Die Christologie des Nikolaus von Kues

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Die Christologie des Nikolaus von Kues

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RUDOLF HAUBST DIE CHRISTOLOGIE DES NIKOLAUS VON KUES

DR . THEOL . RUDOLF HAUBST

DIE

CHRISTOLOGIE

DES

NIKOLAUS

VON

KUES

1956

VERLAG HERDER FREIBURG

T

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der katholisch - theologis hen Fakultät der Universität Bonn Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Alle Rechte vorbehalten Imprimatur.

Printed in Germany

Freiburg im Breisgau, den 4. Februar 1956 Der Generalvikar : Hirt

Druckerei von Herder & Co. GmbH., Freiburg im Breisgau

1054567-298

BERICHTIGUNGEN

zu Haubst, Die Christologie des Nikolaus von Kues

S. 28, drittletzte Textzeile : unterscheidet ( statt: unterschied)

S. 34, Zeile 14 von oben : theologicae ( statt: theologiae) S. 92 und 94, Kolumnentitel: Christus-Geheimnis (statt: Ritus -Geheimnis) S. 103, Anmerkung 11 und 13 : S. 12 (statt : 13)

S. 108, Anmerkung 52 : S. 13 ( statt: 14) S. 110, Anmerkung 13 : 0 (statt : a) S. 119, Notenzeile 13 von unten : Déodat Marie (statt: Déodat de Marie)

S. 157, Anmerkung 88 : S. 315—317 ( statt: 215—217) S. 163, Anmerkung 41 : 1955 (statt : 1935) S. 270, Zeile 8 von oben : in der Liebe (statt: Lehre ) der Christen

S. 309, Anmerkung 11 : V, 284rb - va (statt : C , 284rb - va)

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ketbolisch - theologischen Fakultät dor Universität Bonn Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Imprimatur. — Freiburg im Breisgau, den 4. Februar 1956 Der Generalvikar : Hirt

Druckerei von Herder & Co. GmbH ., Freiburg im Breisgau

10545 6 7-278

DEM HOCHWÜRDIGSTEN HERRN APOSTOLISCHEN PROTONOTAR PROFESSOR DR . BERNHARD GEYER IN VEREHRUNG UND DANKBARKEIT GEWIDMET

२ .

„Mein Gott, ich empfing als Geschenk von Dir diese ganze sichtbare Welt,

dazu die gesamte Schrift ... Vor allem gabst Du, mein Herr und Gott, mir Jesus als Meister, Weg, Wahrheit und Leben .

So kann mir nichts fehlen .“ (De visione Dei c. 25)

VORWORT

Die bis vor kurzem dominierende Cusanus-Interpretation erweckte manchmal den Eindruck , als habe „der Philosoph der docta ignorantia “ die Glaubensgeheim nisse des Christentums jenseits der Mauer der coincidentia oppositorum im

dunkeln Walde vergraben oder aber philosophisch mißdeutet. Mittlerweile hat die in unseren Tagen recht lebhafte Forschung auch die Er schließung der cusanischen Theologie ernstlich in Angriff genommen. Der Ver fasser suchte bereits in seiner Dissertation über „Das Bild des Einen und Drei einen Gottes in der Welt nach Nikolaus von Kues “ das trinitarische Gottes

geheimnis als den theologischen Hintergrund und letzten urbildlichen Inhalt der cusanischen Metaphysik, Kosmologie und Anthropologie sichtbar zu machen.

Aber gibt es auch eine eigentliche cusanische Christologie ? Welchen Platz nimmt der Gott -Mensch als Offenbarer, Mittler und Erlöser in der geistigen Welt des großen Kardinals ein? Jesus Christus ist, wie sich zeigen wird, in der Glaubensverkündigung des Nikolaus von Kues der lebendige Mittelpunkt. Die denkerische Erfassung und

die Veranschaulichung des geoffenbarten Christusmysteriums bilden die Krö nung und eine reife Frucht seiner tiefgründigen Weisheit. Ehrfürchtige Gottes sehnsucht und die Metaphysik der kosmischen Ordnungen sind in dem Bilde, das er vom Gott-Menschen entwirft, zu inniger Einheit verschmolzen .

Die folgende Untersuchung stützt sich weithin auf bisher noch gänzlich unaus geschöpfte und ungedruckte Quellen. Sie lag im Jahre 1954 der katholisch -theo logischen Fakultät der Universität Bonn als Habilitationsschrift vor. Den beiden Referenten , Herrn Professor Dr. Johann Auer und dem Hochwürdigsten Herrn

Apost. Protonotar Prof. Dr. Bernhard Geyer, sei für einige korrigierende Hin weise aufrichtig gedankt. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft weiß sich der Verfasser durch die Unterstützung der Drucklegung sehr zu Dank verpflichtet. Erwähnung verdienen VII

Vorwort

auch das Entgegenkommen und die Sorgfalt, mit der sich der Verlag der Druck legung annahm .

Das Interesse, das den Verfasser bei der Forschung und Darstellung leitete, war nicht nur historischer Art. Er traut vielmehr dem cusanischen Christusbild auch heute noch Leben und Kraft zu, dem zentralchristlichen Anliegen zu dienen, daß „ Jesus der Herr beständig größer werde für Kopf und Herz durch das Wachstum des Glaubens“ .

Remagen bei Bonn, am 1. Adventsonntag 1955.

Der Verfasser

INHALT

VII XV

Vorwort Abkürzungen , Quellen und Literatur EINFUHRUNG

1. Bisherige Stimmen zur cusanischen Christologie . 1 ) Ein erster Blick in das 3. Buch der Docta Ignorantia 1.

1

2) Stimmen cusa

nischer Zeitgenossen 2. 3) Neuere Urteileund Darstellungen 2. II. Ober die uns vorliegenden Quellen 1 ) Die Predigten 5. — 2) Biblische Theologie 7. - 3) Quastionen 7. – 4) Das

5

-

sonstige philosophisch -theologische Schrifttum 8. — 5) Kontroverstheologie 10. 10

III. Die von Nikolaus von Kues benutzten Quellen

1 ) Übersicht 10. 2/3) Aldobrandinus de Tuscanella und sonstige mittel 5/6 ) Ex alterliche Prediger 11. — 4) Über Predigt (,Clemens papa “) 13. egetische Hilfsmittel, besonders zu den Paulinen ( glossula aurea ) 13 .

778 Weitere Literatur. Die Quellenfrage bei den Quastionen 17. – 9) Uber die Kenntnis der griechischen Philosophie und Patristik 19. GRUNDLEGUNG 22

1. Der Johannes- Prolog

1 ) Dessen besondere Wertschätzung 22.

2) Zu „ Predigt 19“ und ihre Da · 3/4) Zu den Predigten 2 und 13 : 25. — 5) Die Responsio de

tierung 23.

intellectu evangelii Iohannis 28. — 6) Zu De aequalitate 29. 30

II. Das Thema der dreifachen Geburt 1 ) Dessen Verwendung 30.

2) Nebenmotive 31 .

3) Quellen 33 .

4/5) Dogmengeschichtliche Einordnung 35. 39

III. Zum Aufriß des Ganzen ERSTES KAPITEL

Die Menschwerdung in heilsgeschichtlicher Sicht A. DIE ZIELBESTIMMUNG UND DAS HEILSVERLANGEN DES MENSCHEN

1. Die dem Menschen bei seiner Erschaffung gegebene Zielbestimmung . 1 ) Gott als das Ziel des Menschen 41 .

41

2/3 Die Schau der Herrlichkeit und

die Verheißung Gottes 42. II. Die Menschenseele als Bild Gottes

a) Die Geistseele als „ lebendiges Bild “

b) Die Geistseele als „ gottempfängliches Bild“ III. Das menschliche Verlangen nach der Gottesschau . 1 ) Das „ unersättliche Wahrheits- und Glücksverlangen des Geistes 51 . 2) Gott als dessen Ursprung und Ziel 52. — 3) Die Naturhaftigkeit der Gottes sehnsucht 54. — 4) Heil und Unheil 55. — 5/6) Drei Ergänzungsfragen 55.

45 45 48 51

-

B. DER SONDENFALL DES MENSCHEN UND DER ERLOSUNGS RATSCHLUSS GOTTES

1. Die ursprüngliche gnadenhafte Ausstattung der menschlichen Natur in den Stammeltern

58

a ** Haubst , Christologie

IX

Inhalt

1 ) Nach den frühesten Predigten 58. —- 2)2 Die Offenbarungsgrundlage 60. 3) Die „Unschuldsgnade “ Adams 61 . II. Der Sündenfall a) Die Sünde der Stammeltern

64 66 69

b) Die Sünde Adams als Erbschuld des Menschengeschlechtes . c) Die Folgen der Erbsünde für die menschliche Natur

1 ) Das allgemeine Zustandsbild 69. - 2/3) Konkupiszenz und Ignoranz 71 . -

111. Die Erlösungsbedürftigkeit des gefallenen Menschen und der Heilsratschluß Gottes

a) Ein Zwischenspiel: Die „ heilige Zwietracht “ b) Die Erlösungsbedürftigkeit des gefallenen Menschen 1–3) Der leibliche und der geistige ewige Tod 79. — 4/5 ) Sünde und Un

74 79

wissenheit 81 . 83

c) Der Heilsratschluß Gottes .

1/2) Die Anselmsche Satisfaktionslehre und unmittelbar metaphysische Be gründungen für die Notwendigkeit der Erlösung durch Gott 83. - 3/4 ) Die Freiheit des göttlichen Ratschlusses. Vorläufiges über dessen Motive 86.

-

5) Warum wurde die zweite Person in Gott Mensch ? 88 . C. DIE VERHEISSUNG UND VERKUNDIGUNG DER MENSCH . WERDUNG

1. Verheißung und Vorbedeutung a) Die Uroffenbarung und die prophetische Verheißung

b) Vorbilder und Vorbereitung

90 91

c) Das Christus-Geheimnis der Vorzeit, insbesondere der Heiligen Schrift des Alten Bundes . II. Christus die Fülle der Zeit

a) Die Altersfülle der Menschheit im geschichtlichen Christus . b ) Die Menschwerdung „ in der Mitte der Zeit “

c) Christus der „siebte Tag“

93

96 97 100

111. Die erste Verkündigung der zeitlichen Geburt des Sohnes Gottes a) Der Vorläufer als „ nächster Hinweis auf Christus “ .

b) Die Menschwerdung im Lichte der sie umgebenden offenbarungsereignisse c) Das Geheimnis und seine Verkündigung

102 105 107

ZWEITES KAPITEL

Die hypostatische Einung A. NIKOLAUS VON KUES UND DIE PATRISTISCH -MITTEL ALTERLICHE LEHRTRADITION

1. Der Rahmen der patristisch -mittelalterlichen Orthodoxie und die alten Häresien

a) Supermiranda unio '

b) Über die christologischen Häresien des Altertums c) Die personale Einung der zwei Naturen in Christus

109 110 113

1 ) Übersicht 113 . 2) Die hypostatische Einung als besondere Gegenwart Gottes und im Vergleich zu kreatürlichen Seinszusammensetzungen 114 .

3) Als Einung in der Person 116. — 4 ) Als Einung der göttlichen und menschlichen Natur 117 .

11. Nikolaus von Kues und die mittelalterliche christologische Spekulation a) Nachklänge und Zurück weisung der Homo-assumptus - Vorstellung . X

118

Inhalt

1) Nachklänge 118.

2) Korrektur und Kritik 119.

3) Weitere „ Rück

stände “ 120.

b) Der proportionslose Abstand beider Naturen und der Formalgrund der Einung

122

1)Übersicht 122. — 2 ),Finiti ad infinitum non est proportio 122. — 3)Nega tive Bestimmungen der hypostatischen Einung (keine Koinzidenz) 123 .

-

4) ,Christus non est compositus ex Deo et homine 125. — 5) Christus ,me dium sine medio‘ 126. – 6) Die unio in fieri als attractio usw. sowie die

Subsistenz im Worte 127. — 7) Die Frage nach dem einen Sein in Chri stus 129 .

c) Die communicatio idiomatum . 1 ) Die Grundregeln 132. — 2) Ist Christus überhaupt „zusammengesetzt“? 133. – 3) ,Mirabiles locutiones 134. — 4) ,Deus humanatus homo dei ficatus 135. — 5) Christus ,Creator et creatura' 136.

132

B. JESUS CHRISTUS ALS , ABSOLUT UND BESCHRÄNKT GROSSTES- UND ALS , VOLLENDUNG DES UNIVERSUMS "

1. Die vorläufig-hypothetische Konzeption des „absolut und beschränkt Größten zugleich “

a) Zur Klärung der Begriffe . 1) Das „absolut(e))Größte- 138. - 2) „ Absolut“ und „kontrakt “ 139. 3) Das Universum als (nur) beschränkt Größtes 140. 4) Contractio als Besonderung des Seins 141. — 5) Das größte Beschränkte“ und das „be

138

schränkte Größte “ 142 .

b) Weg und Methode der Gedankenführung in den ersten Kapiteln der Docta Ignorantia

143

1) Die Stufenordnung des Universums und die „regula doctae ignorantiae 143. — 2) Das hypothetische Verfahren Docta Ignorantia III , 2—3 147. -

3) Das cusanische Maximitätsprinzip 150. — 4 ) Dessen Vorgeschichte 152. c) Der maximale Charakter der Einung des absoluten und beschränkten Größten 1 ) Die Eigenart der cusanischen Betrachtungsweise 154. — 2) Nähere Be stimmung der Maximität 155. — 3) Subsistenz und Unauflöslichkeit als Bedingungen 156. — 4) Der überrationale Charakter der größtmöglichen

154

Einung 157 .

11. Der Gott -Mensch Jesus Christus als die Vollendung und das Ziel des Uni versums

a) Die besondere Eignung der menschlichen Natur zur Einung mit dem absolut Größten auf Grund ihrer mikrokosmischen Sonderstellung

158

1) Die Zusammenfassung der Stufenordnung des Universumsals Maßstab 2) Der Prärogativ des Menschen als der „ mittleren Natur “ oder „Welt im kleinen“ 159. — 3) Der Mensch als Bild des Universums 160. – 4) Als „menschliche Welt“ und „ menschlicher Gott “ 161. — 5) Als „ zweiter 158 .

Gott “ 163. — 6) Die Mittelstellung des Menschen 164 . b) Die Vollendung des Universums in Jesus Christus . 1 ) Die hypothetische Entwicklung des Begriffes der perfectio universi 166. -

166

2) Die göttliche „Gleichheit“ als Subsistenzgrund der größtmöglichen Men schennatur 167. — 3) Christus der „ Erstgeborene aller Schöpfung “ 167.

4) Die soteriologische Bedeutung der Vollendung des Universums in Chri stus 169. — 5) Christus als principium , medium et finis“ 170. c) Christus das Ziel des Universums und die Frage nach dem entscheidenden Motiv der Inkarnation

173

1) Gottes Güte und Machtals Motive für die Vollendung des Universums 173. — 2) Die Mittelstellung der „ Beschränkung selbst “ 175. — 3) Christus als das vorausliegende Ziel der Schöpfung 176. — 4) Die Veranschaulichung dieses Gedankens 178. — 5) Christus als Verbum abbreviatum“ und „ letzte Schlußfolgerung “ 180. 6) Zur Vorgeschichte der Frage nach dem ent -

9

ΧΙ

Inhalt

scheidenden Motiv der Menschwerdung 182. – 7) Die cusanischen Quellen 184. – 8) Die Verknüpfung deskosmisch -metaphysischen und des soterio logischen Motivs 187. — 9) Beruht die Inkarnation auf einer vom Sünden -

falle unabhängigen Intention im göttlichen Weltenplan? 189. — 10) Die Ergebnisse 191. DER BEWEIS DER GOTTHEIT CHRISTI

1. Der Beweis aus der Heiligen Schrift

a) Der Beweis der Gottheit Christi und die fundamentale Bedeutung ihrer 192

Erkenntnis im Glauben

1)derÜbersicht über die Beweiswege i92.— 2) Die fundamentale Bedeutung Gottessohnschaft Christi 194 . 3) Ein Ansatz zur analysis fidei 195. b) Das Selbstzeugnis Christi . c) Das Zeugnis der Wunder . II. Jesus Christus und die Religionen der Heiden, Juden und Mohammedaner a) Jesus Christus als die Vollendung der Religionen b) Christus und die religiöse Sehnsucht der Heiden .

c) Über das Judentum und die Entstehung des Mohammedanismus

196 198

200 201 205

III. Das Beweisverfahren gegenüber den Mohammedanern

a) Der Nestorianismus im Mohammedanismus als Ausgangsbasis der christo logischen „ Sichtung des Korans “

b) Der„Maximitätsbeweis“ gegenüber Nestorianismus und Mohammedanismus c) Präsuppositionsdialektik

d) Christus das „ Antlitz der Völker“

206 209 213 215

DRITTES KAPITEL

Die menschliche Natur Christi in der hypostatischen Einung A. DIE WESENSFULLE DER MENSCHLICHEN NATUR IN CHRISTUS

1. Die „ Universalität “ der menschlichen Natur Christi . II. Die Individualität der menschlichen Natur Christi

III. Die Naturgemeinschaft zwischen Christus und dem Menschengeschlechte a) Spekulative Erklärung durch den Komplikationsgedanken . b) Christus und die Stammeseinheit des Menschengeschlechtes .

219 223

228 228 230

B. DIE GEBURT AUS MARIA DER JUNGFRAU

1. Die göttliche Wirkursächlichkeit bei der Menschwerdung a) Gott als das „ ersatz- väterliche“ Prinzip bei der jungfräulichen Empfäng nis Christi

b) Die Inkarnation als Werk der göttlichen Dreieinigkeit c) Die Menschwerdung Christi im Augenblick der Empfängnis 11. Die jungfräuliche Mutter Jesu a ) Die Unbefleckte Empfängnis Mariens . b) Die jungfräuliche Mutterschaft Mariens III. Die zweifache Geburt und die Frage der Adoptivsohnschaft Christi 1 ) Das Thema der zweifachen Geburt Christi . 2 ) Die Gottes- und Menschensohnschaft Christi

3/4) Die Frage der Adoptivsohnschaft Christi . XII

233 235 238

241 243

247 247 249

Inhalt C. SEELE , LEIB UND BLUT CHRISTI IN DER HYPOSTATISCHEN EINUNG

1. Die Seele Christi

a) Ihre substantielle Heiligung und Gnadenfülle . 1 ) Die Gottheit als ungeschaffene Gabe 254 . 2 ) Die Seele als gnaden erfülltes Abbild der göttlichen Lebensfülle 256. 3) Das Innewohnen der Gottheit in der Menschheit 257. — 4) Die Gnade Christi als gratia capitis

254

259. — 5) Die Unsündlichkeit Christi 260. 261

b) Christus als Erdenpilger in der Gottesschau 1 ) Die Gottesschau des irdischen Christus 261 .

2) Deren Ermöglichung

durch die hypostatische Einung 262. — 3) Ihr Umfang und ihre Begren -

zung 264. — 4) Gesamtbild der menschlichen Erkenntnis Christi 265. 5) Deren Wachstum 267.

c) Die Willenstätigkeit und Tugendfülle Christi . 1 ) Die menschliche Willenstätigkeit 268. – 2) Die Tugendfülle 270. .

268

3) Der cusanische „ Tugend“ -Begriff 272. · 4) Der „ Glaube “ Christi 274. II. Leib, Seele und Gottheit Jesu während des Triduum mortis

a) Der Verbleib von Leib und Seele in der hypostatischen Einung sowie die der 1) Übersicht 276. 2) Die Sentenzder DoctaIgnorantia 277 . Weiterentwicklung bis zu De visione Dei 279.

282. — 5) Die in den Aufzeichnungen in Cod. Cus. 40 vertretene Lehre 283. b) Die geschichtliche Einordnung derdargestellten cusanischen Lehre . 1 ) Die Unzerstörbarkeit der Menschheit Jesu 286.

276

3) Deren · 4 ) Im Spätschrifttum 286

2) Ihr Fortbestand

während des Triduum mortis 287. — 3) Formmetaphysik 292. c) Der Verbleib des Blutes Christi in der hypostatischen Einung sowie die geschichtliche Einreihung der beiden Aufzeichnungen in Cod. Cus. 40 . 1 ) Nach den Quästionen 295. — 2) Nach der „These “ 296. 3) Zu deren

295

Datierung 298. — 4) Näheres über die Kontroverse um die Wende 1462/63 als den unmittelbaren Hintergrund beider Aufzeichnungen 300. — 5) Dog mengeschichtliche Einordnung 303. RUCKBLICK

Das Christus-Bild des Nikolaus von Kues Der biblisch -geschichtliche Untergrund 305.. – 2) Hervortretende Züge 307. — 3) Zur Perspektive des Ganzen 308. TEXT - ANHANG

Die in Cod. Cus. 40 erhaltenen Aufzeichnungen des Nikolaus von Kues über die hypostatische Einung und das Blut Christi Vorbemerkungen I. Vierzehn christologische Quastionen II. Beweis der These: Quod resurgit, nunquam fuit separatum a persona resur gentis

313 315 315

INDICES

Index der benutzten Handschriften Personenverzeichnis

329

XIII

ABKÜRZUNGEN, QUELLEN UND LITERATUR

1. Verzeichnis der Abkürzungen Antonianum = Antonianum (Rom 1926 ff.). Beiträge

с

Chalkedon

Conc.

= Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters (Münster 1903 ff.); seit 1928 : Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters . = Cod. Cus. 220.

= Das Konzil von Chalkedon, Bd. 1—3, hg. von A. Grillmeier u. H. Bacht (Würzburg 1951-54). - (De) Concordantia catholica (als Schrift).

D

Corpus iuris canonici, ed. E. A. Friedberg (Leipzig 1876—82) . - Corpus Scriptorum ecclesiasticorum latinorum (Wien 1866 ff.). = H. Denzinger u. K. Rahner, Enchiridion Symbolorum, ed. 28 (Freiburg

De coni.

= De coniecturis .

D. Ign.

= (De) Docta Ignorantia (als Schrift ). = Dictionnaire de Théologie catholique (Paris 1910 ff.).

CorpIC CSEL

i. Br. 1952).

DTC FCLLD

Forschungen zur christlichen Literatur- und Dogmengeschichte, hg. von A. Ehrhard u. J. P. Kirsch .

G

= Salzburg, Offentl. Studienbibl., Cod. V. 2 GY .

Greg.

Gregorianum (Rom 1920 ff.). = Heidelberger Cusanus-Ausgabe (Opera omnia, 1932 ff., und Cusanus Texte in : HSB). = Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften , Philos.

H HSB

hist. Klasse. LTUK P

PG PL RchScR Rch Th Scholastik

= = = = =

Lexikon für Theologie und Kirche (Freiburg i. Br. 1930—38) . Pariser Cusanus-Ausgabe, ed. Faber Stapulensis (Paris 1514 ). Migne, Patrologia Graeca. Migne, Patrologia Latina. Recherches de science religieuse (Paris 1910 ff.).

= Recherches de Théologie ancienne et médiévale (Löwen 1929 ff.).

Scholastik (Zeitschrift, Freiburg i. Br. 1926 ff.). S 3 (mit Folio- oder Seitenangabe) = Nikolaus von Kues, Sermo 3. (Zählung nach : J. Koch , Untersuchungen über Datierung, Form, Sprache und Quellen. Krit. Verzeichnis sämtlicher Predigten : HSB 1942.) Si :

Siena, Bibl. comunale, Cod. G. XI 26. = Siena, Bibl . comunale, Cod. G. IV 1 .

ThQschr

= Theologische Quartalschrift ( Tübingen 1819 ff.).

V1

Bibliotheca Vaticana, Cod. lat. 1244. = Bibliotheca Vaticana, Cod . lat. 1245.

Sii

V2 VEI

WW U (

Verfasser, Das Bild des Einen und Dreieinen Gottes in der Welt nach Nikolaus von Kues, (Trier 1952). = Wissenschaft und Weisheit ( 1934 ff .). sinngemäß zu tilgen. = sinngemäß zu ergänzen. XV

Abkürzungen, Quellen und Literatur

Die Heilige Schrift wird nach der Vulgata zitiert, da sich Nikolaus von Kues im allgemei nen dieser Übersetzung bediente. Mit Ausnahme der Interpunktion bei Relativsätzen werden die lateinischen Texte, ab

gesehen von einigen charakteristischen Abweichungen, nach der klassischen Orthographie wiedergegeben.

2. Verzeichnis der benutzten handschriftlichen Quellen

Albert d.Gr., Kommentar zu den Schriften des Dionysius Areopagita: Cod. Cus. 96 . (Summa) De incarnatione: Florenz, Bibl. Naz., Conv. soppr. (S. Maria Novella) G. V. 347 (benutzt nach einer Abschrift, die mir Herr Prof. Backes, Trier, zur Ver fügung stellte) f. 43"4—52' . Die angeführten Texte konnten noch an Hand der Kor rekturabzüge der im Erscheinen begriffenen Ausgabe (ed. Colon., t. 26) im Albertus Magnus-Institut, Bonn, überprüft und nach den Numeri dieser Ausgabe zitiert werden. Aldobrandinus de Tuscanella , Sermones de tempore : Cod. Vat. Ottonianus 557 .

Dominicus de Dominicis (Brixinensis, Torcellanus),De sanguine Christi (quaestio ): Paris, Bibl. Nat., Cod. 12390, 1—28 " ; anschließend (2816—3016) : „Aliquae auctoritates, ex quibus inseparabilitas sanguinis a deitate clarius diluceretur.' Heinrich von Langenstein , Tractatus de Verbo : Cod. Cus. 54, 91 ' — 96 '. Heymerich von Kamp , von Nikolaus von Kues gesammelte Schriften : Cod. Cus. 106 . Leo d. Gr., Sermones: Cod. Cus. 40.

Matthäus von Krakau , Rationale divinorum operum : Cod. Cus. 104, 1² – 62 '. Matthias von Schweden , In Apocalypsim : Cod. Cus. 25. Nikolaus von Kues , Predigten:

C ( = Cod. Cus. 220 ). Vi ( = Cod . Vat. lat. 1244) , V2 ( = Vat. lat. 1245) . G ( = Salzburg, Offentl. Studienbibl. V. 2 G Y ). Die Predigten vor der Docta Ignorantia in C (Autograph) : f. 17 ' - 19 ' Si( = Sermo 1 ) 27. 5. 1431 =

S 2 S 3

S 4 S 5

25. 12. 1431 17. 4. 1432 20. 4. 1432 15. 8. 1432

,S 19 “ 2 spätestens 25. 12. 1435 S

6

S 7 S 8 S 9 S 10

S11 S 12 S 13 S 14 S 15

25. 12. 1432-36 6. 1. 1432-37

6. 1. 1432—37 22.

7. 1432-38 1432—38 1432-38 1432-38 1438 1439 1439

15. 8. 8. 9. 1.11 . 25. 12. 1. 1. 6. 1.

104 ?

45'—46" 81 ' - 84 "

53'; 54 " 55 ' ; 56-58 " 21 ' ; 22 37 " - " 29 "-32" 697-72 48-52 '

39'—43 ' ; 44 337_360

851_ 103_ 23 '-24'.

Nach Sii ( = Siena, Bibl. comunale, Cod. G. XI 26) , 39'—41 ' wurde eine am 5.6. 1463 in Montoliveto gehaltene Predigt benutzt. Traktate u. dgl.:

Responsio de intellectu Evangelii Iohannis (um 1444 ) :: C 125 ; Vi 83ra- vas. Elucidatio epistulae ad Colossenses (um 1457 ) * : V2 288"*—291 **.

1 Näheres zu den einzelnen Kueser Codices bei J. Marx , Verzeichnis der Hand schriftensammlung des Hospitals zu Cues, Trier 1905 . 2 Vgl. S. 24 f.

3 Vgl. S. 28 f. — Auf weitere Notizen wird insbesondere S.5, Anm. 1 , sowie S. 22 und S. 90 hingewiesen . XVI

4 Vgl. S. 7 .

4

Abkürzungen, Quellen und Literatur De aequalitate ( 1459 vor 9. Juni) : V2 257–262 (P II fasc. 1 , 15′—21 ′) . va De principio (9. Juni 1459) : V2 252-256 (P II fasc. 1 , 7—11 ') . Vierzehn christologische Quästionen: Cod . Cus. 40, 144-146" (im Anhang S. 315-319). Beweis der These: , Quod resurgit, nunquam fuit separatum a persona resurgentis' : Cod. Cus. 40, 149 ′—150′ ( im Anhang S. 320–328). Brief vom 29. Dez. 1454 an Johannes von Segovia: Cod . Vat. lat. 2923, 35"-38". Brief vom 11. Juni 1463 an einen Novizen von Montoliveto : Siena, Bibl. comunale, Cod. G. IV 1 , 160-162 . * Origenes , Пɛpl άpy@v in der Übersetzung des Rufinus : Cod . Cus. 50, 182′—270". Petrus Rogerius (,Clemens papa' (VI )) , Predigten: Vat. Borghese 41 . Pius II., De contentione divini sanguinis inter Praedicatores et Minores coram se habita : Cod. Vat. Chisianus (Chigi) J VII 251 , 25′-64' ; Cod. Vat. Urbinatensis lat. 406, 9' 43' ; Paris, Bibl. Nat., Cod . lat. 12390, 42′—57′. Proklos , Expositio in Parmenidem Platonis (Übersetzung von Wilh. von Moerbeke) : Cod. Cus. 186. Ps.-Philo , In Genesim: Cod. Cus. 16, 2❞—88". Raymundus Lullus , Exzerpte des Nikolaus von Kues aus seinen Werken u. a.: Cod. Cus. 83. Theodor von Mopsvestia , Kommentar zu den Paulinen vom Galaterbrief an (außer Hebr) in lateinischer Übersetzung : Cod. Harleian (British Museum) 3063, 38-192.

3. Verzeichnis der gedruckten Quellen und der Literatur

a) Schriften des Nikolaus von Kues Nach der Pariser Ausgabe (P ) des Faber Stapulensis (1514) wurden benutzt : De concordantia catholica ( 1432—33) lib. III : P III, 49° —76*. Opusculum ( = ep. 1ª et 2ª) contra Bohemorum errorem ( 1432–33) : P II , fasc. 2,5 '- 13" . Reparatio Kalendarii ( 1435—36) : P II fasc. 2 , 22—39′. De coniecturis ( 1440) : P I , 41-64". De Deo abscondito ( 1440-45) : P II, fasc. 1 , 2′—3′ . De quaerendo Deum ( 1445) : P I, 197'-200". De dato Patris luminum ( 1445) : P I , 193 ′— 196". De filiatione Dei ( 1445) : P I , 65*—69′. Coniectura de ultimis diebus ( 1446) : P II, fasc. 2, l '—2'. De visitatione ( 1446) : P II , fasc. 1 , 3′—6”. De Genesi ( 1447) : P I, 69′—74”. De visione Dei (beendet 8. 11. 1453 ) : P I , 99'— 114". De pace fidei (1453—54) : P I, 114′—123′ . De Possest ( 1460) : P I , 174° —183'. Cribratio Alchoran ( 1460—61 ) : P I , 123′—151 ". De ludo globi ( 1462–63 ) : P I , 152′— 168". Compendium ( 1463) : P I , 169′- 174" . De venatione sapientiae ( 1463) : P I , 123′— 151 ". De apice theoriae ( 1464) : P I , 219′—221 ".

Nach der Heidelberger Gesamtausgabe (Nicolai de Cusa Opera omnia, LeipzigHamburg, Meiner) wurden die folgenden bisher erschienenen Werke benutzt : De concordantia catholica ( 1432—33) lib . I et II, ed . G. Kallen, 1939-41 . * Die kürzlich erschienene Edition von G. v. Bredow, in : Das Vermächtnis des Nikolaus von Kues, konnte nicht mehr zugrunde gelegt werden, weil die Satzarbeiten schon im Gange waren.

XVII

Abkürzungen , Quellen und Literatur De docta ignorantia (beendet 12. 2. 1440) , ed. R. Hoffmann et R. Klibansky, 1932.

Apologia Doctae ignorantiae ( 1449), ed R. Klibansky, 1932. Idiota De sapientia ( 1450) lib. I et II, De mente ( = lib. III) ,

De staticis experimentis ( = lib. IV ), ed. L. Baur, 1937. De beryllo ( 1458), ed. L. Baur, 1940. Directio speculantis seu De non aliud (zitiert: De non aliud ) v. J. 1462, ed L. Baur - P . Wilpert, 1951 . Cusanus -Texte in den HSB :

S 16 (25. 12. 1440), hg., übersetzt u. erläutert in : Dies sanctificatus v. J. 1439, von E. Hoffmann u. R. Klibansky, 1929. S 133 ( 1453),

S S S S S S

134 ( 1454 ), 213 ( 1456) und 271 ( 1457), hg., übers. U. erl. in : Vier Predigten im Geiste Eckharts, von J. Koch , 1937 . 17 ( 1. 1. 1441 ) teilweise, 18 (Jan. 1441 ) , 71 ( 1451 ) und

S 194 (1455), hg., übers. u. erl. in : Die Auslegung des Vaterunsers in vier Predigten, von J. Koch, 1940.

De auctoritate praesidendi in concilio generali ( 1434), ed. G. Kallen, 1935. Briefwechsel des Nikolaus von Kues, 1. Sammlung, hg. von J. Koch , 1944.

Reformatio generalis , hg. von St. Ehses, Der Reformentwurf des Kardinals Niko laus Cusanus : Hist. Jahrbuch der Görres -Gesellschaft 32 ( 1911 ) 274–297. Schriften des Nikolaus von Kues in deutscher Übersetzung : Über den Beryll: K. Fleischmann , Leipzig, Meiner 1938. Über den Frieden im Glauben : L. Mohler, ebd. 1943.

Sichtung des Alkorans, 1. Buch : übers. von Paul Naumann, Anmerkungen von G. Höl scher; 2. u. 3. Buch : übers. u. erl. von G. Hölscher, ebd. 1943, 1946. Von Gottes Sehen : E. Bohnenstädt, ebd . 1944. Vom Können -Sein : E. Bohnenstädt, ebd . 1944.

Über den Ursprung : M. Feigl, Heidelberg, Kerle 1949. Die mathematischen Schriften : J. E. u. J. Hofmann, Leipzig, Meiner 1951 .

Predigten ( 1—19) : E. Bohnenstädt, Heidelberg, Kerle 1952. Vom Nichtanderen : P. Wilpert, Hamburg, Meiner 1952. Vom Globusspiel : G. v. Bredow, ebd. 1952. b) Literatur aus Antike, Mittelalter und der Zeit der Renaissance Adam von Perseigne (Abbas Perseniae), Opera : PL 211 . Aegidius Romanus , Theoremata de esse et essentia, ed. Edg. Hocedez, Löwen 1930. Alanus ab Insulis , Regulae theologicae: PL 210, 617–684. Albertus Magnus , Opera omnia, ed. Borgnet ( = B.). De bono, ed. Coloniensis, t. 28, ed. B. Geyer, H. Kühle, C. Feckes, W. Kübel, Fr. Heyer, Münster 1951 . Alcher (Ps. -Augustinus) , De spiritu et anima : PL 40, 779—832.

Alphonsus Tostatus (Episcopus Abulensis) , Opera omnia, ed. Venedig 1726, t. 1-26.

Ambrosiaster (Ps. -Ambrosius), Kommentar zu 13 Paulusbriefen (Hebr fehlt ): PL 17, :

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Ambrosius , Opera : PL 14–17. - Expositio Evangelii secundum Lucam : CSEL 32. XVIII

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Dionysius = Ps.-D. Areopagita: PG 3.

Dionysius Cartusianus , Opera omnia, ed. Montreuil- Tournai 1896 ff. Disputatio , eine von Peter von Toledo aus dem Arabischen übersetzte Schrift. Näheres s. Hölscher , Sichtung des Alkorans S. 137. Die Disputatio wird nach den Anmerkungen von Hölscher zitiert. Cod. Cus. 108, 109' — 131 ' wurde zum Vergleich mit herangezogen .

Eckhart (Meister E.), Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deut schen Forschungsgemeinschaft, Stuttgart 1936 ff. - „Meister Eckbart“, hg. von Fr. Pfeiffer, 4. Aufl., 1924.

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Abkürzungen, Quellen und Literatur

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Ricoldus O P., Propugnaculum fidei. Näheres s. Hölscher, Sichtung des Alkorans 137. Das Propugnaculum wird nach den Anmerkungen von Hölscher zitiert. Cod. Cus. 107, 194—232' (Überschrift: Rinoldus, Contra legem Saracenorum) wurde verglichen. Robert von Melun , Text der Christologie aus den Sentenzen (II. Buch ), hg. von Fr. Anders, in : Die Christologie des Robert von Melun (FCLLD XV, 5) , Paderborn 1927 , 1-129.

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Abkürzungen , Quellen und Literatur In Aristotelis librum De anima commentarium , ed. A. Pirotta, Rom, Marietti 1948 . T

In librum B. Dionysii De divinis nominibus expositio, ed. Ceslai Pera, Rom, Marietti 1950.

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XXI

Abkürzungen, Quellen und Literatur

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XXIII

EINFÜHRUNG

I. BISHERIGE STIMMEN ZUR CUSANISCHEN CHRISTOLOGIE

1. Die Nikolaus von Kues eigene Gedankenwelt hat in der Docta Ignorantia ihren ersten, elementarsten und auch schon umfassendsten Ausdruck gefunden. Die Gesamtanlage dieses Werkes stellt zugleich unübertrefflich die Grundstruktur

seines philosophisch - theologischen Denkgebäudes heraus. Das 1. Buch lenkt die geistige Schau über das Geschaffene hinaus und bannt sie auf das Urgeheimnis Gottes des Einen und Dreieinen hin. Im 2. Buch wird ein kosmisch -metaphysischer Aufriß des Universums gegeben und dessen innerstes Sein als Spiegelbild der göttlichen Dreieinigkeit gedeutet 1. Das 3. Buch sieht dann in dem Gottmenschen Jesus Christus Gott und Welt in personaler Einung

zusammengefaßt: Der weltschöpferische ewige Logos, als Gott das absolut Größte, tritt in der kreatürlichen Begrenztheit des Menschseins als „Maximum contrac tum“ in das Universum ein und vollendet es. Durch die Geheimnisse seiner Geburt aus Maria der Jungfrau, seiner Passion und Auferstehung wird Christus zum Haupt der erlösten Menschheit in der Kirche.

Daß dieser Gedankenaufbau gegenüber der mittelalterlichen Theologie nichts grundstürzend Neues war, zeigt schon ein Blick in die drei ersten Bücher der Sentenzen des Petrus Lombardus und in die zahlreichen Kommentare dazu oder auch in die Summa theologiae des hl. Thomas von Aquin.

Im Prolog zum 3. Buch bemerkt Nikolaus, das zuvor über das Universum Ge sagte solle dem Ziele dienen, „ in der Unwissenheit einiges über Jesus Christus, das absolut und zugleich beschränkt Größte, in gelehrter Weise zum Wachstum des Glaubens und der Vollkommenheit zu erforschen “ . Nunmehr wolle er „in Kürze ein Bild (conceptum ) von Jesus entwerfen “, indem er Ihn anrufe, daß Er der Weg zu sich selbst hin sei, Er als die Wahrheit, von der wir nun durch

den Glauben und dereinst durch deren Erreichung belebt zu werden verlangen, in Ihm und durch Ihn, der als ewiges Leben in Aussicht steht “ 2. Das zeigt, daß Nikolaus in der Selbstoffenbarung Christi die erste und eigent

liche Quelle aller Christuserkenntnis erblickt und mehr als eine rein spekulative Betrachtungsweise der Person des Erlösers intendiert. Sein Nachsinnen will die Liebe zu Christus entflammen , der, wie es im Nachwort heißt, das Ziel alles

geistigen Verlangens ist. Für Kopf und Herz (intellectu et affectu) soll der Herr Jesus beständig größer werden durch das Wachstum des Glaubens. " 3

Das alles spricht für eine gesunde und kraftvolle Christologie, die guter und bester Tradition folgt. Dennoch ist nicht zu verkennen, daß manche Einzelzüge

1 Vgl. Vf I (Das Bild des Einen und Dreieinen Gottes in der Welt nach Nik. v. Kues) 99–144 .

? D. Ign. III, prol. (H 117, 2—9) ;‫ ܪ‬vgl . Joh 14,6. 3 D. Ign. , ep. auctoris (H 163, 19 f.; 164, 6) . 1 Haubst, Nikolaus v. Kues

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Einführung

und auch das Gesamtbild, in das Cusanus in „ ungeheurer Anstrengung“ - und in der Glut seines religiös-metaphysischen Erkenntnisstrebens das Geheimnis Christi einzufangen suchte, die Zeichen ungewöhnlicher Kühnheit“ 5 und Neuheit an sich tragen .

2. Das bestätigt schon die scharf ablehnende Kritik, auf die im besonderen

die cusanische Christologie bei dem Heidelberger Theologieprofessor Johannes Wenck stieß. In Wenck spricht allerdings ein typischer Verteidiger der spät scholastischen Schultheologie, näherhin der via antiqua. Sein Urteil über Niko

laus von Kues ist auch durch leidenschaftliche konziliaristische Gegnerschaft ge trübt . In seinen Augen ist Cusanus philosophisch ein Ignorant und theologisch ein Pseudo-Apostel des begardischen Pantheismus ?. Heimtückische Verschlagen heit sieht Wenck darin, daß die abstrakte cusanische Spekulation darauf abziele, Christus die menschliche Individualität zu nehmen, um Ihn mit dem Universale

Mensch und so alle Menschen mit Gott selbst gleichzusetzen. In seiner 10. „ Schluß

folgerung “ und in zusammen 5 Korollarien legt er die verhängnisvollen Konse quenzen einer solchen Christologie dar, die Gott und Welt, Natur- und Gnaden ordnung ineinander übergehen lasse und unter dem Schein der Steigerung des

Menschlichen in Christus bis zum Maximalen die Leugnung der Erlösung und letztlich nichts anderes als Gottlosigkeit religiös bemäntele 8.

Ganz anders urteilen dagegen - abgesehen von dem uneingeschränkten Ver trauen , das die Päpste Nikolaus von Kues entgegenbrachten – zum Beispiel die Benediktiner von Tegernsee, die bei ihm religiöse Führung bis zu den Höhen mystischer Gottes- und Christuserkenntnis suchten . Für sie schrieb der Kardinal den Liber de visione Dei, ein Betrachtungsbuch , allerdings von ungewöhnlichen

spekulativen Dimensionen, das von der Vorstellung eines sichtbaren Christus bildes ausgeht, um den geistigen Blick auf die Gottheit Christi und die Geheim nisse der Erlösung durch Ihn hinzulenken. Die Mönche dieses Klosters waren dem Kardinal für jede ihnen zugesandte Predigt herzlich dankbarº. Jeder Argwohn gegen die Echtheit seines Christusglaubens lag ihnen fern. Ihr Prior, Bernhard

von Waging, ahmte als getreuer Jünger auch die Sprache der cusanischen Christusverkündigung nach 10. 3. In neuerer Zeit sprach M. Gloßner – wie er meinte, im Namen der kirch lichen Orthodoxie

über die cusanische Gotteslehre und Christologie ein ähn

liches Verdikt wie Johannes Wenck aus. Seine Erörterungen gipfeln in den 4 D. Ign. , Widmungsepistel ( H 1 , 14 ) .

5 Ebd. H 2,8.

6 Vgl. Verf., Studien usw. 95—113 . 7 Joh. Wenck , De ign. litt. ( Vansteenberghe 25 u. 41 ) . 8 De ign . litt. 38—41.

9 Vgl. den von Vansteenberghe, Autour de la Docte Ignorance, edierten Brief

wechsel zwischen Cusanus und Tegernsee, bes. ep . 3 (22. 9. 1452, Abt Kaspar Aindorffer an den Kardinal) , ep. 4, 8 , 15, 22 u. a., sowie Bohnenstädt , Von Gottes Sehen, Ein führung 1—21 .

10 Vgl. dessen Brief vom 28. 7. 1455 (Vansteenberghe , Autour 158) .

Auch der

Kartäuser Marzellus Geist erblickte in der moselfränkischen Vaterunserpredigt ( S 18),

die er ins Lateinische übersetzte, eine Quelle frommer Betrachtung, die der Verherrlichung Christi diene ; vgl. Koch , Vaterunser 138. 2

Stimmen zur cusanischen Christologie

Sätzen : „ Der Begriff des Cusaners von der Menschwerdung ist, wenn man von der mystischen und dogmatischen Fassung, die sich mehr als schmückendes Bei werk verhält, absieht und den spekulativen Kern ins Auge faßt, im wesentlichen

derselbe, wie wir ihm auch sonst bei Theosophen und Pantheisten begegnen .“ 11 , Wie die Trinität, so wird die Inkarnation rationalistisch umgedeutet. “ 12 „ Darum :

videant consules ! “ 13 Unsere Untersuchung wird darauf Antwort geben müssen, ob solche Warnungsrufe begründet sind. Inzwischen hat nun schon E. Vansteenberghe in seiner Gesamtdarstellung der

cusanischen Gedankenwelt auch einen knappen Aufriß der Christologie gegeben , und zwar unter der Überschrift: Le médiateur 14. An Hand der Docta Ignorantia zeichnet er die von Cusanus aufgerollte kosmisch -metaphysische Betrachtungs weise der Mittlerstellung Christi. Diese Sicht ergänzt er, besonders auf Grund der Predigten, durch die Einbeziehung der Heilsbedeutung des Erlöserwirkens und vor allem der Auferstehung Christi. Damit hat Vansteenberghe bereits — ohne über die von Wenck und Gloßner so grell betonte Diskrepanz zwischen

einer „ rein philosophischen “ Deutung des Christusgeheimnisses und den Dogmen der Erlösung auch nur ein Wort zu verlieren - den Punkt aufgewiesen, in dem Nikolaus von Kues beides vereint sieht : die auf metaphysischer Mittlerstellung beruhende Mittlerschaft Christi.

Den bisher größten Raum hat M. de Gandillac der cusanischen Christologie gewidmet 15, und zwar in den Kapiteln: Déchéance et restauration, und : Homme Dieu, Copule universelle, Verbe incréé. Die häufigen Versuche, von neuzeit lichen philosophischen Ideen zu Nikolaus von Kues zurückzuführen, sowie die

essayistische Art der Darbietung haben indes trotz der zahlreichen Belege aus den gedruckten Cusanus-Schriften das Eindringen in die wirklichen Anschauungen des Kardinals eher gehemmt als gefördert. P. Rotta kommt in seinem letzten Cusanus -Buche zum Schluß des Kapitels

L'universo' auf christologische Fragen zu sprechen 16. Er hebt die (noch über Skotus hinausgehende) „ kosmologische“ Motivierung der Menschwerdung her vor, jedoch ohne darin eine glaubenswidrige Neuerung zu erblicken, da sich die

in Christus kulminierende Verknüpfung von Gott und Welt oder die Rückfüh rung der Welt zu Gott mikrokosmisch, durch die aus Maria der Jungfrau ange nommene Menschennatur, vollzieht . 12 Ebd. 141 . 11 Gloßner , Nik. v. Cusa 134. 13 Ebd . 146. — Auch nach R. Stadelmann wäre bei Nikolaus von Kues „ die religiöse

Bedeutung des Christus für seine Kirche aufgehoben und damit der Mysteriencharakter des Katholizismus in seinen Grundlagen erschüttert “. Die „ cusanische Mystik“ betrachtet

Stadelmann als „ sekundäres Produkt “ , das keinen unmittelbaren Kontakt von Mensch und Gott zustande bringe (S. 99) . 14 Vansteenberghe , Le cardinal 389—408 . Nur die Seiten 389—95 handeln von der eigentlichen Christologie.

15 Gandillac, La philosophie de Nicolas de Cues 448—85 . Dieses Werk erschien

1953 in Düsseldorf in der Übersetzung von K. Fleischmann unter dem Titel : Nikolaus von Cues. Studien zu seiner Philosophie und philosophischen Weltanschauung . Die dort Humanitas für die genannten Kapitel gewählte Überschrift: Humanitas contracta absoluta findet im Cusanus- Text nur selten eine Stütze. 16 Rotta , Nic. Cusano 246–54 . 3

Einführung

E. Hoffmann faßt in einem größeren Vortrag, ebenfalls über das „ Universum des Nikolaus von Kues“ , dessen Christologie von verschiedenen philosophischen Perspektiven her ins Auge. Er findet, daß diese ,für den Begriff des Universums

unentbehrlich “ ist 17. Insbesondere „ fordert das Universum den Humanitäts begriff als Kulmination, und der Humanitätsbegriff fordert einen Christus als Manifestation “ 18. Die Menschwerdung selbst bleibt dabei Gegenstand des Glau bens 19.

P. Mennicken weist nicht weniger eindringlich auf die enge Verknüpfung philo

sophischen und theologischen Denkens in der cusanischen Christologie hin: „Man hat versucht, die Christologie aus dem philosophischen System des Cusanus zu

streichen , hat gesagt, sie sei nichts als ein theologischer Anhang, also eine Kon zession des Philosophen an den Theologen. Bei einer solchen Einstellung ist es unmöglich , einen Zugang zum Werke des Cusanus zu finden ; denn wenn man die Christologie aus diesem Gedankengebäude herausbricht, dann fällt das Ganze zusammen. “ 20

Darüber geht A. Forbes Lidell in einem Vortrag auf dem 11. internationalen Philosophen -Kongreß ( 1953) noch einen wesentlichen Schritt hinaus. Sie baut nämlich ihre Sinndeutung der cusanischen Christologie auf der Grundthese auf, daß die Philosophie nicht die Dienerin, sondern die Herrin der Theologie “ sei . Dem entspricht auch das Resultat, daß nach der Docta Ignorantia , die christliche Lehre von der Inkarnation nicht als Glaubensartikel niedergelegt und dann

durch den Verstand gerechtfertigt, sondern ein metaphysisches Prinzip “ sei, das sich auf rein gedanklichem Wege entdecken und feststellen lasse 21 Ohne Zweifel sind für das Christusbild des Nikolaus von Kues recht starke

kosmologisch -metaphysische Perspektiven charakteristisch . Böte aber die Kosmo logie tatsächlich den Schlüssel oder auch nur das herrschende Motiv seiner Chri

stologie, so müßte man den „ Philosophen der docta ignorantia “ konsequent unter die Gnostiker zählen.

Daher meldet sich dringlich die Frage : In welchem Verhältnis stehen bei Cusa nus die kosmologische und die offenbarungstheologische Motivierung und Sinn deutung der Inkarnation? 17 Hoffmann , Universum 24.

18 Ebd . 25.

19 Ebd. 24 Anm. 1. — Leider ist auch dieser Vortrag (vgl. Vf I 7 u. 126 Anm. 67 ) nicht von dogmatisch untragbaren Aussagen frei (bes. S. 34) , an denen Cusanus selbst vollkom

men unschuldig ist. – Von Hoffmann spürbar abhängig ist die auf sdımale Quellenbasis aufgebaute Dissertation von Kl . Kippert: Die natürliche Gottebenbildlichkeit des Menschen in der Philosophie des Nik. v. Cues, Offenbach / M . 1952. Kippert bietet S. 78

bis 82 einen Exkurs : Die Christologie als Schlußstein seiner Philosophie . 20 Mennicken , Nik. v. Kues 209–26 ; das Zitat S. 209.

21 A. Forbes Lidell , The significance of the doctrine of the Incarnation in the

philosophy of Nicholas of Cusa, gedruckt: Actes du XIème Congrès international de philosophie (Amsterdam 1953) , vol. 11, 126–31 . Die Zitate S. 126.

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Die Quellen unserer Untersuchung. Die Predigten II. ÜBER DIE UNS VORLIEGENDEN QUELLEN Daß das 3. Buch der Docta Ignorantia als die bedeutsamste Darstellung der cusanischen Christologie auch die härteste Nuß für deren Verständnis ist, geht schon aus dem Gesagten hinreichend hervor. Wir werden diesem Buche deshalb besondere Aufmerksamkeit widmen. Anderseits brächte es manches unnütze Problematisieren mit sich, wollte man die in hoher Spekulation einherschreitenden Darlegungen der Docta Ignorantia einzig aus sich allein interpretieren. Im Rahmen der für unsere Untersuchung vorliegenden Quellen stellt dieses Werk nämlich nur einen relativ kleinen Ausschnitt dar. Nikolaus selbst hat auch den in der Docta Ignorantia erstmals bewältigten und seitdem in ihm lebendigen christologischen Ideengehalt fortan geradezu unermüdlich für ein leichteres und dem unmittelbaren christlichen Glaubensbewußtsein näheres Verständnis entfaltet, und zwar bald als Prediger, der es als seine erste seelsorgliche Pflicht betrachtete, die Geheimnisse Christi und der Erlösung zu verkünden, bald in traditionsnäheren Veranschaulichungen theologich-mystischer Natur, bald als Apologet gegenüber Andersgläubigen, insbesondere gegenüber den Mohammedanern. 1. Die Predigten sind ihrem Umfang und ihrer Bedeutung nach hier an erster Stelle zu nennen. Sie liegen, gegen 300 an Zahl, von J. Koch katalogisiert, mit wenigen Ausnahmen in zuverlässiger chronologischer und örtlicher Datierung vor ¹ . Die ältesten benutzten wir nach dem Kueser Autograph (C) , die meisten nach dem von Cusanus selbst in den fünfziger Jahren durchgesehenen und für die Veröffentlichung bereitgestellten Text2 in Vat. 1244 (V₁ ) und Vat. 1245 (V₂) , einige nach einer Salzburger Handschrift (G) , die letzte Cusanus - Predigt nach einem Sieneser Kodex (Si, ) . Nur neun, jedoch meist bedeutendere Sermones liegen bisher in der Heidelberger Edition (H) vor, der eine, mit dem Incipit Dies sanctificatus " , herausgegeben von R. Klibansky, die übrigen, „Vier Predigten im Geiste Eckharts " sowie „ Die Auslegung des Vaterunsers in vier Predigten", herausgegeben und erläutert von J. Koch ³. Zur inhaltlichen und formalen Charakterisierung dieser Predigten sei im Hinblick auf unser Thema folgendes bemerkt: Was Cusanus oftmals als Kern und eigentlichen Gehalt der Heiligen Schrift bezeichnet die Präexistenz des Logos, durch den die Welt erschaffen ist, seine Menschwerdung und die Erlösung der sündigen Welt durch Ihn, „ den Sohn und Erben, das Haupt und den Erstgeborenen aller Geschöpfe " 5, der für die Seinen

Koch , Untersuchungen usw. - Bei einigen Predigten werden im folgenden Gründe für eine andere Datierung angeführt. Das von Koch nicht erwähnte Textstück C 3' dürfte eine eigene Predigt sein. Wir zitieren dieses als „ Notiz C 3 “ . Für dessen Datierung in das Jahr 1444 spricht enge Verwandtschaft mit S 23 und S 34. 2 Die Ordinatio des Predigtwerkes begann um Mitte 1455 ; vgl . Brief vom 28. 7. 1455 an Bernhard von Waging (Vansteenberghe , Autour 160) : Sermones suo tempore, quos nunc ordino, ut scribantur, videbitis. Zu Form und Sprache der Predigten vgl . Koch , Untersuchungen 14-29 . Eine Einführung in die ersten neunzehn Predigten gibt Bohnenstädt im Vorwort zu ihrer Übersetzung (S. 7—60) . 5 S 6 (C 25', 16 f.). 4 Vgl. unten S. 94. 5

Jesus Christus im cusanischen Schrifttum

„ der Weg, die Wahrheit und das Leben “ (Joh 14, 6) ist –, das Christologische in diesem umfassenderen Sinn, ist auch der Kern und eigentliche Gehalt seiner

Predigt; nicht so, als träte deshalb irgendwie der Ausblick auf das Urgeheimnis der göttlichen Dreieinigkeit oder anderseits das Moment der religiös- sittlichen Pastoration zurück . Christus ist ja für ihn die Quelle der Glaubenserkenntnis und zugleich der Maßstab alles christlichen Lebens oder die Brücke, die aus der Tiefe des Gottesgeheimnisses zu uns herüber und nach dort hinüber führt. „Der

Glaube lehrt (kurz gesagt) , daß Christus, Gottes Sohn, der ist, der uns unsern Gott, seinen Vater, zeigt, in dessen Schau die ersehnte Glückseligkeit liegt. “ 6 Seine eigene Predigtaufgabe sieht Nikolaus, obwohl er selbst „ Finsternis “ ist, darin, wie der Stern von Bethlehem zu leuchten und zu Christus hinzuführen ?

Auf der Synode zu Brixen behandelt er am 2. Mai 1457 vor dem Diözesanklerus insbesondere die Fragen : „ Wie müssen wir Christus verkündigen, damit man Ihn auch erkenne ? “, und : „ Wie kann ich Christus dem Volke als Weg und Türe zum Paradies oder zum Reiche des Lebens verkünden? “ 8 Zum ersten Punkt erklärt er : „ Wir sagen dem Volke, wie Christus kam, von der Jungfrau geboren, welche Wunder Er wirkte, was Er lehrte und verhieß, wie Er starb, um dadurch

von der Wahrheit Zeugnis zu geben. Predigt, wie Er von den Toten auferstand , wie Er nach seiner Auferstehung erschien und wie die, denen Er erschien , den

Heiligen Geist empfingen ... Daraus erheben wir uns zum Glauben, nämlich dazu, daß jener Mensch auch der Sohn Gottes war und daß man Ihm als dem Sohne Gottes gehorchen muß . " 9

Der Notwendigkeit einer solchen schlichten Christus-Verkündigung suchte Nikolaus selbst vor allem auf seiner Legationsreise durch Deutschland ( 1451-52) und während seiner Brixener Bischofstätigkeit ( 1452—57) zu entsprechen. Das zeigt

sich in einer großen Zahl von teils knapp skizzierten, teils sorgfältig ausgeführten Homilien und in sonstigen Erklärungen zu liturgischen Texten. Mitunter ließ

jedoch auch noch der Kardinal seinem spekulativen Genius bei der Predigt so sehr die Zügel schießen , daß „ manche sich darüber aufhielten, er predige ein fachen Leuten zu hohe Dinge “ 10.

Jedenfalls verrät Cusanus in der langen Reihe seiner Predigten, vor allem seit der Docta Ignorantia , so stark seine denkerische Individualität, daß diese einen einzigartigen Einblick in die Lebendigkeit und die Entwicklung seines theologischen Erkenntnisdranges bieten. Wiederholt können wir darin nämlich nicht nur den Nachklang dessen hören, was er bereits in größeren Werken sagte, sondern auch das Wachsen und Reifen von erst später ausgesprochenen Ideen verfolgen.

Daß Nikolaus selbst seine Sermones als gültigen Ausdruck seiner theologischen Erkenntnisse betrachtete, geht daraus hervor, daß er in den Codices Vat. 1244 IS 255 dub . 1 (V2 2007b). 7 S 7 (C 37 ', 29 f.) ; vgl. ' S 259 (V2 20876 20979 ). 8 S 277 (V2 26316—264" ). 9 Ebd . V2 26346.

10 S 271 `n. 3 ( H 118) . Cusanus gibt darauf zur Antwort: „Wenn jene bedächten, wie Jesus dem sündigen Samariterweiblein als seiner einzigen Zuhörerin die geheimsten und tiefsten Dinge erfolgreich enthüllte , würden sie mir verzeihen . “ 6

Predigten und bibelnahe Christologie und 1245 deren Veröffentlichung vorbereitete und sie mit den Opuscula und Opera in einem Atemzuge nennt 11. Ebendeshalb macht er auch mehrmals darauf aufmerksam , wenn sich in seinen Predigten spontane Einfälle finden, die ihm

mitunter aus der Eingebung des Augenblicks auf der Kanzel kamen 12 und die er nicht als seine endgültige Ansicht und als bare theologische Münze gewertet wissen möchte 13.

2. Der Dialog De visitatione Mariae und die Elucidatio epistulae ad Colos senses sind den Predigten nahe verwandt. Der Dialog wird auch im Zusammen

hang mit einer Predigt zum Feste Mariä Heimsuchung verfaßt sein 14. In beiden Schriften bietet Cusanus recht bibelnahe Theologie, im Dialog, indem er an Hand des 1. Kapitels des Lukasevangeliums einen Einblick in das Geheimnis der Menschwerdung zu geben sucht, in der Elucidatio, indem er den Kolosserbrief durch fortlaufende Einschübe in den Text des Apostels „ aufhellt“. Für die Datierung der Elucidatio sind wir auf innere Kriterien angewiesen.

Diese weisen allerdings eindeutig nicht nur über die Docta Ignorantia 15, son dern auch über De mente ( 1450) 16 hinaus. Wie der Vergleich mit einigen Pre digten zeigt 17, ist frühestens mit dem Jahre 1455, am ehesten mit dem Jahre 1457 , zu rechnen 18

3. Von christologischen Quästionen des Nikolaus von Kues ist bisher in der einschlägigen Literatur außer bei oder nach Marx 19 noch nirgends die Rede ge

wesen. Dennoch gibt es deren eine beträchtliche Anzahl. Ein Teil findet sich in Cod. Cus. 40, f. 143'— 146', in der Handschrift des Kardinals. Marx bezeichnet

diese als : Quaestiones diversae (Nicolai de Cusa) de coniunctione humanitatis 11 De Possest ( P 181") : in opusculis et sermonibus; De ven. sap. c. 25 (P 211"): Alibi (De beryllo) multa de hoc, in variis etiam sermonibus dixi et scripsi, quae sic recapitu

lasse sufficiat. Der Traktat De aequalitate ist als Einführung in seine „ Theologischen Sermones“ gedacht (V2 257" ; vgl. 262 "). 12 S 249 (V2 190*b) : Dum haec praedicarem , incidit mihi ; S 254 (V2 19976) : Haec sic non praemeditate, sed sponte se obtulerunt ; S 273 (V2 242"*) : Dum praedicarem, incidit mihi .

13 S 227 (V2152° ): Sed de his absque determinativa assertione haec sic dicta sint. 14 Vgl . Koch , Untersuchungen 82 Anm. 1 . 15 Vgl. die selbstverständliche Bezeichnung des Logos als Aequalitas unitatis seu entitatis (zu Kol 1 , 16 , V2 288").

16 Dafür bürgt der Begriff imago viva' (zu Kol 3, 10, V2 290 6) ; vgl. VE I 39. 17 Ein solcher bietet folgende zuverlässige Anhaltspunkte : 1) In S 209 vom 21. 12. 1455 (V: 132" ) wird einem „ gewissen Glossator“ zum Kolosserbrief folgende Erklärung ent

nommen (zu Kol 2 , 19): Sicut membra perfectionem corpori conferunt, sic ipsa ecclesia fit in augmentum Dei. In der Elucidatio übernimmt Cusanus das (ohne zu zitieren) : ut,

sicut membra corpori perfectionem conferunt, sic ipsa ecclesia sit in augmentum Dei ( V2 290 ) . – Daß dieser Glossator mit dem Anonymus der Glossula zum Römerbrief identisch ist, ist anzunehmen (vgl. unten S. 15 f. ) . Diesem von Cusanus sehr geschätzten Autor kommt vermutlich noch größere Bedeutung als Quelle der Elucidatio zu. — 2) Die Formulierung : ,virtutes (sicut veritas, mititas, et ceterae tales) , quae sunt Christus, qui est virtus virtutum (zu Kol 3, 2 ; V2 290 **) findet sich auch in den Predigten 271 , 273 und 274. Sie geht mit Sicherheit auf die erwähnte Glossula zum Römerbrief zurück. Ein letztes .

Mal ist sie inhaltlich in der Reformatio generalis vom J. 1459 feststellbar ; vgl. unten S. 270-272.

19 Zu biblisch -christologischen Notizen, die das Johannesevangelium betreffen, vgl. unten S. 22–28 f .

19 Marx , Verzeichnis der Hss. 35. 7

Jesus Christus im cusanischen Schrifttum et divinitatis in Christo . Es handelt sich jedoch um eine wohlgefügte Abfolge von vierzehn, mit Worten von Kirchenvätern, meist von Leo d. Gr. , beantworteten Fragen, die Schritt für Schritt zu einer Stellungnahme in dem um die Jahreswende 1462/63 in Rom vor Papst Pius II . zwischen Dominikanern und Franziskanern ausgetragenen Streit über den Verbleib des von Christus vergossenen Blutes in der hypostatischen Einung hinführen. Aus demselben Zusammenhang ist auch die Entstehung einer umfangreichen, ebenfalls von Cusanus abgefaßten Begründung der These: „Was aufersteht, war niemals von der Person des Auferstehenden getrennt" , zu verstehen. — Den Text der beiden genannten Stücke geben wir im Anhang wieder. Dort stellen wir auch die Gründe für die hier vorweggenommenen Angaben über Verfasser und Entstehungszeit zusammen. die man, nach Albert oder Zahlreiche weitere, meist kleine Quästionen ― Bonaventura, auch , dubia' nennen könnte - sind auch in die Predigten der Jahre 1454-57 , vor allem in die des Jahres 1457 , eingefügt. Dabei prägt sich dico' aus, das auch noch immer mehr das terminologische Schema : ,Diceres principio 21 aus dem Jahre 1459 zur aequalitate De 20 und Traktaten De in den christologische Gebiet. das betreffen , dubia' dieser Mehrere kommt. Anwendung Wegen ihrer präzisen Fragestellung und Antwort sind sie von besonderem Wert. Leider stehen vier der bedeutungsvollsten, die die Erlösung durch das Kreuzes-

2 174-176 ) . J. Koch opfer Christi betreffen, in dem undatierten Sermo 204 (V, vermutet, daß diese Karfreitagspredigt, wie auch die in Vat. 1245 unmittelbar folgende Osterpredigt, bereits im Jahre 1452 bei oder kurz nach der Besitznahme der Diözese Brixen gehalten worden sei . Stärkere Gründe scheinen jedoch für einen späteren Datierungsansatz, und zwar für die Jahre 1458 oder 1460 , zu sprechen 22. 4. Aus dem christologischen Gehalt des sonstigen philosophisch- theologischen Schriftums sei noch das Hauptsächlichste hervorgehoben. Im 1. Buch der Concordantia catholica erscheint Christus gleichsam als der 20 De aequalitate (V2 259-260 ) . 21 De principio (V2 252-253 ) . 22 Daß der Kardinal wenigstens am Karfreitag des Jahres 1460 in Brixen predigte, scheint festzustehen (Vansteenberghe , Le cardinal 187 ; Koch , Untersuchungen 193 Anm. 1 ) . Für die spätere Datierung spricht insbesondere folgendes : 1 ) Das terminologische Schema Diceres ― dico' ist bei Cusanus erst von Predigt 264 an (6. 2. 1457) nachweisbar. 2) Die Verwandtschaft von S 204 mit S 275 (Karfreitag 1457 ) ist auffallend und entschieden größer als mit irgendeiner Karfreitagspredigt aus früherer Zeit. 3) Die stark platonische Fassung des veritas - Begriffes in S 204 (V2 174-175 ) hat am ehesten in $ 239 und in dem in S 240 entwickelten Schönheitsbegriff eine Entsprechung. 4) V2 enthält sicher noch Eintragungen aus dem Jahre 1459, nämlich die Traktate De aequalitate und De principio. Die dort sämtlich undatierten Predigten 204 , 205 und 30 sind (in dieser Reihenfolge) auf zuvor frei gelassenen Blättern nachgetragen, wie noch die Lücken f. 174 * und besonders f. 178va-b zeigen. S 30 ist in C einwandfrei auf das Jahr 1444 datiert (f. 19 ) . Erst bei der Ordinatio der Predigten hat Cusanus aber, nach dem Unterschied der Schriftzüge zu schließen, f. C 20 zu dem ursprünglichen Predigtkonzept den auch in V2 (178 ) abgesetzten spekulativen Schluß nachgetragen . Die Ordinatio der Predigten begann erst Mitte 1455 (vgl. Anm. 2) . Da die Reinschrift der drei genannten Predigten erst nachgetragen wurde, nachdem bereits der Grundstock des zweiten Predigtkodex in Buchschrift vorlag, ist mit deren Eintragung in V2 wohl kaum vor 1458 zu rechnen . Bei den Predigten 204 und 205 dürfte auch die Entstehung erst in die Nähe dieses Jahres fallen.

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In den philosophisch - theologischen Opera und Opuscula

Kristallisationspunkt der Kirche. In De filiatione Dei wird die Gotteskindschaft der Erlösten als eine gnadenhafte Spiegelung der ewigen Sohnschaft in Gott dar gestellt. Die Apologia gibt auf die von Wenck angegriffene Christologie der Docta Ignorantia nur eine kurzgefaſste Erwiderung. Dagegen ist das in einem

überfließenden Enthusiasmus der Liebe“ 23 geschriebene Buch De visione Dei von Grund auf christologisch angelegt 24. Bedenken wir, daß bald nach diesem

Werk De pace fidei entstand, so erkennen wir in dem Jahre 1453 nach der Docta Ignorantia einen zweiten Höhepunkt christologischer Spekulation. Einen dritten Höhepunkt brachte das Jahr 1459. Damals schrieb Nikolaus als

Apostolischer Legatus Urbis den Traktat De aequalitate, der eine Zusammen fassung der johanneischen Theologie bieten und als Einführung in das cusanische Predigtwerk dienen sollte 25. In dieser Schrift lassen sich (außer Vorwort und Epilog) drei Teile unterscheiden. Der erste (V, 257—260 " ) bildet die reifste Darstellung dessen, was man bei Cusanus als psychologische Trinitätslehre be 2

zeichnen kann. Darauf folgt ( 260 *6—261" ) eine ausführliche Erörterung des „Gleichheits-(Aequalitas-)Begriffes, der für Cusanus seit der Docta Ignorantia auch den bevorzugten Namen der zweiten göttlichen Person abgibt. An dritter Stelle ( V , 261 "—26296) wird das Vorangehende mit Texten des Johannesevan geliums belegt. Am 9. Juni desselben Jahres beendete der Legat den Traktat De principio 26 ( V , 252"—256 ) . Daß auch diese Abhandlung „ nicht den Ursprung im allge meinen“ , sondern das Geheimnis des Gottessohnes“ zum Gegenstande hat, hebt bereits M. Feigl deutlich hervor 27. Schon in der darauffolgenden ersten Juli

hälfte entstand vermutlich auch die Reformatio generalis', der cusanische Ent wurf zu einer allgemeinen Kirchenreform 28. Diese geht in einer „ Betrachtung

von oben her “ von dem göttlichen Heilsplane aus, dessen Verwirklichung in Christus begann und zu dessen Erfüllung alle Stände der Kirche durch Nach

ahmung Christi beitragen sollen 29. Das Buch De venatione sapientiae ( 1462/63) verdient unter verschiedenerlei

Einzelgesichtspunkten unser Interesse. Der letzte große cusanische Dialog „ Uber das Globusspiel“ ( 1463) umschließt als inhaltlichen Mittelpunkt das Königtum Christi im Reiche des geistigen Lebens 30. Am 11. Juni 1463 schrieb der Kardinal auch einen in Siena erhaltenen Brief, der eine reichhaltige und sozusagen testa

mentarische Aufzeichnung seiner lebendigsten theologischen und im besonderen 23 Vansteenberghe, Le cardinal 395. 24 Ein Christusbild bietet den Ausgangspunkt für die Betrachtung des göttlichen Er kennens und Liebens, das sich aufs höchste im trinitarischen Leben entfaltet, aber auch jedes Geschöpf liebend umfaßt. Die Krönung des Werkes besteht in der Ausführung des Gedankens (c. 19—25 ), daß die menschliche Glückseligkeit und Erlösung auf der gott menschlichen Vereinigung in Jesus Christus beruht.

25 De aequalitate V2 262"" ; vgl. 257"*. 26 Dieser Name wurde von N. Feigl im Hinblick auf den Inhalt gewählt; vgl. Ein führung zu „Über den Ursprung “ , S. 11. 27 Ebd.; vgl. S. 14 20 34 .

28 Vgl . Verf., Der Reformentwurf Pius' II.: Röm. Quartalschrift 49 ( 1954) 193. 29 Reformatio generalis, ed . Ehses 281 ff. 30 Vgl. bes. P 158_159 " 161 '— 163º. 9

Jesus Christus im cusanischen Schrifttum

christologischen Gedanken darstellt, an einen kurz zuvor von ihm eingekleideten Novizen des Klosters Montoliveto. 5. Drei Werken mit kontroverstheologischem Inhalt kommt als solchen eine

Sonderstellung zu : dem Opusculum ,,Gegen den Irrtum der Böhmen" ( 1432/33)31, der Schrift „ Über den Frieden im Glauben“ ( 1453/54) und der „ Sichtung des Korans“ ( 1460/61 ) . Das Opusculum gegen die Böhmen entwickelt die cusanische

Eucharistielehre. Die beiden anderen Werke sind als geistige Waffen im Kampf gegen den Mohammedanismus entstanden. Das Christologische bildet darin nebst dem Trinitarischen den Hauptgegenstand. Beide Male liegt das besondere Augenmerk auf der Präexistenz Christi, auf der Tatsache der Inkarnation und auf der Erschließung des Verständnisses für den Erlösungstod Christi. Cusanus bedient sich dabei besonders in der Cribratio Alchoran stark der ad hominem

gerichteten Argumentation. Vor allem in De pace fidei entfaltet er auch spekula tiv ein eigenes Beweisverfahren , das näher zu untersuchen sein wird. Beide

Werke enthalten zudem wie eingelegte Perlen Christusbetrachtungen von inniger Beschaulichkeit.

Die Verschiedenartigkeit der genannten Quellen ist bei der folgenden Unter suchung im Auge zu behalten. Es scheint jedoch nicht etwa nötig, prinzipiell die Auswertung der Kerygmatischen Aufzeichnungen von der der theoretischen Ab handlungen zu sondern, da sich inhaltlich aus dem bunten Mosaik der Quellen

texte zwanglos ein einheitliches Gesamtbild der cusanischen Christologie ge winnen läßt.

III. DIE VON NIKOLAUS VON KUES BENUTZTEN QUELLEN

1. Bei aller Fruchtbarkeit, Lebendigkeit und vorwärtsdrängenden Kraft seines Geistes hatte Nikolaus von Kues nicht den Ehrgeiz, den Reichtum seiner Er kenntnisse „ autark “ , nur aus sich , zu entfalten. Er selbst betont immer wieder, wie sehr auch das geistige Leben darauf angewiesen ist, sich „ zu nähren“ an der

„ Speise “ der Wahrheit, die nicht allein aus der Erforschung der sichtbaren Schöp fung, sondern auch aus den Schätzen der Menschheitstradition und vor allem aus

der Quelle der göttlichen Offenbarung zu gewinnen ist. Christus und seine Lehre werden deshalb von ihm oftmals schlechthin als die geistige Speise bezeichnet 1. Christus ist jedoch nicht nur die Hauptquelle, sondern zugleich der zentrale Gegenstand der in der Kirche lebendig weitergegebenen Glaubensverkündigung.

So mag es sich gerade aus der Fülle des Schrifttums, das zu Lebzeiten des Cusanus der Christus-Verkündigung diente, uns aber meist nur noch mühsam erreichbar 31 Cusanus selbst spricht Conc. II, 26 (H 254) von seinem Opusculum contra Bohe morum errorem . Damit kann nur die in der Pariser Ausgabe in zwei Briefe aufgelöste Schrift ( P II , fasc. 2, 5'— 134) gemeint sein. 1 So schon S 2 (C 104 ", 21 ) .: ut nos divini Verbi pabulo aliqualiter reficiamur. Doro knüpft er an die Deutung von Bethlehem als ,domus panis' (Z. 16) an, die bei ihm öfter wiederkehrt. 10

Über die Quellen der cusanischen Christologie

ist, erklären, daß bisher die Suche nach den Quellen seiner Christologie noch wenig erfolgreich war , zumal da Nikolaus sich nicht auf die Tradition einer bestimmten Schule festlegte.

Im einzelnen ist festzustellen , daß der Einfluß des Boethius und des mittel alterlichen Boethianismus, insbesondere der Schule von Chartres, der sich bei der trinitarischen Spekulation der Docta Ignorantia als recht stark erwies , auf dem christologischen Sektor sehr zurücktritt. Auch die Einwirkungen des Raymundus Lullus sind hier schwerer zu fassen. Wir werden jedoch gut daran tun, dessen

Schrifttum , vor allem die von Nikolaus von Kues vom Jahre 1428 an in dem heu tigen Cod. Cus. 83 gesammelten Exzerpte 4, sorgfältig im Auge zu behalten. Von Heymericus de Campo besaß Cusanus in Cod. 106 den Quadripartitus quaestio num supra quattuor libros Sententiarum etc. Die syllogistische Beantwortung der vier Quastionen zum III . Sentenzenbuchs ergibt immerhin einen knappen Aufriß der Christologie. Auf Heymeric dürften aber auch die umfangreicheren, in klei nerer Schrift nachgetragenen Erklärungen dazu zurückgehen . Diese Vermutung scheint sich dadurch zu bestätigen , daß der gleiche Text auch in den Sentenzen

6

kommentar des ebenfalls Heymeric nahestehenden Johannes von Mecheln ein gearbeitet ist 7. Die hohe Wertschätzung des Ps.-Dionysius wird auch im Laufe dieser Unter

suchung an verschiedenerlei Spuren feststellbar sein . Außerdem dürfen wir bei Nikolaus von Kues mit einer umfassenden Kenntnis der lateinischen Kirchen

väter sowie der großen Lehrer des Früh- und Hochmittelalters rechnen . Auch außer den besonders bis zur Docta Ignorantia schon recht zahlreichen Zitaten

floß ihm gewiß manches Gedankengut ungenannter Herkunft in die Feder, das ihm zu lebendigem Besitz geworden war.

2. Im folgenden möchten wir nun einen Überblick über die in den cusanischen Predigten und Quastionen benutzte Predigt- und Glossenliteratur vorausschicken, und zwar zunächst über die aus dem Bereich des lateinischen Mittelalters, dann

über die aus der griechischen Patristik ”. Das während der Brixener Predigttätigkeit am häufigsten herangezogene Pre

digtwerk bilden die Sermones de tempore et de sanctis des Dominikaners Aldo ? Der Quellenapparat der Heidelberger Ausgabe zum III . Buch der Docta Ignorantia ist dürftig .

3 Vgl. Vf I 313 f. 343–46. 4 Vgl. Vf I 60. 9. 9—12 (Cod. Cus. 106, 15'— 16") .

S

6 VE I 37 Anm. 88 , 58 Anm. 25 . 7 Diese Tatsache stellte Kunibert Hammer fest , nachdem ihn Verf. auf die Kueser

Heymeric - Hs. aufmerksam gemacht hatte. H. sucht die Abfassung des Sentenzen kommentars durch Johannes von Mecheln aufrechtzuhalten (Rch Th 20, 1953, 324 f.) . Daß diesem schon der Kueser Kodex samt den Randbemerkungen vorgelegen habe , ist jedoch wenig wahrscheinlich. Es liegt näher, anzunehmen , daß die beiderseitigen Über

einstimmungen auf dem Sentenzenkommentar Heymerics als der gemeinsamen Quelle beruhen .

& Weniger deutlich sind in dem Bereich der Christologie die Spuren des Dionysius Kommentars Alberts d. Gr., während dieser im übrigen auf die cusanische Spekulation beträchtlichen Einfluß ausübte ; vgl . Verf. , Zum Fortleben Alberts d . Gr. 420-47.

• Was schon von Koch , Untersuchungen 29—37, festgestellt wurde, wird hier teils vorausgesetzt , teils ergänzt . 11

Quellen der cusanischen Christologie

brandinus de Tuscanella 10. Cusanus mochte ebensosehr dessen Gedankenfülle wie die Plastik seiner Sprache und die Anschaulichkeit der Beispiele schätzen .

Aldobrandinus fußt vor allem auf Thomas von Aquin 11. J. Koch hat dieser Quelle als erster besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Er fand vor allem in der Breslauer Staats- und Universitätsbibliothek eine Hand

schrift (I F. 724) mit einer Auswahl der Sermones de tempore, die einen Teil der

von Cusanus angeführten Texte enthielt. Er wies auch auf zwei Stellen hin, an denen die Sermones de sanctis zitiert sind 12. Bei Predigt 194 konnte er ferner

eine stillschweigende Benutzung von Aldobrandinus durch Cusanus feststel len 18. A. Landgraf machte sodann auf die Handschrift R 1 (Nr. 136) in der Bibliothek des Brixener Priesterseminars mit Aldobrandinus -Predigten de tem

pore und de sanctis aufmerksam, die vermutlich dem persönlichen Besitz des Kardinals entstammte 14. Keine der beiden Handschriften ist jedoch noch erreich bar; die Breslauer ist im Kriege verbrannt 15, die Brixener ist auf unerklärliche Weise verschwunden 16.

Zum Glück hilft jedoch T. Käppeli durch eine Untersuchung über die hand schriftliche Überlieferung der Werke des Aldobrandinus weiter, indem er mit noch drei (oder vier) anderen Handschriften der Sermones de tempore und mit dreien, die die Sermones de sanctis enthalten, bekannt macht 17. So konnte der

Verfasser die Sermones de tempore in der in Vat. Ottob. 557 , 1" — 17910 enthal tenen Auswahl benutzen 18, welche die Identifizierung von wenigstens zehn wei teren Stellen in den Cusanus -Predigten 208—265 ermöglichte. Trotzdem macht das bisher Aufgefundene insgesamt erst etwa drei Fünftel der cusanischen Zitate aus 19.

3. Dem Einfluß, den Meister Eckhart durch seine Predigten und den Johannes

Kommentar auf Cusanus ausübte, ging bereits J. Koch bei der Edition der Vier

Predigten im Geiste Eckharts “ des näheren nach . Einzelnes ist im folgenden zu ergänzen. Der Augustiner-Eremit Jordan von Quedlinburg († um 1380) steht in derselben christlich -neuplatonischen Tradition 20. Cusanus zitiert ihn mehrmals vom Jahre 1446 an 21. Zweimal bemerkt er, daß Jordan sich auf Eckhart stütze 22 .

Wiederholt griff der Kardinal auch zu den volkstümlichen Sermones ,Discipuli 10 Nach Käppeli , La tradizione 163 f. gehörte Aldobrandinus aus Toscanella (heute Tuscania) in Latium, über den sonst nur wenig überliefert ist, dem Dominikanerkonvent von Viterbo an . 1292 wird er zum letztenmal als lebend erwähnt. 11 Käppeli 190—92 .

12 Koch , Vier Predigten 55—67 .

13 Koch , Auslegung 122—27 205 f. 14 Koch , Untersuchungen 35. 15 Persönliche Mitteilung von Herrn Prof. J. Koch , Köln.

16 Persönliche Mitteilung von Herrn Prof. A. Sparbel , Brixen. 18 Die 1. Predigt (zum 1. Adentsonntag) beginnt mit dem Vorspruch : Hora est iam

17 Käppeli 178—82.

nos de somno surgere.' Die Sammlung stimmt jedoch nicht mit dem anonymen Predigt werk in Cod . Cus . 124 , das ebenso beginnt , überein .

19 Daß die in den Predigten 115, 149, 200 f. enthaltenen Zitate in Ottob. 557 nicht aufzufinden sind, beruht darauf, daß dort das ganze Quadragesimale (Aschermittwoch bis Osteroktav) fehlt .

20 Näheres s. LTLK V 558 f. ( W. Hümpfner ).

21 S 60 (V1 115 ), S 133 (H 74), S 134 (H 78), S 195 (V2 11376) , S. 264 (V2 22016) . 22 S 133 ( H 74 ) , S 134 ( H 78).

12

Mittelalterliche Prediger de tempore 23, die den zeitgenössischen Dominikaner-Prior Johannes Herolt († um 1468) zum Verfasser haben. Mit der franziskanischen Predigt-Tradition kam Nikolaus schon früh durch Raimund Lull24, Johannes Guallensis 25 und Wilhelm von Lanitia, insbesondere durch dessen Dieta salutis 26, in Berührung . Wie sehr er die Collationes in Hexaemeron des hl . Bonaventura schätzte, nachdem er mit diesen um die Mitte der fünfziger Jahre bekannt geworden war, geht noch deutlicher als aus den wiederholten Zitaten 27 aus dem Briefwechsel mit Tegernsee 28 hervor. Mit dem großen zeitgenössischen Prediger der Franziskaner - Observanten Johannes Kapistran hatte Cusanus mehrere persönliche Begegnungen 29. Bernhardin von Siena begeisterte ihn schon während seiner Studienjahre in Padua (1417-23) 30. Nikolaus bewahrte für ihn auch zeitlebens ein persönliches Interesse 31. 4. Ein typisches Beispiel für die noch mittelalterliche Art indirekter Quellenbenutzung ergibt die Analyse von Predigt 13, die über die Menschwerdung handelt. Die dazugehörigen Aufzeichnungen beginnen mit einem Exzerpt aus Fulgentius über die Unaussprechlichkeit des göttlichen Wortes 32. Darauf folgt - nebst einem Hinweis auf Paulus und freier Wiedergabe eines Dionysius- Textes ein größeres Zitat aus den Soliloquien des hl . Augustinus 33 über das Wort, „ durch 23 S 187 (V2 105 ) , S 191 (V2 108 ) , S 195 (V2 113 ) , S 211 , 2 (V₂ 133º¹) . 24 In Cod. Cus. 118 , 1 '-192 ' besaß Cusanus die Ars magna praedicationis Lulls. S 12 (C 34′) wird ein , sermo Raymundi' zitiert . Diese Stelle ist jedoch V1 17 durch ,va -cat‘ als nicht für weitere Abschriften bestimmt bezeichnet. 25 Dessen Communiloquium wird S 12 (C 34 ) zitiert, das Breviloquium ebd . 33', das Legiloquium: S 10 ( C 42 °) . Die drei Stücke sind in Cod. Cus . 91 enthalten . 28 Dies Buch ist zwar in Kapitel eingeteilt, aber der Predigtliteratur nahe verwandt. Es ist nebst Predigtskizzen in Cod. Cus. 118 enthalten. Cusanus zitiert es : S 12 (C 34′) . 27 S 197 (V2 115 " ) ; S 231 (V2 157 ) : Vide Bonaventuram in tribus collationibus libri illuminationum ; S 245 (V2 184ª) , S 251 (V2 194™ 194b) . 28 Bernhard von Waging schickte dem Kardinal Bonaventuras De gradibus contemplationis zu ( Vansteenberghe , Autour 123) . Dieser äußerte am 12. Febr. 1454 zunächst Zweifel an der Echtheit der von ihm sehr geschätzten , Collationes ' (p . 126) . Spätere Briefe ( 15, 22 u . 34) berichten von den Bemühungen, aus München und Florenz andere Handschriften zu erhalten . Noch in der Predigt 197 (V2 115 ) sagt Cusanus vorsichtig: Dicit quidam doctor, et puto, quod sit Bonaventura in libro illuminationum. Danach wird einfach „ Bonaventura " zitiert. 29 Vgl . Vansteenberghe , Le cardinal 218-20 u . ö . 30 S 261 vom 23. 1. 1457 (V2 211 ) : Vidi , quod Martinus papa Romae apud vulgum non valuit persuadere, ut quaedam sua monita acceptarentur ; vocavit Bernardinum fratrem minorem de observantia nunc canonisatum, ut populum induceret ; qui illud fecit, quod papa non potuit. Consuevit ipse frater dicere et audivi Paduae , quod praedicator, qui habet ignem in spiritu, potest ex mortuis carbonibus ignem suscitare . 31 Bernhardin starb i . J. 1444. Am 24. 5. 1450 wurde er kanonisiert. Am folgenden 19. Juli konsekrierte der Kardinal die Kirche des Observantenklosters Fonte Colombo bei Rieti zu Ehren des Heiligen . Den Text der Urkunde s. Verf. , Studien, Anhang ; vgl . unten Anm. 43. 32 S 13 (C 85 , 2—7 ) . — Fulgentius , Sermo 2 : De duplici nativitate Christi n. 1 u. 3 (PL 65, 726 A B) . 33 S 13 (C 85' , 10—13 ) . — Augustinus , Soliloquia animae ad Deum c. 3 (PL 40, 867A).

13

Quellen der cusanischen Christologie

das alles erschaffen ist“ , sodann - nach Erwähnung mancher anderer Autoren ,

die die Erhabenheit des Johannes-Prologs bezeugen, und zuletzt des Compen diums des Thomas von Aquin – eine kurze Aufzählung christologischer Irr lehren aus dem Altertum (C 85", 17—20) sowie (Z. 21—23) ein Text aus einer „ Predigt zum Fest der Beschneidung des Herrn“ von einem , Clemens papa' .

Darin wird die Menschheit Christi mit einem von der Gottheit getragenen Kleid verglichen.

Dies letzte Zitat läßt sich nun in den Predigten des Petrus Rogerius

( = Klemens VI.) 34 in Cod. Vat. Borghese 41 , f. 201 ' verifizieren. Doch nicht nur dieses ; denn in der gleichen Predigt 35 finden sich auch die besagten Fulgentius und Augustinusworte (f. 196 "-") sowie, in etwas anderer Formulierung, die gleiche Beschreibung der Irrlehren (f. 198') .

Das warnt davor, aus jedem Zitat auf unmittelbare Benutzung zu schließen , und zeigt, daß sich auch Nikolaus von Kues patristische Texte durch die dazwi schenliegende ,Tradition“ anreichen ließ 36. 5. An exegetischen Hilfsmitteln werden von Cusanus die — jeweils näher zu bestimmende - „ Glosse “ sowie die Postillen des) Nikolaus von Lyra häufig

zitiert 37. Außerdem hatte er auch die Historia scolastica (oder einfachhin ,Histo ria“) des Petrus Comestor, eine populärtheologische Darstellung der biblischen Geschichte 38, zur Hand. Als Lexikon für biblische Begriffe zieht er zuweilen 59 die Distinctiones fratris Mauritii 40 heran. Bei der Übersetzung hebräischer Namen stützt er sich auf verschiedene Unterlagen 41 ,

In Fragen der Evangelien-Synopse zitiert Nikolaus einige Male Augustinus, De consensu evangelistarum 42. Für das Studium der Apokalypse nahm er vor allem den Kommentar des Matthias von Schweden 43 zu Hilfe. Manches daraus

hat in den Predigten 169, 175, 201 f. sowie 220 seinen Niederschlag gefunden. 34 Näheres über dessen Predigtwerk bei : G. Mollat, L'oeuvre oratoroire de Clé Les sermons de Clément VI, in: Revue bénédictine 41 (1929) 15—34. Über das son

ment VI, in :Archives d'hist. doctr. et litt. du moyen âge 3 ( 1928 ) 239—74 ; Ph. Schmitz , stige Schrifttum s. A. Maier , Der literarische Nachlaß des P. Rogerii (Klemens VI .) in der Borghesiana: Rch Th 15 ( 1948 ) 332—56 ; 16 (1949) 72—98.

35 Cod. Vat. Borgh . 41, 196 ' — 205"; Motto: Vestitus erat veste aspersa sanguine et vocabatur nomen eius Verbum Dei . Apok. 19º. '

36. Vgl. auch S 8. Predigt 8, die großenteils (C 30°, 21—32", 38) in Auszügen aus dem Traktat des Nikolaus von Jawor De superstitionibus besteht. Cusanus hat dort ins

besondere zahlreiche Zitate aus der einschlägigen mittelalterlichen Literatur mitüber nommen .

37 Vgl. S$ 48 (V151" ); Glossa – alia glossa – Augustinus in glossa; S 232 (V2 1486);: Quidam glossatores alii. Zu Nikolaus von Lyra vgl. unten S. 26 f. Gelegentlich er wähnt Nikolaus auch Postillen eines nicht näher bezeichneten Hugo (S 40, V1 73 ' ); vgl. unten S. 105 .

88 Vgl. J. Kürzinger: LTHK VIII 156 f. 39 S 93 (V2 14 "") , S 253 (V2 197" ), S 272 (V2 240 " ). 40 Cod . Cus . 27; vgl. Marx S. 20.

41 S 250 (V2 191" ) zitiert er z . B. Nikolaus von Lyra. Er scheint auch die Interpreta tiones in Cod . Cus. 4, 447° —485' benutzt zu haben ; vgl. Koch , Vier Predigten 120 . Für eine nähere philologische Untersuchung liegt in den Predigten viel Material vor. 42 S 17 (C11 ") , S 288 (V2 283" ).

43 Cod. Cus. 25. — F. l ' steht (von der Hand des Schreibers) diese Notiz : Beatus frater 14

Kommentare zur Heiligen Schrift 6. Besonderen Eifer widmete der Kardinal der Exegese der Paulusbriefe 44. Dabei ging es ihm hauptsächlich um eine Zusammenschau der paulinischen Theologie, vor allem der Christologie. Zu letzterer stellte er bereits in Predigt 69 (1448) einige charakteristische Sätze zusammen (V₂2 30 ) . Während der Legationsreise durch Deutschland trat er an den ihm befreundeten Kartäuser Dionys von Ryckel mit dem Wunsche heran, „ er möge die Briefe des heiligen Apostels sozusagen zu einem redigieren" . Dionys tat dies auch und widmete dem Kardinal seine Schrift unter dem Namen ,Monopanton' 45. Diese ist in Cod. Cus. 12 , f. 75'-113' erhalten. Einem ähnlichen Anliegen dienten die dort f. 117-121 ' folgenden (90) Canones epistularum Pauli . Auch deren Zusammenstellung mag durch den Kardinal selbst veranlaßt sein 46. In Predigt 209 ( 21. 12. 1455) zitiert Nikolaus sodann (V₂2 132 " ) einen „ gewissen Glossator" zu Kol 2 , 1947. Etwas später bedenkt der Kardinal in Predigt 267 (7. 2. 1457) einen älteren Paulus- Kommentator, „ dessen Namen er noch nicht finden konnte", mit höchstem Lob 48. Er benutzt und zitiert jedoch in den Predigten 267-270 sowie 272 und 274 ausschließlich, aber um so gründlicher eine glossa oder glossula oder exposiuncula aurea ad Romanos . J. Koch setzt den 1455 erwähnten Glossator zum Kolosserbriefe mit dem 1457 Bernhardinus Senensis ordinis minorum de (observantia) cupiens colligere aliqua super Apocalypsim beati Johannis Apostoli incepit ex scriptis plurium doctorum. Tandem sentiens singulari(tatem) spiritus in scriptis magistri Matthiae de Suecia confessoris sanctae Brigittae (prae) omnibus aliis expositionibus doctorum adhaesit dumtaxat illis. - Der Kardinal selbst fügt hinzu : Exemplar fuit corruptum. Sitis cautiores ! Legitur in revelationibus S. Brigittae, quod iste Matthias (verbessert aus : Mattheus) fuit illuminatus spiritu divino. Et bene ostendunt haec pauca (ista ) . Audivi de sanctitate sanctae Brigittae sanctum Bernhardinum haesitasse) , quousque ( vidit hoc) opus . Tunc enim cessavit omnis dubitatio. — Die Notiz von Cusanus dürfte für die Mönche von Tegernsee bestimmt gewesen sein, die diesen Kommentar schon vor dem 22. 9. 1452 ( Vansteenberghe , Autour 109 ) und dann nochmals (ebd . 120) erbaten . Am 12. 2. 1454 sandte Cusanus ihnen den Kodex zu ( ebd . 122 ) . 44 Vgl. S 184 (V2 100 ) : theologus ille altissimus (Paulus) ; S 186 (V2 102 ) : Paulus magnus doctor ; S 253 (V₂ 196 ) : (Paulus) omnem Scripturam sic aperit, quod in omnibus reperitur Christus . Die Predigten 234 f. bestehen in fortlaufenden Anmerkungen zum 1. Korintherbriefe. S 156 legt 2 Tim 1-2 für die Brixener Diözesansynode i. J. 1454 zugrunde. Besonders in den Jahren 1454—57 tragen zahlreiche Predigten ein Motto aus den Paulinen. 45 Herausgegeben in : Dionysii Cartusiani Opera omnia , t . 14 , 467-537 . Die Widmung beginnt: Reverendissimo in Christo patri ac domino, domino Nicolao de Cusa ... nunc Sanctae ac Apostolicae Sedis legato de latere per Angliam et Almaniam ... Obtemperavi et satisfeci, ut potui, praecepto ac desiderio Paternitatis vestrae piissimae, Epistulas beatissimi Pauli apostoli quasi in unam redigendo epistulam. - Zum Legaten für England wurde Nikolaus (zum erstenmal ) am 13. 8. 1451 ernannt (vgl . Vansteenberghe , Le cardinal 138) . Die Widmung dürfte bald danach geschrieben sein, da der Kardinal diese Legation nicht antrat, sondern sich im folgenden Oktober durch die Reise von den Niederlanden nach Trier (J. Koch , Nik. v. Cues und seine Umwelt : HSB 1948 , 137 ) von dem Ziel dieser Legation entfernte. 46 Daß Cusanus selbst deren Verfasser sei oder daß die Niederschrift in Cod. Cus. 12 auf ihn zurückgehe, wie Marx (Hss . - Verz. S. 9) vermutet, scheint ausgeschlossen. 47 Vgl. oben S. 7 Anm. 17. 48 S 267 (V2 227 ) : quidam solemnissimus antiquus doctor expositor epistularum Pauli, cuius nomen adhuc invenire non potui ; vgl . S 268 (V2 228 ) : quidam glossator Pauli. 15

Quellen der cusanischen Christologie

erwähnten alten Erklärer der Paulinen gleich 49. Das dürfte zutreffend sein 50. Um so wichtiger wäre es für die Erschließung der cusanischen Predigtquellen , irgend

wo den Text dieser glossula - deren Incipit ebenfalls unbekannt ist -aufzu spüren. Es wäre deshalb sehr erfreulich , wenn die Angabe von J. Koch 51 zuträfe, -

daß sich die von dem Kardinal benützte Handschrift mit der gesamten Paulinen glosse heute im Britischen Museum (Harleian 3063) “ befinde.

Davon dürfte jedoch nur so viel stimmen, daß diese Handschrift (aus dem 9. Jahrhundert) Paulinen -Kommentare aus dem Besitz des Nikolaus von Kues 52 und auf den Folioseiten 75'— 76' sowie 80' auch Randbemerkungen von ihm ( zum Anfang des Epheserbrief -Kommentars) enthält 53. Die noch vorhandenen Folios dieses Kodex beginnen nämlich nach der exakten Inhaltsangabe von

Swete 54 inmitten des 1. Kapitels der als Ambrosiaster bezeichneten Erklärung zu 2 Kor, die bis f. 38° reicht. Dort setzt noch in der gleichen Zeile der Kommentar

des Theodor von Mopsvestia zum Galaterbrief in lateinischer Übersetzung ein. Danach folgt dessen Erklärung zu den weiteren Paulinen (außer dem Hebräer brief) . Die zu Anfang fehlenden Lagen scheinen demnach den Ambrosiaster zum Römerbrief und zu 1 Kor enthalten zu haben .

Dafür spricht auch folgendes : Zu Anfang von Predigt 33 zitiert Nikolaus einen Ambrosius zugeschriebenen Epheserbrief -Kommentar 55. Das dortige Zitat wer den wir jedoch im Ambrosiaster 56 vergebens suchen. Es ist in Wirklichkeit dem Kommentar des Theodor von Mopsvestia entnommen 57. Cusanus hielt also auch dessen Erklärung für den Ambrosiaster, wahrscheinlich auf Grund der Über

schrift, die dem Ganzen voranging. – Daraus ist beiläufig zu entnehmen , daß er den heutigen Cod. Harley 3063 schon Weihnachten 1444 besaß und benutzte.

Daß Nikolaus mit der von ihm gerühmten Glossula nicht die in Harley 3063 enthaltenen Kommentare gemeint haben kann , ergibt sich daraus, daß sich keines

seiner Zitate zum Römerbrief in der Römerbrief-Erklärung des Ambrosiaster 58 nachweisen läßt. Das Zitat zu Kol 2, 19 müßte Harley 3063, f. 122", 3—7 stehen. Auch dieses ist dort nicht zu verifizieren .

49 Koch , Untersuchungen 36. 51 Koch, Untersuchungen 35.

50 Vgl. oben S. 7 Anm . 17.

52 Vgl . P. Lehmann, Mitteilungen aus Handschriften II, in : Sitzungber. der Bayr. Akad. der Wissensch ., Philos. -hist. Abt., 1930, H. 2 , S. 23. 53 So auch Lehmann a. a . 0. – Die Randbemerkungen sind in der Ausgabe des Pau

linen-Kommentars des Theodor von Mopsvestia von Ħ . B. Swete I S. XXVI gedruckt. In der dortigen Beschreibung werden die Glossen allerdings von M. Thompson noch ins 14.54Jh. datiert. Die Photographie zeigt indes deutlich die Hand des Nikolaus von Kues. a. a . 0. XXVIII .

55 S 33 (C 136', 3) : Tradit Apostolus quaedam dogmatica et quaedam ethica , ut ad Ephesios exponit Ambrosius. 56 P s. - A mbrosius , Epheser - Kommentar: PL 17 , 393-426.

57 Cod . Harleian 3063, 76 ', 1-4 (ed . Swete I 114) : ...dogmaticos primum consummans dogmatici autem sunt sermones, qui narrationem adventus continent Christi

sermones

simul indicantes et illa bona , quae suo nobis praestitit adventu —. Quibus finitis ad ethi Nikolaus von Kues schrieb dazu an den Rand : Primo dogmaticos consumit sermones, qui sunt de Christi adventu, postea ad ethicam ex (h )orta( tion ) em transit.

cam postea transit ex ex (h ) ortationem. 58 PL 17 , 45 ff. 16

Ein anonymer Paulus-Kommentator Zur Charakteristik der von Cusanus benutzten Erklärung des Römerbriefes seien im folgenden drei Zitate wiedergegeben, in denen sich zugleich auch eine starke Anlehnung an Origenes zeigt. Vielleicht können diese Fragmente auch noch zu deren Auffindung dienen. Sermo 268 (V2 228va-b): Ob hoc, ut quidam glossator Pauli super illo verbo Apostoli ad Romanos : ,Nolite ante tempus iudicare ! ' ( 1 Kor ( ! ) 4 , 5) ait, differtur iudicium usque ad ultimum, quia magicarum artium seu idolatriae ceterorumque vitiorum inventores quasi quaedam semina post se dereliquerunt, hoc est homines eorum inventiones imitantes, qui eos, quamdiu mundus constat, imitari non cessant ; ideo ante finem mundi iudicia Dei finiri non possunt 59. Sermo 270 (V2 232 ): Respondeo secundum glo(ssam) auream super verbo : ,hostiam vivam ad Romanos ( 12 , 1 ) , quod quicumque in semetipso superbiam mactat, vitulum occidit, et qui iram sternit, arietem necat, qui libidinem, hircum, animal scilicet libidinosum, interimit ; qui vero cogitatus mortificat inutiles, immolat aves. Quodcumque corpus hoc modo mortificatur, hostia vivens est et cum Apostolo dicere potest: ,Semper mortificationem Iesu in corpore nostro circumferimus, ut et vita Iesu manifestetur in nobis' (2 Kor 4, 10) 60. Sermo 274 (V2 246 ): Qui fatemur Christum esse regem et dominum nostrum , attendere debemus ad glossam auream super verbo Apostoli ad Romanos ( 10, 9) :,Quia si confitearis' etc.,,salvus eris'. Sic dicit glossula : Quicumque confitetur Christum suum esse dominum, necesse est, ut illius dominetur veritas, pax ceteraeque virtutes, quae dominus sunt. Si haec dominentur illius et haec ore proferre contendit Christumque a mortuis resuscitatum crediderit et tam salubrem fidem operibus ornet, hic sine dubio salvus erit ... Haec illa habet exposiuncula 61. 7. Aus dem Bereich der weiteren mittelalterlichen Literatur, die in den Predigten benutzt ist, sei noch auf folgendes hingewiesen: Für liturgische Fragen hatte Cusanus das Rationale divinorum (officiorum) des Wilhelm Duranti zur Hand 62. Im Jahre 1445 ließ er bald nach den in Cod. Cus. 21 enthaltenen Werken Eckharts auch das Buch De sensibilibus deliciis Paradisi, das Johannes von Dambach († 1378) , einen Schüler Eckharts und Freund Taulers, zum Verfasser hat, kopieren 63. - Der unter dem Namen eines ,abbas Perseniensis in Predigt 224 angeführte Text konnte in einem Brief des Abtes Adam de Perseigne († 1221 ) aufgefunden werden 64. Heinrich von Gent wird von dem Kardinal vermutlich nach den Quodlibeta (Cod. Cus. 92) dreimal erwähnt 65. Von Heinrich von Langenstein besaß Cusanus unter anderem den Traktat De Verbo (incarnato) 66. Er zitiert gelegentlich 67 dessen Genesis-Kommentar. 59 Dieser Abschnitt ist von dem Römerbrief- Kommentar des Origenes ( PG 14 , 877 C - 878 B) abhängig . Von daher erklärt sich auch die falsche Lokalisierung vor 1 Kor 4, 5 in den Römerbrief ; denn dieser Vers wird dort von Origenes zitiert. 60 Dies ist eine freie Wiedergabe des Kommentars von Origenes (PG 14, 1204 A) , während z . B. Sedulius Scotus denselben Text in der Übersetzung von Rufin übernahm (PL 103, 109 D) . 62 S 12 (C 36 , 1—9) , S 263 (V2 216 ) , S 272 (V2 240™ ) . 61 Vgl. unten S. 271 . 63 Cod. Cus. 57 , 94′ -233 ' ; vgl. Marx , Hss .- Verz . 65. -- Diese Schrift wird S 260 (V2 210 ) zitiert. 64 PL 211 , 561 A ; vgl . unten S. 51 Anm. 62. 65 S 232 (V2 158 u. 158 ) , S 274 (V2 244 ) . 66 Cod. Cus. 54, 91 '- 96'. 67 S 158 (V2 57"). 2 Haubst, Nikolaus v. Kues

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Quellen der cusanischen Christologie

8. In der Karfreitagspredigt des Jahres 1454 überrascht eine nach scholasti schem Muster aufgerollte, aber nicht ausgeführte Quästio, der wenigstens noch eine zweite folgen sollte 68. Cusanus selbst weist auf die Quelle hin , wo sich das Weitere fand : vide in sermonibus duobus 69 Tuscanelli! Aldobrandinus liebte Fragestellungen. Manche seiner Predigten bauen sich danach auf 70. Vermutlich geht auch das in der anschließenden Osterpredigt aufgeworfene Dubium 71 auf ihn zurück .

Danach tauchen erst wieder in Predigt 198 ( V , 117 * - ) drei größere Quāstio nen auf. Cusanus exzerpiert dort das Rationale divinorum operum 72 des Mat thäus von Krakau 73, zitiert dieses jedoch unter dem weniger gebräuchlichen Titel : Liber, quod Deus omnia bene fecit 74, den er in seinem Exemplar (Cod. Cus. 104, 1 ' - 64 ') vorfand.

In Sermo 250 entnimmt Cusanus nochmals ( V 2, 1929–1934 ) ausdrücklich zwei

Quastionen den Andreas-Predigten des Aldobrandinus 75. Dagegen scheinen die Fragen in den Predigten 207 ( V , 124") und 211 ( V , 13376–vb) von ihm selbst auf geworfen und beantwortet zu sein. In Predigt 246 macht zunächst die Häufung technischer Termini, wie: quaestio, conclusio, corollarium und ,ad primum ( V , 1850—1866), stutzig. Es ist jedoch zu beachten , daß die dortige betont scien tifisch - eristische Erläuterung der Antwort Christi auf die pharisäische Steuer frage als solche beabsichtigt ist 76. Erst recht gehören die vier exegetischen Dubia in Sermo 264 (V, 2191 -v ) schon in die Reihe der Fragen, durch die der Kardinal gern seine letzten erhaltenen Predigten 77 im schlichten Wechselgespräch des ,Diceres – dico (respondeo) zu -

beleben und zugleich einprägsam zusammenzufassen und zu vertiefen suchte. Das gilt auch von den Fragen in De aequalitate und De principio.

Die Quellen der in Cod. Cus. 40 aufgezeichneten Quastionen kommen später zur Sprache.

68 S 149 (V2 53* ): Primo quaeritur, an conveniens fuerit Christum mori propter peccatum Adae ? Videtur, quod non ...

69 So dürfte das fragliche Zeichen (Koch , Untersuchungen 128) im cusanischen Auto graph zu lesen gewesen sein.

70 Vgl. z. B. die 1. Predigt zum 3. Adventsonntag in Cod. Ottob. 557, 207–21" : Quaerendum

dicendum ; videtur – dicendum.

71 S 150 (V2 5346) : Videtur, quod non fuit necesse Christum resurgere... Solutio ... 72 Die drei cusanischen Quästionen bilden das 6., 3. und 7. Kapitel (deren Überschrif

ten sind schon als Fragen formuliert) des 6. Traktates : Cod. Cus. 104, 55'—59'; Rubczyński 132–141.

73 Matthäus von Krakau wirkte als Theologieprofessor in Heidelberg und Prag. Er starb am 5. 3. 1410 als Bischof von Worms.

74 Matthäus stellte beide Titel zur Wahl ( Rubczyński 3 ). Mit den Worten: Quod Deus omnia bene fecit“, beginnt der 1. Traktat. Von den 19 Hss., die Rubczyński be spricht, trägt indes nur die des Nikolaus von Kues diesen Titel.

75 Wie Käppeli (La tradizione 189 Anm . 46) nachweist, finden sich die von Cusanus benutzten Andreas-Predigten in Bologna, Univers.-Bibl., Cod. 1683, 11b_4" . 76 Dazu kommt , daß der Gebrauch der Termini conclusio und corollarium erst im

15. Jh. weitere Verbreitung gewann. Deshalb ist nicht mit einer älteren Predigtquelle zu rechnen .

17 S 265, 2 enthält sechs solche Fragen; zu S 204 vgl. oben S. 8. 18

aus Mittelalter und Antike

9. Schauen wir auf die Ergebnisse der vorangehenden Quellenuntersuchung zurück, so wächst die Erkenntnis, wie sehr Nikolaus von Kues in der abendländisch-mittelalterlichen Tradition verwurzelt war. Mochte er nämlich auch, schon als er das Vorwort zur Concordantia catholica schrieb, mit den „ aufgeschlossensten Geistern" den Zug der Zeit verspüren, der dahin ging, „ auf allen Gebieten das Alte wieder aufzugreifen (vetera repeti) “ 78, so ist ihm selbst doch der unmittelbare Zugang zur Antike — soweit diese nicht, wie vor allem die lateinischen Kirchenväter, zum lebendigen Besitz des Mittelalters gehörte — nur allmählich und schrittweise gelungen. Das gilt insbesondere außer von der heidnischen auch von der griechischen christlich-antiken Literatur, sogar auch von solchen Werken, die schon längst in lateinischen Übersetzungen vorlagen. Einen Beweis für eine weiter als gewöhnlich reichende Kenntnis der lateinischen Patristik sowie der Akten der alten Konzilien hat Nikolaus bereits in der Concordantia catholica selbst erbracht 79. Als Theologe und Philosoph gewann er dann zunächst Ende der dreißiger Jahre ein lebendiges und sich mehr und mehr vertiefendes Verhältnis zu Dionysius dem Ps. -Areopagiten. Vielleicht läßt sich dasselbe auch schon für diese Zeit von Proklos sagen. In den fünfziger Jahren trat das Interesse für Platon stärker hervor, jedoch so , daß ihm Proklos weithin den Weg zu einer wirklich „ genuinen“ Platon -Kenntnis versperrte . Zudem brachte dies Jahrzehnt für ihn ein vertieftes Studium des Aristoteles 80, insbesondere der Metaphysik an Hand der neuen Übersetzung Bessarions, und eine sorgfältige Durcharbeitung der Praeparatio evangelica des Eusebius von Cäsarea an Hand der ebenfalls erst erschienenen, Nikolaus V. gewidmeten Übersetzung des Georgio Trapezuntino. Das Kueser Exemplar der Praeparatio (Cod. 41 ) trägt zahlreiche Randbemerkungen des Kardinals, der es auch nicht versäumte, diese Schrift zu zitieren 81. Auf dem Wege in die griechisch-heidnische Antike tat Nikolaus um die Jahreswende 1462/63 den letzten Schritt, indem er bei der Abfassung der Venatio sapientiae die Hauptgestalten der griechischen Philosophiegeschichte nach Diogenes Laertios studierte. Außer den schon genannten kannte und benutzte Nikolaus nachweislich folgende Schriften aus der griechischen Patristik :

78 Conc. cath., praef. (H 2) . 79 Cusanus scheint z. B. die Akten der ,secunda Ephesina synodus ' (,Latrocinium' v. J. 449) nach dem lateinischen Text gekannt zu haben, den man erst im 19. Jh . in syrischer Übersetzung wiederfand (vgl. Anm. von Kallen zu Conc. cath . II , 2 , H 98 ) . Die sonst zu seiner Zeit kaum bekannten Akten des Lateranense 649 besaß er in Cod. Cus. 52, 86-102°. Von einem ,Volumen sextae synodi integrum ... scriptum tempore Agathonis papae ... und den Akten einer , Synodus nisi me animus fallit - Chalcedonensis , die sich derzeit im Besitz der Trierer Dombibliothek befanden, berichtet Kaspar v. Northausen an Cäsar Baronius . Er fügt hinzu : ,utroque hoc volumine usum fuisse cardinalem Nicolaum Cusanum, cum praesideret in concilio Florentino ( ! ) . Extracta enim sunt ex ipsius Bibliotheca, quam Cusae ... reliquerat' (Trierisches Archiv H. 24-25, 1916, 208 f.) . 80 Vgl. Vf I 77 Anm . 46 , 163 f. 81 S 121 , 175 f. , 183, 273 ; De beryllo c. 7 , c. 24 ; vgl. Vf I 305. - Wie aus dem Briefwechsel mit Tegernsee hervorgeht, lich Cusanus dieses Werk i. J. 1454 nach dort aus und erbat es bald wieder zurück (Vansteenberghe , Autour 120 123 140 f. 148) . 2*

19

Quellen der cusanischen Christologie In dem heutigen Cod . Cus. 50 besaß er den Pastor Hermae in der altlateinischen Übersetzung 82 und die Schrift ПIɛpì άpx☎v von Origenes in der Übersetzung Rufins 83. Beides studierte er, der Schrift der Randbemerkungen nach zu schließen, in den dreißiger oder vierziger Jahren. Das Zitat in Predigt 270 dürfte unmittelbar dem Römerbrief- Kommentar des Origenes entnommen sein 84. Außerdem kannte Cusanus diese oder jene Origenes -Homilie 85. -- Spätestens im Jahre 1444 lag ihm, wie wir bereits sahen 86, auch der Paulinen- Kommentar des Theodor von Mopsvestia vom Galaterbrief an unter dem Namen des Ambrosius vor. - Im Jahre 1445 ließ Nikolaus die kontemplativ - aszetische , Scala Paradisi' des Johannes Klimakos kopieren 87. Er studierte sie eifrig, wie die Randbemerkungen zeigen. Vom Jahre 1455 an zitierte er sie öfter in der Predigt 88. Zum Johannesevangelium besaß der Kardinal eine griechische Väter-Katene 89. In einer Notiz zu Predigt 178 ( 1455 ) stützte er sich bei dem Versuch, Joh 18 , 13-28 auf textkritischem Wege mit den synoptischen Evangelien in Einklang zu bringen (V,2 86 ) , auf Johannes Chrysostomus 90. Als Apostolischer Legat für die Stadt Rom ging er, wie ein Nachtrag dazu bemerkt, derselben Frage nochmals an Hand „des Kommentars des Patriarchen Cyrill von Alexandrien nach der jüngst durch Papst Nikolaus angeregten Übersetzung" des Georgio Trapezuntino nach. In Cod. Cus . 42 , 1 ' - 120 ′ besaß er den , Liber thesaurorum' Cyrills in der Wiedergabe durch denselben Übersetzer. Die Anmerkungen dazu dürften auch aus dem Jahre 1459 stammen 91. Auffallend wenig ist bei Nikolaus von Kues von einem näheren Interesse für die drei großen Kappadozier zu spüren . Zitiert wird lediglich Gregor von Nazianz 92. Das Merkwürdigste ist, daß sogar Johannes von Damaskus erst 1462/63 für die Lösung der damals über das Blut Christi entbrannten Streitfrage in einer Weise als Autorität herangezogen wird, die auf eine unmittelbare Benutzung von De fide orthodoxa schließen läßt 93. Auch Maximus Confessor scheint im cusa82 f. 149′- 179′ ; zur Übersetzung vgl . Marx , Hss . - Verz. 46. 83 f. 182-270". 84 Vgl. unten S. 257 . 85 Vgl. die S 261 (V2 213 ) erwähnte Matthäus - Homilie . 86 Oben S. 16. 87 Cod. Cus. 58 , 1 '- 79' ; vgl. Marx , Hss . -Verz. 65. Der Kodex wurde i . J. 1454 nach Tegernsee ausgeliehen (Vansteenberghe , Autour 110 123) . 88 S 175 (V2 84 ) , S 237 (V2 165 ) , S 238 (V2 167b) , S 287 (V2 279vb). 89 Cod. Cus . 18. Nach Koch (Vier Predigten 138) ist deren Benutzung an einer Stelle festzustellen. 90 Der Johannes - Kommentar des Chrysostomus wird auch S 13 (C 85', 47) sowie S 260 (V2 209a) zitiert. Im Kueser Nachlaß ist er nicht erhalten. Dort finden sich jedoch zahlreiche andere Chrysostomus - Schriften. Im besonderen ist der Einfluß der „ Reden über die inkomprehensible Natur Gottes " (Cod. Cus. 42 , 253 ′-285 ′) auf Nikolaus noch zu überprüfen. 91 Vgl . die Glosse zu f. 3′ ( 1 , 3) : Nota bene, quomodo nomini principii nihil opponitur. —— Am 9. 6. 1459 beendete Cusanus den Traktat De principio . 92 Das auch gesondert überlieferte Apologeticum (vgl . A. Siegmund , Die Überlieferung der griechischen Literatur in der lat. Kirche bis zum 12. Jahrh . 83 f.) kannte schon der junge Cusanus ; vgl. Vf I 151 Anm. 19. 93 Das Werk befindet sich nicht in der Kueser Bibliothek.

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aus der griechischen Patristik nischen Schrifttum keine so deutlichen Spuren hinterlassen zu haben, wie sich auf Grund seiner Erwähnung in der Apologia Doctae Ignorantiae erwarten ließ 94. Die Tatsache, daß Nikolaus von Kues trotz seiner Bemühungen um die Griechen-Union zu keiner früheren und intensiveren Beschäftigung mit den Hauptzeugen der griechischen Vätertheologie aus den christologischen Kämpfen des 4. Jahrhunderts und mit Johannes Damascenus kam und daß er sich den bereits in der Concordantia catholica gewonnenen Zugang zu den Akten der alten Konzilien nicht mehr zunutze machte, ist sehr zu beachten. Es wäre jedoch verfrüht und übertrieben, schon daraus zu schließen, daß die cusanische Christologie notwendig auf den Bannkreis der abendländischen Tradition beschränkt blieb. Es fehlte nicht an mittelbaren und auch nicht an unmittelbaren Zugängen zur griechischen Überlieferung . Für das letztere genügt es, Origenes und Dionysius zu nennen. Bemerkt sei auch, daß das bisher Festgestellte nur ein vorläufiger Rahmen ist. Auf Grund innerer Kriterien wird noch einiges zu ergänzen sein. Immerhin ergeben die cusanischen Zitate aus der Theologie der Vorzeit bereits ein erhebliches Übergewicht der lateinischen antik-mittelalterlichen Tradition. Die Auswahl aus den griechischen Vätern zeigt auch, daß Nikolaus nur in beschränktem Maße Zeit und Gelegenheit zu dogmengeschichtlichen Studien fand und daß er sich zudem wenn man ihn etwa mit Thomas von Aquin vergleicht auch stärker durch persönliche theologische oder auch mystische Interessen sowie durch den neuplatonischen Grundzug seiner Geistesart als durch die Erwägung einer systematischen Auswertung der Dogmengeschichte bestimmen ließ . 94 In der Apologia, H 20 , beruft sich Cusanus auf die Lehre des Maximus von der mystischen Gotteserkenntnis. Die Kueser Bibliothek enthält von diesem lediglich (Cod . 58, 90-93′) Exzerpte aus den Erklärungen zu Reden des Gregor von Nazianz.

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GRUNDLEGUNG

I. DER JOHANNES - PROLOG

1. Mit der hohen Wertschätzung, welche die paulinische Theologie bei Nikolaus

von Kues, besonders zur Zeit seiner Legationsreise und der Brixener Bischofs tätigkeit, fand, wetteifert die des johanneischen Glaubensgutes. Aufs Ganze ge sehen, steht dieses in seinem Schrifttum noch stärker im Vordergrund . Eine Vorliebe für Johannes verraten zum Beispiel deutlich die in Cod. Cus. 220, 957—97 ° erhaltenen Exzerpte und Notizen. Diese beginnen mit dem vierten

Evangelium (95'—96'), durcheilen dann die übrigen neutestamentlichen Schriften, wobei sie lediglich beim Römer- und Epheserbrief etwas verweilen , und enden

mit dem 1. Johannesbrief 1. Inhaltlich lassen sich die hier gesammelten Schrift stellen etwa unter der Überschrift: Die Heilswirksamkeit Christi und die im

Glauben an Ihn beginnende Wiedergeburt zur Gotteskindschaft, zusammen fassen.

Auf diese Exzerpte folgt (97") eine anscheinend nur noch teilweise erhaltene Notiz ?, in der Nikolaus das Vorangehende so erklärt und pointiert, daß man durch die Aufnahme des Offenbarungswortes Christi die „ Form“ des Glaubens

gewinne und so zur „Gleichförmigkeit “ mit dem Ewigen Worte oder Sohne Gottes gelange 3. Die gleiche Auffassung ist in De filiatione Dei ( Juli 1445) aus führlicher als die Ansicht des Theologen Johannes “ entwickelt 4. Sie tritt erst mals in Predigt 24 zutage 5. Die erwähnten Notizen dürften demnach als direkte oder entferntere Vorstudien zu De filiatione Dei aufzufassen und in den Jahren 1444-45 entstanden sein 6.

Von den Predigten beginnen über fünfzig mit einem Motto aus den johan neischen Schriften, vor allem aus nahezu sämtlichen Kapiteln des Evangeliums.

Doch das besagt noch wenig im Vergleich mit den eingehenden exegetisch -homi letischen Erörterungen zu spezifisch johanneischen Texten, wie dem 1. Johannes brief ?, dem 6. Kapitel 8 und vor allem dem Prolog des Evangeliums, und erst 1 Eine zweite Folge von Exzerpten aus den Neuen Testamente ist f. 105'- 108' erhalten. 2 Zwischen den Folios 97 und 98 ist ein Blatt herausgeschnitten. 3 Die Notiz ist bei Koch , Auslegung 56 f. auszugsweise gedruckt. 4 De filiatione, P 65 ".

- Diese Schriſt ist übrigens auf Joh 1 , 12 als Leitsatz aufgebaut.

5 S 24 vom 5. 4. 1444 (C 130 '— 131 ") .

* Nach Koch , Auslegung 56 weisen auch die cusanischen Schriftzüge in den Anfang der vierziger Jahre . ? Predigt 184 und 210 sowie 76 und 180. Vgl. Cribr. Alch . III, 11 (P 146') ; dort be

dauert es der Kardinal, daß Mohammed nicht „ wenigstens den kleinen kanonischen Brief des8 Lieblingsjüngers Christi “ kannte. 8 Predigt 58 ist eine Homilie zu Joh 6, 26—72. Auf diesen Text baut Cusanus auch schon von dem Opusculum contra Bohemorum errorem an seine über das Sakramentale hinausgehenden Darlegungen über Christus als das lebendige Brot auf. Predigt 289 v. J. 1459 ist eine Homilie zu Joh 7,14–31 . 22

Der "9 Theologe Johannes" im cusanischen Schrifttum recht im Hinblick auf die Schwerpunkte, die durch manche Johannesworte im dogmatischen Denken des Nikolaus von Kues gebildet wurden. Der Kardinal selbst hat der besonderen Bedeutung, die dem vierten Evangelisten für seine Predigten zukommt, bezeichnenden Ausdruck gegeben, indem er diesem in Sermo 275 die reifste Darstellung seiner Erlösungslehre in den Mund legt, und vor allem dadurch, daß er den Traktat De aequalitate, der als Einführung in sein Predigtwerk gedacht ist 19, in einer Zusammenfassung „ der Frohbotschaft, wie sie Johannes der Theologe versteht " 11 , gipfeln läßt. Nikolaus rekapituliert dort zunächst die Kerngedanken des Evangeliums 12. Dann geht er ausführlicher auf die „ Theologie " ein, die Johannes im Prolog dem erzählenden Teil seines Evangeliums als ,Summa evangelii ' vorausschickt 13. 2. Abschließend bemerkt der Kardinal in De aequalitate, daß ihn die ErschlieBung der vorangehenden „ Summe der Frohbotschaft “ in den nachfolgenden Predigten 14 schon von früh an beschäftigt habe, und zwar seien seine Erklärungen „anfangs, als er noch junger Diakon war, noch dunkler gewesen, dann klarer, als er zum Priestertum gelangt war, und , wie es scheine, noch gereifter während der bischöflichen Wirksamkeit in seiner Brixener Kirche und der Apostolischen Legation in Deutschland und anderswo " 15. Das scheint in erster Linie auf Predigtstellen gemünzt zu sein, die sich mit dem Johannes- Prolog befaßten. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob in der Vatikanischen Predigtsammlung oder in Cod. Cus. 220 überhaupt noch irgendeine Predigt aus der Zeit, da Cusanus noch Diakon war, erhalten ist. Wenn irgendwo, dürfte das auf die Predigt zutreffen, die Koch an 19. Stelle anführt 16. „Predigt 19" steht unter dem Motto: Verbum caro factum est; sie stellt zum größten Teil eine Erklärung der drei Anfangsverse des Johannesevangeliums dar. In der Einleitung wird die Höhe der im Johannes -Prolog ausgesprochenen Gottesoffenbarung betont 17. Darauf folgt umfangreiches religionsgeschichtliches Material zum Gottesbegriff 18, ein knapper Aufriß der Trinitätslehre des Rai• Übersetzung vom Verf.: Geist und Leben 26 ( 1953) 1—7 . 10 De aequalitate, V2 257 : ut sermones theologicos subintrares . 13 Ebd. V2 262-262v . 12 Ebd. V2 261-262 ™ª. 11 Ebd. V2 262 *. 14 Ebd. V2 262v : in variis sermonibus meis infra positis. 15 Das letztere bezieht sich auf das Jahr 1459 , in dem der Kardinal Legatus Urbis war. 16 Daß Cusanus Predigt 1 als ,sermo primus Confluentiae bezeichnet, bildet keine Instanz dagegen, daß er anderswo schon früher gepredigt hat. Im Jahre 1431 war er als Stiftsdekan von Koblenz , St. Florin, bereits Priester. „Predigt 19" hielt er vor dem Erzbischof von Trier, vermutlich auch in Trier, wo er schon seit dem 29. 5. 1426 Kanonikus von St. Simeon war. Die Rückdatierung der Predigt bis etwa in das Jahr 1429 oder 1430 ist also wohl möglich. Die Schriftzüge f. 56-68" scheinen auch aus einer Zeit vor den ersten datierten Predigtniederschriften zu stammen. J. Koch hat die Entstehung von S 19" vermutungsweise erst auf 1443, dann auf 1440 angesetzt (Vier Predigten 162 , Untersuchungen 60). 17 In C enthält das sonst leere Blatt nur die Einleitung. Das folgende steht unter dem eigenen Motto: In principio erat Verbum usw. Außerdem ist die Einleitung in etwas abweichenden Zügen geschrieben. Beides läßt vermuten , daß sie auch später entstand. Der Gedanke daran wird durch Anklänge an Zitate aus den Soliloquien Augustins und einer Origenes - (Eriugena-) Homilie in Predigt 13 (C 85 ′) nahegelegt. 18 Die alt- und neutestamentlichen Gottesnamen werden nach dem Hebräischen und 23

Der Johannes-Prolog

mund Lull 19, dessen Name allerdings nicht genannt wird , und eine Anzahl von

Aussprüchen des Hermes Trismegistos und der Sibyllen, die Nikolaus in den Institutiones des Laktanz vorfand. Er führt diese als Zeugnisse für das Geheimnis des Ewigen Wortes in Gott an 20 und bestimmt dann das Verhältnis des Ewigen Wortes zum Vater durch Zitate aus Basilius, den Sentenzen des Petrus Lom

bardus und aus Origenes 21 sowie mit Hilfe des „ Athanasianischen “ und des Nizänischen Symbolums 22. Unter Anlehnung an Augustins Äußerung, daß sich der Anfang des Johannesevangeliums auch schon bei den Platonikern finde 23, sowie an Grosseteste 24 und an das 4. Laterankonzil 25 wird sodann bei der Aus

legung von ,,Alles ist durch Ihn geworden , und ohne Ihn (den Logos) ward nichts (Joh 1 , 3) die Erschaffung der Welt und des Menschen behandelt 26. Der Schluß teil der Predigt rechtfertigt schließlich auch das Motto : „ Das Wort ist Fleisch geworden (Joh 1 , 14) . Hier kommen in Form eines Rechtsstreites vor dem Drei

einigen Gott die Motive der Menschwerdung zur Sprache. Daß diese Predigt in die Frühzeit des cusanischen Schrifttums zurückreicht, läßt

schon die im Hauptteil auffallend starke gedankliche und sprachliche Abhängig keit von den Quellen, insbesondere von Raimund Lull 27, vermuten. Von der Initiative und Eigenständigkeit des in der Docta Ignorantia zum Durchbruch kommenden Denkens und der dortigen Terminologie ist hier noch so gut wie

nichts zu spüren. Die verschiedenen Korrekturen, die Nikolaus später bei der Durchsicht dieser Predigt in dem heutigen Cod. Vat. 1244 vornahm 25, zeigen , daß ihm selber in den fünfziger Jahren gerade hier manches „ dunkel“ vorkam 29. Das weist zumindest in die Zeit der ältesten erhaltenen Cusanus -Predigten zurück 30.

Ein sicherer Anhaltspunkt dafür, daß dieser Sermo wenigstens schon vor Pre digt 6, die in den Jahren 1432—36 zu Weihnachten gehalten wurde, entstanden

ist, ergibt sich aus einem Nachtrag zu „ Predigt 19 “ und einem entsprechenden Griechischen etymologisch erklärt, danach die der Lateiner, Tataren, Deutschen , Slawen , Türken und Chaldäer. Dazu kommen Zitate aus Rabbi Moses (Maimonides) und dem Sepher Raziel .

20 Vgl. Vf I 307 f.

19 Vgl . Vf I 74 f.

21 C 56', 57–59 : Cum itaque Filius iugiter in Patre sit per essentiam, ideo dicitur secundum Origenem : ,Et Verbum eratapud Deum ' nec fuit in principio, in quo erat Ver Dies scheint sich auf den bum, aliqua separatio Verbi et Dei Verbum proferentis. Johannes- Kommentar des Origenes, und zwar auf lib. II , n. 1 (PG 14 , 103 C) zu beziehen : In principio erat etiam tum , cum apud Deum erat neque a principio separatus neque -

Patrem deserens.

22 C 56', 46—60.

23 C 57', 21–23: Refert se Augustinus apud Platonem (V1 38 "> präzisiert Nikolaus das

nachträglich: Refert se Augustinus in libro VII° Confessionum apud Platonicos ...) Evan gelii nostri principium invenisse: In principio erat Verbum, et Verbum erat apud Deum , et Deus erat Verbum etc.; vgl . unten S. 202.

24 Vgl. Vf I 131 f.

25 Vgl. Vf I 146, 151 f.

26 C 57 ', 22–57 ', 62.

27 Vgl . die verschiedentliche Verwandtschaft von „ S 19“ mit der in Vf I 339—42 edier ten cusanischen Glosse zu Lull .

28 V1 3714—38 ; vgl . Vf I 161 .

29 Das trifft wohl besonders auf die Bezeichnungen der drei göttlichen Personen als

,deus deificans,deificabilis und deificare' (vgl. Vf I 74 ) zu. 30 Vgl. VE I 11 Anm. 45, 74 Anm. 42, 146 Anm . 5. 24

in den frühesten Cusanus-Predigten

Rückverweis in Predigt 631. Daraus folgt, daß die erstere spätestens für Weih nachten 1435 anzusetzen ist. Die inneren Gründe weisen, wie wir sahen, noch

weiter zurück . Dazu kommt die Bemerkung in De aequalitate, die andernfalls gegenstandslos wäre. 3. Unter demselben Motto : „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns

gewohnt“ , behandelt auch Predigt 2 (von Weihnachten 1431 ) zunächst das Ge heimnis der ewigen Geburt in Gott und dann die Inkarnation. Hier bedient sich Nikolaus in spekulativer Betrachtungsweise ausgiebig der scholastischen theo logischen Terminologie. Den Grundstock bildet die augustinische Erklärung des ersten trinitarischen Hervorgangs auf dem Erkenntniswege (per modum intel lectus) 32. Der göttliche Logos wird unter verschiedenen Namen zunächst als ein dem Vater gleichwesentlicher Ausdruck der göttlichen Selbsterkenntnis ins Auge

gefaßt – das johanneische Verbum erat apud Deum' wird so gedeutet 33 sodann als das ideelle Urbild der Schöpfung. Dabei stützt sich Nikolaus auf die in den alten Handschriften stark verbrei

tete 34, von vielen Kirchenvätern 35, insbesondere von Augustinus 36 bevorzugte und auch z. B. noch von Eckhart beibehaltene 37 Lesart von Joh 1 , 3 f.: Quod

factum est, in ipso vita erat. Er erklärt dies : „ Alles, was geworden ist, war in 判

eben dem Worte in einer Weise Leben , wie es der Ewigkeit entspricht, nicht näm

lich in dinglicher Wirklichkeit (realiter) , sondern in geistiger Weise (intellec tualiter ). Denn unter den Stufen des Lebens nimmt das geistige den höchsten Rang ein. “ 38 4. In der Weihnachtspredigt des Jahres 1438 ( Predigt 13) steigert sich vor

allem das Bemühen um die exegetische Erschließung und eine darauf aufbauende spekulative Auswertung des gesamten Prologs. Sie hebt mit einem aus Fulgentius

entliehenen Lobpreis auf die Erhabenheit des göttlichen Wortes an. Mit Gebets worten aus den Soliloquien Augustins 39 und in Anlehnung an den Anfang der „ Himmlischen Hierarchie “ des Dionysius 40 ruft Nikolaus sodann das göttliche Wort oder Licht und den „Vater der Lichter “ um Erleuchtung an.

Die Disposition entnimmt dem Thema (Joh 1 , 14) drei Punkte : „ Erstens vom

Ewigen Worte, zweitens, wie Es Fleisch geworden ist, drittens, wie Es unter uns gewohnt hat. “ 41 Zur Erklärung dieser dreifachen Wahrheit entfaltet Cusanus sodann den theologischen Gehalt des dritten Weihnachtsevangeliums 42 in folg 31 Vgl. unten S. 78. 32 Damit sucht Cusanus jedoch auch den Hervorgang per modum naturae zu verbinden ; vgl . VE I 153—55.

33 S 2 (C 104', 10 f.; Vf I 155 ); vgl. S 6 (C 21 ", 54 f.) .

24 Vgl. z. B. E. Nestle, Novum Testamentum graece, ed. 18 , Stuttgart 1948, 22. 35 z. B. Klemens v. Alex., Irenäus, Tertullian (Nestle a. a . O.). 36 Augustinus , De Gen. ad litt. V, n. 14 (CSEL 28, I 157) : Emendatiores codices habent: quod factum est, in illo vita erat. 37 Eckhart , Expos. s. evangelii sec. Ioh. n . 61 (Lat. Werke III 50) . 9

3 S 2 ( C 104 ', 17 f.) .

39 Vgl . oben S. 13 .

40 De cael. hier. I, 1 (PG 3, 120 B ) wird hier nach dem Stil einer liturgischen Oration umgeformt. Dabei fließt auch Joh 1,9 mit ein. 41 S 13 (C 85*, 20). 42 4ž Ebd.: Pro ingressu ad ista Evangelium plane prius videamus. Das weitere nimmt 25

Der Johannes -Prolog

genden elf Punkten 43, die ebenso viele Aussagen über das göttliche Wort dar stellen :

„In diesem (Evangelium ) drückt er (Johannes) 1. die Gleichewigkeit des Wortes mit dem Vater aus, da er sagt: ,Im Anfang war das Wort ,

2. die vom Vater verschiedene Eigentümlichkeit und Personalität des Wortes, denn das Wort war bei Gott ,

3. die Gleichwesentlichkeit des Wortes mit dem Vater, denn Gott war das Wort', 4. die sich auf alles Sichtbare und Unsichtbare erstreckende Wirkursächlichkeit,

denn alles ist durch Es geworden, und ohne Es wurde nichts , 5. die ideelle Urbildlichkeit alles Heiligen (Gewordenen?) 44 im Worte, denn ,was geworden ist, war in Ihm Leben '. Die Kreatur hat nämlich ein wahreres Sein in Gott als in sich selbst. Deshalb wird die Erkenntnis im Wort ,Morgenschau ', die

(Erkenntnis) der Dinge in ihrer eigenen Gattung Abendschau' genannt, 6. die im Wort verbleibende Lebendigkeit des Geschaffenen, denn ,in Ihm war es Leben ,

7. die vom Wort in alles ausgegossene Güte (bonitas), denn das Leben war das Licht der Menschen“; deshalb besteht jegliches Geschöpf in der Teilnahme an der göttlichen Güte ;

8. die dem Johannes und den anderen Propheten inspirierte Klarheit, denn es war ein Mensch (von Gott) gesandt' usw., 9. die vom Worte angenommene Menschennatur (humanitas), denn das Wort ist Fleisch geworden',

10. die uns erzeigte Menschenfreundlichkeit (benignitas) des Wortes, denn Es hat unter uns gewohnt, und wir sahen ...',

11. das volle von uns dabei erlangte Heil (utilitas) 45 : ,voll der Gnade und Wahr heit' . “

J. Koch vermutet nun, dieser Text stamme samt und sonders aus einer einzigen Quelle, die innerhalb der Franziskanerschule des 19. Jahrhunderts zu suchen

sei 46. Dies scheint um so eher möglich, als Cusanus in dieser Predigt auch ver schiedenes ohne Zitation einer Predigt Klemens' VI . entnahm 47. Es wird jedoch unwahrscheinlicher, wenn man bedenkt, wie leicht sich diese Zusammenstellung

als eine Weiterentwicklung schon früher bei ihm vorhandener Ansätze und von einigen ihm nachweislich bekannten Quellen, insbesondere von dem Franzikaner Nikolaus von Lyra († 1349) her erklären läßt. Die ersten drei Attribute des Wortes finden sich nämlich nahezu wörtlich bei Lyranus : auf die drei Punkte keinen Bezug. Diese werden vielmehr durch die folgenden elf Leit sätze ersetzt .

43 Der lateinische Wortlaut ( C 85', 20—29) auch bei Koch , Vier Predigten 161 Anm . 2. 44 Sowohl in C wie in Vı ist eindeutig sanctorum zu lesen. Ob es factorum heißen sollte, ist zweifelhaft; vgl. VE I 156 ; Bohnenstädt, Predigten 337 Anm.

45 Vgl. S 36 ( C 133", 34 ): Qui sunt illi, qui utilitatem incarnationis consequuntur? 46 Koch , Vier Predigten 161 . 26

47 Vgl . oben S. 13 f.

Ein Programm christozentrischer Theologie

Primum est : Filii a Patre aeternam generationem, ibi : ,In principio erat Verbum ', secundum est : ipsorum personalem distinctionem 48, ibi : ,et Verbum erat apud Deum ', tertium est : Patris et Filii consubstantialitatem, ibi : ,et Deus erat Verbum',

quartum est : ipsorum coaeternitatem, ibi : ,Hoc erat in principio apud Deum.' 49

Die Unterscheidung der göttlichen Wirk- und Zielursächlichkeit hat Cusanus schon in einer seiner frühesten Aufzeichnungen von Thomas übernommen 50. Die Wirkursächlichkeit kommt, wie es in Predigt 6 heißt, der ganzen Trinität zu, da

deren Werke ungeteilt sind 51 , deshalb auch dem Sohne. Die Exemplarität ent spricht dessen Personeigentümlichkeit, denn Er ist das „Bild “ des Vaters 52, Schon in Predigt 2 wurde diese auch im gleichen Sinne wie hier in Punkt 5 und 6 erklärt 53. – Was hier von „Morgenschau “ und „ Abendschau “ gesagt ist, stützt sich auf eine Augustinus-Stelle, die bereits in Predigt 6 benutzt ist 54. – Daß das

Geschöpfliche in Gott wahreres Sein habe als in sich selbst, weist auf Anselms Monologion zurück 55. — , Dionysisch ist die Betonung der Güte Gottes als Schöp fungsprinzip und die Bezeichnung des Geschöpfes als mitgeteilte göttliche Güte. “ 56

Daß Nikolaus sich zur Abfassungszeit von Predigt 13 unmittelbar mit Anselm und Dionysius beschäftigte, zeigen Zitate aus beiden in dieser 57 und in der acht

Tage später entstandenen Predigt 14 , die sich angelegentlich mit Dionysius be faßt und Anselm in einem Atemzuge mit ihm nennt 58.

Die sprachliche Besonderheit, daß die elf Stichworte in den drei Endsilben gleichlautend (-itatem ) ausklingen , der Endreim, war bei der mittelalterlichen Predigtdisposition beliebt 59. Hier wird dadurch der programmatische Charakter der elf Sätze hervorgehoben und betont, daß es sich bei sämtlichen Aussagen um Attribute des göttlichen Wortes handelt 60. – In Predigt 37 griff Cusanus, wie 48 Cusanus formuliert: distinctam proprietatem et personalitatem, vermutlich um den 49 Nikolaus von Lyra , Prologus in S. Ioh.: Textus Bibliae etc. V 185 D. - Eine

bis zum 11. Punkt durchgehenden Endreim zu erreichen.

Meister ähnliche Einteilung gab auch schon Albert d. Gr. (B. XXIV 24 b ). Eckhart (Expos. S. evang. sec. Ioh. n. 35: Lat. Werke III 29 f. , vgl. S. 70) bietet bei der Formulierung des 2.-4. Attributes schon denselben Wortlaut wie Nikolaus von Lyra. 56 Vgl. Vf I 42. 51 S 6 (C 22 ', 12 ) .

52 Vgl. S 2 (C 104”, 19),S 6 (C 22', 13).

53 Vgl . oben S. 25.

54 Augustinus, De Gen. ad litt. IV, n. 22–24 (CSEL 28, I 122—24) ; vgl. Cusanus S 6 (C 21 ', 22) . Die Schrift De Gen. ad litt. wird bereits S 4 (C 81 ', 14) von Nikolaus zitiert.

55 Anselm , Monologion c. 36. Dieser Gedanke steht auch dort in Zusammenhang mit Joh 1,3f.

5 So Koch , Vier Predigten 161, mit Beziehung auf De div. nom. IV, 20 (PG 3, 717 f.) . 57 Dionysius wird S 13 , C 85', Z. 14 und Z. 38 zitiert. Die Bemerkung, daß Anselm , Gründe für die Trinität “ gesucht habe ( C 85 ', 54 ) , trifft auf das Monologion zu .

$$ $ 14 (C 103", 18 f.) : Quoad verum nomen, quod nobis indicare deberet, quid sit Deus, dicit Dionysius Deum innominabilem , ineffabilem , quia non intelligitur. Nam hoc solum habemus per Anselmum , quod Deus est ,melius, quam cogitari possit (Proslogion c. 5 u. 15 : Schmitt I 104 112). Hoc autem ,melius' est innominabile, si non est cogitabile . 59 Der junge Cusanus scheint diesen Kunstgriff sonst nur noch S 13, C 85", 1—3 und in S 15 (vgl. s. 71 Anm. 68) gebraucht zu haben. 60 Das setzt voraus, daß dieser Entwurf der Vorbereitung einer Predigt vor Geistlichen

in lateinischer Sprache dienen sollte. Das läßt auch der ausgesprochen theologisch -theo logiegeschichtliche Charakter des ganzen Sermo vermuten. 27

Der Johannes-Prolog

die erhaltenen Aufzeichnungen andeuten, im Jahre 1444 am Feste Johannes' des Evangelisten auf die sämtlichen elf Attribute des Wortes (conditiones Verbi) zurück 61. Einzeln stellen die elf Leitsätze sozusagen in der Folgezeit nach wirkende theologische Theoremata des cusanischen Denkens dar. Man ist versucht, sie in ihrer Gesamtheit als Programm einer christozentrischen Dar

stellung der gesamten Theologie zu bezeichnen .

Nach der besprochenen inhaltlichen Erläuterung des Prologs stimmt Nikolaus in Predigt 13 einen Lobpreis auf die Adlerhöhe des johanneischen Gedanken

fluges an. Zahlreiche Stimmen der angesehensten Lehrer, Exegeten und Prediger aus Altertum und Frühmittelalter läßt er dabei zusammenklingen 62. Vielleicht fanden die Predigtaufzeichnungen damit ursprünglich ihren Ab schluß 63. Das Folgende besteht in Zitaten aus scholastischen Autoren ( Peter von Tarantaise, Thomas von Aquin, Clemens papa') , die der begrifflichen und bild haften Erklärung der hypostatischen Einung dienen sollen 64. Gegen Ende ist noch eine Erläuterung zu den vorher aufgestellten Sätzen 5—7 (zu Joh 1 , 3f.) nach

getragen 65. Wir sehen hier anschaulich, wie Cusanus bemüht war, sein theologi sches Denken auf den Johannes-Prolog aufzubauen und die mittelalterliche Theologie der spekulativen Erklärung des Prologs dienstbar zu machen .

5. Zwischen Predigt 51 ( 1440—45) und Predigt 23 (25. März 1444) stehen in Vat. 1244 zwei bisher noch nirgends erwähnte Aufzeichnungen , von denen die erste (831a-v) von dem Kardinal nachträglich die Überschrift erhielt : Responsio de intellectu evangelii Iohannis: Quomodo ratio divina sit vita 66. Dieses Textstück beginnt als Brief mit den Worten : „ Ich gebe dir , zu, bester Freund, daß man die überaus tiefgründige Schrift, das Evangelium des ,hoch

fliegenden Adlers', nicht erschöpfend erklären kann, obschon ein jeder auf seine Weise

die sich von der eines anderen unterschied

etwas davon erfassen

kann 67. Deshalb verlangst du aber auch von mir vergeblich eine leichte Einfüh rung (ingressum) 68, es sei denn, daß du an meinem Erläuterungsversuch , wie er 61 S 37 (C 8', 6) : Declarat Evangelium XI conditiones Verbi.

62 S 13 (C_85 , 30—48). Im einzelnen werden hier eine Homilie von „Origenes ( Eriugena : PL 122, 285) sowie Homilien von Dionysius, Augustinus , Hieronymus, Am brosius, Gregor, Chrysostomus, Bernardus, Haymo (von Halberstadt) und Peter Damiani erwähnt .

63 Nach Koch (Untersuchungen 161 ) setzen mit V1 61 *b, Z. 25 ( =C 85', 1 ) „ Notizens ein. Die Predigt sollte jedoch schon von vornherein nicht mit der Erklärung des Evan geliums schließen ; vgl . C 85", 20 : Evangelium plane prius videamus. Lassen wir den zwei

ten Teil genauer schon mit C 85', 49 ( Item, quomodo Plato) beginnen, so kehrt in diesem die Gedankenfolge: Trinität, das Ewige Wort, die Menschwerdung wieder, jedoch ge stützt auf Zitate aus der scholastischen spekulativen Theologie. 64 C 85', 3—24 . 65 C 85', 28-51 . -

Die Ausführungen C 85 ", 49 — 85', 51 bilden also eine Gedanken sammlung zu den beiden ersten Punkten der angegebenen Disposition. 66 Das Autograph steht : C 125 - Y

67 Vgl . den Brief vom 22. 9. 1452 an Kaspar Aindorffer (Vansteenberghe ,

Autour 111): Inexplicabilis divinae Scripturae fecunditas per diverse explicatur, ut in varietate tanta eius infinitas clarescat ; unum tamen est divinum Verbum in omnibus relucens .

