenden und der Französischen raisonnirenden Philosophie«78) an den »geometrischen Genius der Leibnitz-Wolfischen« Philosophie erinnern und ihre Potentiale für den Empirismus erschließen. Denn »Beobachtung und Raisonnement geben uns alles unser Wissen von wirklichen Dingen. Diese beyde können sich bis auf einen gewissen Grad einander ersetzen«.79 Mit der Reduktion der allgemeinen Begriffe auf Empfindungen verfolgt er einerseits weiterhin das erkenntnistheoretische Programm des Empirismus. Andererseits hält er an der Architektonik der deutschen Schulphilosophie fest, indem er die Philosophie als eine ›Grundwissenschaft‹ projektiert, die alle diejenigen allgemeinen Begriffe und Axiome bereitstellt, mit denen der Mensch »über alle Dinge überhaupt, über alle Gattungen wirklicher Wesen, über Geister und Körper, über das Immaterielle und Materielle, über das Unendliche und Endliche, urtheilen und schließen« könne.80 Im engeren Sinne ist sie Ontologie, d.h. ist »nichts als eine allgemeine Theorie, die an sich selbst keine wirkliche Dinge zum Gegenstande hat, so wenig als die Analysis der Mathematiker. Sie hat einerley Natur mit dieser, und könnte ganz wohl in Vergleichung mit ihr eine höhere Analysis der Dinge heissen.« Sie widmet sich ausschließlich dem, »was möglich oder nothwendig ist bey allen Arten von Dingen überhaupt«.81 Allein die Zeit für die Ausarbeitung einer solcherart verfahrenden spekulativen Systemphilosophie sei noch nicht gekommen. Einstweilen müsse man noch auf dem empirisch-analytischen Weg Lockes, Humes und Condillacs weitergehen.82 Das heißt zunächst, dass man die Grundwissenschaft mit »bestimmte[n] und reelle[n] Grundbegriffe[n], nebst evidenten Grundsätzen« versorgt. Darüber hinaus müssen die Bezeichnungsrelationen eindeutig sein, d.h. »daß der ursprüngliche Sinn von ihnen unverändert und unverrückt dem Geiste gegenwärtig sey«,83 wo er sich auf sie bezieht. ›Reell‹ sind die Begriffe dann, wenn sichergestellt ist, dass sie nicht »sachenleere Wort[e]« sind. Das ist immer dann 74

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81 82 83

[Johann Nikolaus Tetens]: Über die allgemeine speculativische Philosophie. Bützow, Wismar 1775 (KS 2, S. 1– 94); hier: S. 85. Die Abhandlung sollte ursprünglich den Philosophischen Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung einverleibt werden. Später hat sich Tetens entschlossen, sie ihrer Bedeutung wegen separat zu publizieren und den Versuchen vorauszuschicken. Vgl. PV I, S. 85 (1. X.). Tetens: Über die allgemeine speculativische Philosophie (s. Anm. 74), S. 16–18. Ebd., S. 26. Ebd., S. 24. Ebd., S. 22. Ebd., S. 18. Ebd., S. 51. »Was wir in Deutschland Metaphysic, oder auch wohl speculativische Philosophie nennen, ist eine Sammlung von mehrern Wissenschaften. Die allgemeine transcendente Philosophie, die man Grundwissenschaft, Ontologie, nennet, [...] ist eine eigene Wissenschaft für sich.« (Ebd., S. 23.) ›Transcendent‹ wird hier im Sinne von ›wesentlich‹ gefasst. Darin folgt Tetens Johann Heinrich Lambert: Anlage zur Architectonic (s. Anm. 15), S. 291–293 (§ 301). Tetens: Über die allgemeine speculativische Philosophie (s. Anm. 74), S. 24. Ebd., S. 85f. Ebd., S. 26.

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der Fall, wenn »alles, was in unsern allgemeinen Notionen nur subjectivisch ist, was unsre eigne Denkkraft hinein trägt, von dem, was wirklich objectivisch ist, was Sachen ausser dem Verstande entspricht, sorgfältig abgesondert werden.«84 Hierfür habe man Locke zu folgen, der, ausgehend von dem Faktum, dass alle allgemeinen Begriffe aus Empfindungen hervorgegangen seien, geraten hat, diese wieder auf jene zurückzuführen, »das ist, die Empfindungen auf[zu]suchen, woraus die Denkkraft sie gezogen hat«.85 Allein metaphysischen Begriffen wird man damit nicht gerecht, denn sie sind nicht nur schlechthin »aufgelösete Empfindungen«, wie Hume angenommen hat, erhalten sie doch von den Empfindungen lediglich ihre Materie; ihre Form verdanken sie allein »der Bearbeitungsart des Verstandes, wenn dieser Empfindungen zu Vorstellungen umarbeitet«.86 Die so genannten transzendenten Begriffe (Notionen wie ›Wirklichkeit‹, ›Substanz‹, ›Ursache‹, ›Wirkung‹ u.a.) sind solche Begriffe, in denen sich nichts mehr von inneren oder äußeren Empfindungen und von Vorstellungen materieller oder intellektueller Dinge findet.87 »Sie sind ein allgemeiner Geist.«88 Erst dann, wenn von allen Grundbegriffen gezeigt worden ist, dass sie ›reelle Begriffe‹ sind, das sind solche, »die den Gegenständen ausser dem Verstande entsprechen«, und alle Axiome evident sind, ist das Fundament der Grundwissenschaft vollständig aufgeführt. Für Tetens bedeutet das: Die transcendente Philosophie, oder die Grundwissenschaft, muß zuvörderst als ein Theil der beobachtenden Philosophie von dem menschlichen Verstande und seinen Denkarten, seinen Begriffen und deren Entstehungsarten, behandelt werden, ehe sie zu einer allgemeinen Vernunftwissenschaft von den Gegenständen ausser dem Verstande gemacht werden kann. Man muß den Weg verfolgen, auf den Locke zuerst geführet hat, mit der Fackel der Beobachtung in der Hand, die Empfindungen aufsuchen, aus denen die allgemeinen Notionen gezogen worden sind; und diese genauer, als es Locke gethan hat, von den Wirkungen unsrer schöpferischen Dichtkraft unterscheiden. Sollten nicht alle Dunkelheiten in der allgemeinen Philosophie, und alle Streitigkeiten in ihr, endlich aus Erfahrungen gehoben werden können! Dies meyne ich.89

6. Anthropologie und Entwicklungspsychologie In den Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwickelung von 1777 kommt Tetens im 11. Versuch auf das ausgangs der Sprachenursprungsschrift zurückgestellte Problem der den Menschen eigentümlichen Fähigkeiten bzw. Dispositionen zurück, indem er sich dort die Frage vorlegt, »worinn denn dieser Keim, oder Disposition, Gefühl und Vernunft erlangen zu können, bestehe«. Es sei die »größte Frage in der Psychologie« schlechthin.90 Tetens findet die Lösung in der ›fühlenden Seele‹, die sich mit vergrößernder Selbsttätigkeit zur ›vorstellenden‹ und ›denkenden Seele‹ auswächst: »Das Vermögen zu Fühlen ist also das Vermögen zum 84 85 86 87 88 89 90

Ebd., S. 27. Ebd., S. 48. Ebd., S. 49. Vgl. ebd., S. 55–61. Ebd., S. 57. Ebd., S. 72. PV I, S. 733 (11. I. 2.).

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Vorstellen und zum Denken.«91 Den Unterschied von Mensch- und Tierseele markiert der höhere Grad von Selbsttätigkeit; jene besitzt »eine weit größere Selbstmacht in ihrer Grundkraft, als die Seele bey irgend einer andern Thierart«.92 Die größere Selbsttätigkeit und die »vorzügliche, feinere, geschmeidigere Modifikabilität« der menschlichen Seele seien die Quellen ihrer größeren Unabhängigkeit, Freiheit und Vernunft. Der Tierseele gebreche es an der die menschliche Seele kennzeichnenden »Stärke und Perfektibilität«93 der Fähigkeiten und Kräfte, ihrer quantitativen und qualitativen Überlegenheit. Allem Anschein nach gelte das auch vom menschlichen im Vergleich zum tierischen Körper94. Tetens’ Kritik trifft im Eilften Versuch (»Über die Grundkraft der menschlichen Seele und den Charakter der Menschheit«)95 und im Anhang zum eilften Versuch (»Einige Anmerkungen über die natürliche Sprachfähigkeit des Menschen«)96 Jean-Jacques Rousseau, Hermann Samuel Reimarus, Johann Gottfried Herder und Johann August Unzer gleichermaßen. Rousseau hält er vor, das Anthropinon »Perfektibilität (Vervollkommlichkeit)« bleibe zu unbestimmt. Es müsse geklärt werden, von welchen Kräften und Vermögen des Menschen das gesagt werden könne.97 Konziser sei, dass die Menschenseele eine »vorzüglich perfektible Selbstthätigkeit« auszeichne.98 An Reimarus kritisiert er, dass er den Tieren jedwedes Denken abspricht.99 Herder wirft er vor, zu Unrecht Reimarus ›mißratener Hypothesen‹ zu zeihen, stimme er doch mit diesem seines Begriffs der ›Besonnenheit‹ wegen und der Feststellung, dass die menschliche Seele über »eine größere Extension zu mehrartigen mit minderer Intension in einzelartigen Handlungen« verfüge, grundsätzlich überein.100 Unzer wird von Tetens vorgeworfen, dass er unzutreffenderweise die

91 92 93 94 95 96 97 98 99 100

Ebd., S. 736 (11. I. 3.). Ebd., S. 756 (11. III. 2.). Ebd., S. 751 (11. II. 4.). Ebd., S. 757 (11. III. 2.). Vgl. ebd., S. 730–766. Vgl. ebd., S. 766–784. Ebd., S. 743 (11. II. 3.). Ebd., S. 759 (11. III. 3.). Tetens mutmaßt, dass es sich dabei um eine epigenetische Entwicklung, nicht aber um eine evolutive Auswicklung handele (vgl. ebd., S. 760). Ebd., S. 745 (11. II. 4.). Ebd., S. 748f. (11. II. 4.). Tetens’ Kritik trifft insbesondere auch Herders Metaphysik des Gehörs als ›mittlerer Sinn‹, dem der Mensch zuerst und vorzüglich die Benennungen der Objektmerkmale zu verdanken habe. Unrichtig sei daran, dass das Gehör, die Töne allein und in ausgezeichneter Weise, die Gegenstandswahrnehmung und -konstitution beförderte. Das Gegenteil sei der Fall: Dass die jeweiligen Töne als »Merkzeichen von Gegenständen« fungieren können, hat eine möglichst umfängliche synästhetische Konstitution zur Grundlage, »setzt voraus, daß diese [Gehörs-]Empfindungen mit den Empfindungen des Gefühls und des Gesichts vereiniget waren, und zusammen Eine Idee von einem Objekte ausmachten« (ebd., S. 771 [Anhang]). Wahrscheinlicher sei es daher, dass das Visuelle und Haptisch-Taktile bei der Gegenstandskonstitution dem Auditiven voraus gehen. Dass vornehmlich auf Phoneme zur Kommunikation zurückgegriffen werde, liege in dem Umstand beschlossen, dass sich die »Gehörsempfindungen« am bequemsten, nämlich mittels des »Stimmorgans« in gegenstandsadäquater Weise reproduzieren lassen: »Die Gehörsempfindungen sind die einzigen, welche so wie sie aufgenommen sind, nachgemacht und äußerlich dargestellet werden können, ohne die nämlichen oder ihnen ähnlichen Dinge, von welchen sie zuerst entstanden, vor sich zu haben« (ebd., S. 771).

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Möglichkeit der Seelenlosigkeit »unvollkommene[r] Thiere« behaupte und sie für »blos organisirte Körper« ausgebe.101 Den Eilften Versuch der Psychologischen Versuche schließt ein Anhang, der »Einige Anmerkungen über die natürliche Sprachfähigkeit des Menschen« zu liefern verspricht. Sie knüpfen expressis verbis an die Berliner Preisfrage an und verfolgen die Absicht, das im § 11 allgemein über die Naturanlagen Gesagte am Beispiel der menschlichen Sprache zu explizieren. In seiner Sprachenursprungsschrift hatte er – wie viele andere auch – die Möglichkeit einer natürlichen Spracherfindung dargetan; jetzt legt er den Akzent auf die Frage, welche Umstände gegeben sein müssen, dass die Möglichkeit sich auch realisiere: Er rekurriert damit erneut auf das ausgangs seiner Sprachschrift benannte Problem der bloßen Dispositivität des Sprachlichen, das eine eigene Behandlung verlange, denn schließlich gebe es aller Sprachfähigkeit ungeachtet so etwas wie »Waldmenschen«,102 bei denen die Menschlichkeit nicht zum Tragen gekommen ist, so dass sie sprachlos geblieben sind. Fraglich sei, ob nicht Beyspiele anderer, Ermunterungen, Anführungen durch gewisse geflissentlich eingelenkte Umstände [...] als Geburtshelfer des wirklichen Gebrauchs des Verstandes, und der Sprachfähigkeit, nothwendig sind, und unter welchen Bedingungen?103

Diesem Problem versucht er folgendermaßen beizukommen: Es sei, wie er in seiner Sprachenursprungsschrift dargetan habe, weder erwiesen, dass der Mensch Sprache nicht hat erfinden können, noch sei erwiesen, dass er sie hat notwendig erfinden müssen. Süßmilch104 glaubte ersteres bewiesen zu haben, Herder letzteres. Beide schlussfolgerten falsch, der eine vom Problematischen (aus der Nichtmöglichkeit), der andere vom Apodiktischen (aus der Notwendigkeit) assertorisch auf das Faktum. So konstatiere Süßmilch: Der Mensch hat die Sprache nicht erfunden, Herder hingegen: Der Mensch hat die Sprache erfunden. Dazwischen positioniert sich Tetens, indem er die Möglichkeit der natürlichen Spracherfindung dartut und auf die hierfür notwendigen begünstigenden Umstände hinweist, wozu in erster Linie das soziale Umfeld zählt. Und, fährt er fort, die Menschen werden vermutlich auch Sprache erfinden: »Dieß Erfinden können, und vermuthlich erfinden werden, steht zwischen dem Nichtkönnen und dem Müssen.«105 Süßmilchs Position kann Tetens insofern etwas abgewinnen, als auch er der Meinung ist, dass spezifische Umstände zu den menschlichen Fähigkeiten, zur noch schwachen Denkkraft,

101 102 103 104

105

Ebd., S. 755 (11. III. 2.); zu Unzer vgl. Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin, New York 2003, S. 87–162, insb. S. 129–162. Das so genannte ›wilde‹, unter Tieren aufgewachsene, sozial und kulturell depravierte Kind (homo ferus); vgl. dazu Neis: Anthropologie (s. Anm. 39), S. 273–308. PV I, S. 768 (Anhang). Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe, in der academischen Versammlung vorgelesen und zum Druck übergeben von Johann Peter Süßmilch, Mitglied der Königl. Preußischen Academie der Wissenschaften. Berlin 1766. PV I, S. 773 (Anhang). Tetens zufolge bedürfe die Sprachentwicklung des sozialen Kontaktes. Ohne äußeren Anstoß und ohne Interaktion mit der Wirklichkeit, d.h. ohne Erfahrung wird sich keine menschliche Sprache herausbilden. Damit widerspricht er Herders rationalistisch-solipsistisch gefasster Sprachursprungstheorie; vgl. Arno Borst: Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker. Bd. III/2: Umbau. München 1995, S. 1536.

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hinzukommen müssen, damit Sprache entsteht.106 Herder hatte das als »Unsinn«107 diffamiert und behauptet, die menschliche Kraft zu denken sei so stark, dass sie es ohne begünstigende Umstände könne.108 Tetens wiederum hatte in seiner Sprachenursprungsschrift die natürliche Genese diskursiv durchaus zu plausibilisieren vermocht. Letztlich lasse sich diese Streitfrage nun, wenn man das Terrain des Möglichen verlasse und sich dem Faktischen zuwende, nicht »aus Gründen« entscheiden. Denn damit sei es keine philosophische Frage mehr, sondern eine historische: »Die Geschichte muß hier entscheiden, oder es ist nicht zu entscheiden.«109 Und die angestellten Beobachtungen zeigten ein Menschengeschlecht, dass weder aus bloßen, der Spracherfindung unfähigen Dummköpfen noch aus bloßen, der Spracherfindung fähigen Genies besteht: »Im Durchschnitt ist der Mensch«, das lehrt die die Vorstellung bestimmende Beobachtung, mehr ein nachahmendes als selbst erfindendes Thier; aber es giebt doch hie oder da Einzelne, welche Naturkraft zu dem letztern besitzen, und bey denen die Anlage zur Vernunft, und ihrer Tochter, die Sprachfähigkeit, stärker treiben, als bey dem übrigen größern Haufen.110

Die einen bedürfen grundsätzlich der Anleitung zur Spracherlernung, die wenigen anderen sind ihrer größeren Selbsttätigkeit wegen in der Lage, ohne Anleitung ihre Vernunft- und Sprachanlage zu entwickeln. Modifikabilität und Selbsttätigkeit werden so zu Trägern der Spracherfindung durch Genies und zu Garanten der Spracherhaltung und -vererbung durch lern- und lehrfähige Sprachnutzer.

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PV I, S. 774 (Anhang): »Süßmilch verlangte nichts mehr, wenigstens war zur Vertheidigung seiner Meinung nichts mehr erforderlich, als daß so eine Anführung, als wir unsern Kindern geben, schlechthin jedem Individuum unentbehrlich sey, um die sonst zu schwache und zu sehr gehinderte Naturkraft fortzuhelfen.« Abhandlung über den Ursprung der Sprache, welche den von der Königl. Academie der Wissenschaften für das Jahr 1770 gesezten Preis erhalten hat. Von Herrn Herder. Auf Befehl der Academie herausgegeben. Berlin 1772. Erster Theil. Haben die Menschen, ihren Naturfähigkeiten überlassen, sich selbst Sprache erfinden können? Zweiter Abschnitt, S. 65. PV I, S. 775 (Anhang). Ebd., S. 776 (Anhang). Ebd., S. 780 (Anhang). Damit widerspricht Tetens Helvetius’ Annahme einer ursprünglichen Gleichheit aller Menschen, die ihre Verschiedenheit erst äußeren Einflüssen verdankten. Die Menschen sind einerlei Geschlechts, weil sie über einerlei Anlagen verfügen. Allein in Hinsicht der »Größe und Stärke der Triebe« unterscheiden sie sich. Vgl. dazu auch [Johann Nikolaus] T.[etens]: Gedanken von dem Einfluß des Climatis in die Denkungsart des Menschen. In: Schleswig-Hollsteinische Anzeigen von politischen, gelehrten, und andern Sachen. 29stes Stück, vom Jahr 1759. Montags, den 16ten des Julimonats, Sp. 454–460; 30stes Stück, vom Jahr 1759. Montags, den 23ten des Julimonats, Sp. 470–477 (KS 1, S. 1–4, S. 5–8]; Anonymus [Johann Nikolaus Tetens]: Schreiben an ... [i.e. Pastor Georg Volquarts (1721–1784) zu Lunden in der Norderdithmarsch] über die Frage: Ob die Verschiedenheit der Erkenntniß-Fähigkeiten und Neigungen der Menschen in einer angebohrnen Verschiedenheit, oder in den äusserlichen Umständen seinen Grund habe? In: Hamburgische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit auf das Jahr 1761. 35. Stück, S. 276–280; 36. Stück, S. 286–288; 37. Stück, S. 293–296 (KS 1, S. 211–215, S. 216–218, S. 219–222]; sowie ders.: Von der Verschiedenheit der Menschen nach ihren Haupt-Neigungen (s. Anm. 22).

Tetens’ Sprachkritik und Philosophiereform

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7. Resümee Tetens Stellung in der Sprachursprungsfrage ist gekennzeichnet durch einen erkenntnistheoretisch-anthropologischen Zugang, der seine Stütze in empirisch erhobenen Daten (Beobachtungen und Versuchen) hat. Schon in seiner Einladungsschrift aus dem Jahre 1760 skizziert er sein Vorhaben, die Leibniz-Wolffsche Schulphilosophie empiristisch-sprachphilosophisch zu reformulieren. Zentrale Bedeutung kommt dabei der sprachphilosophischen Neubegründung der Ontologie zu. Die Etymologie soll hierfür den Weg bahnen. Seine Überlegungen zur etymologischen Forschung111 führen ihn u.a. auf das Sprachursprungsproblem, dem er 1772, veranlasst durch die Preisfrage der Berliner Akademie von 1771, eine einlässliche Studie widmet, die sich durch eine modallogische Fassung des Sprachursprungsproblems auszeichnet. Ihm gelingt es damit, deren Zirkularität aufzubrechen und eine eigenständige, anthropologisch-psychologische Begründung für einen natürlichen und polygenetischen Sprachenursprung zu formulieren, der sich im psychologischen Fortschreiten vom Sinnlichen zum Abstrakten, vom Einfachen zum Komplizierten, vom Intuitiven zum Diskursiven vollzieht. Von Herder, dem Prämierten der Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache, unterscheidet ihn die Hervorhebung des Dialogischen bzw. der Geselligkeit, die Annahme, dass Denken und Sprache nicht gleichzeitig entstehen, die Ablehnung der Herderschen Sinneshierarchie, die Anerkennung eines polygenetischen Sprachursprungs und die Annahme einer grundsätzlichen Offenheit jedweder Entwicklung, die frei ist von allen teleologischen, theologischen und geschichtsphilosophischen Gebundenheiten und Rücksichtnahmen. In der Sprachursprungsfrage positioniert er sich mit der Annahme eines möglichen natürlichen Sprachursprungs zwischen Herders Notwendigkeit und Süßmilchs Unmöglichkeit.

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Vgl. hierzu auch den Beitrag von Jutta Heinz in diesem Band.

JUTTA HEINZ

Etymologie als Voraussetzung einer »vernünftigen Metaphysik«: Tetens’ Frühschriften zur Etymologie

1. Zu Begriff und Geschichte der Etymologie Trotz ihres ehrwürdigen Alters steht die Etymologie in keinem guten Ruf im 18. Jahrhundert. Selbst einer ihrer prominentesten Vertreter, kein Geringerer als Gottfried Wilhelm Leibniz, warnt: »Und im allgemeinen soll man nur den Etymologien Glauben schenken, für die es mehrere übereinstimmende Indizien gibt; sonst goropisiert man«.1 Voltaire soll gespöttelt haben: »In der Etymologie bedeuten die Vokale gar nichts und die Konsonanten auch nicht viel mehr«;2 Johann Christoph Adelung spricht in seinem eigenen etymologischen Werk noch im Jahr 1806 von »verächtlichem Taschenspiel« für jeden »vernünftigen Manne«3 (jedenfalls dann, wenn die Etymologie nicht auf die »gehörige Kenntniß der Sprachen« gegründet sei); und eine neuere literaturwissenschaftliche Monographie siedelt die Etymologie insgesamt zwischen »Faszinosum« und »Ärgernis« an.4 Welche Gefahren von einer nicht fachkundig durchgeführten und insgesamt zu spekulativen »Wortforschung«5 ausgehen, demonstriert am besten die Leibniz’sche Wortschöpfung vom »goropisieren«. Johannes Goropius Becanus, ein holländischer Arzt und begeisterter Etymologe des 16. Jahrhunderts, stellte die These auf, dass der flämische Dialekt des Bramantischen die Ursprache im Paradies gewesen sein müsse.6 Er argumentierte, dass die 1 2

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Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. In: ders.: Philosophische Schriften. Hg. u. übers. von Wolf von Engelhardt u. Hans Heinz Holz. Darmstadt 1961, Bd. III, S. 31. Das Zitat geistert, wohl seiner besonderen Originalität wegen, durch die sprachgeschichtlichen Werke zur Etymologie, kann aber in Voltaires umfangreichem Werk offenbar nicht aufgefunden werden; kolportiert wurde es von August Wilhelm Schlegel (Sämtliche Werke. Hg. von Eduard Böcking. Bd. 12. Leipzig 1847, S. 396f.). Johann Christoph Adelung: Mithridates oder allgemeine Sprachenkunde mit dem Vater Unser als Sprachprobe in bey nahe fünfhundert Sprachen und Mundarten. 1. Theil. Berlin 1806, S. XIIIf. Stefan Willer: Poetik der Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik. Berlin 2003, S. 27. Nach Willer (ebd., S. 52f.) findet sich diese Übersetzung erstmals bei Schottel. Der erste Kandidat für eine biblische Ursprache war naheliegender Weise das Hebräische: »Mit Hieronymus beginnt die lange Zeit gültige Festschreibung des Hebräischen zur göttlichen und adamitischen Ursprache, auch wenn das sprachtheoretische Potential dieser These erst nachmittelalterlich ausgeschöpft wird«. (Willer: Poetik, [s. Anm. 4], S. 37.) Vor allem im 17. Jahrhundert gab es unter barocken Sprachtheoretikern auch Überlegungen dazu, inwiefern die deutsche Sprache die gesuchte Ursprache sein könnte, so z. B. bei Morhof und Schottel (ebd., S. 51). Endgültig preisgegeben er-

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Jutta Heinz

älteste Sprache die einfachste gewesen sein müsste, die einfachste Sprache die kürzesten Wörter enthalten müsse, und das sei nun ganz eindeutig der Fall im Brabantischen (verglichen zumindest mit Latein, Griechisch und Hebräisch, den traditionellen Kandidaten für die gesuchte Ursprache). Die These sorgte für viel Erheiterung in der Gelehrtenwelt und bescherte Becanus eher ungewollten Ruhm als Vater eines eigenen Verbs, eben des von Leibniz so boshaft geprägten »Goropisierens« als Inbegriff einer zu weit getriebenen, durch mangelhafte Sprachkenntnisse und eine wirre Grundthese korrumpierten Etymologie. Gleichwohl hat die Etymologie durchaus respektable philosophische Wurzeln.7 Als einer der Gründungsorte einer philosophisch orientierten Wort- und Sprachforschung gilt Platons Dialog Kratylos, in dem es darum geht, ob Wörter (verstanden als Namen) die Gegenstände von Natur aus bezeichnen oder ihnen vom Menschen willkürlich (arbiträr) zugeordnet werden – eine Diskussion, die noch in der modernen Sprachwissenschaft geführt wird, deren Ergebnis für die platonische Theorie jedoch letztlich irrelevant ist, da Wörter sowieso nie Ideen abbilden können und damit philosophisch per se defizient sind.8 Aber immerhin gibt der ausführliche Dialog eine ganze Reihe von Beispielen mehr oder weniger spekulativer Wortherleitungen, goropisiert also bereits ganz beachtlich. Einen neuen Schub erhielt die Etymologie in der Neuzeit durch die Berichte von Reisenden, vor allem Missionaren, über exotische Sprachen aus allen Gegenden der Welt, die die Wortforschung auf eine ganz neue empirische Basis stellten. Es entstanden Glossarien und Sammelwerke, die nunmehr genauere vergleichende Studien nicht nur der europäischen Sprachen ermöglichten.9 Den Fortschritt markieren dabei exemplarisch zwei Studien, die in einem Abstand von gut 250 Jahren verfasst wurden: 1555 veröffentlicht Konrad Geßner seinen Mithridates: de differentiis linguarum, in dem er das Vaterunser als Belegtext in 22 Sprachen abdruckt; 1806 erscheint von Johann Christoph Adelung Mithridates oder allgemeine Sprachenkunde mit dem Vater Unser als Sprachprobe in bey nahe fünfhundert Sprachen und Mundarten.10 Die russische Kaiserin Katharina die Große hatte ein vergleichbares Unternehmen persönlich gefördert: Peter Pallas’ Linguarum totius orbis vocabularia comparativa (1786) enthielt 285 Wörter in 149 asiatischen und 51 europäischen Sprachen und Dialekten. Die Materialbasis ist damit hinreichend erweitert; das dringendste Forschungsdesiderat war nun eine methodische Begründung der Etymologie als Wissenschaft.11

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scheint diese Suche dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts; so formuliert Adelung klipp und klar: »Ich leite nicht alle Sprachen von Einer her; Noah’s Arche ist mir eine verschloßne Burg, und Babylons Schutt bleibt vor mir völlig in seiner Ruhe«. (Adelung: Mithridates [s. Anm. 4], S. XI). Vgl. zur Geschichte der Etymologie Willer: Poetik (s. Anm. 4), Kap. II, mit weiteren ausführlichen Literaturhinweisen. Die wesentlichen Stationen ihres Wegs bis ins 18. Jahrhundert fasst Willers wie folgt zusammen: »Von Platon über die Stoa, die römische Rhetorik, die Kirchenväter und die mittelalterliche Theologie, weiter über die Sprachtheorie und Mythologie der Renaissance und des Barock und die Versuche ihrer Historisierung im 18. Jahrhundert, bis hin zur synkretistischen Aufnahme dieser Überlieferung in der Romantik«. (S. 27). Vgl. dazu ebd., S. 28–30. Auch Leibniz gab ein derartiges Sammelwerk heraus, die Collectanea etymologica (1717). Mithridates deshalb, weil der antike König Mithridates Plinius zufolge seine Untergebenen in all ihren 22 Sprachen regiert habe. So stellt auch Willer fest: »Der gelehrte, mystische oder spielerische Überschwang barocken Sprachdenkens wird im 18. Jahrhundert einer Revision unterzogen, die im Zusammenhang einer durchgrei-

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Das ist, sehr grob gezeichnet, der historische und diskursive Hintergrund, vor dem Tetens’ zwei Frühschriften zur Etymologie erscheinen, die einen diskussionswürdigen eigenen Ansatz zur Methodenfrage vertreten und einen bisher wenig beachteten Seitenarm seiner sprachphilosophischen Studien bilden.12 Seine Motivation zur Niederschrift der beiden in den Gelehrten Beyträgen zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1765 und 176613 publizierten Aufsätze erläutert er am Ende des ersten Beitrags selbst: Ein »guter Freund« habe dieses »Feld der Gelehrsamkeit« lediglich als »einen Spaziergang der Gelehrten, wo man bloß tändele« bezeichnet; das habe ihn dazu herausgefordert, in einigen »in der Eile niedergeschriebenen Gedanken« eine »Verteidigung der etymologischen Bemühungen« zu verfassen, wobei er sich jedoch selbst nur als »Zuschauer«, nicht als »Mitarbeiter an dem Gebäude der Etymologie«14 bezeichnet. Gleichwohl legt er im ersten Beitrag mit dem Titel Über die Grundsätze und den Nutzen der Etymologie ein umfassendes Forschungsprogramm vor, mittels dessen das sehr schwankende Gebäude der Etymologie auf ein solideres Fundament gestellt werden könnte. Der zweite Beitrag, Über den Nutzen der Etymologie, konzentriert sich dann auf die Apologie im engeren Sinne, indem der allgemeine philosophische Nutzen der Wortforschung beschrieben wird. Ich gehe beide Texte nacheinander durch und rekonstruiere die Argumentation, bevor ich am Ende noch einmal zum allgemeinen Stellenwert von Tetens’ Überlegungen und zu einer möglichen Verbindung von Etymologie und Metaphysik zurückkomme.