68 Vgl. S 13 (C 85', 20) : Pro ingressu ad ista . 28

Die Responsio de intellectu evangelii Johannis auch ausfällt, Gefallen findest. Nimm ihn also, wie ihn mir jetzt der Geist ein gibt, verständnisvoll hin. “ Johannes, der Theologe, so wird dann ausgeführt, zielt auf den Nachweis hin, daß Christus der Sohn Gottes ist und daß die, die an Ihn

glauben, das ewige Leben haben 69. Cusanus geht davon aus, daß nichts von allem, was ist, ohne Sinn -Grund (ratio) sein kann 70. Das Universum setzt also

einen Sinn -Grund voraus, der die Sinnhaftigkeit alles Geschöpflichen in sich faßt. Er nennt ihn Logos. Dieser Logos ist „ im Urgrund “ der Dinge „ beim Vater“ , fällt jedoch nicht mit diesem zusammen, weil Er „ bei“ Ihm ist, obwohl auch Er alles, was dem Vater als Vater zukommt, als dessen Abglanz besitzt. Da auch nichts ohne Sinn-Grund leben kann, muß schließlich dieser überreiche Sinn

Grund alles Geschöpflichen auch lebend, ja das absolute Leben selbst sein 71 . Diese Erklärung zu Joh 1,1–4 erinnert noch verschiedentlich an Predigt 13 , besonders an den letzten Nachtrag dazu 72. Denn dort herrscht schon derselbe Grundzug der Spekulation, der vom Geschaffenen zu dem einen Urbild auf

steigt und dies dann mit der zweiten göttlichen Person, dem Wort des Vaters, gleichsetzt. Anderseits setzt die hier gebrauchte Terminologie die Docta Ignoran

tia voraus 73. Es scheint sogar, daß Nikolaus bei der Abfassung dieses Briefes schon Anlaß hatte, die Koinzidenzlehre vor der Miſdeutung zu schützen, als fie len auch die göttlichen Personen unter sich zusammen 74. Die Offenbarungswahr heit der ersten Verse des Johannesevangeliums , beherrscht“ hier also die philo

sophische Spekulation über den Zusammenfall der Gegensätze und gibt ihr die dogmatische Orientierung, daß sich das Geheimnis Gottes nicht in simpler Ein heit auflöst, sondern in Dreieinigkeit besteht.

6. Gegenüber der ausgereiften Spekulation von De aequalitate – unter dem Motto : „ Das Leben war das Licht der Menschen “ – stellt auch noch die ,Respon sio eine bescheidene Skizze zu Joh 1,1–4 dar. Hier seien nur noch die einzelnen Entwicklungsstadien angedeutet, die zu diesem letzten großen cusanischen Ver such , den Inhalt dieser Verse zu erschließen, führten. Das war zunächst eine im

Jahre 1444 einsetzende intensivere Beschäftigung mit dem Johannes -Kommentar Eckharts 75, die unter anderem in den Predigten 133 und 134 – beide tragen das Motto : „ Das Wort ist Fleisch geworden“ – ihre Spuren hinterließ 76, sodann das in De mente ( 1450) noch in vorwiegend philosophischer Betrachtungsweise be

ginnende Bemühen, den Geist als „ lebendiges Bild“ Gottes zu deuten 77, das in 89 Vgl. Joh 20, 31 ; De acqualitate (V2 261 **) . 70 Vgl . Chalcidius , In Platonis Timaeum , ed.'Wrobel, Leipzig 1876, 28 A : Nihil enim fit, cuius ortum non legitima causa et ratio praecedat. 71 In den daran anschließenden Aufzeichnungen ( V183va -b), die der Kardinal als — viel Notizen bezeichnet (notata et bona ) , wird die leicht von anderswoher übernommene

Heilsnotwendigkeit betont,die durch Christus mit seinem Blute bezeugte Offenbarung zu 72 Vgl . Vf I 156–58 . glauben. 73 Das zeigen die Worte coniectura und coincidere. An die Stelle von „ Vorbegriff“ (praeconceptus, S 13) ist hier „ Sinn -Grund“ (ratio) getreten. 74 Dieses Schriftstück kann deshalb frühestens i. J. 1440 entstanden sein. Man mag es ungefähr auf das Jahr 1444 ansetzen .

75 Vgl . Koch , Vier Predigten 34—55. 76 Vgl. ebd. 72–83 167–173. 77 Vgl . Vf I 184–194 . 29

Die „ dreifache Geburt “ Christi

den Predigten bis zum Jahr 1457 mehr und mehr die psychologische Trinitäts

lehre des hl. Augustinus in sich aufnimmt und in De aequalitate seinen Höhe punkt erreicht 78. Dazu kommt schließlich noch die zunehmende Einwirkung neu platonischen Geistesgutes 79. Das alles faßt Cusanus in dem Traktat De aequalitate 80 zusammen , um eine

möglichst gründliche „ Einübung des Verstandes “ 81 zum Eindringen in die ge beimnis-vollen Anfangsworte des Johannesevangeliums zu geben .

II . DAS THEMA DER DREIFACHEN GEBURT

Als Dispositionsschema der Weihnachtspredigt liebte der junge Nikolaus von Kues das Thema der „ dreifachen Geburt“ oder der „ drei Geburten des Sohnes Gottes “ .

1. „Auf drei Dinge möchte ich der Reihe nach zu sprechen kommen“ , sagt er schon „ am Feste der Geburt des Herrn 1431 in Koblenz vor dem Volke “ 1 : ,,erstens auf das Wort und dessen ewige Zeugung, zweitens, weil dieses ,Fleisch geworden ist , auf seine mehr als wunderbare zeitliche Geburt, und, weil Es ,unter uns gewohnt hat', darauf, wie Es geistig in uns geboren werden könne. “ Zusam menfassend nennt dies Nikolaus dann die dreifache Geburt “ ( triplex nativitas) 2. »

Auch in Predigt 6 heißt es nach Aufzählung der ewigen Zeugung sowie der zeitlichen und geistigen Geburt : „ In der Nacht um die Krippe des Erlösers sitzend, laßt uns nach Kräften diese drei Dinge betrachten .“ 3 Nach prunkvoller Einleitung erscheint dasselbe Thema in Predigt 16 ( Dies sanctificatus): „ Drei Geburten des Sohnes Gottes sind es, deren Fest wir heute feiern. Da ist die ewige Geburt, die in der Tiefe der (göttlichen ) Erkenntnis ver borgen liegt ..., die Geburt, durch die das Wort Fleich geworden ist',... und drittens die, durch die wir in der Fülle seines Lichtes in Ihm als Kinder Gottes

geboren werden, wenn wir uns Ihm fromm nahen. “ 4 Der reiche Inhalt der damit umschriebenen Glaubenswahrheiten ließ sich je doch nur unbefriedigend in einer einzigen Predigt zusammendrängen. So kam Nikolaus Weihnachten 1444 in Mainz , bei einem Triduum kurz auf die drei

fache Geburt zu sprechen “ 5. Dabei ging er auch zum erstenmal von der bisherigen Gedankenlinie ab, indem er am ersten Weihnachtstag die geistige Geburt, am

zweiten die zeitliche, am Feste Johannes' des Evangelisten die ewige Geburt be 78 Vgl . Vf I 176—184 .

79 Vgl. die Einführung von Feigl und die Anmerkungen von Koch zu er wenig späteren Schrift „ Über den Ursprung “. 80 Zum Begriff aequalitas s. unten S. 167 .

81 De aequalitate (V1 261" ); vgl . De principio (V2 252 " ). 1 S 2 (C 104', Überschrift). 2 S 2 (C 104 ", 22—26) . — Nur die Ausführung des 1. Punktes ist erhalten. 3 S 6 ( C 21 ', 30) . 30

* S 16 (H 10) .

5 S 33 (C 136', 8) .

als Thema der Weihnachtspredigt

handelte. Wie sehr er damals um die Motivierung und Durchführung dieser Gedankenentwicklung rang, zeigen nicht weniger als drei Dispositionen, von denen zwei in Predigt 33 “ und die endgültige in Predigt 34 enthalten sind. Der erste Entwurf bereitet, auf einen angeblichen Ambrosius-Text 6 gestützt,

die Umkehrung durch die Unterscheidung einer dogmatischen und einer ethischen Betrachtungsweise der Geburt Christi“ vor : „ Dogmatisch ist das, was seine zeit liche und ewige Geburt betrifft “, ethisch , was unsere Geburt angeht. Wir müssen 2

nämlich wiedergeboren werden, wie der Erlöser sagt.“ 7 Danach kündigt Nikolaus an, daß er die drei Themen im Anschluß an die drei Evangelien des Weihnachts festtages in der besagten Reihenfolge der geistigen, zeitlichen und ewigen Geburt ausführen wolle 8.

Die beiden folgenden Dispositionen stehen (wie in Predigt 16) unter dem Motto : „Der geheiligte Tag ist uns aufgeleuchtet“, und führen von der gnaden

haften Erleuchtung und Wiedergeburt, die durch Christus geschieht, über das in Christus aufleuchtende göttliche Licht zu Christus als dem „ Glanz des ewigen Lichtes " : empor. Die Anlehnung an die drei Evangelien blieb dabei bestehen , wie die in Predigt 34—37 enthaltenen Ausführungen zu den drei Punkten zeigen 10

Merkwürdigerweise ist dies aber das letzte Mal, daß Cusanus von der drei fachen Geburt sprach. Zu Ostern 1448 taucht nur noch wie ein Echo das Motiv von ,,drei Tagen“ auf : Der erste „Tag “ ist der Logos, der „ im Ursprung “ ist; der zweite ist das im Universum widerleuchtende göttliche Licht, das in der Mensch

werdung des Wortes Gottes seine Vollendung erreichte; der dritte „ Tag“ ist die 9

Auferstehung mit Christus 11. Danach hört man von dem Thema, mit dem sich Nikolaus anfangs so eifrig beschäftigte, nichts mehr.

2. Überall, wo der junge Cusanus auf die drei Geburten zu sprechen kommt, setzt er dazu auch die drei Weihnachtsmessen oder aber die drei Evangelien in Beziehung. In Predigt 2 heißt es : „Diese dreifache Geburt wird durch die heutigen drei Messen bezeichnet. Die erste (Geburt geschieht) mitten im Dunkel der für die

menschliche Fassungskraft unbegreiflichen Gottheit, die zweite in der Morgen frühe (aurora) ; sie hat teil an der Klarheit und teil an der Dunkelheit, entspre chend der göttlichen und der menschlichen Natur. Die dritte (vollzieht sich ) am

klaren Tage, denn Christus wird durch die Gnade im gegenwärtigen und durch . In Wirklichkeit ist es der Epheserbrief-Kommentar des Theodor von Mops vestia ; vgl. oben S. 15 f. ? S 33 (C 136', 6 f.) .

8 S 33 (C 136', 9–11 ) .

. So S 33 (C 136', 27 ) ; vgl. Weish 7 , 26. 18 Predigt 34“ behandelt die geistige Geburt (C 132", 1 – 133", 28). C 133", 29—42 ist schon zum 2. Thema (der zeitlichen Geburt) zu rechnen und gehört somit auch schon zu „ Predigt 36" (C 133 ) . Der zweite Entwurf zum 2. Thema steht C 134 ', von Koch als , Predigt 35 “ bezeichnet. Die Aufzeichnungen zum 3. Punkt sind, wie die Über schrift zeigt , in der Predigtskizze 37 (C 8") erhalten. Vgl. unten S. 38. 11 S 69 (V229 *—3076) .

31

Die „ dreifache Geburt “ Christi

die Herrlichkeit im zukünftigen (Leben) 12 nur in klaren und ganz reinen Herzen geboren .“ 13 Predigt 6 sucht zunächst an die drei Weihnachtsevangelien anzuknüpfen : „ Das erste Evangelium der nächtlichen Messe handelt von den Aufzeichnungen eines Menschen , nämlich des Kaisers Augustus, das zweite in der Messe bei Sonnen aufgang von dem Worte der Engel, das dritte von dem Wort, das im Ursprung bei Gott war'.. Es gehört zu der Messe, die auf dem ganzen Erdenrund gesungen wird, wenn die Sonne am Himmel steht. “ 14 Das Folgende verdeutlicht die darin

liegende Steigerung : „Die Einsicht ( intellectus) des Menschen ist dunkel und nächtlich , die des Engels klar wie die Morgenfrühe, die göttliche ist wie die Sonne selbst, sie erleuchtet jeden Menschen , der in diese Welt kommt' . “ 15 – Aber das würde zu der umgekehrten Reihenfolge der drei Geburten führen, bei der die geistige den Ausgangspunkt bildet 16. Deshalb kehrt Nikolaus, um die dogma tische Gedankenfolge zu wahren, bei der folgenden Disposition der Predigt 17 -

zu der Motivierung in Predigt 2 zurück .

Auch Predigt 16 bleibt hierbei 18. Erst im Triduum des Jahres 1444 entschied sich Cusanus dazu, nach dem schon in Predigt 6 entworfenen Plane an Hand der

drei Weihnachtsevangelien von der geistlichen Geburt über die zeitliche zur ewigen hinzuführen 19.

In den Predigten 6 und 16 verbindet sich mit dem Thema der dreifachen Ge burt ein zweites Nebenmotiv. Es besteht in der Abstimmung der drei Predigt teile auf drei Zuhörerstufen. Nikolaus hielt das auch sonst öfter so 20, weil er als Prediger „ für die verschiedenen Stände Brot backen wollte “ 21 .

In Predigt 6 sagt er : „Zuerst wollen wir, so gut wir können , für schärfere Den ker (pro intelligentibus) die ewige Geburt des Sohnes Gottes ins Auge fassen,

dann für die Allgemeinheit (pro communibus) die zeitliche und zuletzt für die Beschaulichen (contemplativi) die geistliche Geburt. “ 22 In Predigt 16 ist nur das ,pro intelligentibus' verändert zu ,pro peritioribus' (für die Kundigeren) 23. Die für jeden Christen grundlegende Bedeutung der Inkarnation, die Schwie rigkeit eines allgemeinen Trinitätsverständnisses sowie die mystisch -aszetische 12 Dem jungen Cusanus fließt diese liturgische Formulierung (vgl. Sekret zur Oration A cunctis) in Predigt 1 dreimal, in Predigt 6 zweimal wörtlich oder in Anklängen in die Feder .

13 S 2 (C 104 ", 26—29) .

14 S 6 (C 21 ', 20 f.).

15 S 6 (C 21 ', 22 f.) .

16 Auch darin besteht gegenüber Predigt 2 eine Umkehrung, daß dort das Geheimnis Gottes und das Licht, in dem sich die Wiedergeburt vollzieht, hier die Lichthelle Gottes

und das Dunkel der menschlichen Erkenntnis betont wird. 17 S 6 (C 21 ", 27—30 ). 19 Vgl . oben S. 30 f. 18 S 16 (H 10).

20 Vgl. Š 69 (V2 29**) : Secundum consuetudinem meam faciam primam partem pro doctis, ... secundam pro simplicibus ... tertiam pro devotis.

21 S 32 (V1 135" ): Facere panes pro variis statibus nobilium, mediocrium et infiriorum . 22 S 6 (C 21', 30 f.).

23 S 16 (H 10 ); vgl. S 8 (C 29*, 9—21): Ad sapientes — ad populares – pro contempla tivis ; S 31 (Vı 135**) : instructiores ecclesiastici – saeculares

contemplativa vita . In

Predigt 69 wird eine solche Zuordnung das letztemal gehandhabt. Außer S 32 kommt sie nur in Festpredigten vor. 32

als Thema der Weihnachtspredigt

Zielsetzung, die Nikolaus mit dem Worte „ geistliche Gottesgeburt“ verknüpft, finden durch diese Zuordnung bezeichnenden Ausdruck 24.

3. Welche Quellen lassen sich nun für die beiden Nebenmotive sowie für die cusanische Thematik der dreifachen Geburt feststellen?

Nach J. Ritter würde es sich bei Predigt 16 um ein „ Deutungsverfahren Eck hartscher Herkunft “ handeln, das „ von dem, was allgemein verständlich ist (pro

communibus), über das, was dem mehr Erfahrenen zugänglich ist (pro peritiori bus) “ , zu dem hinführt, was sich allein dem der Betrachtung Fähigen enthüllt 9

(pro contemplativis) “ 25.. – Daran ist nur richtig, daſ sich hier „in drei Stufen ( das Mysterium der Gotteinung erschließt “. Die von Ritter bezeichnete Stufen

folge stimmt wohl mit der Osterpredigt des Jahres 1432 26, in etwa auch mit dem Weihnachts - Triduum von 1444 , aber mit keiner der Predigten 2, 6 und 16 über ein . Diese setzen vielmehr mit der Enthüllung des Gottes-Mysteriums für die

Kundigeren ein, und die geistige Geburt wird so (von oben her) erklärt, daß das im Dunkel der Gottheit verborgene Geheimnis des Lichtes durch Christus das Dunkel der menschlichen Fassungskraft erleuchtet. Es ist auch unersichtlich, inwie fern bei Cusanus ,alle drei Geburten ihr Wesen und ihre Mitte in der geistigen“ haben sollen. In der Mitte “ steht jedesmal als gleichbleibendes Subjekt der Ge burt die Person Jesu Christi und in der Reihe der nativitates die vermittelnde

zeitliche Geburt, während die ewige den Ausgangspunkt und die geistige das Ziel der Inkarnation darstellt. – Die Berücksichtigung von drei Zuhörerkreisen konnte Cusanus auch bei Origenes finden 27.

Noch schwerer faßbar wird ein unmittelbarer Einfluß Eckharts auf die Dispo sition der drei genannten Predigten dadurch , daß sich sowohl die Deutung der drei Weihnachtsmessen wie die Klimax Nacht - Morgenröte — Tag und auch das

Thema der dreifachen Geburt überzeugender auf andere Quellen zurückführen läßt .

Von der Feier der drei Messen am Weihnachtstage spricht schon Gregor d .

Gr.28. Hugo von St. Viktor legte ihre Feier in der Nacht, in der Morgenfrühe (aurora) und am vollen Tage heilsgeschichtlich auf die Zeit vor dem Gesetz, unter dem Gesetz und unter der Gnade aus 29. Die unter Hugos Werken gedruck ten Miscellanea enthalten in einer Fassung 30 folgende Erklärung : Die erste 24 S 33 (C 136", 11 ) wird angekündigt, über die geistliche Geburt solle ,cum aliquali

dulci contemplatione' gesprochen werden. 25 Ritter , Stellung 132 .

25 S 4 (C 81 ', 20—25 ): Pro communibus – pro peritis – pro contemplativis ; vgl. S 10

( C 51', 13) ; dort unterscheidet Cusanus:11,363 incipientes und perfecti inquique contemplation e. aedificentur... B C) : utsimpliciores 27 Origenes , Ilepl aprov IV, 11 (PG sic enim appellamus communem istum et historialem intellectum ; si qui vero aliquantum iam proficere coeperunt ...; qui vero perfecti sunt ... , tamquam a spiritu aedificentur.

23 Gregorius M. , Homiliae in Evangelium lib .I, hom . 8 ,n .1 : Quia largiente Domino Missarum solemnia ter hodie celebraturi sumus (PG 76, 1104 A) ; vgl. H. Frank : LThK X 778 .

2 Hugo von St. Viktor, De officiis ecclesiasticis lib. III, c. 5 (PL 177, 441 CD) . 30 Miscellanea II, lib. V, tit. 22 ; gedruckt in Hugonis de S. Victore Opera omnia (Mainz 1617 ) III 224 a. Diese Ausgabe bietet einen in manchem von PL 177 abweichenden Text. 3 Haubst, Nikolaus v. Kues

33

Die , dreifacheGeburt“ Christi

Messe ist „zur Ehre der Geburt, in der Gott der Vater Ihn (den Sohn) aus der Verborgenheit seiner Substanz zeugte“ , die zweite „ zum Gedächtnis jener, in der

durch den Schoß der Jungfrau der gepriesene Sohn, wie man bis zur Menschwer dung gläubig erwartete, kommen sollte. Die dritte feiert man am Tage, an dem die Kirche, nicht daß Er kommen werde, sondern daß Er gekommen ist, jubelnd verkündet “ .

Diese Texte gehören offensichtlich noch in die entferntere Vorgeschichte der

Formulierungen , wie sie die cusanische Predigt 2 enthält. Sie gehen nämlich noch von dem festen Schema der zweifachen Geburt aus und nehmen die heilsgeschicht liche Unterscheidung der Erwartung und der Ankunft Christi zu Hilfe, um zur

Dreiheit zukommen. Cusanus aber spricht ausdrücklich von einer dreifachen Ge burt desselben Wortes, wobei die dritte ,in uns“ geschieht.

In dem schon früh (in einer Handschrift von 1287 ) Albert d. Gr. zugeschriebe nen Compendium theologiae veritatis des Hugo (Ripelin) von Straßburg 31 findet sich dann ein Kapitel 32, das bereits mit den Worten beginnt: Nativitas Christi triplex est. Die Dreizahl der Geburten wird dort durch sechs Ternare erläutert. Danach heißt es , die Kirche stelle die drei Geburten durch die drei Weihnachts

messen in der Nacht, in der Morgenfrühe (aurora) und „am Tage “ dar ; die zweite Messe werde in der Morgenfrühe gefeiert, „weil die menschliche Geburt

teils verborgen, teils offenkundig war “ . Von diesem Kapitel ist Predigt 2 offenbar irgendwie abhängig 33. Der Schluß

auf unmittelbare Abhängigkeit wäre indes verfrüht, denn es ist zu beachten, daß diese Ausführungen des Hugo Ripelin sowohl bei den Dominikaner- wie bei den Franziskaner-Predigern Schule machten. Johannes Tauler († 1361 ) legte seiner Predigt über das Thema der dreifachen Geburt insbesondere die angeführte Deutung der drei Messen zugrunde 34. Bernhardin von Siena († 1444) konnte sich bei seiner Predigt „ Über die dreifache Geburt“ auch schon an seinen franziskani schen Ordensbruder Hubertinus de Casali anlehnen 35, er schöpfte jedoch vor 9

allem unmittelbar aus Ps. -Albertus 36.

Ob Cusanus die Predigt Bernhardins oder das Compendium oder beide unmit telbar kannte, ist hiernach wohl kaum zu entscheiden 37. Deutlichere Anzeichen

weisen auf eine freie Benutzung der 1. Weihnachtspredigt des Johannes Tauler hin 38. In dieser Predigt spricht Tauler auch davon, daß die geistliche Geburt 31 Vgl. Ueberweg - Geyer 416.

32 lib. IV, c. 11 (B. XXIV 134 a). 33 S 6 (C 21 ', 18—31) verquickt die Disposition von S 2 mit anderem. Der Satz: Intel lectus hominis est tenebrosus et nocturnus , intellectus angelicus clarus ut aurora, divinus

ut ipse sol (Z. 22) , weist z. B. auf Augustinus, De Gen. ad litt. IV, 23 (CSEL 28 , I 122 f.) zurück . 34 Tauler , Erste Weihnachtspredigt (I 89 f.). 35 Bertagna , Christologia 23 f. 36 Bernhardin , De triplici nativitate Christi(ed. 1650) IV , 2,a ; vgl. Bertagna 23 f. caro 37 Mit Bernhardin stimmt Cusanus in der Anwendung des Themas ,Verbum factum est — et habitavit in nobis' auf die dreifache Geburt überein. 38 Vgl. insbesondere S 2 (C 104", 26—28): Prima (nativitas) in media obscuritate (nach getragen : humanae capacitatis) incomprehensibilis divinitatis ..., tertia in die clara, und: „ Diese Messe bedeutet die verborgene Geburt, die geschah in der finstern Verborgenheit unerkannter Gottheit ... Die dritte Messe singet man an dem klaren lichten Tag “ (Tauler I 89 f.) . 34

Zur Vorgeschichte dieses Themas

alle Tage“ geschehen solle, indem Gott in der ihm zugekehrten Seele geboren werde 39. So läßt sich selbst die Herkunft dieses Gedankens in der Cusanus-Pre

digt 40 noch ohne greifbare Abhängigkeit von Eckhart erklären 41. 4. Blättern wir nun nochmals das Buch der Geschichte zurück, um eine dogmen historische Einreihung des Themas der dreifachen Geburt zu versuchen. Augustinus und Fulgentius war es geläufig, der ewigen und zeitlichen Geburt

des Logos Geburt und Wiedergeburt des Menschen (als Geburt aus Gott) gegen überzustellen 42. Im gleichen Sinne ging auch schon früh unter den Kirchenvätern die Formel um : Gottes Sohn ist Menschenkind geworden, damit die Menschen Kinder Gottes werden 43. Dabei wird die Erlangung der Gotteskindschaft von der

Inkarnation ursächlich abhängig gemacht. Aber die gnadenhafte Geburt wird nicht dem Logos, sondern den Empfängern der Gnade zugeschrieben. Der Begriff einer dreifachen Christusgeburt wurde deshalb entscheidender durch Äußerungen vorbereitet, wie sie z.z B. schon der Brief an Diognet enthält, in dem es heißt, daß der Logos „immer von neuem in den Herzen der Heiligen geboren werde “ 44,

oder durch den von Leo d . Gr. ausgesprochenen Gedanken, daß der Christ „an der Geburt Christi Anteil erlange “ 45, oder auch dadurch, daß man, wie Cyrill von Alexandrien 46, die Inkarnation wegen der dadurch zustande kommenden Verwandtschaft mit Christus dem Fleische nach als „den Übergang für die Aus breitung der göttlichen trinitarischen Vaterschaft “ 47 betrachtete. Im Frühmittelalter und bis in die Hochscholastik bildeten die „ zwei Geburten

Christi “ eine feste Formel . Daß der Sohn des Vaters zwei Geburten habe, wurde

durch das Symbolum fidei Leos IX. (D 344) definiert und auf dem Konzil von Lyon ( 1274 ) in die Professio fidei des Michael Paläologus (D 462) übernommen .

Petrus Lombardus widmete der Frage der doppelten Geburt ein eigenes Kapitel, in dem er sich für die bejahende Antwort auf Augustinus und Fulgentius berief 48. Noch Bonaventura 49 und Thomas 50 beschäftigten sich in ihren Sentenzenkom mentaren damit, ohne die Frage einer dritten Geburt“ in Erwägung zu ziehen, 39 Tauler I 90. Zur Lehre der Kirchenväter vgl . H. Rahner , Geburt aus dem Herzen : Gloria Dei 4 ( 1949) 89—99.

40 S 6 (C 22', 7) : talis quotidiana spiritualis nativitas.

41 Eher ist bei den Ausführungen in Predigt 34 über die tägliche Geburt im göttlichen Lichte an Eckhart zu denken ; vgl . unten S. 37 f .

42 Augustinus, In loh. tr. 2, n. 15 (PL 35, 1395 ); Fulgentius , De fide ad Petrum c. 2, n. 10 ff. (PL 65, 676 C ff.); vgl. dessen Predigt über die zweifache Geburt (PL 65, 726–29 ).

45 Außer den in Anm . 42 genannten Stellen vgl. z. B. Irenäus , Adv. haer. III , 16, 3

( PG 7 , 922 B C) : Filius Dei hominis filius factus est, ut per eum adoptionem percipiamus. Zur irenäischen „ Tauschtheologie “ vgl. Scharl 48 f., zu seiner Lehre von der vlodeola

L. Baur, Untersuchungen über die Vergöttlichungslehre: ThQschr 101 ( 1920) 45—47 157 . 44 Ad Diognetum c. 11 : Patrum Apost . opera 1 , 2, 163.

45 Leo M., In nativitate Domini , sermo 1 , c. 1 (PL 64, 192 C ). 46 In evang. Ioh. 1 , 14 (PG 73, 161 C- 164 A) ; vgl . M. J. Scheeben , Die Mysterien des Christentums, 3. Aufl., Freiburg i. Br. 1911 , 328 f . 47 Vgl. Scheeben ebd. 332 (im Anschluß an Vätertexte). 48 Petrus Lomb . , Sent. III d . 8 , c. 2 (590) .

49 Bonaventura , In Sent. III d . 8, a. 2, q. 1–3 ( III 191—197) . 56 Thomas v. A q., In Sent. III d. 8, a. 4 (III 289 f.). * 3

35

Die , dreifache Geburt“ Christi

obwohl sie die gnadenhafte Gotteskindschaft in besondere Beziehung zur Gottes sohnschaft Christi bringen 51.

5. Durch diesen Überblick werden wir auf die Frage hingelenkt, was eigentlich Nikolaus von Kues selbst unter der dritten Geburt“ Christi versteht. Wir möch

ten hier jedoch nur vorläufig darauf eingehen und im Rahmen dessen bleiben , was er selbst in den genannten Predigten bis zum Jahre 1444 ausführt.

In Predigt 2 will er erklären, wie das Wort ,in uns geistig geboren werden könne“ . Dazu ist nur die kurze Erläuterung erhalten : „ durch Gnade im gegen wärtigen und durch die Herrlichkeit im künftigen (Leben )“, und nur in ganz reinen Herzen“ 52.

Predigt 6 geht ausführlich auf die dritte, geistige Geburt Christi in uns “ ein : „Man muß wissen , daß eine solche tägliche geistige Geburt, die man gewöhnlich

als unsichtbare Sendung des Sohnes Gottes bezeichnet, nichts anderes ist als der Hervorgang (processus) des Wortes oder der gezeugten Weisheit von Gott dem Vater zum Geist (mens) einer vernünftigen Kreatur zu deren geistiger und gna

denhafter Erleuchtung. Denn wenn auch das Wort Gottes und die göttliche Weis heit und zugleich die ganze Dreieinigkeit überall und in jeder vernünftigen Krea

tur der Wesenheit nach ist, ,von einem Ende bis zum andern machtvoll reichend und alles gütig durchwaltend' (Weish 8, 1 ), so ist sie dennoch nicht überall durch gnadenhaftes Licht. Wenn also in einem dunkeln Geiste ein derartiges göttliches Licht entsteht oder wenn in einem weniger erleuchteten Geiste ein größeres Licht aufgeht, so kann man zutreffend sagen, der Sohn Gottes werde geboren. Obwohl dieses Werk nämlich der Wirkursächlichkeit nach von der ganzen Drei

einigkeit ausgeht, so wird es doch zu Recht dem Sohne zugeeignet (appropria tur. “ 53 „ Durch eine solche geistige Geburt gewinnt auch der Sohn Gottes nichts

hinzu, aber die , in denen Er geboren wird, werden zu Kindern Gottes ,durch Gnade im gegenwärtigen und durch die Herrlichkeit im zukünftigen' (Leben ). Das ist nämlich im Evangelium enthalten, daß Gott uns so ,die Macht gab, Kinder Gottes zu werden “ (Joh 1 , 12) . “ 54 Stellen wir diesem Text einmal einen Satz gegenüber, in dem Eckharts „ Ver gottungs-Mystik“ zum Ausdruck kommt : „Der (menschliche) geist gebirt mit dem

vater den selben eingebornen sun und sich selber den selben sun und ist der selbe sun in disem liehte und ist diu wârheit“ 55, so sehen wir, wieweit sich Nikolaus von Kues von den Übersteigerungen Eckharts fernhält, der den menschlichen Geist bis zum Mitvollzug der trinitarischen Zeugung erhebt. Cusanus scheint uns hier vielmehr bewußt daran zu sein, die Lehre von der Gottesgeburt im Men schen durch scholastische Begriffe zur Nüchternheit kreatürlicher Theologie, näm lich der des Menschen im Glaubens- und Gnadenlichte, zurückzuführen : Um die Geburt Christi im Geiste seiner Jünger von der ewigen Geburt klar abzugrenzen, bezeichnet er diese zunächst als Sendung des Wortes Gottes und 51 Bonaventura , In Sent. III d. 10, a. 2, q. 2, concl. (III 236) ; Thomas v. A q., S. theol. III , q. 3, a. 5, ad 2 (III 40). 58 S 6 (C 22', 7-13) ; vgl. unten S. 89. 52 S 2 (C 104", 25 28). 55 Eckhart, Predigt 2 (Deutsche Werke I 41 ) . 54 S 6 (C 22', 15–17 ) . 2

36

Seine ,dritte, geistige Geburt in uns “ genauer als eine Gnadenwirkung, auf Grund deren man von einer Sendung oder

Geburt des Sohnes Gottes sprechen kann, und das nur im Sinne einer auf der Ahnlichkeit der Wirkung mit den Personeigentümlichkeiten des Wortes beruhen den Appropriation. Auf diese Weise hat Cusanus in der Tat den Predigtgegenstand der dritten

Geburt auf ein Minimum reduziert, und zwar dadurch , daß er diese nicht zur

zweiten, sondern lediglich zur ewigen Geburt in Beziehung setzte, obwohl er

unmittelbar zuvor auch von der zeitlichen Geburt sprach. Betrachtet man nämlich die geistige Geburt, wie oben angedeutet, als eine Ausbreitung der Gottessohn schaft Christi über die Glieder des mystischen Leibes, so bildet die Menschen natur Christi eine Vermittlung der geistigen Geburt, die nur und im eigentlichen Sinne Ihm zukommt, und die neuen Glieder sind sein Gewinn. Doch gerade das war ein Weg, auf dem Eckhart zu weit gegangen und zurückgerufen worden war (D 511 ) . Alles in allem lassen sich also die cusanischen Ausführungen in Predigt 6 eher

als eine kritische Auseinandersetzung mit Eckhart denn als im typischen Sinne , eckhartisch “ bezeichnen.

Predigt 16 erklärt zu den „ drei Geburten des Sohnes Gottes “ , daß wir „ in Ihm als Kinder Gottes geboren werden“ 56.

Die Weihnachtspredigt 1444 behandelt nochmals ausführlich das Thema der dritten , geistigen Geburt: „ Es gibt eine Geburt Christi, durch die Er in uns geistig

oder im Geiste täglich geboren wird, so wie im Unwissenden die Wissenschaft und Wahrheit. Die Wahrheit aber ist ein Licht des intellektualen Geistes, der

Geist ein Bild des Lichtes; denn Gott ist Geist (Joh 4 , 24 ) und Licht, in dem es keine Finsternis gibt' ( 1 Joh 1,5) . Kinder des Lichtes' (Joh 12, 36 ) oder Söhne Gottes werden wir also, wenn der Glanz des Lichtes' (Weish 7 , 26) das Innere des Geistes erleuchtet und ins Licht rückt. „Dann werden wir Ihm ähnlich sein' >

( 1 Joh 3, 2), der das Licht vom Lichte' 57 ist, und so wird Er täglich im Geiste

,heiliger Seelen' (Weish 7 , 27 ) geboren .“ 58 Daß Nikolaus hier bewußt an Predigt 6 anknüpfte, zeigt ein Nachtrag, der dieser Predigt entnommen ist. Hier tritt jedoch neben dem dogmatischen der ethisch -aszetische Gesichtspunkt in den Vordergrund, daß die Gottesgeburt im Geiste täglich geschehen solle. Zugleich bricht hier bereits – aus dem Vergleich

der geistigen Empfängnis in der Seele mit der jungfräulichen Mutterschaft Mariens 59 — die grundlegende Konzeption der Schrift De filiatione Dei durch : -

, Wenn der vernünftige Geist ... alles durchwandert hat, um den Erdkreis und

56 S 16 (H 10 ; vgl . 38) .

57 Vgl . Symb. Nicaenum (D 54).

58 S 34 (C 132", 2–6). Zu diesem Abschnitt vgl. Eckhart, Predigt 2 (Pfeiffer S.11 , 10 ff. 32 ff.) sowie z . B. Predigt 3 (ebd . 16 20 ). 59 S 34 (X 132", 12 f.) : Tunc in ipsa anima Maria virginans , scilicet anima habens affectum praegnantem de Spiritu Sancto, quem in doctrina Christi recepit, quia illuminata,

venit ad plenitudinem temporis et parit ,filium primogenitum (Lc 2 ,7 ) . Vgl. Tauler, Erste Weihnachtspredigt (I 89). Zur Vorgeschichte dieses Vergleiches bei den Vätern, be sonders bei Origenes und Ambrosius , s . H. Rahner , Maria und die Kirche, Innsbruck

1951 , 75–84; über seine Bedeutung in der „ Marienfrömmigkeit des hl. Franziskus von Assisi “ s. K. Esser : WW 17 (1954) 181–184 . 37

Die „ dreifache Geburt “ Christi

alles Geschaffene zu beschreiben , und schließlich zu sich selbst zurückkehrt und

betrachtet, daß ... seine Schönheit ein Abbild des unsterblichen Lebens ist, ver läßt er alle diese irdischen Lüste und wendet sich dem Abglanz des Lebens zu,

um von diesem erleuchtet zu werden ; und das ist die Gotteskindschaft ... Es ist nämlich nichts anderes, daß in dir die Erlösung ist, als daß du erlöst bist; daß in dir das Licht gezeugt ist, als daß du erleuchtet bist ; daß in dir das Leben gezeugt ist, als daß du lebst. “ 60

Nikolaus begann sich im Jahre 1444 näher mit Eckhart zu beschäftigen. Dessen Einfluß wird denn auch schon in Predigt 34 spürbar 61. Unter anderem konnte

Nikolaus auch die Gleichsetzung der Gottesgeburt in der Seele mit der Wieder geburt aus Gott von ihm übernehmen : „ Da gebirt der vater in sie sînen ein gebornen sun, und in der selben geburt wirt diu sêle wider in got geborn. Daz ist ein geburt, als dicke si widergeborn wirt in got, sô gebirt der vater sînen ein gebornen sun in sie. “ 62 Vom Jahre 1445 an wird sich Nikolaus noch oft und intensiv mit dem Thema

der Gottesgeburt in der Seele beschäftigen . Ein abschließendes Urteil über die Gründe dafür, daß kein Wort mehr über dreifache Geburt“ fällt, kann erst am Ende der Untersuchung seiner Lehre über die Gotteskindschaft stehen. Aber so viel läßt sich bereits sagen :

Das Motiv der dreifachen Christus- Geburt ist eines der sprechendsten Zeug

nisse für die über die Docta Ignorantia hinausreichende Verwurzelung im mittel alterlichen Denken. Daß Cusanus es aufgab, hat seinen Grund in einer funda mentaleren und entscheidenderen Rückorientierung zum Johannes-Prolog. Ein Indicium dafür bieten die Aufzeichnungen zur 3. Predigt des Weihnachts triduums 1444 63. Diese sollten handeln über die ewige Geburt. Nikolaus schrieb aber bei der Ausführung über das Motto ,Dies sanctificatus' den Untertitel : Wie uns der Tag vom Tage, der auch das Wort des Vaters ist, im fleischgewordenen Worte aufleuchtete - durch die Erklärung des Evangeliums vom hl. Johannes“ 64. Das Interesse für den Johannes-Prolog reißt diese Predigt aus dem Rahmen thema der dreifachen Geburt heraus mit sich .

In Predigt 2 hat Cusanus dieses Thema vom Johannes-Prolog her entwickelt. Hier nimmt er es, ähnlich wie schon in Predigt 13 65, wiederum in die Reihe der

zur Erklärung des Prologs aufgestellten elf Attribute des Wortes zurück. Dabei betont er das, was den inneren Zusammenhang sowohl des Prologs wie des darin wurzelnden Themas der dreifachen Geburt ausmacht: Das Wort des Vaters – ist im fleischgewordenen Worte – aufgeleuchtet für uns. 60 S 34 (C 132", 14—18 22—-24 ).

61 Vgl . Anm. 58 .

62 Eckhart , Predigt 10 (Deutsche Werke I 171 ) . 63 S 37 (C 8', ed. Koch , Vier Predigten 165 f.). 64 Das , Illuxit nobis' bezieht sich hier auf die Erkenntnis der Gottheit Christi und auf

die Gottesgeburt in der Seele , die in deren Lichte geschieht. Cusanus wollte aber wohl auch darauf hinweisen , daß er persönlich die folgenden Erkenntnisse aus dem Johannes Prolog gewonnen habe.

65 Auch in der Disposition von Predigt 13 (vgl. oben S. 25) ist sachlich die „ dreifache Geburt “ gemeint . 38

III. ZUM AUFRISS DES GANZEN Das theologische Denken des Nikolaus von Kues kreist um die drei Mysterien der Trinität, der Inkarnation und wenn auch noch weniger kompakt der Kirche. Das erste große Thema hat der Verfasser schon in dem Buche „ Das Bild des Einen und Dreieinen Gottes in der Welt nach Nikolaus von Kues " in Angriff genommen, und zwar in einer vom Geschöpflichen her aufsteigenden Sicht, besonders unter der Perspektive von Einheit und Dreiheit. Was Nikolaus des näheren von der Heiligen Schrift her, durch die Applizierung des Seelengleichnisses auf das innergöttliche Leben und durch die von ihm bevorzugten Gottesnamen „ Einheit, Gleichheit, Verbindung" zur Erfassung und Verdeutlichung der trinitarischen Personeneigentümlichkeiten beiträgt, ist noch eingehender zu untersuchen. Der gegebene Ort dazu scheint dem Verfasser unter Anpassung an die Struktur der cusanischen Gedankenwelt für die zweite und erste göttliche Person - da der Vater als trinitarische Person erst durch den Sohn ins Licht der Offenbarung tritt - die Christologie zu sein, für den Heiligen Geist außer der Christologie die Lehre von der Kirche. Für eine Gesamtdarstellung der cusanischen Christologie suchte nun schon die hier voraufgehende literar- und quellengeschichtliche 19 Einführung" den Boden zu bereiten. Der erste Teil der „ Grundlegung" wies die fundamentale Bedeutung des Johannes- Prologs für die Christologie im weiteren Sinne auf; der zweite hob daraus das mittelalterliche Motiv der dreifachen Geburt hervor. Die Lehre von der Inkarnation wird so zum bindenden Mittelstück der Gedankenlinie : Das Wort des Vaters ― ist im fleischgewordenen Worte - aufgeleuchtet für uns. Daraus folgt die Gliederung in die drei Teile : I. Der ewige Logos, mit der Untergliederung :

A. Das Geheimnis der ewigen Geburt, B. Der Logos als Vorbegriff der Schöpfung , C. Die Namen der zweiten göttlichen Person. II. Die Inkarnation. III. Jesus Christus als Mittler und die Wiedergeburt in Ihm als Ziel der Erlösung. Die Untergliederung dieses Teiles ist folgendermaßen vorgesehen : A. Heilsweg und Heilswerk des Erlösers, B. Symbole der Mittlertätigkeit Christi , C. Die Wiedergeburt als Ziel der Erlösung.

! Für jeden dieser drei Teile liegt umfangreiches Material vor, das zumeist mehr als eine systematisierende Zusammenfassung verdient. Denn das cusanische Gedankengut ist oftmals nur im Rahmen der dogmengeschichtlichen Entwicklung richtig zu sehen und zu interpretieren . Dazu kommt die Entwicklung, die sich im cusanischen Denken selbst vollzog. 39

Zur Disposition unserer Darstellung Deshalb wird hier erst nur das Mittel- und Herzstück der cusanischen Christologie, die Lehre von der Menschwerdung, untersucht und dargestellt. Zur Gliederung des Folgenden sei vorbemerkt : Im 1. Kapitel betrachten wir die Inkarnation in heilsgeschichtlicher Sicht von der Bestimmung des Menschen her; im 2. Kapitel die hypostatische Vereinigung von Gottheit und Menschheit in Christus, und zwar zunächst von der Basis der patristischen und mittelalterlichen Christologie her, dann nach der Cusanus eigenen Konzeption, anschließend die für den Beweis der Gottheit Christi eingeschlagenen Wege ; im 3. Kapitel die Vollendung, welche die Menschennatur in Jesus Christus erlangt hat, ihre gnadenhafte Erhebung und Heiligung sowie die durch den Tod des Erlösers aufgeworfenen Fragen über den ununterbrochenen Fortbestand der menschlichen Natur und den Verbleib des Blutes Christi in der hypostatischen Einung.

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ERSTES KAPITEL DIE MENSCHWERDUNG IN HEILSGESCHICHTLICHER SICHT

A. Die Zielbestimmung und das Heilsverlangen des Menschen Das Wahrheits- und Glücksstreben des Menschen kann dem philosophisch- rückschließenden Denken als ein Ansatzpunkt für die Erkenntnis des Daseins Gottes und der dem Menschen von Gott gegebenen Zielsetzung dienen. Die dogmatische Betrachtungsweise geht als solche in umgekehrter Blickrichtung von dem Dasein Gottes aus und wendet sich im Lichte der übernatürlichen Offenbarung dem Wesen, dem Schöpfungswerk und Heilsplan sowie dem Erlösungswerk Gottes zu . In dieser Sicht liegt die Zielbestimmung des Menschen durch Gott dem menschlichen Erkenntnis- und Glücksdrang ursächlich voraus. Sie bildet daher auch dessen Erklärung und zugleich die Voraussetzung für das Verständnis der Erlösungsbedürftigkeit des gefallenen Menschen und für das Erlösungswerk Christi . Wir richten deshalb im Sinne des Nikolaus von Kues unsere Aufmerksamkeit zunächst auf die dem Menschen bei der Schöpfung gegebene Zielsetzung, anschließend auf die Geistseele als gott-empfängliches Bild , danach auf das menschliche Verlangen nach der Gottesschau.

I. DIE DEM MENSCHEN BEI SEINER ERSCHAFFUNG GEGEBENE ZIELBESTIMMUNG 1. Den Sinn der Schöpfung sprach Nikolaus von Kues oft in den biblischen Worten aus, daß Gott alles um Seinetwillen erschuf " 1. Dasselbe besagt die Bezeichnung Gottes als „Alpha und Omega “ oder als Ursprung und Ziel aller Wesen 2. Von der Docta Ignorantia an bedient sich Cusanus häufig der Formel, Gott sei „ Ursprung, Mitte und Ziel ", sowie der Symbolvorstellung, daß sich der Ausgang der Schöpfung von Gott und ihre Rückkehr zu Ihm als Kreisbewegung vollziehe³. Was aber ist näherhin unter einer solchen „ Rückkehr “ der Schöpfung zu Gott zu verstehen? Auch darauf antwortet schon der junge Cusanus von der Heiligen Schrift her: „ Zuletzt (am sechsten Tage) erschuf Gott den Menschen, als liege in diesem der Abschluß (complementum) und die Vollendung (perfectio) der Schöpfung. Die Vollendung des Menschen aber liegt in Gott. So ist also jede Kreatur durch den Menschen auf Gott hingeordnet" und erreicht durch den Menschen ihr „ höchstgutes Ziel" 4. „Wie nämlich alle Tage vor dem sechsten zeigen, daß alles Geschaffene im Menschen sein Ziel erhält, so wurde der Mensch, der sein Ziel nicht in 1 Spr 17, 4. - S 19 (C 57 , 48) ; D. Ign. II , 2 ( H 110, 8) ; S 16 (H 30) ; De coni. I, 3 (P 42 ) ; De dato Patris luminum c. 2 (P 194") : Ipse est finis operis sui , qui propter semet ipsum omnia operatus est, u. a. Apk 1 , 8. -- S 3 (C 45′ , 31 ) u. a. 3 Vgl. Vf I 84-98 , bes. 93 f. ¹ „S 19“ (C 57 °, 48–50 ) ; vgl. S 8 (C 29′ , 39 f.) : Homo ab optimo Deo ad optimum finem creatus, qui optimus finis Deus est. 41

Die Zielbestimmung des Menschen

sich , sondern in dem siebten Tage's hat, dazu erschaffen , daß er in Heiligkeit und

unter dem Segen Gottes, der über aller Schöpfung steht, bei der Erreichung des Lebens und des ewigen Lichtes im siebten Tage zur Ruhe gelange." 6 Der biblische Schöpfungsbericht wird also als eine Manifestation des göttlichen Schöpfungsplanes gedeutet, in dem der Mensch den Höhepunkt und Abschluß bildet. „Der Menschengeist aber, der die Natur aller Dinge in sich begreift, kommt nicht in irgend etwas Geschaffenem zur Ruhe, sondern strebt über sich hinaus und findet nur Sättigung in der Unsterblichkeit, die das ewige Leben und die ewige Weisheit ist. “ 7

2. Diese im Lichte der Offenbarung gefaßte Konzeption der kosmisch -meta physischen Bestimmung des Menschen sucht Cusanus später noch verschiedentlich zu vertiefen und zu präzisieren, und zwar vor allem mit Hilfe des wiederum biblischen – Motivs der sich im Schöpfungs- und Erlösungswerke enthüllenden Herrlichkeit Gottes 8, das sich zunächst mit dem neuplatonischen Leitgedanken der sich ausgießenden Güte des ersten Prinzips verbindet und diesen dann mehr und mehr in sich einschmilzt.

Diese Entwicklung läßt sich vorerst in den Predigten, dann auch bis in das

„philosophische Schrifttum der letzten Jahre schrittweise verfolgen. Sie geht mit einer stärkeren Hervorhebung der Freiheit Gottes bei seinem Wirken nach außen Hand in Hand. Am Dreifaltigkeitssonntag 1446 knüpft Nikolaus an die Doxologie des Römer briefes ( 11 , 36 : Ipsi gloria in saecula) die Erklärung : „Weil der große Gott seine Herrlichkeit zeigen will , ist alles, was es ist. Deshalb nimm du, o Mensch , alles ...

mit der geziemenden Bewunderung der Güte Gottes hin, indem du sprichst: Gott gab mir das Sein, um an mir die Größe seiner Güte zu zeigen, nachdem ich nichts war, damit ich durch seine Allmacht , sei , was ich bin. “ 10 – Die Weihnachtspredigt

1454 führt das weiter aus : „ Um Seinetwillen hat Gott alles erschaffen (Spr 16, 4) , weil Er den Reichtum seiner Herrlichkeit' 11 enthüllen wollte; und das, weil Er gut ist. Denn die Natur des Guten liegt darin, daß es sich ausgießt 12, um zur

Teilnahme an seiner Güte emporzuziehen “ , wie das Licht sich ausgießt und das Lichtlose auf sich zukehrt 13. „ Ein Wesen schuf Gott aber, das seiner Güte vor den 5 Der „siebte Tag “ ist Christus ; vgl. unten S. 100 f. 6

6 S 36 (C 133 ', 37—40 ); vgl. S 11 ( C 43', 3) : Septima die requiescit homo in Deo, et

Deus in homine ; Augustinus, De Gen. ad litt. IV, 10–17 , bes. 16 (CSEL 28, I 112) :

Intellegamus, quomodo (Deus) dicatur etiam requiescere in nobis ; quod non dicitur , nisi cum in se requiem praestat et nobis; De civ. Dei XXIII, c. 30 (CSÉL 40, II 670) : Tam quam in die septimo requiescet Deus, cum eundem diem septimum, quod nos erimus, in se 7 S 16 (H 32 , 4—7 ) . ipso Deo faciet requiescere. 8 Vgl . Röm 9, 23 : Ut ostenderet divitias gloriae suae in vasa misericordiae, quae praeparavit in gloriam.

Vgl . De beryllo c. 3 ( H 5) , c. 36 (H 50), c. 37 (H 51 ) ; De non aliud c. 9 (H 20) ; De ven. sap . c . 18-20.

10 S 56 (Vı 107 ").

11 Vgl. Röm 11 , 33 36.

12 Vgl. Dionysius, De div. nom. IV , 20 (PG 3, 717 D ).

13 Vgl. Dionysius a. a. O. IV, 10 ( PG 3, 708 B ); Albertus M., Kommentar zu De div. nom . ( IV, 9 ; Dionysiaca 191 ) , nach dem Skriptum des Albertus -M. - Instituts, Bonn,

n. 102 : Quando autem anima conversa est ad se ipsam , lumenproveniens aprimo in ipsam secundum esse, reflectit in primum secundum intellectum. Vgl. auch die Bonner Disser 42

Die Herrlichkeit Gottes

anderen teilhaftig werden sollte, die Geistnatur, die durch die Willensfreiheit dem Schöpfer besonders ähnlich und sozusagen ein zweiter Gott ist. An ihm

wollte der Schöpfer vor allem den Reichtum seiner Herrlichkeit zeigen. “ 14 Danach gewinnt besonders in den Predigten 179–181 15 der immer lebendiger werdende Gedanke der gloria Dei – mit dem doppelseitigen Inhalt der sich im Wirken Gottes zeigenden Herrlichkeit und der dem Menschen aufgegebenen

Gottesverherrlichung — gleichsam die Bedeutung eines Leitmotivs, das sich über verschiedene Bereiche der theologischen Anthropologie hin ausdehnt. Dabei tritt -

auch die Sonderstellung des Menschen im göttlichen Schöpfungsplane noch deut licher hervor ; denn nicht nur an dem Menschen, sondern dem Menschen will Gott

den Reichtum seiner Herrlichkeit zeigen. Deshalb schuf Er die vernünftige oder cinsichtige Kreatur ..., die allein die Herrlichkeit Gottes geistig kosten kann . Nur die einsichtige (intellectualis) Natur ist nämlich der Ort, wo die wahre und un zerstörbare Herrlichkeit oder Gnade gezeigt werden kann. “ 16 Deshalb überragt der Mensch auch das Tier, mit dem er die animalische Natur gemeinsam hat ; denn nach dem Willen Gottes ist „ der Mensch das Ziel aller körperlichen Dinge und Er selbst, Gott, das absolute Ziel aller einsichtigen Naturen, und so soll das

Einsehen ' zu nichts anderem als zum Gotterkennen dienen“ . ,Weil der Mensch also daraufhin geschaffen ist, daß er Gott erkenne, so be stehen Glückseligkeit, Friede, Ruhe, Erquickung, ewiges Leben , die Herrlichkeit und das höchste Gut des Menschen in der Erkenntnis des Schöpfers; und das Zeigen der Herrlichkeit Gottes' ist nichts anderes als das Zeigen alles Guten' . “ 17 Ist aber die Seele dazu da, so ergänzt Predigt 198 18 diese Gedankenreihe, „ daß sie zur Schau der glorreichen Majestät (Gottes) gelange, so hat auch die Seele den Leib nur dazu, damit auch die sichtbaren Werke Gottes zum Ziel der gött lichen Herrlichkeit gelangen“ . 3. Damit haben wir die cusanischen Gedanken über die übernatürliche Ziel

bestimmung des Menschen bis zu dem vorläufigen Ergebnis verfolgt : Der Mensch tation von O. Semmelroth , „ Das ausstrahlende und emporziehende Licht. Die Theo logie des Pseudodionysius Areopagita in systematischer Darstellung“ ( 1947 ) . 1: S 161 (V2 60% -va). — Zur Verknüpfung der beiden Motive ,bonitas' und ,gloria' mag Cusanus ebenfalls durch den Kommentar Alberts zu De div. nom. angeregt worden sein ; vgl. die Erklärung zu c. IV, 13 (Dionysiaca 217 ff .), Skriptum des Alb .-M.-Inst. n . 131 :

Deus diligit creaturam suam propter gloriam suam ... Quando creatura gloriam quaerit in ea ponens sibi finem , amori divino suus amor contrariatur. Sicher ist hierin Raimund Lull , der die gloria als 9. Grundwürde des Seins bezeichnet (vgl. z. B. VE I 333 u. 340 f.) , -

von Einfluß gewesen.

15 Gehalten zu Ostern, am Weißen Sonntag und zu Pfingsten 1455. 16 Disposition zu S 180 (V2 987 ) ; dort s. auch das Folgende. 17 S 181 (V2 897 ). Cusanus bezieht sich hier auf Dt 33 , 18 f.: Qui (Moyses) ait : Ostende mihi gloriam tuam . Respondit (Dominus) : ,Ego ostendam omne bonum tibi .' Die drei letzten Abschnitte zeigen , wie Cusanus in seiner Auffassung von der Glückselig

keit als dem Ziel des Menschen neuplatonisches und biblisches Gedankengut miteinander Tradition und vom Thomismus in den Vordergrund gerückten Motive der Beseligung des Willensstrebens oder der Gottesschau friedlich zusammen ; vgl . Auer , Entwicklung I 39-46. vereint. Ähnlich finden sich hier die von der mittelalterlichen augustinisch - franziskanischen

18 S 198 (V2 116**) vom 7.9. 1455. 43

Das Gotteslob

ist mit Leib und Seele dazu geschaffen , daß er, und in ihm die sichtbare Schöp

fung, zur Herrlichkeit Gottes gelange. „ Vorläufig “ ist dieses Ergebnis, weil bei der Lehre über die Gotteskindschaft noch Näheres dazu zu sagen ist. Zugleich mit dem Ziel der Gottesherrlichkeit ist für den Menschen die Ver

herrlichung Gottes als die allgemeine Wegrichtung festgelegt, die ihn dorthin führt. Im Hinblick auf ihr Ziel, die Herrlichkeit Gottes, darf sich die Seele näm

lich nicht dem Fleische oder den sichtbaren Dingen verschreiben und vergäng lichen Lüsten hingeben, sie muß sich vielmehr in allem dem Lobpreis der Herr

lichkeit des großen Gottes zuwenden und so durch das Sichtbare zu dem unsicht baren Gott hin durchdringen , damit dieser selbst ihr erstrebtes Ziel sei “ 19. Predigt 200 20 faßt unter dem Leitgedanken der gloria Dei den Ertrag „ lan gen Nachsinnens“ zu einem „ leicht faßlichen Kompendium“ der Theologie zu sammen. Bezeichnend ist die Vorbemerkung, diese Predigt solle „ gleichsam an

der Spitze von allem stehen und grundlegend sein“ 21. Wir dürfen das vor allem so verstehen: Der Gedanke der gloria Dei stellt gleichsam die Wurzel zum Ver ständnis des göttlichen Heilswirkens und des Erlösungswerkes dar. In De venatione sapientiae nennt Nikolaus das Gotteslob (laus Dei) der Schöp fung und der Heiligen das lieblichste und heiterste Feld, auf dem er der Weisheit nachspürte. Dabei fand er seine Orientierung an den Schriften der Heiligen, in denen alles auf das Lob Gottes bezogen wird “, und an Dionysius, der die ver schiedenen Namen Gottes als vielfaches Gotteslob deutet 22. „ Alles Geschaffene lobt Gott von Natur aus.“

23 „ Der Mensch , der alles in sich trägt, ist bestimmt, als ,lebendige Harfe' Gott zu lobpreisen .“ Der Kardinal möchte deshalb auf der Jagd durch die zehn Felder der Weisheit auch auf den zehn Harfensaiten der Güte, Größe, Wahrheit, Schönheit, Weisheit usw. 24 das Lob Gottes spielen. Je »

mehr der Mensch nämlich Gott lobt, um so liebenswerter wird er selbst vor Gott >

und um so lobenswerter . “ 25

Wie sehr das persönliche Leben des Nikolaus von Kues besonders in den letzten Lebensjahren von dem Gedanken der gloria Dei erfüllt war, läßt sich hieraus ahnen. Noch deutlicher zeigt dies der Brief, den er als geistliches Vermächtnis bald danach an einen Klosternovizen von Montoliveto schrieb . Dieser Brief han

delt als Ganzes „ vom Gotteslob“ , in dem der wahrhaft religiöse Mensch ver weilt 26.

19 20 21 22

S 181 (V2 894): S 200 (V2 11816—190 " ) vom 29. 9. 1455. V2 11866 : Sit hic sermo noster quasi primus omnium atque fundamentalis. De ven . sap. c. 18 ( P 207' — 208 "). – Dionysius, De div. nom . I, 7 (PG 3, 597 A ) : rb

εκ των όντων απάντων εναρμονίως υμνείται και ονομάζεται. Vgl. VΙΙ , 3 (872 Β) . 23 De ven. sap. c. 19 (P 208 ").

24 Eine freie Anlehnung an die Lullschen Grundwürden (dignitates) ist durch mehrere Kapitel von De venatione sapientiae hin spürbar. Cusanus weicht hier jedoch von der

ihm aus der Ars generalis ultima geläufigen Neunzahl (vgl. Vf. I 333 ; Carreras - Vgl. E. W. Platzeck , Die Lullsche Kombinatorik, in Franzisk. Studien 35 ( 1953) 38 f. 25 De ven. sap. c. 20 (P 208°—209") . 26 Brief vom 11. 6. 1463, Einl. (Siz 160" ). I 426 ff.) ab .

44

Die Geistseele als Gottes Bild II. DIE MENSCHENSEELE ALS BILD GOTTES Die Herrlichkeit Gottes ist das absolute Ziel aller einsichtigen Naturen" 1. Wie aber kann der Mensch sein „ absolutes" , d. h. über alle geschöpfliche Begrenztheit erhabenes Ziel , an dem seine Vollendung und sein Glück hängen, erreichen? Die fundamentalste Voraussetzung dafür liegt darin, daß der Mensch irgendwie für das Göttliche empfänglich ist. Die Art dieser Empfänglichkeit bringt Nikolaus von Kues durch die Bezeichnung der Seele als eines für Gott „ empfänglichen Bildes" (imago capax) zum Ausdruck. Diese Benennung steht nun bei Cusanus offensichtlich in Zusammenhang damit, daß die Geistseele „ lebendiges Bild " Gottes ist. Dieser Begriff ist bei ihm grundlegender , deshalb auch zuerst zu erörtern, und zwar unter dem Gesichtspunkt der menschlichen Zielbestimmung 2. a) Die Geistseele als „ lebendiges Bild" Der Name „ Bild “ wurde von Origenes , mitunter auch von Ambrosius und Augustinus und im Mittelalter z. B. von Bernhard , dem ewigen Sohn des Vaters vorbehalten, während man die Seele unter dem Einfluß des Schöpfungsberichtes (Gn 1 , 26) als „nach dem Bilde" des Schöpfers oder des Wortes Gottes geschaffen bezeichnete³ . Nikolaus von Kues steht unter der Einwirkung dieses Sprachgebrauches, der geeignet ist, den ewigen Logos als das Urbild aller menschlichen Gottähnlichkeit hinzustellen . Aufs Ganze gesehen, tritt er jedoch entschieden dafür ein, daß der Geistseele selbst, und zwar schon auf Grund ihrer natürlichen Wesenseigenschaften , der Adelstitel der Gottebenbildlichkeit zukomme. Ja das Attribut „ Bild" blieb bei Cusanus nicht einmal - nach dem bei Augustinus und in der Scholastik üblichen Sprachgebrauch - auf die Geistseele beschränkt, um deren Vorrang vor den Spuren " in der sichtbaren Schöpfung zu betonen; es dehnte sich auch -- vor allem in den vierziger Jahren — auf alles Geschaffene aus 6. Gerade Nikolaus von Kues lag jedoch anderseits - besonders im dem Buche „Über den Geist " — viel daran, die höhere Gottähnlichkeit des Menschengeistes unter den Schöpfungswerken hervorzuheben . Dabei kam er zu Formulierungen 1 Disposition zu S 180 (V2 98 ) . Über die Geistseele als „ lebendiges Bild “ der göttlichen Dreieinigkeit vgl . Vf I 38-40 184-194. * Origenes , In evang. s . Joh. t . I , n . 19 ( PG 14, 54 C) : Nam homines sunt secundum imaginem, imago vero secundum Patrem ; t. II , n. 3 ( 110 D) : Homines dicuntur non esse imagines , sed ad imaginem ; Ambrosius , Expos . evang. sec. Luc. X (zu 22, 29) : Solus enim Christus est plena imago Dei propter expressam in se paternae claritatis unitatem ; iustus autem homo ad imaginem Dei est (CSEL 32 , IV 474 ) . Zu Augustinus und Bernhard vgl. Vf I 35. 4 S1 (vgl. Vf I 35 f. ) , S 246 (V2 186 ) , S 248 (V₂ 188a-vb), S 253 (V₂ 197rb-vª) . * S 10 (Č 51 , 17) : Tria in mente consistunt, quae sunt Dei imago quantum ad proprietates naturales ; S 268 (V2 227 ) ; S 270 (V2 234ª) . ⚫6 Vgl. Vf I 34 - 37 315 f.

45

Die Geistseele

wie : „Allein der Geist ist im eigentlichen Sinne Gottes Bild. “ 7 Bleibende Bedeu tung erlangte bei Cusanus vom Jahre 1450 an 8 die Konzeption, die er mit der

Bezeichnung des Geistes als „ lebendigen Bildes “ (viva imago) Gottes verknüpft: Durch seine gottähnliche Einfachheit und Lebendigkeit steht der menschliche Geist, wie das Buch De mente ausführt, sozusagen in der Mitte zwischen Gott

und Dingwelt. Er ist „ lebendige Zahl “ 9, weil er die Vielfalt des für ihn gegen ständlichen Seins zählen kann ; er ist „ lebendiges Maß“ , weil er die Dinge , durch

sich mißt, als ob er ein lebendiger Zirkel wäre, der von sich aus mäße “ 10. und er bildet bei solchem Erkennen Ähnlichbilder. Darin ahmt er in besonderer Weise

Gott nach 11 und enthüllt sich so als „ unsichtbares lebendiges Bild des unsicht baren Schöpfers“ 12. Denn das gleiche Verhältnis (proportio) , in dem die Werke

Gottes zu Gott stehen, waltet auch zwischen den Gebilden unseres Geistes und unserem Geist selbst “ 13 .

Von seiner Zielbestimmung her gesehen, hat das „ Messen“ der Dingwelt für den Menschengeist den tieferen Sinn, daß er dabei sowohl zur Erkenntnis „ seiner eigenen Kapazität “ wie des „ Maßes, das ihn selbst mißt“ und seine präzise Wahrheit und sein adäquates Urbild ist “ 14, gelange. Die Eigenart des geistigen Abbildseins besteht nämlich darin, daß der Geist sich selbst als lebendiges Ab bild Gottes und damit Gott selbst in sich wie in einem Spiegelbilde erkennen

kann 15, während alle anderen, geistig leblosen Bilder nur eine Ähnlichkeit zu Gott „ repräsentieren“ . Insoweit sich also der Geist des Abbildverhältnisses zu dem göttlichen Urbild bewußt wird, beginnt er sich zu aktuieren zum „ lebendigen Bild “ , wie eine „ lebendige Schrift der ewigen und unbegrenzten Weisheit“ , die aus dem Schlaf erwachte zur Erkenntnis dessen, was ihr Inhalt ist 16.

„ Achte, mein Sohn, auf das lebendige einsichtige (intellectualis) Bild Gottes, das in dir existiert ! “ So schreibt der Kardinal in dem Brief an den Novizen von Montoliveto 17. „Dies wäre kein lebendiges einsichtiges Bild , wenn es sich nicht als Bild erkennte. Die Einsicht (intellectus) ist also wesentlich für das lebendige Bild Gottes. Denn zwischen diesem Bild Gottes und der anderen , Ähnlichkeit ? De mente c. 4 (H 60, 6 f.) ; vgl . die ganzen Kapitel 3 - 4 , ferner S 91 (V2 20* 6'), S 109

(V2 23" ), S 261 (V2 212° ) , sowie die Briefstelle Siz 160*a (s. folg. Seite) . De visione Dei c. 25 (P 113') vergleicht der Kardinal den menschlichen Geist mit einem von Beginn der Welterschaffung an vorbereiteten Selbstbildnis Gottes: Tu, Domine, qui omnia propter temet ipsum operaris, universum hunc mundum creasti propter intellectualem naturam

quasi pictor, qui diversos temperat colores, ut demum se ipsum depingere possit, ad finem , ut habeat sui ipsius imaginem , in qua delicietur ac quiescat ars eius. 8 De sap. I (H 17,2 — 22 , 20 ); De mente c. 13 ( H 107 , 7 ) . 10 De mente c. 9 (H 89, 20 f. ) . 9 De mente c. 7 ( H 73,11 ) .

11 Zu den Begriffen imago imitationis und repraesentationis vgl. Vf I 35

-

- 39 .

12 Brief vom 11. 6. 1463 (Si2 160 " ). 13 De mente c. 7 ( H 74 , 22 ) ; vgl. Vf I 184–89.

14 De mente c. 9 (H 89, 10–14) . 15 Brief vom 11. 6. 1463 (Si2 160" ) : Viva Dei imago, ... dum se cognoscit vivam sui Creatoris imaginem, in se ipsam respiciens Creatorem suum contemplatur, quando ex similitudine in exemplar rapitur.

16 De mente c. 5 (H 65, 17 f.) . Ahnliche Bilder von der „ geistig lebendigen Kerze und dem „ lebendigen Gold “ s. S 112 ( V2 25 ' ).

17 Brief vom 11. 6. 1463 (Siz 1607 ). 46

Gottes „ lebendiges Bild "

( similitudo) Gottes, ohne die kein Geschöpf sein kann, besteht der Unterschied, daß außer ihm keine Ähnlichkeit das Wissen haben kann, daß sie Ähnlichkeit

Gottes ist, da sie des einsichtigen Lebens entbehrt. “ 18 Zu diesem Unterschied kommt ein zweiter : „Alles Geschaffene ruht (sonst) in

dem , was es hat, und erstrebt nichts über die empfangene Spezies seiner Gottähn lichkeit hinaus 19; denn durch diese ist es, was es ist, und ohne sie wäre es nichts . Unsere einsichtige Natur aber hat, wenn sie sich als Gottes lebendiges Bild er kennt, ,die Macht', immerzu klarer und Gott gleichförmiger zu werden 20, wenn 9

sie auch als Bild nie zum Urbild oder zum Schöpfer wird. “ 21 Diese Möglichkeit des Geisteslebens, je über sich selbst hinauszuwachsen, wird

schon in De mente so erklärt, daß Gott im Menschengeiste nicht nur, wie in den übrigen Schöpfungswerken, irgendeine Idee, sondern seine eigene Schöpferkraft und Lebendigkeit, ja sogar, soweit möglich, seine Unendlichkeit nachbilden und „gleichsam Sich selbst schaffen wollte “ in einem Bilde, das „ die Macht in sich hat,

sich unbegrenzt mehr und mehr dem unerreichbaren Urbilde gleichzugestalten “. Gott ist als Schöpfer einem Maler zu vergleichen , der nicht nur , tote “ , sondern lebendige Selbstbildnisse schafft, die Ihn selber nachahmen und sich Ihm gleich

gestalten sollen 22. „ Wenn ein Maler ein sichtbares Selbstbildnis schafft “, heißt es in dem zitierten Brief 23, „ so bleibt dieses, wie es gemalt ist. Gäbe es aber einen

Maler, der ein geistiges und unsichtbares Bild seiner eigenen geistigen Malkunst zu schaffen vermöchte, so könnte auch jenes Abbild seiner Kunst ... sich selbst immer lichtvoller und ähnlicher machen , indem es sich dem , der es schuf, gleich gestaltete . “

Daraus folgt das vom Schöpfer in die menschliche Geistnatur hineingelegte

Lebensgesetz: „Je mehr sich das lebendige Bild dem göttlichen Leben nähert, um so mehr lebt es und wird es glücklich. Je mehr es sich aber vom göttlichen Leben entfernt und ins Tierleben mischt, um so mehr wird es dem Tode und dem Ver derben ähnlich .“ Da Gott aber alles Lobenswerte in höchster Weise in sich

schließt, so nähert man sich auch durch die Nachahmung dessen, was lobenswert ist, der Gleichförmigkeit mit Gott. „ Lieben wir also die unsterblichen Tugenden, so lieben wir Gott, der die Liebe und (der ideale Inbegriff aller) Tugend ist. “ 24 Im Lichte der offenbarten menschlichen Zielbestimmung zieht Cusanus dann aus der natürlichen Gottebenbildlichkeit des Geistes noch eine weitere Konse

quenz: Alles ist durch die göttliche Liebe ins Dasein getreten. Nur der Mensch jedoch kann diese Liebe erkennen, wenn er selbst Liebe hat. Er muß sie aber auch erkennen und erkennend lieben, will er als unsterblicher Geist in der Liebe 18 Das entscheidende signum distinctivum zwischen imago und similitudo ist demnach das Wissen von sich selbst.

19 Vgl. De ven. sap. c . 12 (P 205 '): Contentatur enim omnis creatura sua specie tan

quam perfectissima, ut Epimarchus dicebat (vgl. H. Diels , Die Fragmente der Vor sokratiker, 6. Aufl.Berlin 1951 , I 198 f., Fragm. 5, nach Diogenes Laertios), quia ipsam infinitae pulchritudinis Dei sui scit similitudinem et donum perfectum . Vgl. Aristo teles , Eth . Nic. X, 7 ( 1178 a) . 20 Vgl. unten S. 49 f. 22 De mente c. 13 (H 106 , 10 – 107, 18 ). 21 Brief vom 11. 6. 1463 (Siz 160") .

23 Brief vom 11. 6. 1463 (Siz 160* 6).

24 Ebd. 160 . 47

Die Geistseele als „gottempfängliches Bild " Gottes das ewige Glück und Leben finden. So ist dem Menschen also auch noch „jene Liebe, ohne die er nicht selig werden kann, natürlich. Denn das geistig lebendige Bild 25 ist nur im Hinblick auf Gott das, was es ist: Er ist die Liebe, es ist sein Bild. Von Ihm hängt sein Sein gänzlich ab. Von Natur aus hat das Bild der absoluten und unendlichen Liebe also eine Hinneigung zur Liebe seines Schöpfers, der seine ,Hypostase' und seine , Subsistenz' ist. “ 26 Die natürliche Hinneigung des lebendigen Bildes zu Gott und seine Lebendigkeit sind hier recht kräftig hervorgehoben. Beides bildet jedoch erst den Untergrund für das übernatürliche Leben, in dem sich das „ lebendige Bild" zur Gotteskindschaft vollendet. Denn durch das übernatürliche Leben wird die einsichtige Natur erst recht einsichtig und lebenerfüllt. Ohne „ den Einfluß, der dieses einsichtige Lebendigsein bewirkt “ , „ bleibt sie sozusagen ein totes Bild im Hinblick auf die Glückseligkeit ihres Lebens" 27. b) Die Geistseele als „gottempfängliches Bild“ Die Erreichung des übernatürlichen Zieles, der Herrlichkeit Gottes, setzt die Empfänglichkeit des „ lebendigen Bildes " für das Göttliche voraus. Dabei rückt die Frage in den Vordergrund, ob oder wieweit , capax' hier die Fähigkeit zu aktivem Ergreifen oder lediglich Empfänglichkeit als Potenz zum Hinnehmen übernatürlicher Gaben oder irgendeine Verbindung von beidem besagt. Wir suchen die cusanische Ansicht durch die Zusammenstellung der folgenden Aussagereihen abzutasten: 1. „Wenn wir geschaffen werden, empfangen wir eine Natur, die (zugleich) in der Möglichkeit (potentia) zum Empfang von Einprägungen (insbesondere des Charakters Christi) und ein Bild der Allmacht (omnipotentia) des Vaters ist. " 28 Durch ihre Unsterblichkeit ist die Seele ein für die göttliche Vergeltung „ empfängliches Subjekt“ 29. ― Ihre „ Natur ist für Gott empfänglich auf dem Erkenntniswege“ 30. — „ Allein der Intellekt ist als lebendiges Bild zum Genusse des Lebens in sich, des wahren Lebens, dessen Bild er ist, fähig. “ 31 - Er ist eine erste

Disposition" und eine

gewisse Kraft oder Potenz in der Seele zur Auf-

nahme des Wortes " und gleichsam ein „ lebendiger Acker", der empfänglich ist für den Samen" der Weisheit 32. Die menschliche Seele ist somit von Natur aus aufnahmefähig für die Gnade 33 . 25 ,Imago viva vita intellectuali' . Diesen Ausdruck gebraucht Cusanus auch Sap . I (H 23, 1 ) , De mente c. 5 (H 66 , 7) , S 162 (V2 63 ) ; vgl . bes. S 112 (V2 25™ª) . 26 Brief vom 11. 6. 1463 (Si2 160rb) . 27 S 162 (V2 63 ); vgl . S 269 (V½ 230™ª) . 28 S 112 (V2 25™ ) . 29 S 191 (V2 108 " ) ; vgl. S 245 (V2 184 "). 30 S 165 (V2 68 ). 31 S 162 (V2 63 ); vgl . S 134 (H 80 ) , S 199 (V2 118 ) , S 280 (V2 270 ) , S 285 (V2 278 ™ ) ; vgl. oben S. 42 f. 32 S 184 (V2 100 ) , S 214 (V2 138 ) ; vgl. De visione Dei c. 25 (P 113 ) : Dispositionem vero atque dispensationem in natura intellectuali non nisi sibi ipsi reservavit ; desponsavit enim sibi hanc naturam, in qua elegit quiescere tanquam in domo mansionis et caelo veritatis ; nullibi enim capi potest veritas per se nisi in intellectuali natura . 33 Vgl. Thom. v. Aq. , S. theol . I./II . q. 113 , a. 10 c.: naturaliter anima est capax gratiae. Thomas begründet das mit Augustinus , De Trin. XIV, 8 (PL 42 , 1044 ) : Eo quippe imago est, quo eius capax est.

48

Ihr indefinites Fortschrittsvermögen Zwischen ihr und dem Übernatürlichen besteht das Grundverhältnis, das die Scholastik ,potentia obedientialis' nennt 34. 2. Die Dynamik neuplatonischer Seinsauffassung und wohl auch des starken Persönlichkeitsbewußtseins der Renaissance entfaltet sich in der Betonung des indefiniten Fortschrittsvermögens " 35 und der progressiven Ausdehnung der geistigen Fassungskraft : Der Menschengeist „ kann ohne Ende mehr und mehr erkennen“ . Dadurch ist er ein lebendiges Bild " der ewigen Weisheit sowie „ der Unbegrenztheit Gottes" 36. „Keine andere Natur kann aus sich selbst besser werden; sie ist vielmehr, was sie ist, unter dem Zwang der Notwendigkeit ; nur die geistige Natur hat in sich die Prinzipien (Intellekt und Willensfreiheit) , durch die sie besser und damit Gott ähnlicher sowie (für Ihn) empfänglicher werden kann. “ 37 — „ Wenn der Intellekt sich als lebendiges Bild (Gottes) erkennt, erhält er auch von Gott die Macht, sich noch mehr seinem Urbild anzugleichen und zu immerzu größerer Vereinigung mit dem ihm eigenen Gegenstande, der Wahrheit nämlich , zu gelangen, um desto seliger darin zu ruhen “, da er deren Abbild ist 38. „Allein die geistige Natur kann (also) ohne Ende wachsen. " 39 3. Den natürlich-geistigen Wachstumsdrang, der in diesen Gedanken zum Ausdruck kommt, verabsolutiert Cusanus jedoch nicht. Er stellt ihn vielmehr in den Dienst des übernatürlichen Wachstums in der Gnade. „ An mir liegt es “ , spricht er in dem Buche „ Über das Sehen Gottes" in betrachtendem Gebete, „ daß ich für Dich möglichst immer mehr empfänglich werde ... Die Unempfänglichkeit kommt aus Unähnlichkeit. Wenn ich mich also auf jede mögliche Weise Deiner Güte ähnlich mache, so werde ich auch , dem Ähnlichkeitsgrad entsprechend , für Deine Wahrheit empfänglich sein. Du gabst mir, o Herr, das Sein, und ein solches, das sich für Deine Gnade und Güte immer mehr empfänglich machen kann; und diese Kraft, die ich von Dir habe und in der ich ein lebendiges Abbild Deiner allmächtigen Kraft besitze , ist der freie Wille, durch den ich die Empfänglichkeit für Deine Gnade erweitern oder verengen kann. “ 40 „Erst wenn nach diesem Erdenleben das Wort oder der Logos erscheint, zeigt es sich, von welcher Fassungskraft und Fruchtbarkeit (der lebendige Acker der Seele endgültig) ist; denn dann erst erfährt sie es, wie sehr sie der göttlichen Weisheit ähnlich ist. “ 41 Unbegrenzt im eigentlichen Sinne wird jedoch die Empfänglichkeit des Geistes schon deshalb nie, weil „ das Verursachte die Ursache nicht (komprehensiv) erfassen kann “ 42. Daher kann auch „ eine noch so vernunftbegabte und belehrungsfähige Kreatur die Schöpfer-Kunst nicht fassen. Diese 34 Thom v. Aq., S. theol. III q. 11 , a . 1 c.: Consuevit vocari potentia obedientiae. 35 Mahnke 102 f.; Vf I 33. 36 S 285 (V2 279™ª) ; vgl. oben S. 47 . 37S 161 (V2 60 *) ; ebd .: Ista natura intellectualis capax Dei est, quia est in potentia infinita; potest enim semper plus et plus intelligere. 38 S 162 (V2 63r ) . Dieser Satz leitet von der natürlichen zur übernatürlichen Ordnung über. 40 De visione Dei c. 4 ( P 100') . 39 S 245 (V2 183vb) . 41 S 214 (V2 138 ). 42 De principio n. 29 (V2 254 ) : (Unitas) capabilis non est capax incapabilis et ( = nec) causatum causae. 4 Haubst, Nikolaus v. Kues

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Die Gottempfänglichkeit“

besitzt Gott allein. “ Die Seele kann nur deren „Mitteilung und Anteilnahme an ihr“ empfangen 43. Es bleibt also auch noch in der Gottesschau notwendig bei einem nicht umfassenden Erfassen (incomprehensibiliter comprehendere) Gottes, wie es die Docta Ignorantia im Anschluß an Augustinus lehrt 44. 4. Werfen wir nunmehr schon einen Blick auf die von Christus begründete übernatürliche Ordnung voraus, so treffen wir auf folgende Sätze : Der Mensch

ist durch das Verdienst (die Gnade) des Erlösers empfänglich geworden, den 79

Reichtum der göttlichen Herrlichkeit zu kosten“ 45. — „Der Betende ist empfäng

lich für das Reich (Gottes) wie der Leib für das Leben beim Hinzukommen der Seele. “ 46 — „Die Empfänglichkeit der Seele für den erhabenen Gott steht in Proportion zur Tiefe der Demut. “ 47 —- „ In dem göttlichen Lichte, das der leben dige Glaube ist “ , ist die Seele empfänglich für das ungeschaffene Licht, so wie

das Auge für das Sonnenlicht.“ 48 — Die Liebe „ erweitert die Fassungskraft der Seele für die Einwohnung Gottes “ 49.

So besteht „ in unserem Geiste eine ge

wisse Empfänglichkeit (potentia concipiendi) für den göttlichen Geist, sofern unser Geist, wie es sich gebührt, disponiert ist“ 50. Daraus folgt : Die Empfänglichkeit des Geistes für das Übernatürliche ist ge

stuft. Insbesondere setzt die Erreichung des übernatürlichen Zieles übernatürliche Dispositionen voraus. Daher ist auch zwischen der entfernteren natürlichen und

näheren übernatürlichen Gottempfänglichkeit der Seele zu unterscheiden. In der Reformatio generalis 51 trägt Cusanus dem Rechnung, indem er zunächst nur von

„ Belehrbarkeit “ spricht 52, die bei der Schöpfung in die menschliche Natur hin eingelegt ist. Danach heißt es : „ Empfänglich für das ewige Leben sind die, die Christus in einem (durch die Liebe) geformten Glauben und durch Werke auf nehmen. “

5. Ebendort bemerkt der Kardinal auch : „Die empfänglich sind, haben damit nicht schon ohne weiteres das Leben ; sondern Christus muß es ihnen mitteilen. “

Durch die Art dieser Mitteilung empfängt auch der Begriff der Gottempfäng lichkeit des Geistes eine weitere Verdeutlichung:

Nur Gott oder das Wort, das Gott ist, oder göttliche geistige Gaben können in den Geist eindringen (illabi) 53. – Sie gestalten diesen je „ nach Fassungskraft zu einem lebendigen Gefäß des Göttlichen “ 54. – Die geistige „ Finsternis ist

aufnahmefähig für das Licht“ 55, der „ lebendige Schatten “ für die Wahrheit 56. 43 De ludo globi II (P 166') ; vgl. S 260 (V2 21156) : Intelligentia non est capax Artis in sua natura, quia creata, sed in tantum est capax, in quantum spiritus sapientiae in ipsam descendit .

44 Vf I 320. 45 Disposition zu S 180 (V2 984 ). 46 S 194 n. 13 ( H 132) ; vgl. S 279 (V2 269 ): ad petendum , quaerendum et pulsandum ea, quae sunt perficientia imaginem. 18 S 166 (V2 715b) . 47 S 165 (V2 69 ). 49 S 217 (V2 140 % ). 51 Ehses 284 . 50 S 237 (V2 165" ). 52 Vgl . Joh 6, 45 : Erunt omnes docibiles Dei. 53 S 248 (V2 1897 ), S 255 (V2 202F ), S 275 (V2 250+a) ; vgl. Gennadius , De eccl.

dogmatibus c. 50 (PL 42, 1221): Illabi autem menti illi soli possibile est, qui creavit, qui capabilis est suae facturae; ferner : Eckhart , Expos. s. evangelii sec. Ioh. n. 238 ( zu 1,43 ) : Lat . Werke III 199.

55'S 106 (V162" ). 50

54 S 274 (V2 2457 ). 56 De visione Dei c. 15 (P 107 ") .

des „ lebendigen Bildes “

Durch Läuterung und Erleuchtung wird die Seele umgestaltet zu einem „ leben digen Strahl göttlichen Lichtes “ 57 oder — dieselbe Metapher gebraucht Dionysius von den Engeln 58 – zum strahlenden lebendigen Spiegel “ als „Bild Gottes, der die Sonne der Einsicht ist“ 59.

Alles das stellt gleichsam eine umfassende Auslegung des Augustinus-Satzes dar : „Der Geist ist dadurch Bild Gottes, daß er für Ihn aufnahmefähig ist. “ 60

Zugleich schwebte dem Kardinal ein schönes Beispiel “ des Origenes vor, der bereits Gott mit einem Maler verglich , der erst mit schwachem Stift die Grund risse des künftigen Bildes vorzeichnet, um dann die endgültigen , wahren Far >

ben“ aufleuchten zu lassen 61. Einen ähnlichen Gedanken zitiert Cusanus nach

Abt Adam von Perseigne 62. Sein eigenes Bemühen zielt insbesondere darauf ab , die natürliche Lebendigkeit und die Übernatürlichkeit der dieses Bild vollenden den Gnadengaben in Einklang zu bringen.

III . DAS MENSCHLICHE VERLANGEN NACH DER

GOTTESSCHAU

Als , lebendiges“ und „ gottempfängliches“ Bild ragt der menschliche Geist aus dem Banne der innerkosmischen Teleologie heraus. Er hat Gott selbst zum Ziel und ist geschaffen , um sich Ihm mehr und mehr zu verähnlichen. Die Übernatür lichkeit dieser Zielbestimmung leuchtet vollends ein, wo sie als Schau der gött lichen Herrlichkeit bezeichnet wird. Im folgenden fassen wir nun das in der menschlichen Natur liegende Verlangen nach Gott schärfer ins Auge.

1. Das Vorwort und der Anfang der Docta Ignorantia bauen sich vor allem auf zwei Sätzen auf, die auch in der „ Metaphysik “ des Aristoteles in den ersten Kapiteln stehen : „ Alle Menschen haben von Natur ein Verlangen nach Wissen “ 1, und : „ Aus Verwunderung fangen die Menschen an zu philosophieren. “ 2 Cusanus setzt beides sogleich in die Beziehung : „Der Verwunderung, auf der das Philoso phieren beruht, geht ein Verlangen nach Wissen voraus, damit die Einsicht 57 S 245 (V2 184 " ). 58 P s. - Dionysius , De cael. hier. III , 2 (PG 3, 166 A) .

59 S 243 (V2 180°6) ist dies von den Engeln gesagt. De filiatione Dei (P 66 ') wird das selbe vom Menschengeiste in der Gottesschau breiter ausgeführt (vgl. Vf I 32—34) . 69 Vgl . oben Anm. 33. Auf diese Augustinus-Stelle bezieht sich Cusanus in S 248

(V2 189**). Cod. Cus. 21 , 147 ** schrieb Nikolaus zu der Eckhart-Predigt: „Scriptum est, quia domus mea domus orationis vocabitur', an den Rand : Nota, quod imago Dei capax est eius. Eckhart nennt dort Augustinus nicht. 61 Origenes , Ilɛpi dpxūv lib. II, c. 11 ( PG 11 , 244 A) . Cusanus schrieb Cod . Cus. 50, 228* dazu die Randbemerkung: Exemplum bonum ! 62 S 224 ( V2 150+ ): Gratia autem est inscriptio caelestis Verbi in anima ; unde abbas

Perseniensis: , 0 felix et appetenda inscriptio, ubi caelestis sapientiae verbum lineis animae inscribitur, quas fecit et exarat innocentiae rectitudo, aequitatis propositum, intentionis simplicitas, mansuetudo infantiae spiritualis. Die Stelle steht bei Adamus abbas Perseniae , ep. 20 ( PL 211 , 651 A) . 1 Aristoteles , Met . I, 1 (980 a 21 ) . Cusanus, D. Ign . I, 1 (H 5 , 3 11 ) . · Aristoteles , Met. I, 2 (982 b 12). – Cusanus, D. Ign., ep. dedicat. (H 2, 2) . 51

Die natürliche Gottessehnsucht der Seele

( intellectus), deren Einsehen Sein ist , sich im Eifer für die Wahrheit vollende." 4 Daran knüpft er zwei weitere Leitsätze: daß ein natürliches Verlangen nicht vergeblich “ ist und daß es durch die Schwerkraft (pondere) der Natur nur in

dem geliebten (Gegenstande) zur Ruhe kommen kann “ 5. Aus Origenes merkte sich Nikolaus besonders die folgende Stelle : „ Wie das Auge von Natur aus nach dem Licht und Sehen verlangt und unser Leib kraft seiner Natur Speise und Trank fordert, so liegt auch in unserem Geiste ein ihm eigenes natürliches Verlangen, die Wahrheit Gottes und die Urgründe der Dinge

zu erkennen . Wir haben dieses Verlangen aber nicht deshalb von Gott empfan gen, damit es nie erfüllt werden dürfte noch könnte. Sonst schiene ja die Liebe zur Wahrheit unserem Geiste umsonst eingepflanzt.“ 6

Solche Gedanken bilden auch bei Cusanus eine metaphysische Fundierung des religiös-mystischen Grundzuges, der sein philosophisch -theologisches Schrifttum beseelt.

Die Docta Ignorantia legt bereits einen Akzent darauf, daß „ sich die geistige Natur, die über der Zeit steht, ... in natürlichem Drange auf die ganz erhabene ? Wahrheit als das Ziel all ihrer Wünsche und ihren letzten, überaus beseligenden

Gegenstand hinbewege “ 8. Nikolaus preist deshalb Gott, „ der uns ein Einsichts vermögen gab, das nicht im Zeitlichen zu ersättigen ist ... und erkennt, daß sein

begehrtes Einsichtigleben nur durch den Genuß des Höchsten und Größtguten er füllt werden kann, das nie aufhört und dessen Genuß nicht in Vergangenheit übergeht, weil das Begehren im Genusse nicht abnimmt“ 9.

Die moselfränkische Vaterunser-Predigt betrachtet das Gott-Verlangen unseres Geistes als eine Dreieinheit von Unsterblichkeits-, Wahrheits- und Glücksstreben

und eignet diese den drei göttlichen Personen als einen nach seinem Ursprung zurückstrebenden Abglanz des innergöttlichen Lebens zu 10. In der Folgezeit tritt aber wiederum das der göttlichen Weisheit zugeordnete Erkenntnisstreben be sonders hervor, jedoch als ein Drang, der die ganze Seele erfaßt: „Um Gott zu suchen, bist du in diese Welt gekommen“ , heißt es in De quaerendo Deum 11 . „ Um zur Weisheit zu gelangen, kann nur der richtig gehen, der sie mit höchstem Verlangen sucht. Sucht man sie so, sucht man sie auf geradem Wege und wird sie auch ohne Zweifel dadurch finden, daß sie sich selber zeigt. “ 12 2. Das 1. Buch von De sapientia enthüllt die göttliche Weisheit selbst als Ziel und Ursprung alles menschlichen Wahrheitssuchens. Diese „ lockt uns dadurch, 3 Zu: ,intellectus , cuius intelligere est esse' vgl. Aristoteles , Met. XII, 7 ( 1072

b 27); Cusanus, De sap. I (H 14, 4) : Suum esse est vivere, suum vivere est intelligere; zu dem Ternar : esse, vivere, intelligere vgl. Vf I 57–59. 4 D. Ign ., ep. dedicat. ( H 2 , 2—4) .

5 D. Ign. I, 1 (H 5, 7 f.); vgl. Augustinus , Confessiones XIII , 9 ( CSEL 33, 351, 24 ): Pondus meum amor meus.

6 Origenes , Ilepi đpxūv II, 11, 4 (PG 11 , 243 C ).Dazu schrieb Cusanus (Cod. Cus. 50, 228") ein „nota ! ' an den Rand. Zu dem ganzen Kapitel (De repromissionibus) bemerkte er : „Nota totum capitulum, quia bene dicit ! ' ? Das ,abstractissimam ' ist hier in erster Linie9 ontisch gemeint. 150, 1 ) . 9 D. Ign . III , 12 ( H 160, 16–22 ) . 8 D. Ign . III , 10 ( H 149, 22 10 S 18 n . 21 f. ( H 50, 16 - 52, 5) ; vgl. S 17 n . 28 (H 16) .

11 De quaerendo Deum (P 200 '). 52

12 Ebd. P 199 '; vgl. S 53 (V1 104 ).

Vorgeschmack und Erfüllung daß sie in allen Dingen widerleuchtet, durch einen gewissen Vorgeschmack“, und

wir werden in einem wundersamen Verlangen zu ihr hingezogen“ 13. Das Ein sichtsvermögen hat aber auch von Natur aus in sich selbst „ einen gewissen Vor geschmack' von ihr“ , ähnlich wie das Eisen von dem Magneten. „Läge nämlich im Eisen nicht irgendein natürlicher Vorgeschmack ' des Magneten , so bewegte es

sich nicht mehr auf den Magneten zu als auf einen anderen Stein“ , denn das geht „ über seine Natur hinaus, die infolge der Schwere nach unten zieht “ 14.

Unter dem Einfluß der göttlichen Weisheit wird somit der Menschengeist als deren lebendiges Bild voller Verlangen zu seinem Urbild hingezogen ; und da jene Lebensbewegung nur in dem unendlichen Leben ruhen kann, das die ewige

Weisheit ist, so kann (auch ) diese geistige Bewegung nicht aufhören, da sie das unendliche Leben nie in unendlicher Weise erreicht. Unaufhörlich wird also das

von höchstem Entzücken erfüllte Verlangen entfacht, das zu erreichen, bei dessen Erlangen es keinen Überdruß gibt.“ 15

Nur in der Ewigkeit und Unendlichkeit Gottes kann also der menschliche Wahrheitsdrang seine Erfüllung finden. Hier zeigt die „negative “ Theologie, welche die Aussagen ,Unendlichkeit“ und „Unbegreiflichkeit“ über die affirma

tiven Gottesnamen erhebt, ihren eminent positiven Gehalt. Noch deutlicher kommt das in der Schrift „ Uber das Sehen Gottes “ in Kapitel 16 mit der unübersetzbaren Überschrift: Nisi Deus esset infinitus, non esset finis

desiderii 16, zum Ausdruck. Dort gibt Cusanus zugleich auch eine der wertvollsten Erklärungen der docta ignorantia als spekulativ -mystischer Erkenntnismethode: „ Ich sehe, daß Du, o Gott, deshalb allen Kreaturen unerkannt bist, damit sie in diesem heiligen Nichtwissen um so mehr ihre Ruhe finden gleichwie in einem unzählbaren unerschöpflichen Schatz ... Das geistige Verlangen geht nämlich nicht auf das, was größer oder ersehnenswerter sein könnte. Alles diesseits des Unbegrenzten kann größer sein. Das Ziel des Verlangens ist also unbegrenzt. Du, o Gott, bist somit die Unbegrenztheit, die ich in allem Verlangen ersehne ...

Mein Verlangen wird also von dem ewigen Ursprung, der es zum Verlangen macht, dem Ziel ohne Grenze (ad finem sine fine), dem Unbegrenzten zugetrie ben ... Was die Einsicht sättigt oder ihr Ziel ist, ist also nicht das, was sie ein sieht ; aber auch das kann nicht sättigen, was sie vollkommen nicht einsieht, son dern nur das, was sie durch Nichteinsehen einsieht' ...“ 17

13 De sap. I (H 12, 1-3) . 14 De sap. I ( H 15, 16 — 16,6) . – Wie der Zusammenhang zeigt, ist hier unter

praegustatio“ kein aktueller Vorgang, sondern nur die Empfänglichkeit des Eisens für die Einwirkung des Magneten und die Empfänglichkeit des Geistes für die Einwirkung der göttlichen Weisheit gemeint. 15 De sap. I (H 17,1–14 ); vgl. S 123 ( V26 ): Unde attendendum intellectum humanum summo desiderio affici, ut sit vivens vita infinibili ... delectabiliter ; Brief vom 22.9. 1452

an Kaspar Aindorffer (Vansteenberghe, Autour 112) . — Augustinus, De civ . Dei XXII, c. 30 (CSEL 40, II 666): Ipse finis desideriorum nostrorum , qui sine fine videbitur, sine fastidio amabitur, sine fatigatione laudabitur.

16 De visione Dei c. 16 (P 107°) . Das lateinische ,finis' enthält den Doppelsinn : Grenze Ziel.

17 De visione Dei c. 16 (P 107") . 53

Verlangen, Erkenntnis und Liebe

3. Die Frage der Benediktiner von Tegernsee, ob der Geist sich auch ohne vorheriges Erkennen zu Gott erheben könne 18, war ein Anlaß, daß sich der Kar dinal fortan mehr als zuvor den psychologischen Grundlagen der Gotteserkennt nis zuwandte. Dabei hielt er zwei Leitsätze fest : erstens, daß der Liebe eine

gewisse Erkenntnis vorausgehen, und zweitens, daß Erkenntnis und Liebe zu sammenwirken müssen, um zur Höhe der Gotteserkenntnis hinzuführen 19. Dazu kommt immer deutlicher die Annahme einer in der Natur des Geistes begründe ten, der aktuellen Gotteserkenntnis vorausgehenden unbewußten Sehnsucht nach Gott.

So wird schon in Predigt 255 die Hinneigung des inneren Menschen zu Wahr

heit, Gerechtigkeit, Güte usw, als ein Licht der Natur bezeichnet, das Gott offen bart ; entsprechend werden auch die verschiedenen Namen Gottes als verschiede

ner Ausdruck des Verlangens nach Gott gedeutet 20. Dabei stützt sich Cusanus auf die innere „ Erfahrung, daß in uns ein einsichtiger Geist ist, der sich auf das absolut und der Wesenheit nach Gute, Wahre, Gerechte usw." richtet 21 .

Den Mönchen von Tegernsee erläutert er die Tatsache, daß der verborgene

Gott von den Augen aller Weisen gesucht werde“ , am Beispiel eines Jagdhun >

des, der schon von Natur aus irgendeinen Eindruck der Spezies Hase haben müsse, da er sonst nicht ohne weiteres dem ersten besten Hasen nacheilte 22. ,,Ähnlich würden auch wir, wie Augustinus sagt, Gott nicht suchen , wenn wir Ihn gar nicht kennten. “ 23

Das ist nicht im eigentlichen Sinne von angeborenen Spezies zu verstehen, son dern so, daß der menschliche Geist wie auch alle anderen Wesen schon von Natur

aus und vor aller Erkenntnis ein allgemeines Verlangen ( commune desiderium)

nach Gott habe und so „ nach dem Unbekannten verlange, dem er, da er es nicht in sich erfassen könne, den Namen des Einen beilege, indem er dessen Wesensart (hypostasim) irgendwie aus dem unausrottbaren Verlangen aller Dinge nach dem Einen erahne “ 24 .

18 Brief des Kaspar Aindorffer vor dem 22. 9.1452 (Vansteenberghe, Autour 110) . 19 Vgl . z. B. den Brief vom 22. 9. 1452 an Kaspar Aindorffer (Vansteenberghe , Autour 111 f.) .

20 S 255 (V2 200va -b).

21 S 277 ( V2 266" ).

22 Brief vom 12. 2. 1454 an K. Aindorffer (Vansteenberghe, Autour 121 f.) ; vgl . Compendium c. 6 (P 171'): habetque (homo) cognatas species insensibilis virtutis iusti et aequi, ut noscat, quid iustum ..., et eligat bona .

23 Brief vom 18 3. 1454 an Bernh. v. Waging (Vansteenberghe , Autour 135) ; vgl. De apice theoriae ( P 219') : Quidditas, quae semper quaesita est et quaeritur et quaeretur, si esset penitus ignota, quomodo quaereretur?

24 De principio n. 27 (V2 254" ). Ein Teil dieses Textes entstammt einer Randbemer kung des Kardinals (Cod. Cus. 186 , 147 ") zum Schlußteil des Parmenides- Kommentars

des Proklos, ed. R. Klibansky et C. Labowsky , Parmenides usque ad finem primae hypothesis necnon Procli Commentarium in Parmenidem , pars ultima adhuc inedita interprete G. Moerbeka, in : Plato Latinus III (London 1953) : Nota , quomodo dicit, quod incognitum desiderans et comprehendere non potens ponit denominationem unius divi nando (so jedenfalls De principio a. a . O. , nicht : divinanti , wie Klibansky 105 schreibt)

aliqualiter ypostasim eius, licet divinus intellectus intellectualiter non cognoscat le unum , sed unitus ad ipsum inebriatus nectare natura quidem melius quam cognitione habet commune desiderium .

Diese Glosse ist hinwiederum eine teils wörtliche, teils freiere

Wiedergabe des Proklos -Textes (Klibansky 58) .

54

Vom „Leben“ und „Sterben“ des Geistes

Auch die Schrift De venatione sapientiae kommt bei dem Studium der grie chischen Philosophiegeschichte zu dem Resultat: Die Philosophen werden als „Jäger nach der Weisheit“ durch einen in der Natur des Geistes liegenden Drang

(appetitus) nicht nur zur Wissenschaft, sondern zur Weisheit als ihrer geistigen Speise hingetrieben 25. Sie gelangen dabei jedoch nicht zur Erkenntnis des Wesens Gottes, wohl aber seines Daseins und seiner überragenden Größe 26. 4. Was Nikolaus von Kues über die Unersättlichkeit des menschlichen Wahr

heits- und Glücksverlangens sagt, erinnert sehr an das Augustinus-Wort : „Du hast uns auf Dich hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir, o Gott. “ 27 Er möchte dabei vor allem die Größe des Glückes bewußt machen , das

der Mensch sucht und nur in Gott finden kann, zugleich aber auch die „ existen

tielle Notwendigkeit“ , Gott als das ewige Ziel zu erreichen. Das zeigt besonders eindringlich die Schilderung des ewigen Unheils, die in der Docta Ignorantia 28 auf die Darstellung des nur durch Gott zu erfüllenden Erkenntnisstrebens folgt :

„Wenn der vom Leibe gelöste Intellekt ... nicht zum ersehnten Ziel ge langt, sondern, während er die Wahrheit erstrebt, in Unwissenheit fällt und,

während er in höchster Sehnsucht nach nichts anderem verlangt, als die Wahrheit selbst – nicht nur in Rätselbild oder Zeichen, sondern in gewisser unmittelbarer

Schau — zu erfassen, infolge seiner Abkehr von der Wahrheit, wie sie zur Stunde seiner Trennung bestand, und der Hinwendung zum Vergänglichen in das Ver gängliche, das er ersehnte, sowie in Ungewißheit und Verwirrung bis in das fin stere Chaos unerfüllter (geistiger) Möglichkeit, in der es keine wirkliche Gewiß

heit gibt, hineinfällt, dann sagt man mit Recht, er sei in den geistigen Tod ge stürzt. Für die Geistseele ist nämlich ,Einsehen Sein' , und das ersehnte ,Einsehen ist für sie Leben “ 29. Wie also für sie das ewige Leben in der Wahrnehmung des Ewig -Bleibenden besteht, so ist es für sie ewiger Tod , von jenem ersehnten Blei

benden getrennt zu werden und kopfüber mitten in das Chaos der Verwirrung hineinzustürzen , wo sie in immerwährendem Feuer gequält wird in einer Weise, die wir nicht anders verstehen denn als Qual der Beraubung an Lebensnahrung und Gesundheit, und nicht nur das, sondern auch an der Hoffnung, diese je zu

erlangen . Ohne Erlöschen und Ende stirbt sie so immerzu im Todeskampfe. “ 30 5. Suchen wir das Gesagte nun noch durch die Beantwortung folgender drei

Fragen zu erläutern: 1 ) Worauf gründet Cusanus die Zuverlässigkeit und Un trüglichkeit des menschlichen Glücksverlangens? 2) Wie steht er zu dem Problem des , natürlichen Verlangens nach der Gottesschau " ? Liegt dieses nach ihm in der rein natürlichen Ordnung? 3) Ist insbesondere die „ Unersättlichkeit “ des mensch

lichen Wahrheits- und Glücksstrebens noch natürlichen Ursprungs?

Zu 1 ) Nikolaus erwähnt mehrmals das auf Aristoteles zurückgehende und der 25 De ven. sap., prol. und c. 1 ( P 201'-").

26 Ebd. c. 12 (P 205") .

27 Augustinus, Conf. I, 1 , 1 (CSEL 33, 1 ) . 28 D. Ign. III, 10 (H 150, 5—21 ) ; vgl. Platon , Phaidon c. 29 f.

29 Siehe Anm. 3.

30 Ähnliche Gedanken kehren bei Zusanus oft wieder; vgl. unten S. 80 f. Zum Schluß satz vgl. Gregorius M., Dial. IV, 45 (PL 77, 405 B) . 55

Die Untrüglichkeit natürlichen Verlangens

Scholastik, insbesondere Thomas von Aquin geläufige Theorem 31 , daß ein natur

haftes Verlangen „ nicht umsonst“ (frustra) sein könne. Dafür bietet er die Begründung : „ Ein Verlangen geben ohne die Hoffnung auf Erfüllung bedeutete eine Folterung. Das ist dem höchstguten Gott nicht zu zuschreiben , der ,nur gute Gabe zu geben weiß' 32. Deshalb haben alle Propheten und auch heidnische Weise, die sahen, daß der Geist nicht aus sich zu dem, was

er ersehnt, gelangen könne, aber auch wußten , daß dies Verlangen nicht ver gebens in ihnen liege, versichert, daß der, welcher der Geistnatur das Verlangen

gab, ihr auch die Gnade zu dessen Erreichung erteilen werde. “ 38 , Wer dies Ver langen gab, ist auch mächtig genug, es zu erfüllen .“ 34 — Die göttliche Vorsehung läßt es nicht an dem Notwendigen fehlen und wendet keine überflüssigen Mit tel an 35.

Die Untrüglichkeit des menschlichen Glücksverlangens beruht also auf der Untrüglichkeit der göttlichen Güte und Vorsehung. Daher, daß Gott den Men schen dazu führen will, daß er Ihn erkenne, „ kommt es, daß alle von Natur aus >

nach Wissen verlangen“ 36. Deswegen scheint Cusanus, wie auch Thomas 37, darauf zu verzichten, aus dem desiderium naturale einen Beweis für das Dasein Gottes zu führen. Um so schlüssiger wird die auf der Voraussetzung des Daseins Gottes aufgebaute Argumentation für die Unsterblichkeit der Seele 38 und für die in Gott liegende Zielbestimmung des Menschen . 6. Zu 2) In der Frage, ob Thomas von Aquin ein natürliches Verlangen nach

der Gottesschau “ lehre, standen sich zu Anfang des 16. Jahrhunderts die An sichten Kajetans ( Thomas de Vio) und des Franziskus Silvestris (Ferrariensis)

gegenüber. Kajetan versuchte die heute fast allgemein aufgegebene Erklärung, der Aquinate habe nur ein Verlangen der ins Übernatürliche erhobenen Natur gemeint. Nach der Ansicht des Franziskus Silvestris nimmt Thomas eine natür liche Hinneigung des menschlichen Intellektes nach der Gottesschau an 39. Dieser Annahme scheint jedoch die ernste Schwierigkeit oder sogar der Widerspruch entgegenzustehen, daß die Übernatürlichkeit der über die Natur des Menschen hinausliegenden Gottesschau nicht gewahrt bleibt, wenn die Natur des Men schen nach dieser verlangt und sie somit als natürliches Ziel anstrebt 40. 31 Vgl . Lemeer, De desiderio 41–46. 32 Vgl . Mt 7 , 11 . 33 S 208 (V2 1266) ; vgl. die oben S. 52 f. zitierte Stelle aus Origenes , llepi &pxūv II, 11 ( PG 11 , 243 C) .

34 S 265, 1 (V222256); vgl. Aldobrandinus , Sermo ,Cum descendisset' (von Cusanus

zit. S 261, V2 21374), Cod. Ottob. 557 , 66** : Quantum potest homo desiderare, tantum potest Deus dare .

35 De ven. sap. c. 20 (P 208°): Divina enim providentia, sicut non deficit in necessariis, ita non abundat in superfluis.

36 S 181 (V2 89" ).

37 Vgl. G. M. Manser, Das Wesen des Thomismus, 3. Aufl., Freiburg /Schweiz 1949, 367—92 . 38 Vgl. z. B. S 285 (V2 27876—2794a). 39 Lemeer , De desiderio 15. Auer, Entwicklung I 47 : Ein natürliches Streben nach der übernatürlichen Glückseligkeit wurde vom 13. bis 16. Jahrh. allgemein von den Theologen angenommen . Das änderte sich mit der Verurteilung von daran erinnernden Sätzen des Bajus und Jansenius. Heute neigt man wieder mehr dazu, das natürliche

Streben anzunehmen. Über die Ausprägung dieser Auffassung in der Hochscholastik s. Auer 46–54 . 56

40 Vgl. Lemeer, De desiderio 15—26 .

Gott als sein Ziel

Nikolaus von Kues ist irgendwie im Sinne dieser zweiten Ansicht zu verstehen , wie die angeführten Texte zeigen. – Ist er also dem verfallen, was ihm Johannes Wenck mit heftigen Worten vorhielt, „ daß er die Ordnungen des Natürlichen und des Gnadenhaften in freventlicher Weise durcheinanderwerfe" ? 41 - Aus der

Einordnung der zitierten Texte in die weiteren Zusammenhänge der cusanischen Lehre von der Gotteserkenntnis ergibt sich folgende Lösung :

Gott gab dem Menschen die objektive Zielbestimmung, seine Herrlichkeit zu sehen, und legte in seine geistige Natur hinein einen solchen Wahrheitsdrang,

daß er, wie Cusanus wohl im Anschluß an Platon 42 sagt, „ eher nicht zu existieren wünscht, als ohne jede Einsicht zu sein“ 43. Aber der Gegenstand dieses Wahrheitsdranges ist nicht schon ohne weiteres

und explicite Gott. Noch weniger nimmt der „Philosoph der docta ignorantia “ an , daß der menschliche Geist schon von Natur aus nach der Schau Gottes im

Lichte Gottes verlange. Das Reich des menschlichen Erkennens ist vielmehr zu nächst, in dem Maße, wie es erwacht, ganz allgemein „die Wahrheit“ . Darin ist Gott als die absolute Wahrheit allerdings in besonderer Weise eingeschlossen,

und das auf das Absolute, das Unbegrenzte und Ewige gehende menschliche Wahrheits- und Glücksstreben stellt auch eine besondere Anlage zur Erkenntnis des göttlichen Daseins und darüber hinaus in beschränkter Weise auch des gött lichen Soseins dar 44; es erreicht dieses jedoch zunächst nicht in sich , sondern in

Bild und Gleichnis. Wieweit aber Gott in expliziter Weise selbst aktuell und for mell Gegenstand des irdisch -menschlichen Wahrheitssuchens wird , hängt ent scheidend von dem einzelnen, insbesondere auch von der erforderlichen geistigen Gesamtdisposition für die Annahme der übernatürlichen Offenbarung und der Gnade ab.

Anders wird das, wenn sich die Seele beim Tode vom Körper löst; denn dann kann sich das ganze Wahrheits- und Glücksstreben nur noch auf Gott, die abso lute Wahrheit, richten. Erst da fallen für den Menschen somit Wahrheitsstreben

und Gottsuchen dem Gegenstande nach adäquat zusammen. Daher scheint Cusa nus nur im Zusammenhang mit dem göttlichen Richterspruch 45 von einem (natur

haften ) Verlangen nach der unmittelbaren Gottesschau zu sprechen 46. Wo er sonst das natürliche Streben des Menschengeistes der seligen Schau gegenüberstellt, geschieht das so, daß in letzterer die (gnadenhafte) Erfüllung alles menschlichen Verlangens gesehen wird. In De Possest wird das erst positiv, 41 Joh. Wenck , De ign. litt., concl. 10 , coroll. 1 (Vansteenberghe 39) . 42 Platon , Phaidon c. 6 (61 e) ; vgl. c. 9 (64 a—b) .

* Cibr. Alchoran II, 17 (P 140"); vgl. De beryllo c. 38 ( H 53) ; Brief vom 11. 6.1463 quam omnino non esse', s. Thom . v. A q., S. theol. III (Suppl.) q. 98, a. 3 ad 1 .

(Siz 160* ). Zur thomistischen Antwort auf den Einwand: ,Maius est esse et miserum esse

44 In De ludo globi II (P 165') erklärt Nikolaus die Konstanz eines natürlichen intel lektualen Verlangens nach Gott wie folgt: In anima rationali una est perpetua et finalis intentio acquirere scientiam Dei, hoc est in se habere notionaliter hoc bonum, quod

omnia appetunt. Nunquam enim illam mutat rationalis anima, ut rationalis est. Sunt et aliae secundae intentiones, quae, quando ab illa prima intentione deviant, mutantur

primo desiderio firmo permanente. * Vgl. die Überschrift von D. Ign. III, 10 : De sententia iudicis.

46 Vgl. oben S. 55. 57

Die Stammeltern

dann, wie meist, negativ so formuliert: „Die höchste Glückseligkeit, die in der

geistigen Schau des Allmächtigen selbst besteht, ist die Erfüllung des Verlangens, durch das wir alle zu wissen begehren 47. Wenn wir also nicht zu dem Wissen Gottes gelangen, durch das Er die Welt erschuf, so kommt unser Geist nicht zur

Ruhe; denn solange dieses nicht erreicht ist, fehlt immer noch das Wissen alles Wissens. “ 48 — Demnach bleibt die Sehnsucht nach Gott im Rahmen der Empfäng lichkeit des Natürlichen für das Übernatürliche : In der visio beata empfängt der

Menschengeist alles, für was er als lebendiges Bild Gottes durch sein Wahrheits und Glücksstreben empfänglich ist, ohne sie fehlt ihm dies alles.

Zu 3) Die dritte Frage ist somit zu bejahen in dem Sinne, daß der Menschen seele nach dem Tode jedenfalls nur Gott genügen kann. Könnte sich aber der Mensch auch schon im irdischen Leben ohne Gnadenhilfe bewußt werden , daß das begehrte Einsichtig -Leben nur durch den Genuß des Höchst- und Größtguten

zu ersättigen ist“ 49, und ein solches Verlangen aktuieren? Dagegen steht, daß ein solcher Genuß sachlich die visio beatifica selbst wäre.

Immerhin scheint

Cusanus noch an ein natürliches Verlangen zu denken, indem er den unnahbaren Gott, an dem es liegt, daß wir Ihm nahen können , dafür preist, daß Er „ uns ein

Ihm zugekehrtes Antlitz gab mit dem höchsten Verlangen, (Ihn) zu suchen “ 50.

B. Der Sündenfall des Menschen und der Erlösungsratschluß Gottes I. DIE URSPRÜNGLICHE GNADENHAFTE AUSSTATTUNG DER MENSCHLICHEN NATUR IN DEN STAMMELTERN

1. „Um Seiner selbst willen “ hat Gott den Menschen erschaffen und ihm die

über das natürliche Erkennen hinausgehende Schau seiner Herrlichkeit als Ziel gesetzt. Weil es aber die göttliche Vorsehung nicht an den notwendigen Mitteln

fehlen läßt“ 1 , „ gab Gott dem Menschen , den Er schuf, auch das, was er benötigte, um zur Schau seiner Herrlichkeit zu gelangen“ 2. Die innere Verfassung, in der Adam aus der Hand des Schöpfers hervorging, 47 Vgl. De ludo globi II (P 166').

48 De Possest (P 179"). Außer den bereits zitierten Stellen vgl. noch S 239 ( V : 171 "), S 195 (V2 114 " ), S 261 (V2 21354). 49 D. Ign. IIÍ , 12 ( H 160, 19 f.) .

50 D. Ign. II, 13 (H 114 , 3—7). – Die folgenden Stellen sind von einem gnadenhaften

Emporgezogenwerden zu verstehen: De sap. I (H 16, 12–14) : Qui enim quaerit motu intellectuali sapientiam, hic interne tactus ad praegustatam dulcedinem sui oblitus rapitur in corpore extra corpus; S 196 (V2 114" ); Aeterna laetitia animam in se attrahit, quae capax est eius; S 266 (V. 22576) : Interior homo est capax lucis seu Verbi Dei ... , rapitur ad Verbum Dei .

1 De ven. sap. c. 20 (P 208“) . 58

Brief vom 6. 11. 1463 (Siz 160 " ).

Ihre ursprüngliche leib-seelische Harmonie suchte schon der junge Cusanus näher zu beschreiben : „ In seiner unaussprechlichen Güte stattete Gott den Menschen mit unbegrenzten , Gaben aus, mit freiem Willen und Verstand, damit er durch den Verstand seine Herkunft und seinen Schöpfer erkenne, in freier Entscheidung Ihn liebe und seine gottgegebenen, natürlich guten und auf Gott hingeordneten Kräfte nach oben richte und durch die Tugenden des Gehorsams und der Liebe sittlich mehre. " s - „Er rüstete ihn mit einem Verstande aus, durch den er das Sinnenleben beherrschen, mit einem Willen, durch den er auf dem Wege der Liebe in Gott eingehen, und mit einem Gedächtnis, durch das er in sich selbst stehen sollte . " 4 — In diese auf Gott hingehende Zielstrebigkeit der geistigen Kräfte fügte sich auch das ganze Triebleben harmonisch mit ein. Gott „ gab (ihm) Strebe- und Begehrungsvermögen, um (ihn) durch eine von Lust und Neigung begleitete Liebe emporzurichten. Er gab ihm Kampfesmut (vis irascibilis) , durch den er mit Entrüstung, hoffnungsvoll und kühn das zurückweisen sollte, was Gott und dem, was er liebte, zuwider wäre. “ 5 „So herrschte ungeteilte Einheit und Eintracht unter all diesen Kräften: Dem Willen und dem Verstande gehorchten die Sinne. Diese Eintracht wird von den ,Heiligen' (Schriftstellern) ursprüngliche Gerechtigkeit genannt. " Anschließend bezeichnet Nikolaus die auf Gott gerichtete Zielstrebigkeit der Kräfte als „ mitgeschaffene Ordnung “ . „Traurigkeit, Schmerz und das übrige gab es damals im Menschen nur der Anlage (habitualiter) und der Möglichkeit nach (potentialiter) . Durch die Sünde traten sie wirklich ein. “ 6 So sagt Cusanus vielleicht unter Anlehnung an Thomas von Aquin7 . Der Tod ist unter dem „ übrigen" mitgemeint 8. Den spekulativen Grund, dem Menschen eine solche hohe, vom Schöpfer empfangene Vollendung zuzuschreiben, faßt Nikolaus in den Satz : „ Vom Besten kommt nur das Beste. " Das erklärt er nachträglich : „ Denn es (das Geschaffene) war aus dem Nichts seinen (Gottes) Ideen ähnlichgemacht, durch Gottes Güte gut, (durch seine Größe) groß, ( durch seine Wahrheit) wahr usw. " 9 Dabei lehnt sich Cusanus beide Male an Raimund Lull an 10. Das „ Paradies ", in das Gott den Menschen bei der Erschaffung versetzte (Gn 2 , 8), deutet die frühe „ Predigt 19 " allegorisch: „ Er versetzte eine ganz reine Seele in einen aus Erde gebildeten, aufs beste zu ihr passenden und ihr gehorsamen Leib; Er gab ihr Gewalt über das ganze Paradies, den ganzen Leib, damit sie sich aller leiblichen und geistigen Sinne bedienen könne . Dann schrieb Er ihm vor, daß er ,nicht von dem Baume esse , der in der Mitte steht' (Gn 2 , 17 ) , das heißt, daß er nicht den Verstand in freier Entscheidung mißbrauche und seine

* „S 19" (C 57 , 51–56) . 4 S 3 (C45 , 32 f. ) ; vgl . Vf I 197. 5 S 3 (C 45', 34 f.) . S 3 (C 45' , 38—40 36 f.) . 7 S. theol. I q. 95, a. 2 leugnet Thomas das aktuelle Vorhandensein von passiones im Urzustand. Von den Tugenden, in denen eine Unvollkommenheit liegt (dabei wird auch dolor genannt) , bemerkt er : poterat huiusmodi virtus ibi esse secundum habitum, sed non secundum actum. 8 Vgl. unten S. 324 ; Thom v. A q. , In Sent. II d . 19 , q. 1 , a . 2 , sol . (II 486) . S 3 (C 45', Z. 36 und Nachtrag am linken Rand) . 10 Vgl. Vf I 198 Anm. 132 sowie 339, 1 f. 59

Die Stammeltern im Paradies “ 99

Kräfte (principia ) durch Stolz der Erde zu, nach unten aus der Ordnung bringe, die ihm zum Gehorsam nach oben eingepflanzt waren. “ 11 Über die Übernatürlichkeit “ dieser besonderen Gaben äußert sich Cusanus zunächst nicht näher. Sie liegt in dem überlieferten Sinn der Worte iustitia

originalis' und ,ordo concreatus'. Es ist für ihn wie für Thomas von Aquin „ hand

greiflich, daß jene Unterordnung des Körpers unter die Seele und der niederen Kräfte unter den Verstand nicht natürlich war, da sie sonst nach der Sünde ge blieben wäre “ 12.

2. In der Folgezeit wird es deutlich gesagt, daß die ursprüngliche Gerechtigkeit Adams „ frei geschenkte Gnade“ war 13. Die Übernatürlichkeit der besonderen Gaben wird auch dadurch zum Ausdruck gebracht, daß das Paradies, das zunächst noch weiter auf den Leib Adamsgedeutet wird, im Anschluß an Gn 2,8 von dem Lande, in dem Adam erschaffen und in das er nach seiner Sünde „ zurückversetzt“ wurde, unterschieden wird 14.

In Predigt 50 heißt es nach einer phantastischen Schilderung des Paradieses, nach der dieses bis zur Mondkugel gereicht hätte 15, unter diesem wunderbaren und lieblichen Garten ließe sich verschiedenes Geheimnisvolle verstehen : der

Himmel, die triumphierende Kirche, der Mensch , Christus oder seine Mutter 16. Andernorts wird erklärt, der innere Mensch sei für Gott der Garten der Wonne 17. Cusanus ersetzt also die Deutung auf den menschlichen Leib durch die Aus legung auf Geistiges und Gnadenhaftes 18. Dabei entfernt er sich jedoch merklich von der früher vertretenen thomistischen Sentenz, nach der die übernatürliche Ordnung „ mitgeschaffen “ ist 19. Auf die ge nannte Genesisstelle und einen Kohelet- Vers gestützt, entwickelt er in Predigt 172 nämlich die Ansicht: „Gott erschuf den Menschen außerhalb des Paradieses, dann versetzte er ihn in das ,Paradies' , als er ihm das Geschenk der Unschuldsgnade (innocentia) gab, auf Grund dessen er bei dem Baume des Lebens hätte bleiben 11 „ S 19“. (C 57', 56—62). Dem entspricht das Folgende (Z. 67 ) : ,Tamquam exsul et peregrinus factus est de paradiso , quoniam rebellio orta est in corpore contra animam . S 3 ( C 45', 29 f.) deutet durch die Worte , (Hon

em ) foris amoenitate paradisi decoravit

et intus plena rerum notitia perfectissime implevit ',13dieselbe Allegorie an. 12 Thom. v. A q., S. theol. I q. 95, a. 1 c. S 50 (V1 47 " ). 14 S 34 (C 132", 27—31 ) : Creavit eum Deus de terra ; sed non voluit eius habitationem esse terram , sed transtulit eum de terra in paradisum, ut viveret de arbore vitae. Spiritus

enim, qui ad imaginem Dei creatus est, in corpore ponitur ut in paradiso , ubi sunt quattuor fluvii humorum et lignum vitae et arbor scientiae. - S 23 (V. 84 ): Eiectus est de paradiso et repositus in terra propria ; vgl. Notiz C 3', 8. 15 Der Text stimmt zum Teil auffallend mit Thom. v. A q., In Sent . II d. 17 , q. 3, a. 2 -

>

( II 438) überein.

16 S 50 (V1 4856_va). Vgl. Augustinus , De Gen. ad litt. XII, 34 (CSEL 28 , I 430) : Proprie quidem nemorosus locus, translato autem verbo omnis etiam spiritalis quası regio, ubi animae bene est , merito paradisus dici potest, non solum tertium caelum ..

verum etiam in ipso homine laetitia quaedam bonae conscientiae paradisus est. Unde et ecclesia sanctis temperanter et iuste et pie viventibus paradisus recte dicitur. 17 S 172 (V2 7946) .

18 Nach Bonaventura, In Hexaemeron coll. 17, n. 5 (V 410) ist die Seele ein Para ?

dies, in das die Heilige Schrift eingepflanzt ist; vgl.De plantatione paradisi n. 5 (V 575 b) Ambrosius, De paradiso I, 6; III, 12 (CSEL 32, I 267 272) .

19 Thom v. A q., S. theol. I q. 95 , a. 1 ( I 466 f.); vgl. Auer , Entwicklung I 75 f. 60

Ihre ursprüngliche Gnadenausstattung können. Salomon 20 sagt, Gott habe den Menschen erschaffen und die Rechtschaffenheit (rectitudo) hinzugefügt. “ 21 Demnach wäre Adam also erst nur seiner Natur nach erschaffen und dann gnadenhaft ausgestattet worden. Das entspricht der Lehre , die Bonaventura als die verbreitetere und wahrscheinlichere vertritt 22. Es scheint, daß Nikolaus so die Eigenständigkeit der menschlichen Natur gegen einen übersteigerten Supranaturalismus schützen wollte 23. Von dieser Erklärung zu Gn 2, 8 her versteht es sich, daß der vorangehende Vers, der von der Einhauchung des Lebensodems (spiraculum vitae) in den Leib spricht, auf die Erschaffung der Geistseele selbst gedeutet wird . Cusanus betont dabei, daß das geistige Leben nicht aus Fortpflanzung stammt, sondern vom göttlichen Geiste eingegossen ist 24. Vielleicht mit Anlehnung an Aristoteles nennt er die geistige Seele einen „ göttlichen Samen " 25, den der Schöpfer in die Welt hineinstreute, damit er unter der Einwirkung vieler Gnadengaben aufgehe und Frucht bringe 26. Predigt 155 erklärt : „ Im eigentlichen Sinne ist der , Geist des Lebens' nichts anderes als der Intellekt, der aus sich Leben haucht, wie schon Platon sah. Da jene Natur aus sich selbst Leben haucht, ist sie unsterblich . “ 27 Platonische und biblische Gedanken verschmelzen sich auch in Predigt 53 : „ Durch den Geist in uns, der , nach Gott geschaffen ist (Eph 4 , 24) , haben wir göttliche Natur oder Eingebung (instinctum) . Sind wir also von dem leiblich- sinnenhaften Leben gelöst, so werden wir in die Region des Lichtes hinübergetragen, da die Macht der Finsternis nichts an uns hat. " 28 3. Die alttestamentliche Grundlage für die Lehre über die ursprüngliche gnadenhafte Ausstattung der menschlichen Natur ist, wie wir sahen, schmal. Daher stützen sich denn auch die cusanischen Darlegungen darüber vor allem auf die patristisch-mittelalterliche Tradition . Scholastischer Einfluß verrät sich vor allem in der folgenden Definition : „ Die ursprüngliche Gerechtigkeit war ein von Gott den Stammeltern verliehener Habitus, der das sinnliche Strebevermögen dem Geiste ohne alles Aufbegehren (rebellio) untertan hielt ; sie hatte in der Seelensubstanz ihren Sitz und strömte ein in alle ihre Kräfte, vor allem unmittelbar in den Willen. “ 29 20 Prd 7, 30 (Vulg .) : Solummodo hoc inveni, quod fecerit Deus hominem rectum. 21 S 172 (V2 80 ) ; vgl. S 153 (V2 56- ) : Omnia operatus propter semet ipsum ; hominem creavit, cui donum addidit. Vgl . dagegen S 50 (V₁ 47 ) : Deus hominem ad se creavit; ideo inter alia originalem iustitiam sibi ( = ei) tribuit, qua originaliter iustus ex gratia gratis data fuit. 22 Bonaventura , In Sent . II d . 29, a. 2, q . 2 , concl. ( II 703 b ) ; vgl. Auer , Entwicklung I 72-75. 23 Zur Theologie des 16. Jahrh . vgl . Möhler , Symbolik 31 ff. 24 S 161 (V2 60va-b) , S 257 (V2 204™ª) . 25 Eth. Nic. X , 7 ( 1177 b 28 ) und De gen. et corr. II , 3 ( 736 b 28) bezeichnet Aristoteles die Geistseele als „göttlich “. 26 S 162 (V2 63b ). 27 S 155 (V2 32 ") ; vgl . Platon , Phaidon c. 14 (70 a) . 28 S 53, notae (V₁ 104 ) ; vgl. Platon, Phaidon c. 29 ( 80e - 81a ) , c. 58 ( 109 e) ; zu göttliche Eingebung" : Menon c. 42 (99 e). 29 S 50 (V1 47 ) ; vgl . Thom. v. A q. , S. theol . I q . 100 , a. 1 c.; I. II . q. 81 , a. 2 c.; q. 110, a. 4 c. und ad 1 . 61

Die Stammeltern

In seinem letzten Lebensjahrzehnt entwickelte der Kardinal auch beachtens

werte eigene Gedanken über die „ Unschuldsgnade“ (innocentia) Adams. Wir folgen den Texten in ihrer chronologischen und zugleich logischen Ordnung : Bei den Stammeltern liegt der besondere Fall vor, daß die sinnliche Lebens

tätigkeit nicht vor der geistigen einsetzte. Adam fehlte zu keiner Zeit „ der Ge brauch der Vernunft, wie das heute bei neugeborenen Kindern der Fall ist. Bei ihm trafen vielmehr Mannhaftigkeit und Kindlichkeit, der Gebrauch des sinn

lichen und des geistig -vernünftigen Lebens (von Anfang an) zusammen . So besaß Adam bei vollendeter Mannhaftigkeit 30, in der das Vernunftleben dominierte, die Unschuld'. Daher begehrte sein Sinnenleben nichts ohne den Zügel der Ver nunft, wie ein wohlgezügeltes Pferd sich nur dorthin bewegt, wohin es durch den Reiter, der es durch den Zügel leitet, geführt wird . “ 31 Dieses Bild des Stammvaters der Menschheit trägt Züge des platonisch - stoi schen Weisen an sich. Es läßt sich jedoch nicht minder gut vom Mittelalter her 32 und letztlich nur im Lichte des christlichen Gedankens verstehen, da die hier

dargestellte Harmonie des Menschen nur möglich ist in der Einflußsphäre der Gnade : In Adam waltete ungebrochen der Einfluß des göttlichen Geistes auf den menschlichen und des begnadeten freien Menschengeistes auf das Sinnenleben ,

das sich zur Zeit der Unschuld 33 ohne Widerspruch und in friedlicher Ordnung von diesem leiten ließ. Diese „ Einflußlinie “ konnte jedoch nur so lange bestehen bleiben , als sich der menschliche Geist Gott gehorsam unterordnete 34. Es lag also „ in der Macht des vernünftigen Geistes, das Geschenk (der Un schuld) zu behalten oder zu verlieren“ 35, denn Gott setzte für den Menschen den Gehorsam als den Weg fest, der ihn zu seiner Herrlichkeit hinführen sollte. Dieser „ Gehorsam wird deshalb auch als Unschuld bezeichnet, da vor Gott nichts

wohlgefälliger und schöner ist “ 36. „ Dazu wurde der Mensch mit der Gabe der Unschuld ins ,Paradies' versetzt, daß er im Gehorsam gegen Gott in Unschuld lebe und schließlich durch die Gnade Gottes zur Schau der göttlichen Herrlich keit gelange. “ 37 In seiner Unschuld war der erste Mensch gleich einem Kinde, das sich der besonderen Liebe der Eltern erfreut 38. Dieses sündigt nicht und hat keine Lebenssorgen. Wo es sein Sinnenleben her hat, daher empfängt es auch seine

Nahrung. Die Mutter, die es gebar, nährt es am eigenen Leibe ... So war auch die Unschuld unserer Stammeltern von Gott privilegiert. Denn sie haben allein von Gott das Leben erhalten , und hätten sie in der Unschuld ausgeharrt , sie 30 cum 31 32

Vgl . Augustinus , De Gen. ad litt. VI, 18 (CSEL 28, I 192) : Adam factus est, de limo formatus est, sicut est credibilius, iam perfectae virilitatis. S 158 (V2 58 '"); vgl. das platonische Bild des Seelenwagens : Phaidros c. 25 f. (246f.) . Vgl. z. B. das Bild des Bamberger Reiters.

33 34 35 38

Den von Thomas häufig gebrauchten Ausdruck ,status innocentiae' gebraucht Cusanus S 161 (V2 60xa-b). S 173 (V2 80*6) . Brief vom 11. 6. 1463 (Siz 160 ° ).

selten , z . B. S 1 ( C 17 ", 2 ) .

37 Cribr . Alch . II , 16 ( P 139 ') .

38 Brief vom 11. 6. 1463 (Siz 160' ). 62

im Kindheitsstadium " der Menschheit

hätten immer und ohne Sorge gelebt 39. Der ihnen das Leben gab, hätte auch aus Sich, gleichsam an der eigenen Brust, ihren Geist belebt, den Er einhauchte; und

so wäre dem Geiste aus der (göttlichen ) Unsterblichkeit das Leben mitgeteilt worden. Himmel und Erde und alles, was darin ist' (Ex 20, 11 ) , hätten unter dem Gehorsam des Menschen und ihm zu Diensten gestanden und alles Not wendige zum Ergötzen seines leiblichen Lebens beigetragen .“ 40 Aber mußte denn dieses „Kindheitsstadium “ der Menschheit mitsamt seinen

Privilegien nicht mit geschichtlicher Notwendigkeit vorübergehen ? Cusanus ant wortet : Die Stammeltern waren bereits als erwachsene Menschen erschaffen und hatten es in ihrer Macht, die Unschuld, die mit der Vernunft des Erwach senen zusammenging, (zu bewahren oder) zu verlassen und sich dem autonomen Vernunftgebrauch zuzuwenden “ 41. Beim Kinde ist es so, daß die Eltern für es sorgen und es nicht verlassen, solange es sich selbst nicht vorstehen kann. Den

Stammeltern hingegen war die Möglichkeit gegeben, entweder immerzu unter der Leitung des Schöpfers, des Wortes oder der Ewigen Vernunft zu bleiben , oder kraft der eigenen Vernunft sich selbst zu regieren'. “ 42

II . DER SÜNDENFALL

Mehr als dreißigmal kommt Cusanus auf die Sünde der Stammeltern und das

davon ausgehende Unheil zu sprechen . Schon das zeigt, wieweit er von jedem naturalistischen Optimismus pelagianischer oder humanistischer Prägung ent fernt war ? Predigt 1 beginnt mit den Worten : „Der Mensch fiel durch die Sünde der Stammeltern aus der Unschuld heraus, und es entstand Finsternis im Intel

lekt, Habsucht und Begierlichkeit im Willen. “ 3 Das ist die heilsgeschichtliche Situation, die durch die Sünde der Stammeltern entstand. :

39. Vgl. Augustinus, De civ. Dei XIV, c. 16 (CSEL 40, II 53) : (Homo) quamdiu hoc volebat, quod Deus iusserat ..., vivebat sine ulla egestate, ita semper vivere habens in potestate ..

49 S 173 (V2 80 ° ). 41 Ebd.: ad usum rationis se convertere et sic se ipsos regere .

42 Ebd .

1 Daß De Gandillac meint, Cusanus komme nur ausnahmsweise (De ludo globi II) auf den Sündenfall der Engel und Menschen zu sprechen (La philosophie 450 f.), zeigt, daß er die cusanischen Predigten nicht gelesen hat . Seltsam nimmt es sich im Hinblick auf

„ Predigt 19“ aus, daß er sagt, die Erbsünde bleibe bei Cusanus „ ohne dramatische Reso nanz “ .

2 Vgl. dagegen M. Billinger, Das Philosophische in den Excitationen des Nik. v. Cues, Heidelberg 1938, S. 8 : „Der cusanische Mensch ist der antikfromme lebensfrohe

Weltbürger“ ; S. 42: „Bei Cusanus spielt das Böse kaum eine Rolle. Und wenn er darauf zu sprechen kommt, dann ist Sünde nicht mehr als eine Torheit“; S.44:„ Darin ist Cusanus weit mehr der antike Ethiker als der mittelalterliche Theologe.“ Billinger hätte wohl

anders geurteilt, wenn ihm die Predigten nicht nur in dem durch Faber Stapulensis zu rechtgestutzten Text der Pariser (oder Basler) Ausgabe vorgelegen hätten .

: s i (C 17', 2) ; vgl. S 50 (V1 4914) : Duo secundum Augustinum , 22° De civitate Dei, contraximus, scilicet ignorantiam et concupiscentiam. Augustinus , De civ. Dei XXII , c. 22 (CSEL 40, II 535 f.). 63

Die Stammeltern

a) Die Sünde der Stammeltern

Die Stammeltern sollten ihren Gehorsam gegen Gott dadurch bewähren , daß sie „ nicht von dem Baume der Erkenntnis von Gut und Bös aßen“ (Gn 2, 17) . Den Motiven, die trotz der darauf liegenden Sanktion zur Übertretung dieses Gebotes führten, ging Nikolaus mit Eifer nach.

In seinen frühesten Predigten treten mehrere Beweggründe hervor : „Das Motiv der ersten Sünde war überhebliches Streben nach Macht der Teufel ) — sowie das Laster der hatte ja gesagt: „Ihr werdet sein wie Götter' (Gn 3,5) Neugier (curiositas) nach der Wahrheit. Deshalb fügte der Teufel hinzu : ,wis -

send Gut und Bös'. “ So heißt es in Predigt 44. Nach Predigt 3 beruht die „ Über tretung des höchst gerechten herrscherlichen Gebotes “ durch die Stammeltern 5 auf „ Geringschätzung der mitgeschaffenen , auf Gott hin gerichteten Ordnung “ 6. In Predigt 6 motiviert die „ Gerechtigkeit“ das „ Majestätsverbrechen “ Adams so: „Der Mensch sündigte dadurch gegen den unendlichen und ewigen Gott, daß 9

er nicht Gott glaubte, sondern dem Teufel; er wollte nicht durch Glau ben , sondern durch Wissen dem Höchsten gleich werden .“ Dies letzte Sätzchen kehrt bei Cusanus fortan in verschiedenerlei Variationen wieder.

In Predigt 23 wird die Frage gestellt, „ was die Ursache für den Fall des Men schen und seine Verkrümmung “, d. h. für die Umbiegung seiner auf Gott hin gekehrten Rechtschaffenheit zu geschöpflichen Dingen sei . Die Antwort lautet : „ Der Mensch hätte leben und ruhen können in dem Lichte des Sabbat, wäre er bescheiden geblieben. Aber er suchte durch sein Wissen Gott zu erfassen und so »

nicht in Gott, sondern in sich selbst zu ruhen und wissend wie Gott zu sein und

so den ewigen Sabbat in sich zu begreifen. Da fiel er “ , gekrümmt, auf sich selbst zurück, unzufrieden, daß er nicht erreichen kann, was er erstrebt 10. In der Schrift „ Uber die Genesis“ bemerkt Cusanus, Moses erkläre „ den Fall des Menschen

in eine Unwissenheit, die der Tod der Einsicht (intellectus) ist, daher, daß dieser aus eigener Kraft Gott an Wissen gleichkommen wollte“ 11 . Diese Deutung der Sünde Adams stimmt mit der des Thomas von Aquin über

ein, der sagt: „Der erste Mensch sündigte hauptsächlich dadurch, daß er Ähnlich keit mit Gott in der Erkenntnis von Gut und Bös erstrebte. “ 12 Cusanus erklärt dazu weiter : Das Verlangen, Gott ähnlich zu werden, hat die Vernunftseele von 99

a 1 ad 3. 4 S 4 (C 81 ', 25—27 ) ; vgl. Thom. v. A q., S. theol . II. II. a. 163, a. 5 Cusanus sagt : primi prothoplasti ( ! )

6 S 3 (C 45 ', 40 f.) ; vgl . unten S. 74–76. 7 S 6 (C 25°, 24 f. ): ... non per credere, sed per scire aequari Summo voluit .

8 S 23 (V184"^; vgl. 84 " ). – Von daher erklärt sich das Bild des „ gekrümmten Globus “ : De ludo globi I (P 158 ). Vgl. Bernhard v. Clair v., In Cantica Cant., sermo 24, n. 6 f. (PL 183, 897 A - C ); sermo 80, n. 3 f. (1167 CD). 9 Vgl. Augustinus, De Gen. ad litt. IV, 17 (CSEL 28, I 113 f.) . 10 S 23 (V1 84 ); vgl. S 20 (C 87 ", 14) . 11 De Genesi (P 73 °); vgl . Notiz C 3', 3f.: Homo autem vitam in scientia quaerere vo lens, ut per scire similis fieret Altissimo, peccavit et in ignorantiae mortem cecidit. 12 Thom . v. Aq. , S. theol. II . II. q. 163, a. 2 c. Anders lehrt z. B. Bonaventura , In Sent. II d . 22 , a . 1 , q. 2 ( II 518 f. ) . 64

Adams Sünde als Autonomiestreben Gott; aber dieser war die Schranke (modus) gesetzt, daß sie das Ziel ihrer Wünsche nicht in anmaßendem Vertrauen (praesumptio) auf die eigene Kraft oder auf die Hilfe irgendeines Geschöpfes, sondern in Demut und Gehorsam (gegen den Schöpfer) gläubig erwarten sollte " 13. Die Stammeltern überschritten diese Schranke in der törichten Hoffnung, durch das sinnliche Essen von dem Baum der Erkenntnis eine göttergleiche Vollkommenheit in der Erkenntnis zu erlangen“ 14. Der Neid und die Heimtücke des Teufels verleiteten sie dazu 15. Durch trügerische Einflüsterungen zog Luzifer sie hinein in seine Sünde , „ die Selbstliebe bis zur Verachtung Gottes " 16, und in die anmaßende Überheblichkeit, in der er „ zum Throne emporsteigen und dem Höchsten gleich werden wollte", sowie auch in seinen Sturz 17: „Weil der (willens-)freie Mensch unter Eingebung des Teufels lieber durch Wissen als in Unschuld und Gehorsam aufsteigen wollte, verweigerte er Gott den Gehorsam, um nach den Versprechen des Teufels aus sich selbst wissend Gut und Bös zu sein. " 18 — „ Weil (die Stammeltern) selbstgefällig waren, wurden sie eitel und verschmähten die leitende Hand Gottes." 19 Weil Adam „ das Wissen der Unschuld vorzog, verlor er die Gnade " 20. ― So 19 wurde er als Verbannter und Fremdling aus dem Paradiese verstoßen" 21 , „ kehrte zur Erde zurück und ward sterblich; von Mühen geplagt usw. , ging er des Lebens verlustig“ 22. Der Eifer, mit dem Nikolaus von Kues den Motiven der Sünde Adams nachspürte, erklärt sich teilweise daraus, daß ihm die Sünde Adams als Prototyp der Sünde überhaupt vorschwebte. Dazu kommt eine aktuelle Note : in der Sünde Adams sah er vor allem das glaubenswidrige Autonomiestreben des Geistes, dessen Erwachen er in seiner Zeit mehr und mehr verspürte, paradigmatisch vorgebildet. Das geht aus seinem „religiösen Testament" klar hervor: „Der Mensch mißbrauchte seinen freien Willen und wollte sich selbst bestimmen auf dem Wege des Wissens. Er wollte nämlich wissen und nicht glauben. So schüttelte er den Gehorsam ab, verlor die Unschuld und überließ sich seinen eigenen Plänen ... Er wollte nichts zur Ehre und Verherrlichung Gottes tun, um auf dem Wege des Gehorsams in Unschuld durch Gott huldvoll zur Schau seiner Herrlichkeit geführt zu werden, sondern sich selbst loben und in der Kraft des eigenen Intellektes überheblich dorthin emporsteigen. “ Dann fährt Cusanus fort : „ Das ist die Sünde, die heute in der Welt herrscht. Alle die Adamskinder vermeinen Einsicht zu haben, und zwar ein stolzes und aufgeblähtes Wissen ; sie rühmen sich dabei als gelehrt und wissend und ziehen so ihre Ehre dem Lobe Gottes vor, als hätten sie ihr Einsichtsvermögen nicht von Gott und zu dessen Lob empfangen, sondern um in dieser Welt angenehm zu leben. " 23 Im Hinblick auf solche, die er daran sieht, eine von Gott und den Eigenwerten des Geistigen ab13 S 143 (V2 45th). 14 De dato Patris luminum c. 1 (P 193 ) ; vgl . S 143 (V2 45™ ) . 15 Vgl. S 172 ( V2 79 "), „ S 19" (C 57', 63 69) : Adam spe seductus inani cecidit ... O perfidissima invidia Diaboli! 17 S 207 (V2 125™ª). 18 Cribr. II, 16 (P 139 ') . 16 S 243 (V2 181 ™ -b). 20 Ebd. V2 80rb. 19 S 173 (V2 80ºª). 21 S 19" (C 57°, 67) . 22 S 23 (V184 ) . 23 Brief vom 11. 6. 1463 ( Si2 160—161 ™ ) .

5 Haubst, Nikolaus v. Kues

65

Die Stammeltern

sehende Kultur aufzubauen, bemerkt der Kardinal : „ Alle solche bedienen sich ihres Intellektes nur wie eines Sklaven, um sich durch diesen Besitz, Lob und Ruhm zu erwerben . So erfahren wir es ja bei den freien wie bei den technischen

(mechanicis) Künsten , die dem Intellekt entstammen. Das heißt dem ,alten Men schen ' folgen ; denn dabei dient das höhere Einsichtsvermögen, das dem Himm

lischen und Unsichtbaren zugewandt sein müßte, dem Tierischen, dem Sichtbar Animalischen , da man das Ziel der Geistnatur in das Gut- leben in dieser sinn

lichen Welt verlegt. “ 24 Solchen „modernen“ Zeitgenossen stellt Nikolaus Adam als warnendes Bei spiel vor Augen : „ Als der Mensch zur Erde zurückkehrte, von der er kam und von der er in Unschuld durch Gott in den Garten der Wonne versetzt worden

war, fand er, daß er sich getäuscht hatte. Während er nämlich durch wissenschaft lichen Fortschritt zur Schau göttlicher Herrlichkeit, die Unsterblichkeit gibt, zu gelangen hoffte, kehrte er in den Tod und zur Asche, aus der er war, zurück . “ 25

Hier spricht Cusanus das hinter aller Erkenntniskritik seines spekulativen Haupt werkes stehende religiös-sittliche Anliegen der Worte ,docta ignorantia' deutlich aus : Menschliches Wissen, das nicht von Gott belehrt sein will , ist vor Gott

Hybris und Ignoranz und muß in bitterer Enttäuschung enden. „ Die Erkenntnis dieser Ignoranz aber demütigt und erhöht, indem sie demütigt, und macht so belehrt. “ 26

b) Die Sünde Adams als Erbschuld des Menschengeschlechtes Wir hörten, daß unsere Stammeltern , verdarben und in Schande fielen mit ihrer

2

Verkehrtheit' und es infolgedessen ,keinen mehr gab, der Gutes tat' (Ps 13, 1 ) . “ Denn „nicht nur sie fielen, sondern das ganze Menschengeschlecht“. Mit diesen Worten überblickt Nikolaus in Predigt 3 27 die Folgen der ersten Menschensünde. Er gibt dort auch schon eine Antwort auf die Frage, weshalb diese Sünde auf das ganze Geschlecht überging: „Dieses war irgendwie in der Fortpflanzungskraft der Stammeltern verborgen .“ 28 Gott erschuf ja alle Menschen dem Fleische nach in dem einen Adam, „ obwohl wir erst nacheinander aus der Möglichkeit zur Wirklichkeit gelangen und in dieser Welt erscheinen “ 29. So ist auch die ganze menschliche Grundsubstanz in Adam verdorben “ 30. Eine Ansteckung ( infectio ) des menschlichen Seelenlebens rührt von ihm her 31. Die Beleidigung der gött

lichen Majestät ging auf die Nachkommen als Erbfluch über 32. Wir alle, die wir „ von Adam unseren Ursprung herleiten , haben in dem alten Menschen durch

9

24 Ebd. 161 ".

25 Ebd . 1600.

26 De Genesi (P 43') . Diese Erkenntnis wird auch dort aus dem Falle Adams abgeleitet. 27 S 3 (C 45', 23 ; 45 , 42) .

28 Ebd. 45', 42 : Cunctum humanum genus, quod in eis vi quadam productiva vel seminali ratione latitabat. Vgl. Thom. v. A q. , S. theol. I. II . .q .81, a. 1 ad 2 u. 4 ; In Sent. II d. 31 , q. 1, a. 2, sol. 29 S 67 (V1 120 ); vgl. S 50 (V2 48" ). 30 S 269 (V2 231" ): Tota igitur humana massa in Adam corrupta est. Vgl . Conc. Cari

siacum 853 (D 316): Homo ... factus est ,massa perditionis' (A ugustinus, s. ebd.) totius humani generis. 31 S 275 (V2 2487 ). 66

32 S 6 (C 25*, 26) : in posteros damnatione originali transivit.

Adams Sünde als Erbschuld

dessen Überheblichkeit den Weg zum ewigen Leben verloren “ 33. Denn dieser konnte nur noch ein Sinnenleben weitergeben , das sich im Aufruhr gegen Gott und den Geist befand . So „ trennt die Erbsünde den Menschen von Adam her von Gott“ 34

„Die Erbsünde (peccatum originale) ist demnach jene Sünde, die sich dem katholischen Glauben nach gemeinhin ein jeder von uns eben dadurch , daß er von Adam durch leibliche Fortpflanzung abstammt, zuzieht.“ So definiert Cusanus in

Predigt 50 35. „Die persönliche Sünde (actuale peccatum ) ist eine Schuld , die man sich durch eigenen freien Willen durch Tun oder Unterlassung zuzieht. “ Die Erbsünde hängt nicht vom freien Willen des einzelnen ab. Sie folgt aus der per sönlichen Sünde der Stammeltern 36 als ein Makel oder eine Schuld , die an der

menschlichen Natur haftet, aber darum nicht weniger, sondern gerade deshalb unser ist 37.

In Predigt 50 38 führt Cusanus auch die Ansicht von einigen “ (quidam) an, die

, sagen , ( 1.) die Erbsünde sei eine schuldhafte Ansteckung, die sich die Seele infolge ihrer Vereinigung mit dem in Begierlichkeit gesäten Fleische zuziehe ; demnach bestände (2.) die Sünde materiell 39 in der habituellen Begierlichkeit, die infolge der Verbindung mit dem verderblichen Fleische in der Seele ist, for mell bestände sie in der Ermangelung (carentia) der ursprünglichen Gerechtig

keit, wie (3.) auch bei der persönlichen Sünde das Materiale in der Hinwendung zur Kreatur, das Formale in der Abwendung von Gott liegt“ . Der erste dieser Sätze gibt die Ansicht Augustins wieder, die vor allem durch

Petrus Lombardus ins Mittelalter weitergetragen wurde 40. Der zweite enthält die Interpretation, welche die Hochscholastik, insbesondere Thomas von Aquin, der Lehre Augustins und des Lombarden gab 41. Der dritte zeigt noch deutlicher, daß

hier an Thomas 42 und wohl auch noch an thomistische Zeitgenossen gedacht ist. 33 Brief vom 11. 6. 1463 (Siz 160" ). 34 S 158 (V2 58 " ). Näheres über die Abstammungsgemeinschaft des Menschen geschlechtes s. S. 230—233 .

* S 50 (V1 47vb). – Die cusanische Definition scheint an Thomas v. A q., S. theol. I. II. q. 81,a. 4 c. anzuknüpfen. Das , communiter' berücksichtigt bei Cusanus jedoch außer der von Christus gebildeten Ausnahme auch die Unbefleckte Empfängnis Mariens. 35 S 50 (V1 47 *b); vgl. Cribr. II , 16 ( P 139') . 37 ,S 19“ (C 57°,68): propter naturae humanae maculam a primis parentibus contrac tam ; S 18 n. 36 ( H 74 ) : Und is die scholt unser, want si is unser naturen. Vgl. Thom. v. 38 S 50 (V1 47 ). Aq., In Sent. II d. 31 , q. 1 , a. 1 , sol. ( II 804 ) .

36 Hs .: et sic mortale peccatum esset concupiscentia . Die Parallele mit dem Folgenden verlangt : materiale peccatum . 46 P. Lombardus , Sent. II d. 30, c. 5 u. 7 (462 f.) ; d. 31 , c. 3—7 ( 469–73) ; vgl. die 9

dort angeführten Augustinus- Stellen ; ferner z. B. Bonaventura, In Sent. II d . 31, a . 2, q. 3 ( II 753 f.); Thom. v. A q ., In Sent. II d. 31, q. 2, a. 2 ad 2–5 (II 518). Von Thomas wird oft das Wort infectio* gebraucht.

Bei Cusanus selbst klingt die hier der

Begierlichkeit zugeschriebene Übertragung der Erbsünde nur in der „ Sichtung des Ko rans “ (Cribr. II , 16, P 1394 ) und dort vielleicht in Anpassung an mohammedanische Auf fassungen an.

41 Thom. v. A q., S. theol . I. II. q. 82, a. 3 c.: Et ita peccatum originale materialiter quidem est concupiscentia, formaliter vero defectus originalis iustitiae. — Zu den andern Vertretern dieser Lehrrichtung im 13. Jhdt. s. Auer , Entwicklung I 80–82. 42 Thom v. A q., In Sent. II d. 30, q. 1 , a. 3 c. ( II 774) . 67

Die Erbsünde

Dann schaltet Cusanus jedoch die Begierlichkeit ganz aus der Wesensdefini tion der Erbsünde aus 43, indem er sich auf die von der Scholastik lange nur kom promißweise berücksichtigte Schrift Anselms „Über die jungfräuliche Empfäng nis und die Erbsünde “ stützt 44. „ Anselm sagt, Über die jungfräuliche Geburt',

die Erbsünde sei eine Ermangelung (carentia) der ursprünglichen Gerechtigkeit mit der Pflicht, sie zu haben .“ 45 Nikolaus erläutert das : „Jede Sünde besteht in der Beraubung (privatio) der entgegengesetzten Gerechtigkeit. So raubt die Erb sünde die ursprüngliche Gerechtigkeit.“ 46

Das Folgende führt das weiter : „Die Sünde geht der Schuld und der Strafe nach auf die über 47, die durch Zeugung fortgepflanzt werden. Denn indem Adam sündigte und die ursprüngliche Gerechtigkeit verlor, die er behalten und weiter >

geben sollte, verloren auch alle, die ... in seiner Zeugunskraft existierten, die

ursprüngliche Gerechtigkeit .“ 48 Adam konnte „das Gnadengeschenk nicht den (

Nachkommen weitergeben “ 49.

Daraus ergeben sich zwei Folgerungen, die genau mit der Summa theologiae

des Aquinaten übereinstimmen : „Wären damals Menschen geboren gewesen oder würden nachher welche ohne die Fortpflanzung durch Adam geboren, so hätten diese (die ursprüngliche Gerechtigkeit) nicht verloren. “ „ Hätte Eva allein gesündigt, so wäre die Transfusion (der Sünde) nicht erfolgt, denn der Vater ist das Prinzip der Zeugung und der Transfusion. Hätte (dagegen ) nur Adam gesündigt, so hätten wir sie uns zugezogen. “4 50 Infolge der veränderten Definition der Erbsünde, die das Moment der an den

Leib gebundenen Begierlichkeit außer acht läßt, weicht Nikolaus in der Frage, ob die Sünde durch Leib oder Seele „übergeleitet werde, wiederum von Tho

mas – der eine instrumentalursächliche Überleitung durch die aktive Kraft des

Zeugungssamens“ lehrt 51 – ab: „Diese Sünde haftet nicht auf dem Wege einer Überleitung an der Seele, denn

diese (die Seele) wird nicht übergeleitet 52, noch haftet sie am Fleische, denn dieses 43 Vgl. die spätere Entscheidung des Konzils von Trient: D 792. 44 Cusanus zieht dabei auch das in der gleichen Richtung liegende thomistische Gedan kengut mit heran ; vgl. oben S. 61 Anm. 29.

45 Anselm v. Cant., De conceptu virginali et peccato originali c. 5 (II 141 , 25) : nasci ... cum debito habendi originalem iustitiam .

46 S 50 (V1 47° ); vgl. Thom . v. A q., S. theol. I. II. q. 82, a. 3 c.: Oppositorum autem oppositae sunt causae. Est igitur attendenda causa originalis peccati ex causa originalis iustitiae, quae ei opponitur.

47 Vgl. Conc. Arausicanum a. 529 (D 175) , Trid. (D 789); Thom. v. A q., In Sent. II 9

d . 30, 9. 1 , a . 1—2 (II 767—73) ; Bonaventura, In Sent. II d. 30, a. 1 , 9. 2 (II 717—20 ).

48 S 50 ( V1 48'"). Vgl. Anselm , De conceptu virginali etc. c. 23 ( II 164): (Adam ) bona, quae sibi et illis servanda acceperat, sponte deseruit . Idcirco filii perdiderunt, quod pater, cum servando illis dare posset, non servando abstulit ; Thom. v. A q., S. theol. I. II . q. 81 , a . 2 c (gegen Ende) . Auch der Vergleich : „sicut culpa voluntatis alicuius

transit in membra eius“, geht auf die thomistische Summa zurück ; vgl. I. II. q. 81 , a. 3 c 49 S 172 (V2 80 " ); vgl. Thom . v. A q., S. theol. I. II . q. 81 , a. 4 .

50 S 50 (V1 48 ); vgl. Thomas a. a . O. a. 5. 51 Thom. v. A q. , S. theol. I. II. q . 83, a . 1 c. 52 Non traducitur. Cusanus lehrt klar die unmittelbare Erschaffung jeder einzelnen Geistseele ; vgl. z. B. S. 257 (V2 204 ° ) 68

und ihre Folgen

ist nicht für Tugend oder Laster empfänglich. Sie haftet vielmehr (dem Fleische

nur) potentiell auf Grund göttlicher Verhängung im Hinblick auf die Seele an , nämlich so, daß die Seele, wenn sie mit ihm (dem Fleische) verbunden wird, der

ursprünglichen Gerechtigkeit und göttlichen Gnade entbehrt.“ 53 Aus der Verhängung des erbsündlichen Zustandes auf Grund der Sünde Adams zieht Nikolaus die weiteren Schlüsse : „Die Nachlassung der erblichen Sünde Adams 54 nützte uns nichts, denn diese wurde nicht nachgelassen , sofern sie Sünde der Natur, sondern sofern sie persönliche Sünde ist 55. So zeugen auch noch getaufte Eltern das Kind im Zustand der Sünde. “ 56

Dazu zählt Nikolaus einige predigtmäßige Beispiele auf: Das bloße Korn, das

gesät wird, bringt Korn in der Ähre hervor; der Beschnittene zeugt einen Unbe schnittenen. Die reine Seele zieht sich infolge des Fleisches Begierlichkeit und Erbschuld zu , wie guter Wein in einem unsauberen Faß verdorben wird, und ein schöner Mensch , der in Schlamm fällt, sich beschmutzt “ 57.

c ) Die Folgen der Erbsünde für die menschliche Natur Im Hinblick auf die ein Jahrhundert später von den Reformatoren vertretene Lehre von der gänzlichen Verderbnis der menschlichen Geisteskräfte 58 und deren

Vorwurf, daß die Scholastik die Lehre von der Erbsünde mit pelagianischer Oberflächlichkeit behandle 58, ist es von Interesse, zu sehen, wie Nikolaus von Kues, der zeitlich in der Mitte zwischen Hochscholastik und Reformation steht,

über die Auswirkungen des Sündenfalles auf die Kräfte der menschlichen Natur denkt.

1. Schon Predigt 3 legt das in plastischer Schilderung dar : „Wir sind zugleich in den Schlamm und auf einen Haufen Steine gefallen 60. So wurden wir durch die Erbschuld beschmutzt und schlugen hart auf. Dabei brachen alle unsere Kräfte, und an den (zuvor) aufs beste geordneten Seelenfähigkeiten wurden wir schwer verwundet. “ Das wird sogleich erklärt und begrenzt : „ Infolge des Verlustes der

ursprünglichen Gerechtigkeit, der durch den Fall selbst und durch Gottes gerech tes Gericht eintrat, fielen die Kräfte und Neigungen der Seele aus ihrem Gefüge 53 S 50 (V1 485b) .

Hier steht Cusanus Bonaventura insofern nahe , als dieser eine

leibliche Vermittlung des Schuldzustandes ablehnt ; vgl. In Sent. II d. 31 , a. 1 , q.2, concl. ( II 744 b) . 64 Vgl. unten S. 90.

56 Vgl. S 207 (V2 12576): Nati sunt filii praevaricationis Adae filii irae ; S 50 (V1 48'") ; De visitatione (P 4 '); Cribr. II, 17 (P 140'). — Zur Vorgeschichte vgl. Anselm , De con ceptu virg. c. 23 (II 165) : Est peccatum a natura, ut dixi,et est peccatum a persona ;

Bonaventura , In Sent. II d. 33, a. 1 , q. 2, concl. ( II 785 b) ; Thom. v. A q., S. theol. I. II . q. 81, a . 1 c. 56 S 50 (V1 48" ) ; vgl. Thom. v. A q., In Sent. II d. 32. q. 1 , a. 1—2 (II 823—29) ; Conc. Trid. (D 791 ) . 58 Vgl. Möhler , Symbolik 70–80. 57 S 50 (Vi 48 ") . 58 Vgl. Möhler a . a. 0. 56 58.

60 S 3 (C 45', 43) : Ut Bernardus dicit , cecidimus simul in lutum et super acervum Dies ist vielleicht eine freie Wiedergabe von : In Cant. Cant. , sermo 24, n. 6 (PL 183, 897 A B) ; vgl. Anm. 64 . lapidum.

69

Erbsünde-Folgen heraus, wurden geschwächt und gerieten in Unordnung. Sie wurden aber nicht gänzlich zerstört, sondern gerieten in Gegensatz zueinander. “ 61 Die Erfahrung bestätigt diese Glaubenswahrheit 62. „Erfahren wir es nicht (noch) heute, daß die Sinnlichkeit, die Kraft des Begehrens und der Zornmut dem Willen widerstreiten? Und obschon der Wille nicht ohne Vernunfterkenntnis handeln kann, handelt er doch oft gegen die Vernunft. All diese Kräfte sind ,zum Bösen geneigt' (Gn 8 , 21 ) und haben einen Hang zu unerlaubtem Begehren. Die Vernunft ist blind und voll Irrtum geworden, nimmt oft Falsches für wahr und verliert sich in vorwitzigen, unnützen Dingen 63. Der Wille liebt das Fleischliche allzuoft mehr als das Geistige . Die Kraft des Begehrens ist in die‚Begierlichkeit des Fleisches, die Begierlichkeit der Augen' und in fleischliche Lüste abgesunken. Der aus der Ordnung geratene Kampfesmut fiel in die Hoffart des Lebens ' und in weltliche Eitelkeit 64. Die Hoffnung vertraut nicht auf Gott, sondern auf Reichtum und eigene Verdienste. Wir werden über den Verlust von Reichtum und über Verachtung von seiten der Welt betrübt. Wir zürnen dem Bruder." 65 Dies alles überschauend , ruft Cusanus aus : „ Siehe, wie der ganze Mensch durch den Verlust der ursprünglichen Gerechtigkeit vom Wege der Rechtschaffenheit abkam und in Zwietracht gefallen ist “ und zugleich in „ ein Mißverhältnis (disproportio) der Kräfte “ (zu seiner Zielbestimmung) . Dadurch und durch den verkehrten Gebrauch seiner Kräfte zog sich der Mensch sodann „ eine gewisse Verschmutzung und Klebrigkeit in den Begierden und Kräften der Seele zu, durch die er wie durch leimigen Schleim dem Niederen verhaftet und daran festgehalten wurde. Wie der verschwenderische Sohn , zog er aus in ein sehr fernes Land, verschwendete seine ganze Habe' durch Unzucht und machte sich, sehr weit von Gott entfernt, zum Schweinehirten 66, indem er dem Teufel diente und dessen Gebote hielt. So geriet der Mensch in den Bereich der Unähnlichkeit, sehr weit weg von Gott und zurückkehren konnte er nicht. " 67

61 S 3 (C 45' , 43—47) . 62 Conc. Arausicanum a. 529 (D 174) , Trid. (D 788 f.) . 63 Vgl. S 8 (C 30', 30) : Sed causa, quare tot homines in istis vanitatibus (superstitionum) decipiuntur : quia corrupta est humana natura ; quare erroribus potius quam veritati creditur. Cusanus exzerpiert hier Nikolaus Gauer de Jawor , De superstitionibus (vgl. Cod. Vat. Pal . 719, 77 ) . in 64 Vgl. Bernhard , De diversis sermo 45, n. 1 (PL 183, 667 B) : Cecidit ergo quandam ... foedam trinitatem, scilicet infirmitatem, caecitatem, immunditiam ... Ratio (facta est) imprudens et tenebrosa, voluntas impura . Ebd . n. 3 (668 A) zieht auch Bernhard 1 Joh 2, 16 heran. 65 S 3 (C 45 , 47—54 ) . - Zu diesem Abschnitt vgl. Augustinus , De civ. Dei XXII , c. 22 (CSEL 40 , II 635—40) . 66 Vgl. Lk 15, 12 . 67 S 3 (C 45 , 54—59) . Vgl . S 8 (C 29 , 36—39) : Quia videbant antiqui se multis erroribus inplicatos, etiam ubi omnis naturae difformitas cessavit, viderunt laboriose quosque ad intelligentiam habendam accedere ; viderunt pronitatem ad malum, intellexerunt Nach Cribr. II, 17 (P 140′) humanae naturae lapsum et casum ob offensam et culpam . zeigt die Geneigtheit zum Bösen von Jugend auf (Gen 8 , 21 ) , daß wir nicht von dem guten Geiste Gottes getrieben werden" , sondern von dem Geiste der Begierlichkeit. Diese Erkenntnis wird dort auf ein „ Gnadengeschenk Gottes “ zurückgeführt. 70

für die menschliche Natur Dieses Bild ist alles andere als „pelagianisch “ . Der Verlust der Gnade ist nach Cusanus an der Natur nicht spurlos vorübergegangen. Diese ist vielmehr verwundet, angeschlagen oder „ krank“ 68 ; ihre Kräfte sind in Widerstreit geraten. Doch Nikolaus ist auch weit von den Übertreibungen der Reformatoren entfernt. Obschon nämlich "2 die Schatten der Unwissenheit infolge der Erbsünde in der Tiefe (des Geistes) liegen 69 und der Wille durch den Herd der Begierlichkeit gehemmt ist, ist doch die Eigentätigkeit der Geistnatur nicht erlahmt. “ 70 Diese fühlt sich auch nicht notwendig gelähmt oder krank. Sie ist jedoch krank und blind, wie der Vergleich mit dem von Christus erlösten Menschen zeigt. Denn „ erst wer weiß, was Sehen ist, kann wissen, was Blindheit besagt“ 71 . „Die Adamsnatur, in der wir geboren werden, ist wie Blindheit“ , jedoch nicht wie vollkommene Blindheit. Sie ist gleichsam Vernünftigkeit in Sinnlichkeit, wie ein Licht in der Leuchte. Die Vernünftigkeit wirkt durch das Sinnenhafte, wie eine brennende Kerze durch die Leuchte strahlt ; und folgt die Vernunft der Sinnlichkeit, so ist es, wie wenn die Leuchte aus einem transparenten, aber gefärbten Glas besteht und das Kerzenlicht dementsprechend durchleuchtet. So ist es mit der (Natur) aus Adam. " Die von Christus erlöste Natur ist dagegen „ Sinnenhaftigkeit in Vernünftigkeit“ 72. „Wie mit dem Docht in der brennenden Kerze, ist es gleichsam mit der (Natur, die) aus Christus “ (ist) 73. Der menschliche Verstand behält also geistige Leuchtkraft, obwohl das Licht Christi zu höherem Sehen für ihn notwendig ist, auch menschliche Willenskraft bleibt. In seinem zu Gott hindrängenden Verlangen seufzt noch der Geist, „ daß er das nicht ergreifen kann, was er am meisten ersehnt“ 74. 2. Unter dem Schwarm der Erbsündefolgen hebt Nikolaus, wie wir schon sahen, besonders - sei es in Anlehnung an Augustinus, Thomas oder an Bonaventura 75

die Konkupiszenz sowie die Ignoranz hervor 76.

Die Konkupiszenz, die er auch als Aufruhr des Fleisches gegen den Geist bezeichnet 77, betrachtet er als den Herd 78 oder die Wurzel der Sünde, auf Grund 68 S 18 n. 23 (H 54) : Durch die Vaterunserbitte „ Dein Wille geschehe" usw. „ bekennen wir, das wir von uns selbs krancker naturen syn und mogen aen die gnaede gottes dem fleisch und der synlicheit nit wydersteen".. Predigt 15 gibt die Zusammenfassung (C 24', 33—35) : Reperimus autem nos gratuitis spoliatos, naturalibus vulneratos, ratione caecatos, voluntate curvatos, memoria inquinatos. 69 S 11 (C 44 , 2 f.) . 70 S 102 (V2 19b) : Non est natura languida secundum se ipsam. Vgl . P. Lombardus , der Sent. II d. 30, c. 8 (464) im Anschluß an Augustinus von languor naturae' spricht ; zu Augustinus vgl. ebd . c. 3 (469). 71 S 102 (V2 19rb) . 72 Zu rationabilitas in animalitate und animalitas in rationabilitate vgl . 1 Kor 15, 43-49. 78 S 102 (V2 19 ) . 74 S 208 (V2 126b) ; vgl. Röm 8 , 22. 75 Augustinus , De civ. Dei XXII , c. 22 (CSEL 40 , II 635-40 ) ; Thomas v. Aq . , S. theol. I. II. q . 82, a. 3 ad 3 ; Bonaventura , In Sent. II d . 30, a . 2 , q . 1—2 ( ÎI 721-26) . 76 Predigt 1 beginnt : Homo a statu innocentiae per peccatum cecidit primorum parentum, et orta est tenebra in intellectu , avaritia et cupiditas in voluntate. 77 Vgl. z. B. S 158 (V2 58ra-b). 78 S 50 (V1 47b) : fomes habitualis vel aptitudinalis et ,alia lex in membris repugnans legi mentis' (Röm 7, 23).

71

Erbsünde-Folgen

deren „ das Herz des Menschen zum Bösen geneigt ist von Jugend an“ 70. So ergibt sich , daß die Natur durch eine Person (Adam ) verdorben ist und daß die verdorbene Natur täglich die Person verdirbt 80. Begierde hinterläßt den Nach kommen die Sünde, und wegen des Ungehorsams gegen Gott wurde das Fleisch dem Geiste ungehorsam . So richtet sich die Begierde, die im Fleische zurückbleibt, gegen den Geist, denn wir alle werden als Kinder des Zornes' geboren (Eph 2, 3). “ 81 >

Begierlichkeit herrscht, wie Cusanus in Predigt 158 ausführt, schon im Kinde vor dem Vernunftgebrauch. Zunächst geht allerdings ein Schein von Unschuld 82 noch nebenher. Dem Kinde wird diese (Begierlichkeit) nämlich , solange es des

Vernunftgebrauches entbehrt, nicht als persönliche Sünde angerechnet, und alles ist schön . Die Unschuld ist ja etwas Liebenswertes. Gelangt das Kind aber ins Jugendalter und zum Vernunftgebrauch, so dominiert die Sinnlichkeit, die einen Vorsprung hat, wenn der Vernunftgebrauch beginnt. So zeigt es die Erfahrung, daß das Sinnliche früher ist als das Geistige' ( 1 Kor 15, 47 ) , und eine wilde und

der Vernunft unfügsame Neigung enthüllt es, daß es in uns eine gewisse für die Vernunft schmähliche Regung der Begierlichkeit gibt, unter deren Einfluß wir gleichsam die Augen der Vernunft schließen und die Werke des Fleisches den

Werken des Geistes vorziehen 83. Der Geist aber verabscheut dieses Schimpfliche, das wir uns von den Stammeltern zugezogen haben, als eine Quelle, aus der die

Regungen der Begierde kommen. So trennt die Erbsünde von Adam an den Menschen von Gott, der Geist ist und es gibt für uns keine Erneuerung außer durch den Geist Christi auf dem Wege der Wiedergeburt. “ 84 3. Wo Nikolaus von Kues vom „ Nichtwissen “ über Gott spricht, geschieht das meist, um die für den Menschengeist auf Grund seiner Kreatürlichkeit und Leib

gebundenheit unfaßliche Erhabenheit und Größe Gottes zu betonen. Doch oft genug meint er damit auch jene dunklen Schatten, mit denen die geistige Sehkraft des gefallenen Menschen zur Strafe für die geistige Überheblichkeit Adams nach dem Verlust des Gnadenlichtes umwölkt ist. Dabei ergibt sich ein mitunter recht

düsteres Gegenbild zu der hohen menschlichen Bestimmung, zur Schau der gött lichen Herrlichkeit zu gelangen, sowie zu der ursprünglichen Gottesnähe Adams

und zu dem im menschlichen Geiste als „ gottempfänglichem Bild“ angelegten Wahrheits- und Glücksverlangen. Denn schon die menschliche Erkenntniskraft

steht in der erbsündlichen Verfassung in einem Mißverhältnis (disproportio) zu dem von Gott gesetzten Ziel . „ Der Mensch aus Adam richtet seinem natürlichen Ursprung nach all sein Verlangen auf das Leben in dieser Welt; denn der Mensch dieser Welt weiß 79 Gn 8, 21 ; vgl. „ S 19“ (C 57', 68) ; Cribr. II, 17 (P 140") . 80 Vgl. Anselm , de conceptu virg. c. 23 (II 165) : Sic spoliavit personam bono iusti tiae in Adam , et natura egens facta omnes personas.

81 S 50 (V1 48" ).

82 Im Hinblick auf die Erbsünde ist das Freisein des Kindes von persönlicher Sünde nur quaedam similitudo innocentiae. 83 Vgl . Röm 7 , 15 ff.

84 S 158 (V2 5850). 72

Begierlichkeit und „Nichtwissen“ nichts zu erstreben, was gegen diese Welt ist, wie das Auge nicht zu hören begehrt; es erstrebt vielmehr nur die Vollendung seiner Tätigkeit : gut sehen. Das Verlangen nach dieser Welt zieht aber den Menschen dahin, daß er hier Ruhe sucht “ 85, und die Welt täuscht ihn, weil sie selbst „ im argen liegt“ 86. „ Weil der Mensch anderseits nicht weiß , daß er für ein anderes Leben empfänglich ist , konnte er auch nicht nach diesem verlangen. So war der Mensch von Geburt an unwissend . " 87 „Darin, daß niemand über das an den Dingen Wahrnehmbare oder über die Ähnlichkeit des Wahren vordringen konnte, lag wirkliche Unwissenheit ! Daher setzten sich alle diese Welt als Ziel . " 88 Dem blindgeborenen Menschen 89 fehlte das für die Gotteserkenntnis notwendige Licht vom Vater der Lichter 90. Durch den Verlust dieses Lichtes wurde sein Geist unwissend, finster und blind 91. „ Gewisse (böse) Geister schlichen sich in dies Dunkel der Unwissenheit ein ... So konnte der Mensch allerdings nicht zu seinem Ruheziel gelangen. " 92 „ Das ist die Überlieferung aller Weisen, damit wir erkennen, daß wir nicht auf Grund eigener Ansprüche das geistige Leben erreichen können. Das lehrt uns beispielhaft der Sturz des Engels Luzifer und des Menschen Adam, die sich brüsteten, dieses Licht nicht aus Gnade, sondern auf eigenen Anspruch hin zu haben. “ 93 „ Durch seinen eigenen Wissensanspruch, der Ignorierung des lebendigen Gottes ist, wurde der Mensch aus dem Ort des Lebens verbannt. “ 94 „Ignoranz liegt seitdem über seinem Intellekt, und ein Engel , ein Cherub, der über das Paradies oder über den Aufstieg zur Ergreifung des Lebens in sich wacht, hindert ihn daran, durch Wissen in das unsterbliche Leben einzugehen.“ 95 Um seinen Zuhörern die Unkenntnis Gottes, mit der der erbsündliche Mensch zur Welt kommt und in der er ohne Offenbarung verbliebe, erlebnishaft klarzumachen, trug Nikolaus in der Predigt öfter das Gleichnis von einem entführten oder ausgesetzten (Königs- )Kinde vor, das auf einsamer Insel seine Herkunft nicht ergründen könnte 96 und, wenn ihm jemand vom Beginn seines Lebens im Mutterschoße erzählte, dies nicht glauben würde 97.

85 S 26 (V₁ 74rd) . 86 1 Joh 5, 19 ; De principio n. 37 (V2 255 ) ; Brief vom 11. 6. 1463 (Si2 160 161 ™ ) . 87 S 26 (V₁ 74 ). 88 S 28 (C 116º, 34 f.) . 89 S 54 (V1 104 ) , S 183 (V2 92va—b) . 90 De dato Patris luminum c. 1 (P 193 ). 91 S 161 (V2 60 ") ; vgl . S 204 (V2 175 ) . 92 S 28 (C 116 , 45 30) . 93 S 39 (V191 ). 94 S 34 (C 132", 35). 25 S 34 (C 132 ′, 33 f. ) ; vgl. Notiz C 3′, 6f. 17. 96 S 42 (V179 ), S 43 (V170 ) , S 44 (V₁ 68-69 ) , S 54 (V₁ 104rb-va) , S 239 (V2 171 ) , Š 268 (V½ 227 ) , S 284 (V½ 277 ) . 97 So S 42 (V1 79va) . - Predigt 44 , die von einer entführten Königstochter erzählt, liegt in C auch noch in einer früheren Fassung vor (f. 100 ′ ) . -— Nach Koch , Vier Predigten 45-49, wurde Cusanus durch den Johannes- Kommentar Eckharts und den „ Führer der Unschlüssigen" des Moses Maimonides zu dieser Allegorie angeregt. 73

Die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen III. DIE ERLÖSUNGSBEDÜRFTIGKEIT DES GEFALLENEN MENSCHEN UND DER HEILSRATSCHLUSS GOTTES

a) Ein Zwischenspiel: Die „ heilige Zwietracht“ Nikolaus von Kues belebte die Predigt gern durch eingefügte Zwiegespräche heilsgeschichtlicher Personen. Einmal entfaltet er sogar am Schluß einer Weihnachtspredigt eine dramatische Szene (in „ Predigt 19 " ) : Der Sündenfall bewirkt im Himmel einen heiligen Streit zwischen vier allegorischen Personen, bei dem es in Form einer himmlischen Gerichtsverhandlung vor der Heiligsten Dreifaltigkeit um Verwerfung oder Erlösung des Menschengeschlechtes geht. Wir schalten diese ganze Szene, die einerseits auf die vorangehenden Erörterungen über die Erbsünde zurückgreift und anderseits hineinleuchtet in den durch Christus verwirklichten Heilsratschluß Gottes, hier gleichsam als „ Zwischenspiel " ein. Die Predigt zieht mit den Worten : „ Ohne das Wort ist nichts geworden “ (Joh 1,3) , das Fazit der Sünde ¹ . In diesem Sätzchen hat aber auch „ ein wahrhaft mit Gott Vertrauter den Grund dargelegt, weshalb Gott Mensch geworden ist “ 2. Daran anknüpfend , möchte der junge Cusanus „ in aller Kürze sozusagen den Rechtsfall frommer Zwietracht (casum cuiusdam piae discordiae) wiedergeben, der dem Heilsratschluß der Menschwerdung des Wortes Gottes voranging" 3: „ Der Mensch ist zum Heil und für das höchste Ziel erschaffen und bestimmt ; die Sünde hat Unordnung gestiftet; die Gerechtigkeit hat ihn zur Strafe verdammt; ,die Barmherzigkeit des Herrn ,und die Wahrheit der Gerechtigkeit ,traten gegeneinander auf“ ( Ps 84 , 11 ) , und es entstand ein frommer Krieg vor der Heiligsten Dreifaltigkeit, die Elohim, d . h. Götter oder Richter zwischen Gott und den Menschen, genannt wird . Die Gottheit war der Kläger, der Mensch der Angeklagte; die Anklage lautete auf Majestätsbeleidigung. Die Anwälte Gottes waren Wahrheit und Gerechtigkeit, die des Menschen : Friede und Barmherzigkeit. Die Wahrheit brachte gegen den Menschen die Größe des Verbrechens vor ; der schlimme Verbrecher Mensch habe die Ehre und Göttlichkeit der Majestät gelästert, denn er habe Gott als Lügner, den Teufel als wahrhaftig hingestellt. Sie führte aus: Gott die Wahrheit sagte : ‚An dem Tage, da ihr von dem Baume der Erkenntnis von Gut und Bös esset, werdet ihr sterben' (Gn 2 , 19) . Der verlogene Teufel bemerkte dazu : ,Keineswegs werdet ihr sterben' ( Gn 3, 4) . Er (der Mensch) hat der Zusicherung der Wahrheit mißtraut, der leugnenden Falschheit hat er geglaubt ! Dem Teufel glaubte er mehr, der versprach : ,An dem Tage, da 1 „S 19" (C 57 , 64 f.) : Et sic sine Verbo factum est nihil, id est peccatum. Nihil enim entitatis peccatum habet. Vgl. Origenes , In evang. s. Ioh . II , 7 (PG 14, 137 A) . 2 „ S 19" (C 58', 1 f.) . 3 Das Folgende s . C 58′-v. 4 Vielleicht beruht diese Etymologie auf Ps 81 , 1 f.

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Gottes Wahrheit und Barmherzigkeit in „ Zwietracht“ ihr davon esset, werdet ihr ihm ähnlich sein' (Gn 3, 5). -

,Gott, hassest Du die

Übeltäter nicht? Vernichte also alle Lügenredner ! ' (Ps 5 , 7. ) Zu Deinem Reiche sollen nicht gehören : ‚Hunde, Giftmischer, Schamlose, Mörder, Götzendiener und alle, die Lüge lieben und tun ! ' (Apk 22, 15.) Und weil er das Verbrechen der Majestätsbeleidigung beging, so gehe dieser Urteilsspruch auch auf seine Nachkommen über, denn ,Du bist ein eifernder Gott und strafst die Missetat der Väter an den Kindern' (Ex 20 , 5) . — Zweitens berief sich die Wahrheit auf folgenden Ausspruch Gottes : Herr, Du hast gesagt: , Gott ist nicht wie ein Mensch, daß Er löge, nicht wie ein Menschenkind, daß Ihn gereute' (Nm 23 < , 13 ) ) . Du hast gesagt, o Herr : ,An dem Tage ... (Gn 2 , 17 ) . Der pflichtvergessene Mensch hat das getan. Er sterbe also für ewig! Die Barmherzigkeit bemühte sich hingegen, die Sünde des Menschen zu dessen Verteidigung abzuschwächen. Sie berief sich auf die Großmut der Güte : Für die höchste Güte ziemt es sich nicht, den Menschen zugrunde zu richten. O Gott,,Du hast den Menschen auf Dich hin geschaffen's, und dies Dein Werk wäre eitel und sinnlos und unvollkommen und erreichte nicht sein Ziel , das Du, o Gott, ihm in Deiner Güte stecktest. Was die Wahrheit vorbrachte, trifft auf die Engel zu, die ohne äußeren Anstoß sündigten und fielen. Der Mensch aber wurde betrogen und durch satanische Suggestion und List gedrängt und zum besten gehalten. Ihm werde eine Arznei verordnet, , oder, Herr , zürnst Du bis zum Ende?" (Ps 84 , 6. ) ,Bedenke doch, was das Menschenwesen ist ! ' ( Ps 88 , 47 ) , ich beschwöre Dich. ,Du hast doch alle die Menschenkinder nicht umsonst erschaffen' (Ps 88 , 48) . Die Wahrheit sagte, Herr, daß Du nicht lügen kannst, da nichts wahrer ist als Du. So denke also an die Erfüllung des ‚ Eides , den Du Abraham schwurst' usw. (Lk 1 , 73) , nämlich : ,In deiner Nachkommenschaft sollen alle Völker gesegnet sein' (Gn 22 , 18) . , Gepriesen sei also der Herr, der Gott Israels, der seinem Volke Erlösung schafft ! ' (Lk 1 , 68.) So wirst Du , o Herr , also Deine Versprechen halten, und David wird nicht enttäuscht : Du wirst Deinen Bund nicht entweihen und, was von Deinen Lippen kam, nicht ungültig erklären' (Ps 88 , 35) . Du hast, o Herr, gesagt: ,Wenn alle seine Söhne meinen Bund verlassen, strafe Ich ihr Vergehen mit der Rute, doch mein Erbarmen entziehe Ich ihm nicht und lasse es auch nicht an meiner Treue fehlen; und deshalb will Ich auf immer Erbarmen für ihn haben' (Ps 88 , 31 33 29) . Dies Dekret Deiner Milde bleibt unverrückbar, und bestehen bleibt Dein Entschluß, o Gott, in dem Du sie vorherbestimmt hast,, dem Bilde Deines Sohnes gleichförmig zu werden′ ( Röm 8 , 29) . Bestehen bleibt der Bund mit Deinen Auserwählten: Ich habe David, meinem Knecht, geschworen : Für immerdar werde Ich seinen Thron begründen und aufrichten ... (Ps 88, 4 f.) . Du sprachst, o Herr, durch Jeremias, im 18. Kapitel (7 f.): Bald drohe Ich dem Volke und dem Reich, es auszurotten, zu zerstreuen, zu vernichten. Kehrt sich Mein Volk aber durch Buße vom Bösen ab, so lasse auch Ich von dem Bösen, das Ich ihm antun wollte. Das Menschengeschlecht hat jetzt Reue. Wie lange noch? Vergissest Du ganz?' (Ps 88 , 47.) 5 Augustinus , Conf. I , 1 , 1 (CSEL 33 , 1 ) .

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Die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen Die Gerechtigkeit hob gegen den Menschen die Schwere der Sünde hervor: wie die Sünde des Menschen die Wahrheit verletzt, sich gegen die Barmherzigkeit aufgelehnt, dem Frieden Schimpf angetan und die Gerechtigkeit verachtet habe. Sie erklärte : Die Wahrheit dachte den Menschen zu retten, die Barmherzigkeit, ihn ,vorauszubestimmen, daß er dem Bilde des Sohnes Gottes gleichförmig werde' (Röm 8 , 29) , die Gerechtigkeit bot ihm ,durch Gnade im gegenwärtigen Leben' verdienstliches Tun, der Friede als Preis , die künftige Herrlichkeit . Doch, Adam, der Lüge hast du geglaubt ! Siehe, so stirbt der Mensch nicht nur,,wie Wasser rinnt er dahin' (Ps 57 , 6) . Wenn er keine Buße tut, soll sich auch die Barmherzigkeit seiner nicht erbarmen, Herr. Aber statt Buße zu tun, stößt er Lästerungen aus, statt eines Bekenntnisses Schmähung. , Als Gott nämlich in der Mittagskühle daherging, rief Er Adam zur Buße mit den Worten: Wer hat dir kundgetan, daß du nackt seist, wenn du nicht gegessen hast ...? Adam erwiderte: ‚Die Frau , die Du mir gegeben hast, bot mir an, und ich aß (Gn 3, 8 ff.) . Das soll heißen: ‚Dir ist die Schuld anzurechnen ! Du hast mir die Gattin gegeben. Folglich — , der Herr ist gerecht, und Gerechtigkeit liebt Er' (Ps 10, 8 ) . ,Du hast die Vorschrift gegeben ...' ( Ps 118 , 4 ) . So richte ihn also , Herr, nach seinen vielen Freveln, denn Dich, Herr, hat er gereizt ! ' (Ps 5 , 11. ) 7 Die Milde sah, daß sich gegen die Wahrheit und Gerechtigkeit keine Argumente für den Menschen beibringen ließen. Sie verlegte sich deshalb darauf, um die Versöhnung des Menschen zu bitten. Sie führte die doppelte Ehre an, die für Gott in Milde und Großmut liege, die Ehre der Milde, und bat : ‚Um Deiner selbst willen, Gott, neige Dein Ohr und höre , öffne Deine Augen und siehe die Trübsal' (Dn 17-19) des Volkes ! Herr,,vergiß doch das Erbarmen nicht' (Ps 76, 10) , damit es nicht heiße : , Grausam ist Gott, und Er hat kein Erbarmen' (Jer 6, 23) , und damit man nicht die Ehre Deiner Milde herabsetze - um Deiner selbst willen,,o Gott, dem es eigen ist, sich zu erbarmen und allzeit zu schonen' ! 8 Sie wies auch darauf hin, welche Ehre seiner Herrschermacht gebühre : ‚Du hast geschworen, das Land der Verheißung, Deine Herrlichkeit nämlich, unsern Vätern zu geben. Gib sie also ! Sonst werden die Dämonen und Ägypter Deine Macht schmähen und sagen, was im Buche Numeri ( 14 , 16 ) steht. Deshalb hat Moses schon gebetet : Laß, bitte, nicht , die Ägypter davon hören (V. 13) und sagen: , Er konnte sie nicht in das Land der Verheißung bringen. Deshalb brachte Er sie um in der Wüste' (V. 15 f.) usw. , So herrsche also Friede in Deiner Kraft, o Herr' (Ps 121 , 7) , zur Ehre Deiner Herrschermacht ! Nachdem vernommen worden war, was man von beiden Seiten geltend zu machen hatte,, entstand Stille im Himmel , etwa eine halbe Stunde langʻ (Apk • Vgl. Anm. 12 zu S. 32. 7 Nach der mehrfachen Aufzählung: Wahrheit, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Friede - entsprechend Ps 84, 11 : Misericordia et veritas obviaverunt sibi , iustitia et pax osculatae sunt ist man überrascht, hier pietas statt pax zu finden. Dennoch ist das kein Versehen. In dem abschließenden Urteilsspruch wird hervorgehoben, daß der Mensch auf Antrag der göttlichen Milde gerettet werde. Die Predigt soll als Ganzes ein Lobpreis der Güte oder „unbegrenzten Milde des Vaters “ sein. 8 Oration nach der Allerheiligenlitanei. 9• Vgl. Jer 32, 22.

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Gottes versöhnender Ratschluß 8, 1 ) . Denn eine Stunde ist gleichsam der Ablauf der ganzen Zeit. Eine halbe Stunde ist die Zeit vor der Fleischwerdung. Die andere Hälfte folgt danach, wie es im Buche der Weisheit ( 18 , 14) heißt : ,Als alles mitten im Schweigen war und der Ablauf der Nacht die Mitte erreichte ... Das heißt etwa : In der halben Stunde von dem Sündenfalle bis zu Christus, in dem es still wurde, erwartete man den Bund zwischen Wahrheit und Barmherzigkeit, Frieden und Gerechtigkeit, zwischen Mensch und Gott. Damals wurde im Geheimnis des göttlichen Ratschlusses verhandelt, wie man den Streit zwischen Gott und Mensch einschläfern könne. Verhandelt wurde zwischen denen,,die Zeugnis geben im Himmel : der Vater 10, das Wort und der Geist' ( 1 Joh 5 , 7) , und man überlegte, wem von diesen man den Rechtsspruch zwischen Barmherzigkeit und Wahrheit, Gerechtigkeit und Friede anvertrauen solle. Der Vater galt wegen seiner Vertrautheit mit der Wahrheit als ,befangen' 11 . Es heißt ja: ,Mächtig bist Du , o Herr, und Wahrheit ist um Dich herum ' (Ps 88 , 9) . Auch die Gerechtigkeit ist Ihm vertraut : Er ist gerecht, und die Gerechtigkeit liebt Er' (Ps 10, 9). Der Heilige Geist galt ebenfalls als , befangen , weil Er nach der Seite der Barmherzigkeit und des Friedens hinneige. Man weiß ja , daß Er , voll Liebe und Güte ist, der Geist der Weisheit' (Weish 1 , 8). So kam es, daß die Parteien einmütig in den Ruf ausbrachen : ,Herr, gib Deinen Richterspruch dem König, und dem Königs - Sohne das Richteramt ! ' (Ps 71 , 2) ; und es geschah, daß ,der Vater der Erbarmungen' (2 Kor 1 , 3) , das ganze Gericht dem Sohne übertrugʻ (Joh 5, 22) , weil dieser nicht befangen sein kann. Obschon Er nämlich Gott ist, so , schauen doch seine Augen zu dem Armen nieder ' ( Ps 10,5) . Recht spricht Er nach Billigkeit für die Armen im Land ' ( Ps 11 , 4) . Dies ist der Sohn Gottes, den Johannes in der Apokalypse (4 , 2 ff. ) auf dem Richterstuhl sitzen sah,, von einem Regenbogen umgeben', der Versöhnung bedeutet. So heißt es ja im Buche Genesis (9, 3) : , Ich werde meinen Bogen in die Himmelswolken stellen; er soll das Zeichen des Bundes sein zwischen Mir und euch! ' Unter Berücksichtigung von allem (discussis meritis) kam so der Urteilsspruch zustande, daß der Mensch dem Antrag der Milde gemäß gerettet werden solle ; und damit dieser Urteilsspruch des Schöpfers unanfechtbar werde, solle ‚ einer sterben für das Volk, damit nicht das ganze Geschlecht zugrunde gehe' (Joh 11 , 50). Ein Mensch also, und kein anderer, sollte sterben, weil es hieß : ‚ In der Stunde, da ihr ... (Gn 2, 19) . Aber welches Menschen Tod könnte diesem Urteilsspruch Genüge tun? Unter den , vom Weibe Geborenen' (Lk 11 , 1 ) ließe sich keiner finden, der geeignet wäre. Weil es nun hieß: Nicht ein Engel soll erlösen, sondern ein Mensch ! - wie sollte das der ins Elend verstrickte und in Schuld verlorene Mensch? Loskaufen heißt die verlorene Unschuld gegen gerechten und gebührenden Preis wiedererlangen. Wenn das also weder Engel noch Mensch, noch eine niedere Kreatur vermag, so vermag es nur Gott. So ist 10 Cusanus beläßt hier wohl bewußt den Nominativ des Vulgatatextes. 11 Suspectus ; vgl . Richard von St. Viktor , Liber de Verbo incarnato c. 9 (PL 196, 1004) .

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Die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen

es also notwendig, daß Gott Mensch sei 12 : Gott wegen des Antrags der Milde, Mensch wegen des Urteilsspruches des Schöpfers. So sind sich also ,Barmherzigkeit und Wahrheit begegnet' (Ps 84, 11 ) , indem sie sich zu einem Bund der Gnade zusammenschlossen , damit der Mensch aus

Barmherzigkeit befreit werde und um der Gerechtigkeit willen dem Spruch des Schöpfers Genüge tue. Die Gerechtigkeit will, daß von dem, der sündigte, Genug tuung geschehe. Der Mensch sündigte. So soll der Mensch auch genugtun 13. Der Mensch wollte weise sein wie Gott. Der Sohn ist die Weisheit des Vaters. Somit

paßt es sich also, daß nicht der Vater und nicht der Heilige Geist, sondern der menschgewordene Sohn des Vaters die Genugtuung leiste. Gottes Sohn sei es also um der Gerechtigkeit willen, ein Menschensohn' um des Friedens willen . “ Das Motiv des „heiligen Streites“ taucht bei Cusanus noch in einer zweiten Weihnachtspredigt auf, und zwar in Predigt 6, die spätestens im Jahre 1436 ge halten wurde. Dort werden die Ausführungen von Gerechtigkeit und Barm herzigkeit nur knapp angedeutet und durch ein „und so weiter “ abgebrochen. Dann heißt es noch knapper: „Die Wahrheit sprach. Dagegen replizierte der Friede usw.“ Das erweckt bereits den Eindruck, daß Nikolaus hier schon sonstwo

ausgeführte Gedanken voraussetzt. Darauf folgt der ausdrückliche Hinweis : „ und nach der Replik, die anderswo steht (quae alibi habetur), berief sich der Friede auf die Milde des göttlichen Schöpfers “. Hier kommt die Sprache auf die

göttliche Vorherbestimmung und die schon im Paradiese durch die geheimnisvolle Einheit von Adam und Eva vorgebildete Kirche, durch welche die Menschheit

gerettet werden soll. Diese Ausführungen stützen sich vor allem auf den Epheserbrief 14.

In diesem Predigtabschnitt wird offensichtlich „ Predigt 19“ vorausgesetzt. Ver

muten ließe sich das auch schon ohne den Rückverweis aus der andeutungsweisen Wiedergabe dessen, was dort ausgeführt ist, und aus der Ergänzung der letzten Gedanken 15. Volle Sicherheit dafür, daß sich der Rückverweis auf , Predigt 19 " bezieht, und damit zugleich für die Priorität dieser Predigt 16, ergibt sich aus folgendem : In „ Predigt 19“ wird noch nicht auf den Epheserbrief Bezug genom

men. Aber zu Ende dessen, was die Milde ausführt, steht dort ein nachgetragener Hinweis darauf, daß das Gesagte mit Hilfe des Epheserbriefes auf die göttliche Vorherbestimmung von Anfang an auszudehnen sei 17. Das ist, wie wir sahen, in Predigt 6 geschehen.

Den Angelpunkt für die besprochene Darstellung des „ heiligen Streites“ bildet der Psalmvers : „ Barmherzigkeit und Wahrheit sind sich begegnet, Gerechtigkeit 12 Anselm v. Cant. , Cur Deus homo? I , 5 11 ; II , 6 (II 52 68 f. 101 ). 14 S 6 (C 25°, 4—29). 15 Daß Nikolaus hier den Frieden und dort die Pietas an vierter Stelle anführt, besagt nichts dagegen ; vgl. Anm. 7. Die Umstellung der Aufeinanderfolge von Wahrheit und 13 Vgl. ebd . I, 11 f. ( II 68—70) .

Gerechtigkeit kann als Verbesserung gewertet werden, da die Anklage von der Gerech tigkeit ausgeht und diese vor allem im Gegensatz zur Barmherzigkeit steht. 16 Vgl . oben S. 23—25.

17 C 58' (oben linker Rand): Hic applica epistulam ad Ephesios, quomodo ab initio praedestinavit nos, ut simus coheredes etc. 78

Zum Motiv der „ heiligen Zwietracht“ und Friede haben sich geküßt." 13 Weitere Anregungen konnte Cusanus durch Hugo von St. Viktor erhalten, der das Motiv eines der Inkarnation vorausgehenden " Rechtsstreites zwischen Gott und Mensch“ streift 19, und wohl auch durch den ,Liber natalis pueri parvuli Christi Jesu ' des Raimund Lull, der sechs allegorische Personen an der Krippe zu einem Gespräch über die Menschwerdung vereint 20. Die dramatische Gerichtsszene, die mit der Anklage gegen den gefallenen Menschen beginnt und mit dem Ratschluß der Menschwerdung endet, dürfte von Cusanus selbst aufgebaut sein. Dabei machte er sich seine kanonistische Vorbildung und eine reiche Kenntnis der Heiligen Schrift zunutze. Beides tritt hier in den Dienst einer theologischen Demonstration, die von der Freude an dem sich versöhnenden Streit der in die göttlichen Attribute hineingetragenen Gegensätze belebt ist. Nach Predigt 6 kam Nikolaus nicht mehr auf die geschilderte pia discordia zurück. Sein Denken fand seinen Schwerpunkt in dem Geheimnis Gottes, dem er durch das Leitprinzip des Zusammenfalls der Gegensätze, die im menschlichen Denken wurzeln, in Gott näherzukommen sucht 21 .

b) Die Erlösungsbedürftigkeit des gefallenen Menschen „Ignoranz, Neigung zur Sünde und eine Schwächung" der menschlichen Natur sind " vorläufige " Folgen der Erbschuld; die letzten und schlimmsten sind „ der Tod sowie der Verlust der Gottesherrlichkeit " 22. An diesen zeigt sich erst die ganze Bitterkeit der Wurzel des Übels, der Schuld und des Verlustes der Gnade, sowie die Notwendigkeit einer „ Belehrung" der in ihrem eigenen Stolze gefangenen erbsündlichen Ignoranz. Denn sie stehen am konträrsten in Gegensatz zu dem Wahrheits- und Unsterblichkeitshunger, der im Menschen infolge seiner Zielbestimmung liegt, und machen so die Notwendigkeit einer Erlösung am dringlichsten bewußt. 1. Der leibliche Tod , der durch die Trennung der Seele vom Leibe erfolgt, ist ebensowenig wie das sittliche Böse von Gott geschaffen 23. Gott gab der Seele den Leib, damit so „ auch die sichtbaren Werke Gottes zum Ziele der göttlichen Herrlichkeit gelangen sollten " 24. Der Tod kam durch die Sünde Adams und durch den Neid des Teufels zur Herrschaft 25. Die Sünde machte Adam und seine Nachkommen sterblich 26. Die von Adam empfangene Natur

ist ein Same des

18 Ps 84, 11 (Vulg.) . Vergleiche, was Bernhard , In Psalmum , Qui habitat', sermo 11 , n. 7 f. (PL 183, 228 f.) , zu Ps 24 , 10 und Ps 83, 42 ausführt ; ferner die Gegenüberstellung von Güte, Weisheit, Gerechtigkeit und Macht Gottes im Hinblick auf den Erlösungsratschluß bei Joh. Damascenus, De fide orth . III , 1 (PG 94 , 981 B 984 C) . Diese Stelle wird von Thomas, S. theol. III , q. 1 , a. 1 , contra, zitiert. 19 De sacramentis I, 8, 4 (PL 176, 307). - Petrus Lombardus übernahm dies: Sent. III d. 20, c. 4 ( 642) . 20 Lull nennt zwar zunächst sechs andere Namen, führt dann aber auch die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als „ Pförtnerinnen“ in das Gespräch mit ein (c. 7 , Müller 230) . 21 Vgl z. B. S 128 (V2 9 ) : Iustitia coincidit cum sapientia (in Deo) . 22 S 50 (V148 -b). 24 S 198 (V2 116™ ) . 23 Vgl. unten S. 324. 25 S 19" (C 57 , 63 70) , S 264 (V2 218 ) ; vgl . Röm 5 , 12 14. 26 Cribr. II, 16 (P 139′–ˇ) .

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Erlösungsbedürftigkeit Todes und der Schwäche und als solche nicht dem Leben einbar, denn der Staub kehrt zum Staube zurück “ 27.

Auch der Koran sagt, so hält Nikolaus den Arabern entgegen, „ daß Adam deshalb, weil er Gottes Gebot nicht erfüllte, dem Gesetz des Todes verfiel“ 28; er weiß auch, „ daß sich der sterbliche Mensch auf keine Weise durch irgendeine Anstrengung oder Tugendübung unsterblich machen kann ; denn könnte die (ein

mal) sterbliche Natur sich selbst unsterblich machen, so würde sie sich zugleich zu Gott machen , der allein von Natur unsterblich ist, auch nach dem Koran“ 29.

Der Mensch muß also das Sinnenleben in der trügerischen Welt durch den leib

lichen Tod verlassen, und der Christ seufzt sogar nach Befreiung von diesem kranken und vergänglichen Leben“ 30.

2. Von der Docta Ignorantia an bemüht sich Cusanus sehr darum, den ewigen geistigen Tod als qualvolle Unerfüllbarkeit des menschlichen Wahrheits- und

Glücksverlangens und als Konsequenz der Abkehr von der göttlichen Wahrheit begreiflich zu machen 31. „ Nur in der ewigen Weisheit kann ein jedes Einsichts »

vermögen Einsicht erlangen ... Ein Einsichtsvermögen (intellectus), das nicht die helle Weisheit kostet, ist wie ein Auge in der Finsternis. Es ist nämlich ein

Auge, aber es sieht nicht, denn es ist nicht im Lichte; und weil es der Lebens freude entbehrt, die (für es) im Sehen besteht, so ist es in Mühe und Qual ; und das ist mehr Tod als Leben .“ 32 In dem Nicht-zur -Gottesschau -Kommen liegt die Verdammnis 33. Dies ist ein Sterben ohne Erlöschen und ein endloser Todes

kampf, „ ein Leben voll größerer Pein, als man sich ausdenken kann. Es ist so Leben , daß es Tod ist, so Sein, daß es Nichtsein ist, so Einsehen, daß es Nicht

wissen ist. “ 34 ,Wie nämlich die geistlichen Freuden des einsichtigen Lebens die größten sind und sogar der verklärte Leib mit dem Geiste daran teilnimmt, so sind auch die Betrübnisse des geistlichen Todes in der Hölle am größten, und auch diese teilen sich dem mit dem Geiste verbundenen Leibe mit. “ 35

Ein solches Dasein ist, wie Cusanus in Bildern ausführt, ewige Gefangenschaft im Übel 36, Wohnen im Feuer 37, Qual durch den Wurm, der nicht stirbt 38. „Der 9

in die Verdammnis Gestürzte lebt noch das Leben der Geistnatur, denn dieser nach ist er nicht sterblich , er ist aber wie ein Gelähmter und Sterbender der Lebens

kraft beraubt “ 39 ; er versinkt nicht ins Nichts, geht aber zugrunde, da er dessen 27 S 102 (V2 195b). 26 Cribr. II , 17 (Ø 140") . Die Koranstellen s . bei Hölscher 300 Anm. 15. 29 Cribr. III , 19 ( P 150' ) ; die Koranstellen s . bei Hölscher 335 Anm, 1-2. 30 S 18 n. 43 ( H 84-86) .

31 D. Ign. III, c. 10 (vgl. oben S. 55); S 62 (V1 130**) : Sic absentia (cibi) seu aversio a vero est mors intellectus, quia non habet, unde pascatur. 32 De sap. I ( Hva14, 14 f., 6–10). 33 S 53 (V. 101 *-b) .

34 D. Ign. III , 10 (H 150, 20—24) ; vgl. Gregorius M., Dial. IV, 45 (PL 77, 405 B) : 9

Anima itaque et mortalis esse intelligitur et immortalis: mortalis, quia beate viverc

amittit, immortalis autem , quia essentialiter vivere nunquam desinit, usw. 36 Ebd . ( H 151 , 6–9).

36 S 18 n . 46 ( H 88) .

37 S 103 (V2 18"*) ; De ludo globi I (P 140 '): Anima ... etiam affligitur igne materiali . 38 S 54 (V. 104" ), S 281 (V2 273°4); vgl. Mk 9, 43. 39 S 103 (V: 18 ). 80

vom leiblichen und geistigen Tod entbehrt, wodurch er leben könnte 40. „Nichtsein wäre besser als solch ein elendes Sein" 41, als „ den zweiten Tod schauen “ , der „ auf den zeitlichen folgt“ 42. Alle, die sich selbst zum Ziel ihres Lebens machen, „ verdienen diese Strafe; sie werden in ewigem Selbsthaß gefoltert werden“ 43 und müssen auf diese Weise der Ehre Gottes dienen 44. „ O unbegrenzte Güte! " ruft Cusanus im Hinblick darauf aus: „Wie unglücklich ist doch jeder Sünder, der Dich, die Ader des Lebens, verläßt ! " 45 3. Was ist aber das Los derer, die ohne persönliche Sünde in der Erbsünde sterben? - Der geistige Tod ist wegen der Sünde Adams von der göttlichen Gerechtigkeit über das ganze Geschlecht verhängt 46. Die göttliche Gnade kann nur im irdischen Leben erlangt werden. „ Keinem , der sie nicht in diesem Leben erlangt hat, wird sie hernach noch gegeben. " 47 zwischen Doch Cusanus unterscheidet auch - mit Anlehnung an Thomas denen, die für eigene Sünden büßen, und den „ Nichtgetauften, bei denen keine persönliche Abkehr (von Gott) vorliegt “ . Die Erbsünde hat nur „ die Strafe des Schadens, jedoch keine spürbare (Strafe) zur Folge 48. Jene ... sind nämlich vernünftige Geister. Daher schmerzt es sie nicht, daß sie die Herrlichkeit nicht erlangen. Sie wissen ja, daß sie nie durch die heiligmachende Gnade unmittelbar dazu befähigt (habiles) waren. Es schmerzt ja auch keinen Vernünftigen, daß er nicht fliegen kann; hat er doch keine Flügel. " 49 4. Was die Erbsünde für das ganze Menschengeschlecht zur Folge hatte, bewirkt jede schwere persönliche Sünde beim Einzelnen: sie trennt von Gott 50, dem „einen Notwendigen" 51, raubt der Seele „ Maß, Schönheit und Ordnung“ 52, macht sie als Wohnung Gottes untauglich 53 und verpfändet den Menschen der Hölle 54 und dem Teufel 55. Jeder Sünder ist also töricht 56, nicht als ob damit die Sünde ent-schuldigt wäre, denn die Sünde ist eine Torheit, die mit freiem Willen geschieht 57. „ Das Böse 40 S 53 (V₁ 101 ) ; vgl. S 34 ( C 132 ′ , 32) : Et vitam quam habuit perdidit, non enim nisi ex gratia est vita spiritus, nequaquam ex scientia. 41 Brief vom 11. 6. 1463 ( Si2 160 ) ; vgl. oben S. 57 sowie Mt 26, 24. 42 S 273 (V2 242 ") ; vgl. Apk 20 , 14 . 44 S 200 (V2 119 ) . 43 S 243 (V2 181 ) . 45 De visione Dei c. 5 (P 100') . 47 S 4 (C 81 , 12). 46 „S 19" (C 58 ') ; Cribr. II , 17 ( P 140 ′) . poena sensus ' vgl. Thom. v. A q., S. theol. II. 48 Zur Unterscheidung , poena damni II. q. 79, a. 4 ad 4 ( II 400) . 49 S 50 (V1 48 ) ; vgl . Thom. v. A q . , In Sent. II d . 33 , q . 2 , a. 2 c.: sicut nullus sapiens homo affligitur de hoc, quod non potest volare sicut avis. 50 S 9 (Č 70 , 22 f.) ; S 144 (V2 47 ) ; Cribr. II, 17 (P 140 ′) . 51 S 46 (V150 ) ; sie trennt auch vom Leibe Christi : S 206 (V2 123ˇª) . 52 S 141 (V2 43ra) ; vgl. Vf I 45 f. 53 S 141 (V2 42vb). 54 S 144 (V2 46 ). 55 S 141 (V2 42ºª) . 56 S 88 (V2 17 ) ; vgl. S 206, 2 (V2 123 ) : ignorantia seu peccatum vel tenebra vel obfuscatio mentis. 57 Vgl. z. B. S 141 (V2 42 ) : Transit autem liber rationalis spiritus per consensum in servitutem maligni . Ideo non est peccatum, ubi hic consensus esse nequit. Quando igitur voluntas eligit aliquid, tunc se stringit ad id, quod eligit, sicut in matrimonio et servitutibus et omni amore. 6 Haubst, Nikolaus v. Kues

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Erlösungsbedürftigkeit

für den Menschen ist das Der- Vernunft -zuwider -Sein, wie Dionysius in dem Buch Über die göttlichen Namen sagt. “ 58 Unwissenheit ist somit auf verschiedentliche Weise mit der Sünde verquickt:

Als Folge der ersten Sünde des Stolzes liegen „ Schatten der Unwissenheit “ auf dem menschlichen Erkennen, und obwohl ein vollständiger Ignorant nicht zur Sünde fähig ist 59, ist die aus dieser Unwissenheit resultierende Erd- und Ich

gebundenheit auch ein günstiger Nährboden der Sünde 6o, die sich jeweils von neuem gegen die Vernunft richtet. Schließlich besteht auch die Strafe der ewigen Verdammnis in licht- und freudloser Unwissenheit, die der geistige Tod ist 61.

Soll der Mensch also wirkliche Erlösung finden, so ist dazu sowohl die Tilgung seiner Schuld wie auch bei denen, die den Vernunftgebrauch erlangen, Belehrung und Aufhellung der Unwissenheit erforderlich . Denn „jeder vernünftige Geist bleibt so lange von dem Feind der Wahrheit gefesselt, bis er durch die Wahrheit befreit wird “ 62 .

„Die nämlich nur das für Weisheit halten, was sie intellektuell begreifen, und nur das für Glück, was sie sich selbst verschaffen können, sind weit von der wah

ren, ewigen , unbegrenzten Weisheit entfernt und irgendeinem flüchtigen Ruhe ziel zugewandt, indem sie Lebensfreude vermuten, wo sie nicht ist. Sie werden sich also qualvoll enttäuscht finden; denn wo sie das Glück zu finden meinten, dem sie sich mit allen Kräften zuwandten, finden sie Pein und Tod. “ 63 „Unwis

senheit ist es, in der die Sünder gefangen sind, weil sie nicht glauben, daß in einer (unerlaubten) zeitlichen Lust des Fleisches der Tod für den Geist liegt und daß auf eine so geringe irdische Freude ewige Betrübnis folgt.“ 64 5. Der „Belehrung“ bedürfte der Mensch , von Sünde und Erbsünde abgesehen, auch schon auf Grund seiner kreatürlichen Erkenntnissituation. Denn wenn auch »

„ein jeder nach Unsterblichkeit verlangt und sie liebt, so wissen wir doch in dieser Welt nicht, was die Wahrheit, was das Leben und was der Weg (dazu) ist “ 65.

„ Platon sah nämlich nicht richtig “, wenn er meinte, „die Menschenseelen hätten vor dem Leibe präexistiert“ und kennten daher das rein geistige Leben so gut, daß ihnen der Leib zum Kerker und zur Hölle werde 66 , und wenn wir, wie Dionysius sagte 67, danach streben , „ zu Gott hinüberzugelangen “ , so ist das weder durch 58 S 141 (V2 42%"); Dionysius , De div. nom. IV, 32 (PG 3, 734 A) ; vgl. S 206, 2 (V2 1235b) : ut quidam ait, tunc peccatum non est nisi motus inordinatus. Auch diese

Definition dürfte Dionysius entnommen sein ; vgl. De div. nom. IV, 28 (PG 3, 730 B) . 69 S 235 ( V2 162° ): Penitus ignorans non peccat.

60 S 142 (V250""): ignorantia occasio peccati. Das klingt an die auf dem Intellektualis mus Platons beruhende Gleichsetzung von Tugend und Weisheit, Laster und Torheit bei der alten Stoa an ; vgl. Platon , Protagoras (355 d) und besonders den Dialog „Menon “ ;

zur Stoa vgl. Ueberweg - Praechter 427 430. Cusanus ist jedoch weit von einer solchen Gleichsetzung entfernt. 61 S 208 (V2 127**) : Mors intellectus est ignorantia; cuius delectatio est intelligere ; vgl . oben S. 80.

62 S 208 (V2 126**) .

63 De sap. I (H 13 , 15 — 14 , 2) .

64 S 239 V2 171 " ).

65 S 47 (Vi 50**) ; vgl. Joh 14 , 6.

66 S 43 (V1 70*5); vgl Platon, Phaidon c. 6 ; Menon c. 18—22. 87 P s. -Dionysius, De myst. theol. I, 1 (PG 3, 997 — 999 A). 82

von Sünde und Unwissenheit

unsere Erkenntniskraft möglich , da Gott jeden Intellekt übersteigt, noch durch

unsere Willenskraft, da das Unerkannte nicht geliebt wird. Unser Geist kann also offensichtlich nicht aus sich den Hinübergang zu Gott vollziehen, sondern nur durch einen Mittler dazu gelangen“ 68. Das soll nicht die Erkennbarkeit des Daseins Gottes auf natürlich - diskursivem

Wege leugnen, wohl aber die natürliche Fähigkeit des geschaffenen Geistes zu unmittelbarer Gottesschau. Zu einer solchen „ Erkenntnis Gottes kann der Mensch nicht mit all seinen Kräften gelangen “ 69. Insbesondere ,konnte der unwissende Mensch , auch nicht mit aller Kraft, die Weisheit oder Kunst des Schöpfers er reichen , wenn sich das Wort nicht offenbarte “ 70.

So befindet sich das menschliche Einsichtsvermögen der göttlichen Wahrheit gegenüber im Zustande einer Potenz, zu deren Verwirklichung die Mitteilung einer höheren Einsicht erforderlich ist 71 ; und erst recht im erbsündlichen Zu

stande war der Menschheit ein Lehrer notwendig, der die Unwissenheit besei tigen und seine Jünger erleuchten konnte. Überall wartete man auf ihn 72. Die

ganze Spezies Mensch wäre ein dunkler Kerker geblieben ohne das göttliche Licht, das durch Christus in sie hineinkam 73.

c) Der Heilsratschluß Gottes

In einer kurzen belehrenden Auslegung des heiligen Vaterunsers “ 1 stellt Niko

laus von Kues die Frage, „ ob es not sey gewesen, das got die menschait hat an sich genomen“ ? Er antwortet: „Ja, das tat sehr not zur Erlösung von uns armen »

Menschen . Aber für Gott den Herrn tat das nicht not. Er bedarf dessen nicht.

Ihm floß daraus auch kein Nutzen zu. “ Daran reiht sich eine zweite Frage an:

Was aber hat Ihn dazu, daß Er Mensch wurde, gebracht ? “, und die Antwort: „ Nichts anderes als die große Liebe, die Er zu uns gehabt hat. “ Bei der Darstel lung des „ heiligen Streites “ zielte Cusanus zudem besonders auf die Begründung dafür, daß gerade die zweite Person Mensch wurde. Seiner Antwort auf diese drei Fragen gehen wir nun näher nach . 1. Predigt 3 leitet in folgender Weise vom Sündenfall zum Heilsratschluß Gottes über: „ Gott sah, daß der Mensch das ihm als Ziel gesetzte Heil nicht erreichen könne, da die Gerechtigkeit im Wege stand und Adam und Eva infolge des Richterspruches mitsamt ihren Nachkommen als Tote nicht aus sich aus dem ewigen Tode auferstehen konnten. Denn nichts kann sich selbst das Leben geben. Wie vielmehr jedes Geschöpf durch Gott ist, so hat es auch von Gott das Leben .“ 2 65 S 287 (V2 281" ).

69 S 181 (V2 89 " ); vgl. S 284 (V2 277 ): Nihil potest sui ipsius principium, scilicet unde et quomodo venit in esse, agnoscere nisi revelatione . Die Erkennbarkeit des Da

seins Gottes wird davon nichtbetroffen ; vgl. S 181 ( V2 897 ). 70 Reformatio generalis (Ehses 282). il Cribr. II , 16 (P 139") ; vgl. De dato Patris luminum c. 1 (P 193") ; S 289 (V2 284 ° ).

72 Reformatio generalis (Ehses 282) . 72 S 123 (V2 6" ) . IS 71 n . 17 ( H 110) .

1

6*

2 S 3 (C 45', 1—3) . 83

Gottes Heilsratschluß Hier wird die Notwendigkeit der Erlösung durch Gott zweifach begründet : erstens mit der Unfähigkeit des Menschen, der göttlichen Gerechtigkeit genugzutun, zweitens mit der für seine gnadenhafte Erneuerung notwendigen göttlichen Wirkursächlichkeit. In beiden Richtungen hat Nikolaus seine Gedanken weiter entwickelt, und zwar in der ersteren, im Sinne der Satisfaktionslehre Anselms, schon in einem Nachtrag zu der zitierten Stelle, den er später in folgendem Wortlaut in Predigt 26³ übernahm : „ Die Rückversetzung in den Stand, in den der Mensch ursprünglich versetzt war, kann nur geschehen, wenn er zur Ähnlichkeit mit den Engeln, die keine Sünde haben, gelangt . Das ist nur dadurch möglich, daß er die Nachlassung aller Sünden erlangt. Diese erfolgt erst nach vorangehender vollständiger Genugtuung. Diese muß hinwiederum so geschehen, daß der Sünder oder ein anderer für ihn Gott etwas aus dem Eigenen gibt, was Ihm nicht schon geschuldet ist5 und alles überragt, was nicht Gott ist. Denn da Sündigen Gott-verunehren ist und der Mensch das nicht tun dürfte, selbst wenn alles außer Gott sonst zugrunde gehen müßte , so fordert es die unveränderliche Wahrheit und die klare Vernunft, daß der Sünder Gott etwas für die geraubte Ehre erstatten muß, was größer ist als das, um dessentwillen er Ihm nicht hätte Unehre antun dürfen . Das vermochte die menschliche Natur allein nicht. “ „ Sie hätte aber das alles tun müssen, um ihrer Zielbestimmung entsprechend wiederhergestellt zu werden. Jedoch weder sie noch irgend etwas außer Gott konnte dem genügen.“ Predigt 208 gibt die Anselmsche Satisfaktionslehre in einer durch Aldobrandinus 10 erhaltenen Färbung wieder: „ Die Genugtuung für die Schuld konnte nicht durch einen bloßen Menschen erfolgen, da sich der Mensch nicht so sehr verdemütigen konnte, wie Adam stolz war. Die Kreatur ist (auch) ohnehin schon gehalten, Gott das Ganze zu geben, weil sie ihrem Herrn zu dienen hat, seine Dienerin ist. Sie hat daher auch nichts aus Eigenem zum Genugtun. Deshalb ,erniedrigte sich Gottes Sohn und wurde Mensch, ,indem Er Knechtsgestalt annahmʻ (Phil 2 , 7) . “ 11 Die Grundlinie dieses Gedankenganges ist uns schon aus „Predigt 19 " bekannt : Der Mensch sündigte --- der Mensch muß genugtun ; ein bloßer Mensch, ja cin bloßes Geschöpf 12 kann das nicht, also nur einer, der zugleich Gott und Mensch ist. 3 S 26 (V1 74 ) . Der ganze Abschnitt von ,Anselmus quaerit' bis ,vide totum ! ' (V₁ 74™ ) besteht teils in wörtlichen Exzerpten, teils in knapperer Wiedergabe von Anselms Cur Deus homo ; vgl. das Folgende. 4 Vgl. Anselm , Cur Deus homo I , 19 ( II 85) . 5 Vgl. ebd. I , 20 ( II 87) . 7 Vgl . ebd. I , 21 ( II 89, 1—3) . • Vgl. ebd . I , 5 ( II 73, 7) . 9Vgl. ebd. I, 24 ( II 92–94) . 8 Vgl. ebd. I , 21 ( II 89, 27 ff.) . 10 Für das Folgende zitiert Cusanus die dritte Predigt des Aldobrandinus zum 2. Adventsonntag. In den fünf im Vat. Ottob. 557 enthaltenen Predigten für diesen Sonntag findet sich der Text nicht. - Vgl. Thom. v. A q., In Sent. III d . 1 , q. 1 , a . 1 , contra ( III 13). 11 S 208 (V2 128 ) . ‚Formam Dei accipiens ' ist offensichtlich verschrieben statt : ,formam servi accipiens' . 12 S 6 (C 25 , 24) wird die Möglichkeit der Erlösung durch einen Engel so ausgeschlossen: Non angelus, sed homo peccavit in Deum infinitum et aeternum ; ferner gilt auch vom Engel (ebd. Z. 26 f. ) : Remedium satisfactionis in tanto debito per finitum et terminatum hominem inveniri non potuit.

Keine Selbsterlösung des Menschen 2. Daneben verfolgt Cusanus gerne unmittelbar metaphysische Gedankengänge wie : „Niemand gab sich je selber das Leben . So kann sich auch kein Toter selbst

auferwecken und Ursache seines Heiles sein, noch sich wiedergebären zum Leben . kann sich das Leben erwerben .“ 13 „ Es gab also keinen anderen Heilsweg, als daß der, der ihn dazu erschuf, ihn auch wieder huldvoll neugestaltete.“ 14 „Der Mensch vermöchte aus sich nicht das Ziel seines geistigen und ewigen Kein Sünder – der tot ist

Verlangens zu erreichen ... Er bleibt vollkommen unfähig, das Zeitliche zu über steigen, um das Geistliche zu umarmen ... Niemand war je aus sich mächtig genug , über sich selbst und die eigene Natur, die ihrer Herkunft nach Sünden

fleischlicher Lust unterliegt, also über seinen Ursprung (radix) hinaus, zum Ewigen und Himmlischen aufzusteigen, außer dem , der vom Himmel herab gestiegen ist (Joh 3 , 13) . “ So führt die Docta Ignorantia aus 15. Einige der folgenden Predigten wenden diesen Grundgedanken auf das Wahr heitsverlangen 16 und vor allem auf den Unsterblichkeitsdrang des Menschen an.

Predigt 21 gründet auf die „ übereinstimmende Überzeugung aller Menschen “ die drei Sätze: Die Menschenseele ist unsterblich, und der Mensch wird dereinst

auferstehen; Gott ist die Quelle unseres Lebens, und : Was einen zeitlichen An

fang genommen hat, kann nur durch die Einung mit etwas Unsterblichem un sterblich werden. Daraus zieht Nikolaus die Schlüsse: „Da nur Gott in der Un sterblichkeit wohnt 17, so ist nur der Mensch unsterblich , der mit Gott geeint ist“ ; zweitens: „Da es bei einem, der persönlich an der Gottheit ,teilhat', nur eine ganz vollständige, in allem vollendete Menschennatur geben kann, so faßt dieser Mensch in seiner höchsten Vollendung die (unsterblichmachende) Kraft für die ganze Menschennatur zusammen. Dieser Mensch ist also der Erlöser aller. “ 18 Diese Argumentationsweise gewinnt schließlich 19 folgende Fassung : „ Niemand

kann glückselig sein, solange er nicht die Unsterblichkeit, in der nur Gott wohnt, mit Gott mitbesitzt. So muß also die allen Menschen gemeinsame menschliche Natur zuerst in irgendeinem der Substanz nach mit der göttlichen, unsterblichen Natur in einer Weise geeint sein, daß es keine größere Einung geben kann, damit in diesem alle, die zur Seligkeit gelangen, ähnlich ihrer eigenen Natur nach mit

der göttlichen geeint werden ... Wenn es aber jenen Menschen , der ,allein der Höchste“ 20 ist, da in Ihm das menschliche Leben mit dem göttlichen vereint ist,

nicht geben kann, wie soll dann das (Unsterblichwerden) in einem geringeren möglich sein? Es ist also erforderlich , daß jener Mensch im Besitze der mensch lichen Natur, und deshalb .Menschensohn ', und im Besitze der göttlichen Natur, und deshalb Sohn Gottes , ist, und zwar der Natur nach, damit alle, die das gött liche Leben erlangen sollen, durch die Ihm und allen gemeinsame menschliche 13 S 275 (V2 248" b ) .

14 Cribr. II, 16 ( P 139') . Dasselbe besagt das Bild, daß der „verkrümmte“ Mensch sich nicht selbst richten konnte ( S 23 ; V1 84 " ).

15 D. Ign. III , 6 (H 136,28 — 137 , 17). 16 z. B. S 20 ( C 87 ", 15 f. ) . 18 S 21 (V1 63**). 19 Vgl. unten S. 213—215. 28 Aus dem Gloria der heiligen Messe. 17 Vgl . 1 Tim 6, 16.

85

Gottes Heilsratschluß

Natur mit Ihm geeint, in Ihm dieselbe Unsterblichkeit erlangen können , welche die allen mit Ihm gemeinsame Natur erhält. “ 21 In der Cribratio Alchoran sind der satisfaktorisch -meritorische und der meta

physische Gedankengang nochmals miteinander verknüpft: „ Wenn man glaubt, daß irgendeiner (aus sich zur Unsterblichkeit) gelangt ist, so mußte dieser eine

göttliche Wurzel oder Hypostase haben, um die Unsterblichkeit in einer ange nommenen Menschennatur durch die Entfaltung einer entsprechenden Kraft, die er in seiner Wurzel oder Hypostase besaß , verdienen zu können . “ 22

3. Daß Nikolaus mit seinen Argumenten dafür, daß die Erlösung des Men schen nur durch einen oder vielmehr den Gottmenschen erfolgen konnte, keine strikte Evidenz erzwingen wollte, zeigt Predigt 4 : „Das Menschengeschlecht hätte

von dem unendlichen und ewigen Gott auch durch einen bloßen Befehl seines ewigen und unendlichen Willens 28, dem nichts widerstehen kann, befreit werden können . Dennoch gefiel es seiner unbegrenzten Güte, ,für uns Menschen und um unseres Heiles willen (vom Himmel) herabzusteigen' 24; denn keine andere Art

und Weise war dem Erneuerer, dem zu Erneuernden und der Erneuerung 25 SO angepaßt.“ 26 Wo Cusanus in diesem Zusammenhang von Notwendigkeit spricht, ist dies also so zu verstehen, „ daß sich das Ziel (der Erlösung) auf diesem Wege besser und sinngemäßer erreichen ließ " 27. Noch weniger unterlag der göttliche Ratschluß der Menschwerdung etwa des halb einem Zwang, weil sich aus der menschlichen Erlösungsbedürftigkeit ein

Anspruch auf Erlösung ergeben hätte : „ Anselm fragt 28, ob irgendeine Notwen digkeit dazu zwang, daß der Allerhöchste sich so verdemütigte und der Allmäch >

tige, um etwas zu erreichen , sich so mühen mußte 29. Er antwortet : „Eine jede

Notwendigkeit und Unmöglichkeit unterliegt seinem Willen.“ “ 30 Cusanus erklärt das mit eigenen Worten so : „ Was Er will, hat die Notwendigkeit, zu sein. Für das, was Er nicht will, ist es unmöglich, zu sein. “ 31 — Gott ist also über eine jede übergeordnete Notwendigkeit, wie wir sie zu denken geneigt sind, erhaben , und die für uns gültigen Notwendigkeiten haben in dem göttlichen Willen ihren Grund. Die Menschwerdung ist jedenfalls durch den freien Entschluß des gött

lichen Willens, der sich immer für das Gute entscheidet, und somit aus reiner Güte erfolgt 32

21 Brief vom 11. 6. 1463 (Siz 161" ). 22 Cribr. III , 19 (P 150') . 23 Anselm lehnt diese Ansicht, die er den Ungläubigen in den Mund legt, ab : Cur Deus homo I , 6 ( II 54 ) .

24 Symb. Nic. -Const. (D 86 ); Credo der heiligen Messe.

25 Reparatori, reparabili et reparationi. Hier zeigt sich der beim jungen Cusanus häufig 26 Š 4 (C 81 ', 29—32 ). wiederkehrende „Lullsche Dreischlag “ ; vgl. Vf I 72—75. 27 So Thom . v. A q., S. theol . III q. 1 , a. 2 c. ( III 12) ; vgl. Anm. 1 der Ausg. ebd. S. 11 . 28 Das Folgende s. S 26 (V1 74 " ).

29 Anselm , Cur Deus homo I, 4 ( II 52) ; II, 17 (Überschrift; II 122) . 30 Ebd. II, 17 (II 122, 26) ; I , 8 (II 59, 16 ).

31 Ähnlich äußert sich Cusanus häufig im Hinblick auf den Schöpfungsakt. Dabei stützt er sich öfters auf das biblische: ,Quaecumque voluit, fecit' (Ps 113, 3; vgl. 134, 6) . De

beryllo Prinzip: a .a. O. principi placuit, legis c. 16 ( H. Dieser 16, 1) zitiert erdasantik-juristische habet vigorem Satz entstammt Ulpian ; vgl. die Ausg .Quod 32 S 26 (V1 74 " ) : Sola igitur voluntate, et quae semper bona est, ita quod sola bonitate, hoc fecit. 86

Warum wurde Gott Mensch ?

4. Weil der göttliche Wille der entscheidende Grund des göttlichen Heilsrat schlusses ist, ist unserer Vernunft die Möglichkeit entzogen, dessen Notwendig keit und somit auch die Tatsächlichkeit mit apriorischen Gründen zwingend darzutun . „ Für die Werke Gottes gibt es keinen (Gott zwingenden ) Grund “ (Prd 8, 17) . Deshalb wäre es töricht, weiter danach zu forschen “ 33. „Wo Möglich und Unmöglich, die der Welt angehören , in der die Modalitäten herrschen , keinen Platz haben, wo vielmehr der reine Wille die absolute Notwendigkeit ist, ist es mehr als überflüssig, nach Art und Weise zu fragen. “ 34 Anderseits ist aber auch kein göttlicher Willensentschluß ohne Grund, blind oder unmotiviert; denn alles, was durch (Gottes) Willen geschieht, geht auch aus der Quelle der (gött

lichen ) Vernunft hervor, ja in Gott ist der Wille nichts anderes als Einsicht oder Vernunft “ 85.

Cusanus lag also der Versuch, das Geheimnis Gottes zu rationalisieren, ebenso fern wie das von dem spätmittelalterlichen Nominalismus bis zur Pietätlosigkeit

getriebene Spiel mit den Möglichkeiten einer von der Weisheit und Güte los gelösten Macht (potentia absoluta) Gottes 36. Die Willensentschlüsse Gottes sind immer aus seiner Güte entsprungen und von seiner Weisheit geleitet. Insofern bleibt auch die Möglichkeit, Kongruenzgründe für die Menschwerdung aufzu

zeigen und die göttlichen Motive zu erörtern. Derartige Motive sind, wie wir bereits hörten 37, die Barmherzigkeit und die

Milde Gottes, deren Antrag bei der „heiligen Zwietracht“ stattgegeben wird, je doch in der Weise, daß zugleich auch der göttlichen Wahrheit und Gerechtigkeit Genüge geschieht. Anderwärts nennt Nikolaus ,die Güte Gottes, die zu Hilfe kam , damit nicht die Gerechtigkeit Gottes in seinem Reiche die Sünde (unge

sühnt) ließ “ 38. Wiederholt erklärt er auch das Geheimnis aus der großen Liebe, die Gott zu uns gehabt hat“ 39 und die „von solcher Wirksamkeit ist, daß sie das >

Liebende und Geliebte eint“ 40. Das Erbarmen des Vaters „ sandte die absolute Vernunft ins Fleisch “, damit die Welt nicht in Unwissenheit verlorengehe 41. 33 De beryllo c. 29 (H 38, 10—12); vgl. De visitatione (P 5 '). — Auf diesem Wege be gründet Thomas ( S. theol. III q. 1, a. 3 c.), daß die Menschwerdung für den Fall, daß Adam nicht gesündigt hätte, sich nicht erweisen lasse ; vgl. Dionysius, De div. nom. I, 2

(PG 3, 588 C ) sowie Augustinus, Ep. 137 II, 8 (CSEL 44, 107) : Demus Deum aliquid posse, quod nos fateamur investigare non posse. In talibus rebus tota ratio facti est potentia facientis.

34 De visitatione (P 5') ; vgl. S 18 n. 19 (H 48), zu „Dein Wille geschehe “: „ Du wirs hie

geleret, das du bekennes, das geyn ander sach is (daß es keinen anderen Grund gibt) , dan das gottes des vaters wille geworden is, also von allen dingen.“ 35 De beryllo c. 29 (H 38, 19 f.); vgl. Anselm , Cur Deus homo I , 8 (II 59, 11 ) : Volun tas namqueDei nunquam est irrationalis. 36 Vgl. Borchert , Einfluß 46—74. 37 Vgl. oben S. 75–78.

38 S 26 (V1 74") ; vgl. Anselm , Cur Deus homo I, 12 (II 69, 15) :: Deum vero non decet aliquid inordinatum in suo regno dimittere.

* S 71 n.n 17 (H 110) ; vgl. S 144 (V2 466) : Causa unionis fuit, quia sic Deus dilexit mundum , ut Filium suum etc. (Joh 3, 16) ; S 148 (V2 53–4) : Deus Pater non pepercit Filio suo ( legato caritatis“), ut ostenderet, quod magis nos diligere non posset. 40 S Ž (C 45°, 3) ; vgl. Vf I 79—81 .

41 S 62 (Vi 127 b) ; vgl. S 53 (V1 101" ). 87

Gottes Heilsratschluß

Das alles hebt unter verschiedenen Gesichtspunkten die eine Glaubenswahrheit hervor, daß Gott um unseres Heiles willen vom Himmel herabgestiegen ist “ 42. 5. „Als unser Gott in seiner unbegrenzten Güte beschloß, einer menschlichen Natur in der göttlichen ihren Selbstand zu geben ( suppositare )..., beschloß Er auch von Anfang an, daß dies auf die passendste Weise geschehen sollte, so

nämlich , daß sich das göttliche Wort in die menschliche Natur kleidete. “ 43 Die Konvenienzgründe, die Nikolaus dafür anführt, sind recht verschiedenartig. Der Einfall in ,Predigt 19“ , daß der Vater für die Gerechtigkeit und der Heilige Geist für die Barmherzigkeit voreingenommen oder ,befangen “ sei und daß deshalb beide nicht für die Behebung der „ Zwietracht" in Frage kämen 44,

ist im Rahmen der dortigen Einkleidung geistreich, aber auch stark anthro pomorph und theologisch unzulänglich . Mehrmals stützt sich Cusanus auf den

auch von Thomas geltend gemachten Grund 45, das Prinzip der Schöpfung sei auch das gegebene Prinzip der Neuschöpfung 46 oder Neugestaltung: Wie schon „ die geistige Natur alles durch ihr Wort gestaltet und durch ihr Wort neu

gestaltet ..., so formt und re -formiert (auch) Gott alles durch sein Wort“ 47; und „ wie die Welt durch das Wort ins Sein trat, so wird sie auch durch das Wort im

Sein erhalten und zu ihrem Ursprung zurückgeführt“ 48,

Tieferdringende Beweismomente ergeben sich aus einer Zusammenschau der Personeigentümlichkeiten des Wortes und der an der menschlichen Zielbestim mung gemessenen Heilsbedürftigkeit des gefallenen Menschen . Ein Text der

Concordantia catholica, den Cusanus als „Wurzel seiner Kirchenauffassung“ bezeichnet, verfolgt den Gedankengang : Das Wort ist die Weisheit Gottes des

Vaters oder „ das Leben “ . Somit muß eine jede vernünftige Kreatur dem Worte anhängen, um das Leben zu haben . Die Sünde, die sowohl den Engeln wie den

Menschen zur Ursache des Todes wurde, richtete sich gegen die Weisheit Got tes 49, Daher mußte auch der Sohn oder die Weisheit Gottes vom Herzen des

Vaters kommen, um den Menschen auf Erden, die glauben, wieder den Zugang zur himmlischen Weisheit und zum Leben zu erschließen 50. „Damit der von Geburt unwissende Mensch weise werde und sein höchstes Ziel erreiche, kleidete

sich die Weisheit in die menschliche Natur “ 51 ; denn dem Auge Sehen oder dem 12 Symb. Nic . -Const. (D 86) ; vgl. S 57 (V1 110 ): Ad hoc, ut illam (vitam ) consequi valeas, factus est homo; S 191 ( V2 107v ): Propter nos descendit, ut evangelizaret nobis divitias gloriae caelestis regni; S 275 ( V2 24974): Scimus, quoniam Filius Dei venit et induit carnem et mortuus est pro nobis et resurrexit pro nobis a mortuis. — Zur Frage nach dem entscheidenden Motiv der Inkarnation s . unten S. 182 ff.

43 S 40, 2 (V1 720—73 " ). 44 Vgl . oben S. 77 f .

45 Thom. v . A q ., S. theol. III q. 3 ,a. 8 c. und ad 2. 46 S 9 (C 70", 24); vgl. S 2 (C 104", 5 ) , S 3 (C 46', 2 9 f.). 47 Cribr . I , 13 ( P 130') .

48 S 21 (Ví 63ub) .

49 Vgl. Anselm , Cur Deus homo II , 9 (II 105): Illi itaque, cui specialius fit iniuria , convenientius attribuitur culpae vindicta aut indulgentia ; Bonaventura , In Sent. III d . 1 , a. 2 , q. 4 ( III 30 a). 50 Conc. I, 3 (H 42 f.) .

51 S 26 (V1 746). 88

Warum wurde Gottes Sohn Mensch? Geiste Einsicht geben ist Sache der Weisheit oder des Wortes oder der unbegrenzten Vernunft " 52. Um dieses Wirken der Weisheit nicht intellektualistisch zu verstehen, ist zu beachten: Nikolaus stellt gern das gesamte Erlöserwirken unter den Leitgedanken, daß Christus den Seinen den Vater zeigt und sie zu dessen Kindern macht, indem Er sie durch den Glauben zur Erleuchtung und gnadenhaften Wiedergeburt führt, die sich in der Schau der göttlichen Weisheit und der in ihr aufleuchtenden Herrlichkeit des Vaters vollendet. Daß die in diesem Heilswirken sich entfaltende Wirkursächlichkeit nicht nur von der zweiten Person ausgeht, sondern der ganzen Trinität gemeinsam ist, hat Cusanus oftmals betont 53. Dennoch wird das Werk der geistigen Wiedergeburt, wie es in Predigt 6 heißt, „ mit Recht dem Sohne zugeeignet (appropriatur) , da Er das Bild, das Wort und die Weisheit Gottes und der , Glanz des ewigen Lichtes' (Weish 7 , 26) ist; denn das Wort geht es an, den Geist zu erleuchten , die Weisheit, ihn weise zu machen, das geistige Bild : den Geist eines jeden dem, dessen Bild er ist, zu verähnlichen und so neuzugestalten, und den Glanz, den Geist strahlend zu machen“ 54. Die Docta Ignorantia fügt den Gesichtspunkt hinzu, daß die göttliche „ Gleichheit“ der geeignetste Subsistenzgrund für den größtmöglichen Menschen sei 55. Die höchsten und zutreffendsten Namen, unter denen die personale Eigentümlichkeit des ewigen Logos erfaßbar ist, zeigen somit deutlich, daß das Werk der Erlösung des Menschen und seiner Heimholung zu Gott in besonderer Weise der zweiten Person entsprach . In dem Briefe an den Novizen von Montoliveto 56 erwähnt der Kardinal die von Raimund Lull übernommene trinitarische Analogie: der Liebende (amans) , der Liebenswerte (amabilis) , das Lieben (amare) 57, um auch von daher einen Konvenienzgrund für die Inkarnation des Sohnes abzuleiten: „ Was ist es zu verwundern, wenn der Vater, der Liebende, seinem liebenswerten Sohne durch den Heiligen Geist, der das Band der Liebe zwischen beiden ist, die menschliche Natur anverlobte, als Er jene verlorene und irrende Natur zu seiner Liebe zurückrufen wollte? Das konnte nicht vollkommener geschehen als dadurch, daß diese durch den Heiligen Geist seinem liebenswerten Sohne durch Einung verknüpft wurde. "

52 S 208 (V2 127ºª) . 53 Z. B. „S 19" (C 56 , 23; 57 , 8 ) ; S 6 (C 22' , 12) : Hoc opus, licet a tota Trinitate fiat effective , cum opera Trinitatis sint indivisa ; S 23 (V₁ 85™ ) . 54 S 6 (C 22 , 13—15) . 55 Vgl . unten S. 167 f. 56 Siz 161VD. 57 Auf Lull dürfte sich das Folgende : , omnia, quae aut ego aut alius maioris ingenii in his cogitamus', beziehen ; vgl. Vf I 79–81 .

69 89

C. Die Verheißung und Verkündigung der Menschwerdung I. VERHEISSUNG UND VORBEDEUTUNG

a) Die Uroffenbarung und die prophetische Verheißung Zu gern hätte Cusanus aus der Heiligen Schrift 1 und anfangs sogar auch mit astrologischer Hilfe ? etwas über das Alter des Menschengeschlechtes erfahren . Doch er mußte erkennen , daß nicht über Mutmaßungen hinauszukommen war . „Kein Zweifel besteht“ jedoch, wie Predigt 8 ausführts, „ über eine sich vom Stammvater her über die Nachkommen fortsetzende (religiöse) Tradition . Adam und Eva gehören nämlich nach der gewöhnlichen Ansicht 4 nicht zu den Verwor fenen, sondern zu den Auserwählten . Sie wandten sich also zu Gott zurück und taten viel Buße. Sie empfingen auch von Gott, wie man dem Anfang der Genesis entnehmen kann, mancherlei Trost, insbesondere die Verheißung der Geburt eines Sohnes, der der göttlichen Gerechtigkeit für sie und ihre Nachkommen

genugtun sollte (Gn 3, 15). Durch diese Eröffnung wurden sie von Liebe zu Gott entflammt und erflehten dessen Ankunft. Gewiß blühte den Stammeltern aus dieser Eröffnung alle Weisheit und Wissenschaft auf. “

Anschließend sucht Nikolaus die Treue, mit der diese Uroffenbarung über die Sintflut hinaus bis auf Abraham weitergegeben wurde, durch die hohen Lebens

alter von Seth, Henoch, Mathusalem, Noe und Sem zu erklären 5. Schon „ Noe erkannte auch vieles Neue über den Mittler“ . „ Deutlichere Offenbarungen über den Sohn ergingen in der Zeit Abrahams 6, dann zur Zeit des Moses durch Opfer,

Vorbilder, Zeichen und Weissagungen. Unter Salomon und David, zur Zeit des Tempelbaues, wurden die Verheißungen erneuert und die Wahrsprüche erklärt. 1 In den Aufzeichnungen in Cod. Cus. 212, Vorsatzblatt c- , heißt es eingangs: Secun dum tabulas Alfontii Adam fuit ante Christum 5508 annis, sed secundum Hebraeos 3860 annis , et secundum computationem latinam 5199 annis. Dies schrieb Cusanus vermutlich

noch in den zwanziger Jahren. - Vgl. Coniectura de novissimis diebus (P 2 '): Quamvis

computationes annorum sint multum variae secundum iudaicam veritatem ( = Massora ), secundum septuaginta interpretes, secundum (Flavium ) Iosephum et Philonem ... Dort schließt Nikolaus sich Philo an, dessen Angaben zu dem Jahre 5100 führen.

? Die erwähnten Aufzeichnungen in Cod. 212 tragen als Ganzes astrologischen Cha rakter. Der dortigen Berechnung nach hätte die Welterschaffung i. J. 6122 vor Christus stattgefunden ( c', 22).

3 Š 8 (C 29 ', 2—7) . 4 Vgl. Augustinus , De peccatorum meritis et remissione II, 34, 55 (PL 44, 183) ; Ep. 164, 3, 6 (CSEL 44 , 526) . Et de illo primo homine ..., quod eum indidem solverit, ecclesia fere tota consentit, quod eam non inaniter credidisse credendum est; Anselm , Cur Deus homo II, 16 ( II 119) ; P. Lombardus, Sent. II d. 33, c. 4 (484).

5 Cusanus läßt allerdings erkennen, daß ihm eine persönliche Begegnung von Sem und Abraham unmöglich scheint, da nach den Angaben Augustins 1700 Jahre zwischen der Sintflut und Abraham lägen ; vgl. Augustinus , De civ. Dei XVI, 10 (CSEL 40, II 144 ). 6 6 S 60 (V1 1166) wird zu der von Abraham auf Isaak und Jakob weitergehenden Ver heißung einer Nachkommenschaft (semen) , in der alle Völker der Erde gesegnet sein sollen (Gn 22, 18 ) , erklärt, daß ,semen' hier nur auf den einen Christus zu beziehen sei. Dabei beruft sich Cusanus auf Gal 3, 16. 90

Uroffenbarung und prophetische Verheißung Dann kamen die Propheten, die die Nähe seiner Ankunft und das Ganze ankündigten. " 7 Propheten sind „ Seher " 8 ; die altbundlichen Propheten waren das im Vergleich zu denen, welchen sie wie Sterne einen großen künftigen Tag verkündeten . Sie sollten auch das Volk Gottes im Namen Gottes durch Gesetze erziehen 10. Ihre Hauptaufgabe aber war es, auf Christus hinzuweisen" 11. So riefen denn „alle Propheten, daß es einen im Schoße des Vaters gebe, auf dessen Sendung vom Himmel man wartete " 12. Durch sie „versprach Gott, daß Er kommen und Erlösung und Sieg bringen werde " 13. - 19 Viele heilige Männer und Propheten waren es, die von seiner Ankunft Zeugnis gaben, die einen von dem Ort : Bethlehem (Mich 5 , 1 ) , andere von seiner wunderbaren Empfängnis : , Siehe, die Jungfrau wird empfangen ' usw. (Is 7 , 14) , andere von seiner glorreichen Geburt : Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt' usw. ( Is 9, 6) , und wieder andere über die genaue Zeit : , Noch siebzig Wochen' usw. (Dn 9, 24) . “ 14 All diese Propheten legen von Jesus, dem größten Propheten, Zeugnis ab. „Von den Propheten ist nämlich einer größer als der andere. So mußte man schließlich zu einem höchsten Propheten gelangen, den Gott nach der Vorhersage des Moses (Dt 18 , 15) erwecken sollte. " Cusanus begründet das mit Hilfe des Prinzips : „Überall , wo es ein Mehr und Minder gibt, gelangt man auch zu einem Größten. " Jesus war "9 der höchste der Propheten, weil Er das, was Er vom Reiche Gottes verkündete, schaute, und zwar nicht nur wie die andern auf Grund von Offenbarung, sondern aus sich. Die andern ... schauten nur kraft des Wortes Gottes, das in Jesus leibhaftig wohnte. Das fleischgewordene Wort, das Jesus genannt wird, machte sie alle zu Propheten. " 15

b) Vorbilder und Vorbereitung Nicht nur durch Worte, „ auf vielfache Weise sprach Gott (Hebr 1 , 1 ) durch die Väter und Propheten in Schatten- und Vorbildern und Zeichen “ 16. Adam, der über die Tiere herrschen sollte, war gleichsam deren „ König und Messias" und dadurch ein Bild Christi 17. Noe stellte sowohl durch den Bau der Arche 18 wie durch das Pflanzen des Weinbergs Christus dar 19. „ Joseph, der in Ägypten so hoch aufstieg, und Melchisedech, der zur Königs- und Priesterwürde gelangte", bedeuteten typisch die Verherrlichung Christi durch den Vater vor 20. * S 8 (C 29 ", 8–24 ); vg1 . S 15 (C 24 ", 10–12 ) . 8 Vgl. z. B. S 183 (V2 95 ) : Propheta enim dicitur videns ; das ist die Übersetzung des .hebr ‫רֹאֶה‬ De pace fidei c. 2 (P 114 ) ; S 16 n . 2 (H 8) . 11 S 59 (V₁ 68ª) : ostensio eius . 10 De pace fidei c. 1 (P 114') . 12 S 130 (V2 35™ª) ; vgl. Cribr. I , 15 (P 131º) : Michäas lehrte die ewige und die zeitliche Zeugung Christi, Isaias und Baruch schauten den Messias als Gott ; S 208 (V2 126ra-b) . 13 S 207 (V2 125" ) . 14 „S 19“ (C 58', 59—62) ; vgl. dagegen den Abschnitt D. Ign . III, 5 ( H 135 , 19—31 ; unten S. 95 f.) . 16 S 6 (C 25 , 14 f. ) . 17 Cribr. III, 21 ( P 151 ′) . 15 S 183 (V2 95vb) . 18 Vgl. Augustinus , De civ. Dei XV, 26 ( CSEL 40, II 116—18) . 19 S 8 (C 29 , 13). 20 S 281 (V2 274 ) ; zu Melchisedech vgl. Cribr. III , 16 ( P 149′) . 91

Das Ritus-Geheimnis der Vorzeit David war „Christi Vorbild, weil er von Gott gesalbt war wie Er, der Gott vor den andern gefiel " , und wie Er aus der Hand der Verfolger errettet wurde 21. Abraham schaute Ihn im Glauben als seinen Nachkommen und opferte daher schon, als er Isaak opferte, Christus 22. „ Isaak zeigte sich seinem Vater bis zum Tode gehorsam, um ein Opfer für Gott zu werden, und war so ein ferner Vorbild- Typus (typice figurando) Christi , des wahren Opfers. " 23 Die Propheten nahmen mitunter „ die Person" Christi an und weissagten, indem sie Ihn repräsentierten. „ So sprach zum Beispiel der Prophet, der sagte : ,Ich will Dich unter den Heidenvölkern preisen' (Ps 17, 50) , in der Person Christi , den er von ferne unter den Heiden Gott, seinen Vater, loben sah. " Paulus bezieht diese Stelle auf den mystischen Christus (Röm 15 , 9) . Ähnlich, sagt Cusanus, sind zum Beispiel auch die Prophetenworte zu verstehen: „ Mein Antlitz bot ich denen dar , die mich schlugen" 24, und : „ Gott, mein Gott, blicke hin" usw. (Ps 12 , 4) . Daraus leitet er den allgemeinen Hinweis ab: „ Beachte bei allen Propheten, wie sie, die Person Christi annehmend, als Repräsentanten Christi sprechen, als hätte sie der Geist Christi ergriffen oder Christi Geist durch sie gesprochen. “ 25 Abraham und Moses kommt im Rahmen der altbundlichen Hinführung zu Christus besondere Bedeutung zu. Sie waren bereits vor Christus „ Mittler“ zwischen Gott und den Menschen : „Abraham glaubte, daß es Gott war, der mit ihm sprach, und empfing dadurch, daß er Ihm glaubte, die Offenbarung. So wurde er zum Mittler zwischen Gott und seinem ganzen Hause, seiner Familie, durch den Bund, den sie eingingen, nach dem alle männlichen Geschlechtes beschnitten werden sollten. " 28 Durch die Verheißung zahlreicher Nachkommenschaft machte ihn Gott zum Vater aller Gläubigen, der Christen, Araber und Juden" 27. Der Bund Abrahams mit Gott enthielt die Verpflichtung, vor Ihm zu wandeln und vollkommen zu sein (Gn 17 , 1 ) . Das war eine Neuverpflichtung auf das Naturgesetz 28, das Gott schon bei der Erschaffung in den Menschen hineingelegt hat und das darin besteht, daß man sich von der Vernunft leiten lasse und nicht von ihr abweiche, indem man den einen allmächtigen Gott in der schuldigen Weise ehrt und dem Mitmenschen nichts tut, was man sich selbst nicht wünscht 29 . „ Die Beschneidung wurde sozusagen als äußeres Zeichen (sacramentum) , durch das dies anerkannt werden sollte " , in den Bund mitaufgenommen 30. Auch Moses 19 empfing Offenbarung und wurde Mittler zwischen Gott und dem Volke Israel " 31. Die Zehngebote - Tafeln sind die Vertragsurkunde des damals geschlossenen Alten Bundes. Das Sabbatgebot scheint zu diesem als äußeres Zeichen zu gehören 32. „ Beschneidung und Sabbat scheinen also eingesetzt zu sein ,

22 S 145 (V2 49rb) . 21 S 237 (V2 164vb) . 23 S 60 (V₁ 117 ) ; vgl. Cribr. III, 15 ( P 148 "). 26 S 183 (V2 94b). 24 Vgl. Is 50 , 6 und Mt 26, 67. 25 S 251 (V2 193b) . 27 De pace fidei c. 18 ( P 121 ') ; vgl . Cribr. III , 13 ( P 148 ') : Wenn die Juden nicht auch die Werke Abrahams tun, sind sie nur dem Fleische nach seine Söhne ; Cribr. III , 15 (P 148 ) : Abraham war „ Christ ", weil er glaubte, daß durch die Mittlerschaft Christi das ewige Leben erlangt werde. 28 S 183 (V2 94-95™ ). 30 S 183 (V2 95™ ) . 29 S 269 (V2 231 ) ; S 183 (V2 95™ª) . 31 S 183 (V2 94vb). 32 Dafür beruft sich Cusanus auf Ezechiel ( 20 , 12 ) : Sabbata mea dedi eis in signum inter eos et me. 92

Vorbilder und Vorbereitung

um dem Bund zwischen Gott und der Nachkommenschaft Abrahams Festigkeit zu geben .“ 33 ,Dazu könnte vielleicht jemand bemerken : Demnach wäre also das Gesetz des Moses (nur) eine Erneuerung des Naturgesetzes.' Ich antworte im Sinne der an

geführten knappen Erklärung (exposiuncula) 34 : Das Gesetz des Moses ist drei fach, weil in ihm drei Gesetze enthalten sind : das geistige Gesetz, das Gesetz der

Erneuerung und das Sabbat- oder Zeremonialgesetz. Von dem geistigen Gesetz gilt das Schriftwort: „Höre, Israel , dein Gott ist ein Gott !' (Dt 6, 4.) Dieses er streckt sich nur auf Gott. Das Gesetz der Erneuerung erneuert und reformiert das Naturgesetz .“ 35

Dieses dreifache Gesetz fand in Christus seine Erfüllung 36 Das geschriebene sollte – über das Naturgesetz hinaus - auf die Verheißung Gottes hinlenken 37. Die Beschneidung und manche ihr folgenden Anordnungen sollten insbesondere der Läuterung (purgatio) der Nachkommenschaft Abrahams dienen und sie vor der Vermischung mit dem Heidnischen bewahren 38, um so die Fülle der Zeit vorzubereiten 39 Die Opfer der Zeit vor Christus waren, wie Cusanus in An 9

lehnung an Augustinus 40 sagt, „ zunächst wie Schatten , dann wie Vorbilder“ und

führten „ zu Christus hin, der die Wahrheit ist “ . So haben , die Opfer wie die Menschen in dem immer klareren Lichte der Prophezeiungen die Ankunft (des Erlösers) stufenweise manifestiert “ 41

c) Das Christus -Geheimnis der Vorzeit, insbesondere der Heiligen Schrift des Alten Bundes

Der verheißene Christus war das Ziel der Vorzeit ; Er war in ihr auch schon

geheimnisvoll enthalten, besonders in der Heiligen Schrift des Alten Bundes, doch auch schon dem Fleische nach. Dem Fleische nach war Christus, der „ Heilige der Heiligen “ (Dn 9, 24) , wie Cusanus in Predigt 60 42 ausführt, , in dem Samen Abrahams, der sich über Isaak fortpflanzte, verborgen , und die gesamte Nachkommenschaft Abrahams war in den gläubigen und wahren Kindern Abrahams dadurch geheiligt, daß Christus

in ebendem ,Samen Abrahams dem Fleische nach ' (Röm 1 , 3) enthalten war 43, Er, der nach der Erfüllung der Zeit' (Gal 4, 4) , nachdem die erforderliche Reini

gung der Nachkommenschaft gemäß den Vorschriften der Beschneidung und des Mosaischen Gesetzes erfolgt war, von Maria der Jungfrau empfangen und uns geboren wurde. Deshalb pflanzte sich die Nachkommenschaft Abrahams schon in Isaak auf wunderbare Weise fort, damit die Welt sehe, wie herrlich dabei Gottes 33 S 183 (V2 957).

34 Gemeint ist der unbekannte Römerbrief -Kommentator (s. oben S. 15f.) . 35 S 269 (V2 231° ). 36 Die Reinigungsvorschriften fanden diese in Maria, der Mutter Jesu: S 136 (V2 37 ) . 39 S 59 (V1 684 ). 38 S 23 (V1 847) . 37 Cribr. II , 16 (P 139 ') .

40 Augustinus, Ep. 102, q. 3, n. 17 21 (CSEL 33, II 559 563). 12 S 60 (V1 116 %*). 41 Conc. I , 3 ( H 40). 43 In ipso uno semine Abrahae occulta (ba) tur Christus secundum carnem in virtute . Vgl. dagegen Thomas , S. theol. III q. 31, a. 1 ad 3 : Corpus Christi fuit in Adam secun dum corpulentam materiam .. non autem fuit ibi secundum seminalem rationem . 9

93

Das Ritus-Geheimnis Kraft am Werke war, damit sie die höchste Ursache daraus erkenne (praesupponat) und, soweit es ihr gegeben sei , nach der Fleischwerdung des Erlösers forsche." " In Isaak, dem Sohne der unfruchtbaren Sara, erfuhr die Nachkommenschaft das göttliche Walten (dispensatio) , damit aus dem getreuen Abraham ein Gott überaus getreuer, wohlgefälliger und geliebter Nachkomme erstehe, ,aus dessen Gnadenfülle alle Völker gesegnet sein sollten' 44. Wie groß ist doch dieses Walten des ,verborgenen Geheimnisses ' (Kol 1 , 26) ! Allen Kindern Abrahams, d. h . allen Gläubigen, wie Paulus im 3. Kapitel (V. 7) des Galaterbriefes dartut, gibt es höchsten, nämlich letztgültigen und unversieglichen Trost! " 45 Daß Christus den eigentlichen Inhalt der Schrift des Alten Bundes bildet, hebt Nikolaus durch wiederholte , Omnis - Scriptura ' - Sätze ― die in erster Linie dem Alten Testament gelten, weil sich im Evangelium ohnehin „ das Wort Gottes selbst offenbart" 46 -- eindringlich hervor: „Durch die gesamten Schriften hindurch manifestiert sich nichts anderes als Gott und das fleischgewordene, für uns gekreuzigte Wort in Zeichen und Opfern. " 47 — „Die ganze Schrift bemüht sich, diese eine Wahrheit von dem Erlöser, dem Sohn und Erben, Haupt und Erstgeborenen aller Geschöpfe' (Kol 1 , 15) , auf verschiedene Weise auszudrücken. " 48 - „ Das ist die ,Summe der Heiligen Schrift : sie beschreibt nur den , vollkommenen Mann ' (Jak 3 , 2) , nämlich Jesus, den Sohn Gottes, und seine Nachahmung . " 49 - „ Wer glaubt, die Schriften sprächen nur da von Christus, wo sie Ihn als König, Messias, Erlöser erwähnen, der irrt. Auch jede Schrift, die den Heimsuchenden, den Hirten, Befreier, Erleuchter, Lebensspender und Retter verkündet, spricht von Christus . “ 50 -— „Jede geschichtliche Begebenheit ist ebenfalls zu unserer Belehrung geschrieben' (Röm 15, 4) und wies vorbildlich auf die Lehre des Messias selbst hin. " 51 Auch das altbundliche Heilsgeschehen war schon von dem kommenden Christus gelenkt und erfüllt. „Was findet man nämlich in der ganzen Heiligen Schrift außer der Macht des Wortes Gottes? " 52 Dieses Wort stillte den Israeliten in der Wüste den Durst mit Wasser aus der Schatzkammer Gottes 53. „ Dieser Jesus ließ schon seit Anfang der Welt( -Geschichte) in seinen geretteten Gliedern eine einzige Stimme erschallen, die mehr und mehr wuchs, bis sie in Ihm am lautesten wurde. als Er verschied, und diese eine Stimme verkündet, daß es kein Leben gibt außer in dem Wort,, durch das alles geworden ist“. “ 54

45 S 60 (V₁ 116rb—va) . 44 Vgl. Joh 1 , 16 ; Gn 22, 18 . 46 S 269 (V2 230 ) ; De principio n. 18 (V2 253 ) : Oportet nos praesupponere has evangelicas locutiones humano modo omnibus praecisiores. Nam Verbum Dei de se loquitur. 47 Conc. I , 3 (H 41 ) ; vgl . S 179 (V2 87 ) : Si recte intras ad Scripturas, nihil reperies nisi Deum, mundum et Christum, atque Christum esse, in quo Deus reconciliavit sibi mundum. Vgl. Augustinus , Ep . 137 ( zit . S 8 , C 29º, 32) III, 15 (CSEL 44, 118) : Christum Dei Verbum, Dei Filium, Deum in carne venturum, moriturum, resurrecturum, in caelum ascensurum ... omnes prophetiae, sacerdotia, sacrificia , templum et cuncta omnino sacramenta sonuerunt. 48 S 6 (C 25 , 16 f.) ; vgl . De visione Dei c. 25 ( P 113') : Nihil aliud Scripturae omnes facere nituntur nisi te ostendere. 50 S 277 (V2 266™ ). 49 S 253 (V2 197rb) . 51 S 253 (V2 197**) . 53 S 271 n. 36 (H 156) . 52 S 183 (V2 95ºª ). 54 S 21 (V1 63 ) . Das letzte ist dem Symbolum Nicaenum entnommen (D 54) . 94

in der altbundlichen Heiligen Schrift

In dem letzten Text klang bereits der Gedanke der , Paradieseskirche“ an, die zahlreiche Väter, insbesondere Irenäus und Ambrosius, lehrten 55. In der Concor

dantia catholica 56 und einigen auf sie folgenden Predigten sprach Nikolaus deut licher davon : „Das Wort Gottes, die Weisheit des Vaters, hat sich bereits von Anfang an die Kirche, unsere Mutter, anverlobt. Das wurde schon im Paradiese dadurch ausgedrückt, daß nach Erschaffung der Eva aus der Seite Adams die

Ehe eingesetzt wurde.“ 57 „ Von Abel dem Gerechten bis zum letzten (Gerechten ) besteht eine Kirche“ 58, „und seit Urbeginn der Welt wuchs diese Kirche nach und nach an Heiligkeit bis zu Christus, dem Haupte aller Heiligkeit“ 59. Der Glaube dieser vorchristlichen Kirche war auf den kommenden Erlöser gerichtet, der seine Ankunft vorausverkünden ließ " 60, auf das vorherbestimmte, überaus große Werk, daß das Wort aus der Jungfrau Fleisch werden sollte. Weil

Luzifer in seinem Stolze das nicht glaubte, fiel er. Die daran demütig glaubten, wurden alle gerettet von Anfang an. “ 61 „Abraham, der das glaubte, wurde in Christus gerechtfertigt; denn sein Glaube stieg bis zu Christus hinauf. Alle

Rechtfertigung durch den Glauben geschieht also in Christus. “ 62 Eine solche Betrachtung der altbundlichen Heilsgeschichte ist allerdings erst im Lichte der neutestamentlichen Offenbarung möglich . Die ganze Zeit vor Chri stus ist gleichsam Empfängniszeit der Wahrheit, sofern die Wahrheit unter dem

Buchstaben verborgen ist und man sie nicht sieht, obwohl sie ungeteilt und voll ständig vorhanden ist ... und keine andere Wahrheit als die des Neuen Testa mentes, sondern dieselbe. Das eine Mal ist sie verborgen wie im Mutterschoße,

noch nicht erkannt oder gesehen, das andere Mal ist sie geboren und sichtbar geworden nach Entfernung des Buchstabenschleiers. “ 63

Eine ausschließlich „ literale“ Schrifterklärung enthüllt also den Geist des Alten Testamentes nicht: Auch die Juden haben „ alles über Christus in ihren Schriften; aber indem sie (ausschließlich) dem Literalsinn folgen, wollen sie nicht zur Ein sicht kommen “ 64. Nur das „geistige “ Verständnis des Alten Testamentes führt

also zu Christus hin 65. Erst „ Christus hat das Innere oder den Geist des Buch stabens erschlossen . Er selbst ist ja das Wort, das in der Schrift verborgen war. “ 66 Das Licht des Wortes muß auch den Geist erleuchten, „ daß er unter dem Buch staben den geistigen Sinn schauen kann“ 67. So kann der Übergang vom Alten zum Neuen Testament nur durch Christus, „ die Türe “ (Joh 10, 9) , erfolgen 68. Daher blieb auch die Ankunft Christi trotz aller Prophezeiungen von Anfang an verborgen und ein Geheimnis“ , bis sie eintrat 69. „Das, was die höchste Fülle in sich hat“ , schreibt der Verfasser der Docta Ignorantia 70, „ ist nämlich mit 55 Vgl. bes. Irenäus , Adv. haereses V, 20, 2 (PG 7,1178); Ambrosius , In Ps. 118,1 (PL 15 , 1201 ) . – Vgl. J. Beumer, Präexistierende Kirche: WW 9 ( 1942 ) 13—22. 56 Conc. I, 3 ( H 42 f.) .

57 S 15 (C 23 , 38 f. ).

58 S 15 ( C 23 ', 29) .

60 , S 19 “ (C 58 ', 51). 59 S 7 (C 37',21). 61 S 11 (C 39', 7 f. ) . 63 S 162 ( V2 6374) ; vgl. 2 Kor 3, 15 f . 62 S 272 (V2 239" ). 65 Vgl. S 271 n. 21 ( H 138 ). 64 De pace fidei c. 12 (P 119").

66 S 289 (V2 2855b) ; vgl. S 183 (V2 94° ), Š 209 (V2 12964), S 253 (V2 1965b) : ( Paulus) omnem Scripturum sic aperit, quod in omnibus reperitur Christus. 68 S 277 (V2 263" ). 69 S 253 (V2 197 " ). 67 S 270 (V2 234 ). 70 D. Ign. III, 5 (H 135, 21-28). 95

Christus die Fülle der Zeit

anderen , täglichen Erfahrungen unvergleichbar. Deshalb konnte überhaupt keine menschliche Vernunft durch irgendein Zeichen diese (sich nähernde Fülle Christi

vorher) wahrnehmen , obwohl gewisse dunkle, durch menschliche Bilder in Schat ten gehüllte Zeichen auf Grund tief verborgener prophetischer Eingebung über liefert waren, aus denen die Weisen auf dem Vernunftwege hätten voraussehen

können, daß das Wort in der Fülle der Zeit' (Gal 4, 4) inkarniert werden müsse. Die genaue Bestimmung von Ort und Zeit oder der Art und Weise wußte jedoch nur der ewige Vater voraus, der diese Bestimmung traf. “ 71

II. CHRISTUS DIE FÜLLE DER ZEIT

a) Die Altersfülle der Menschheit im geschichtlichen Christus

„ Als die Fülle der Zeit gekommen war “ , sagt die Docta Ignorantia in Anlehnung 7

an Gal 4 , 4, „ wurde Er, da der Mensch nicht außerhalb der Zeit geboren werden kann, zu der dafür geeignetsten Zeit und am geeignetsten Orte geboren .“ 1

Daß die Menschwerdung Christi zu dem Zeitpunkt geschah, in dem die ge schichtliche Zeitenfolge ihre Fülle “ erreichte, sucht Nikolaus durch eine heils geschichtliche Überschau über die zu Christus hinführenden Entwicklungsstufen oder Zeitalter der Menschheit zu begründen. Dabei übernahm er die durch

Augustins großes Werk „ Über den Gottesstaat“ angebahnte Betrachtungsweise 2 oder baute darauf auf.

In Predigt 17 erklärt er Gal 4 , 1-7 , indem er das Gesamtleben der Mensch heit von Anfang bis Ende mit dem des einzelnen Menschen in Parallele setzt : ,Zu Anfang war die menschliche Natur nämlich ,kindlich ', als Gott Adam und Eva, die kurz zuvor noch nicht wußten, daß sie nackt waren, Kleider machte. Danach wurde die menschliche Natur ,knabenartig' und begann zur Zeit Abra hams Gott gegenüber ihre Vernunft zu gebrauchen '. Bei Abraham setzte nämlich

der durch die sinnenfällige Beschneidung vorgebildete Same der Vernunft' eins. Danach rückte die menschliche Natur in das kräftigere Alter vor, so daß sie in Zucht genommen werden mußte . Das war zur Zeit des Moses, als sie unter einen

Lehrer und Gesetzesregeln und unter einen Erzieher gestellt wurde. Sodann gelangte dieselbe Menschheit zur ,Fülle der Zeit und der Vollkommenheit, näm 71 Im Dialog De visitatione läßt Nikolaus (P 4") sogar die Mutter Jesu sprechen : In

quo autem tempore ( = für welche Zeit) semen illud iureiurando Abrahae fuisset pro missum , mihi et omnibus fuit absconditum, simul et modus. Vgl. Coniectura de novissimis diebus (P 2 ') .

1 D. Ign. III, 5 (H 135 , 19 f.) . 2 Zum folgenden Abschnitt vgl. Augustinus , De civ. Dei XXI, 16 (CSEL 40, II 546—48) ; zur mittelalterlichen Tradition: Gottfried_v. St. Viktor, Microcosmus lib. I, c. 13—15 (Delhaye 40—44 ); Bonaventura , Breviloquium, prol. 2 (V 204 ) , sowie schon Isidor, Etymologiae V , 28 f. (PL 82 , 223 ff.). 3 Ähnlich heißt es S 251 (V2 193ta) , in Abraham habe unsere Natur „angefangen, zur Vernunft zu gelangen “. Das soll sagen,daß unter Abraham eine Besinnung auf das Natur gesetz stattgefunden habe ; vgl. oben S. 92. 96

als die Erfüllung der Vorzeit lich zur Weisheitserkenntnis der Kinder. Da wurde in Christus, unserm Herrn, die Weisheit der Menschheit geeint. Danach konnte eben diese Natur nicht mehr weiterwachsen. Sie war zu ihrer vollkommensten Stufe gelangt. “ 4 Predigt 34 enthält folgende allegorische , für die gesamte geistige Menschheitsentwicklung gültige Schilderung der ägyptischen Geschichtsperiode Israels : „ Wie Paulus sagt, ließ Gott den Menschen ,für eine bestimmte Zeit (Gal 4,2) in einem Sinnen-Leben, damit er das wahre Leben, das Gott ist, ,suchte, ob er Ihn vielleicht herausspüren könnte' (Apg 17,27 ) . Der ( gefallene) Mensch wurde also von dergroßen Hoffnung getrieben, einst das Leben wiederzufinden und zu dem Baume (des Lebens) zurückkehren zu können. So zog er suchend aus und geriet in Ägypten in den Wald, d . h. in das noch größere Dunkel seines Denkens (suarum rationum) . Die Philosophen hausen nämlich mit ihren zahlreichen und mannigfaltigen Meinungen im Walde und machen sich mancherlei Götter und mancherlei Lebensbäume, ein jeder, wie es ihm gutdünkt. So fand der Mensch dort keine Ruhe und nicht das Gesuchte, und er verließ Ägypten. Er zog in die Einsamkeit, indem er das menschliche Wissen verließ, und stellte sich unter die göttliche Leitung. Durch Gnade gelangte er aus dem Götterwalde heraus zu dem einen Gott , aber nur in der Einsamkeit des Glaubens, und konnte nicht ,kosten und sehen, wie gut der Herr ist (Ps 33, 9) . Deshalb hörte er nicht auf zu seufzen, und der Herr versprach ihm das ,Land der Verheißung' (Hebr 11 , 9) , wenn er nicht wieder nach Ägypten oder in den Wald abbiegen wollte ; und durch Jesus wurde der Mensch in , das Land, das von Milch und Honig fließt' (Ex 3 , 8) , und nach Besiegung aller Feinde zur Ruhe geführt. “ 5 Die „Fülle der Zeit" ist somit mit der ersten Ankunft Christi angebrochen. Sie besteht darin, daß die Menschheit in Christus und durch Ihn ihre höchste Reife erreichte. Das „ gesamte vorausgehende Heilswalten Gottes war auf Ihn hingeordnet ". Die Erwartungen des Alten Bundes gelangten in Ihm ans Ziel , „ nachdem viele Propheten, Weise und Heilige vorangegangen waren " 7. Aus dem Vergleich mit den Lebensstufen des einzelnen Menschen erklärt es Cusanus auch, daß das Herannahen der Fülle der Zeit verborgen blieb : „Es war wie bei dem Knaben Salomon. Als er im Mutterschoße empfangen wurde , waren seine wunderbare königliche Weisheit und Majestät noch verborgen; sie sollten im ausgereiften Alter (erst zum Vorschein) kommen . " 8

b) Die Menschwerdung „ in der Mitte der Zeit“ Auf das Wann und Wo der Menschwerdung im Heilsplane Gottes hatte der junge Cusanus in seiner Christusbegeisterung die Antwort : Sie geschah „ in der Mitte“, „ in der Mitte der Zeit — nach einigen auch in der Mitte der Welt 10 - "

5 S 34 (C 132", 37 - 132 , 4) ; vgl. Notiz C 3', 20-30 . 4 S 17 (C 10 , 11—28) . 7S 253 (V2 197³). 6S 60 (V₁ 116D) . 8 S 253 (V2 197³) . 9 S 3 (Ċ 45 , 4 f.) . 10 S 19" (C 58 , 50) heißt es ohne Einschränkung : in medio mundi ; vgl. S 281 (V2 273 ): In medio mundi operatus est salutem, ut de centro ad circumferentiam orbiculariter euntes (praedicarent) . 7 Haubst, Nikolaus v. Kues

97

Christus die Fülle der Zeit

,als alles mitten im Schweigen war' (Weish 18, 14) , die mittleren Kreaturen näm

lich , die Menschen 11, damit so eine allgemeine Einung aller Geschöpfe zustande käme “ .

Ist diese „Mitte der Zeit“ exakt chronologisch zu verstehen? 12 „ Predigt 19" sucht das anscheinend biblisch zu begründen 13. Der Zusammenhang, in dem das Wort in der Concordantia catholica erscheint 14, zeigt jedoch, daß dort nicht an eine genaue Halbierung der Weltzeit, sondern lediglich an einen Gegensatz zur

Endzeit gedacht ist 15. Jedenfalls aber wollte Cusanus die Inkarnation als den ideellen Mittelpunkt und als die reale geschichtliche Kulmination der Welt

geschichte 16 bezeichnen. „ In der ersten halben Stunde erwartete man den Bund zwischen Mensch und Gott“ 17, die zweite steht demnach im Zeichen des zwischen 9

Gott und Mensch geschlossenen Bundes; und ,wie es eine (absteigende) Stufen ordnung gibt von Christus, dem wahren Gott-Menschen , auf den Urbeginn der Welt zu bis zum Ursprung der Menschen am Anfang der Welt, so gibt es auch

eine (absteigende) Stufenordnung von Ihm bis zum Ende “ 18. Die menschliche Heilsgeschichte besteht also zunächst in einem Aufstieg bis zu Christus und dann in einem Abstieg bis zum Antichrist “ 19. Seit Urbeginn der Welt wuchs die Kirche nach und nach an Heiligkeit bis zu Christus, dem Haupt aller Heiligkeit ; von Christus bis zum Gerichtstage wird die Heiligkeit abneh men, denn der Antichrist, der Christus entgegen ist, ist die Quelle der Bosheit

und Sünde. “ 20 Von den Propheten, „ die um so klarer weissagten und um so hei liger waren, je mehr sie sich Christus näherten“ 21, „ ging Ihm Johannes, der Hei ligste ,unter den vom Weibe Geborenen ' (Mt 11 , 11 ) , unmittelbar voran, indem >

er mit dem Finger auf Ihn hinweisen konnte“ 22. „ Unmittelbar nach Christus haben die hochheiligen Apostel und Jünger Christus in der ganzen Welt ver kündet . " 23

Hier gewinnt die Aussage, daß mit Christus die Fülle der Zeit kam oder daß

Christus die Fülle der Zeit ist, eine doppelseitige Gültigkeit: Er ist die Erfüllung der Vorzeit und die Fülle, aus der die Zukunft empfängt. Die metaphysische Vorrangstellung Christi , der in sich die ganze Fülle des Menschlichen fürstlich 11 Vgl . Vf I 146 f. 151 .

12 S 23 (V1 83 b) und S 40 (V1 735") wird der 25. März als der geschichtliche Tag der Menschwerdung hingestellt; vgl. Reparatio Kalendarii (P 23°) : Refert Iohannes de Sacro busco: Gamalielem , magistrum Pauli, Eusebium Caesariensem et Hieronymum asserere Christi nativitatis tempore X. Kal. Aprilis lunam primam fuisse. 13 C 58 °, 3—9 ; vgl. oben S. 77. – Die Docta Ignorantia deutet Weish 18, 14 (Dum

medium silentium tenerent omnia) nicht mehr chronologisch , sondern auf die Verborgen heit, in der die Menschwerdung geschah (D. Ign. III , 5 : H 135, 28-30) . 14 Conc. I , 12 (H 71 ) bezeichnet es Cusanus als gänzlich ungewiß, ob der Antichrist in der Mitte der Zeit (schon vor der Endzeit) komme. Er beruft sich dort auf Apg 1, 7. 15 Das läßt vermuten, daß Cusanus in Predigt 3 wie auch Thomas (S. theol. III, q . 1 , a. 6) der jüdischen Auffassung entgegentreten wollte, der Messias komme erst zum Ende der Zeit .

16 S 38 (V1 906): quando mundus fuit in gradu altissimo, scilicet tempore nativitatis Christi .

17 „ S 19 “ (C 58', 7 ) . 20 S 7 (C 37 ', 21-23) .

23 S 7 (C 37 ', 20) . 98

18 Conc. I, 3 (H 40). 21 Ebd . Z. 19.

19 S 15 , Memoriale (C 24', 13) . 22 Conc. I, 3 (H 40).

als ihre „ Mitte “ und Kulmination

vereint 24 und dessen „ Heiligkeit alle Heiligkeit in sich schließt (complicat) wie das Licht alle Farben “ 25, ist für diese Geschichtskonzeption maß - gebend 26. Die Christozentrik dieses Geschichtsbildes erinnert sehr an Irenäus von Lyon. Insbesondere stimmt das, was wir über das Christusgeheimnis der Vorzeit und die Altersfülle der Menschheit in Christus hörten, mit dessen Gedankengut sach

lich überein 27. Das gilt auch weitgehend von der christologischen Anwendung des cusanischen Begriffs der Zusammenfassung in höherer Einheit (complicatio) und

der irenäischen Zusammenfassung im Haupte“ (recapitulatio) 28. Zu zahlreichen einzelnen gedanklichen Übereinstimmungen kommen auch sprachliche, die die Annahme stützen, daß Cusanus Irenäus unmittelbar kannte.

Für die Ansicht, daß die Welt nach Christus „ im Abstieg begriffen sei und altere “ 29, beruft sich Cusanus 30 vor allem auf Augustinus 31 , nach dem das Böse um so mehr unter den Menschen überhandnimmt, je näher das Ende kommt. Er

glaubt diese Auffassung dadurch bestätigt zu finden, daß es zu seiner Zeit mit dem Stand der kirchlichen Dinge stark abwärtsgehe 32 Auf Grund dieser Christozentrik war der junge Cusanus nahe daran, die ge schichtliche Mittelstellung, wie sie angeblich Philo Moses zuschreibt und diesen selbst vor seinem Tode aussprechen läßt 33 wonach Moses je zwei Zeitalter von

34 „Jubiläen“ (zu je 50 Jahren) vorangingen und folgten - , auf Christus zu übertragen . In seiner „ Konjektur über das Weltende“ ( 1446) paßt sich Nikolaus jedoch der Ansicht Ps. -Philos an als einer Vermutung, die die größere Wahr scheinlichkeit für sich habe, und zwar obwohl er feststellt, daß die Jahresberech

nungen Philos nicht mit den Angaben des massoretischen Textes und der Septua ginta übereinstimmen. Demnach wären also von Adam bis Noe, von Noe bis

Moses und von Moses bis Christus je 34 „Jubiläen“ vergangen und mit der Auf erstehung Christi das letzte Viertel der Weltgeschichte angebrochen 34.

24 S 17 ( C 10", 36) ; quasi in ipso ut in principe complicata foret humana natura . 25 S 17 , Nachtrag (aus wesentlich späterer Zeit) zu C 9', 30. Vgl. Weigl 82 zu Cyrill von Alexandrien.

25 Vgl. ebd .: Omnia autem per Christum mensuramus. 27 Vgl. das Kapitel „ Intentionale Wirksamkeit “ bei Scharl (3—20) sowie Escoula 392–400 .

25 Vgl. Scharl 6 ff. sowie unten S. 233 Anm . 30 . 29 S 38 (V1 907b) . 30 Conc. I , 3 ( H 40 ); S 15, Memoriale (C 24 ', 13) .

31 Augustinus, Ep. 199 (De fine saeculi) VII, 23 (CSEL 57, 264) ; S 7 (C 37', 23) zitiert für dieselbe Ansicht allgemein „die Väter“ , S 38 ° (V1 90rb) nicht näher bestimmte ,doctores' und im besonderen Henricus de Hassia (von Langenstein) .

32 Conc. I , 12 (H 73) ; vgl . S 7 (C 37 ', 25) ; S 162 ( V2 64 **) : Semper descensus est declivior et citius ruimus quam ascendamus, ita post medium temporis mundo declinante. Eine zusammenfassende geschichtliche Darstellung der sogenannten Verfallstheorie, die seit

dem Ausgang des Mittelalters die reformbedürftige kirchliche Gegenwart als Ergebnis eines fortschreitenden Verfalls der Kirche seit den Tagen der Aposteldeutete “ (H. Jedin : Trierer Theol. Zeitschr. 64, 1955, 17) , bereitet H. Jedin vor.

* S 17, Nachtrag zu C 10', 37 (Z. 39—41 ) : Ut ait Philo, Moyses revelationem ultimam, post quam mortuus est subito, habuit : tempus in quattuor dividi et duo tunc consumm(ata) esse et duo restasse ; vgl. Coniectura de ultimis diebus (P 2') . Cusanus scheint sich auf eine Stelle aus Ps.-Philo, In Genesim zu beziehen . Diese Schrift besaß er seit 1451 in Cod. Cus. 16, jedoch mit folgendem Wortlaut (f. 28°) : Quattuor semis transierunt, duo super sunt.

34 Die Welt hätte demnach zwischen 1700 und 1750 untergehen müssen. 7

99

Christus die Fülle der Zeit So möchte Cusanus zugleich der Tatsache Rechnung tragen, daß , die Heiligen“ 35 die Zeit nach der Auferstehung Christi oft als „ die letzte oder das Ende der Weltzeit bezeichnen" 36. c) Christus der „siebte Tag" Nach dem biblischen Schöpfungsbericht hat Gott die menschliche Natur „ in sechs Stufen durch die Mitteilungen seiner Güte aus dem Nichts zu sich erhoben“ 37. Daher kommt Cusanus auf die Frage : „ Was ist der Mensch? " zu der Antwort : 99 Er ist der sechste Tag oder der Mikrokosmos ... Moses hat es beschrieben, wie alles Geschaffene stufenweise durch Teilnahme an jenem ewigen Lichte (Worte) ins Dasein trat 38, und fügt hinzu, wie Er zuletzt auf der sechsten Stufe, sozusagen zur Vollendung der Schöpfung ,, den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis (Gn 1 , 26) schuf 39. Den Menschen aber hat Er nach oben geschaffen, auf Sich zu. Denn alles Animalische und (überhaupt) alles Geschaffene ruht im Menschen als seinem Ziel . Der Mensch aber kommt nur in dem , siebten Tage' oder dem „ Sabbat zur Ruhe . Der Sabbat aber ist das Licht. Man liest nicht, daß dieses geschaffen sei ; aber , Gott segnete den siebten Tagʻ (Gn 2 , 3) . Daher gibt es nur in jenem ungeschaffenen Lichte, das Sabbat heißt, Ruhe für den Menschen; und außerhalb des Sabbats gibt es kein gesegnetes Licht für den Menschen. " 40 ,, Christus ist dieser , siebte Tag ' , weil in Ihm die Schöpfung zur Ruhe gelangt und ihr Ziel hat; der sechste Tag ist die menschliche Natur, die aufnahmefähig ist für das Licht der Weisheit. " 41 So erklärt sich auch die heilsgeschichtliche Ausdeutung des Sechstagewerkes in Predigt 11 , in der es bei der Auslegung des Satzes: „Am siebten Tage vollendete Gott das Werk" (Gn 2, 2), heißt: „ Gott, der sich eine Wohnung in der Seele bereiten will, um darin zu ruhen, indem Er sie auf ewig belebt, läßt sich den Menschen auf sechs Stufen des Lebens in sechs Tagen betrachtend anhängen . Am siebten Tage ruhte der Mensch in Gott und Gott im Menschen . " 42 Diese „ Sabbat- Ruhe " Gottes begann mit der Menschwerdung in Christus . 35 Conc. 1 , 12 (H 71 ) werden in ähnlichem Zusammenhang ,sancti, ut Cyprianus, Gregorius, Lactantius' zitiert. Vgl. die augustinische Schrift De fine saeculi ( = Ep . 199) . Bonaventura vertritt In Sent. III d. 1 , a. 2 , q . 4 ( III 32) die Ansicht : Magis congruum fuit Filium Dei incarnari quasi in fine saeculorum quam in principio. 36 Coniectura de ultimis diebus (P 2 ′) . - Die gleiche Vierteilung der Zeiten legt Nikolaus in Predigt 112 (V1 25 ) bei der Ausdeutung der im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20 , 1-16) erwähnten 3., 6. und 9. Stunde zugrunde. 37 S 161 (V2 60° ) . 38 Vgl. die Predigten 121 f. , in denen (V₂ 5-6 ) die geschöpflichen Seinsstufen im Bilde von Lichtemanationen oder „ Tagen “ dargestellt sind, sowie S 33 ( C 136', 29) : Et omnes alii dies participatione illius (septimae) diei dies sunt ... (Z. 31 ): Explicatio gradualis describitur per Moysen in participatione lucis et diei. Vgl . Eriugena , De divisione naturae V, 37 (PL 122 , 991 B C) . 39 Vgl . Notiz C 3 ' , 1 : Deus creavit hominem in die sexto et in illo opere posuit finem creationis. 40 S 23 (V1 84 ) . 41 S 125 (V2 34 " ) ; vgl . S 34 ( C 132º, 36 f.) . 42 S 11 (C 43 , 1-3) . Der Kern dieser Predigt besteht in einer dem Festgedanken von Mariä Geburt angepaßten allegorischen Ausdeutung des Hexaëmerons , bei der, bes. C 44' , 1—28 , Heilsgeschichtliches und Kosmologisches zusammenfließen. 100

als der „ siebte Tag“ der Vollendung

Der „ siebte Tag“ ist somit identisch mit dem „ geheiligten Tag“ , der bei der Menschwerdung aufgeleuchtet ist 43. Als „ siebter Tag “ enthält er jedoch dazu »

9

das eschatologische Moment der ewigen Sabbatruhe durch Christus in Gott 44.

Für diese kosmologisch -heilsgeschichtliche Auslegung des Sechstagewerkes konnte sich Cusanus auf Augustinus stützen 45. Erst recht gilt das von der alle gorischen Gleichsetzung der sechs Schöpfungstage mit den sechs Zeitaltern der Heilsgeschichte, die Augustinus zum Abschluß von De civitate Dei nach dem Stufenschema des Hexaemerons abgrenzte, wobei er den siebten Tag auf die Sabbatruhe der menschlichen Natur in Gott deutet 46. Cusanus führt nirgends Näheres über die sechs Zeiträume Augustins aus. Aber in Predigt 34 greift er im Anschluß an den oben angeführten Text 47 deutlich darauf zurück : „Dieser (Jesus) ist der ,geheiligte 'Tagʻ ; denn nachdem der Mensch durch die sechs Zeitalter der sechs Tage, die am Lichte partizipierten, emporgestiegen war, gelangte er im

siebten Zeitalter oder auf der höchsten Stufe des Aufstieges zum Sabbat. “ 48 Sowohl im Rahmen der Sechs- Tage- wie im Rahmen der Sechs-Zeitalter -Per spektive bildet der Mensch (bis zur zweiten Ankunft Christi) den sechsten Tag “.

Dem entspricht eine Zahlensymbolik, nach der die Sechs den Abschluß der ge schöpflichen Ordnung und die Siebenzahl die Ruhe der im Mikrokosmos Mensch

zusammengefaßten Schöpfung in Gott bezeichnet. Diese Deutung war schon Ori genes 49 und Augustinus 50 geläufig. Bei Nikolaus von Kues tritt jedoch mitunter eine andere Symbolik damit in Konkurrenz, nach welcher der Septenar die Zahl der menschlichen Natur “ 51 oder des ganzen Universums 52 ist und in dessen Ordnung neben der Dreizahl , einer Widerspiegelung des trinitarischen Gottesgeheimnisses, und der kos mischen Vierzahl , der Zahl der Elemente, den Schlüssel zum Verständnis aller

Lebensentwicklung und Zeitenfolge bilden soll. Diese Symbolik geht vielleicht auf Johannes von Damaskus zurück 53. Sie dürfte insbesondere darauf beruhen , 43

Vgl. die Predigten 16, 35, 39 und 132 mit dem Motto : Dies sanctificatus illuxit nobis

(Graduale der 3. Weihnachtsmesse). S 33 (C 136 ', 27 f.) : Dies sanctificatus est ,Splendor lucis aeternae' (Weis 7, 26) et est ipsa dies septima , qua non legitur Deus creasse, sed in ipsa requievisse et ei benedixisse. * Vgl. oben S. 41 f. 45 De Gen. ad litt. IV, 10 ff. (CSEL 28 , I 106 ff .). 46 Augustinus grenzt in De civ. Dei XXII , c. 30 (CSEL 40, II 669 f.) die sechs Zeit alter folgendermaßen ab : 1. Adam bis Sintflut, 2. bis Abraham , 3. bis David , 4. bis zur Babylonischen Gefangenschaft, 5. bis zur Geburt Christi. Damit beginnt das 6. Zeitalter, das andauert und abgelöst wird durch die ewige Sabbatruhe des Menschen in Gott. 48 S 34 (C 132', 5 f .) . 47 Oben S. 97 .

49 Origenes , In ep. Ad Rom . lib. VII, n. 1 (PG 14 , 1177 B) . 58 Augustinus, De Gen. ad litt. IV, 16 (CSEL 28, I 113) : Senarii numeri perfec tionem ... perfectioni creaturae congruenter adhibitam .... ; et nos in illo (septenario) requiescamus.

Si S 38 (V1 907a-b) ; vgl. S 11 (C 43 ", 3—7 ) : Cuncta opera nostra per septem sunt distri buta ... in septem aetatibus hominis eius totalis vita. S 163 (V2 64" ) greift auf diese Stelle zurück .

52 S 252 (V2 195*b) : Septenario enim universitas designatur, quia septem diebus et septem aetatibus omnia revolvuntur . Hic numerus legitur Minervae consecratus, quae

apud gentiles virginitatem coluit ; est virgineus numerus propter sui singularitatem ; vgl. $ 214 (V2 13976), Š 273 (V2 241 "). 53 Joh. v. Damaskus zählt De fide orthod. II , 1 (PG 94 , 863 A f.) „ sieben Zeitalter 101

Die Ankunft des Wortes im Fleische

daß in der christlichen Woche der Sonntag als ein Neubeginn auf den Ruhetag folgt. So erklärt es sich, daß bei Cusanus mitunter der machte Tag “ die Voll endung oder vielmehr den Anbruch des neuen, ewigen Lebens in Gott nach dem Ablauf des irdisch -zeitlichen Geschehens bezeichnet 54 .

III. DIE ERSTE VERKÜNDIGUNG DER ZEITLICHEN GEBURT DES SOHNES GOTTES

a ) Der Vorläufer als „ nächster Hinweis auf Christus "

Auf den letzten und größten Propheten, der Jesus Christus unmittelbar voran ging, kommt Nikolaus oft zu sprechen. Das weitaus Bedeutendste sagt er jedoch in Predigt 60 mit dem Motto : „Damit Er in Israel offenbar werde, bin ich ge kommen " (Joh 1 , 31 ) .

Johannes „zeigte “ Ihn, den Abraham angekündigt hatte und den die Jungfrau gebar 1. Schon durch seine über die natürliche Fruchtbarkeit der Eltern hinaus

gehende Geburt begann er, als Prophet , vor dem Angesicht des Herrn einher zugehen, um seine Wege zu bereiten “ 2. Bei der Geburt Isaaks von einer unfrucht baren Mutter hatte sich zum erstenmal die Macht des göttlichen Wirkens gezeigt,

das auf die Erfüllung der Abraham gegebenen Verheißung durch die noch wun derbarere jungfräuliche Geburt Christi hinzielte. Das wiederholte sich kurz vor

dem Ziele an Johannes. Zugleich zeigte dessen Befreiung von der Erbsünde im Mutterschoße an, welch hohen Grad die an den Propheten sichtbar werdende, mit

der Nähe zu Christus zunehmende Läuterung der Nachkommenschaft Abrahams bei ihm schon erreichte 3. Denn darin wurde Johannes nur noch durch die vor der Erbschuld bewahrte Mutter Jesu übertroffen . Er erlangte die Gnade des Hei dieser Welt ... Das achte Zeitalter ist das zukünftige “.

Daß die Sieben die Vollzahl

(numerus plenus) in der Ordnung des Universums ist, lehrt auch schon z. B. Laktanz , Divinae instit. VII , 4 (CSEL 19, 629) .

54 S 14 (C 103', 43): Octava dies est dies nova et renovationis ; S 38 (V1 90' ): Omnium consummatio est per septem et renovatio in octava, ut in harmonia, quia octava repetit primam ; S 214 (V2 1397 ): Per septem huius mundi tempora pervenitur ad perfectionem grani huius, et in octava aetate, quae est post consummationem omnis temporalis dis cursus, ... ibi capitur in refectionem vitae indeperdibilis et permanentis .- Auch Augustinus gibt im Hinblick auf den christlichen Sonntag, der auf den Sabbat folgt, der Symbolik eines „ achten Tages “ Raum, und zwar gegen Ende von De civ. Dei (XXII, 30 : CSEL 40, II 670) : Haec tamen septima erit sabbatum nostrum , cuius finis non erit vespera, sed dominicus dies velut octavus aeternus, qui Christi resurrectione sacratus est, aeternam non solum spiritus, verum etiam corporis requiem praefigurans.

1 S 59 (V1 6856) ; vgl. S 60 (V1 117"b) : Multum obligamur sancto Iohanni et nemini homini plus post Mariam , nam ipse nobis hunc thesaurum salutis aperuit, quam Maria donavit.

? S 60 (V1 116 " ) ; vgl. Lk 1 , 76. 3 S 60 (V1 1167-6 ). 102

Der Vorläufer als „ nächster Hinweis auf Christus “

ligen Geistes, „als er im sechsten Monat über die Ankunft dessen frohlockte 4, ,aus dessen Gnadenfülle', wie er selbst versichert5, er und alle empfangen “ 6.