2. Das Forschungsprogramm: Grundsätze der Etymologie Wozu Etymologie?15 Der erste Paragraph des ersten Beitrags beantwortet diese Frage mit einer erschlagenden Aufzählung des vielfältigen Nutzens der Wortforschung als eine Art anthropolo-

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fenden Sprach- und Erkenntniskritik steht. Für die Etymologie bedeutet das vor allem eine Historisierung ihrer Verfahren«. (Poetik [s. Anm. 4], S. 59). Tetens wird als ein wesentlicher Vertreter einer deutschen aufklärerischen Etymologie behandelt, aber nur sehr kurz; Willer charakterisiert seinen Beitrag etwas herablassend: Mit einer »fast gemütlich zu nennenden Art« präsentiere er das »Konzept einer generativen (Sprach-)Geschichte als gesicherten Wissensvorrat […] und die Etymologie als Arbeit für müßige ›Nebenstunden‹« (ebd., S. 70). Die Texte sind von der Forschung bisher kaum behandelt worden. Es liegt eine ältere Dissertation von Mechthild Böhm vor: Etymologie als Problem. Ein Beitrag zur Klärung des Verhältnisses von Philosophie und Etymologie unter Berücksichtigung von J. N. Tetens (1736–1807). Würzburg 1976, die nach einer allgemeinen Einleitung zu Begriff und Geschichte der Etymologie (aus philosophischem Blickwinkel) die beiden Aufsätze von Tetens mehr oder weniger paragraphenweise referiert. Nützlich sind die relativ vollständigen Nachweise der Quellen, aus denen Tetens zitiert, auf die hier im Einzelnen nicht eingegangen werden kann. Auf Tetens als Sprachphilosoph im Allgemeinen und im Vergleich zu Herder im Besonderen geht die Einleitung von Erich Heintel ein (vgl. Anm. 13). 14.–.16. Stück (1765), sonnabends, den 6ten, 13ten, 20sten April, S. 53–56, S. 57–60, S. 61f.; 35.–37. Stück (1766), sonnabends, den 30ten August, 6., 13. September, S. 139f., S. 141–144, S. 145. Hier zitiert nach: Johann Nikolaus Tetens: Sprachphilosophische Versuche. Mit einer Einleitung von Erich Heintel hg. von Heinrich Pfannkuch. Hamburg 1971 (im Folgenden zitiert als SV, Seitenzahl). SV, S. 18. Wie ungeklärt Begriff und Methode in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts generell noch sind, demonstrieren die 1781 erschienenen Beiträge Klopstocks. In Etymologie und Aussprache (in: Klopstocks

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gischer Universalwaffe: Sie »beflügelt« Witz und Einbildungskraft, versetzt den »Verstand in eine gelinde Bewegung«,16 »zerstreut« das Gemüt »angenehm« – und bildet dadurch ein geradezu unentbehrliches Gegengewicht zur strengen, harten Wissenschaft, indem sie entspannt, ohne abzustumpfen oder ins Triviale abzugleiten: Daher ich nicht weiß, ob eine Arbeit sei, die sich besser anpasse die Nebenstunden derer auszufüllen, deren Hauptbeschäftigung den Verstand an der Kette zusammenhangender allgemeiner Wissenschaften gefesselt hält.17

Daneben hat sie eine didaktisch-methodische Funktion, die ebenfalls mit Blick auf Tetens’ allgemeines Philosophieverständnis nicht zu unterschätzen ist: Sie gewöhnt den Denkenden durch die Operation mit »Wahrscheinlichkeiten und mit Mutmaßungen« an andere Gewissheitsformen als die der »geometrischen« Wahrheit in der Mathematik; sie schult im Denken jenseits einer streng zweiwertigen Logik und einer unerbittlichen Kausalität »an der Kette zusammenhangender allgemeiner Wissenschaft«. Unschätzbares Quellenmaterial liefert sie für das Studium der Geschichte, speziell der Frühgeschichte des menschlichen Geschlechts, als »Kindheit der menschlichen Sprachen, und Erkenntnisse«; damit ist sie gleichermaßen von philosophischem Interesse, da sie sich auf eine ›Erziehung des Menschengeschlechts‹ beziehen lässt. Schließlich ist sie sogar prestigeträchtig, indem sie zum Ansehen der Sprache und der Nation bei den »Ausländern« beiträgt. Etymologie in diesem Sinne verstanden ist damit für die menschliche Bildung und das menschliche Selbstverständnis als sprachbegabtes Wesen eine Schlüsselwissenschaft. Aber, so erhebt der zweite Paragraph sogleich den Zeigefinger: »Wortforschen ist nicht Beckanisieren«!18 »Beckanisieren« ist Tetens’ Parallelbildung zum Leibniz’schen »Goropisieren« (bekanntlich hieß der unrühmlich berühmt gewordene Flame mit Nachnamen – latinisiert – Becanus), und es ist interessant, dass Tetens hier nicht Leibniz – auf den er sich andernorts sehr wohl als Autorität in Sachen Etymologie bezieht – wörtlich zitiert, sondern eine eigene Wortbildung vornimmt. Der gesamte folgende Passus gibt eine sprachlich sehr elaborierte, beinahe poetisch durchformte Darstellung missverstandenen Etymologisierens: »Silben und Buchstaben hinzuzusetzen, herauswerfen, herumsetzen, vertauschen«, »das Wort zerren und radbrechen«. Offensichtlich setzt das Thema bei Tetens – und das ist auch bei anderen Etymologen der Zeit zu beobachten – selbst einen sprachschöpferischen Impuls frei, einen bewussteren Umgang sowohl mit dem Einzelwort und dessen Klangpotential als auch mit der Bildlichkeit von Metapher und Synekdoche. Eben deshalb jedoch spricht Tetens auch gleich zu Beginn eine Warnung aus: Die Etymologie befinde sich immer in Gefahr, sich durch den »kühnen Flug der Phantasie«

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Sämmtliche Werke. 14. Bd. Leipzig 1830, S. 259–264) definiert er zunächst eine »Etymologie im weiterem Verstande« (S. 259): Sie »lehrt die Veränderungen kennen, durch welche ein Wort zu einem andern wird« (also Sprachgeschichte). Die »Etymologie in engerem Verstande lehrt die Veränderungen, durch welche eine Wort zu einem anders genannten wird« (S. 260; also eine Art morphologischer Grammatik); dies sei jedoch, so Klopstock, eine »Deklinazions- und Konjugazionsetymologie« (ebd.), die eigentlich nur für die Orthographie zu gebrauchen sei. Im Folgenden geht es Klopstock dann auch eher um die Anwendung sprachgeschichtlicher Untersuchungen auf eine zu vereinheitlichende Orthographie, die eben entweder etymologischen Prinzipien oder dem Prinzip der Aussprache folgen könnte. Dieses und alle folgenden Zitate in diesem Absatz aus § 1; SV, S. 3. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Frank Grunert in diesem Band. Alle folgenden Zitate in diesem Absatz aus § 2; SV, S. 3f.

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beschwingt in »Chimären« zu verlieren; umso wichtiger sei es, seinem in der Folge unterbreiteten Forschungsprogramm strikt zu folgen. Dieses Forschungsprogramm wird im dritten Paragraphen apodiktisch darauf gegründet, dass die Etymologie eine eigene »Vernunftlehre«19 haben müsse samt »sicheren allgemeinen aus der Natur der Sache hergenommenen Vorschriften« – was offensichtlich Tetens’ eigenes, später vielfach wiederholtes wissenschaftliches Grundlagenbekenntnis überhaupt ist und für die gesamte Philosophie gilt. Als Ziel der Etymologie werden zunächst die Erforschung der »Verwandtschaft« der Wörter und die Erstellung darauf beruhender »Geschlechtsregister« genannt (man beachte wiederum die Metaphorik). Das Geschlechtsregister muss möglichst weit auf einen »entfernten Stamm« zurückgeführt werden, der dann die »Wurzel« der jeweiligen Sprache freilegt. Ein wesentliches Kriterium ist dabei, dass man die zu untersuchenden, einfachen Wörter nicht nur hinsichtlich ihrer Tonqualität, ihres Klangs, sondern auch auf ihre Bedeutung hin untersucht. Beides, phonetische und semantische Ähnlichkeit, muss zusammenkommen, damit wirklich ein Ursprung konstatiert werden kann: »Wie die Töne von den Tönen, so sollen die Ideen, die ihnen zukommen, voneinander abhangen, und auseinander fließen«. Ein unentbehrliches Werkzeug dafür sind möglichst vollständige Wörterbücher und »Glossaria« in möglichst vielen Sprachen, vor allem inzwischen ausgestorbenen. Aber, so stellt Tetens im fünften Paragraphen sogleich das soeben aufgestellte Axiom des Zusammenhangs von phonetischer und semantischer Wurzel auf den Prüfstand, gibt es diese »Analogie« eigentlich wirklich, oder wird sie erst mittels eines etymologischen Zirkelschlusses produziert, indem man das glücklich findet, wonach man ja ausschließlich gesucht hatte?20 Es sei, so Tetens nun im Blick auf das Problem des Sprachursprungs, zumindest sehr wahrscheinlich, »daß man bei der Bildung der Sprache einer gewissen natürlichen Charakteristik gefolgt sei«:21 Zunächst werden in dieser ersten Sprache nur solche Dinge bezeichnet, die sehr stark und sehr häufig auf die sinnliche Empfindung wirken; diese werden durch einfache, natürliche Töne benannt, die möglichst direkt mit der sinnlichen Empfindung selbst zusammenhängen, diese am besten »abbildeten«.22 Ähnliche Gegenstände werden dann im weiteren Fortschritt der Sprachentwicklung mit leicht variierten Tönen belegt. Damit jedoch stehen Phonetik und Semantik vom Ursprung her tatsächlich zwingend in einem engen Zusammenhang: Die Töne bilden die Bedeutung ab. Als weitere Beweise für seine These führt Tetens Beispiele an, die schon Leibniz in diesem Zusammenhang verwendet: zum einen Onomatopoetica von Tier-

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Alle folgenden Zitate in diesem Absatz aus § 3; SV, S. 4f. Vgl. zur Problematik der Analogie-Schlüsse aufgrund von Ähnlichkeit auch Willers (Poetik [s. Anm. 4], S. 3). Willers weist auch auf die allen etymologischen Bemühungen innewohnenden zirkulären Charakter deutlich hin: »Der Wunsch, den Wörtern auf den Grund zu gehen, ist vor die Paradoxie gestellt, daß er diesen Grund immer nur in weiteren Wörtern finden kann« (ebd., S. 1). SV, S. 6. Ebd., S. 7. In der Sprachursprungs-Schrift wird Tetens diese Theorien dann weiter ausführen; mir geht es hier vor allem um die formale methodische Rekonstruktion des Forschungsprogramms. Inhaltlich bestehen enge Beziehungen zum dritten Buch von Leibnizens Neuen Abhandlungen (vgl. v. a. Kap. 1: Von den Worten oder der Sprache im Allgemeinen). Auch für Herder sind in den »Wurzelwörtern« die Gefühle besonders stark ausgeprägt (vgl. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: ders.: Sprachphilosophie. Ausgewählte Schriften. Hg. von Erich Heintel. Hamburg 2005, S. 45f.).

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stimmen23 und Naturgeräuschen, zum anderen die unterschiedlichen »natürlichen« Bedeutungen verschiedener einzelner Laute, wie des harten »R« gegenüber dem weicheren »L«.24 Nach einer Fülle weiterer Beispiele formuliert Tetens schließlich sein empirisch gefestigtes erstes Axiom: »Dies halte ich indessen für den ersten Grundsatz der Wortforschung, und der philosophischen Sprachlehre, daß die ersten und ältesten Wörter einfache natürliche Töne gewesen«.25 Allerdings dürfe man nicht glauben, mit diesen natürlichen Tönen die lange gesuchte paradiesische Ursprache gefunden zu haben. Tatsächlich sei es wahrscheinlicher, dass die unterschiedlichen natürlichen Umwelten – Tetens nennt hier vor allem den Einfluss des Klimas26 – auch unterschiedliche Urtöne produzierten; das gleiche gelte für die Bedeutungen, da auch die Bewertungen der Gegenstände in verschiedenen Kulturen durchaus voneinander abweichen könnten.27 An dieser Stelle bezieht sich Tetens explizit auf die alte Debatte um ›Natürlichkeit versus Arbitrarität‹ der Zeichen und nimmt, wiederum ähnlich wie Leibniz,28 eine mittlere Position ein: Aus der »Analogie« – bekanntlich einer der wesentlichen methodischen Bausteine seiner Philosophie – mit noch gegenwärtig zu beobachtenden Prozessen der Wortfindung in Künsten und Wissenschaften wie im »gemeinen Leben«29 könne man schließen, dass empirisch beide Verfahren Anwendung fänden. Die Wahrscheinlichkeit jedoch spräche insgesamt stärker für die natürliche Benennung: »Aber hundert Fälle sind gegen einen, worinnen eine vorzüglich einleuchtende Beschaffenheit der Benennungsgrund ist«.30 Allerdings kann bei weitergehenden sprachlichen Entwicklungen durch die Übertragungsverfahren von Synekdoche, Metapher und Metonymie dann doch ein natürlicher Zufallsfaktor hinzukommen, indem ein einzelner Aspekt des Gegenstands willkürlich herausgehoben und verallgemeinert werde. Schließlich würden durch die vielfachen Einflüsse von Klima, Staatsform, Lebensart, Sitten, Nahrung und Gewerbe auch die ursprünglichen, einfachen Stammwörter auf die Dauer unkenntlich gemacht;31 ihre Aussprache könne sich über längere Zeiträume ebenso grundlegend ändern wie ihre Bedeutung. Relativ stabil blieben nur die Bezeichnungen der »gemeinsten Dinge«, die bereits in der frühen Kindheit erlernt werden, als »Radikalton« und »Geblüt«32 des Stammbaums (Tetens kehrt damit zurück zur Familien- und Wurzelmetaphorik). Angesichts dieser methodischen Schwierigkeiten im Umgang mit einem historisch derart wandelbaren Material und einer eher schlechten Überlieferungslage entwirft Tetens abschließend ein sozusagen differentialdiagnostisches Verfahren; eine Reihe von »Vorschriften des Wortforschens«,33 die bei aller soliden Etymologie zu beachten seien. Gegeben seien ein Wort 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Onomatopoetica seien offensichtlich »einigermaßen Bilder der Gegenstände« (SV, S. 7). Vgl. auch Leibniz: Neue Abhandlungen (Anm. 1), S. 23. Vgl. Leibniz: Neue Abhandlungen (Anm. 1), S. 25f. SV, S. 8. Vgl. auch seinen frühen Aufsatz Gedanken von dem Einfluß des Climatis in die Denkungsart des Menschen (vgl. SV, S. 227). Als Beispiel nennt Tetens hier die Namen der holländischen Matrosen für insgesamt 32 Winde (vgl. SV, S. 7). Vgl. Leibniz: Neue Abhandlungen (Anm. 1), S. 15. SV, S. 10. Ebd. Ähnlich argumentiert auch Herder; vgl. Abhandlung (Anm. 22), S. 47f. SV, S. 13. Ebd.

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und seine Bedeutung. Zu untersuchen ist in der folgenden Reihenfolge: Ist das Wort aus einer fremden Sprache »eingepfropft«34 oder nicht? Ist es zusammengesetzt oder einfach? Gehört es zu den nomina propria, den Eigennamen, oder nicht? Für eine weitere etymologische Behandlung eignet es sich nur, wenn es sich in dieser Prozedur als »einfaches gemeines Wort«35 erwiesen hat. Dann kann die eigentliche Wortforschung beginnen, und zwar, wie es die These des Zusammenhangs von Phonetik und Semantik fordert, auf zwei Wegen: Man sucht sowohl nach phonetisch gleichlautenden als auch semantisch gleichbedeutenden Wörtern, wozu nun endgültig möglichst umfangreiche Sprachkenntnisse unentbehrlich sind: »Ohne eine weitläuftige Erkenntnis mehrerer Sprachen und ohne einer ausgebreiteten Einbildungskraft wird man mit der größten Vernunft kein Etymologe«.36 Hat man auf diese Art und Weise schließlich eine kleine Wortfamilie gebildet, betrachtet man die bedeutungstragenden Silben, die so genannten »Haupttöne«, die für Tetens, wieder mit einem familiengeschichtlichen Vergleich, wie die »Wappen in der Heraldik«37 sind. Dazu benutzt man alle zugänglichen Informationen zur Wortgeschichte und -entwicklung, die angesichts der Unzuverlässigkeit der Quellen streng nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit evaluiert werden müssen: »Man kann keine einzige Ableitung den Einfällen der zügellosen Phantasie überlassen; alle müssen einen Grund haben, der sie mehr oder weniger wahrscheinlich macht«.38 Hat man am Ende jedoch eine Gruppe von Worten herauspräpariert, die in Hauptton und Bedeutung mit großer Wahrscheinlichkeit übereinstimmen, hat man die Familie beisammen – und das einfachste Mitglied dieser Gruppe ist das Stammwort. Von hier aus kann man weiter versuchen, zu den noch kleineren Elementen, den »ersten Elementen oder zu den natürlichen Tönen«39 zurückzugehen, indem man Hypothesen bildet und sie zu falsifizieren zu versucht, da eine Verifikation auf direktem Weg nicht möglich ist. Allerdings sollte man sich der Grenzen dieses Verfahrens bewusst bleiben; so warnt Tetens: Am Ende ist die Etymologie, wie die übrigen menschlichen Erkenntnisse. Alles sind Brocken. Wir wissen die Regeln, wie sie gesammelt, zusammengesetzt, und wie die Lücken ergänzt werden müssen; aber es fehlt die Kraft ihnen zu folgen.40

»Es fehlt die Kraft ihnen zu folgen« – dieser lakonische Befund könnte als Motto über einer Vielzahl von Tetens’ Schriften, speziell zur spekulativen Philosophie, stehen. Der besondere Wert der Etymologie besteht in diesem Zusammenhang darin, dass sie die Möglichkeit bildet, eine bisher verachtete und häufig missbrauchte wissenschaftliche Disziplin exemplarisch neu zu gründen, und zwar zunächst als ein Modell für andere philosophische und geschichtliche Hilfswissenschaften. Der erste Schritt dabei ist die Formulierung von »Grundsätzen« (mathematisch: Axiomen), die zwar letztlich nicht beweisbar sind, aber mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zutreffen. Ausgehend von diesen gibt es dann genaue Anweisungen zum weiteren, streng regelgeleiteten Verfahren (»wir wissen die Regeln«). Wesentliche methodische Elemente sind die Bil34 35 36 37 38 39 40

Ebd. SV, S. 14. Ebd. Ebd. Ebd., S. 15. Ebd., S. 17. Ebd.

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dung möglichst großer aussagekräftiger Korpora; deren Analyse mit den Mitteln der Statistik; anschließend das Aufstellen von Hypothesen, zumeist auf der Basis von begründbaren Analogien mit ebenfalls hohem Wahrscheinlichkeitsanspruch; schließlich deren Prüfung durch Falsifikationsverfahren. Besonders interessant wird die Etymologie zudem dadurch, dass sie auf der einen Seite eine lebhafte Phantasie erfordert, die erst weit gespannte Verbindungen sehen und herstellen kann; auf der anderen Seite aber muss diese Phantasietätigkeit ständig kontrolliert und eingedämmt werden, damit sie nicht zum »Groposieren« oder »Beckanisieren« verleitet – eine Eigenschaft, die sie letztlich ebenso wie den notwendig spekulativen Charakter mit der philosophischen Metaphysik teilt. Auf die Beziehung zwischen Etymologie und Philosophie geht deshalb auch der zweite Beitrag ausführlicher ein, der nun ankündigungsgemäß den »Nutzen« der Etymologie in den Vordergrund stellt.

3. Die Apologie: Über den Nutzen der Etymologie Tetens konzentriert sich in diesem Aufsatz auf den speziellen Wert etymologischer Untersuchungen für die Philosophie; ihre Nützlichkeit für die Geschichte sei andernorts schon hinreichend bewiesen worden. Wozu also Etymologie in philosophischer Hinsicht? Im Wesentlichen deshalb, weil Sprechen und Denken für Tetens (wie auch für Leibniz und Herder) untrennbar miteinander verknüpft sind; hat man gezeigt, wie sich die Sprache entwickelt, bekommt man zugleich einen Zugriff auf die philosophisch im engeren Sinne interessantere Geschichte des Denkens.41 Das gilt vor allem für die Ursprungsfrage. Wenn die Benennung der Gegenstände nach der im vorigen Aufsatz entwickelten Hypothese in den meisten Fällen ihr Wesen, ihre Natur spiegelt, dann kann man aus den Wörtern die Sachen ableiten: Sie [die Etymologie] lehrt uns also die Benennungsgründe, das ist, die Ideen, welche man sich anfänglich, als man den neuerkannten und bishero noch mit keinen Namen belegten Gegenständen eine eigene Benennung gab, gemacht hatte.42

In einer Sprache als »großes Kollektaneen-Buch« sind also alle »neuen Ideen und Kenntnisse aufgezeichnet«,43 die im Laufe der Zeit gefunden wurden. Darüber hinaus demonstriert die grammatische Verknüpfung der einzelnen Wörter zu Sätzen eine bestimmte Art des Denkens. Die Ideen werden nämlich in der Art und Weise verbunden, wie es die grammatische Verbindung der Wörter anzeigt: »Denn es ist eine Harmonie zwischen der Denkungsart und der Sprache«.44 Diese Harmonie ist zwar nicht direkt prästabiliert, aber immerhin in einigen Fällen aus-

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Ähnlich hatte schon Leibniz in den Neuen Abhandlungen argumentiert: Es gebe eine »natürliche Ordnung der Ideen«, die aber dem Menschen nicht zugänglich sei: »Wir haben uns so dem zuwenden müssen, was die Gelegenheiten und Zufälle, denen unsere Gattung unterworfen ist, uns geliefert haben. Und diese Ordnung gibt uns nicht den Ursprung der Begriffe, sondern sozusagen die Geschichte unserer Entdeckungen« (S. 9; Hvhb. im Original). SV, S. 19; Hvhb. im Original. Ebd; wohl nach Leibnizens Collectanea etymologica (1717). SV, S. 21.

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sagekräftig.45 Die Grammatik wird dann ergänzt durch eine ebenso »natürliche Rhetorik«, die sich vor allem darin äußert, dass allgemeine Begriffe durch bildliche Übertragung aus gegenständlichen gebildet werden: »So machen wir es jetzo noch, und fast alle Benennungen unkörperlicher Dinge und ihrer Veränderungen sind aus den äußeren Empfindungen, und der Körperwelt entlehnt«.46 Dies alles führt Tetens in Über den Ursprung der Sprachen und der Schrift (1772)47 weiter aus; der hier zu behandelnde Aufsatz hingegen nimmt an dieser Stelle eine andere Wendung, die wiederum stärker wissenschaftstheoretisch ist. Im Folgenden geht es Tetens nämlich vor allem um die Problematik philosophischer Begriffe schlechthin – ein Thema, das mit Kant endgültig auf die Tagesordnung kam, aber auch bei Leibniz bereits ausführlich behandelt wurde: Soll die Philosophie sich der Sprache des Alltags bedienen – also zunächst des Deutschen statt des Gelehrtenlatein, aber darüber hinausgehend auch einer dem Alltagssprachgebrauch entlehnten Begrifflichkeit; oder soll sie an einer eigenen Begriffssprache festhalten, wie sie zumeist mit einem philosophischen System und dessen Konsistenz notwendig verbunden ist?48 Tetens’ Stellung zu dieser Frage ist nicht ganz einfach zu fassen; des Problems ist er sich jedoch schon in dieser frühen Schrift deutlich bewusst. Zunächst greift er an dieser Stelle wieder zurück auf die Diskussion über die Natürlichkeit oder Arbitrarität der sprachlichen Zeichen in der Tradition des nunmehr direkt zitierten Kratylos. Leider sei zumindest die jetzige Alltagssprache durchaus nicht so bedeutsam, wie es für einen »vernünftigen Wortmacher«49 wünschenswert wäre; vielmehr seien die Sprache des »gemeinen Mannes« und dessen Begriffe des »rohen Verstandes« »eine Vermischung von Wahrheit und von Irrtümern, von Witz und vom Abenteuerlichen, vom Scharfsinnigen und Verwirrten«50 – und insofern das Zeugnis einer noch kindlichen, nicht disziplinierten Vernunft. Insofern könne man von hier aus leider keine zuverlässigen Schlüsse auf das Wesen der benannten Dinge ziehen, »wie sie sind«; wohl aber, und das sei philosophisch nun nicht völlig unnütz, darauf, »wie der Mensch anfänglich sich selbige vorge45 46 47

48

49 50

Ebenso heißt es im Ursprungs-Aufsatz: »Alle Figuren der Rhetorik sind auch Figuren im Denken, und keine ist vielleicht gewöhnlicher, als die Synekdoche«. ( SV, S. 68). Ebd., S. 10f. Tetens kündigt am Ende des zweiten Aufsatzes zur Etymologie an, er werde weitere Überlegungen dazu präsentieren, wie die Etymologie der Philosophie auch »unmittelbar dienlich« (ebd., S. 26) sein könne. Dies zielt offenbar bereits auf die Ursprungsdebatte, in der es um genuin philosophische Grundfragen, nicht ›nur‹ um Methodenfragen geht. Vgl. dazu den Beitrag von Hans-Peter Nowitzki in diesem Band. Ein Beispiel für einen solchen Wortstreit findet sich beispielsweise in den Philosophischen Versuchen, 11. Versuch, wo es um die Grundkraft der menschlichen Seele geht. Tetens erwägt einleitend verschiedene Termini, um das Wesen der »Seele« genauer zu erfassen; schließlich wählt er den Terminus »Entelechia«, »weil es am wenigsten sagt« (SV, S. 93). Eine weitere Spekulation über mögliche Grund- oder Ur-Kräfte der Seele jenseits ihrer empirisch sichtbaren Wirkungen lehnt er ab: Es handle sich hier um eine »dunkle Tiefe«, in der man sich allenfalls »fortfühlen« könne (S. 96). Das »Licht« der Evidenz scheine hier nicht mehr, und auch die »Analogie« gebe nur noch einen »schwachen Schimmer« (S. 97). Der Passus endet mit einem etymologischen Argument: »Die Spekulation aus Begriffen sollte hier als ein sicherer Wegweiser zutreten. Aber leider tut sie dies in metaphysischen Untersuchungen sehr selten, teils weil sie nicht kann, und teils auch, weil ihre Beihülfe so oft nicht gesucht, und gar von der Hand gewiesen wird« (ebd.). SV, S. 20. Ebd.

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stellt hat«.51 Dieses Wissen sei immerhin als »Leitfaden mit Nutzen«52 zu gebrauchen. Mehr noch: Eine etymologische Betrachtung der Alltagssprache könnte dazu beitragen, endlich einmal zu klären, welche Bedeutung man mit den »allgemeinen Ausdrücken« der Philosophie eigentlich im »gemeinen Leben« verbindet: Ein kritisches philosophisches Lexikon der gemeinen Sprache, in welchem die eigentlichen und figürlichen, die eingeschränkten und allgemeinen Bedeutungen, welche man den Wörtern im gemeinen Leben gibt, deutlich entwickelt und vollständig angegeben würden, ist nach meinen Gedanken ein Schatz, den man unserer teutschen Sprache sehr zu wünschen hätte.53

Tetens meint damit nicht, dass die Philosophie insgesamt eine Philosophie des Alltags oder des gemeinen Lebens werden soll; wohl aber, dass es eine »gemeine« Philosophie gibt, die ein »großer Teil der wahren Philosophie« ist und näher als »Philosophie der Sachen«54 bezeichnet werden könnte: Sie würde versuchen, die Dinge so zu erklären, »wie sie sind«55 – also von der allgemeinen Lebenserfahrung ausgehen – und sie deshalb auch so zu benennen, wie man spricht: also »dem Sprachgebrauch folgen«.56

4. Gegen die »Logomachien«: Zum Zusammenhang von vernünftiger Metaphysik und vernünftiger Etymologie Das Wort von der Popularphilosophie fällt hier nicht, aber letztlich ist wohl etwas Ähnliches gemeint. Genauer führt Tetens diesen Zusammenhang nicht aus, geht aber an anderer Stelle noch einmal detaillierter darauf ein, nämlich in den etwas früher entstandenen Gedancken über einige Ursachen, warum in der Metaphysik nur wenig ausgemachte Wahrheiten sind (1760).57 Die wesentliche Ursache ist für ihn die Neigung von Metaphysikern und Ontologen zu »Logomachien«.58 Zumeist bestünden ihre Grundwörter nämlich aus zusammengesetzten Begriffen, bei denen sich die Missverständnisse gegenüber einfachen Begriffen noch durch die Art der Zusammensetzung potenzierten. Dies alles führe zu einem permanenten Kriegszustand unter den Philosophen, denen das Bild der Mathematik als »friedfertiger Wissenschaft«59 gegenübergestellt wird: Hier würden aus klaren axiomatischen Begriffen nach logischen Gesetzen Sätze hergeleitet und bewiesen – und es sei letztlich sinnvoller für die Metaphysik, ihr ewiges Kriegsbeil zu begraben und es der Mathematik gleichzutun: »Die Streitigkeiten in der Metaphysik müssen notwendig 51 52 53 54

55 56 57 58 59

Ebd., S. 22. Ebd. Ebd., S. 23; Hvhb. im Original. Ebd., S. 24; Hvhb. im Original. Tetens gibt hier einen bezeichnenden Vergleich mit einer anderen »mathematischen« Wissenschaft: »In der Philosophie der Sachen muß man die Dinge erklären wie sie sind, so wie es die Astronomen mit den Sonnenfinsternissen machen, und nicht wie sie irrig vorgestellt werden« (ebd.). Ebd. Ebd. Vgl. dazu auch den Beitrag von Achim Vesper in diesem Band. SV, S. 146. Ebd., S. 147; Hvhb. im Original.

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abgeschafft werden, wenn diese Wissenschaft mit ausgemachten Wahrheiten bereichert werden soll«.60 Damit ist das Problem aber wieder auf die sprachlich-etymologische Ebene verlagert: Denn welchen allgemeinen Sprachgebrauch soll man nun als verbindlich festlegen, den ›gemeinen‹ oder den ›gelehrten‹ – zumal in beiden Systemen selbst schon keine Einigkeit bestehe und Missverständnisse im Alltag ebenso gegenwärtig seien wie in verschiedenen philosophischen Systemen? Dazu kommt nach Tetens noch eine vielfach empirisch belegte, aber leider kontraproduktive Charaktereigenschaft aller großen Systemphilosophen und Metaphysiker: Man ist viel zu eigensinnig, als daß man sich von einem jetzt lebenden Metaphysiker sollte vorschreiben lassen, wie man reden sollte, und wenn einer der schon verstorbenen zur Vorschrift sollte genommen werden, so würde man ebensowenig sich hierüber einig werden.61

Eine mögliche Lösung dieses Problems sieht Tetens in der Einführung der von Leibniz vorgeschlagenen Universalsprache, die er mit der Analysis in der Mathematik vergleicht; das Vorhaben habe sich jedoch historisch als ebenso undurchführbar erwiesen wie eine Vereinheitlichung der Systeme. Auch die inzwischen eingebürgerte Einführung von »Worterklärungen«62 vor ihrem jeweiligen Gebrauch habe nicht wirklich geholfen, sondern nur zu einer Art unendlichem Regress geführt. Eine wesentliche Ursache dafür sei – und hier kann man den Bogen zurück zur Etymologie schlagen, auch wenn Tetens das aus chronologischen Gründen in diesem früheren Text nicht tut –, dass es sich häufig um zusammengesetzte Begriffe handelt, die nicht sauber in die diesen zugrunde liegenden einfachen Begriffe auseinanderdividiert wurden: Nur eine Zurückführung auf die allerersten Elemente aber, auf »einfache Ideen«,63 könne wirklich Klarheit schaffen – also genau das Verfahren, das er später der Etymologie zur Aufgabe machen wird. Letztlich sei eine solche Begriffs-Atomistik auch die Voraussetzung dafür, das Unternehmen der philosophischen Universalsprache doch noch einmal anzugehen. Sinnvoll sei allein eine zeichenhaft vereinfachte Begriffssprache mit nur sehr wenigen Grundbegriffen, die dann durch alltagssprachliche »Verbindungswörter«64 (anstelle arithmetischer Regeln) verknüpft würden; diese seien definitionsgemäß einfach und unmissverständlich. Tetens zeigt sich aber insgesamt wenig optimistisch, ob dieser Vorschlag durchsetzungsfähig sei; »aber es fehlt die Kraft ihnen zu folgen«,65 ist wohl auch hier der nicht ausgesprochene Hintergedanke. Obwohl Tetens damit letztlich keine Lösung für das Problem der »Logomachien« in der Metaphysik vorschlagen kann, hilft die Etymologie zumindest dabei, das Problem klarer zu analysieren und zu formulieren. Wer diesem Argument nicht folgen mag, kann vielleicht wenigstens dem allgemeinen Grundsatz zustimmen: »Sie [die Etymologie] verbessert und erklärt die Sprache, und diese unterrichtet den Philosophen«.66 Dass Tetens selbst das Problem eindeutig bestimmter Begriffe in der Philosophie jedoch, und zwar nicht nur in systematischer und methodischer Hinsicht, sondern auch unmittelbar im Blick auf die philosophische Erkenntnis 60 61 62 63 64 65 66

Ebd., S. 148. Auch hier sieht man einen ähnlichen Denkimpuls wie in Kants kritizistischem Projekt. Ebd., S. 151. Ebd., S. 152. Ebd., S. 153. Ebd., S. 157. Ebd., S. 17. Ebd., S. 26.

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selbst noch lange beschäftigt hat und ein zentraler Bestandteil seiner Philosophie ist, kann man noch in den Philosophischen Versuchen sehen. Dort heißt es beispielsweise im Blick auf die Begründung der »inneren Selbsttätigkeit« als anthropologisches Kernspezifikum der Menschen, also einem zentralen Theoriebestandteil: Wir verlieren uns in die Dunkelheit der Begriffe von Kräften, Vermögen, Anlagen, Graden und Entwicklungen, wenn wir weiter hierin hineingehen, und sammeln höchstens noch ein Beispiel mehr zu so vielen anderen, wie unentbehrlich zu jeder gründlichen Untersuchung über die Natur der wirklichen Dinge die Auflösung der allgemeinen Verstandesbegriffe, das ist, eine vernünftige Metaphysik sei.67

Eine solche »vernünftige Metaphysik« ist jedoch nur möglich auf Basis einfacher, geklärter, »allgemeiner Verstandesbegriffe«, wie sie eine ›vernünftige Etymologie‹ auf Basis empirischer sprachvergleichender Funde und kontrollierter wissenschaftlicher Thesenbildung zumindest in Einzelfällen liefern könnte.

67

Ebd., S. 119; Hvhb. im Original.

UDO ROTH

Seichtes Gefälle Zur Funktion der deichbautechnischen Schriften Johann Nikolaus Tetens’ für Theodor Storms Schimmelreiter

Deus mare, friso litora fecit.

Als der junge Hauke Haien eines Abends nach der Rückkehr ins Elternhaus – die Flut schlägt hart gegen den Deich – gescholten wird, er habe bei solchem Wetter während seiner Ausflüge zum Deich »versaufen« können, entgegnet Hauke trotzig: »unsere Deiche sind nichts wert«, sie »taugen nichts«: »Die Wasserseite ist zu steil, [...] wenn es einmal kommt, wie es mehr als einmal gekommen ist, so können wir hier auch hinterm Deich ersaufen!«1 Der Knabe hat bei Flut die anbrandende See beobachtet, die immer und immer wieder ein und dieselbe Stelle am Deich trifft – und schließlich zeichnet er »mit der Hand eine weiche Linie in die Luft, als ob er dem Deiche damit einen sanfteren Abfall geben wollte«.2 Jahre später erntet der zum Deichgrafen aufgestiegene Hauke bei der Vorstellung seines Deichprojektes ob der arbeitsintensiven und zugleich widersinnig scheinenden Baumaßnahmen großen Unmut, denn der neue Deich werde ja nicht höher sein als der alte, der nun schon über dreißig Jahre stehe! Zwar kann auch Haukes Entgegnung, ›sein‹ Deich werde »hundert und aber hundert Jahre stehen«, da er im Gegensatz zum alten, »steil und unvernünftig« gebauten Deich durch den »milde[n] Abfall nach der Seeseite den Wellen keinen Angriffspunkt« biete und so nicht durchbrochen werden könne, den Deichgevollmächtigten, selbst mit dem Verweis auf den Vorteil der Marschbewohner durch die Gewinnung sicheren Landes, keine Zustimmung abgewinnen. Doch beschließt man nach langen Diskussionen und unter dem Eindruck des Urteils, das der alte Jewe Manners, der Deiche hat »bauen und brechen« sehen, über das von Hauke nach der diesem »von Gott verliehene[n] Einsicht projektiert[e]« Vorhaben gefällt hat, letztendlich den Bau des Hauke-Haien-Deiches.3 In diesen zentralen Passagen der Novelle formt Storm mit der Figur des Hauke Haien einen deichbautechnischen Innovator, der von Jugend an den Fluten widerstehende Deichprofile aussinnt, der als Deichgraf vom alten Deich »in Gedanken eine Linie« zieht, die »unsichtbar[e]«

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Theodor Storm: Der Schimmelreiter. In: ders.: Sämtliche Werke in vier Bänden. Hg. von Karl Ernst Laage u. Dieter Lohmeier. Frankfurt a.M. 1988, Bd. 3, S. 634–755, hier S. 642. Ebd., S. 641. Vgl. ebd., S. 707–709.

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Linie des neuen Deichs, »neu auch in der Konstruktion seines Profiles«,4 den Hauke schließlich trotz der Vorbehalte der Marschbewohner bauen lässt. Um in seine »Deichnovelle« solche deichbautechnischen Kenntnisse wie die, über die Hauke letztendlich verfügt, einfließen lassen zu können, tat sich Storm bereits seit Februar 1885 »in puncto Deich- und andrer Studien« um,5 er besprach mit seinem »Deich-sachverständigen Freunde Bau-Insp. Eckermann«6 »allerlei Technisches in Deichsachen«7 und sah sich schließlich, wie er im Dezember 1887 seinem Verleger Elwin Paetel mitteilte, in der Lage, »nächstens auch einen Koog eindeichen [zu] können«.8 Jener Christian Hinrich Eckermann (1833–1904), Ingenieur für Deich- und Wasserbauwesen und seit 1876 Bauinspektor unter anderem für Norderdithmarschen, Eiderstedt und Husum, unterstützte den ihm seit den späten 1860er Jahren freundschaftlich verbundenen Storm aber nicht nur in ausgedehnten »Conferenz[en]«9 bei technischen Schwierigkeiten in Deichsachen – die Schilderung des Deichbaus im Schimmelreiter folgt im Wesentlichen Eckermanns Beschreibung des unter seiner Leitung 1872/73 eingedeichten Kaiser-Wilhelm-Koogs in Süderdithmarschen, die er 1875 in der Zeitschrift für Bauwesen publiziert hatte.10 Eckermann machte Storm auch zahlreiche Bücher, Handschriften und Karten zu Geschichte und Technik des Deichbauwesens aus seiner Privatbibliothek zugänglich,11 darunter etwa die Sammelung einiger Husumischer Nachrichten des Husumer Bürgermeisters Johann Laß (1721–1784), in deren zweiter Fortsetzung zu lesen ist, dass der 7. Oktober 1756 »in mehrerem ja fürchterlicherm Andenken« bleibe, werde das an jenem Tage »schäumende[ ] und hoch auflauffende[ ] Wasser« doch »bis auf die späteste Zeiten Spuren nachlassen«. Die Sturmflut von 1756, die ›Markusflut‹, verwüstete weite Teile der Deutschen Bucht und drang bis nach Hamburg vor. Mit voller Wucht und Wellen von »7 Ruhten und 16 Ruhten tief« traf sie die Husumer Bucht, vor allem aber die nördlich von Husum gelegene Hattstedter Marsch.12 Hier hatte bereits im Oktober 1634 die zweite ›Grote Mandränke‹, die ›Burchardiflut‹ gewütet, die die Insel Strand

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12

Vgl. ebd., S. 690f.; bereits in Storms 1880/81 entstandener Novelle Der Herr Etatsrat ist die Rede von der »Konstruktion meiner [neuen] Profile« (Theodor Storm: Der Herr Etatsrat. In: ders.: Sämtliche Werke [s. Anm. 1], Bd. 3, S. 9–57, hier S. 26), doch bleibt das Deichwesen dort nur Episode. Storm an die Gebrüder Paetel, Juli/August 1886; nicht überlieferter Brief, hier zitiert nach Theodor Storm: Sämtliche Werke in 8 Bänden. Hg. von Albert Köster. Leipzig 1919/20, Bd. 8, S. 288. Storm an Paul Heyse, 20. Okt. 1887; Theodor Storm – Paul Heyse. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hg. von Clifford A. Bernd. 3 Bde. Berlin 1969–1974, Bd. 3, S. 161. Storm an seine Tochter Elsabe, 29. Okt. 1887; Theodor Storm – Briefe an seine Kinder. Hg. von Gertrud Storm. Berlin, Braunschweig, Hamburg 1916, S. 281. Storm an die Gebrüder Paetel, 16. Dez. 1887; Theodor Storm – Gebrüder Paetel. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hg. von Roland Berbig. Berlin 2005, S. 241. Tagebucheintrag Storms vom 28. Okt. 1887; Storm: Sämtliche Werke (s. Anm. 1), Bd. 4, S. 558f. Vgl. Christian Eckermann: Die Bedeichung der Maxqueller, des jetzigen Kaiser Wilhelm-Kooge. In: Zeitschrift für Bauwesen 25 (1875), S. 219–238. Vgl. Karl Ernst Laage. Die Beziehungen Theodor Storms zu seinem »Schimmelreiter«-Berater Christian Eckermann und dessen Familie (mit unveröffentlichten Briefen). In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 49 (2000), S. 45–63. Johannes Laß: Sammlung Husumscher Nachrichten, Zweyter Fortsetzung, 8 Stücke, nebst Register. Flensburg 1752–1756, Siebentes Stück (1755), S. 309f.; legt man die Husumer Rute mit 4,73 m zugrunde, waren es mehr als 33 Meter hohe Wellen.

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auseinander und mehr als 15.000 Menschen in den Tod riss.13 Beide Sturmfluten dienten Storm als Vorbild jener Flut, die Hauke Haien letztendlich als »Sündflut« deutet, bereit, »Tier und Mensch zu verschlingen«14 und deren Opfer er selbst wird. Neben solchen chronikalen Quellen konnte Storm aber auch auf Schriften zu historischen Fragen des Deichbaus – die Novelle spielt vor der großen Flut 1756 – zurückgreifen. Eckermann selbst hatte 1882 einen Beitrag zur Geschichte der Eindeichungen in Norderdithmarschen publiziert, dessen einleitende Teile recht allgemein das Deichwesen an der heute schleswig-holsteinischen Küste behandeln.15 Den Nachweis der von ihm genutzten Quellen bleibt Eckermann in diesem Aufsatz schuldig, erst in einem 1891 publizierten weiteren deichbaugeschichtlichen Beitrag gibt er Hinweise.16 Unter diesen befinden sich auch die SchleswigHolsteinischen Provinzial-Berichte, das offizielle Blatt der 1787 gegründeten ›SchleswigHolsteinischen Patriotischen Gesellschaft‹, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, »Landeskunde und [...] bürgerlichen Wohlstand« im damals dänischen Schleswig-Holstein zu befördern.17 Vor eben jener Gesellschaft hielt Ende Oktober 1787 ihr scheidender Direktor, Johann Nikolaus Tetens eine Vorlesung Ueber den eingedeichten Zustand der Marschländer, und die demselben anklebende Gefahr vor Ueberschwemmungen, die noch im selben Jahr in den Provinzial-Berichten abgedruckt wurde.18 Eckermann nennt als Quelle diesen ersten Band nicht, doch findet sich ein Exemplar in Storms Bibliothek. Im zweiten Band der Provinzial-Berichte – diesen erwähnt Eckermann – finden sich unter dem Titel Bemerkungen über die einländischen Marschen über das Eigene ihrer verschiedenen Bezirke und den Karakter ihrer Bewohner19 Auszüge aus Tetens’ 1788 publizierten Reisen in die Marschländer an der Nordsee.20

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Vgl. dazu Marie Luisa Allemeyer: »In diesser erschrecklichen unerhörten Wasserfluth, kan man keine naturlichen Ursachen suchen«. Die Burchardi-Flut des Jahres 1634 an der Nordseeküste: In: Katastrophen. Vom Untergang Pompejis bis zum Klimawandel. Hg. von Gerrit Jasper Schenk. Ostfildern 2009, S. 93–108; Boy Hinrichs: Flutkatastrophe 1634. Natur – Geschichte – Dichtung. Neumünster 21991. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 752. Vgl. Christian Eckermann: Zur Geschichte der Eindeichungen in Norderdithmarschen. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holstein-Lauenburgische Geschichte 12 (1882), S. 1–72. Vgl. Christian Eckermann: Die Eindeichungen von Husum bis Hoyer. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holstein-Lauenburgische Geschichte 21 (1891), S. 187–234. August Niemann: Vorläufige Nachricht von der neugestifteten schleswig-holsteinischen patriotischen Gesellschaft. In: Schleswig-holsteinische Provinzialberichte 1 (1787), S. IX–XVI, hier S. X. Johann Nikolaus Tetens: Ueber den eingedeichten Zustand der Marschländer, und die demselben anklebende Gefahr vor Ueberschwemmungen. In: Schleswig-holsteinische Provinzialberichte 1 (1787), S. 641–665. [Johann Nikolaus Tetens:] Bemerkungen über die einländischen Marschen über das Eigene ihrer verschiedenen Bezirke und den Karakter ihrer Bewohner. In: Schleswig-holsteinische Provinzialberichte 2 (1788), Bd. 2, S. 350– 375. Johann Nikolaus Tetens: Reisen in die Marschländer an der Nordsee zur Beobachtung des Deichbaus in Briefen. Leipzig 1788; Tetens selbst hält in einem von ihm zusammengestellten Verzeichnis seiner Werke nur die »mit einem * bezeichneten« als »insonderheit aufzuführen« – die Reisen sind mit solch einem * gekennzeichnet, vgl. den Eintrag zu Tetens in Berend Kordes: Lexikon der jetztlebenden schleswigholsteinischen und eutinischen Schriftsteller. Schleswig 1797, S. 325–332, hier S. 326 u. S. 330.

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1. Mythos Schimmelreiter Die Bedeutung der deichbautechnischen Schriften Tetens’ als Quelle für Storms Schimmelreiter ist seit langem bekannt.21 In zahlreichen Publikationen wurde und wird versucht, einzelne der insbesondere in den Reisen thematisierten Aspekte für eine Recherche der von Storm konsultierten Literatur fruchtbar zu machen. Doch bleiben Tetens’ Deichbaustudien für die Stormforschung allenfalls im positivistischen Sinne Sammlungen technikgeschichtlicher Momente, vornehmlich des Deichprofils. Aus Tetens’ Beschreibung der Deiche nach der »alten friesischen Art« nämlich und auf den Hinweis von Tetens, dass die gerade neu errichteten Deiche im Desmerciereskoog eine Ausnahme darstellen, folgerte Storm, dass nur ein flaches Profil eine vernünftige Lösung darstelle. Diese Vorstellung überträgt er auf seinen künftigen Deichgrafen.22

Doch beruhe der von Storm als »fundamentale Neuerung, durch die ältere Deichkonstruktionen mit steilen Böschungen abgelöst wurden« dargestellte Hauke-Haien-Deich auf »irrigen Annahmen einiger Chronisten des 16. Jahrhunderts«, da die seit dem Mittelalter errichteten einfachen und senkrechten Palisadenkonstruktion der sogenannten Stackdeiche im 18. Jahrhundert nur noch da »kurzzeitige Bedeutung« gehabt habe, »wo kein Vorland zum Schutz gegen die auflaufenden Wellen mehr vorhanden war«. Durch »moderne archäologische Untersuchungen« sei hingegen nachgewiesen, dass bei den seit der Frühen Neuzeit zur See hin abfallenden Deichen die »Dammkronen erhöht wurden, während die flachen Außenböschungen nach wie vor dafür sorgten, dass die Wellen ihre Energie verloren«. Die dokumentierten Sturmfluten hätten ihre Ursache somit in veränderten Wasserständen und Windgeschwindigkeiten, »nicht aber in der Unvernunft der Deichbaumaßnahmen«: Storm hat einen Mythos geschaffen, der bis heute nachwirkt und eine falsche Vorstellung der älteren Deichschutzmaßnahmen vermittelt. Es führt kein gerader Weg vom senkrechten Pallisadenzaun [sic!] des Stackdeichs über steile Dossierungen hin zum sanften Abfall der Seeseite moderner Deiche. Das Neue an den Deichen des 18. Jahrhunderts war ihre Höhe und damit die Verbreiterung des Deichfußes, wodurch den Wellen automatisch ein längerer Weg vorgeschrieben wurde, bei dem sie ihre Energie verbrauchen sollten.23

Auf diese Argumentation, die nicht nur hinsichtlich der »Höhe und damit [der] Verbreiterung des Deichfußes« bedenkenswert ist, da dies nicht zwangsläufig mit einer flacheren Dossierung zur Seeseite hin einhergehen muss,24 sei auch in Hinblick auf die weiteren Ausführungen hier eine kurze kritische Replik gestattet. 21

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Vgl. Reimer Kay Holander: Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Kommentar und Dokumentation. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1976, S. 59f., 173–180 (Auszüge aus den Reisen); Paul Barz: Der wahre Schimmelreiter. Die Geschichte einer Landschaft und ihres Dichters Theodor Storm. Hamburg 1982, S. 160–162; zuletzt Gerd Eversberg: Der echte Schimmelreiter. So (er)fand Storm seinen Hauke Haien. Heide 2010, S. 91–93. Ebd., S. 94f. Vgl. ebd., S. 95–97; Eversbergs rekurriert auf Hans-Joachim Kühn: Die Anfänge des Deichbaus in Schleswig-Holstein. Heide 1992; vgl. aber auch Hans-Joachim Kühn: u. Albert Panten (Hg.): Der frühe Deichbau in Nordfriesland. Archäologisch-historische Untersuchungen. Bredstedt 1989, 21995. Der 1596 auf Nordstrand errichtete Stackdeich hatte bei einer Höhe von 4,17 m einen Deichfuß von 19,10 m Breite (wobei die senkrecht abfallende Wasserseite 2,38 m hoch war), der Fuß des den zwi-