„ Schon daraus ergibt sich für das gläubige Denken genugsam , daß die wunder bare Geburt des hl. Johannes ... um unsertwillen von Gott gewollt ist, damit uns

an ihm ... die Erkenntnis Christi aufgehe wegen der ganz nahen Ähnlichkeit an Heiligkeit und Gerechtigkeit.“ 7 Die Ähnlichkeit des Vorläufers mit Christus er wies sich denn auch bei seinem Auftreten als so groß, daß man auf den Gedanken kam , „ er sei der Christus “ (Lk 3, 15). Johannes war Christus „ so nahe wie die Stimme dem Wort; denn er war ,die Stimme des Rufenden in der Wüste

(Mk 1 , 3), in dem das geistige Wort, das die Stimme verkündet, verborgen war. Eine bessere Art der Verkündigung des geistigen Wortes als durch die Stimme gibt es nicht. Daher sagt Christus auch , er sei eine Leuchte gewesen (Joh 5, 35) ... Eine Leuchte trägt in sich das Licht, und sie zeigt das Licht, wie die Stimme das

Wort. Christus ist also das Licht (Joh 8, 12) und Johannes die Leuchte, ähnlich wie in Christus die Menschheit die Leuchte der Gottheit ist, wie Johannes in der Apokalypse sagt 8. Johannes verhält sich somit zur Menschheit Christi wie die Menschheit Christi zur Gottheit. “ 9

Die Bilder „Stimme “ und „ Leuchte“ ergänzt Nikolaus noch durch einen dritten Vergleich . Er schickt dessen Vorgeschichte voraus : ,, Augustinus sagte 10, wie sich in der Postille des Jordan (von Quedlinburg) 11 findet, aus Büchern der Platoniker könne man das Evangelium des Johannes entnehmen von Im Anfang war das

Wort' bis ,Es war ein Mensch von Gott gesandt, sein Name war Johannes'. Denn diese Worte finden sich dort 12 nicht. Wohl aber liest man ebendort: „ und ob

wohl die Seele des Menschen Zeugnis gibt vom Lichte, ist sie selbst dennoch nicht

das Licht “ 13. Das letzte erklärt Cusanus : „Johannes der Täufer ist wie die Seele des Menschen. Beachte: dasselbe Verhältnis 14 wie zwischen Leib und Seele be

steht auch zwischen Johannes und allen vom Weibe Geborenen vor ihm ; und wie die Menschenseele mehr als die irgendeines anderen Sinnenwesens Vernunft be

sitzt, um von dem Worte oder der göttlichen Vernunft Zeugnis zu geben, so ist es auch mit Johannes im Vergleich mit den anderen Menschen . Daher wird uns das

unerreichbare göttliche Licht mittels der Leuchte, die Johannes ist, gezeigt, und die Leuchte ist es, die uns den Weg bereitet zum Lichte.“ 15 * Lk 1 , 41 ; vgl. Thom. v. A q ., S. theol. III q. 27, a. 6 c. Joh 1 , 16. Cusanus betrachtet auch Joh 1,16–18 als Worte des Täufers. $ 60 (V1 117"). ? S 60 (V1 1160). 8 Apk 21 , 23 : Claritas Dei illuminavit eam (civitatem) , et lucerna eius est agnus. 9 . S 60 ( V1 116-117 " ). 10 Conf. VII, 9, 13 (CSEL 33, 154, 6—15) ; vgl. oben S. 24 Anm. 23. 9

5

8

11 Vgl. oben S. 13. S 63 (G 174') wird in demselben Zusammenhang nur Augustinus 12 In den Büchern der Platoniker, und zwar nach Augustinus.

genannt.

18 S 60 (V1115 ). – Vgl. auch Eckhart, Expos. s. evang. sec. Ioh. n. 2 (Lat.Werke

III 4) und 85 (ebd. 73) . Jordan stützt sich häufig auf Eckhart. Daß Nikolaus dies in S 50 noch nicht wie bei späteren Predigten bemerkte (vgl. oben S. 13) , mag sich daher er klären, daß er damals den Johannes-Kommentar Eckharts noch weniger kannte. 14 Der folgende Vergleich will nicht ontologisch , sondern nur unter dem Gesichtspunkt des Zeugnisgebens“ verstanden sein. 15 S 60 (V1 115 ' ). 103

Die Ankunft des Wortes im Fleische Auf Grund seines Seins ragt allerdings auch Johannes keineswegs in das göttliche Licht hinein. Vielmehr steht er gerade deshalb, weil er „ sich zur Menschheit Christi verhält wie die Menschheit Christ zur Gottheit“ - „ obwohl kein GröBerer erstand' (Lk 11 , 11 ) “ — , „ dennoch zu Christus in überhaupt keinem (ontischen) Vergleichsverhältnis , ebenso wie die Leuchte in überhaupt keinem Vergleichsverhältnis steht zum Lichte und die Stimme des Rufenden zum Worte“ 16. Um zugleich mit der Ähnlichkeit des Seins auch den Inhalt seines Tuns einzubegreifen, faßt Cusanus dann die heilsgeschichtliche Bedeutung des Vorläufers in die Worte: „Er ist der nächste Hinweis auf Christus. " 17 „Alles, was nämlich der kommende Christus tun sollte in der Kraft des Wortes Gottes , des Vaters und des Heiligen Geistes, tat Johannes vorbereitend (praeambulariter) , indem er sozusagen die Materie disponierte für den Empfang der Form. " 18 Das wird von der Taufe und der Johannespredigt ausgeführt. Anschließend kommen 19 die Wirksamkeit und der Inhalt des Johanneszeugnisses , in das auch - mit der Joh 1 , 17 f. einbezogen wird , zur Sprache. Der Name des Johannes — Bedeutung: „ Gottes Gnade " oder „ einer, in dem Gottes Gnade ist " - sowie seine Sendung, „ daß er Zeugnis von dem Lichte gebe “ , obwohl „ er selbst nicht das Licht war" (Joh 1 , 7) , heben die Gnadenhaftigkeit der dem Propheten geschenkten Offenbarung hervor 20. Wegen der Bedeutung und des noch immer fortbestehenden - zum Glauben und zur Gnade Christi hinführenden - Einflusses seines Christuszeugnisses möchte Nikolaus dem Täufer sogar den hohen Titel des „ mystischen Vaters Christi" zusprechen: Wie uns nämlich Maria Christus gebar, so zeugte Ihn Johannes in uns, indem er Ihn zeigte. “ 21 Auch das demütige Selbstzeugnis des Täufers, daß er „ nicht würdig sei, die Schuhriemen Christi aufzulösen “ (Mk 1 7) , zeigte, " daß Christus, den er den Sohn Gottes nannte (Joh 1 , 34) , alle, die je als Mensch existieren können, unverhältnismäßig überragt" 22. Christus selbst führte denn auch sein hohes und unanfechtbares Zeugnis als das eines Menschen, der über allen Verdacht erhaben ist, für sich an “ 23. „ Besondere Beachtung verdient es, daß

Johannes keinerlei Wunder tat

(Joh 10, 41 ) und ihm nur das Zeugnis durch das Wort aufgetragen war ... Das Zeugnis des Johannes bedurfte nur der Autorität des hochbewährten Mannes Johannes selbst, denn es war das (vorher angesagte) Zeugnis dessen, der den Weg bereiten sollte. " 24 „ Sein Fingerzeig nahm allen Zweifel über Person sowie

16 S 60 (V₁ 117™ª) . 17 Ebd.: ipse est proxima Christi ostensio. 18 S 60 (V1117 ); zum letzten vgl . Thom. v. Aq., S. theol . III q. 38, a. 3 c.: sicut ministri et inferioris artificis est praeparare materiam ad formam, quam inducit principalis artifex. Thomas sagt das von der Johannestaufe im Hinblick auf das von Christus eingesetzte Sakrament. 19 S 60 (V₁ 117—118 ") . 20 S 60 (V1 118 ) . 21 S 60 ( V₁ 117b) . Cusanus spricht Johannes auch die aureola doctorum (S 48 , V1 53rd) oder die virtus angelica doctoralis ( S 60 , V1 119th) zu . 22 S 60 (V₁ 118ra) . 23 S 60 (V1 118b) ; vgl. Joh 5 , 32 ff. 24 S 60 (V₁ 118b) . 104

Die umgebenden Offenbarungsereignisse Ort und Zeit" der Ankunft des Messias 25 .

Durch diesen Fingerzeig wurde

„Johannes zum Endpunkt des Gesetzes 26 und der Propheten ; denn er zeigte in aller Kürze alles, was im Gesetze und bei den Propheten dunkel war “ 27.

b) Die Menschwerdung im Lichte der sie umgebenden Offenbarungsereignisse Das zentrale Geheimnis der Menschwerdung sowie die jungfräuliche Mutterschaft Mariens strahlen in den Evangelien im Lichte verschiedener Offenbarungsereignisse wider, die auch durch die Liturgie der Kirche in den Vordergrund der Verkündigung gerückt sind. Nikolaus von Kues sehen wir in den Predigten zu Weihnachten und Epiphanie sowie an den Gedenktagen Mariä Verkündigung und Mariä Heimsuchung eifrig um die heilsgeschichtliche und paränetischmystische Erklärung dieser Evangelienperikopen bemüht. Auf einiges sei hier hingewiesen. An einem Fest Mariä Verkündigung bemerkt Cusanus, daß manche Heiligen über das Evangelium des Tages (Lk 1 , 26–38) ganze Volumina geschrieben haben; das Werk De laudibus gloriosae Virginis, das er unter dem Namen Alberts d. Gr. zitiert 28, rage darunter hervor. Auf dieses stützt er sich dort bei der Auslegung der Namen Gabriel, Galilää und Nazareth. Anschließend bemerkt er: „Dieser Evangelientext erleuchtet unseren Glauben und schließt die irrigen Phantasien vieler aus. " Für das Weitere, insbesondere für die Frage, weshalb Maria verlobt war, verweist er auf die „ Postille Hugos “ 29. Unter den Predigten zu Mariä Heimsuchung (2. Juli) verdient die des Jahres 144630 und erst recht der anschließende Dialog 31 De visitatione besondere Beachtung. In diesem Zwiegespräch schildert die Mutter Jesu einem Christen ihre Messiaserwartung, die Verkündigung und ihre glückselige Begegnung mit Elisabeth, bei der das Magnificat aufklang . In einer nicht mehr erhaltenen Predigt, anscheinend zum Evangelium der 25 S 60 (V1118 ) ; zur exegetischen Erklärung der Frage des Johannes vgl. ebd . 118 , S 130 (V2 34b-35 ) , S 208 (V2 126-127 ) , S 276 (V2 250v ). 26 Vgl. Thom. v. A q. , S. theol . III q . 3 , a. 1 ad 2 : Fuit enim terminus legis et initium evangelii. - S 60 (V2 117 ) sowie S 284 (V2 277 ) wird Johannes bezeichnet als (maximus atque sanctissimus) ultimus sacerdos Veteris Testamenti, Petrus als : primus sacerdos Novi Testamenti , beides im Hinblick auf die vom Vater empfangene Christusoffenbarung. 27 S 208 (V2 127b) . 28 Ein solches Werk hat Nikolaus schon früh und oft benutzt ; vgl. besonders S 10 Nach den Ergebnissen (C 52 , 39) , S 11 (C 40 , 51 ) , S 45 (V1 36 ), S 62 (V₁ 130™ ). der neuesten Forschung ist dieses jedoch sicher unecht. Es handelt sich hier vermutlich um die Schrift De laudibus beatae Mariae virginis (Borgnet 36) , die Richard von Saint - Laurent zum Verfasser hat. Das Mariale super „ Missus est " (Borgnet 37 ) ging schon im 14. Jhdt. unter ähnlichen Titeln , stammt aber ebenfalls nicht von Albert; vgl. A. Fries , Die unter dem Namen des Albertus Magnus überlieferten mariologischen Schriften (Beiträge XXXVII , 4, 1954) 1—80 . 29 S 40 (V1 73a-b). Die erwähnte Postilla Hugonis dürfte die Lukaspostille des Hugo von Saint - Cher sein . Richard von Saint-Laurent hat diese stark benutzt ; vgl . Fries a. a. O. 90. 30 S 61 (V₁ 121-123 ) . Der letzte Teil (ab 123 ) ist eine Erklärung des Magnifikat. 31 V1 124-127™ª.

105

Die Ankunft des Wortes im Fleische

Hirtenmesse des Weihnachtstages, führte Nikolaus aus, wie Jesus, „ nachdem er in Bethlehem geboren war" (Mt 2, 1 ), „ sich öffentlich als das lebendige, wahre menschgewordene Wort bekundete und zunächst den einfachen Hirten durch

einen Engel verkündet wurde; weil Er nämlich aus einfachen Hebräern seine apostolischen Hirten erwählte, habe es sich auch geziemt, daß diesen die Bot

schaft durch einen Engel gebracht wurde, durch den die Juden auch das Gesetz empfingen, wie es in der Apostelgeschichte (7,53) heiße“ 32. In zwei Predigten zum Fest der Erscheinung des Herrn 38 wird eine ausführ liche homiletische Schilderung der ersten Offenbarung der Ankunft Christi an die Heidenwelt gegeben: „ Als der Erlöser geboren war, da enthüllte ein Stern von wunderbarem Lichte 34 Jesus den Heiden als den Abglanz des Vaters 35 und als

einen Lichtstrahl, der von der Mutter ausging.“ 36 Den Weisen gab dieser Stern die Gewißheit, daß der große Kommende geboren sei 37. Doch obwohl sich so das menschgewordene Wort öffentlich vor Juden und Heiden bekunden sollte 38, ziemte es sich dennoch nicht, wie Nikolaus in Predigt 8 bemerkt, daß Es schon sogleich allen seine Geburt handgreiflich machte, weil

,die Gerechtigkeit durch den Glauben an Jesus Christus kommen sollte (Röm 3 , 22) . Seine Selbstbekundung sollte auch nicht die Kreuzigung verhindern . ,Hätten sie Ihn nämlich erkannt, so hätten sie niemals den Herrn der Herrlich

keit gekreuzigt', wie es im 1. Korintherbrief (2,8) heißt. Schließlich sollte auch das Geheimnis der Menschwerdung nicht zweifelhaft werden, wie Augustinus an Volusianus 39 schreibt: Wenn Er niemanden von Kind an und in der Jugend in den Lebensaltern nachahmte usw., bestätigte Er dann nicht die irrige Ansicht

(der Gnostiker, die nicht an eine wirkliche leibliche Geburt Christi glauben) 40, und müßte man dann nicht annehmen, daß Er nicht einen ,wahren Menschen angenommen habe ? “ 41 „Trotzdem aber“, fährt Nikolaus fort, „ sollte Er sich auf wunderbare Weise Menschen verschiedenster Art offenbaren , wenn auch nicht allen : den israe litischen Hirten und den heidnischen Magiern, die sich bei dem einen Eckstein 42 trafen, sowie den beiden Gerechten Anna und Simeon. “ 43 32 Dieser Rückverweis steht S 8 (C 29', 25—29 ).

33 S 8(C 30',1 – 30', 16), S 164 (V266'6–6716). 34 S 164 (V2 67 * ): Unde angelum , qui gestabat formam nati regis, et amictum lumine uti stella coruscans non absurde credi potest stellam hic nominari. Nam, ut ait Rabbi

Moyses ( = Moses Maimonides), ,omnia quae Deus (operatur), in manu angeli operatur' . Angelos astra matutina seu orientalia dici et nominari posse Propheta (Ps 109, 3) nos docet; vgl. S 98 ( V2 20**): Dicit Rabbi Moyses Deum omnia operari in manu angeli . 35 Aus dem Hymnus Iesu, Redemptor der Weihnachtsvesper; vgl. Hebr 1 , 3. 36 S 8 (C 30', 1 f. ).

37 S 213 n. 1 (H 84) . 38 Vgl . S 6 (C 25° , 39) : In Bethlehem cuncta revelavit.

39 Ep. 137 II , 9 (CSEL 44, 108): Si nullas ex parvulo in iuventam mutaret aetates ...

Cusanus zitiert sowohl in C wie in V. 10 " den verstümmelten Text: Si nullos ex parvulo in iuventute imitaretur aetates ...

** Zu dieser Ergänzung vgl.Augustinus a. a. O. 41 S 8 (C_29 ", 29—34) . 42 Vgl . i Petr 2 , 6 ; Eph 2, 20.

43 S 8 (C 29', 34 f.) . 106

Das Geheimnis und seine Verkündigung

„ Danach offenbarte sich Christus schließlich persönlich und durch die Apostel, durch die Predigt und indem Er sich als Samen in die Herzen der Menschen

hineinlegte, damit das Wort auf dem ganzen Erdkreis aufgenommen werde. “ 44 c ) Das Geheimnis und seine Verkündigung

In dem Zwiegespräch zum Feste Mariä Heimsuchung stellt der Christ an Maria an erster Stelle die Frage, warum sie, wie ihr „Geheimschreiber “ Lukas berichte

( 1 , 29), bei den Grußworten des Engels verwirrt worden sei und wie sich ihre Freude damit vereinbare. Darauf antwortet Maria : „ Ich wurde nicht wie über

eine unwillkommene und mißfällige Sache verwirrt, aber die Höhe dessen, was

verkündet wurde, erschreckte mich . Ich fürchtete mich nicht, weil der Engel mit mir sprach ..., aber ich wurde verwirrt, wie das Auge verwirrt wird, wenn ein ganz heller Strahl hineinfällt. Nichts sieht nämlich das Auge lieber als Licht. Dennoch wird es durch überhelles Licht verwirrt. “ 45

Hier bringt Nikolaus, wie oft in seinem Schrifttum 46, die Doppelseitigkeit des Mysterium tremendum und des Fascinosum im Gotteserlebnis des irdischen

Menschen in der Sprache der Lichtsymbolik zum Ausdruck . Er schaut beides im Spiegel der Seele Mariens, in ihrem Erschrecken “ und in dem Jubel, der sich angesichts ihrer Berufung zur Gottesmutterschaft im Magnificat aussprach. Beides gesteht er auch schon als junger Prediger als sein persönliches Erlebnis ein, wenn es galt, das Geheimnis der Menschwerdung zu verkünden. >>

Das zeigt sich besonders bei der Einführung des Themas in den Predigten 2, 6, 13 und 19. In Predigt 6 läßt Cusanus dem Motto „ Ehre sei Gott in der

Höhe“ usw. (Lk 2, 14) Worte jubelnder Freude über die Erfüllung des göttlichen Heilsratschlusses entströmen, aber er sagt auch , daß das Mysterium der Inkar

nation „so groß und hoch ist, daß weder er noch irgendeiner von allen, die je waren und sein werden“ , der Aufgabe genügen könne, die darin enthaltenen wunderbaren Geheimnisse gebührend zu enthüllen *7. Predigt 2 bricht im Hinblick auf das Motto : „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt “ (Joh 1 , 14 ) , in den Ruf aus : „ Frohlocken mögen die

Himmel (Ps 95, 11 ), denn wie sie durch das Wort gestaltet sind (Ps 32, 6) , so sollen sie heute neugestaltet werden ! Die Erde freue sich, denn heute gab sie ihre Frucht ( Ps 84 , 13) . Das Wort des Herrn ging aus, sie zu tränken und sprossen zu

lassen (Is 55 , 10) ! Lob jubeln mögen die Berge, getröstet hat heute der Herr sein Volk (Is 49, 13) . “ 48 Doch der Gedanke an „ die hohe, tiefe und unbegreifliche Zeugung und Geburt des Sohnes Gottes“ läßt den Prediger fast verzagen, so daß er es für besser hielte, zu schweigen, wäre nicht auch die Speise des göttlichen Wortes vonnöten 49.

4 S 8 (C 29', 36 f .). 45 De visitatione (P 4 ') .

46 Vgl. Vf I 293 — 99; oben S. 51–55. 47 S 6 C 21 ', 3 ; 14 f.) .

43 S 2 (C 104 ',5—7). * S 2 C 104', 19–21 ). 107

Das Geheimnis und seine Verkündigung

In der Einleitung von „ Predigt 19 “ gesteht Nikolaus besonders stark seine Beklommenheit vor dem Geheimnis voll unaussprechlicher Feierlichkeit “ 50. Es sei aber auch nicht zu verwundern , fügt er hinzu, daß selbst der „heilige, hoch gelehrte Aurelius Augustinus und die anderen rechtgläubigen katholischen

Männer, auch die Lichter der Theologie, beim Anfang dieses hochheiligen Evangeliums (Joh 1 , 1-14), und zwar bei der Erklärung unseres Themas (V. 14),

so sehr ,erschraken ', daß sie sich entschuldigten und den Worten des Evangeliums nur wenig hinzufügten “ 51 .

Predigt 13 hebt mit den Fulgentiusworten an: „ Keine Worte können wir finden, mit denen wir etwas Gebührendes sagen können über das Wort ... Wie sollte auch der Mensch würdig von Gott sprechen können , der Sterbliche von dem Unsterblichen , der Sichtbare von dem Unsichtbaren ..." Danach ruft

Nikolaus das Wort selbst und den Vater der Lichter “ um die Erleuchtung des Herzens und die Aufhellung der Heiligen Schriften an 52.

Das Gebet um die göttliche Erleuchtung fehlt auch in den anderen genannten Weihnachtspredigten 53 nicht. Es ist besonders in diesem Zusammenhang mehr als eine formale Gepflogenheit des mittelalterlichen Predigtstiles. Nikolaus war sich als Prediger – und wie wir sehen werden, auch als gläubiger Denker —

bewußt, daß die Wirklichkeit und Sinntiefe und Heilsbedeutung des Christus mysteriums nur in dem Lichte von oben aufleuchten kann. 50 , S 19 “ (C 55',2—5): Mihi omnium ineptissimo ... in hoc ineffabilis festivitatis mysterio cuncti non solum tremunt corporis artus , verum restricto spiritu omnes animae vires in aggressi tam mirandi, tam mirifici sacramenti terrore repulsi stupescunt. 51 „ S 19“ (C 55 ', 14–16) . 52 Näheres s. oben S. 14 und S. 25 .

53 Vgl . z. B. S 16 ( H 10) . Dieses Gebet richtet sich auch jedesmal an die Mutter des fleischgewordenen Wortes um ihre Fürsprache.

108

ZWEITES KAPITEL DIE HYPOSTATISCHE EINUNG

B. Nikolaus von Kues und die patristisch -mittelalterliche Lehrtradition I. DER RAHMEN DER PATRISTISCH - MITTELALTERLICHEN ORTHODOXIE UND DIE ALTEN HÄRESIEN

a ) , Supermiranda unio

In Predigt 6 tritt Nikolaus von Kues erstmals auf dem Wege ausführlicher begrifflicher Erläuterungen an das Mysterium der Inkarnation heran '. Zugleich entzieht er dieses aber auch jedem univoken Zugriff des rationalen Denkens. Er erhebt es sogar über das, was auch nur dem Problemkreis der philosophischen Verwunderung angehört ? – so sehr ist dieses Geheimnis in die Wunderfülle des Seins und Wirkens Gottes gehüllt -- , indem er die hypostatische Einung in Christus als „ über alle Verwunderung erhaben “ oder „ überaus wundervoll “ be zeichnet, so daß „niemand sie anders als im Glauben erfaßt“ 3.

Ahnlich hebt auch die Docta Ignorantia, nachdem zuvor die „ Idee“ oder die

innere Möglichkeit einer personalen Einung von Göttlichem und Menschlichem theoretisch aufgerollt wurde, den Geheimnischarakter einer solchen Vereinigung

hervor durch die Fragen : „Wer könnte eine so wunderbare Einung erfassen? ... Wer vermöchte es wohl, sich so hoch zu erheben, daß er in der Einheit die Ver schiedenheit und in der Verschiedenheit die Einheit erfassen könnte? Über alle 4

(menschliche) Einsicht hinaus müßte eine solche Einung liegen ! “ 4 Auch das Buch „ Über das Sehen Gottes “ mündet in die Erkenntnis ein : „ Ich

sehe, Herr Jesus, daß Du über allen Intellekt hinaus ein Selbstand (suppositum) 5

bist, denn Du bist der eine Christus. “ 5 In der Sichtung des Koran“ gibt schließ

lich der Kardinal dem Sultan die Erklärung: „Die Art der Fleischwerdung des Wortes geht über den menschlichen Intellekt hinaus. Da aber das Evangelium sagt: „Das Wort ist Fleisch geworden (Joh 1 , 14 ) , so mußt du das (als Tatsache) glauben , sofern du dem Evangelium glaubst. “ 6

Das genüge vorerst, um den ganz dem Geiste der docta ignorantia entspre chenden Grundzug intellektueller Ehrfurcht vor der Tiefe des Christusgeheim nisses bei Nikolaus von Kues zu charakterisieren . S 6 (C 25 °, 40 — 25', 33) .

2 Vgl . Aristoteles , Met. I, 3 (982 b 12) .

S 6 (C 25°, 33) : Haec est supermiranda unio, quam nullus nisi fide apprehendit; vgl. ebd. 25 °, 30: Huius superadmirandae unitatis; vgl. S 8 (C32", 17) : Omnia super miranda sunt, quae ibi (in Bethlehem ) conspicimus ! * D. Ign. III, 2 (H 125, 3 ; 18—20 ).

5 De visione Dei c. 23 (P 112') ; vgl. Symb. ,Athanasianum“ : unus est Christus (D 40) . 6 Cribr. III, 17 (P 149"). 109

Patristisch-scholastisches Erbgut Im folgenden ist nun die Gegenfrage zu beantworten: Wie sucht Cusanus den Kern des Christusgeheimnisses des nähern zu umgrenzen und zu bestimmen? Wir fassen zunächst das von ihm übernommene Traditionsgut ins Auge, und zwar an erster Stelle das, was seit der Patristik gleichsam den Rahmen der Orthodoxie bildet. Dazu gehören vor allem die Abgrenzung der Glaubenswahrheit von den alten christologischen Häresien und die Anwendung der Begriffe Natur und Person. b) Über die christologischen Häresien des Altertums Bei der Erörterung der zeitlichen Geburt des Wortes Gottes stellt Nikolaus in Predigt 6 die Frage, „ in welcher Weise diese vor sich ging ". Er antwortet zunächst negativ : „ Das Wort ist Fleisch geworden - nicht so, als wäre Es in Fleisch verwandelt worden, oder umgekehrt; auch nicht so , als wäre Es mit dem Fleische zu irgendeinem Mischwesen verschmolzen '. Es wurde auch nicht fleischlich, indem Es Fleisch in die Einheit des Selbstandes (suppositum) aufnahm, noch wurde Es ein fleischliches Lebewesen , wie das im einzelnen verschiedenerlei Häretiker meinten ... Es subsistiert auch nicht in (nur) einer Natur noch in zwei Personen , wie gewisse Häretiker behaupteten. " 10 Die vorläufige positive Lösung lautet: „,,Das Wort ist Fleisch geworden' , das heißt, Es wurde ein vollkommener Mensch, der aus einer Vernunftseele (und menschlichem Fleisch) besteht 11, (und subsistiert nun) in zwei Naturen und einer anPerson 12 ... So hat das Wort Fleisch gemeint ist eine Menschennatur genommen. ,Fleisch gebraucht man nämlich auch im Sinne von Mensch ' . So heißt es zum Beispiel : , Alles Fleisch ist Gras' (Is 40, 6) , und : , Zu Dir soll alles Fleisch hinkommen' (Ps 64 , 3) ." 13 Dieselben Irrlehren , die Cusanus in dem angeführten Text im Auge hatte, kehren in einer Aufstellung zum Schluß der Aufzeichnungen zu Predigt 6, um den „ Manichäismus “ sowie vielleicht um den „Apollinarismus“ vermehrt, namentlich wieder: 22, Christus brachte nicht den Leib vom Himmel in (den Schoß der) Jungfrau mit, wie der Häretiker Manichäus ( = Mani) lehrte 14. Das Wort nahm auch nicht 7 Dies richtet sich gegen monophysitische Vorstellungen, vielleicht auch gegen die Lehre des Apollinaris von der Gleichwesentlichkeit des Fleisches Christi mit dem Logos ; vgl . Leo M., Ep. 59 c. 5 (PL 54 , 871 B f .) : carnem, quae non de femina sumpta sit, sed facta de Verbo in carnem converso atque mutato : quae tria falsa et vana Apollinistarum haereticorum tres partes varias protulerunt ; Augustinus , De haeresibus Ad Quodvultdeum n . 55 ( PL 42, 40) . 8 Hier ist an den Arianismus gedacht ; vgl. Anm. 15 . 9 Dies gilt dem Monophysitismus und Nestorianismus. 10 S 6 (C 25 , 30 ; 33—37) . 11 Symb. Athanasianum (D 40) ; das Eingeklammerte ist danach ergänzt. 12 Das lateinische ,subsistere' ist hier zugleich durch „bestehen aus “ und „ subsistieren in" wiedergegeben ; vgl. unten S. 129, bes. Anm . S. 67. 13 S 6 (C 25 , 35-38 ) ; vgl. Thom . v. Aq., S. theol . III q. 5 , a. 3 ad 1. Diese Bedeutung von , caro' beruht auf dem häufigen synekdochischen Gebrauch des hebr . 14 Gennadius (De eccl . dogm. c. 2 : PL 42, 1224) schreibt Marcion, Origenes und Eutyches diese Ansicht zu . Thomas v. Aq . nennt nur die Marcioniten ( In Sent. III d. 2 ,

110

Über die christologischen Häresien des Altertums bloßes Fleisch ohne Vernunftseele an

so lehrte Arius 15 -

noch eine rein sen-

sitive Seele ohne die intellektive, wie Apollinaris 18 meinte. Schweigen soll auch der Häretiker Nestorius, nach dem es zwei Personen in Christus gab, und gleicherweise Eutyches " , der ebenso eine Natur wie eine Person lehrte. “ 18 19 Die quellengeschichtliche Untersuchung dieser häresiologischen Angaben ¹9 macht es sehr wahrscheinlich, daß diese unmittelbar oder mittelbar Thomas von Aquin, und zwar vor allem dessen Sentenzenkommentar entstammen 20. Auffallend ist, daß dieselben fünf Irrlehren in der Bulle unionis Coptorum vom 4. Februar 1442 in der gleichen Reihenfolge verurteilt werden "¹ , sowie die fast wörtlich übereinstimmende Wiedergabe der Lehre des Eutyches 22. Es fragt sich deshalb, ob Cusanus nicht bereits eine Vorarbeit für das Konzil vorlag, als er den „zweiten Teil der Predigt“ 6 niederschrieb, da jedes Anzeichen dafür fehlt, daß er die letzten Zeilen erst später, nach dem Erscheinen der Unionsbulle, nachtrug. Predigt 13 zählt 23 wenig hernach folgende Irrlehren auf : „ Über die ( zeitliche) Geburt (Christi) irrten der Jude, Arius , Manichäus, Eutyches und Nestorius. Der Jude leugnet die Gottheit in Christus; vergleiche Johannes 10 (33 ) :, Weshalb machst du dich, da du doch ein Mensch bist, zu Gott? ' Arius behauptete, der Sohn sei geringer als der Vater. Manichäus leugnete, daß Christus wirkliches Fleisch gehabt habe, er nannte es Schein -Fleisch (phantasticam) 24. Eutyches lehrte, die Menschheit sei von der Gottheit absorbiert worden. Nestorius lehrte eine doppelte Person wie auch eine doppelte Natur." q. 2, a. 3, sol. 3 : III 66) . Möglich ist, daß hier eine Verwechslung von Marcion und Manichäus vorliegt; vgl. Anm. 25. 15 Vgl. Augustinus , De haeresibus ad Quodvultdeum n. 49 (PL 42, 39) : In eo autem, quod (Ariani) Christum sine anima solam carnem suscepisse arbitrantur, minus noti sunt, nec adversus eos ab aliquo inveni de hac re aliquando fuisse certatum ; Thom. v. A q., In Sent. III d . 2 , q. 1 , a. 3 , sol. 2 ( III 68) : (Arius et Eunomius) dicebant Filium Dei carnem sine anima assumpsisse, quia opinabantur Divinitatem sine anima corpus eius vivificare. 16 Vgl . Gennadius , de eccl. dogm. c. 2 (PL 42, 1214) : Anima non absque sensu et ratione, ut Apollinaris; Thomas v. Aq . übernimmt das zunächst : In Sent. III d . 2, q. 1. a. 3, sol. 2 (III 68) ; S. c. gent. IV, 33 ( 469) sagt er genauer : Confessus est in Christo animam sensitivam fuisse, tamen sine mente et intellectu . 17 Vgl . Thom. v. A q . , In Sent. III d . 5 , q. 1 , a. 3 , resp . ( III 196) : Nestorius, qui ponit duas in Christo personas . Error Eutychetis, qui cum audivit unam personam in Christo, aestimavit unam naturam. 18 S 6 (C 25,44—46) . 19 Vgl. Anm. 14-17 . 20 Dort werden die Gennadius- Stellen angeführt. Die fünf Häresien sind daselbst (der „Manichäismus “ unter anderem Namen) in gleicher Reihenfolge und verwandtem Wortlaut beschrieben. 21 D 710; Conc. Florentinum, ed . G. Hofmann I , 3 , Rom 1940 ff. , 49 . 22 Cusanus (C 25 ', 46) : Eutyches, qui sicut unam personam, ita et unam naturam dixit. Bulla unionis Coptorum : Damnat Eutycen ..., qui ... sicut ... unam posuit esse personam, ita unam asseruit esse naturam. 23 S 13 (C 85 , 17—20). 24 Gennadius (De eccl. dogm. c. 2 : PL 42 , 1214) schreibt Valentinus diese Ansicht zu. Thomas übernimmt das: In Sent. III d . 2 , q. 1 , a. 3 , sol . 2 ( III 68 ) ; S. theol. III q. 5, a. 2 c. nennt er jedoch : Manichaeus. Dazu vgl. Augustinus , De haeresibus ad Quodvultdeum n. 46 (PL 42, 37 f. ) ; Leo M., Ep . 59 c. 1 (PL 54, 867) . 111

Patristisch-scholastisches Erbgut Bei dieser Aufstellung exzerpiert Nikolaus, wie der Vergleich des Wortlautes ergibt, einen Abschnitt der bereits erwähnten Predigt des , Clemens papa' (Petrus Rogerius) 25. Außer den besprochenen Übersichten sind über das cusanische Schrifttum hin verschiedene einzelne Bemerkungen über christologische Irrlehren verstreut. So legt Nikolaus mit Worten von Augustinus 26 dar, daß Christus deshalb die menschlichen Lebensalter durchlief, um denen nicht Vorschub zu leisten, die seine wahre Menschheit leugnen 27. Die doketische Vorstellung des Scheinleibes Christi widerlegt er auch dadurch, daß Jesus auf der Reise ermüdete (Joh 4, 6). „Das zeigt, daß Er ein wirklicher Mensch war, der wie die anderen Menschen sein Körpergewicht zu tragen hatte, und keinen Scheinleib, wie gewisse Häretiker 4 28 sagten. Eine interessante dogmengeschichtliche Bemerkung enthält der Briefwechsel mit Tegernsee. Bernhard von Waging erbat sich nach der Praeparatio evangelica des Eusebius von Cäsarea auch dessen Doctrina catholicae veritatis ! 29 Darauf antwortet der Kardinal, er habe letztere noch nicht aus Griechenland haben können; vielleicht habe man sich auch nicht allzu eifrig darum bemüht ; da Eusebius darin nämlich über das Evangelium handle, habe er doch wohl nicht alles richtig verstanden : „ Er sympathisierte nämlich mit dem arianischen Verrat. Die nach ihm kamen, haben uns die Wahrheit klarer dargelegt. " 30 Gegen den Monophysitismus wendet sich Nikolaus auch mehrmals, ohne ihn zu nennen 31. Besondere Aktualität gewinnt für ihn die geistige Bekämpfung des Nestorianismus, weil er den Mohammedanismus auf dessen Spuren sieht. Das gilt schon von dem 12. Kapitel der Schrift De pace fidei , in dem „ der Perser " die Ansicht vertritt, daß 99 Christus nicht mehr Gott sei als ein anderer Heiliger", und die personale Einheit Christi gegen eine nur gnadenhafte verfochten wird 32. Bald danach betrachtet Cusanus in einem Briefe an Johannes von Segovia 33 „ Pho25 Cod. Vat. Borghes. 41 , 198 : Sciendum, quod circa istam benedictam assumptionem erraverunt specialiter : Judeus, Arius, Manicheus, [erraverunt] Euticen et Nestorius, sed diversimode ; Iudeus negando in Christo divinitatem, unde dicebat sibi ( = ei) , Johannes X : Tu homo cum sis, te ipsum Deum facis . Erravit Arius ponens in Filio assumente etiam quoad deitatem ad Patrem inaequalitatem; dicebat enim Filium minorem Patre. Erravit Manicheus dicendo Christum non assumpsisse veram carnem, sed phantasticam. Erravit Euticen ponendo humanitatem quasi fuisse absorptam a divinitate. Erravit Nestorius ponendo duplicem personalitatem in Christo sicut duplicem naturam . 26 Ep. 137 II 9 (CSEL 44 , 108) . 27 S8 (C 29 , 32–34) ; vgl. oben S. 106. 28 S 271 n. 4 (H 120) ; vgl. S 110 (V2 23 ) : Christus dicitur dormire (Mt 8, 24) ; vere enim dormivit, quia verus homo. 29 Brief vor dem 9. 9. 1454 (Vansteenberghe , Autour 148 ) . Mit der zweiten Schrift ist anscheinend die Demonstratio evangelica, die „ Weiterführung des vorausgehenden Werkes" (B. Altaner , Patrologie, 2. Aufl. Freiburg i . Br . 1950, 198) , schwerlich De ecclesiastica theologia (Altaner 200) gemeint. 30 Brief vom 9. 9. 1454 ( Vansteenberghe , Autour 150 ) . 31 De visione Dei c. 23 (P 112') ; De pace fidei c. 12 (P 118') . 32 De pace fidei c. 12 ( P 118-119") . 33 Brief vom 29. 12. 1454 : Cod. Vat. 2923, 37'.

112

Die personale Einung der zwei Naturen in Christus

tinus 34 und Paul von Samosata 35 sowie die anderen, die Christus spalteten“ 36, gleichsam als die geistigen Väter des Mohammedanismus. Diesen schreibt er folgende Begründung ihrer Irrlehre zu : Sie hielten die Einung der unendlichen und einer endlichen Wesenheit für unmöglich 37. Sie beriefen sich auf Paulus,

der dasselbe wie sie gemeint habe, indem er lehrte, die Gottheit wohne in Christus 38,nämlich durch Gnade, und auf das Evangelium, nach dem „der Knabe wuchs und zunahm und die Gnade Gottes in ihm war “ 39. Bei der Sichtung des Korans “ geht Nikolaus dem Zusammenhang zwischen

Mohammedanismus und Nestorianismus weiter nach 40. Die Ursache der vielen falschen Vorstellungen darüber, wie sich in Christus) die menschliche Natur der göttlichen Hypostase eint“ , sieht der Kardinal, wie das Ende der Cribratio Alchoran zeigt 41, in einer falschen Grundhaltung gegen

über dem Mysterium . Zu dieser bemerkt er : „Was jeden Intellekt übersteigt, kann die Vorstellungskraft (imaginatio) nicht erreichen .“ Von dieser wird die nur im Glauben zu erfassende hypostatische Einheit Christi notwendig verfehlt. Wenn sie zum Maßstab gemacht wird , zieht sie die eine orthodoxe Wahrheit in die gegensätzlichen häretischen Lösungen von Nestorius und Eutyches herab. Daher die Warnung: „Begib dich nicht in Irrtum, indem du Nestorius oder

Eutyches folgst - oder irgendeinem anderen, dem der gesunde Sinn abgeht.“ 42 c ) die personale Einung der zwei Naturen in Christus 1. Seit den großen Konzilien von Ephesus und Chalkedon liegt der Kern des Christusgeheimnisses durch Übernahme der in den trinitarischen Streitigkeiten des 4. Jahrhunderts entwickelten Unterscheidung von Person (hypostasis) und Natur (physis) dogmatisch in den Begriffen fest : In Christus sind die göttliche und die menschliche Natur in der einen göttlichen Person geeint 43. Die mittelalter liche Scholastik widmete deshalb den Grundbegriffen Natur und Person sowie der Einung in der Person eingehende terminologisch -metaphysische Erörterungen. Nikolaus von Kues hielt sich sowohl in den Predigten wie in seinen spekula tiven Werken im allgemeinen wenig bei Reflexionen über Wortbedeutungen auf. Nicht als ob er das nötige begriffliche Rüstzeug verschmäht hätte, um sich nur auf Die Hs. hat : Folinus.

* Zu beidem vgl. A ugustinus, De haeresibus ad Quod vultdeum n. 44 f. (PL 42, 34) ; Conc. Bracarense 563 (D 233) .

36 Vgl. 1 Joh 4, 3 : Omnis spiritus, qui solvit Iesum, ex Deo non est. $7 Vgl. unten S. 123.

33 Vgl . Kol 2, 9: In ipso inhabitat omnis plenitudo divinitatis corporaliter. 39 Gegen den Nestorianismus richten sich sachlich auch Äußerungen wie die, daß die

absolute Vernunft von derGeistseele Christi nicht nur partizipiert werde, sondern ihr dem Wesen nach (S 93, V : 13 "b) oder substantiell (Brief vom 11. 6. 1463, Siz 161" ) geeint sei. 44 Vgl. unten S. 205 ff.

41 Cribr. III , 21 ( P 151 ") .

42 An entschiedener Verurteilung der Häresie hat es bei Cusanus nie gefehlt. Die Frühschrift Contra Bohemorum errorem führt Häresie und Schisma auf „ teuflische Über heblichkeit “ zurück (vgl. z. B. P 5") . S 93 (V2 13°4) werden die Häretiker als reißende Wölfe bezeichnet, die unter dem Schein des Lichtes teufliche Gesinnung verbergen. 43 Vgl. die Definition des Chalcedonense (D 148) und die Anathematismen Cyrills ( D 113–124 ). 8 Haubst, Nikolaus v. Kues

113

Patristisch -scholastisches Erbgut

Bilder und Vergleiche zu stützen. Er setzte vielmehr dieses Rüstzeug als bekannt und unmittelbar greifbar voraus. Er wollte allerdings auch nicht mehr als nötig bei den Begriffen verweilen, um den Eindruck zu vermeiden, als ließe sich darin das überrationale Geheimnis adäquat einfangen. Immerhin läßt sich deutlich verfolgen , wie er sich auch über die herangezogene Terminologie Rechenschaft gab .

Wir suchen hier zunächst die vorliegenden begrifflichen Erörterungen über die hypostatische Einung zu überblicken und richten dann das besondere Augenmerk auf jene Äußerungen, nach denen sich diese Einung auf die menschliche und göttliche Natur“ , nicht nur die göttliche Person, erstreckt. 2. In Predigt 1 nähert sich Nikolaus dem Geheimnis Christi erst nur unter der

Perspektive der besonderen Gegenwart Gottes: Vor Grundlegung der Welt war der unendliche Gott ganz „ in sich “ 44, und Er ist das noch immer. Doch auch die ganze Schöpfung ist von seiner Gegenwart erfüllt, wenn sie Ihn auch nicht faßt, denn Gott ist seiner Natur nach überall“ . Eine besondere Gegenwart Gottes wird durch die Gnade sowie durch die himmlische Glorie im Menschen

begründet und eine einzigartige durch die (hypostatische) Einung : „So war Er im Schoße der Jungfrau der menschlichen Natur, im Grabe dem Fleische, in der Unterwelt der Seele geeint.“ 45 Zu diesem Gedankenaufriß scheint Cusanus durch Augustinus angeregt zu sein 46.

Für die nähere Bestimmung dieser einzigartigen Einheit Christi zieht Niko laus später einige Formen der Zusammensetzung innerhalb des geschöpflichen Seins zum Vergleich heran. Die Aufzeichnungen zu Predigt 13 entnehmen Peter

von Tarantaise 47 den Hinweis : „ Es gibt viele Arten der Einung zu einer ge meinsamen 48 Natur, so z. B. die von Materie und Form, die der Elemente in dem daraus Gemischten oder des Akzidens mit der Substanz usw.“ 49 Die nächst

folgende Notiz hebt in freier Wiedergabe des Compendium theologiae des Tho mas von Aquin die Ähnlichkeit zwischen der Einung des Akzidens mit der Sub stanz “ und der „ Einung der Menschheit mit der Gottheit “ hervor : „ Das Akzidens wird (erstens) geeint, (zweitens) es ,subsistiert in der Substanz und verliert (drit tens) dabei nicht seine Natur. “ Dasselbe gilt auch von der menschlichen Natur »

Christi und deren „ Hypostase, Personalität und dem Selbstand (suppositum ) 44 Vgl. die im Cod. Cus. 83, 303' aufgezeichneten Hexameter : Dic, ubi tunc esset, cum · Tunc, ubi nunc,in se ; sibimet nam sufficit ipse. Näheres :

praeter eum nihil esset !?

Vf I 336. Daß Cusanus das schrieb , nimmt Vf nicht mehr als möglich an. 45 S 1 (C 19", 20—24 ).

46 Vgl. Augustinus, Ep. 187 (Ad Dardanum de praesentia Dei), insbes. III, 7 bis VI, 18 (CSEL 57, 87 ff.), XI , 35—41 ( 113 ff.). Dieser Brief wird Conc. I, 4 (H 45) zitiert.

47 C 85°, 3 wird , Petrus de Tarantasia in principio tertii zitiert. Zum Folgenden vgl. In Sent. III d. 1, q. 1 c (ed. Toulouse III 4 "): Omnis unio aliquorum terminatur ad aliquod unum . Aut ergo uniuntur sic aliqua, quod fit transmutatio illorum in aliud, sicut elementa in mixto, ... vel ita, quasi unum incipiat esse in altero, ut natura accidentis in subiecto ... Das Beispiel von Materie und Form übernahm Cusanus vermutlich aus Thomas v. A q. (S. theol. III q. 2, a. 1 c) , auf den sich Peter von Tarantaise sonst weit hin stützt.

48 d. h. aus Zusammensetzung entstehenden. 49 S 13 (C 85", 4 f.). 114

Natur -Zusammensetzung und hypostatische Einung

des Subjekts usw., obwohl die menschliche Natur innerhalb der Einung kein Akzidens ist. 50

Die Docta Ignorantia betont demgegenüber ergänzend die Einzigartigkeit und Erhabenheit der personalen Einung in Christus über alle formen inner

geschöpflicher Seinszusammensetzung und damit zugleich deren Geheimnis charakter : „Verstände man diese nämlich so, wie unter sich verschiedene Dinge

geeint werden, so wäre das ein Irrtum; denn die absolute Größtheit gehört nicht in den Bereich des Andern oder Verschiedenen ', da sie alles ist 51. Verstände

man sie als Verbindung von zwei Dingen, die zuvor getrennt waren und nun verbunden sind, so wäre das Irrtum 52 ; denn in der Gottheit gibt es kein Früher

und Später, sie ist auch nicht eher ,dies' als das 53. Auch das Zusammengezo gene' 54 konnte nicht als solches vor der Einung dies“ oder ,das' sein wie eine individuelle, in sich subsistierende Person 55. ( Man darf sie) auch nicht so (ver stehen) , wie Teile zu einem Ganzen verbunden werden 56, da Gott kein Teil' sein kann ...;; auch nicht wie die Formen mit der Materie geeint werden, da der absolute Gott nicht mit der Materie vermischbar ist und sie nicht informieren kann . “ 57

Das Resultat dieser Überlegung ist die uns schon bekannte Frage : „Wer könnte eine so wunderbare Einung begreifen? “ , und die Erkenntnis : „ Fürwahr, diese ist größer als alle Einung, die wir einsehen können. “ 58 Zum Unterschied von den uns faßbaren Einungen liegt die in Christus nämlich nicht in der Ord

nung natürlicher Wesenszusammensetzung; sie hat vielmehr ihren Angelpunkt in der einen personalen Subsistenz Christi , die zwei in der Wesensordnung voll endete Naturen eint 59.

50 S 13 (C 85', 14–16 ). Thom. v. Aq., Compendium theologiae c. 211 (Man donnet IÌ 149 ). Zur Verwendung dieses Vergleichs in der Quaestio disp. De unione

Verbi und im Compendium theol. vgl. Bayerschmidt 54—67 .Heinrich von Lan genstein führt diesen in De Verbo incarnato c. 12 (Cod . Cus . 54 , 93" -") breiter aus.

51 Aufspaltung und Verschiedenheit, Gegensätzlichkeit und „ Andersheit“ sind für Cusanus wie für Platon und Proklos (vgl. Vf I 266 Anm. 58) die Signatur des Geschaf fenen, während Gott „ Derselbe “ oder das „ Nichtandere “ ist .

52 Vgl. Kanon 2—3 der Verurteilung des Origenismus unter Papst Vigilius (D 204 f.) . 53 Vgl. Anm. 51 . 54 Contractum. Gemeint ist die begrenzte und mit dem Logos vereinte menschliche Natur.

55 Vgl . Thom. v. A q., In Sent. III q. 2, a .3, qcl. 1 , sol. (III 85) : Si ante assumptionem 56 Vgl . Thom. v. A q., S. theol.III q. 2, a. 4 ad 2 ; De rationibus fidei c. 6 ( 794) : Sic enim natura divina pars esset illius naturae communis, quod repugnat perfectioni di vinae naturae; nam omnis pars imperfecta est. 57 D. Ign. III, 2 (H 124, 24 - 125,5) . Zu dem letzten Punkt vgl. Thom. v. A q., S. (caro) concepta fuisset, propriam hypostasim habuisset.

>

theol. III q. 2, a. 1 c.: Neque per modum formae et materiae, quia divina natura non potest esse forma alicuius, praesertim corporei. 58 D. Ign . III , 2 ( H 125 , 3—6) .

59 Der angeführte Abschnitt der Docta Ignorantia ist als Ganzes nahe verwandt mit der Antwort des Aquinaten auf die Frage : Utrum unio Verbi incarnati sit facta in

natura. Cusanus zielt wie Thomas durch deren Verneinung auf die bejahende Antwort der Quāstio : Utrum unio Verbi incarnati sit facta in persona, hin (S. theol. III q . 2, a. 1–2 ) . – Die von Thomas (a. 1 ) genannte Zusammensetzung aus Leib und Seele wird von Cusanus hier übergangen . 115

Patristisch -scholastisches Erbgut

3. Wie eine antizipierte Zusammenfassung und Weiterführung des Gesagten liest sich der folgende Abschnitt in Predigt 6 : „ Eine Person oder ein Selbstand (suppositum) ist und besteht so für sich, daß sie nichts anderem als Teil dem

Ganzen oder als Form dem Subjekt angehört und sich (drittens) auf nichts stützt (innitatur), was sie durch irgendeine Kraft trägt (suppositanti) 60 und ihre Träger

schaft ( suppositas) und Personalität ersetzt (supplenti) 61 , kurz, daß sie sich auf

keine Sache stützt, die sie kraft fremder Selbständigkeit ( subsistentia) trägt.“ 62 Diese Umschreibung des Person -Begriffs trägt unverkennbare Spuren einer direkten oder indirekten Abhängigkeit von dem spätscholastischen deutschen

Theologen Heinrich von Oyta an sich 63. Mit ihm stimmt sie sowohl in den an geführten drei konstitutiven Elementen des Personbegriffs wie in deren nega tiver Fassung und in den Worten suppositare, inniti und supplere überein . Daß sich Heinrich von Oyta seinerseits der skotistischen Sentenz anschließt, ist bereits

von A. Lang nachgewiesen 64. In Predigt 6 fährt Cusanus fort: „Von diesen drei Arten (von Un-Selbständig

keit) finden sich zwei im natürlichen Sein verwirklicht, die dritte nur in Chri stus ... In der dritten Weise wird nämlich in Christus die menschliche Natur , wenn sie auch als solche bleibt, aufs innigste dem Wort geeint, so daß sie nicht das erlangt, was die Wesensträgerschaft (suppositas) ausmacht, sondern die ganze derartige Wesensträgerschaft auf die Gottheit überträgt.“ 65 Es gibt also keine zwei Selbstände in Christus, sondern nur einen. So weit geht nämlich die hypostatische Einung der menschlichen und göttlichen Natur in Christus, daß der menschliche Selbstand im göttlichen aufgeht 66. Dabei blei ben die beiden Naturen in der Einheit des göttlichen Selbstandes voneinander verschieden .“ 67

Die beiden Begriffe Person und Suppositum verhalten sich so zueinander, daß „ jede Person auch Suppositum (Selbstand) ist, aber nicht umgekehrt ; nur den

Selbstand einer vernunftbegabten Natur (suppositum rationale) nennt man 60 Zu diesem Gebrauch von „suppositare' vgl. Duns Scotus , Op. Ox. III d. 12, n . 5 (Vivès 23, 328 a); Petrus Rogerius, Sermo Vestitus erat veste aspersa (Cod . Borghes. 41 , 2015): humana natura fuit in Christo ... in proprio supposito suppositata ; Heinrich v. Oyta, Quaestiones Sententiarum q. 12 ( In Sent. III), a . 2 : suppositat et

subsistere seu suppositaliter existere facit (Clm 17468, 203" , zit. nach Lang , Heinrich Totting 208) . 61 Vgl. Heinr. v. Langenstein , De Verbo incarnato c. 10 (Cod. Cus. 54, 93', 8) :

Eodem Verbo subsistit natura humana in Christo per hoc, quod ipsum illius naturae proprium subsistere supplet.

62 S 6 (C 25', 1–3); vgl. die noch kürzere Formulierung in Predigt 2 (C 104", 5) , die dort von den drei göttlichen Personen gilt: Sunt tres res, quarum una nulli alteri innititur tamquam pars toti vel forma subiecto vel supposito alieno ipsam suppositanti.

63 Vgl. dessen Definition des Selbstandes in: Quaestiones Sententiarum q. 12, a . 2 : Suppositum est substantia per se subsistens nulli alteri a se secundum essentialem

inclinationem et tendentiam actualem vel aptitudinalem ut subiecto vel toti vel supposi

tanti innixa (Clm 17468, 2040, zit. nach Lang, Heinrich Totting 209 Anm. 202). Ebd. wird auch die hypostatische Einung definiert als : Illapsus personae seu suppositi alicui naturae, quo illabens supplet suppositale subsistere illius naturae, quo ipsa per se sub sisteret sibi ipsi derelicta (f. 203" , Lang 208). 64 Lang. Heinrich Totting 208 f.

66 Vgl . unten S. 121 . 116

65 S 6 (C 25°, 3–6) .

67 S 6 (C 25', 49—51 ) .

Die Person des Logos als Angelpunkt der Einung

Person, als ob dieser ,durch sich selbst töne (per se sonans )“ 88. „ So gibt es nur einen einzigen Selbstand und eine Person in Christus, aber ohne Zusammen fließen ( inconfuse) die göttliche und die menschliche Natur. “ 69

4. Da die hypostatische Einung nicht als Zusammensetzung von Natur und

Natur zu verstehen ist, wird es um so klarer : der Angelpunkt der Einheit zwi schen den beiden Naturen Christi ist die zweite göttliche Person als solche. Die Zeugnisse dafür lassen sich auch durch das ganze cusanische Schrifttum verfol gen: Das Wort des Vaters eint sich mit der Menschennatur, ohne daß sich der Vater mit dieser eint 70, und nimmt sie in die Einheit seines Selbstandes (in unitate suppositi) auf 1. Die Menschheit wird , ohne Natur -Zusammenfließen hypostatisch mit der göttlichen Person geeint“ 72. „Die Einung der menschlichen >

und göttlichen Natur in Christus ist personal “ 73 oder hypostatisch 74. Daneben läuft jedoch eine ebenso ununterbrochene Reihe von Äußerungen folgender Art : Die göttliche Natur teilt der menschlichen den Selbstand mit 75 ; die Menschennatur ist dem Worte in der Gottheit geeint 76; sie subsistiert nur

in eben der Gottheit 77 usw.73. Die auf Leo d. Gr. gestützten christologischen Quastionen gehen von der Voraussetzung aus: „da in Christus die göttliche Natur die menschliche angenommen hat“ 79. In Leo erkannte Nikolaus im besonderen einen Zeugen zugunsten dieser Terminologie 80. Wie lassen sich diese beiden Aussagereihen miteinander verbinden? Thomas

von Aquin bietet die Unterscheidung des Zielpunktes oder Angelpunktes (ter minus), in dem die Einung mit der menschlichen Natur erfolgt – das ist die zweite göttliche Person — , und des Prinzips, das die Menschwerdung bewirkt und die menschliche Natur trägt das ist die göttliche Natur 81. Nikolaus von Kues hat die angeschnittene Frage nie gestellt. Aber seine Antwort hätte mit der des Aquinaten übereingestimmt. Dafür spricht der von ihm wiederholt heran gezogene Grundsatz, daß die Wirksamkeit der göttlichen Personen (infolge ihrer Einheit in der Natur) nach außen ungeteilt ist 82. 68 S 6 (C 25', 5) ; vgl . Boethius , De persona et duabus naturis c. 3 (PL 64 , 1343 C) :

Persona vero dicta est a personando ; Bonaventura , In Sent. I d. 23, a. 1 , q. 1 , contía 1 (1 405 a ): Persona dicitur quasi per se sonans. 69 S 6 (C 25 ', 10) ; vgl. Conc. Chalced . (D 148) .

70 S 232 (V2 158 " ).

11 S 36 (C 133", 15); vgl. De pace fidei c . 12 ( P 119 '); S 118 (V2 15 '). 72 D. Ign. III, 7 (H 141 , 4) . 73 Cribr. III , 16 ( P 149 ). 14 D. Ign. III, 7 (H 142, 11); De ludo globi II ( P 162") . 15 S 6 ( C 25 ', 19) . 9

76 D. Ign . III, 4 ( H 130 , 19).

" D. Ign . III, 12 (H 161,9) ; vgl. § 16 (H 34, 6 ), S 102 (V2 1954). 78 Vgl. z. B. Cribr. I, 17 (P 140°); Brief vom 11. 6. 1463 (Siz 1616) .

13 Siehe unten S. 315 ; vgl. S 281 (V2 273 *) : Natura divina ...in suí unionem assumpsit veram vivam humanam naturam .

89 Cod. Cus. 40, 108' bemerkt Nikolaus zu Leo M., Sermo 72 c. 2 (PL 54 , 391 A) : Nota, suscepit nos divina natura ! Gilbert Porreta und die Sententiae divinitatis be kämpfen diese These (Geyer, Die Sententiae divinitatis 19—22) . Das Konzil von Reims

( 1148) entschied gegen Gilbert (D 392). Vgl . die von P. Lombardus angeführten posi tiven patristischen Zeugnisse ( Sent . III d . 5, c. 1 , n . 27—30, S. 568—70 ). Thomas v . A q. führt S. theol. III q . 3, a. 2 c. die griechischen Väter Athanasius, Cyrill von Alexandrien und Johannes von Damaskus an ; vgl . Backes , Christologie 92. 81 S. theol . III q . 3, a . 2 c.

$ 2 Vgl. oben S. 89. 117

Patristisch -scholastisches Erbgut

Vielleicht hätte Cusanus dem noch hinzugefügt, daß die erste Aussagereihe auch die zweite einschließe und näher bestimme, da in dieser nebst der Natur auch die Person, die Träger der Einung ist, bestimmt wird 85, daß aber bei jeder göttlichen Person Wesenheit und Personeigentümlichkeit, die unser begriffliches Denken unterscheidet und unterscheiden muß – schon um die unio hypostatica

nicht mit Wesenszusammensetzung zu verwechseln – , in sich ein und dieselbe ungeteilte Realität sind. Die menschliche Natur Christi ist also eben dadurch , daß sie mit der zweiten göttlichen Person geeint ist, auch unmittelbar mit der ganzen göttlichen Wesenheit geeint. Deshalb ist in Ihm auch die soteriologisch

grundlegende Einung von Gott und Menschennatur unmittelbar gegeben. Eine Zusammenfassung und Bestätigung des Gesagten bietet Kapitel 12 der Schrift De pace fidei: „ Es ist also festzuhalten, daß in Christus die menschliche Natur dem Worte oder der göttlichen Natur geeint ist, und zwar derart, daß die menschliche nicht in die göttliche übergeht, sondern ihr so untrennbar an

hängt, daß sie nicht für sich gesondert, sondern in der göttlichen (Natur) getra gen wird (sustentetur) und personalen Selbstand erhält (personetur) , damit eben diese menschliche Natur, die berufen ist, mit der göttlichen das ewige Leben zu erlangen, unmittelbar in der göttlichen Natur die Unsterblichkeit erlangen könne. “ 84

II . NIKOLAUS VON KUES UND DIE MITTELALTERLICHE

CHRISTOLOGISCHE SPEKULATION

a ) Nachklänge und Zurückweisung der Homo-assumptus-Vorstellung 1. Petrus Lombardus stellt im III . Buche seiner Sentenzen (um 1150) drei Ver

suche zur Auslegung der Glaubenswahrheit, daß Christus in einer Person sowohl Gott wie Mensch ist, einander gegenüber 1. Der erste Versuch erklärt, vor allem auf Augustinus fußend, die Menschwerdung so : Ein aus Leib und Vernunftseele konstituierter Mensch „ wurde Gott “ , und zwar dadurch, daß

er

von dem Worte

angenommen und Ihm geeint wurde “ 2. Nach der Darstellung von Albert d. Gr. und Thomas von Aquin haben die Vertreter dieser Ansicht, deren es zu ihrer

Zeit schon keine mehr gab, auch ausdrücklich einen eigenen Selbstand der menschlichen Natur Christi und somit zwei Supposita oder Hypostasen in Chri stus gelehrts. Wir nennen diese Auffassung mit B. Barth , Assumptus Theorie “ 5.

83 Vgl. S 40,2 (V1 724—73 ): Postquam Deus ... conclusit humanam naturam in divina velle suppositare .. conclusit .. quod Verbum divinum naturam humanam indueret . 84 De pace fidei c. 12 (P 118" ) . i Sent . III d. 6, c. 1–6 (573—83) . •

2 Ebd . c. 2 n . 38 (574 ) . 3 Vgl. Backes, Christologie 193—95. 4 Dokument 423. Von Barth übernehmen wir im Folgenden auch für die zweite und

dritte Ansicht die Bezeichnungen : Subsistenz- und Habitus-Theorie.

5 Zur frühmittelalterlichen Geschichte der Assumptus- Theorie vgl. die ganze Unter 118

Nachklänge und Zurückweisung der Homo-assumptus- Vorstellung Bei Nikolaus von Kues schließt die Entschiedenheit, mit der er bei der vernunftbegabten Natur Person und Suppositum oder Hypostase gleichsetzt und an der Einung der beiden Naturen in einer Person festhält, jeden Gedanken an zwei Supposita in Christus als einen offensichtlichen Rückfall in den Nestorianismus aus. Nichtsdestoweniger stimmt seine Sprache in einigem auffallend mit der Terminologie der Assumptus-Theorie überein, und gerne folgt er der für diese charakteristischen Tendenz, die hypostatische Einung in der umgekehrten Sicht zu der der Menschwerdung Gottes sozusagen von unten her als eine im Augenblick der Inkarnation erfolgte Erhebung des Menschengeschlechtes zu Gott aufzufassen. Insbesondere mündet die augustinisch-frühmittelalterliche Betrachtungsweise der sieben Zeitalter, in denen das Menschengeschlecht kraft göttlicher Gnadenführung in Christus als dem „ siebten Tage " zur Ruhe in Gott gelangt, in diese Perspektive ein. Hierher gehört vermutlich die Stelle : „ Der Schöpfer einte sich ein Geschöpf, und das Ziel und die Erwartung und die Erhöhung aller Kreaturen erreichte den höchsten Grad — denn es (ein Geschöpf ! ) wurde Gott. " 6 Sicher entsprechen der Assumptus-Theorie die Predigtsätze : „ Der Vater erschuf seinem Sohne einen Menschen, den Er Ihm hypostatisch einte. " „ Die Menschheit wurde dem Sohne Gottes geeint oder (mit andern Worten) ein sterblicher Sohn Adams dem eingeborenen Sohne Gottes. " 8 „Der Vater schuf in der Zeit den Menschen Jesus durch die (von Ihm gezeugte) Schöpferkunst und rief diesen zu ebendieser Schöpferkunst hin ... Jesus erreichte die Kunst selbst. “ 9 2. Solchen und ähnlichen Äußerungen 10 steht bei Cusanus schon äußerlich ein erdrückendes Übergewicht präziserer Formulierungen gegenüber, die von Annahme oder Einung der menschlichen Natur sprechen. Cusanus selbst erklärt auch ausdrücklich : „Die Menschheit Christi ist nicht als Person oder Suppositum oder im eigentlichen Sinne als Mensch zu bezeichnen, denn ,Mensch ist Name einer Person" 11 ; und nochmals : „ Weil das annehmende Wort bei der Annahme der Menschheit nicht seine Personalität verliert, während die angenommene Mensuchung von Barth ; zur Stellungnahme des Hochmittelalters : I. Backes , Die christologische Problematik der Hochscholastik und ihre Beziehung zu Chalkedon : Chalkedon II 926-28 ; zur Stellungnahme des hl . Albert: Haberl 59-63 ; zu der des hl . Thomas : Backes Christologie 196-206. Über die Vertreter der Assumptus-Theorie zur Zeit des Konzils von Chalkedon handelt H. Diepen , L'Assumptus Homo à Chalcédoine : Revue Thomiste 51 (Paris 1951 ) 573-608 , 53 ( 1953) 254-286 . Neuerdings unternahm Déodat de Marie de Basly in zahlreichen Veröffentlichungen die Verteidigung der Homo -assumptus-Lehre. Er findet z . B. die Unterstützung von J. Rivière : WW 12 (1949) 65-78. 6 S 2 (C 104 , 10 f.; so auch V₁ 70ºª) . Das ,quia Deus factus est' ergibt nur einen Sinn, wenn man creatura als Subjekt annimmt oder homo entweder als Subjekt (homo Deus factus est) oder als Prädikatsnomen (Deus homo factus est) ergänzt. Die erste Möglichkeit hat im Zusammenhang am meisten für sich. Bei strikter Interpretation wäre diese Außerung, ebenso wie das ,homo Deus factus est ' (vgl . Thom. v. A q ., S. theol . III q. 16, a. 7 c., tertio) , als nestorianisch zu beurteilen. 7S 11 (C 44 , 25 ) ; nicht eindeutig ist der Sinn von : Nata est hodie scala ( = Maria), per quam Salvator descendit ad hominem, et homo ad Salvatorem ascendit (ebd. C 39', 4) . 8 S 257 (V2 204 ) ; vgl. S 232 (V2 158 ) : Verbum seu Virtus Patris unitur homini. S 285 (V2 278 ). 10 Vgl . unten S. 249–254. 11 S 6 (C 25 , 51 — 25°, 1) . 119

Patristisch-scholastisches Erbgut schennatur die ihre verliert, deshalb sagt man nicht im eigentlichen Sinne, das Wort ,habe einen Menschen angenommen 12, denn Es nahm nicht den Selbstand eines Menschen an, sondern eine Menschennatur (humanitatem) ; und wenn man mitunter findet, das Wort habe ,einen Menschen angenommen 18, so muß man das für die menschliche Natur nehmen 14, die in Christus von Anfang angenommen und nie für sich bestehend war. " 15 Anschließend nimmt Nikolaus in Predigt 6 dagegen Stellung, daß " Christus aus dem Wort und einem Menschen zusammengesetzt " sei 16. Auch das scheint sich, dem Vorhergehenden nach, auf den ersten Blick gegen die AssumptusTheorie zu richten, zumal wenn man unter „Zusammensetzung “ die Lehre von zwei Supposita in Christus versteht, welche die Hochscholastik mit dieser Theorie verband. Tatsächlich gehört jedoch die Frage, ob Christus „ zusammengesetzt" sei, problemgeschichtlich in einen anderen Zusammenhang 17. Unter den christologischen Quästionen in Cod. Cus. 40 befindet sich auch die Frage 18: ob es jemals in Christus etwas gab, was nicht einer jeden Natur angehörte". Cusanus antwortet mit Leo d. Gr.: „Wenn, wie der Apostel Paulus ( 1 Kor 6, 17) sagt,, wer Gott anhängt, ein Geist (mit Ihm) ist , wieviel mehr ist dann das fleischgewordene Wort der eine Christus, in dem nichts der einen Natur angehört, was nicht einer jeden zukäme! " Hier ist unter „ Natur" offensichtlich die subsistierende Natur verstanden. Diese Quästio ist also auf den zwischen Assumptus- und Subsistenz -Theorie bestehenden Differenzpunkt gemünzt, ob Christus eines oder zwei (im neutralen Sinne) zu nennen sei ¹º, und mit dieser Frage sachlich identisch. Die cusanische Entscheidung fällt für die Subsistenztheorie 20. Cusanus weist die Assumptus- Theorie somit als theologische Lehrmeinung zurück; er lehrt mit der „ Subsistenztheorie " die ausschließliche Subsistenz der menschlichen Natur in der göttlichen Person. 3. Daß Nikolaus dennoch, wie wir hörten , die in dieser Hinsicht unreflektierte Sprache der Kirchenlehre übernimmt 21 und sich ihrer gelegentlich auch selbst bedient, erklärt sich teils aus Pietät, teils wohl auch aus der humanistischen Neigung, „ das Alte wiederaufzugreifen “ 22, die ihn mitunter — unter Nichtbeachtung 12 Vgl . Thom. v. A q. , S. theol . III q. 4, a . 3 c.: Non est proprie dictum, quod Filius Dei assumpsit hominem. 13 So steht z. B. auch in zwei antipriszillianischen Symbola (D 16 20) sowie im 8. Anathematismus Cyrills (D 120) ; vgl. Symb . ‚Athanasianum (D 40) : Deus et homo unus est Christus. 14 Vgl. Thom. v. A q. , S. theol. III q. 4 , a. 3 ad 1 ; In Sent. III d. 6 , q . 1 , a. 3 ad 1 (III 230 f.). 15 S 6 (C 25 , 7—10) . 18 16 S 6 (C 25 , 11—16). 17 Vgl. unten S. 125 f. q. 2 (unten S. 315) . Thom. 19 Vgl . v. Aq. , In Sent. III d . 6, div . text. ad 3 ( III 219) : Prima opinio ... quarto dicit, quod Christus est duo neutraliter ; Bayerschmidt 14 ff. 20 Vgl . z. B. Thom. v. Aq., In Sent. III d . 6, q. 1 a. 1 , qcl. 4 ( (Utrum sint ibi duae res naturae), sol. ((III 229) : In Christo non sunt duae res naturae, sed ipse est res una duarum naturarum ; vgl . ebd . q. 2 , a . 1 , resp. n. 66 ( III 235) . 21 S 8 (C 29 , 34) stammt z. B. das ,nec hominem verum suscepisse crederetur' aus Augustinus , Ep . 137 II , 9 ( CSEL 44, 108) . 22 Conc. , praef. (H 2) .

120

Nachklänge und Zurückweisung der Homo- assumptus - Vorstellung der Klärung, welche die theologische Sprache durch die Hochscholastik erfuhr zurück-ständigen " Formulierungen führte. Ein solcher „ Rest " findet sich merkwürdigerweise auch in demselben Zusammenhang, in dem Nikolaus in Predigt 6 die Assumptus-Theorie zurückweist. Er besteht in den Formulierungen, in Christus gehe der menschliche Selbstand in dem göttlichen Selbstand auf 23, die menschliche Natur verliere dadurch, daß sie vom Wort aufgenommen werde, ihre Personalität 24, und : sie übertrage alle Selbständigkeit auf die Gottheit 25. Diese Aussagen wären, strenggenommen, so zu interpretieren, daß der menschlichen Natur zumindest der logischen Ordnung nach bereits eigene Subsistenz zukam, ehe sie von der göttlichen aufgenommen wurde. Das ist ein Denkfehler, den Thomas der Assumptus- Theorie vorhält 26. Gegen die Anwendung dieser Konsequenz auf die obigen Äußerungen ist jedoch geltend zu machen, daß Cusanus dort bildhaft spricht und nicht an ein individuelles Vorausbestehen der menschlichen Natur Christi denkt. Er nimmt vielmehr die Tatsache, daß natürlicherweise jede menschliche Natur auch ihren Selbstand hat, zum allgemeinen Ausgangspunkt und Vergleichspunkt, um daran abzulesen, was demgegenüber bei der Aufnahme der menschlichen Natur Christi in die hypostatische Einung geschah. Auf derselben Linie bewegen sich auch Äußerungen, die Predigt 236 über die Leib-Seele -Einheit in Christus und deren Verhältnis zur hypostatischen Einung enthält: „ Substanz des Fleisches Mariens ging in die Einung mit der Seele Jesu hinüber (transivit), wie die Seele in die Einung mit dem Wort (hinüberging) . " 27 Diese Gleichung setzt wiederum, strenggenommen , die Präexistenz von Leib und Seele Christi vor der Einung voraus. Cusanus lehrt jedoch klar, daß die ganze Menschennatur Christi zugleich mit ihrer Entstehung dem Worte geeint wurde 28. Die genannte Gleichung soll nur das hierarchisch-teleologische Verhältnis der drei Substanzen in Christus : Leib, Seele , Gottheit 29, erklären : Der Leib ist für die Seele und die Seele für Gott da ; so erreicht auch in Christus der Leib in der Seele und die Seele in Gott unverlierbar ihr Ziel. Aus dieser Sicht ist auch der Satz zu verstehen : „Jenes Fleisch aber, das zur Einung mit der Seele Jesu hinüberging, ging auch durch Vermittlung der Geistseele in die Einung mit dem Wort hinüber, das die menschliche Natur annahm . “ 30 23 S 6 (C 25′, 49–51 ) : Tanta est hypostatica unio . .., ut in suppositum divinum humanum suppositum iret remanentibus duabus naturis distinctis in unitate divini suppositi. 24 S 6 (C 25 , 7 f.) : Natura humana assumpta suam perdit (personalitatem) ; hinc Verbum proprie non dicitur assumpsisse hominem. 25 S 6 (C 25 , 6) : ut ... omnem talem suppositatem in deitatem transferat. 26 S. theol. III q. 4, a. 3 c.: Id quod assumitur, non est terminus assumptionis ; vgl. a. 2 c.: Persona autem non praeintelligitur in humana natura assumptioni, sed magis se habet ut terminus assumptionis. 27 S 236 (V2 164rb) . 23 S 256 (V2 202va-b) : Anima in Iesu in creando unita est Verbo ... Non fuit prius homo quam Verbo unitus ; vgl. Summa Sententiarum I , 15 (PL 176, 70 D) : Illa ( animam et corpus) enim assumendo univit et uniendo assumpsit. 29 Das Mittelalter zählte noch oft drei Substanzen in Christus (Gottheit, Seele, Leib) . P. Lombardus (Sent. III d. 6, c. 3, n . 40 f.: 576-78) stützte sich dabei auf Augustinus, De Trin. XIII, 17 , 22 ( PL 42, 1031 ) . so S 236 (V2 164" ) ; vgl. S 256 (V2 220 ) : Medio animae tota humana natura (in

121

Die Natur - Verschiedenheit und die Einung

Über die Herkunft dieser Terminologie läßt sich feststellen : Gennadius spricht davon, daß „ Gott einen Menschen annahm und der Mensch in Gott hinüber

ging “, und Petrus Lombardus hebt diese Stelle besonders hervor 31. Das Wort 9

, transire' fand Cusanus auch in einem Exzerpt, das angeblich dem Schrifttum des Johannes Gerson entstammt. Darin heißt es : „Die Menschheit Christi ging hinüber zur Person des Wortes. “ 32

b) Der proportionslose Abstand beider Naturen und der Formalgrund der Einung

1. Die sprachlichen Nachklänge der Homo-assumptus-Vorstellung bringen keinen ernsthaften Zweifel auf, daß Nikolaus von Kues die „ Subsistenztheorie “ – die seit der Hochscholastik herrschende „ zweite Ansicht des Lombarden “ 1 -, nach der

die menschliche Natur Christi in der göttlichen Personalität „ subsistiert“, als einzige orthodoxe Erklärung des Christus-Geheimnisses vertritt.

Der Rahmen der Subsistenzlehre läßt jedoch seinerseits noch Raum für ver schiedene Betrachtungsweisen der hypostatischen Einung – die insbesondere aus verschiedenen Auffassungen von der metaphysischen Konstitution des Sup positums 2 oder aus verschiedenen Antworten auf die Frage resultieren : , Wo

durch oder wie kommt diese Einung zustande? " Im folgenden suchen wir deshalb die Ansicht des Nikolaus von Kues über ,,das Mittel “ und den Formalgrund der hypostatischen Einung näher zu bestim men. Wir gehen von der kosmisch - soteriologischen Vorstellung einer zwischen

Gott und Welt sowie zwischen den beiden Naturen in Christus klaffenden, aber durch deren Einung zu überbrückenden Kluft aus.

2. Das mit der Schöpfung gegebene Grund-, Verhältnis“ zwischen Gott und Welt faßt Cusanus im I. Buch der Docta Ignorantia in die der mittelalterlichen Scholastik geläufige Formel, daß „ keine Proportion des Unendlichen zum End lichen besteht“. Der Inhalt dieses Satzes gilt ihm als „ handgreiflich “ 3. Die

hauptsächlichste Folgerung, die die Docta Ignorantia ausdrücklich daraus zieht, besagt, daß das göttliche Wesen für unser rationales Denken nicht in sich un mittelbar faßbar sein kann 4.

Christo) unita est suo Creatori. Vgl. Thom v . A q., S. theol. III q.6, a. 2—3. Zu den dort angeführten Zeugnissen aus Augustinus, Dionysius und Joh . von Damaskus siehe Backes , Christologie 223 f. 31 Gennadius, De eccl. dogm. c. 2 (PL 42, 1213) 3; P. Lombardus , Sent. III d. 7, c. 3 (n. 58 : 589) .

32 Das Exzerpt steht: C 22°, 40—48 ( nach dem 1. Teil von S 6) . Cusanus zitiert : Dicit cancellarius Garson De mystica theologia capitulo ) II. Der angeführte Text ist nicht in Gersons Traktat Demystica theologia (Opera III 361—422) nachweisbar, auch nicht in verwandten Gerson -Schriften.

1 Sent. III d . 6 (576—78 ); vgl. Barth , Dokument 421—24. 2 Vgl. z. B. Billot , De Verbo incarnato 47–78. 3 D. Ign. I , 3 (H 8 , 20 ): Ex se manifestum est infiniti ad finitum proportionem non esse ; vgl. die Hinweise der Ausg . sowie Vf I 188 und Verf., Studien 128–33. 4 Vgl. bes. D. Ign. I, 4 10 26 , Apologia (H 18 f.). 122

„ Zwischen Unendlich und Endlich besteht keine Proportion“

Von der gleichen Ausgangsbasis des proportionslosen Abstandes zwischen End lich und Unendlich tritt Nikolaus auch schon in den Predigten 35 und 166 — wie vor ihm z. B. bereits Thomas ?, Bonaventura 8 und Skotus 9 an die Christologie heran . Die Möglichkeit der hypostatischen Einung trotz eines solchen Abstandes beschäftigt ihn besonders in den fünfziger Jahren. In der himmlischen Konferenz „ Über den Frieden im Glauben " erhebt der

Perser den Einwand : „Wenn das Wort Gottes Gott ist, wie soll dann Gott bei seiner Unveränderlichkeit Nicht -Gott werden können, nämlich Mensch, der

Schöpfer ein Geschöpf? Wir leugnen das nämlich fast alle 10. Nur wenige Aus nahmen gibt's in Europa ; und selbst die von uns, die sich Christen nennen , stimmen mit uns in der Unmöglichkeit überein , daß das Unendliche endlich und das Zeitliche ewig sein könne. “ 11 Andernorts erklärt Cusanus, Paul von Samo sata und die anderen , die Christus spalteten“ 12, hätten sich auf den Vernunft

grund gestützt, daß eine Einung solches voraussetze, was in Proportion zuein ander stehe, daß aber keine Proportion des Unendlichen zum Endlichen vor

liege “ 13. Das stimmt genau mit einem Einwand überein, den auch Thomas gegen die Möglichkeit, „ daß Gott Fleisch annahm “, zu Wort kommen läßt 14.

3. In der Schrift „ Uber das Sehen Gottes “ leitet Cusanus von der Ausgangs basis her, daß „ zwischen Endlichem und Unendlichen kein Verhältnis (pro

portio) besteht“ 15, folgende drei negativen Aussagen über die hypostatische Einung ab : a) ,Du bist nicht sozusagen aus Gott und Mensch zusammengesetzt. Was sich zusammensetzen soll , muß nämlich in einem Verhältnis zueinander stehen. Ohne

ein solches kann keine Zusammensetzung erfolgen. “ 16 SS 3 (C 45°, 52) : Finiti ad infinitum nulla est proportio, sed tuae humanitatis ad 7

creaturas est symbolica concordantia.

* S 16 (H 30, 19 f.) : Sed nec ipsa (omnia) ad ipsum uniri potuerunt, cum finiti ad infinitum nulla sit proportio. i In Sent. III d. 1. q. 1 , a. 1 (vgl. Anm. 14) . Dort werden (c.: III 8) die Hilarius-Worte

zitiert : Comparatio terrenorum ad Deum nulla est“ ( De Trin. I , 19: PL 10 , 38). Joh. Wenck hat in einer in Vat. Pal. 370 erhaltenen christologischen Quästio (vgl. Verf. , Studien 69 f.) die Antwort von Thomas (ad 3 : III 10) zum Teil wörtlich übernommen . * In Sent. III d. 1 , a. 1 , q. 1 ad 4 (III 11). In Sent. III d . 1 , q. 1 , obi . 2 (n. 1 ; Vivès XIV 4 b) : Inter unibilia est aliqua pro portio ; finiti ad infinitum nulla est proportio. In der Responsio (n . 16, S. 44 a) sagt

Skotus im Hinblick auf die Dependenz der menschlichen Natur von der göttlichen Person : ista dependentia est sufficiens proportio ad talem unionem.

14 Gemeint sind die Vertreter der Weltreligionen. Der Perser vertritt dabei den Mohammedanismus als einen Ableger des Nestorianismus (vgl. unten S. 205 f.) . 11 De pace fidei c. 12 (P 118'). 12 Vgl . 1 Joh 4 , 3 . 13

12 Brief vom 29. 12. 1454 an Joh . von Segovia (Vat. 2923, 37 ") .

14 In Sent. III d. 1 , q. 1 , a. 1 , obi. 3 ( III 7) : Infinite distantium non est aliqua proportio. Quorum autem non est proportio, non est possibilis unio. 15 Bei Cusanus steht bei dem Wort ,proportio' der ursprüngliche Sinn eines Größen verhältnisses im Vordergrund. Hier tritt das deutlich hervor. Bei der umgekehrten For mulierung ( Infiniti ad finitum non est proportio) läßt sich unter proportio auch ein negiertes Bezogensein Gottes auf die Schöpfung verstehen. 16 De visione Dei c. 23 (P 111 '- 112") . 123

Die Natur - Verschiedenheit und die Einung

b ) „Du bist auch keine Koincidenz (kein Zusammenfall) von Geschöpf und 63

Schöpfer in der Weise, daß die Koincidenz das eine zum andern machte; denn

die menschliche Natur ist nicht die göttliche, noch ist es umgekehrt 17. Die gött liche Natur ist nämlich nicht wandelbar oder in eine andere Natur veränderlich ,

da sie die Ewigkeit selbst ist. Zudem geht überhaupt keine Natur wegen der Einung mit der göttlichen in eine andere über 18. Es ist vielmehr, wie wenn ein Abbild der Wahrheit (die es abbildet) geeint wird. Dann kann man nicht sagen , das Abbild ändere sich , sondern eher, es verlasse die Andersheit, denn es wird

seiner eigenen Wahrheit geeint, die als solche Unveränderlichkeit ist.“ 19

c) „ Man kann Dich, wonnevollster Jesus, auch nicht als eine mittlere Natur (media natura) zwischen der göttlichen und menschlichen bezeichnen ; denn zwi schen diesen läßt sich keine mittlere Natur, die an beiden teilnähme, denken 20.

Die göttliche Natur läßt nämlich an sich nicht teil-nehmen, da sie gänzlich ,

absolut und in höchster Weise einfach ist; und schließlich wärest Du, gebenedeiter Jesus, so weder Mensch noch Gott. “ 21

Nach dieser dreifachen Negation folgt die positive Lösung : „ Ich erblicke Dich , Herr Jesus, vielmehr über alle Einsicht hinaus als einen Selbstand (unum sup positum), denn Du bist der eine Christus. “ 22 Von den drei fundamentalen negativen Folgerungen, die sich aus der Gegen

überstellung der göttlichen Unendlichkeit und der geschöpflichen Begrenztheit ergeben , ist die zweite kaum einer Erklärung bedürftig. Sie besagt unmiß verständlich , daß der für die cusanische Lehre von der absoluten Wesenseinheit

Gottes charakteristische Begriff der Koinzidenz nirgends, auch nicht infolge der hypostatischen Union, auf das Verhältnis einer geschaffenen zur ungeschaffenen göttlichen Natur anwendbar ist. Die Einung des abbildlichen Seins mit dem urbildlichen , des endlichen mit dem unendlichen, kann nämlich nicht bis zur

Wesensidentität fortschreiten und muß insofern begrenzt bleiben, da sonst das Endliche seine Endlichkeit verlöre 23. 17 Damit steht die bei Cusanus mitunter anklingende Koincidenz als Identität der Per son Christi , in der beide Naturen subsistieren, nicht in Widerspruch , auch das nicht, was

er über die Koinzidenz von Natur und Gnade in Christus sagt (vgl. unten S. 251 f.) .

18 Vgl. D. Ign . III, 2 (H 125 ,8) : neque in eius (absoluti) naturam transiens. 19 De visione Dei c. 23 (P 112 ') .

20 Die „ mittlere Natur“ ist die menschliche (vgl. unten S. 159) . E. Hoffmann irrt also erheblich, wenn er in dem Bemühen , Cusanus als den ersten genuinen Platoniker in der christlichen Philosophie“ (Universum 40) zu erweisen, schreibt (ebd. 34) : „Wie mit

dem Chorismos die Methexis, so ist mit der Methexis das Eine Metaxy gegeben. Dies Metaxy aber heißt Christus, sagt Cusanus. Christus allein ist die echte Natura media': Dies letzte wurde Hoffmann schon verschiedentlich nachgeschrieben.

21 De visione Dei c. 23 (P 112") : Nec tu, benedicte Iesu, esses vel Deus vel homo. Bohnenstädt übersetzt hier (S 132): „ Und schließlich ist es auch nicht so zu verstehen , daß du ... teils Gott , teils Mensch wärst. “ Das steht nicht im Text. 22 Ebd .

23 De visione Dei c. 20 ( P 110') : Nam humana natura non potest transire in unionem cum divina essentialem, sicut finitum non potest infinito infinite uniri ; transiret enim in identitatem infiniti, et sic desineret esse finitum , quando de eo verificaretur infinitum . Vgl . unten S. 155 f. 124

L

Die Einung ist weder Koinzidenz noch Zusammensetzung

4. Der Satz, daß Christus „ nicht sozusagen aus Gott und Mensch zusammen gesetzt ist“ , führt uns zu der folgenden Erklärung in Predigt 6 zurück :

„ Christus ist nicht aus dem Wort und dem Menschen zusammengesetzt. Da nämlich kein Ganzes sein Teil ist, wäre in diesem Falle das Wort Gottes, das

Christus ist ..., weder die Gottheit noch Gott, und aus dem gleichen Grunde auch nicht Mensch 24. Christus wäre auch nicht von Ewigkeit gewesen, sondern

vielmehr ein neuer Gott (Deus recens) 25. Daß nämlich ein solches Suppositum von Ewigkeit her gewesen sei , ist nicht zu glauben .“ 26 Darauf folgt ein Einwand , der sich auf das Symbolum Athanasianum' stützt, und zwar auf die Worte : „ Wie die Vernunftseele und das Fleisch (ein Mensch sind, so sind Gott und der Mensch der eine Christus) . “ 27 Cusanus antwortet darauf : „Hier wird keine allseitige Ähnlichkeit ausgedrückt. Das soll vielmehr heißen : Wie eine menschliche Person in der zweifachen Natur von Leib und

Seele subsistiert, so subsistiert die Person Christi in der ,doppelten Substanz“ 28 von Gottheit und Menschheit.“ 29

Daß dieser Text nicht ohne theologiegeschichtliche Hintergründe ist, liegt auf der Hand. Es fragt sich, welcher Art diese sind. Der in Predigt 6 vorangehende Abschnitt 30 legt ebenso wie die Formulierung der These den Gedanken an die Assumptus - Theorie nahe. Von dieser her ließe sich auch der Einwand im Sinne

einer strikten Gleichung auslegen : Wie in dem Suppositum Mensch die zwei Naturen Leib und Seele geeint sind, so ist es in der Person Christi mit den Sup posita Mensch und Gott 31 .

24 Vgl. Thom. v. A q., In Sent. III d. 6, 7. 3, a. 3 ad 4 ( III 242): Quamvis compositio quantum ad aliquid salvetur in incarnatione Verbi, nullo tamen modo est ibi ratio partis. Divinitas enim pars esse non potest propter imperfectionem, quae est de ratione partis. Humana autem natura ... non causat esse personae, quae dicitur composita . 25 Vgl. Ps 80, 10. Dieses Argumentes bediente sich auch, wie Robert von Melun

(Christologie c. 27) berichtet (Ănders 61), die Habitus-Theorie gegen die frühschola stische Zusammensetzungshypothese , die sich vor allem mit dem Namen Abaelards verknüpft (Landgraf II, 1 , 71–77 ). Auch Hugo von St. Viktor wandte sich gegen die

Bezeichnung Christi als persona composita (Poppenberg 76 f.). Thomas v. Aq. (S. theol. III q. 16, a. 2 ad 3) weist den aus Ps 80, 10 erhobenen Einwand gegen die christologische Aussage: Homo est Deus, zurück . 26 S 6 (C 25', 11-14 ); vgl. den S 1 (C 19', 30) Leo d. Gr. zugeschriebenen Satz : Sim

plici divinitatis naturae nihil addi vel minui potest, quia semper est, quod est. Dazu vgl. Leo M. , Ep. 28 (Tomus ad Flavianum ) c. 2 (PL 54 , 759 A) : Nativitas temporalis illi nativitati divinae nihil minuit, nihil contulit.

27 S 6 (C 25°, 14) ; Symb. Athanasianum (D 40). Dieselbe Stelle wird auch in dem Anm. 24 angeführten Artikel von Thomas (im 3. Contra) angeführt mit der Schluß folgerung : Ergo Deus et homo sunt partes Christi.

23 Gemina substantia; vgl. Augustinus , In Ioh. tr. 78 , n. 3 (PL 35 , 1836) . 29 S 6 (C 25°, 14–16) . 30 S. oben S. 120.

31 Tatsächlich macht sich Robert von Melun , der „ die ausführlichste Darstellung

der Assumptus- Theorie bietet“ (Barth 237) , zu dem Satze: ,personam , quae Christus est, ex homine constare et Verboʻ, den Einwand: At inferes : Ergo persona, quae Christus est, non semper fuit. Nullum enim compositum est prius suis componentibus nec tempore nec natura (Christologie c. 28 ; Anders 64 ) . Er antwortet ( Anders 65) : Sicut persona, quae homo est, dicitur ex anima et carne constare ... , sic persona, quae Christus est, ex homine et Verbo constare dicitur. 125

Die Natur-Verschiedenheit und die Einung Dagegen spricht jedoch die unübersehbare geschichtliche Tatsache, daß die Assumptus -Theorie sowohl nach dem Lombarden 32 wie nach Robert von Melun 33 keine Zusammensetzung von Gott und Mensch, sondern eben nur die Annahme (assumptio) des Menschen durch die göttliche Person lehrt und daß es ausschließlich die Subsistenztheorie war, die sowohl nach dem Lombarden 34 wie nach Thomas 35 die Zusammensetzung der Person Christi aus der göttlichen und menschlichen Natur lehrt. Dementsprechend ist der von Cusanus zurückgewiesene Einwand so zu verstehen : Wie die menschliche Natur zusammengesetzt ist aus Leib und Seele , so ist auch Christus aus der göttlichen und menschlichen Natur zusammengesetzt. Diese These, daß "2 Christus nicht aus Gott und Mensch zusammengesetzt " sei, richtet sich also gegen die Lehre von der „ zusammengesetzten Person" , die Petrus Lombardus aus Johannes von Damaskus übernahm und durch seine Sentenzen mitten in den Gesichtskreis der scholastischen Erörterungen rückte 36. Thomas von Aquin hat diesen Ausdruck in der Summa theologiae dadurch gerechtfertigt, daß in Christus die eine Person in zwei Naturen subsistiere 37. Er berichtet jedoch schon im Sentenzenkommentar, daß sich seine Zeitgenossen zumeist ablehnend verhielten, und läßt dort auch selber diesen Terminus nur in einem uneigentlichen Sinne gelten 38. Auf den Sentenzenkommentar des Aquinaten scheint sich auch Nikolaus von Kues bei seiner Ablehnung zu beziehen 39. Der zitierte Text dürfte jedoch auch in irgendeinem Abhängigkeitsverhältnis zu Nikolaus Oresme stehen, der in dem Traktat De communicatione idiomatum, ebenfalls gegen eine Berufung auf das ,Symbolum Athanasii', eine „ Zusammensetzung Christi " aus zwei Naturen zurückweist und dabei zu der Formulierung kommt : „ Christus ist nicht zusammengesetzt aus Gott und Mensch, sondern Er ist Gott und Mensch. “ 40 5. An dritter Stelle fanden wir oben 41 in dem Buche „ Über das Sehen Gottes" gesagt, daß bei der hypostatischen Einung in Christus die Kluft zwischen der göttlichen und menschlichen Natur nicht durch eine „ mittlere Natur “ überbrückt wird. Der Vergleich mit dem Menschen zeigt auch hier seine Grenzen; denn der Mensch ist eine aus Geist und Leib „ gemischte “, „ mittlere Natur“, die „über sich die himmlische Natur der Engel und unter sich die irdische Natur, nämlich alle Naturen der Elemente hat“ und „ beide in sich vereinigt" 42. 32 Sent. III d. 6, c . 2 (574) : Non tamen fatentur ex duabus naturis esse compositum, divina scilicet et humana , nec illius partes esse duas naturas, sed animam tantum et carnem . 34 Sent. III d . 6, c. 3 (577). 33 Vgl . Barth 237-39. 35 In Sent. III d . 6 , q. 2 , a . 3 c. (III 241 ) . 37 S. theol. III q. 2, a. 4 c. 36 Vgl . Backes , Christologie 237-39. 38 In Sent. III d . 6, q . 2, a. 3 c. ( III 242) . Ähnlich Bonaventura , In Sent. III d . 6, a. 1 , q. 2 , concl. ( III 153 a) . Matthäus von Aquasparta lehnt die Lehre von der persona composita ab (Q. disp . 8 , resp., S. 147 ) . 39 Vgl. Anm. 24 u. 27. 40 Borchert 8 * , 2-20. Auch Konrad von Soltau († 1407 ) antwortet z . B. auf die Frage : Utrum persona Filii Dei post incarnationem fuerit composita , negativ (Borchert 99) ; zu Heymeric van den Velde vgl . Anm. 53. 41 S. 124. 42 S 18 n. 20 (H 48 50) ; vgl. Vf I 146. 126

Mittlerschaft ohne „mittlere Natur“

Der Ausschluß einer „mittleren Natur “ besagt positiv, daß in Christus die menschliche Natur un -mittelbar der göttlichen geeint ist. Eben darin sieht Cu sanus, wie das Folgende zeigt, auch eine Vorbedingung der Mittlerschaft Christi. Der ewige Logos ist für Nikolaus von Kues als solcher „ die Mitte “ , und zwar

nicht nur als die „mittlere Person“ zwischen dem Vater und dem Heiligen Geiste 43, sondern vor allem auch gegenüber der Welt als der universale Sinn Grund, durch den der Vater alles wirkt 44. Schon das macht Christus zum „abso luten Mittler“ und zu dem “ Mittel (medium ) der Einung“ , durch das allein die Menschheit mit dem Vater geeint werden kann 45. Die Heilsvermittlung geschieht jedoch nicht nur durch Christus als den „ absoluten Mittler “ , sondern auch mittels der Ihm geeinten Menschennatur. Mit dieser geeint , ist Jesus das einzige 9

Mittel, durch das der Vater alle Menschen an sich zieht“ 46.

Dazu muß aber die von Christus angenommene Menschennatur mit der „ abso

luten Mitte “ in der höchsten Weise geeint sein, die ohne Übergang in Wesens identität möglich ist, so nämlich , daß nichts zwischen beiden liegen und vermitteln könnte. „ Könnte nämlich irgend etwas zwischen der Menschennatur und der

absoluten Mitte' vermitteln (mediare), so würde die Einung noch nicht in höch ster Weise geschehen .“ 47 Die Verknüpfung (copulatio) der göttlichen schöpfe rischen und der menschlichen geschaffenen Natur erfolgt in Christus also ohne Mittel (sine medio) 48. Damit leugnet Cusanus, wie auch Thomas 49, jedwede der Menschheit Christi anhaftende Realität, die die Verknüpfung herstellen sollte. Das trifft insbesondere die spätere Lehre des Suarez von einem substantiellen Einungsmodus 50.

6. Die positive Bestimmung des Formalgrundes für das nunmehr feststehende unmittelbare Subsistieren der menschlichen Natur Christi in der göttlichen Per sonalität steht noch aus. Wir suchen ihr näherzukommen durch die Worte und

Bilder, in denen Cusanus das Zustandekommen der Einung beschreibt.

Die Menschwerdung läßt sich als „barmherzige, herabsteigende Verdemüti gung des Wortes “ betrachten. Ontologisch erfolgt sie jedoch so, daß die Mensch heit Christi durch größtmögliche Erhöhung „ nach oben geeint ist“ (sursum 43 D. Ign. III, 4 (H 131 , 10) ; vgl. Bonaventura , In Hexaemeron coll. 1, n.14 (V 331); Heymericus de Campo , Ars demonstrativa (Cod. Cus. 106, 74') ; Disputatio de potestate ecclesiastica ( ebd. 92') . 44 Vgl. VE I 84–98. Bonaventura widmet diesen Gedanken eine ausführliche Dar stellung : In Hexaemeron coll. 1 (V 229—35) .

45 De visione Dei c. 19 (P 109") ;vgl. S 281 (V2 273"b) : Hanc virtutem ... oportet esse divinam , quia inter intellectualem naturam et divinam nulla alia mediare potest. 46 De visione Dei c. 21 ( P 110' ) .

47 Ebd. c. 19 (P 109') ; vgl. S 20 (C 87 ", 10) : Ille Altissimus non potest esse talis, quod inter ipsum et Deum possit alia perfectior mediare creatura, quia ipse ,solus Altissimus“ ; S 36 (C 133', 13) : Tunc non est medium inter creaturam et Creatorem et est unio, qua nulla strictior esse potest. 43 De visione Dei c. 20 (P 110') .

49 In Sent. III d. 2, q. 2, a. 2, qcl. 3, resp. ( III 80) : In unione humanae naturae ad divi

nam nihil potest cadere medium formaliter unionem causans, cui per prius humana natura coniungatur quam divinae personae . 50

59 Vğl. Billot , De Verbo incarnato 73 f. 102—107. 127

Die Natur-Verschiedenheit und die Einung unita) 51. Sie kam nämlich in der Zeit zum Worte hinzu und „rückte bis zur Identität in der Person an Es heran" 52. Cusanus bevorzugt deshalb entschieden die Vorstellung der Annahme (assumptio) 53 und noch mehr die der Anziehung (attractio) 54 der menschlichen Natur durch die göttliche und die Veranschaulichung dieser Anziehung durch das Bild des Magneten 55, weil darin die gesamte Wirkursächlichkeit betont in Gott verlegt wird. Das Verhältnis von Anziehung, Annahme und Einung läßt sich logisch so bestimmen : Die menschliche Natur Christi wurde zugleich mit ihrer Erschaffung kraft der göttlichen Natur zur zweiten göttlichen Person hingezogen, von dieser angenommen und mit ihr geeint 56. Auf Grund dieser fortdauernden Anziehung „ subsistiert“ die menschliche Natur Christi nicht in sich, sondern in der göttlichen Person des Wortes und kann so auch nur in dieser sein 57. Nach anderen Vergleichen ist sie in die göttliche Natur eingepfropft 58 oder „von der Gottheit so wie mit einem Kleid umgeben (induta) , daß sie nicht für sich allein als Person bestehen kann “ 59. Sie „ hat nach oben ihren Stand" (sursum suppositata) 60 und ist unlösbar „ nach oben verwurzelt" (sursum radicata) 61 . So kommt es, daß „ die Wurzel oder Hypostase “ des Menschen Jesus Christus 51 S 51 (V₁ 81 ) ; vgl . Leporius , Libellus emendationis c. 6 (PL 31 , 1225) : Verbum Deus in hominem dignanter hominem suscipiendo descendit, et per susceptionem Dei homo ascendit in Deum Verbum. 52 S 271 n. 27 (H 148) . 53 Vgl . oben S. 119-21. - Bei der Begründung der Einung durch die Annahme (assumptio) der menschlichen Natur konnte sich Cusanus ebenso wie bei der Ablehnung jeder Art von Zusammensetzung auf Heymericus de Campo stützen ; vgl. Quadripartitus quaestionum supra quattuor libros Sententiarum etc. q . 9 (Cod . Cus. 106, 15' 17): Praemissa Dei et hominis unio non est formalis , personalis aut habitualis compositio, sed naturae humanae in persona divina ecstatica assumptio. 54 Vgl. bes. die Kapitel De visione Dei 19-21 ( P 109-110 ') ; ebd. 109 : Haec unio non est nisi attractio . 55 Vgl. außer Anm. 54 Conc. I, 2 (H 36 f. ) , wo Ambrosius , Ep . ad Sabinum (PL 16, 1193) als Quelle genannt wird ; De pace fidei c. 12 (P 119′) ; Cribr . ÎÎI, 21 (P 151 ′) . Ìn Predigt 209 stützt sich Cusanus bei der Ausdeutung des Magnet- Symbols auf Augustinus , De civ. Dei XXI , 4 (CSEL 40 , II 520) . Außerdem zitiert er dort : Petrus de Ebano, sowie: naturales et Albertus Magnus (V₂ 129—132 ) . 56 Vgl . Thom. v. A q., De rationibus fidei c. 6 ( 79ª) : In unione Dei ad creaturam non trahitur deitas ad humanam naturam, sed humana natura a Deo assumitur, non quidem ut convertatur in Deum, sed ut Deo adhaereat. 67 D. Ign. III , 4 (H 180 , 19—22) : Ipsa humanitas in ipsa divinitate Verbo unita est, ut non per se, sed in ipso subsisteret ...; aliter esse non potuit nisi in divina Filii persona. 58 S 13 (C 85 , 3-10) . Der Text beginnt : Petrus de Tarantasia in principio tertii dicit exemplum insertionis convenire incarnationi hoc dempto, quod non sint eiusdem naturae et speciei ; et loco situs intelligatur ordo, ut natura humana intelligatur in ordine in divinam inserta. Dies findet sich nicht im Toulouser Druck des Sentenzenkommentars. Ob Cusanus eine andere Redaktion vorlag? Inhaltlich steht dasselbe im Sentenzenkommentar des Thomas v. Aq. ( III d . 1 , q. 1 , a . 1 , resp.: III 9) . 59 D. Ign. III , 7 (H 140, 9) : Humanitas ... quasi per divinitatem induta et assumpta seorsum personaliter subsistere nequit ; vgl. unten S. 235 f. 60 D. Ign. III , 5 (H 133 , 4) . 61 D. Ign. III, 7 (H 142, 1 ) .

128

Die Einung als assumptio oder attractio göttlich ist; denn ,bei Ihm ist die menschliche Natur verwurzelt und sozusagen

hypostasiert in der göttlichen ... In keinem anderen Menschen ist die menschliche Natur so hoch erhoben, daß ihre Hypostase göttlich wäre. Er ist allein der Höchste '. “ 62

Nach einem weiteren Bilde betrachtet Cusanus die göttliche Hypostase als den

Mittelpunkt ( centrum ), in dem die Menschheit Jesu ihren Stand erhielt (sup positabatur) 63. Das Wort des Vaters hat sich nämlich die aus Leib und Seele be stehende Menschennatur ,so innig geeint, daß Es fortan den Personkern ( centrum

subsistentiae) dieser Menschennatur ausmacht“ 64. Wie das „Globusspiel“ ver anschaulichen soll, umschreibt Christus seiner erhabenen Menschheit nach gleich

sam den Umkreis der Schöpfung, als Gott ist Er zugleich der schöpferische Mittel punkt alles Lebens und aller seligen Kreaturen 65.

Die Erhabenheit der göttlichen Personalität erhebt Jesus Christus auch als Menschen über alle Schöpfung. Alle geschaffenen Selbstände subsistieren , an Ihm gemessen , nur in einem sekundären Sinne 68, da ihre Hypostase nicht mit dem ewigen Wesen Gottes identisch ist 67. Bei Christus ist dies der Fall. Er kann

sagen : „ Ich bin das Alpha und das Omega“ (Apk 1 , 8) . Ein solches „ Ich “ kommt „nur Gott und dem Herrn Jesus “ zu 68. 7. Versuchen wir nunmehr abschließend die cusanische Ansicht über den For

malgrund der hypostatischen Einung festzustellen. Ein zur menschlichen Sub stanz hinzukommender Einungsmodus wird, wie wir hörten, geleugnet. So bleibt vor allem noch die Alternative offen , ob sich die Abhängigkeit der menschlichen Natur von der Personalität des Wortes in der Weise auf das menschliche Sein erstreckt, daß die göttliche Seins-Wirklichkeit den menschlichen Daseinsakt er setzt, oder ob dieser Daseinsakt auch bei der Einung bestehen bleibt, so daß die menschliche Natur Christi, wenn sie aus der Subsistenz im Worte entlassen

62 63 64 65

Cribr. III, 19 (P 150') ; vgl. c. 20 (P 153-) . D. Ign. III , 7 (H 140, 16) . D. Ign. III, 5 ( H 134, 18—20). De ludo globi II (P 162 ): Ibi (in Christo ) enim idem est centrum vitae Creatoris

et circumferentia creaturae. Christus enim Deus et homo , Creator et creatura et omnium

beatarum creaturarum ipse est centrum ... idem identitate personali cum centro omnium.

66 Vgl. Thom. v. A q., In Sent. I d. 25, q. 1 , a. 2, sol. (1 607): Persona dicitur de Deo et creaturis ... secundum analogiam ; et quantum ad rem significatam per prius est in Deo quam in creaturis.

67 Zu dem Wort ,hypostasis' sei bemerkt : Dies besagt bei Cusanus zumeist einfachhin

eine für sich bestehende komplete Substanz (Suppositum oder Person ), einen „Selbstand“ . De principio ( n. 28, V2 254't) sagt er unter Anlehnung an den Proklos-Kommentar zum platonischen „Parmenides“ (vgl . die Anmerkungen 107—109 zu der Übersetzung von Feig 1): Unum igitur exaltatum est hypostasis omnium hypostaseon . Hier gewinnt ,hypo stasis den besonderen Sinn der alle geschöpfliche Selbständigkeit konstituierenden gött lichen Absolutheit.

In einem weiteren Sinne wird z . B. das Licht als ,hypostasis der

Farben bezeichnet; vgl. Wilpert, Anm . 3 zu Kap. 3 der Übersetzung „Vom Nicht

anderen “ (S. 119 f.). – Die beiden ersten Bedeutungen kommen auch den Worten sub sistere und subsistentia zu. Subsistere besagt zudem noch : bestehen aus ; vgl. S. 6 (C 25', 25) : Perfectus homo ex anima rationali (et humana carne) subsistens.

68 S 39 ( V1 92*b) : Christus dicit : Ego sum alpha et o.' Unde ,Egoʻ non convenit nisi Deo et Domino Iesu, quia alia supposita non proprie subsistunt, cum hypostasis eorum non sit aeternitas. Vgl. unten S. 197. 9 Haubst, Nikolaus v. Kues

129

Die Natur- Verschiedenheit und die Einung würde, für sich als Mensch weiterexistieren könnte. Das erste ist die , thomisti sche “ 69, das zweite die skotistische Sentenz 70. In den Predigten 2 und 6 schließt sich Cusanus bei der Umschreibung des 9

Personbegriffs an Heinrich von Oyta an und kommt durch diesen in das Fahr wasser der skotistischen Sentenz 71 ; denn er übernimmt von ihm nebst anderem

auch das eigentlich , formale“ Element, daß kein Aufstützen “ auf etwas Sub

sistenzgebendes vorliegen darf. Das entspricht durchaus der skotistischen „ Nicht Abhängigkeit“ . Heinrich , lehnt außerdem die thomistische Theorie von dem einen Sein in Christus ausdrücklich ab“ 72. Cusanus erklärt, daß der menschlichen Natur , durch irgendeine Kraft “ Subsistenz im göttlichen Suppositum gegeben werde 73

Schon in Predigt 13 zeigt sich eine Wende. Nikolaus von Kues ist dort näm lich an Thomas selbst, und zwar am Compendium theologiae, orientiert. In

freier Textwiedergabe entwickelt er den Gedanken, daß die Begriffe „ Person, Hypostase und Suppositum im Hinblick auf die Vollendung zum Sein ausgesagt werden “ 74. Das wird so erklärt: Der Stein ist auch schon ohne Seele ein Sup positum. Beim Menschen muß zur Mischung der Elemente die Vernunftseele hin

zukommen ; diese vollendet. „ So besteht (est) auch in Christus das Suppositum , die Hypostase oder die Person erst aus (der Vereinigung 75 von) Seele, Leib und Gottheit. “ 76 69 Vgl. Thom. v. A q., S. theol. III q. 17, a. 2 ad 2 : Illud esse aeternum Filii Dei, quod

est divina natura, fit esse hominis inquantum humana natura assumitur a Filio Dei in unitate personae. Thomas selbst unterschied noch nicht terminologisch zwischen esse essentiae und existentiae, wohl schon Aegidius Romanus , Quodi. II q. 2 ; quodl. V 9.3 (Hocedez , De unico esse 73—83) ; Theoremata de esse et essentia , theor. 5 (ed. Hocedez 19-26) . Zur Lehre der heutigen Thomisten vgl. z. B. Billot , De Verbo incarnato 51—70 99—127. H. Diepen (Revue Thomiste 50, 1950, 82—118 290—329) führt gegen die herrschende thomistische Ansicht beachtliche Gründe dafür an, daß Thomas selbst mit dem „ einen Sein in Christus “ der menschlichen Natur Christi nicht den

eigenen Daseinsakt absprechen wollte, sondern nur deren Subsistenz in einem einzigen Seins - Ganzen meinte.

70 Vgl. Duns Skotus , Op. Ox . III d. 6, q. 1 , resp. (Hocedez , De unico esse 120) :

Subsistentia ultra existentiam nihil addit nisi negationem duplicis dependentiae (actualis et aptitudinalis) ; ebd. (Hocedez 118 ) : Si ista natura dimitteretur, non oporteret sibi acquiri novum esse. --- Zur scholastischen Kontroverse über das eine Sein in Christus “

vgl. die von Hocedez edierten Texte (von Albert d. Gr. bis Durandus a S. Porciano) sowie Bay erschmidt 14—186.

il Vgl. oben S. 116. In denselben frühen Predigten übernahm Cusanus auch die sko

tistische Lehre von der distinctio formalis (Vf I 342) , zu deren Anwendung auf Gott später die coincidentia oppositorum in scharfen Gegensatz trat. 72 Lang , Heinrich Totting 209 .

73 S 6 (C 25°, 2) .

74 Diese Ausdrucksweise setzt noch nicht die reale Unterscheidung von Essenz und Exi

stenz voraus; vgl. dagegen Aegidius Romanus, Theoremata , theor. 5 (Hocedez 20 ): Esse est quaedam actualitas et quaedam perfectio essentiae ; ebd. S. 21 : aliquod com plementum superaddi ipsi essentiae ad hoc, quod essentia existat. 75 Hier übernimmt Cusanus mit der Subsistenzlehre (vgl . P. Lombardus , Sent. III d. 6, c. 3, n . 40: 576) in etwa auch die in Predigt 6 zurückgewiesene Vorstellung der „zu sammengesetzten Person“ Christi (s. oben S. 125 f. und unten S. 133 f.) . 78 S 13 (C 85°, 14–16 ); Thom .v. A q. , Compendium theologiae c. 211 (Mandonnet II 148 ; Hocedez , De unico esse 27) ; vgl. In Sent. III d. 6, q. 2, a. 2, resp. (Hocedez 8 ) : Hoc quidem esse est in re et est actus entis resultans ex principiis rei, sicut lucere est actus lucentis ; Vf I 63.

130

Der Formalgrund der hypostatischen Einheit Auf derselben aristotelisch-thomistischen Metaphysik des integrierenden Ganzen 77 entwickelt Nikolaus später in dem Buch „ Über das Sehen Gottes " seine Erklärung, daß in der Einfachheit des individuellen Seins des Sokrates das Sein der Teile zusammengefaßt sei (complicatur) und sich in den Wesensteilen und Körpergliedern entfalte (explicatur) , und zwar so, daß letztere nur in ihm existieren können, daß sich aber das unteilbare individuelle Sein nicht in das Sein der einzelnen Glieder aufspaltet und nicht darin aufgeht 78. Von daher ist in analoger Weise nämlich unter noch schärferer Hervorhebung der göttlichen Unwandelbarkeit, die das Eingehen eines Teil- zu -TeilVerhältnisses oder einer „ Zusammensetzung “ mit etwas Geschöpflichem ausschließt -- die cusanische Auffassung der hypostatischen Einheit in Christus zu verstehen. Von daher fällt auch klärendes Licht auf die Aussagereihe, die von Einung mit der göttlichen Natur spricht 79, sowie z. B. auf das starke Bild der Verwurzelung der menschlichen in der göttlichen Natur und auf Formulierungen wie diese : Christus existiert als Mensch so ,. daß es über Menschenart hinausgeht 80; in Ihm hat ein Geschöpf die hypostatische Einung mit der Quelle ihres Seins, nämlich mit Gott, erlangt 81 ; seine Menschheit ist so innig dem Leben des Wortes geeint, daß man des Wortes Gottes nicht ohne die angenommene Menschennatur und der Menschennatur nicht ohne das Wort teilhaftig werden kann 82. Besonders deutlich sprechen für die Einheit des Seins in Christus die folgenden zwei Stellen: „Keine Kreatur kann höher und vollkommener sein als die, die in der unmittelbarsten und höchsten Einung in der Ader ihres Seins subsistiert. “ 83 „Da Gott so in allem ist, daß alles in Ihm ist, ist es handgreiflich, daß Gott ohne Selbstveränderung bei gleichbleibendem Sein alles ist ", und zwar in der Einheit (des Seins) mit der größten Menschennatur Jesu, denn der größte Mensch kann in Ihm nicht anders als in der Weise des Größten (maxime) sein. “ 84 Dies alles steht ohne Zweifel in striktem Widerstreit zu der skotistischen Sentenz, die nur eine Einung der Menschheit Christi mit der Personalität des subsistierenden Wortes zuläßt. Es zeigt auch, wie eng sich Nikolaus von Kues in dem ontologischen Spitzenproblem der Christologie an Thomas von Aquin anschloß. Können wir aber deshalb Nikolaus hierin als „Thomisten " bezeichnen? Von der ontologischen Grundthese, auf der der Thomismus seine Lehre von dem einen Sein in Christus aufbaut, von der Unterscheidung von Essenz und Existenz in allem Geschaffenen und der darauf fußenden Erklärung , daß die Menschheit 77 Vgl. Comp. theol. c. 212 (Hocedez 27 f . ) : Secundum autem quod in toto considerantur (,partes ) , non habent suum esse, sed omnes sunt per esse totius. Si ergo consideremus ipsum Christum ut quoddam integrum suppositum duarum naturarum, erit eius unum tantum esse, sicut et unum suppositum. Zum Seinsbegriff des Sentenzenkommentars von Thomas vgl . Bayerschmidt 46-49. 78 De visione Dei c . 14 (P 106- ) ; vgl. unten S. 293 f. 79 Vgl. oben S. 117 u. 128. 80 D. Ign. III, 4 ( H 129 , 23) : existens homo supra hominem. 81 S 67 (V1 120 ) ; vgl . S 51 (V1 80 ) : ipsa humanitas Christi, cum sit in veritate essentiae suae unita Verbo vitae. 83 S 31 (V₁ 136™ ). 82 S 58 " (V1 113r ) . 84 D. Ign. III , 3 ( H 131 , 5) ; vgl . ebd . c. 4 ( H 131 , 30 — 132 , 2) .

9*

131

Die Natur-Verschiedenheit und die Einung Jesu ohne den kreatürlichen Seinsakt im göttlichen Sein existiere 85, hören wir bei Cusanus nirgends ein eindeutiges Wort. Es bleibt also offen, ob er sich durch das Schweigen darüber nur aus der sattsam diskutierten scholastischen Streitfrage der realen Unterscheidung von Essenz und Existenz heraushalten wollte 86 oder ob er diese ablehnte und eine Einung der Menschheit und Gottheit Christi im Sein annahm, ohne ein zweitrangiges und abhängiges Sein 87 der Menschheit Christi zu leugnen, indem er unter dem letzteren die von dem göttlichen Sein gewirkte und getragene Wirklichkeit der menschlichen Natur Christi verstand 88. c) Die communicatio idiomatum 1. Ein und derselbe personale Selbstand des göttlichen Logos ist in Christus der unmittelbare Träger der göttlichen und der menschlichen Natur und der diesen zugehörigen Wesenseigenschaften (idiomata). Deshalb trifft auch bei den Aussagen über Ihn oftmals Göttliches und Menschliches in einem Satz zusammen . Bei der logischen Überprüfung solcher Aussagemöglichkeiten entwickelte die abendländische Scholastik im Früh- und Hochmittelalter für die grundlegenden Fragen und im Spätmittelalter in ausgebreiteter Kasuistik die Prädikationsregeln über den „ Austausch der Wesenseigentümlichkeiten" (communicatio idiomatum) in Christus¹ . Cusanus stellt in Predigt 6 folgende Grundregeln auf: Die communicatio idiomatum beruht auf einer so wunderbaren, tiefen und innigen Einung des Wortes mit der menschlichen Natur, „ daß die göttliche Natur in Christus bleibt und (der menschlichen) ihren Selbstand mitteilt ". Daraus folgt erstens, daß sie sich jede Benennung (denominatio) oder Eigentümlichkeit (idioma) zu eigen macht, die der angenommenen menschlichen Natur (andernfalls) auf Grund ihres Selbstandes oder ihrer Personalität zukäme. Hierher gehören zum Beispiel (die Prädikate) : Mensch sein, Menschensohn sein, sowie das Tun und Leiden und die Bewegungen, die der konkreten menschlichen Natur, die als solche darauf angelegt ist, einen Selbstand zu bilden, zukommen. “ 2 85 Vgl. oben Anm. 69. 86 Diese Streitfrage spielte auch noch zu seiner Zeit in der Kontroverse zwischen Albertisten und Thomisten eine besondere Rolle ; vgl . Joh. de Nova Domo , De esse et essentia (ed. Meersseman I 91-191 ) sowie die Ausführungen Meerssemans ( ebd. 36-90) ; Heymericus de Campo , ,Tractatus problematicus', problema 16 (Meersseman II 53 f.) ; Verf. , Zum Fortleben Alberts d. Gr. 426–30. 87 Vgl. Thom. v. A q . , Q. disp . De unione Verbi a. 4 c. (Hocedez 26) . 88 Das letzte ist wahrscheinlicher, Es erklärt auch mit die Tatsache, daß Nikolaus so oft die Menschheit Jesu als geschöpflich bezeichnet ; vgl. unten S. 136 f. 1 Einen Überblick von der Früh- bis Spätscholastik s. bei Borchert 1-153 ; zu Thomas vgl. Backes , Christologie 289–301 . 2 Die letzten Zeilen (C 25 , 20-22) lauten im Lateinischen : sicut sunt : esse hominem, esse filium hominis ; sicut sunt : actiones, passiones et motus, qui humanae naturae concretive natae sunt competere, prout ipsa nata est esse suppositum. Dazu vgl. Heinr. Totting v. Oyta , Quaestiones Sententiarum q. 12 , a . 2 , concl . 1 , coroll . 1 (Clm 18364, 173 ; zit. nach Borchert 94 f. ) : Non solum actiones et passiones proprie dictae_et motiones locales etc. , quae competebant humanitati Christi, attribuuntur supposito Dei divino per communicationem idiomatum, sed etiam esse hominem alia (que? ) , quae sibi nata 132

4

Der „ Austausch der Wesenseigentümlichkeiten “

Zweitens: „ Umgekehrt lassen sich die Benennungen und Eigentümlichkeiten , die dem göttlichen Selbstand zukommen , auf Grund derselben Einung auch un mittelbar von dem Menschen der Gott ist in vollkommener Übereinstim mung mit dem Glauben aussagen. “ 3 Drittens: „Die göttlichen und menschlichen Eigentümlichkeiten kommen je doch Christus als Christus nicht in derselben Weise zu. Die göttlichen lassen sich .

nämlich von Ihm an Sich und schlechthin (de eo per se et simpliciter) aussagen, die menschlichen hingegen nicht an Sich , sondern in bestimmter Hinsicht (secun dum quid), nämlich auf Grund (ratione) der menschlichen Natur. “ 4

2. Der Sinn der Unterscheidung in der dritten Regel wird durch den Zusam menhang beleuchtet. Die angeführten sprachlogischen Erläuterungen dienen nämlich in Predigt 6 dazu, nach der vorangehenden kategorischen Ablehnung der Zusammensetzung Christi aus Gott und Mensch “ 5 die unausgesprochene

Frage zu klären , ob man Christus überhaupt als zusammengesetzt bezeichnen könne. Dazu wird erklärt :

,Zugeben muß man, daß Christus aus Leib und Seele zusammengesetzt ist. Er ist nämlich Mensch und der Art nach uns ähnlich , die wir ja auch so zusammen

gesetzt sind; aber diese Bezeichnung kommt dem göttlichen Selbstand nur infolge des Austausches der Wesenseigentümlichkeiten zu, nämlich auf Grund der Einung mit der menschlichen Natur.“ Daran schließt sich die folgende Anwen

dung der obigen Unterscheidung an : „ So erhellt, daß Christus nicht in der glei chen Weise als aus Vernunftseele und Fleisch zusammengesetzt bezeichnet werden kann wie seine gepriesene Menschheit; Christus kann es nur auf Grund des Aus

tausches der Eigentümlichkeiten, die Menschennatur als solche (per se) . “ 7 Zum weiteren Verständnis der dritten Regel und ihrer Anwendung hilft die thomistisch -Scheebensche Erklärung, daß Christus „vermöge seiner eigentüm lichen Konstitution Subjekt einer dreifachen Art von Prädikaten ist, nämlich

solcher, welche je einzeln ... dem Verbum und der ,caro' entsprechen, und solcher, welche aus der Einung der beiden Bestandteile entstehen “ 8. „ Demge

mäß kann und muß in dem einen Christus für jede dieser Arten ein ihr eigenes formales Subjekt vorhanden sein und Christus selbst als deren formales Subjekt näher bestimmt und spezifiziert werden. “ ,

Würde man von Christus ein Zusammengesetztsein aussagen ohne nähere Be stimmung, welche dieses Zusammengesetztsein auf die menschliche Natur bezieht, sunt competere, prout ipsa est nata esse suppositum sibi derelicta, patet. Daß Nikolaus sich hier auf Heinrich stützt, ist wohl kaum zu bezweifeln (vgl. oben S. 116). Bezeich

nenderweise wird das skotistische „sibi derelicta' (vgl. oben S. 130 Anm. 70) von ihm nicht übernommen .

• Zur 1. und 2. Regel vgl. z . B.Thom. v. A q., S. theol. III q . 16, a. 5 c. * S 6 (C 25', 18—25); vgl. Thom. v. A q. , In Sent. III, d. 11, a . 2 c. ( III 363 f.) : Esse autem simpliciter et per se est suppositi subsistentis ; alia vero dicuntur esse, inquantum suppositum in 5eis subsistit ... ; secundum convenit parti vel accidenti; S. theol. III q. 16, ? S 6 (C 25°, 25 f.) . Vgl. oben S. 126. 6 S 6 (C 25°, 16 f. ) . & So Scheeben, Dogmatik, Buch V, Nr. 601 ( III 9); vgl. Thom. v. A q., S. theol. III q. 16 , a. 5; Billuart, Cursus etc., De incarnatione disst. 11 , a. 1 ( III 39 f.).

a . 4 c.

9 Scheeben a. a. O. Nr. 605 ( III 12 ) . 133

Die Natur-Verschiedenheit und die Einung so würde damit die hypostatische Einung selbst als Zusammensetzung verstanden. Das zu verhüten, ließ Cusanus sich sehr angelegen sein. 3. Von dem Austausch der Wesenseigentümlichkeiten her erklärt Cusanus sodann auch „jene wunderbaren (oder erstaunlichen) Redeweisen, die der Glaube gebraucht 10, zum Beispiel : daß der Unsterbliche stirbt, der Unsichtbare auf Erden erschien, daß Gott, der sich nicht wandelt, von der Reise ermüdet 11 , daß der Leidensunfähige gekreuzigt und der von ewig her Gezeugte heute geboren wird; ähnlich, daß ein leibhaftiger Mensch überall ist, ein zeitlicher ewig, ein schwacher allmächtig usw. " 12 Als das Erstaunlichste bezeichnet es Cusanus im weiteren, daß " der Sohn Gottes zur Unterwelt hinabstieg" 13. All das beweist, wie überaus wunderbar die Einung in Christus ist, die „ niemand anders als im Glauben erfaßt" 14. Die Rechtfertigung der paradox klingenden Redeweisen dieser Art wird in der dritten Grundregel angedeutet: Das Göttliche und Menschliche wird in Christus „nicht auf dieselbe Weise " ausgesagt. Das eine Mal ist Christus als Gott, das andere Mal als Mensch das formale Subjekt. Deshalb läßt sich von Ihm „ der Personalität nach und schlechthin" sagen : Er ist oder war unsterblich, aber nur seiner Menschheit nach: Er war sterblich . Entsprechendes gilt von den ähnlichen Äußerungen. Es erübrigt sich jedoch, jedesmal „ seiner Menschheit nach" hinzuzufügen, wenn das ohnehin mitzuverstehen ist15. Nach Predigt 6 kommt Cusanus nur noch in kurzen Hinweisen auf die communicatio idiomatum zu sprechen. So bemerkt er in der Docta Ignorantia : weil der Mensch Jesus nicht von der Gottheit getrennt personal subsistieren könne, sei ,der Austausch der Wesenseigentümlichkeiten zuzulassen, so daß das Mensch66 liche mit dem Göttlichen ,koinzidiere" " 16. In der Cribratio Alchoran heißt es ebenso knapp : Von Christus wird auf Grund des Austausches der Wesenseigentümlichkeiten das, was wir der göttlichen und der menschlichen Natur zuschreiben, zugleich ausgesagt “ . Der Kardinal fügt dort für den Kalifen von Bagdad den Hinweis hinzu : „ Wenn du es wünschest, kannst du darüber von vielen gelehrten Christen ausgiebig informiert werden. “ 17 Von den Spitzfindigkeiten und Pietätlosigkeiten , in die mitunter seine nomina10 Mirabiles locutiones, quas fides asserit. 11 Vgl. Augustinus , In Ioh. tr. 15, n. 6 (PL 35 , 1512 ) . 12 S 6 (C 25 , 27-29) . Ähnliche Gegenüberstellungen s. z. B. bei Leo M., Ep. 28 (Tomus ad Flavianum) c. 2 (PL 54, 765 B 767 A; D. 144) ; Nikolaus Oresme , De communic. idiom. c. 2 (Borchert 6 * f. ) . 14 S 6 (C 25 , 28—34) . 13 Vgl. Symb. Apost. (D 6) . 15 Vgl. Nikolaus Oresme , De communic. idiom. c. 2 (Borchert 7 * ) : Unde bene simpliciter est vel erat immortalis , sed est et erat mortalis secundum humanitatem, et ita de consimilibus . . ., quamvis ista additio , secundum humanitatem ' semper sit in talibus intellecta ; Thom. v. Aq., S. theol . III q . 16, a. 8 c. 16 D. Ign. III , 7 ( H 140 , 6 f. ) : ut humana coincidant divinis. Das , coincidere dürfte auch hier, wie gewöhnlich bei Cusanus, von der Identität des logisch Verschiedenen in derselben Realität, hier der Person, zu verstehen sein. 17 Cribr. III, 20 ( P 151 ') ; vgl . Nikolaus Oresme , De communic. idiom. c. 3 (Borchert 9 ) : Modus autem huius beatae unionis ac communicationis praefatae a doctoribus Parisiensibus per modum doctrinae est traditus et sufficienter, prout est possibile, traditus et declaratus.

134

,Mirabiles locutiones' listischen Zeitgenossen bei Untersuchungen über die communicatio idiomatum verfielen 18, hielt sich Cusanus fern. Wenige Leitsätze genügten ihm. 4. Zwei Einzelheiten verdienen noch besondere Beachtung : Die erste besteht in der Bezeichnung Christi als ,Verbum Dei humanatum' und ,homo deificatus' 19. Beide Attribute liegen, wie der Kardinal bemerkt, „ innerhalb der Mauer des Paradieses " , d . h. jenseits der Grenze des rational Erfaßbaren20, oder hier genauer: in dem Geheimnis der Einung, das die Gegensätzlichkeit von Schöpfer und Geschöpf personal übergreift . Ihre paradoxe Prägung soll das Wunderbare der hypostatischen Einheit hervorheben. Sie sind demnach zu übersetzen: „das menschgewordene Wort“ und „der gottgewordene Mensch"21. Geschichtlich stellt ,humanatus ursprünglich eine mit ,homo factus ' gleichbedeutende Übersetzung aus dem Griechischen dar 22. Schon das gegen den Adoptianismus gerichtete Konzil von Frankfurt im Jahre 794 wies jedoch sowohl die Bezeichnung ,Deus humanatus' wie ,homo deificus' zurück 23. Durch die Habitus-Theorie wurde insbesondere der Ausdruck ,humanatus' verdächtig gemacht, weil sie ihm den abgeschwächten adjektivischen Sinn „angemenscht" unterschob 24. Thomas von Aquin verteidigt demgegenüber den vollen partizipialen Sinn „ Mensch geworden" 25. Die Bezeichnung Christi als ,homo deificatus' weist er jedoch zurück, weil diese der Assumptus- Vorstellung entspricht, als hätte ein menschliches Suppositum die göttliche Natur angenommen 26. Nikolaus von Kues scheint wie auch Heymericus de Campo und ihre Zeitgenossen nichts sonderlich Bedenkliches in den beiden Ausdrücken gefunden zu haben 27. Sonst hätte sie Nikolaus nicht in einem Betrachtungsbuch für die Benediktiner von Tegernsee gebraucht, und Heymeric hätte sie nicht in seine Argumentationen für die Konzilshoheit eingebaut 28. 19 Vgl. Borchert , Einfluß 73 ff. 19 De visione Dei c. 23 (P 111 ') : Iesu ..., quando intra Paradisi murum te intueor, admirabilis mihi occurris : Verbum enim Dei es humanatum et homo es deificatus. 20 Vgl. De visione Dei c. 10 12 17 (P 104 108 ') . 21 Diese Bedeutung von ,humanatus' geht auch aus folgenden Wendungen hervor : Verbum Dei esse incarnatum seu humanatum (De pace fidei c. 11 , P 118 ') ; Ipse est incarnata seu humanata Sapientia (S 285, V2 278 ™ ) ; vgl. S 11 ( C 44 , 17) , wo Christus als ,Sol iustitiae' (Mal 4 , 2) humanatus bezeichnet wird. 22 Dionysius Exiguus gebrauchte das Wort bei der Übersetzung des Symb . Nicaen.- Const. (D 86) . P. Lombardus zitiert es in einem Satze, den er Cassiodor zuschreibt (Sent. III d. 7, c. 1 f.: 587 ) . Thomas führt S. theol . III q . 16 , a. 7, obi . 3 einen Text des Gregor von Nazianz an, der beide Termini : Deus humanatus und homo dei23 D 312. ficatus, enthält. Zu Joh. von Damaskus vgl . Backes , Christologie 84 f. 24 Thom. v. A q. , In Sent. III d . 7 , q . 1 , a. 1 , resp . ( III 261 ) : Unde non proprie diceretur homo, sed humanatus, sicut homo vestitus non vestis dicitur. 25 In Sent. III d. 7, q. 1 , a. 2 ad 4 (III 266) . Bonaventura gebraucht häufig die Bezeichnung ,Deus humanatus' ; z . B. In Hexaemeron coll. 8 , 5-9 (V 370) . 26 S. theol. III q . 16, a. 3 ad 2.- Ebd . a. 7 ad 2-3 erkennt Thomas bei der Erklärung des Zitates aus Gregor von Nazianz die Bedeutung als richtig an : Es kam so , daß ein Mensch Gott und Gott Mensch wurde. 27 Die Ansicht des Nestorius (voluit naturam humanam in Christo esse deificatam) bezeichnet Cusanus im zweiten Vorwort der Cribratio Alchoran (P 124 ) als verurteilt, weil das Wort Gottes Fleisch geworden ist" , und nicht umgekehrt. 28 Heymericus de Campo , Disputatio de potestate eccles. (Cod . Cus. 106, 106 , 16 ff. ) : 135

Die Natur - Verschiedenheit und die Einung

5. Die zweite Besonderheit ist die Benennung Christi als Schöpfer und Ge schöpf. Denn die mittelalterlichen „Doktoren der Theologie lehnen den Satz : ,Christus oder der Sohn Gottes ist ein Geschöpf“, durchweg ab. Sie halten sich dabei an die Worte des Magisters “ . So schreibt Bonaventura 29 und verlangt, wie z. B. auch Thomas 30 und Skotus 31, mit dem Lombarden 32 die nähere Be stimmung, im Hinblick auf welche Natur Christus ein Geschöpf sei. Der Aquinate fügt im Sentenzenkommentar noch hinzu, nicht nur um die Irrlehre des Arius, sondern um falsche Aussagen zu vermeiden, dürfe man Christus nicht Geschöpf

nennen , denn diese Aussage gehe auf das Suppositum, das nach der Subsistenz lehre ungeschaffen ist 33

Ohne Zweifel ist das auch Cusanus theoretisch klar : „Der Sohn kann nicht im

eigentlichen Sinne als etwas Entsprungenes bezeichnet werden, da das Entsprun gene (principiatum) etwas anderes als der Ursprung ist. “ 34 Der Kardinal appro

biert sogar die nach der anderen Richtung hin zugespitzte Formulierung: „Dieser Mensch Christus hat die Welt erschaffen “ 35, und zwar tut er es mit Berufung auf „ die Identität der Person“ , und das, obwohl die menschliche Natur erst nach der >

Schöpfung (zur göttlichen) hinzukam .“ 36 Nikolaus sagt auch ausdrücklich , daß der Schöpfer kein Geschöpf sei, und bezeichnet es als Blasphemie, dem unsicht baren Gott Sichtbarkeit zuzuschreiben 37.

Diese Sätze haben jedoch Aussagen im Auge, die „ der Person nach und schlechthin “ von Christus gelten sollen. Daneben bestehen aber, wie wir hörten 38, auch solche zu Recht, die nur der Menschheit nach “ ausgesagt werden. Dem entsprechend macht Cusanus häufig von der Möglichkeit, Christus als Geschöpf

zu bezeichnen, Gebrauch39, und zwar ohne die von der Scholastik geforderte aus drückliche Sicherung, daß dies nur der Menschennatur nach zu verstehen sei. Dennoch wird man ihm dabei keinen dialektischen Mißbrauch der Sprache

nachsagen dürfen. „ Was nämlich nicht die Vermutung zuläßt, daß es von der göttlichen Person als solcher gelten solle, das kann“ auch nach Thomas von Primo modo (ut sponsus ecclesiae) est Deus humanatus, secundo (ut pastor) homo deifi catus, primo modo Christus et secundo ; vgl. Quadripartitus quaestionum supra quattuor

libros Sententiarum q. 9 (Cod. Cus. 106, 16", 1): Dei per incarnationem Verbi humanatio est per assumptionem carnis mediante spiritu hominis deificatio.

29* In Sent . III d. 11 , a. 2, q. 1 , concl. ( III 249 b) . 30 In Sent. III d. 11 , a. 2, resp . (III 363 f.).

31 Op. Ox. III d. 11, q. 1 (n. 2; Vivès ' XIV 415 a) ; vgl. Minges , Scoti doctrina II 341 f.

32 Sent. III d. 11 , c. 1—2 (597—600) . 33 Siehe Anm . 30.

34 De principio n. 17 (V2 253-6). 35 Vgl. Nikolaus Oresme , De communic. idiom. c. 1 (Borchert 6*) :: Iste homo creavit mundum ; Thom . v. A q . , S. theol . III . q . 16, a . 11 ad 3 .

36 S 271 n.. 27 ( H 148) ; vgl. S 163 (V2 65**) : Plenum est omni dulcedine videre hominem hominis Creatorem .

37 S 102 (V2 19 *): Non convenit Creatori, quod sit creatura ... Ascribi Deo invisibili, quod sit visibilis, blasphemia est ; vgl. Apologia (H 16, 19 f.) : Dicere imaginem coinci dere cum exemplari et causatum cum sua causa potius est insensati hominis quam errantis . 38 Oben S. 133.

89 Das erste Mal S 6 (C 104", 9) : Creator creaturam sibi univit. 136

Christus als „ Gott und Geschöpf zugleich " Aquin 40

ohne weiteres von Christus auf Grund der menschlichen Natur aus-

gesagt werden, wie man auch ohne weiteres sagt, Christus habe ,gelitten und sei gestorben und begraben worden ." 41 Cusanus schließt aber das besagte Mißverständnis dadurch aus, daß er jedesmal die Worte Schöpfer und Geschöpf gegenüberstellt und gemeinsam aussagt 42. Dieses Begriffspaar gehört also mit hinein in die Reihe der paradoxen Formulierungen (mirabiles locutiones) , in denen der Geheimnischarakter der hypostatischen Einung und deren Spannweite bewußt gemacht werden soll . Die Anregung zu dieser Redeweise konnte Cusanus bei Augustinus 43 , Raimund Lull 44 und Heymeric van den Velde 45 finden 46. Was ihm die Redeweise besonders nahelegte, war das Bestreben, die Inkarnation des göttlichen Wortes nicht nur als eine Gegebenheit für sich, sondern als die Geschöpfwerdung und höchste Offenbarung der göttlichen Schöpferkunst selbst 47 und als den Rückruf des Menschen zu dieser Schöpferkunst 48, kurz , als die einmalige personale Einung von Himmel und Erde , von Schöpfer und Schöpfung in Jesus Christus 49 zu verkünden. Christus ist nicht das eine oder das andere, Schöpfer oder Geschöpf, er ist auf Grund der hypostatischen Einung die „ Koinzidenz “ von beidem in einer Weise, die für den irdischen Menschen hinter der Mauer des Paradieses liegt.

40 S. theol. III q . 16, a. 8 c. 41 Symb. Apost. (D 6). 42 Vgl. z. B. S 39 (V₁ 92 ) : cuius est nomen Deum esse et hominem, Creatorem et creaturam; De ludo globi II (P 162') : Christus enim Deus et homo est, Creator et creatura; De visione Dei c. 22 ( P 111 ') : ita creatura, quod et Creator benedictus . — Daß das eine pantheistische Konfusion von Schöpfer und Geschöpf bedeute, kann bei Cusanus nur bei oberflächlicher Beschäftigung mit seinen Texten behauptet werden. 43 Ep. 187 (Ad Dardanum; zit. Conc. I , 4 ; H 45) : Unus Christus est Verbum et homo ; proinde quod ad Verbum attinet, Creator est Christus ..., quod vero ad hominem, creatus est Christus (CSEL 57, 87 f.). 44 Siehe Garcías Palou a. a. O 289 f. 45 Quadripartitus quaestionum supra quattuor libros Sententiarum q. 9 (Cod . Cus. 106, 16,4f.): Qui cum sit Creator_et creatura_naturaliter, utriusque praedicata propria recipit communiter. Unde per Prophetam (Ps 48, 3) recte dicitur, quod est simul in unum dives et pauper', id est factus infectus, novus sempiternus, passibilis impassibilis . 46 Im entfernteren philosophischen Vorfeld der christologischen Aussage , Creator et creatura steht sozusagen die Bezeichnung der göttlichen Ideen als Wesen, die „ schaffen und geschaffen werden “ , bei Eriugena . Zur cusanischen Auslegung dieser Dialektik s. Vf I 7779. 47 S 257 (V2 204- ) : Deus est Creator, sed Iesus est ipsa creatio, nam solum in Iesu apparet vis Creatoris. In eo enim revelatur omnipotentia Creantis : Deus creat creatione omnia. ,Creatio' autem est Iesus,,per quem fecit et saecula ' (Hebr 1 , 2 ) ... Iesus est vera Dei creatio, in qua vis seu ars creativa est creaturata ... Ex Deo modo naturae et artis exit Iesus ; modo naturae, quia ex substantia Patris Filius,,Deus de Deo' (Symb . Nic.Const., D 86) , modo artis, quia creatus. Et ita Genitus creatur et Naturalis artificiatur. Cusanus steht hier unter dem Einfluß Lulls ; vgl. unten S. 175, ferner (zu ,natura naturata') Vf I 70 Anm. 32. 48 S 285 (V2 278 ) : Creavit in tempore hominem Iesum per artem creativam, quem ad artem ipsam vocavit ... Iesus artem ipsam assecutus est. 49 Cribr. III , 4 ( P 144 ") kommt Cusanus bei der an die Mohammedaner gerichteten Argumentation zu dem Resultat: Utique ipse erit proprie Deus et creatura, hoc est: plenus et perfectus Deus, sicut plenus et perfectus homo; non sic aliae creaturae rationales ... Predigt 110 (V2 24 ") legt Christus die Frage an die Pharisäer in den Mund : Quomodo non creditis me Creatorem et creaturam? 137

Christus als „absolutes und beschränktes Größtes“

Das Buch „Uber das Sehen Gottes “ gipfelt gleichsam in den Worten : „Du bist Gott zugleich und Geschöpf, unendlich und begrenzt bist Du zumal ! Es ist unmöglich, Dich ,diesseits der Mauer' zu sehen. Du bist die Verbindung der göttlichen Schöpfer

und der menschlichen Geschöpf -Natur.“ 50

B. Jesus Christus als „ absolutes und beschränktes Größtes “ und als „ Vollendung des Universums“ »

I. DIE VORLÄUFIG - HYPOTHETISCHE KONZEPTION

DES „ ABSOLUT UND BESCHRÄNKT GROSSTEN ZUGLEICH a) Zur Klärung der Begriffe

1. Im I. Buch der Docta Ignorantia stützt sich Nikolaus von Kues auf das als Symbol aufgefaßte algebraische Verhältnis von Zahl und Vielheit sowie auf die

Vorstellung des Zusammenfalls der geometrischen Figurenvielheit in der Unend lichkeit, um den geistigen Blick auf die über Zahl und Figur absolut erhabene

göttliche unendliche Einheit und höchsteinfache Unendlichkeit sowie auf die Einheit in der Dreieinheit und die Dreieinheit in der Einheit hinzulenken 1

Insofern trägt das dortige Gottesbild , meta -mathematische Züge" . Meta -mathe das heißt hier : vom Mathematischen her erschaut, dadurch veranschau licht, aber ohne Proportion darüber erhaben, weil auf die göttliche Realität selbst gerichtet – ist auch der dort grundlegend gebrauchte Gottesname des „ absoluten

matisch

Größten“ (Maximum absolutum ). Cusanus führt diesen Begriff bei der Disposition der Docta Ignorantia in

folgender Weise ein : „ Als das Größte bezeichne ich das, in Vergleich zu dem nichts Größeres sein kann . Die überfließende Fülle (abundantia) kommt aber dem Einen zus. Somit fällt die Einheit, die auch die Seiendheit ist “, mit der 50 De visione Dei c. 20 (P 110') .

1 Vgl . Vf I 203—299 bes . 204 f.

2 Vgl. Anselm v Cant., Proslogion c. 15 (1 112) : Quod maior sit (Deus) quam cogitari possit. 3 „ Das Eine “ bezeichnet hier in neuplatonischer Sprache Gott, dessen ungeteilte Einheit die unbegrenzte Fülle des Seins in sich umfaßt und der zugleich die von Ihm ausgehende Vielheit von Wesen eint , indem Er sie an seiner Einheit teilnehmen läßt ; vgl. z. B. De

ven. sap. c. 21 ( P 209"-") und den dortigen Hinweis auf den „ Parmenides“ Platons (der insbesondere dem Kommentar des Proklos dazu gilt) sowie auf Dionysius. Cusanus zitiert dort De div. nom . II , 11 ( PG 3 , 649) . 4

4 Vgl. Thierry v. Chartres , Komment. zu Boethius , De Trin. (Jansen 11 *) : 138

Gott als Maximum absolutum

Größtheit zusammen . Da eine solche Einheit nämlich von aller Bezogenheit

(respectus) und Zusammenziehung ( contractio ) in jeder Hinsicht frei (univer saliter absoluta) ist, kann ihr offensichtlich nichts entgegengesetzt werden; denn sie ist die absolute Größtheit (maximitas) . Das absolute Größte ist also das Eine, das alles ist und in dem alles ist, weil es das Größte ist. Und weil ihm nichts

entgegengesetzt ist, so fällt zugleich das Kleinste mit ihm zusammen. So ist es in allem; und weil es absolut ist, so ist es alles mögliche Sein in Wirk lichkeit , da es nichts von den Dingen her bezieht (contrahens) , weil alles in >

ihm ist. “ 5 Danach bemerkt Nikolaus : „ Dieses Größte, das zweifelsohne nach dem Glau ben aller Nationen Gott ist, werde ich mich im I. Buche in einer über die mensch

liche Ratio hinausgehenden unbegrifflichen Weise unter Leitung dessen, der allein im unzugänglichen Lichte wohnt' ( 1 Tim 6, 16) , zu erforschen bemühen .“ 6 Besonders zu beachten ist die Vertiefung, die der Begriff des absoluten Größten in dem zitierten Text erfährt. Cusanus umschreibt dieses nämlich zunächst als

, das, in Vergleich zu dem nichts Größeres sein kann“ . Das vertieft er dann durch

die Gleichsetzung des absoluten Größten mit dem absoluten Einen zu der Quasi Definition , der auch die späteren Gottesnamen „ Dasselbe “ ( Idem) , „ Können Sein“ ( Possest) , „ Das Nichtandere “ (Non aliud) und „ Können“ (Posse) ent

sprechen : „Das absolut Größte ist in absoluter Weise alles das (omnia) wirklich , was ( überhaupt) sein kann . “ 7 2. Dem Begriffspaar „ absolut“ oder inkontrakt“ und „ kontrakt “ kommt bei Cusanus sowohl für die Erörterung des „ Verhältnisses “ von Schöpfer und Ge

schöpf wie für die Trinitätslehre und für die Christologie grundlegende Be deutung zu. Bei beiden Worten fällt eine sich entsprechende doppelte Sinn gebung auf.

„Absolut“ bezeichnet nämlich erstens die Uneingeschränktheit der göttlichen Wesensgröße, zweitens die über alle Zusammensetzung und Abhängigkeit erha bene Freiheit oder Souveränität des göttlichen Seins. Haec autem (necessitas) a Platone aeternitas, ab aliis unitas quasi onitas ab on Graeco, id est entitas , ab omnibus autem usitato vocatur Deus vocabulo.

5 D. Ign. I, 2 (H 7, 4–12) . 6 D. Ign . I , 2 ( H 7 , 12-15 ) . - D. Ign. I, 4 ( H 10, 27 f.) . In den Kapiteln D. Ign . I , 4–6 wird das analysiert, ver deutlicht und vertieft, wasbereits der angeführte Text aus Kapitel 2 (H 7,4—12) enthält . Der Sinn der Zeilen D. Ign. I , 4 (H 10, 12—16) wurde schon verschiedentlich umstritten.

Dem Vf erscheint die Übersetzung von ,cum sit omne id, quod esse potest mit : „ Da es (das Größte) alles ist, was (überhaupt) sein kann “, sowohl im dortigen Zusammenhang wie im Rahmen des gesamten cusanischen Denkens gesichert ; vgl. Lenz , Die docta

ignorantia 47. P. Wilpert (Das Problem der coincidentia oppositorum in der Philoso phie des Nikolaus von Cues, in : Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters Bd. 3, Leiden 1953, 39—55 ) vertritt neuestens wieder die Übersetzung: „ Da es alles ist, was es sein kann.“ Das scheint jedoch nur einen vordergründigen Sinn zu treffen. Daraus, daß Gott alles ist, was überhaupt sein kann , folgt nämlich, daß Er ist , was Er sein kann, nicht aber umgekehrt. Das erste unterscheidet zudem Gott nach Art einer von Cusanus intendierten Quasi-Definition von allem übrigen ; das zweite hat Gott mit jedem anderen Seienden gemeinsam , es sei denn , daß man schon das „ ist “ im Sinne reiner Aktualität

versteht, ohne daß diese damit ausgesagt ist. Vgl . auch unten S. 147 .