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Den archäologisch seit dem frühen Mittelalter an der nordfriesischen Küste nachweisbaren, als flache, überströmbare und von geringer Höhe angelegten ›Sommerdeichen‹ folgten im späten Mittelalter erhöhte und damit auch verbreiterte Formen, die auch im Winter Schutz vor Sturmfluten bieten konnten. Seit dem 15. Jahrhundert entstanden sogenannte Stackdeiche, zur See hin senkrecht abfallende, mit bis zu zwei Meter hohen Holzplanken verkleidete Deiche ohne schützendes Vorland, um die Marschen, die reiche Ernten versprachen, immer weiter zur Küstenlinie vorzutreiben. Da solche Deiche jedoch nach kurzer Zeit unterspült oder durch überbrandende Wellen aufgeweicht wurden, ließ der von Herzog Johann Adolf von SchleswigHolstein-Gottdorf (1575–1616) 1609 zum Generaldeichgrafen von Nordfriesland ernannte, aus den Niederlanden stammenden Johann Claussen Rollwagen (1563/64–1624/25)25 1610 bei der Eindeichung des Sieversflether Koogs auf Eiderstedt den ersten zur Seeseite hin flach abfallenden statt der sonst üblichen Stackdeiche errichten. Solche Schardeiche, ohne schützendes Vorland mit zur See hin flachem Profil und an ihrem Fuß zum Schutz vor Aus- bzw. Unterhöhlung mit Stroh bestickt oder auch mit Grassoden belegt, blieben aber, wie Tetens eindringlich vermerkt, die Ausnahme, die meisten der Deiche sind auch in den 1780er Jahren immer noch nach der »alten friesischen Art« gebaut, »niedrig, an vielen Stellen schmal, steil, mit einfachen und schwachen Bollwerken versehen«.26 Der Grund für die Stagnation im Deichbau nach ›modernen‹ Mustern war Tetens aber bewusst. Der Verlust des Vorlandes, das die Landbesitzer, auf deren Grund der Deich errichtet wurde, bisher landwirtschaftlich nutzen konnten, führte zu deren Entrechtung. Die Folgen waren Unruhen, die im Sommer 1613 ausbrachen und Rollwagen letztlich zur Flucht in die Niederlande zwangen.27

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schen 1765 und 1767 geschaffenen Desmercières-Koog umfassenden Deichs war zwar 34,48 m breit, mit 5,05 m zwar höher, proportional aber niedriger als der Nordstrander Stackdeich (vgl. August Wilhelm Geerkens: Jean Henri Graf Desmercieres. Flensburg 1960, S. 76); überhaupt ist die Kronenhöhe der Deiche zwischen 1596 und 1765 um gerade einmal 40 cm gewachsen, vgl. Robert Stadelmann: Meer – Deiche – Land. Küstenschutz und Landgewinnung an der deutschen Nordseeküste. Neumünster 1981. Johann Claussen Rollwagen (ndl. Jan Claeszoon Rolwaghen) ist nicht, wie immer noch kolportiert (vgl. etwa Hans Wagner: Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1998 u.ö., S. 55), identisch mit dem ebenfalls aus den Niederlanden stammenden Jan Clausen Coott (auch Koth, Kotte, Cöthen; 1570/80 – nach 1626); der Irrtum geht wahrscheinlich auf den Chronisten Anton Heimreich (1626–1685) zurück, der in seiner Ernewreten NordFresischen Chronick (Schleswig 1666) »einen in Eiderstädt wohnenden Holländer/ so Johann Claus Cöthen oder Rullwagen genant« als »Teichmeister« anführt; vgl. Dieter Lohmeier: Rollwagen – Claußen – Coott. Personalhistorische Anmerkungen zur Geschichte des Deichbaus in Nordfriesland im frühen 17. Jahrhundert. In: Nordfriesisches Jahrbuch N.F. 16 (1980), S. 75–90, hier S. 76. Zu Unrecht mit der ›Erfindung‹ der Schubkarre in Verbindung gebracht, setzte Rollwagen beim Deichbau jedoch erstmals Schubkarren statt der bis dahin verwendeten, von Pferden gezogenen Sturzkarren ein, da er anders als zuvor üblich die Arbeiten nicht von den Marschbewohnern, sondern von spezialisierten Unternehmen ausführen ließ, die zum Bau der Deiche Tagelöhner anwarben; auch im Schimmelreiter kommen zunächst Schubkarren zum Einsatz, der junge Hauke muss am Deich »mit anderen Arbeitern von Ostern bis Martini Erde karren« (Storm: Der Schimmelreiter [s. Anm. 1], S. 641), der Deichgraf Haien aber setzt »einspännige Sturzkarren mit Gabeldeichsel« zur »Heranholung des Kleis oder sonstigen Materials« ein (ebd., S. 709). Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 135. Vgl. Lohmeier: Rollwagen – Claußen – Coott (s. Anm. 25), S. 78f.; die Aufsicht über den Deichbau wurde nach Rollwagens Flucht Coott übertragen.

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Darüber hinaus sind weder Tetens noch Storm an einem »gerade[n] Weg« zum modernen Deichprofil interessiert. Ein »gewisser practischer Hydrotekt«, der »jetzo todt ist«, habe, so Tetens in den Reisen, vorgeschlagen, den Büsumer Deich in Norderdithmarschen, der jährlich beschädigt worden sowie nach 30 Jahren bereits seines Fußes ledig gewesen sei und den man mit allerlei Vorwerken notdürftig gesichert habe, »zu verändern und auf einmal aller seiner Beschwerden zu entledigen«. Denn dieser habe ein allgemeines Mittel erfunden, alle Ufer- und Deichkrankheiten zu heilen, sie mögen vom Strom oder vom Wellenschlag herkommen. Und welches denn? Die Abflächung. Alle unsere Höfter [Buhnen] an den Flüssen, und alle Schlickfänger, oder Wellenbrecher an der offenen See, kann man ausreißen; nur das Ufer ganz sanft abgeflächt; so verliehrt Wellenschlag und Strom ihre Kraft dagegen.28

Doch sei es vom Ansatz her falsch, die vorgelagerten Sicherungen radikal und überall zu entfernen und so einen abgeflachten Deich ohne schützendes Vorland zu lassen. Nach »Vernunft und Erfahrung« sei zwar »eine starke Dossirung [...] einer dem Wasser ausgesetzten Fläche, eins der wirksamsten Mittel [...], die Angriffe [...] vom Wellenschlag zu vermindern«, ob dies aber »allenthalben ein souveraines, oder nur ein allenthalben zweckmäßiges Mittel« sei, bezweifelt Tetens sehr, denn man müsse doch die »große Natur vor Augen [haben], die es nur gar zu deutlich lehrt, wie viel man noch mehr als Abflächung veranstalten müsse, um nur einigermaßen sich festzuhalten«. Wenn man sie also vorbehaltlos verallgemeinere, so sei die Rede von der Abflachung eine der Halbwahrheiten, die auf einseitigen Begriffen beruhen, gegen die man in jeder Praxis nicht genug auf der Hut seyn kann. Das ist das leidige Halbwissen, das so oft noch mehr Schaden bringt, als die baare Unwissenheit.29

In der Hattstedter Marsch, dem vermeintlichen Schauplatz des Schimmelreiters, fand Tetens ein den individuellen Gegebenheiten musterhaft entsprechendes Verfahren: Jene alten Eindeichungen, die Jean-Henri Desmercières (1687–1778) mit einem neuen Profil versehen hatte. Deren zerstörte Füße waren durch Höfter verstärkt worden, doch hatte man ein Vorland aufgeschlickt, das es erlaubte, die Füße wiederherzustellen und die Höfter, die für starke Verwirbelungen der anbrandenden See und dadurch zu verstärkter Aushöhlung führten, zu entfernen. Auch gab man dem Deich ein flacheres Profil, wobei man ihn zur Landseite hin vergrößert hatte. Wenn Tetens also für ein flacheres Profil der Deiche plädiert,30 so immer im Kontext einer praktischen Umsetzung der theoretischen Erkenntnisse nach den je unterschiedlichen landschaftlichen Gegebenheiten. Auf eben jenen Aspekt einer Sicherung des Deiches durch ein die Wucht der Wellen minderndes Vorland rekurriert aber auch Storms Schimmelreiter. Der junge Hauke, der behauptet, »die Wasserseite« der Deiche sei »zu steil«, knetet noch aus Kleierde

28 29 30

Vgl. Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 31 mit Anm. Ebd. Tetens’ »Erkenntnis von der schädlichen Wirkung der Steilkörper« und sein Plädoyer für die Abflachung der Außenböschungen der Deiche sind »später in Vergessenheit geraten, wie sich in neuerer Zeit bei dem Bau von Senkrechtmauern aus Beton als neuartige Bauweise herausgestellt hat« (Otto Fischer: Sonderprobleme und Einzelfragen des Küstenraumes. Berlin 1955 [ders. u Friedrich Müller: Das Wasserwesen an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste, 3. Teil: Das Festland, Bd. 1], S. 129).

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allerlei Deichmodelle, legte sie in ein flaches Gefäß mit Wasser und suchte darin die Ausspülung der Wellen nachzumachen, oder er nahm seine Schiefertafel und zeichnete darauf das Profil der Deiche nach der Seeseite, wie es nach seiner Meinung sein mußte.31

Der Deichgraf Hauke hingegen erläutert den Deichbevollmächtigten, dass, soweit »das Vorland in die Watten« hinausgehe, »außerhalb der Deichlinie ein Streifen Landes frei gelassen« werde, und auch ein »Vorland« laufe »nach Nord und Süd von dem neuen Kooge an dem Deiche« hin.32 Ebenso bedürfe der alte Deich nicht nur einer zur Wasserseite hin flacheren Dossierung, »Lahnungen«, Schlickfangzäune im Watt sollen hier ein Aufschlicken des sichernden Vorlandes ermöglichen.33 Es ist also nicht nur das flachere Profil, das Haukes Deich auszeichnet, es ist ebenso und vor allem die den landschaftlichen Gegebenheiten angepasste Ausführung des Deichbauvorhabens, das schützende Vorland, das den Hauke-Haien-Deich von anderen und vor allem dem ›alten‹ Deich unterscheidet. Dem ›Mythos‹ Hauke Haien, den Storm geschaffen habe und den Jost Hermand mit dem Signum des gründerzeitlichen ›Übermenschen‹ belegte, da Nietzsches ›blonde Bestie‹, »über Leichen reitend«, in der Erzählung umherschweife,34 ist so einfach nicht beizukommen. Denn irritierend bleiben bei aller Suche nach möglichen Quellen und Vorbildern des Schimmelreiters vor allem zwei Aspekte. Zum einen: Weder der alte noch der neue Deich brechen, die tosende See schlägt eine Bresche in die »Nordwestecke, dort wo der neue auf den alten stieß«.35 Damit korrespondieren Beginn und der Schluss der die Geschichte des Schimmelreiters rahmenden Erzählung, denn der Deichgraf versichert dem namenlosen Reiter nach seiner Ankunft im Wirtshaus, dass man hier, an der »Ostseite«, außer Gefahr sei, »drüben an der anderen Seite« aber sei es »nicht sicher; die Deiche sind dort meist noch mehr nach altem Muster«.36 Da der Schauplatz der Schimmelerzählung irgendwo in der Marsch nördlich von Husum zu lokalisieren ist,37 handelt es sich bei der »anderen Seite« um die einige Kilometer westlich von Husum gelegene Insel Nordstrand, ein Rest der bei der Sturmflut 1634 zerrissenen Insel Strand und erst seit 1907 durch einen Damm mit dem Festland verbunden. Der »Hauptdeich« auf dem Festland 31 32 33 34

35 36 37

Vgl. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 642. Ebd., S. 708. Vgl. ebd., S. 738. Vgl. Jost Hermand: Hauke Haien. Kritik oder Ideal des gründerzeitlichen Übermenschen. In: Wirkendes Wort 15 (1965), S. 40–50, wiederabgedruckt in: ders.: Von Mainz nach Weimar (1789–1919). Studien zur deutschen Literatur. Stuttgart 1969, S. 250–268 u. S. 383f., hier S. 260. Vgl. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 747–750. Ebd., S. 637 Vgl. zuerst Felix Schmeißer: Der Schauplatz des Schimmelreiters. Überraschende Feststellungen zu Theodor Storms Meisternovelle. In: Husumer Zeitung, 18. Sept. 1952 sowie Andreas Busch: Auf den Spuren des Schimmelreiters. In: Husumer Nachrichten, 20. Sept. 1952; Karl Ernst Laage (Hg.): Theodor Storm. Sylter Novelle, Skizze. Der Schimmelreiter. Text, Entstehungsgeschichte, Quellen, Schauplätze, Abbildungen. Heide 1970 weist aber eindringlich darauf hin, dass man sich nicht dazu verleiten lassen dürfe, »Einzelheiten aus der Novelle in die Landschaft zu übertragen oder umgekehrt aus der Landschaft in die Novelle zu projizieren« (S. 139), denn selbst das Gasthaus, in dem der alte Schulmeister dem namenlosen Reisenden die Geschichte Hauke Haiens erzählt, haben Schmeißer und Busch ausfindig gemacht, ein heute ›Schimmelreiter-Krug‹ genannter Hof bei Sterdebüll (leider haben die Wirtsleute den gastronomischen Betrieb vor kurzem aus Altersgründen eingestellt), vgl. dazu Karl Ernst Laage: Das »Wirtshaus« in Storms Novelle »Der Schimmelreiter«: Poetische Fiktion und Wirklichkeit. In: ders.: Theodor Storm. Neue Dokumente, neue Perspektiven. Berlin 2007, S. 113–120.

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aber wurde schon im vorigen Jahrhundert »umgelegt«, das heißt nach irreparablen Sturmschäden weiter landeinwärts neu errichtet.38 Der namenlose Reisende erfährt denn auch nach des Schulmeisters Erzählung, dass »drüben an der anderen Seite«, also auf Norderstrand, der Deich, wie es der Deichgraf vorhergesagt habe, gebrochen sei, um am »andern Morgen, beim goldensten Sonnenlichte, das über einer weiten Verwüstung« – auf dem Festland – »aufgegangen war, […] über den Hauke-Haien-Deich zur Stadt hinunter« zu reiten.39 Zum anderen: Hauke, der Autodidakt, fragt eines Abends seinen Vater, warum die von ihm angestellten Berechnung »gerade so sein müsse und nicht anders sein könne«, und stellt »dann eine eigene Meinung darüber auf«. Der Vater weiß darauf nichts zu antworten als »es ist so, und du selber irrst dich«, verweist aber auf eine Kiste mit alten Büchern auf dem Dachboden, darin werde Hauke ein Buch finden, das »einer, der Euklid hieß« geschrieben habe.40 Es ist ein »holländischer Euklid«, den Hauke anders als sein vermutliches Vorbild, der Landvermesser und Deichvogt Hans Mommsen (1735–1811),41 nicht mit Hilfe einer »holländischen Bibel«,42 sondern einer »kleinen holländischen Grammatik« »fast überall verstand«,43 diesen »allzeit in der Tasche« trug und ihn in jeder freien Minute studierte.44 Doch dieser Hauke, der »kluge Deichgraf«, »der immer grübeln geht und seine Finger dann in alles steckt«,45 bedient sich einer religiösen Deutung der schließlich hereinbrechenden Naturgewalten – eine »Sündflut«, bereit, »Tier und Mensch zu verschlingen«.46 Der Deich stellt in Storms Novelle zunächst eine Grenze, eine Scheidelinie dar zwischen zwei Welten: Der der stets erkämpften, doch rationalen Ordnung der Marsch und der einer Bedrohung durch die See, die auf Phantasie und vor allem auf Aberglauben gründet. Auf eben dieser bewegt sich der namenlose Reisende zu Beginn der Erzählung, die Grenze bewusst als solche wahrnehmend.47 Als der Reisende das Wirtshaus – und damit auch den Raum des Übersinnlichen und der Reflektion auf dieses – am nächsten Morgen verlässt, bietet der Deich keine Begrenzung mehr, Meer und Marsch – und damit die zuvor getrennten Welten – verschwimmen in Eins.48 Auf diese in der Storm-Forschung immer noch, zumindest in den Details kontrovers diskutierte Deutung soll hier nicht weiter eingegangen werden, stattdessen gilt es, die

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48

Vgl. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 637; vgl. Storm: Sämtliche Werke (s. Anm. 1), Bd. 3, S. 1093. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 755. Vgl. ebd., S. 639f. Vgl. dazu auch ebd., S. 640: »Es ist«, so der Schulmeister zu seinem Zuhörer, »nicht unbekannt, […] daß dieser Umstand auch von Hans Mommsen erzählt wird«. Vgl. Claus Harms: Schleswig-Holsteinischer Gnomon. Ein Lesebuch insonderheit für die Schuljugend. Kiel 1843, S. 43. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 640. Ebd. Vgl. ebd., S. 688. Vgl. ebd., S. 752. Vgl. ebd., S. 634: Der Reiter nimmt bei seinem Ritt über den Deich »[z]ur Linken […] die öde, bereits von allem Vieh geleerte Marsch, zur Rechten, und zwar in unbehaglichster Nähe, das Wattenmeer der Nordsee« wahr. Vgl. ebd., S. 755: »Am andern Morgen, beim goldensten Sonnenlichte, das über einer weiten Verwüstung aufgegangen war, ritt ich über den Hauke-Haien-Deich zur Stadt hinunter.«

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beiden Irritationen in den Blick zu nehmen. Im Vordergrund stehen hierbei einerseits deichbautechnische Erwägungen, andererseits naturmagische, mystische, abergläubische Überlegungen.

2. Moderne Deichbautechnik gegen den »Erbfehler« in den Marschen, »schlechte Deiche zu machen« In der zweiten Auflage der Anfangsgründe der Hydrodynamik (1796) des Göttinger ordentlichen Professors der Naturlehre und Geometrie Abraham Gotthelf Kästner (1719–1800) findet sich unter der Überschrift »Von einigen Schriften über die Theorie der Hydraulik, Wasserbaukunst und verwandte Gegenstände« der Eintrag: Reisen in die Marschländer an der Nordsee, zur Beobachtung des Deichbaues von Joh. Nic. Tetens Pr. d. Phil. und Math. auf der Un. zu Kiel, Mitglied der k. Dän. Ges. d. W. zu Koppenhagen. Erster Band Leipz. 1788. 8°. Meines Wissens ist nicht weiter erschienen. Hr. Tetens, jetzo K. D. Etatsrath, giebt bei andern unterhaltenden Nachrichten, von Beschaffenheit und Bewohnern dieser Länder auch viele Belehrungen vom Wasserbau, die mit Kupfern erläutert werden.49

Tetens’ hier angezeigtes Werk war das Ergebnis zweier Reisen, die er im Auftrag der dänischen Regierung – und als Teil seiner Lehrtätigkeit an der Universität zu Kiel – in den Jahren 1778/79 die Nordseeküste von Hoyer in Jütland bis zur Elb- und Wesermündung, im Sommer des darauffolgenden Jahres 1780 westwärts bis nach Flandern unternahm.50 Seit dem Wintersemester 1776/77 las Tetens als ordentlicher Professor für Philosophie in Kiel vornehmlich über praktische und angewandte Mathematik, ab dem Sommersemester 1778 standen Vorlesungen über Deichbau und Hydrotechnik, insbesondere in den Marschgebieten Schleswig-Holsteins, im Mittelpunkt seiner Lehrtätigkeit.51 Während die Vorlesungen vor allem auf Kästners Anfangsgründe der Mathematik (4 Bde., Göttingen 1758–1769), die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an allen deutschen Universitäten als ›Vorlesebuch‹ durchsetzten, gründeten, las Tetens – wie die Vorlesungsverzeichnisse zeigen – privatim reine und angewandte Mathematik nach Christian Wolff, vermutlich auf der Grundlage der Anfangs-Gründe aller mathematischen Wissenschaften (4 Bde., Halle 1710).52 Die »eigentliche Absicht« der Reisen war es, »die Praxis in dem Deich- und Uferbau kennen zu lernen«,53 also Erfahrungen zu sammeln, um diese im Verbund mit dem an den Universitäten gelehrten theoretischen Wissen für die Sicherung der Küstengebiete fruchtbar zu machen. 49 50

51 52 53

Abraham Gotthelf Kästner: Anfangsgründe der Hydrodynamik, welche von der Bewegung des Wassers besonders die praktischen Lehren enthalten. Göttingen 21796, § 775, S. 686. Über diese Reisen berichtet die Kielische Gelehrte Zeitung am 11. März 1789 in der Bekanntgabe der Ernennung Tetens’ zum ›wirklichen Justizrat‹ und Mitglied des Finanzkollegiums in Kopenhagen, vgl. dazu Wilhelm Uebele: Johann Nicolaus Tetens: nach seiner Gesamtentwicklung betrachtet, mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zu Kant. Unter Benützung bisher unbekannt gebliebener Quellen. Berlin 1911, S. 20; Uebeles Hinweis konnte leider nicht nachgegangen werden. Vgl. zu Tetens’ Lehrtätigkeit Hans-Günther Wenk: Die Geschichte der Geographie und der geographischen Landesforschung an der Universität Kiel von 1665 bis 1879. Kiel 1966, S. 93–100. Vgl. ebd., S. 95. Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. III; vgl. auch den 10. Brief, ebd., S. 57–64.

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Denn theoretische Schriften über das Deichwesen wie etwa Albert Brahms’ (1692–1758) Anfangs-Gründen der Deich- und Wasser-Baukunst von 1754/5754 oder Johann Wilhelm Anton Hunrichs’ († 1787) Anfang der 1770er Jahre veröffentlichte Practische Anleitung zum Deich-, Sielund Schlengen-Bau55 hielt Tetens, »zumal was die Praxis in Holland betrifft«, für »sehr mangelhaft«,56 und auch der praktische Deichbau überzeugte ihn nicht, da man in den Marschen »keine ordentliche Deicharten« habe.57 In zwei bisher unpublizierten und heute im Landesarchiv Schleswig-Holstein aufbewahrten Denkschriften58 legte er der Regierung die Ergebnisse seiner Recherchen vor, die vor allem für die deutsche Nordseeküste alles andere als ermutigend waren: Die »gemeine und sonst nützliche Deichpraktik« sei in vielen Marschen unzureichend; es mangele einerseits an einer »sachkundigen Direktion des Deich- und Uferbaus«, der Deichgraf sei »selten ein Artis perituo«, verfüge also selten über gründliche Kenntnisse im Deichwesen.59 Andererseits sei die Deichlast »unbillig vertheilet«, und dies wegen des immer noch vorherrschenden Spatenlandrechts, welches die Kosten und Arbeitsleistungen zur Küstenbefestigung einigen wenigen ›Deichpflichtigen‹ aufbürde. Die Vernachlässigung der Pflicht zur Instandhaltung und Reparatur eines auf dem eigenen Grund und Boden stehenden Deiches ziehe den Verlust des Rechts auf den Landbesitz nach sich, Land und Deich würden so herrenlos – »Keen nich will dieken, der mutt wieken« (Wer nicht deichen will, der muss weichen) –,60 also würden viele Deiche unfachmännisch, notdürftig und mit einfachsten Mitteln ›geflickt‹. Dem in Tetenbüll auf der Halbinsel Eiderstedt aufgewachsenen Tetens war das Deichwesen sicherlich seit Kindesbeinen an vertraut. Doch war es ihm weder in der Vorlesung von 1787 noch in den Reisen ein Anliegen, nur seine Erfahrungen mit dem Deichbau vor allem in Nordfriesland, Eiderstedt, Norder- und Süderdithmarschen, in der Wilster- und der Krempermarsch zu schildern. Er suchte, wie auch Johann Sigismund Gottfried Huth (1763–1818) im Vorbericht 54

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Vgl. Albert Brahms: Anfangs-Gründe der Deich- und Wasser-Baukunst, oder Gründliche Anweisung, wie man tüchtige haltbare Dämme wider die Gewalt der grössesten See-Fluthen bauen, auch dieselbe jederzeit im unvergeringerten Zustande erhalten könne, damit das Land für verderblichen Einbrüchen und Ueberschwemmungen verwahret sey. 2 Bde. Aurich 1754/57; zu Brahms vgl. Klaus Hafemann: Albert Brahms 1692–1758. Ein Leben für die Deiche. Jeverländischer Deich- und Sielrichter, Begründer des Küsteningenieurwesens. Neustadtgödens 1987; ders: Albert Brahms 1692–1758. Kein Deich, kein Land, kein Leben. Neustadtgödens 1992. Vgl. Johann Wilhelm Anton Hunrichs: Practische Anleitung zum Deich-, Siel- und Schlengen-Bau. 2 Bde. Bremen 1770/71. Vgl. Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. IV. Ebd., S. 1. LAS Abt. 65.2, Nr. 5993 I; vgl. dazu Marie Luisa Allemeyer: »Kein Land ohne Deich ...!« Lebenswelten einer Küstengesellschaft in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2006, S. 217–221. Vgl. ebd., S. 217; vgl. ebenso Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 4: »Im Deichbau ist man ungemein zurück«. Vgl. Allemeyer: »Kein Land ohne Deich ...!« (s. Anm. 58), S. 217; nach diesem Jahrhunderte lang überlieferten und 1557 erstmals kodifizierten Recht verlor derjenige Haus und Hof, der seinen Anteil bei der Deichunterhaltung schuldig blieb – in Deich und/oder in das diesem angrenzende Grundstück wurde ein Spaten gestochen, und es wurde demjenigen zugesprochen, der den Spaten herauszog und die Arbeit am Deich verrichtete; vgl. hierzu Elke Freifrau von Boeselager: [Art.] Deichrecht. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1 (22008), Sp. 940–942; Klaas-Heinrich Peters: Entwicklung des Deich- und Wasserrechts im Nordseeküstengebiet. In: Historischer Küstenschutz. Deichbau, Inselschutz und Binnenentwässerung an Nord- und Ostsee. Bearb. von Johann Kramer u. Hans Rohde. Hg. vom Deutschen Verband für Wasserwirtschaft und Kulturbau e.V. Stuttgart 1992, S. 183–206, zum Spatenrecht v.a. S. 199–201.

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zu den in seinem Allgemeinen Magazin für bürgerliche Baukunst 1789 publizierten Auszügen der Reisen61 vermerkt, »die Vervollkommnung und den bessern Betrieb eines so wichtigen Theils der Wasserbaukunst, als der Deichbau ist, befördern zu helfen« – »in Deichbausachen« könne man sich in den Marschen wahrlich nicht rühmen, »schon durchgängig helle sehen zu können«.62 Denn jeder in den Marschen, der »allenfalls so viel Mathematik versteht, als ein Landschulmeister gebraucht, und sich selbst einige Erfahrungen gesammelt hat« glaube, er »sey geschickt, die Aufsicht über die Deiche als ein Nebengeschäft zu besorgen«.63 Doch bedürfe es für den Deichbau »sehr gute«, wenn nicht gar »außerordentliche[r] Köpfe«, die »mehr als das ABC der Mathematik studirt haben müssen«,64 und Tetens ist zuversichtlich, dass sich gleich ihm auf der Universität wohl junge Männer finden, die sich zu solchen Stellen vorbereiten, und die, wenn sie mit guten Vorkenntnissen auf Reisen in die Marschen gehen, wozu keine großen Kosten gehören, völlig sich ausbilden können.65

2.1. Theoretisches und praktisches Wissen Die Verbindung von Theorie und Praxis dient somit zunächst der Vorbereitung auf die Ausübung eines Berufes,66 und so »heitert es einen denkenden Menschen« auf, wenn er Beispiele wie den von Desmercières in den Jahren 1765 bis 1767 eingedeichten und nach ihm benannten Koog sieht, »wo sich die Vernunft sichtlich macht«.67 Doch bedürfe es mehr als einzig der Vermittlung esoterischen Wissens im akademischen Umfeld. Es bedürfe insbesondere der Aufklärung der Marschbewohner.68 Die Universität Kiel scheint Tetens für dieses Vorhaben ein Zentrum gewesen zu sein. Denn in den Reisen berichtet er von einem Gespräch, in dem sein Gegenüber angesichts der »religieuse[n] Empfindeley« des sich in Schleswig-Holstein ausbreitenden Pietismus »in diesen Gegenden eine Versandung der Vernunft noch mehr« fürchtete als Tetens »eine Versandung des Bodens in Jütland von den Dünen«.

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Vgl. Auszüge aus dem ersten Bande des Herrn Prof. Joh. Nic. Tetens Reisen in die Marschländer an der Nordsee zur Beobachtung des Deichbaues. In: Allgemeines Magazin für bürgerliche Baukunst 1 (1789), S. 175–273. Johann Sigismund Gottfried Huth: Vorbericht. In: Allgemeines Magazin für bürgerliche Baukunst 1 (1789), S. 173f., hier S. 173. Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 101. Ebd. Ebd., S. 102. Tetens selbst plante den Bau des in den Jahren 1785 bis 1787 nach dem späteren dänischen König Friedrich VI. (1768–1839) benannten Kronprinzen-Koog in Dithmarschen, vgl. Johannes Speck: Des Johann Nicolaus ›Reisen in die Marschländer an der Nordsee‹ und ihre Bedeutung. In: Nordelbien 15 (1939), S. 323–371, hier S. 326. Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 119. 1785 legte Tetens in seiner Prorektoratsrede programmatisch seinen Aufklärungsbegriff dar, vgl. Uebele: Johann Nicolaus Tetens (s. Anm. 50), S. 21.

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Aber hierüber können wir uns, wie ich meine, beruhigen. So lange die weise Regierung besteht, daß jeder dortige Prediger und Landbedienter in Kiel zwey Jahre studirt haben muß, hat es damit hoffentlich nichts zu bedeuten. Dieß ist ein ziemlich starker Damm gegen Mysticismus.69

Der ›Versandung‹ der rationalen Reflexion, die sich mit den pietistischen Strömungen der 1771 in Christiansfeld im Herzogtum Schleswig nach niederländischem Vorbild gegründeten und von König Christian VII. von Dänemark (1749–1808) aus wirtschaftlichen Gründen geförderten Herrnhuter-Gemeinde ausbreitete, sowie dem hier »noch stark[en]« Aberglaube70 könne also entgegengetreten werden, dem ›common sense‹ sowohl in der Deichbautechnik als auch in der Naturdeutung die Vernunft entgegengehalten werden. Als Grund für den zeitgenössisch miserablen Zustand der Bedeichung der Nordseeküste macht Tetens aber vor allem die Mentalität und Weltanschauung der dortigen Bevölkerung aus. In laut Kästner »unterhaltenden Nachrichten, von Beschaffenheit und Bewohnern dieser Länder« sucht er daher in den insgesamt 65 Briefen an einen »Onkel« insbesondere den »Charakter eines Volkes kenntlich« zu machen, »das sich eben so sehr auszeichnet, als sein Boden.«71 Im 39. Brief der Reisen setzt er sich daher eingehend mit der – nicht nur in den Marschen – vorherrschenden Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis »in Deich- und Wasserbau« auseinander.72 In »einer Unterredung mit dem braven S.« werden die unterschiedlichen Meinungen hierzu diskutiert. Auf der einen Seite fällt der Blick auf die »Theoretiker in der Hydraulik, die in der Praxis nichts gethan haben« wie Leonhard Euler, Daniel Bernoulli und Abraham Gotthelf Kästner, auf der anderen auf große Praktiker, die »beynahe gar keine Theorie gekannt haben« wie der englische Kanalbauingenieur James Brindley (1716–1772) oder der schwedische Ingenieur Daniel af Thunberg (1712–1788).73 Aber auch auf den in »Deichgeschäften alt geworden[en]«, angesehenen Praktiker »H – – –«, dem es »etwas neues« war, dass Wasser in allen Röhren, die mit einander Gemeinschaft haben, zu gleicher Höhe steige. Aus seinen unzähligen Erfahrungen hatte er diesen simpelen Gemeinsatz nicht abstrahirt, den er in einem Augenblick aus einem Buche hätte lernen können.74

Doch liegt der Fokus nicht auf der – wie Tetens betont – ›schwatzhaften‹ Unterscheidung zwischen den Praktikern bzw. deren Erfahrung und den Theoretikern bzw. deren Theorie, die in den Augen der Marschbewohner nur soviel sei »als Kenntniß aus Büchern«.75 Die Diskussion widmet sich vielmehr der Frage einer Vereinigung beider. 1767 habe der herzoglich-oldenburgische Oberdeichgraf Anton Günther Mönnich (seit 1688 von Münnich; 69

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74 75

Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 154; vgl. auch Dieter Lohmeier: Die Universität Kiel als Stätte der Aufklärung. In: Zentren der Aufklärung, Bd. 4: Der dänische Gesamtstaat: Kopenhagen, Kiel, Altona. Hg. von Klaus Bohnen u. Sven-Aage Jørgensen. Tübingen 1992, S. 69–90, v.a. S. 80f. Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 19f. Ebd., S. V. Vgl. ebd., S. 237–254, hier S. 238. Vgl. ebd., S. 244f.; in einer Anmerkung weist Tetens aber darauf hin, dass nach Johann Ludewig Hogrewes (auch Hogreve; 1737–1814) Beschreibung der in England seit 1759 angelegten, und jetzt gröstentheils vollendeten schiffbaren Kanäle, zur inneren Gemeinschaft der vornehmsten Handelsstädte (Hannover 1780) Brindley zumindest die Werke des für den Bau des Canal du Midi verantwortlichen Pierre-Paul Riquet (1609– 1680) gekannt habe. Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 247. Ebd., S. 246; Hvhg. im Original.

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1650–1721) in seinem Oldenburgischen Deich-Band vielleicht noch darauf hinweisen können, dass zur »Function« eines Deichgrafen »viele nöthige Wissenschaften gehören, die mehr aus der Praxi denn aus Büchern zu lernen« seien,76 doch sei dies »gegenwärtig«, so Tetens, nicht mehr der Fall. Doch bleiben für »S.« die Theoretiker solche, die nichts mehr wissen, als das Theoretische in der Wissenschaft, die allgemeinen Grundsätze z. B. der Hydraulik, und die nun glauben, nach diesen Allgemeinbegriffen fortraisonniren und practische Vorschläge darauf bauen zu können.77

Ein guter Theoretiker aber sei selten ein guter Praktiker, und ein guter Praktiker habe selten »starke theoretische Einsichten«, erfordere doch die Theorie wie die Praxis »jede ihren eigenen Kopf, ihre eigene Lust, und ihre eigene Application«.78 Dem hält Tetens entgegen, dass, wer den Brahms und Hunrichs, den Silberschlag, noch mehr, wer dazu den Belidor, und Guglielmini, und die Raccolta fleißig studirt, der erhalte mehrere practische Erfahrungskenntnisse, als in den Köpfen, ich mögte fast sagen, aller Deichsbasen an der Elbe und der Weser nicht sind.79

Zwar erfordere in der Wissenschaft Theorie und Praxis »jede etwas Eigenes in der Anwendung der Verstandeskräfte«, doch bedeute dies nicht, dass »die Geschicklichkeit zu dem einen die zu dem andern« ausschließe.80 Die größten theoretischen Kenntnisse aber, die unsere practischen Einrichtungen ganz vernünftig, ganz zweckmäßig machen könnten, bleiben in den Studirstuben, oder stehen in Büchern, und kommen nicht zur Anwendung. Daher bleibt denn leider die Praxis noch immerfort der alte Schlendrian.81

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Anton Günther Mönnich: Oldenburgischer Deich-Band, das ist: Eine ausführliche Beschreibung von allen Deichen, Sielen, Abbrüchen und Anwächsen in denen Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst [...]. Nebst einem kleinen Anhange, wie das hiesige Deichwesen nützlich und wohl gouverniret werden könne. Mit Anmerkungen von Johann Wilhelm Anton Hunrichs. Leipzig 1767, S. 161 (»deichband, m. niederd. diekband. ein strich landes der von einem damm geschützt wird und für dessen erhaltung in auszerordentlichen fällen beitragen musz«; Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. in 32 Tlbden. Leipzig 1854–1971, Bd. 2, Sp. 905); vgl. Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 247 mit Anm. Ebd., S. 249. Ebd., S. 243; »S.« rekurriert hier auf Juan Huarte de San Juans (auch Juan Huarte y Navarro; um 1530– 1588/89) Examen de ingenious para las sciencias, donde se muestra la differencia de habilidades que ay en los hombres, y el género de letras que a cada vno responde en particular. Baeza 1575, in dem dieser aufgrund der Bestimmung der Körpersäfte die Begabungen des einzelnen Menschen für je eine Wissenschaft festzustellen sucht, um ihn so im Staat rationeller verwenden zu können; Gotthold Ephraim Lessing (1729– 1781) übersetzte Huartes Examen und publizierte sie 1752 unter dem Titel Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften. Zerbst 1752 (Juan Huarte: Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften. Übers. von G. E. Lessing. Nachdruck der Ausgabe Zerbst 1752 mit einer kritischen Einleitung und Bibliographie von Martin Franzbach. München 1968). Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 247; Bernard Forest de Bélidor (1697/98–1761): Architecture hydraulique. 4 Bde. Paris 1737–1753; Domenico Guglielmini (1655–1710): Della natura de’ fiumi trattato fisico-matematico. Bologna 1697; Nuova edizione con le annotazioni di Eustachio Manfredi. Bologna 1739; Raccolta d’autori che trattano del moto dell’acque. Edizione seconda correta, ed illustrata con annotazioni. Hg. von Jacopo Belgrado. 9 Bde. Florenz 1765–1774; »Deichbasen, m. pl. die sich zur arbeit an dem damm verdingen, handwerker, […] baas werkmeister, im niederd. aufseher über die arbeitsleute« (Deutsches Wörterbuch [s. Anm. 76], Bd. 2, Sp. 905). Vgl. Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 243. Ebd., S. 244f.

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Die so genannte »Selbsterfahrung der meisten Practiker« sei aber ein »eingeschränktes armseliges Ding«, vergleiche man sie mit »dem Umfang von Erfahrungen und practischen Kenntnissen, von geprüften, gesicherten Kenntnissen, den andere vor uns schon gesammelt haben«.82 Denn das »Raisonnement« könne die Erfahrung, und die fremde Erfahrung die eigene und umgekehrt, die letztere die erstere, zum Theil gar größtentheils, ersetzen. Die Praxis selbst muß aber durchaus ein Werk des Raisonnements seyn, das von richtigen Grundsätzen ausgeht. Nicht ein blindes Nachmachen, wo noch immer etwas besseres möglich ist.83

Tetens schließt die Diskussion um das Verhältnis von Theorie und Praxis mit dem Appell an »S.« ab, es möge seinem »Wahrheitssinn« überlassen werden, sein »Zutrauen hinzuwenden, wo es von selbst hin will«. Das aber ruft den ebenfalls anwesenden, bisher passiven »H.« auf den Plan: Nein, fiel hier H. ein, wenn doch am Ende ein Nichtfachkundiger halb im blinden zugreifen muß, so habe ich eine andere, und, wie ich glaube, sichere Regel, wornach ich zugreife, wo ich nicht selbst sehen kann. Wenn der eine so und der andere anders räth, so gebe ich acht, wer von ihnen in andern Dingen, wo ich selbst urtheilen kann, der verständigste ist, und auch, wo es in Betracht kommt, der ehrlichste. Nach dieser Regel wähle ich auch meinen Arzt.84

Dieser durchaus polemische Schlussgedanke des Briefes fokussiert nur zu deutlich auf die zuvor immer wieder thematisierte ›raisonnierende Vernunft‹, und sie verweist im Kontext der geschilderten Diskussion zwischen Tetens und »S.« explizit auf den Charakter der Reisen.

2.2. Der gelehrte Brief Wenn Tetens’ im Gespräch mit »S.« seinen Befund des Verhältnisses von Theorie und Praxis darauf zentriert, dass es »nur darauf an[komme], daß das eine, wie das andere einem interessant werde«,85 so verweist er im Dialog als interaktiver Form des ›Philosophierens‹ auf dessen Funktion im Sinne einer populären Aufklärung. Schon Johann Christoph Gottsched apostrophierte nämlich, dass im Gegensatz zur »systematische[n] Lehrart«, die zu viel Geduld des Nachsinnens erfordere, in »gute[n] Gespräche[n]« selektierte Materien »allmählich zum Nachdenken« anregen,86 Johann Gotthelf Lindner billigt dem »Gesprächstil wegen der unterhaltenden Lebhaftigkeit« zu, alle Materie transportieren zu können, ihn »zu allem anwenden« zu können.87 An die 82 83 84 85 86

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Ebd., S. 247. Ebd., S. 252. Ebd., S. 253. Vgl. ebd., S. 243. Johann Christoph Gottsched: Abhandlung von Gesprächen überhaupt. In: Bernhard Le Bovier de Fontenelle: Auserlesene Schriften. Übers. von Johann Christoph Gottsched. Leipzig 41771, S. 1–44, hier S. 24; die Abhandlung erschien zuerst in: Bernhard Le Bovier de Fontenelle: Gespräche der Todten und Plutons Urtheil über dieselben. Übers. von Johann Christoph Gottsched. Leipzig 1727. Vgl. Johann Gotthelf Lindner: Kurzer Inbegriff der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst. 2 Tle. Königsberg, Leipzig 1771/72, 2. Tl., S. 160; dieses Spezifikum hebt auch der für die Herausgabe des Philosophen für die Welt (3 Tle., 1775–1800) bekannte Johann Jakob Engel hervor, vgl. Engel: Ueber Handlung, Gespräch und Erzählung. Leipzig 1774.

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Stelle der mündlichen Kommunikation als direkter Auseinandersetzung könne aber auch der Brief treten, der nichts anderes sei als eine »schriftliche Unterredung, die wir mit abwesenden Personen in gewissen Angelegenheiten oder Absichten anstellen«.88 Mit der Brieftheorie Gellerts,89 die den Brief an die mündliche Rede bindet,90 erfüllt dieses Medium das Kriterium der Natürlichkeit und Lebhaftigkeit, weil es sich den bisher bestehenden äußeren, in den dogmatisch gehandhabten Briefstellern verhandelten Kriterien grundsätzlich entzieht: Das erste, was uns bey einem Brief einfällt, ist dieses, das er die Stelle eines Gesprächs vertritt. [...] [D]eßwegen muß er sich der Art zu denken und zu reden, die in Gesprächen herrscht, mehr nähern, als einer sorgfältigen und geputzten Schreibart.91

Zwar habe der Brief keineswegs »die Freyheit [...], einem unordentlichen Caffeegespräche völlig ähnlich zu seyn«,92 auch gelte es die »Charactere der Personen, der Beschaffenheit der Umstände, des Inhalts, der Absicht« zu berücksichtigen, doch seien dies »Regeln der Klugheit, die niemand genau bestimmen kann, und die sich jeder selber machen« müsse.93 Denn das »Denken lehren uns alle Briefsteller nicht«: Wer gut schreiben will, der muß gut von einer Sache denken können. Wer seine Gedanken gut ausdrücken will, muß die Sprache in der Gewalt haben. […] Eine geübte Vernunft, eine lebhafte Vorstellungskraft, eine Kenntniß der Dinge, wovon man reden will, richten hier das meiste aus. Man sinnet nach, wovon man schreiben will. Man ordnet seine Sätze in Gedanken. Man suchet die Verbindung nicht stets in Worten, sondern in der Folge, in der Aehnlichkeit und Unähnlichkeit der Gedanken. Man setzet zu seiner Sache, wo es nöthig ist, Beweise, Erläuterungen, gute Einfälle.94

Damit unterscheidet sich der popularphilosophisch gelehrte Brief grundsätzlich von dem empfindsamen Brief, dem »affektierte[n] Gewinsel dieser warmen Seelen«,95 da jener auf einer andere Wirkabsicht beharrt: Der Leser soll in eine Kommunikationssituation eingebunden werden, die ihn zur eigenen Reflexion auf das Verhandelte anregt, ihn zumindest aber dazu anleitet. Dazu bedürfe es einerseits beim Briefsteller der Fähigkeit, »philosophisch [zu] denken«, das heißt »eine Wahrheit nach Gründen [zu] erkennen«, »um gelehrt zu schreiben«, andererseits dürfe er »aus solchen Schreiben keine trockene Ontologie machen, dabey die Leser gähnen« –

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Vgl. Johann Christoph Stockhausen: Grundsätze wohleingerichteter Briefe, nach den besten Mustern der Deutschen und Ausländer; nebst beygefügten Erläuterungen und Exempeln. Wien 1766, § 1, S. 9; vgl. in ähnlicher Formulierung auch Johann Joachim Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Litteratur der schönen Wissenschaften. Berlin 1789, S. 302; vgl. ebenso Lindner: Kurzer Inbegriff der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst (s. Anm. 87), 2. Tl., S. 163–183.. Vgl. dazu Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2000, S. 83–107; ebenso Gideon Stiening: Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in Friedrich Hölderlins Briefroman »Hyperion oder der Eremit in Griechenland«. Tübingen 2005, v.a. S. 5–21. Christian Fürchtegott Gellert: Gedanken von einem guten deutschen Briefe, an den Herrn F. H. v. W. In: Belustigungen der Verstandes und des Witzes. Auf das Jahr 1742 [ND Stuttgart 1971], S. 177–189. Christian Fürchtegott Gellert: Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Leipzig 1751 [ND Stuttgart 1971], S. 2f. Gellert: Gedanken von einem guten deutschen Briefe (s. Anm. 90), S. 186. Ebd., S. 189. Ebd., S. 184f. Georg Christoph Lichtenberg: Gnädigstes Sendschreiben der Erde an den Mond. In: ders.: Schriften und Briefe. 4 Bde. u. Kommentarbd. Hg. von Wolfgang Promies. München 1992, Bd. 3, S. 406–413, hier S. 410.

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die tiefsinnigen Sachen können angenehm gemachet werden, so bald sie durch den Witz gehen, und, ohne die Gründlichkeit zu schwächen, müssen sie auch der sinnlichen Erkenntniß deutlich seyn. [...] In dogmatischen [Sachen] muß man das Abstracte zur Empfindlichkeit zurück bringen, welche durch allerley eingestreuete Erläuterungen, Exempel, Gleichnisse, gute Einfälle etc. möglich ist.96

Die Entretiens sur la pluralité des mondes seien ob ihres Gegenstandes gewiß »ungemein trocken beschrieben« worden, wenn sie »in die Gedanken eines blossen Sternenkundigen gefallen wären«, Fontenelle aber gelang es durch die Verbindung von Logik und Ästhetik, eine solch »subtile Materie so schön auseinander[zuwickeln], daß auch Ungelehrte ihn verstehen müssen, wenn sie ihn nur vernünftig lesen können«.97 Wenn Kästner in seinen Anfangsgründen der Hydrodynamik neben »viele[n] Belehrungen vom Wasserbau«, also theoretischen Darlegungen, auf die in den Reisen enthaltenen »unterhaltende Nachrichten, von Beschaffenheit und Bewohnern dieser Länder«98 verweist, so formuliert er prägnant Tetens’ Anliegen. Denn dieser wollte die Eindrücke, die er nach und nach gesammelt hatte, gerade nicht in ein System zwingen, er wollte sie so, wie sie nach und nach entstanden, präsentieren – eben deshalb wählte er die popularphilosophische Briefform. Doch bleibe sie nur Form, nur das Vehikel, wie man leicht sieht. Die Briefe sind so nicht auf der Reise geschrieben worden, wie sie hier stehen. Aber wahrscheinlich, wenn mirs die Zeit damals erlaubt hätte sie zu schreiben, so würden sie größtentheils so geschrieben worden seyn. Die meisten sind damals schon entworfen, weniger freylich diejenigen, die mehr Raisonnement als Beobachtung enthalten; und doch auch in diesen habe ich meine Gedanken größtentheils, obgleich nicht alle, in der Ordnung, und als so nach und nach entstanden angegeben, wie sie wirklich der Zeit bey mit entstanden sind, so viel ich beym Nachlesen meines Tagebuchs michs erinnern kann.99

Somit realisieren die Reisen in die Marschländer der Nordsee sowohl in Form als im Inhalt das Ansinnen einer popularphilosophischen Aufklärung. Denn über das für »den Bauverständigen Wichtigste« hinaus sind die Reisen angefüllt »mit einer Menge der nützlichsten und unterhaltensten Bemerkungen«,100 historischen, kulturhistorischen Berichten, aber auch anthropologischen Reflektionen, vor allem solchen über den »Charakter« des der Aufklärung bedürfenden »Volks«.101 Wenn Tetens in den Reisen etwa auf die sogenannten »Fensterbiere« in der Wilstermarsch, mehrtägige Trinkgelage nach dem Einsetzen der Fenster in einen Rohbau, als »ein Zeichen von Freyheit, aber auch von Rohheit der Sitten, und von Mangel an Aufklärung im Mittelstande« reflektiert, sie gar als »das Parallel zu den Festen der Wilden in America« charakterisiert,102 so wird eben jenes Ansinnen einer popularphilosophisch Aufklärung augenfällig. Das »größte Hinderniß« aber, das, so Tetens im 14. seiner Philosophischen Versuche, »der weiteren Kultur und Aufklärung im Wege stehet«, ein »Riegel gegen die Entwickelung der Menschheit« seien

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Stockhausen: Grundsätze wohleingerichteter Briefe (s. Anm. 88), § 115, Anmerkung, S. 285f. (Hvhg. U. R.). Vgl. ebd., S. 286f. Kästner: Anfangsgründe der Hydrodynamik (s. Anm. 49), § 775, S. 686. Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. Vf. Huth: Vorbericht (s. Anm. 62), S. 174. Anonymus: [Rez. von] Reisen in die Marschländer an der Nordsee, zur Beobachtung des Deichbaus, in Briefen von Joh. Nic. Tetens, Prof. der Philosophie und Mathematik zu Kiel. Erster Band. Mit Kupfern. 1788. In: Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 124 vom 23. April 1789, Sp. 177–180, hier Sp. 177. Vgl. Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 301.

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»Dummheit und Aberglaube«.103 Wenn der Aberglaube dazu noch gepaart ist mit der »Sclaverey«, die den Menschen heruntersetze, so »machet sie ihn zu einem so niedrigen Wesen, als er werden kann«.104

3. »Sünd-Fluthen nach Göttlicher Gerechtigkeit« – religiöser Obskurantismus und Fatalismus In Dithmarschen sei der Aberglaube »noch stark«, auch wenn das »narcoticum des Selbstdenkens«, die »Aengstlichkeit, die aus der Sclaverey entspringt, aus dem immer lebhaften Gefühl von Unterwürfigkeit unter den Willen eines andern«, dort nicht so präsent sei »als anderswo«.105 Gleichwohl bleiben auch dort in Hinsicht auf Sturmfluten wunderliche Naturerscheinungen im Volksglauben allesamt »Strafen und Plagen«, mit denen »der gerechte Gott diese Länder […] heimgesuchet, theils auch noch ferner heimzusuchen hat gedrohet«.106 Nach der Nordfriesischen Chronik des lutherischen Theologe Anton Heimreich habe etwa in Eiderstedt in Blut verwandeltes Brot und in Husum Blutregen die zweite ›Grote Mandränke‹, die ›Burchardiflut‹ im Oktober 1634 als »landverderbliche Sündenfluth« vorhergesagt.107 Sturmfluten als eine Strafe Gottes108 kolportierte ebenso der Eiderstedter Theologe und Kirchenhistoriker Petrus Petrejus (1695–1745). Die ›Weihnachtsflut‹ von 1717 etwa, bei der mehr als 10.000 Menschen starben,109 bezeichnete Petrejus als eine »von Gott verhängte Wasserfluth«,110 wie überhaupt die »gehäuffte Sünden der Menschen an sothanen Land verderblichen über schwemmungen Schuld und Ursache« seien.111 Am Ende seiner Historischen Nachricht vom Teich-Wesen stellt Petrejus über Seiten 103

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Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig 1777 [im Folgenden zitiert als: PV Bandnummer, Seitenzahl (Versuch, Kapitel, Abschnitt)], Bd. 2, S. 672 (14. VII. 3). Ebd., S. 700. Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 19f. Vgl. M. Anton Heimreichs, weyland Prediger auf der Insel Nordstrandisch-Mohr, nordfresische Chronik. Zum dritten Male, mit den Zugaben des Verfassers und der Fortsetzung seines Sohnes, Heinrich Heimreich, auch einigen andern zur nordfresischen Geschichte gehörigen Nachrichten vermehrt. Hg. von Nicolaus Falck. 2 Bde. Tondern 1819, Bd. 2, S. 84–91. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 84f.; vgl. zur ›Burchardiflut‹ auch »Die erschreckliche Wasser-Fluth« 1634. Die Flut vom 11. Oktober 1634 und ihre Folgen nach zeitgenössischen Berichten und Dokumenten mit einer Darstellung über den Einfluß der Sturmfluten auf die historische Entwicklung des nordfriesischen Küstenraumes. Hg. von Andreas Reinhardt. Husum 1984. Vgl. dazu Manfred Jakubowski-Tiessen: Gotteszorn und Meereswüten. Deutungen von Sturmfluten vom 16. bis 19. Jahrhundert. In: Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Hg. von Dieter Groh, Michael Kempe u. Franz Mauelshagen. München 2003, S. 101–118. Vgl. hierzu Manfred Jakubowski-Tiessen: Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit- München 1992. Petrus Petrejus: Historische Nachricht von den Stallern in Eyderstedt, Everschop und Utholm. Hg. von Ehrhard Körting u. Albert Panten. Bredstedt 1997, S. 80. [Petrus Petrejus:] Von der Stadt und dem Amt Tondern und vom Deichwesen. Hg. von Albert Panten u. Heinz Sandelmann. Bredstedt 1993, S. 323; Petrejus stellte 1740 eine Historische Nachricht vom Teich-Wesen und

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hinweg »moralische Betrachtungen« der zuvor detailliert beschriebenen »ergangenen entsetzlichen Waßer-Fluthen« an, um zu resümieren, dass »auff schwere Sünden Fluthen pflegen Straff und Sünd-Fluthen nach Göttlicher Gerechtigkeit zu folgen«. Vor allem aber komme Gottes Strafe über die, die mit dem Deichbau »dem Meer vermeßentlicher und thörigter weise trotz« zu bieten suchen, da doch Gott »allein der König sey, dem alle Elemente, Waßer Lufft Feur und Erde auf einen Winck pariren müssen«.112 Haben die Menschen sich damit nicht solcher Dinge, die über ihr Vermögen gewesen, und nichts als die grösste Unwissenheit zum Grunde gehabt, unterfangen? Haben sie sich nicht unterstanden, dem von Gott einmal gesezten Grund der Natur durch ihre Deiche Gewalt anzuthun?113

In eben jene Kerbe schlägt auch der Oldenburger Theologe Johann Friedrich Jansen, der in seinem Historisch-theologischen Denckmahl der Wundervollen Wegen Gottes die nach der Flut von 1717 die Stimmen derer, die bessere Deiche als Schutz vor einer ›Strafe‹ Gottes forderten, als »nicht mit wahrer Ehrerbietung gegen Gott« vorgetragen zeiht, da der Deichbau »das Vertrauen/ so Gott gebühret/ auf die Creaturen wendet«.114 Für Tetens sind die Aussagen etwa von Petrejus, dessen Historische Nachricht vom Teich-Wesen er auszugsweise aus dem Schleswig-Holsteinischen Magazin kannte,115 nur »winselnde Deklamation«, der eigentlich keine weitere Aufmerksamkeit gebühre.116 Aber in den Marschgebieten halte sich die »Idee« in den Köpfen der Menschen, dass »die Fluthen göttlich Strafgerichte sind, denen man nicht entgehen könne, man möge die Deiche machen, wie man wolle«.117 Dieses »elende Vorurtheil« aber, die »Fluthen als Strafen Gottes« ansehen zu wollen, deren Abwehr durch Deiche »so viel sei, als dem Arm der Allmacht wehren zu wollen«, habe den »Menschenverstand gehindert«, sich »richtige Begriffe« von Zweck und Ausführung der Deiche zu machen.118 Wenn darüber hinaus ein »so einsichtsvoller und scharfsinniger Mann, als der berühmte Deluc ist«, in seinen durchaus popularphilosophischen Lettres physiques et morales sur les montagnes, et sur l’histoire

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damit verbundenen Umständen im Ammt Tondern zusammen, die zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht blieb, unter dem Titel Eines Ungenannten Nachricht vom Ursprunge der Deiche in hiesigen und besonders den nordfriesischen Gegenden; aus einer mitgetheilten Sammlung von Handschriften erschienen 1757 jedoch Auszüge im ersten und einzigen Band des Schleswig-Holsteinisches Magazin (vgl. Schleswig-Holsteinisches Magazin, oder Sammlung vermischter Schriften zur Aufnahme der Wissenschaften und Künste. Des ersten Bandes erster Theil. Glückstadt 1757, S. 267–285); vgl. Allemeyer: »Kein Land ohne Deich …!« (s. Anm. 58), S. 347–351. Vgl. [Petrejus:] Von der Stadt und dem Amt Tondern (s. Anm. 111), S. 323. [Petrejus:] Eines Ungenannten Nachricht vom Ursprunge der Deiche (s. Anm. 111), S. 267. Johann Friedrich Jansen: Historisch-theologisch Denckmahl der Wundervollen Wegen Gottes in den großen Wasser welche sich Anno 1717 den 25. December zu vieler Länder Verderben so erschröcklich ergossen. Bremen, Jever 1722, S. 789; zitiert nach Jakubowski-Tiessen: Sturmflut 1717 (s. Anm. 109), S. 93. Vgl. Tetens: Ueber den eingedeichten Zustand (s. Anm. 18), S. 646f. Vgl. ebd., S. 646. Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 25, vgl. auch ebd., S. 6; vgl. ebd., S. 135f.: Den Bruch eines Deiches wenige Stunden nach dessen Reparatur sahen »manche […] als eine Strafe Gottes an«. Tetens: Ueber den eingedeichten Zustand (s. Anm. 18), S. 660; Tetens Kritik an der religiös-fatalistischen Haltung der Marschbewohner wird nirgends so deutlich wie in seinem kurzen Hinweis auf ein spanisches Ministerium, das den Plan zur Verbindung zweier Flüsse durch einen Kanal damit zurückwies, dass, »wenn Gott die beiden Flüsse hätte vereinigt wissen wollen, er selbst es auch würde bewerkstelligt haben«, vgl. ebd., S. 647.