* Vgl. Vf I 124—29 (Die „ absolute“ und die „ kontrakte “ Dreieinigkeit des Sein) . 139

Christus als „absolutes und beschränktes Größtes*

„ Kontrakt “ besagt entsprechend: erstens, daß alles Geschöpfliche auf eine

spezifische und letztlich individuelle Größe beschränkt, und zweitens, daß es aus Wesenskomponenten zu seiner Einheit zusammengezogen ist ”. Dazu kommt drittens, daß diese beiden Bedeutungen oftmals, besonders bei dem adverbialen Gebrauch der Worte (absolute – contracte), zu einer Einheit verschmelzen. Dann bezeichnet „absolut “ vor allem die Identität des göttlichen Seins mit sich selbst sowie dessen vollkommen -wirkliche Unbedingtheit oder Notwendigkeit, und ,kontrakt“ die Besonderung und Konkretisierung 10 des -

kontingenten, in der Verquickung von Möglichkeit und Wirklichkeit existie renden geschöpflichen Seins. Das Ineinanderspielen dieser Bedeutungen 11 macht

es unmöglich , in allen Zusammenhängen die beiden Worte im Deutschen gleich

lautend zu übersetzen . Im christologischen Bereich genügt jedoch im allgemeinen die Wiedergabe mit „ unbeschränkt “ oder „uneingeschränkt“ sowie , beschränkt“ oder „ ein - geschränkt“. 3. Das Begriffspaar „ absolut — kontrakt“ dient, wie wir schon sahen, Cusanus dazu, Gott als das absolut Größte “ über die Proportionen des innergeschöpflich

Beschränkten und Zusammengezogenen zu erheben. Dieselbe Gegenüberstellung ermöglicht es auch, im II . Buche der Docta Ignorantia das Universum als „zusam mengezogenes Größtes “ und so zugleich als Abbild Gottes als des absoluten Größten zu betrachten 12. Wie nämlich alles durch die eine absolute Größtheit das ist, was es ist, so faſt

auch das Universum in seiner universalen Einheit insofern alles als ein „ Größtes“ zusammen, als „ alles, was vom Absoluten ist, in ihm und es in allem ist“ 13. Im Unterschied zum Absoluten existiert das Universum jedoch nur kontrakt;

das heißt „ in Vielheit eingeschränkt“: „Außerhalb der Vielheit, in der es ist, hat es keine Subsistenz"“ , da es

„„von

der Zusammenziehung (ins

individuell

Beschränkte) nicht gelöst (absolvi) werden kann“ 14. Im Vergleich zur göttlichen Einheit ist die des Universums also „ in Vielheit ein - geschränkt, gleich wie die

Unbegrenztheit in Begrenztheit, die Einfachheit in Zusammensetzung, die Ewig keit in die Zeitenfolge , die Notwendigkeit in die Möglichkeit usw.“ 15 Diese kontrakte Existenzweise des Universums besagt jedoch nicht, daß das Universum nur die Summe seiner Glieder sei . Seine Einheit ist wohlgesichert dadurch , daß alles Geschaffene in der göttlichen Einheit ideell enthalten und auf

diese hinbezogen ist 13 und daß der Einheit der Schöpfung im göttlichen Welten plan eine intentionale Priorität vor den Teilen und der gegensätzlichen Beson 9 Vgl . bes . D.Ign. II, 7 (H 82, 6—17 ; Vf I 103 124—130.

10 Vgl. D. Ign. II, 4 (H 73, 2) : contractum seu concretum . 11 Zu beachten ist, daß Cusanus den Sinn beider Worte von der lateinischen Etymo logie her noch stärker als Einheit empfand.

12 Vgl. D. Ign. II, 4 (Überschrift ): Quomodo universum, maximum contractum tantum , est similitudo absoluti.

13 D. Ign . I , 2 ( H 7 , 21 f.) . Diese Ähnlichkeit vertieft sich noch durch die „ Dreieinheit des Universums“ ; vgl. D. Ign. II, 7—10 ; Vf I 107—144. 14 D. Ign. I, 2 ( H 7 , 19—23) . 15 D. Ign . II , 4 ( H 73 , 30 – 74 , 3 ) .

16 Vgl. D. Ign. II , 2-3. 140

Die „ kontrakte“ Existenzweise des Universums

derung des Konkreten zukommt 17. In diesem Sinne ist der Satz zu verstehen , daß „ Gott durch das All in allem ist und alles durch das All in Gott“ 18. Die verschiedene Weise, in der Gott als das absolute und das Universum als

das beschränkte Größte „ in“ den Einzeldingen sind, umreißt Cusanus so : „ Ob wohl das Universum weder Sonne noch Mond ist, ist es dennoch in der Sonne Sonne und im Mond Mond. Gott aber ist nicht in der Sonne Sonne noch im Monde

Mond ; Er ist vielmehr das, was Sonne und Mond sind (est) , ohne Vielheit und Verschiedenheit. “ 19 Das erste entspricht der Eingeschränktheit des Universums,

das nur im konkreten , dies und das “ existiert; das zweite folgt daraus, daß Gott als das eine absolut Größte unmittelbar, ohne einzutauchen und ohne zu diesem

oder jenem zusammenziehbar zu sein, ewig, in gleicher Weise und unbeweglich in Identität mit Sich selbst verharrt “ 20.

Was die Quellen angeht, die Nikolaus zu dieser Sprache und Darstellung hal fen , so ist festzustellen , daß sich ein ähnlicher Gebrauch der Worte contractio und contractum auch schon bei Albert und Thomas 21 , Duns Skotus 22 und Raimund Lull 23 findet. Gedanklich scheint Cusanus auch hier schon auf dem Kommentar des Proklos zu Platons „ Parmenides “ zu fußen 24. 4. Der formale Grund, weshalb Cusanus das Universum als kontrakt bezeich

net, liegt nach dem Gesagten nicht in der Endlichkeit des Universums, sondern darin, daß es sich weder aus Göttlich - Transzendentem noch aus subsistierenden

Universalien 25, sondern aus individuell eingeschränktem Sein aufbaut. Die „Zu sammenziehung“ bezeichnet nämlich jeweils das, was etwas zu einem „dies oder n

das “ macht 26

Nichtsdestoweniger stellen die Universalien methaphysische Ordnungseinheiten dar, in denen sich das Individuelle stufenweise zur Einheit des Universums auf baut oder in denen sich umgekehrt die Einheit des Universums, d. h. alles ge schaffenen Seins, bis zur endgültigen Einschränkung im Individuellen entfaltet : 17 D. Ign. II, 4 (H 75, 4 ff .); vgl. ebd. H 73, 14—16 : Mundus sive universum est con tractum maximum atque unum opposita praeveniens contracta , ut sunt contraria.

18 D. Ign. II , 5 ( H 76, 24 f. ) ; vgl. c. 4 (H 75, 13–18). 19 D. Ign. II , 4 ( H 74 , 19-21).

20 D. Ign. III, 1 (H 119,4–8) . 21 Bei Boethius hat ,contrahere' noch einen ganz andern Sinn : genus vero tam species quam ipsarum quoque specierum individuas contrahit singulares personas ( In Isagogen Porphyrii commenta, ed. 2: CSEL 48, 229, 20) . Es besagt die Bildung eines Allgemeinbegriffes und dessen Gültigkeit. Albert d. Gr. kehrt diese Bedeutung um : ratio boni creati contrahitur ad hoc et illud per differentias et materiam (De bono tr. 1 , a. 2, ed. Colon. 28, 8, Z. 35 ; vgl . ebd. Z. 23 f.; a.7, S. 13, Z. 15) . Er versteht somit unter con tractio die Differenzierung des Seienden vom Transzendentalen über Gattungen und Ar

ten bis zum Konkreten . Thom. v. A q. setzt diesen Begriff zugleich auch in Gegensatz zum Unendlichen : S. theol. I q. 7 , a. 2 c. 22 De primo principio c. 4 , concl. 8 (Müller 104). 23 Liber de forma Dei (Cod. Cus. 83, 96 ', 58 ff.).

24 Vgl. besonders die Gegenüberstellung des unum coordinatum und des unum exalta tum, die in den cusanischen Anmerkungen in Cod . Cus. 186, f. 20'ff, mehrfach wieder kehrt ; ferner J. Koch , Anm. 56 zu .„ Über den Ursprung “ . 25 Vgl . D. Ign. II, 6 ( H 80, 8) : Universalia non sunt nisi contracte actu. 28 26 Vgl. D. Ign. II, 4 ( H 75 , 13) : Contractio dicit ad aliquid ut ad essendum hoc vel illud. 141

Christus als „absolutes und beschränktes Größtes“ „ Die erste allgemeine Einschränkung geschieht durch eine Mehrzahl von Gat

tungen, die sich notwendig stufenweise (voneinander) unterscheiden . Die Gat tungen aber subsistieren nur kontrakt in den Arten und die Arten nur in den

Individuen, die allein (als solche) wirklich bestehen .“ 27 Das Prinzip der stufen weisen Unterscheidung herrscht auch unter den Individuen der Arten. So kommt es, daß „ nichts mit dem anderen zusammenfällt“ 28.

5. Auf dieser Stufenordnung des kreatürlichen Seins im Universum beruht schließlich eine dritte Betrachtungsweise des Größten 29. „Da das Universum nur in Vielheit eingeschränkt subsistiert “ so heißt es schon in der Disposition des Gesamtwerkes der Docta Ignorantia ,- „ wollen wir unter diesen vielen Dingen ein Größtes suchen, in dem das Universum in der größten Weise (maxime) und am vollkommensten , gleichsam in seinem Ziel (Kulminationspunkt), subsistiert und sich aktuiert . “ 30

Auf dieses innerkosmische Größte wendet Cusanus mitunter dieselbe latei nische Bezeichnung an, die er auch für das Universum gebraucht: maximum con tractum 31. Wir werden diese jedoch sinngemäß, wenigstens zunächst, nicht mit „ das beschränkte Größte “ , sondern mit „ das größte Beschränkte “, oder genauer:

„das größtmögliche Beschränkte “ 32, zu übersetzen haben . Durch die nähere Be stimmung des Grades der Beschränkung, die innerhalb des Universums in Gat tungen, Arten und Individuen erfolgt, ergibt sich indes eine zwar nicht formale,

aber sachliche Bedeutungsgleichheit des „größten (zur Spezies oder zum kon kreten ,dies oder das“) Beschränkten “ und des (zur Spezies oder zum ,dies oder das ) „ beschränkten Größten“ . Der Abschluß der auf die Erfassung der hypostatischen Einung hinzielenden

Gedankenlinien zu Anfang des III. Buches der Docta Ignorantia beendet das dialektische Spiel mit den Begriffen des Größten und Beschränkten damit, daß er eindeutig als letzten Sinn von ,maximum contractum' die Übersetzung: das

„ Beschränkte -Größte “ erzwingt. Sofern das größte Beschränkte nämlich mit dem Absoluten , das als das vollkommenste, über all unsere Fassungskraft hinaus

egende Ziel der allgemeine Endpunkt ist (terminus) , geeint wird, nennt Niko laus Jesus , das Größte, das zugleich beschränkt und absolut (das Größte) ist“ 33 Der logischen Ordnung nach tritt also die menschliche Natur Jesu, zunächst und

vorläufig als solche betrachtet, als das größte Beschränkte ins Blickfeld . In dem göttlichen Selbstand ist sie -- in weit prägnanterem Sinne als das Uni 27 D. Ign . III , 1 ( H 120, 3-6) . 28 D. Ign. III , 1 ( H 119, 15).

29 D. Ign. I , 2 (H 7, 26) : Tertio loco maximum tertiae considerationis subsequenter manifestabitur.

30 D. Ign. I , 2 (H 8, 1-3) . 31 D. Ign. III, 2 (Überschrift): Maximum contractum pariter est et absolutum.

32 D. Ign. III , 1 (Überschrift): Maximum ad hoc vel illud contractum quo maius esse nequeat

33 D. Ign. I , 2 (H 8,4–6) . — Daß Gloßner ( 133) den Begriff des Maximum con tractum auf die „ ins Unendliche gesteigerte, d. h. vergöttlichte menschliche Natur“ aus

legt, zeigt nur, wie wenig er von Cusanus verstanden hat und daß der Schluß auf Pan theismus auch hier nicht berechtigt ist . 142

Zur Synthesis dieses Begriffes

versum - das beschränkte Größte34, in dem Sinne nämlich , daß Christus als Gott und Mensch das „ zugleich absolut und beschränkt Größte “ zu nennen ist.

Das Universum ist das „ (nur) beschränkte Größte“ (maximum contractum tantum ), sofern seine Größtheit nur in der Beschränktheit existiert. Christus aber ist Maximum contractum , erstens weil seine individuelle Menschennatur

die größte im Bereich des individuell Wirklichen und Möglichen ist, wie wir näher sehen werden; zweitens weil Er seiner Personalität nach zugleich und

schon vor der Einschränkung in die menschliche Individualität das göttliche

absolut Größte ist. So führt der cusanische Gedankengang über das „ größte Beschränkte “ zum „ beschränkten Größten“ hin. In dem Spiel“ dieser Begriffe enthüllt sich ein tiefer Ernst, mit dem Cusanus

um einen sprachlichen Ausdruck für die kosmische und darüber hinaus für die in Gott hypostasierte meta -kosmische Größe der Menschheit Jesu ringt. b) Weg und Methode der Gedankenführung in den ersten Kapiteln des III. Buches der Docta Ignorantia

1. Das 1. Kapitel im III . Buche der Docta Ignorantia faßt eingangs die Ergeb nisse der beiden ersten Bücher in die Sätze: „ Die Einheit des Größten gründet auf absolute Weise in sich eingeschränkte Weise. “ 1

die Einheit des Universums ist in der Vielheit auf

Daran knüpft sich eine Kette von Schlußfolgerungen, die man mit Heymeric van den Velde als „ fundamentale Lehrsätze über das ganze Universum“ 2 be zeichnen kann. Diese lassen sich in folgende drei Sinnabschnitte gliedern :

a) Die Gesamtheit des geschaffenen Seins ist ausdifferenziert zu einer in Gattungen , Arten und Individuen gegliederten Stufenordnung, die – in unüber brückbarem Abstand — „ zwischen “ dem absolut Größten und Kleinsten besteht und innerhalb deren jedes Einzelding im Rahmen seiner durch Gattung und Art -

abgesteckten Grenzen bleibt (H 119,9 – 120, 24) . b) Zwischen den Arten und Individuen bildet die Stufenordnung eine inner

kosmische Verknüpfung (H 120, 24 – 121 , 21 ) . c) Innerhalb der Stufenordnung der Dinge hat alles Geschaffene – wie jede Zahl in der sich aus der Eins entfaltenden Zahlenreihe — seine Singularität und Individualität (H 121 , 21 – 123,9).

Dieses 1. Kapitel der cusanischen Christologie rollt somit das Gesamtbild der in der Einheit des Universums zusammengefaßten und geordneten Vielheit und

Mannigfaltigkeit des Geschaffenen auf. Der erste der drei Abschnitte 3 zielt aber 34 Dazu vgl . Joh. von Damaskus , De fide orthod . III , 7 (PG 94 , 1011f.): (Verbum ) suscepto corpore minuitur et contrahitur (ouoTÉdetai), divinitaté vero circumscrip tionem respuit; ferner unten S. 180 f.

1 D. Ign. III, 1 (H 119, 8—9) . 2 Dessen Theoremata totius universi fundamentaliter doctrinalia (Cod. Cus. 106, 63 ' — 65 ") bilden eine Kette von 43 Syllogismen .

• Die beiden andern Abschnitte kommen sonst verschiedentlich zur Sprache. 143

Die „Handleitung " zur hypostatischen Einung in der Docta Ignorantia darüber hinaus schon stringent auf die Begründung der These hin, daß es das größtmögliche individuell Beschränkte nicht ohne das Absolute (Unbeschränkte) geben kann . Er baut sich in folgenden 12 Schlußfolgerungen auf : „Die Einheit des Universums ist in der Vielheit auf eingeschränkte Weise. Die vielen Dinge, in die das Universum eingeschränkt ist, können aber keineswegs in höchster Gleichheit miteinander übereinstimmen 5 ; sonst hörten sie nämlich auf, viele zu sein . Also muß sich alles entweder der Gattung, Art und Zahl , oder der Art und Zahl , oder (wenigstens) der Zahl nach unterscheiden, so daß jedwedem seine eigene Zahl -Maß - Gewicht-Bestimmtheit zukommt 8. Daher unterscheidet sich alles voneinander in Stufen, so daß nichts mit dem anderen zusammenfällt. Nichts Beschränktes kann also genau die Beschränkungsstufe des andern mitbesitzen, so daß notwendig eines jeweils das andere übertrifft oder von ihm übertroffen wird.“ 9 Das vorläufige Resultat dieser drei ersten Gedankenschritte besteht darin, daß sich aus der allgemeinen Einschränkung des Kreatürlichen keine allgemeine Verflachung oder Nivellierung der Schöpfungswerke Gottes ergibt. Diese bilden vielmehr eine Hierarchie des Seins und der Werte, die vom Größten bis zum Kleinsten hinab- und vom Untersten bis zum Höchsten hinaufreicht. Dieses „ Größte “ und „ Kleinste" bleibt allerdings im Rahmen der beschränkten aktuellen Wirklichkeit des Universums. Legt man an die geschöpfliche Stufenordnung den Maßstab des Absoluten an, so ergeben sich die drei weiteren Schlüsse : „Zwischen dem (absolut) Größten und Kleinsten besteht also alles Beschränkte 10, so daß es gegenüber jedwedem gegebenen Beschränkungsgrad einen größeren und einen geringeren geben kann, jedoch nicht so, als könnte dieser Vorgang bis zum aktuell -Unendlichen fortschreiten. Eine Unbegrenztheit von Stufen ist nämlich unmöglich 11. Unbegrenzt viele Stufen annehmen hieße nichts • 4 D. Ign. III , 1 (Überschrift) Maximum ad hoc vel illud contractum, quo maius esse nequeat, esse sine absoluto non posse. 5 Vgl . D. Ign. I , 3 (H 9, 6 f. ) : Patet non posse aut duo aut plura adeo similia et aequalia reperiri, quin adhuc in infinitum similiora esse possint; D. Ign. III, 1 (H 122, 4—14) ; unten S. 148 Anm. 29 ; Thom. v. A q. , S. c. gent. III , 97 (337 a) : Unde patet quod rerum diversitas exigit, quod non sint omnia aequalia, sed sit ordo in rebus et gradus. Die Vielheit der Dinge setzt individuelle Verschiedenheit in der Größe und Eigenart des Seins voraus . Vollkommene Gleichheit ist nur in der göttlichen Wesenseinheit möglich. Die zweite göttliche Person ist daher die „ Gleichheit" schlechthin. 7 Vgl. Aristoteles , Topica I , 7 ( 103 a) , nach der Übersetzung, die unter den Werken des Boethius ( PL 64 , 914 B) gedruckt ist ; Boethius , De Trinitate c. 1 (PL 64, 1249 C) : Trium namque rerum vel quotlibet tum genere, tum specie, tum numero diversitas constat; ferner die mittelalterlichen Kommentare zu dieser Schrift, z. B. Clarenbaldus , De Trinitate (Jansen 50 * , 8 ff.) . 8 Ut unumquodque in proprio ,numero, pondere et mensura ' (Weish. 11 , 21 ) subsistat; vgl. Vf I 210 f. D. Ign. III , 1 ( H 119 , 9—18 ) . Näheres über die hierarchische Gliederung des Kosmos s. Vf I 52-59 218-24. 10 H 120, 21 f .; vgl . D. Ign. II , 10 ( H 99 , 7) sowie D. Ign. I , 20 (H 40 , 27) : (simplicissimum maximum) cum solo minimo coincidere potest. 11 Vgl. Aristoteles , Met. II , 2 (994 a 1 ff.) ; Phys. VII, 1 (242 a 15 ff. ) ; dort wendet sich Aristoteles gegen die Annahme einer unendlichen Ursachenreihe ; auch im Hinblick 144

Das innerkosmische „ Größer und Kleiner“ zwischen dem Größten und Kleinsten anderes, als daß es keine (Stufe) gebe, wie wir im I. Buche von der Zahl dar legten 12

Für das Beschränkte kann es also keinen Auf- oder Abstieg bis zum absolut Größten oder Kleinsten geben.

Wie sich also die absolut größte göttliche Natur nicht so verkleinern kann, daß

sie in eine begrenzte oder beschränkte überginge, so kann sich auch die Beschrän kung der beschränkten nicht so sehr mindern, daß sie vollkommen unbeschränkt (absoluta ) würde. “ 13

Damit ist die unüberbrückbare Kluft zwischen dem Beschränkten und Unbe schränkten aufgerissen : Mag sich das innerkosmische Größer und Kleiner “ noch so sehr steigern , so reicht doch das ganze Universum unmöglich bis an einen der in Gott identischen Grenzfälle des absolut Größten und Kleinsten , der Unend lichkeit und unteilbaren Einfachheit Gottes , heran .

Für ein Einzelwesen leuchtet diese Unmöglichkeit wegen der weiteren Ein schränkung in Gattung, Art und Individualität noch leichter und gründlicher ein. Die Leitsätze 7–10 führen das, auf die drei ersten Konklusionen zurückgreifend, aus :

, Nichts Beschränktes erreicht also, da es weniger oder mehr beschränkt sein kann , die Grenze des Universums, auch nicht die der Gattung noch die der Art ...

Wie es also das Individuum, der Natur des Beschränkten zufolge, nur inner halb der Grenze seiner Art geben kann, so kann (erst recht) kein Individuum die Grenze seiner Gattung und des Universums erreichen. Zwischen mehreren Individuen der gleichen Art herrscht notwendig ein Stufen unterschied in der Vollkommenheit. Daher ist kein Individuum einer Art höchst

vollkommen , so daß es (darin) kein vollkommeneres geben könnte, noch kann es so unvollkommen sein, daß es nicht noch ein unvollkommeneres geben könnte 14

Keines erreicht also die Grenze ( terminum ) seiner Art. “ 15 Daran knüpft Cusanus zwei letzte, zusammenfassende Konklusionen :

„ Es gibt also (überhaupt) nur eine Grenze der Arten oder Gattungen oder des Universums: das ist der Mittelpunkt, der Umfang und die Verbindung von allem. Auch das Universum erschöpft die unbegrenzte, absolut größte Macht Gottes nicht so, als bezeichne es die Höchst -Grenze für Gottes Macht. Somit erreicht das Universum die Grenze der absoluten Größtheit nicht, noch erreichen die Gattungen die Grenze des Universums, noch die Arten die Grenze der Gattungen , noch die Individuen die Grenze der Arten, so daß alle Dinge das, was sie sind, in wohlgefügter Weise zwischen dem Größten und Kleinsten auf die Glieder des Beweisverfahrens betont er häufig, daß man „ nicht ins Unendliche gehen kann “ , z.B. Anal. post . I , 19–22 ; Met. IV, 4 (1006 a 8) . 12 D. Ign. I, 5 (H 12, 6—8) : Si numerus ipse esset infinitus, quoniam tunc maximus actu , cum quo coincideret minimum, pariter cessarent omnia praemissa (harmonia atque ipsa entium pluralitas).

13 D. Ign. III, 1 ( H 119, 18—27). 11 Dies wird näher in dem bezeichneten zweiten Abschnitt des Kapitels erklärt ; vgl. Vf I 138 f.

15 D. Ign. III, 1 (H 120, 1-13) . 10 Haubst, Nikolaus v. Kues

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Die „Handleitung “ zur hypostatischen Einung in der Docta Ignorantia

sind und Gott Ursprung, Mitte und Ziel des Universums wie der Einzeldinge ist und ein jedes, ob es nun auf- oder absteigt oder zur Mitte hinstrebt, sich Gott nähert. “ 16

Im Hintergrund dieser Leitsätze hebt sich gleichsam eine Cusanus vertraute

doppelte Symbolvorstellung ab 17 : Es ist zunächst die einer Vertikalen, die vom unendlich Kleinen bis zum unendlich Großen verläuft und an der die gesamte

Hierarche des Geschaffenen nur in beschränkter Weise partizipiert, wobei der proportionslose Abstand vom Absoluten stark hervortritt. Die zweite Hälfte der Sätze betrachtet Arten und Gattungen und das Universum gleichsam als kon

zentrische Kreise um das Individuelle und Gott als die Peripherie des Ganzen und zugleich als die (grenzsetzende) „Grenze “ der Gattungen, Arten und des Individuellen. Mit dieser göttlichen Transzendenz wird aber zugleich auch die Immanenz Gottes im Ganzen und im Einzelnen betont: Gott ist der meta physische Mittelpunkt. Sowohl der Umkreis wie der Mittelpunkt der Dinge und

das Prinzip ihrer Verknüpfung 18 ist der transzendente Gott. Was aber bedeutet dieser Aufriß der Gesamtheit des Universums für die cu

sanische Christologie? Kurz gesagt, alles andere als einen Beweisversuch oder ein Postulat für die Notwendigkeit der Inkarnation. Denn einerseits ist die Er habenheit und Unerreichbarkeit Gottes gegenüber der kreatürlichen Stufenord nung stark betont, anderseits scheint sich das Universum ohnehin schon um Gott

als transzendente Mitte zu einem Einheitsgefüge zusammenzuschließen, in dem ein jedes und ein jeder „wie in seinem eigenen Vaterlande “ seine Stätte hat, „ damit Einheit und Friede herrsche ohne Neid“ 19. Beide Gesichtspunkte bilden jedoch , wie schon Kapitel 2 zeigt, metaphysisch kosmische Prämissen oder vielmehr die mit der Schöpfungstatsache und Schöp fungsordnung gegebene spekulative Basis der cusanischen Christologie.

Was insbesondere die göttliche Transzendenz angeht, so präzisieren und ent falten die Schlußfolgerungen 4 – 6 im Hinblick auf die Christologie das, was Cusanus bereits zu Anfang der Docta Ignorantia als fundamentalen Leitsatz für

die Betrachtung des Absoluten vom Geschöpflichen her aufgestellt hat : „Da es selbstverständlich keine Proportion des Unbegrenzten zum Begrenzten

hin geben kann, ist auch das durchaus klar, daß man in dem Bereich, in dem es ein Überragen und Überragtwerden gibt, zu keinem schlechthin Größten ge langen kann, da das Überragende und das Überragte begrenzt sind .“ 20 In seinen Spätwerken bezeichnet Cusanus dieses Prinzip öfters als die „ Regel der docta ignorantia “ , und zwar in De venatione sapientiae mit der Erklärung: „Das ist der Sinn der Regel der docta ignorantia, daß man bei dem, was ein 16 D. Ign. III, 1 (H 120, 12—24) ; zum letzten Satz vgl. Eriugena , De div. nat. I, 11

(PL 122, 451 D) : Ipsum omnia appetunt. Est igitur principium ,medium et finis. Princi pium, quia ex se sunt omnia, quae essentiam participant ; medium autem, quia in ipso et per ipsum subsistunt atque moventur; finis vero, quia ad ipsum moventur quietem motus sui suaeque perfectionis stabilitatem quaerentia. 17 Zum Folgenden vgl. Vf I 84–98, bes. 94 f. und 259–262. 18 Vf I 136-42 .

19 D. Ign . III , 1 (H 123 , 4—7 ) .

20 D. Ign. I, 3 (H 8, 20 146

9, 1 ) ; vgl. D. Ign. II , 1 (H 61 , 8) ; De coni. I 12 (P 47 ? ) .

„ Angenommen , es gäbe ein auf die Art zusammengezogenes Größtes...“ Mehr oder Minder annimmt, nie zu einem schlechthin Größten oder schlechthin

Kleinsten , wohl allerdings zu einem aktuell (actu) Größten und Kleinsten ge

langt. “ 21 2. Im 2. Kapitel des III. Buches der Docta Ignorantia setzt mit den Worten

„Dem möchte ich hinzufügen“ etwas Neues ein. Die Art der Darlegung wechselt aus der apodiktischen Demonstration in die der Hypothese hinüber. Ähnlich wie bei der Veranschaulichung der coincidentia oppositorum durch die Projektion von Gerade, Dreieck, Kreis und Kugel in die Unendlichkeitsdimension 22 beginnt Cu sanus auch hier mit einem dem mathematischen Denkverfahren, vielleicht auch

dem Vorbild des platonischen , Parmenides“ 23 abgeschauten, noch im Raum der reinen Möglichkeit belassenen „Angenommen“ , und zwar hier, um die innere Möglichkeit und die aus dem Angenommenen folgenden Konsequenzen auszu denken .

Die Hypothesis lautet: „ Angenommen ( si ), es gäbe ein auf die Art zusammen

gezogenes Größtes 24 in der wirklichen Ordnung, so wäre dieses gemäß der gegebenen Art, auf die es zusammengezogen gedacht wird, alles (omnia) das in

Wirklichkeit, was im Rahmen der Möglichkeit jener Gattung oder Art sein könnte . " 25

Der inhaltlich neue Ansatz dieser Hypothesis besteht darin : Cusanus wendet

hier dasselbe Verhältnis der einheitlichen Zusammenfassung und vielheitlichen Entfaltung ( complicatio explicatio) , das seiner Konzeption des Gott-Welt Verhältnisses zugrunde liegt, auch auf das Verhältnis zwischen dem angenom menen Größten und sämtlichen möglichen Individuen seiner Art an 26. Er selbst weist diese Entsprechung (oder Analogie) anschließend genauer auf: -

„Das absolut Größte ist alles, was möglich ist (omnia possibilia) , in Wirk lichkeit (und zwar) absolut, und darin ist es in absolut höchster Weise unbegrenzt. Das auf die Gattung und Art zusammengezogene Größte verwirklicht ebenfalls

gemäß (im Rahmen) der gegebenen Beschränkung die mögliche Vollkommenheit. Innerhalb dieser (Beschränkung) ist es, da es kein Größeres geben kann , unbe grenzt, insofern es die ganze Natur, auf die es in der gegebenen Weise zusam mengezogen ist, umschließt 27. Wie zudem das Kleinste mit dem absolut Größten

zusammenfällt, so fällt dieses (Kleinste) auch beschränkterweise mit dem be schränkten Größten zusammen . “ 28

21 De ven. sap. c. 26 (P 212'); vgl. ebd. c. 37 (P 216 ') ; De ludo globi I (P 153' 154") , 22 D.Ign. I , 13 (H 25, 18); vgl. Vf I 267 f.

II (P 165 ') .

* Vgl. die neun Hypothesen in Platons „ Parmenides“ mit dem jeweiligen Anfang : El ÉV ŠOTLV u. dgl. ( 137 c ff.). 24 Das deckt sich sachlich mit: „ ein größtmögliches auf die Art Beschränktes“. 35 D. Ign . III, 2 ( H 123, 15–18 ).

25 Vgl. D. Ign. I, 22 (H 44, 25 f.) : Humana natura complicat tam eos , qui sunt, quam qui non sunt (vgl. Röm 4 , 17) neque erunt, licet esse potuerunt. 2 ambiens omnem naturam datae contractionis .

28 D. Ign. III , 2 (H 123, 18—24 ) . Daß Nikolaus an dieser Stelle auf D. Ign. I, 4 ( H 10,

12—16) zurückgreift, um das dort von Gott Gesagte auf die Christologie anzuwenden , ist unverkennbar. So erhält der dortige Text hier eine authentische und eindeutige Er klärung. Dabei findet die Interpretation von Lenz (vgl. oben S. 139 Anm. 7) eine volle Bestätigung. 10 °

147

Die „ Handleitung “ zur hypostatischen Einung in der Docta Ignorantia Um die Einfaltung oder Koinzidenz des innerhalb der Art individuell Mög

lichen in der Wesensfülle des besagten Größten zu veranschaulichen , weist Ni

kolaus dann auch auf die Symbolik der unendlichen Figuren und des Punktes hin, durch die er im I. Buche die Koinzidenz der geschaffenen Vielheit in der gött lichen Wesenseinheit illustrierte 29.

Bei diesen Überlegungen ist es nun nicht um die Möglichkeit oder die Konse quenzen einer subsistierenden Art zu tun. Deshalb wendet Cusanus anschließend

das bisherige Ergebnis in einer schärferen Fassung der vorigen Hypothese aus drücklich auf die Möglichkeitsgrenze eines die Art voll ausfüllenden Individuums an :

„ Sollte es deshalb irgendein größtes Beschränktes als Individuum irgendeiner

Art geben können, so folgte notwendig, daß ein solches die Fülle jener Gattung und Art wäre. In seiner Vollkommenheitsfülle wäre es für alle Dinge, die in eben jener Art möglich wären, der Weg, die (Ideal-)Form, der Sinngrund und

die Wahrheit 30. Ein solches größtes Beschränktes stände über der ganzen Natur, auf die es beschränkt wäre, als deren Kulminations- und Zielpunkt (terminus finalis) und faltete deren ganze Vollkommenheit ein. Mit jeglichem (Individuum ) befände es sich über alles Teilverhältnis (proportio) hinaus in der höchsten Gleichheit, so daß es keinem gegenüber größer und keinem gegenüber kleiner wäre 31, da es in seiner Fülle die Vollkommenheiten von allen einfaltete. “ 32

Das alles sind Ableitungen aus dem Begriff des beschränkten Größten, das im Rahmen seiner Art ungeteilt all das wäre, was in sämtlichen Individuen mög

lich ist, und das auch noch die Grenzmöglichkeiten, den letzten erreichbaren Höhepunkt und die einfachsten , elementarsten Voraussetzungen voll und ganz in sich verwirklichte.

Ist aber eine solche absolute, präzise Verwirklichung des Möglichen im Rahmen des Beschränkten , in dem es keine letzte Genauigkeit gibt, möglich , da ja doch

die mögliche Artfülle in der Wirklichkeit individuell aufgespalten ist und des halb immer noch das Größer und Kleiner möglich bleibt? Das ist die dialektische Gegenfrage, die sich aus den Darlegungen des 1. Kapitels gegen die soeben er 29 D. Ign. III, 2 (H 123, 25—27 ), und I, 13—18.

30 Forma, ratio und veritas werden bei Cusanus oft von Gott alsder Exemplarursache der Schöpfung ausgesagt und der zweiten Person appropriiert. Hier sind diese Worte in analogem Sinn von dem Maximum contractum zu verstehen. Via und veritas erinnern an Joh 14, 6. Das Wort via bleibt vorerst jedoch noch im Rahmen einer kosmologischen Konzeption.

31 Ähnliches sagt Platon , Parmenides 149 e 150 e von dem Einen . Was die drei relativen Prinzipien: maioritas, aequalitas, minoritas, bei Raimund Lull angeht , so will dieser die minoritas nicht auf Gott angewandt wissen (Carreras I 503) . Das be sagt auch eine wahrscheinlich von Cusanus herrührende Notiz über Lull (Vf I 334 , 10—13), die spätestens aus dem Anfang der dreißiger Jahre stammt. Der Koinzidenz gedanke der Docta Ignorantia spitzt sich darin zu, daß Gott, das Maximum absolutum , auch in einem absoluten Sinne als das Minimum betrachtet wird . Damit soll Gottes

Transzendenz über alle ein Mehr oder Minder annehmende Größe und zugleich die allem Sein sein Maß zumessende „ Gleichheit“ hervorgehoben werden, die alles Einzelne kom

plikativ in sich schließt. Dieselbe Konzeption kommt hier auch gegenüber dem „ größten Beschränkten “ zur Anwendung.

32 D. Ign. III, 2 (H 124 , 1-9) . 148

es wäre notwendig Größtes-Beschränktes, das heißt Gott und Geschöpf “

örterte Möglichkeit zu richten scheint, um diese Möglichkeit als in der realen Ordnung nicht realisierbar abzutun.

Cusanus stellt diese Realisierbarkeitsfrage nicht ausdrücklich , aber er gibt bei den folgenden hypothetischen Erwägungen darauf eine klare und distinkte Ant wort, indem er die Möglichkeit eines für sich bestehenden beschränkten Größten negiert und die Einung mit dem absoluten Größten als die entscheidende Be dingung für dessen Realisierbarkeit dartut:

„ Daraus (aus den bisherigen Erörterungen der Hypothese) wird es handgreif lich, daß eben das beschränkte Größte nicht in reiner Beschränktheit (ut pure contractum ) für sich bestehen (subsistere)) kann – das ergibt sich aus dem, was

wir vor einer Weile darlegten 33 —, da kein solches im Rahmen (in genere) seiner Beschränkung die Vollkommenheitsfülle (der Art oder noch höhere) erreichen -

kann . Ein solches wäre auch nicht als Beschränktes Gott, der durchaus absolut ist ;

aber es wäre notwendig Größtes- Beschränktes, das heißt Gott und Geschöpf, absolut und beschränkt auf Grund einer Beschränktheit, die nicht in sich , sondern nur in der absoluten Größtheit subsistieren könnte.“ 34

Mit andern Worten, die äußerst-mögliche Verwirklichung einer Art in einem Individuum ist nur vom Transzendenten her und durch die Inexistenz des Indi

viduums in etwas über dem Geschöpflich - Individuellen Subsistierenden realisier bar. Ein solches überindividuell Subsistierendes, in dessen Seinsfülle die der

Arten und Gattungen komplikatorisch wirklich ist, ist aber nur das absolute Maximum 35 , da es keine subsistierenden Universalien oder dergleichen gibt 36. Daher die Begründung: „ Es gibt nur eine Größtheit (maximitas), wie wir im

I. Buche zeigten 37, und nur durch diese könnte auch etwas Beschänktes als Größtes bezeichnet werden. “ 38

Damit ist die These des 2. Kapitels hypothetisch bewiesen. Sie ist demnach auch

hypothetisch zu verstehen : „ Ein beschränktes Größtes ist“

wenn es ein solches

geben sollte — „ zugleich auch absolut, Schöpfer und Geschöpf.“ 39

Den Philosophen und Theologen der Docta Ignorantia drängt es jedoch, die innere Möglichkeit einer solchen Einung noch tiefer auszumessen. So kommt er noch in Kapitel 2 zu der dritten hypothetischen Folgerung, daß diese notwendig über alle Arten innerkreatürlicher Wesenszusammensetzungen erhaben ist und

sich dem Zugriff unseres Denkens ins Geheimnis des Göttlichen entzieht 40. Der vierte Schritt der hypothetischen Deduktion erfolgt in Kapitel 3 ; er zielt auf den Nachweis hin, daß die Einung eines beschränkt Größten mit dem Absoluten bei

einem menschlichen Individuum am sinnvollsten ist. Das führt allerdings schon tief in den Gedankenkreis der Vollendung des Universums durch die hyposta

tische Einung hinein und wird auch dort zur Sprache kommen . 33 Gemeint sind die oben S. 144—146 besprochenen 12 Schlußfolgerungen (c. 1 , H 119,9 34 D. Ign. III , 2 ( H 124, 10–17 ) .

bis 120, 21 ) .

* Vgl . die mathematische Veranschaulichung in Kap. 4 (H 132, 8—13 ; unten S. 154. * Vgl. z . B. die cusanische Argumentationsweise gegen die Vorstellungen von Welt materie, Weltseele und Weltgeist (Vf I 111—124 ) . 37 D. Ign. I, 5 (Überschrift) :Maximum est unum. 33 D. Ign. III , 2 (H 124 , 17 f.) . 39 D. Ign. III , 2 (Überschrift). 40 Näheres s. unten S. 157 . 149

Die „ Handleitung “ zur hypostatischen Einung in der Docta Ignorantia

Erst das 4. Kapitel tritt dann vor die im Glauben erfaßte Wirklichkeit des

Gott -Menschen Jesus Christus hin mit den überleitenden Worten : „Durch diese

rationalen Folgerungen (ratiocinationibus) gelangten wir bisher unter Sicherung des Glaubens gegen Zweifel (indubia nunc fide) bis dahin , daß wir, ohne an etwas hängenzubleiben, nunmehr das Vorhergehende als durchaus sichere (hypothetische) Wahrheit festhalten können . Nunmehr fügen wir dem hinzu : Die Fülle der Zeit ist vergangen, und Jesus, der immerdar gepriesen sei, ist der ,Erstgeborene aller Schöpfung .“ 41 Die Methode der drei ersten Kapitel bleibt gleichsam im Bereich des Funda

mental -Christologischen. Cusanus hätte sie vielleicht bezeichnet als „Hand leitung (manuductio) zu Christus hin" . Sie besteht darin, auf dem formal noch

rein spekulativen Wege der Hypothese die Denkschwierigkeiten auszuräumen sowie die innere Möglichkeit, nämlich die Konsequenz und Geschlossenheit dessen zu erweisen, was im Glauben zu bejahen ist 42. Danach erst tritt Cusanus aus der philosophischen Reserviertheit seines schon von Grund auf im Lichte der Theo logie stehenden kosmologisch -metaphysischen Denkens heraus, um die Glaubens

wahrheit der Inkarnation des Wortes zu formulieren 43. 3. Das eigentlich Neue in dem besprochenen 2. Kapitel ist die vorerst hypothe tische Anwendung dessen, was wir als das cusanische Maximitätsprinzip bezeich nen möchten. Da dieses hier und erst recht bei dem späteren Beweisverfahren gegenüber dem Mohammedanismus den eigentlichen Hebel der cusanischen Christologie darstellt, verdient es eine nähere spekulative und geschichtliche Be leuchtung

Als allgemeines innerkosmisches Gesetz läßt sich das Maximitätsprinzip so formulieren : Kein Individuum irgendeiner Art ist bis zur Möglichkeitsgrenze der Art aktuierbar, wenn es nicht mehr ist als nur Individuum seiner Art. Da keine Art als solche subsistieren kann, auch keine Vollkommenheit als solche, läßt

sich das auch – als Hebel für die Christologie - auf das Gott-Welt- Verhältnis anwenden : Es kann kein größtmögliches beschränktes Größtes geben , wenn

dieses nicht zugleich auch absolut Größtes ist. Zur weiteren Verdeutlichung sei dieses Maximitätsprinzip mit drei verwand ten Leitsätzen verglichen und von diesen abgegrenzt. Dies sind: die regula doc tae ignorantiae' , das Komplikations-Explikations -Prinzip und das des stetigen innerkosmischen Übergangs. Die Regula doctae ignorantiae reißt, wie wir sahen, die durch keine noch so

weitreichende Steigerung beschränkter Größenmaßstäbe überbrückbare Kluft

zwischen dem Absoluten und Beschränkten oder Kontingenten auf. Das Maximi tätsprinzip bezieht sich demgegenüber auf die Möglichkeit einer Einung von Ab solut und Beschränkt und sieht in dieser die Bedingung, wenn das Beschränkte zur Verwirklichung seiner Möglichkeitsgrenze gelangen soll . 41 D Ign. III, 4 (H 129, 18—22 ) ; Gal 4 , 4 ; Kol 1 , 15.

42 E. Hoffmann (Universum 24 Anm .) sagt treffend: „Der Begriff des Mittlers wird in D. ign. III rein begrifflich gefordert ; nur die historische Erfüllung durch Jesus muß geglaubt werden. “ 43 Vgl . unten S. 167 f. 150

Das Maximitätsprinzip und drei verwandte Leitsätze explicatio) waltet am polarsten zwischen Gott und Welt. Unter Einbeziehung der inner kosmischen Stufenordnung bestimmt es das innere Zueinander der vier Ein heiten “ : Gott, reiner Geist, Seele, Körper. Es besagt, daß die Wesenheit höhe ren Ranges jeweils die Vielheit und Mannigfaltigkeit der niederen Ordnungen einheitlicher und vollkommener vorenthält und sich in diesen ideell entfaltet 44. Darin liegt die innere Möglichkeit dafür, daß das Niedere jeweils durch die Einung mit dem Höheren seine höchste Vollendung erlangen kann . Das Verhältnis von Einfaltung und Entfaltung ( complicatio

Die Vorstellung des stetigen innerkosmischen Übergangs betrachtet die Ord nung des Universums gleichsam als eine lückenlose aufsteigende Skala oder herabhängende Kette von Vollkommenheits- oder Wertgrößen , die über alle Artgrenzen hinweg das Unterste “ mit dem Höchsten“ verbindet. Cusanus ist diesem Gedanken sehr zugetan, wie seine verschiedentliche Dar

stellung des Stufenbaues des Universums und der darin liegenden Verknüp fung ( conexio graduativa) 45 zeigt. Er denkt jedoch nicht daran, die Wesens unterschiede der Arten zu einer bloßen Abstufung des Entwicklungsniveaus abzuschwächen , und zwar weder in Richtung einer emanatistischen noch einer evolutionistischen Überschreitung der Artgrenze. Alles Seiende individuiert

vielmehr im Rahmen seiner Spezies die Natur seiner Spezies, so daß in jedem notwendig jeweils eine obere oder untere Spezies „ siegt “ . Kein Individuum steigt auch bis an die äußerste Grenze der Art hinab oder hinauf. Die präzise Grenzmöglichkeit ist nämlich als solche nicht individuell aktuierbar. Nur inso fern wird bei dem Auf- oder Abstieg der Stufenskala die Grenze einer Art

erreicht, als sie – in einem Sprung über die Distanz der Wesensstufen hin weg - überschritten wird. So wird zum Beispiel „ innerhalb der Gattung des sinnbegabten Lebewesens (animalitatis) die Spezies Mensch, in dem sie einen höheren Grad unter den Sinnenwesen zu erreichen sucht, zur Vermischung mit der geistigen Natur emporgerissen “ 46. Seine Erfahrungen bei den Bemühungen um die Quadratur des Kreises bie ten Nikolaus dafür folgende Illustration: „Es ist ähnlich , wie ein dem Kreise von eingeschriebenes Quadrat zur Größe des umgeschriebenen übergeht einem Quadrat, das kleiner ist als der Kreis, zu einem, das größer ist -, ohne daß es dabei je zu einem käme, das diesem (genau) gleich wäre.“ 47

Zusammenfassend ist festzustellen : Das Maximitätsprinzip setzt die drei genannten Leitsätze logisch -ontologisch voraus und stellt eine Folgerung dar 44 Vgl. De coni. I, 6–10 (P 42°—45') ; E. Hoffmann , Universum 14—20 ; unten S. 228-233.

45 D. Ign. III, 1 (H 120, 30) ; vgl . die Figur P der Schrift De coniecturis und die Erklä rung dazu, daß die Seins - Einheit im Bereich des geschöpflichen Mehr und Minder stetig abgewandelt sei (in alteratione continua ; P 47 ') ; ferner Vf I 136—42, oben S. 144 .

45 D. Ign. III, 1 ( H 121 , 14–16).

47 D. Ign. III, 1 (H 122, 9—12); vgl. die Anm. der Ausg. aus De circuli quadratura sowie das Z. 12 f.folgende Beispiel des unvermittelten Übergangs vom spitzen zum

stumpſen Winkel. Cusanus leugnet hier nicht den rechten Winkel als ideelles Maß des Realen , wohl aber seine präzise Realisierbarkeit. Analog ist es mit der Wesenheit Mensch . 151

Die Handleitung“ zur hypostatischen Einung in der Docta Ignorantia aus dar. In engstem Zusammenhang steht es mit der cusanischen Lehre der

„ stufenweisen Verknüpfung“ der Arten im Universum ; denn diese weiß be reits die Vorstellung der kontinuierlichen Vollkommenheitsstufung im Kosmos mit der Wesensdistanz der Arten und dem Prinzip, daß kein Individuum die Grenze seiner Art erreicht, in Einklang zu bringen. An der Art dieser Ver knüpfung liest Cusanus die innerkosmische Geltung des Maximitätsprinzips ab.

4. Die Frage, inwieweit dieses Prinzip genuin cusanisch ist, erfordert einen Überblick über die Vorgeschichte der darin vorausgesetzten Leitgedanken. Die Regula doctae ignorantiae weist letztlich auf den platonischen Dualismus der in der Andersheit des Mehr und Minder sich entfaltenden Erscheinungswelt und der in der Identität mit sich selbst verharrenden Ideen oder des Ureinen

zurück 48. Die cusanische Lehre von complicatio und explicatio knüpft mittelbar oder unmittelbar an die platonische Grundvorstellung der Teilhabe des relativ Seienden an der Idee, des Inneseins der Idee in ihren Abbildern 49 sowie an die

neuplatonische Ausdehnung dieser Grundvorstellung auf das Verhältnis der Seinsstufen 50 an .

Was hingegen das Prinzip des stetigen Übergangs im Kosmos angeht, so nimmt Platon wohl mancherlei Arten der Verknüpfung des einen und des anderen im Bereich der Andersheit durch ein Drittes an 51, er erkennt jedoch

keine Leiter mit unendlich vielen Sprossen an, sondern er hat zwei Welten und die Methexis ( Teilhabe) der einen an der anderen “ 52. Die cusanische Lehre der stufenweisen Verknüpfung ist noch am ehesten mit der Dialektik des pla tonischen „ Parmenides“ und den sonstigen Erörterungen über die innere Ver

flechtung (volvwvia) der Ideen 53 verwandt. Nikolaus vergleicht nämlich die Verknüpfung der Spezies mit dem Hervorgang der Zahlen aus der Eins 54. Ähn lich legt er auch die platonische Ideenlehre aus, indem er sie gegen die aristo telische Gleichsetzung mit Zahlen in Schutz nimmt 55:

Platon lehrte, „ es gebe ein Prinzip und die Spezies seien durch Teilhabe an diesem. Die Teilhabe ist aber nach Mehr und Minder verschieden . So be

wirkt sie auch verschiedene Spezies. Daher lehrte er so von dem Großen und Kleinen, (daß auch sie Prinzipien, nämlich der Vielheit, seien) : weil die

Teilhabe an dem Einen, die die Spezies konstituiert, nicht ohne diese 48 49 50 51

Vgl . Vf. I 226 Anm. 58 ; ferner Parmenides 131 e 133 c usw. Vgl. Platon , Parmenides 131 a – 132 d; Hoffmann , Universum 20. Vgl. z. B. Proklos , In Parmenidem II (Cousin IV 113—19) . Vgl. Vf I 137; Philebos 23 c ; Ueberweg - Praechter 302.

52 Hoffmann , Universum 33.

53 Zu Platons „ Parmenides“ vgl. bes. 129 e ; vgl. P. Wilpert , Zwei aristotelische Frühschriften über die Ideenlehre, Regensburg 1949, 158 f. 54 D. Ign. III, 1 ( H 121 , 21 ff.); De coni. II , 16 (P 61 ') . 55 Zu Aristoteles, Met. I, 6 (987 b 18 ff.) bemerkt der Kardinal in Cod. Cus. 184

(mit der Metaphysik -Übersetzung Bessarions) f. 6' : Nota, quomodo interpretatur Pla tonem, qui dicit participatione unius species constitui ! Aristoteles interpretatur species

numeros. Hoc non dixit Plato, scilicet species numeros esse modo, quo interpretatur Ari stoteles. Nach Wilpert (a. a. 0. 159 ff.) setzte Platon tatsächlich in seinem Spätschrift tum die Ideen mit Zahlen gleich . „ Der Zahlcharakter der Idee ist der Ausdruck dafür, daß die Idee eine Mehrzahl von Inhalten in der Form der Einheit umschließt“ ( 159) . 152

Zur Vorgeschichte des Maximitätsprinzips

(,Prinzipien ') gedacht werden kann . “ 56 Diese Platon -Interpretation dürfte jedoch mehr im Lichte des prokleischen Kommentars 57 sowie des Ps.- Dionysius 58 ge

sehen als von Platon selbst her gewonnen sein. Aristoteles richtet auf das den Kosmos von der Materie bis zum reinen Geiste stufenförmig aufbauende Übereinander der Formen und auf die auch den

„ersten Beweger “ einschließende Teleologie der Bewegung das Hauptaugenmerk seiner Metaphysik. Dabei tritt auch die Verknüpfung der Stufen so stark hervor, daß es nur noch ein kleiner Schritt bis zur vollständigen Verwischung der

Schichtgrenzen “ oder bis zum „ stetigen Übergang“ zwischen den verschiedenen Stufen zu sein scheint 59. Durch Poseidonios wird der aristotelische Stufenbau noch

verfeinert und der Seinszusammenhang (ouvdeouós) des Universums mit Hilfe stoischer Grundlehren noch stärker hervorgehoben 60. All dies ist aber im Neuplatonismus zusammengefaßt und insbesondere bei Proklos aufs reifste ausgestaltet. Nach diesem ist alles Geschaffene durch die

Naturordnung (eluapuévn) fest verknüpft und wie durch eine Kette zur Einheit zusammengeschlossen, so daß im Universum „ alles ohne die geringste Lücke ineinandergreift“ 61. So kommt auch Dionysius zu der Formulierung : „ Die gött liche Weisheit fügt als die Ursache der unlöbaren Verknüpfung und Ordnung aller Dinge jeweils das Ende der höheren Ordnung mit dem Anfang der fol genden zusammen und stellt so in schöner Weise die eine Eintracht und Har monie des Ganzen her. “ 62

Diese Dionysiusstelle hat Thomas von Aquin wiederholt zitiert und in den Strukturplan der Ordnung des Universums mit aufgenommen 63.

Nikolaus von Kues legt in seiner Sprache dieselben Gedanken der Darstellung der stufenweisen Verknüpfung in der Docta Ignorantia zugrunde: „ Zwischen den Gattungen, die das eine Universum bilden, besteht jeweils eine solche Ver knüpfung des Niederen und Höheren , daß sie in der Mitte zusammenfallen;

auch zwischen den verschiedenen Spezies besteht eine solche Kombinationsord S6 Fortsetzung der Randbemerkung (s. Anm. 55) . Zu Platons Lehre über das Große und Kleine vgl. Parmenides 131 d - 132 a sowie 149 e — 150 e.

57 Im platonischen Dialog bleibt es rätselhaft, ob das Eine nur eine Hypothese im dialektischen Spiel der Begriffe oder das wirkliche Urprinzip aller Dinge sein soll ( vgl .

Klibansky , Ein Proklos-Fund und seine Bedeutung; HSB 1929, 8 ff.). Der Kommen tar des Proklos zielt hingegen auf den Nachweis hin, daß das Eine die erhabene Ursache alles Seienden ist; vgl. z. B. In Parmenidem II (Cousin IV 113f.) . 38 58 Vgl . bes. De div . nom. V, 6 (PG 3 , 820 C D) .

59 Vgl. N. Hartmann , Aufbau 191–194.

60 Vgl . Ueberweg - Praechter 479. 61 Vgl . Müller , Dionysios usw. 12 f. u . 18 und die dort bes. aus De providentia et

fato angeführten Texte; vgl. ferner z. B. auch Bernardus Silvestris, De mundi universitate I, 4 (ed. Barach -Wrobel, Innsbruck 1876 , 31 ) : Mundus enim quoddam continuum et in ea catena nihil vel dissipabile vel abruptum ; Meister Eckhart , Deutsche Werke I 211 f. Proklos, In Parmenidem Platonis III (Cousin V 240) , rollt auch eine ganze Reihe von Ideen “ auf; zur Einung, Mischung oder Gemeinsamkeit

(xouvwvia ) der Ideen vgl. z. B. ebd. II (Cousin IV 174 178 205 ). 62 P s. - Dionysius, De div. nom . VII, 3 ( PG 3, 872 B) .

83 Vgl. bes. De veritate q. 15, a. 1 c. ( IV 35 b) ; 9. 16, a. 1 c. (IV 52 b) ; S. c. gent. II, 68 ( 163 b ); III, 97 (336b). 153

Die „ Handleitung " zur hypostatischen Einung in der Docta Ignorantia

nung', daß die höchste Spezies einer Gattung mit der untersten der höheren un mittelbar zusammenfällt. So kommt das eine lückenlose ( continuum ) und voll kommene Universum zustande. “ 64

Wir dürfen also im Areopagiten die Hauptquelle und in ihm und Thomas zusammen wohl auch die „Kronzeugen “ des cusanischen Maximitätsprinzips er

blicken . Was sie über die Art der Verknüpfung innerhalb des Universums sagen , stimmt sachlich mit dem cusanischen Leitsatz überein . Cusanus selbst ist jedoch

dessen Heranziehung und Auswertung für die Christologie zuzuschreiben 65. c) Der maximale Charakter der Einung des absoluten und beschränkten Größten

1. Die Frage nach dem Grad der Einung beider Naturen beschäftigte die gesamte hochscholastische Christologie 66. Man unterschied dabei durchweg zwischen der Einung zu einer oder in einer gemeinsamen Natur und der Einung in einer Per son 67 und kam dabei meist, wie schon Bernhard von Clairvaux 68, zu dem Ergeb 9

nis, daß die hypostatische Einung (als Einung in der Person ) nach der Einheit der drei Personen in der göttlichen Natur die höchste sei. Bonaventura begründet das mit der Einfachheit der Person, mit der Erhabenheit dessen , was geeint

wird, mit dessen Untrennbarkeit nach erfolgter Einung und mit deren Einzig artigkeit“ 69.

Nikolaus von Kues hatte bei der Hervorhebung des maximalen Charakters der

hypostatischen Einung dieselben Gesichtspunkte im Auge. Darüber hinaus ist bei ihm die Bezeichnung der beiden Naturen als absolut und beschränkt Größtes schon darauf angelegt, auch deren Einung als größtmöglich zu erfassen, so daß diese „ nicht weitergehen könnte, ohne daß die Naturen schwänden “ 70. Der meta

mathematisch -maximalen Betrachtungsweise beider Naturen entspricht auch eine geometrische Veranschaulichung, die den infinitesimalen“ Charakter der Einung

durch die Annäherung der infiniten Vieleckfigur an den Kreis illustriert: „ Es ist, als ob die menschliche Natur (Christi) ein einem Kreise eingeschriebe

nes Vieleck wäre und die göttliche der Kreis : Sollte das Vieleck das größtmög liche (an Zahl der Ecken ) sein, so daß kein anderes größer sein kann, so wird es

keineswegs in begrenzter Eckenzahl für sich subsistieren, sondern nur in der Kreisfigur, so daß es der Subsistenz nach keine eigene Figur hätte, auch keine solche, die geistig 71 von der kreisförmigen ewigen Figur trennbar wäre. “ 72 64 D. Ign. III, 1 ( H 120, 25—29) ; vgl. III, 12 (H 157, 22 f.) ; vgl. das Leibnizsche Ge

setz der Kontinuität “ ; dazu Ueberweg III (Frischeisen - Köhler) 323 f. 65 Raimund Lull mag ihn dazu angeregt haben ; vgl. unten S. 174 f. 66 Albertus M., De incarnatione, De unione (ipsa) q.9 2 (f. 47vb) :; In Sent. III d . 7 , a. 5 (B. 28, 152 a — 156 b ) ; Bonaventura , In Sent. III d . 6 ,a. 2, q.3 ( III 162 f.) ; Thom . v. A q. , In Sent. JII d. 5, q. 1 , a. 1 , qcl. 2 (III 186—88); S. theol. III q.2, a. 9 ; Duns Scotus , Op. Ox. III d. 6 , q . 1 (n. 9: Vivès XIV 312 a). 67 Diese Unterscheidung fehlt noch in der Summa de incarnatione Alberts. 68 De consideratione V, c. 8, n. 19 (PL 182, 799) . 69 In Sent. III d. 6, a .2, q. 3 ( III 163 a ) ; vgl. unten S. 289. 70 D. Ign. III , 2 (H 124, 19).

71 Intellectualiter, das heißt hier : in der abstrakten mathematisch - gegenständlichen Betrachtungsweise. 154

72 D. Ign. III, 4 (H 132, 8—13) .

Die Maximität der Einung

Dieses Bild sagt ein Dreifaches: 1. Die Hypothese der Größtmöglichkeit der beschränkten Natur ergibt konsequent auch die Größtmöglichkeit der Einung mit dem Absoluten ; 2. diese Einung erfolgt in der göttlichen Subsistenz; 3. sie ist unauflösbar. 2. Zu diesen drei Punkten sei im folgenden Näheres gesagt.

Daß die Einung in Christus nicht enger sein könnte 73, führt Predigt 16 so aus : Christus ist der vollkommenste Mensch , so daß es keinen vollkommeneren geben kann. Da somit auch die menschliche Natur in Ihm die höchste ist, so daß es keine

höhere geben kann, die näher mit der göttlichen Unendlichkeit verbunden wer den könnte, so ist Er eben dadurch , daß Er der Vollkommenste und Höchste in der Menschennatur ist, auch der am innigsten mit der Gottheit Geeinte (unitis simus). Die Menschennatur kann aber als Geschöpf keineswegs auf dem Wege des Aufstiegs in die Gottheit, noch kann die Gottheit auf dem Wege des Ab

stiegs in die Menschheit übergeben. Somit herrscht hier trotz der Natur- Verschie denheit eine Einheit ... , in Vergleich zu der keine größere möglich ist.“ 74

Diese Erklärung ist wohlabgewogen. Dagegen gerät Cusanus zu Ende der Docta Ignorantia beim Vergleich der Einheit der Kirche und der Einheit in Christus mit der trinitarischen in Gott in kaum nachvollziehbare Übersteigerungen hinein , und zwar in den Sätzen: „Die absolute Einung ist nicht größer oder

kleiner als die Einung der Naturen in Jesus oder der Seligen in der (ewigen) Heimat“ , und: „Die (in ihrer Weise) größte hypostatische Einung fällt mit der absoluten Einung zusammen .“ 75 Die Auflösung dieser rätselhaften Formulierun gen liegt darin: Der Heilige Geist, der als dritte trinitarische Person „ aus der Einheit und der Gleichheit hervorgeht, ist, wie im I. Buche 76 gezeigt wird “ , die absolute Einung, die kein Mehr und Minder zuläßt“ , und so im urbildlich wirkursächlichen Sinne „die Einung der Einungen “ . Von dieser her erklärt sich der maximale Charakter der Einheit in Christus und zwischen den Seligen des 99

Himmels 77. Denn die Einheit der Naturen in Christus besteht notwendig durch die absolute, die der Heilige Geist ist, und in ihr “ , ist also durch diese geknüpft und verbürgt; und die Einheit der Kirche erlangt das, was sie ist, durch die maximale Einung der Naturen in Christus 78. In der Schrift „Über das Sehen Gottes“ ist der himmelstürmende Platonismus

der eben gehörten Sätze vollends gebändigt. Die folgenden Worte klingen fast wie eine leise Retraktation : „ Du zeigst mir, unversiegliches Licht, daß die größt 73 Vgl. z. B. S 36 (C 133', 13): unio, qua nulla strictior esse potest ; Brief vom 11.6.1463 (Siz 161" ): unione, qua nulla maior esse potest. 24 S 16 (H 32,29—34,5) ; vgl. D. Ign. III , 4 (H 131 , 28 ff.): In Iesu ... humanitas in

divinitate suppositatur, quoniam aliter in sua plenitudine esse non posset ... S 31 (V1136 * ): nullam creaturam altiorem perfectioremque posse esse illa, quae subsisteret unione immediatissima et unissima in vena sui esse . 75 D. Ign. III , 12 ( H 161 , 28 f.; 162 , 19) .

76 D. Ign. I , 9 (H 18 f.).

77 D. Ign. III, 12 (H 162, 1-3) .

78 Ebd. H 162, 20f., 7–9 ; vgl. Thom. v. A q., In Sent. III d . 2, q. 2, a. 2, qcl. 2, sol. ( III 81 ) : Spiritus Sanctus non potest dici in illa unione medium nisi sicut unionem effec tive causans, quae, quamvis effectus totius Trinitatis sit, tamen Spiritui Sancto appro priatur. 155

Die „ Handleitung “ der Docta Ignorantia mögliche Einung, die in meinem Jesus zwischen der menschlichen Natur und Deiner göttlichen besteht, nicht in jeder Weise der unbegrenzten Einung ähnlich ist. Die Einung nämlich, in der Du, Gott Vater, Gott Deinem Sohne geeint bist, ist der Heilige Geist. Daher ist dies eine unbegrenzte Einung, denn sie reicht bis zur absoluten Identität des Wesens. So ist es nicht, wenn sich die menschliche Natur mit der göttlichen eint; denn die menschliche Natur kann nicht in Wesenseinung mit der göttlichen übergehen, wie sich auch das Begrenzte dem Unbegrenzten nicht in unbegrenzter Weise einen kann. Es ginge nämlich in die Identität mit dem Unbegrenzten über und hörte so auf, begrenzt zu sein, in dem Augenblick, da die Unbegrenztheit Wahrheit würde. Daher ist die Einung, die die menschliche Natur mit der göttlichen Natur eint, nur in höchstem Grade ein Heranziehen der menschlichen Natur an die göttliche, so daß die menschliche Natur als solche nicht noch höher hinaufgezogen werden könnte. Größtmöglich ist also die Einung der menschlichen Natur mit der göttlichen, sofern sie nicht größer sein kann ; sie ist jedoch nicht einfachhin die größte und nicht unbegrenzt, wie dies die göttliche Einung ist. “ 79 3. Da zwischen Beschränkt und Unbeschränkt weder Wesenszusammensetzung noch Übergang in Wesensidentität möglich ist, fordert Nikolaus aus dem Begriff der maximalen Einung, ebenso wie aus dem des beschränkten Größten 80, die Subsistenz des Kontingenten im Absoluten. Das heißt erstens : „ Solange das Geeinte nicht in dem Einenden subsistiert, ist die Einung noch nicht die höchstmögliche. " 81 Davon gilt auch die Umkehrung : „Angenommen, es besteht eine so große Einung einer niederen Natur mit der göttlichen, daß sie nicht mehr größer werden könnte, so liegt personale Einung vor 82. Solange nämlich die niedere Natur nicht zur personalen und hypostatischen Einung mit der höheren erhoben wird, könnte sie (die Einung) noch größer sein. Nimmt man sie also als die größte an, so haftet die niedere Natur der höheren an und subsistiert in ihr. “ 83 Aus der Annahme des „ beschränkten Größten, das nicht in sich, sondern nur in der absoluten Größtheit subsistieren kann “ 84, folgt auch a priori die Unauflöslichkeit der Einung. Dasselbe ergibt sich auch aus deren maximalem Charakter 85. „ Denn Trennbarkeit kommt daher, daß die Einung hätte größer sein können. Wo die Einung aber nicht größer sein kann, da kann auch nichts in der Mitte liegen (mediare). Dort wird es also keine Trennung geben, wo nichts vermittelnd zwischen dem Geeinten liegen kann. “ Das ist bei der Subsistenz des Geeinten im Einenden der Fall 86.

79 De visione Dei c. 20 (P 110") . 80 Siehe oben S. 149 154. s1 De visione Dei c. 19 (P 109 ) ; vgl . D. Ign . III , 12 ( H 161 , 8—11 ) ; S 16 ( H 34, 5 f.) . 82 Vgl . Cribr. III, 9 (P 145') . 83 De pace fidei c. 12 ( P 119') . 84 D. Ign. III, 2 (H 124 , 16 ) ; vgl . III , 4 ( H 132 , 11 f. ) ; III , 7 ( H 140 , 5-8) . 85 D. Ign. III , 7 ( H 140 , 8) : humanitas illa inseparabilis a divinitate propter supremam unionem . 86 De visione Dei c. 19 (P 109') . 156

zum Geheimnis der hypostatischen Einung Auf die Tatsache der Untrennbarkeit beider Naturen in Christus kommt der Kardinal noch öfter zu sprechen 87. In den christologischen Quästionen 88 und in der These des Cod. Cus. 40 spielt sie eine grundlegende Rolle. 4. Kehren wir nun zu dem Kapitel Docta Ignorantia III , 2 und zu der dortigen dritten Hypothese 89 zurück. Diese lautet: „ Angenommen, die (absolut) größte Macht einte sich dieses Beschränkte in der Weise , daß dieses nicht enger geeint werden könnte, ohne daß die Naturen schwänden, so daß es wegen der hypostatischen Einung , Gott und alles' wäre - und zwar unter Wahrung seines Beschränkungscharakters, demzufolge es die zusammengezogene und geschaffene Fülle der Art wäre -:: eine solch wunderbare Einung überstiege all unsere Einsicht. " 90 Dieser Nachsatz wird durch den Vergleich mit einigen Formen natürlicher Seinszusammensetzung erhärtet 91. Dabei faßt Nikolaus die Aporien des rationalen Denkens vor dem Geheimnis einer solchen Einung zusammen in den Worten: „Fürwahr, diese Einung wäre größer als alle, die wir einsehen können. In ihr subsistierte das Beschränkte, weil es das Größte wäre, nur in der absoluten Größtheit, ohne dieser etwas hinzuzufügen, da sie die absolute Größtheit ist, aber auch ohne in deren Natur überzugehen, da es selbst beschränkt wäre . Demnach subsistierte also das Beschränkte im Absoluten in der Weise, daß wir uns täuschten, wenn wir es selbst als Gott auffaßten, da das Beschränkte seine Natur nicht wechselt. Stellten wir es uns aber so vor, als sei es ein (bloßes) Geschöpf 92, so griffen wir daneben, weil die absolute Größtheit, die Gott ist, ihre Natur nicht verläßt. Hielten wir es für etwas aus beidem Zusammengesetztes, so irrten wir, da eine Zusammensetzung aus Gott und Geschöpf, aus etwas Beschränktem und dem höchst Absoluten, unmöglich ist. " 93 Aus diesen Aporien leuchtet das Resultat der gesamten bisherigen Deduktion auf. Gesetzt, es gäbe ein Geschöpf, das in seiner Art nicht größer sein könnte, so bliebe für unser Denken keine Lösung als : „ Man müßte die Konzeption fassen, ein solches sei in der Weise Gott, daß es auch Geschöpf, und in der Weise Geschöpf, daß es auch der Schöpfer wäre, also Schöpfer und Geschöpf ohne Zusammenfließen und Zusammensetzung ! " 94 In einem solchen Falle müßte unser Denken also die Tatsache einer hypostatischen Einung als notwendig anerkennen, ohne deren wunderbare Einzigartigkeit vom Kreatürlichen her in ihrem An-sich erfassen zu können, „ eine Einung, die über all unsere Einsicht hinaus läge “ 95. 87 S 204 (V2 175 ) , S 206 , 1 (V₂ 120° ) , S 214 (V2 138 ) , S 236 (V2 164 ) . S 223 (V2 148 ) vergleicht Nikolaus die hypostatische Einung volkstümlicherweise mit der unauflöslichen Ehe. 88 q. 1, 5 u. 10; vgl. unten S. 215-217. 90 D. Ign. III, 2 ( H 124 , 18-23) . 89 Vgl. oben S. 149 . 91 D. Ign. III , 2 (H 124, 24 -- 125, 5) ; vgl. oben S. 114 f. 92 H 125, 11 : Si creaturam ipsum esse imaginaremur, deciperemur. Daß , esse' hier nur Hilfszeitwort ist, ergibt sich aus dem Zusammenhang. 93 D. Ign. III , 2 ( H 125 , 5—14 ) . 94 D. Ign. III , 2 ( H 125 , 15—17) . 95 Ebd. H 125, 19 ; vgl . H 124, 22 .

157

Das Prärogativ des Menschen für die hypostatische Einung II. DER GOTT - MENSCH JESUS CHRISTUS ALS DIE VOLLENDUNG UND DAS ZIEL DES UNIVERSUMS

a ) Die besondere Eignung der menschlichen Natur zur Einung mit dem absolut Größten auf Grund ihrer mikrokosmischen Sonderstellung

1. Das Kapitel Docta Ignorantia III , 3 möchte an das Vorhergehende an knüpfend untersuchen, welcher Natur das beschränkte Größte sein müßte " 1. Hier wird die bisherige Konzeption des „ zugleich beschränkt und absolut Größten“ – methodisch immer noch auf apriorisch --hypothetischem Wege – zu der „ Idee

des Gottmenschen näher bestimmt. Die gesamte Deduktion ist auf dem folgenden Syllogismus aufgebaut: „ Das Wesen ist dem Größten am meisten einbar, das am meisten mit der

Gesamtheit des Seienden gemeinsam hat. “ 2 „Die menschliche Natur ist es aber, die über alle Werke Gottes erhoben ist. “ 3 „Daher ist sie es auch , die bei der Erhebung zur Einung mit der Größtheit die Fülle aller Vollkommenheiten des Universums und der Einzelwesen wäre, so daß in eben dieser Menschennatur alles seine höchste Stufe erreichte . “ 4

In der Menschennatur liegt also eine besondere Möglichkeit oder Eignung zur Verwirklichung des „ beschränkten Größten " 5. – Die Conclusio beginnt auch schon das Bild der Vollendung des Universums im Gottmenschen aufzurollen . Hier wenden wir uns vorerst nur der in den beiden Prämissen begründeten Sonderstellung des Mikrokosmos Mensch im Universum als einem Prärogativ für die hypostatische Einung zu. Den Obersatz erhärtet Nikolaus durch folgende Überlegung:

Die Stufenordnung des Universums bringt es mit sich, daß die einen Dinge im Vergleich zu den anderen von niederer Natur sind, wie die, die des Lebens und der Einsicht entbehren, während andere, wie die Intelligentien, von höherer und wieder andere von mittlerer Natur sind “ 6.

Gott ist nun als das absolut Größte im umfassendsten Sinne (universalissime) die absolute Einheit und Seiendheit alles dessen, was sein kann, also die absolute Größtheit, Einheit und Seiendheit des einen nicht mehr als die des anderen 7. Deshalb kann sich auch für die Einbarkeit mit Gott der Vorrang eines kos

mischen Wesens vor dem anderen nicht aus der exklusiven Einordnung in diese oder jene Seinsstufe, sondern nur aus der gott- ähnlichen Vereinigung möglichst vieler Schichten ergeben . Darin liegt der Vorzug der Position, welche die „mitt lere Natur “ innehat .

Die Konsequenz dieser Folgerung wird durch den Ausschluß der beiden anderen Möglichkeiten noch einsichtiger gemacht: Betrachtet man die Natur niederer Dinge und nimmt an, etwas aus ihnen

würde hypostatisch zur Größtheit erhoben, zum Beispiel eine Linie, so ist diese 1 D. Ign. III, 3 (H 125, 24 f.) . 2 Ebd. H 126, 6. 3 Ebd. H 126, 29. 5 Vgl . D. Ign. III , 3, Überschrift. & D. Ign . III , 3 (H 126, 1—4 ) ; zu esse, vivere, intelligere s. Vf I 57–59. 4 Ebd . H 127 , 3—6.

7 Ebd. H 125 , 26 ; H 126, 4 f. 158

Der Vorzug der „mittleren Natur“

als größte Linie „ der Größtheit nach Gott und so der Wirklichkeit nach alles das, was aus der Linie werden kann , während sie ihrer Beschränktheit nach Linie bleibt. Die Linie schließt aber nicht Leben und Einsicht ein . Wie könnte die Linie also zur höchsten Stufe (des beschränkt Möglichen) erhoben werden, da sie die Fülle der Naturen nicht erreicht? Sie wäre nämlich ein Größtes, das

größer sein könnte und die entsprechenden Vollkommenheiten vermissen ließe . “ , Ähnliches ist auch von der höchsten Natur zu sagen ; denn diese umfaßt die

niedere nicht so, daß die Vereinigung der niederen und höheren größer wäre als die Trennung 10. Für das Größte, mit dem das Kleinste zusammenfällt, geziemt es sich aber, daß es das eine so umfaßt, daß es das andere nicht zurückläßt, son

dern alles zugleich (umschließt)." 11 2. So bleibt nur noch „ die mittlere Natur als die verbindende Mitte (medium conexionis) der niederen und höheren. Sie allein kann ihrer Eigenart entspre chend (convenienter) durch die Macht des unbegrenzten Gottes, des Größten, zum Größten erhoben werden. Denn diese faſt alle Naturen so in sich zusammen

( complicat), daß sie die höchste Stufe der niederen und die niederste der höheren bildet. Steigt sie also mit ihrem ganzen Wesensbestand zur Einung mit der Größt heit empor, so ergibt sich , daß in ihr alle Naturen und das ganze Universum ihrer 4

ganzen Möglichkeit nach zur höchsten Stufe gelangt sind. “ 12 Daß diese „mittlere Natur “ der Mensch ist, ist eine der Grundideen der cus nischen Anthropologie 13. Hier begnügt sich Cusanus jedoch damit, den Untersatz des vorgenannten Syllogismus kurz zu erklären : „Die menschliche Natur ist es, die über alle Werke' Gottes erhoben und gegen

über den Engeln nur wenig verkleinert' ist 14. Sie faßt die geistige und die sinnen fällige Natur in eins und zieht die Gesamtheit der Dinge in sich zusammen, so daß sie mit Recht von den Alten Mikrokosmos oder kleine Welt genannt wird . “ 15

8 Vgl. D. Ign. I, 16 (H 30, 8 f.) : Infinita linea est omnia illa actu infinite, quae in poten tia sunt finitae ( lineae) . 9 D. Ign. III, 3 ( H 126, 8—17

10 Vgl . oben S. 151.

11 D. Ign. III, 3 (H 126, 18—21 ) ; vgl. S 3 (C 45', 51 ) : Non enim angelicam sumpsisti naturam , quae corpore caret, ut omnibus creaturis per assumptam humanitatem praeberes auxilium. 12 D. Ign . III, 3 (H 126, 21—28 ). 13 Vgl. Vf I 145–52. Das Wort „mittlere Natur“ gebraucht Nikolaus bereits S 3

(C 45 °, 4). Im Anschluß an Raimund Lull spricht er öfters von der „ gemischten Natur“ (V6 I 146 152) . Die Bezeichnung des Menschen als „ mittlere Welt“ (De coni . I , 8 ; P 48")

findet sich auch schon bei Eriugena, In prolog. evang. s. Ioh . (PL 122, 294 A) : Tertius mundus est, qui rationem medietatis habet et superiorem spiritualium et inferiorem cor poralium copulat. Vgl. Liber de causis prop. 30 (Barden hewer 190) : tertia media (substantia ); Conc. Lat. IV (D 328) : humanam (creaturam ) quasi communem ex spiritu et corpore constitutam .

14 Ps 8,6 f. (Vulg .).

15 D. Ign. III , 3 (H 126,29 — 127,3). — Zur Vorgeschichte des Mikrokosmos-Gedankens s. den Apparat der Ausg. ebd .

Ergänzend sei hingewiesen auf Maximus Confessor

(vgl. Straubinger 19) sowie vor allem auf das große Werk ,Microcosmus des Gott

fried v. St. Viktor, der sich das Themastellt : Cur mundi nomine latine vel microcosmi auch die von Delhaye nomine graece homo censeatur (c. 3, ed. Delhaye 32) : vgl. Minges , Scoti doctrina I

(ebd. 31 ) angegebene frühmittelalterliche Literatur sowie 130 f. Die dortigen Angaben beziehen sich meist auf Vitalis de Furno , De rerum principio

159

Das Prärogativ des Menschen für die hypostatische Einung

Das Ziel dieser Argumentation beschränkt sich darauf, daß nur der mensch lichen Natur eine besondere Eignung für die hypostatische Einung zukommt, und zwar im Hinblick auf die Vollendung des Universums. Daraus wird auch die „ höhere Möglichkeit“ oder Konvenienz abgeleitet, daß Gott im Falle einer hypo statischen Einung diese mit der menschlichen Natur vollzieht 16. Eine entsprechende Notwendigkeit sucht Nikolaus nicht zu begründen. Darin stimmt er mit Bonaventura 17 und der Summa theologiae des Aquinaten 18 über ein. Anderseits geht er aber auch nicht auf eine von der göttlichen Weisheit isolierte Betrachtungsweise der göttlichen Allmacht (potentia absoluta ) ein, die den jungen Thomas im Sentenzenkommentar 19 sowie Duns Skotus 20 und vor allem die spätscholastische nominalistische Christologie 21 zu der Annahme führte, daß Gott sich auch mit einer vernunftlosen Kreatur hätte verbinden können .

Die cusanische Betrachtungsweise Gottes als der absoluten und größten Einheit

läßt eine derartige Lösung der Allmacht von der Weisheit Gottes nicht zu . Das angeführte Motiv für die ausschließliche Einbarkeit der menschlichen Natur

erinnert eher an den Sentenzenkommentar des Aquinaten 22 als an dessen Summa.

Bei Bonaventura findet sich der Leitgedanke der cusanischen Argumentation neben anderen 23. Daß Nikolaus diesen Kern zu dem ihm allein genügenden Be

weis aus der natürlichen Wesensordnung ausbaut, zeigt, wie sehr sich bei ihm die Zuordnung des kosmologischen und christologischen Denkens gestrafft hat. 3. Versuchen wir nun den Mikrokosmos-Gedanken, der uns soeben bei Cusanus

sozusagen im ersten Entwurf begegnete, nach dem übrigen cusanischen Schrifttum

näher auszuzeichnen , so ist zunächst auf die vielfache Verzweigung hinzuweisen, in der er sich durch die philosophisch -theologische Spekulation wie durch die Predigten hin entfaltet 24,

Hier seien nur vier für die cusanische Christologie bemerkenswerte Züge im 16 Vgl . D. Ign. III, 3 ( Überschrift): Quomodo in natura humanitatis solum est ipsum tale maximum possibilius (H 125) ; ebd. H 126, 22—24 : Natura media ... est solum illa, quae ad maximum convenienter elevabilis est potentia maximi infiniti Dei. 17 In Sent. III d . 2, a. 1 , q. 2 (III 39—41 ) . 18 S. theol. III q. 4 , a. 1. Von der dortigen Fragestellung (Utrum humana natura fuerit magis assumptibilis) und von der Lösung her: Unde relinquitur, quod sola natura

humana sit assumptibilis“,erklärt sich vielleicht auch die merkwürdige Fassung der Über schrift von D. Ign. III , 3 ; vgl. S. c. gent. IV, 55 (502 b). 19 In Sent. III d . 29, q . 1 , a . 1 qcl. 1 , sol . ( III 56) .

20 Op. Ox. III d. 2, q . 1 (n. 6—16 ; Vivès XIV 117a - 124 a). 21 Vgl . Borchert 75 f. zu Wilh. von Ockham , 124—27 zu Nik. Oresme. 22 In Sent. III d. 2, q. 1 , a . 1 , qcl . 2 ad 1 ( III 57 ) : In homine enim invenitur similitudo

cum qualibet creatura, ut dictum est, non autem in angelo; vgl. ebd. qcl. 3, resp., tertio (55) . Die Summa theologiae greift diese Gedanken nicht auf. 23 In Sent . III d . 2, a . 1 , q . 2, concl . (III 40 b ) : Quia enim homo compositus est ex

natura corporali et spirituali,et quodam modo communicat cum omni creatura, sicut dicit Gregorius (Moral. VI, 16, 20 ), hinc est, quod , cum humana natura assumitur et deificatur, quodam modo omnis natura in ea exaltatur, dum in suo simili Deitati unitur. Et hinc

est, quod assumptio humana naturae plus facit ad totius universi perfectionem quam angelicae.

24 Zu der gesamtmenschlichen Analogie zur Trinität : spiritus, corpus, anima- conexio, s. Vf I 145—52; zur Seele als Bild der göttlichen Fruchtbarkeit, geistigen Lebendigkeit und komplikatorischen dreieinen Einfachheit: Vf I 152—202. 160

Der Mensch als Mikrokosmos

Bilde des Mikrokosmos Mensch hervorgehoben : Erstens, der Mensch ist ein Bild der großen Welt; zweitens, er ist ein „menschlicher Gott“ ; drittens, er ist das

Ziel der übrigen Schöpfung; viertens, er nimmt eine natürliche Mittelstellung ein zwischen dem Universum und Gott.

Der Dialog „ Über das Globusspiel“ entwirft folgende Vorstellung einer „drei fachen Welt“ : „ Eine kleine Welt ist der Mensch , die größte ist Gott, eine große ist's, die man das Universum nennt. Die kleine ist ein Bild der großen, die große

ein Bild der größten .“ 25 Dazu bemerkt der Bayernherzog Johann: „ Ich habe das Bedenken , wie der Mensch als kleine Welt auch ein Teil der großen Welt sein kann . “ Darauf der Kardinal : „ Freilich ist der Mensch in der Weise eine ,kleine Welt“, daß er zugleich ein Teil der großen ist. In allen Teilen leuchtet nämlich

das Ganze wider, da der Teil ja Teil des Ganzen ist. Sowie nämlich der ganze Mensch in der dem Ganzen entsprechend proportionierten Hand widerleuchtet die Gesamtvollkommenheit des Menschen strahlt freilich in vollkommenerer

Weise im Haupte wider —, so auch das Universum in jedem seiner Teile; denn jedes Einzelding hat zum Universum sein eigenes Verhältnis und seine Pro portion. Mehr als in irgendeinem anderen Teile strahlt es jedoch wider in dem, der Mensch heißt. So ist der Mensch zugleich eine vollkommene, wenn auch kleine Welt und Teil der großen Welt. Was das Universum also in universaler Weise (universaliter) hat, besitzt der Mensch in eigener und besonderer Art teilweise (particulariter ); und weil es nur ein Universum geben kann, aber vielerlei dif

ferenzierte Einzeldinge, darum tragen viele einzelne und verschiedene Menschen Gestalt und Bild des einen vollkommenen Universums an sich, damit sich die bleibende Einheit des großen Universums in einer solchen Mannigfaltigkeit von

vielen kleinen , flüchtigen, aufeinanderfolgenden Welten um so vollkommener entfalte . " 26

4. Der einzelne Mensch wird somit „Mikrokosmos genannt, weil er das, was in der Welt ist, in (individuell) beschränkter Weise in sich trägt “ 27. Das gilt schon im Hinblick auf die leibliche Seite der menschlichen Existenz. Diesen Mikro

kosmosbegriff vertieft Cusanus jedoch schon in der Docta Ignorantia und erst recht in der Schrift De coniecturis 28, indem er die stufenförmige Schichtung im Menschen , der sich vom elementar Körperlichen über das vegetative und sensitive

Leben bis zur Ratio und reinen Geistigkeit des Intellekts erhebt und all das, zu einer individuellen Ganzheit vereint, in den Vordergrund rückt. Dies Menschen wesen bildet die „ mittlere Welt“ , reicht aber sowohl in die Sphäre des Mate riellen wie des Spirituellen hinein und ist so der hierarchischen Vertikalen nach

25 Dies entspricht den Lehren des Hermes Trismegistos, nach denen die drei Glieder Gott, Welt, Mensch in direkter Deszendenz zueinander stehen. Wie der xóquos das Ebenbild Gottes ist, so ist der Mensch indirekt Gottes Bild, direkt aber das Abbild des xóolos “ (J. Kroll , Die Lehren des Hermes Trismegistos: Beiträge 12, 2—4 , 1914 , 233) .

26 De ludo globi I (P 157"). 27 S 264 (V2 219") .

28 De coni. II, 14 (Ú 59' — 60"). Der Buchtitel De coniecturis ist mit „ Über Mutmaßungen “ schlecht wiedergegeben. Dem Sinn und der Etymologie entspricht : „ Uber symbolhafte Er kenntniswege“ . 11 Haubst , Nikolaus v . Kues

161

Das Prärogativ des Menschen für die hypostatische Einung

keine Beschränkung, sondern eine abbildliche Zusammenfassung dessen, was in der sichtbaren und unsichtbaren Welt ist 29.

„ In der Menschennatur ist alles auf menschliche Weise (humaniter), wie alles im Universum auf universale Weise entfaltet ist“ ; es bildet in ihm „ eine mensch liche Welt“ (humanus mundus) . „ So kann der Mensch auch ein menschlicher Engel sein oder als menschliche Bestie, menschlicher Löwe oder Bär oder irgend

etwas auftreten, denn innerhalb der Möglichkeit der Menschennatur existiert alles in deren Weise. “ 30 Innerhalb der Grenzen des individuellen Menschseins aber hat das willens

freie Ich seinen Herrschaftsthron . „Die Kraft seiner Einheit umspannt die Ge samtheit der Dinge und hält sie innerhalb seines Umkreises derart zusammen , daß nichts von allem seiner Macht entfliehen kann. Mit den Sinnen oder mit Verstand oder Einsicht, meint der Mensch ja, ließe sich alles erreichen ; und indem er sieht, wie er diese Kräfte in seiner Einheit einfaltet, kommt er zu der

Annahme, daß er sich an alles in menschlicher Weise heranwagen könne. Denn der Mensch ist ein Gott, aber nicht in absoluter Weise, da er Mensch ist. Somit

ist er ein menschlicher Gott. Alles ist in ihm auf menschliche Weise eingefaltet. Er ist also ein menschlicher Gott (humanus est Deus) . “ Da der Mensch aber auch der Mikrokosmos oder eine inenschliche Welt" ist, „umfaßt der Bereich des

Menschlichen also Gott und die gesamte Welt mit seiner menschlichen Möglich keit“ 31 .

Gegenüber dem, was wir aus De ludo globi hörten, bedeutet das: Der Mensch ist nicht nur Glied des Makrokosmos, er ist zugleich Bild Gottes, der größten

Welt“ . Ohne seine kleine menschliche Welt aufgeben zu wollen, wird er voll Verlangen zur göttlichen hingetrieben. In dieser Sehnsucht wird unbewußt Chri stus gesucht, der wesenhaft Gott und Mensch zugleich und daher die höchste Er füllung des menschlichen Wesens ist 82 . In der Schrift De dato Patris luminum kommt Nikolaus bei der Sicherung

seiner Darlegungen über Gott als die „ absolute Form“ gegen pantheistische Miß deutung 33 auf die soeben angeführten Gedanken aus De coniecturis zurück mit der Erklärung : Der Mensch „ schränkt jene universale Form des Seins in einem

Abstieg, der Menschheit genannt wird, ein ; die Löwennatur partizipiert ihrem Abstieg entsprechend an der absoluten Form. Obwohl Gott alles in allem ist

( 1 Kor 15 , 28) , ist daher dennoch die Menschheit nicht Gott, wenn man auch das Wort des Hermes Trismegistos in einem vernünftigen Sinne gelten lassen kann . daß Gott mit den Namen aller Dinge und alle Dinge mit dem Namen Gottes 29 Vgl. S. 202 (V2 120 " ): Vidit Iohannes ... hominem microcosmum in se gestare mundi similitudinem. Nam in eo vidit quandam vim divinam spiritualem, quandam rationalem caelestialem, quandam terrenam sensibilem. In parte terrena vidit uti in terra respectu caeli quattuor angulos, unde venti quattuor principales oriuntur. 30 De coni . II , 14 (P 60') . ra

31 Ebd .

32 Vgl. S. 32 ( V1 131 "a-b) : Sic nec homo potest appetere , quod sit alterius speciei ... Non autem quietatur homo in specie sua ... Hinc motus humanitatis meae est, ut in homine meae humanitatis attingam Deum. Reperio igitur in me ipso hominem humani

tatis meae , qui ita est homo, quod est et Deus ..., et hic est Christus Iesus benedictus. 33 Zu der verurteilten Lehre des Amalrich von Bène vgl. Vf I 130—132. 162

„Menschliche Welt“ und „zweiter Gott“ zu benennen ' seien 34. Demnach könnte man den Menschen als ,vermenschlichten

Gott " ( ,Deus humanatus“) bezeichnen . “ 35 - Hier taucht schon inmitten der philo sophischen Anthropologie ein Wort auf, das in der Christologie, wenn auch in

wesentlich anderer Bedeutung, die Menschwerdung des Sohnes Gottes be zeichnet 36

5. In dem Buche „Über den Geist“ stellt Nikolaus erstmals ausführlich 37 jene neue Konzeption dar, die fortan für sein Menschenbild so bestimmend wurde:

Der menschliche Geist ist als Gottes „ lebendiges Bild“ in die Welt hinein gepflanzt. Wie Gott nämlich die Wahrheit alles möglichen Seins ontisch in sich

einfaltet und aus sich schöpferisch das ganze Universum entfaltet, so stellt der Geist als Abbild Gottes in seiner Weise eine Zusammenfaltung der gegenständ lichen Dingwelt dar, die sich in deren erkenntnismäßiger Abbilderung ent faltet 38

Dieser Grundgedanke erfährt in De beryllo noch eine zweifache Zuspitzung, und zwar einmal durch die Heranziehung des Protagoras -Satzes: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ 38, sodann durch die Bezeichnung des Menschen als , zweiten Gott“ (secundus Deus) 40. Cusanus erklärt dort dieses Wort des Hermes

Trismegistos so : „ Wie Gott der Schöpfer der realen Dinge und der natürlichen Formen ist, so der Mensch beim logischen Sein und den künstlerischen Formen. “ 41

In dieser doppelten Perspektive der Zusammenfassung des Kosmos – im menschlichen Stufenbau und in der Kraft des Geistes

erscheint der Mensch

zugleich auch als das von Gott gesetzte Ziel und als der Herr des sichtbaren

Universums. Der biblische Schöpfungsbericht fließt hier mit der philosophischen Spekulation in eins zusammen : Weil der Mensch auf Grund seiner Stellung im Kosmos die Zusammenfassung und den Abschluß bildet, wurde er auch zuletzt (in fine) erschaffen , damit alle Dinge in ihm als ihrem Ziel kulminierten 42.

Der Stufenbau des Kosmos ist für ihn da und gipfelt in ihm. „ Alle sichtbaren Elemente und das Vegetative sind mit dem Sensitiven verbunden, und ... das 34 Vgl. die Anm . von Klibansky zu D. Ign. I , 24 (H 48, 13) . 35 De dato Patris luminum c. 2 (P 194") . 36 Vgl . oben S. 135 .

37 Ansätze finden sich schon S 6 (C 21", 23): Labor hominis est ad descriptionem orbis. Dieser Gedanke wird in Predigt 33 und 34 weiterentwickelt; vgl. bes. S 34 (C 132",

20—23) : De descriptione orbis (Lk 2, 1) sciendum , quod humanitas in orbe tenet im perium, quia ,omnia subiecisti“ (Ps 8, 8 ; Hebr 2, 8) etc. Haec natura cum omnia contineat 9

et sit microcosmus, id, quod sub eo est, describere vult et computare divitias gloriae suae . 38 Näheres s. Vf I 184–187 .

39 De beryllo c. 5 (H 6, 13 f.; vgl. die Anm. von B a ur); vgl. c. 36 f. ( H 48—51 ) . 49 Dies Hermes -Zitat führt schon „ S 19 “ nach den Institutiones des Laktanz an (VF I 307) , aber noch als eine Offenbarung über den göttlichen Logos.

41 De beryllo c. 6 (H 7,6—8). Dazu kommt, daß der menschliche Geist, analog dem Verhältnis des Schöpfers zum Universum , auch als Wirk-, (formgebende) Form- und Zielursache des Leibes bezeichnet wird : De beryllo c. 18 (H 20 f. ) . – Vgl. V. Rüfner, Homo secundus Deus (Eine geistesgeschichtliche Studie zum menschlichen Schöpfertum ): Philos. Jahrbuch 63 ( 1935 ) 249—291. 42 Vgl. S 16 (H 30, 24—27), oben S. 100 f. Conc. I, 3 (H 41 ) zitiert Cusanus folgende Stelle aus Ambrosius , Ad Horontianum, ep. 23 ( PL 16 , 1126) : Sicut inter animalia

creata homo merito postremus quasi finis naturae formatus ad iustitiam, sic inter homines finis legis Christus ad iustitiam omni credenti . 163 11 *

Das Prärogativ des Menschen für die hypostatische Einung

animalische Leben ist in das geistige eingefügt“, weil der Mensch das Ziel ist“ 43 ; und „ der Schöpfer hat alles Sinnenfällige, Himmel und Erde und alles.

was auf Erden ist, durch Liebesbande mit der geistigen Natur verknüpft 4, damit es dem Menschen diene, in dem das lebendige Bild Gottes ist“ 45. 6. Der Gedanke, daß der Mensch Ziel und Krone der Schöpfung ist, ist beson ders in den cusanischen Predigten stark verbreitet; aber kaum klingt dieses

Motiv irgendwo an, ohne sich darin fortzusetzen , daß die Vollendung und das Ziel des Menschen in Gott liegen 46. Aus beidem zusammen folgt, daß die ge samte Schöpfung im Menschen zu Gott hinstrebt : Der Mensch hat die Mittel- und Schlüsselstellung der kosmischen Teleologie inne.

Die teleologische Mittelstellung beruht auf den beiden Voraussetzungen, daß der Mensch erstens die Schöpfung als die „ mittlere Natur“ zwischen reinem

Geist und reiner Materie zur Einheit verknüpft 47, und zweitens, daß an ihm allein die Vollendung des Universums in Gott hängt.

Hätte Gott nicht „ das vornehme Geschöpf, die Seele, mit dem Schmutze des Fleisches vereint“ , sagt Nikolaus mit Matthäus von Krakau 48, so „wäre die

körperliche und geistige Schöpfung sozusagen ohne Ordnung und Band geblieben und deshalb die Ordnung des Universums weniger vollkommen “ . Die Docta

Ignorantia steigert das noch : Weil die Einheit des Ganzen auf dem Menschen beruht, könnte es ohne diesen überhaupt kein Universum im eigentlichen Sinne geben 49.

Der Menschengeist ragt aber als Gottes „ lebendiges Bild“ auch ebensowohl über das Universum hinaus, wie er darein verflochten ist. Er ist, wie Cusanus

öfter mit dem Liber de causis sagt 50, „ an den Horizont von Zeit und Ewigkeit gestellt “ .

In der Theologia Platonis des Proklos 51 fand Nikolaus, als er seine Spätwerke 43 Brief vom 11. 6. 1463 (Siz 160 ""); vgl. Raimund Lull , Liber mirandarum demon nobilitate, hoc est, plantarum et metallorum et irrationalium, quia supremum bonum

strationum c. 24 (Mainz II 207 ) : Homo est finis omnium creaturarum, quae sunt sub illo in

creavit omnia ista propter hominem . 44 Hs.: construxit. Dies dürfte ein Verschreiben sein für: coniunxit. 45 Ebd. - Vgl. S. 57 (V1 110% ): Omnia, quae in caelo et in terra, ordinavit, ut tibi serviant. Theodor von Mopsvestia zu Eph 1 , 10 (,recapitulatio' , Swete I 129 ; Cod . Harleian 3036 , 79'—80°) : Fabricavit autem (Deus) animal unum , id est hominem, qui et ad invisibiles creaturas propinquitatem sibi anima vindicaret et visibilibus naturis corpore iungeretur ...; et quasi quoddam amicitiae pignus totius creaturae fecit esse

hominem, utpote omnibus in eum coadunatis. Moventur autem omnia sensibilia propter hominis necessitatem .

46 „ S 19“ (C 57', 48—51 ) : Creavit autem ultimo Deus hominem, tamquam in quo com

plementum et creaturarum perfectio consisteret. Hominis autem perfectio in Deo est. Sic itaque omnis creatura per hominem in Deum ordinata est; vgl . § 32 (V1 134**) ; De filia tione Dei ( P 67 ' ) ; De Genesi (P 72°—73") , S 121 (V25"b) usw. 47 Vgl . D. Ign. III , 1 (H 120, 30 — 121, 17) ; S 146 (V25014) : Homo positus in medio ... ; medium autem sortitur naturam utriusque.

48 S 198 (V2 117"") ; Rationale operum divinorum tr. 5, c. 6 (Rubczyński 137 ) . 49 D. Ign. III , 8 (H 144, 22-24). 50 Vgl. Vf I 149 .

51 Aus dessen Etolxelwo's decorixń ist der ps.-aristotelische Liber de causis exzer piert (Bardenbewer 12--37). 164

Seine teleologische Mittelstellung

schrieb, diesen Gedanken auch in der Fassung vor : „ Wenn die Geistseele in sich selbst hineinblickt, kann sie Gott und das All wie in einem Spiegel betrachten. Was unter ihr liegt, erscheint ihr dabei nämlich wie ein Schatten des Intelligiblen; was vor ihr liegt, kann sie gleichsam mit geschlossenen Augen in ihrer Tiefe be trachten .“ 52 Das zweifache Antlitz der Geistseele möchte Nikolaus auch in dem Begriff des

„ lebendigen Bildes“ vereinen : Der Welt gegenüber ist der menschliche Geist Gottes Bild als komplikatorische Einheit und explikatorische Kraft; Gott gegen über ist er das „ empfängliche Bild“ , das danach verlangt, die Herrlichkeit des Urbildes zu schauen, um von ihr erfüllt zu werden. „ Gott schauen und kosten kann nur die geistige Natur. “ 53 Von Gott her gesehen, bedeutet die Zielstrebigkeit der Schöpfung die Rück

kehr zum Ursprung. Diese Rückkehr verwirklicht den göttlichen Schöpfungsplan. Dieser ist nach folgender intentionalen Ordnung aufgebaut:

, Weil Gott sich zu erkennen geben wollte, um seine Herrlichkeit zu zeigen, schuf Er die geistige, erkenntnisfähige Natur. “ 54 „ Alles andere erschuf Er um dieser geistigen Kreatur willen, weil Er dieser allein seine Herrlichkeit zeigen konnte. “ 55 „Wie Er also das Ziel der geistigen Natur ist, so ist auch die geistige Natur ihrerseits das Ziel der sinnlichen und niederen Natur. “ 56

Adam war der König und Messias der Schöpfung 57. Erreicht aber der Mensch infolge von Sünde und Tod das Ziel der geistig -leiblichen Unsterblichkeit nicht, so bleibt auch die Schöpfung zerklüftet 58.

Das alles fügt sich zu einem eindrucksvollen Argument für die These zusam men, daß nur der menschlichen Natur eine besondere Eignung zur hypostatischen Einung zukam .

Weil der Mensch die Zusammenfassung der Geschöpfe ist, konnte vom Schöpfer kein anderes Geschöpf als die angenommene Menschennatur in die Ein

heit des Selbstandes aufgenommen werden, sollte darin ein jedes Geschöpf für seine Natur sein Ruhe-Ziel erreichen . “ 59 „ Hätte Gott nicht die menschliche Natur

angenommen , die als die Mitte in sich die anderen einfaltet, so wäre das Univer sum als Ganzes unvollständig oder bestände vielmehr nicht.“ 60 52 De ven. sap. c. 17 ( P 207") ; vgl. De non aliud c. 20 (H 48) ; Proklos, In Platonis theologiam IV, 16 (ed. Portus 208). Zu Plotin als der Quelle des Proklos s. Müller , Dionysios usw. 12–17. K. Weiß stellt zu Meister Eckhart , Expos. libri Exodi n. 13 (Lat. Werke II 18) Augustinus- und Avicenna-Stellen über das „zwiefache Antlitz der Seele “ zusammen .

53 S 161 (V2 60") ; vgl. S 17 (C 10', 27—34) , S 147 (V2 52°*) , S 204 (V: 17512-6). 54 Brief vom 11. 6. 1463 (Siz 160" ); vgl. Cribr. II , 16 (P 139 ') .

55 S 162 (V2 6376) ; vgl. De visione Dei c. 25 (P 113") . 56 Brief vom 11. 6. 1463 (Siz 160 " ). 57 Cribr. III, 21 (P 151 ") .

58 Vgl. Theodor v. Mops v. zu Eph 1 , 10 (Swete 130) : Dissolvebatur ergo secun dum hoc creaturae copulatio.

59 S 36 (C 133', 14–16) . 60 S 16 (H 30, 21—23) .

165

Die Idee der Vollendung des Universums im Gottmenschen

b) Die Vollendung des Universums in Jesus Christus 1. Der Abschluß der apriorischen Erörterungen in den Kapiteln Docta Ignorantia III, 1—3 besteht in der Ausmünzung dessen, was wir als vierte hypothetische Schlußfolgerung zählten. Dabei hebt Cusanus vor allem hervor : Wenn Gott die menschliche Natur, die sich als mikrokosmische Zusammenfassung des Univer sums am meisten für die Einung empfiehlt, in seinen Selbstand aufnähme, „ so wäre diese Menschennatur die Fülle aller Vollkommenheit, und in ihr würde

alles seine höchste Stufe “ und letztmögliche Vollendung erreichen 1. Diese Konzeption der perfectio universi' wird dann so erklärt: „Die Mensch heit kann nur in diesem oder jenem eingeschränkt existieren. Daher könnte unmöglich mehr als ein wirklicher Mensch zur Einung mit der Größtheit aufstei gen ?; und dieser wäre demnach so Mensch, daß er Gott, und so Gott, daß er Mensch wäre, (mithin) die Vollendung des Universums, da er ,in allem den Vor rang innehätte' (Kol 1 , 18) . In ihm fiele das Größte, Kleinste und Mittlere der mit der absoluten Größtheit geeinten Natur 3 so zusammen, daß er die Vollendung von allem wäre und daß die beschränkte Daseinsweise von allem in ihm wie in

der eigenen Vollendung ruhte. “ 4

Die Sonderstellung einer solchen Gott geeinten Menschennatur wird dann noch schärfer präzisiert : „Das Maß dieses Menschen

gälte auch für den Engel, wie

Johannes in der Apokalypse sagt 6, und für alles Einzelne. Denn er wäre die allumfassende (universalis) beschränkte Seiendheit aller einzelnen Geschöpfe

infolge der Einung mit der absoluten (Seiendheit) , die die absolute Seiendheit von allem ist. “ Die „ allumfassende beschränkte Seiendheit “ gäbe diesem Men schen auch solche Bedeutung, daß „alles durch ihn den Anfang und das Ende der Beschränkung fände, da alles durch ihn als das beschränkte Größte vom absolut »

Größten her in das Beschränktsein einträte (prodirent) und durch seine Vermitt lung (medium ) zum Absoluten zurückkehrte gleichwie durch den Anfang (princi

pium) der Emanation und das Ende ( finis) der Rückführung“ 7. Dies letzte stellt die Idee des Gottmenschen in den Zusammenhang des neu

platonischen Weltbildes hinein : Das All geht von Gott aus und kehrt zu Ihm zurück. In der Idee des Gottmenschen liegt es daher, daß er wegen der unmit telbaren Einung seiner menschlichen Natur mit Gott sowohl der Kulminations punkt der Schöpfung wie auch (ideell , nicht raum - zeitlich ) der Eintrittspunkt aus der absoluten Schöpfermacht Gottes in die beschränkte Existenzweise und der Zielpunkt ist, in dem alle Dynamik der innerkreatürlichen Teleologie aufge fangen wird.

1 D. Ign. III , 3 (H 127, 4–6). Vgl. die scholastischen Quästionen : Utrum Filius Dei humanam naturam assumere debuerit in omnibus suppositis (Thom . v. A q., In Sent. III d. 2, q. 1 , a. 2 ; Bonaven tura , desgl. a. 1 , q . 3), und: Utrum una persona possit duas naturas humanas assumere

( Thom . v. A q ., In Sent. III d. 1 , q. 2, a .5 ). Vgl . oben S. 148 Anm . 31 . 4 D. Ign . III , 3 ( H 127 , 7-13 ) . 5 d. h .: die ontische Möglichkeitsgrenze. 3

8 Apk. 21 , 17 : mensura hominis , quae est angeli. ? D. Ign. III , 3 (H 127 , 13—21 ) . 8 Vgl . unten S. 173 ff. 166

Der göttliche Logos als „ Gleichheit“

2. Nach diesem vorläufigen Aufriß der Vollendung des Kosmos im Gott

menschen erfolgt der letzte hypothetische Denkschritt auf das Christus-Geheim nis zu, der einsichtig zu machen sucht, daß die Vollendung des Universums die Einung mit der zweiten göttlichen Person erfordere ”. Dabei werden die Möglich keiten rein philosophischer Deduktion allerdings auch insofern überschritten , als

Cusanus hier das Trinitätsdogma mit einbezieht. Näherhin stützt er sich auf den im I. Buche der Docta Ignorantia entwickelten Begriff der „ Gleichheit “ 10.

Innertrinitarisch besagt dieses Wort die wesentliche und relationale Gleichheit des Sohnes mit dem Vater. Es ist deshalb der bevorzugte Name für die zweite

göttliche Person. Philosophisch bezeichnet derselbe Terminus die Gültigkeit der einen göttlichen, allumfassenden Schöpfungsidee gegenüber der kreatürlichen

Vielheit und Verschiedenheit. „ Da nämlich das göttliche Sein von höchster Gleich heit und Einfachheit ist, so ist Gott, auch sofern Er ,in allem ist, doch nicht stufen

weise darin, als teilte Er sich stufenweise und stückweise mit. Anderseits kann die Gesamtheit der Dinge nicht ohne stufenweise Verschiedenheit bestehen. Daher ist sie ihrer Art nach in stufenweiser Verschiedenheit ,in Gott' . “ 11 So ist die

göttliche „ Gleichheit“ allem nahe und doch transzendent. Drittens wird unter aequalitas in einem zusammenfassenden Sinne beides ver standen : die Gleichheit Gottes nach außen als Manifestation der Gleichheit des

Sohnes mit dem Vater 12. Auf dieser dritten Bedeutung beruht die folgende Argumentation:

„ Sofern Gott die Gleichheit des ,alles -Seins'13 ist, ist Er der Schöpfer des Uni versums, da dieses auf Ihn hin geschaffen ist. Der höchsten und größten Gleich heit des absoluten alles- Seins' müßte also die besagte Menschennatur geeint

werden, damit Gott selbst auf Grund der angenommenen Menschennatur auch in dieser auf beschränkte Weise alles wäre, wie Er die Gleichheit des absoluten ,alles -Seins' ist. Jeder Mensch wäre also, da er auf Grund der Einung in der höchsten Seins -Gleichheit selbst subsistierte, der Sohn Gottes als das Wort, in

dem ,alles geworden ist (Joh 1 , 3) , oder die Gleichheit des Seins selbst, die, wie oben gezeigt wurde 14, Gottes Sohn genannt wird . Dieser hörte aber nicht auf, Menschensohn zu sein, wie Er auch nicht aufhörte, Mensch zu sein, wie weiter >

unten gesagt wird. “ 15

3. Mit dem Kapitel Docta Ignorantia III , 4 betritt Cusanus den Boden der neu testamentlichen Offenbarung. Für diese ist das beschränkte Größte nicht mehr

nur eine reine Möglichkeit. Sie zeigt beides geschichtlich verwirklicht in Jesus Christus, dem „ Erstgeborenen aller Schöpfung “ (Kol 1 , 15) , den „ alle Kreatur 9

Vgl. oben S. 88 f.

10 Vgl. Vf I 231—236.

11 D. Ign . III, 4 (H 131 , 1-5) ; vgl. Liber de causis prop.23 (Bardenhewer 184 ). 12 Vgl. D.Ign. I, c. 7–9 u . 24 (H 50,28 — 51 , 18) ; Verf., Die Bedeutung des Trinitäts gedankens bei Nık . v. Kues: Trierer 'Theol. Zeitschr. 61 ( 1952) 26 f. 13 Vgl. z. B. Apologia (H 28, 21 ) : Deus est omnia complicite modo intellectualiter divino.

14 D. Ign. I, 9 (H 18, 27 ) .

15 D. Ign. III, 3 (H 128, 1-10) ; der Hinweis bezieht sich auf c. 5 (H 135, 11—31 ) . 167

Die Vollendung des Universums und ihre Verwirklichung in Jesus Christus von Anfang an erwartete als den, der in der Zeit kommen sollte und der seine

Ankunft durch die Propheten vorhergesagt hatte “ 16. Die Evangelien verkünden Jesus als den, der „kam, um alles zu erfüllen (Eph 4, 10) . Kraft seines Willens gab Er allen die Gesundheit wieder. Alle dunkle und verborgene Weisheit lehrte Er als einer, der Macht über alles hat. Als Gott ließ Er Sünden nach, weckte Tote auf, wandelte die Natur, befahl den Geistern, dem Meere und den Winden, wandelte über das Wasser und stellte ein Gesetz auf, durch dessen Fülle alle Gebote ergänzt werden. “ 17

„ Nach dem Zeugnis jenes einzigartigen Wahrheitskünders Paulus, der in der Entrückung von oben erleuchtet wurde 13, haben wir in Ihm alle Vervollkomm

nung, Erlösung und Sündennachlassung .“ Nikolaus zitiert dann fast den ge samten Hymnus des Kolosserbriefes auf die Erhabenheit Christi ( 1 , 14—20) 19, der offenbar die Hauptquelle für seine eigene Konzeption von der Größe des

Gottmenschen und auch gleichsam das Richtziel seiner philosophischen Deduk tionen zu Anfang des III . Buches der Docta Ignorantia bildete : „Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung; denn in Ihm ist alles begründet im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, seien es Throne oder Herrschaften, Mächte oder Gewalten alles ist durch Ihn und in Ihm 20 erschaffen. Er ist vor allen, und alles (das All) hat in Ihm seinen Bestand. Er, der Anfang, ist das Haupt des Leibes der Kirche, der Erstgeborene aus den Toten, damit Er

in allem den Vorrang habe. Denn in Ihm gefiel es (Gott) die ganze Fülle wohnen zu lassen und durch Ihn alles mit sich zu versöhnen. “ 21

Das Stichwort „ Erstgeborener aller Schöpfung “, mit dem dieses biblische „Zwischenspiel“ in der Docta Ignorantia gleichsam überschrieben ist, kehrt in den cusanischen Predigten oft wieder. Dabei läßt sich das Bemühen um dessen Exegese verfolgen.

Nach Predigt 20 ist Jesus „ der Erstgeborene ( vor ) aller Schöpfung, wenn wir betrachten , wie Er aus Gott und über aller Zeit ist “ 22. Mit dieser Auslegung stimmen die Elucidatio zum Kolosserbrief 23 und mehrere spätere Predigten über ein 24. Hierher gehören auch solche Stellen, an denen unter der „ Erstgeburt “ 16 D. Ign . III, 4 (H 129, 21

130, 2) .

17 Ebd . H 130.2—7 ; zu dem letzten vgl. Mt 22, 40. 18 Vgl . 2 Kor 12 , 2—4 . 19 Der Text ist wörtlich der Vulgata entnommen.

20 Auf diese Stelle, insbesondere auf das griechische els autóv

hätte sich Cusanus

für die Bezeichnung Christi als principium emanationis' und finis reductionis' berufen können . 21 D. Ign. III, 4 (H 130, 7—17) ; vgl. die Amplifikation dieses Textes in der Elucidatio ( V2 288-2916).

22 S 20 (C 87", 19); vgl. ebd. Z. 9f.: Primogenitus omnis creaturae, cuius esse participat omnis creatura, qui ,solus Altissimus' (Gloria der heiligen Messe) omnes omnium in se complicans perfectiones. 23 Elucidatio ep. ad Col. (zu 1 , 15 ; V2 28876) : Et est primogenitus omnis creaturae. Ante

enim omnem creaturam est genitus in sua virtute omnem complicans creaturam, quia est logos seu ratio rerum .

24 S 204 (V2 174" ), S 248 (V2 188 ), S 255 (V2 2005-»*) ; vgl. De beryllo c. 23 (H 28, 3) , wo die göttliche Weisheit nach Pred . 24, 14 primogenita omnis creaturae' genannt wird . 168

Der " Erstgeborene aller Schöpfung" Christi dessen natürliche Gottessohnschaft im Gegensatz zur gnadenhaften Adoptivkindschaft verstanden wird 25. „Anderseits nennen wir Christus nicht nur seiner Gottheit nach den , Erstgeborenen aller Schöpfung , sondern eben als den Christus, den Gottmenschen. " 26 Dazu entwickelt Nikolaus nacheinander folgende Begründungen : Durch Ihn erreichen wir in unserer Menschennatur das Ziel des Friedens und den Ruhepunkt für das Vernunftstreben unseres Geistes. So ist Er also jener Fürst, den alle Kreatur seufzend ersehnt 27. Alle Kreatur verlangt nämlich danach, auf möglichst gute Weise zu sein. Das ist aber nur so möglich, daß ein Mensch, der auch Gott ist, alle niederen Wesen in seiner Geistnatur zusammenfaßt. " 28 — „Er ist der Erstgeborene, weil Er das Ziel aller Geschöpfe ist, obwohl Er dem zeitlichen Weltablauf nach erst nach Adam und Abraham erschien ... Er ist das Ziel aller Geschöpfe, weil alle erst in Ihm zur Ruhe kommen ... Da nämlich der Schöpfer , alles um Seiner selbst willen wirkte' (Spr 17 , 4) , kommt die Kreatur erst dort zur Ruhe, wo sie ihrem Schöpfer in Personeinheit geeint ist. " 29 Der Erstgeborene hat den Vorrang vor all seinen Brüdern ; alle andern sind seine Diener. Die gesamte Erbschaft des Vaters gehört dem Erstgeborenen. Die Brüder empfangen durch den Erstgeborenen Anteil an der Königsherrschaft. " 30 - Als der Erstgeborene erlangt Christus als einziger für seine Brüder „den Siegespreis" 31. 4. Von dem Gottmenschen Jesus Christus gilt somit alles, was zuvor hypothetisch von der hypostatischen Vereinigung des Mikrokosmos Mensch mit dem absolut Größten gesagt wurde : „Er allein ist der Höchste, die Vollendung und die Fülle von allem. “ 32 -"Er ist das Ziel des Universums und die Kulmination aller Vollkommenheit ; so ruht in Ihm die ganze Schöpfung. " 33 „Jesus, der in Ewigkeit Gepriesene, ist das Ziel aller Einsicht, weil Er die Wahrheit ist, aller Sinne, weil Er das Leben ist, schließlich auch das Ziel alles Seins, weil Er die Seiendheit und die Vollendung aller Schöpfung ist , denn Er ist Gott und Mensch. " 34 Dieses metaphysisch-kosmologische Bild der Größe des Gottmenschen enthüllt sich mit dem Fortschreiten der cusanischen Gedankenentwicklung mehr und mehr als das des Welterlösers, der alle Mängel aller Menschen ausfüllt “ 35. Die Vollendung des Universums, die in der Vollkommenheitsfülle Christi bereits ihre 25 S 174 (V2 81b-va) , S 280 (V2 271 ). 26 S 36 (Ċ 133', 17). 27 Vgl. Is 9, 6 und Röm 8 , 22. 28 S 32 (V₁ 131ˇª). 29 S 67 (V₁ 120°ª) ; vgl. unten S. 176–181 . 30 S 174 (V2 81r ) . 31 S 265, 1 (V2 221 ") ; vgl . 1 Kor 9, 24. 32 Apologia (H 35, 14) . 33 De visione Dei c. 21 (P 110 ) . 34 D. Ign. III , 11 (H 153 , 27-29) ; vgl. ebd . H 154, 7 f.: Christus est ipsa incarnata ratio omnium rationum, quia ,Verbum caro factum est' (Joh 1 , 14) . 35 D. Ign. III, 6 ( H 138 , 3 ) ; vgl. ebd . c. 11 ( H 157 , 12f. ) : Iesus potens super omnia, nos omni benedictione adimplens , omnes nostros defectus solus faciens abundare.

169

Die soteriologische Vollendung des Universums durch Christus höchste Stufe gefunden hat, aktuiert sich weiter dadurch, daß die gesamte geistige Schöpfung an seiner Fülle partizipiert 36. Die Tatsache, daß „ in Christus Jesus die menschliche Natur zur Gottheit erhoben ist, ist die Vollendung des Universums, besonders aber unserer menschlichen Natur. Indem Er nämlich die höchstmögliche Stufe der menschlichen Natur erreicht, faltet Er unsere ganze Natur ein und eint so alle Selbstände dieser Natur, die sich zu Ihm hinwenden. " 37 Als Gottmensch steht Christus unvergleichlich über der Vollkommenheit der anderen Menschen. In seiner Maximität liegt die Fülle, um alle mögliche menschliche Vollkommenheit zu vollenden 38. Dieser soteriologische Gesichtspunkt sei vorerst nur angedeutet 39, damit das, was Cusanus über den größtmöglichen Menschen sagt, nicht nur als „ kosmologische" Spekulation erscheine. Denn wohl trifft die Formel zu : „Das Universum fordert den Humanitätsbegriff als Kulmination, und der Humanitätsbegriff einen Christus als Manifestation. " 40 Durch die Vollendung des Universums in der Größe Christi möchte Cusanus zugleich aber auch die Möglichkeit der Vollendung eines jeden einzelnen Menschen wie der gesamten Menschheit in und durch Christus begreiflicher machen. 5. Dasselbe erstrebt auch die Anwendung des Ternars ,principium, medium et finis' auf Christus 41. Bei diesen drei Worten läuft ein doppelter Sinn mit. Principium kann sowohl Ursprung wie Anfang, finis sowohl Ziel wie Ende besagen. Das Wort medium bezeichnet entsprechend , wenn es von Gott gilt, die göttliche Urbild-Ursächlichkeit, die den Dingen den innersten Sinn gibt, andernfalls die dingimmanente Mitte ; bei Christus erlangt es, auf die menschliche Natur angewandt, die Bedeutung „ Mittel ".

Demnach ist diese Formel in der cusanischen Christologie bald mit „Ursprung, Mitte und Ziel" , bald mit „ Anfang, Mittel und Ende" wiederzugeben. In der ersten Bedeutung gilt sie zumindest primär von der göttlichen, in der zweiten von der menschlichen Natur. In dem ersten Fall schwingt die Symbolvorstellung einer „unendlichen Kugel, deren Mittelpunkt überall, deren Peripherie nirgends ist“ 42, mit, im zweiten die des Kreisumlaufes, der zu dem Ausgangspunkt zurückkehrt. In dem ersten Sinne sagt Nikolaus : „ Jesus ist Ursprung, Mitte und Ziel alles Seins und Lebens und aller Einsicht. " 43 Er ist „ als reine Wirklichkeit Ursprung, Mitte und Ziel aller Möglichkeit, und deshalb sind und bewegen wir uns in Ihm (Apg 17 , 28) , und Er wirkt alles in allem" 44. - Die ewige Weisheit ist Vollendung, Ursprung, Mitte und Ziel alles Verlangens " 45, - Von dem verklärten Christus sagt die Docta Ignorantia : „Er ist das Zentrum und die Periphe36 Cribr. II, 4 ( P 144") : Unde patet, quod Christus est perfectio absoluta intellectualium creaturarum, de cuius plenitudine omnes participant. In Christo igitur capite omnis creaturae est perfectio. 38 S 289 (V2 284rt-va) . 37 S 16 ( H 34 , 9—14) . 40 Hoffmann , Universum 25 . 39 Vgl. unten S. 228 ff. 41 Zum Folgenden vgl .: „ Gott als principium, medium et finis “ : Vf I 84-98. 43 S 32 (V₁ 130™) . 42 Alanus ab Insulis , Regulae theol., eg. 6 (PL 210, 627) . 44 S 24 (V1 86a-b). 45 De sap. I. 15, 6) .

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Christus als principium , medium, finis

rie der geistigen Natur,und da schon der Geist alles umfaßt, ist Er über allem ... Er herrscht in jenen geistigen Himmeln (der Seligen) , da Er die Wahrheit ist; dem Ort nach thront Er nicht mehr auf dem Umkreis als im Zentrum, da Er das

Zentrum aller vernünftigen Geister, weil ihr Leben, ist. Deshalb versichert Er auch , daß dieses Himmelreich im Innern (intra) des Menschen sei : Er ist die Lebensquelle für die Seelen und deren Ziel . “ 46 In Christus fallen , das Alpha und das Omega, der Ursprung und das Ende“ (Apk 1 , 8) zusammen . Dieser Zusammenfall bedeutet den Frieden Gottes, in dem alle Wirk-, Urbild- und Zielursächlichkeit eins ist. Weil Jesus diese dreiursäch liche Einheit in seinem göttlichen Wesen trägt, ist Er , die Ruhe und vollkom mener Friede “ . Bei seiner Geburt bringt Er diesen Frieden in diese Welt 47.

Der zweiten Symbolvorstellung entspricht es, daß Christus zugleich als der Anfang der Emanation und das Ende der Rückführung alles Geschöpflichen zu Gott bezeichnet wird 48. In der moselfränkisch erhaltenen Predigt 18 heißt es :

„Er geht aller Schöpfung Gottes voraus und ist ihr Haupt, alle Werke Gottes finden Ruhe in Ihm “ ; dann : „ Er ist der Anbeginn des Ausfließens aller Kreatu ren, das Mittel 49 des Rückflusses und das Ende aller Vollkommenheit. “ Das

letzte wird begründet: „ Da die menschliche Natur alle Naturen, die himmlische und die irdische, in sich vereinigt und selbst (hinwieder) in Christus mit Gottes

Sohn vereinigt ist, ist Christus das Ende aller Vollkommenheit. “ 50 So schließt sich in Christus und durch Ihn der Kreislauf, in dem alles Sein von Gott ausgeht und

zu Ihm zurückstrebt: „Das Körperliche findet Ruhe im Lebendigen, das Leben dige im Geistigen, das Geistige in der Wahrheit, die Gott ist. “ 51 Predigt 277 entwickelt durch die Verknüpfung beider Möglichkeiten dieses Ternars die Erkenntnis : Christus ist die Tür (ostium) “ . „ Wie bei der Türe, trifft bei Ihm das Eingehen und das Ausgehen zusammen (coincidunt) 52. Die Türe ist nämlich zum Aus- und Eingehen zugleich. Christus ist die Türe, durch die jedes Geschöpf ins Sein hinaustritt, weil Er der Sinngrund der Dinge ist, durch den alles und ohne den nichts erschaffen ist“ 53, und Er ist die Türe, durch die alles zu seiner Ursache oder seinem Sinngrund als dem Ursprung zurück kehrt. Er ist zugleich die Tür der Schöpfung und der Erlösung oder des Aus und des Rückfließens zugleich. Wer das geistig tief betrachtet, wie Christus der Weg ist 54, auf dem jedes Geschöpf ins Sein kommt, um das zu sein, was es

ist, ... und auf dem jedes Geschöpf notwendig beim Rückfließen einen Kreis umlauf vollzieht ... , der sieht auch, daß Er in solcher Art das Mittel zu Fluß 4 47 # 4

D. Ign . III, 8 (H 145, 18 f. 25—30) 3; zu den letzten Worten vgl. Lk 17 , 21 ; Joh 4, 14 . S 161 (V2 5910—60 " ). D. Ign. III , 3 (H 127 , 20 f. ) ; vgl. oben S. 166. Ein solches „ Mittel “ ist Christus auf vierfache Weise : als kräftige Speise, als Auf

hebung von Hindernissen, als Wegweiser und als Schutz (S 18 n . 5 : H 28). 51 De dato Patris luminum c. 5 (P 196') . 62 Vgl. Joh 10,9 : Ego sum ostium. Per me si quis introierit, salvabitur, et ingredietur 5 S 18 n. 27 ( H 60 ) .

et egredietur et pascua inveniet .

* Vgl. Joh 1, 3. Hier greift Nikolaus, zur Begründung des Vermittlungsgedankens (.Tür" ), auf die Schöpfungsursächlichkeit des Logos zurück. * Vgl. Joh 14, 6. 171

Christus als principium , medium , finis

und Rückfluß ist, daß Er zugleich auch Ursprung und Ziel ist. Ein solcher wird immerzu seine Weide finden .“ 55 Inwiefern Christus „Mittel zum Rückfluß ist“, wird anderswo so erklärt: , Die

Herrlichkeit Gottes wäre unerkannt geblieben , gäbe es keinen , der sie zeigte ( ostensor) 56. So ist Er die Vollendung aller Kreatur und die Tür, durch die man zur Schau der Glorie eintritt. “ 57

Der Ternar ,principium, medium et finis“ war so recht geeignet, mit seiner Doppelbedeutung die Mittlerschaft Christi zu unterbauen und zu unterstreichen. Denn „ ebenso wie wir durch Ihn ins Sein und in die zeitliche Welt eintraten,

können wir auch nur durch Ihn ins unzeitliche Sein und ins ewige Leben geführt werden auf dem Wege, den Er durch Werk und Wort zeigte als der Anfang, der in allem den Vorrang hat' (Kol 1 , 18) " 58.

Die Quelle dieser Christus -Symbolik ist vor allem das Christus-Wort der Apokalypse : „ Ich bin das Alpha und das Omega, der Ursprung und das Ziel. * 59 Die Vorstellung des Kreisumlaufes der Welt gehört zu den Grundzügen des neuplatonischen Weltbildes 60. Die Formel ,principium, medium et finis' fand -

Cusanus im genannten zweifachen Sinne insbesondere bei Ps.-Dionysius 61 und

Eriugena 62 vor. Dionysius sprach auch schon den Gedanken aus, daß Jesus die Zusammenfassung, der Anfang und die Vollendung aller Hierarchien sei 65. Unter den cusanischen Zeitgenossen war z. B. Heymeric van den Velde mit der

Vorstellung Gottes als einer unendlichen Kugel, in der Mittelpunkt, Durchmesser und Peripherie zusammenfallen 64, ebenso wie mit der des Kreislaufes der Dinge 65 wohl vertraut.

65 S 277 (V2 263va). Andere Stellen deuten die Symbolik des Kreislaufes nur an, z. B. S 32 (Vı 131 \a) : perquem omnis creatura in esse existit et in quem redire exspectat.

Vgl. Àlcher , De spir. et anima c. 9 (PL 40, 785) : Propterea Deus factus est homo, ut 9

totum hominem in se beatificaret, ut,sive ingrederetur sive egrederetur, pascua in Factore suo inveniret ; pascua foris in carne Salvatoris, pascua intus in divinitate Creatoris. Diese Stelle wird von Matth. ab Aquasparta ( Quaestiones de Christo, App. q. 1 ) dafür zitiert, daß Christus auch ohne den Sündenfall Mensch geworden wäre (S. 177 180). 56 Vgl . Joh 14 , 8 f.

57 S 255 (V2 2007b) ; vgl. S. 147 (V2 51'*): Si bene consideras, Deus Creator omnium omnia propter revelare se creavit ; et quia Pater non nisi in Filio revelari potest, ideo

Filius est consummatio omnis creaturae; ebd. V2 526: Sine illo nemo potest attingere finem , cum finis sit cognitio Dei . 58 De principio n. 40 (V2 256") . 59 Apk 1 , 8; 22, 13. Cusanus legt diese Stelle im Sinne von „Ursprung und Ziel“ aus ;

vgl. S 39 (V1 92%*) : Christus dicit: „Ego sum alpha et oʻ ; unde ,Ego non convenit nisi Deo et Domino Iesu ; S 32 (V1 130 " ); Š 161 (V2 596). Während hier die Gottheit als das Ziel betrachtet wird,gilt das andernorts von der in dieser subsistierenden Menschennatur. S 67 (V1 120 ) erklärt Apk 22, 13 : Haec creatura est, in qua omnes creaturae habent finem et principium .

60 Zu Plotin vgl. Ueberweg - Praechter 603, zur prokleischen Tepóodos und ÉTELOTPOOń ebd. 626 ; vgl. Liber de causis prop.14 (Barden hewer 177). 61 De div. nom . IV, 4 (PG 3, 700 A ); IV , 14 (712 D) ; V, 8 (824 A) ; V , 10 (825 B) . 62 De div . nat . I , 11 ( PL 122 , 451 C D ) . 63 De cael . hier. I , 1 (PG 3, 372 A B) .

64 Vgl. Vf I 90 f. 256–62; unten S. 184 .

85 Quaestiones super libros philosophiae rationalis, realis et moralis (Cod. Cus. 106,

55 "); Compendium divinorum (Cod. Mogunt. 614, 270"4= b) ; Theoremata totius universi (Cod . Cus. 106, 64'—65') . 172

Gottes höchste Güte und Macht als Motive der Inkarnation

c) Christus das Ziel des Universums und die Frage nach dem entscheidenden Motiv der Inkarnation

1. Im Anschluß an die „ apriorischen “ Erwägungen, in denen die Möglichkeit durchdacht und in ihrer Folgerichtigkeit entwickelt wurde, daß das Universum

durch die Einung einer menschlichen Natur mit der göttlichen Gleichheit seine

höchste Vollendung finden könne, kommt Nikolaus noch in dem Kapitel Docta Ignorantia III, 3 auf die Gründe für die Realisierung einer solchen Vollendung des Universums durch Gott zu sprechen. Dabei stellt er fest : Die besagte innere Möglichkeit widerspricht nicht der höchsten Güte und

Vollkommenheit Gottes, da Er sie ohne Selbst-Veränderung, Verminderung oder Verkleinerung erfüllen kann. Es entspricht vielmehr (conveniunt) seiner uner meßlichen Güte, daß alles aufs beste und vollkommenste in der gebührenden Ordnung (ordine congruo ) von Ihm und auf Ihn hin geschaffen sei . “ Daraus wird

der Schluß gezogen: „Da andernfalls alles vollkommener sein könnte ?, so kann nur einer, der leugnet, daß Gott ist oder in höchster Weise gut ist, vernünftiger weise eine andere Meinung vertreten. Denn aller Neid ist weit von dem ver bannt, der in höchster Weise gut ist. “ 2

Mit der anderen Meinung“ dürfte in diesem Zusammenhang die Behauptung gemeint sein, es gezieme sich nicht für Gott, die Ordnung des Universums durch die Menschwerdung zu vollenden, oder es liege gar ein Widerspruch darins. Daran knüpft Nikolaus sogleich ein zweites Argument: Gottes „Wirksamkeit (operatio) kann nicht mit Mängeln behaftet (defectuosa) sein. Wie sie selbst maximal ist, nähert sich vielmehr auch ihr Werk möglichst dem Größten.

Die größte Macht findet aber nur in sich selbst einen adäquaten Gegenstand , denn nichts ist außer ihr, und sie selbst ist unendlich .

Sie findet also an keinem Geschöpf ihre Grenze ; vielmehr könnte die unbe

grenzte Macht gegenüber jedem beliebigen ein besseres oder vollkommeneres schaffen 5.

Wird aber ein Mensch so zur Einheit mit eben dieser Macht erhoben, daß er

nicht mehr als Geschöpf für sich , sondern in der Einheit mit der unbegrenzten Macht subsistiert, so hat die Macht nicht mehr in einem Geschöpf, sondern in sich selbst ihren Gegenstand. Das ist somit die vollkommenste Wirksamkeit der größ Die Einschiebung eines ,non' an dieser Stelle (Ausg.) entspricht nicht der cusanischen Gedankenführung; vgl. die folgenden Zeilen 18—23. 2 D. Ign. III, 3 (H 128, 11–18) . Zum letzten Satz vgl. Platon , Timaios 29 e : „ Er

(der Schöpfer des Àlls) war gut, und in einem Guten entsteht niemals Neid . “ * Ahnlich argumentiert schon Predigt 1 (C 18°, 38 f. ) bezüglich der innertrinitari schen Lebensvorgänge: Qui crederet Deum non posse se summe communicare, negaret in eo potentiam ; qui hoc crederet, sed diceret nolle, clementiam negaret; qui posse et

velle fateretur et diceret eum ignorare, sapientiam negaret. Dabei ist Nikolaus von Bonaventuras Breviloquium (pars 1 , c. 2 ; V, 210 a) abhängig. Ähnlich argumentiert Raimund Lull (Vf I 24) .

4 Potentia autem maxima non est terminata nisi in se ipsa. Terminari' bedeutet, wie das Folgende zeigt, sowohl „begrenzt werden “ wie „ seinen Gegenstand in etwas haben“ . 3 Vgl. S 71 . n . 17 (H 110) : Got ist ein alls volkomens gut, das er alle ding, die er

peschaffen hat, hundert mal pesser mocht machen an (ohne) alle arbat. 173

Gottes höchste Güte und Macht als Motive der Inkarnation

ten, unendlichen und unbegrenzbaren Macht Gottes 6. Daran kann sie es nicht fehlen lassen. Andernfalls gäbe es weder einen Schöpfer noch ein Geschöpf.“ Dogmengeschichtlich ist zu bemerken , daß derartige Begründungen für die

Konvenienz oder Kongruenz der Menschwerdung mit den Eigenschaften Gottes und der göttlichen Weltordnung der Hochscholastik geläufig waren. Bonaventura bezeichnet in einer Predigte die Güte Gottes als den höchsten Grund der Inkarnation und erklärt, daß der Blick auf die Güte Gottes und auf die

dreifache göttliche (Wirk-, Urbild- und Ziel-) Ursächlichkeit diese als „ gewiß und unbezweifelbar “ , erscheinen lasse 10. Thomas von Aquin kommt in der Theologischen Summe unter zweimaliger Be rufung auf Dionysius - dafür, daß Gottes Natur mit seiner Güte identisch sei und daß die Selbstmitteilung zum Begriff der Güte gehöre 11 – zu dem Schluß : „ Es gehört also zum Begriff des höchsten Guten , daß es sich der Schöpfung in höchster Weise mitteilt. Daher war die Inkarnation Gottes offensichtlich kon venient. “ 12 Danach findet sich bei Thomas auch schon das zweite cusanische Mo

tiv : „ Es gehört zur göttlichen Allmacht, daß sie ihre Werke vollende und sich durch eine unendliche Wirkung manifestiere“, jedoch als Gegenargument, das

bei Behandlung der Frage, ob Christus auch Mensch geworden wäre, wenn Adam nicht gesündigt hätte, angeführt und entkräftet wird 13. Die vorliegende Ausgestaltung des Kongruenzbeweises aus der Macht und

Wirksamkeit Gottes steht in deutlichem Zusammenhang mit Raimund Lull. Die Exzerpte in dem heutigen Cod . Cus. 83 zeigen, wie Cusanus dieses Motiv vor allen anderen Versuchen Lulls, die Inkarnation spekulativ zu beweisen 14, in des 6 Vgl . S 24 (V1 866): Pater in divinis voluit potentiam suam terminari in se ipsa, ut ita esset operatio maxima terminata in potentia Filii. - S 36 (C 133', 9—14) gibt dem

Argument diese Form : Dico incarnationem Verbi esse complementum et quietem creationis; nam in illo opere quiescit potentia (Dei) in se ipsa, ut alibi habes . Creata enim quacumque creatura cuiuscumque perfectionis perfectior potuit creari, quantum erat ex parte potentiae Dei. Sed quando creatura in ea est perfectione, quod in Deo suppositatur, completa est potentia creandi, quae est Deus, quoniam tunc non est medium inter creaturam et Creatorem , et est unio, qua nulla strictior esse potest; et hinc est quies

potentiae in se ipsa. - S 69 (V2 3014) begründet in ähnlicher Weise, daß die göttliche Schöpferkunst nur in der Vereinigung von Urbild und Abbild die höchste Entfaltung

finden kann : Quia adhuc universitas variarum imaginum Artis, quae sine variis gradibus participationis Artis esse non possunt, non perveniret ad perfectam Artis explicationem, nisi Ars ipsa in sua plenitudine perfecta maximi gradus, qui maior esse non posset , explicaretur, unde ob hanc perfectionem universi Ars aeterna in imaginem descendit . 7 D. Ign. III , 3 (H 128, 12—29). 8 De annuntiatione , sermo 3 ( IX 667 b — 668 a) ; vgl . In nativitate Domini, sermo 11 ( IX 109f.) : Ista figura non est in universo completa. Ut autem perfectissima esset

figura universitatis, linea curvata est in circulum ... Per hoc autem , dum (unibilitas humanae naturae) in actum reducitur, omnis creaturae perfectio ultimatur. Vgl . Bis sen , De motivo 327-29 .

9 Das ,indubia nunc fide ' ( D. Ign . III , 4 ; H 129, 18 ) erinnert daran . 10 Zu Albert d . Gr. s . unten S. 182 .

11 Dionysius , De div . nom . I , 5 ( PG 3 , 393 B-D ) ; IV , 1 (693 B) .

12 S. theol. III q. 1 , a. 1 ( Utrum fuerit conveniens Deum incarnari ) c. 13 S. theol. III q. 1 , a. 3, obi. 2; vgl. In Sent. III d. 1, q. 1, a. 3 c. , ad 3. 14 Vgl. Erh . Platzeck , Doctrinas teológicas y filosóficas de R. Lulio en las obras de Nicolás de Cusa , in : Rev. Españ . de Teol. 2 ( 1942) 322 : El Cardenal habla solamente

razones de conveniencia, mientras que Lulio pretende presentarnos razones necesarias. 174

Raimund Lull als cusanische Quelle

sen Schrifttum mit Interesse verfolgte 15. Besonders aufschlußreich sind seine Notizen aus der ,Ars mystica theologiae et philosophiae“ 16. In dieser Schrift be zeichnet Raimund die ,wirksamste Wirksamkeit“ als eines der Wesensprinzi

pien des Göttlichen, zu denen überhaupt jeweils die entsprechenden Akte ge hören, da sie ohne diese „im superlativen Grade mangelhaft, müßig, ,ohne Natur* und der höchsten Vollendung beraubt wären“ 17. „Daraus ergibt sich die Inkar

nation. Ohne diese könnte Er (der Schöpfer) nicht in höchster Weise wirksam sein, weil Er zu der geschöpflichen Verwirklichung immer noch hinzufügen

könnte. Eint Er sich aber mit einem Geschöpf, so kann Er das Geschöpf nicht noch mehr verwirklichen .“ 18 Andere Aufzeichnungen weisen in die gleiche Richtung 19. Eine Stelle der Spätschrift „ Über die Jagd nach der Weisheit“ , die besagt, das geschöpfliche Werdenkönnen sei nur im Possest (der göttlichen Wirklichkeit alles Möglichen ) als seinem Ursprung und Ziel voll und ganz determinierbar, läßt an Dionysius als eine weiter zurückliegende Quelle denken 20. 2. Unmittelbar nach Anführung der beiden Motive für die Vollendung des Universums durch die Menschwerdung stellt Nikolaus die Frage :

„Wie könnte die Schöpfung nämlich in beschränkter Weise ,von dem Göttlich Absoluten sein, wenn nicht die Beschränkung selbst mit diesem geeint werden könnte? 21 Sodann erklärt er die vermittelnde Funktion dieser Beschränkung:

15 Vgl. unten S. 192 f.

18 Die diesbezüglichen Stellen hat Nikolaus sorgfältig exzerpiert ; vgl. Cod. Cus. 83, 94 ", 52—54 : Deus operalissimus causat effectum operalissimum , ut per suum effectum cognoscatur ipsum esse operalissimum. Sed hoc sine incarnatione esse non potest. Ergo etc. Ita consequenter arguitur de omnibus principiis. So wiederum f. 95°, 6 f.: Ita argui potest pariformiter cum aliis attributis et principiis. Deo gratias ! Raimundus ad longum ponit rationes at postea quaestiones. Der richtige Titel der noch ungedruckten Lull schen Schrift dürfte nicht, wie Cusanus schreibt, „Ars mystica' , sondern ,Ars mixtiva' usw. lauten (Carreras I 317 , n. 182 ) .

17 Cod. Cus. 83, 94", 14 f. werden fünfzehn principia im Superlativ aufgezählt : unitas unissima, operatio operalissima usw. Darauf folgt (Z. 17—21 ): Sine istis enim principiis in superlativo permanentibus et insuper convertibilibus Deus in superlativo gradu esse

non posset, neque ista principia existere possunt sine actibus propriis, scilicet quod

unitas unissima habeat actum proprium etc.; alias essent in ipso gradu superlativo de fective , otiose et sine natura et ab ultimo fine privata.

18 Cod. Cus. 83, 95*, 4f. Die dortigen Zeilen 1–7 scheinen noch aus der Ars mixtiva exzerpiert zu sein. 19 Die Cod. Cus. 83, 133'— 137 ' handschriftlich vorliegende, ebenfalls noch ungedruckte Schrift De obiecto finito et infinito (Carreras I 315, n. 167 ) behandelt als Ganzes dieses Thema. Dort heißt es z. B. f. 136 ', 2: Quia ipse homo Deus, est effectus infinitus; aliter divina voluntas non posset esse causa infinita carens effectu infinito. Dazu schrieb Cu sanus ( ? ) an den Rand : Nota hic ! Quia Deus est causa infinita, ergo habebit effectum infinitum , scilicet Christum etc.

Vgl. Cod . Cus. 83 , 97 ', 51 und 94 ', 49 f . sowie 95 ',

53—60. Z. 59f. führt Nikolaus folgendes Beispiel dafür an, wie Lull die Inkarnation beweise : Nulla unitas est causa unissima cum contrarietate etc., ut superius. Est ergo una concordantia concordalissima inter divinum effectum et eius causam , qui effectus

sit in superlativo, sine quo divina unitas non potest esse unissima causa etc. Sic de aliis dignitatibus etc. 20 De ven. sap. c. 27 (P 216') : Fieri posse non determinatur simpliciter nisi in Possest, suo principio pariter et fine Dionysio attestante. Vgl. de div. nom. V, 8 (PG 3 , 824 B) ; Cusanus münzt diesen Gedanken dort jedoch nicht zum Motiv für die Inkarnation aus. 21 Vgl. oben S. 166. 175

Die metaphysisch-kosmische Mittelstellung der „Beschränkung selbst " „Wie alles durch sie von Ihm her ist, der in absoluter Weise existiert, so muß auch alles seiner Beschränkung nach von Ihm her sein, dem die Beschränkung in höchster Weise geeint ist. “ 22 Das klingt fast, als erfordere die Beschränkung des Seins als solche eine eigene Idee im Sinne Platons, ist jedoch nicht so zu verstehen, weil diese Beschränkung als solche bereits dem Bereich des Beschränkten zugehört 23. Wenn irgendwo, dürfte Cusanus jedoch gerade unter dem Begriff der , contractio ipsa' die platonische Vorstellung eines weit über die Eintägigkeit des Irdischen erhabenen Metaxy zwischen Dingwelt und Ideenwelt " 24, zwischen dem Absoluten und dem nur beschränkt Existierenden, in Christus verwirklicht sehen 25. Die Art einer solchen metaphysisch-kosmischen Mittelstellung umreißt Cusanus also : ,,An erster Stelle steht Gott als der Schöpfer, an zweiter der , Gott und Mensch , nachdem die geschaffene Menschheit in höchster Weise zur Einheit mit Ihm aufgenommen ist als die universale Beschränkung aller Dinge , die mit der Gleichheit des , alles- Seins' hypostatisch und personal geeint ist. So folgt 26 drittens, daß alles durch den höchst absoluten Gott über (mediante) die universale Beschränkung, welche die Menschheit ist, ins Beschränktsein übergeht, so daß es je das, was es ist, in möglichst guter Ordnung und Weise sein kann. “ 27 „Diese Ordnung ist aber nicht zeitlich zu verstehen, als sei Gott der Zeit nach dem , Erstgeborenen der Schöpfung vorangegangen, oder als sei der Erstgeborene, der , Gott und Mensch' , der Zeit nach vor der Welt gekommen, sondern über aller Zeit der Natur- und Vollkommenheits-Ordnung nach, und zwar so, daß jener, der über der Zeit vor allem ,bei Gott war' (Joh 1 , 1 ) , in der ‚Fülle der Zeit (Gal 4, 4) , nachdem schon viele Himmelsumdrehungen vorangegangen waren, der Welt erschien. " 28 3. Hiernach lassen sich schon folgende Gesichtspunkte, unter denen Cusanus den Vorrang Christi vor der übrigen Menschheit hervorgehoben sieht, aufzählen: Der Gottmensch ist seiner hypostatisch geeinten Menschennatur nach der „ Erstgeborene der Schöpfung “ , „ der Anfang des Ausflusses und das Ende des Rückflusses" sowie das Ziel von allem und nimmt über aller Zeit der Natur- und Vollkommenheits- Ordnung nach und dem nur Beschränkten ein.

eine Mittelstellung zwischen dem Absoluten

22 D. Ign. III , 3 ( H 128, 28 -— 129, 2) . 23 Platon selbst erörtert allerdings im „ Parmenides" die Frage, ob die Aufnahme (μETάλntis , μées) der Ideen in den Dingen als solche etwas außerhalb der Dinge sei. Parmenides vertritt diese Ansicht ( 131 ) , Sokrates identifiziert die Methexis mit der Tatsache der Nachbildung ( 132 d) . 24 Hoffmann , Universum 34. 25 Genauer genommen, ist , contractio ipsa ein Maximalbegriff; er bezeichnet das Höchstmaß dessen, was im Beschränkten möglich ist. Von Gott her gesehen, bildet der Begriff ipsa creatio' (S 257 , V2 204b; s. oben S. 137 Anm. 47 ) das Gegenstück dazu : Iesus est ipsa creatio, nam solum in Iesu apparet vis (omnipotentia) Creatoris. 26 Um die Zeilen H 129, 5-7 sinngerecht übersetzen zu können, lesen wir Z. 5 , sic' statt ,sit und ändern das Semikolon Z. 7 in ein Komma. 27 D. Ign. III , 3 ( H 129, 2—8) . 28 D. Ign. III , 3 ( H 129 , 9-14) . 176

Der Vorrang Christi in der göttlichen Vorherbestimmung

Von dem göttlichen Welten- und Heilsplan her gesehen, heißt das nichts anderes als : Der „ Vorausbestimmung Christi“ 29 kommt unter dem Aspekt der Urbild- und Zielursächlichkeit eine metaphysisch - intentionale Priorität vor der der übrigen Menschen zu. In den Predigten nach der Docta Ignorantia fließen denn auch die genannten Aspekte in dem gemeinsamen Gesichtspunkt der Vor ausbestimmung Christi zusammen .

In Predigt 36 ( 1444) sagt Nikolaus bei der Erklärung, daß Christus nicht nur der Gottheit nach , sondern auch als Gottmensch der Erstgeborene der Schöpfung sei : „Es ist so, wie im Geiste des Künstlers das früher ist, was vollkommen ist, nämlich das geplante Haus, das der Ausführung nach freilich das Letzte ist. In

diesem Sinne sagen wir, um Seinetwillen sei alles geworden und Er sei früher, und weil Er einer sei, sei auch die Welt eine, und um Seinetwillen sei alles, was in der Welt ist, das, was es ist. “ 30

Das ist der vorausgehenden Ankündigung nach von der Rangeinordnung Christi als des Gottmenschen im göttlichen Weltplan zu verstehen. Nikolaus sucht sich hier jedoch noch , besonders durch zwei Einschiebungen 31 , sozusagen

den Rückzug auf die Ausgangsposition, auf die Präexistenz des göttlichen Wor tes, zu sichern .