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de la terre et de l’homme »etwas ähnliches« behaupte,119 dass nämlich die Marschen deswegen Opfer von Sturmfluten wurden und immer noch werden, weil die Bewohner im Verlangen nach »frühzeitige[m] und sicher[m] Genuß« »das Land in Dämme eingeschlossen« hätten, die die See allererst zur ›Überschwemmungen ›gezwungen‹ habe, Sturmfluten mithin selbstverschuldet seien,120 gebe eine solch fatalistische Haltung zu einer Kritik legitimen Anlass. Gegen dieses Plädoyer für die Einstellung des Deichbaus führt Tetens ins Feld, dass sich anhand historischer Quellen und Überlieferungen nachweisen lasse, dass sich nach der Eindeichung keine »stärkere und öftere Ueberschwemmungen […], als vor ihr sich ereignet hätten«. Die Flut können man doch nicht »reizen«, »gegen das Land immer desto höher an [zu]laufen […], je höher man den Deich mache, der sie aufhält«. Die größere Gefahr rühre vielmehr daher, dass man, wenn eingedeicht sei, sich in Sicherheit gefühlt habe und keinerlei Mühen in Instandhaltung und Verbesserung der Deiche gelegt habe, und so war ja nicht die Eindeichung Schuld daran, sondern ihre Mängel und die Unwissenheit und Trägheit der Menschen, die sie geneigt gemacht, halbes Wissen und halbes Thun für hinlänglich zu halten, und sich darauf zu verlassen. Die Deiche thaten ihren Dienst, so viel sie konnten, warum traute man ihnen mehr zu und ward sicher? Aber freilich man macht so oft der Natur Vorwürfe, wenn unsre unrichtigen Ideen von ihr uns misleiten.121

Die »Gefahr vor Ueberschwemmungen in eingedeichten Marschen« könne aber »gänzlich behoben werden«, wenn man nur mit »gesunde[m] Menschenverstand, mit gemeinen Kentnissen versehen«, einen »allgemeine[n] Blik auf die Natur der Sache selbst« werfe.122 Es sei nämlich, so Tetens in seiner Vorlesung, einleuchtend, worauf es in dem »ewige[n] Krieg« der »Marschen mit dem Wasser« ankomme – man habe es mit einem Feind zu tun, der weder Friedensschlüsse noch Waffenstillstand kenne, und was man Kriegsglück nenne, falle weg – die »Natur geht ihren festgesezten unveränderlichen Gang fort, und kümmert sich weder um unsern Troz noch um unser Winseln«.123

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Vgl. ebd.; Jean-André Deluc (1727–1817): Lettres physiques et morales sur les montagnes, et sur l’histoire de la terre et de l’homme. Adressées à la Reine de la Grande Bretagne. 5 Bde. Paris 1779/80; dt. Übers. Physikalische und moralische Briefe über die Geschichte der Erde und des Menschen an Ihre Majestät die Königin von Großbritannien. Aus dem Französischen mit einiger Abkürzung übersetzt. 2 Bde. Leipzig 1781/82; zu Deluc vgl. Marita Hübner: Jean André Deluc (1727–1817): Protestantische Kultur und moderne Naturforschung. Göttingen 2009. Vgl. Deluc: Physikalische und moralische Briefe (s. Anm. 119), Bd. 2, S. 296 (121. Brief); vgl. dazu Tetens: Ueber den eingedeichten Zustand (s. Anm. 18), S. 647f. Vgl. ebd., S. 650–652; in Deluc abwandelnder Argumentation kolportiert auch Eversberg fatalistisch, dass der Grund der »verheerenden Auswirkungen der frühneuzeitlichen Sturmfluten« nicht »in der Unvernunft der Deichbaumaßnahmen« zu suchen sei, sondern in »den veränderten Wasserständen und zunehmenden Windgeschwindigkeiten« (vgl. Eversberg: Der echte Schimmelreiter [s. Anm. 21], S. 96). Vgl. Tetens: Ueber den eingedeichten Zustand (s. Anm. 18), S. 653. Ebd., S. 654; Hvhg. im Original.

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4. Vom Deichgrafen zum Nachtgespenst In seiner vor der ›Schleswig-Holsteinischen Patriotischen Gesellschaft‹ gehaltenen Vorlesung Ueber den eingedeichten Zustand der Marschländer, und die demselben anklebende Gefahr vor Ueberschwemmungen hatte Tetens nachdrücklich darauf hingewiesen, was zur Verbesserung des Deichwesens zu tun sei: Man müsse der Natur und vor allem der See gerade ins Gesicht sehn, sie beobachten, uns mit ihrem Verfahren bekannt machen und ihre verschiednen Kräfte, der Qualität und Quantität nach, wie sie sind, erforschen und ausmessen. [...] wir müssen dahinter zu kommen, wir müssen zu berechnen suchen, wie weit die Macht [der Wellen] reichen und reichen könne, womit sie unsere Deiche und Werke angreifen.124

Hierzu bedürfe es keiner »Theorie von dem Wellenschlage«, wie sie etwa Johann Esaias Silberschlag (1721–1791) vorlegte,125 und überhaupt sei, so Tetens später in den Reisen, die hierfür notwendige »feinste Mathematik bis jetzt noch nicht weit über die ersten Anfangsgründe hinaus«.126 Hauke Haien sucht seit Kindesbeinen an eben jenen Forderungen im Sinne Tetens’ nachzukommen, wenn er bei steigender Flut die anbrandende See beobachtet, die die Grasnarbe des alten, steilen Deichs auswäscht,127 bei Springflut die Wasser beim Zurückrollen ganze Teile des Deckwerkes mit sich reißen.128 Damit aber nicht genug, sucht er doch auf der Grundlage dieser Erfahrungen mittels Versuchen an »allerlei Deichmodelle[n]« nach einer neuen Konzeption der Deiche.129 Dies gemahnt ebenfalls an Tetens, denn nicht nur die Kräfte der Natur gelte es zu studieren, auch die Körper, die wir jenen Wirkungen entgegenstellen können; Erde, Busch, Holz, Stein und Eisen und ihre Kräfte untersuchen. Man mus es ausmachen, was und wie viel diese in den verschiedenen Formen, Lagen und Verbindungen, worin man sie bringen kann, aushalten, und auf welche Art man sie entweder zur Ablenkung der wirkenden Kraft des Wassers, oder zur Zertheilung und allmäligen Schwächung derselben, oder zum geraden Widerstand dagegen, brauchen könne.130

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Ebd., S. 655. Vgl. Johann Esaias Silberschlag: Abhandlung vom Wasserbau an Strömen. Leipzig 1766; ders.: Ausführliche Abhandlung der Hydrotechnik oder des Wasserbaus. 2 Bde. Leipzig 1772/73, 21785/86. Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 222, Anm. Vgl. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 641. Vgl. ebd., S. 643. Vgl. ebd. Tetens: Ueber den eingedeichten Zustand (s. Anm. 18), S. 655; die seit Jantje Wessel: Deichbau gegen den Untergang. Zur Abwehr von Todesangst in Theodor Storms Novelle »Der Schimmelreiter«. In: Kunstbefragung. 30 Jahre psychoanalytische Werkinterpretation am Berliner Psychoanalytischen Institut. Hg. von Gisela Greve. Tübingen 1996, S. 155–176 wie Pilze aus dem Boden sprießenden psychoanalytischen Deutungen zum Schimmelreiter versuchen Haukes ›Verhältnis zum Deich‹ als Kompensation einer kindlichen, also vor der eigentlichen Erzählung liegende traumatisierende Erfahrung – der Verlust der Mutter – zu deuten, vgl. etwa Christian Neumann: Zwischen Paradies und ödem Ort. Unbewußte Bedeutungsstrukturen in Theodor Storms novellistischem Spätwerk. Würzburg 2002; Malte Stein: Deichgeschichte mit Dialektik. In: ders.: »Sein Geliebtestes zu töten«. Literaturpsychologische Studien zum Geschlechter- und Generationenkonflikt im erzählerischen Werk Theodor Storms. Berlin 2006, S. 173–258, der Hauke gar ein libidinöses Verhältnis zum Deich (vgl. S. 231–233) sowie Impotenz (vgl. S. 201f.) als Bewältigung seines Kindheitstraumas angedichtet;

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Mit dem Bau des den allgemeinen Gesetzen der Natur, den landschaftlichen Besonderheiten wie den Erfordernissen des Schutzes der Marsch gleichermaßen Rechnung tragenden HaukeHaien-Deichs ist die poetische Reflexion auf die aufklärerische Deichbautheorie und vor allem die deichbautechnischen Invektiven Tetens’ gelungen, der mathematisch und technisch interessierte Junge Hauke ist zum innovativen und technisch versierten Deichgrafen Haien gewandelt. Doch Storm will »aus einem Deichgrafen [ein] Nachtgespenst« machen,131 und hierfür bedarf es mehr, als ihn mit seinem ›Teufelspferd‹ in die Fluten stürzen und dann als ›Schimmelreiter‹ umherspuken zu lassen. Die Entstehungsgeschichte des Schimmelreiters, die seit dem Auffinden eines umfangreichen Konvolutes von Storm-Handschriften 1998 gut nachvollziehbar ist,132 zeigt, dass Storm noch in den Korrekturfahnen Änderungen vornahm, um »die die Tatkraft und Umsicht Hauke Haiens vor dem Deichbruch und vor seinem Tod noch einmal sichtbar [zu] machen«.133 Gerade diese Änderungen aber werfen ein eigentümliches Bild auf den Deichgrafen, vor allem auf sein Lavieren zwischen rationaler Erkenntnis, Eitelkeit, kommunikativen Defiziten und resignativer Selbstaufgabe. In den Reisen macht Tetens zwei Gründe für den desolaten Zustand der Bedeichung aus: »Es scheint ein Erbfehler in diesen Gegenden zu seyn, schlechte Deiche zu machen«,134 und dieser Erbfehler werde ausgelöst durch Trägheit und Unverstand. Die Träg- bzw. Faulheit rühre von dem bereits geschilderten, ins späte Mittelalter zurückgehenden Deichrecht her, das den Deichseigner zwingt, ›seinen‹ Deich instand zu halten und zu reparieren, und wenn auch nur sporadisch und mit den simpelsten Mitteln.135 Der Unverstand aber gründe im Aberglauben und religiösen Obskurantismus. So haben die Vorlesung Ueber den eingedeichten Zustand der Marschländer wie auch die Reisen in die Marschländer nicht nur ein ingenieurstechnisches Telos, sie bedienen sich auch der empirischen Psychologie. Tetens’ Formulierung von der »Ausbildung der Seele [...] in einer Epigenesis durch Evolution«136 lässt sich vielleicht nirgends besser beobachten als in den Marschen. Denn

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Christian Neumann: Die andere Geschichte vom Schimmelreiter. Der Subtext der Deichnovelle Theodor Storms aus literaturpsychologischer Perspektive. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 56 (2007), S. 129–148 führt das Ganze in literaturwissenschaftlicher Hinsicht ad absurdum, wenn er in diesem Zusammenhang darauf verweist, dass, auch wenn es richtig sei, »dass fiktionale [doch wohl fiktive?] Figuren allein durch den Text geschaffen werden, […] dies nicht nur für das explizit über sie Mitgeteilte, sondern auch für das vom Text Implizierte und vom Leser zu Ergänzende« gelte und also »völlig legitim vorauszusetzen« sei, dass Hauke an einem Trauma leide und dies zu bewältigen suche – hier ist wohl eher der Wunsch der Vater des Gedankens, aber honi soit qui mal y pense! Storm an Paul Heyse, 20. Okt. 1887; Theodor Storm – Paul Heyse. Briefwechsel (s. Anm. 6), Bd. 3, S. 161. Vgl. zum Schreibprozess Gerd Eversberg: Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Das ›Concept‹ (Sommer bis Weihnachten 1887). Rekonstruktion und Edition des ›Schimmelreiter‹-Manuskripts aus dem Konvolut ›Nachlaß Ernst Storm‹ im Storm-Archiv, Husum. In: Patrimonia 151 (1999), S. 13–77; ders.: »Vor der Deichnovelle habe ich einige Furcht«. Storms letzter Schreibprozeß im Spiegel der »Schimmelreiter«-Textzeugen. In: Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Hg. von dems., David Jackson u. Eckart Pastor. Würzburg 2000, S. 323–348; vgl. zusammenfassend Storm: Sämtliche Werke (s. Anm. 1), Bd. 3, S. 1051– 1064. Vgl. ebd., S. 1059; die Änderungen umfassen S. 744–752 in der Ausgabe Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1). Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 135. Vgl. dazu ebd., S. 6f. PV I, S. 548 (14. IV).

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[e]igentlich kann [der Mensch] zu keiner Zeit, und an keinem Orte, in einem blos natürlichen Zustande, [...] vorhanden seyn, das ist, nirgends und niemals kann die angeborne Natur dergestalt ganz allein wirksam seyn, daß nicht andere äussere Ursachen, von denen sie modificirt wird, in ihrer Art zu wirken einen Einfluß haben und diese bestimmen sollten.137

Wenn der junge Hauke »ohne aufzusehen, mit der Hand eine weiche Linie in die Luft [zeichnet], als ob er dem Deiche damit einen sanfteren Abfall geben wollte«,138 so dürfen diese »geometrische[n] Vorstellungen« ebenso als »Wirkungen der Dichtkraft«,139 also dem Vermögen, aus »dem Stoff der Empfindungsvorstellungen« »neue einfache Vorstellungen« zu bilden,140 angesehen werden als die »in Gedanken« »unsichtbar« gezogene »Linie« des neuen Deichs und seines Profils, »welches bis jetzt nur noch in seinem Kopf vorhanden war«.141 Der Bedeutung des neuen deichbautechnischen Wissens für die Sicherung des Lebensraums Marsch ist sich der Deichgraf bewusst, doch ihm fehlt die Gabe, dieses – esoterische – Wissen in eine für die Marschbewohner nachvollziehbare, im Sinne der tetenschen Reisen popularphilosophische Form zu überführen,142 und so unter Einbezug des für die Marschen ausschlaggebenden ›common sense‹ zu kommunizieren.143 Augenfällig zeigt sich die Inkompetenz Haukes in der Vermittlung moderner deichbautechnischer Kenntnisse in der Vorstellung seines Deichbauprojektes. Zwar artikuliert er im Vorfeld den »milde[n] Abfall« des Deiches zur Seeseite hin, doch bleiben seine in Gedanken vollzogenen, und damit theoretischen, Erwägungen unausgesprochen, denn vor allem bleibt die eigentliche Funktion des »außerhalb der Deichlinie« frei gelassenen »Streifen Landes« und des Vorlandes, die Sicherung des Deiches und damit der Marsch und ihrer Bewohner nämlich, unausgesprochen. Vielmehr verkommt sie zu einem finanziellen und arbeitstechnischen Zugeständnis, da Hauke einzig und allein ihr Reservoir an Material für den Bau herausstellt, zu dessen Abtransport er gar mehr als die üblichen Spanndienste zur Verfügung stellt.144 Deutlicher noch wird diese Inkompetenz, als Hauke an der Nahtstelle zwischen dem alten und dem neuen Deich die zwei auch ohne Sturmflut größten Gefahren für einen Deich entdeckt: Der alte Deich ist von Mäusen durchwühlt, und überdies hat sich der alte, umgeleitete

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Johann Nikolaus Tetens: Ueber den Ursprung der Sprache und der Schrift. Wismar 1772, S. 8. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 641. PV I, S. 135 (1. XV. 6). Ebd., S. 115 (1. XV. 1). Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 690f. In den Reisen kommt Tetens in diesem Zusammenhang abermals auf jenen »practische[n] Hydrotekt« zu sprechen, der in der Abflachung ein »allgemeines Mittel erfunden« zu haben glaubte, um »alle Uferund Deichkrankheiten zu heilen« (vgl. Tetens: Reisen in die Marschländer [s. Anm. 20], S. 31 mit Anm.), der in einem zweibändigen Manuskript sein »neues System« zwar »weitläuftig demonstrirt[e]«, der jedoch »die Gabe der Deutlichkeit im Vortrage nicht« gehabt habe, da Tetens bei der Lektüre in die Ausführungen einen »Sinn hineinziffern« musste – es scheine aber, »daß man aus eben diesem Grunde ein desto größeres Maaß von jener Gabe in seinen Gedanken vermuthe[n]« könne (vgl. ebd., S. 32f.). Vgl. zu Hauke Haiens ›Schuld‹ aufgrund einer mangelnden Vermittlungskompetenz bereits Gideon Stiening: »Badereisen sind garantiert.« Zur literarischen Personalisierung modernen Verwaltungshandelns bei Theodor Fontane und Theodor Storm. In: Eine intelligente Maschine? Handlungsorientierung moderner Verwaltung (19./20. Jahrhundert). Hg. von Peter Collin u. Klaus-Gert Lutterbeck. Baden-Baden 2009, S. 47–75, hier S. 61–74. Vgl. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 707–712.

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Priel ein neues Bett gegraben.145 Die Reaktion des Deichgrafen verdeutlicht sein Wissen um die Gefahr, aber auch sein Wissen um Abhilfe: [N]icht nur der alte Deich mußte hier verstärkt, auch dessen Profil dem des neuen angenähert werden; vor allem aber mußte der als gefährlich wieder aufgetretene Priel durch neuzulegende Dämme oder Lahnungen abgeleitet werden.146

Doch obwohl in Hauke eine »innere Unruhe« wütet, er das Bild vor Augen hat, was geschehen würde, wenn eine Sturmflut »wie 1655 gewesen« hereinbräche,147 lässt er sich die Schäden am Deich von Ole Peters gering reden, mit ein »paar hundert Soden und eine[r] Bestickung« seien sie leicht zu beheben. Eine zweite Inspektion am anderen Morgen zeigt, dass »die bloßgelegte Mäusewirtschaft […] mehr als die Flut den Schaden in dem Deich veranlaßt haben« musste, und der Schaden, »wie Ole Peters gesagt hatte, durch frische Soden und einige Ruten Strohbestickung […] auszuheilen« sei: »›Es war so schlimm nicht‹, sprach er erleichtert zu sich selber, ›du bist gestern doch dein eigner Narr gewesen!‹ – «.148 Dieser Gedankenstrich aber weist auf den Zwiespalt hin, in dem sich Hauke befindet. In seiner Jugend hört er seinen Vater vom damaligen Deichgrafen sprechen, der nur aufgrund seines Landbesitzes und »weil sein Vater und Großvater es gewesen sind« Deichgraf sei.149 Als Hauke selbst dieses Amt bekleidet, macht ein anderes ›Geschwätz‹ die Runde, der Hauke überhaupt missgünstig gesonnene Ole Peters setzt das »störende Wort in Umlauf«, dass der alte »von seines Vaters, der neue von seines Weibes wegen« Deichgraf geworden sei.150 Es wäre verfehlt, Haukes Reaktion auf das Geschwätz als Grund seines Scheiterns zu deuten. Zwar sucht er bei seinen Ausritten fast verzweifelt in der praktischen Umsetzung seines Planes einen Ausweg aus eben jener von Vorurteilen getragenen Zwangslage,151 doch wollte Storm keinen »wirklichen Helden und nicht den alltäglichen Durchschnitt«, und er wollte auch nicht »eine Ausnahmeerscheinung darstellen«, die es ihm abnötigt, eine »andere Organisationsform des Deichbaus« zu beschreiben, »als er sie in seiner eigenen Zeit vorfindet«.152 Damit hätte 145

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Vgl. ebd., S. 736; noch die Deichbrüche während der Februarflut 1825, die Storm in Husum erlebte und die vermutlich die die Schimmelreitergeschichte rahmende Erzählung thematisiert, werden auf die Durchwühlungen von Mäusen zurückgeführt, vgl. Barz: Der wahre Schimmelreiter (s. Anm. 21), S. 157f. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 736. Vgl. ebd., S. 736f. Vgl. ebd., S. 738f. Ebd., S. 651. Ebd., S. 688f. Vgl. ebd., S. 690: »[W]äre jemand neben ihm gegangen, er hätte es sehen müssen, welche eindringliche Geistesarbeit hinter diesen Augen vorging. Endlich blieb er stehen: das Vorland schwand hier zu einem schmalen Streifen an dem Deich zusammen. ›Es muß gehen!‹ sprach er bei sich selbst. ›Sieben Jahr im Amt; sie sollen nicht mehr sagen, daß ich nur Deichgraf bin von meines Weibes wegen!‹« Vgl. Dieter Lohmeier: Theodor Storms »Schimmelreiter« zwischen realistischer Novelle und Gespenstergeschichte. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 61 (2012), S. 99–109, hier S. 106; denn »[e]rst wenn der Deichbau eine genossenschaftliche Leistung war, konnte Storm die Hauptfigur seiner Novelle zum Anführer und zugleich zum Gegner seiner Koogsgenossen machen; nur dann konnte er das technische Unternehmen zum Kampf des Einzelnen und der Genossenschaft gegen das Meer stilisieren, und auch nur dann war es überzeugend, dass der neue Deich am Ende der Novelle Hauke-Haien-Deich genannt wird und somit als seine ganz persönliche Leistung erscheint«, erst die zeitliche Verschiebung in die Vergangenheit sei »Voraussetzung dafür, dass der Einzelne einen überragenden Rang einnimmt, einen

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er Fontane direkt in die Hände gespielt, der ihm vorwarf, einen Deichgrafen nicht von einem Cäsaren unterscheiden zu können.153 Es ist Jewe Manners’ Plädoyer für den Deich, das als eigentlicher Auslöser für Haukes Scheitern interpretiert werden kann. Dessen Scheitern nämlich beruht auf der »Gränze, über welche hinaus die mächtigste Dichtkraft unvermögend ist, diese Vereinigung von Empfindungsvorstellungen zu bewerkstelligen«: Wenn die Empfindungen, deren Phantasmate zu einer Fiktion vermischt sind, selbst in der Empfindung zu Einer neuen einfachen Empfindung vermischt sind, und dann davon ein Phantasma genommen wird; so ist dieß letztere lebhafter und fester, als die selbstgemachte Fiktion hat seyn können.154

Manners bedient sich einer für die Deichgevollmächtigten durchaus nachvollziehbaren Argumentation, die auf dem gemeinen Menschenverstand abzielt, Für und Wider des Baus pragmatisch artikuliert.155 Hauke aber versucht erst gar nicht, an Manners’ Argumentation anzuschließen und damit die Versammlung zu überzeugen, er stellt sie vor vollendetet Tatsachen: Sie soll den Bau des neuen Deiches »zum mindesten ansehen als ein Ding, das nun nicht mehr zu ändern steht« und überredet sie so, »demgemäß [zu] beschließen, was nun not ist!«156 Es ist jener Mangel an Vermittlungskompetenz im populärphilosophischen Sinne, der Hauke scheitern lässt. Ein Mangel, der sich aber nur im Zusammenhang mit seinen Aufgaben als Deichgraf niederschlägt. Im familiären Bereich scheinen die Defizite nicht vorhanden,157 erläutert er seiner Tochter doch, dass die »unheimlichen närrischen Gestalten«, die Wienke gleich ihm in seiner Jugend hat »aus den Spalten […] aufsteigen« sehen, »weder Wasserweiber noch Seeteufel« sind, sondern »nur arme hungrige Vögel«, die »sich die Fische [holen], die in die rauchenden Spalten kommen«.158 Eine solche pädagogisch-praktische Aufklärung – »Sieh nur wieder hin!« – hingegen bleibt der Marschgemeinde verwehrt, sie führt der Deichgraf mit autorativer Hand.159 Und dies sowohl in deichbautechnischen wie in Glaubensfragen. Letztere müssen zunächst vor dem Hintergrund eines Glaubens an den durch den Deichbau hervorgerufenen Eingriff in die göttliche Ordnung gelesen werden. Haukes Magd Ann’ Grethe, Anhängerin des auch in Friesland »damals stark im Schwange gehende[n] separatistische[n] Konventikelwesens«, in dem

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höheren, als er ihn in einer modernen arbeitsteiligen Industriegesellschaft hat, jedenfalls wenn es darum geht, ihn darzustellen, wie er tatkräftig handelt und mit seiner ganzen Person für etwas kämpft; nur dann taugt er zum Held einer Novelle.« Vgl. Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig [1898], Abschn. Der Tunnel über die Spree, 4. Kap.: Theodor Storm (ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Edgar Groß u.a. 25 Bde. München 1959–1975, Bd. 15, S. 200): »Ich rufe Mommsen, einen echten Schleswig-Holsteiner und Freund Storms, der aber freilich in der angenehmen Situation ist, einen palatinischen Cäsar von einem eiderstädtischen Deichgrafen unterscheiden zu können, zum Zeugen auf«. PV I, S. 126 (1. XV. 4). Vgl. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 707f. Ebd., S. 708. Vgl. dazu bereits Stiening: »Badereisen sind garantiert.« (s. Anm. 143), S. 72f. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 734; vgl. auch ebd., S. 645. Vgl. Stiening: »Badereisen sind garantiert.« (s. Anm. 143), S. 68.

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heruntergekommene Handwerker oder wegen Trunkes abgesetzte Schulmeister […] die Hauptrolle [spielten], und Dirnen, junge und alte Weiber, Faulenzer und einsame Menschen […] eifrig in die heimlichen Versammlungen [liefen], in denen jeder den Priester spielen konnte,

kolportiert nach Haukes verzweifeltem Gebet um die im Kindbettfieber liegende Elke, dieser habe »Gottes Allmacht bestritten«, er sei ein »Gottesleugner«.160 Die von Tetens heraufbeschworene »Versandung der Vernunft« durch die »religieuse Empfindeley«, die der oben genannte »gewisse Mann« fürchtet,161 scheint in den nordfriesischen Marschen Fuß gefasst zu haben, predigt doch ein »frommer Redner« im Konventikel – »es war ein vom Deichgrafen aus der Arbeit gejagter Pantoffelmacher« –, dass, wer »Gottes Allmacht widerstreitet, […] der ist von Gott gefallen und suchet den Feind Gottes, den Freund der Sünde, zu seinem Tröster« – und »wir kennen den Unglückseligen ja alle; er lastet gleich einem Stein auf der Gemeinde«.162 Auch wenn sich Haukes ›Abfall‹ bei näherer Betrachtung als ein Ringen um einen Glauben entpuppt, »gegen den seine Vernunft fortwährend Einspruch einlegt«163 und er sich »sein eigen Christentum zurechtgerechnet«, das den im alttestamentarischen Sinne strafenden Gott ablehnt und Gottes Allweisheit gegen Gottes Allmacht stellt, der vermeintliche Abfall vom ›richtigen‹ Glauben, oder, wie die etwas tumbe Frau Levke diesen nennt, vom »lebendigen Glauben«,164 nistet sich in den Köpfen der Menschen ein. Trien’ Jans erweitert den Glaubensbegriff sogar, wenn sie den christlichen Glauben mit dem Aberglauben bzw. naturmystischen Deutungsmustern verknüpft. Als Hauke ihr verbietet, seiner Tochter »Mären« von Wasserfrauen mit »Fischhänden« und »harten struppigen Haare[n]«, von diesen »Undinger[n], die nicht selig werden können« zu erzählen, erwidert sie mit »einem bösen Blick«, es seien keine »Mären«, ihr Großonkel habe es ihr so erzählt, und überhaupt sei es egal, ob sie selbst es erlebt habe oder es ihr erzählt worden sei: »aber Ihr glaubt nicht, Hauke Haien; Ihr wollt wohl meinen Großohm noch zum Lügner machen!«165 Dieser Rekurs auf tradierte – und über Autoritäten vermeintlich authentisierbare – Schemata korrespondiert mit der ›Hundeepisode‹ während des Deichbaus. Auch hier wird die Berufung auf das ›Wissen‹ der Altvorderen manifest, denn ein »stiernackiger Kerl« erklärt Hauke, dass mit dem Hund als Bauopfer »recht getan [sei]; soll Euer Deich sich halten, so muß was Lebiges hinein!« ›Was Lebiges? Aus welchem Katechismus hast du das gelernt?‹ ›Aus keinem, Herr!‹ entgegnete der Kerl, und aus seiner Kehle stieß ein freches Lachen; ›das haben unsere Großväter schon gewußt, die sich mit Euch im Christentum wohl messen durften! Ein Kind ist besser noch; wenn das nicht da ist, tut’s auch ein Hund!‹

Haukes autoritäres »Schweig du mit deinen Heidenlehren« quittieren die Arbeiter mit einem »›Oho!‹«, »grimmige[n] Gesichter[n] und geballte[n] Fäuste[n]«. Doch statt auf die Arbeiter einzugehen, das abergläubischen Ritual mittels praktischer Aufklärung anzugehen, noch dazu, da er um eben jenes von Anbeginn weiß: »Bei unserm Werke soll kein Frevel sein!«, flieht Hauke, 160 161 162 163 164 165

Vgl. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 716. Vgl. Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 154. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 717. Vgl. dazu Christian Demandt: Religion und Religionskritik bei Theodor Storm. Berlin 2011, S. 236. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 716. Vgl. ebd., S. 733f.

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in dessen Kopf das Phantasma ›seines‹ Deiches wieder einmal gesiegt hat: »der Gedanke an seinen Deich überfiel ihn wie ein Schrecken: was sollte werden, wenn jetzt alle ihre Spaten hinwürfen?«, wiederum in die autoritäre Haltung, selbst als eine Eskalation nur durch »den Freund des alten Jewe Manners« verhindert werden kann: Mit plötzlichem Entschluß wandte er seinen Schimmel gegen des nächsten Wagen. ›Stroh auf die Kante!‹ rief er herrisch, und wie mechanisch gehorchte ihm der Fuhrknecht.166

Als dann an Allerheiligen, ein Tag, der für den Märtyrerglauben des Christentums ebenso wichtig ist wie für den Spuk des Volksaberglaubens, die letztendlich verheerende Sturmflut die Küste erreicht, glaubt der Deichgrafen angesichts der Naturkräfte »alle Menschenmacht zu Ende«. Doch besinnt er sich: Sein Deich, der »Hauke-Haien-Deich, wie ihn die Leute nannten, der mochte jetzt beweisen, wie man Deiche bauen müsse!« Und beim Blick an ›seinem‹ Deich entlang erkennt er, dass hier die Wellen »langsamer, weniger gewaltig« heranrollen als am alten Deich: »›Der soll schon stehen!‹ murmelte er, und wie ein Lachen stieg es in ihm herauf«.167 Das Phantasma des Deiches, der trotz der erkannten Gefahren für die Marschbewohner nicht brechen wird, ist hier wiederum existent.168 Und auch hier verhindert dieses Phantasma eine rationale Reflektion auf die Gefahr. Als Hauke auf die Männer trifft, die auf Befehl Ole Peters den neuen Deich einreißen sollen, steigt der »Zorn« dem Reiter in die Augen. ›Kennt ihr mich?‹ schrie er. ›Wo ich bin, hat Ole Peters nichts zu ordinieren! Fort mit euch! An eure Plätze, wo ich euch hingestellt!‹ Und da sie zögerten, sprengte er mit seinem Schimmel zwischen sie.‹169

Der Autoritätsanspruch als Deichgraf, hier potenziert durch körperliche Gewalt, verhindert den Durchstich des ›neuen‹ Deichs und löst somit die Katastrophe aus. Die unidentifizierbare Stimme aus dem zur Deichsicherung abgestellten Haufen, die beim Bruch der Schnittstelle zwischen diesem und dem ›alten‹ Deich die Schuld des Deichgrafen, die er »mit vor Gottes Thron!« nehmen müsse, artikuliert, aber nicht benennt,170 bezeichnet das kollektive, auf einem mystischen Natur- und Weltbild gründende Gewissen der Marschbewohner. Im Angesicht der hereinbrechenden Wasser bekennt Hauke seine Schuld, doch gelingt es ihm hier zum ersten Mal, zwischen jenem und seinem Gewissen zu abstrahieren: »Er allein hatte die Schwäche des alten Deichs erkannt«, er hätte handeln müssen, »hätte damals Ole Peters’ böses Maul ihn nicht zurückgehalten«, er hatte »›[s]eines Amtes schlecht gewaltet!‹«171 Die Erkenntnis seiner Schuld, sein Amt nicht verantwortlich versehen und die Gemeinde nicht »vor unseres Herrgotts Meer« geschützt zu haben,172 ist vernünftig. Denn bereits nach der Vollendung des neuen Deiches hat er Schäden am alten entdeckt, die ihn einer Hochflut nicht standhalten lassen. »[W]ie ein Gewissensbiß, der außer ihm Gestalt gewonnen hatte«, lag das marode Deichstück ihm immer vor Augen, doch suchte er statt Abhilfe zu schaffen »seinen 166 167 168 169 170 171 172

Vgl. ebd., S. 721–723. Vgl. ebd., S. 748f. Vgl. gegensätzlich Stiening: »Badereisen sind garantiert.« (s. Anm. 143), S. 69f. Vgl. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 750. Ebd. Ebd., S. 751. Vgl. ebd., S. 741.

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Gewissensbiß zur Ruhe, ihn sich selber als eine krankhaft übertriebene Angst zur Überzeugung zu bringen«.173 Haukes Reaktion auf seine Schuld aber ist vernunftwidrig. Denn letztendlich akzeptiert er die Niederlage einer aufgeklärten Naturtheorie und ihrer praktischen Umsetzung vor dem religiösen Obskurantismus der Marschbewohner. Der Sprung in den Bruch, jener »kurze Kampf« mit den Gewalten der Natur,174 ist als Zugeständnis an eben jenen Obskurantismus zu sehen, an das kollektive Gewissen, gibt Hauke dem Deich doch das, was er bei seinem Bau noch vehement abgelehnt hat: »was Lebiges«, damit der Deich hält.175 Damit aber ist die Frage obsolet, ob »dieses Opfer auch angenommen wird, denn Hauke Haien wird dazu verdammt, als Wiedergänger vor Sturmfluten zu spuken, und ist auch dann nur Vorbote neuen Unheils«.176 Sie beantwortet sich selbst, es sei denn, man verfällt ebenfalls in jenen Obskurantismus der Marschbewohner. Ob man nun eine »heidnische« oder alternativ eine »religiöse« Lesart bevorzugt,177 die Bewohner der Marsch haben Haukes Opfer ›angenommen‹ und ihn dazu ›verdammt‹, als ›Deichgespenst‹ vor Sturmfluten umzugehen. Über Haukes Ende erzählt man sich dem Schulmeister zufolge im Dorf nämlich eine ganz besondere, andere Geschichte. Ein »schwarzes Unding« sei »über ihm« gewesen und habe »ihn in seinen Krallen« gehalten – und »wen der Teufel in den Krallen hat, dem kann nur Gott zu Hülfe kommen!«178 Aufgrund dieses ›Erfahrungsberichtes‹ von Haukes ehemaligem Dienstjungen Carsten, eines »abergläubige[n] […] Geselle[n]«,179 sei der Deichgraf »allmählich zu einer Schreckgestalt erniedrigt« worden, die dem religiös-fatalistischen Denken der Marschbewohner gemäß »auf seinem Schimmel über den Deich galoppiren und, wenn Unheil kommen soll, sich in den alten Bruch hinabstürzen« muss.180 Dem Deichgrafen wird damit die schlimmste Strafe zuteil, die einem aufgeklärten Menschen widerfahren kann – er muss als Gespenst wiederkehren. Dem 173 174 175

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Vgl. ebd., S. 740f. Vgl. ebd., S. 753. Vgl. ebd., S. 722; der These Frühwalds, Hauke habe mit dem Sprung in den Bruch seinen eigenen Mythos stiften wollen (vgl. Wolfgang Frühwald: Hauke Haien, der Rechner. Mythos und Technikglaube in Theodor Storms Novelle ›Der Schimmelreiter‹. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Hg. von Jürgen Brummack u.a. Tübingen 1981, S. 438–457, hier S. 455), muss daher widersprochen werden, da Hauke zwar nach dem Aufkommen der Bezeichnung ›Hauke-HaienDeich‹ »vor sich selbst zu mythischer Größe« wächst und damit einem Weltbild »Einlaß in sein Bewußtsein« gewährt, »das sich dem kalkulierenden Verstand entzieht und dem natürlichen Prinzip der Zerstörung angehört« (ebd., S. 454), doch ist dieses, nämlich sein Weltbild eben nicht jenes der Marschbewohner; vgl. auch Michael Schilling: Erzählen als Arbeit am kollektiven Gedächtnis. Zu Theodor Storms Novellen nach 1865. In: Euphorion 89 (1995), S. 37–53, der darauf abstellt, dass Haukes Selbstopfer »das Lebenswerk des Deichgrafen« »sichert und besiegelt« und es daher »vernunftbestimmt« sei (vgl. S. 51f.). Lohmeier: Theodor Storms »Schimmelreiter« (s. Anm. 152), S. 107. Vgl. ebd. Vgl. Storm: Sämtliche Werke (s. Anm. 1), Bd. 3, S. 1060; vgl. zum ›Teufelspakt‹ Haukes – der im gestrichenen Schlussteil durch den an Fausts ›Höllenfahrt‹ gemahnenden Bericht des abergläubischen Carsten weitaus plakativer erscheint als in der Erzählung selbst – Ernst Loeb: Faust ohne Transzendenz. Theodor Storms Schimmelreiter. In: Studies in Germanic Languages and Literature. In Memory of Fred O. Nolte. Hg. von Erich Hofacker u. Liselotte Dieckmann. St. Louis 1963, S. 121–132; vgl. auch Johannes Harnischfeger: Modernisierung und Teufelspakt. Die Funktion des Dämonischen in Theodor Storms »Schimmelreiter«. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 49 (2000), S. 23–44, v.a. S. 31–35. Vgl. Storm: Sämtliche Werke (s. Anm. 1), Bd. 3, S. 1060. Ebd., S. 1061.

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Resümee des Schulmeisters mit Rekurs auf Horaz’ Satire Reise nach Brundusium – »Credat judaeus Apella! pflegten wir auf der Universität zu sagen«181 – entgegnet der »für den Gespensterglauben einen bescheidenen Vorbehalt«182 erbittende namenlose Reisende denn auch, er habe den ›Schimmelreiter‹ doch mit eigenen Augen gesehen.183 Des Schulmeister Antwort ist nur zu abschätzig formuliert: Womöglich habe es sich nur um jenen in der Marsch bekannten »alte[n] wunderliche[n]«, »Astronomie« und »Wetterkund[e]« betreibenden »Junggeselle« gehandelt, der »am liebsten im fliegenden Sturm auf den Deichen hin und wieder« reite.184 Die von Storm in den Korrekturfahnen gestrichene »kleine Szene«,185 die den Deichgrafen aus der Perspektive der abergläubischen Marschbewohner wie der des rational denkenden Schulmeisters beleuchtet,186 findet ihr Pendant in der letztgültigen Fassung – hier aber bleibt die ›Auflösung‹ weitaus stärker dem Leser überlassen. Dem zurückkehrende Deichgrafen zufolge »gehört« der Schulmeister zwar »zu den Aufklärern!«, aber der Reisende könne seinen »eigenen Augen doch nicht mißtrauen«. Offen bleibt, welchen Schluss dieser – und der Leser – letztendlich zieht.187 Warum aber wird, so lässt sich das Resümee des Schulmeisters in der letztgültigen Fassung deuten, der »stiernackige Kerl« der ›Hundeepisode‹ gleich einem »Gewaltsmenschen oder einen bösen stiernackigen Pfaffen zum Heiligen«, der innovative Deichgraf, »nur weil er uns um Kopfeslänge überwachsen war, zum Spuk und Nachtgespenst« gemacht?188 Storm selbst hat in einem Brief an Ferdinand Tönnies die Schuld des Deichgrafen als eine »menschlich verzeihliche« bezeichnet, denn »körperlich geschwächt, des ewigen Kampfes müde« lasse er »einmal gehen, wofür er sonst stets im Kampf gestanden« habe – »[d]a aber, während Zweifel und Gewissensangst ihn umtreiben, kommt das Verderben«.189 Wenn Storm 1881 in einem Brief an Erich Schmidt mit Bezug auf seine Novellen Aquis submersus (1876) und Renate (1878) konsta-

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Ebd.; vgl. Horaz: Satiren I,5,97–103. Vgl. dazu Jean Lefebvre: Nichts als Gespenster? Die Funktionen des Deichreiters in den Rahmenhandlungen des »Schimmelreiters«. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 58 (2009), S. 7–13. Vgl. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 636. Vgl. Storm: Sämtliche Werke (s. Anm. 1), S. 1061f.; dieser »wunderliche Junggeselle« trägt durchaus die Züge Haukes, zumindest wenn man die Astronomie als eine esoterische Wissenschaft im Sinne der Deichbautechnik begreift und sein Gebaren bei der Beobachtung der Naturphänomene dem Haukes annähert. Vgl. Storm an die Gebrüder Paetel, 3. März 1888; nicht überlieferter Brief, hier zitiert nach Storm: Sämtliche Werke in 8 Bänden (s. Anm. 5), Bd. 8, S. 288. Vgl. Storm: Sämtliche Werke (s. Anm. 1), Bd. 3, S. 1060–1062; die ›kleine Szene‹ ist erst seit 1979 bekannt, vgl. Karl Ernst Laage: Der ursprüngliche Schluß der Stormschen »Schimmelreiter-Novelle«. In: Euphorion 73 (1979), S. 451–457, wieder abgedruckt in Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 30 (1981), S. 57–67. Vgl. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 755; fragwürdig erscheint in diesem Zusammenhang die Feststellung Lohmeiers, »der Fremde bürg[e] dem Leser vielmehr dafür, dass es das Schimmelreitergespenst tatsächlich gibt« (Lohmeier: Theodor Storms »Schimmelreiter« [s. Anm. 152], S. 109). Vgl. Storm: Der Schimmelreiter (s. Anm. 1), S. 754; ob nämlich der ursprüngliche Schluss wirklich »die beabsichtigte nachdenkliche Stimmung« und »die poetisch intendierte Unentschiedenheit zwischen Gespenstersage und realistischer Novelle« zerstört (vgl. Storm: Sämtliche Werke [s. Anm. 1], Bd. 3, S. 1062), bleibt mehr als fraglich. Storm an Ferdinand Tönnies, 7. April 1888; Theodor Storm: Briefe. Hg. von Peter Goldammer. 2 Bde. Berlin, Weimar 1972, Bd. 2, S. 386.

Seichtes Gefälle

405

tiert, dass der »Held […] eigentlich nie durch eigne Schuld, sondern durch die Schuld oder Unzulänglichkeit des Menschenthums« falle, sei dieß Feindliche in ihm selbst gelegen oder in einem außer ihm bestehenden Bruchtheil der Menschheit, möge er gegen diese oder gegen sich selbst zu kämpfen haben und dadurch selbst oder mit seinem Glück zu Trümmern gehen,190

so wird dieses »Menschenthum« wohl in keiner seiner Novellen so deutlich wie im Schimmelreiter. Die Zerrissenheit Hauke Haiens, der »trotz ehrlichen Kampfes dennoch mit der Weltordnung im Conflict auch wohl zum Untergang kommt«,191 speist sich aus der Diskrepanz zwischen aufgeklärter Theorie und ›common sense‹-Praxis. Der ob seiner theoretischen Berechnungen stolze Hauke steht nicht nur im Konflikt mit dem die bestehenden Gefahren erkennenden praktischen Deichgrafen, er steht ebenso im Konflikt mit der Marschbevölkerung, der er seine theoretischen wie praktischen Erkenntnisse – seien sie deichbautechnischer wie weltbildgestalterischer Art – nicht zu vermitteln vermag. Tetens hat diesen Konflikt am Schluss seiner Reisen so formuliert: Das Gebiet des gemeinen Menschenverstandes hört da auf, wo das Gebiet der eigentlichen Wissenschaft anfängt. Aber wo jener nicht mehr gebieten soll, darf er da nicht mehr mit denken, mit rathen, mit sprechen? Keine Wissenschaft ist berechtigt, die Urtheile desselben unbeachtet und ungeprüft bey Seite zu setzen. Nicht zu sagen, daß eine Wissenschaft, die es sich anmaßt, allein, auch gegen jenen, zu entscheiden, auch das seyn muß, was sie seyn soll, nemlich richtige, bestimmte und feste Einsicht, die sicher ist, nicht von einseitigen Begriffen mißgeleitet zu werden.192

Storm macht sich eben jene Diskrepanz zu Nutze, indem er gut 100 Jahre nach Tetens’ deichbautechnischen Schriften diese als Grund des Scheiterns Hauke Haiens poetisch reflektiert. Hauke nämlich zugleich als ›Anführer‹ und Gegner der Marschgemeinde zu stilisieren, ermöglicht es Storm, durch das Scheitern aufklärungskritische Momente in den Fokus seiner Novelle zu rücken. Für Tetens wie für Hauke sind die Notwendigkeiten einer verbesserten Deichbautechnik klar erkennbar, doch nur für Tetens sind sie mit Rücksicht auf den gemeinen Menschenverstand kommunizierbar. Hauke aber wird zum ›Nachtgespenst‹, weil es ihm misslingt, rationale Wissenschaft und irrationalen Menschenverstand zwar nicht zu vereinen, beide aber reflektiert zum Wohle der Gemeinschaft zu nutzen. Eben deshalb brechen die Deiche an ihrer Nahtstelle, an der Stelle, wo Wissenschaft und ›common sense‹ aufeinander prallen.

190 191 192

Storm an Erich Schmidt, September 1881; Theodor Storm – Erich Schmidt. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hg. von Karl Ernst Laage. 2 Bde. Berlin 1972/76, Bd. 2, S. 49. Storm an Theodor Mommsen, 12. Okt. 1884; Theodor Storms Briefwechsel mit Theodor Mommsen. Hg. von Hans-Erich Teitge. Weimar 1966, S. 126. Tetens: Reisen in die Marschländer (s. Anm. 20), S. 444.

V. ANHANG

Zeittafel

16.09.1736

Geburt Johann Nikolaus Tetens’ als Sohn des Gastwirts Jakob Tetens in Tetenbüll, Herzogtum Schleswig

1755–1758

Studium der Mathematik, der Physik und der Philosophie an den Universitäten Rostock (Immatrikulation 23. Mai 1755) und Kopenhagen u.a. bei Johann Christian Eschenbach (1719–1759) und Angelius Johann Daniel Aepinus (1718–1784)

ab 1757

Publikationen zu populärphilosophischen Themen

1759

Magister artium in Rostock

1760

Disputation über die eigene Abhandlung De causa caerulei coeli coloris in Rostock

ab 1760

besoldeter Privatdozent an der Akademie in Bützow, die aufgrund theologischer und finanzieller Streitigkeiten zwischen dem Herzog von Mecklenburg und der Stadt Rostock neu gegründet wurde; Vorlesungen über Logik, Metaphysik und Naturrecht

1763

ordentlicher Professor für Physik und Philosophie an der Akademie in Bützow

1763

Disputation Johann Jacob Engels (1741–1802) unter Tetens’ Leitung

1765

Tetens heiratet am 11. Okt. in Bützow Margarethe Buchow, die Ehe bleibt kinderlos

1765–1770

Leitung des der Universität angegliederten Pädagogiums in Bützow

410

Zeittafel

ab 1766

erste Pläne zu einer umfangreichen anthropologischen Studie Über die Grundtriebe des Menschen; Beginn der sprachphilosophischen Untersuchungen

1772

Über den Ursprung der Sprachen und der Schrift erscheint bei der Bergerund Boednersche Buchhandlung in Bützow und Wismar

1775

Programmatische Studie Über die allgemeine speculativische Philosophie erscheint bei der Berger- und Boednersche Buchhandlung in Bützow und Wismar

1776

Ruf als ordentlicher Professor für Philosophie an die Universität Kiel; ab dem WS 1776/77 Vorlesungen über Geschichte der Philosophie, über Logik und über Mathematik

1777

Die Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung erschienen in zwei Bänden bei Weidmann in Leipzig

ab 1777

Freundschaft zu und enge Zusammenarbeit mit Johann Andreas Cramer (1723–1788), Professor der Theologie an der Universität Kiel

ab 1778

Reisen durch die Marschländer an der Nordsee von Jütland bis Flandern zum Studium der verschiedenen Deichbautechniken auf Veranlassung der dänischen Regierung; Vorlesungen über angewandte Mathematik

1785

Prorektortat der Universität Kiel

1785/86

Einleitung zur Berechnung der Leibrenten und Anwartschaften erscheint bei Weidmann in Leipzig und macht Tetens zu einem Pionier des modernen Versicherungswesens

1787

Mitglied der Königlich Dänischen Akademie der Wissenschaften in Kopenhagen

02.07.1789

Übersiedelung nach Kopenhagen; Ernennung zum Assessor des Finanzkollegiums und Mitglied der Finanzkassendirektion; Tetens macht schnell Karriere: Deputierter im Finanzkollegium und Mitdirektor der Königlichen Bank, der Despositenkasse, der Witwenkasse und Versorgungsanstalt in Kopenhagen

1791

Ernennung zum Etatsrat

411

Zeittafel

10.12.1802

Ernennung zum Königlich dänischen Konferenzrat

19.08.1807

Tod in Kopenhagen

Bibliographie

Monographien Dissertatio physica de Cavssa Caervlei Coeli Coloris. Rostock: Adler 1760. Gedancken über einige Ursachen, warum in der Metaphysik nur wenige ausgemachte Wahrheiten sind, als eine Einladungs-Schrift zu seinen den 13ten October auf der neuen Bützowschen Academie anzufangenden Vorlesungen, entworfen von Johann Nicolaus Tetens. Bützow, Wismar: Berger und Boedner 1760. Abhandlung von den vorzüglichsten Beweisen des Dasein Gottes. Bützow, Wismar: Berger und Boedner 1761. Vim cohaesionis explicandis phaenomenis, quae vulgo vi attrahenti tribuuntur, haud sufficere: Ostendit et ad praelectiones suas in Academia Fridericiana Buezzoviensi sequenti semestri hyemali […] invitat. Buezzovii: J. G. Fritz 1762. Dissertatio physica de caussa fluxus Siphonis Bicruralis in Vacuo Continuati. Buetzovii: J. G. Fritz 1763. Natalem Friderici Ducis Regnantis Mecklenburgici Serenissimi Ducis Et Domini Nostri Clementissimi Die IX. Novembris MDCCLXV. Fauste Redeuntem In Schola Provinciali Huius Loci Pie Celebrandum Indicit Ioh. Nicolaus Tetens. Buetzovii: J. G. Fritz 1765. Programma de ratione in scholis publice docendi. Bützow 1766. Beschreibung der auf dem Pädagogio zu Bützow eingeführten Lebart, und übrigen Einrichtung. Bützow 1766. Ausführliche Nachricht von der Einrichtung des Herzoglichen Paedagogium zu Bützow, Auf gnädigsten Befehl durch öffentlichen Druck bekannt gemacht. Auf Kosten des Paedagogium. Bützow: J. G. Fritz 1767 [enthält auf einem gesonderten Blatt den Unterrichtsplan des Paedagogiums]. Programma in natalem Ducis. Bützow 1767. Commentatio de principio minimi. Bvezzovii, Wismariae: Bergerum et Boederum 1769 [enthält ein gesondertes Blatt mit Zeichnungen]. Zur Feyer des höchsten Geburts-Tages des Durchlauchtigsten Herzogs und Herrn Herrn [!] Friederich Regierenden Herzogs zu Mecklenburg, Fürsten zu Wenden, Schwerin und Ratzeburg auch Grafen zu Schwerin, der Lande Rostock und Stargard Herrn, Unsers gnädigsten Herzogs und Herrn, auf dem hiesigen Herzoglichen Paedagogium am 9. November ladet die Gönner und Freunde dieses Instituts geziemend ein Johann Nicolaus Tetens des Paedag. Director und der Naturlehre Professor. Bützow: J. G. Fritz 1769. Über den Ursprung der Sprachen und der Schrift. Bützow, Wismar: Berger- und Boednersche Buchhandlung 1772.