Danach faßt er die Eigenart der Christus zugesprochenen Priorität schärfer ins

Auge: „ Beachte wohl und gründlich, daß es bei Gott keine Zeit gibt ! Alles, was bei uns vergangen oder zukünftig ist, ist bei Ihm gegenwärtig. Bei Ihm ist Adam nicht vor Christus noch Christus vor Adam. Denkst du dir also alle Geschöpfe zugleich, wie sie sind, immer vor dem Angesichte Gottes, so besteht jene Vielheit von Geschöpfen, die unser Intellekt unter der Kategorie der Vielheit (pluraliter) begreift, bei Gott in einer gewissen Ordnungseinheit; und so ist Christus, als der Anfang und das Haupt, früher.“ 32

Das heißt mit anderen Worten : In einem über alle Zeit und Vielheit erhabe nen Erkenntnis- und Willensakt weist die göttliche Vorsehung Christus den höchsten Rang in der Schöpfung zu und macht Ihn zum Ziel des Universums. So wie das Ziel allem vorangeht als das, auf das alles hingeordnet wird " , sagt danach Predigt 67 ( 1416) klar und deutlich , so ist Christus zwar nicht der

Zeit nach , aber als der Erstgeborene, ,vor' den Geschöpfen, weil Er das Ziel aller (bloßen ) Geschöpfe ist. “ 33 „ Bei der Entfaltung (Verwirklichung) des großen Ge heimnisses “ ist hingegen, „ wie Paulus an die Korinther schreibt (I 15, 46) , .das Sinnliche das Frühere, dann folgt das Geistige ... Erst muß das Unvollkom mene, das Vergängliche entfaltet werden, ehe das wird, was vollkommen ist ( 13, 10) und bleibend, wie derselbe Paulus sagt. “ Denn was das Letzte ist in der Verwirklichung (Ausführung) , ist das Erste in der Planung“ 34. 29 Vgl. z . B. Thom v. A q. , S. theol. III q . 24 ,a. 3—4. 81 Ebd. Z. 18-20 24 f. 32 Ebd. Z. 25–30 . 33 S 67 (V1 120") .

30 S 36 (C 133 ', 17 20—24 ).

34 S 67 (V1 120* 6); vgl. Albertus M., Dé causis et proc. univ. II tr. 1, c. 17 (B. 10, 461): Quod autem ultimum est in resolutione, est primum in via compositionis necessario. In Pars II der Theologischen Summe des Aquinaten kehrt das Ultimum in exsecutione est primum in intentione etwa zehnmal wieder; vgl. I. II . q. 1 , a. 1 ad 1 : Dicendum , 177

12 Haubst, Nikolaus v. Kues

Der Vorrang Christi in der göttlichen Vorherbestimmung In Predigt 161 ( 1455) erklärt der Kardinal dieses Prinzip so : „Der Künstler, der auf ein Ziel hin schafft, hat dieses geistig vor sich (in intentione) und wendet alle Mühe daran, das zu verwirklichen, was er plant. So ist das Ziel die , Ursache der Ursachen 35, denn was Wirkursache und Form verursachen, haben sie vom Ziel."36 Daraus wird sodann die Vorstellung entwickelt: Ein Künstler, dessen Plan zugleich auch die Ausführung wäre, überführte seine Idee, sobald er sie konzipierte, auch schon ins Sein. Bei ihm „fielen das Alpha und das Omega, der Ursprung und das Ziel zusammen ; und diese Koinzidenz wäre in sich ein Friede in der Einheit der drei Ursachen “ , wie er Gott als dem dreieinen Prinzip alles Seins eigen ist. In solcher Weise ist Jesus als Gott „die Ruhe und vollkommener Friede. " 37 In der Einung der Gottheit mit der Menschheit Christi liegt aber auch der höchste Friede zwischen Gott und Welt; und so ist es von Anfang an geplant (praeordinatum), daß es die eine Welt gebe, die alles umfaßt, und daß Christus ihr Ziel sei" 38. Wir können diesen Gedankenkreis mit Predigt 164 so zusammenfassen : „ Gott, der ,alles um Seinetwillen wirkte' (Spr 17 , 4) , schuf alles auf dieses Ziel hin, daß Jesus, der das Ziel und die Kulmination (ultimitas) der Schöpfung ist, sein solle. So ist Jesus ,vor allem' (Kol 1 , 17 ) , und , alles ist durch Ihn und auf Ihn hin erschaffen ( 1 , 16) . Er ist das Ruhe -Ziel des schaffenden Schöpfers wie auch aller geschaffenen Geschöpfe ; und so ist Er der , Erstgeborene vor aller Schöpfung 39, das ,Alpha und das Omega". " 40 4. Wie sehr sich Cusanus um die Verdeutlichung und Veranschaulichung des prädestinierten Vorranges Christi bemühte, zeigen die folgenden Vergleiche : „ Christus, als der Anfang und das Haupt, ist der Frühere. Denke dir zum Vergleich die gesamte Hausgenossenschaft (familia) eines Königs, der einen Sohn hat. Damit diese ganze Schar den einen Hofstaat des einen Königs bilde , herrscht die Ordnung, daß der Sohn , der Ältere' in der Hausgenossenschaft ist, er ist das Haupt und der Erste der Familie. Auf ihn folgen der Hofmeister , die Staatsdiener usw. Bei dieser Rangordnung schaut man nicht auf die Zeit. Mag nämlich quod finis, etsi sit postremus in exsecutione, est tamen primus in intentione; vgl. S. c. gent. III, 77 (308) . — S 194 (V2 112 ) hat Cusanus einen ähnlichen Satz vielleicht aus Aldobrandinus übernommen (Koch , Auslegung 122 Anm. ) . In Cod. Harleian 3036 f. 80' schrieb er zur Erklärung des Theodor v. Mopsv. zu Eph 1 , 10-12 (Swete I 130, 15) : Nota, quod hanc intentionem olim opifex habuit et ad hoc omnia a principio construxit, quod nunc implevit (incarnatione). 35 Vgl . S 279 (V2 268 ) : Finis autem est causa causarum, quia finis est, cuius gratia agimus ; S 286 (V2 281 ) : Finis igitur est causa causarum, cuius gratia omnia sunt. Id autem, quod agit propter finem, dicitur intellectus , qui ideo est principium motus omnia ad intentum disponens et ordinans. Ordine igitur, quem in natura experimur, videmus intelligentiam primam seu Conditorem Intellectum, primum movens, quem Paulus Deum nominat, qui est causa ordinis, dicens : , Quae a Deo sunt, ordinata sunt' (Rom 13, 1 ) . Thom. v. Aq., S. theol . I q. 5 , a . 2 ad 1 : Unde dicitur, quod finis est causa causarum. 36 V2 59vb. 37 S 161 (V2 59 ) : Ipse ( Iesus) est quies et pax perfecta. Quando consideras, quomodo finis est principium et ultimum ibi , ubi intentio est exsecutio, tunc incipis videre pacem. 38 Ebd. V2 60rb. 39 Hier schiebt Cusanus , Kol 1 , 15 interpretierend,,ante' ein. 40 S 164 (V2 66 ) .

178

Veranschaulichungen an Bildern künstlerischen Schaffens

der Sohn auch zeitlich jünger sein, in der Hausgenossenschaft hat er dennoch den Vorrang inne. “ 41

„ Beachte, daß der Sohn Gottes vor aller Zeit dazu prädestiniert ist, das Men schengeschlecht zu erlösen, und daß er diesen Namen (Jesus) auf Grund seiner Vorherbestimmung aus dem Munde Gottes erhielt 42. Es ist, wie wenn ein Gold schmied, der einen Klumpen Gold in der Hand hält, gefragt würde, was er damit mache, und er antwortete : einen Kelch. Für den Fragenden wäre nämlich der Kelch noch nicht sichtbar, aber dieser erlangte doch schon, obwohl er vorerst nur

im Geiste des Künstlers existierte, den Namen , den ihm der, der den Kelch geistig schaute, ehe er wahrnehmbar wäre, zulegte. Was aber, wenn der Künstler, bevor ein geeigneter Stoff für den Kelch da wäre, erst dazu Erz suchte

und dazu läuterte, daß es ein Kelch werden könnte, und gefragt würde, was er mache ? Würde er nicht bei all solchen vorbereitenden Arbeiten mit Recht ant worten, er mache einen Kelch , obwohl erst der Stoff in verschiedenen Stadien zubereitet werden müßte? Und was, wenn nun jener allmächtige Künstler,

der nicht erst sonstwo Gold zu suchen braucht, sondern alles aus nichts schafft, ,den Himmel und die Erde und alles, was darin ist' , gefragt würde, warum Er das alles erschaffe würde Er nicht auch mit Recht sagen können, Er er schaffe das alles um Jesu willen ? “ 43 9

-

Die Antwort auf diese Frage gibt der Kardinal in einem neuen Bilde : „Jesus ist nichts anderes als die Kammer des ganzen (Welten-) Gebäudes, in der der Sohn

des Königs innerhalb eines großen Palastes ruht 44 ..., und die vernünftige Krea tur ist der Palast ... Jene Kammer ist das Letzte ,was hergerichtet wird, obschon •

alles ihretwegen geschieht; und das Ziel der Kammer ist die Ruhe des Wortes. “ 45

In Predigt 67 zieht Nikolaus, an Eph 5, 30-32 anknüpfend, auch die Kirche in diese Erwägungen hinein : ,, Christus und die Kirche sind als eines, nicht als zwei Dinge, im Geiste (Gottes) das Ziel der Schöpfung, und so gehen sie der Erschaf

fung von Adam und Eva voraus. Das wahre Geheimnis (sacramentum) Christi und seiner Braut liegt vor seiner symbolischen Darstellung ( figura) in Adam und Eva. Daher ist Christus als das Haupt der Kirche in den Augen Gottes des Va

ters der Erstgeborene aller Schöpfung“, und die Kirche, die gleichsam ,Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein ist (Gn 2 , 23) , besteht unter Ihm und durch Ihn . “ Das wird dann so veranschaulicht, daß zugleich auch noch das Motiv des in der Kirche fortgesetzt gegenwärtigen Opfers Christi berücksichtigt

Wie ein Baumeister eine Kirche, die ohne Altar keine Kirche wäre, so plant, daß der Altar Teil und Ziel der Kirche ist, und wie das Ziel der Kirche (des Gotteshauses) die Opferdarbringung als Zeichen der Gottesverehrung ist, so erschuf Gott die ganze Welt in dem einen Augenblick der Ewigkeit gleich einer Kirche, in der ein Altar steht, der Christus ist. Er ist das höchste Opfer wird :

>

(oblatio) der Gottesverehrung. In Ihm fällt der Altar mit der Opfergabe zusam 41 S 36 (C 133", 30—34 ).

42 Vgl . Lk 2 , 21 .

43 S 164 (V. 66-1) .

44 Im Zusammenhang dieses Vergleiches fürchtet der Kardinal eine nestorianiche Aus legung seiner Worte nicht. 45 S 164 (V2 66 ' ). 179 12 *

Der Vorrang Christi in der göttlichen Vorherbestimmung

men, so daß Er ebensogut die Zielerfüllung ( finis completus) der Geschöpfe wie ihres Schöpfungszweckes ist. “ 46

5. Die bisher angeführten Vergleiche besagen kurz: Christus ist als das Ziel der Schöpfung auch die Initiative des gesamten göttlichen Schöpfungsplanes. Den selben Gedanken beleuchtet Cusanus, von der Erfüllung des Zieles her rück

blickend, durch den Vergleich : Christus ist „ die letzte Schlußfolgerung“ von allem *7. In dieser „ letzten Schlußfolgerung “ vereinigen sich die Leitideen der cusanischen Christologie in folgender Weise : „ Gott wollte als reinster Intellekt seine Reichtümer mitteilen und bekannt machen ; und dabei ist der Mensch das Ziel der Schöpfung, denn er hat einen Intellekt, der der Erkenntnis fähig ist ... Weil der Mensch aber Gott - der dem Menschen unsichtbar ist – nicht , vorfinden konnte* 48, da er Ihn oder „seine Ge 7

stalt nicht sehen oder seine Stimme hören kann , wie Christus im 5. Kapitel bei

Johannes (V. 37) sagt, so ist das Ziel der Schöpfung ein Mensch, der der Sohn Gottes ist. Der Sohn ist nämlich der Sohn des Vaters als das Wort des (gött

lichen ) Intellektes ... Hätte Gott also nicht einen solchen Menschen erschaffen, dessen Intellekt bis zur Einung mit dem Wort Gottes erhoben wäre, so wäre Gott unbekannt geblieben . Um eines solchen willen ist also die ganze Schöpfung

da; denn Er ist das Ziel, und Er ist der Lehrer, der die Unwissenheit hinweg nehmen und jeden Menschen , der in diese Welt kommt, erleuchten' kann (Joh 1,9) , sofern man seine Lehre als die ,des Eingeborenen vom Vater, voll der Gnade und Wahrheit (Joh 1 , 14 ) , annimmt ... Dazu aber, daß Er aufgenommen werde, sind alle Schriften verfaßt. Sie sind auch in Ihm erfüllt. “ 48

In Christus ist die gesamte Offenbarungswahrheit Gottes an die Menschheit

zusammengefaßt. Deshalb nennt Ihn der Kardinal das „auf Erden ( erschienene) abgekürzte Wort des Vaters “ 50. Dabei konnte er sich an frühmittelalterliche Aus deutungen zu Röm 9, 28 anlehnen 51. Diese Bezeichnung mochte ihm wegen ihrer 46 S 67 (V1 1207b). Cod. Cus. 50, 150' entnimmt Nikolaus dem Pastor Hermae, visio II, 4 (Patrum Apost. Opera III 25) den marginalen Hinweis : Ecclesia prior omnibus; 9

propter quam mundus.

47 Vgl. Eriugena, De div. nat. IV, 10 (PL 122, 782 C) : Post mundi visibilis ornatus narrationem introducitur homo veluti omnium conclusio, ut intelligeretur, quod omnia, quae ante ipsum condita narrantur, in ipso universaliter comprehenduntur. 48 Quia homo non potuit attrectare Deum ; vgl. Apg 17 , 27 . 49 S 147 (V2 52a -6). 50 S 147 (V2 52'0 .

51 Vgl . Röm 9, 28 (Isaias-Zitat): Verbum abbreviatum faciet Dominus super terram . — De Possest (P 181") bezeichnet Cusanus das Wörtchen ,in' als : verbum abbreviatum

concisum valde; $ 270 (V2 233" ) bemerkt er, die Rhetorik suche das verbum abbrevia - Als ,Verbum abbreviatum' wurde eine weitverbreitete Summe der praktischen Theologie von Petrus Comestor († 1179) bezeichnet, und zwar nach dem Anfang ( PL 205 , 25 A) : , Verbum abbreviatum fecit Dominus super terram' . Si enim Verbum de sinu Patris ad nos missum , immo , si ius Dei incircumscriptibilis, , quem totus non capit orbis', brevitate uteri virginalis voluit circumscribi, quanto magis verbum sacrae tum .

paginae ... voluit abbreviari. – In dem von Cusanus S 224 (V2 150' ) zitierten Brief des Adam von Perseigne heißt es : Quidquid enim obscuritatis in abbreviatione Verbum incarnatum contraxerat, totum elucidavit magistra unctio Spiritus Sancti (PL 211 , 651 D) ; vgl. Adams Predigt 16 (PL 211, 630 A) : Verbi abbreviati, id est incarnati

mysterio ; Fragmenta Mariana (748 A) : ,Verbum enim abbreviatum fecit Dominus super terram intra Mariam . 180

Christus als „letzte Schlußfolgerung “

Verwandtschaft mit dem Begriff des , beschränkten Größten “ besonders gefallen. Er erklärt sie : „Die Menschheit Christi ist nämlich wie ein lebendiges Buch, das das lebendige Wort des Vaters enthält. “ Danach fährt Cusanus fort : „ Beachte auch dies : Sie ist gleichsam die Schluß

folgerung (conclusio ) aller Bücher und Schriften und Figuren und Formen sowie lernbaren und ausführbaren Künste, und zwar eine solche Schlußfolgerung, die als ,kurzes Wort' in ihrer Kraft alles zusammenfaßt und in vielen Büchern nicht

hinreichend erklärt werden kann. Die Schlußfolgerung ist es aber, um deretwillen alles geschrieben wird, und zugleich, durch die alles geschrieben wird. Denn was geschrieben wird, ist nur ihre Entfaltung. “ B2 Auf diese Ausführungen in Predigt 147 53 kommt Nikolaus in Predigt 255 54

zurück mit der Bemerkung, es schade nichts, sie zu wiederholen , wegen derer, die sie noch nicht hörten“ . Er hüllt dort indes das früher Gesagte in dieses neue Gewand :

„ Angenommen, Aristoteles will eine Schlußfolgerung, die ihm geistig gewärtig ist, handgreiflich machen, zum Beispiel den Schluß seiner Metaphysik ', daß es nur einen Ersten Herrscher (princeps) gibt, so bespricht er diese Schlußfolgerung,

noch , ohne sie zu entwickeln, zunächst ,auf mannigfache und viele Art'55 ihren vielen Prämissen nach in den Traktaten und Kapiteln der verschiedenen Bücher . Dann erst entwickelt er ganz am Ende, nämlich am Ende des 12. Buches 56, die Schlußfolgerung, die er immer schon im Auge hatte. Dies letzte ,verkürzte

Wort ist die Schlußfolgerung“. Es hat alles in sich , was zuvor gesagt wurde oder nachher gesagt werden kann. In ihm ist wahrheitsgetreu, rein und offen die Ansicht (mens) des Aristoteles selbst vollständig und vollkommen enthalten . Wer dies verkürzte Wort aufnimmt, nimmt den Geist des Aristoteles in seine Einsicht auf und wird ein Aristoteliker . “ 57

Von diesem Bilde führt der Kardinal sodann in seiner „handleitenden Art“ zu der in Christus gegebenen Wirklichkeit hinüber : „Denke dir nun statt Ari stoteles Gott, unter den Büchern die Nationen, unter den Traktaten die Land

schaften , unter den Kapiteln die Menschen, die zeitlich aufeinanderfolgen, und

als letztes das ,abgekürzte Wort' als den Menschen, den wir Christus nennen, so muß dieser, dem Vergleich nach , der wirkliche Sohn Gottes genannt werden. Denn Er ist das vom Vater gezeugte Wort, in dem dessen ganze Weisheit, Gedankenwelt, Initiative (intentio) , Wahrheit, Konzeption, und was man weiter derart sagen kann, voll und ganz enthalten sind. “ 58

Daraus folgt die praktische Konsequenz : „Wie der, der eine Schlußfolgerung gläubig hinnimmt 59 58, sich nicht mit den Prämissen abzuplagen braucht, so hat es auch der, der Jesus als das ,verkürzte Wort' Gottes aufnimmt, nicht nötig, sich 52 S 147 (V2 52'b).

53 Gehalten Palmsonntag 1454 . 55 Vgl. Hebr 1, 1 . 56 Aristoteles , Met . XII , 7–10 ( 1072 a — 1075 b ) . - Cusanus besaß selbst in Cod .

54 Gehalten Weihnachten 1457 .

Cus. 184 die 14 Bücher der „ Metaphysik “ in der Übersetzung Bessarions. In der zweiten Hälfte des Jahres 1455 beschäftigte ihn besonders das 12. Buch (vgl . Vf I 77 Anm. 46) . 58 S 255 ( V2 2007“) . 57 S 255 (V2 200'). 59 Zu diesem Begriff des „Glaubens “ vgl. Vf I 26 Anm. 47 . 181

Das entscheidende Motiv der Menschwerdung Gottes mit den (altbundlichen ) Gesetzesbestimmungen abzumühen, denn diese sind nur Prämissen zu jenem Schluß ... Die nämlich im Glauben das Wort im Sohne Gottes aufnehmen 60, nehmen damit auch den Geist Gottes auf; dadurch werden sie christusförmig und zugleich Kinder Gottes. “ 61 6. Stellen wir nunmehr nach allem, was wir über den Vorrang Christi in der natürlichen und auch schon in der übernatürlichen Ordnung hörten, die Frage, die von der Mitte des 13. Jahrhunderts an bis heute das theologische Denken wie wenige andere in Spannung hielt und insbesondere einen der meistumstrit

tenen Punkte in der Kontroverse zwischen „ Thomismus und Skotismus“ bildet : Ist die Vollendung des Universums oder die Erlösung der Menschheit von der Sünde das entscheidende Motiv der Menschwerdung ? Mit andern Worten: Ist Christus absolut oder nur bedingt „prädestiniert" ? Wäre das Wort Gottes auch Mensch geworden, wenn Adam nicht gesündigt hätte? Ehe wir den cusanischen Standpunkt zu bestimmen suchen , sei folgendes aus

der Vorgeschichte der Kontroverse bis zu seiner Zeit 62 herausgehoben : Albert d. Gr. vertritt die von ihm selbst als ungewiß bezeichnete Vermutung, daß Christus auf jeden Fall Mensch werden sollte, da sich nur so der Kreislauf des von Gott ausgegangenen Universums in der Rückkehr zu Ihm schließen konnte 63. Bonaventura bemerkt im Sentenzenkommentar: die Ansicht, daß Chri stus ohnehin Mensch, wenn auch nicht ohne weiteres leidensfähiger Mensch ge worden wäre, um den Menschen und somit das Universum der Natur, der Gnade

und der Glorie nach zu vollenden, scheine besser dem Urteil der spekulativen Vernunft, die andere Sentenz, nach der die Erlösung der entscheidende Grund wäre, besser der Glaubensfrömmigkeit zu entsprechen . Er entscheidet sich , unter

dem Eindruck ihrer starken Verbürgung in den Glaubensquellen, für die letz tere 64. Die erste Ansicht scheint ihm auch Gott gewissermaßen in den Begriff der Vollendung des Universums einzuschließen, während das Mysterium der Inkarnation über die Vollendung der Schöpfung hinausrage 65. Demgegenüber erklärt er : ,Christus ist nicht zielursächlich auf uns hingeordnet, sondern wir auf Ihn; denn das Haupt ist nicht um der Glieder willen , sondern die Glieder sind um des Hauptes willen .“ 66 60 Vgl. Joh 1 , 12 .

61 S 255 (V2 2005 ). Das Folgende ist uns schon aus Predigt 147 bekannt. 62 Vgl. Verf., Das hoch- und spätmittelalterliche „Cur Deus homo ? “ : Münchener 1

Theol . Zeitschr. 6 ( 1955) 302–313 .

63 In Sent. III d . 20 , a . 4, sol. (B. 28, 361 b). Vgl. Aldobrandinus, Sermo ,Tu es, qui venturus es ?' (Cod. Vat. Ottob . 557, 22" ): Adventus Redemptoris ... primo congruus fuit ratione perfectionis. , Dei enim perfecta sunt opera.' Perfectio autem maxime in circulari dimensione consistit ... Et ratio huius est, quia circulo nihil est addibile, lineae autem rectae aliquid est addibile. Ut igitur omne opus divinum esset perfectum, decuit, ut finis totius universitatis, scilicet Deus, coniungeretur cum homine, qui est finis crea turarum ; et ex tali coniunctione resultavit quasi figura circularis.

64 In Sent. III d. 1 , a. 2, q. 2 ( III 23—25). 65 Ebd. sol. (III 25 a). 66 In Sent. III d. 32, a. un ., q . 5 ad 3 (III 706 a ). Dort wendet Bonaventura auch die sehr beachtenswerte Unterscheidung von Ziel und Motiv an : Christus ist für das Menschen

geschlecht die ratio finaliter movens (nos finaliter ordinamur ad ipsum), die Erlösung des Menschengeschlechtes hingegen ist die ratio inducens für den Vollzug der Inkarnation 182

nach den großen Scholastikern

Der Sentenzenkommentar des Aquinaten läßt noch die Meinung als probabel gelten , daß die Inkarnation auch ohne den Vorfall der Sünde geschehen wäre,

weil sie ja nicht nur die Befreiung von der Sünde, sondern auch eine Erhöhung der menschlichen Natur und eine Sinnerfüllung des Universums mit sich gebracht habe 67. In der Summa theologiae bezeichnet es Thomas dann aber auf Grund der biblischen Bezeugung als das Wahrscheinlichere und angesichts der Freiheit der göttlichen Willensentscheidungen als die einzige zuverlässige Orientierung, daß die Inkarnation von Gott als Heilmittel der Sünde gewollt sei und andern falls nicht erfolgt wäre “ 68.

Die Thomistenschule hielt im allgemeinen an der in der Summa theologiae formulierten Ansicht fest. Die Franziskaner wandten sich jedoch gegen Ende des 13. Jahrhunderts meist der Lehre von der absoluten Prädestination zu 60. Schon

der Bonaventuraschüler Matthäus von Aquasparta gibt den von seinem Meister für die erste Ansicht angeführten Gründen den Vorzug 70, indem er, wie zuvor schon Robert von Lincoln (Grosseteste) und hernach Wilhelm von Ware 71 , die Inkarnation zugleich als die Vollendung der Ordnungen der Natur, der Gnade und der Glorie und so des gesamten Universums betrachtet. Duns Skotus hat hingegen nach den kritischen Forschungsergebnissen von Balić

,die Frage nach dem Beweggrund der Inkarnation eigentlich in der Form, wie es seine Vorgänger und Schüler taten, weder aufgestellt noch sie zu lösen ver sucht“ . Soviel bleibt jedoch als dessen Lehre bestehen : Der Sündenfall der Stammeltern war nicht die ,condicio sine qua non' für die Prädestination Christi 72. Zweitens, auf Grund des Prinzips, daſ in einem geordneten Willens akt das dem Ziel Zunächstliegende zuerst gewollt sei , kommt der Prädestination

Christi eine Priorität vor der der anderen Menschen zu 73. Die Reihenfolge von fünf Stufen der Dekrete Gottes, wobei erst auf der letzten die Vorbestimmung

des Leidens Christi erfolgen soll 74, gehört den Skotus-Reportationen an 75. Nach dem eigentlichen Skotismus ist ferner die Prädestination Christi von der „ Voll endung des Universums “ unabhängig 76. Daß mit Christus zugleich das ganze Universum mit Gott verbunden wurde, weil die vernunftlose Welt ihr nächstes Ziel im Menschen, die Menschheit aber 68 S. theol. III q. 1 a . 3 c. 67 In Sent. III d. 1 , q. 1 , a. 3 , resp. (III 22) . 89 Vgl. Bissen , De motivo 3 !5f. sowie Verf., „ Cur Deus homo ? " 308—310. 70 Quaestiones de Christo, App. q. 1 , resp. (S. 178) : Pie credo et huic opinioni magis

assentio, quod si homo non fuisset lapsus, Filius Dei nihilominus fuisset incarnatus. Ratio autem istius potest sumi a triplici perfectione : a perfectione naturae, gratiae et gloriae. Beim ersten Punkt zieht Matthäus auch das Argument heran, daß sich der Kreislauf der Natur nur in personaler Einung mit Gott vollenden könne. 71 Vgl. Bissen , De praedestinatione 35. 72 Balić , Duns Skotus' Lehre S. 20 und 24. Balić stützt sich dabei ausschließlich auf dub. 1 der Quaestio : Utrum Christus praedestinatus sit esse Filius Dei, und zwar nach der

Ordinatio des Skotus, die er sorgfältig von den „ wesentlich verschiedenen “ Ausdrücken der Reportationen unterscheidet (21—25) .

73 Universaliter enim ordinate volens prius videtur velle hoc, quod est fini pro

pinquius ... ; et ita huic animae prius vult gloriam quam alicui alteri animae (Balić 23). 74 Op. Ox. III d. 19, q.un . (Vivès XIV 714); vgl.Bissen , De praedestinatione 9. 75 Balić 29 f.

76 Balić 26 ; Bissen 27—35 . 183

Das entscheidende Motiv der Menschwerdung Gottes ihr nächstes Ziel in Christus hat“ , lehrte nicht Duns Skotus, sondern Vitalis de Furno 77 .

Zu Lebzeiten des Cusanus wurde die thomistische Sentenz z. B. von Johannes

Capreolus vertreten 78. Auch Johannes Wenck bezog in seiner Einleitungs-Quāstio zum III. Sentenzenbuch ( 1431 ) die thomistisch -bonaventurische Position, wäh

rend Johannes von Brumbach wohl als Skotist und Johannes von Mecheln auf albertistischer Seite in ihren Einleitungsvorlesungen gegen Wenck für die abso lute Prädestination argumentierten 7 . Heymeric van den Velde, der Vorkämpfer der Kölner Albertisten, rührt diesen Streitpunkt in den Problemata inter Albertum Magnum et Sanctum Thomam nicht an 80. In Cod. Cus. 106 finden sich indes Stellen, die zeigen, daß Heymeric auch hierin seinem „Lehrer Albert " folgt, und zwar sowohl in seiner 9. Quästio

zu den Sentenzen 81 wie in der Ars demonstrativa 82. Beide Male kehrt Heymeric den Gedanken Alberts hervor, daß sich das Universum in einem Kreislauf be finde, der sich nur in der hypostatischen Einung einer Menschennatur mit dem Schöpfer, näherhin mit der göttlichen Schöpfer -Kunst, dem Sohne, schließen

könne, und zwar so stark, daß er darin auch das hauptsächlichste Motiv der In karnation zu sehen scheint.

7. Vergleichen wir die cusanische Darstellung der Vorausbestimmung Christi

mit den bisher angeführten Ansichten, so lassen sich leicht Zusammenhänge mit 77 De rerum principio (gedruckt unter den Werken des Duns Skotus) q. 9, a . 2 (sect. 4, n. 75 ; Vivès IV 35). Dazu schreibt Minges , Beitrag 422: „Das macht Skotus alle Ehre, spricht auch von keiner oberflächlichen Auffassung der Christologie.“ 2 a) : Filius Dei assumpsit 78 Defensiones theologicae, pars III, q. 1 , concl. 1 (V 1b naturam humanam ... ad remediandum peccatis sic, quod si homo non peccasset, Filius -

Dei incarnatus non fuisset.

79 Vgl . Verf. , Studien 69–73.

80 Vgl. Meersseman II 23—66 . 81 Quadripartitus etc. q. 9 (Cod. Cus. 106, 15", 14 f.) : Hic universi circulus dumtaxat

finiri (?) debuit in Arte Conditoris, quem perfecit Deus trinus opere appropriato Sancti Spiritus. Dazu heißt es f. 16', oberer Rand, Z. 4–5, in der Glosse nach Ausführungen über das Naturgesetz und das des Alten Bundes : Ecce, quam recte dicitur illud tempus plenitudinis (Gal 4, 4) quasi circularis reductionis temporis ad aeternitatem et ultimae periodi totius universi. Circulus quippe est figura perfecta, in qua quiescit perficientis intentio, cum non posset sibi ( ?) aliquid addi. Cum ergo ,opera Dei sunt perfecta ', patet propositum. 82 Diese enthält die beiden Fragen (Cod. Cus. 106, 73', 29 — 73', 6) : Deinde quaeratur, an Deus crea (ve ) rit universa propter se ipsum , et respondetur, quod sic. Alioquin sua bonitas esset causaliter finita et non omnipotens, quod repugnat praedictis. – Deinde quaeratur, an illud propositum infinitum terminet quamlibet creaturam ad quamlibet

Dei personam . Respondetur, quod ultima suscipiant incursum illius finis in mediis et media in primis , et prima immediate complent in Deo illius circulum intentionis. Alio quin voluntas Dei esset inordinata et per impotentiam finalem nihili confusa. Sed ex quo universali emanationi respondet universalis reductio finalis in u

IV 50 ; Algaida 181 f.) . 99 Letztgenannte Stelle : Algaida 181 . 100 Vgl . oben S. 83—88 .

101 Vgl. oben S. 84 .

102 Symb. Conc. Nicaeni (D 54) . 186

Die cusanische Grundeinstellung: Zusammenschau der Motive

spricht und sich auf Hilarius und Ambrosius (in Wirklichkeit ist es ein Augu stinustext) beruft 103

Leo und Augustinus waren auch die Kronzeugen des Aquinaten für die Not wendigkeit der Inkarnation zur Erlösung des Menschengeschlechtes 104. Wie Thomas und Bonaventura, übersah auch Cusanus nicht das biblische Übergewicht für die soteriologische Motivierung der Inkarnation. All das hinderte jedoch Nikolaus von Kues nicht, auch mit Eifer der Vorrang

stellung Christi in der Schöpfung nachzuspüren. Die Christologie des hl. Paulus regte ihn dazu an. Auch Thomas und Bonaventura maßen dem kosmologischen Motiv immerhin so viel Kraft zu, daß sie es als Konvenienzgrund für die Mensch werdung gelten ließen.

Bei dem Bemühen, den Vorrang Christi näher zu bestimmen, betrat Cusanus nicht den Weg der Skotistenschule, welche die Priorität der Prädestination der

Menschwerdung vor der Vorherbestimmung zum Leiden mit Hilfe einer Auf einanderfolge von Willensdekreten in Gott begründete. Das widersprach gerad linig der cusanischen Auffassung von der Überzeitlichkeit und Einfachheit des göttlichen Wollens, das mit dem göttlichen Sein vollkommen identisch ist 105.

Nikolaus lehrte vielmehr im Einklang mit Thomas 106 eine intentionale Priorität der Vorherbestimmung Christi in dem einen und einzigen göttlichen Vorsehungs akt, dem alles Vergangene und Zukünftige zugleich „gegenwärtig “ ist 107. Bei Thomas fand er auch das Leitprinzip : „Was das Letzte in der Ausführung ist, ist das Erste in der Planung“ , mit dessen Hilfe er den Primat Christi vor aller Schöpfung darlegte 108. 8. Versuchen wir nun womöglich Näheres darüber auszumachen , wie sich Cusa nus das Verhältnis des in seiner Spekulation so stark hervortretenden Motivs der Vollendung des Universums im Gottmenschen als dem vorausbestimmten Ziel zu dem Motiv der Erlösung des Menschengeschlechtes denkt, so ist zunächst fest zustellen , daß er beide Motive von Anfang an nicht als Gegensätze, sondern als zusammengehörig betrachtet. Das zeigt sich schon in Predigt 3 : „ Die Liebe, die von solcher Wirkkraft ist, daß sie das Liebende und Geliebte eint, ... ließ Gott herabsteigen um unseres Heiles willen ', damit so jede Kreatur durch die Einung von Gott und Mensch

erhöht werde und zu ihrem Ziele gelange. “ 109 Ähnlich heißt es in Predigt 53 : „ Gott wollte im Menschen als der Natur, in der die Welt derart ist, daß er Mikrokosmos genannt wird, seine Schöpferkraft vereinen, zum Ziele führen

( finire) und vollenden und seine der Vorzeit verborgene Macht zeigen und die menschliche Schwäche der Gewalt des Fürsten der Finsternis entreißen und auf 103 Unten S. 323 .

104 S. theol. III q. 1 , a . 2 c.

105 Die Leugnung jeder Aufeinanderfolge göttlicher Akte rückt Nikolaus auf die Seite der , Thomisten “, soweit diese nicht selbst eine Aufeinanderfolge von Dekreten in Gott lehren ; vgl. Verf., „ Cur Deus homo ? “ 311 Anm . 51 .

106 S. theol. III q. 24, a. 3—4 , bes. a. 4 ad 3 : Quia praeordinavit incarnationem Christi, simul cum hoc praeordinavit, ut esset causa nostrae salutis. 107 Siehe oben S. 177 .

108 Siehe oben Anm. 34 .

109 S 3 (C 45', 3—6) . 187

Das entscheidende Motiv der Menschwerdung Gottes

den höchsten Gipfel erheben . Deshalb sah Er, wie Paulus in der Apostel geschichte ( 17 , 30) sagt, über die Zeiten der Unwissenheit hinweg' und sandte seinen Sohn' (Gal 4 , 4), um in Ihm alles zu erneuern'. “ 110 Predigt 254 stellt nach Aldobrandinus „ vier Gründe zur Freude über die >

Menschwerdung “ nebeneinander, die sich ebensowohl auch als Kongruenzgründe oder Motive für die Inkarnation anführen ließen :

Erstens, das Universum hat durch sie seine Vollendung gefunden. „Weil im 99

Menschen als dem Mikrokosmos alles zusammengefaßt ist, deshalb einte sich der Ursprung (principium ) zur Vollendung des Universums mit diesem seinem Ge schöpf (principiato) . “ Zweitens, der menschliche Wille kann nun durch die Inkar nation zu Gott als seinem Ruheziel gelangen. Drittens, Gott hat die Menschen

natur, die wegen der Sünde aus dem Paradies vertrieben und wohlfeil wurde, durch seine Menschwerdung zur höchsten Stufe erhöht. Viertens, das durch die Sünde verlorene Erbe der Kinder Gottes wurde wiedererlangt 111.

Nikolaus verliert also, wenn er von Christus als der Vollendung des Univer sums spricht, die soteriologische Bedeutung der Menschwerdung nicht aus dem Auge. Auch bei seinen bildhaften Darlegungen, daß alles „um Jesu willen “ er

schaffen sei, damit Er wie ein Königssohn in einer Kammer des Weltengebäudes ruhe 112, bemerkt er : „Das Wort Gottes aber hat heilende Kraft. Er sandte sein

Wort und heilte sie' (Ps 106, 20) . Daher ist die vernünftige Kreatur der Palast und der Mensch das Ziel und die Kammer, in die der Heiland oder Heiler (Salvator seu Sanator) Einkehr zu nehmen beschloß . “ 113 Auch daß die göttliche Wahrheit in Christus in die Welt kam, um von sich Zeugnis zu geben , ist um des >

menschlichen Heiles willen geschehen, da die Wahrheit dieses Zeugnis nicht für sich nötig hatte 114 Der Verwirrung, die hier dadurch zu entstehen scheint, daß sowohl der Mensch wie Christus selbst als „ Ziel “ bezeichnet werden , hilft die Unterscheidung ab : Der

einzige, „ für den“ die Menschwerdung geschah (finis cui oder utilitatis), ist der heilsbedürftige Mensch, aber das Ziel, auf das hin“ ( finis ad quem) bei der Schöpfung und Erlösung eine Bestimmung erfolgte, ist Christus und zuletzt die 9

göttliche Natur 115 . Diese beiden Ziele verhalten sich nun auch bei Cusanus ähnlich wie bei Lull 116 die „erste und zweite Intention“ :: Der Mensch erreicht nur dadurch sein Ziel, daß

er durch die Menschwerdung Gott erreicht, da Gott alles auf sich hin geschaffen 110 S 53 (V1 103" ). Das letzte latente Zitat stammt aus Eph 1 , 10. Das griechische dvoxepadacúoco fal ist mit instaurare' übersetzt (Vulg. ) .

111 S 254 (V2 1991 –va); vgl . Aldobrandinus , Sermo , Tu es, qui venturus es ?' (Cod. Vat. Ottob. 557 , 22 b) : Adventus Redemptoris nostri... fuit congruus ex parte naturae

humanae multiplici ratione, scilicet ratione perfectionis (vgl. Anm. 63) , ratione comple tionis, ratione perventionis et ratione facilis ascensionis. 113 S 164 (V266' ). 112 Vgl . oben S. 179 . 114 S 204 (V2 1757b). 115 Vgl. die oben (Anm . 66) angeführte Unterscheidung Bonaventuras. Ähnlich unterschieden später manche Thomisten wie die Salmatizenser und Gonet zwischen finis cui und finis qui oder finis cuius gratia ; vgl. P. Galtier , Les deux Adam (Paris 1947) 116-124 . 116 Siehe oben S. 186. 188

Christus als finis ad quem

der Mensch als finis cui

hat 117. Ein solches Verhältnis beider Motive setzt z. B. Predigt 16 voraus . Niko laus gibt dort auf die Frage : „ Inwiefern war für uns die Menschwerdung Christi heilsnotwendig ? “ , die Antwort : „Gott hat alles um Seiner selbst willen er schaffen ... Die gesamte geschaffene Natur konnte nur im Menschen zur Gott heit emporgetragen werden ... Daher war es notwendig, daß Gott Mensch wurde, damit so alles zum Ziele gelangte. “ 118

9. Es fragt sich jedoch : Kann und soll diese Schlußfolgerung auch für den Fall gelten, daß Adam nicht gesündigt hätte? Das könnte sie nur , wenn sich zugleich nachweisen ließe, daß der Mensch von

vornherein nur durch Vermittlung des Menschen , der zugleich das Wort und der Sohn Gottes ist, mit Gott dem Vater im Reiche des ewigen Lebens untrenn bar geeint werden “ konnte oder daß das große Geheimnis unseres Mittlers und Heilandes Jesus Christus, das in den Schriften verkündet ist“ 118, schon auf Grund einer „ersten Intention“ im göttlichen Welt- und Heilsplan beschlossen war. Finden sich Anhaltspunkte, daß Cusanus derartige Beweiswege versuchte ? Einige Male hat es den Anschein , als wollte er den zweiten Weg gehen. So schon in Predigt 11. Nach dieser zeigt das Protoevangelium, daß die Inkarnation

des Wortes von Ewigkeit her prädestiniert war, und schon der Fall Luzifers kam

vor dem menschlichen Sündenfalle

dadurch , daß er in seinem Stolze

dieses Geheimnis nicht glauben wollte 120. Das läßt vermuten, Cusanus habe die

Vorherbestimmung der Menschwerdung als von dem menschlichen Sündenfall unabhängig betrachtet 121. Predigt 12, nach der die Menschen an die Stelle der

gefallenen Engel treten sollten 122, spricht jedoch eher gegen eine „absolute Prädestination “ des Gottmenschen .

In Predigt 36, in der Cusanus erstmals klar von der Priorität der Vorher

bestimmung Christi vor der der übrigen Menschen spricht, scheint ein Gedanken gang einzusetzen, der auf die Herausarbeitung einer grundlegenden „ersten Intention “ abzielt, die ,vor “ der Sünde und Erlösungsbedürftigkeit des Men schengeschlechtes läge. Doch gerade hier wird eine solche Erwartung gründlich desillusioniert.

Die Predigt enthält in der Disposition die Ankündigung 123 : „ Zuerst laßt uns sehen, was es mit dem Motiv und dem Nutzen (de causa et utilitate) der Mensch .

werdung ist. “ Dazu folgt die Unterscheidung: „ Es gibt eine doppelte Betrach tungsweise der Menschwerdung: Einige betrachten sie so, wie es den Worten des 117 Vgl . Scheeben , Dogmatik Buch V, Nr. 1385 (III 377): „ Das vollere und tiefere Verständnis verlangt, daß man den göttlichen Weltplan nicht bloß in der Form der Sorge eines Königs für das Wohl seiner Untergebenen, sondern in seiner schöpferischen uni versalen Architektonik betrachte . “

118 S 16 (H 30, 17

32, 12 ) .

119 Die zitierten Worte s. De aequalitate (V2 257"") .

129 S 11 (C 39', 5—7). Das letzte ist z. B. die Ansicht Tertullians und Cyprians und später von Suarez und Scheeben (Scheeben, Dogmatik Buch IV, Nr. 175-77: II 581 f.) . 121 Vgl. Scheeben , Dogmatik Buch V, Nr. 1382 ( III 376) .

122 S 12 (C 36', 28) : Ab hac civitate ingenti et excelsa (caeli) expulsi sunt Gigantes, qui perierunt propter insipientiam; in quorum locum ascenderunt de terra nostra ,tribus, tribus' etc. ( Ps 121 , 3) . Vgl . Anselm , Cur Deus homo I , 16 ( II 7 f . ) ; II , 18 ( II 76 ff .).

123 S 36 (C 133', 32) . Schon in Predigt 6 (C 25', 2) wird das Thema ,causa incarnationis angekündigt, aber sogleich der Sündenfall vorausgesetzt. 189

Das entscheidende Motiv der Menschwerdung Gottes Engels an die Hirten 124 entspricht : als das Heil (salvatio) und die Vollendung und Ruhe aller Geschöpfe, da die vernünftige Natur nur dann bis zur Erfüllung ihrer Friedenssehnsucht am Vernunftleben teilnehmen könne, wenn das Wort die vernünftige Kreatur annehme. Andere betrachten die Inkarnation im Hinblick auf die Erneuerung des Menschen nach dem Sündenfalle . Das ist die unter den Katholiken meistverbreitete (Betrachtungsweise) . " 125 Danach bemerkt Cusanus: „Wir können jedoch beide (Betrachtungsweisen) in eine auflösen (resolvere) und sagen : Die Menschwerdung ist erfolgt, damit alles das Ziel , auf das hin es geschaffen ist, im Worte erlange." " 126 Wer würde dies nun nicht, wenn der Text hier aufhörte , von den beiden Sentenzen der absoluten und der bedingten Prädestination Christi verstehen und von dem Versuch, beide irgendwie auf einen gemeinsamen Kern, etwa auf eine „erste Intention" Gottes zurückzuführen, die sowohl die Vollendung des Universums wie ― im Falle der Sünde - die Erlösung umfaßte und eben in der Rückführung alles Geschaffenen zu Gott bestünde? - Damit wäre allerdings der Sache nach der Ansicht von der absoluten Prädestination zum Siege verholfen. Es folgt aber etwas anderes. Der obige Satz geht nämlich so weiter: (einerlei ) ob es sich um den Menschen handelt, der ( schon) im Stammvater von seiner Zielbestimmung abgewichen ist oder durch eigene Schuld " 127. Dies letztere ist vor allem deshalb überraschend , weil diese „ Auflösung “ schlecht zur ersten Betrachtungsweise paßt 128. Sie träfe vielmehr auf die Alternative zu, ob Christus zur Tilgung der Erbsünde oder der persönlichen Sünden Mensch geworden sei 129. Daß Cusanus beides bejahte und unter dem genannten Gesichtspunkte zusammenfaßte, war nichts Besonderes, wie das Vorangehende erwarten ließ . Beides gehört ja doch zum christlichen Glaubensinhalt 130. Es scheint deshalb nicht ausgeschlossen, daß Nikolaus hier anfangs auf die „ skotistisch-thomistische " Kontroverse eingehen wollte 131 , dann aber davor zurückscheute und ihr aus dem Wege ging 132. Für den anderen oben angedeuteten „ Beweis" -Weg, daß der Mensch von vornherein nur durch gottmenschliche Vermittlung das ewige Leben hätte er-

124 Lk 2, 10 14. 125 S 36 (C 133 , 1—5) . Das ,haec est catholicorum plerumque' dürfte sich insbesondere auf die Betrachtungsweise der Inkarnation in der Glaubensfrömmigkeit beziehen. 126 S 36 (C 133', 6 f. ). 127 S 36 ( C 133 , 7) : sive sit homo , qui a fine per peccatum deviavit in parente vel per se. Das ,vel per se' ließe sich nur gezwungen auf homo ( = sive sit homo per se = sine respectu peccati) beziehen. 128 Eine Beziehung dazu läßt sich nur finden wenn man bei den Worten ,salvatio et perfectio et quies omnium creaturarum' den Gedanken, daß die Erlösung Christi ausreichend ist zur Tilgung der Sünden der ganzen Welt (Conc. Trid., D 794) in den Vordergrund rückt. 129 Vgl . Albertus M., In Sent. III, d . 20, a . 6 (B. 28, 363 b) . 130 Thomas v. A q. stellt weder im Sentenzenkommentar noch in der Summa theologiae eine solche Alternativfrage. S. theol . III q. 1 , a. 4 setzt schon die bejahende Antwort auf beides voraus. 131 Die Gegenüberstellung , quidam alii' findet sich auch S. theol. III q. 1. a. 3 c. 132 Eine spürbare Unentschlossenheit zeigt diese Predigt auch bei der Auslegung des ,Primogenitus omnis creaturae ' ; vgl . oben S. 177. 190

Die zurückhaltende Antwort ,belehrter Unwissenheit“

langen können, hatte Cusanus z. B. in Predigt 16 133 die Prämissen in der Hand.

Ebenso hätte auch die apriorische Deduktion zu Anfang des III. Buches der Docta Ignorantia, die nicht auf der Voraussetzung der Sünde beruhte , leicht als Ausgangsbasis für das Argument dienen können, daß die Menschwerdung, auch wenn Adam nicht gesündigt hätte, für die Vollendung des Universums kon venient gewesen wäre. Um so bezeichnender ist die Zurückhaltung des Nikolaus von Kues in dieser

Frage. Es genügt ihm offenbar, das, was kein Mensch ohne besondere Offen barung von seiten Gottes wissen kann, in , belehrter Unwissenheit “ dem Ge

heimnis der göttlichen Ratschlüsse zu überlassen 134. 10. Hiernach lassen sich die Ergebnisse der langwierigen Untersuchung darüber, wie Cusanus über das entscheidende Motiv der Inkarnation dachte, kurz so zusammenfassen :

a) Nikolaus von Kues hat die Frage, ob Christus auch Mensch geworden wäre, wenn Adam nicht gesündigt hätte, trotz der starken Betonung des Primates Christi vor aller Schöpfung , wie der Seemann das Felsenriff gemieden“ 135 und auch nirgendwo eine alternative Antwort darauf gegeben.

b) Dies Schweigen ist ein beredter Ausdruck seiner Grundhaltung der ,belehr ten Unwissenheit“ vor dem nicht demonstrierbaren Geheimnis, des Bewußtseins

nämlich , daß der Mensch auch nach der Tatsache der Inkarnation von sich aus da es einzig der freien Willensentscheidung Gottes anheimgegeben war — nichts darüber wissen kann , ob die Vollendung des Universums “ ohnehin durch die Inkarnation hätte erfolgen sollen oder nicht 136,

c) Die überwiegende Bedeutung des Erlösungsmotivs in der Heiligen Schrift und der Vätertradition veranlaßt Nikolaus öfters, dieses allein als das Motiv

der Menschwerdung zu bezeichnen. Das rückt seine Auffassung sehr in die Nähe der Summa theologiae des Thomas von Aquin sowie des Sentenzenkommentars Bonaventuras . Mit Thomas und Bonaventura sieht auch er in der „Vollendung

des Universums “ nur einen Konvenienzgrund für die Inkarnation. Nach der Gültigkeit dieser Konvenienz für den Fall, daß der Mensch seine ursprüngliche Gerechtigkeit bewahrt hätte, fragt er nicht. d) Cusanus lehnt eine Aufeinanderfolge von Willensdekreten in Gott, wie sie der Skotismus lehrte, a limine ab. Er übernahm auch nicht die Lehre von einer ersten und zweiten Intention in Gott, wie sie Raimund Lull vertrat, um mit deren Hilfe die absolute Prädestination zu beweisen.

e) Nichtsdestoweniger erkannte Nikolaus mit Thomas von Aquin dem Gott menschen im Rahmen des einen überzeitlichen , alles umfassenden , mit dem gött lichen Wesen identischen Prädestinationsaktes eine gegenständlich - intentionale Priorität vor der übrigen Schöpfung zu, aus der die Vorrangstellung des „ Erst 133 S 16 (H 32,5—10) ; vgl. oben S. 189.

124 Vgl. die cusanische Antwort auf die ähnlich gelagerte Frage, ob Gott je etwas von Ihm Geschaffenes gänzlich zunichte werden lasse (D. Ign. II, 2 : # 110, 7—14 ). 135 Vgl. Balić 22 (zu Duns Skotus) .

136 Vgl . oben S. 86 f. 191

Die Gottheit Christi

geborenen “ sowie der Vollendung und des Zieles von allem resultiert. In dieser Vorherbestimmung ist zugleich auch schon die zum Erlöser enthalten. f) In diese Gesamtperspektive ordnet Cusanus das von Raimund Lull und der übrigen franziskanischen Tradition sowie von dem Albertisten Heymeric van

den Velde übernommene Gedankengut über Christus als das Ziel des Univer sums ein.

g) Die alle menschliche Fassungskraft übersteigende Größe und den Vorrang des Mittlers und Erlösers Jesus Christus möchte Nikolaus von Kues nach dem

Vorbild des hl. Paulus, soweit wie möglich , zugleich von der Erlösungsbedürftig keit der Menschheit her wie auch in der ganzen „ Breite und Länge, Höhe und

Tiefe“ (Eph 3, 18) sichtbar machen, die der Menschheit Jesu auf Grund der hypostatischen Einung und der ihr innewohnenden Wirkmacht der göttlichen Gnade zukommt. Dabei drängt die Dynamik der cusanischen Christusbetrach tung - wie auch die Hervorhebung der Wirkmacht der Erlösungs- und Mittler gnade – immer wieder über die Perspektive einer bloßen Befreiung von der Sünde hinaus auf die Vollendung des Menschengeschlechtes und damit des Uni versums in Jesus Christus hin 137.

C. Der Beweis der Gottheit Christi

I. DER BEWEIS AUS DER HEILIGEN SCHRIFT

a) Der Beweis der Gottheit Christi und die fundamentale Bedeutung ihrer Erkenntnis im Glauben

1. Die cusanischen Exzerpte1 auf Folio 95' in Cod. Cus. 83 zitieren nicht weniger als sechs Schriften des Raimund Lull mit Hinweisen darauf, daß oder wie dieser

die Inkarnation rational beweisen wolle ? Wie wenig sich Nikolaus von Kues

darin jedoch von der auf die Mohammedanerbekehrung hinzielenden Beweis 137 Der Satz P. Rottas (247 ) : , I1 Cusano ha appunto pensato l’Incarnazione sotto un punto di visto cosmico “, ist nur in dem Sinne richtig, daß die apriorisch -hypothetische

Hinführung zum Christusgeheimnis zu Anfang des III . Buches der Docta Ignorantia vop kosmologischen Erwägungen ausgeht und daß darin eine hervorstechende Besonderheit des cusanischen christologischen Denkens liegt. 1 1 Diese dürften höchstens einige Jahre nach dem 23. März 1428 (vgl. f. 51 ') nieder geschrieben sein. Cusanus kannte jedoch damals schon Lull gut ; vgl. die Bemerkung f. 95 ", Z. 16 : Iste liber (de intellectu) procedit per modum Artis generalis, et nihil est ibi novi .

2 Cod. Cus. 83, 95 ',58 ist aus De concordantia et contrarietate (ungedr., Carreras I 314 , n. 158 ) der Satz exzerpiert: De incarnatione non facimus scientiam necessariam a superius, sicut in Trinitate, sed ad inferius, quia est scientia necessaria subalternata,

cum incarnatio sit a contingenti. Dazu führt Cusanus ein ,exemplum probandi“ an. 192

Ihre Bezeugung

freudigkeit3 der Lullschen Kunst beeinflussen ließ, zeigt schon Predigt 6, die sagt, daß keiner die hypostatische Einung anders als im Glauben erfassen könne 4.

Ebendort begründet Cusanus aber zugleich auch die Vernunftgemäßheit des Glaubens an die Menschwerdung durch deren äußere Bezeugung: „ Obwohl diese tiefsten göttlichen Geheimnisse innerlich (penitus) uneinsehbar sind, sind sie dennoch nicht unglaubwürdig, denn sie sind überaus glaubwürdig bezeugt' (Ps 92,5) . Sie waren in den früheren Zeiten verborgen' (Kol 1 26) in Gott und 9

wurden nun am Ende der Zeit geoffenbart.“ 5 Die Docta Ignorantia gründet den Glauben an die Gottessohnschaft Christi auf

das, ,was Er als Mensch über Menschenvermögen hinaus in göttlicher Weise wirkte's, auf das, was Er, der in allem als wahrhaftig befunden wurde, von sich selbst aussagte, und auf das Zeugnis, das die mit ihrem Blute ablegten, die mit Ihm zusammen waren und deren unwandelbare Standhaftigkeit längst durch unzählige untrügliche Beweise erprobt ist“ 7. Sodann heißt es dort nach einer Übersicht über die Wunder Jesu und nach Anführung von Kol 1 , 14—20 : „Diese und manche sonstigen Zeugnisse werden von den Heiligen dafür abge legt, daß Er Gott und Mensch ist, da in Ihm die Menschennatur derart mit dem Worte in der Gottheit geeint ist, daß sie nicht in sich, sondern in Ihm sub sistiert . “ 8

Unter den biblischen Zeugnissen für die Gottheit Christi nimmt das Johannes evangelium einen besonderen Rang ein. „ Beachte, wie der Evangelist Johannes sein Evangelium schrieb , um den Glauben aufzubauen, daß Jesus der Sohn Got tes ist, damit die, die an seinen Namen glauben, das Leben haben' (Joh 20, 31 ) . “

So führt der Kardinal gegen Ende seiner Schrift De aequalitate aus . Das wird anschließend mit zahlreichen Selbstzeugnissen aus diesem Evangelium belegt.

Der Prolog wird als eine Einführung dazu erklärt 10. „Diese Zusammenfassung (summa) der Frohbotschaft, wie sie Johannes der Theologe verstand“ , ist in des

sen Evangelium „erweitert und bewiesen durch das Zeugnis Gottes des Vaters, Johannes' (des Täufers) 11, der Apostel , der Wunder, durch die Lehre und die * Von Lull abgesehen, sind im 14. Jhdt. „ die Versuche, die Glaubensdogmen rationell zu begründen , endgültig aufgegeben “ (Lang , Wege der Glaubensbegründung 25). Lull sagt zu seiner Rechtfertigung: Non intendo probare articulos contra fidem , sed mediante

fide* (Liber de convenientia fidei et intellectus in obiecto, pars 1 ; Mainz IV 9 ; Algaida 159). Non dico causa necessitatis, quia Filius Dei non est de necessitate incarnatus, sed

quoniam voluit propter bene esse, ut patebit in processu (De maiori agentia Dei dist. 2, a. a. 0. 315) . Das zeigt, daß Lull die Freiheit desgöttlichen Entschlusses nicht übersehen wollte (vgl. Algaida 160) . 4 S 6 ( C 25' , 33 ) . 5 S 6 (C 25°, 34-36) . 6 Vgl. Ps. -Dionysius, Ep. 4 (PG 3, 1072 B ). D. Ign. III, 4 ( H 129, 23—27); auf das Zeugnis der Martyrer kommt Nikolaus z. B. 7

auch S 147 ( V2 51" ) zu sprechen . & D. Ign. III, 4 ( H 130, 18—20) .

. De aequalitate (V: 261" ); vgl. S 118 (V2 1" ), wo der Glaube an die Gottessohnschaft Christi als Fundament der Kirche bezeichnet und als mit dem Bekenntnis des Petrus be ginnend dargestellt wird. 19 De aequalitate (V2 261" —262° ).

11 Vgl. oben S. 102—105. Auf das Zeugnis des Täufers beruft sich der Kardinal namentlich gegenüber dem Islam (Cribr. I, 17 ; P 132'), weil der Koran dessen Glaub würdigkeit besonders hervorhebt. 13 Haubst, Nikolaus v. Kues

193

Die Gottheit Christi Versicherungen des ,Wortes der Wahrheit (2 Kor 6, 7) durch dessen freiwillige Hinopferung bis zum schimpflichsten Tode für das Heil aller Gläubigen und durch seine Auferstehung von den Toten. Durch das alles zeigt er aufs handgreiflichste, daß Jesus der Sohn Gottes ist. " 12 Dazu kommt anderwärts noch die Berufung auf die Verheißungen und Vorbilder des Alten Testamentes, die, wie auch das Gesetz des Moses, in Christus ihre Erfüllung fanden 13. Moses und Elias traten bei der Verklärung Jesu als Zeugen seiner Predigt auf 14. 2. In den fünfziger Jahren hebt Nikolaus auch, besonders in Predigt 147 , mit Nachdruck die fundamentale Bedeutung hervor, die in der Erkenntnis der Gottessohnschaft Christi für die übernatürliche Vertiefung der Gotteserkenntnis überhaupt und für das christliche Leben liegt : „Der Sohn kam, um den Vater zu offenbaren. Er konnte den Vater aber nicht offenbaren, wenn Er nicht ... als der Sohn Gottes, der allein den Vater kennt, aufgenommen wurde ... 15 Deshalb war es sein ganzes Bestreben, die Menschen zum Glauben hinzuführen, dahin nämlich, daß sie es, ohne zu zweifeln, glaubten, daß Er, den sie als Menschensohn' vor sich sahen, der Sohn Gottes sei. Würden sie das nicht glauben, so nähmen sie auch seine Worte nicht an. Stände das aber einmal in zweifelsfreiem Glauben fest, daß Er selbst der Sohn Gottes sei, dann würden die Gläubigen auch all das annehmen, was Er vom Vater verkündete, was Er als von Ihm Gesandter verhieße und was Er befähle . . . 16 Daß man nämlich Gott nicht glaubte, ist nicht möglich 17. Wohl aber kann ein Zweifel bestehen, ob die Worte, die man hört, von Gott sind. " 18 Deshalb prägte Christus den Glauben an seine Gottheit auf alle mögliche Weise den glaubenden Menschenherzen ein 19. Er gab seinen Worten durch den Erweis seiner Gottheit „ eine größere Beständigkeit, als sie Himmel und Erde haben ", insbesondere auch "9 der großen Verheißung der Auferstehung zum unsterblichen Leben, das nur Gott besitzt. " 20 12 De aequalitate (V2 262 -b) . S 76 beginnt (V₁ 74b) : Iesus est Filius Dei . Tam in evangelio quam in epistula ad probandum hoc Iohannes adducit triplex testimonium, scilicet operum, quae in aliis operatus est per signa et miracula, operum, quae in se, et testimonium Patris et Verbi et Spiritus. 14 S 169 (V2 75ºª) . 13 Vgl. oben S. 91-93. 15 Vgl. S 280 (Ve 270 ) : Filius enim est manifestatio Patris ; sed hoc fieri nequit, nisi Pater manifestet Filium . 16 Vgl. Notata (V₁ 83 ) ; S_284 (V2 277 ) : Attende igitur, ut saepius habuisti : Qui Christum recipit esse Filium Dei , ille utique credit ei et credit ipsum esse missum Dei Patris et loqui verba Dei. Certe ille non peccat, quia mandata servat. Quis non servaret mandata Filii Dei, quae promittunt vitam aeternam ...? Vgl . ferner Brief vom 11. 6. 1463 (Sie 161-162 ) ; Cribr. II , 16 ( P 139') . 17 Vgl . die vorangehenden Worte (V2 50 ) : Veritas enim de se est illius naturae, quando ut veritas auditur, quod nullam potest in intellectu resistentiam invenire ; S 204 (V2 175 ) : Extra veritatem non est veritas , sed falsitas ... Oportet igitur volentem veritatem apprehendere ad testimonium recurrere veritatis. 18 Vgl. S 289 (V2 285 ) : Nemo autem dubitat Deum veracem in omni verbo suo ...; sed an quis verba Dei loquatur, dubium esse potest propter falsos apostolos et prophetas. 19 Die angeführten Stellen s. S 147 (V½ 50¹Â˜³) . 20 De aequalitate (V2 262vb) .

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Ansätze zur Glaubensanalyse 3. In der Predigt 180 mit dem Motto: „Wer an den Sohn Gottes glaubt, hat das Zeugnis Gottes in sich " (1 Joh 5 , 10) , rührt Nikolaus auch das Problem der Glaubensanalyse an: „ Die (Glaubens- ) Gewißheit kann nicht aus dem Hören (als solchem ) kommen“, führt er dort aus. „Wenn sich nämlich das, was gesagt wird, nicht dem sinnlichen oder geistigen Auge zeigt, so hat es nicht das Gewicht der Glaubwürdigkeit (fidei) in sich. Denn was gesagt wird, kann wahr oder falsch oder zweifelhaft sein. Der Glaube ist aber (seinem Wesen nach) notwendig von dem Falschen und Zweifelhaften frei, da er ohne Unsicherheit der Wahrheit des Gehörten zustimmen muß.“ 21 Wie kommt also die Gewißheit des Christusglaubens zustande? Cusanus bahnt seine Antwort mit folgender Erklärung an : Die Gewißheit der Sinne erlangt ihren höchsten Grad im Sehen. Davon sagt Christus jedoch zu Thomas: „ Selig, die nicht sehen und doch glauben " (Joh 20, 29) . Denn der Glaube ist groß , der durch keine Bezeugung bewiesen wird. „Es gibt aber auch Dinge “ , fährt Cusanus fort, „ die der Lehrer vorträgt und die die Schüler dem Lehrer nur glauben, wenn sie geistig sichtbar gemacht werden ... Dann erschaut der Intellekt in den Vernunftgründen die richtige Schlußfolgerung, und er glaubt . Es gibt (schließlich aber auch) Dinge, die sich weder dem sinnlichen noch dem geistigen Auge darbieten können. Derart ist die Schlußfolgerung , daß Jesus, ein wahrer Mensch, (zugleich) wahrhaft der Sohn Gottes ist. “ 22 Aus der Transzendenz der Glaubenswahrheit über das Sinnliche und Rationale folgt: „ Obwohl sich mehrere Glaubwürdigkeitsgründe (testimonia ad probandum) vorbringen lassen, können doch all diese Zeugnisse nichts anderes als ,Konjekturen zeigen. " 23 Die Ratio kann den Glaubensgegenstand nicht in sich erreichen. Die Glaubenserkenntnis kann also nur dem äußeren und inneren Zeugnis Gottes entspringen. So ist auch die Freiheit der Glaubenszustimmung mit der zum Glauben gehörigen Gewißheit vereinbar . „Obwohl nämlich die drei (Zeugnisgebenden) im Himmel so übereinstimmen, daß das Zeugnis der Drei , eins ist', so zeigen dennoch alle jene Zeugnisse im Himmel und auf Erden ( 1 Joh 5 , 7 f.) die Wahrheit (daß und wie ,Jesus Christus gekommen ist' , V. 6) nicht in solcher Weise, daß der Glaube gemindert würde wegen der Gewißheit, vielmehr wird der Glaube durch diese Bezeugung vermehrt." 24 Die Zeugnisse von Vater, Sohn und Geist bewirken, daß der Glaube als Tugendakt „größer wird und daß es mit Recht (merito) geglaubt werden muß , daß Christus der Sohn Gottes ist. Nachdem aber der Glaube aus diesen (von

21 S 180 (V2 95b). 22 S 180 (V2 96™ª). - Zu diesem Abschnitt vgl. Thom. v. A q., De veritate q. 14, a. 9 c. (Quaest. disp. II 23) sowie Augustinus , Ep . 147 c. 3 (CSEL 44 281 f.) . 23 Von den Autoren, die im 14. Jhdt. Ansätze zur Behandlung der Analysis fidei zeigen, sagt A. Lang (Wege der Glaubensbegründung 251 ) : „ Sie haben mehr instinktiv erfaßt als klar ausgesprochen, daß von Glaubwürdigkeitsgründen zur Glaubensgewißheit keine logische Brücke führt. " Von Cusanus wird diese Erkenntnis hier bewußt herausgearbeitet. 24 S 180 (V2 96 ); vgl. Gregorius M., In evangelia homiliae II , 26, 1 (PL 76, 1197) : nec fides habet meritum, cui humana ratio praebet experimentum. 13*

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Die Gottheit Christi Gott dargebotenen) Motiven entnommen ist 25, erfährt (experitur) der Glaubende ,das Zeugnis Gottes in sich' ; denn ,wer das Zeugnis Gottes annimmt, weiß ', wie Johannes der Täufer sagt,, daß Gott wahrhaftig ist' (Joh 3 , 33 ) ... Die Gläubigen, die mit ihrem Blute Zeugnis ablegten,,hatten das Zeugnis Gottes in sich'. Sonst hätten sie nicht den Tod mit Freuden angenommen, um den Glauben zu bekräftigen. Hätten sie nicht das Zeugnis Gottes in sich gehabt, wie wären sie dann seine Blutzeugen gewesen? " 26

b) Das Selbstzeugnis Jesu In seiner Frühschrift gegen die Böhmen 27 zitiert Nikolaus von Kues nach den Akten des VI. allgemeinen Konzils 28 einen Hilarius-Text 29 mit dem Wortlaut : „Als der Eingeborene Gott aus der Jungfrau als Mensch geboren war und den Menschen, der Fülle der Zeit entsprechend, in sich selbst zu Gott hinführen wollte, hielt Er sich, um den Glauben an seine Gottessohnschaft zu lehren und sich als den Menschensohn verkündigen zu lassen, an die Art der Verkündigung seiner Frohbotschaft : Er sprach und tat als Mensch all das, was Gottes ist, und sprach und tat sodann auch als Gott all das, was des Menschen ist. “ 30 Auf diese Hilarius -Worte kommt Nikolaus öfters in seinen Predigtaufzeichnungen zurück. Einigemal zitiert er ausdrücklich: „Alles , was Christus tat, tat Er, wie Hilarius sagt, mit dem Ziel , sich als Gott und Mensch zu erweisen. “ 31 „Wie wäre es möglich gewesen, daß der nicht Gott geeint gewesen wäre, der als Mensch so handelte wie Gott und als Gott wie ein Mensch? Dionysius und Hilarius. “ 32 Auch die Erklärung, daß sich Jesus als Menschensohn bezeichne, um zur Erkenntnis seiner Gottessohnschaft zu führen , wie sie Petrus auf die Frage : „ Für wen halten die Leute den Menschensohn? " bekannte (Mt 16 , 15 f. ) 33, spielt in diesen Zusammenhang hinein. Die Selbstoffenbarung Christi sollte nun nicht schon gleich nach seiner Geburt seine Gottheit allen evident machen. Das hätte seinen Erlösungstod verhindert 34 . Aber als Jesus öffentlich aufzutreten begann , enthüllte Er auch seine Gottessohn25 Sinngemäß dürfte das „ nachdem" (postquam) hier auch als „ indem “ zu verstehen sein. 26 S 180 (V2 96 ) ; vgl . S 217 (V½ 141 ) : In illa fide de verbo Filii Dei praegnante secundum mensuram fidei operatur Verbum opera verbi , quae sunt omnipotentiae opera. -- Aufs Ganze gesehen, steht Cusanus hier in der von Thomas zu Scheeben führenden Traditionslinie; vgl. Scheeben , Dogmatik Buch I, Nr. 790-92 ( I 333 f. ) und besonders die Erklärung, daß die Vernunft beim Glaubens -Assens, „von der Kraft Gottes getragen und über sich hinausgehoben, zur Höhe des göttlichen Motives hinaufgezogen wird ... und durch die Einwirkung der Kraft Gottes ihr eine der Erhabenheit des Motives entsprechende Gewißheit eingeprägt wird “ (Nr. 786, S. 332) . - Zur Aufnahme Lullschen Gedankengutes in die Erklärung des Glaubensaktes in Predigt 1 vgl. Vf I 19–21 . 27 Contra Bohemorum errorem (P 11 ') . 28 Vgl. oben S. 19 Anm. 79. 29 De Trinitate 1. IX, n. 5 ( PL 10 , 284 A B) . 30 Die Richtigkeit dieser Aussageweise beruht auf der communicatio idiomatum; vgl. oben S. 132-134 . 31 S 102 (V2 19ª) . 32 S 21 (V1 63 ) ; zu Dionysius vgl. unten S. 198. 33 S 154 (V2 62 ) ; vgl . S 116 (V2 32 ") : Filius hominis, Verbum Dei Patris ... fidem fecit de se per opera. 34 Vgl. oben S. 106.

196

Sein Selbstzeugnis schaft 35. Es erübrigt sich, auf die Zeugnisse des Gottesbewußtseins Christi im einzelnen einzugehen. Bemerkenswert ist, daß der Kardinal schon in dem „ Ich bin", mit dem Jesus von sich selbst spricht, ein Stilmerkmal der göttlichen Offenbarungsrede 36 sieht, das die göttliche Personalität und absolute Souveränität zum Ausdruck bringt 37. Cusanus dürfte darin Augustinus folgen 38. Um die Wahrheit seines Selbstzeugnisses zu erhärten, nahm Jesus das Zeugnis des Alten Testamentes für sich in Anspruch 39. Die Erkenntnis des Volkes , daß Er der verheißene Prophet sei (Dt 18 , 15) , sollte zu dem Glauben an seine Gottessohnschaft hinführen 40. Das Wissen um verborgene Dinge und Herzensgeheimnisse, wie es Christus besaß, ja seine Allwissenheit erwies Ihn in der Tat nicht nur als Propheten, sondern als Gott 41. Aus dem Zeugnis für die absolute Sündenlosigkeit, wie es der 1. Johannesbrief ablegt, folgt dasselbe 42. Bei der öffentlichen Sündennachlassung verfolgte Jesus auch die Absicht, Staunen zu erregen und auf seine Gottheit hinzulenken 43. Sehr stark hebt Cusanus von Predigt 147 an 44 den Zeugniswert des Leidens und des freiwilligen Sterbens Jesu für seine Göttlichkeit und die christliche Heilsgewißheit hervor. Im Kreuzestode gipfelte sein Selbstzeugnis 45. „ Alles, was Er lehrte und verheißen hat, wurde durch seinen Tod bekräftigt. " 46 Er ist somit nicht nur um der Genugtuung willen für uns geopfert worden, sondern auch um „durch seinen freiwilligen Tod die Gewißheit zu geben, daß Er , der Weg, die Wahrheit und das Leben' (Joh 14 , 6) ist" 47. In Predigt 267 stellt Nikolaus die Frage: „Inwiefern erwies der Tod Christus, den Menschensohn, als den Sohn Gottes? " In der Antwort heißt es: „Ein gewis-

35 S 187 (V2 103ˇª). 36 Auch die neuere Exegese stellt das heraus, z. B. A. Wikenhauser , Das Evangelium nach Johannes, Regensburg 1948 , 111 f. 37 Vgl . S 39 (V₁ 92 ) ; S 271 n . 22 (H 140) . - S 277 (V2 264 ) bemerkt Cusanus, das Ego sum komme im eigentlichen Sinne nur Gott, der substantia substantialissima (das erinnert sehr an Raimund Lull) , zu. - De principio n. 18 ( V₂ 253 ) heißt es zu ,Tunc scietis, quia ego sum' (Joh 8 , 28 ; Ex 6, 7) : Solum per se subsistens veraciter dicere potest: Ego sum' ... Oportet nos praesupponere has locutiones humano modo omnibus praecisiores, nam Verbum Dei de se loquitur. ----- De Possest ( P 176 ') : Habet_autem Graecus : Ego sum entitas ' , ubi nos : Ego sum, qui sum' ; vgl. Ex 3, 14 nach der Septuaginta (ed. A. Rahlfs) : ' Eyó εiμι ó öv. 38 In Ioh. tr. 39 , n. 8 (PL 35 , 1685) ; tr . 40 , n. 1—3 ( 1686 f.) ; Hinweis von J. Koch , Ursprung 80 Anm. 54. -· S 63 (G 174') : ‚ Ego ' proprie convenit Deo secundum Platonem . 39 S 288 (V2 283 ) , S 289 (V2 284-285 ). 40 S 171 (V2 76° ) ; vgl . S 100 (V2 28 ) , S 140 (V2 30³) , S 144 (V2 46™ ). 41 S 79 (V2 15 ) , S 271 n. 23 (H 140) , S 280 (V2 272rb-vb) . 42 S 203 (V2 122 ), S 206, 1 (V2 121rb–va) . 43 S 51 (V₁ 81 ) , S 102 (V2 19 ). 44 S 147 (V2 50 ) : Demum per ultimum testimonium, quo maius fieri non potuit, scilicet per mortem, et in hoc per mortem magis fugiendam , scilicet crucis , in sanguine suo voluit fidem humanis cordibus infigere. Ebd. 51 : Mortuus est autem, quia in hoc, quod sibi imputabatur, quia Filium Dei se fecit, perhibuit testimonium maximum veritati. 45 S 169 (V2 75 ) : Multa Iesus dedit testimonia, quomodo verbum suum foret verum Dei Patris verbum ; sed non fuit nisi excessus omnium testimoniorum in morte crucis. 46 S 204 (V2 175 ) ; vgl . S 232 (V2 157ª). 47 Diesen Gedanken führt Nikolaus in S 204 (V2 175 ) aus, und zwar in dem Dubium : Si Christus propter perhibere testimonium passus est, quomodo oblatus dicitur pro nobis? 197

Die Gottheit Christi

ser, sehr bedeutender alter Lehrer, ein Erklärer der Paulusbriefe, dessen Namen ich noch nicht finden konnte 48, unterrichtete mich , daß der Tod Christi Ihn als 7

Gottes Sohn erweist. Denn Er starb für seine Feinde, sowie um in uns durch sein

Blutzeugnis die Worte des Lebens zu festigen. Gott ist die absolute Güte selbst.

Somit wird jener, der so gut ist, daß Er für das Heil seiner Feinde stirbt, da es keinen Besseren geben kann, mit Recht als Sohn der Gutheit bezeichnet, die Gott ist. “ 49

Mit dieser Bewertung des Blutzeugnisses Christi tritt Cusanus positiv dem

„ Ärgernis des Kreuzes“ ( 1 Kor 1 , 23) entgegen . Anderwärts bemerkt er nämlich, daß die Kreuzigung zu zeigen schien, daß Christus nicht der Sohn Gottes sei“ .

„Die Auferstehung löste diesen Gegengrund“ , bemerkt er dort 50. c ) Das Zeugnis der Wunder

Am häufigsten kommt Nikolaus an Hand der Evangelien des Kirchenjahres auf

das Zeugnis der Wunder zu sprechen. Dabei umschreibt er die Eigenart und Be deutung der Wunder von der Docta Ignorantia an 51 immer wieder als die von Werken, die Christus als Mensch über Menschenvermögen hinaus in göttlicher

Weise wirkte. Damit knüpft er an eine Stelle in dem 4. Ps .-Dionysius-Brief an den Mönch Gaius 52 und an die erwähnte Hilarius-Stelle an. Er erklärt dazu : „ Es ist nämlich nicht möglich, daß ein Mensch, der nicht hypostatisch mit Gott geeint ist, solche Werke getan haben könnte . “ 53 Christus trat auf „als ,einer, der Macht hat' (Mt 7, 29) : Er wandelte über das Meer, heilte die Kranken, gab Blinden das Augenlicht und Toten das Leben wie der 54. Durch diese Zeichen erwies Er sich , während Er ,im Außern wie ein ande

rer Mensch erfunden wurde ( Phil 2, 7), auch als Gott. Als deshalb Christus, wie

Lukas (7, 19) berichtet, von den Johannes jüngern gefragt wurde, ob ,Er selbst (es) sei' oder ob man auf einen andern warte, antwortete Er, sie sollten dem Jo >

hannes melden, wie Blinde, Lahme und Aussätzige geheilt würden .“ 55

Daß Gott selbst ein übernatürliches Eingreifen in die natürliche Ordnung des Universums möglich sei, ohne daß diese zerstört werde, erklärt Nikolaus in einer 4A Vgl. oben S. 15 f.

49 S 267 (dub. 2. V2 227" ).

50 S 262 (V2 214 ° ).

51 D. Ign. III, 4 (H 129 , 22) : quae ipse existens homo supra hominem divine opera tus est. 52 S 32 (V1 131" ): Ostendit se, ut ait Dionysius, Ad Gaium, per hoc, quod, cum esset homo, operatus est supra omnem hominem tanquam potestatem habens.

Der grie

hische Dionysiustext lautet (ep. 4 ; PG 3, 1072 Β) :υπέρ άνθρωπον ενήργει τα ανθρώπου , die Übersetzung Eriugenas (PL 122, 1178 A ) : super hominem operatur, quae sunt

hominis. Das cusanische ,existens homo“ oder ,cum esset homo bildet eine Verschmelzung ben S. 196) : „gerens homo universa,

mit den Hilariusworten ( vgl .

quae Dei sunt' , die

Nikolaus schon S 21 (V1 636) mit ,cum homo esset, egit ut Deus' wiedergibt. — Die ähn lich klingende Dionysius -Stelle in demselben Brief : ,neque humana secundum hominem operatus est' ( 1072 C ; Eriugena 1178 B) bezieht sich auf den Synergismus der gott menschlichen Wirksamkeit “ Christi . 53 S 21 (V1 634 ). 54 Vgl. die Aufzählung D. Ign. III, 4 ( H 130, 3—7 ) . 55 S 32 ( V1 131" ); vgl. S 60 (V1 118 ). 198

Das Zeugnis seiner Wunder Nachbemerkung zu seinen Exzerpten aus einer anti-averroistischen Schrift Lulls 56 damit, daß Gott in jedem Falle der Begründer wie das Ziel der Ordnung ist 57. Die Werke Christi haben, weil sie seine göttliche Allmacht erweisen 58, „ die wirksamste und sicherste Zeugniskraft “ für seine Gottheit in sich 59. „ Je unmöglicher nämlich etwas (in der natürlichen Ordnung) ist , um so mehr eignete es sich für Ihn, seine Allmacht und große Herrlichkeit zu zeigen. “ 60 Auf die Frage: Wie konnte sich Jesus bei der Offenbarung des Vaters als den Sohn Gottes ausweisen? " antwortet daher der Kardinal einfachhin: „ Christus kam als ein von Gott Gesandter mit der ganzen Macht, auch mit der Schöpfermacht Gottes ...Es ist aber keiner mit dem Vater näher verbunden als der Sohn. Wer also mit der gesamten Machtfülle gesandt wird, kann mit Recht wegen der gänzlichen Gleichheit, der gegenüber auch die Sohnschaft nicht größer (gleicher) sein kann, auf Grund einer solchen Sendung auch der wesens- und naturgleiche Sohn des Sendenden genannt werden. “ 61 Gott der Vater hat, indem Er durch Jesus göttliche Werke wirkte , in Ihm eine mit der seinen wesensgleiche Schöpfermacht enthüllt 62. Dieses Zeugnis des Vaters ist stärker als das des Johannes 63. Es macht den Unglauben der Juden unentschuldbar 64. Durch die „ Evidenz der Wunder " konnten die Augenzeugen die Wahrheit des Selbstzeugnisses Christi erfahren 65. Das war auch die Absicht Jesu bei seinen Wundern: sie sollten den Glauben an seine Gottessohnschaft begründen 6. Die Erscheinungen des Auferstandenen hatten eine andere Aufgabe . „ Die Wunder vor dem Tode geschahen, damit man durch das, was man an seiner handgreiflichen Menschheit sah, zum Glauben an seine verborgene Gottheit gelangte . Die Beweise (argumenta) nach der Auferstehung 67 geschahen, damit bei der Unbezweifelbarkeit seiner Gottheit die verborgene Menschheit geglaubt würde. " 68

56 Cod. Cus. 83, 97 ′ , 22 : Ex libro de ente, quod simpliciter est per se et propter se (= Liber de ente, quod simpliciter est per se existens et agens; Carreras I 320, n. 197 , ungedruckt) ; ebd. Z. 37 : Argumenta Averoys contra fidei articulos soluta per Raymundum in libro praetacto . 57 Ebd. 97 (unterer Rand) : Nota bene ! Quando philosophi arguunt aliquam impossibilitatem oriri, quam trahunt ad destructionem universi , scire debemus, quod, quia Deus agit per se et propter se et est principium et finis ordinis, per suas operationes infinitas qualescumque ad eundem finem, scilicet se ipsum, operatur. Igitur non destruitur ordo universi per operationcs supernaturales. - Vgl. die ausgedehnteren Ausführungen im Brief vom 11. 6. 1463 (Si2 161–162 ) , bes. 161 : Cum ,apud Deum nihil sit impossibile (Lc 1 , 37) , tum cessat omnis quaestio de modo. Modus enim essendi in Deo est voluntas , quam exsequitur omnipotentia ... Qui igitur non credit Deum posse facere, nisi intelligat Auch dabei lehnt sich Cusanus, modum, plus de se quam de Deo sentit et penitus errat. wie das dort Folgende bestätigt, an Lull an. 58 S 91 (V2 20³) ; vgl. De pace fidei c. 12 (P 119') ; Cribr. I , 10 (P 130 ′) ; I , 16 ( P 131' bis 132') . 59 S 277 (V½ 263 ) ; vgl. S 271 n . 32 ( H 152 ) : Nota, quomodo miraculum generat naturaliter quodam modo fidem. 62 S 280 (V2 270°*). 61 S 287 dub. 5 (V2 280°³) . 60 S 64 (V1 108vb) . 64 S 145 (V2 49™ª) . 63 S 60 (V₁ 118r ) . 65 S 32 (V1 130b) ; vgl. Notata (V₁ 83 ^) ; S 92 (V2 21 ™ª) . 66 S 169 (V2 75 ); vgl. S. 110 (V2 24 ) , S 260 (V2 209-210 ) , S 275 (V2 247b). 68 S 150 (V2 53 ) ; vgl. S 217 (V2 141 ). 67 Vgl. Apg 1, 3. 199

Jesus Christus II. JESUS CHRISTUS UND DIE RELIGIONEN DER HEIDEN , JUDEN UND MOHAMMEDANER

a) Jesus Christus die Vollendung der Religionen Daß dem Glauben und Denken des Nikolaus von Kues nichts ferner lag, als Jesus

Christus mit irgendeinem Menschen und seine Offenbarung mit irgendeiner andern Religion auf eine Stufe zu stellen, dürfte bereits aus dem, was wir über die einzigartige Größe Christi hörten, hinreichend deutlich geworden sein 1. Die religionsgeschichtlichen und religionsphilosophischen Ausführungen des Kardi nals unterschreiben dasselbe Bekenntnis :

Jesus Christus, die Vollendung des Universums, hat auch „eine jede Religion in der Welt zur Vollendung geführt, indem Er die Gläubigen zu dem lebendigen Gott hinwandte und sie der Unwissenheit entriß ... Die Religion der Juden (und hernach die der Mohammedaner) wurde von irdischen Verheißungen zur Hoff

nung auf die Auferstehung und aufs ewige Leben hingelenkt. Auch die Religion der Heiden, die im Glauben und den ihn darstellenden Riten über den Erdkreis

hin mannigfach aufgespalten war, wurde von eitlen Hoffnungen und von einer Vielzahl von Göttern zu dem einen lebendigen und wahren ,Gott der Götter“ (Dt 10, 17) und zur Unsterblichkeitshoffnung erhoben . So ist die Religion Christi, deren König und Priester Er selbst ist, die Vereinigung aller Gläubigen in dem einen Geiste, der die Vernunftseele zur wahren Verehrung des einen lebendigen Gottes erleuchtet, der nicht aufhört, durch sein Wort, durch das Er alles erschafft,

die zu vollenden, die sich Ihm im Geiste des Glaubens nahen, bis sie ,von Klar heit zu Klarheit nach seinem Bilde umgestaltet werden' (2 Kor 3, 18). “ 2 „Die Juden verehrten Gott nur als den, der über alles Begreifbare erhaben ist“ ,

sagt Nikolaus an anderer Stelle 3, „ die Heiden verehrten Ihn nur, wie Er in be schränkter Weise in den Dingen widerleuchtet. Die Juden wurden von den Hei den als Toren verlacht, weil sie verehrten, was sie nicht kannten . Die Heiden

wurden von den Juden als Toren verlacht, weil sie Sinnenfälliges verehrten, das vergänglich ist. Da kam Jesus als der Friedensstifter und Mittler. In Ihm ist die Natur, die die Juden verehrten, die Natur Gottes nämlich , geeint mit der Natur,

die die Heiden vergötzten und verehrten. In Christus trifft somit alles zusammen , auf das Juden und Heiden ihre Verehrung und ihren Glauben richteten ... +

Deshalb muß auch Christus sowohl durch die Juden wie durch die Heiden ver ehrt werden. Denn jeder Grund der Verehrung findet sich in Christus. Ist Gott als der Schöpfer zu verehren, so Christus als der, durch den alles geworden ist 5.

Ist der Mensch zu verehren, weil in ihm die göttlichen Tätigkeiten widerleuchten, 1 Vgl. die berechtigte Kritik von B. Decker (Nik. v. Cues 111 f.) an der Auslegung der Schrift De pace fidei durch E. Hoffmann, P. Naumann und S. Semler (S. 118) . 2 S 263, 1 ( V2 216 " ) vom 2. 2. 1457 . 3 S 118 (V2 15b) vom 29.6. 1453. Am 29.5. 1453 fiel Konstantinopel. Das war der An laß4 zu der Schrift De pace fidei. 4 Vgl. Kol 3, 11 .

5 Symb. Conc. Nic. (D 54). 200

die Vollendung der Religionen so ist Christus am meisten zu verehren, weil sie in Ihm am meisten widerleuchten. Denn ,in Ihm wohnt die Gottheit leibhaftig' (Kol 2 , 9). " Deutlicher als irgendwo sonst tritt hier die Konzeption der Docta Ignorantia, nach der Christus als Gottmensch das „ absolute und beschränkte Größte zugleich " ist, ins Licht der cusanischen „ Religionsphilosophie “. Hier zeigt sich zugleich das treibende Motiv, Christus unter der Sicht des „größten Menschen “ darzustellen. Darin nämlich, daß Christus als solcher erkannt und anerkannt wird, liegt im wahrsten Sinne die " Verchristlichung" des griechisch-heidnischen Humanitätsideals. Daher kann der Kardinal so weit gehen, zu sagen : „Wer aus den Juden Christus nicht annimmt, ist von der wahren Gottesverehrung der Juden weit entfernt. Wer aus den Heiden Christus nicht annimmt, ist weit von dem wahren Kulte der Heiden entfernt. Denn weder der wahre jüdische noch der wahre heidnische Kult schloß Christus aus." „ Ich spreche vom , wahren Kult", fügt Nikolaus hinzu, „denn es gab Betrügerei sowohl im jüdischen wie im heidnischen Kult . Man liest von Täuschungen und Spaltungen und Häresien in ihrem Bereich (in illis sectis) . Die wahre heidnische Gottesverehrung aber war niemals unvernünftig, so daß sie sich selbst widersprochen hätte ; sie glaubte nicht etwa, das Geschöpf sei der Schöpfer oder der Schöpfer sei dem Geschöpf nicht vorzuziehen, oder Gott sei nicht in höchster Weise gut, wenn man Ihn auch in seinen Werken verehrte. -— Beachtet man das, so ist Christus wahrhaftig die Wahrheit, die Vollendung und die Erfüllung aller Gottesverehrung. " 6 Dieses und einiges andere enthüllt Predigt 118 als einen ersten Niederschlag der Konzeption, aus der De pace fidei entstand . Was Nikolaus von Kues hier von Juden und Heiden sagt, wird dort auf zusammen siebzehn Völker oder Religionen ausgedehnt. Die Ursprünglichkeit der hier aufgezeichneten Idee ist dort von manchem demonstrativen Beiwerk überdeckt. Hier zeigt sich, daß die Größe des cusanischen Christus - Gedankens die Wurzel war, der jene Schrift entsprang.

b) Christus und die religiöse Sehnsucht der Heiden Aus dem natürlichen Heilsverlangen des Menschen und der Menschheit, das nicht ruht, bis es in Gott seine Erfüllung findet, und daraus, daß die Vollendung einer jeden konkreten Form von „ wahrer" Religion in Jesus Christus liegt, ergibt sich eine optimistische Beurteilung der missionarischen Situation : Es ist nicht nötig , die religiösen Anschauungen von Heiden , Juden und Mohammedanern mit Stumpf und Stiel auszurotten. Man tut besser daran, den Wahrheitskern von Überwucherungen zu befreien und ihm zum Hineinwachsen in die christliche. S 118 (V2 1ºª). - Wie zeitnahe diese Gedanken heute wieder sind , zeigt z . B. das Buch ,Le Mystère de l'Avent' von J. Daniélou , deutsch : „Das Geheimnis vom Kommen des Herrn ", Frankfurt/M. 1951. 7 Schon in dieser Predigt (am Fest Peter und Paul) steht auch das Bekenntnis des Petrus (Mt 16, 16) im Vordergrund. In De pace fidei (c. 12) übernimmt es Petrus, den Glauben an die Menschwerdung den Vertretern der Völker zu erschließen.

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Jesus Christus Glaubenserkenntnis zu helfen; denn Christus ist bereits der „ von allen Völkern im geheimen Ersehnte" 8. Das Licht des ewigen Wortes „ leuchtet in der Finsternis “ , wie der hl. Johannes sagt ( 1 , 5) , „ aber die Finsternis hat es nicht erfaßt". Cusanus erklärt das : Der menschliche Geist ist wie dunkle Luft, die zur Erleuchtung geeignet ist “ und danach verlangt; er ist wie „ geschaffene Finsternis, die sich in einem Potenzverhältnis zum Lichte befindet, das sich nur durch das Licht verwirklichen läßt “ 9. Deshalb 19 begann der Apostel Johannes damit, die Vollendung (apotelesma) zu erschließen (die in Christus, dem , wahren Licht' , liegt) , ebenso Paulus im 17. Kapitel der Apostelgeschichte 10. Beide zerstörten nicht, sondern erleuchteten die Finsternisse der (heidnischen) Meinungen. Die Platoniker sprachen ähnlich von ,dem Worte 11. Deshalb sagte Johannes : Dieses Wort ist Fleisch geworden' ( 1 , 14) , und Paulus : Dieser ist der Gott, dem ihr den Altar geweiht habt. Der Unbekannte zeigte sich der Welt ! “ 12 Daß sich das, was der Anfang des Johannesevangeliums über das göttliche Wort sagt, schon bei Platon oder den Platonikern finde, hat Cusanus von „ Predigt 19" an oftmals wiederholt 13. Er beruft sich dabei auf Augustinus. In „ Predigt 19“ zitiert er auch Aussprüche des Hermes Trismegistos und der Sibyllen als Beleg dafür, daß das Geheimnis der ewigen Geburt in Gott auch schon „ den Menschen im Heidentum von der höchsten Wahrheit durch irgendeinen Lichtschimmer angedeutet wurde “ 14. Nebst der fortlebenden Uroffenbarung gab es im Heidentum „ auch Seher (vates) und verschiedene Sibyllen , nach Isidor neun an Zahl " ; und „ diese ehrwürdigen Frauen weissagten von Christus " 15. Gott hat nämlich nicht nur dem altbundlichen Gottesvolk, sondern 99 den verschiedenen Nationen Propheten und Lehrer gesandt “, und je nach den Zeiten von verschiedener Art 16. Insbesondere nimmt der Kardinal an, „Platon habe auf dem Wege der Offenbarung eine Kenntnis vom Wesen oder Ursprung der Dinge erlangt, in dem Sinne, wie Paulus im Römerbrief ( 1 , 19) sagt,, Gott habe es ihnen geoffenbart' ...

8 S 32 (V₁ 131b) : Hic Iesus fuit occultus desideratus omnibus gentibus. ⁹S 106 (V1 62ra-b) , Motto : Lux in tenebris lucet etc. 10 Vgl . Apg 17 , 23 : Quod ignorantes colitis , hoc ego annuntio vobis. 11 Vgl . S 251 (V2_194 ) : Nihil lucis habent omnia philosophorum inventa nisi ex participatione illius Lucis (Verbi) . 12 S 106 (V₁ 62 ) ; zum letzten Satz vgl . Apg 17, 23 f. — Ähnlich ist die Grundausrichtung dessen, was De pace fidei c. 4—11 über die göttliche Weisheit oder das göttliche Wort gesagt wird. 13 „ S 19" (C 57 , 22 ; vgl. oben S. 24 Anm. 23) ; S 8 (C 295, 27) , S 13 (C 85′, 49) , S. 60 (V₁ 115 ; vgl. oben S. 103), S 134 (H 82) , S 155 (V2 31b) ; De beryllo c. 25 (H 33) . Zu den frühesten Zitaten vgl. Vf I 305 f. 14 „S 19" (C 56 , 60-57 , 21 ) ; vgl . Vf I 307 f. 15 S 8 (C 29 , 1 f. ) . Nach Isidor , Etymologiae VIII , 8 (PL 82, 310 A B) gab es allerdings 10 Sibyllen . Für den Inhalt des Sibyllenzeugnisses beruft sich Nikolaus auch hier auf Laktanz sowie auf Augustinus. 16 De pace fidei c. 1 (P 114' ) ; vgl . D. Ign . III , 4 (H 140, 1 f.) ; Cribr. I , 2 ( P 126") : (Sequaces Mahumet) dicunt, quomodo omnibus gentibus Deus nativos nuntios miserit et eas commonu(er) it, quid credere et quid agere ipsas oportet. Vgl . Augustinus , Ep. 137 n. 12 (CSEL 44, 112) . 202

und die religiöse Sehnsucht der Heiden Das bringt Platon in seinen Briefen ganz kurz zum Ausdruck, indem er sagt, daß Gott selbst sich dem, der Ihn mit höchster Wachheit und beharrlich sucht, schließlich offenbare; Proklos wiederholt das im Parmenideskommentar" 17. Das heidnische Gott-Erkennen und -Ahnen drang jedoch nicht bis zur Dreipersönlichkeit Gottes vor 18. Auch die Weisen erfaßten „ nicht, wie wir Christen, daß das Wort Gottes der Sohn Gottes ist " 19. So kann Cusanus im gleichen Zusammenhang mit Augustinus sagen, daß sich schon ein großer Teil " des Johannesevangeliums bei den Platonikern finde 20, und Hieronymus dafür zitieren, daß „ Platon und Demosthenes eine Äußerung wie ‚ Im Anfang war das Wort' nicht kannten“ 21 . In Predigt 8, die sich im übrigen gegen die richtet, die als „ Magier " nur dem Licht der natürlichen Vernunft oder den Irrlichtern des Aberglaubens, nicht aber dem Stern des Glaubens folgen, hebt Nikolaus auch den natürlichen Zug der heidnischen Seele (anima pagana) zum Christentum stark hervor , indem er den Alten" schon folgenden Gedankengang zuschreibt: „Sie sahen, wie sie in viele Irrtümer verwickelt waren, auch wo keine natürliche Abnormität vorlag; sie sahen, wie sie sich alle nur mühsam der Einsicht nähern konnten; sie sahen die Geneigtheit zum Bösen und erkannten den Fall der menschlichen Natur“ , die Gott auf sich selbst hin erschaffen hatte, und daß der Mensch sein hohes Ziel „ nur erreichen könne, wenn er neugeschaffen würde ". So ging auch ein Ahnen dahin, daß

sich Gott eines Tages der gemeinsamen ,

nämlich der menschlichen Natur einen werde, damit sie neugeschaffen und der Mensch so zu seinem Ziele geführt werde " 22. Schon heidnische Weise erkannten, daß das Sehnen der menschlichen Natur nur durch Gott erfüllt werden könne 23. Aristoteles scheint gelegentlich die christliche Lehre, daß die wahre Glückseligkeit nur gnadenhaft erreichbar sei , zu berühren 24. „ Platon durchwanderte die Welt um des Wissens willen. Er suchte überall nach einem Lehrer. Er ging zu Pythagoras. Ähnlich war es mit andern, von denen Hieronymus im Prolog zur Bibel erzählt. " 25 „Alle diese suchten gewiß ( letztlich) nichts anderes als die inkarnierte Weisheit. Denn in allen Lehrern wird die inkarnierte Weisheit gesucht. Wäre diese also 17 De non aliud c. 20 (H 48 ) ; die Stellennachweise s. ebd . 18 Vgl. Vf I 309 f. 19 S 8 (interlinearer Nachtrag zu C 29 , 45) ; vgl . S 158 (V2 57 ) : Qui hoc Verbum ignorat, ille de veritate nihil capere potest. Propterea Aristoteles in multis erravit. 20 S 13 (C 85', 49) . Cusanus zitiert dort Augustinus , De civ. Dei X, (29) ( CSEL 40 , I 499) und Conf. VII , (9 , 13 f. ) (CSEL 33, 154 f. ) . 21 S 13 (C 85 , 42) ; Hieronymus , Ep . 53 n. 4 (PL 22, 543) . - Ähnlich heißt es De beryllo c. 23 ( H 29) im Hinblick auf die Freiheit des göttlichen Schöpfungsaktes : Istud ignorabant Plato et Aristoteles, nachdem Cusanus zuvor c. 16 ( H 16) die Übereinstimmung dessen, was er durch den Beryll " sehe, mit Platon und Aristoteles festgestellt hat. 22 S 8 (C 29 , 36—43) . 23 S 208 (V2 126v ) . 24 S 183 (V2 95 a ′) . S 276 (V2 251 ) spricht Cusanus auch von den nicht zu verachtenden Konjekturen der Heiden über die Hölle. 25 S 259 (V2 209a) ; Hieronymus , Ep . 53 (Ad Paulinum De studio Scripturarum) n. 1 (PL 22 , 540) : Sic Pythagoras Memphiticos vates , sic Plato Aegyptum (adiit) ...

203

Jesus Christus

nicht in irgendeinem inkarniert – d. h. fände sich kein Mensch, der so weise ist, daß die wesenhafte Weisheit nicht größer sein könnte

so suchte man überall

vergebens Lehrer... Hätten jene (heidnischen Weisen ) mit den Magiern Jesus gefunden in Bethlehem oder bei der Verwandlung des Wassers in Wein ... und Ihn gehört, hätten sie Ihn nicht, wie Augustinus in dem Buche Über die wahre Religion' ausführt, als das Ziel ihres Verlangens begrüßt?“ 26 Die heidnischen Lichterfeste (festa candelarum ) deutet Nikolaus als Vorbe reitungen auf Christus, das Licht der Welt 27. In Anschluß an 2 Makk 4 , 19 be merkt er gelegentlich sogar, Herkules sei ein Vorbild Christi unter den Heiden gewesen 28. — Auch die Heidenwelt lebte also vor dem Kommen Christi in einem

Zustand der Erwartung und Vorbereitung auf die Fülle der Zeit. Aber die

Erscheinung Christi war unter den Heiden noch sehr dunkel “ 20. Zu seinen Lebzeiten sah Cusanus „den Glauben an die Inkarnation aufs wei teste verbreitet“. „Daß Christus, der Sohn Gottes“ , sagt er in Predigt 8, yvon

der Jungfrau geboren sei , wird durch die ganze Welt hin geglaubt. Das glauben die Inder, die Mohammedaner, die Nestorianer, die Armenier, die Jakobiten, die Griechen und die Christen des Okzidents, die wir sind . “ Das ließe sich , von

den Mohammedanern abgesehen , noch auf getaufte Christen beziehen . Aber Cu sanus fährt fort : „ Auch die Tataren wenden sich nicht dagegen; im allgemeinen

( communiter) glauben sie das vielmehr, obschon sie es nicht bemerken; und es gibt heute keine Nation auf der Erde, die nicht glaubte, daß Christus als der wahre Messias , den die Alten erwarteten, gekommen ist - ausgenommen die Juden, die nur glauben, daß Er erst kommen wird." 30

Das klingt sehr nach Utopie! Eine solche Verbreitung des Glaubens an die Menschwerdung nähert sich der des „gemeinsamen Glaubens“ der Völker an die Existenz Gottes, von dem der junge Cusanus im Anschluß an Wilhelm von

Auvergne spricht 31. Der „Christusglaube “ ist hier jedoch in einem weiteren Sinn zu verstehen. Er besagt noch nicht die aktuelle Bejahung der Inkarnationstat sache; er ist gleichsam noch „ eingeschränkt“ in die große Gegensätzlichkeit“ (maxima contradictio), die in der Welt in der Frage der Menschwerdung

herrscht 32, aber er besagt eine implizite Bereitschaft zum christlichen Glauben und eine religiöse Sehnsucht, die nur in diesem zu erfüllen ist. – Die angeführte Stelle aus Predigt 8 zeigt : Schon ehe die Union mit den Griechen , Armeniern und Jakobiten zu Florenz zustande kam, dehnte Nikolaus von Kues seine Kon kordanzgedanken - die der Glaubenseinheit in Christus und der einen Kirche dienen sollten auf alle Völker des Erdkreises aus. 26 S 259 (V2 209ra- ); Augustinus, De vera religione c. 3 , n . 3 (PL 34, 123 f.) . 27 S 136 (V2 37 "") ; vgl. S 263, 1 (V2 21614–6). Ebd. wird nach dem Rationale Divinorum des Wilh . Duranti berichtet,daß das Fest Mariä Lichtmeß zur Zeit des Kaisers Justi

nian eingeführt worden ist. In Rom sei ein festum candelarum aus der Zeit der Idolatrie auf dieses Fest übertragen worden.

28 S 265, 1 (V2 22010—221 *“).

29 S 15 , Memoriale ( C 24 ', 7 ) .

30 S 8 ( C 29', 37-42 ) .

31 Vgl. Vf I 21 f. — 5 8 (C 29°, 43) folgt auch : Est enim omnium viventium una com munis fides unius summi cunctipotentis Dei .

32 De pace fidei c. 11 (P 118") . 204

im Glauben der Völker c) Über das Judentum und die Entstehung des Mohammedanismus Der junge Cusanus disputierte einmal mit gelehrten Juden über Glaubensfragen. Dabei fand er: Zum Glauben an die Trinität wären sie zu führen gewesen 33, „ aber in (der Frage) der Inkarnation des Sohnes Gottes sind sie verhärtet und wollen weder Vernunftgründe noch Prophezeiungen hören❝ 34. Die Juden hätten derzeit Christus allenfalls als einen Boten Gottes gelten lassen 35. Aber seine Gottessohnschaft glaubten sie nicht einmal auf das Zeugnis der Wunder hin. Ihr Unglaube und das Unrecht, das sie Christus antaten, sind unentschuldbar 36. Von dem Judentum seiner Zeit gebraucht Nikolaus den starken Ausdruck: Es leugnet die Gottheit Christi in diabolischer Blindheit 37. Es erwartet auf Grund von Verheißungen, die längst ihre Erfüllung gefunden haben, noch immer den kommenden Messias 38. „ Von Christus geben die Juden nichts ausdrücklich zu . Daher hält es Cusanus für aussichtslos, mit ihnen zum „ Frieden im Glauben“ zu gelangen. Er sieht dadurch jedoch in De pace fidei den Gesamtplan nicht gefährdet: „Der Widerstand der Juden gefährdet die allgemeine Einmütigkeit nicht, denn sie sind nur wenige und können nicht die ganze Welt mit Waffen durcheinanderbringen . “ 39 Günstiger beurteilt der Kardinal die religiöse Lage des Mohammedanismus. Bei der 99 Sichtung des Korans " zeichnet er an Hand seiner Quellen 40 von der Entstehung der „ mohammedanischen Sekte " folgendes Bild : Ein nestorianischer Mönch namens Sergius missionierte in Mekka und bekehrte auch Mohammed vom Götzendienst. „Aber drei verschlagene Juden machten sich an Mohammed heran, um ihn (vom Christentum) abzubringen. “ Diese strichen auch nach dessen Tode im Koran, was ihnen beliebte, und fügten solche Stellen hinzu , die Mohammed als einen Religionsstifter erscheinen lassen sollten, der dem Alten Testament nicht weniger nahestand als dem Evangelium 41. Als den eigentlichen Urheber des Korans bezeichnet Nikolaus deshalb „ den Gott dieser Welt, der den Geist der Ungläubigen verblendet, damit ihnen nicht der Lichtglanz der Frohbotschaft von der Herrlichkeit Christi erstrahle “ (2 Kor 4, 4) , der „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes ist " (Kol 1 , 15) . „ Häretische Christen und verdrehte Juden waren Mohammed als die geeignetsten Ratgeber" bei der Abfassung des Korans beigegeben 42. 33 S 19" (C 56 , 28 f.) : Induxi sapientes Iudaeos ad credendum Trinitatem, et hoc non est eis difficile persuadere. Bei der Durchsicht von Vi schwächte der Kardinal das später ab. V1 37 : Deprehendi sapientes Iudaeos ad credendum Trinitatem inducibiles. (Das Folgende ist gestrichen.) 34 S 19" (C 56', 28—30) . 36 S 145 (V2 49ra—va). 35 S 58 (V₁ 111 ). 37 D. Ign. III, 8 (H 144 , 15) . 38 Cribr. I, 15 (P 131 ') . 39 De pace fidei c. 12 (P 119 ) . 40 Dies sind in diesem Falle die ,Disputatio' und das Propugnaculum fidei des Dominikaners Ricoldus (s. Lit. -Verz.). 41 Cribr., prol. 2 (P 124') ; vgl . III , 18 (P 150º) . 42 Cribr. I, 1 (P 126′) . 205

Der Beweis der Gottheit Jesu gegenüber den Mohammedanern

Diese Erklärungen sind von einer Gleichbewertung von Mohammedanismus und Christentum weit entfernt. Doch Nikolaus betrachtete es anderseits auch auf

Grund dieser Entstehungsgeschichte als Tatsache, daß christlich -nestorianisches

Gedankengut die ursprüngliche Quelle dessen sei, was der Koran über Jesus sage. Daher erscheint ihm der Islam im Gegensatz zum Heidentum nicht so sehr als „ eine Vorbereitungsstufe zur christlichen Universalreligion“ 43, son dern wie ein Gemisch, das Heidnisches, Jüdisches und Christliches enthält. Christus

III . DAS BEWEISVERFAHREN GEGENÜBER DEN MOHAMMEDANERN

a ) Der Nestorianismus im Mohammedanismus als Ausgangsbasis der christologischen „ Sichtung des Korans"

Die Schrift De pace fidei ist in einem weiteren Sinne kontroverstheologischer, die Cribratio Alchoran apologetisch -polemischer Natur. Beide Male war es für Cusa

nus notwendig, an den Standpunkt derer anzuknüpfen, an die er sich wandte. Die christologischen Erörterungen der „ Sichtung des Korans“ und des auf den Islam bezüglichen Teils der Schrift „ Uber den Frieden im Glauben “ beruhen ent scheidend auf der Voraussetzung, daß das Religionsbuch der Mohammedaner auf Grund seiner Entstehungsgeschichte auch nestorianisch verfälschtes christ liches Glaubensgut enthält 1. Das rückt den Mohammedanismus aus dem wei

teren Rahmen der allgemeinen Religionsgeschichte indirekt in die besondere Sicht christlicher Häresiengeschichte hinein ? Das läßt auch ohne weiteres das cusanische Vorhaben sinnvoll erscheinen , aus dem Koran das Evangelium als

wahr zu erweisen“ 3 und darin solches zu suchen , was das Evangelium bestätigt 4. Die Heilige Schrift betrachtet Nikolaus dementsprechend sowohl als eine Quelle wie insbesondere auch als einen Maßstab für die Richtigkeit dessen, was der Koran enthält 5.

Daß Cusanus den Mohammedanismus schon in De pace fidei als einen Ab

leger der nestorianischen Irrlehre, die Christus spaltet“ , ansah, zeigt ein bald 43 So Naumann , Einführung zur Übersetzung 74. 1 Vgl. Cribr., prol. 2 (P 124°) . 2 Vgl . J. Henninger , Spuren christlicher Glaubenswahrheiten im Koran, Schöneck

Beckenried /Schw . 1951. W. Kusch schreibt dazu ( Theol. Revue 49, 1953, 142): „Dab manches auf das N. T. zurückgeht, daß dies dann durch Christen vermittelt wurde, liegt nahe . “ Die Möglichkeit nestorianischen Einflusses wird dadurch greifbar, daß der Nestorianismus im Perserreich „ die anerkannte Form des Christentums war und durch die

Eroberung Südarabiens durch die Perser 597 herrschend wurde “ (Hölscher 144 Anm.; ebd. weitere Literatur) .

3 Cribr., prol. 1 (P 123").

4 Ebd. (P 124").

5 Cribr. I, 4—6 ; vgl . bes. prol. 1 (P 124"): Unde si Mahumet in aliquo Christo dissentit , necesse est, ut hoc aut faciat ignorantia , quia Christum non scivit nec intellexit, aut perversitate intentionis. 206

Der Nestorianismus im Islam als Ausgangsbasis

danach geschriebener Brief an Johannes von Segovia 6. Bei der „ Sichtung des Korans “ weist er schon in der Widmung an Papst Pius II. darauf hin, daß die ,mohammedanische Sekte“ aus der „ nestorianischen Häresie“ entsprungen sei. Zugleich drückt er die Erwartung aus, daß Pius diese Sekte „in demselben Geiste,

mit gleichem Scharfsinn und gleicher Beredsamkeit als irrig und verwerflich er weisen werde“ , wie dies sein Vorgänger, der dreimal heilige Papst Leo, mit dem Nestorianismus getan habe ?. Dafür möchte ihm der Kardinal wissenswerte Unterlagen zur Hand geben . Die Lehre des Nestorius selbst stellt Nikolaus im zweiten Vorwort so dar :

„Nestorius nahm alles an, was im Evangelium steht , auch daß in Christus Leib,

Seele und Gottheit sind. Aber über die Art der Einung irrte er 10 : Er gab zu, daß zwischen Leib und Seele eine natürliche Einung bestehe, so daß Er wahrer Mensch sei. Aber er behauptete, jener Mensch würde mit der Gottheit durch Gnade ge

eint, allerdings nicht durch die allgemeine Gnade, durch die die Guten mit Gott geeint werden, sondern durch die Fülle der Gnade 11 , kraft deren der Wille Gottes und des Menschen Jesu einer sei. Im Hinblick auf diese ganz besondere

Gnade treffe es auf Christus zu, daß Er der Sohn Gottes sei. “ 12 Das Folgende gilt dem , was bei der kirchlichen Verurteilung des Nestorius im Vordergrunde stand: „Er gab nicht zu, daß Maria die Mutter Gottes sei 13, weil das, was Christus von seiner Mutter empfangen habe, nicht Gott zukomme. So wollte er, die menschliche Natur sei in Christus vergöttlicht worden. Weil aber das Evangelium sagt, daß das Wort Gottes Fleisch geworden ist (Joh 1 , 14) , nicht daß das Fleisch das Wort Gottes geworden sei 14, deshalb verdammte die Kirche diese Ansicht auf dem III . und IV. Allgemeinen Konzil 15 und gab der

Mutter Jesu den Namen Theotokos, d. h. Gottesgebärerin. “ 16 6 Vgl. oben S. 112 f. — Bei Joh. von Segovia erfährt der Koran die gleiche häresiolo gische Einstufung . Am 2. 12. 1454 schreibt er an Nikolaus von Kues (Cod. Vat. 2923, 7 "):

Praecipue namque fuit studium illius, ut , lesum solveret“ ( 1 Joh 4, 3 ), qui in mundum venit dissolvere opera diaboli . In nullaque fortasse praecedentium aut subsequentium haeres(i) um solutio Iesu tam replicatissime et periculose habetur ... Non certe praedica vit7 eis Trinitatis mysterium , ne inter eos schisma fieret, quale erat inter christianos ... ? Vgl. den Tomus ad Flavianum (PL 54, 755—82) sowie J. Nicolas , La doctrine christologique de S. Léon le Grand : Rev. Thomiste 51 ( 1951 ) 609—660. & Cribr., Widmung (P 123 '). 9

Vgl. Cribr. III, 18 (P 150 ) : (Mohammed ), licet Nestorianus, utique baptizatus fuit. Nestoriani enim evangelium amplectuntur et baptizantur. .

10 Vgl . Cribr. III , 21 ( P151 ') : Ne erres sequendo aut Nestorium aut Eutycen aut alium aliquem non sane (circa modum unionis) intelligentem . 11 Vgl. Brief vom 29. 12. 1454 (an Joh. von Segovia) f. 37 ' : Quam tamen gratiam non negabant summam atque plenissimam , quia sic ait theologus Iohannes ( 1 , 14 ) : „plenum gratia '.

12 Cribr., prol. 2 (P 124'). – Bis hierhin folgt Cusanus dem Gedankengang bei Thom . v. Aq. , S. c. gent. IV, 34 (470 b f.). Thomas stützt sich dort seinerseits auf die Akten sammlung von Ephesus (Backes , Christologie 180) . 13 Dies führen auch die Disputatio und Ricoldus an (Hölscher 146 Anm. 15) . 14 Vgl . P. Lombardus , Sent. III d. 7 , c. 2, n. 57 (588 ) : Deum humanatum, non hominem deificatum dici tradunt. Unde Iohannes Damascenus (De fide orth . III , 2 : PG

94, 987) : Non hominem deificatum dicimus, sed Deum hominem factum. 15 D 111a , 148.

16 Cribr., prol. 2 (P 124-125 '); vgl. III , 17 (P 149' ). 207

Der Beweis der Gottheit Jesu gegenüber den Mohammedanern

Danach bemerkt der Kardinal noch , daß die Nestorianer die ewige Zeugung bekennen “; deshalb scheine es, daß auch Mohammed „ nichts gegen die Heiligste

Dreieinigkeit und die ewige Zeugung schreiben, sondern lediglich eine Mehrzahl von Göttern zurückweisen wolle“, wenn er sagt, Gott tue alles kraft seines Wil lens, daher komme Ihm kein Zeugungsakt zu 17. Diese Vermutung zeigt, daß die

als gesichert betrachtete Abhängigkeit Mohammeds vom Nestorianismus für die „ Sichtung des Korans“ die Gefahr eines „Vorurteils“ in sich schloß . Der Kardinal weiß jedoch auch, wie entschieden Mohammed dagegen kämpft, daß Gott „ einen Sohn oder Teilhaber (particeps )“ habe. Er kommt häufig darauf

zu sprechen, um darzutun, daß die christliche Lehre von der göttlichen Dreieinig keit nicht zu dem von Mohammed bekämpften Polytheismus führe, sondern vor diesem bewahre 18.

Erst recht täuscht sich Cusanus auf Grund persönlicher Begegnung mit Mo

hammedanern nicht über die Schwierigkeit, die Mohammedaner „ zur Anerken nung der hypostatischen Einung zu bringen, in der unser Glaube vor allem über die Verehrung des Einen Gottes hinausgeht“ 19. In der Cribratio Alchoran be zeichnet er es sogar als die Grundabsicht des Korans, sowohl die Gottessohnschaft wie auch den Kreuzestod Christi zu leugnen 20. Aber nur um so mehr bemüht er

sich dort, die Wahrheitselemente, die der Koran aus der christlichen Offenbarung übernommen hat, sorgfältig auszuwerten für den Nachweis, daß „ sich im Koran die Wahrheit des Evangeliums finde 1, obwohl Mohammed selbst von dem wah ren Verständnis des Evangeliums weit entfernt war “ 22.

Ansatzpunkte dazu boten sich vor allem in den Äußerungen, daß Christus ,das Wort und der Sohn Mariens “ sei und sich in der Jungfrau Maria in die

menschliche Natur kleidete, wie öfter im Koran zu lesen ist“ 23. Die Schrift De pace fidei greift das Argument auf: „Da ihr alle, die ihr das Gesetz der Araber haltet, zugebt, daß Christus das Wort Gottes ist - und das sagt ihr richtig , müßt ihr auch zugeben , daß Er Gott ist. “ Cusanus macht sich jedoch den Beweis 17 Cribr., prol. 2 (P 125 '). Das letzte wird „ im Koran auf Schritt und Tritt wiederholt“ (Hölscher 146 Anm. 13). 18 De pace

fidei c. 8 (P 117 "): Quod Deus habeat filium et participem in deitate, hoc

impugnant Arabes et multi cum ipsis. Demgegenüber legt Cusanus dar: Admissio Trini tatis est negare deorum pluralitatem et consociabilitatem (ebd. c. 9, P. 117') ; vgl. De

pace fidei c. 12 ( P 118"); Cribr. I , 8 (P 129") ; I, 13 f.(P 131 ') ; II, 1 (P 133") ; II, 11 ( P 136 ').

Cribr. III , 9 (P 145') bemerkt Cusanus auch : De Christo etiam saepe Alchoran

talia dicit, quae ipsum divinae naturae consortem concludunt. Nam fundamentum ponit miracula divina esse.

- Daß Gott einen Sohn habe oder daß man Gott andere Wesen

(Söhne, Töchter) „beigeselle “ , ist die regelmäßige Bezeichnung des Polytheismus im Koran (Hölscher 166 Anm . 8).

19 Brief vom 29. 12. 1454 (f. 37"). Der Kardinal fügt hinzu : Ista pars erit, uti semper fuit, difficilis valde .

20 Cribr. I, 3 (P 127 "). Das erste betont auch Ricoldus (Hölscher 159 Anm . 3) . Über

den Kreuzestod handeln ausführlich die Kapitel II, 12—17 (P 136 ' — 141 "). 21 Vgl. Cribr. III, 9 (P 145') ; I , 13 (P 130–131'); I, 15–19 (P 131 '—133") ; bes. I, 17 (P 132' ): Haec omnia misericors Deus inseri voluit, ut sic sapientes remittat ad veritatis testimonia. I, 10 f. (P 1307- ) entwickelt Nikolaus den Beweis für die Gottheit Jesu aus den Wundern und seinem biblischen Selbstzeugnis. 22 Cribr., prol. 2 (P 125") .

23 Cribr., prol. 2 (P 125") ; vgl. I, 12 (P 130"), Hölscher 147 Anm. 19f. 208

Der Nestorianismus im Islam als Ausgangsbasis

aus solchen Äußerungen nicht allzu leicht. „Der Perser“ weist nämlich die ge nannte Folgerung zurück mit der Erklärung : „Wir bekennen, daß er das Wort und der Geist Gottes ist 24, denn unter allen, die sind oder waren, besaß niemand

in so hervorragendem Maße das Wort und den Geist Gottes 25. Wir geben des halb jedoch nicht zu, daß er Gott war, da Gott ,keinen Teilhaber' (oder ,Ge nossen“) hat. Damit wir nicht in den Polytheismus fallen, leugnen wir, daß er

selber Gott ist, bekennen ihn aber als den Nächsten bei Gott. “ 26 Was hier der Perser zugibt, der Vorrang des Menschen Jesus Christus vor den übrigen Menschen, bildet den Ausgangspunkt des cusanischen „ Maximitäts beweises " .

b ) Der „ Maximitätsbeweis “ gegenüber Nestorianismus und Mohammedanismus Das Kapitel Docta Ignorantia III , 4 deutet bereits an, daß sich aus dem Leit satz, die menschliche Natur könne nur in der Person des Sohnes die höchste Stufe

und die ganze im Rahmen der Spezies Mensch mögliche Fülle erlangen, also aus der christologischen Anwendung des „Maximitätsprinzips“ 27, die Ansatz möglichkeit zu mancherlei Beweisen für die hypostatische Einung in Christus aus

der Heiligen Schrift ergebe 28. Da die Nestorianer, wie wir hörten, das Neue Testament anerkennen , aber die hypostatische Einung leugnen, lassen sich dem nach gegen sie ebenso viele „Maximitätsbeweise “ 29 führen, wie die Heilige Schrift maximale Aussagen über Christus im Hinblick auf die menschliche Natur

enthält. Soweit der Mohammedanismus derartige Christus-Attribute übernom men hat, treffen solche Beweise auch ihn.

Diese Beweismethode wird vor allem im 12. Kapitel von De pace fidei nach einigen vorangehenden Erläuterungen angewandt. Bezeichnenderweise kommt dort ein Perser – nicht nur als theologischer Vertreter des Islam 30, sondern zugleich auch zum Zeichen der Abhängigkeit des Mohammedanismus vom Nestorianismus 31

-

zu Wort.

24 Vgl. De pace fidei c. 9 ( P 117") : Arabs non negat Deum mentem esse et ab illa ver

bum generari seusapientiam ; Brief vom 29. 12. 1454 ( f. 37 '): Saraceni fatentur Christum verbum et filium Dei et ruholla, id est spiritum Dei ; Cribr. I, 12 ( P 130') ; I , 18 ( P 132") : Quomodo Alchoran intelligi debet Christum esse spiritum et animam Dei; I, 20 (P 133'):

Quomodo Alchoran Christum dicit ruhella ( = 7:7 ) . Dort entwirft Cusanus das Gleich nis (manuductio) eines Glasbläsers, das die Darlegungen des I. Buches zusammenfaßt;

vgl. Cod. Cus. 186, 125*, Anm. des Kardinals zu Proklos, In Parmenidem Platonis : Dicunt Arabes, ut in lege Machometi, esse unum Deum et verbum eius et spiritum seu animam eius. Aliquando enim vocant spiritum , aliquando animam . Videtur igitur subtiliter consideranti: in modo dicendi potius esse diversitatem inter Platonicos, Iudaeos, Chri stianos et Arabes quoad Trinitatem. 25 Nemo habuit illam excellentiam verbi et spiritus Dei . 26 De pace fidei c. 12 ( P 118 ') . 27 Vgl . oben S. 150—154 .

23 D. Ign . III, 4 (H 130, 18-22).

29 Man könnte auch von „ Infinitesimalbeweisen “ sprechen ; vgl . die auf die hypostati

sche Einung angewandte Vorstellung, daß ein Polygon erst dann seine Maximität er reicht, wenn seine „Subsistenz “ mit der des umbeschriebenen Kreises zusammenfällt (D. Ign. III , 4 : H 132, 8-13) .

20 So Mohler, „ Über den Frieden im Glauben“ (Übersetzung) 205 Anm. 95. 81 Vgl. oben S. 205 f. 14 Haubst, Nikolaus v. Kues

209

Der Beweis der Gottheit Jesu gegenüber den Mohammedanern Der Perser erklärt es bei der Unveränderlichkeit Gottes als unmöglich, daß Gott Mensch werde. Petrus stellt die Frage: „ Wenn ihr Ihn ( Christus) als das Wort bekennt, was meint ihr damit? “ Der Perser : „ Nicht die Natur, sondern die Gnade ! Er hat nämlich die erhabene Gnade erlangt, daß Gott in ihn sein

Wort hineinlegte .“ 32 Darauf beginnt Petrus den Versuch einer Hinführung zum Mysterium mit der (mäeutischen ) Frage : „Hat Gott nicht auch in andere Pro pheten sein Wort hineingelegt? Denn alle haben das Wort Gottes verkündet und waren Boten des Wortes Gottes. “ Der Perser : „So ist es. Aber Christus war

der größte der Propheten 83. Daher gebührt ihm der Name des Wortes Gottes in einem eigentlicheren Sinne als den übrigen Propheten. Könnten doch mehrere Sendschreiben ein Königswort für besondere Angelegenheiten enthalten. Aber

es kann nur eines geben, welches das Königswort enthält, durch welches das ganze Reich regiert wird . “ Petrus vertieft das, indem er den Vergleich des königlichen Sendschreibens zu dem eines Thronerben steigert : „ In dem Thronerben ist nämlich das Wort des

Königs im eigentlichen Sinne lebendig und frei und uneingeschränkt, bei Send schreiben hingegen keineswegs.“ Das gibt der Perser zu , macht sich aber die Schwäche dieses Vergleiches zunutze: „Der König und sein Sohn sind zwei 34. Daher können wir nicht zugeben, daß Gott einen Sohn habe. Der Sohn wäre nämlich ein anderer Gott als der Vater. “ Petrus läßt sich jedoch nicht mehr zu der bereits erörterten Trinitätslehre 35 zurücklenken. Er knüpft nun vielmehr an

die nestorianische Vorstellung der Adoptivsohnschaft Christi an 36, um darzutun, daß in Christus die menschliche Natur unlösbar mit dem Wort verbunden und

so zur Erbschaft der göttlichen Unsterblichkeit berufen sei 37. Nach dieser noch vagen Gedankenführung bittet der Perser darum, das Ge sagte noch „ durch ein anderes verständliches Beispiel zu erklären “ . Petrus be merkt, es gebe keine genauen Vergleiche, erläutert dann aber das zuvor über

Christus als den größten Propheten Gesagte durch die parallelen Gesichtspunkte des weisesten Menschen , des größten Meisters, der größten Gnade, der größten Heiligkeit u. dgl. und faßt dies zu dem folgenden Maximitätsbeweis zusammen :

Ein Mensch ist weiser als der andere. Der Weisere ist der absolut größten, in Gott subsistenten Weisheit näher als ein weniger Weiser. „ Kein Mensch ist aber je auf Grund seiner menschlichen Natur so weise, daß er nicht noch weiser sein

könnte. Denn zwischen der beschränkten menschlichen und der größten und un begrenzten göttlichen Weisheit in sich bleibt immer ein unendlicher Abstand ."

Mit der absoluten und beschränkten Meisterschaft (magisterium ) ist es ähnlich. „ Angenommen, irgendein Menschengeist besäße nun eine solche Meisterschaft und Weisheit, daß es unmöglich eine größere Weisheit oder Meisterschaft geben könnte, so wäre der Geist dieses Menschen der größten Weisheit in sich oder

Meisterschaft in sich so sehr geeint, daß diese Einung nicht größer sein könnte.“ Das legt die Fragen nahe : „ Hätte nicht jener Geist in der Kraft der ihm geeinten 32 Vgl. das oben S. 207 f. zu Nestorius Gesagte. 33 Vgl. unten S. 212. 34 Der Perser denkt an zwei Personen mit verschiedenen Naturen. c. 4-11 ( P 115 '— 118 ") . 36 Vgl. unten S. 249f. 37 De pace fidei c. 12 (P 118") . 210

Der cusanische „Maximitätsbeweis“ größten Weisheit und höchsten Meisterschaft ... die göttliche Kraft erlangt ? und wäre nicht in einem Menschen , der einen solchen Geist (intellectum ) hätte, die menschliche geistige Natur aufs unmittelbarste der göttlichen Natur oder ewigen

Weisheit, dem Worte oder der allmächtigen Kunst geeint? " Der Perser gibt dies alles zu, meint aber, eine solche Einung beruhe ausschließ lich auf Gnade. Dazu erklärt Petrus : „Wenn die Einheit einer niederen Natur mit der göttlichen so groß ist, daß sie nicht mehr größer sein könnte “ , so liegt

personale Einung vor. „ Eine solche größte Gnade, die nicht größer sein kann, ist nicht von der (göttlichen ) Natur getrennt (non distat) , sondern mit ihr geeint. Obwohl also die menschliche Natur der göttlichen durch Gnade geeint wird, so vollendet sich (terminatur) doch jene Gnade, da sie nicht größer sein kann, aufs unmittelbarste in (im Besitz) der göttlichen Natur. “ 38. Der Perser erwidert: „Wie immer die menschliche Natur nach deinen Worten

durch Gnade in irgendeinem Menschen zur Einung mit der göttlichen erhoben werden mag, der Mensch Christus darf doch nicht mehr als ein anderer Heiliger

Gott genannt werden, obwohl er der Heiligste unter den Menschen ist. “ Darauf Petrus: „ Wenn du beachtetest, daß nur in Christus die höchste Hoheit ist , die

nicht gesteigert werden kann, und die größte Gnade, die nicht größer sein kann,

und die größte Heiligkeit 39, und so auch mit den übrigen (Attributen) , so wür dest du auch erfassen, daß es nicht mehr als eine größte Hoheit, die keiner Stei gerung mehr fähig ist, geben kann. So auch mit der Gnade und Heiligkeit. Danach würdest du ferner erkennen, daß jegliche Höhe eines jeden Propheten , welche Stufe sie auch erreichte, noch unvergleichlich von der Hoheit, die nicht mehr größer sein kann , entfernt ist. Man nehme also irgendeinen Grad von Hoheit an

-

zwischen ihn und den, der allein der Höchste ist, können noch

unbegrenzt viele fallen. So auch mit der Gnade, der Heiligkeit, Klugheit, Weis

heit, Meisterschaft und den übrigen (Attributen) im einzelnen. “ 40 Der Kardinal schließt diese Gedankenfolge : „Dann würdest du auch klar sehen , daß es nur einen Christus geben kann, in dem die menschliche Natur der göttlichen in der Einheit des Suppositums geeint ist. “ 41

Das alles stellt einen großangelegten Versuch dar, die nestorianisch -moham medanische Vorstellung einer nur gnadenhaften Einung beider Naturen in Chri stus zu durchbrechen und einsichtig zu machen, daß die einzigartige Größe Christi

sich nur durch die hypostatische Einung hinreichend erklären lasse. Die Worte, in 38 Der Brief vom 29. 12. 1454 entwickelt ähnliche Gedanken (f. 37"): Addicti sic saltem fatentur, quia gratia illa, per quam est ,filius Dei , non potest esse maior. Id autem, quod non potest esse maius, etiam non potest esse minus, quia est infinitum ; et omne id, quod

est infinitum, cum non possit esse aliter quam est, sed est omne id, quod esse potest, est ipsa absoluta necessitas, quae Deus est. Sic non est gratia; nam gratia non est necessitas. Unde infinita gratia, quae est adeo plena, quod est absolute maxima, quia maior esse n

nequit, ita est gratia, quod natura. Quare non est differentia nisi in modo loquendi inter verba, quae illi dicunt de gratia et nos de natura .

3* Vgl. Ricoldus, Propugnaculum fidei c. 3 : Dicunt Christum ad minus sanctissimum hominem esse (Hölscher 173 Anm . 1 ).

40 Diese Aufzählung erinnert an die „ Dignitäten “, mit denen Lull die verschiedenen Wertkategorien des Seienden zu erfassen sucht.

41 De pace fidei c. 12 ( P 119) . 14 *

211

Der Beweis der Gottheit Jesu gegenüber den Mohammedanern die Cusanus selbst seine Argumentation ausklingen läßt, zeigen jedoch , daß er für diese keine zwingende Beweiskraft gegenüber den Ungläubigen beansprucht, denen infolge der Verhärtung ihres Denkens „ die Inkarnation und dergleichen als etwas Unmögliches erscheint“ 42. Nichtsdestoweniger hat er hier aber die innere Möglichkeit der hypostatischen Einung kraftvoll herausgestellt und sein

Letztes getan, um die im Koran enthaltenen Äußerungen über Christus im Lichte orthodoxer Glaubenserkenntnis zu klären. In Wirklichkeit bekennen die Araber nämlich , wie Nikolaus fortfährt, den

christlichen Glauben , ohne daß die meisten es merken. Sie sagen zum Beispiel auch, Christus sei allein der Höchste in dieser und der andern Welt 43. So kommt

der Perser zu dem Resultat: „Wenn man jene Einung, die in dem höchsten (Men schen ) notwendig ist, wohl betrachtet, scheint es, daß die Araber zur Annahme dieses Glaubens zu führen (ducibiles) sind, da durch ihn die Einheit Gottes, auf

deren Wahrung sie am meisten sehen, keineswegs verletzt, sondern eher ge sichert wird . “ 44

Die „ Sichtung des Korans“ ist naturgemäß enger an den Text gebunden. Sie baut keine derart spekulative Beweisführung auf. Doch der Gesichtspunkt, daß Christus der größte Prophet oder Gesandte Gottes sei, tritt auch dort beherr schend hervor. Indem der Koran nämlich Christus als „ den höchsten Boten

Gottes “ bezeichnet, der mit der Macht Gottes kam 45, sagt er „ Größtes“ von Ihm

aus. Wie aber soll, so argumentiert Cusanus, „ein Gesandter die ganze Macht des ihn sendenden Gottes fassen können, wenn er nicht so der Höchste ist, daß

es keinen Größeren geben kann? Wie wäre der ein bloßes Geschöpf, dem gegenüber ein Reinerer und Vornehmerer nicht von Gott geschaffen werden könnte ? Wie könnte einem Geschöpf, das nicht schlechthin das größte ist, so daß durch Gott ein größeres werden könnte, die Fülle der göttlichen Macht mitgeteilt werden? “ 46

Christus hat sich auch durch die Wunder, die der Koran erzählt, als den höch sten Gesandten des Vaters und dessen geliebten eingeborenen Sohn ausgewiesen , so daß Ihm gegenüber unbedingte Gehorsamspflicht besteht 47. Als der Vollkom menste zeigt er auch den vollkommensten Weg, der zum höchsten Ziel hinführt 48. 42 So schon Si (C 18', 22) . >

43 Cusanus stützt sich hier nicht nur auf den Koran-Text (vgl. unten S. 216 Anm . 73) , sondern auch auf Zugeständnisse, die ihm Mohammedaner in der Diskussion machten ; vgl . Brief vom 29. 12. 1454 ( f . 37 " " ) : Contuli aliquando cum certis, quibus dixi , an ex

Alchorano pateat aliquem Christo praeferri posse. Qui respondebant: non posse, quia ipse , filius Dei altissimus' . quia gratia, per quam est ,filius Dei', non potest esse maior.

44 De pace fidei c. 12 (P 119 '); vgl. Brief vom 29. 12. 1454 (f. 37") : Et visum est mihi tali modo posse persuaderi ipsis. Et quando adiungeremus: nos non ita asserere, ut nobis imponunt, Christum Deum, quasi id, quod in Christo aliquo sensu attingi possit, esset ipsa deitas, quia naturae remanserunt inconfusae, per hoc intelligendo verba Mahumeth vera , quae de sensibili Christo loquitur - : vel acquiescerent vel saltem ostenderemus ex

Alchoran ipsos non debere contra nos saevire, si illum mediatorem recte colimus, quem ipsi tantum laudant.

45 Vgl. Hölscher 171 Anm. 6, zu c. 15 ; 310 f. Anm. 16. 46 Cribr. I, 15 (P 131 ' ) ; vgl. prol. 2 (P 125') ; II, 11 (P 136 '); III, 13 (P 148") . 47 Cribr. I, 16 (P 131' — 132 ). 48 Cribr. III , 11 (P 146'). 212

„Maximitätsbeweis “ und „ Präsuppositionsdialektik “

c) Präsuppositionsdialektik Mit dem Maximitätsargument verbindet das cusanische Beweisverfahren dem

Islam und anderen Religionen gegenüber eine zweite Besonderheit, die sich als

„ Präsuppositionsdialektik “ bezeichnen läßt 49. Diese verläuft auf dem Wege : Ihr glaubt an die Auferstehung und das ewige Leben. Das setzt einen gott menschlichen Mittler oder Erlöser voraus. Auch dieser Beweisgang bildet also ein „ Argumentum ad hominem “ .

Schon in der Docta Ignorantia erklärt Cusanus, daß keine vollkommene Reli gion, die als solche den Menschen zu seinem ersehnten letzten Ziel hinführen

solle, ohne den Glauben an einen Mittler oder Heiland auskomme und daß

somit Christus als Gottmensch, als „ Weg, Wahrheit und Leben “ (Joh 14, 6) , sozusagen im Begriff der vollkommenen Religion implizit enthalten sei 50. Da nach holt er zu folgender Polemik gegen Mohammedaner und Juden aus: „ Siehe, wie absonderlich der Glaube (credulitas) der Sarazenen ist : Sie ver

sichern, daß Christus, der größte und vollkommenste Mensch , von der Jungfrau geboren und lebend in den Himmel versetzt wurde, leugnen aber seine Gott

heit ! Sie sind wahrhaftig verblendet, da sie etwas Unmögliches behaupten. Dürfte es doch für den einsichtigen Menschen auf Grund des zuvor Gesagten 51

sonnenklar sein, daß es überhaupt keinen in allem vollkommenen und größten Menschen , der zudem über die Ordnung der Natur hinaus jungfräulich geboren ist, geben kann, der nicht zugleich Gott wäre. “ 52 Ähnliches gilt von den Juden, die an den Messias als größten, vollkommensten und unsterblichen Menschen , aber nicht als Gott glauben 53. – Das stützt sich als Ganzes noch auf das Maxi mitätsprinzip. Zugleich erhebt Cusanus gegen Juden und Sarazenen den Vorwurf, daß sich ihre religiöse Hoffnung nicht auf die selige Gottesschau, sondern auf Leiblich

Sinnliches richte 54. Was er jedoch am verwunderlichsten findet, ist : „Sowohl Juden wie Sarazenen glauben an die allgemeine künftige Auferstehung, aber sie geben nicht zu , daß deren Möglichkeit an einem Menschen hängt, der auch Gott ist. “ Denn abgesehen davon, ob auch die Vollendung des Universums die Auf erstehung des Menschen voraussetzt, „ ist der Glaube an den Gottmenschen Chri

stus auch deshalb vor allem notwendig, weil die menschliche Natur nur durch Ihn zur Unverweslichkeit gelangen kann. Verblendet sind also alle, die die Auf erstehung glauben, aber Christus als das Mittel ihrer Möglichkeit bestreiten ! Denn der Glaube an die Auferstehung ist ( indirekt auch) die Bejahung der Gott heit und Menschheit sowie des Todes und der Auferstehung Christi , des ,Erst

geborenen aus den Toten' (Kol 1 , 18). “ 55 In der Folgezeit klingt diese Polemik noch verschiedentlich ähnlich scharf nach 56. 49 Dieser treffende Ausdruck ist von B. Decker (119) übernommen. 50 D. Ign. III , 8 ( H 143 , 30 -- 144 , 2) .

51 D. Ign. III , 1–5.

53 Ebd . Z. 14–16. 52 D. Ign. III, 8 (H 144 , 2—8) . 54 Ebd. Z. 8—14 u. 16–18 ; vgl. Origenes, IIepi dpxőv II, 11 (PG 11, 241 B C) :

arbitrantur repromissiones futuras in voluptate et luxuria corporis Quidam (Iudaei) exspectandas ... 56 S 16 (H 36, 20—22) ; S 21 (V. 63-6) . 55 D. Ign. III , 8 (P 144, 18 — 145, 8) . •





213

Der Beweis der Gottheit Jesu gegenüber den Mohammedanern Predigt 118 erklärt bereits im konzilianten Geiste des „Friedens im Glauben “, daß Heiden wie Juden, indem sie die Auferstehung oder das unsterbliche Leben in Gott annehmen, damit implizit auch die Einbarkeit der menschlichen Natur

mit Gott und — „ ob sie wollen oder nicht“ — mit Christus anerkennen , der die Einung unserer Natur mit der unsterblichen Natur (Gottes katexochen ) ist“ 57. -

-

Im 13. Kapitel von De pace fidei entfaltet Petrus diese Gedanken im Gespräch mit einem Syrer, einem Nachbarn der Juden und Araber. Er geht davon aus, daß „ fast eine jede Religion, die der Juden, Christen, Araber und vieler anderer

Menschen, daran festhält, die sterbliche Natur eines jeden Menschen werde nach dem zeitlichen Tode zum ewigen Leben auferstehen“ . Der Übergang der sterb lichen Natur zur Unsterblichkeit ist aber nur durch eine unauflösliche Einung mit der göttlichen Natur möglich. Der Glaube an die Auferstehung setzt also eine solche Einung voraus (praesupponit) . Der Christus-Messias ist nun auch nach dem Glauben von Arabern und Juden der Nächste bei Gott. So wird Er auch der sein, in dem die erste Verknüpfung der Natur aller Menschen mit Gott

erfolgt 58. Daher ist Er der Heiland und Mittler aller. Denn in Ihm wird die menschliche Natur, die eine ist und durch die alle Menschen Menschen sind, der

göttlichen und unsterblichen Natur geeint, so daß alle Menschen der gleichen Natur (durch Ihn) die Auferstehung von den Toten erlangen. “ 59 Dasselbe folgt daraus, daß alle Menschen sich danach sehnen, in ihrer Men

schennatur das ewige Leben zu erlangen. Der Mensch möchte nämlich auch im Besitze der himmlischen Seligkeit Mensch bleiben. Diese Seligkeit ist aber nichts anderes als die Einung des menschlichen Lebens mit der Quelle, der es ent strömte. Das ist das unsterbliche göttliche Leben. „Wie sollte das aber für den Menschen möglich sein, wenn man nicht zugibt, daß die gemeinsame Natur aller

in irgendeinem zu einer derartigen Einung erhoben worden ist, daß durch Ihn als den Mittler alle Menschen das letzte Ziel ihrer Sehnsucht erreichen können ?

Dieser ist der Weg', weil Er der Mensch ist, durch den jeder Mensch den Zugang zu Gott hat, der das Ziel aller Sehnsucht ist. Christus wird also vorausgesetzt von allen, die die ewige Seligkeit zu erlangen hoffen ...; und da alle die Hoff nung haben, dereinst die Glückseligkeit zu erlangen, die das Ziel jeder Religion ist, so gibt es darin auch keine Täuschung, weil diese Hoffnung auf Grund eines angeborenen Verlangens allen gemeinsam ist. “ 60

Bei der „ Sichtung des Korans“ tritt die Zuspitzung zur „ Präsuppositions dialektik “ fast ganz zurück. Der Kardinal möchte aber auch dort die Araber der Erkenntnis entgegenführen, daß der wahre Prophet und Mittler zwischen Gott und den Menschen zugleich Gott und Mensch sein muß : „ Da kein bloßer Mensch Gott begreifen kann“ , heißt es z. B. im Prolog 61 , ,50 haben wir auch offensichtlich keinerlei Gewißheit, daß irgendein bloßer Mensch

57 S 118 (V2 1 " ). 58 In quo omnium hominum natura prioriter unitur Deo. Dies ,prioriter' ist wenigstens ebensosehr von einem Ordnungsvorrang wie im zeitlichen Sinne zu verstehen ; vgl. oben S. 177-180.

60 Ebd. (P 120') ; vgl . oben S. 51–56. 61 Cribr., prol . 1 ( P 124 ") ; vgl. III , 9 (P 145') ; III , 14 (P 148 ').

59 De pace fidei c. 13 ( P 119 ).

214

„ Präsuppositionsdialektik "

uns den Weg zu einem ihm selbst unbekannten Ziel zeigen könne. “ Sollte aber einer diesen Weg absolut zuverlässig weisen können , „so müßte er freilich der Größte aller Menschen sein , wie es alle Völker vom Messias bekennen ", und

zugleich die allwissende Weisheit, durch die Gott alles wirkt. — Gegen Ende -

dieser Schrift legt Nikolaus dar, daß Christus den Seinen die Unsterblichkeit verdient hat und niemand ohne Ihn zur Gottheit oder Unsterblichkeit empor steigen kann 62 Überblicken wir rückschauend die Beweisverfahren des Nikolaus von Kues

gegenüber den Mohammedanern, so werden wir erstaunt sein über die Auffas sung von Naumann , in der Cribratio Alchoran solle das Dogma der Mensch werdung Gottes in Christus „ als denknotwendig erwiesen werden “ 63. Das trifft nicht einmal auf den Maximitätsbegriff und die Präsuppositionsdialektik von De pace fidei zu, weit weniger noch auf das Bemühen , bei der Sichtung des Koran den Arabern „ den Glanz des Evangeliums im Koran“ aufleuchten zu lassen 64. d) Christus das Antlitz aller Völker "

Eine besondere Beachtung fand bei Nikolaus von Kues eine Koran - Stelle, an der Christus nach der lateinischen Übersetzung als „das Antlitz (facies) aller Völker (gentium ) “ oder sinngemäßer als das Urbild des Menschen bezeichnet wird 65. Nach verschiedenen früheren Hinweisen darauf 66 widmet er der „Exe

gese “ dieser Christus -Benennung bei der Sichtung des Korans ein eigenes Kapitel 67. Darin rückt der Kardinal diesen Titel zunächst in das Licht der altbundlichen Psalmen und der neutestamentlichen Offenbarung: „ Dadurch daß er (der Koran)

Jesus ,das Urbild aller Menschen in dieser wie in der künftigen Welt nennt, erhebt er Christus aufs höchste. Denn damit drückt er aus, daß Er es ist, von

dem der Prophet David sagte : Schön bist Du an Gestalt vor den (andern) Men schenkindern. Anmut ist ausgegossen über Deine Lippen. Für ewig hat Dich Gott gesegnet' (Ps 44, 3) . Wo gäbe es einen Widerschein lebensvoller Schönheit, wenn nicht im Antlitz ? Was ist schöner als ein Antlitz mit allen Tugenden ?

Was ist Christus nach dem Propheten David anderes als der ,Herr der Tugen den' und der König aller Herrlichkeit (Ps 23, 10) , Klarheit und der schönen Gestalt ? Daher ist Er der Sohn Gottes, an dem der Vater das höchste Wohl gefallen hat' (Mt 3, 17) , und der Christus, der gesalbt ist vor seinen Genossen' (Ps 44, 8) . “ BE68 62 Cribr. III , 19 ( P 150°) ; III , 20 ( P 151").

63 So Naumann , Einführung zur Übersetzung 70. 64 Cribr. I, 6 (P 128'). € 5 Vgl . Hölscher 173 Anm. 1 , zu c. I , 19.

66 De pace c. 13 (P 119"); c. 17 ( P 122 '): Audisti non tantum Christianos, sed Arabes fateri Christum esse altissimum omnium , qui fuerunt aut erunt in hoc saeculo vel futuro et faciem omnium gentium . Cribr. I , 12 ( P 130 ) wird dieselbe Koran - Stelle ausführlicher zitiert.

67 Cribr. I, 19 (P 132 ) : Quomodo intelligi debet Alchoran Christum esse virum bonum et optimum et faciem omnium gentium ?

68 Cribr. I , 19 (P 133'). 215

Jesus Christus

Anschließend erklärt Cusanus den Ausspruch in den Lehren Mohammeds“ 69, daß „ die Vollkommenen am Tage des Gerichtes in der Statur Adams und der Gestalt Jesu Christi auferstehen werden“ 70 : „Diese Gestalt, die das Urbild aller Menschen ist, ist die Vollendung der Vollkommenen. Christus ist es also, nach dem die Vollkommenen beurteilt werden, und seine Gestalt ist allein für das un sterbliche Leben geeignet. Die Ihm ähnlich sein werden, gehen also ein in die Freude des Herrn (Mt 25, 21 ). “ Deshalb sagt auch der Koran wiederholt, daß , die Gesichter von einigen am Gerichtstage weiß und strahlend werden“, die der Vollkommenen und Glückseligen nämlich, während die von andern schwarz werden“ 71, nämlich die der Ungläubigen und Bösen. 9

Nikolaus faßt seine Interpretation zusammen : „ Christus ist alles das, was man unter allen Völkern in der gegenwärtigen und zukünftigen Welt zu Recht lobt. Er ist das anmutvolle Antlitz, in dem alle Völker' Ruhe finden und gesegnet werden' (Gn 12, 2) . “ 72

Schade, daß diese Erklärung auf eine so fehlerhafte Koran -Übersetzung auf gebaut ist! 73 Dadurch wurde trotz eifriger Bemühungen um das Verständnis

des Gesetzbuches der Araber“, die schon in Basel begannen 74, auch noch der Kardinal bei der Sichtung des Korans irregeführt.

Diese Mangelhaftigkeit der philologischen Voraussetzungen für eine exakte theologische Sichtung “ des Korans beeinträchtigt jedoch nicht die grundsätz

liche Bedeutung des Versuches einer geistigen Begegnung mit dem Islam und anderen nichtchristlichen Religionen, den Nikolaus in De pace fidei und der Cribratio Alchoran unternahm , und die Blickweite, mit der er sich dabei ohne

Schmälerung des christlichen Glaubens den vorhandenen religiösen Vorstel lungen der Völker anzupassen suchte, um sie gleichsam Hand in Hand zu Chri stus hinzuführen.

Wir dürfen auch damit rechnen, daß Cusanus nicht nur aus der alten grie chischen Philosophie, sondern auch aus dem Koran einiges in seine eigene theo

logische Vorstellungswelt und Sprache übernahm. Die intensive Ausprägung des Gedankens, daß Christus der Gesandte des Vaters sei , in den Predigten der fünfziger Jahre gehört hierher. Ähnliches gilt auch von dem vermeintlichen Koran-Zitat, daß Christus das „ Antlitz aller Völker “ sei. In der Mariä -Lichtmeß - Predigt des Jahres 1454 dient dieses Zitat

zur Erklärung dafür, daß für Christus, weil Er dem Stamme Juda entsprossen

69 Zur ,Doctrina Machometi (Cod. Cus. 108 , 309—31 ') s. Naumann , Einführung 23. 70 Vgl. Hölscher 173 Anm . 5. 71 Vgl . ebd . Anm . 6. 72 Cribr. I, 19 (P 133') . 73 Der Sinn der Koran - Stelle ist : „Sein Name ist der Messias Jesus, der Sohn der Maria, ein Angesehener in der Welt und im Jenseits und einer von den (Gott) Nahe stehenden “ ( Naumann 35 Anm . 8 ).

74 Cribr., prol. 1 (P 123") . Auf den Koran, den Nikolaus im Mai 1437 zu Basel in den

Händen des Joh. von Segovia zurückließ, kommt auch dieser in seinem Brief vom 2. 12. 1454 (Cod. Vat. 2923, 6') zu sprechen. Joh. von Segovia hat die Fehlerhaftig

keit der alten Übersetzung sehr bedauert und sich mit Hilfe eines mohammedanischen Koran - Gelehrten namens Uca Gidelli aus Segovia um eine neue bemüht ; vgl. seinen Be richt in der Praefatio Iohannis de Segobia, Caesariensis archiepiscopi, in translationem noviter editam ex Arabico in Latinum vulgareque Hyspanum (Cod .Vat.2923, 186'— 196') . 216

das „Antlitz aller Völker “ war, ein Opfer dargebracht wurde und daß Er zugleich im Tempel dargestellt wurde, als gehörte Er dem Stamme Levi an75. Der Einfluß dieses „ Koran-Wortes " dürfte noch weitergehen . Dabei ist es noch weniger auffallend, daß Cusanus oft Gott als das Antlitz bezeichnet, das im Spiegel der Geschöpfe widerleuchtet 76; eher schon, daß er auch Christus das Antlitz Gottes nennt. Dafür beruft er sich jedoch auf den hl . Paulus sowie auf Nikolaus von Lyra 77. Am deutlichsten klingt in dem Buche „ Über das Sehen Gottes " , kurz vor der Abfassung von De pace fidei , die Bezeichnung Christi als Urbild aller Menschen an in den Worten : „ Jegliches Antlitz ist ein Abbild Deines Antlitzes 78, und: „ Dein Antlitz ist jene Kraft und der Ursprung, aus dem jedes Antlitz ist, was es ist. “ 79

75 S 136 (V2 37b) . Cusanus schreibt dort: ,faciem omnium populorum' (statt gentium), und zeigt so, daß er das Koran-Wort nicht nur im Sinne von ,facies omnium hominum (vgl. Hölscher 173 Anm. 1 ) versteht. 76 Vgl. z. B. D. Ign. II , 3 ( H 72 , 15—22) . Derartige Äußerungen lassen sich z. B. auch von Thierry von Chartres her, Kommentar ,Librum hunc zu Boethius, De Trinit. (Jansen 16 , 38 f.) , erklären. 77 S 69 (V2 30 ) : Paulus dicit Christum ... faciem Dei (2 Kor 4 , 6) . S 130 (V2 34b) heißt es zu Mt 11 , 10 ( = Mal 3 , 1 ) : Exponit Lyra faciem Domini esse Christum, qui est notitia Patris. - - Vgl. Gregorius M., Homiliae in Ezech. lib . II , hom. 3 , n . 1 (PL 76, 806) : Quid per faciem nisi notitia ... exprimitur? 78 De visione Dei c. 6 ( P 101 ') . 79 Ebd. c. 7 (P 101 ") . - Auch den Gedanken, daß Christus (seiner Menschheit nach) ähnlich wie Adam erschaffen wurde (vgl. unten S. 240) , hob Nikolaus vielleicht im Hinblick auf die islamische Tradition besonders hervor ; vgl . J. M. Abd - el - Jalil , Maria im Islam (Übersetzung, Werl 1954) 32. Auch dieser Konvertit aus dem Islam möchte übrigens das, was Koran und Koran -Tradition über Jesus und seine Mutter enthalten, als „Annäherung “ an „ die vollständige und reine Wahrheit“ aufgefaßt wissen (S. 56) .

217

DRITTES KAPITEL

DIE MENSCHLICHE NATUR CHRISTI IN DER HYPOSTATISCHEN EINUNG

Den eigentlichen Schwerpunkt der Christologie bildet die hypostatische Einung. Bei Nikolaus von Kues gilt das auch in dem Sinne, daß er die Erörterung fast

sämtlicher christologischer Fragen konzentrisch darauf anlegt, zu diesem Ge heimnis hinzuführen . Auch das, was der kausalen Ordnung nach die hyposta

tische Einung voraussetzt und von dorther zu erklären ist, wie die Vollendung des Universums, die Mittlerstellung Christi , die Erhebung der menschlichen Natur in Ihm, dient dem Kardinal dazu, den zentralen Sinn und die Bedeutung der Inkarnation selbst aufleuchten zu lassen und diese zu erklären.

Insofern hat Gloßner recht mit der Bemerkung, Cusanus verfolge bei der Er klärung der Menschwerdung den umgekehrten Weg wie „die Theologen “: Während diese von der persönlichen Vereinigung auf die Vollkommenheit der Natur als Folge derselben schließen , leitet jener die persönliche Vereinigung von der Vollkommenheit der Natur ab. Christus ist das Wort und der Sohn Gottes,

weil in ihm die menschliche Natur in idealer Vollendung vorhanden ist. “ 1 Das

letzte trifft insbesondere auf den Weg des „Maximitätsbeweises “ zu. Dieser inneren Dynamik entspricht es, daß Cusanus im allgemeinen weniger bei den einzelnen Fragen verweilte, welche die gnadenhafte Ausstattung der menschlichen Natur Christi betreffen .

Um so kräftiger läßt er die Sonderstellung und substantielle Erhebung und

Heiligung der menschlichen Natur Christi also solcher hervortreten.

A. Die Wesensfülle der menschlichen Natur in Christus I. DIE „ UNIVERSALITÄT “ DER MENSCHLICHEN NATUR CHRISTI

Jesus Christus ist als Mensch jenes „ größte beschränkte Individuum “ , von dem

es zu Anfang der christologischen Erörterungen in der Docta Ignorantia heißt : „ Ein solches wäre notwendig die Fülle seiner Gattung und Art ... , es stände

über der ganzen Natur, auf die es beschränkt wäre, als deren Kulminations- und Zielpunkt und faltete in sich deren ganze Vollkommenheit ein. “ 2 Das besagt, daß die individuelle Menschennatur Christi die volle Verwirklichung der ge i Gloßner 142 .

2

2 D. Ign. III, 2 (H 124, 1-6) . 219

Die „Universalität“ der Menschheit Jesu samten in der Spezies Mensch möglichen Vollkommenheit – sagen wir kurz: des Ideal- Begriffs Mensch - ist 3.

Die Frage ist jedoch: Trennt Nikolaus von Kues diesen Ideal-Begriff Mensch mit der nötigen Schärfe von dem Universal-Begriff, oder läßt er ihn mit dem Universale Mensch zusammenfließen ? Setzt er ihn etwa mit der göttlichen Idee Mensch (universale ante rem) , mit der in den Individuen existenten Art (uni versale in re) oder mit dem bloßen abstrakten Begriff Mensch 4 gleich ?

Hier melden sich Johannes Wenck und Matthias Gloßner mit heftigen An klagen im Namen der kirchlichen Orthodoxie zu Wort 5. Wenck erklärt zu einem nicht einmal so auffälligen Text, der die Artverbun denheit mit Christus als Voraussetzung für die Anteilnahme an Christi Verdienst hervorhebt 6 : „ Wieviel Gift liegt darin ! Denn er nimmt der Menschennatur Christi ihre Singularität, als wäre Christus kein Einzel-, sondern ein Universal

Mensch. Seine Menschennatur nennt er Gott, aber nicht auf Grund der hypo statischen Einung, sondern auf Grund einer extrem -abstrakten Betrachtungs

weise, indem er die Wesenheit Christi mit der Wesenheit eines jeden Menschen gleichsetzt ?. Weil sie die ganze menschliche Spezies wäre, setzt er auch Christus

mit jedem Menschen gleich . So wäre jeder Mensch also Christus ! “ 8 Zugleich versteigt sich der Verfasser der Docta Ignorantia infolge der Loslösung seines

Denkens von der Wirklichkeit aber auch dazu, die Realität der Menschheit Christi zu einem Universalbegriff zu verflüchtigen . So verhöhnt er Jesus ,mit

listiger Verschlagenheit, indem er Ihn zum Universale macht “ 10. Nach Wenck verfiele Cusanus demnach zumindest einem doppelten groben

Irrtum . Erstens, er setzte die Menschheit Jesu mit dem abstrakten Begriff Mensch und mit sämtlichen Einzelmenschen gleich. Zweitens, diesen Universal Begriff identifizierte er hinwiederum mit Gott. Beides zusammen ergäbe einen nihilistischen Pantheismus oder pantheistischen Nihilismus 11. Vgl. De dato Patris luminum c. 1 (P 193“) : Quaelibet individualis contractio speciei ab ultima perfectione activitatis potentiae praeterquam in uno Domino nostro lesu Christo abesse dinoscitur.

45 Diese Unterscheidungen macht Cusanus selbst : De ludo globi II (P 167'- 168'). 5 Vgl. oben S. 2f.

6 D. Ign. III , 6 (H 138, 3—14).

7

per abstractissimam intelligentiam ponens essentiam Christi essentiam cuiuslibet hominis.

8 De ignota litt. 39 ; vgl. ebd. 26 : Universalizantes ob simplicitatem universalis naturae, quam ponunt in re, repraesentant omnia essentialiter deificari in huiusmodi praecisa abstractione. Daran meint Wenck bei Cusanus den Pantheismus Eckharts und

der Begarden wiederzuerkennen ; vgl. Verf., Studien 120 f.

• De ignota litt. 40 : Negat veritatem corporis Christi ac eiusdem resurrectionem uni versalizatione humanitatis Christi, quam abstractio suae intelligentiae sibi ( = ei) falla citer suggerebat , privans nos sic Christi gratuitis beneficiis in sua temporali humanitate nobis benignissime exhibitis .

10 De ign. litt. 38. Vgl. Thom. v. A q., S. theol. III, 4. 4, a. 4 : Contra est, quod dicit Damascenus in IIl libro (c. 11 : PG 94, 1024 A) : ,Dei Verbum incarnatum neque eam, quae nuda contemplatione consideratur, naturam assumpsit. Non enim incarnatio hoc, sed deceptio et fictio incarnationis.' Thomas schließt: ergo Filius Dei non assumpsit humanam naturam, secundum quod est a singularibus separata. 11 De ign. litt. 35 : Omnia deificat, omnia annihilat et annihilationem ponit deifica tionem.

220

Zur Interpretation Wencks und Gloßners

Auch nach Gloßner würde Cusanus die menschliche Natur Christi (das ,maxi mum contractum ') ins Unendliche potenzieren und so vergöttlichen und sie zu gleich durch seine Auffassung des Auferstehungsleibes zu einer nur gedanklichen „ reinen Wesenheit “ des Menschen entwirklichen . Damit kein Zweifel über die

Meinung des „ gelehrten Ignoranten “ übrigbleibe, verweist er auf einen Ver gleich der Docta Ignorantia, nach dem das Weizenkorn der Zahl nach zugrunde gehe, aber der Spezies nach vielfach wieder auferstehe 12. Tatsächlich hat Gloßner

jedoch den Text des „ gelehrten Ignoranten“ nicht verstanden. Denn dieser setzt keineswegs die auferstandene Menschheit Christi mit der Spezies gleich. Er sagt nur, daß das Sterben Christi für so viele menschliche Individuen Frucht bringe,

wie die Natur der Art in ihrer Möglichkeit umfaßt“ 13. Einige andere Texte, in denen der Menschheit Christi „ Universalität“ zuge sprochen wird 14, scheinen eher bedenklich, und vor allem der folgende Satz aus Predigt 16 : „ Beachte hier, daß Christus mit der Natur der Menschheit selbst zusammenfällt, durch die alle Menschen Mensch sind ." 15

Aber selbst dort zeigt der Zusammenhang, daß Cusanus die menschliche Natur Christi nicht universalizieren “ will. Dem angeführten Satz geht nämlich die

Bemerkung voraus : „ So sehen wir, wie unsere Natur, die keine andere als die Christi ist, in Christus am vollkommensten ist. “ Das soll sagen, daß die Spezies Mensch in Christus kulminiert. Das Folgende will dies schärfer ausdrücken : Die

gesamte in der Spezies Mensch mögliche Vollkommenheit ist in Christus so adä quat verwirklicht, daß die menschliche Möglichkeitsgrenze durch die Fülle Christi erreicht ist.

Unter diesem Gesichtspunkt ist das Verhältnis der individuellen Menschheit Christi zu der der übrigen Menschen im Rahmen des Beschränkten ähnlich dem

Verhältnis Gottes zu der. Vielheit des geschaffenen Seins. Daher kommen Chri

stus auch seiner Menschennatur nach , obwohl diese essentiell (nicht der Hypo stase nach ) in den Grenzen des Menschlichen bleibt, gottähnliche Prädikate, ins besondere ein gottähnlicher Vorrang vor den übrigen Individuen der Art Mensch, und weil der Mensch der Mikrokosmos ist, vor der ganzen Schöpfung zu 16. In der teleologischen Sicht heißt das : Christus repräsentiert als das vor

bestimmte Ziel der Schöpfung und insbesondere des Menschengeschlechtes im Universum die göttliche Idee Mensch und ist so auch als der voll verwirklichte Ideal-Begriff Mensch „ das für alle Menschen in gleicher Weise gültige Richtmaß

(metrum et mensura aequalis omnium hominum) . In Ihm sind alle Menschen als 12 Gloßner 133 136.

13 D. Ign. III , 7 (H 141 , 6–14). 14 D. Ign. III, 3 (H 127 , 15): esset universalis contracta entitas singularum creatura rum ; ebd. 129, 4 : (humanitas Christi) quasi universalis rerum omnium contractio. Hier scheint die Menschheit Christi mit der transzendentalen Seiendheit verwechselt zu wer den ; vgl . jedoch oben S. 166 176. 15 S 16 ( H 34 , 23 f.) .

16 Vgl. D. Ign. III, 3 (H 128, 4—6) : ut ipse Deus per assumptam humanitatem ita esset omnia contracte in ipsa humanitate, quemadmodum est aequalitas essendi omnia absolute ; De visione Dei c. 20 ( P 110 ') : Omnia igitur in natura humana tua video , quae

et video in divina, sed humaniter illa esse video in natura humana. 221

Die „Universalität“ der Menschheit Jesu in ihrem Haupte und dem Fürsten des Alls. " 17 Insofern ist auch die in Christus bis zur Maximität erhöhte Menschennatur , die wahrste und vollkommenste Menschheit aller Menschen “ 18.

Für diese Auslegung lassen sich zahlreiche eindeutige Texte von der Docta

Ignorantia an bis in die cusanischen Spätwerke anführen. Hier genüge die Er klärung, die Nikolaus in Predigt 51 gibt, indem er die Individualität bloßer

Menschen sowie die Sonderstellung der Menschheit Christi mit dem als meta physisches „ Früher “ gedachten Universale oder der Idee Mensch vergleichend in Beziehung setzt: „ Als dieser Mensch habe ich das Menschenleben auf Grund von Teilnahme an

der Menschheit erlangt, erlangt durch Beschränkung der Spezies Menschheit. Daher bin ich auf Grund der so beschränkten Menschheit, die in ihrem Abstieg und Abfall von ihrer vollen Wahrheit und Vollkommenheit in mancherlei Mängel verstrickt ist, dieser so beschaffene Mensch , so daß die Menschheit in diesem Individuum , das an ihr teilhat, in beschränkter Weise subsistiert, obwohl

sie in sich – als eine nach Art der Spezies ,absolute Wesenheit – nicht teilbar U

oder einschränkbar ist. “

„In Christus hingegen subsistiert die Menschheit nicht in solch beschränkter Weise. Sie bleibt vielmehr in ihrer höchsten Höhe. Er sagt ja selbst: ,Was mein Vater mir gegeben hat, ist größer als alles.'19 Daher ist Er (auch ) der Menschen natur nach allein der Höchste'20, da Er nicht von der Wahrheit abfällt, sondern

ihr anhaftet (inhaerens). Die reinste Menschheit haftet nämlich der Wahrheit, die das Wort Gottes ist, durch das alles geworden ist, als ihrer (absoluten ) Wesenheit an. “

,,Obwohl also alle Menschen durch Teilnahme an der Menschheit Menschen

sind, wird dennoch die Menschheit selbst in keinem wie in dem anderen parti zipiert, sondern in dem einen heller, in dem anderen dunkler, nur in Christus so,

wie sie in ihrer Wahrheit ist, in allen (anderen) ,anders' , in einem Abfall von ihrer wahren Reinheit und Vollendung .“ 21

Das Folgende gilt der Mittlerstellung der Menschheit Christi: „Wir erlangen >

also ein dunkles Menschenleben mit verschiedenerlei Mängeln, da wir die Menschheit in einem Abfall von der Wahrheit partizipieren. Aber die Men

schennatur Christi kann, da sie in der Wahrheit ihres Wesens dem Worte des Lebens“ (Eph 5, 26) geeint ist, dort, wo diese nur dunkel unter vielen Mängeln

partizipiert ist, infolge ihrer höheren Stufe an Wesenswahrheit und Leben aus dem Worte, in dem sie subsistiert, an sich Anteil geben oder sich mitteilen. So

17 S 16 ( H 34, 24–26 ) .

18 S 16 (H 36, 10 ). — S 264 (V2 21909- b) stellt Christus deshalb als den „Menschen katexochen “ hin : Christum esse hominem , qui in absoluto ,homine significatur quasi homo hominum ..., ac si perfectio et puritas humanae naturae in eo ut in principe

naturae contineretur, quae in omnibus hominibus participatur, ... quo etiam perfectior dari nequit, in quo puritas et perfectio omnium dabilium complicatur. Deshalb wird Christus auch als altissimus in regno humanitatis , sol seu rex unicus' bezeichnet. 19 Joh 10, 29 (Vulg.) . 20 Gloria der heiligen Messe .

21 S 51 (V. 80 ). 222

als Seins- und Lebensfülle

können wir mit Mängeln behaftete Menschen , da Christus uns an Sich Anteil gibt, das göttliche Leben erlangen, wie ein unwissender Schüler durch Teilnahme an der Lehre des Meisters die Vollkommenheit erlangt, wenn er ist wie sein Meister' (Mt 10, 24). “ 22

Cusanus betrachtet hier unter starkem platonisch -neuplatonischem Einfluß 23 das Individuelle als einen „ Abfall “ von der reinen Wahrheit der Idee in die

Andersheit, derart daß alles Individuelle nur unvollkommen an der Idee „par tizipiert “. Auch die menschliche Natur Christi „ partizipiert “ an der Idee Mensch . Sie fällt jedoch nicht von dieser ab, sondern haftet ihr an. So ist sie selbst nicht

die Idee, aber deren höchstmögliche Verwirklichung. Durch ihre Subsistenz im Wort erlangt sie sogar eine solche Wirklichkeits- und Lebensfülle, daß Christus die anderen Menschen daran teilnehmen lassen und sie so vollenden kann 24. In Gott selbst ist die Idee Mensch nichts anderes als Gott selbst 25 und näherhin

identisch mit dem personalen Ausdruck seines Wesens im Wort 26.

II. DIE INDIVIDUALITÄT

DER MENSCHLICHEN NATUR CHRISTI

Die weitere Klärung der Frage : Kann die menschliche Natur Christi, wenn sie

die Idee Mensch in der dargelegten höchstmöglichen Weise zur Darstellung bringt, noch als individuell bezeichnet werden?, setzt einen näheren Einblick in die cusanische Lösung des Universalienproblems voraus. Nikolaus von Kues betont häufig die Individualität alles geschöpflichen Seins 1 .

, Alles Universale, Allgemeine und Arthafte julianisiert in dir, Julian“ , schreibt 22 S 51 (V1 8076-ra). 23 Vgl. Platon , Timaios 35 f., 51 f.; Parmenides 131–135, 143 b ; Proklos , In

Parmenidem Platonis II (Cousin IV 157 f.), IV (V 72 ff.) sowie die von Cusanus De ven . sap. c. 1 (P 201") erwähnte prokleische Platon - Interpretation; ferner S 227 (V2 152° ) und Ps. - Dionysius , De div . nom. IV, bes. $ 8 (PG 3, 824 C) . Be ers -

nahe stehen die Ausführungen in Predigt 51 der Unterscheidung eines dreifachen Form begriffes im Kommentar Alberts d. Gr. zu De causis (vgl. VÌ I 286) sowie der alber

tistischen Seinsauffassung des Heymeric van den Velde (vgl. Verf., Fortleben 24 Vgl. S 183 (V2 935b) : Tanta est vis unionis Verbi Dei ad humanitatem Iesu, quod

429 f.) .

ad participationemet consortium omnes christianos admittere et secum unire potest. 25 Vgl. D. Ign. II, 6 (H 80, 23) : Universale enim penitus absolutum Deus est. Sub

sistierende Artbegriffe leugnet Cusanus mit Aristoteles; vgl. De beryllo c. 28–32 ( H

37–42); De ven. sap. c. 1 ( P 201“). Zur cusanischen Veranschaulichung des Urbild Abbild - Verhältnisses s . Vf I 285–90 .

25 S 204 (V2 175ra) bezeichnet den Logos als: veritas simplex et pura, quae in hu mana natura est ipsa veritas humanitatis; ebd. 175 b : Veritas humanitatis semper fuit in mundo, quando homines veri fuerunt in mundo, qui sine ipsa veri homines non fuissent; sed erat tunc veritas absoluta a mundo ... omnium unum exemplar. Vgl. De visione Dei

c. 9 (P 103") : In omnibus tu mihi ut idea et exemplar occurris. De beryllo c. 45 (H 48) wird die in den verschiedenen Spezies sich manifestierende Schöpfungsintention des göttlichen Geistes mit dessen „Wort“ gleichgesetzt und als quidditas omnis individui bezeichnet. 1 z. B. D. Ign. III, 1 ; De coni. II, 8 (P 567-") : De individuorum differentia . 223

Die menschliche Individualität Jesu

er an Giuliano Cesarini 2. Er setzt auch die individuelle Menschennatur nicht nur zu dem Urbild , das der Natur nach dem Sinnenfälligen vorausgeht “ und selbst dann bestehen bliebe, wenn alle Menschen zugrunde gingen , sondern auch zu dem abstrakten Allgemein -Begriff und dem durch das präzisierende Denken hervorgehobenen Allgemeinen in den Dingen in Beziehung:

„Die Universalien haben der Naturordnung nach ein gewisses allgemeines Sein, das in das Einzelne eingeschränkt ist, jedoch nicht so, als seien sie vor der

Einschränkung anders als der Naturordnung nach da. “ Sie bestehen somit nicht als solche, sind aber auch keine bloßen Gedankendinge, sondern gehen dem Indi viduellen ähnlich wie Punkt, Linie und Oberfläche dem Körper voraus. Sie bilden in der Ordnung des Universums liegende unzerstörbare Wesensgrenzen 5, und zwar so, daß z. B. die Menschheit die noch allgemeinere Wesenheit des Sinnen

wesens in spezifischer Weise einschränkt und aufnimmt und daß „in ihr alles das wie in einer einfachen Kraft enthalten ist, was in der Mannigfaltigkeit der Men schen an ihr individuell partizipiert“ 6.

Der einzige Ort des formell - abstrakten Universale ist indes der menschliche Geist, der den Allgemein -Begriff bildet ?. Bei der höchst einfachen und absoluten Wesenheit Gottes kann man allerdings sagen, daß Gott und Gottheit dasselbe sind 8. Aber das „ abstrakte Menschsein “ subsistiert nicht in sich auf absolute Weise, sondern „nur in den Menschen , und

ist so ein auf deren Grenzen beschränktes Sein“ 9. In den einzelnen Menschen treten zur allgemeinen Wesenheit „individuierende Prinzipien “ hinzu 10. So ergibt sich bezüglich der geschaffenen Substanz eine dreifache Betrachtungs

weise, die der Kardinal in De venatione sapientiae aus dem „ Kommentar des »

hl. Thomas zu dem Buche des Dionysius über die göttlichen Namen “ 11 über nimmt :

Die erste richtet sich auf das Singuläre, z. B. auf Platon '. Diese umfaßt so wohl die letzten wie die individuellen Prinzipien als wirklich. Das zweite ist die Art oder Gattung, wie Mensch oder ,Sinnenwesen . In diesen werden die letzten 2 De coni . II , 3 (P 52') ; vgl. De visione Dei c. 14 (P 106') : Omnium, quae sunt in Socrate , est esse Socratis unitas individualis . 3 De mente c. 2 ( H 53 , 13–19) . 4 D. Ign. II , 6 ( H 80, 11-20) . 5 Vgl. Vf I 287–90. 6 De dato Patris luminum c 5 ( P 196 "- " ).

7 D. Ign. II , 6 ( H 80, 21): Intellectus tamen facit ea (universalia) extra res per ab stractionem esse ; De coni. II, 13 ( P 59') : Humanitas ipsa specifice contracta est ubique in ea regione speciei atque nullihi ... Universalia sunt in intellctu atque eorum locus intellectus dicitur ; S. 243 (V2 18010): Universale enim est in intellectu ; materia indivi duat et contrahit formam ; De non aliud c. 13 (H 28, 1 ) ; vgl. die aristotelische Bezeich nung der Geist -Seele als „ Ort der Formen“ (De anima III, 4: 429 a 27) sowie den von Averroes und Albert d. Gr. übernommenen Satz Avicennas : Intellectus in formis agit universalitatem (Ueberweg-Geyer 308 ) . 89 Cribr. II, 10 (P 136') . . S 200 (V. 118 "); vgl . D. Ign. II , 6 (H 80, 8-25) ; Thierry , Librum hunc (Jan sen 20*, 6—7 ) .

10 D. Ign. III, 1 (H 122, 15 ff .). 11 In librum beati Dionysii De divinis nominibus (V, 4 : PG 3, 817 D), lect. 1 (n. 626; Marietti 233 f .) . 224

im Rahmen der cusanischen Universalienauffassung

Prinzipien aktuell (in actu), die singulären hingegen potentiell (in potentia) er

faßt. „Mensch wird nämlich genannt, wer die Menschheit unter Einschluß (absque praecisione) seiner individuellen Prinzipien hat. Das dritte ist die We senheit als solche, z. B. die Menschheit'. In diesem Wort werden nur die Prin zipien der Art einbegriffen. Denn keines der individuellen Prinzipien gehört zum Begriff der Menschheit, da die Menschheit genau das bezeichnet, durch das der Mensch Mensch ist ... Unter der Bezeichnung ,Menschheit' wird also kein individuelles Prinzip aktuell oder potentiell eingeschlossen .“ 12 Cusanus bemerkt dazu: „ Siehe, wie dieser große Gelehrte durch diese Begriffs 6

unterscheidung vieles aufhellt, was sonst dunkel bleibt ! “ 18 Er dürfte es besonders begrüßt haben , daß Thomas in der zweiten Fassung des Begriffes Mensch nicht nur das Wesensnotwendige, den abstrakten Mindestgehalt, den das Wort jedes mal aussagt, sondern auch die Fülle des individuell Möglichen miteinschloß 14. Zusammenfassend läßt sich nun sagen, daß Nikolaus von Kues die aristotelisch

thomistische Lösung des Universalienproblems vertritt 15. Es ist jedoch für ihn charakteristisch, daß er damit aufs engste eine neuplatonisch -christliche Umdeu tung des platonischen Ideen-Exemplarismus verbindet. So bezeichnet er die

Menschheit nicht nur als eine in den Individuen eingeschränkte Spezies; er spricht auch mitunter, ähnlich wie Proklos 16, von dem göttlichen uneingeschränkten Ur >

bild der Menschheit, das die in die Individuen eingeschränkte Menschheit nie mals verlassen kann “ 17.

Die Verbindung beider Gesichtspunkte bedeutet für Cusanus keinen Wider spruch . Vielmehr sieht er die koordinierte Einheit, die die geschöpfliche Vielheit durchwaltet, durch die transzendente Einheit des Einen Gottes und der mit Ihm

identischen Ideen bedingt und verbürgt. Auch darin lehnt er sich an Proklos an 18. Auf Grund dessen bleibt aber auch die cusanische Betrachtungsweise des Uni versale, insbesondere des Universale Mensch , nicht in der Horizontale einer in der Vielheit der Individuen ruhenden oder statischen Einheit; sie steigt oder transzendiert “ vielmehr zur transzendenten „ Idee “ hinauf, die sowohl das

Menschsein als solches wie die individuelle Vielfalt dessen, was an ihr partizi piert, ermöglicht und begründet 19. 12 De ven. sap. c. 33 (P 215') . 13 Ebd .

14 Das gilt natürlich auch von der entsprechenden Bedeutung des Abstraktums „Menschheit“ ; vgl. D. Ign. II, 4 (H 74, 21-24) : Universum dicit universalitatem, hoc est unitatem plurium ; propter hoc, sicut humanitas non est nec Socrates nec Plato , sic

in Socrate est Socrates, in Platone Plato, ita universum ad omnia. 15 Daß Nikolaus (mit Aristoteles) den Universalienrealismus ablehnt, wird auch von Wilpert in den Anmerkungen zu „Vom Nichtanderen“ betont (S. 155 161 u. a.) ; vgl. unten S. 228-233.

16 Vgl . z. B. In Parmenidem Platonis II und die cusanische Glosse (Cod. Cus. 186, 24 *): Nota ,ponere multitudinem desertam ab uno .... sermo ille se ipsum interimit. ii De visione Dei c. 9 ( P103') .

18 Vgl. die Randbemerkung zu In Parmenidem Platonis I (Cod. Cus. 186, 21 °) :

Nota, ... cur est verum : Ante participabile imparticipabile et ante coordinatum exalta tum, et coordinatum ab exaltato sortitur hypostasim. 19 Vgl. De ven. sap. c. 28 (P 213 '): Si fieret quilibet homo id, quod fieri posset, cuius libet fieri posse perfectio in ratione exemplari seu homine intelligibili terminaretur. 15 Haubst, Nikolaus v. Kues

225

Die menschliche Individualität Jesu

Diese Perspektive vollendet und schließt sich in dem, was Nikolaus von Kues über die Besonderheit der Individualität der Menschheit Jesu sagt. Diese steht nämlich einerseits in der Reihe „ Mensch “, anderseits ist sie durch die Subsistenz 7

im göttlichen Worte über das nur- beschränkte Sein der Individuen hinausgeho ben. So nimmt sie eine Mittelstellung ein. Sie bildet gleichsam die Verknüpfung der Reihe mit der Idee.

Zwei Stellen der Docta Ignorantia mögen das belegen. Bei der ersten vollzieht sich innerhalb des Begriffes „Menschheit“ der Aufstieg vom Universale zur Idee : „ Obwohl die Menschheit aller Menschen eine ist, so gibt es dennoch mannigfal

tige und verschiedene individuierende Prinzipien, die sie zu diesem oder jenem Selbstand zusammenziehen, und zwar so, daß diese nur in Jesus Christus höchst vollkommen und mächtig und der Wesenheit (der Idee) der Menschheit, die in Ihm) der Gottheit geeint ist, ganz nahe sind. “ 20 Der zweite Text sucht die besagte Mittelstellung zu fixieren: „Siehe scharf zu! Die Menschheit Jesu ist unter ebendem Gesichtspunkt, daß sie auf den Menschen Jesu eingeschränkt ist 21 , zugleich auch als mit der Gottheit geeint zu betrachten.

Sofern sie dieser geeint ist, ist sie aufs höchste (aus der Beschränkung) gelöst. Sofern Christus als dieser wirkliche Mensch betrachtet wird, ist sie beschränkt,

so daß er durch die Menschheit Mensch ist. So ist die Menschennatur Jesu gleich sam etwas Mittleres (ut medium) zwischen dem rein Absoluten und dem nur Beschränkten . “ 22

Cusanus dachte also nicht daran, die Individualität der Menschheit Jesu zu leugnen. Aber er richtete — nicht ohne tiefen Grund 23 sein besonderes Augen -

merk auf die einmalige Art und Weise, wie deren Individuation erfolgte, näm lich durch die Aufnahme in die präexistente göttliche Person, und auf die daraus folgende einzigartige Erhabenheit und umfassende Größe des Menschen Jesus Christus .

Rücken wir diese Auffassung der Individuation Christi nun einmal in das Licht jüngster christologischer Kontroversen, so mag es auf den ersten Blick scheinen , als stimme Cusanus weithin mit der von Bart. Xiberta 24 vertretenen

und insbesondere von Fr. Lakner 25 als „ neueutychianisch “ zurückgewiesenen Ansicht einer „ gänzlichen Verübernatürlichung “ der Menschheit Jesu überein . Aber sehen wir schärfer zu ! Cusanus denkt ohne Zweifel an eine bis an die Grenze des Möglichen reichende Steigerung, auch und gerade der substantiellen

menschlichen Naturvollkommenheiten Christi . Diese Steigerung ist auch direkt in der hypostatischen Einung mit dem absoluten Größten begründet. Aber sie 20 D. Ign. III , 8 ( H 143, 8 11). heit “ (nicht auf „ Wesenheit“ ).

Der Relativsatz zum Schluß bezieht sich auf Mensch

21 Gegenüber der Idee ist die Menschheit Jesu beschränkt, während sie die ganze in der Spezies liegende Möglichkeit verwirklicht. 22 D. Ign. III , 7 ( H 141 , 15—20) .

23 Vgl. Penido, Le rôle 401–404 ; Penido handelt dort über die Analogie im Be griff der Individualität bei der Menschheit Jesu im Anschluß an Thomas. 24 El Yo de Jesucristo (Barcelona 1954) 125; vgl. 91 .

25 Eine neuantiochenische Christologie ?: ZKath Th 77 ( 1955) 212—228, bes. 223—225 . 226

Keine „ Verübernatürlichung “ der menschlichen Natur überschreitet dennoch nicht den Rahmen des Menschlich -Möglichen 26. Die Menschheit Jesu bildet ja , keine mittlere Natur “ zwischen Gottheit und Mensch heit. Dazu kommt, wie wir sehen werden, daß der Kardinal bei aller natürlichen

Vollkommenheit und übernatürlichen Vervollkommnung, die er den Seelen

fähigkeiten Jesu zuschreibt, auch deren natürliche, uns konaturale Funktionsweise in einer Weise betont, die einen modifizierenden hegemonialen Einfluß von sei ten der göttlichen Hypostase ausschließt. Nikolaus von Kues läßt also auch in der Christologie keineswegs, wie Wenck 27 behauptet, „ die Ordnung des Natürlichen und des Gnadenhaften “ unterschieds los zusammenfließen .

Es bleibt noch die Frage, wie sich Cusanus die Ausprägung der – am gewöhn

lichen Individuum Mensch gemessen - überindividuellen Individualität Christi der konkreten Geistigkeit und Leiblichkeit nach denkt. Die Docta Ignorantia enthält darüber folgende grundlegende Reflexion : „ Die Größtheit an Vollkommenheit ist bei der menschlichen Natur im Sub stantiellen und Wesentlichen zu suchen , und zwar insbesondere beim Geiste, dem

das andere, das Körperliche, dient. Deshalb braucht der größte Mensch ' im

Akzidentiellen nur im Hinblick auf den Geist hervorzuragen. So ist es z. B. nicht erforderlich , daß er ein Riese oder ein Zwerg oder von dieser oder jener bestimm ten Größe, Farbe, Figur sei . Das gilt auch von den übrigen akzidentiellen Din gen. Doch das ist notwendig, daß der Leib nicht ins Extreme verfällt, damit er

ein möglichst geeignetes Werkzeug der geistigen Natur sein könne und dieser ohne Widerstand, Störrigkeit und Schlaffheit gehorche und fügsam sei. “ Diese apriorische Überlegung findet Nikolaus in den biblischen Augenzeugen berichten bestätigt, die davon sprechen , daß in Jesus „ alle Schätze an Wissen schaft und Weisheit verborgen waren " (Kol 2, 3 ) wie das Licht in der Finsternis “ »

(Joh 1,5) , und zwar schon, als Er in der Welt erschien, und die auch darauf schließen lassen, daß Er um des höchsten Vorranges „ seiner geistigen Natur wil len auch einen höchst geeigneten und vollkommenen Leib gehabt habe “ 28. Dieser Abschnitt schließt das Mißverständnis aus, als besage die Einfaltung (complicatio) aller Vollkommenheiten in Christus eine quantitative Summierung oder Addition dessen, was die Individuen besitzen. Sie besagt vielmehr, daß Christus als das Vorbild aller Menschen alle menschlichen Persönlichkeitswerte

der natürlichen wie erst recht der übernatürlichen Ordnung in höchster Vollkom menheit in sich vereint. 26 Auch den Fortbestand der Menschheit Jesu im Tode will Cusanus nicht als Heraus hebung der Natur als solcher aus ihrer natürlichen Wesensart verstanden wissen , so sehr er es mit der Innigkeit der hypostatischen Einung zu begründen sucht, daß Christus seit der Inkarnation ununterbrochen Mensch geblieben sei . 27 De ign. litt. 39.

28 D. Ign. III , 4 (H 132, 14—27) .

15*

227

Die Naturgemeinschaft Christi mit dem Menschengeschlecht III. DIE NATURGEMEINSCHAFT

ZWISCHEN CHRISTUS UND DEM MENSCHENGESCHLECHT

a) Spekulative Erklärung durch den Komplikationsgedanken

Nikolaus von Kues wurde durch verschiedene spekulative Motive dazu gedrängt, die Größe der Menschennatur Christi so stark ins Licht zu rücken. Das war ein mal der Gedanke der Vollendung des Universums, dessen Wesensfülle eine zu sammenfassende individuelle Darstellung finden sollte. Damit verband sich das Maximitätsprinzip, nach dem der größtmögliche Mensch nur in der hypostatischen

Einung wirklich werden konnte. Das bot die Handhabe zu den gegen den Mo hammedanismus gerichteten Maximitätsbeweisen. Am entscheidendsten dürfte

jedoch der soteriologische Gesichtspunkt gewesen sein : die spekulative Begrün dung der Möglichkeit der Erlösung aller Menschen durch das Werk und die Gnade Jesu Christi. Dieses Motiv tritt in der Docta Ignorantia allerdings erst allmählich hervor 1. Einmal scheint es sogar, als betrachte Cusanus die bloße Artgemeinschaft als evident ausreichende Sicherung der Erlösungsmöglichkeit. Er schreibt nämlich : „Es 1 gibt nur eine unteilbare Menschheit und spezifische Wesenheit der Menschen , auf Grund deren alle einzelnen Menschen unter sich der Zahl nach verschieden

sind. So ist auch die Menschheit Christi und aller Menschen dieselbe, ohne Zu

sammenfließen der zahlenmäßigen Verschiedenheit.“ Schon deshalb findet es

Cusanus „ handgreiflich “, wie der folgende Satz sagt, „ daß die Menschheit aller Menschen, die zeitlich vor oder nach Christus waren oder sein werden, in Chri stus (durch seine Auferstehung) die Unsterblichkeit angezogen hat“ 2. Dies überrascht, weil hier eine Evidenz beansprucht wird , die wenig einleuchtet.

Nur unter der Voraussetzung, daß alle Menschen als verschiedene Personen an derselben aktuellen Allgemein-Natur teilhätten, würde diese Konsequenz so

ohne weiteres gelten. Cusanus läßt sich jedoch nicht etwa durch Thierry von Chartres oder Clarenbaldus oder durch Äußerungen einiger griechischer Väter 4 zu einem solchen Universalien-Realismus verleiten. Das Folgende holt nämlich 1 Vgl . oben S. 169 f. 2 D. Ign. III , 8 ( H 142, 24

143, 4) .

3 Thierry , Librum hunc (Jansen 4 *, 42 f.): Natura semper una est, personae diversae ... Humanitas sine dubio una est in omnibus , diversae vero sunt humanitatis

personae ...; Clarenbaldus, Kommentar zu Boethius, De Trin. (Jansen 42* , 25 f.) : unam et eandem humanitatem esse, qua singuli homines sunt homines. Zu beiden Stellen vgl. Ueberweg - Geyer 235 f.

* Hier ist namentlich an Athanasius und Gregor von Nyssa zu denken, auch z. B. an Marius Victorinus , Adv. Arium III , 3 ( PL 8, 1101 ) : In isto enim omnia universalia

ſuerunt , universalis caro, anima universalis. Doch deren Auffassung von der seinshaft wirklichen Ganzheit der Menschheit “ und ihrem Enthaltensein in Christus , kann nicht

einfach als platonisch überzogener Begriffsrealismus abgetan werden “ (Ternus, Chal

kedon III, 176 ). Zu Athanasius vgl . Weigl 66—88 , zu Gregor von Nyssa: Joh. Lenz Ein Vergleich 84-86 ; P. Galtier , Les deux Adam (Paris 1947 ) 33—39; 43—46. dessen, was Cusanus über die Größe Christi sagt, mit dem Christusbild einiger neuzeit

licher Philosophen (besonders Schellings und Hegels) wäre interessant, erübrigt sich aber hier und würde zu weit führen .

228

Seine innige Verwandtschaft mit jedem einzelnen Menschen

erst seine eigentliche Begründung nach : Da die Menschheit Jesu , die größte ist, so umfaßt sie die Möglichkeit der ganzen Art. Daraus ergibt sich eine solche

Seins-Gleichheit mit einem jeden Menschen , daß Er einem jeden weit mehr als ein Bruder oder der engste Freund verbunden ist 5. Denn das folgt aus der Maxi mität seiner Menschennatur, daß Christus in einem jeden, der Ihm in (durch Liebe) geformtem Glauben anhängt, unter Wahrung der zahlenmäßigen Ver schiedenheit bei vollkommenster Einung eben ,derselbe Mensch ist. Daher ist das Wort wahr, das Er selbst sagt : ,Was ihr dem Geringsten der Meinen getan habt, habt ihr Mir getanº (Mt 25, 40) ; und umgekehrt, was immer Christus Jesus durch sein Leiden verdiente, verdienten die, die mit Ihm eins sind 6, unter Wah

rung des Unterschiedes der Verdienststufen, je nach dem Unterschied der Stufen der Einung eines jeden mit Ihm , welche durch den durch Liebe geformten

Glauben erfolgt. Deshalb sind die Gläubigen in Ihm' beschnitten , in Ihm' ge tauft, in Ihm gestorben, in Ihm durch die Auferstehung von neuem belebt, in Ihm Gott geeint und verherrlicht ?. Unsere Rechtfertigung ist also nicht aus uns, sondern aus Christus, in dem wir alles erlangen, wenn wir Ihn besitzen, der

die ganze Fülle ist. “ 8 In Predigt 16 werden diese Gedanken wiederholt. Dabei fallen die zugespitz ten Formulierungen, daß Christus „ mit der Natur der Menschheit koinzidiere "

und , die innerste Substanz “ ( substantialis intimitas) sowie die „wahrste und vollkommenste Menschheit aller Menschen “ sei , so daß ein jeder, der Christus

anhänge und geeint sei, nicht in einem „ andern“ , sondern in „ seiner eigenen Menschheit “ Gott dem Worte geeint sei . „O übergroßes Geheimnis ! “ ruft der Prediger dort zum Abschluß dieser Ausführungen aus 9. Die vorangehenden Paradoxa möchten der Erkenntnis dienen, daß sich in der Wirkmacht der Gnade Christi die bei dieser vorausgesetzte umfassende mensch liche Größe Christi und einzigartige, rational nicht faßbare metaphysische Nähe seiner Menschennatur zu einem jeden Menschen bekundet. Die Art dieser Nähe

oder Naturgemeinschaft läßt sich in etwa in das cusanische Vorstellungsschema der „ Einfaltung “ (complicatio) und „ Entfaltung “ (explicatio) einfangen. Hier gilt nämlich dasselbe wie von der „ Fülle der Zeit “ in Christus : „ Wer das ver

5 Vgl. S 26 (V. 745b) : Vides plane, quomodo tua humanitatis natura in ipso multo intimius quam in fratre, filio aut patre; Š 111 (V2 27')): Omnes sumus in natura humani tatis Christo coniunctissimi et sumus omnes sui . Hier fällt besonders die Verwandtschaft

mit Athanasius , Contra Arianos, or. II (PG 26, 145—325) auf. Näheres s. Galtier , Saint Athanase et l'âme humaine du Christ, u. z . in dem Abschnitt: Nature individuelle ou

collective ? Notre union au Verbe dans le Christ : Greg. 36 ( 1955) 557–63. Das spät mittelalterliche Motiv der „ Gottesíreundschaft“ tritt bei Cusanus , aufs Ganze gesehen, wenig hervor.

6 Diese Stelle erregte den besonderen Zorn des Joh. Wenck : Quod periculosissi mum est : meritum Christi ascribit maximitati humanae naturae , non Christo gratuite

nos iustificanti (verbessert aus iustificante nach Ms. 228/1467 , f. 315' der Trierer Stadt bibliothek) , inimicus gratiae , quantum in se est, suffocans Christi iustitiam (De ign. litt. 39) . Wenck hat anscheinend das Folgende nicht gelesen . i Vgl. insbesondere folgende Paulus- Stellen : Kol 2, 11; Röm 6, 3 ; 1 Kor 3, 23 ; Gal 3, 27 ; 1 Thess 4 , 16; Apg 17 , 28 ; ferner Joh 17 , 21—24 ; Apk 14 , 13. * D. Ign. III, 6 (H 138, 4–19). · S 16 (H 34, 21 — 36, 16) . 229

Die Innigkeit der Naturgemeinschaft Christi mit jedem einzelnen Menschen

stehen will , muß in allem ebenso auf die Einfaltung wie auf die Entfaltung sehen, damit er nicht irre!“ 10

Das Komplikations-Explikations-Verhältnis besagt bei Nikolaus von Kues, wo immer er es in Geltung sieht, einen Vorrang, eine Erhabenheit des einen über das andere, und zwar derart, daß der Wesensgehalt des „ anderen“ in der Realität

des ersten ideell enthalten oder - im Hinblick auf eine schöpferische oder biolo gische oder gnadenhafte Entfaltung

vorenthalten ist.

Ein solches Verhältnis “ besteht in transzendentaler Reichweite zwischen dem

Geschaffenen und der absoluten Wirklichkeit alles möglichen Seins in Gott, des sen Wesen - wegen seiner Unendlichkeit und proportionslosen Erhabenheit über alles Geschöpfliche – nichts anderem gegenüber etwas anderes, sondern schlecht hin das „ Nichtandere “, „ Dasselbe“, die „ Gleichheit“ oder die Wesenheit der 99

Wesenheiten “ ist .

Ähnliches gilt auch von der Menschheit Christi : Gerade weil diese die Indivi dualität der einzelnen anderen Menschen infolge der hypostatischen Einung hoch überragt, umfaßt sie deren menschliches Sein in einer Weise, daß sie dem ganzen Menschengeschlecht gegenüber „ nichts anderes “ , sondern dessen „ wahre Mensch

heit“ ist und daß jeder zu Christus in einem so engen „, Verwandtschaftsverhält

nis “ steht, daß „ seine Menschennatur in Ihm bei der genauesten Identität , die bei verbleibender Verschiedenheit der Zahl nach möglich ist, alle Fülle er reicht “ 11 .

Auf diese Weise erhalten auch Aussagen wie die, daß die Natur aller Men schen oder die Menschheit, welche eine ist, in Christus mit der göttlichen Natur geeint wurde und auferstand “ 12, eine wirkliche Begründung, nämlich die, daß die individuelle Menschheit Christi mit der der übrigen Menschen nicht nur in

einer Reihe steht“ , sondern auf Grund ihres hypostatisch bedingten Seins- und Gnadenreichtums auch die wirkliche und die ideale Vollkommenheit aller mög

lichen Menschen derart in sich schließt und umfaßt 13, daß diese je nach ihrer Disposition durch die Einung in Glaube und Liebe an seiner Fülle partizipieren können.

b) Christus und die Stammeseinheit des Menschengeschlechtes In Predigt 257 wendet Nikolaus die Komplikations-Explikations - Vorstellung auch ausführlich auf Adam als den natürlichen Stammvater des Menschen geschlechtes und auf Christus als den zweiten “ oder „ letzten Adam“ an . Er

kommt darauf, weil er erklären möchte, „ wie Jesus die Wiedergeburt zur Un 10 S 17 (C 10', 7 ).

11 S 26 (V1 741b). 12 S 118 (V2 1 ") ; vgl . oben S. 228.

13 Vgl. S 102 (V2 196) : Natura (divinitati unita) est humanitas, quae complectitur omnes homines. Dasselbe ist Cribr. I , 17 ( P140") und im Brief vom 11. 6. 1463 Siz 161" ) mit „humana natura omnibus hominibus communis' gemeint. Darin ist Cusanus insbesondere dem hl . Augustinus verwandt ; vgl. Bavel 74–85 (L'inclu

sion de l'humanité entière dans la nature humaine du Christ). 230

erläutert durch den Komplikationsgedanken sterblichkeit ist 14 und wie Er ,der Nachkomme ist, in dem alle Stämme der Erde gesegnet werden ' (Gn 12 , 3) " 15. Die biologische Komplikation des Menschengeschlechtes in Adam stellt Cusanus so dar : „Beachte : bei der Zeugung natürlicher Nachkommenschaft teilte Adam dieser zugleich die Zeugungskraft mit. Da er selbst nämlich sterblich war und nicht immer in sich weiterleben (subsistere) konnte, suchte er sich infolge eines Naturtriebes in seinen Kindern zu erneuern; und weil auch diese wie ihr Vater sterblich sein würden, teilte er seinen Kindern zugleich dieselbe Zeugungskraft mit, damit er auf dem Wege solcher Erneuerung nie (zu leben) aufhöre. So lebt Adam in all seinen Nachkommen und erneut sich in jeder Generation. Daher ist die Menschheit dasselbe wie Adamität 16, denn adama ( 7 ) heißt Erde. So wird sie (die humanitas) auch ‚humus', ‚ Erde' genannt (Joel 1 , 10 ) . Da sie in allen von einem ist, ist sie auch eine ... Die Menschheit umfaßt alle Menschen ... Alle Menschen sind in Adam als dem Vater aller eingefaltet. “ 17 Zur weiteren Klärung der zwischen Adam und seinem Geschlecht bestehenden Naturgemeinschaft macht sich der Kardinal den Einwurf : „Da möchte vielleicht einer bemerken : ‚Dem zuvor Gesagten nach scheint es in der ganzen Menschheit nur den einen Adam zu geben. Was anders sind die Menschen aus Adam als der eine entfaltete und vervielfältigte Adam ..., wie in der Zahl nur die Eins entfaltet ist?" 18 Darauf folgt die Antwort : „Bei scharfem Zusehen zeigt sich, daß Gott ... alle Menschen dadurch erschuf, daß Er Adam erschuf. In ihm erschuf Er alle, denn Er erschuf Adam als den Vater von allen. In seiner Fruchtbarkeit sind der Kraft nach (virtualiter) alle Künftigen eingefaltet, wie das Künftige im Gegenwärtigen eingefaltet ist. Damit verbindet Cusanus den Satz : „Die Fruchtbarkeit der Art entfaltet sich in den Individuen. “ Er erklärt ihn : „Es ist , als wäre (in Adam) die Art Natur und als solche in ihrer Weise eingeschränkt, aber in der Entfaltung ihrer Fruchtbarkeit in der Weise determiniert, daß die Entfaltung nur unter einer (weiteren) determinierten Einschränkung möglich wäre, die man den Modus der Natur oder der Art nennen kann . Ähnlich wie die Entfaltung der Eins nur in den bestimmten Zahlen erfolgt, so entfaltet sich die eine Spezies oder spezifische Natur, die in Adam war, in vielen Kindern derselben Art. " Bei dieser Hilfsvorstellung, als hätte in Adam die Spezies subsistiert, kann es Cusanus indes nicht lassen. Deshalb fährt er fort : „Die geschaffene spezifische Natur wurde aber (schon) in Adam mitsamt ihrer Fruchtbarkeit in die Erde eingesenkt, wie Moses berichtet 19. In dieser wurde sie, damit sie Adam sei , zu einer bestimmten Weise determiniert, damit sie , dies und so' sei. Aber dieses ,dies und so' ist nicht mitteilbar, obwohl sich die Natur im , dies und soʻ mitteilt. " 20

15 S 257 (V2 204™ ) . 14 Vgl. Tit 3, 5 ; 1 Petr 1 , 3. 16 ,Adeitas' ist dem Zusammenhang nach hier als Abstraktum von Adam zu verstehen ; ebenso V2 204vb. 18 S 257 (V2 205 -b). 17 S 257 (V2 204rb-va). 19 Vgl. Gn 2, 7. 20 S 257 (V2 205 ) ; vgl . die besonders von Thomas entwickelte Lehre von der Materie als Individuationsprinzip ; z . B. S. theol . I q. 75, a. 5 c. 231

Die Naturgemeinschaft Christi mit dem Menschengeschlecht Cusanus illustriert das noch an dem Bilde : Die einzelne Kerze kann als solche nur einmal existieren, das darauf brennende Licht läßt sich mitteilen. „So gibt es auch nur einen Adam, wenn wir auf die Spezies schauen, die in ihm geschaffen ist, aber es gibt viele Kinder Adams , wenn wir auf die Individuation oder die Aufnahme der Spezies schauen. " 21 Was hier über die Herkunft alles menschlichen Lebens von Adam gesagt ist, legt eine doppelte Auswertung für die Christologie nahe: Erstens ist Christus durch seine Geburt in die von Adam ausgehende Stammeseinheit eingetreten. Dazu bemerkt der Kardinal : „ In Jesus hat diese Nachkommenschaft (semen) , die von Adam her alle Menschen umfaßt (complicans) , den (verheißenen) Segen oder die Unsterblichkeit erlangt, denn die Menschheit wurde dem Sohne Gottes geeint. " 22 Das deutet an, daß in der Abstammungsgemeinschaft der Menschheit die Möglichkeit der Erlösung aller durch den Gottmenschen irgendwie begründet liegt : Christus gehört seiner menschlichen Natur nach „zu unserem Geschlecht. " 25 Zweitens bildet Christus als der Erlöser mit seinen Heilsgütern den übernatürlichen Antitypus zu dem natürlichen Stammvater. Durch den Sündenfall Adams wurde nämlich ein neues Haupt der Menschheit notwendig, das wenigstens in gleicher Fülle das Leben in sich trägt, das Adam verlor. Auf Grund der natürlichen Ordnung umfaßt die Fortpflanzungskraft Adams und seiner Nachkommen nämlich „nur das fleischliche oder sinnliche Leben 24, nicht aber das geistige, das ... dem Menschen durch die Einhauchung der Vernunftseele oder des Geistes gegeben wird ... Daher nennt Paulus den Menschen aus Adam sinnlich ( 1 Kor 15 , 46) . Mit dem, was aus Adam kommt,, vernimmt er nämlich nicht, was Gottes ist' ( 1 Kor 2 , 14 ) . Nur der vernünftige Geist kann das vernehmen, da er allein aus Gott ist. “ 25 Nur Christus kann das aber auch geben. In Ihm, dem menschgewordenen Sohne Gottes, sind ja „ alle Segnungen für das (gesamte) sinnliche Leben aus Adam und das ,Vernunftleben aus Abraham 26 zusammengefaßt, so daß der Mensch ,in keinem anderen das Heil ' (Apg 4, 12) erlangen und nur ‚ in' diesem Menschen- und Gottessohn dem Geiste nach, der aus Gott ist, das Leben eines Menschen und das Leben Gottes leben kann “ 27. All das zeigt die grundlegende Bedeutung des Komplikationsgedankens für die cusanische Soteriologie. Dieser erklärt sowohl die Stammeseinheit des zu erlösenden Menschengeschlechtes wie auch insbesondere die aktive Möglichkeit der Erlösung. Diese Möglichkeit beruht darauf, daß in Christus ähnlich wie in Adam

22 S 257 (V2 204 ). 21 S 257 (V2 205—206™ª) . 23 Vgl. die in der 7. christologischen Quästio (unten S. 316) angeführten Leo- Stellen. Cod. Cus. 50, 95 schrieb Nikolaus zur Epistula Ferrandi diaconi ad Fulgentium episc. de quinque quaestionibus (q . 4) , und zwar zu dem Satze : Nec tamen a nobis offerri hostia potuisset, si Christus pro nobis factus hostia non fuisset, in quo ipsa natura nostri generis est hostia salutaris (PL 65, 425 A) , an den Rand : Nota, natura nostri generis ! 24 S 257 (V2 204a) : Abscisio seminis in Adam et posteris est abscisio portionis , in cuius potentia est caro seu carnalis sive animalis vita. 25 S 257 (V2 204 ) . 26 Vgl. oben S. 92. 27 S 257 (V2 204-205™ ) . 232

verglichen mit dessen biologischer Komplikation in Adam

das Gesamt-Menschliche, aber im Gegensatz zu dem erlösungsbedürftigen „ sinnlichen Menschen “ vor allem das Geistige und die Heilsmacht der Gnade zusammengefaßt sind. Als solcher Antitypus zu Adam wird Jesus „der Menschen sohn' genannt, als wäre Er jeder Sohn Adams oder der jüngste Adam'. Denn das Leben Adams ist in Ihm verborgen' und dazu unsterblich . “ 28 Die bloße Zugehörigkeit zur Spezies Mensch bildet somit gleichsam nur das Substrat für 19

eine mehr als verwandtschaftliche, gnadenhafte Verbundenheit aller Menschen mit Christus, der in seiner Größe alle umfaßt, so daß Christus „für“ einen jeden

genugtun und ein jeder in Christus “ gerechtfertigt und geheiligt werden kann. Ohne Zweifel entwickelte Cusanus in dieser verschiedentlichen Anwendung des komplikationsgedankens besonders die Originalität seines Denkens. Zugleich

nimmt sich jedoch dessen Funktion in der cusanischen Christologie wie eine spekulative Interpretation dessen aus, was Paulus über das Sein und die Heili gung in Christus“ und manche Kirchenväter über das Vorenthaltensein aller in Christus sagen 28. Besonders eng ist die Verwandtschaft mit der Rekapitulations lehre des hl. Irenäus 30.

B. Die Geburt aus Maria der Jungfrau I. DIE GOTTLICHE WIRKURSÄCHLICHKEIT BEI DER MENSCHWERDUNG

a) Gott als das „ ersatz -väterliche “ Prinzip bei der jungfräulichen Empfängnis Christi

Die Docta Ignorantia enthält ein eigenes Kapitel : „ Wie Christus vom Heiligen Geiste empfangen und aus Maria der Jungfrau geboren wurde. “ 1 Eingangs führt Nikolaus dort spekulative Gründe dafür an, daß die Empfängnis Christi den Heiligen Geist als übernatürliches Wirkprinzip erforderte. Dabei geht er von

der Leitidee aus, daß die Menschheit Jesu infolge der hypostatischen Einung die vollkommenste, bis an die Grenze des Möglichen reichende Verwirklichung der Wesensart Mensch ist. Daraus zieht er zwei Schlüsse :

28 S 257 (V2 20576 ). Cusanus sagt dies zu Kol 3, 3 .

29 Vgl . noch Weig 1 66–69 zu Cyrill von Alexandrien ; Theodor v. Mopsv ., Kom mentar zu Eph 1 , 10 (Swete I 130 ) : Omnia ergo, tam illa , quae in caelis sunt, quam quae

super terram, instauravit vel potius recapitulavit in Christo quasi quandam compen diosam renovationem et redintegrationem totius faciens creaturae per eum. Dazu be merkt Cusanus (Cod. Harleian 3036, 80 ') : Exponit Deum omnia, quae in caelo et in

terra sunt, in Christo restaurasse vel potius recapitulasse, quasi usw. , bis : per eum . 30 Vgl. oben S. 99. Ein exakt philologischer Nachweis der unmittelbaren Abhängig keit von Irenäus ist noch zu führen . Nach Scharl ( 131) war Eph 1 , 10 für Irenäus die Hauptquelle seiner Konzeption. Auffallend ist, daß Cusanus das griechische & vaxeqa

harcoachal mit der Vulgata nur als instaurare wiedergibt (vgl. oben S. 188 ), obwohl er die Bedeutung recapitulasse durch Theodor v. Mopsv. kannte (Anm . 29). 1 D. Ign. III , 5 ; vgl. Symb. Apost. (D 6). 233

Die göttliche Wirkursächlichkeit bei der Inkarnation Erstens, die menschliche Natur Christi überschreitet als solche noch nicht die Grenze der Spezies Mensch . „ Ähnliches wird aber von Ähnlichem erzeugt. “ 2 Da her hat Christus seiner menschlichen Natur nach einen menschlichen Ursprung. Zweitens, Christus erreicht und bildet die Grenze ( terminus) des Menschlich

Möglichen. Die Grenze wird aber ihrerseits nicht durch etwas von gleicher Größen ordnung begrenzt. Deshalb ist der größte Mensch nicht auf dem Wege der Natur erzeugbar. Dies letzte stellt eine Anwendung des „Maximitätsprinzips“ dar,

nach dem eine niedere Wesensart nur in etwas Höherem seine Vollendung fin den kann

Aus beidem ergibt sich die dritte Folgerung : Teilweise hat Christus als Mensch den Ursprung und die Ursprungsweise, die der menschlichen Natur entsprechen 5. Das wird sodann im Lichte der Offenbarung mit nochmaliger Hilfe des „Maxi mitätsprinzips“ erklärt :

„Da die höchste Ursprungswirkung aufs unmittelbarste mit dem Ursprung ge eint ist , so ist dieser Ursprung, von dem es (das principiatum ) ganz unmittelbar kommt, gleichsam schöpferisch oder väterlich zeugend (generans ut pater). Das menschliche Prinzip hingegen verhält sich gleichsam passiv. Es stellt die (in die Einung) aufnehmbare Materie bereit. Daher (stammt Christus der Menschheit

nach) von einer Mutter, und zwar ohne männlichen Samen. “ ? Gott selbst ist demnach bei der jungfräulichen Empfängnis Christi ein höheres, „ ersatz -väterliches“ & Prinzip. Das wird in dem Dialog Über die Heimsuchung“ deutlicher gesagt. Cusanus legt dort Maria bei der Erklärung der Engels-Antwort auf ihre Frage : „ Wie soll das geschehen , da ich keinen Mann erkenne ? “ , die Worte in den Mund : „Er sagte, die Art meiner Empfängnis komme von der

Schöpferkunst des Geistes und der Kraft Gottes. Ist es nämlich so, daß ein Sohn wegen der formgebenden Kraft des Vaters, die im Schoße der Mutter aufgenom men wird, Sohn des Vaters ist, so wird er Gottes Sohn sein, wenn keine andere männliche Kraft formgebend mitwirkt, sondern nur die Kraft Gottes . In solcher

Weise wird vom Heiligen Geiste nur das Heilige und aus der Kraft des Aller höchsten, Gott des Vaters, nur Gottes Sohn empfangen .“ 10 An die Stelle der natürlichen väterlichen Erzeugung tritt bei der Empfängnis

b 8 ); VII, 9 (1034 b 7—16) ; Thom. 2 Vgl. Aristoteles , Met. VII, 8 ( 1033 a 24 v. A q ., In Met. Arist. VII, lect. 7 (n. 1417—1423 : 348 f.) ; lect. 8 (n. 1458 : 355 ); S. theol. .

I q. 65, a. 4 c. § D. Ign . III , 5 ( H 133, 1-9) . 4 Vgl. oben S. 150 ff.

6 Vgl. Ambrosius, De incarnatione c. 6 (PL 16, 867 C) : Multaque in eodem et utero fuit ..., sed supra conditionem Virgo concepit, Virgo generavit ; Thom. v. A q.,

secundum naturam invenies et ultra naturam. Secundum conditionem enim naturae in S. theol. III q. 32, a. 3 ad 1 . 6 Vgl . oben S. 127 173 .

? D. Ign . III , 5 (H 133, 12—16 ); vgl. ebd. 135, 11—18. Ähnliche Herleitungen s. De pace fidei c. 14 ( P 120"), S 177 (V2 84 b). übernommen Biologie

. 68) 8 Dies Wort ist von Mitterer (Dogma und 9 Vgl. D. Ign. III, 5 (H 133, 22) : Per quem (Spiritum Sanctum) solum sine adminiculo agentis contracti infra latitudinem speciei concipere potuit mater Filium Dei Patris. 10 De visitatione (P 4") .

234

und die Mutterschaft Mariens Christi also ein schöpferischer Akt Gottes, und nicht nur so, wie das von der unmittelbaren Erschaffung einer jeden Menschenseele gilt 11. Christus kam nämlich seinem ganzen menschlichen Sein nach „ als der neueste Adam' nach Art des ersten in diese Welt: nicht durch Fortpflanzung, sondern durch einen schöpferischen Akt" 12, der über „ das natürliche oder gewöhnliche Gesetz der Natur " hinausging 13. Cusanus vergleicht wiederholt dieses Wunder der Menschwerdung mit den biblischen Beispielen, daß Frauen , die unfruchtbar waren, dennoch infolge göttlicher „ Dispens“ vom Gesetz der Natur empfingen 14. Dabei stellt er fest : Das Gesetz der Natur verlangt erstens die geschlechtliche Vereinigung von Mann und Frau, zweitens beiderseitige Fruchtbarkeit. Schon die „ Dispens “ von dem letzteren die Gott im Hinblick auf das „ Gemeinwohl “ und auf die Menschwerdung überstieg den Lauf der Natur. Der jungfräulichen Empfängnis Christi erteilte Christi im Schoße Mariens kommt aber auch diesen „ drei übernatürlichen Geburten" gegenüber ein einzigartiger Vorrang zu 15. Die Frage, wieso Gott, bei dem „ nichts unmöglich ist " (Lk 1 , 37 ) , dieses Wunder wirken könne, hält Cusanus für unangebracht. Denn was Gott will , ist seinsnotwendig. Dabei kann kein gegenteiliger Naturlauf im Wege stehen. “ 16

b) Die Inkarnation als Werk der göttlichen Dreieinigkeit Daß alle göttliche Wirksamkeit nach außen den trinitarischen Personen gemeinsam ist, sagt Cusanus wiederholt 17. Das entspricht auch der Hervorhebung der göttlichen Einheit in seiner ganzen Theologie. Er bemüht sich deshalb aber nicht weniger eifrig auch darum, in dem Wirken Gottes nach außen abbildliche und intentionale Beziehungen zu den göttlichen Personen aufzudecken. So auch bei der Inkarnation des Sohnes Gottes. Dabei sieht er in der zweiten göttlichen Person nicht nur den Zielpunkt der Einung; er betrachtet sie auch als tätig : „ Obwohl Er nämlich in der Gestalt Gottes war (Phil 2, 6) ,, der allein in der Unsterblichkeit wohnt' ( 1 Tim 6 , 16 ) , nahm Er dennoch unsere sterbliche Natur und Knechtsgestalt an, um sie seiner göttlichen Natur zu einen, damit sie in die Gestalt seiner Unsterblichkeit übergehe. “ 18 Das veranschaulicht Cusanus durch verschiedenerlei Vergleiche. So heißt es schon in Predigt 13 : „ Papst Klemens 19 vergleicht Christus in einer Predigt zum 11 S 243 (V2 180 ) : Videmus animam rationalem ... non esse ex traduce, sed in quolibet homine ex creante, qui est Creator specierum. 12 S 206, 1 (V2 120v ) ; vgl . Joh. von Damaskus , De fide orthod. III , 2 ( PG 3, 986) . 13 De visitatione (P 4 ). 14 Die Beispiele sind : Sara- Isaak, Anna- Samuel , Elisabeth-Johannes d. T. 15 S 59 (V167-68b) , S 60 (V₁ 115—116 ) ; vgl. De visitatione ( P 5' ; zu Lk 1 , 36) ; S 272 (V2 239 ) . 16 De visitatione (P 5'). 17 Vgl. oben S. 89. 18 Reformatio generalis (Ehses 283) . 19 Klemens VI. Die zitierte Stelle s. Cod. Vat. Borghes. 41 , 201. Klemens VI . beruft sich dort auf Augustinus , De 83 quaestionibus q. 73 ; vgl. auch die Erklärung des Folgenden durch Thomas , S. theol . III q . 2 , a. 6 ad 1 . 235

Die göttliche Wirkursächlichkeit bei der Inkarnation

Fest der Beschneidung mit einem ,Bekleideten'. Er sagt, die Menschheit sei wie

ein Kleid, weil das Kleid dem Bekleideten der Form nach angepaßt wird , weil das Kleid vom Bekleideten getragen wird und weil sich der Bekleidete im Kleid manifestiert. “ Dazu bemerkt Cusanus : „ So wurde die Menschheit in Christus in erhabener Weise gestaltet, in dem Selbstand des Wortes getragen und die Gott

heit durch sie manifestiert. “ 29 Von da an spricht er häufiger davon, daß das Wort die sinnenfällige Menschennatur anzog, oder auch daß der Vater das Wort mit dem Fleische bekleidete “. Diese Bilder betrachtet er deshalb als sinn

volle Erklärungen der „ Menschwerdung “, weil darin die Präexistenz des Wortes klar zum Ausdruck kommt 21. Nirgends sucht er jedoch von daher der „Habitus Theorie “ 22 Vorschub zu leisten.

Predigt 13 führt das Bild des Kleides so weiter 23 : „Es scheint, daß der Ver gleich mit einem geistigen Begriff, der sich in einen sprachlichen Ausdruck (ars

dicendi) kleidet 24, glücklich ist. Das geistige Wort schafft sich einen sprachlichen 9

Ausdruck (linguam) und zieht ihn an. So könnte man den Erfinder der lateini

schen Sprache deren Schöpfer nennen : Er bildete sie, teilte sie vielen mit und nahm sie als eine eigene Sprache an, indem er sie ,anzogʻ , um sich anderen, nach dem sie ihnen mitgeteilt war, verständlich zu machen .“ 25 Noch stärker kommt die Tätigkeit des Wortes bei der Annahme der mensch lichen Natur durch das Bild des Magneten zum Ausdruck. In Predigt 13 erklärt Cusanus damit zum Beispiel 26 sowohl das Zustandekommen wie den Zustand der Einung so : Das Wort zieht wie ein Magnet die menschliche Natur an und hält sie mit seiner Anziehungskraft fest, damit sie in Ihm subsistiere 27. Von den drei genannten Bildern hat das zweite den Vorzug, daß es verschie dene Gesichtspunkte treffend zum Ausdruck bringen kann : die Verborgenheit des ewigen Wortes und die Möglichkeit seiner Offenbarung durch die Menschheit Jesu als seine Stimme“ , damit auch das Ziel der Menschwerdung, daß die Men schen „von Gott belehrt “ werden sollen, und insbesondere die Wirkeinheit der göttlichen Personen beim Inkarnationsakt. Die „ Stimme “ schließt nämlich als Ausdruck des Wortes auch eine Beziehung zu dem Sprechenden und zu dem Sprach -Hauche ein, der das Wort zum Hörenden überträgt. Diesem Bilde nach geschah die Menschwerdung dadurch , daß das Wort, das allein den Vater kennt, als der gezeugte Begriff des Vaters eine „ vernehmbare 20 S 13 (C 85', 21-24 ) . 21 S 37 (C 8 ', 19 f. ) ; ebd. Z. 26 : est satis propria similitudo . 22 Vgl . unten S. 288 f. va

23 V1 61** sind die folgenden Zeilen von Cusanus am Rande nachgetragen . In C feh len sie .

24 Vgl . Joh . von Damaskus , De fide orthod . I , 7 (PG 94 , 805 A ) .

25 Vgl . S 222 ( V2 146'") : Verbum internum sapientis seu conceptus incorruptibilis induit corruptibilem vocem. Vox desinit et moritur, et verbum in voce occultatum non moritur. Zur Vorgeschichte dieses Vergleiches s. die von Schmaus, Psychologische Trinitätslehre 360 angeführten Augustinus -Stellen; vgl. ebd . 63 (zu einem unbekannten

griechischen Autor). Insbesonder s. Bonaventura, In Sent. I d . 27, p. 2, q. 4 ( I 490 a). 26 Vgl. oben S. 128 sowie S 115 (V2 25 '*): Verbum in humanitate virgineae carnis habitans naturam humanam elevat attrahendo in unionem personalem ... sicut magnes . 27 S 13 (C 85', 25—27). 236

im Lichte der trinitarischen Personeigentümlichkeiten

Stimme annahm “ , um den Vater zu offenbaren 28. Der Vater ist dabei gleichsam , der Intellekt, der das Wort, durch das Er den Menschen wie einen) Schüler

belehren wollte, sinnfällige Gestalt annehmen ließ “ und in die Welt hinaus schickte 29, und Christus als das inkarnierte Wort Gottes „ein Mensch, in dem der Vater spricht“ 30.

Die Verkündigungsworte des Engels (Lk 1 , 35) schreiben dem Heiligen Geiste die Verwirklichung des Geheimnisses zu. Sie sprechen auch von der „ Kraft des Allerhöchsten “. In dem Dialog Über die Heimsuchung “ erklärt Maria das so :

„ Der Heilige Geist ist die Liebe und die Verbindung. Daher kam die Liebe, die der Heilige Geist ist, über mich und wirkte in mir, und in seinem Wirken überschattete mich die Kraft des Allerhöchsten , als wäre der Heilige Geist der

Überbringer der Kraft oder des Wortes Gottes 31. Als in mir das Wort Gottes die menschliche Natur anzog, überschattete sie mich , denn die verborgene Kraft Gottes umgab in mir ihr Licht mit fleischlicher Hülle 32. Mir ,umschattete sich also die Kraft des Allerhöchsten, nämlich als Gottes Sohn sich in mir barg. Wie also die Stimme das Wort des Geistes zu Gehör bringt und der Hörende die Wort

Kraft des Geistes (intellectus) aufnimmt und in sich empfängt – die Stimme aber ist dabei Mithelferin als Überbringerin , wird jedoch nicht empfangen, viel mehr überschattet das geistige Wort den Menschengeist, damit es empfangen

werde -, so ähnlich wurde die Kraft oder das Wort Gottes durch den hinzukom menden Geist (Spiritum) überbracht und allein in mir inkarniert. “ 33 Die Docta Ignorantia betont besonders die Wirksamkeit des Heiligen Geistes bei dem größten Werke Gottes, das über alle Maßstäbe der Natur-Ordnung

hinausgeht, da der Schöpfer dadurch mit der Schöpfung geeint wird “ . Nur durch das Wirken des Heiligen Geistes , der in absoluter Weise die Liebe ist, konnte

die irdische Mutter den Sohn des ewigen Vaters empfangen. Diese Zueignung an den Heiligen Geist soll jedoch nicht dessen Wirkeinheit mit den übrigen gött lichen Personen leugnen , wohl aber jede geschöpflich - väterliche Mithilfe zur Empfängnis Christi ausschließen 34. „Wenn nämlich der Vater schon all das, was zuvor nicht war und durch Ihn ins Dasein trat, durch seinen Geist geformt hat, so hat Er erst recht das in demselben Heiligsten Geiste vollbracht, als Er in der vollkommensten Weise wirkte . “ 35

Im folgenden kehrt das bekannte „ Beispiel “ wieder : Ein Lehrer, der seinen Schülern ein geistiges Wort mitteilen will , läßt dieses dazu eine Stimme an ziehen “ . Das ist durch den natürlichen Atem (spiritus) des Lehrers möglich, der 2 S 275 ( V2 248 a) : Verbum seu genitus conceptus induens sensibilem vocem revelat

Patrem ; vgl. D. Ign. III, 11 (H 154, 7 ) : Christus est ipsa incarnata ratio omnium ratio num , quia ,Verbum caro factum est'. 23 S 36 (C 8 ', 19–21 ) . 30 S 244 ( V2 1831b). 31 Hier klingt der Ternar essentia, virtus, operatio als Analogie zur göttlichen Drei einigkeit an ; vgl. Vf I 47 f. 32 Hier vereint Nikolaus Motive der drei vorgenannten Bilder. 23 De visitatione ( P 4 '-5 ") .

34 Vgl. Bonaventura , In Sent. III d. 4, a. 1 , q. 1 , concl. (III 99 a) . 35 D. Ign. III, 5 (H 133, 17—26) . 237

Die göttliche Wirkursächlichkeit bei der Inkarnation

mit der eingezogenen Luft einen Laut formt, der zu dem geistigen Wort paßt. Mit diesem eint er das Wort so, daß der Laut im Wort subsistiert, damit die Hörenden mittels des Stimmlautes das Wort erlangen. “ 36 Dieses „ entfernte

Gleichnis “ soll das Verständnis dafür erschließen, daß der ewige Vater den Reichtum seiner Herrlichkeit und Weisheit nicht anders zugänglich machen konnte als dadurch, daß er seinen Sohn durch den gleichwesentlichen Heiligen Geist in die menschliche Natur einhüllte, um Ihn zu offenbaren 37.

c) Die Menschwerdung Christi im Augenblick der Empfängnis Die biologischen Vorstellungen des Nikolausvon Kues sind durchaus dem Mittel alter verhaftet. Sie stimmen insbesondere mit der auch von Thomas vertretenen

„ Erzeugungsbiologie“ 1 überein. Wir begegneten bereits der Ansicht, daß nur dem väterlichen Prinzip aktive und formgebende Bedeutung zukomme, während das mütterliche nur die Materie bereitstelle “ für die Empfängnis . Cusanus hält auch noch an der alten Anschauung fest, daß der menschliche Embryo erst in

einem bestimmten Wachstumsstadium die Geistseele erlange 3. Bis dahin, meint er, habe er nur eine vom Erzeuger mitgeteilte Wachstumskraft4 und bilde noch „ kein eigenes Reich “ . Das entstehe erst durch die ihm mit göttlicher Schöpfungs macht verliehende Geistseele 5. Die von Thomas gelehrte zeitliche Aufeinander folge der vegetativen, sensitiven und geistigen Seele scheint Cusanus nicht zu akzeptieren 36 D. Ign. III, 5 (H 133, 27 – 134, 7) ; vgl. S 37 (C 8', 20—23) : (Intellectus attrahit mediante spiritu aerem et induit cum aere verbum rationale et mittit in mundum extra se, ut insensibile fiat sensibile et recipiatur per discipulum per aures sensibiliter et per fidem in anima ; S 2 (C 104', 31): verbum dicitur a verbo, -as, -are ; ebd. Z. 37: verbum Isidor, Etymologiae respective quasi alterius, scilicet verberantis verbum dicitur.

I, 9 (PL 82, 86 ): Verbum dictum est eo, quod verberato aere sonat. 87 D. Ign. III, 5 (H 134, 8–16 ). – Dieselbe Grundvorstellung dient Nikolaus bei der „ Sichtung des Korans“ ( 1, 20 ; P 133" -") zur Veranschaulichung der göttlichen Drei einigkeit und Schöpfertätigkeit durch das Gleichnis des Glasbläsers. 1 Zu den Ansichten der großen Scholastiker s. Baudoux 460—65; vgl. die Gegen überstellung der modernen Entwicklungsbiologie bei Mitterer 62 ff. 2 Oben S. 234. Zu Thomas vgl . In Sent. III d . 4 , q. 1 , a. 2, qcl. 1 , obi . 2 ( III 162) und die dort zitierte Aristoteles -Stelle: De animalibus XV (De generatione animalium I, 20 : 729 a 9—11 ) ; S. theol. III q. 32, a. 3 ad 1. Maria Virgine materiam ministrante in similitudinem speciei.

3 S 11 (C 39°, 3—5) meint er in der Siebenzahl den Schlüssel zur Biologie gefunden zu haben : Cuncta opera nostra per septem sunt distributa : In septem horis conceptus se ad foetum disponit, in septem diebus ad lineamenta se aptat, in septies septem ad rationalem animam , in septem mensibus ad nativitatem. Augustinus (De diversis

quaestionibus q. 56 : PL 40, 39) nennt andere Zeiträume. 4 S 167, notae (V2 7316): Embryo ... non habet animam propriam usque ad perfec tionem , sed virtutem decisam a generante in semine, quae virtus fomentatur a calore

materno ; vgl . Albertus M., De incarnatione, De conceptione, n. 20 (f. 46°4) : In aliis enim (conceptis) est virtus seminis operans, quae similis est virtuti vegetabilis animae patris, et operatione illa fit consolidatio, formatio et incrementum. 5 De ludo globi I (P 157"). Dort nimmt der Kardinal sogar die neuplatonische Vor stellung der „Natur oder Weltseele “ zu Hilfe, um die Lebenskraft des noch nicht beseel ten Embryo zu erklären.

& Im Gegensatz zu Albert, Bonaventura, Skotus u. a. lehrte Thomas eine successio 238

angesichts der biologischen Vorstellungen des Nikolaus von Kues Von diesen Voraussetzungen her ist auch ein Abschnitt in Predigt 6 über die „ Geburt in der Jungfrau“ zu verstehen. Er beginnt mit dem Psalmvers : „Ein

Mensch ist in ihr geboren, und der Allerhöchste selbst hat sie begründet.“ 7 Das wird auf die Menschwerdung Christi durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes ausgelegt, der in einem Augenblick (subito) , und nicht, wie bei den andern Men

schen, in einer Zeitenfolge, den Leib Christi „aus reinstem jungfräulichem Blute" 8 bildete. Mit Hilfe der Jeremias-Weissagung, daß eine Frau einen Mann umschließe“ , wird ergänzt, die Jungfrau -Mutter habe von Anfang an „einen vollkommenen Menschen ( virum ) aus Seele und Leib“ in sich getragen 10, was sonst erst nach einem gewissen Wachstum im Mutterschoße gelte 11. „ Daraus

ergibt sich , daß Christus der kleinste Mensch war, der je lebte, denn er war schon im Augenblick der Empfängnis ein vollkommener Mensch . “ 12 Die Docta Ignorantia umschreibt das Geschehen bei der Inkarnation so : „Der Heilige Geist ,wob gleichsam – ähnlich wie die Stimme aus der eingeatmeten Luft kommt 13 - durch Einhauchung den sinnenfälligen Leib aus der Reinheit

und Fruchtbarkeit des jungfräulichen Blutes 14 zusammen 15, indem Er die Ver nunft hinzufügte, damit ein Mensch entstünde. Das Wort Gottes des Vaters einte

Er so innerlich damit, daß Es das Subsistenz-Zentrum der menschlichen Natur bildete. Und all das geschah nicht in einer Entwicklungsfolge (seriatim) , wie bei uns die Empfängnis zeitlich gestreckt ist, es wurde vielmehr in einer Augenblicks

Wirksamkeit, die nicht zeitgebunden war, vollbracht, wie es dem Willen ent spricht, der der unbegrenzten Macht konform ist. “ 16

Predigt 206, 1 vergleicht die Inkarnation mit der Erschaffung Adams, der ja animarum (Baudoux 462 ff.). Die von Cusanus angedeutete Stufenfolge der vegeta tiven, sensitiven und rationalen Lebenskraft und der regeneratio in gratia (S 278,

V: 267*b) läßt sich ebensogut nur von einem schichtförmigen Aufbau und von einem virtuellen Enthaltensein der beiden ersten Lebensstufen in der Geist-Seele wie von

einer Entwicklungsfolge verstehen. ? Ps 86, 5 (Vulg.): Numquid Sion dicet : Homo et homo natus est in ea, et ipse funda vit eam Altissimus ? 8

8 Vgl. Joh. von Damaskus, De fide orthod. III, 2 (PG 94, 986) . Jer 31,22. Dazu bemerkt schon Hieronymus, Comment. in Ieremiam prophetam

VI, 31 (PL 24, 881 ) : Nota, quod nativitas Salvatoris et conceptio creatio nuncupatur. 10 Auch Albertus M. (De incarnatione, De concept., n. 20 : f. 46Y ) folgert aus der Jeremias -Weissagung: Ergo statim in conceptione fuit perfectus vir. Vgl. P. Lombar dus , Sent. III d. 13 (n.80; 604) ; zu Thomas s. Mitterer 73—75. 11 S 6 (C 25 , 31–40).

12 S 6 (C 25°, 39 f.) ; vgl. S 236 (V2 16455) : Omnia igitur membra formalia Iesu Salva toris de massa corporali Mariae fabricata per Spiritum Sanctum in consortium divini tatis transiverunt. Albertus M. a. a. O.: Licet statim perfectus fuerit vir in con ceptione, tamen lineamenta corporis tenuia erant et parva magis quam in alio sint quadra

gesimo quinto die ; Thom . v. A q., In Sent. III d . 3, q.5, a. 2 ad 3 (III 146 ); Alphon sus Tostatus, Paradoxa I, 25 (Opera XXV 10): ita quod nullum unquam corpus humanum fuerit in aliqua regione, quod tam parvae quantitatis existeret, cum perfecte organizatum esset, quod fuit in instanti incarnationis. is Wenn man ,ut vox' auf den Heiligen Geist bezöge, würde das zuvor entwickelte Bild, nach dem die Menschheit Jesu die Stimme ist , zerstört. 14 Vgl. die in Anm . 8 zitierte Joh . - Damascenus -Stelle.

15 Vgl. Ps 139, 13 nach dem massoretischen Text.

16 D. Ign. III, 5 (H 134, 16—23) . 239

Die schöpferische Wirkursächlichkeit Gottes beim Inkarnationsakt „ ein Vorbild des zukünftigen“ (Röm 5, 14) war . Den ersten Menschen erschuf die Allmacht Gottes, wie es ihr entsprach 17, „über der Zeit “ ; dessen Geistseele (intellectus) „ bildete sich also in ein und demselben ,Jetzt einen sinnlichen Leib und zog ihn zur ,hypostatischen Einung' an sich heran" 18. So sind auch bei Christus „ die Erschaffung der Geistseele und deren (hypostatische) Einung und die Bildung des menschlichen Leibes über aller Zeit in demselben , Jetzt erfolgt “ 19. Darin unterscheiden sich Christus und Adam von den übrigen Menschen. „Weil Gott nämlich wollte, daß aus dem einen Menschen viele auf dem Wege der Fortpflanzung gezeugt würden, was ohne zeitliche Entwicklung nicht möglich war, so vollzieht sich bei den Nachfahren Adams das, was bei ihm über der Zeit geschah, nicht über der Zeit. Daraus folgt, daß das Sinnenfällige zeitlich früher als das Geistige ist. " Mit dieser physiologischen Priorität des Leiblichen trifft jedoch auch bei jedem Menschen eine kausale und teleologische Priorität des Geistigen zusammen. Denn „ die Organisation des Sinnenlebens geschieht nur kraft der Natur, die unter dem Gebot des Geistes (intelligentiae) steht, der die Entwicklung leitet “ 20 . In Adam und Christus hingegen steht bei der Gleichzeitigkeit , mit der das Geistige und Sinnliche ins Dasein treten, das Sinnenleben von vornherein auch unter dem Form- Primat des Geistes. Da Gott Adam nämlich 99 vollkommen erschuf, war der Natur- Ordnung nach erst die lebendige Seele, die sich aus der Materie den Leib anpaßte; und diese Seele einte sich den Leib so, daß der Leib nicht in sich, sondern in ihr subsistieren sollte. Die Seele ist ja das Leben, in dem der lebendige Leib Bestand hat. Diese Anpassung des Leibes geht vom Geiste aus . .., der sich zu dessen Ziel macht und alle Glieder des Leibes zum Ganzen ordnet ...21 So wurde also durch die Weisheit des Schöpfers der Ordnung der Natur nach erst die Geistseele Adams erschaffen, sodann formte die Weisheit mittels des Geistes den Leib. “ Die Seele Adams war von vornherein eine der Zweitursachen, „ die kraft der ersten Ursache verursachen und wirken " 22. Diese Schöpfungs -Ordnung blieb auch bei der hypostatischen Einung der menschlichen Natur Christi mit der göttlichen Weisheit gewahrt. Denn diese nahm der Ordnung der Natur nach erst "9 die menschliche Geistseele in die Einung auf und dadurch (per consequens) die ganze menschliche Natur“ 23. 17 S 206, 1 (V2 120 ) : ‚Deus omnia simul creavit (Pred 18, 1 ) ; opera enim Omnipotentis non cadunt sub tempore seu mora. 18 S 206, 1 (V2 120 ) . 19 S 206, 1 (V2 120° ) ; vgl. die achte der christologischen Quästionen (unten S. 317) . 20 S 206, 1 (V2 120 ) . Das letzte dürfte sowohl von der Prädisposition des Embryo für die Geistbeseelung wie von dem schon bestehenden Leib- Seele- Verhältnis gelten ; vgl. ebd.: Intelligentia igitur in Adam adaptato sibi corpore fuit unita operi suo. 21 Vgl. die ausführliche Darstellung dieses Gedankens in De beryllo c. 18 (H 20 f.) . 22 S 206, 1 (V2 130b-va) ; zum letzten Zitat vgl. Liber de causis prop . 1 (Bardenhewer 163). 23 S 206, 1 (V2 120° ) ; vgl . oben S. 121 .

240

Zur cusanischen Mariologie

II. DIE JUNGFRAULICHE MUTTER JESU

In dem Schrifttum des Nikolaus von Kues, vor allem in den zahlreichen Fest predigten der vorbrixener Zeit, nimmt die Darstellung der Gnaden- und Tu gendvorzüge der Mutter Jesu einen beträchtlichen Raum ein. Hier sei nur das berücksichtigt, was in unmittelbarem Zusammenhang mit der Christologie steht. a ) Die Unbefleckte Empfängnis Mariens

Die cusanischen Predigten zeigen ein ernstliches Ringen und ein wachsendes Ver ständnis dieser Glaubenswahrheit, die erst Pius IX. im Jahre 1854 endgültig definierte 1

In Predigt 11 erklärt Nikolaus, vermutlich schon einige Jahre vor der Defini tion des Basler Konzils ?, an einem Fest Mariä Geburt noch mit merklicher

Zurückhaltung, nach dem derzeitigen Kult der Kirche, die (am 8. Dezember) die Empfängnis Mariens feiere3, habe Maria nie die Erbsünde oder eine persönliche Sünde gehabt; sie sei also schon im Mutterschoße sehr heilig gewesen. Er be merkt jedoch auch, daß dem viele Gründe entgegenständen. Gegenüber dem, was Johannes von Damaskus über eine wunderbare Empfängnis Mariens berichtet, die auf Gebet und Versprechungen hin erfolgt sei, hält er an der natürlichen Empfängnisweise fest 5. Im Vergleich damit stellen die Darlegungen in Predigt 158 ( 1454) eine be

deutend positivere und tiefergehende Erklärung dar. Cusanus fußt dort gleich sam auf dem „ Mariologischen Prinzip “ – er legt es in dem Dialog „Uber die Heimsuchung “ Maria selbst in den Mund - : „ Da mich Gott vor aller Zeit zur Mutter seines Sohnes erwählte, stattete Er mich in seiner Barmherzigkeit auch mit allem aus, was sich für die Mutter der Weisheit des Vaters' ziemte. Er ließ

es nicht zu, daß mir irgend etwas an Gnade und Segnung fehlte. “ 6 1 D 1641 .

? Nach Koch (Untersuchungen 56) wurde diese Predigt spätestens am 8. 9. 1438 gehalten. Die Definition durch das damals schismatische Basler Konzil erfolgte am 17. 9. 1439. Sie wurde vor allem durch Joh. von Segovia gegen Joh. von Torquemada durchgesetzt; vgl. Joh. Haller , Concilium Basiliense , Basel 1896 ff ., I 24 f.

3 Im Jahre 1445 nahm Joh. Wenck in sein Predigtwerk „Memoriale_divinorum officiorum (vgl. Verf., Studien 75 f .) auch eine Predigt zum Feste „der Empfängnis Mariens “ auf. Darin heißt es (Cod. Vat. Pal. 486, 8 *): Antiqua autem controversia de celebritate hac determinata et decisa est per Sacrum Basiliense concilium in publica sessione ... sub hoc tenore : ,Renovantes institutionem de celebranda Mariae conceptione sancta, quae iam per Romanam Ecclesiam VI . Id . Dec. antiqua et laudabili consuetudine est observata ... 4 S 11 (C 39', 28 f . ) .

5 S 11 ( C 39', 22—24 ); Joh. von Damaskus, De fide orthodoxa IV, 14 (PG 94, 1157 B ; 9. Brevier-Lesung zum Feste des hl. Joachim );; vgl . die 2. Predigt zum Feste Mariä Geburt, bes. n. 5 (PG 96, 685 B C ) . In einem Nachtrag zu S 285 (V2 277**) zitiert Niko laus die Historia Lombardica ( = Summa aurea des Jacobus de Voragine) für dieselbe

Ansicht und sucht dieser auch ein Argument für die Unbefleckte Empfängnis Mariens abzugewinnen .

De visitatione (P 4 ') ; vgl. S 158 (V2 57v ): Praeordinata ante saecula ... concepta est, ut dignum ad hoc tabernaculum fieret; ... humana natura Virginis digna facta est ab initio ; D. Ign. III, 5 (H 134 , 27 – 135, 2) . 16 Haubst, Nikolaus v . Kucs

241

Immaculata Die menschliche Natur der Jungfrau, so führt Predigt 158 aus, bedurfte zu Anfang eines Befreiers (liberatore) , da sie auf dem Wege der Fortpflanzung von Adam abstammte. Denn „alle sterben in Adam, aber in Christus werden alle belebt" ( 1 Kor 15 , 22). Doch ihre Geistseele wurde auch schon 99 während ihrer Erschaffung geheiligt, so daß man zu keiner Zeit hätte sagen können, die Jungfrau sei in Sünde gewesen. Dem Augenblick ihres Werdens (instans naturae) nach war sie von Adam her wie alle der Gnade bedürftig. Sie erlangte diese, sobald sie konnte. "7 Ìnsoweit stimmt Cusanus bereits mit der Definition Pius ' IX. überein. Er hält es jedoch noch für nötig, das Gesagte auch mit seinen biologischen Vorstellungen in Einklang zu bringen. So fährt er fort: „ Sie konnte das allerdings nicht eher, als sie dazu fähig war, d. h. erst nach Eingießung der Geistseele, die allein für die Gnade aufnahmefähig ist. Die Gnade war also da , sobald sie dazu aufnahmefähig war. So war sie wie alle der Naturordnung nach früher , aus Adam' , erlangte aber früher als alle andern die Gnade. Denn Johannes der Täufer und Jeremias, die im Mutterschoße geheiligt wurden, hätten schon früher geheiligt werden können, die Jungfrau aber nicht, Sie war also zu keiner irgendwie wahrnehmbaren Zeit in Sünde. “ » Cusanus hält auch dafür, daß Maria bei der Eingießung ihrer Seele in die von Adam überkommene Erbmasse auch schon durch das Licht der „ Sonne der Gerechtigkeit" (Mal 4 , 2) von allen Schatten und Folgen der Erbsünde befreit wurde. Wenn nämlich bei den andern Menschen der Herd der Begierlichkeit nach Erlangung der Gnade zurückbleibt, so hatte auch niemand wie sie die Fülle der Gnade, die der Gruß des Engels (Lk 1 , 28) bei ihr bezeugt. Dieser Gruß soll allerdings nicht sagen, Maria sei voll der (ungeschaffenen) Gnade, die der Herr ist, wohl aber, daß sie „ voll sei der Gnade, welche die Gegenwart des Herrn bewirkt, der die absolute (Gnaden-) Fülle ist “ 10. Durch diese wurde die glorreiche Jungfrau ihrer ganzen Natur nach von der Knechtschaft der vernunftwidrigen, empörerischen Neigungen die noch in den Gliedern eines heiligen Paulus verblieb - befreit. So wurde Maria, wie Cusanus zusammenfassend sagt, schon bei ihrer Empfängnis in allem auf die Würde ihrer Gottesmutterschaft vorbereitet ¹¹ . Eine „ Reinigung “ war deshalb bei ihr nicht erst nötig. Sie war vielmehr von Anfang an im vollen Besitz der Gnade 12. Predigt 252 ergänzt dazu vor allem noch diese Gedanken : „ Es gereicht dem Sohne Gottes zur Ehre, daß auch seine Mutter, die , in Adam gestorben' war, von

7S 158 (V2 57ª) . 8 Vgl. oben S. 238. Die Bulla dogmatica (, Ineffabilis Deus') Pius' IX. läßt die Unterscheidung zwischen ,primum atque alterum conceptionis instans ' nicht mehr zu ; vgl. die 5. Lesung des Breviers vom 12. Dezember. S 158 (V2 57a). Vor der Erlangung der Geistseele konnte auch kein Zustand der Sünde herrschen ; vgl . oben S. 68 f. 10 Vgl. Thom. v. A q., S. theol . III q . 7 , a. 10 c. und ad 1 . 11 S 158 (V2 57b- 58 ) ; vgl . S 50 (V₁ 48™ª) . 12 S 158 (V1 58va) ; vgl . S 125 (V2 33b) sowie S 23 (V1 84 ) , wo dargelegt wird, daß die Reinigung in den Vorfahren erfolgte. Maria wird dort der ,gradus purgatissimus adeo quidem altus, quod ipsa est gratia plena' zugeschrieben. 242

Die jungfräuliche Mutter Ihm das Leben des Geistes erhielt. “ 13 Der Kardinal läßt Maria dort sprechen :

, Wenn ich auch wie die andern wegen der Ursprungs- Sünde meiner (Stamm-) Eltern so empfangen wurde, daß der Satan von mir hätte Besitz ergreifen dür fen, so kam mir doch jener zuvor, der mich schuf, der Herr, mein Gott. Er besaß mich von Anfang an. “ 14 b) Die jungfräuliche Mutterschaft Mariens

Nachdem Cusanus in der Docta Ignorantia die „ ersatz -väterliche“ Wirksamkeit des Dreieinen Gottes beim Inkarnationsakt als notwendig begründet und erklärt hat, wendet er sich den Motiven für die einzigartig begnadete Jungfräulichkeit Mariens zu.

Er betont, daß die Würde der Gottesmutterschaft schon eine Tugendvollkom menheit und eine besondere Segnung voraussetzte, durch die Maria die Reinheit aller Jungfrauen und die Fruchtbarkeit aller Mütter übertraf. „Wäre sie nämlich nicht die Heiligste und vom Herrn überaus Gesegnete gewesen, wie wäre sie je das heilige Gefäß geworden , in dem der Heilige Geist dem Sohne Gottes seinen Leib bereitete ? “ Vor allem durfte sich an ihr, die in allem auf diese eine erhabene jungfräuliche Geburt hingeordnet (praeordinata) war, nichts finden , was der

Reinheit oder der Vollkraft und Einzigkeit einer solchen Geburt widersprochen hätte 15.

„ Wäre sie nämlich nicht die auserlesenste Jungfrau gewesen, wie wäre sie für die jungfräuliche Geburt 16, die ohne männlichen Samen erfolgen sollte, geeignet gewesen ? 17 ... Wäre sie nach der Geburt nicht Jungfrau geblieben “, so bedeu tete das, daß sie zuvor „ der erhabensten Geburt nicht in strahlender höchster Vollendung das Letzte an mütterlicher Fruchtbarkeit mitgegeben hätte, sondern nur einen Teil , etwas Gemindertes, nicht das, was dem großen, einzigen und höchsten Kinde gebührte. Hat sich demnach die heiligste Jungfrau Gott ganz

dargebracht, indem sie Ihm unter der Wirksamkeit des Heiligen Geistes die gesamte Fruchtbarkeit ihrer Natur erschöpfend widmete, so blieb ihre unver sehrte Jungfräulichkeit vor, in und nach der Geburt in einer über alle natür liche Zeugung erhabenen Weise unversehrt. “ 18

13 S 252 (V2 19516). 14 S 252 (V2 195*") ; zum letzten vgl. Spr. 8, 22. 15 Das legt den Gedanken der Unbefleckten Empfängnis nahe; aber die Möglichkeit einer „zweiten Reinigung “ vor der Empfängnis wird hier noch nicht eindeutig ausge schlossen. Jedenfalls zeigt sich hier eine Weiterentwicklung gegenüber S 6 (C 25', 47): Pen sanda sunt haec, quomodo hoc tabernaculum, Virginem scilicet beatam , tunc in con ceptione Christi!) sanctificavit uberrime. In der Docta Ignorantia scheint die „ zweite Heiligung Mariens“ zumindest vorverlegt (vgl. Mitterer 46—50) .

16 Gemeint ist die Empfängnis ;vgl. S 6 (C 25', 31 ) : Sciendum, quod illa (nativitas) est 9

duplex, scilicet in Virgine et ex Virgine; vgl. Albertus M., De incarnatione, De sanctificatione in utero , n. 11 (f. 45'*) : Duplex est nativitas, scilicet in utero, quae dicitur formatio ... , alia ... dicitur ex utero .

11 Vgl. S 11 (C 39", 40) : Corpus Christi ex Virgine operatione supernaturali fuit per fectissimum ; Thom. v. A q., S. theol. III q . 32, a . 4 c.: Ante conceptionem aliquid active (operata est) praeparando materiam , ut esset apta conceptui. Von Joh. Capreolus werden diese Worte wiederholt (Defensiones III d. 4, q. 1, concl. 1 : V 41). 15 D. Ign. III , 5 (H 134, 24 — 135, 10) . Zu dieser dreifachen Jungfräulichkeit vgl. bes. 16*

243

Die Mutterschaft Mariens

Die cusanischen Predigten heben in dem Bilde der jungfräulichen Mutter ins besondere folgende Züge hervor: 1. In Maria wurde die reinste Jungfräulichkeit, wie sie nur infolge der Unbe fleckten Empfängnis möglich war, mit der höchsten mütterlichen Fruchtbarkeit gesegnet 19. Bei ihr fallen Jungfräulichkeit und Mutterschaft, beide in ihrer höch

sten Vollendung, zusammen 20.

2. Vor ihrer leiblichen Mutterschaft hatte Maria das Wort schon geistig emp fangen, und zwar durch den Glauben 21. Dieser Glaube an den kommenden Er löser gelangte in der Geburt des Sohnes Gottes an sein Ziel 22. Cusanus läßt die Mutter Jesu erklären : „ Ich trug zu diesem wunderbaren Geheimnis nichts bei als durch den Glauben . “ 23 Die im Glauben erlangte Fruchtbarkeit Mariens ist ähn lich der des ewigen Vaters bei der Zeugung des Sohnes 24. 3. Die leibliche Empfängnis Christi wurde ausschließlich von Gott gewirkt.

Der Heilige Geist – Ihm wird diese Wirksamkeit meist zugeeignet – bildete aus dem reinsten Geblüte der Jungfrau 25 den Leib Christi, und zwar sogleich schon mit „ gestalthaften Gliedern“ 26, beseelte ihn und nahm ihn zugleich auf in die hypostatische Einung. So ging Substanz aus dem Fleische Mariens in die Einung mit der Seele Jesu wie auch die Seele in die Einung mit dem Worte über. 27 Maria bot dazu physiologisch die „ menschliche Erbmasse “ dar 28. 4. Wiederholt bricht sich bei Cusanus der Gedanke der bräutlichen Mutter schaft Bahn. Maria wurde als die glorreiche Braut des Sohnes Gottes, des ewigen Logos, seine irdische Mutter. Die ewige Weisheit wob sich in ihr den mensch lichen Leib 29.

5. Der Nähr- und Treumutterschaft Mariens schenkt Nikolaus häufig Beach tung. Zur ersten führt Predigt 6 aus : Da Christus schon von dem ersten Augen blick der Empfängnis an bei aller Kleinheit des leiblichen Organismus ein , voll Conc. Lat. 649 (D 256) . Zur virginitas in partu s. S 6 (C 22', 2) sowie unten S. 325, Z. 27 f. (These , arg. III) .

19 Vgl. noch 58 (V1 112" ), De visitatione (P 4 ") ; S 271 n. 34 (H 154) : Haec petra ex terra nata est , ex terra inculta virginea.

20 S 23 (V1 84" ): Tam excellens est virginitas in altitudine gratiae, quod in ipsa coinci dit fecunditas ... Est summa fecunditas. S 125 (V2 3476) : Nota coincidentiam, quia mater et virgo! Vgl. S 272 (V2 238 **). 21 Š 61 (V1 122 ): Conceptio Christi ex fide ... Christus fuit prius conceptus in anima Mariae, ut ipsa renata in Spiritu.

22 S 272 (V2 239'a) : Fides in Virgine Maria terminabatur in generatione Filii Dei ; ebd .: Mater fidei.

23 De visitatione (P 5') ; vgl. S 87 (V2 16"") . 24 S 125 ( V2 34 "') : Quomodo Virgo gloriosa fide concepit Filium, et quomodo haec

generatio est similis generationi divinae, ubi tanta est fecunditas Patris, quod ipsa fecunditas ex se ipsa generat ; sic fecunditas in Virgine. Vgl. S 59 (V1 67 "b) : Illud semen (Christus) sola fide concipi debuit sine adminiculo naturae.

25 Vgl. z. B. S 40 (Vi 731*): de purissimis sanguinibus Virginis sanctissimae atque castissimae; S 256 (V2 202" ): Spiritus Sanctus deferens Verbum Dei ... purum virginei lesum formavit in Maria ; unten fontis sanguinem coagulavit et Verbo Dei immisso -). 26 S 236 (V2 164 "b_va S. 326 ( These, arg . IV). 27 S 236 (V2 164" ); vgl. S 283 (V2 277“ ). 28 Vgl. oben S. 234 238 .

29 S 223 (V2 1496): Neque alius fuit sponsus animae suae quam Filius uteri sui. Der Erzengel Gabriel wird dort als paranymphus (Brautführer) bezeichnet; vgl. S 115 (V2 254), S 125 (V2 34 " ), S 240 (V: 1599 ). 244

Theotokos

kommener Mensch" war 30, 99 war Er länger im Mutterschoße als irgendein Mensch. So empfing Er auch von seiner Mutter mehr Nahrung als die übrigen, weil Er länger bei ihr war und von geringerer Größe zu wachsen begann. " 31 Deshalb ist Er auch seiner Mutter leiblich enger verbunden als andere Menschen. Zwischen beiden besteht eine besondere Konsubstantialität “ 32. Im Hinblick auf ihre treumütterliche Sorge und die „Werke der Barmherzigkeit “ , die sie in vorbildlicher Weise an ihrem Kinde übte, wird Maria von Cusanus auch als „ Martha" bezeichnet 33. Um seine Mutter zu ehren, bemerkt Nikolaus gelegentlich, nannte sich Christus selbst „Menschensohn “ 34. Dieser Titel bringt die jungfräuliche Geburt zum Ausdruck wie auch, daß Er nicht diesem oder jenem irdischen Vater dieses oder jenes Volkes angehöre und für die ganze Menschheit gekommen ist 35. Der höchste Ehrentitel der Mutter Jesu, der von dem Dialog „ Über die Heimsuchung" an 36 oft in griechischer Sprache auftaucht, ist : Gottesgebärerin (Theotokos) . Der Kardinal erklärt ihn : „ Sie wird Theotokos genannt, denn der Sohn des Vaters in der Ewigkeit ist kein anderer als der Sohn der Mutter in der Zeit . Vielmehr ist der in der Ewigkeit Geborene (auch) in der Zeit geboren. " 37 Die Leugnung dieses Titels durch Nestorius beruhte auf einer Umdeutung der hypostatischen Einung. Deshalb wurde Nestorius in Ephesus und Chalkedon verurteilt und der Name Theotokos durch beide Konzilien anerkannt. So führt Cusanus in der Cribratio Alchoran aus 38. Dem Sultan von Bagdad hält er es in dieser Schrift als Abtrünnigkeit vor, daß er dereinst geglaubt habe, daß Maria, die Mutter Jesu, die Theotokos , d . h. die Gottesgebärerin sei, und nun nur noch, sie sei die Mutter Christi, aber nicht Gottes “ . Auch als den Beherrscher des früheren oströmischen Reiches fordert ihn der Kardinal auf, zur Tradition der Kaiser Theodosius und Markian zurückzukehren , die in Ephesus und Chalkedon für die Ehre Mariens eintraten 39. Für die jungfräuliche Geburt Christi beruft sich Nikolaus dem Islam gegenüber darauf, daß auch der Koran Maria als glänzender denn alle Männer und Frauen bezeichne 40 und daß Christus „ nach dessen Zeugnis von der jungfräu-

31 Zu Thomas vgl . Mitterer 74-77. 30 Vgl. oben S. 239. 32 S 6 (C 25 , 40-43) . Die Betonung der Nährmutterschaft Mariens entspricht der franziskanischen Tradition (Alexander von Hales, Bonaventura, Duns Skotus) , die sich auf Galen stützte und gegen Aristoteles, Albert und Thomas stärker die Aktivität der Mutterschaft hervorhob (Baudoux 460) . 33 S 5 (C 54 , 4—6) , S 10 (C 48 ' , 34-47 ) , S 62 (V₁ 129a-b) ; vgl . Bernardus , In assumptione B. Mariae Virginis , sermo 3 n. 9 (PL 183 , 421 A B : Nemo ergo moveat, quod suscipiens mulier Dominum non Maria, sed Martha vocatur (Lc 10, 38), quando in hac una et summa Maria Marthae negotium et Mariae non otiosum otium invenitur. 34 S 275 (V2 247 ) ; vgl. De visitatione (P 6 ') : cum sim mater filii hominis et Dei. S 160 (V2 59 ) erklärt Cusanus das biblische ,mater eius' (Joh 19, 25) : secundum Origenem Dei et hominis. 35 S 61 (V₁ 123b) ; De visitatione (P 6") . Über Jesus als „ Sohn Davids “ und seine leibliche Herkunft aus dem Judenvolke siehe z . B. S 141 (V2 41 ) , S 252 (2 195—196 ™ ) . 36 De visitatione (P 6 ) . 87 S 160 (V2 59rb-va). Zur Worterklärung siehe z. B. S 62 (V₁ 127 ) : theotokos, id est Deum pariens. 39 Cribr. III, 17 ( P 149") . 40 Cribr. I, 12 (P 130') . 38 Vgl. oben S. 207. 245

Astrologische Konjekturen"

lichen Mutter Maria, die nie Böses tat, ohne männlichen Samen und Begierlich keit des Fleisches in überaus reiner Weise geboren sei“ 41.

Auf den Einwand : „ Die Art und Weise der Geburt Jesu Christi aus der Jungfrau ist nicht einzusehen “, erwidert er :

„ Die Art und Weise der Menschwerdung des Wortes geht über den mensch lichen Verstand hinaus. Da aber das Evangelium das Wort als fleischgeworden bezeichnet, so mußt du das freilich glauben, sofern du dem Evangelium glaubst. Und das genügt, wenn du glaubst, daß sie die Mutter Christi ist und daß Chri stus, das Wort Gottes, in der Jungfrau auf die Weise Fleisch geworden ist, in der Gott das wirkte . “ 42

Merkwürdig berührt uns heute der Ballast, den Cusanus aus der mittelalter lichen Astrologie 43 durch einige Predigten mitschleppt. So sagt er in Predigt 8, in der Sehnsucht nach dem Erlöser hätten einige, wie der Araber Messalaha (!) und andere, astrologisch davon geschrieben, daß der Sohn Gottes von einer Jung frau Fleisch annehmen und geboren werden müsse, so daß sowohl die Inkar nation wie die künftige Geburt über den gewohnten Lauf der Natur hinaus

ragten“ . Danach wird der Spruch zitiert : „Beim ersten Erscheinen der Jungfrau steigt eine Jungfrau herauf, die einen Knaben nährt. “ 44 Cusanus fügt hinzu : „ Andere erkannten das aus anderen Konstellationen, wie Ovid, Über die Vettel', ausführt usw.“ 45 In Predigt 15 werden Messalha ( ! ) und Albumasar von dem eine ähnliche Weissagung herrührt 46 – nebeneinander erwähnt 47.

Später spricht Cusanus nochmals von Messala, und zwar sagt er da, wie Mes sala berichte ( ! ), hätten die Weisen aus dem Morgenlande im ersten Dekan der Jungfrau eine Konstellation gesehen , die eine Jungfrau vorbedeutete, die einen Knaben nährte, der als König der Könige der Erde angebetet würde 48

Mit dieser letzten Angabe stimmt überein, was Predigt 214 sagt 49. Demnach scheint es, daß der Messala- ,Bericht“ von der astrologischen Voraussage des Albumasar zu unterscheiden ist 50.

An der letztgenannten Stelle hat sich der Kardinal übrigens ausdrücklich von allen astrologischen „Konjekturen“ distanziert 51, ohne die besondere Bedeutung des Sterns von Bethlehem für die Magier leugnen zu wollen 52

41 Cribr. II, 17 (P 140"); vgl. De pace fidei c. 14 (P 120"). Hölscher (310 Anm . 8) führt dafür fünf Koran - Stellen an. 42 Cribr. III , 17 ( P 149' ) . 43 Vgl. oben S. 90.

44 Puerum ablactans. Das wurde bisher verschiedentlich mit einen Knaben entwöh

nend “ übersetzt; vgl.jedoch S 115 ( V: 25 **): Vita Verbi est conservata ablactatione Vir 45 S 8 (C 29'. 44—47) ; Ps. -Ovid , De vetula, ed. Wolfenbüttel 1702. 46 Vgl. Koch , Vier Predigten 86. Ps. - Albertus (Speculum astronomiae c. 12: B. 10, 644) zitiert als Albumasar -Spruch: Puella virgo nutrit puerum, quam vocant Cel

ginis.

chuis dorodal.

47 S 15 (C 24 ', 8 f. ) . 49 S 214 n . 2 (H 86) .

48 S 164 (V2 67" ). 50 Anders : Koch , Vier Predigten 86 Anm.

51 Vgl. Albertus M., S. theol. III , tr. 11 , q. 61 (B. 32, 593):Sunt vituperandi, qui hoc (dictum Albumasar) adducunt pro testimonio. Dieser Stelle entnimmt B.Geyer ein entscheidendes Argument dafür, daß das Speculum astronomiae nicht von Albert verfaßt ist (Münchner Theol. Zeitschr. 4, 1953, 100 f.). 52 S 214 n. 3 (H 86) : Sed nos istas coniecturas non curemus attendentes magos esse ductos signo visibili, quod praecedebat eos in forma stellae. 9.11

Die ewige und die zeitliche Geburt Christi III. DIE ZWEIFACHE GEBURT UND DIE FRAGE DER ADOPTIVSOHNSCHAFT CHRISTI

1. Die Docta Ignorantia beschließt ihre Ausführungen über die Empfängnis

Christi vom Heiligen Geiste und seine Geburt aus Maria der Jungfrau mit der Gegenüberstellung: „Aus dem ewigen Vater und aus einer zeitlichen Mutter, der glorreichsten Jungfrau Maria, ist Jesus Christus somit als Gott und als Mensch

geboren ... Er konnte nämlich von seiner jungfräulichen Mutter her nur in zeit gebundener Weise (temporaliter) Mensch sein, während Er von Gott dem Vater

her nur nach Art der Ewigkeit (aeternaliter) sein konnte.“ 1 Hier greift Cusanus von dem Gedanken der „ Ersatz -Vaterschaft “ Gottes bei der zeitlichen Geburt Christi auf die ewige Geburt aus dem Vater zurück. Chri

stus besitzt nämlich die göttliche und die menschliche Natur auf Grund der zwei fachen Geburt „aus dem größtmöglichen Vater, der die absolute Fülle ist, und aus einer Mutter von höchster jungfräulicher Fruchtbarkeit, die mit himmlischem Segen erfüllt war in der Fülle der Zeit“ 2.

Ähnliche Gegenüberstellungen der ersten und zweiten oder der ewigen und zeitlichen Geburt waren schon den Kirchenvätern , z. B. Irenäus, Laktanz, Augu stinus, Vigilius von Tapsus, Leo d. Gr., Fulgentius, Cyrill von Alexandrien und Johannes von Damaskus, vertraut 3.

Nikolaus von Kues hebt, von der mittelalterlichen Erweiterung zu dem Thema der dreifachen Geburt abgesehen, öfters die gegensätzlichen Attribute der ewigen und zeitlichen Geburt hervor . Mitunter spricht er auch von der Wiedergeburt“

Christi, um die Notwendigkeit der Wiedergeburt für den erlösungsbedürftigen Menschen davon abzuleiten . Die Docta Ignorantia betont insbesondere, daß Christus auf Grund seiner zeitlichen Geburt “ auch dem Tode und der zeitlichen

Trennung von Leib und Seele unterworfen war 6, daß Ihn aber die Zeitlichkeit, wie die baldige Auferstehung zeige, nicht ganz ergreifen konnte 7. 2. In den Predigten bemerkt Cusanus verschiedentlich , daß Jesus sowohl der Sohn Gottes wie der Sohn Mariens ist . Die Schrift „ Uber das Sehen Gottes “ 1 D. Ign. III, 5 (H 135 , 11–16 ).

2 D. Ign. III, 5 ( H 135, 12-14 ).

3 Vgl. oben S. 35; ferner zu Laktanz : Div. Instit. IV, 9, 14 (CSÉL 19, 301 ) , zu Vigilius von Tapsus : Contra Felicianum Arianum c. 11 (PL42, 1165), zu Leo d . Gr.: Ep. 28 ( Tomus ad Flavianum) c. 2 (D 144) ; In nativitate Domini, sermo 2,

c. 2 (PL 54, 195 A ). Zu Joh. von Damaskus s. die von Thom. v. A q., S. theol. III q. 35 , a . 2 angeführten Stellen.

4 S 125 (V2 34°*) : Vide, quomodo se habent contrario modo istae generationes, sicut caelum et terra : una est caelestis, alia est terrestris ; vgl. S 164 (V2 665) , S 165 (V2 70 ' ), S 174 (V2 81 " ). S 58 (V1 112lb) bemerkt Cusanus zu Joh. 6, 42, daß die Juden die Gottes sohnschaft nicht mit der von ihnen angenommenen gewöhnlichen menschlichen Abstam mung in Einklang bringen konnten.

5 De visitatione (P 5') : Natus ante saecula ... denuo in me conceptus est ex me nasci dignatus filius hominis, ut homo natus ... renascatur filius Dei ; vgl. S 61 ( V1 123 ") ; S 70 (V2 1876) : Sicut Christus venit in mundum, quando denuo natus est Filius Patris in utero matris, ita oportet te denuo nasci spiritu per renascentiam baptismalem fidei.– Cribr. I, 15 (P 131 ) bemerkt Cusanus , schon Michäas spreche von einer zweifachen Ge burt Christi , der zeitlichen in Bethlehem und der ewigen (Mich 5 , 1 ) . 6 D. Ign. III , 7 ( H 140, 21—23 ) . 7 D. Ign. III , 8 ( H 143, 20—23) .

8 z. B. S 40, 2 (V1 72% ), S 259 (V 209**) . 247

Die zweifache Geburt und die „ Adoptivsohnschaft “ Christi geht in ihrer Weise auch auf die subtilere scholastische Frage ein, ob die zwei zu Gott dem fache Geburt auch eine zweifache reale Relation der Sohnschaft

Vater und der leiblichen Mutter – mit sich bringe 9. In dem dortigen Kapitel 19 heißt es : „ In Dir, o Jesus, ist die menschliche Sohn schaft, die darin besteht, daß Du der Menschensohn bist, der Gottessohnschaft in

höchster Weise geeint, so daß Du zu Recht Gottes- und Menschensohn genannt wirst. Denn in Dir liegt nichts (nihil mediat) zwischen dem Menschensohn und dem Gottessohn. In der absoluten Sohnschaft, die Gottes Sohn ist, ist alle Sohn

schaft eingefaltet 10. Ihr ist Deine menschliche Sohnschaft, o Jesus, aufs höchste geeint 11. So subsistiert Deine menschliche Sohnschaft also in der göttlichen , und

zwar nicht nur eingefaltet (complicite) , sondern wie das Angezogene im An ziehenden, wie das Geeinte im Einenden und das Subsistierte im Subsistenz gebenden 12. Daher ist bei Dir keine Trennung des Menschensohnes vom Gottes sohne möglich ... So sehe ich in Dir, mein Jesus, wie die menschliche Sohnschaft, auf Grund deren Du der Menschensohn bist, in der Gottessohnschaft, durch die •

Du Gottes Sohn bist, subsistiert. “ 13

Das folgende Kapitel faßt deutlicher die personale Identität von Gottes- und Menschensohn ins Auge und führt zur trinitarisch -relationalen Einwohnung des Vaters im Sohne hin : „ In Dir, Jesus, dem Menschensohne, sehe ich den Gottes sohn und in Dir als dem Sohne Gottes den Vater. Den Sohn Gottes aber sehe ich

in Dir als dem Menschensohne, weil Du so Menschensohn bist, daß Du auch Gottes Sohn bist. “ 14

Die auffallendste Besonderheit dieser Betrachtungsweise besteht in der Art, wie hier die Erörterung der menschlichen Sohnschaft Christi in die der hyposta tischen Einung hineingenommen ist. Ja die Menschensohnschaft Christi wird sach

lich mit der Subsistenz der menschlichen Natur Christi im Worte gleichgesetzt. Das ist so zu verstehen, daß sie zustande kam, indem das Wort aus Maria der Jungfrau die menschliche Natur annahm. So besteht sie auch in dem Angenom mensein der menschlichen Natur aus Maria der Jungfrau durch das Wort. 9 Die diesbezüglichen scholastischen Quästionen lauten gewöhnlich: Utrum in Christo sint duae filiationes (z. B. Thom. v. A q.,In Sent. III d . 8 , a. 5 ; S. theol. III q. 35, aa.. 5).

Die zweifache Sohnschaft lehren z. B. schon die von Robert von Melun abhängigen Quaestiones super Epistulas Pauli q . 8 : Habet itaque duas nativitates, duas generationes, duas filiationes, aeternam et temporalem (PL 175, 434 B) . Zur franziskanischen Tra dition, die um die Mitte des 13. Jahrhunderts von der Annahme einer mera relatio

rationis bei der menschlichen Sohnschaft zu der einer realen relatio filiationis ūberging, vgl . E. Longpré , De b . Virginis maternitate et relatione ad Christum : Antonianum 7

( 1932) 289—313. Longpré führt Näheres zu John Peckham , Wilh. von Ware und Wilh. von Nottingham aus. Zu Duns Skotus vgl. Minges , Beitrag 390 f. 10 Das ist vor allem im urbildlichen Sinne zu verstehen ; vgl. Anm. 11 sowie Eph 3, 15 : In quo (Patre) omnis paternitas in caelo et in terra nominatur. 11 Vgl. De visione Dei c. 20 (P 110') : Video in te, le filiationem divinam , quae est veritas omnis filiationis, et pariter altissimam humanam filiationem , quae est pro pinquissima imago absolutae filiationis ... cuius est imago. 12 substantiatum in substantiante. 13 De visione Dei c. 19 ( P 109 ).

14 De visione Dei c. 20 ( P 110 '). Zum letzten vgl. S 199 (V1 1187 ): Sic est Dei Filius, quod et hominis; S 274 (V2 244" ) und Cribr. III, 14 (P 148") : sic filius hominis, quod et Filius Dei . 248

Christus : Gottes- und Menschensohn

In diesem Sinne spricht Nikolaus später 15 auch von der Koinzidenz der Gottes und Menschen - Sohnschaft Christi in einer einzigen Sohnschaft. Das scheint fürs

erste mit der thomistischen Lehre von der einen Sohnschaft in Christus 16 über einzustimmen . Cusanus versteht jedoch

mit der Franziskanerschule von der

Mitte des 19. Jahrhunderts an – auch die menschliche Sohnschaft in Christus

real 17, und zwar ohne auf das von Thomas herangezogene Prinzip einzugehen , daß die Sohnschaft eine Personeigentümlichkeit bilde 18. Dabei hält auch er wie Thomas eine reale Determination der göttlichen Personalität des Wortes durch die menschliche Sohnschaft Christi für ausgeschlossen. Er scheint eine solche aber auch nicht als erforderlich anzusehen, da ja auch die hypostatische Einung ohne

solche erfolgte und die Subsistenz der Menschheit im Worte dennoch real ist. Eine zweite Besonderheit liegt in der cusanischen Manuduktionsmethode be gründet. Dem angeführten Text geht nämlich der nestorianisch anmutende Satz voraus : „ Ich sehe Jesus, den gepriesenen Menschensohn, Deinem Sohne aufs 6

höchste geeint. “ 19 Dieser Satz wird im folgenden erklärt, und zwar im Sinne der hypostatischen Einung. Im Grunde ist es das „ Maximitätsprinzip “ , mit dessen Hilfe der Kardinal hier über den Mittelbegriff der höchsten Einung zu dem der hypostatischen Einung von „Gottessohn“ und „ Menschensohn “ hinführt. 3. Wenig später knüpft Nikolaus im 12. Kapitel von De pace fidei bei den vorbereitenden Überlegungen zum dortigen „ Maximitätsbeweis “ 20 auch an die nestorianische Vorstellung der Adoptivsohnschaft Christi an. Dabei führt er aus : 2

„ Angenommen, es gäbe eine ungezeugte und eine gezeugte absolute Königs gewalt und die ungezeugte beriefe einen von fremder Herkunft zur Teilnahme an der Thronfolge der gezeugten von gleicher Natur, so daß die fremde Natur in Einung mit der eigenen zugleich und ungeteilt die Königsherrschaft besäße:

laufen dann nicht die natürliche Thronfolge und die gnadenhafte oder adoptive in (dem Besitz) einer Erbschaft zusammen? ... So vereinen sich auch in der einen Thronfolge des einen Königtums Sohnschaft und Adoption. " Es fragt sich nun, wie sich Cusanus bei Christus diese Vereinigung denkt. Er gibt zunächst folgende Erklärung, die das, was wir in De visione Dei über die Subsistenz der menschlichen Sohnschaft in der göttlichen hörten, auf die Adop tion“ Christi überträgt:

15 S 256 (V2 202'"). 16 Siehe die oben Anm. 9 angegebenen Stellen. 17 Vgl. noch unten S. 251 f. 18 In Sent. III d. 8 , a. 5, contra (III 292) ; vgl . S. theol. III q. 35, a. 5 c.; q. 23, a. 4 c. S. theol . III q.35 , a. 5 c. gibt Thomas zu : Quantum ad aliquid utraque opinio verum dicit. Nam si attendamus ad perfectas rationes filiationis, oportet dicere duas filiationes secundum dualitatem nativitatum . 19 De visione Dei c. 19 ( P 109" ) . Vgl. oben S. 207 sowie folgende Angaben aus der

abendländischen Dogmengeschichte: Pelagius machte eine reale Unterscheidung zwischen Gottessohn und Menschensohn (De incarnatione VI, 14 : PL 50, 171 B) ; Gennadius von Massilia dagegen (De eccl. dogm . c. 2 : PL 42, 1144 ) lehrt deren Identität in dem einen Christus; P. Lombardus zitiert diese Stelle (Sent. III d. 1 , c. 1 : 552 ) ; das Konzil von Friaul ( 796) entschied: Unus idemque est Dei et hominis Filius (D 314 a) ; die Professio fidei Waldensibus praescripta enthält die Worte : ut qui erat in divinitate Dei Patris Filius ..., esset in humanitate hominis filius (D 422) .

20 Zum Zusammenhang vgl. oben S. 209 f. 249

Die zweifache Geburt und die „ Adoptivsohnschaft “ Christi

„Die Adoptiv - Thronfolge ist im genannten Falle) nicht in sich , sondern in der Sohnschafts- Thronfolge begründet (suppositatur). Soll nämlich die Adoption, die ihrer Natur 21 nach nicht die Thronfolge besagt, bei bestehender Sohnschaft

in der Herrschaft folgen, so kann sie nicht in sich, sondern nur in dem begründet sein, der der Natur nach nachfolgt. Erreicht die Adoption also nicht aus sich,

sondern auf Grund der Sohnschaft die Thronfolge so daß sie nur mit der Sohnschaft zusammen das höchst einfache und unteilbare Erbe erlangt –, so wird der Adoptiv - Thronfolger kein anderer als der natürliche sein, obwohl die Natur des Adoptierten eine andere als die des natürlichen Sohnes ist. Wäre nämlich der Adoptiv-Sohn getrennt und nicht mit dem natürlichen in ein und derselben Hypostase, wie träfen sie dann in der Thronfolge der unteilbaren Herrschaft in eins zusammen? “ 22

Der „ handleitende “ Charakter dieser Darlegung ist klar. Cusanus weiß, daß der hier herangezogene Vergleich „ ungenau “ ist, wie er im folgenden sagt. Sein

Ziel ist auch nicht eigentlich die Erörterung der Frage der Adoptiv -Sohnschaft Christi, sondern die Erkenntnis, „ daß die menschliche Natur in Christus so mit

dem Worte oder der göttlichen Natur geeint ist ..., daß sie nicht für sich getrennt besteht, sondern in der göttlichen getragen wird und personal subsistiert“ 23. Nehmen wir diese Ausführungen aber einmal als ein letztes Wort, so ist die

hier bezogene dogmengeschichtliche Position so zu umschreiben : Der Adoptianis mus des Photinus oder Nestorius soll hier durch einen Adoptianismus , im kumu lativen Sinne “ 24, der sowohl die Gottheit wie die hypostatische Einheit in Chri stus wahrt, aber doch die Adoption der menschlichen Natur lehrt, abgelöst und

überwunden werden. Thomas wies auch einen solchen Adoptianismus zurück durch sein Prinzip, daß Sohnschaft als solche ein Titel der Hypostase oder Person , nicht aber der Natur sei 25. Durandus vertrat ihn weiterhin 26, Duns Skotus neigte ihm zu 27.

21 der Herkunft des Adoptierten.

22 De pace fidei c. 12 ( P 118") . 23 Ebd. Dasselbe Ziel verfolgt auch S 199 (V2 11814–6): Si scientia philosophiae

aeterna esset et generaretur homo, qui omnem artem haberet philosophiae ..., tunc non esset alia ars aeterna et alia genita ; ... in aeterna natura artis philosophiae subsisteret temporalis natura hominis.

24 So Billot , De Verbo incarnato 277.

Durch das Konzil von Frankfurt ( 794)

wurde nur die zweifellos häretische Form des Adoptianismus verurteilt: (Christum ) non genere esse Filium Dei, sed adoptione, non natura, sed gratia (D 311). Der spätere Adop tianismus, wie ihn insbesondere Petrus Cantor vertrat, nach dem Christus als Mensch

Adoptivsohn Gottes, als Gott natürlicher Sohn Gottes“ ist (Landgraf II 2, 37–39) , ist davon zu unterscheiden. 25 S. theol . III q. 23, a. 4 c.

Schon die Quaestiones super Epistulas Pauli lehnen (q. 13 ) die Ansicht ab , Christus sei auch der Menschheit nach Sohn Gottes (PL 175, 435 A );

ähnlich Präpositin ( Haberl 38 ) . Die Ansicht des Alexander von Hales, nach dem Chri stus der Gottheit nach durch Zeugung, der menschlichen Natur nach durch Erschaffung und Gnade Gottes Sohn ist, wies Albert d . Gr. zurück mit der Begründung, daß das

Geborenwerden nicht von der Natur, sondern von der Hypostase ausgesagt wird (Haberl 34—39). 26 Ternus (Chalkedon III ) 122. Wilh. von Ockham folgte Durandus (Rohof 50). 27 Ternus a. a. 0. 122 f. Nach Minges (Scoti doctrina II 350) lehrte Skotus selbst allenfalls : Christum dici aliquo modo adoptatum , licet non filium adoptivum . Die Frage 250

Die „Koinzidenz von Natur und Gnade “ zu einer „einzigen Sohnschaft “

4. Die endgültige cusanische Ansicht kommt in den letzten Predigten zum Ausdruck. Sie umkreist gleichsam den Satz: In Christus fällt die gnadenhafte Gottes- Sohnschaft mit der natürlichen zu einer einzigen Sohnschaft zusammen .

Es ist jedoch näher zuzusehen , was er unter der „ einzigen Sohnschaft“ versteht. In Predigt 174 führt der Kardinal aus : In einem weiteren Sinne sind alle Menschen schon ihrer Natur nach Kinder Gottes. Dazu kommt die Kindschaft

in der Gnade. Im eigentlichsten Sinne ist nur Christus als der vollkommenste Abglanz des Vaters und das „ Ebenbild seines Wesens“ der Sohn 28. Alle Men schen partizipieren dementsprechend auch als Söhne des Vaters in verschiedener

Weise an dessen Liebe. Einer aber ist so sehr der „ geliebte Sohn “, daß der Vater an Ihm das höchste „Wohlgefallen hat“ (Mt 3, 17 ) , und zwar „ nicht nur derart, daß diese Liebe nicht größer werden könnte, sondern auch so, daß sie die Liebe (des Vaters) zu allen seinen Kindern in sich schließt (complicat) . Diese Gnade fällt mit der Natur zusammen. Fiele sie nämlich nicht mit der Natur des Vaters zusammen , so könnte sie größer sein ... “ 29 Dieser Gedankengang verläuft noch ähnlich dem in De pace fidei in der Rich tung eines Maximitätsbeweises von der höchsten gnadenhaften Sohnschaft zur natürlichen innerhalb der Heiligsten Dreieinigkeit hin 30. Dabei scheint die An nahme einer Adoptivkindschaft Christi hier darin aufzugehen , daß die durch die hypostatische Einung erlangte ungeschaffene Gnade der Gottheit die Quelle aller menschlichen Adoptivkindschaft ist. Predigt 256 spricht dann im Hinblick auf die Koinzidenz der Gnade mit der Natur ausdrücklich von einer „ einzigen Sohnschaft, auf Grund deren Jesus Got tes- und Menschensohn ist “ 31. Hier wird also auch der Gesichtspunkt, daß Jesus

der Sohn Mariens ist, mit in die Erörterung hineingezogen. Cusanus geht von folgendem aus:

„Die Kindschaft beruht entweder auf Gnade : so ist es bei den Adoptiv -Kin dern; oder nur auf der Natur : so ist es bei erzeugten Kindern ; oder auf Gnade und Natur zugleich: in solcher Weise ist Jesus Gottes- und Menschensohn. Er ist der wahre natürliche Sohn Gottes des Vaters, von dem Er erzeugt ist, und der wahre natürliche Sohn der jungfräulichen Mutter, von der Er geboren ist, und Er ist der Sohn Gottes und der Jungfrau zugleich auf Grund von Natur und Gnade zugleich .“ 32

dieses „Adoptianismus“ bezeichnet Minges als speculatio mere scholastica (351 ). Die „ Skotisten “, die ihn apodiktisch vertraten, konnten sich dabei mehr auf Durandus als auf Skotus berufen (Ternus 123 143 f . ) .

28 Vgl. Hebr 1 , 2 f.

29 S 174 (V2 81 ") ; vgl. S 162 (V2 63 *b): Gratia, quae est talis, quod non potest esse maior, quia plena, immo ipsa plenitudo, illa est in coincidentia cum natura. 30 Vgl. das S 174 (V2 814 ) Folgende : Perfecta enim dilectio dicitur a se incipere; et illa dilectio, qua quis suam naturam seu essentiam aut substantiam diligit, illa est, quae

( in Christo) est plena gratia .Non potest igitur dici, quod Christus sit alterius naturae et substantiae quam naturae Dei Patris.

31 S 256 (V2 202*b) . vb

32 S 256 (V2 202"6—203 ). Vgl. A ugustinus , In Ioh. tr. 74 , n .3 (PL 35, 1828) : Quod Unigenitus est aequalis Patri, non est gratiae, sed naturae ; quod autem in unitate per sonae Unigeniti assumptus est homo, gratiae est, non naturae. Zu Abaelard vgl. Land graf II 2, 13. 251

Die zweifache Geburt und die „ Adoptivsohnschaft“ Christi Daraus erhellt schon , was von der „ einzigen Sohnschaft " Christi zu halten ist. Sie ist weder der menschlichen noch der göttlichen gleich und nichts anderes als

die hypostatische Einung, die dadurch zustande kam, daß Christus als der Sohn Gottes auch Menschensohn wurde .

Anschließend folgt Näheres über den Zusammenfall von Natur und Gnade " 33

„ Daß der Sohn Mariens auch der Sohn Gottes ist, ohne daß die göttliche und

menschliche Natur zusammenfließen, kommt nicht nur aus der Natur, denn der Natur nach könnte der Menschensohn nicht Sohn Gottes sein ... Es kommt auch

nicht nur aus Gnade, weil Er dann nur Adoptivsohn Gottes und der natürliche Sohn eines Menschen wäre. Daraus folgt notwendig, daß in der Sohnschaft Jesu die Natur mit der Gnade ,koinzidiert‘34. Daher ist der, welcher natürlicher Sohn Gottes und natürlicher Sohn) eines Menschen ist, sofern Er Menschensohn ist, auch der Adoptiv-Sohn Gottes, den ,Gott vor seinen Gefährten gesalbt hat (Ps 44 , 8) . So wurde der natürliche Sohn in der Gottheit Adoptivsohn in der Menschheit; und dieser ist Jesus, der gepriesen sei. “ 35

Auch hiernach ist Christus als Menschensohn Adoptivsohn Gottes, und seine Adoptivsohnschaft besteht darin, daß Er auch als Mensch der Hypostase nach der ewige Sohn Gottes ist. Dabei sieht Cusanus die Berechtigung, von einer einzigen Sohnschaft“ zu sprechen, insbesondere darin, daß Christus durch den Besitz der selben göttlichen Natur sowohl der ewige Sohn des Vaters wie auch infolge der

hypostatischen Einung der menschlichen Natur mit dieser „ Adoptivsohn “ ist 36. Damit verbindet sich der soteriologische Gesichtspunkt, daß der Sohn Gottes, dessen „ Erbe “ die Adoptionsgnade für das ganze Geschlecht einschließt, dieses Erbe zugleich auch durch sein Erlöserleiden verdient hat. Das veranschaulicht Cusanus an dem Beispiel eines Königssohnes, der sich in den Kampf begibt, um den Feind des Reiches zu besiegen und so zu seinem natürlichen Erbschaftsrecht auch das von seinem Vater ausgeschriebene Adoptiv -Erbrecht zu erlangen. „Dazu

33 Vgl. S 257 (V2 204 " ): In filiatione Iesu coincidit omnis filiatio naturae et gratiae. 34 Hier scheint Cusanus die 2. Quaestio der Apologia de Verbo incarnato (Ps.-Hugo von St. Viktor; PL 177 , 296 f. ) im Auge zu haben. Dort werden diese drei Arten der Sohnschaft unterschieden : Filius tribus modis dicitur : adoptione, ut nos per fidem , sucep tione, utMediator, scilicet homo assumptus, natura, ut Verbum , quod eadem substantia est cum Patre. Die Eigenart der Sohnschaft Christi wird auch dort schon als ein Zusam mentreffen oder Inbegriff natürlicher und gnadenhafter Gottessohnschaft verstanden : Quia homo assumptus, ex quo fuit, persona divina fuit, non tamen per naturam , sed per gratiam , quodam modo naturale est ei esse personam Dei, et hoc ,naturale non excludit

gratiam. Dazu wird Augustins Enchiridion c. 40 (PL 40, 252) zitiert, in dem es heißt : ut idem ipse esset Filius Dei, qui filius hominis, et filius hominis, qui Filius Dei : ac sic in naturae humanae susceptione fieret quodam modo ipsa gratia illi homini naturalis, quae nullum peccatum posset admittere. – Zum Begriff natura bzw. naturalis bei Augu

stinus und in der Apologia vgl. die Unterscheidung der Apologia (296 C) : Naturale duobus modis dicitur : et quod est de substantia et quod est originale, id est ab origine

creationis suae datum. Dementsprechend versteht auch Cusanus unter der „Koinzidenz von Natur und Gnade “ nicht ein Nebeneinanderbestehen natürlicher und gnadenhafter Gottessohnschaft, sondern vielmehr die „Naturhaftigkeit“ der gnadenhaften Einung, auf Grund deren der Menschensohn “ der Sohn Gottes ist.

35 S 256 (V2 203 ). 36 Näheres s. unten S. 255 f. 252

Die „ Adoptivsohnschaft "

zog Jesus als Gottessohn Knechtsgestalt an 37, lernte den Kriegsdienst oder das Erdulden von Leiden, wie Paulus sagt 38, und verdiente schließlich, nach der Ver heißung des Vaters erhöht zu werden als der Erbe des Alls. In diesem Sinne sagt Paulus auch , Gott habe Jesus „zum Erben des Alls eingesetzt' (Hebr 1 , 8). “ 39

Die Einzigartigkeit und Heilsbedeutung der „ Adoptivsohnschaft“ Jesu kommt noch in folgenden Sätzen zum Ausdruck : Auf Grund seiner natürlichen Gottes sohnschaft ist Jesus „ der Eingeborene, auf Grund der Adoptivsohnschaft der Erstgeborene “. Jede andere Adoption zur Gotteskindschaft „ erfolgt durch die Adoption (medio adoptionis) Jesu. Keine Adoption kann erhabener als diese sein, da sie den eigenen Sohn betrifft.“ 40 Predigt 257 erläutert dasselbe folgenderweise : „ So sehr ist die Geistseele (intellectus) Christi der ewigen Weisheit geeint, daß seine Menschheit dadurch die Gnade der Gottes - Sohnschaft erlangte, durch die sie geadelt wurde (in me

lius mutata) und eine Gnaden- und Segensfülle erreichte, die für alle genügt.“ 41 Das Resümee und eine letzte authentische Interpretation bietet Predigt 274 . Dort bezeichnet es der Kardinal als häretisch , Christus einfachhin Adoptivsohn

Gottes zu nennen . Die Adoption, fügt er hinzu, „ist der Sohnschaft darin ähnlich , daß der Adoptivsohn wie ein natürlicher Sohn erbt “ 42.

Durch diese letzten Erklärungen nähert sich der cusanische Standpunkt dem des Thomas von Aquin 43. Nikolaus bleibt jedoch vom Aquinaten dadurch ent fernt, daß er es auch weiterhin für sinnvoll hält, von einer in der hypostatischen

Einung liegenden Adoptivsohnschaft Christi zu sprechen. An der letztgenannten Stelle fährt er fort : „ Deshalb, weil Christus so Mensch ist, daß Er auch Gott ist,

könnte man auch sagen , Christus sei so Adoptivsohn, daß Er auch der natürliche Sohn Gottes sei. Denn Er ist so Menschensohn, daß Er auch Gottes Sohn ist. “ Sachlich will der Kardinal , wie aus alldem hervorgeht 44, mit der Adoptiv

sohnschaft Christi nichts anderes als die Gnade der Einung“ bezeichnen , die

in der hypostatischen Einung als solcher besteht 45, sowie die damit gegebene „ Salbung“ oder substantielle Heiligung der menschlichen Natur Christi samt der ihr mitgeteilten Erlösergnade für das Menschengeschlecht. Diese cusanische Ansicht ist nahe der von Scheeben aufgezeichneten ,dritten

Gestalt der zweiten göttlichen Sohnschaft in Christus “ verwandt, die „nament

lich Vasquez und Suarez, viele Jesuiten und auch noch manche spätere Skoti 37 Vgl . Phil 2 , 7 .

40 S 256 ( V. 203 ").

38 Vgl . Hebr. 5 , 8 .

39 S 256 (V2 203" ).

41 S 257 (V2 204'6) .

42 S 274 (V2 244.) : Dicunt enim haeretici Christum adoptivum esse filium , sed non est verum . Tetigi alibi (S 256 ; V2 20314-6) de hoc, quomodo adoptio habet similitudinem filiationis, quia hereditat adoptivus filius sicut naturalis.

13 S. theol. III q. 23, a. 4 c.: Filiatio adoptionis est participata similitudo filiationis naturalis. Non autem dicitur aliquid participative , quod per se dicitur. 44 Vgl. auch unten S. 257.

45 Zur Entstehungsgeschichte dieses Terminus, der sich bei P. Lombardus erst mals findet (Sent. III d. 10, c. 2, n. 69 : 596) , s. Rohof 5—21 . Sachlich stimmt Cusanus insbesondere mit folgenden Formulierungen des Aquinaten überein : S. theol. III q. 6, a. 6 : Gratia enim unionis est ipsum esse personale, quod gratis divinitus datur humanae

naturae in persona Verbi; ebd. q. 7 , a. 11 c.: est ipsum uniri personaliter Filio Dei, quod est gratis concessum humanae naturae. 253

Die Heiligkeit und Gnadenfülle Christi

sten welche damit die Lehre der älteren ( Gestalt) auf das rechte Maß zurückführen wollten" 46 — vertraten. Was aber bewog den Kardinal, trotz der drohenden Mißverständnisse die Vorstellung einer „ Adoption “ der Menschheit Jesu aufzugreifen? Er selbst gibt das entscheidende Motiv " mit den Worten an: „ Ich glaube, wenn man den Ungläubigen, die nicht zugeben, daß ein Mensch Gott sein könne, das verständlich machte (daß der natürliche Sohn in der Gottheit Adoptiv- Sohn in der Menschheit geworden ist) , könnte man sie leichter zum katholischen Glauben führen. “ 48 Die cusanischen Ausführungen über die Adoptivsohnschaft Christi sind also auch noch in den letzten Predigten im Grunde „ manuduktorisch“ zu verstehen. Der Kardinal, der im übrigen so stark den maximalen Charakter der hypostatischen Einung betonte und nie an deren Lockerung dachte, möchte den Mohammedanern mit der Hilfsvorstellung der Adoption entgegenkommen, um ihnen und andern den Weg zur gläubigen Annahme der Inkarnation zu ebnen. Dabei dachte er allerdings auch nicht daran, etwas Glaubenswidriges zu sagen, obschon er sich bewußt war, daß es sich hier wie auch sonst um „ ungenaue “ bildhafte Aussagen handelte. Vielleicht hätte er sogar der Lehre des Aquinaten eine

höhere begriffliche Präzision zuerkannt. Aber gegen den Hinweis auf nicht zutreffende Bedeutungsmomente in dem Wort „ Adoption “ hätte er auch die Antwort bereit gehabt, daß bei jedem übertragenen Wortgebrauch auf die Intention des Sprechenden zu achten und das Widersprechende beiseite zu lassen sei 49.

C. Seele, Leib und Blut Christi in der hypostatischen Einung

I. DIE SEELE CHRISTI

a) Ihre substantielle Heiligung und Gnadenfülle 1. Auf die einzigartige Größe, Vollkommenheit und Heiligkeit der menschlichen Natur Jesu und ihre Gnadenfülle kam schon im vorhergehenden wiederholt die Sprache. Dabei zeigte sich, daß Cusanus die Maximität sämtlicher derartiger Attribute durch die hypostatische Einung mit der Wesens- und Lebensfülle Gottes bedingt sah. Die substantielle Größtheit der Menschheit Jesu resultiert somit aus ihrer gnadenhaften Erhebung zur engsten Teilnahme an der Vollkommenheit und Heiligkeit Gottes selbst. 46 Dogmatik, Buch V, Nr. 799 f . ( III 104-106) ; insbesondere kommt Cusanus schon der Auffassung von Suarez nahe ; vgl. Ternus (Chalkedon III ) 145 . 47 Der Gedanke an Abhängigkeit von Theodor von Mopsvestia, dessen PaulinenKommentar Nikolaus dem hl . Ambrosius zuschrieb (s . oben S. 16) , liegt nahe. Diese Mög48 S 256 (V2 203™* ). lichkeit ist noch zu untersuchen. 49 Vgl. Vf I 3.