414

Bibliographie

Über die beste Sicherung seiner Person bei einem Gewitter. Bützow, Wismar: Berger- und Boednersche Buchhandlung 1774. Schreiben eines Naturforschers über die Magnetcuren. Bützow, Wismar: Berger- und Boednersche Buchhandlung 1775. Über die allgemeine speculativische Philosophie. Bützow, Wismar: Berger- und Boednersche Buchhandlung 1775. Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1777. Einleitung zur Berechnung der Leibrenten und Anwartschaften die vom Leben und Tode einer oder mehrerer Personen abhangen mit Tabellen zum practischen Gebrauch. Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1785. Einleitung zur Berechnung der Leibrenten und Anwartschaften Zweyter Theil. Versuche über einige bey Versorgungs-Anstalten erhebliche Puncte. Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1786. Reisen in die Marschländer an der Nordsee zur Beobachtung des Deichbaus in Briefen von Joh. Nic. Tetens. Erster Band. Leipzig: Weidmannische Buchhandlung 1788. Über die letzten Veränderungen mit der Bank und dem Geldwesen in Dännemark. Nebst einigen allgemeinen Untersuchungen betreffend wesentliche Punkte bey Leihbanken an den Herrn Matthias von Drateln. Kopenhagen: C. G. Proft 1793. Über die letzten Veränderungen mit der Bank und dem Geldwesen in Dänemark; nebst einigen allgemeinen Untersuchungen, betreffend wesentliche Punkte bei Leibrenten. Kopenhagen 1793. Der polynomische Lehrsatz, das wichtigste Theorem der ganzen Analysis. Neu bearbeitet und hergestellt von Tetens, Klügel, Kramp, Pfaff und Hindenburg. Zum Druck befördert und mit Anmerkungen […] versehen von Carl Friedrich Hindenburg. Leipzig: G. Fleischer 1796. Plan til en almindelig Forsørgelses Anstalt, oprettet i Kjøbenhavn under Hans Kongel. Majestæts allerhøieste garantie. Kiøbenhavn: N. Møller 1796. Plan einer allgemeinen Versogungs-Anstalt zu Copenhagen unter Sr. Königl. Majestät allerhöchster Garantie. Kopenhagen: N. Møller 1796. Plan til en Tontine, eller et Livrente-societet, oprettet i København. Under Hs. Kgl. Maj.s allerhøieste Garantie. Kiøbenhavn: Schulz 1800. Plan zu einer Tontine, oder Leibrenten-societet, zu Copenhagen. Unter Sr. Kön. Maj. allerhöchsten Garantie. Kopenhagen: Schulz 1800. Efterretning om tilstanden af Den Almindelige enke-kasse i Kjøbenhavn ved slutningen af aaret 1797, samt almindelige anmærkninger over forsikkrings-anstalter i livs- og døds-tilfælde i almindelighed. Kjøbenhavn: C. G. Proft 1802. Betrachtungen über die gegenseitigen Befugnisse der kriegführenden Mächte und der Neutralen auf der See. Kiel: Neue academische Buchhandlung 1802. Nachricht von dem Zustande der allgemeinen Wittwen-Casse zu Copenhagenam Schlusz des Jahrs 1797, mit einigen Bemerkungen über Versicherungs-Anstalten auf Lebens- und Sterbens-Fälle. Copenhagen: Proft 1803. Considérations sur les droits réciproques des puissances belligérantes et des puissances neutres sur mer: avec les principes du droit de guerre en général. Copenhague: Brummer 1805.

Bibliographie

415

Über die allgemeine speculativische Philosophie. Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Erster Band. Hg. von Wilhelm Uebele. Berlin: Reuther & Reichard 1913 [= Neudrucke seltener philosophischer Werke 4]. Über den Ursprung der Sprachen und der Schrift. Eingeleitet und hg. v. Hannelore Pallus. Berlin: Akademie 1966. Sprachphilosophische Versuche. Mit einer Einleitung von Erich Heintel. Hg. von Heinrich Pfannkuch. Hamburg: Meiner 1971 [= Philosophische Bibliothek 258]. Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung. 2 Bde. [Nachdruck der Ausgabe Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1777] Hildesheim, New York: Olms 1979 [= Johann Nicolaus Tetens: Die philosophischen Werke 1 & 2]. Kleinere Schriften. In Zusammenarbeit mit Rüdiger Thiele und Robert Mößgen ausgewählt, eingeleitet und hg. von Jürgen Engfer. 2 Bde. Hildesheim u.a.: Olms 2005 [= Johann Nicolaus Tetens: Die philosophischen Werke 3 & 4]. Saggi filosofici e scritti minori. Antalogia a cura di Raffaele Ciafardone. L’Aquila: Japadre 1983. Saggi filosofici sulla natura umana e sul suo sviluppo. A cura di Raffaele Ciafardone. Mailand: Bompiani 2008. О всеобщей спекулятивной философии. Введение, перевод и примечания А. Н. Круглова, предисловие Н. Хинске. Moskva: Kanon+ 2013. [Über die allgemeine speculativische Philosopie, zweisprachige Ausgabe.]

Übersetzungen Iensenii Kraftii Potentissimo Daniae Regi Quondam A Consiliis Iustitiae Et Professoris Matheseos In Academia Equestri Sorana Mechanica. Buezzovii, Wismariae: Bergerum et Boednerum 1773. Jens Krafts, vormaligen Königl. Dänischen Justizraths und öffentlichen Lehrers der Mathematik auf der Ritterakademie zu Soroe, Mechanik, aus der lateinischen mit Zusätzen vermehrten Übersetzung des Herrn Prof. Tetens ins Deutsche übersetzt und hin und wieder verbessert von Johann Christian August Steingrüber. Dresden: Walther 1787. C[hristian] C[arl] Lous Versuche und Vorschläge betreffend die Theorie der Navigation. Übers. aus dem Dänischen. Kiel: Verlag der Königlichen Schulbuchhandlung 1795.

Buch- und Zeitschriftenbeiträge Gedanken über die Wirkungen des Klima auf die Denkungsart des Menschen. In: Glückstädtische Intelligenzblätter (1757).1 Gedanken von dem Einfluß des Climatis in die Denkungsart des Menschen. In: Schleswig-Hollsteinische Anzeigen von politischen, gelehrten, und andern Sachen 1759, 29. St., Sp. 454–460, 30. St., Sp. 470–476. 1

Vgl. Berend Kordes: Lexikon der jetztlebenden Schleswig-Holsteinischen und Eutinischen Schriftsteller. Schleswig 1797, S. 325–332, hier S. 326.

416

Bibliographie

Abhandlung von dem Maaß der lebendigen Kräfte. In: Wenceslaw Johann Gustav Karsten (Hg.): Beyträge zur Aufnahme der Theoretischen Mathematik. Das vierte und letzte Stük. Rostok: Anton Ferdinand Röse 1761, S. 320–372 (371f.: Blatt mit Zeichnungen sowie eine Anleitung]. Schreiben an [Pastor Georg Volquarts (1721–1784) zu Lunden] über die Frage: Ob die Verschiedenheit der Erkenntniß-Fähigkeiten und Neigungen der Menschen in einer angebohrnen Verschiedenheit, oder in den äusserlichen Umständen seinen Grund habe? In: Hamburgische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit auf das Jahr 1761, 35. St., S. 276–280, 36. St., S. 286–288, 37. St., S. 293–296. Von der Verschiedenheit der Menschen nach ihren Haupt-Neigungen. In: Mecklenburgische Nachrichten, Fragen und Anzeigen 1762, 36. St., S. 305–308, 37. St., S. 318f., 38. St., S. 325–327, 39. St., S. 337–339. Beschreibung des Heiligen Dammes bei Doberan und Rehdewisch und eine Mutmaßung über den Ursprung desselben. In: Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1763, S. 183–194. Fortsetzung und Beschluß der im 39sten Stücke der Anzeigen voriges Jahrs abgebrochenen Abhandlung von der Verschiedenheit der Menschen nach ihren Hauptneigungen. In: Gelehrte Beyträge zu den MecklenburgSchwerinschen Nachrichten 1763, 23. St., S. 91f., 24. St., S. 93–95. Methodus Invieniendi Curvas, Maximum vel Minimum efficientes, universaliter, et ex analyticis principiis demonstrata. In: Nova Acta Eruditorum Anno 1763 (1764), S. 502–515. Ob eine Gegend oder ein Ort gesünder sey, als ein anderer. In: Gelehrte Beyträge zu den MecklenburgSchwerinschen Nachrichten 1764, S. 74–80. Über die Rangordnung der Wissenschaften. In: Glückstädtische Intelligenzblätter 1764.2 Von dem Mecklenburgischen magnetischen Sande. In: Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1764, S. 165–172. Von dem Ursprung der Romanen. In: Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1764, S. 142–148. Ein Schreiben über die Eigenschaften der Zahl neun. In: Nachrichten vom baltischen Meere aus dem Reiche der Gelehrsamkeit, der Sittenlehre, der Haushaltungskunde der schönen Wissenschaften und Künste, den gemeinen Nutzen zu befördern 1765.3 Über die Grundsätze und den Nutzen der Etymologie. In: Gelehrte Beyträge zu den MecklenburgSchwerinschen Nachrichten 1765, 14. St., S. 53–56, 15. St., S. 57–60, 16. St., S. 61f. Über den verschiedenen Nutzen der menschlichen Erkenntnissen. In: Schleswig-Hollsteinische Anzeigen von politischen, gelehrten, und andern Sachen vom Jahr 1765, 38. St., Sp. 605–612, 39. St., Sp. 621–626. Vom Zugwinde. In: Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1765, S. 149–156. Meteorologische Beobachtungen. In: Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1766.4 Sammlung einiger Erfahrungen über die Beschaffenheit der Winde. In: Gelehrte Beyträge zu den MecklenburgSchwerinschen Nachrichten 1766, S. 33–38. Sammlung einiger Erfahrungen über die Beschaffenheit der Winde. In: Schleswig-Hollsteinische Anzeigen von politischen, gelehrten, und andern Sachen auf das Jahr 1766, Sp. 387–392, 401–408, 417–424. Über den Nutzen der Etymologie. In: Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1766, 35. St., S. 139f., 36. St., S. 141–144, 37. St., S. 145.

2 3 4

Vgl. ebd., S. 327. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

Bibliographie

417

Über den Uhrsprung der Ehrbegierde. In: Schleswig-Hollsteinische Anzeigen von politischen, gelehrten, und andern Sachen auf das Jahr 1766, 43. St., Sp. 689–696, 44. St., Sp. 713–716, 45. St., Sp. 729–732, 46. St., Sp. 737–744, 47. St., Sp. 753–756. Von der Einpfropfung der Blattern. In: Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1766.5 Auszug aus meteorologischen Beobachtungen, von dem Monath März des vorigen Jahrs 1766 an. In: Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1767, S. 129–135. Nachricht von einem eingeschlagenen Gewitter. In: Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1768, S. 187–195. Wetter-Betrachtungen zu Bützow, vom May 1766 bis ans Ende des Februars 1767. In: Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1768, S. 101–108. De via facillima in motu corporum. In: Nova Acta Eruditorum Anno 1768 (1769), S. 481–503. Von einigen neuen Vorschlägen zur Beschützung für das Einschlagen des Gewitters. In: Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1769, S. 153–164. Über die neuern Vorschläge zur Beschützung für das Einschlagen des Blitzes. Zweyter Aufsatz. In. Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1770, S. 121–138. Über die neuern Vorschläge zur Beschützung vor dem Einschlagen des Blitzes. Dritter Aufsatz. In. Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1771, S. 187–202. Über die neuern Vorschläge zur Beschützung vor dem Einschlagen des Blitzes. Vierter Aufsatz. In. Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1772, S. 4–23. Additamentvm Ad Praelectionem Decimam Qvintam, Continens Elementa Dynamices. In: Iensenii Kraftii Potentissimo Daniae Regi Quondam A Consiliis Iustitiae Et Professoris Matheseos In Academia Equestri Sorana Mechanica. Buezzovii, Wismariae: Bergerum et Boednerum 1773, S. 325–391. Praemonitvm Ad Lectorem. In: Iensenii Kraftii Potentissimo Daniae Regi Quondam A Consiliis Iustitiae Et Professoris Matheseos In Academia Equestri Sorana Mechanica. Buezzovii, Wismariae: Bergerum et Boednerum 1773, S. 22–31. Über den Einfluß des Mondes in die Witterung. In: Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1773, S. 179–198. Von der Sicherung seiner Person bey einem Gewitter. Als der fünfte und letzte Aufsatz über die neuern Vorschläge zur Beschützung vor dem Einschlagen des Blitzes. In. Gelehrte Beyträge zu den MecklenburgSchwerinschen Nachrichten 1773, S. 21–36. Einige Bemerkungen über den Gebrauch der Wettergläser, besonders auf dem Lande. In: Gelehrte Beyträge zu den Mecklenburg-Schwerinschen Nachrichten 1775, S. 169–176. Ergänzende Notiz zur Anzeige der philosophischen Versuche. In: Kielische Gelehrte Zeitung (1777), S. 675f. Über die Realität unsers Begriffs von der Gottheit. Erste Abtheilung über die Realität unsers Begriffs von dem Unendlichen. In: Johann Andreas Cramer (Hg.): Beyträge zur Beförderung theologischer und andrer wichtigen Kenntnisse von Kielischen und auswärtigen Gelehrten. Zweyter Theil. Kiel, Hamburg: Carl Ernst Bohn 1778, S. 137–204. Auflösung des Problems, betreffend die Friction auf der geneigten Fläche. In: Kielisches Litteratur-Journal 1780.6 5 6

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 329.

418

Bibliographie

Über die göttliche Gerechtigkeit, den Zweck der göttlichen Strafen. In: Johann Andreas Cramer (Hg.): Beyträge zur Beförderung theologischer und andrer wichtigen Kenntnisse von Kielischen und auswärtigen Gelehrten. Vierter Theil. Kiel, Hamburg: Carl Ernst Bohn 1783, S. 249–290. Über die Realität unsers Begriffs von der Gottheit. Zwote Abtheilung. Über den Verstand in der Gottheit gegen Hume. In: Johann Andreas Cramer (Hg.): Beyträge zur Beförderung theologischer und andrer wichtigen Kenntnisse von Kielischen und auswärtigen Gelehrten. Vierter Theil. Kiel, Hamburg: Carl Ernst Bohn 1783, S. 3–96. Von der Abhängigkeit des Endlichen von dem Unendlichen. In: Johann Andreas Cramer (Hg.): Beyträge zur Beförderung theologischer und andrer wichtigen Kenntnisse von Kielischen und auswärtigen Gelehrten. Vierter Theil. Kiel, Hamburg: Carl Ernst Bohn 1783, S. 97–168. Anzeige [der Einleitung zur Berechnung der Leibrenten und Anwartschaften die vom Leben und Tode einer oder mehrerer Personen abhangen mit Tabellen zum practischen Gebrauch. Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1785]. In: Kielisches Litteratur-Journal 1785, S. 95f. Oratio de studiis academicis ad culturam rationis dirigendis. In: Kielisches Litteratur-Journal 1785, S. 180– 192. Beytrag zur Geschichte der Toleranz in protestantischen Ländern. (Aus einem Briefe aus dem Mecklenburgischen.) In: Neues Kielisches Magazin vor die Geschichte, Statsklugheit und Statenkunde 1 (1786), 1. St., S. 161–174. Beweis eines Lehrsatzes von dem Mittelpunkte der Coefficienten in den Polynomien. In: Leipziger Magazin für reine und angewandte Mathematik 1787, S. 55–62. Dänischer Geldcours von 1736 bis 1787 nebst einigen Anmerkungen. In: Schleswig-Holsteinische Provinzialberichte 1 (1787), S. 241–270. Nachricht von der am 15ten Oktober 1786 von der Herrn geheimen Konferenzraths, Grafen von Holck, Excellenz, am dem adelichen Gute Eckhof veranstalteten Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern, nebst den beigefügten Erbpachtcontrakten. In: Schleswig-Holsteinische Provinzialberichte 1 (1787), S. 30–48. Über den eingedeichten Zustand der Marschländer, und die demselben anklebende Gefahr vor Überschwemmungen – eine Vorlesung, gehalten in der Versammlung der schleswig-holsteinischen patriotischen Gesellschaft den 31sten October 1787 von Johann Nikolaus Tetens. In: Schleswig-Holsteinische Provinzialberichte 1 (1787), S. 641–665. Vorerinnerung an den Leser. In: Jens Krafts, vormaligen Königl. Dänischen Justizraths und öffentlichen Lehrers der Mathematik auf der Ritterakademie zu Soroe, Mechanik, aus der lateinischen mit Zusätzen vermehrten Übersetzung des Herrn Prof. Tetens ins Deutsche übersetzt und hin und wieder verbessert von Johann Christian August Steingrüber. Dresden: Walther 1787, S. XXXI–XLV. Zusatz. Zur funfzehnten Vorlesung. Anfangsgründe der Dynamik. In: Jens Krafts, vormaligen Königl. Dänischen Justizraths und öffentlichen Lehrers der Mathematik auf der Ritterakademie zu Soroe, Mechanik, aus der lateinischen mit Zusätzen vermehrten Übersetzung des Herrn Prof. Tetens ins Deutsche übersetzt und hin und wieder verbessert von Johann Christian August Steingrüber. Dresden: Walther 1787, S. 657– 803. Bemerkungen über die einländischen Marschen über das Eigene ihrer verschiedenen Bezirke und den Karakter ihrer Bewohner. In: Schleswig-Holsteinische Provinzialberichte 2 (1788) 2. Bd., S. 350–375. Formula polynomiorum. En almindelig Formel for Coefficienterne udi Polynomier. In: Nye Samling af det Kongelige Danske Videnskabers Selskabs Skrivter 4 (1788), S. 253–286 [dt. Übers. in: Physikalische,

Bibliographie

419

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7

Die bei Wilhelm Uebele: Johann Nicolaus Tetens nach seiner Gesamtentwicklung betrachtet. Mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zu Kant. Unter Benützung bisher unbekannt gebliebener Quellen. Berlin 1911 (ND Vaduz 1986) S. 67f. einzig erschlossenen Rezensionen bleiben hier unberücksichtigt.

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Achenwall, Gottfried 316 Adelung, Johann Christoph 365f. Aepinus, Angelius Johann Daniel 17f., 409 Alembert, Jean‒Baptiste le Rond d’ 135 Aquin, Thomas von → Thomas von Aquin Aristoteles 18, 252, 276, 286

Condillac, Étienne Bonnot de 14–16, 42, 104, 106, 108, 118, 355, 358 Copineau, Abbé de 350 Corvinus, Gottfried Siegmund 46, 344 Cramer, Carl Friedrich 66, 309, 410 Crusius, Christian August 17, 206f., 213, 247, 254, 346

Basedow, Johannes Bernhard 90f. Batteux, Charles 47 Baumgarten, Alexander Gottlieb 18, 47f., 56f., 62f., 97, 169, 173, 248f., 251, 344 Beattie, James 16, 50, 134f., 168, 176f., 181–188, 192–194, 197f. Berkeley, George 23, 42, 54, 89, 133–135, 137, 139, 141–143, 145f., 147, 150, 160, 176f., 182, 188, 191f., 196 Bernoulli, Daniel 388 Blumenbach, Johann Friedrich 268, 278f. Böhm, Andreas 247 Bonnet, Charles 46, 59, 89, 103f., 118, 120f., 241–243, 247, 265–271, 276– 279, 282f., 330 Brahms, Albert 386, 389, Brindley, James 388 Büsching, Johann Gustav Gottlieb 47

Darjes, Joachim Georg 17f., 47, 344 Darwin, Charles 265, 267 Deluc, Jean-André 394f. Desmercières, Jean-Henri 382, 387 Descartes, René 28, 58f., 92–94, 110, 117, 123, 150, 160, 183, 185, 219–221, 227, 231 Diderot, Denis 262

Christian VII. (König von Dänemark) 388 Cicero, Marcus Tullius 185f. Collier, Arthur 54, 134

Feder, Johann Georg Heinrich 13–16, 47, 57–59, 90–92, 205, 207, 209, 299, 325, 330, 332

Eckermann, Christian Hinrich 378f. Engel, Johann Jakob 18, 390, 409 Epikur (Epikuros) 74, 252, 355 Erdmann, Benno 13 Eschenbach, Johann Christian 17, 54f., 134, 405 Eschenburg, Johann Joachim 391 Euklid 384 Euler, Leonhard 201, 228, 388

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Personenregister

Fichte, Johann Gottlieb 76 Fontane, Theodor 400 Fontenelle, Bernhard Le Bovier de 392 Forster, Georg 15 Friedrich VI. (König von Dänemark) 387 Füchsel, Georg Christian 350f.

168, 169, 175f., 181f., 188, 191f., 196– 198, 211, 213, 224, 331, 341, 358f. Hunrichs, Johann Wilhelm Anton 386, 389 Hutcheson, Francis 14f. Huth, Johann Sigismund Gottfried 386f., 392

Garve, Christian 213 Gellert, Christian Fürchtegott 391 Geßner, Konrad 366 Goethe, Johann Wolfgang von 325f. Gottsched, Johann Christoph 247f., 254, 259, 261, 263, 390 Gravesandes, Willem Jacob 47, 56 Grotius, Hugo 305f., 312, 314

Irwing, Karl Franz von 15 Iselin, Isaak 90, 286f., 289–291, 294, 296– 300 Iuvenalis, Decimus Iunius (Juvenal) 185

Haller, Albrecht von 46, 237, 247 Hamann, Johann Georg 65, 107, 326 Happach, Lorenz Philipp Gottfried 350 Hartley, David 46, 329f., 333 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 187 Heimreich, Anton 381, 393 Helvétius, Claude Adrien 14, 46, 104, 269, 271, 274, 280f., 362 Hennings, Justus Christian 240 Herder, Johann Gottfried 15, 325f., 336f., 350f., 360–363, 367, 369f., 372 Herz, Marcus 107 Hißmann, Michael 91, 267, 270, 276, 325, 329, 333, 351 Hobbes, Thomas 93, 186 Hogrewe, Johann Ludewig 388 Holbach, Paul Henri Thiry d’ 269f., 279– 282 Home, Henry 14, 16, 50, 135, 181 Horatius Flaccus, Quintus (Horaz) 185, 404 Huarte de San Juans, Juan 389 Huarte y Navarro, Juan → Huarte de San Juans, Juan Hume, David 14–16, 23, 40, 42f., 63–66, 68f., 72–74, 76, 79–83, 86f., 96f., 99, 101, 119f., 131, 133f., 147, 150f., 160,

Jacobi, Friedrich Heinrich 76 Jansen, Johann Friedrich 394 Johann Adolf (Herzog von Schleswig Holstein-Gottdorf) 381 Juvenal → Iuvenalis, Decimus Iunius Kästner, Abraham Gotthelf 385, 388, 392 Kant, Immanuel 13, 19, 21–23, 28f., 38, 40, 43f., 45, 48, 50, 58, 60–62, 63, 65f., 68, 70, 75f., 82, 86–88, 100, 102, 106f., 115, 121, 123–132, 134, 151, 169, 172, 174, 177–179, 182, 188, 190f., 195, 198, 200–202, 209, 212–214, 252, 276, 293f., 303, 308, 312, 316, 319f., 324f., 333, 338f., 373, 375 Katharina die Große (Zarin von Russland) 366 Klopstock, Friedrich Gottlieb 309, 325, 336, 339, 342, 346, 367 Knutzen, Martin 100, 247f. Krüger, Johann Gottlob 49, 233, 247f. Krug, Wilhelm Traugott 46, 206 Lambert, Johann Heinrich 46, 48, 56, 190, 206, 213, 346, 358 Laß, Johann 378 Leibniz, Gottfried Wilhelm 13–16, 20, 23, 28, 32–34, 46, 60, 63, 72, 75, 80, 93, 102, 104f., 114f., 120, 123, 155, 181f., 186–189, 191, 196, 206f., 209, 213, 219f., 222–225, 227, 229f., 247f., 254,

Personenregister

267, 289, 339, 343, 346, 348, 352, 355f., 363, 365f., 368–370, 372f., 375 Lenz, Jakob Michael Reinhold 325f. Lessing, Gotthold Ephraim 14f., 289, 389 Lichtenberg, Georg Christoph 391 Lindner, Johann Gotthelf 390f. Locke, John 14–16, 20, 27f., 32–35, 42, 55, 61, 63, 90–94, 98, 103–107, 112–116, 122–124, 131f., 151, 155, 169, 181– 183, 185f., 188, 203, 232, 253, 329f., 332f., 345, 358f. Lucretius Carus, Titus (Lukrez) 355 Luther, Martin 393 Malebranche, Nicolas 219, 227 Mayet, Etienne 350 Meckel, Johann Friedrich 268 Meier, Georg Friedrich 90, 248f., 323 Meier, Gerhard 356 Meiners, Christoph 13, 15, 91, 270, 276 Mendelssohn, Moses 49, 115, 190, 225, 289, 323 Mercier, Louis-Sébastien 290, 298–300, 302 Merian, Johann Bernhard 92f., 117, 350 Mettrie, Julien Offray de La 136, 275 Michaelis, Christian Friedrich 325 Michaelis, Johann David 350 Milton, John 325, 336, 339, 342 Mithridates 366 Mönnich, Anton Günther 388f. Mommsen, Hans 384, 400 Montesquieu, Charles-Louis de 18, 305 Newton, Isaac 56, 352

433 Plinius 366 Poleyen, Heinrich Engelhardt 14 Pope, Alexander 183, 257 Portalis, Jean-Étienne-Marie 310 Prémontval, André Pierre Le Guay de 350 Priestley, Joseph 100, 224, 276, 330, 333 Reid, Thomas 16, 50, 89, 134f., 147f., 159, 167f., 176, 181–183, 185, 187f., 192– 194, 198 Reimarus, Hermann Samuel 18, 46f., 135, 289, 344, 353, 355, 360 Reusch, Johann Peter 247 Riquet, Pierre-Paul 388 Rollwagen, Johann Claussen 381 Rousseau, Jean-Jacques 14, 100, 254, 289f., 292, 310, 360 Rüdiger, Andreas 254

Oswald, James 50, 181

Saint-Hilaire, Étienne Geoffroy 268 Schmidt, Erich 404 Schreiter, Carl Gottfried 65 Schütz, Christian Gottfried 59 Search, Edward → Tucker, Abraham Segner, Johann Andreas von 18, 47, 344 Seneca, Lucius Annaeus 186 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper Earl of 14, 183, 185f. Silberschlag, Johann Esaias 389, 396 Soave, Francesco 356 Spalding, Johann Joachim 263, 294, 297 Spinoza, Baruch de 263 Stockhausen, Johann Christoph 391f. Storm, Theodor 24, 377–405 Süßmilch, Johann Peter 351, 361–363 Sulzer, Johann Georg 14f., 72, 323

Paetel, Elwin 378 Pallas, Peter 366 Petrejus, Petrus 393f. Platner, Ernst 13, 15f., 65, 221, 280, 325, 330 Platon 221, 336, 356, 366

Tacitus, Publius Cornelius 290 Thomasius, Christian 23, 252, 263, 297 Thunberg, Daniel af 388 Tiedemann, Dieterich 351 Tönnies, Ferdinand 404 Tönnies, Johann Hinrich 346

Personenregister

434 Tucker, Abraham (pseud. Edward Search) 16, 46, 118, 271 Ulrich, Johann August Heinrich 47 Unzer, Johann August 230, 247–249, 360f. Voltaire (François Marie Arouet) 365 Vorländer, Karl 13 Wezel, Johann Karl 15, 330f. Wieland, Christoph Martin 15, 325

Wolff, Caspar Friedrich 265, 267–270, 278–280, 282, 297 Wolff, Christian 14–17, 23, 27–44, 46, 52– 54, 56f., 60, 63f., 66, 68, 70–75, 80, 89, 94f., 104, 106f., 109, 116, 128, 132, 151, 169, 173f., 181–183, 186, 189f., 192, 206f., 211, 213, 220f., 247f., 251, 253f., 257–259, 261, 297, 315f., 323, 330, 343, 363, 385 Zobel, Rudolf Wilhelm 351