254

A

Die göttliche Natur als „unendliche Gnade“ Die Heiligkeit Gottes wohnt dem „ Menschensohne“ hypostatisch inne und adelt ihn so unverhältnismäßig höher, als dies durch eine auf geschaffener Gnade beruhende Adoptivsohnschaft möglich wäre. Nur deshalb kann auch die geschaffene Gnade Christi einen solchen Grad erreichen, daß sie nicht größer sein könnte, weil sie „nicht von der göttlichen Natur entfernt (non distat) , sondern mit ihr geeint ist“, aufs unmittelbarste in ihr gründet und sich in ihr vollendet. So nach De pace fidei ¹ . Das bietet, wie wir sahen, die Voraussetzung für einen „ Maximitätsbeweis “ , der von der größten Gnade auf die göttliche Natur selbst schließt. Mitunter macht sich Cusanus auch die ,regula doctae ignorantiae 2 zunutze : Die schlechthin größte Gnade ist mehr als geschaffene Gnade ; sie ist die göttliche Natur selbst. Diesen Weg beschreitet insbesondere der Brief an Johannes von Segovia³ : Nur die „unendliche Gnade " ist die absolut größte. Daher ist sie „ so Gnade, daß sie auch Natur ist “ . Deshalb ist es auch nur eine verschiedene Redeweise, von einer solchen größten Gnade oder von der göttlichen Natur zu sprechen, sofern man letztere nicht ihrer absoluten Seinsnotwendigkeit nach, sondern als freies Geschenk an die Menschheit Jesu betrachtet. Darin stimmt Nikolaus mit der Summa theologiae des Aquinaten überein . In manchem nähert er sich auch der späteren Ansicht Kajetans 5. Unter der „Koinzidenz von Natur und Gnade “ ist demnach letztlich zu verstehen, daß sich die göttliche Natur der Menschheit Jesu bei der hypostatischen Einung als unendliche Gnade mitteilt: Was Christus als Gott der Natur nach besitzt, besitzt er als Mensch gnadenhaft. Natürlich nicht in dem Sinne, als fasse die menschliche Natur Christi als solche die Gottheit wie geschaffene Gnade in sich. Die hypostatische Einung selbst bedeutet vielmehr für die Menschheit Jesu die Mitteilung höchster, unendlicher " Gnade". So kommt also der göttlichen und der menschlichen Natur Christi nicht nur je für sich die natureigene ungeschaffene oder geschaffene Gutheit zu . Der Menschheit Jesu schenkt sich nämlich auch die göttliche Natur als „ Gnade", und auf dieser „Gnade" beruht für diese sowohl die höchste Vollendung ihrer natürlichen Vollkommenheiten wie insbesondere die ihr von der Gottheit zufließende Fülle geschaffener Gnaden sowie die Erlangung des unsterblichen Lebens für sie und durch ihre Vermittlung für das ganze Menschengeschlecht7 . Die Predigten ergänzen dazu noch: „Gott ist das volle Sein selbst " , dem nichts fehlen kann. „Aus seiner Fülle empfängt alles, was ist, daß es sei . " 8 Daher wohnt die Gottheit in allen Geschöpfen, aber nur so , daß diese an ihr , partizipieren' . In Christus allein wohnt sie mit ihrer Fülle und ganz “ 9 , nämlich mit ihrer absoluten Fülle und Vollkom3 Siehe oben S. 211 Anm. 38. 1 C. 12 (P 119′). 2 Vgl. oben S. 146 f. 4 III q. 7, a. 11 stellt und bejaht Thomas die Frage : Utrum gratia Christi sit infinita . 5 Vgl. Rohof 57-59 . 6 Cribr. I , 19 (P 132') . S 21 (V₁ 63ª) , S 210 (V₂ 132vb) . 8 S 213 n. 16 (H 100) ; vgl. Joh 1 , 16. S 241 (V2 172 ) . So erklärt Cusanus hier das paulinische , corporaliter' (Kol 2, 9) ; vgl . S 79 (V½ 15 ) : corporaliter seu perfecte et substantialiter. 255

Die Heiligkeit und Gnadenfülle Christi

menheit 10, so daß Er Gott ist 11. Daraus resultiert die Fülle der geschaffenen Gaben . Denn diese sind in der Gottheit eminent enthalten.

Zu dem Christuswort : „ Was der Vater mir gab, ist größer als alles “ 12, erklärt

der Kardinal: „ Hat der Vater irgendwelchen Weisheit gegeben

die Weisheit,

die Er Christus gab, ist größer als alles. Es kann keine größere geben . Gab er Tugend -Kraft ( virtus)) -– die Er Christus gab, ist größer. Gab Er Macht, so ist

die größer, die Er Christus gab. Denn Gottes-Sohn-Sein ist etwas Größeres als alles . “ 13

Anderwärts heißt es : „Jesus hat die Schöpfungskunst (Gottes) selbst erlangt. Dieses Geschenk, „das Ihm der Vater gab, ist größer als alles'. Denn Er gab Ihm nicht Stückhaftes oder nach Maß, sondern in (absoluter) Fülle, so daß Er ,alles, was Er den Vater tun sieht, auch selbst tun' kann“ (Joh 5, 19) 14. Mit der gött lichen Natur besitzt der Sohn schließlich auch den Heiligen Geist „ uneinge schränkt und nicht nach Maß “ 15.

2. Wie aber kann die trotz ihrer Größe begrenzte Menschennatur Christi die unendliche Gabe der Gottheit fassen?

Als Antwort darauf ist der von Cusanus unter dem Namen des hl. Augustinus angeführte Leitsatz zu verstehen : „ Was immer dem Sohne Gottes der Natur nach zukommt, kommt dem Menschensohn der Gnade nach zu. “ 16 Dieses Axiom

findet sich allerdings nicht bei Augustinus, wohl aber in ähnlichem Wortlaut bei Hugo von St. Viktor 17. Augustinus wird es auch von Roland Bandinelli (Alex

ander III . ) zugeschrieben 18. Bei Nikolaus von Kues besagt es: Die göttliche Lebensfülle teilt sich der Menschheit Jesu in ihrer absoluten Ganzheit als unge

schaffene Gnade mit, kann aber nur in dem Maße und in der Weise in ihr Wesen und Leben aufgenommen werden, als dies ihre einzigartige, aber menschlich beschränkt bleibende Fassungskraft ermöglicht.

So entspricht es insbesondere der Schrift „ Über das Sehen Gottes“ , in der die begnadete und adoptierte Menschheit Christi als das nächste Abbild der abso luten Gottessohnschaft bezeichnet wird mit der Erläuterung: „Wie das Abbild , zwischen dem und dem Urbild kein vollkommeneres Abbild vermitteln kann,

aufs unmittelbarste in der Wahrheit, deren Abbild es ist, subsistiert, so sehe ich auch Deine menschliche Natur in der göttlichen subsistieren. In Deiner mensch

lichen Natur sehe ich also alles, was ich auch in Deiner göttlichen sehe; aber in menschlicher Weise (humaniter) sehe ich das in der menschlichen Natur, was in 10 S 262 (V2 215""; zu Kol 1 , 18) . 11 Elucidatio (V2 288 " ; zu Kol 1 , 18). 12 Joh 10, 29 (nach Vulg .). 13 S 277 (V2 266 "^). 14 Š 285 (V2 278"b). 15 S 236 (V2 163" ); vgl. Joh 3, 34.

16 S 256 (V2 203 "). Cusanus kommt darauf zu sprechen bei der Erklärung der These, daß Christus auf Grund von Natur und Gnade zugleich Gottes Sohn sei. Dabei inter pretiert er den Ruf des Vaters Mt 3, 17 so: Filius naturalis, quia dicit ,Filius meus', Filius adoptionis, quia dicit : , in quo mihi bene complacui*. Ita voluit dicere Augustinus, qui dicebat : ,Quidquid convenit Filio Dei per naturam, convenit Filio hominis per gratiam .

17 De sapientia animae Christi (PL 176, 854 D) . Zum Verständnis dieses Axioms bei Hugo von St. Viktor s. Poppenberg 90—103. 18 A. M. Gietl , Die Sentenzen Rolands nachmals Papstes Alexanders III ., Frei burg i . Br. 1891 , 167 . 256

Seine Seele : „ das vollkommene Bild, das Gott ganz aufnahm“

der göttlichen Natur die göttliche Wahrheit selbst ist. Was ich in menschlicher Weise in Dir, o Jesus, sehe, bildet eine Ähnlichkeit zur göttlichen Natur, aber diese Ähnlichkeit ist dem Urbild unmittelbar verbunden , so daß sie weder ähn

licher sein noch gedacht werden könnte.“ 19 In Predigt 270 zitiert Nikolaus eine Stelle aus dem Kommentar des Origenes zum Römerbrief, die den Vers : „ Er bestimmte sie, dem Bilde seines Sohnes

gleichförmig zu werden“ (8, 29) , also erklärt : „Wie Origenes sagt, ist Christus eben dieses Bild Gottes des Vaters“ ; und zwar ist , die Seele Jesu als jenes voll kommene Bild zu bezeichnen , das Gott ganz und integral aufnahm und in sich

gestaltete. Denn sie paßte sich in allem dem Worte und der Weisheit Gottes so an, daß an ihr überhaupt kein Abweichen von der Ähnlichkeit mit Ihm zu finden

war. Wer immer also den Gipfel der Vollendung und Glückseligkeit ( erstrebt), wende sich zu deren (der Seele Christi) Abbildlichkeit und Ähnlichkeit hin 20, die in erster Linie und vor allen anderen Bild des Sohnes Gottes ist, so daß Er selbst der ,Erstgeborene unter vielen Brüdern ist. Soweit jener. “

Anschließend stellt der Kardinal die Frage, „ob Christus in zwei Bildern be stehe, in einem geschaffenen und einem ungeschaffenen “. Er antwortet: „Man muß erwidern : nein . Das geschaffene ist vielmehr das ungeschaffene." 22 Diese Antwort bildet eine Parallele zu den Ausführungen über die eine Sohn

schaft, kraft welcher Christus sowohl Gottes- wie Menschensohn ist 23. Die Be zeichnung „Bild“ kommt nämlich Christus ebenso wie die des Sohnes jedenfalls primär seiner göttlichen Personalität nach zu. Beide Male wird von Cusanus auch ein gnadenhaft - abbildliches Sohn- oder Bildsein bejaht, aber auf Grund

der hypostatischen Einheit wird keine Zweiheit gezählt. Das rückt den Ernst, mit dem jede Trennung nestorianischer Art vermieden werden soll, abermals deutlich ins Licht.

3. Um das Innewohnen der göttlichen Natur in der menschlichen volkstümlich zu veranschaulichen , bedient sich Cusanus auch der folgenden Vergleiche, die der Heiligen Schrift entnommen sind : In einer Homilie über die Begegnung Christi mit der Samariterin am Jakobs

brunnen spricht er von „dem Worte Gottes, das in der Tiefe eines lebendigen Brunnens, nämlich der Menschheit Christi, als ein Quell zur Erfrischung des

Geistes enthalten ist“ 24. Die Menschheit Christi ist auch wie die Morgenfrühe,

in der der klare Tag der Herrlichkeit Gottes aufleuchtet 25. Sie ist „die Leuchte 19 De visione Dei c. 20 (P 110') ; vgl. S 162 (V2 63 ). 20 Vgl. De visione Dei c. 25 (P 113') : Et quiescunt omnes in illo spiritu ut in ultimo

perfectionis imaginis Dei, cuius imaginis assecuti sunt similitudinem et gradum aliquem 21 S 270 (V2 232 "); Origenes, In Ep. b. Pauli ad Romanos VII, 7 (PG 14 , 1124 A ) . 22 S 270 (V2 232b). Vgl. Quaestiones super Epistulas Pauli, q. 223 : An Filio Dei sint duae imagines, quia est imago increata, secundum quod Deus, et imago creata, secundum quod est homo? Solutio : ... in Christo imago increata et imago creata non sunt duae

perfectionis.

imagines, sed una, sicut est Filius Dei et Filius hominis, non tamen duo filii, sed unus Filius Dei et Filius hominis ( PL 175, 487 B) . 23 Vgl. oben S. 247 ff. 24 S 271 n. 7 ( H 124 ) .

23 Vgl. oben S. 31 f. 17 Haubst, Nikolaus v. Kues

257

Die Heiligkeit und Gnadenfülle Christi

der Gottheit, wie Johannes in der Apokalypse sagt“ 26. Die Gottheit wohnt in Christus leibhaftig und leuchtet in Ihm wider 27.

Ofters erklärt Nikolaus auch die Namen Messias oder Christus von der Königs oder Priestersalbung her, am eingehendsten in Predigt 170. Dort legt er die

Metapher der Salbung auch so aus: „Die Salbung dringt ein und wird in das auf genommen, was gesalbt wird. Daher wird unser Geist nur geheiligt, wenn die Salbung Christi in ihn eindringt. Dann senkt sich die Kraft des Salböls, mit dem Christus ,vor seinen Gefährten gesalbt' (Ps 44, 8) ist, in unsere Seele ein, die da durch geheiligt wird. Sie vertreibt alle Finsternisse von ihr, wie Ol, das man auf

Papier ausgießt, in dieses eindringt, ihm die Dunkelheit nimmt und es trans parent macht.“ Der Geist des Herrn ist über dem Gesalbten „ wie das Licht über dem Ol der Lampe ... Die gesalbte Seele gehorcht dem Heiligen Geiste, der sie

in Bewegung versetzt, während sie ohne Salbung schlaff und starr ist.“ 28 Was hier von der Seele des Christen gesagt ist, dürfen wir auf die Salbung der Seele Jesu durch die Gottheit übertragen, nur daſ Jesus mit der vollen Geistes - Salbung gesalbt“ und so der Messias ist. „ Er hat eine Salbung in sich , die alle andere komplizit enthält... Er ist nämlich die absolute Salbung, durch

die alle, die gesalbt waren, sind und sein werden und nach Ihm, dem Christus, Christen genannt werden , ihre Salbung haben . “ 29

In den letzten Texten klang nebst dem Innesein auch die Durchdringung der Menschheit durch die Gottheit an. Es ist jedoch auffallend, daß bei der Er klärung des Christusnamens in erster Linie von Christus dem Salbenden und nicht dem Gesalbten die Rede ist. Je mehr wir uns umsehen , erkennen wir dies als ein Symptom der allgemeinen Zurückhaltung, mit der Cusanus von der

Durchdringung oder Vergöttlichung der menschlichen Natur Christi spricht. Gewiß betrachtet er nämlich prinzipiell die hypostatische Einung als solche ebenso als „ Fleischwerdung Gottes infolge barmherziger Herablassung “ wie als „ Einung der Menschheit nach oben “ 30. Aber die Vorstellung, daß die menschliche Natur Christi gleichsam magnetisch zur Teilnahme an der göttlichen emporgezogen sei und so eine Seins- und Gnadenfülle höchsten Grades erreiche, überwiegt ent

schieden die, daß ihre Gnadenausstattung auf der Emanation oder Einsenkung der Gottheit beruhe 31 .

28 S 60 (V1 117 ") ; vgl. S 102 (V2 1951); S 12 (C 36', 17) : Ibi agnus se exhibet sanctis 9

verum Deum et hominem luce divina habitante in humanitate tamquem in laterna. Der Gebrauch von laterna statt des biblischen lucerna (vgl . oben S. 103) scheint den Einfluß

des Benediktinermystikers Johannes von Kastl zu verraten, der für lucerna immer den Ausdruck laterna wählt, indem er von der laterna vulnerum suorum oder von der laterna suae vulneratae humanitatis spricht“. Johannes unterscheidet bei seiner christo logischen Licht- Symbolik das lumen increatum derGottheit und die lucerna (laterna) der Menschheit Jesu. Vgl. Grabmann , Joh. von Kastl 226 f.

27 S 118 (V2 1"'). Hier nimmt Cusanus ebenso wie S 262 (V: 215 b) das corporaliter (Kol 2, 9) wörtlich .

Anderwärts (S 273 : V2 241" ) wird die Gottheit Christi einer

Mandelfrucht verglichen, deren Schale und Hülle erst erbrochen werden muß, ehe ihre Süße verkostet werden kann. Das ist im Hinblick auf Leiden und Verklärung gesagt, und zwar im Anschluß an Nm 17,9. rb -

28 S 170 (V2 761b_va). 29 S 209 (V2 132ra - b ).

90

30 S 51 ( V181" ).

31 Das gilt bei Nikolaus sogar von seiner christologischen Licht-Symbolik, bei der 258

Salbung und Hauptesgnade

Hierin mag man ein Zeichen für den geringeren Einfluß der griechischen Väter auf die cusanische Christologie sehen 32. Entscheidend dürfte jedoch der spekula tive Gesichtspunkt sein, daß dem Kardinal die Erfüllung der menschlichen Natur mit der göttlichen Gnade so unmittelbar mit der hypostatischen Einung gegeben

schien , daß er es nicht für nötig hielt, das Überströmen“ oder Eindringen der Gnade bei Christus näher zu erklären, da seine Menschheit „ohne Distanz“ der

ihr innewohnenden göttlichen Natur geeint ist. „Die hypostatische Einung ist ja die Fülle der Gnade. “ 33

4. Bei der untrennbaren Zusammengehörigkeit der Christus innewohnenden Gottheit und der von dem lebendigen Bilde seiner Seele aufgenommenen Gnadenfülle ist es nicht zu verwundern , daß Nikolaus von Kues im allgemeinen, ohne beides zu unterscheiden , von Christus als der Fülle und der Quelle aller Heiligung spricht, auch nicht, daß er bald diesen und bald jenen Gesichtspunkt hervorhebt.

Er äußert sich in folgender Weise : „ In Christus ist alles das eingefaltet und ge

eint, was in allen Heiligen geschieden und teilweise ist. “ 34 „Die Heiligkeit Christi faltet alle Heiligkeit zusammen wie das Licht alle Farben . “ 35 Das erklärt Pre digt 174 so : Der Lichtstrahl, der alle Tugend, Heiligkeit, Gerechtigkeit und Wissenschaft zusammenfaßt, ist im eigentlichen Sinne der Sohn, der „ Abglanz des Vaters “ 36. Nach Predigt 218 ist Christus die Fülle der Gnade, und die Gnade ist ein Lichtstrahl Christi, der Sonne der Gerechtigkeit “ 37. Wie Feuer Wärme 2

ausstrahlt, so spendet das der Menschheit Jesu geeinte göttliche Leben den Men schen das Leben, die sich Ihm nahen 38. Die überfließende Gnadenfülle, die in

Christus ist, ermöglicht es allen, die davon empfangen, Ihm gleichgestaltet zu werden 39. Diese Gnade entströmt der Menschheit Jesu, die davon erfüllt ist, letztlich aber der Gottheit. So verbindet Christus über seine Menschennatur mit seiner Gottheit 40.

Demnach betrachtet Cusanus Christus sowohl der Gottheit wie seiner begna deten Menschheit nach als das Haupt der erlösten Menschheit. Denn in dem

Geiste Christi wohnt die Fülle der Gottheit und der Gnade. Aus dieser (einen) Fülle empfangen alle, die das Heil erlangen sollen, die Heilsgnade. “ 41 Die tho

mistische Auslegung, daß Christus seiner habituellen Gnade nach das Haupt der Kirche sei 42, reicht somit bei Cusanus nicht zu. Christus ist vielmehr infolge der

substantiellen Begnadung und Erhebung das Haupt der Menschheit und darüber meist an das Innesein des Lichtes und nur selten an ein „ Überfließen “ (vgl. unten S. 273) gedacht ist .

32 Vgl. z. B. das Gedankengut des Cyrill von Alexandrien über die substantielle Sal

bung der menschlichen Natur Jesu und die Geistesmitteilung (Weigl 84 ff.). 33 ° S 123 (V2 6vb) ; vgl. S 120 (V2 132\\) : Unio naturae humanae in Christo ad vitam gratiae dicitur plenitudo, ex qua unione fluit unio in animas. 34 S 154 (V2 62") . 35 S 17 (Ċ 9', Nachtrag ). 36 S 174 (V2 81" ); vgl. Hebr 1 , 3.

illam aeternam

37 S 218 (V2 141\)); Mal 4, 2. 38 39 41 4. 17 *

S 58 (V1 111 " ); S 224 (V2 1505b). 40 S 51 (V1 80 ). S 263, 1 (V2 216 ' ). De pace fidei c. 18 ( P 122'). Thom. v. A q., S. theol . III q. 8, a. 8 c. 259

Die Unsündlichkeit Christi

hinaus der ganzen vernünftigen Kreatur 43. Erst recht ist Er das seiner Gottheit nach als das Prinzip und die absolute Vollendung aller Geistwesen , der gesamten Schöpfung sowie insbesondere der streitenden und triumphierenden Kirche 44, 5. Die einzigartige substantielle und akzidentelle Heiligung der menschlichen

Natur Christi erfolgte schon im Augenblick seiner Empfängnis. Schon damals wurde seine heiligste Seele ganz zu Gott erhoben ... und mit dem bleibenden Besitz (habitibus) aller Tugenden, Gnaden und Wissenschaften erfüllt, so daß sie ,alle Schätze der Wissenschaft und Weisheit' (Kol 2, 3) in sich trug“ 45. Mit dieser Fülle der Gnade hätte jede Sünde und sündhafte Neigung in Wider spruch gestanden . Daher „mußte jener Höchste gegenüber jeder Sünde, gegen 9

über der Erbsünde wie jeder persönlichen Sünde, vollkommen immun sein . Denn die Sünde trennt den Menschen von Gott. Da in Ihm aber die menschliche Natur nie von der göttlichen getrennt war, war Er auch nie im Bann der Sünde. Deshalb

wurde Er auch nicht wie die übrigen Menschen in Sünden empfangen oder aus dem Willen des Mannes gezeugt, noch wurde Lüge in seinem Mund gefunden 46. Er war auch nicht anmaßend, sondern Gott als geliebter Sohn aufs höchste ge horsam bis zum schimpflichsten Tode am Kreuze .“ 47 Der Erbschuld und dem Dominieren des Animalischen in der Nachkommen schaft Adams war Christus schon deshalb enthoben , weil nicht nur seine Seele,

sondern auch die Bildung seines Leibes aus einem unmittelbaren schöpferischen Akt Gottes ohne den Weg der natürlichen Fortpflanzung entsprang 48. Als Sohn der um seinetwillen schon unbefleckt empfangenen Mutter stammt er jedoch von Adam ab. Daher ist „ die Natur des alten und des neuen Menschen eine “ der Art und Abstammung nach, „ aber die in dem alten Adam ist sinnlich , die in dem

neuen ist geistig“ 49. So wollte der Vater die Menschheit Christi von Anfang an ,für die himmlische Glorie aufnahmefähig machen “ 50. Daß Christus die Menschheit im Zustand der Unschuld annahm 51 , wurde auch

durch seine Erlöser - Aufgabe gefordert 52. Der Vater gab Ihm die Unschuld in solcher Fülle, daß Er die Unschuld selbst war, das Lamm , das die Sünde hinweg

nehmen konnte 53. Weil Jesus weder in Sünden geboren war noch selbst Sünde tat, war Er auch nicht dem Tode verfallen 54 .

43 Vgl. D. Ign. III, 9 (H 146, 3 ff.); S 172 (V2 784 ): Est caput et supremitas in se om Der cusanische Begriff von Christus 44 S 16 (H 32, 16–21 ) ; Cribr. II, 4 (P 144') . dem Haupte entspricht somit dem Alberts d. Gr.; vgl. dessen Quaestiones de incarna nem naturae humanae tenens principatum .

tione, De unione capitis etc. q. 5, contra 2 (I. Backes, S. Thomae de Aq. Quaestio de gratia capitis etc.: Florilegium Patrist. 40, Bonn 1935, 25) : Mediator est, quantum ad unam personam in duabus naturis. Ergo videtur, quod ipse sit caput, inquantum huiusmodi ; ferner das Albert-Zitat ( In Matth. 16, 18: B. 20 , 638) Conc. I, 1 (H 34) : Pater est fons vitae, quae in Filio venam accipit et fluxum in omnes in Spiritu Sancto . 45 S 6 (C25 , 43 f.).

46 Vgl . Is 53,9 ; Apk 14 , 5 .

47 Brief vom 11. 6. 1463 (Siz 161" ).

48 $ 102 (V2 1956), S 273 (V2242*b); vgl. oben S. 240. 49 De visione Dei c. 21 (P 110 '); vgl. 1 Kor 15, 45—47 . 50 S 274 (V2 245' ).

51 S 226 ( V2 151" ), S 163 (V2 65-6). 53 S 172 (V2 80 ). 52 S 177 (V2 84° ). 64 Cribr. II , 16 (P 139") ; vgl. unten S. 284 f . 260

Der Erdenpilger in der Gottesschau

Die göttliche Weisheit liebte die heilige Seele und den Leib, der ganz sünden

rein war, und verlobte sich beides zu ewigem Bund, sagt Nikolaus allegorisch 55. Die Seele Christi war die keuscheste und treueste Braut des ewigen Wortes 56. Die absolute Sündenlosigkeit Christi ist nur durch seine Gottessohnschaft zu er klären. „ Weil Er aus Gott geboren war, konnte Er nicht sündigen. “ 57

b) Christus der Erdenpilger in der Gottesschau 1. „Bei allen Menschen ist die geistige Einsicht (intellectus) der Möglichkeit nach

alles 1. Stufenweise wächst sie von der Möglichkeit zur Wirklichkeit. Je größer sie also ist, um so geringer ist ihre (unerfüllte) Möglichkeit. Da aber der größte Intellekt vollwirklich ? und die Begrenzung aller Möglichkeit der geistigen Na tur ist, kann er nur so existieren, daß er auch Gott und so ,alles in allem' (Kol 3 , 11 ) ist.“ 3 Die höchste Verwirklichung der beim Menschen möglichen Erkennt nis ist also nur durch die hypostatische Einung möglich, aber auch mit ihr ge geben . Das Erkenntnislicht der Seele Christi ist mit dem der ewigen Wahrheit,

Vernunft und Weisheit geeint. Darin besteht die Vollendung des Universums, und darauf beruht die Möglichkeit der Offenbarung Gottes durch Christus 4.

Mit den daraus entstehenden erkenntnispsychologischen und metanoetischen Problemen beschäftigt sich Nikolaus von Kues öfters und intensiv. Die grundlegende Frage : Konnte das menschliche Geistesauge Christi schon auf Erden die göttliche Natur sehen?, beantwortet er konstant affirmativ, und zwar zunächst in der Weise : Christus war auf Erden von Anfang an „ Pilger und in der Gottesschau “ (viator et comprehensor) 5. Vom ersten Augenblick seiner Empfängnis an „sah Er in der beseligenden Schau (visione beatifica) die gött

liche Weisheit selbst sowie alles Gegenwärtige, Vergangene und Zukünftige, wie es im Worte widerleuchtet“ 6.

Bei der Aufzählung der Erkenntnisweisen, die über den Pilgerweg hinauslie

gen, führt Predigt 11 aus : „Die himmlische Schau (visio in patria) ist die der an Leib und Seele Verklärten, der Engel und der Jungfrau Maria. “ Das wird wei ter gesteigert : „ Uber all diesen Arten der Schau steht die Schau Christi , und

zwar erstens wegen der Gnade ihrer umfassenden Fülle (comprehensionis), kraft deren Er mehr als alle Geschöpfe umgreift, zweitens wegen der Gnade der

Einung mit der Gottheit, kraft deren die Seele Christi die mit ihr geeinte gött liche Natur in einer vollkommeneren Weise erkennt ?. Dazu kommt von seiten 56 S 223 (V2 148*6) . 57 S 203 ( V2 122 ), S 206 (V2 121 "") . 1 Vgl. Aristoteles , De anima III, 8 (431 b 20) : Omnia quodam modo est anima ( text. 20) . 2 Vgl. Aristoteles, Met. XII , 7 ( 1072 b 27 ). 55 Cribr. II , 17 ( P 140') .

3 D. Ign. III, 4 (H 132, 2—7); vgl. S 162 ( V2 63ra). * S 122 (V2 566) ; S 147 (V2 52% ); Cribr. II, 17 (P 140") . 5 S 4 (C 81', 55) ; vgl. Albertus M., De incarnatione, De consequentibus unionem, n. 35 (f. 48°) ; In Sent. IIId. 14 , a. 4 ( B. 28 , 261 a) ; Thom. v. A q., S. theol . III q. 9, a. 2.

6 S 6 ( C 25°, 41 f.) ; vgl . Thom . v. A q., S. theol. III q. 10, a. 2. ? Vgl. die neuestens von Galtier (La conscience 529) aufgerollte Frage: La cons cience humaine a- t-elle perçu et comment a- t-elle pu percevoir la personne du Verbe ... ? 261

Der Erdenpilger in der Gottesschau der Gottheit die Schau katexochen (ipsamet visio) , die Schau der ganzen Dreieinigkeit, im Hinblick auf welche alle vorgenannten Arten der Schau und Erkenntnis unvollkommen sind. " 8 ― Hier hat Cusanus anscheinend eine der Summa" De incarnatione Alberts d. Gr. naheliegende Quelle benutzt ". Von der Docta Ignorantia an verzichtet Cusanus bei der Darlegung der übernatürlichen Erkenntnisweise Christi auf jedes Stufenschema. Auch auf die bei Thomas sorgfältig durchgeführte Unterscheidung eines eingegossenen Wissens nebst dem erworbenen und der seligen Gotteschau 10 greift er nirgends merklich zurück. So läßt sich seine Grundkonzeption, die in ihrer Einfachheit der von Bonaventura ¹¹ nahekommt, in den Satz zusammenfassen: Das geistige Einsichtsvermögen (intellectus) Christi , das sich bei Ihm wie bei jedem Menschen über der natürlichen Schichtung des sinngebundenen und diskursiven Erkennens (ratio) erhob, war im Lichte seiner göttlichen Natur von Anfang an im Besitze der Gotteschau. 2. In dem Buche „ Über das Sehen Gottes " sagt Cusanus, um die Möglichkeit der Gottesschau in der Seele Christi zu erklären : „ Ich sehe, wie sich das göttliche Wort der höchsten Spitze Deines Einsichtsvermögens eint und daß das Einsichtsvermögen unmittelbar der Ort ist, wo das Wort aufgenommen wird. Wir erfahren es ja auch an uns, daß der Intellekt der Ort ist, wo das Wort des Lehrers aufgenommen wird. " Das Lichtsymbol verdeutlicht das noch mehr: „Es ist, als ob sich das Licht der Sonne (der Spitze) einer Kerze einte. Denn das Wort Gottes erleuchtet die Einsicht wie die Sonne die Welt ...12 Als Lichtquelle schaue ich in jenem Einsichts- Licht das Wort Gottes, das die Wahrheit ist, die jede Einsicht erleuchtet. " 13 „Dieses Lebenslicht der intellektualen Natur “ , heißt es in Predigt 123, „ das selbst überintellektual und göttlich ist, trat in das Kastell der menschlichen Natur ein. Es heißt Jesus. Deshalb hatte der menschliche Intellekt Jesu keine Finsternisse 14. Denn in ihm war dieses göttliche Licht, in dem er alles Einsehbare beurteilte 15, nicht nur wie in Gleichnis und Bild, sondern wie in der Wahrheit. Das göttliche Licht leuchtet (sonst) nämlich im (irdisch-)menschlichen Intellekt

8 S 11 (C 43', 35—38) . 9 Vgl. Albertus M., De incarnatione, De consequentibus unionem, n. 35 (f. 48″ ) : Cognitio enim Christi aut est viatoris, inquantum viator est, aut comprehensoris, inquantum comprehensor est, aut ipsius, inquantum est Deus , aut hominis, inquantum unitus est divinitati ... Si autem consideratur tertio modo, sicut est Deus, sic habuit cognitionem divinam, qua se ipso cognoscit omnia . Si autem consideratur quarto modo, scilicet unitus Deo, sic habuit cognitionem omnium in Verbo sibi unito. Ultimis ergo duobus modis cognovit omnia. 10 S. theol. III q . 9—12. 11 Vgl. In Sent. ÎII d . 14 , a . 1—2 ( III 295—317) ; De scientia Christi q. 4-7 (V 17—42) ; Sépinski 90 : Ce serait peine perdue que de chercher dans saint Bonaventure l'expression materielle de science infuse ' ... Il ignore tout autant la distinction postérieure entre science infuse per se et science infuse per accidens. 12 Vgl. Ps . -Dionysius , De div. nom. IV, 1 ( PG 3, 693 B) ; IV, 4 (697 C). 13 De visione Dei c. 22 (P 111 ') . 14 Vgl . Thom. v. A q. , S. theol . III q. 15, a . 3, contra : Venit enim, ut ,illuminaret his, qui in tenebris et umbra mortis sedent' (Lc 1 , 79) ; ergo in Christo ignorantia non fuit. 15 Vgl . Bonaventura , De scientia Christi q. 4 , concl. (V 22 f.) . 262

Die Seligkeit dieser Schau wie das Licht der Vernunft (ratio) im sinnlichen Sehen 16, wobei das Auge nicht weiß, durch was es beim Sehen zum Unterscheiden der Farben aktuiert wird. Im Intellekt Jesu hingegen leuchtet das göttliche Licht nicht wie das Vernunftlicht im Sehen, so daß sein Intellekt unwissend darüber bliebe, was ihn erleuchtet. Er kennt vielmehr das Licht, und dieses Wissen ist die höchste Glückseligkeit." 17 Nikolaus baut hier auf seiner allgemeinen Lehre von der Gotteserkenntnis des menschlichen Geistes auf: Indem der Geist sich als lebendiges Bild Gottes erkennt, schaut er Gott wie in einem Spiegel in sich 18. Er geht hier jedoch darüber hinaus , denn der Geistesblick Jesu bleibt nicht an Bild und Gleichnis haften, sondern ist unmittelbar der Wahrheit zugekehrt. Ebendarin findet die Seele Christi auch schon auf Erden die höchste Glückseligkeit. Das Folgende erklärt das deutlicher im Hinblick auf die Gottesschau einer jeden Menschenseele, die sich bei deren Erlangung in ihr als Abbild Gottes erkennt 19. „Wenn ein menschlicher Intellekt als Bild (der Wahrheit) so im Lichte der Wahrheit, in dem er urteilt, (der Wahrheit) geeint wird und nicht unwissend über das ist, was ihn erleuchtet, nährt oder belebt, sondern das Leben erkennt und verkostet wie ein Bild, das seine Wahrheit verkosten würde, aus der, in der und durch die es ist - so erkennt er sich und alles zugleich . Ein Bild erkennt sich selbst nämlich erst in der Wahrheit, deren Bild es ist, und es kann sich nur in Wahrheit schauen, wenn es die Wahrheit schaut. Weil aber die Wahrheit das Urbild von allem ist, so sieht der Intellekt alles dadurch, daß er sich selbst in der Wahrheit sieht. Dieses Sehen bedeutet sein Leben sehen und kosten und die Speise des ewigen Lebens genießen ..." 20 Nach dieser glorreichen Gottesschau verlangt jeder Menschengeist. „ Aber nur das Einsichtsvermögen Jesu erreicht jenes Licht, und zwar nur auf Grund der höchsten, der hypostatischen Einung, die die Fülle aller Gnade ist. " 21 Nur weil ,der Intellekt des Menschensohnes angenommen ist von dem Wort des Vaters ..., kann er emporsteigen in die Verborgenheit Gottes " 22. Somit kann jeder andere nach Christus „ das Licht der Glorie nur durch die Gnade der Einung mit dem Geiste Jesu erreichen ... Denn dieses Licht trat in Jesus in die menschliche Natur ein. Es ist nicht von dieser Welt, sondern es ist göttlich. Es einte sich der menschlichen Natur, auf daß es in diese Welt kommen und die menschliche Natur so ... in der andern Welt die besagte Glückseligkeit erlangen könne. " 23 Die Bedingungen jeder menschlichen Gottesschau lassen sich nunmehr so zusammenfassen : Erstens, die Menschenseele kann Gott nur schauen, weil sie sein lebendiges Bild ist. Zweitens, sie kann Ihn nur in seinem Lichte schauen 24. Drittens, 16 Vgl . Aristoteles , De anima III, 3 (429 a 13-17) . - Bei Jesus gilt (auch erkenntnispsychologisch) in eminentem Sinne, was S 255 (V 202 ) von jeder Menschenseele sagt: Verbum, cum sit Deus, solum illabi potest animae et per illapsum illuminare ..., sicut sola lux illabitur visui ... et facit visum esse actu seu vivum sive oculum videntem. 17 S 123 (V2 6ª). 18 Vgl. oben S. 164 f. 19 Vgl. die ähnliche Verknüpfung von conscience und vision béatifique bei Galtier 540 f. 21 S 123 (V2 6vb). 22 S 61 (V₁ 122³). 20 S 123 (V2 6 ). 23 S 123 (V2 6-7 ). 24 Vgl. Ps 35, 10.

263

Der Erdenpilger in der Gottesschau

dieses Licht (der Glorie) ist nur erreichbar durch die gnadenhafte Einung mit dem hypostatisch der Gottheit geeinten Geiste Jesu 25. Der Satz, daß die Ver nunfteinsicht in Christus in höchster Weise mit der göttlichen Wahrheit geeint ist wie der Glanz mit dem Lichtstrahl “ 26, besagt demnach eine Erkenntniseinung, die eine solche im Sein voraussetzt. 3. In Predigt 123 geht Cusanus auch auf die menschliche Begrenztheit des Visionsaktes Christi ein.

Für jedes menschliche Sehen bleibt das göttliche Licht in sich „ übergöttlich " 27. So ist es von keiner menschlichen Einsicht, auch von der Christi nicht, komprehen siv zu erfassen 28, sondern nur „ auf nicht umfassende Weise “ 28. Obwohl Gott aber somit in seiner Unendlichkeit unumfaßbar bleibt, weil Er größer ist als jeder Intellekt, wird Er dennoch objektiv einsichtig, nämlich als ,die Wahrheit'. Die Wahrheit ist nämlich das Objekt des Intellektes 30; und dadurch kommt der Intellekt zur Ruhe, daß er sein Objekt, die Wahrheit, erreicht. Insofern ist die Wahrheit nicht Gott, wie Er ist 31. Denn so ist Er unaussprechlich. Aber die ab solute Wahrheit ist Gott, wie Er ist; sie ist durch den Intellekt unerreichbar. “ 32

Mit der „Gottesschau “ ist es ähnlich wie mit dem Sehen der Sonne. Das Auge sieht die Sonne in ihrem eigenen Licht, und es sieht sie in der Weise, wie diese (für es sichtbar ist, während sie so, wie sie ist, dem Gesichtssinn entgeht." In solchem Sehen liegt jedoch schon ein Verkosten, das auch ein Genährtwerden ist “ 83

In der Schrift „ Uber das Sehen Gottes “ sucht der Kardinal auch den Modus und den Umfang zu bestimmen , in dem Christus im göttlichen Lichte Geschöpf liches erkennt. Er baut dabei auf die Ausführungen über die Seele Christi als hypostatisch geeintes nächstes Abbild des göttlichen Urbildes 34 auf: „ In Deiner menschlichen oder vernunftbegabten Natur, o Jesus, sehe ich den

vernünftigen Menschengeist mit dem göttlichen, der die absolute Vernunft ist, und somit den menschlichen Intellekt dem göttlichen aufs engste geeint, und alles in Deinem Intellekt. Du, o Jesus, erkennst nämlich alles als Gott, und dieses Erkennen ist alles-Sein ; und Du erkennst alles als Mensch , und dieses Erkennen ist das Abbild -von-allem-Sein. Die Dinge werden vom Menschen nämlich nur 25 Vgl . außer Joh 1 , 4 9 usw. Dionysius , De cael. hier. I, 2 (PG 3,121 A) ; De eccl. hier. I , 1 (372 A B ) .

26 S51 (Vi 82 ).

27 S 123 (V260); vgl. Dionysius, De cael. hier. I, 2 (PG 3, 121 B) ; De div. nom. IV, 6 ( 701 A ) ; XI , 6 (956 A B ) .

28 Vgl. Thom. v. A q. , S. theol . III q. 10, a. 1 c.: Anima Christi nullo modo com

prehendit divinam essentiam ; Bonaventura , In Sent. III d. 14, a. 1 , 4.2 (III 300) : Nec anima Christi nec aliqua creatura comprehendere potest immensitatem Verbi incre ati sive ipsius Dei .

29 Vgl . Vf I 320 .

30 Vgl. S 104 (V2 29" ); Wilpert, Vom Nichtanderen ( Übersetzung) 107 f. (Anm .4 ). 31 Vgl. Apologia ( H 12,9—13); Brief vom 18. 3. 1454 an Bernhard von Waging (Vansteenberghe, Autour 134 ) : Quando igitur intellectus in se, id est intellectua liter, scit se vitam suam possidere, tunc in eo gustu deliciatur, ... sed non sumus prop terea felices, nisi ipsum videamus in nobis . Qui attendit Deum esse obiectum animae

rationalis, et tam intellectus quam voluntatis, ille ad coincidentias se convertit et dicit : Deus, qui est super bonum et super verum, vis boni et veri, non attingitur uti est, nisi supra omne id , quod intelligitur pariter et amatur.

32 S 123 (V2 650). 264

38 Ebd .

34 Vgl . oben S. 257.

Begrenztheit und Reichweite seines Visionsaktes

durch Ähnlichbilder erkannt. So ist der Stein z. B. im menschlichen Intellekt nicht

wie in seiner Ursache und seinem Sinngrund, sondern in einem Erkenntnis- und Ähnlichbild . In Dir, o Jesus, ist also das menschliche Erkennen so mit dem gött lichen geeint wie das vollkommenste Bild mit der urbildlichen Wahrheit. Es ist, als betrachte ich im Geiste eines Künstlers die Idealform einer Truhe und (zu gleich ) die Gestalt der Truhe, wie sie vom Meister selbst der Idee nachgebildet ist. Wie nämlich die Idealform die Wahrheit der Gestalt und bei einem Meister

dieser wie die Wahrheit dem Abbild geeint ist, so sehe ich in Dir, o Jesus, dem Meister der Meister, die absolute Idee aller Dinge und zugleich deren Bildähn lichkeit aufs höchste geeint. “ 35

Dieser Beschreibung nach stimmt die geistig -abbildliche Erkenntnisweise, die sich bei Christus mit der ewigen Schöpferweisheit verbindet, als solche mit der eines jeden Menschen überein 36. Anschließend hebt Nikolaus jedoch auch das Differierende hervor :

,Zwischen Deinem menschlichen Intellekt und dem eines jeden anderen Men

schen sehe ich den Unterschied, daſ niemand unter den Menschen alles weiß, was der Mensch wissen kann .“ 37 Das erklärt er daher, daß der Intellekt keines Men schen so mit dem Urbild aller Dinge — als Ähnlichkeit mit der Wahrheit ver bunden ist, daß er nicht noch näher mit diesem verbunden und mehr aktuiert -

-

werden könnte. Er erkennt also nicht so viel, daß er nicht durch Annäherung an das Urbild der Dinge, von dem er seine Aktuierung hat und das die Wirk lichkeit von allem ist, noch mehr erkennen könnte . “ 38 Der Kardinal fährt fort :

„Dein Intellekt aber sieht aktuell alles vom Menschen Einsehbare ein, weil in Dir die menschliche Natur am vollkommensten und dem Urbilde am meisten

geeint ist. Wegen dieser Einung überragt Dein menschlicher Intellekt jede ge schaffene Einsicht an Vollkommenheit .“ 39

4. Das 22. Kapitel von „ Über das Sehen Gottes “ besteht in einer Schilderung des gesamten menschlichen Erkenntnislebens und seiner Vollkommenheit in Christus: „ Mein geistiges Auge kann sich nicht sättigen, wenn es Dich , Jesus, sieht “ ,

hebt der Kardinal an, „ denn Du bist die Vollendung aller geistigen Schönheit.“ Dann folgt ein Aufriß der in Christus vereinten Erkenntnisschichten . Zunächst wird die Weltoffenheit seiner Sinne betont: „Als Du auf dieser sinnenfälligen Welt umherwandeltest, gebrauchtest Du leibliche Augen, die den unsern ähnlich sind. Mit diesen sahst Du nicht anders als wir die Menschen, den einen und den

andern. “ Mit wacher Sinnentätigkeit verband Christus eine bis zum Höchsten

gesteigerte Beobachtungsgabe, kraft deren sein Geistesauge den Sinngehalt von Dingen und Worten und auch Herzensgeheimnisse bis in ihre Tiefe erspähte.

Entsprechendes sagt Nikolaus von den zwischen der geistigen (intellektualen) Schau und den Sinnen vermittelnden Erkenntnisstufen, der sinngebundenen Unterscheidungskraft, der Vorstellungskraft und dem diskursiv- rationalen Den 35 De visione Dei c. 20 ( P 110") .

36 Vgl. Vf I 184–89.

37 Vgl. S 79 ( V2 1546) : Scire omnia nemo potest nisi qui a Deo exivit. a

** Vgl. das Beispiel der Annäherung des eingeschriebenen Polygons an den Kreis (oben S. 154 ) .

39 De visione Dei c. 20 (P 110 - "). 265

Der Erdenpilger in der Gottesschau ken, „ das im Menschen als die höchste Spitze des sinngebundenen Erkennens der intellektualen Kraft am nächsten kommt “ 40. Zwischen diesen Stufen besteht das Verhältnis, daß jeweils die höhere mehr von dem Sinnenfälligen „ gelöst “ ist und die niedere, die in ihr „ subsistiert“ , in sich komplizit enthält. Insbesondere ist „ die intellektuale Natur im Hinblick auf die sinnliche gelöst (absoluta) und keineswegs wie die sinnliche begrenzt noch organisch gebunden, wie die Kraft des sinnlichen Sehens ans Auge gebunden ist. Aber noch unvergleichbar gelöster steht die göttliche Kraft über der intellektualen, da der menschliche Intellekt zu seiner Aktuierung noch die Phantasmata benötigt und die Phantasmata nicht ohne die Sinne entstehen. “ 41 Da dieser Text dem Zusammenhang nach auch und gerade vom Erkenntnisleben Christi gilt, dürfte Cusanus, als er De visione Dei schrieb, wohl kaum (noch) mit schon bei der Empfängnis der Seele Christi eingegossenen perfekten Erkenntnisspezies im thomistischen Sinne gerechnet haben. Die nunmehrige Betonung eines an die Sinnestätigkeit und das Phantasma gebundenen Wissensgewinns auf dem Erfahrungswege scheint das negieren zu wollen. Das entspricht insbesondere auch dem der kosmischen Wirklichkeit zugewandten und diese geistig beherrschenden Menschenideal der „ Vier Bücher des Laien über die Weisheit, den Geist und Versuche mit der Waage" ( 1450) . Nehmen wir dies einmal als eine hier nur angedeutete Ansicht des Kardinals, so ließe sich diese mit der maximalen Fülle alles Wissens in Christus erstens so in Einklang bringen, daß diese erst auf dem Pilgerwege, auf dem Erfahrungswege gewonnen wurde, und zweitens und vor allem so, daß dieses Wissen bereits in der Gottesschau komplizit, aber auch nur komplizit, enthalten war 42. Keinesfalls will der Kardinal nämlich die Gewinnung des Einzelwissens bei Christus einfachhin mit der bei anderen Menschen gleichsetzen. Obschon nämlich auch bei Christus die Sinne der natürlichen Funktion der Gewinnung neuen Erfahrungswissens dienen, so erfolgt dessen Erlangung bei Ihm doch in dem seiner Seele innewohnenden Lichte des göttlichen Wortes nicht nur in sonst unerreichbarem Umfange 43, sondern auch mit einzigartiger Sicherheit und Leichtigkeit 44.

40 Ebd . c. 22 (P 111 ' ) . 41 Ebd. (P 111 ) . Thomas betont (S. theol. III q . 11 , a . 2) , daß das eingegossene Wissen Christi von der conversio ad phantasma unabhängig war. Die Bedeutung des auf dem Abstraktionswege erworbenen Wissens Christi tritt dementsprechend bei Thomas (q. 9, a. 4) zurück. 42 Vgl . das im Text Folgende : In intellectuali natura complicantur omnes gradus sensibilis cognitionis (P 111' ) ; S 206 , 1 (V2 121 ) : Solus igitur Iesus non errat, sed Patrem et omnia in veritate intuetur; S 242 (V2 179 ) : Iesus, cuius intellectus fuit omnisciens luci Sapientiae Dei unitus tollens inveteratam ignorantiam. - Von der göttlichen Erkenntnis gelten die folgenden Stellen : S 289 (V2 284 ) : Christum omnia scivisse naturaliter ; S 267 (V2 226 ) : Notare possumus, quomodo Iesus omnia praescivit, quae ventura erant super eum. Ideo autem Iesus praescivit omnia, quia scientiam Dei habuit ... Deus, qui purissimus intellectus , omnia scit ...; S 132 (V2 35 ) : Positus fuit in praesepio, qui tamen omnia scivit. 43 Das gilt insbesondere von dem Wissen, das der messianischen Sendung Jesu diente . S 271 n. 23 (H 142) : Jesus kannte die verborgenen Herzensgeheimnisse ; S 58 (V₁ 113 ) : Er wußte von Anfang an, wer nicht glauben würde, und kannte seinen Verräter. 44 Vgl . S 289 (V2 284 ) : Missus, per quem loquitur Omnisciens, non indiget studio. 266

Gesamtaufriß des Erkenntnislebens Jesu

„ In Dir, meinem Jesus, sehe ich das Sinnenleben durchleuchtet von dem geisti gen Licht, das geistige Leben sehe ich als das erleuchtende und erleuchtete Licht

und das göttliche Leben als das nur erleuchtende.“ „Da Du nämlich der voll kommenste Mensch bist, sehe ich Deinen Intellekt im Verstande (ratio) als seinem Raume an seinen Ort gestellt wie eine Kerze im Zimmer, die das Zimmer, alle Wände und das ganze Gebäude erleuchtet, jedoch mehr oder weniger, je nach dem Grad der Entfernung. Sodann sehe ich , wie sich das göttliche Wort der

höchsten Spitze des Intellekts eint, so daß der Intellekt unmittelbar der Ort ist, wo das Wort aufgenommen wird. Es ist, als ob sich das Licht der Sonne (der Spitze) der besagten Kerze einte. " 45 Christus wird durch die Osterkerze dargestellt, wie es anderswo heißt. Die

Gottheit ist deren wahres Licht. Ohne die Mitteilung ihres Lichtes wären selbst Seele und Leib Christi nur wie Docht und Wachs einer unentzündeten Kerze.

Durch die seinem Geiste mitgeteilte gnadenhafte Lichtfülle wurde Er „das Licht für das Licht der Völker “ und „ Anfang, Mitte und Ende alles geistigen Lich tes “ 46. „Die Weisheit aller einstigen und künftigen Menschen ist in der Weis heitsfülle Christi eingefaltet. “ 47 Als Gott und Mensch ist Er die Fülle aller Wahrheit und Wahrheitserkenntnis und der geborene Lehrer und Vermittler der Wahrheit, der Weg zur Wahrheit und die Wahrheit selbst “ 48.

5. In Predigt 256 ( 1456) behandelt der Kardinal ausdrücklich die Frage, ob es bei Christus ein Wachsen in der Erkenntnis gab. Dabei stellt er dem Motto : „Der Knabe aber wuchs und erstarkte, voll der Weisheit “ ( Lk 2,40) , den Satz

gegenüber: „ Er nahm zu an Alter und Weisheit“ (2, 52) 49. Er erklärt, daß die „ absolute Menschheit“, nämlich die Idee Mensch , wie sie in Gott wirklich ist und

an der alle Menschen als an ihrer wahren substantialen Form“ partizipieren, kein Mehr und Minder zuläſst. Das gilt auch von der „ wahren, absoluten Weis heit“ . Die göttliche Weisheit war also von Anfang an in vollem Maße in Jesus, weil Er die inkarnierte Weisheit ist“ . Für die Inkarnation der absoluten Weis heit in Christus gebraucht Cusanus das Bild „ absoluter Kälte “ , die sich beim Gefrieren in beschränkter Weise dem Wasser mitteilt, und zwar deshalb be 99

schränkt, weil das Wasser sie nicht als solche aufnehmen kann. Immerhin kann sie aber das Wasser in beständigem Gefrierzustand halten, und dabei können seine Kältegrade noch wachsen. Das bietet die Vergleichspunkte für die blei bende hypostatische Einung und das Erkenntniswachstum Christi . Das Ergebnis lautet: „ Wenn wir auf die menschliche Natur in Christus schauen , die in jedem

Menschen ein Wachstum an Weisheit empfangen kann, so sagen wir, daß auch Jesus als wahrer Mensch an der Weisheit zunehmen konnte, die in Ihm wohnte. “ Dem fügt Nikolaus noch den Gesichtspunkt hinzu : „Wie ein Weiser in der Be redsamkeit Fortschritte macht, um seine Weisheit den Hörern darzulegen, so 45 De visione Dei c. 22 (P 111 ") . 46 S 136 (V2 3713-6). Die Annahme, daß Johannes von Kastl die Hauptquelle der

christologischen Lichtsymbolik in De visione Dei ist, liegt um so näher, als dieses Werk Benediktinermönchen gewidmet ist . 47 S 204 (V2 176 " ). 48 De visione Dei c. 20 (P 110 ').

49 S 256 (V2 202 " - ). 267

Gab es ein Wachstum im Erkenntnisleben Jesu?

machte das Kind Jesus später als Mann darin Fortschritte, uns seine Wahrheit mitzuteilen . " 50

Hier bestätigt sich, was wir schon bei der Erklärung von De pace fidei ver muteten: Cusanus hält dafür, daß mit der wahren Menschennatur Jesu notwen dig auch ein natürliches Wachstum an echtem Erfahrungswissen verbunden war 51. Deshalb scheint er auch den Gedanken an eingegossene Erkenntnisspezies

nicht in Erwägung zu ziehen 52. Mit der vorausbestehenden Gottesschau vereinbart sich die cusanische Auffas

sung von einem echten Anwachsen des Erfahrungswissens Christi, wie schon an gedeutet, zwanglos so, daß der Bereich des erfahrungsmäßig Wißbaren bei der Gottesschau vorerst nur in metaphysischer Überschau erfaßt und im allgemeinen

erst auf dem Erfahrungswege zu konkretem Einzelwissen ausdifferenziert wurde. Dabei konnte sich die von den Sinnen ausgehende Verstandeserkenntnis im Lichte der Gottesschau um so leichter und vollkommener vollziehen. Insofern bleibt auch

für eine gewisse Wissenseingießung (scientia infusa) Raum . Darüber hinaus konnte aber auch bei Christus in der Gottesschau selbst, entsprechend der von Cusanus betonten menschlichen Begrenztheit des Visionsaktes, bei der aktuellen Erfassung sekundärer, geschöpflicher Objekte eine Entfaltung vor sich gehen. Wenn nämlich auch vor dem geistigen Auge Jesu schon seit Beginn seines irdi schen Daseins alles Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige im göttlichen Er

kennen selbst aufleuchtete, so ist damit doch noch nicht gesagt, daß Er sogleich auch schon alles einzelne aktuell als solches schaute 53. c) Die Willenstätigkeit und Tugendfülle Jesu Christi

1. Den ontologischen und psychologischen Fragen über den menschlichen Willen und die Willenstätigkeit Christi widmet Cusanus nirgends besondere Aufmerk samkeit. Der Monotheletismus wird sogar nirgends erwähnt. Den freien mensch

lichen Willen Christi und dessen uneingeschränkte Konformität mit dem gött lichen nimmt er ohne weiteres als Tatsachen hin 1. Schon im Bereich des rein menschlichen Lebens zeigt die Erfahrung verschie dene Kräfte, die in der Seele als der einen Form des Menschen geeint sind, aber dennoch verschieden bleiben und verschiedene Wirksamkeiten haben " . So sehe

ich auch “, sagt der Kardinal in De visione Dei, „ in Dir, dem einen Jesus, in ge 50 S 256 (V2 2021- ).

51 Vgl. dagegen z.B. P. Lombardus , Sent. III d. 13 und die von ihm aus Beda und Ambrosius angeführten Texte (604 f.) .

52 In Predigt 256 tritt bei der Gegenüberstellung von ungeschaffenem und kreatūr durch eingegossene Erkenntnis ganz zurück. Im Gegensatz zur Gottesschau des irdischen

lichem Wissen die Frage der Vermittlung des übernatürlichen Wissens durch die Schau oder Christus ist die scientia infusa bei Cusanus jedoch nirgends ausdrücklich gelehrt. 58 Diese Unterscheidung von cognitio habitualis und actualis wendet bereits der

hl. Bonaventura (In Sent. III d . 14 , a. 2, q. 3, concl .: III 316 a) auf die visio Christi

an; vgl. dazu neuestens E. Gutwenger, Das menschlicheWissen des irdischen Christus: Zkath Th 76 ( 1954) 170—86, bes. 184—86.

i z. B. S 175 (V2 82**) : Ut divinae voluntatis pariter et humanae fuisse oblationem aperte constaret, in agonia factus est (Lc 22, 44). 268

Sein göttlicher und sein menschlicher Wille

wisser ähnlicher Weise die intellektuale menschliche Natur der göttlichen geeint, und zwar so, daß Du in gleicher Weise sehr vieles als Mensch wirktest und vieles

Wunderbare als Gott über Menschenvermögen hinaus. “ 2 Diese oft wiederholte Unterscheidung der göttlichen und menschlichen Wirk samkeit in Christus ist für Nikolaus von Kues bezeichnend, besonders deshalb, weil er sich dafür 3, nicht aber für die Vereinung der geschaffenen Kräfte mit den

göttlichen zu einer „ gottmenschlichen Wirksamkeit“ - auf die Autorität des Dionysius stützt. Dieser oder ein äquivalenter Ausdruck findet sich bei Cusanus nie, ein Zeichen dafür, daß er noch stärker als Thomas 5 die Nähe des mono physitischen Gedankenkreises meidet. Dasselbe gilt im Hinblick auf die „ instrumentale Wirksamkeit “ der Mensch

heit Christi . Cusanus bezeichnet gelegentlich den Leib Christi als „ höchst geeig netes Werkzeug der geistigen Natur“ 6, auch einmal als Werkzeug des ewigen

Wortes zur Erleuchtung und Befreiung des Menschengeschlechtes ?, nicht aber die menschliche Natur, inbesondere nicht die Seele mit ihrer freien Willenskraft. Im Anschluß an Mt 9, 22 f. bemerkt er, die Macht Gottes habe sich nicht nur dem Fleische als dem Kleid der Gottheit, sondern auch dem Kleid des Fleisches 99

bis zum Saum des Gewandes “ mitgeteilt 8. Er versteht das jedoch nicht in einem instrumental-ursächlichen Sinne. So erklärt er z. B.: „ Nicht die leibliche Be rührung heilte den Aussätzigen, sondern das Wort Gottes, das sich (seine Kraft) willentlich applizierte, ebenso wie Naaman nicht durch die Waschung im Jordan, sondern durch das vom Propheten verkündete Wort Gottes geheilt wurde. “ 9 „ Wenn Christus wollte, ging Kraft vom Ihm aus. “ 10 Cusanus zieht also bei den Wundern Christi keine instrumentale Wirkursäch

lichkeit der menschlichen Natur in Erwägung. Um so mehr hebt er die Allmacht des Wortes hervor : „ Weil Gott nur in Christus mit seiner ganzen Fülle wohnte, konnte auch nur Christus, in dem die allmächtige Kunst Gottes des Vaters ist, in der menschlichen Natur mit eigener Kraft Werke vollbringen, die einzig dem Schöpfer zukommen. “ 11 Die Macht Christi ist mit dem göttlichen Willen iden tisch . Daher kann Er alles, was Er will 12. Auf das Wort des Sohnes Gottes hört alles. „Er ruft, was ist, wie das, was nicht ist“ 13, und ohne Ihn kann niemand

etwas tun . Denn das Wort ist zugleich die Macht, durch die Gott die Welten erschuf. “

14

2 De visione Dei c. 22 (P 111 ') .

3 Vgl . oben S. 198 .

4

* Ps. -Dionysius , Ep. 4, Ad Gaium (PG 3, 1072 C) . Die von Cusanus herange

zogene Stelle steht in demselben Brief kurz zuvor. Es scheint, daß Cusanus die Vor

stellung des Zusammenfließens beider Wirksamkeiten zu einer „physischen “ Wirkeinheit, ähnlich wie Thomas (S. theol. III q . 19, a. 2 ad 1 ), hintanhalten wollte. 5 Thomas verteidigt a. a. O. den Ausdruck divina virilis operatio als im Sinne des Dionysius orthodox. 1 S 197 (V. 115 " ). & D. Ign. III, 3 ( H 132, 21 ) . 8 S 32 ( V1 130 ' ). OS 261 (V2 213" );

19 S 273 (V2 243") ; vgl. S 127 (V2 7r*): Non corporalis Christi praesentia sanat, sed 11 S 241 (V2 172° ); vgl . S 235 (V2 1634“) . 19 S 141 (V2 43 " ); vgl. 'S 261 (V2212a-6). 13 S 139 (V2 390); Röm 4, 17. Vgl. S 118 (V2 27° ): Verbum sic mandat, cuius vis est

voluntas.

omnipotens.

14 D. Ign. III, 11 (H 152, 23 f.) ; vgl. Joh 15,5 ; Hebr 1, 2 . 269

Die Tugendfülle Jesu Der menschlichen Natur kommt diese Macht des Wortes Gottes nur auf Grund der hypostatischen Einung zu. Sie wird jedoch auch von der göttlichen, indem sie dieser, wie das Eisen einem Magneten, untrennbar als der Quelle ihres Lebens anhängt, mit Kraft erfüllt und ihr ähnlich 15. Dadurch daß die menschliche Kraft Christi in der göttlichen Macht hypostasiert ist 16, wird Christus auch als Mensch „zu einem gewaltigen Fürsten gesalbt" 17. Seine Macht dient dem Ziele, alle vernunftbegabten Geister, die dessen willens sind, mit sich zu vereinen 18. Sie zeigt sich in der Lehre Christi 19 sowie im Glauben und in der Lehre der Christen. 2. Wie Predigt 197 in einer eigenen christlich-platonischen Betrachtungsweise ausführt, ist in Christus nicht nur alle Tugend vollendet. Er selbst ist vielmehr der Inbegriff aller Tugend. Er ist „ die Tugend der Tugenden oder die vollendete Tugend". Das wird so erklärt : „ Ist die Demut eine Tugend, so ist Christus die vollendete Demut. Ist der Gehorsam eine Tugend, so ist Christus der vollendete Gehorsam . Ist der Glaube eine Tugend , so ist Christus der vollendete Glaube. Ist die Liebe eine Tugend, so ist Christus die vollendete Liebe . Daher ist Er selbst der ,Herr der Tugenden 20 und die Tugend selbst, ohne die keine Tugend vollkommen sein kann. “ Cusanus beschließt das mit dem bei seiner Darstellung der Nachfolge Christi wiederholt hervortretenden Motiv : „Willst du aber die Tugend näher benennen , welche die Tugend Christi ist, so ist das der vollkommene Gehorsam (gegen den Willen des Vaters). Die Vernunftseele, die christförmigen Gehorsam anzieht, verdient erhöht zu werden bis zur Glorie der ewigen Glückseligkeit. " 21 Dies Letzte ist zumindest im Hinblick auf die der Seele Christi innewohnende Tugendfülle gesagt. Das gilt auch von einem Vergleich Christi mit einer Blume von sieben Blättern, welche die drei göttlichen und die vier Kardinaltugenden darstellen sollen 22. Auch der Satz : „ Die Gerechtigkeit aller ist in der Gerechtigkeit Christi und die Tugend aller in der Tugend Christi “ , läßt sich noch so verstehen 23. Cusanus beschränkt sich jedoch nicht darauf. Die von ihm eingeschlagene Betrachtungsweise der „ Tugend " drängt zum Absoluten, zum absoluten Inbegriff aller Tugend, und zwar sowohl aller Tugend- Ideen wie Tugend -Kräfte in Christus als dem göttlichen Maximum hin : In Christus war (und ist) die ,Virtus' Gottes selbst. „Denn Er war derart tugendvoll, daß Er nicht noch tugendvoller hätte sein können. So war Er die Tugend selbst über alle Natur und Gnade hin66 aus. 24 Daher konnte Christus von sich sagen: Ich bin die Gerechtigkeit, oder die Wahrheit, oder die Demut, oder die Tugend selbst. „ Er ist nämlich eine jede Tugend oder die wahre Tugend, die in sich alle Tugenden einfaltet. " 25 15 17 19 20 21 23 25 270

De pace fidei c. 12 (P 119º) . 16 S 118 (V2 2ºª). S 32 (V₁ 130va-b) ; vgl . S 102 (V2 19ra) . 18 S 93 (V2 13 ). S 17 ( C 10 , 38 ; 10 , 15) . Vgl . Ps 23, 10 ; 45, 8 ; 79, 5; 83, 9 ; 88, 9 u. ä. S 197 (V2 115 ) . 22 S 252 (V2 195va-b). S 204 dub. 2 (V2 176™ ) . 24 S 269 (V2 231 ™ ) . S 277 dub. 2 (V2 264™ ) .

„Die Tugenden, die der Herr sind " Diese soteriologisch-metaphysische Betrachtungsweise der Tugendfülle Christi verrät deutlich den Einfluß des Ps. -Dionysius. Dieser spricht nämlich von den göttlichen Ideen, wie der „ Gutheit selbst" oder der Weisheit selbst “ , als von Kräften (Suvάues ) , die sich dem kreatürlichen Sein mitteilen und in dessen Vollkommenheiten manifestieren 26. Im göttlichen Logos ist alle Ursächlichkeit solcher Art vor-enthalten 27. „ Infolge der Inkarnation des Wortes manifestiert sich die Ursache von allem in höchstem Maße in der Menschheit Christi. " 28 Jesus ist die überfließende Quelle göttlichen Wohlduftes ", der dem göttlichen Willen entsprechend auf den gottähnlichen Geist überströmt, um ihn christusförmig zu machen 29. In Predigt 274 nennt Nikolaus von Kues selbst für diese „Tugend " -Lehre den von ihm so sehr gerühmten Glossator zu den Paulinen als Quelle . Er führt dort aus : „ Ich erinnere mich, einstmals 30 gesagt zu haben: da Er die Weisheit und Gerechtigkeit und Milde sei und die Tugend der Tugenden, vielmehr der König der Tugenden, sei Er es auch,, durch den die Könige regieren' (Spr 8, 15) ... Alle Regierenden nehmen teil an der Herrschermacht dieses Wortes ... Aber es gibt keinen wahren König, der nicht in Christus regiert, d . h. der nicht Christus so angezogen hat, daß Christus ihn und durch ihn die Untertanen lenkt. Wir, die wir bekennen, daß Christus unser König und Herr ist, müssen auf die goldene Glosse zu dem Apostelwort im Römerbrief ( 10 , 9) achten: ,Wenn du bekennst usw.,,wirst du gerettet werden. Die kleine Erklärung (glosula) sagt dazu ; ,Wer immer Christus als seinen Herrn bekennt, über den müssen auch dessen Wahrheit, Friede und die übrigen Tugenden herrschen, die der Herr sind. Wenn diese über ihn herrschen und er dies mit dem Munde bekennt, an die Auferweckung Christi von den Toten glaubt und einen so heilsamen Glauben mit Werken ziert, wird er ohne Zweifel gerettet werden ...“ 31 Hier stechen am meisten die Worte : „ die Tugenden, die der Herr sind", hervor. Sie flossen Cusanus zuvor schon in Predigt 271 32 sowie in der Erklärung zum Kolosserbrief in die Feder 33. Ähnliche Formulierungen finden sich bereits im Römerbrief-Kommentar des Origenes 34. Die Übereinstimmungen gehen so weit, daß es leicht ist, Origenes als die Quelle der Glossula zu erkennen. 26 Ps . -Dionysius , De div. nom. II , 7 ( PG 3 , 645 B) ; IV, 1 (693 B) ; vgl . XI , 6 (953 B 955 D) . Zur spekulativen Erläuterung s . Lossky 284-87 . Über Platon und Plotin als entferntere und nähere Quelle dieser Ideenlehre s . Müller , Dionysios 46-48. 27 De div. nom. VII, 4 ( PG 3, 871 C). 28 Lossky 307 . 29 Vgl . Lossky 307 zu De eccl . hier. IV, 4 ( PG 3, 480 A). 30 Conc. III, praef. (P 51-52") . 31 S 274 (V2 246b) ; vgl. oben S. 17. 22 S 271 n. 11 (H 128 ) : Qui de plenitudine eius (Christi) recipiunt, sunt per gratiam spiritalem virtuosi, scilicet, quia recipiunt fidem, sapientiam, scientiam et ceteras virtutes, quae sunt Christus. Vgl . S 273 (V½ 243ª) : quoniam notum est Christum esse virtutem, scilicet iustitiam, veritatem, sanctitatem, caritatem, misericordiam ... 33 Vgl. oben S. 7 Anm . 17. 34 X, 9 (PG 14, 1163 C) : Qui vero et non falso confitetur Dominum Iesum et corde credit, pariter se confiteatur dominatui subiectum esse sapientiae et iustitiae et veritatis et omnibus, quae Christus est. (Ebd . 1164 B :) Quod autem idem sit Dominus omnium , secundum haec accipies, quae nuper edidimus, hoc est, si iustitia nobis et veritas et sanctificatio et sapientia, quod totum est Christus Dominus, dominetur.

271

Die Tugendfülle Jesu

Eine zusammenfassende und die ausgereifteste Darstellung seiner Gedanken über die Komplikation aller Tugend in Christus bietet der Kardinal in der Re formatio generalis : ,, Christus ist unser König und der ,Herr der Tugenden ', daher auch der König der Herrlichkeit “. 35 Denn Er ist jene lebendige Tugend, die allen, welche daran

partizipieren, die ewige Ruhe gibt... Die gesamte von Gott inspirierte Schrift möchte uns nichts anderes enthüllen als Christus, die Form 38 der Tugend und des unsterblichen Lebens sowie der ewigen Glückseligkeit, die alle ersehnen. Die

Ihn als den einzigen Lehrer des Lebens annehmen, sind nämlich durch Glauben und Werk so geformt, daß sie sich für das ewige Leben aufnahmefähig erwei sen . “ 37

3. Daß diese Hypostasierung der Tugend -Kräfte in Christus von der aristote lisch -scholastischen Ontologie und Tugendlehre weit entfernt ist, liegt auf der Hand. Die Tugenden werden hier nicht als akzidentielle Dispositionen erörtert, die der einzelnen Seele anhaften können . Cusanus schaut vielmehr mit Platon

und mit manchen christlichen Platonikern unter den Kirchenvätern 38 zu den Tu genden wie zu ewigen Urbildern im göttlichen Logos oder in der Seele Christi auf.

Der Kardinal selbst hat in Predigt 282 eine Erklärung seiner „Tugend “ -Lehre versucht, indem er sich bemüht, den aristotelischen Tugend -Begriff mit seinen

Tugend -Ideen in Einklang zu bringen oder vielmehr ihnen anzupassen. Seine Darlegungen lassen sich in folgenden Leitgedanken zusammenfassen : 1 ) „Die geistigen Vollkommenheiten haben nichts von ihrem Träger, sondern

die Träger erlangen umgekehrt alles von ihnen. Anders ist es bei körperlichen Dingen ... Denn das Körperliche geht zugrunde und hört zu sein auf, wenn sein Träger zugrunde geht. “ 39 2) „Die geistigen Vollkommenheiten empfangen weder Sein noch Teilung, noch Zahl von ihren Trägern , sondern geben ihrem Träger sein ganzes Sein,

soweit das ihnen jeweils entspricht. Das leuchtet z. B. bei der Gerechtigkeit und dem Gerechten ein. Sie sind also vor ihren Trägern, und die Träger sind in 35 Ps 23, 10 u. 8.

36 Forma besagt hier sowohl Urbild wie Vorbild ; vgl. Vf I 131 .

37 Reformatio generalis (Ehses 284) . Später heißt es in dem Briefe vom 11.6. 1463 (Siz 16096) nur noch : si diligimus virtutes immortales, Deum, qui amor et virtus est, diligimus. 38 Schon Conc. I , 3 bezieht sich Cusanus nach dem Decretum Gratiani auf einen

Hieronymus - Text: Quomodo Christus sit sapientia, iustitia, sanctitas, fortitudo etc. secundum sanctum Hieronymum (H 43; Näheres s. ebd.) . Vgl. noch besonders den christologischen Exemplarismus im Johannes-Kommentar des Origenes (I, 22 ff.: PG 14,59 A ff.). Origenes unterscheidet dort die „ Nomenklatur “ , die Christus als dem

Sohne Gottes und als dem Erlöser zukommt. Die Bezeichnung Christi als „ Gottes Weis heit und Macht“ leitet er (ebd. 62 B) von 1 Kor 1 , 24 (Christum Dei virtutem et Dei sapientiam) ab ; vgl. 1 Kor 1 , 30. Ambrosius trägt diese christologischen Aus sagen weiter ; vgl. De virginitate 16, 99 (PL 16, 291 C ) und Expos. Ps. 36, 63 ( CSEL 64, 123) : Cum de virtute loquimur, ipse est , cum de iustitia loquimur, ipse

est, cum de pace loquimur, ipse est, cum de veritate et vita et redemptione loquimur, ipse est. Vgl. ferner Augustinus, De civ. Dei XI, 10 (CSEL 40, I 527) u. a. 39 Vgl. S 271 n. 13 (H 130) : Nota, quomodo in visibilibus nulla est spes ponenda; non

enim possent visibilia, quia temporalia sunt, praestare immortalem felicitatem . 272

Die cusanische „Tugend“ -Lehre

ihnen '. Der Gerechte empfängt als solcher sein ganzes Sein (Gerecht-Sein) von der Gerechtigkeit ...40 Daraus erhellt, daß die Gerechtigkeit, die Weisheit u. dgl. nicht sterben, wenn auch den Unwissenden das Gegenteil zuzutreffen scheint. “

3) „So erfüllt der eine Geist die Herzen der Gläubigen, denen Er das (gnaden haft-)geistige Sein gibt, als der eine, der über Einsheit und Zahl erhaben ist. “ 4) „Dem ,Habitus' nach aber sind die Tugenden in den Tugendhaften. Sie bestehen jeweils in der Nachformung (conformatio) und Nachbildung (configu ratio) der Gerechtigkeit (usw.) und Gottes selbst, von dem sie sind. Ich meine mit Nachbildungen nichts immanent Geformtes, das im Tugend -Träger fixiert

wäre und seine Wurzel hätte. Sie sind vielmehr in beständigem Werden wie der Lichtglanz im (strahlenbrechenden) Medium und das Bild im Spiegel, entspre chend dem Wort des Apostels im Korintherbrief (II 3, 18) : Wir werden in das selbe Bild umgeformt; das geschieht durch den Geist des Herrn. “ 5) „ In diesem Sinne sagt er (Paulus) von Christus, dem ersten Gerechten, daß Er ,das Ebenbild seines Wesens und der Abglanz seiner Herrlichkeit ist. “ 41 Der Umfang der geistigen “ Vollkommenheiten, von denen Cusanus hier 9

spricht, ist sinngemäß auf die übernatürlich eingegossenen oder durch Gnaden gaben übernatürlich erhobenen Tugenden zu beschränken. Dabei denkt der Kar dinal nicht daran, die Realität und Aktivität der natürlichen Geisteskräfte zu

leugnen. — Zweitens werden diese übernatürlichen ,Tugenden“ sehr dynamisch, als Einwirkungen Christi auf die begnadete Seele, aufgefaßt. Auch die Seele Christi erscheint hier überströmt von dem fließenden Lichte seiner Gottheit, das

sich über Ihn anderen mitteilt. Die göttliche Person ist entsprechend nicht nur der hypostatische Träger, sondern auch die stetig strömende Quelle der Tugend kräfte. Darin liegt wohl auch der eigentliche Grund dafür, daß Christus nicht nur im Hinblick auf Attribute der göttlichen Natur, sondern z. B. auch hinsicht lich des christlichen Gehorsams als die „Tugend selbst “ bezeichnet wird. — Drit tens werden hier die Christen-Tugenden -- im Gegensatz zu jeder versachlichen

den Vorstellung - vorwiegend als permanente Selbstmitteilung göttlicher Güte und der Fülle Christi oder als übernatürliche personale Bande mit der Person des Erlösers aufgefaßt 42. „Wer einen (solchen ) Tugend -Habitus anzieht, zieht Christus an und wird dadurch den Auserwählten, den Heiligen und Geliebten Gottes, gleichförmig ." 43

Diese Tugend-Lehre ist mit dem Gedanken der Vollendung des Universums in und durch Christus eng verwandt. Denn letztere geschieht fortgesetzt dadurch , daß Christus neue Glieder seines geistigen Leibes an seiner Gnade und seinen

* Vgl. S 271 n. 14 ( H 130) : Iustitia enim apud quemlibet iustum est ex integro , non divisa per iustos.

Vgl. Eckhart , Expos. s. evangelii sec. Ioh. n. 22 (L.at. Werke III 18 ,

15) : Iustitia a se tota est in iusto quolibet, sowie die cusanische Randbemerkung Cod . 21 , 94 " : Non est alia iustitia in se et alia in iusto (zu n. 119 : Lat. Werke III 104 ). 41 S 282 (V2 275 ° ).

42 Was die Hauptrichtungen der mittelalterlichen Gnadenlehre angeht, so zeigt sich Cusanus darin besonders mit Bonaventura verwandt ; vgl. Auer , Entwicklung II 352. 43 Elucidatio (zu Kol 3, 12) , V2 291" . 18 Haubst, Nikolaus v. Kucs

273

Die Tugendfülle Jesu göttlichen Tugend -Kräften teilnehmen läßt. Daher gelten auch von der Vollendung des Universums wie von der Erreichung der übernatürlichen Zielbestimmung des Menschen die Sätze : „Christus ist die absolute Vollendung. Denn alles ist dann vollendet, wenn es zur Wahrheit gelangt ... Christus, der die Wahrheit ist, ist also die Vollendung alles Vollendbaren. “ 44 4. Eine auffallende Eigentümlichkeit bedeutet es, daß Nikolaus von Kues von dem „ Glauben" Christi spricht, und zwar nicht nur gelegentlich, sondern von Predigt 14 an 45 bis in seine letzten Predigten, vor allem in den beiden letzten Kapiteln der Docta Ignorantia, und daß er dabei keinen Zweifel läßt, daß ein Christus innewohnender „ Glaube “ und nicht etwa der Glaube an Christus gemeint ist. Scheint Cusanus damit nicht von der entgegenstehenden Lehre der scholastischen Theologie abgesehen 46 - seiner eigenen Lehre von der Gottanschauung Christi während seines Erdenlebens zu widersprechen? Macht sich eine solche Meinung nicht auch des Nestorianismus verdächtig? Nach Predigt 197 ist zu vermuten 47, daß Cusanus dem Gottmenschen mit dem Hebräerbrief ( 12 , 2 ) die „ Begründung und Vollendung des Glaubens “ zuschreiben möchte. Predigt 114 erhebt sogar den „ Glauben Christi “ bis zum Range einer absoluten, mit der Gottheit identischen Idee , an deren Vollgehalt und Kraft der Glaube aller Christen partizipiert, ohne sein Urbild und dessen wunderbare Wirkkraft jemals erschöpfend zur Darstellung bringen zu können 48. Das entspricht ganz der cusanischen „ Tugend" -Lehre, von der wir soeben hörten. So werden auch Wendungen wie diese verständlich: „Die Kraft des Glaubens ist nichts anderes als die Kraft des Wortes ... Glaube und Wort fallen zusammen ... Glaube ist gleichsam der Name oder das Wort Gottes. " 49 „Jener Glaube fällt mit dem Erlöser zusammen ... Der Glaube ist nichts anderes als Christus. “ 50 44 S 224 (V2 150 ) . Cusanus dürfte diesen Gedanken aus Eckhart übernommen und zu allgemeiner ontologischer Gültigkeit erweitert haben; vgl. Eckhart , Expos. s. evang. sec. Ioh. ( 1 , 17 ) n. 184 (Lat. Werke III 153 ) : Omnia, quae perfectionis sunt et quae perfecta sunt, puta gratia, veritas vitae, iustitiae et doctrinae, ad Christum pertinent ... Venire ergo ad perfectionem quamlibet, est venire ad Christum. · Vgl. Cusanus, S 251 (V2 193 ): Est ipsa perfectio perfectorum. 45 S 14 (C 103 , 44) : firmitatis fidei Christi, quae fuit vera petra ; vgl. Dionysius , De div. nom . VII , 4 (PG 3 , 872 C ) : Η θεία πίστις ἐστὶν ἡ μόνιμος τῶν πεπιστευμένων ἵδρωσις 46 Vgl . Summa Sententiarum I , 18 (PL 176, 77 B) : Quaeri etiam solet, utrum Christus habuerit fidem, spem et caritatem ... Quod fidem habuerit, non est concedendum. Thom. v. Aq., S. theol . III q. 7 , a . 3 c.: Excluso, quod res divina non sit visa, excluditur ratio fidei ... ; unde fides in eo esse non potuit. - P. Lombardus spricht Christus Glaubensakte, aber nicht den formellen Glaubenshabitus (fides- virtus) zu : Sent. III d. 26, c. 4 (672 ) ; vgl . Landgraf II 2, 124f. 47 Vgl. oben S. 270. 48 S 114 (V2 28 ) : Nostra fides est ex participatione absolutae fidei. Sicut igitur bonitas absoluta est ipsa maximitas et ob hoc est omne id, quod est in omni bono ..., sic fides absoluta Christi se habet ad omnem fidem. Unde absoluta fides omnia indifferenter operata est in Christo , sed in aliis non indifferenter , sed alius habuit operationem unam miraculosam, alius aliam. - Es ist zu vermuten, daß diese fides-Lehre durch die in Anm. 45 zitierte Dionysius- Stelle angeregt ist, die auch von dem Vorenthaltensein aller Weisheit im Logos spricht. 49 S 114 (V2 27-28 ). 50 S 51 (V182 ). 274

Sein „Glaube

In der Docta Ignorantia ist die Bezeichnung Christi als des Glaubens mit dem

cusanischen Komplikations- und Maximitätsgedanken verknüpft: Der „Glaube “ Christi entfaltet sich stufenförmig im Glauben der Christen und, weil der Glaube der Anfang der Einsicht ist, auch in der am Glauben orientierten Wis senschaft 51. „ Daher gibt es keinen vollkommeneren Glauben als die Wahrheit

selbst, die Jesus ist. “ 52 „Daher kann auch die Wahrheit unseres Glaubens, wäh rend wir auf Erden pilgern, nur im Geiste Christi ihre Subsistenz haben .“ 53 Bei alldem ist offensichtlich nicht daran gedacht, Christus denselben Glaubens

Habitus wie den Christen zuzuschreiben. Weniger eindeutig scheint das bei den Sätzen : „Den schlechthin größten Glauben kann es nur in einem Erdenpilger geben , der zugleich auch in der Gottesschau (comprehensor) ist, wie es Jesus war." 54 „ Der schlechthin größte Glaube kann in keinem sein, der nicht zugleich auch in der Schau ist. “ 55

Der erste dieser Sätze wird durch den Zusammenhang geklärt : „So mächtig ist jener Glaube – der so der größte ist, daß er auch der kleinste ist –, daß er den gesamten möglichen Glaubensinhalt (omnia credibilia) in dem zusammen

faßt, der die Wahrheit ist. “ 56 Hier liegt eine Anwendung der „Regel der docta ignorantia “ 57 vor: Der Glaube Christi übersteigt als größter Glaube den Bereich des Mehr und Minder und ist gleichbedeutend mit dem Besitz der Wahrheit in :

der Gottesschau.

Anders ist es jedoch bei dem zweiten Satz. Diesem geht unmittelbar die Er klärung voraus : „Das Größte in irgendeiner Gattung ist nicht nur deren höchster

Punkt, sondern auch der Anfang einer höheren. “ 58 Das ist eine formgerechte Anwendung des Maximitätsprinzips. Diesem zufolge käme Christus sowohl wirklicher Glaube wie dessen Vollendung in der höheren Gottesschau zu 59. Somit bleibt also eine Unklarheit in der Docta Ignorantia darüber zurück , ob man bei Christus auch im Sinne eines Glaubens -Habitus von „Glauben “ sprechen könne oder nicht. Der cusanische Grundgedanke ist jedoch klar : Der Inhalt und

die Kraft alles Christenglaubens präexistiert und hat seine Quelle in Christus, und zwar in dessen Gottesschau. Sein „ Glaube “ ist von Anfang an von ller Dunkelheit befreit, erhaben über alle Ungewißheit und inhaltlichen Mängel , so

daß er das ideale Vollmaß des Glaubens darstellt. Denn auch schon bei einem bloßen Erdenpilger, der als solcher den größtmöglichen Glauben Christi haben möchte, muß der Glaube sich zu einer solchen Stufe unbezweifelbarer Gewißheit erheben, daß er auch schon nicht mehr Glaube, sondern vielmehr eine Gewißheit ohne jeden Zweifel in irgend etwas ist “ eo. 51 Vgl. Vf I 24—26 . 52 D. Ign. III, 11 (H 152, 8) ; vgl. S 114 (V2 28" ): Christus habuit maximam fidem , quia Verbum ipsum . 53 D. Ign. III, 12 ( H 158, 24 f. ) .

54 D. Ing. III, 11 (H 154 , 21-23) . 55 D. Ign. III , 12 ( H 157 , 24 f. ) .

56 D. Ign. III, 11 ( H 154, 28 f.) . 57 Vgl . oben S. 146 f. 68 D. Ign. III, 12 (H 157, 22 f.). 5a Vgl. die Parallele: Der größte Mensch muß (indem er Mensch bleibt) auch Gott sein. 60 D. Ign . III , 11 (H 154, 23—27) . 18*

275

II. LEIB , SEELE UND GOTTHEIT JESU WÄHREND DES TRIDUUM MORTIS1

a ) Der Verbleib von Leib und Seele in der hypostatischen Einung sowie die Unzerstörbarkeit der Menschheit Jesu

1. Die christologischen Quästionen in Cod. Cus. 40 enthalten die Frage: ,Durch welche Tat Christi wurde unser Heil bewirkt? “ Die Antwort lautet : „ Durch alle

zugleich ... Die Menschwerdung des Wortes sowie die Tötung und Auf erweckung Christi wurden das Heil aller Gläubigen, ebenso das Blut des einen Gerechten . “ 2 Mit diesen Geheimnissen des Erlöserlebens hat sich Cusanus vor

allem auch unter dem Gesichtspunkt der hypostatischen Einung intensiv be schäftigt.

Die beiden hauptsächlichsten Dokumente bestehen in den besagten Quästionen sowie im Beweis der These, „ daß das, was aufersteht, niemals von der Person

des Auferstehenden getrennt war“ . Für diese beiden Stücke ist allerdings noch die Autorschaft des Cusanus sicherzustellen und die Datierung zu versuchen . Im folgenden gehen wir deshalb bereits mit besonderer Aufmerksamkeit den Entwicklungsstadien der cusanischen Ansicht und der Quellenbenutzung im datierbaren Schrifttum nach. In seinen ersten Predigten trägt Nikolaus die von der Frühscholastik geklärte und von der Hochscholastik und weiterhin unentwegt festgehaltene Väterlehre :

vor : Die hypostatische Einung des göttlichen Wortes mit Leib und Seele wurde niemals gelöst. Auch bei der Trennung von Leib und Seele lag Christus viel mehr dieser Einung zufolge zugleich dem Leib nach „ im Grabe, (der Seele nach ) stieg Er zur Unterwelt hinab, seiner göttlichen Natur nach herrschte Er überall, im Himmel und auf Erden “ 4.

Die frühen Cusanus-Predigten erklären auch ebenso eindeutig : „Nachdem Christus gestorben war, hätte man nicht wahrheitsgetreu sagen können , Er sei ein Mensch, und zwar wegen der Trennung von Leib und Seele. “ 5 Damit schließt sich Nikolaus – entgegen der Ansicht des Magisters 6 – den großen Schola stikern, wie Albertus Magnus 7, Bonaventura und Thomas , und der auch von den Theologen seiner Zeit allgemein vertretenen Sentenz 10 an. 1 Vom Tode bis zur Auferstehung.

2

q . 9 (unten S. 317) .

3 Zur Väterlehre als solcher vgl. Favre 687—724 ; zur frühscholastischen Lehrent wicklung Landgraf II 1 , 273_319.

* S 6 (C 25°, 31—33) ; vgl. S 4 (C 81 ', 56 - 81 ', 1 ) : Quamquam anima separata fuit a corpore, remansit tamen deitas unita utrique. Homo tamen per triduum non fuit.

5S 6 (C 25°, 30 f.); zu S 1 (C 19', 23 f.) s. oben S. 114; zu S 4 die vorhergehende 6 Sent. III d. 27 , c. 1 (650 f.); vgl. Langraf II 1,279 ff. ? In Sent. III d. 22, a. 1 (B. 28, 385 a): Omnes fere moderni concordant in hoc, quod

Anm. 4 .

falsa sit (propositio, quod Christus in triduo fuerit homo) et quod Magister hoc deceptus fuerit ; vgl. Haberl 66—68. Dieser „modernen “ Ansicht hatte insbesondere die Porreta nerschule die Bahn gebrochen ; vgl. Landgraf II 1 , 300—04. 8 In Sent. III d. 22, a. 1 , q . 1 ( III 450-53) .

9 S. theol . III q. 50, a.4 parall., vgl . Schilz 370—377 481–501 .

10 Vgl. Joh. Capreolus , Defensiones pars III , d. 21/22, q. 1 , concl. 2 ( V 273): Christus in triduo mortis non fuit homo ; Alphonsus Tostatus , Paradoxa IV, 44 276

Der Fortbestand der Menschheit Jesu im Tode

Cusanus hält auch in der Folgezeit an der Glaubenswahrheit des Todes Jesu und der damit gegebenen Trennung von Leib und Seele fest. Doch von der Docta Ignorantia an bäumt er sich gegen die Konsequenz auf, daß Christus des halb während des Triduum mortis nicht Mensch gewesen sei . Er sucht vielmehr die Unzerstörtheit und Unzerstörbarkeit der Menschheit Jesu auch für die Zeit des Todes zu verteidigen .

2. Die Docta Ignorantia beginnt das Kapitel ,Uber das Geheimnis der Auf

erstehung“ mit der These: „ Christus war als Mensch leidensfähig und sterblich und konnte in die Unsterblichkeit des Vaters, der als das absolute Leben die

Unsterblichkeit selbst ist, nur dadurch eingehen, daß das Sterbliche die Unsterb lichkeit anzogʻ ( 1 Kor 15, 53). Das war nur durch den Tod möglich .“ Dasselbe wird nochmals eingeschärft: „Er hätte kein echter Mensch sein können, wäre Er

nicht sterblich gewesen, und Er konnte die sterbliche Natur nur dadurch zur Un sterblichkeit führen , daß die Sterblichkeit durch den Tod abgestreift wurde. “ 11 Dieses Ablegen der Sterblichkeit setzt den Fortbestand der hypostatischen Einung zwischen Tod und Auferstehung voraus. Cusanus begründet diesen so :

Jene Menschheit ist wegen der höchsten Einung nicht von der Gottheit trennbar. Sie ist gleichsam von der Gottheit (als Kleid) angezogen und angenommen und kann nicht personal für sich bestehen . Der Mensch ist hingegen aus Leib und Seele geeint. Deren Trennung ist der Tod. Weil aber jene größte Menschennatur

in der göttlichen Person ihren Selbstand hat, war es auch nach der örtlichen Trennung zur Zeit des Todes nicht möglich, daß Leib oder Seele von der gött lichen Person getrennt worden wären. Der Mensch hatte ja ohne diese keinen Selbstand .“ 12 Hier fällt auf, daß Cusanus wie selbstverständlich auch den Weiterbestand der

Menschennatur beim Tode Jesu annimmt. Die Subsistenz von Leib und Seele in

der göttlichen Person und die soteriologische Notwendigkeit, daß der Erlöser als Mensch durch den Tod hindurchging, genügt ihm offensichtlich trotz der „ört lichen Trennung “, Christus auch während des Triduum mortis als Menschen zu

bezeichnen . Das bedeutet, kurz gesagt : Nikolaus wendet sich hier von Thomas von Aquin zu Petrus Lombardus oder Hugo von St. Viktor 13 zurück . Dabei geht es ihm jedoch keineswegs um die Erörterung der mit der Frage, ob Christus

auch im Triduum mortis Mensch gewesen sei “ , verbundenen logisch -begrifflichen Probleme. Aber er möchte sachlich gerade diese Frage beantworten durch den Beweis seiner metaphysischen These, daß der Wesensbestand der Menschheit Jesu auf Grund der hypostatischen Einung auch im Tode unzerstörbar blieb. Dazu schlägt er folgenden Weg ein : „ Christus starb nicht so, als wäre dabei seine Person erloschen 14. Denn ohne (XXV 109) : Omnes namque theologici doctores eum (Magistrum) improbant in hac parte.

11 D. Ign. III, 7 (H 139, 7—10 20—22) . 13 Vgl. Poppenberg 80–87

12 D. Ign. III , 7 (H 140, 8—14) .

14 Hier erkennt Cusanus indirekt die scholastische Lehre vom Aufhören des mensch

lichen Personseins im Tode bei den übrigen Menschen an. Vgl. Thom . v . A q ., S. theol. III q. 50, a. 4 und die dortige Kritik an der Lehre des Hugo von St. Viktor. Zu dessen

Personbegriff s. Poppenberg 71-75 83—85. 277

Die Docta Ignorantia über die „ örtliche Trennung“ von Leib und Seele im Tode örtliche Trennung von dem Zentrum , in dem seine Menschheit ihre Subsistenz hatte, blieb Er hypostatisch mit der Gottheit geeint. Der unteren Natur nach,

welche als echte Natur 15 die Trennung der Seele vom Leibe erleiden konnte, geschah zeitlich und örtlich die Trennung, so daß Leib und Seele während des Todes nicht an demselben Orte und nicht in der Zeit zusammen waren . Zer störung war an Leib und Seele deshalb keine möglich , weil beide der Ewigkeit geeint waren . Vielmehr war lediglich die zeitliche Geburt dem Tode und einer zeitlichen Trennung unterworfen , so nämlich, daß sich erst der Kreislauf ihrer

Rückkehr bis zur Lösung ihrer zeitlichen Zusammensetzung (von Leib und Seele) vollenden und der Leib aus der Verhaftung ins irdisch - zeitliche Geschehen lösen mußte, ehe ,die Wahrheit der Menschheit, die über der Zeit ist, da sie infolge

der Einung mit der Gottheit unzerstörbar bleibt, die Wahrheit des Leibes mit ,der Wahrheit der Seele so vereinte, wie es ihre (der Menschheit) Wahrheit ver langte. " 16 Dieser Text gibt uns das Rätsel auf, was hier unter „Wahrheit“ zu verstehen ist. Geht es Cusanus um eine dualistische Gegenüberstellung von Idee und indi

vidueller Wirklichkeit? Oder geht es um eine Gegenüberstellung der irdischen und himmlischen Seinsweise derselben individuellen Menschennatur ? Man könnte hier fürs erste auf den Gedanken kommen , Cusanus setze beides gleich oder springe von einem zum andern über.

Die Lösung dürfte darin liegen : Cusanus überträgt hier platonische Prädikate des abbildlichen und des ideellen Seins auf die individuelle Menschheit Christi, sofern diese auf Erden in Ort und Zeit existiert und anderseits ihrer Subsistenz

nach bereits im Reiche der unveränderlichen göttlichen Wahrheit beheimatet ist 17. Der Tod bringt nur die Lösung der Wirklichkeit (veritas) aus der akziden

tellen Verhaftung in Raum und Zeit. Mit ihm beginnt die „ Rückkehr " in das Reich der transzendenten Wahrheit, in dem sowohl der Idee Mensch nach wie auf Grund der fortbestehenden Subsistenz von Leib und Seele im Worte nie eine

Trennung bestand und das in Raum und Zeit Getrennte „ ohne weiteres “ wie derum durch die Macht Gottes geeint wird. Folgende Sätze bestätigen das : Die „Wahrheit“ der Menschheit Christi ist,

„ sofern sie ins Zeitliche hineingezogen ist (ut est temporaliter contracta), gleich sam ein Zeichen und Abbild der überzeitlichen Wahrheit. So ist ( insbesondere)

die ins Zeitliche hineingezogene Realität ( veritas) des Leibes gleichsam ein Schatten der Wahrheit des überzeitlichen Leibes . “ 18 „Die Menschheit Jesu soll 15 Gemeint sein dürfte: wegen ihrer Verflochtenheit in die irdisch -natürliche Ordnung. 16 D. Ign. III, 7 (H 140, 15—28 ). 17 Vgl . oben S. 226. In umgekehrter Richtung gelangt Eriugena zu seiner Vorstel lung von Gott als der Substanz aller Dinge. Diese beruht auf der Übertragung des aristotelischen Substanzbegriffes auf die platonische Idee und des Verhältnisses der

ouußeßnxóta auf das der Individuen zur Idee“ (Ueberweg-Geyer 174) . 18 D. Ign. III, 7 (H 141 , 25—27 ) . Daß dies von der Realität ein und derselben Men schennatur zu verstehen ist, wird im Folgenden (H 141 , 27-142, 10) verdeutlicht. Vgl. insbesondere die (neuplatonische) Auslegung der aristotelischen Kategorienlehre in De

dato Patris luminum (P 194°) : Hoc esse (substantiale) descensive recipitur, scilicet quan titative ... localiter et temporaliter ... Sed quia per quantitatem non pure substantia liter, sed descensive et contractione tali recipitur, non est quantitas substantia. 278

und die unzerstörbare „Wahrheit“ der Menschheit Jesu

man (ferner), indem man sie in ihrer Einschränkung auf den Menschen Christus betrachtet, auch zugleich als mit der Gottheit geeint ins Auge fassen . “ Denn sie

ist „ gleichsam ein Mittelding zwischen dem rein Absoluten und dem nur Be schränkten “ 19. So kommt Cusanus zu dem Resultat : Nur „der Zeitlichkeit nach , in die sie

hineingezogen war, war sie (die Menschheit Jesu) zerstörbar. Im Hinblick darauf, daß sie aus der Zeit gelöst und über der Zeit sowie der Gottheit geeint

war, war sie unzerstörbar.“ 20 Kurzum, „ nur in bestimmter Hinsicht ( secundum quid) war sie zerstörbar; einfachhin gesehen (simpliciter), war sie unzerstör bar “ 21. Die Trennung von Leib und Seele konnte vorübergehend geschehen . Aber die Wahrheit der hypostatischen Einung forderte die Einung der (ge samt- )menschlichen und der göttlichen Natur“ 22. 3. Auch Predigt 27 ( 1444) begründet die Möglichkeit der Auferstehung damit, daß die Gottheit

nie von Leib und Seele Christi ge

die „ das Leben ist“

trennt war. „Denn es könnte nichts auferstehen, was nicht im Unzerstörbaren seinen Subsistenzgrund hätte. “ Doch hier erklärt Cusanus auch ausdrücklich , daß die Leib -Seele - Einheit zum

individuellen Menschsein gehört. Er bezeichnet diese, da sie Voraussetzung für das menschliche Leben ist, auch unumwunden als „ formal “ 23. Näherhin dürften in diesem Worte zwei Bedeutungsgehalte zusammenfließen : einmal , daß die Seele als substantielle Form des Leibes das Lebensprinzip ist, zweitens wohl auch , daß man ohne diese Einheit im Hinblick auf Leib und Seele nur „im materiellen Sinne von einer menschlichen Natur sprechen könne 24.

Das führt zu der Folgerung : „ Stirbt ein Mensch , dessen Menschennatur in ihm real subsistiert, so schwindet auch seine Menschennatur ihrem in die Zahl

eingeschränkten Sein nach (in contracto esse numerali) . “ Für die Menschheit Christi hält Nikolaus jedoch auch hier die Gegenthese aufrecht, daß sie ununter brochen der Gottheit geeint und insofern unsterblich war. Er betrachtet demnach die hypostatische Einung als unerschütterliche Grundlage und die formale als insoweit durch diese ersetzt, daß die Aussage des Menschseins bei Christus be rechtigt bleibt.

Das erläutert er durch den Vergleich : „ Nimm an, das Licht in der Sonne ent zündet durch seine Strahlen in einem Brennspiegel Feuer, das im Flachs brennt. Das Licht des Feuers hört im Flachs auf, wenn der Flachs verbrannt ist. Es hört

aber nicht in der Sonne auf. Jenes Licht, das in der Sonne seine Hypostase hat 25, ist also immerwährend, weil es in etwas Immerwährendem suppositiert ist. Aber in diesem Feuer ist es nur in beschränkter Weise suppositiert, entspre chend der Zerstörbarkeit des zerstörbaren Suppositums. “ 26 19 D. Ign. III, 7 (H 141 , 15-17 ; 19 f.). 21 Ebd. Z. 20f.

20 Ebd. Z. 22-24.

22 Ebd. H 142 , 11f.

23 Unio formalis ; vita seu forma humanalis .

24 Zu beiden Möglichkeiten vgl. unten S. 293 u. 304 . 25 Vgl. Albertus M., De causis et proc. univers. II, tr. 1 , c. 21 (B. X. 469 a) :: Lumen

solis hypostasis est colorum, und Wilpert , Vom Nichtanderen 119 Anm. 3. 28 S 27 (V1 65 % ). 279

Der Fortbestand der Menschheit Jesu im Tode

Das zielt, wie auch schon die Docta Ignorantia, darauf ab , die singuläre Un zerstörbarkeit der Menschheit Jesu, der realen Trennung von Leib und Seele beim Tode zum Trotz, durch die hypostatische Einung, die nur ihr zukommt, zu begründen 27. Die Schrift De visione Dei bringt das auf die antithetische Formulierung: „ Jesus starb, obwohl die Einung mit dem Leben blieb . “ 28 Dort sucht Cusanus seine Ansicht auf folgendem manuduktorischen Wege vom allgemein -mensch 66

lichen Verhältnis von Leib und Seele her zu erklären :

„ Ich sehe, daß die Geistseele dem Leibe durch eine sinnliche Kraft geeint wird ,

die den Körper belebt. Hörte nun die einsichtige Seele (anima intellectiva) auf, den Leib zu beleben, ohne daß sie sich von ihm trennte, so wäre der betreffende Mensch tot, weil das Leben aufhörte. Dennoch wäre der Leib nicht vom Leben

getrennt, da der Intellekt sein Leben ist ... In diesem Falle bliebe die Geist natur dem Leibe geeint, und der Leib stände unter keiner andern (substantiellen ) Form als zuvor. Er behielte vielmehr dieselbe Form und bliebe derselbe Leib.

Auch die Lebenskraft hörte nicht zu sein auf. Sie bliebe (substantiell) in der Einung mit der geistigen Natur, obwohl sie sich nicht aktuell auf den Leib er streckte . “ 29

Zur weiteren Beschreibung dieses Grenzzustandes führt der Kardinal das von

Augustinus erwähnte Beispiel des Presbyters Restitutus an, der die Lebens einwirkungen der Seele auf den Leib so zurückhalten konnte, daß er wie tot

schien 30. Das Ergebnis seiner Erörterungen spitzt er wieder antithetisch zu : Ein Mensch in solchem Zustande „wäre wahrhaftig (veraciter) tot, weil er des be

lebenden Lebens ermangelte – der Tod ist nämlich die Ermangelung dessen , dennoch wäre aber jener tote Leib nicht von seinem Leben , das

was belebt

die Seele ist, getrennt “ 31 . Das erweckt den Verdacht, Cusanus wolle auch bei Christus die Phänomene

des Todes als „wahrhaftigen Tod “ bezeichnen und so de facto den metaphysi schen Tatbestand seines Sterbens negieren. Das Folgende spricht jedoch dagegen . Denn es zeigt, daß der zuvor beschriebene Grenzzustand vergleichsweise auf die hypostatische Einung der Gottheit mit Leib und Seele übertragen werden soll. Die nächsten Sätze lauten nämlich :

„ Auf dieselbe Weise sehe ich , mildester Jesus, das absolute Leben, das Gott ist, Deinem menschlichen Intellekt und durch diesen Deinem Leibe untrennbar

geeint. Denn jene Einung ist derart, daß sie nicht größer sein könnte. Eine

trennbare Einung wäre weit geringer als eine, die nicht mehr größer sein könnte. Nie war es also wahr, noch wird es je wahr sein, daß die göttliche Natur von 27 S 27 (V1 65" ); vgl. S 76 (V1 75 " ): Natura humana (Christi) est immortalitati unita. Hoc probatur per veram resurrectionem .

28 De visione Dei, Überschrift zu c. 23 (P 111"). Die Antithese soll hier, wie auch sonst bei Cusanus, dazu dienen, ein die menschliche Erfahrung übersteigendes Faktum als solches hervorzuheben und von zwei Seiten her in den Blick zu fassen. 29 De visione Dei c. 23 ( P 112 ') .

30 De visione Dei c. 23 (P 112'); A ugustinus , De civ. Dei XIV, 23 (CSEL 40, II 51 ). De ludo globi II (P 165") kommt Cusanus darauf zurück. 31 De visione Dei c. 23 (P 112') . 280

Der Begründungsversuch in De visione Dei

Deiner menschlichen getrennt sein könne, somit auch nicht von der Seele noch von dem Leibe. Denn diese sind (Wesensbestandteile), ohne die die menschliche Natur nicht sein kann. Obwohl es (also) durchaus wahr ist, daß Deine Seele auf gehört hat, den Leib zu beleben , und daſ Du wahrhaftig den Tod auf Dich ge

nommen hast, stimmt es doch auch , daß er (der Leib) nie von der Wahrheit des Lebens getrennt war. “ 32 Dies gilt unbestreitbar von der Einung der Menschennatur mit dem göttlichen Leben .

In demselben Kapitel nimmt Cusanus auch die Vorstellung einer „ lebendigen Kerze “ zu Hilfe, die ihre Strahlen willentlich auf das Zentrum ihres Lichtes

zurückziehen könnte. Darauf sagt er: „ Was ist es da zu verwundern, wenn Du, >

o Jesus, als das lebendige, höchst freie (göttliche) Licht die Macht hattest, die belebende ,Seele einzusetzen' und hinwegzunehmen (tollendi) ? Als Du sie hin

wegnehmen wolltest, erlittest Du den Tod. Als Du sie wiedernehmen' wolltest, standest Du in eigener Kraft auf. “ Hier wird an Hand von Joh 10, 18 in unver fänglicher Weise die Freiwilligkeit des Sterbens und die Möglichkeit der Auf erstehung Christi begründet 33

Danach heißt es : „Man nennt aber die geistige Natur menschliche Seele, wenn sie den Leib belebt oder beseelt. Man sagt also dann, die Seele werde ,hinweg genommen , wenn der menschliche Geist die Funktion des Belebens einstellt 34. Dadurch trennt sie sich vom Leibe, ist deshalb aber nicht schlechthin (von ihm ) getrennt. “ 35

Hier entsteht wiederum der Verdacht, daß Cusanus eine substantielle Tren nung von Leib und Seele beim Tode leugnen wolle, und zwar bei jedem Men

schen. Es genügt jedoch zur Erklärung des letzten Satzes, daß die menschliche Seele auch durch den Tod kein reiner Geist wird, sondern eine Hinordnung auf den Leib behält 36.

Somit besteht kein ernsthafter Grund zu der Annahme, Cusanus habe hier den Verbleib von Leib und Seele Christi in der substantiellen menschlichen Leib Seele - Einheit auch für die Zeit des Todes unterstellen wollen 37. Aber es ist doch

interessant, zu sehen, wie ihn die Beweisversuche für seine These des ununter

brochenen Fortbestandes der menschlichen Natur Jesu sozusagen von der Skylla auf die Charybdis zutrieben. In der Docta Ignorantia schien er in das Fahr wasser der Habitus - Theorie zu geraten, indem er die Einung von Leib und Seele 32 Ebd.

33 Vgl. S 226 (V2 15156): Potuit igitur mori et potuit non mori... Auctor mortis ... in eo non habuit quidquam .

34 Ab officio vivificandi cessat ; vgl . Vf I 151 .

85 De visione Dei c. 23 ( P 112" - ").

36 Zur diesbezüglichen Lehre des hl. Thomas vgl. G. Trapp , Humanae animae com petit uniri corpori: Scholastik 27 ( 1952) 381 ff.

37 Vgl. die ungefähr gleichzeitig (am 14. 9. 1453) gehaltene Predigt 126 (V2416): Pendet mortuus Christus in cruce, et est corpus illud a vita humana separatum incor

ruptibile, quia non dabis Sanctum tuum videre corruptionem (Ps 15, 10; Apg 2,27 ) , propter unionem virtutis incorruptibilis; nam mansit corpus unitum divinitati. Corpus illud non sanat, quia mortuum . Diese Stelle zeigt auch, daß Cusanus besonders an die Unverweslichkeit des Leibes dachte, wenn er von der Unzerstörbarkeit der menschlichen Natur Jesu sprach . 281

Der Fortbestand der Menschheit Jesu im Tode als für das Menschsein Christi während des Todes irrelevant und durch die hypo

statische Einung ersetzt betrachtete. In De visione Dei war er, nachdem er von Predigt 27 an die Notwendigkeit der „ formalen Einung“ für das Menschsein akzeptierte, in der gegenteiligen Gefahr, die metaphysische Wirklichkeit des Todes Christi und des Todes überhaupt zu ignorieren und durch die bloßen Phänomene des Todseins zu ersetzen .

4. In seinem späteren Schrifttum kommt der Kardinal nicht mehr auf die eigentümliche Argumentationsweise von De pace fidei zurück . Er lehrt vielmehr klar, daß der Tod auch bei Christus die Trennung von Leib und Seele bedeu tete 38 und daß bei der Auferstehung deren Wiedervereinigung durch die Kraft

der Gottheit erfolgte. Er hält aber auch fortan die Aussage aufrecht, daß die menschliche Natur Jesu, also nicht nur Leib und Seele für sich , auch beim Tode

hypostatisch geeint blieb oder nie von der Gottheit getrennt wurde 39. Der Weg, auf dem er das nunmehr zu erklären sucht, ist, wenn unsere Datie rung der Predigten 204 und 205 zutrifft 40, ein Platonismus, wie er in der Docta

Ignorantia bereits anklang, dort aber noch nicht zum Durchbruch kam . In dem Satze: „Die Wahrheit der Menschheit blieb in der Einheit 41 der göttlichen

Natur, obwohl dem sinnlichen Tode nach die Seele vom Leibe getrennt war“ -2, ist nämlich unter „Wahrheit“ jetzt nicht mehr die Subsistenz der menschlichen Natur in Gott, sondern die göttliche Idee der Menschheit zu verstehen, nach der schon Adam geschaffen wurde 43.

Christus kann sich die Wahrheit schlechthin nennen (Joh 14, 6) , weil Er der weltschöpferische Logos ist. Er ist die „ absolute Wahrheit, die in sich unteilbar die Wahrheit einfaltet ..., so daß alles in Ihm ist “ . So ist Er auch als die ein fache und reine Wahrheit , in “ der menschlichen Natur und in der menschlichen Natur eben die Wahrheit der Menschheit “ 44. 6

38 Vgl. z. B. S 222 (V2 146v ): Verbum ... induit corruptibilem vocem . 39 S 281 (V2 273'*) : Sicut natura divina de utero Virginis in sui unionem assumpsit veram vivam humanam naturam in corpore et anima, ita et eandem tenens unitatem corpus mortale, quod fuit per mortem ab anima separatum , anima divinitati unita in

virtute divinitatis iterum mortalitate excussa assumpsit de sepulchro.

Brief vom 11 .

6. 1463 (Siz 161" ): Ideo si natura humana in illo nunquam fuit a natura divina sepa rata, nunquam subditus fuit peccato. Cribr. II, 17 (P 140 "): Sapientia autem ..., licet nunquam Christum dereliquerit, non tamen mortua est Christo secundum humanitatem

per separationem animae et corporis mortuo ; vgl. Symb. fidei Leonis IX (D 344) . 40 Vgl . oben S. 8. 41 Hier heißt es : in unitate , nicht: unione.

42 S 205 (Ostern 1460?) : V2 1767.

43 S 204 (Karfreitag 1460? ): Deus enim, qui aiebat : ,Faciamus hominem', antequam ex terra Adam creatus esset, hominem intellexit et concepit, cum diceret: Faciamus hominem .' Hic autem conceptus non potest nisi verissimus esse atque substantialis.

Veritas igitur hominis, etsi non temporaliter comparabilis sit ad creationem Adae, est tamen prioriter intellectualiter, ut Adam secundum hanc veritatem creatus potius homo sit quam aliud creatum (V2 174 " ). 44 S 204 ( V2 175ar) . — De ven . sap. c. 1 (P 201 “) heißt es zur Erklärung der platoni schen Ideenlehre : Ex quo elicias ideas non esse sic ab individuis separatas sicut extrin seca exemplaria. Nam natura individui cum ipsa idea unitur, a qua habet omnia natura liter. – Vgl. auch schon De visione Dei c. 9 (P 103 ): Humanitas incontracta, quae est exemplar et idea istius contractae naturae, ... humanitatem contractam in individuis numquam deserere potest. Hier fußt Cusanus jedoch noch nicht unmittelbar auf Platon, 282

nach dem späteren cusanischen Schrifttum In Christus ist diese absolute Wahrheit mithin sowohl als die ideelle Wahrheit

seiner Menschheit gegenwärtig wie auch und vor allem hypostatisch mit dieser als „ einem Mikrokosmos oder einer (kleinen) Welt Mensch “ geeint. Diese Einung ist untrennbar, weil sie eine höchstmögliche ist 45.

Hier ist also die Lösung angebahnt: Der Fortbestand der menschlichen Natur Jesu während des Triduum mortis gründete darin, daß Leib und Seele Christi ununterbrochen und untrennbar in höchster Weise mit der dem göttlichen Logos identischen Idee der Menschheit geeint waren. Dadurch war sowohl die Unver gänglichkeit beider Wesensteile wie die Identität der durch die Auferstehung wiederhergestellten individuellen Menschennatur Christi verbürgt 46. Dieser Platonismus entspricht auch der Schrift „ Über das Nichtandere “, nach der einzig die reinen Wesenheiten als solche unzerstörbar sind, während die »

9

Individualität durch das Sein-, im -andern “ zerstörbar wird 47. Die individuelle

Menschennatur ist dadurch unzerstörbar, daß sie nicht „ im andern“ , sondern un mittelbar in ihrer „ Wahrheit“ oder in der „Wesenheit der Wesenheiten “ 48 sub sistiert 49.

5. Wenden wir uns nun den Aufzeichnungen in Cod. Cus. 40, und zwar zu nächst dem Beweis der These zu, daß „ das, was aufersteht, nie von der Person des Auferstandenen getrennt war“ 50 Das I. Argument der These geht davon aus, daß das gläubige Denken seine

Orientierung in der Offenbarung suchen müsse. Eine solche sieht der Verfasser auch in den Worten Christi, daß , bei Gott kein Sperling in Vergessenheit gerät" und „ alle Haare des Hauptes von Ihm gezählt sind “ (Lk 12, 6 f.) und daß keines von diesen verlorengeht (Lk 21 , 18 ). Dem wird entnommen , daß auch nichts

durch den Tod verloren- oder zugrunde gehe. Dazu folgt die Erklärung, daß bei Gott, „ dessen Wissen sein Sein ist“ , „ die Lebenden nicht erst sterben und dann

auferstehen , da es in der Ewigkeit kein Früher und Später gibt, sondern alles

zugleich ist“ . Demgemäß ist auch die Identität dessen, der lebt, stirbt und auf ersteht, dadurch verbürgt, daß „seine singuläre Idee (in Gott) nicht zugrunde geht “ .

Wenn das schon von einem Haare gilt, dann erst recht von der Person selbst, z. B. der des auferweckten Lazarus, von dem Johannes erzählt. Denn die Person sondern auf dem Parmenides-Kommentar des Proklos ; vgl. oben S. 141 Anm. 24 sowie 45 S 204 (V2 1757b) 46 Vgl. S 257 (V2 204 " ):: Veritas autem incorruptibilis est ; et sic humanitas sive ,adeitas' ( Abstraktum von Adam ) unita est in Iesu immortalitati ... , in quo humanitas

S. 225 .

assecuta est benedictionem.

47 De non aliud c. 10 (H 22 , 16—20) : Dum essentiam , in alio' , ut in Socrate, vides,

humanitatem ipsam in alio aliam vides, ideoque propter hoc in Socrate corruptibili per accidens esse corruptibilem . (Die Interpunktion der Ausgabe ist hier dem Sinn entspre chend geändert). Sin eam ab alio' vides separatam et in ,non alio' ... , ipsam vides in corruptibilem . 48 De non aliud c. 10 (H 22, 12) .

49 Rückschauend mag man diese Erklärung für die Unzerstörbarkeit der Menschheit Christi auch schon in der Docta Ignorantia finden. Dort ist dieser Platonismus jedoch noch mit aristotelischem Gedankengut verquickt. 50 Den Text s. unten S. 320 ff. 283

Der Fortbestand der Menschheit Jesu im Tode

ist der Ordnung nach früher als das, was ihr angehört, und zwar ihr untrennbar

angehört, wie Leib, Haupt oder Haare. Derartiges ist nämlich in der singulären Person hypostasiert .

Das wird sodann auf Christus angewandt: Da mit Christus eine Person be zeichnet wird, ist dieser „alles hypostatisch und untrennbar geeint, was wir von Ihm aussagen, wie seine göttliche und menschliche Natur, Leib, Fleisch und Blut “. „Daher war auch Christus, der als vollkommener Gottmensch in der Herr

lichkeit des Vaters ist, nie von alldem, was nun in dessen Herrlichkeit ist, wie Leib, Seele (und Blut) , getrennt. “ Ein Enthaupteter wird auch mit seinem Haupte auferstehen. Würde hingegen das Haupt mit der Enthauptung aufhören , Haupt derselben Person zu sein, so würde es auch überhaupt aufhören zu sein. Denn seine Existenz ist der Ordnung nach nicht früher als die Zugehörigkeit zu

seiner Person. So sind z. B. Haupt, Leib und Seele des hl. Petrus zur Zeit an verschiedenen Orten, bleiben jedoch in der hypostatischen Einung mit Petrus.

Die Ergebnisse lauten : Bei der Auferstehung wird alles wieder unter sich geeint, was der Person angehört. Zweitens, was aufersteht, war nie von der Person getrennt. Bis dahin vermied es der Verfasser der These, von dem Fortbestand der

Menschennatur Christi während des Triduum mortis zu sprechen. Das geschieht indes bei der Erwiderung auf eine von Ambrosius her erhobene Schwierigkeit,

die so gelöst wird, daß „die göttliche Natur einen Menschen oder eine mensch liche Natur angenommen hat und für ewig behält, ohne sich selbst in deren Leiden und Tod hinein zu verändern“ . Das wird weitererklärt : „Der Tod ist nämlich kein

Geschöpf und gehört nicht zur Wahrheit oder Notwendigkeit der menschlichen Natur 31 , da der Mensch im Stand der Unschuld auch nicht- sterben konnte. Daher

ist er (der Tod ) auch nicht in die Einung mit der göttlichen Natur aufgenommen. Die menschliche Natur, die sterblich ist, ist vielmehr dazu in die Einung mit der göttlichen Natur aufgenommen, daß sie durch diese Einung von dem ewigen Tode getrennt werde, wie auch die göttliche davon getrennt ist. “ Das III. Argument kommt darauf ausführlicher zurück : Als sich die menschliche Substanz oder Natur noch im Status der Unschuld befand, „ konnte der Mensch : nicht sterben . Nach der Sünde muß er sterben .

Die Notwendigkeit des Sterbens kam also durch die Sünde. Das Wort Gottes nahm aber die menschliche Natur ohne Sünde an. Es war also von Anfang an

auf Grund der hypostatischen Einung, die zwischen Gott und Geschöpf nicht größer sein könnte, Gott und Mensch. Christus war auch in der Gottesschau und

in höchster Weise glückselig ... Und wie Er jetzt in der Herrlichkeit des Vaters ist, war Er es von seiner Empfängnis an. Denn es war derselbe, der Gottes- und Menschensohn war. Weil aber die menschliche Natur Christi ohne Sünde zur göttlichen aufgenommen wurde, wurde auch das, was der Sünde folgt, ebenso wenig wie die Sünde in die Einung mit dem Wort mit aufgenommen. Die Sterb lichkeit wurde also nicht (wie etwas Naturhaftes) von dem Wort angenommen sonst wäre das Wort nämlich immerfort sterblich --- , sondern die Menschheit. 61 Vgl. dagegen D. Ign. III, 7 (H 139, 20 f.) : Non potuit verus homo esse nisi mortalis. 284

3

Die Argumentationsweise der These Daher hörte also die Menschheit Christi niemals auf, obwohl die Seele vom

Leibe getrennt war, was wir als Tod bezeichnen ... Er hätte also jederzeit (auch im Triduum !) die Privilegien des verklärten Leibes gebrauchen können , wenn Er gewollt hätte, wie Er sie zeigte, als Er in die Welt eintrat, ohne den Schoß der Jungfrau zu öffnen , als Er sich auf dem Berge Tabor verklärte “ usw. „Was immer also heute zu dem verklärten Christus gehört, war nie von der

Verklärung getrennt; oder vielmehr, es existierte nie ohne den Sohn Gottes, der in der Herrlichkeit des Vaters ist ..., und die örtliche Trennung des Leibes und Blutes von der Seele trennt nie Christus noch das Besagte, das zu Christus ge hörte, von der Herrlichkeit oder von Christus als dem Sohne Gottes, obwohl die Sinne, die dies getrennt sahen, die Herrlichkeit nicht wahrnehmen konnten. Wohl konnte aber die gläubige Einsicht ( fides et intellectus) sie in der Herrlich

keit schauen , wenn sie Christus als Gottes- und Menschensohn in der Herrlich keit sah. “ Darauf folgt ein Hinweis auf die gleichfalls verborgene Gegenwart des Leibes und Blutes Christi unter den eucharistischen Gestalten.

Das IV. Argument schließt mit den Worten : Wäre die Einung von Gottheit und Menschheit bei Christus durch den Tod „zu trennen gewesen, so hätte sie größer sein können und wäre keineswegs hypostatisch gewesen. Denn die hypo statische Einung ist sogar größer als die der Substanz mit einem ihr eigentüm lichen und untrennbaren Akzidens. Daher sagten die heiligen Theologen zu

Recht, daß die Gottheit wegen der Identität des Annehmenden und Aufgenom

menen in der Person niemals von dem getrennt werde, was sie zur hypostatischen Einung mit sich aufgenommen habe. “ Die sprachliche und inhaltliche Verwandtschaft dieser Sätze mit dem , was wir bereits über die datierbaren Entwicklungsstadien der cusanischen Grundthese hörten, ist offensichtlich. Dazu kommen manche andere Parallelen mit dem cusa nischen Schrifttum 52. Das bietet eine solide Bestätigung dessen, was der Hand schriftenbefund vermuten läßt 53. daß Cusanus selbst der Verfasser dieser These ist.

In welches der genannten Entwicklungsstadien mag aber deren Entstehung fallen ? Das Resultat : „Die Menschheit Christi hörte nie auf, obwohl die Seele

vom Leibe getrennt war“ , sowie die Bezeichnung der Trennung von Leib und

Seele als „ örtlich “ begegneten uns schon in der Docta Ignorantia. Im Gegensatz zur Docta Ignorantia baut jedoch hier die Beweisführung darauf auf, daß die Sterblichkeit nicht zur Wahrheit der Menschheit gehöre. Außerdem finden wir

den Gedanken, daß Gott ,die absolute Singularität sei, die alles singularisiere“ , und daß die Identität des Menschen und dessen, was zu ihm gehört, über Tod und Auferstehung hinaus durch eine „ singuläre Idee “ in Gott verbürgt sei , sonst erst in De venatione sapientiae. Für einen so späten Datierungsansatz spricht unter anderem auch die Ver schiebung des Gesichtswinkels der gesamten Beweisführung, die von der Docta Ignorantia bis zu De visione Dei auf die Erklärung der Auferstehungstatsache 52 Vgl. die in den Anmerkungen zum Text gegebenen Hinweise. 53 Vgl . unten S. 314 . 285

Der Fortbestand der Menschheit Jesu im Tode eingestellt war und sich nun vor allem auf den Verbleib der wesentlichen und integrierenden Teile der Menschheit, insbesondere des heiligen Blutes Jesu, in der hypostatischen Einung richtet. Insbesondere das letzte rückt auch diese „ These “ eng an die von Cusanus selbst in seinen letzten Lebensjahren niedergeschriebenen Quästionen in Cod. Cus. 40 heran 54. In beiden Aufzeichnungen dürfen wir wohl demnach schon den letzten Ausdruck der von der Docta Ignorantia an lebendigen Idee erblicken, daß die Maximität der hypostatischen Einung keine Zerstörung der Menschheit Jesu duldete, auch nicht den Tod . Tatsächlich ist dieser Leitgedanke auch am ausgereiftesten dargestellt. Verschiedene frühere Unklarheiten tauchen nicht mehr auf. Insbesondere denkt Cusanus nicht mehr daran , um der Unzerstörbarkeit der Menschheit Jesu willen die metaphysische Trennung von Leib und Seele beim Tode anzutasten. Wie beides allerdings miteinander vereinbar ist, bleibt, wie auch Cusanus selbst anerkennt, in sich ein Geheimnis. Vielleicht erklärt es sich daher , daß er hier die zuletzt eingeschlagene platonische Argumentationsweise zurücktreten läßt. Jedenfalls rückt er deshalb das Zeugnis der Heiligen Schrift und der Väter in den Vordergrund .

b) Die geschichtliche Einordnung der dargestellten cusanischen Lehre 1. Unter welchen geistesgeschichtlichen Einflüssen mag Nikolaus von Kues dazu gekommen sein, die damals herrschende und zuvor auch von ihm selbst akzeptierte Lehre aufzugeben, daß Christus im Triduum mortis nicht Mensch gewesen sei, und fortan die These der Unzerstörbarkeit der Menschheit Jesu so uneingeschränkt zu vertreten? Der Gedanke an Eriugena liegt nahe. Dieser vertritt die Ansicht , daß „ die gesamte menschliche Natur nach Leib und Seele unsterblich und unzerstörbar erschaffen wurde “ und daß die Zerstörbarkeit des Leibes eine Sündenstrafe sei¹ ; aber auch nach der Sünde bleibe eine jede Substanz unvergänglich, nicht jedoch „ die Akzidentien, die sich um sie zusammenballen und in sie zurückkehren “ 2. Eriugena lehrt auch den Fortbestand der gesamten sichtbaren Schöpfung im auferstandenen, aus Zeit und Raum herausgehobenen Menschenleib³ . Insbesondere betrachtet er die Menschheit Jesu als nach der Auferstehung über Raum und Zeit erhaben ¹ . 54 Vgl. z. B. q. 4 : Fuitne unquam aliquid , quod est hominis , a divinitate disiunctum? 1 De div. nat. V, 13 (PL 122, 884 CD) . 2 Ebd . V, 23 (903 CD) ; vgl. Vf I 283. 3 Ebd. V, 25 ( 911 A) ; vgl. n. 24 (907 A) : Quid mirum, si universitas omnium sensibilium in humano corpore resurgat ; n. 25 ( 914 B) : Humana corpora ..., species quoque eorum ... in spiritualem naturam, quae locis temporibusque propriis quoque speciebus ... nescit circumscribi, transituras naturalis ratio docet. - Von dieser Spiritualisierung des Körperlichen hält sich Cusanus gänzlich zurück. 4 Ebd. V, 26 (921 B) . - Zur Lehre Eriugenas vgl. J. Bach , Dogmengeschichte des Mittelalters vom christologischen Standpunkt, I. Teil, Wien 1873, 306-308 312 f.

286

Philosophische Stützpfeiler All das gehört auch bei Nikolaus von Kues gleichsam zu dem metaphysischen Hintergrund der Lehre von der Unzerstörbarkeit des Leibes Christi. Daß Eriugena nicht als Quelle zitiert wird, wundert um so weniger, als dieser selbst in langen Zitaten die Autorität der Väter, und zwar vor allem der Griechen Epiphanius, Gregor von Nyssa , Maximus Confessor und Dionysius Areopagita, anruft. Von der Docta Ignorantia an führt Nikolaus von Kues wiederholt Dionysius als Kronzeugen für die allgemeine Sentenz an, daß die Wesenheit unzerstörbar sei 5. In Predigt 67 heißt es z. B.: " Weder wir noch irgendein Sein werden der Wesenheit nach, die nach Dionysius unzerstörbar ist, vergehen, obwohl die Dinge in bestimmter Hinsicht und unserer Betrachtungsweise nach, die an deren Dauer den Maßstab der Zeit anlegt, ins Nichts zu versinken scheinen. “ Der Kern der Dionysius-Stelle, die Cusanus vor allem im Auge hat, lautet : „ Nichts von dem Seienden wird, was das Wesen und die Natur angeht, zerstört.“ 7 Im Dionysius-Kommentar Alberts d . Gr . , der im Jahre 1453 in den Besitz des Kardinals gelangte, fand dieser die Erklärung, daß die Form nicht als solche zugrunde gehe, sondern dem Sein nach, das sie in der Materie habe. Er hat in seiner Handschrift eine entsprechende Randbemerkung hinterlassen . Eine Anmerkung zu Origenes, Пɛpì άpx☎v , zeigt, daß er das Axiom , die Wesenheit sei unzerstörbar, auch dort vorfand . Dazu kommen einige AristotelesZitate 10. Verschiedentlich scheint es auch, daß Cusanus bei seiner „ These " sich auf Augustinus bezog. Das gilt insbesondere von der Begründung des Nichtsterben-Müssens Christi mit dem Zustand der Unschuld . Der Gedanke, daß der „ Tod kein Geschöpf sei “ , geht vielleicht auf Maximus Confessor zurück ¹¹ . 2. Um den ununterbrochenen Fortbestand der Menschennatur Jesu darzutun, legte Cusanus den Akzent auf die Untrennbarkeit der Seele und des Leibes von der Gottheit. Das weist über Spät- und Hochscholastik auf die Theologie des 12. Jahrhunderts zurück 12. Man ist sogar versucht, zu sagen: Die verschiedenen Diskussionsstadien dieses Problemzusammenhangs im 12. Jahrhundert, die Feststellung, daß nach der Väterlehre Leib und Seele auch im Tode hypostatisch ³ D. Ign. 1 , 17 (H 33 , 16) ; S 67 (V₁ 120° ) ; De mente c. 6 (H 72, 3) ; S 227 (V2 152ºª) ; De ven. sap. c. 10 (P 204 ) , c. 22 (P 210') ; De ludo globi I (P 156") . • Zur Frage, ob auch das Irdische unvergänglich sei, vgl. D. Ign. II , 12 ( H 108 , 28 bis 110, 14). De div. nom. IV, 23 (PG 3, 724 D) . Auf diese Stelle bezieht sich De ven. sap. c. 10 (P 204 ) : Dionysius in libro De divinis nominibus in capitulo De malo ( = IV, 18—34) affirmat nihil secundum naturam et substantiam corrumpi, licet aliqua secundum alia eis accidentia corrumpantur. — Vgl. De div. nom. V, 8 ( 821 D) ; VII , 9 (896 D) . 8 Cod. Cus . 196, 163b entnimmt Cusanus dem Albert-Text zu De div. IV, 23 (nicht zu V, 8, wie Wilpert , Vom Nichtanderen 178 Anm. 3, annimmt) den Hinweis : Forma per se non corrumpitur. Albert stützt sich dabei auf Aristoteles - Texte . Cod. Cus. 50, 251 ′ ( zu III , 5 , 5 : PG 11 , 338 B) ; die Marginalglosse : Substantialem interitum non possunt capere, quae creata sunt, ut sint. 10 De beryllo c. 26 (H 33) : Aristoteles ... videt substantiam corporalem ut substantiam indivisibilem, sed per accidens divisibilem. De ven. sap . c. 10 ( P 204 ) wird gesagt, die Peripatetiker lehrten die Unvergänglichkeit der Welt; vgl. G. Manser , Das Wesen des Thomismus, Freiburg/Schw. 1949, 628 f. 631 . 11 Siehe unten S. 324 Anm. 41 . 12 Vgl. oben S. 276 f.

287

Der Fortbestand der Menschheit Jesu im Tode

geeint blieben, der Lösungsversuch der „Habitus - Theorie “ sowie die doppelte

Begründung des Menschseins Christi durch Subsistenz und „ formale “ Leib -Seele Einung 18 spiegeln sich auch in den cusanischen Denkbemühungen wider. Was die Feststellung der Väterlehre angeht, so stimmt Nikolaus in seinen Quastionen und in der These mit den Theologen der Frühscholastik darin über ein, daß er die Untrennbarkeit der Seele und des Leibes von der Gottheit, auch

während des Triduum mortis, mit Augustinus und Leo d. Gr. begründet, sowie in dem Bemühen, die Erklärung des hl. Ambrosius zu Lk 23, 46 14 in einem ortho doxen Sinne auszulegen . Diese Übereinstimmung läßt jedoch nicht schon auf

frühscholastische Quellen schließen . Denn die aus Leo d. Gr. herangezogenen Texte verraten intensives eigenes Studium in dessen Schrifttum . Von Augustinus

zitiert der Kardinal auffallenderweise nicht die für seinen Text naheliegende , klassische Sentenz “ 15, vielleicht weil er sie als bekannt voraussetzte, sondern

das weniger beweiskräftige Diktum, daß Paulus zugleich „in Christus lebe und

im Grabe liege “ 16. Dazu kommt anderes, ohne Zitation einfließendes Ge dankengut. Die Antwort auf den aus Ambrosius entnommenen Einwand, daß die Gottheit

beim Tode „ den Menschen verließ, weil Gott das Leben war “ 17, zeigt besonders

deutlich die eigene Gedankenarbeit. Der Kardinal wollte diese Schwierigkeit durch einen anderen Ambrosius-Text lösen (der allerdings in Wirklichkeit von Phöbadius stammt). Dieser Abschnitt ist auch noch in seiner ersten Niederschrift mit verschiedenen Selbstkorrekturen erhalten. Vollständig ragt schließlich die cusanische Zielsetzung, den Verbleib des Blutes Christi in der hypostatischen Einung zu erweisen, aus der frühscholastischen Theologiegeschichte heraus. Eine nähere Beleuchtung verdient das Verhältnis des cusanischen Leitsatzes von dem Fortbestand der Menschheit Jesu während des Todes zur Habitus Theorie des 12. Jahrhunderts. Die Grundthese der Habitus-Theorie besagt, Leib und Seele Christi seien von vornherein nicht zu einer menschlichen Substanz, sondern nur wie ein Kleid ( habitus) dem göttlichen Worte geeint gewesen 18. Daraus leitete man die von Alexander III . verurteilte Folgerung ab, daß Christus seiner Menschheit nach nichts gewesen sei (Nihilianismus) 18. Zu dieser Folgerung steht die cusanische 13 Zu diesen drei Stadien s. Landgraf II 1,318. 14 Zu beidem vgl . Landgraf II 1,274 ff. An Lösungsversuchen zu der durch Am

brosius entstandenen Schwierigkeit (s. unten S.322 f.) aus derFrühscholastik vgl. insbeson dere P. Lombardus , Sent. III d. 21, c. 1 (645); Sententiae divinitatis IV, 4 (Geyer 96*) : Robert von Melun, Christologie c.59 (Anders 115 f.) . . 15 In loh. tr. 47 , n. 10 (PL 35, 1738) : Verbum , ex quo suscepit hominem, id est carnem et animam , numquam deposuit animam . Landgraf II 1 , 274.

Bei Paulus wurde die aktuelle Einheit von Leib und Seele in 16 Siehe unten S. 322 . der Person aufgelöst. Cusanus führt dennoch diese Stelle an, um zu zeigen, daß die

Wesensteile des Menschen auch nach dem Tode durch seine „singuläre Idee zu einer Einheit zusammengefaßt seien. 17 So nach dem Entwurf ( unten S. 323) .

18 P. Lombardus , Sent. III d. 6, c. 4 (579) .

19 Vgl. P. Lombardus, Sent. III d. 10 , c. 1 (593 f.). P. Lombardus selbst hat diese Ansichten geteilt (Barth I 419–23; Landgraf II 1, 279 ff.). Über weitere Vertreter vertrat

der Habitus - Theorie s. Barth I 425 f.; II 235 f. 240 f. Johann von Cornwallis 288

Patristisch -scholastische Quellen

Hervorhebung der Erhabenheit und Unzerstörbarkeit der Menschheit Jesu in diametralem Gegensatz. Auch die Grundthese der Habitus - Theorie wird von Cusanus nirgends vertreten. Aber sein Leitsatz von dem Fortbestand der Menschheit beim Tode Jesu

der bereits von Stephan Langton, Gaudfrid von Poitiers, Hugo a S. Caro 20 sowie von dem Aquinaten 21 als eine Konsequenz der Habitus- Theorie oder mit dieser identisch betrachtet wurde - bringt ihn doch in deren Nähe 22. Das zeigt sich besonders in der Docta Ignorantia. Nicht als ob dort die Leib

Seele-Einheit geleugnet würde; aber dieser wird nebst der „ höchsten Einung “ gleichsam nur sekundäre Bedeutung für das Menschsein zugesprochen. Um sie durch die hypostatische Einung für die Zeit des Todes als ersetzt hinzustellen, wird – so möchte es scheinen – die durch den Tod erfolgte Trennung als „ört lich “ bagatellisiert 23. Das klingt an die Habitus- Theorie an, insbesondere an die spätere Form einer doppelten Begründung des Menschseins Christi. -

Dennoch ist der grundlegende Unterschied beider Ausgangspositionen nicht zu verkennen. Die cusanische Anthropologie lehrt sonst nämlich deutlich die

konstitutive Bedeutung der Leib - Seele -Einheit 24. Nikolaus vergißt auch in der Docta Ignorantia nicht, zu bemerken, daß die „ Wahrheit“ der menschlichen Natur Jesu die Einung von Leib und Seele verlangte 25. Nach der Habitus Theorie hingegen war Christus auch „ während der Zeit seines Todes ebensogut

Mensch wie vorher und nach der Auferstehung “, da bei ihm ohnehin nie die Vereinigung von Leib und Seele bestand 28. So nach der ursprünglichen Fassung dieser Theorie.

Cusanus geht es darum, die Untrennbarkeit und die Erhabenheit der hyposta tischen Einung hervorzuheben . Das bringt ihn in die besondere Nähe des Hugo von S. Viktor 27. Mit diesem bedeutete für ihn die höchste Einung “ von Leib und Seele mit der Gottheit zugleich auch eine ebenso innige und noch innigere Einung von Leib und Seele, die beide ihrer Substanz nach in der unteilbaren Einfachheit der göttlichen Person subsistieren, als sie die menschliche Natur als

solche mit sich bringen kann. So erhält es auch einen andern und verständlicheren Sinn, wenn Cusanus beim Sterben Jesu nur von einer „ örtlichen “ Trennung

als Schüler des Lombarden lange selbst diese Ansicht, bat dann aber in seinem Eulogium

ad Alexandrum papam um deren Verurteilung, die i. J. 1177 erfolgte (Barth II 245—49 ; D 393 ) . 20 Landgraf II 1 , 311–14. 21 S. theol. III q. 50, a. 4 c.

2 Vgl. z. B. den bei Landgraf II I , 290 Anm . 110 a zitierten Text, allerdings mit Ausnahme des dortigen : Non ex coniunctione animae et corporis Christus fuit homo.

23 Vgl. besonders D. Ign. III, 7 ( H 140, 7-14) . Dort schwingt auch der Gedanke mit, die Menschheit Christi sei ein Kleid der Gottheit. 24 Vgl. z. B. oben S. 121 207 ; Vf I 145–52.

23 Vgl. oben S. 278. 26 Barth I 422 .

37 Vgl. De sacramentis II , 1 , 11 (PL 176, 411 C) : Inter hominem assumptum et Verbum maior et excellentior quam inter animam et corpus unio_fuit ; Poppen berg 83—85. Nach der „skotistischen “ Ansicht ist umgekehrt die Einung von Leib und Seele inniger als die hypostatische: Ternus (Chalkedon III ) 134 f. 19 Haubst, Nikolaus v. Kues

289

Der Fortbestand der Menschheit Jesu im Tode

spricht. Man darf auch annehmen , daß Cusanus darunter schon in der Docta Ignorantia die Trennung der formalen Einung mitverstand . In Predigt 27 findet die Unzerstörbarkeit und Unsterblichkeit der Menschheit

Jesu Ausdruck in den Formulierungen, daß sich bei Christus „ das Leben nie von Leib und Seele trennte " , und in der Begründung: „Die Gottheit ist ja das Leben . “ 28 Ähnlich in De visione Dei in der Wendung: „ Christus war tot, indes die Einung mit dem Leben blieb. “ 29 Auch das erinnert sehr an Hugo von S. Viktor 30 und zugleich an ein von der Summa Sententiarum 31 sowie von Petrus

Lombardus 32 angeführtes „ Augustinus“ -Zitat 83. Das Sätzchen : „Die Gottheit ist ja das Leben“ , läßt zudem vermuten, daß Nikolaus sich schon damals mit der durch den Ambrosius-Text aufgeworfenen Schwierigkeit beschäftigte. Die doppelte Begründung des Menschseins Christi wurde im 12. Jahrhundert insbesondere „ in der Bannmeile des Robert von Melun“ vertreten 34. Sie fand auch noch in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Richard Fishacre († 1248) und nach ihm weiter in Richardus Rufus namhafte Vertreter 35.

Fishacre vergleicht die natürliche Einung von Leib und Seele „einem gewissen natürlichen Lichte, das die Seele mit dem Fleische verbunden hält und das ört liche Beisammensein beider erfordert “ . Die geeinte Gottheit hingegen ist wie , ein Licht, das über die Natur hinausgeht und nicht das örtliche Beisammensein

(von Leib und Seele) in Ihm oder beieinander erfordert “ 36. Der cusanische Ver gleich in Predigt 27 scheint darauf zurückzugehen ; er bietet nur eine weitere Ver deutlichung 37

Richardus Rufus sucht schon ähnlich wie später Cusanus in De visione Dei das

Totsein und das Menschsein Christi in Einklang zu bringen, indem er das Auf hören des aktuellen Lebenseinflusses von dem Verbleib der habituellen Einung mit dem Leben unterscheidet 38. Cusanus gab demselben Gedanken lediglich eine

anschaulichere Darstellung durch die augustinische Erzählung über den Presbyter Restitutus und das Bild der Kerze. Zweitens hebt Rufus auch , ähnlich wie die

Docta Ignorantia, den für die Wahrheit der menschlichen Natur“ akzidentellen 28 S 27 (V1 65% ).

29

c. 23 (P 111 ") .

30 De sacramentis II, 1 , 11 (PL 176, 411 D) : Sola anima a carne ad tempus divisa est ; sed divinitas nec ab anima nec a carne separata est. Christus ergo et vere mortuus

fuit propter mortuam carnem et vere vivus permansit propter immortalem divini tatem .

31 tr. 1 , c. 19 (PL 176, 78) .

32 Sent. III d. 21, c. 1 (648)

33 Vigilius von Tapsus , De unitate Trinitatis c. 14 (PL 42, 1169): mortuus est non discedente vita .

34 Landgraf II 1 , 297 f.

35 Vgl. Pelster 263–72.

36 In Sent. III d. 22, q. sol. (Pelster274) ; vgl. die Erklärung Pelsters S. 264. 37 Fishacre betrachtet das „ örtliche Beisammensein“ als durch die natürliche Einung

gefordert. Entsprechend dürfte auch Cusanus unter „ örtlicher Trennung“ die Tren >

nung der natürlichen Einung mitverstehen

39 In Sent. III d . 22, q. 1, resp. (Pelster 279) : Similiter, si obicis : ,Fuit mortuus, non ergo homo.' Immo, et homo et mortuus, prout hoc ipsum mortuus privat vita solum in actu et non in habitu . Sic enim stant simul : ,est homo' et ,est mortuus ' , ei

est vivus et mortuus... Vierzig Jahre später erregte diese Darlegung den Zorn des Roger Bacon, der bemerkt, daß Rufus diese Ansicht aufgebracht habe; s. Fr. Pel .

ster, Roger Bacons Compendium studii theologiae' und der Sentenzenkommentar des Richardus Rufus : Scholastik 4 ( 1929) 410–16 . 290

Die doppelte Begründung seines Menschseins

Charakter der örtlichen und zeitlichen Trennung beim Tode hervor 39. Drittens konnte Cusanus bei ihm den Leitgedanken, daß „ das Wort nur dann das Mensch sein verlassen hätte, wenn es Leib und Seele verlassen hätte“, gründlich dar gelegt finden. Dabei zieht Rufus auch schon die Stelle des augustinischen

Johannes-Kommentars heran, wonach derselbe Paulus zugleich in der himm lischen Ruhe ist und zu Rom im Grabe liegt 40. Diese Übereinstimmungen dürften

die Annahme rechtfertigen , daß Cusanus die Quästio des Rufus zumindest in mittelbarer Uberlieferung des Inhaltes kannte.

Eine doppelte Begründung des Menschseins Christi vertritt im Grunde auch

Heymeric van den Velde, in dessen Vorlesungen vielleicht schon Cusanus selbst diesen Satz hörte : „ Während des Triduum mortis waren Seele und Leib Christi

dem physisch - natürlichen Sein nach getrennt, aber sie waren ohne Distanz nach oben dem göttlichen und personalen Sein nach geeint. “ 41 Das zeigt, daß auch für Heymeric mit der einfachen Negation des Menschseins Christi während des Triduums nicht alles gesagt war.

Die Ergänzungsbedürftigkeit dieser Negation machte auch, wie wir noch sehen werden , die im Heilig-Blut-Streit 1462/63 verfochtene These bewußt, daß Chri

stus, da Er im Triduum mortis nicht Mensch war, die Menschheit für diese Zeit aus der Einung entlassen habe. Zu dieser These sehen wir Cusanus, dem jede Lockerung der hypostatischen Einung unerträglich war, schon von der Docta Ignorantia an in der genauen Gegenposition.

Das muß es auch gewesen sein, was ihn über die Hochscholastik ins Frühmittel alter zurückführte, in dem er sich besonders weit mit Hugo identifizieren konnte, der schon vor der Entfaltung der Habitus - Theorie die Worte schrieb: „Seitdem das Wort Mensch wurde, hörte Es nie auf, Mensch zu sein. Denn Es trennte sich nicht einmal, als der Tod über sein Fleisch kam, von der angenommenen Men schennatur ... Die Gottheit verließ seine Menschheit nicht. Nur die Seele wurde

zeitweise vom Fleische getrennt. “ 42 In seinen Quastionen und in seiner These suchte der Kardinal dieselbe Lehre auch schon durch die Autorität Leos d. Gr. und anderer Kirchenväter zu erhärten und als überliefertes Glaubensgut zu erweisen.

Hier liegt der Schlüssel zu all den Rätseln, die uns Cusanus bei seinem

un

belehrbaren “ Festhalten an der Unzerstörbarkeit und dem Fortbestand der $$ Ebd. (Pelster 278): Locus accidens est, et nullum accidens est de veritate humanae naturae. Ergo videtur, quod coniunctio localis animae et carnis non sit de necessitate hominis.

40 Ebd . ( Pelster 277 f. ) .

41 Quadripartitus quaestionum supra IV libros Sent. q. 9 (Cod . Cus. 106, 15", 16, glossa Z. 5) ; vgl. q. 11 ( 16 ', 20 24) : Quia in Christo unio hypostatica vincit (Hs.: vincis) et praevenit naturaliter compositionem ex corpore et anima, remanet illa prior et firmior hac posteriore dissoluta ... Tunc non fuit homo integralis .

Was die Glossen

zu den genannten Quästionen angeht, so zeigt die Schrift nur bei den Interlinear-Glossen f. 13 (die z. T. auch am Rande stehen) eindeutig, daß Cusanus selbst sie niederschrieb .

Das geschah wahrscheinlich (wie bei den Glossen f. 63'—64') in den Vorlesungen Hey merics. Der Text der Quastionen und anscheinend auch die Marginalglossen lagen ihm dabei schon vor.

42 De sacramentis II, 1 , 11 (PL 176, 411 D) . 195

291

Der Fortbestand der Menschheit Jesu im Tode

Menschheit beim Tode aufgab: Er betrachtete den Fortbestand der Menschheit als durch die unauflösliche hypostatische Einung gefordert. Die sonst allgemein gültige Konsequenz aus der hylomorphistischen Anthropologie, daß der Tod das Menschsein auflöst, ließ der Kardinal angesichts der einzigartigen Subsistenz der Menschheit Christi nicht gelten. Für ihn konnten prinzipiell auf Christus die

Regeln der philosophischen Anthropologie nur so weit zur Anwendung kommen, wie es sich mit dem ununterbrochenen Fortbestand der Einung und der mensch lichen Natur vereinbaren ließ.

3. Mit dem Wort Hylomorphismus ist ein dritter geschichtlicher Problemkreis bezeichnet, den wir bereits in De visione tangiert sahen : die auf Aristoteles auf bauende hoch- und spätmittelalterliche Formmetaphysik. Cusanus übernimmt die aristotelisch - thomistische Lehre, daß die Geistseele des Menschen die eine und einzige substantielle Form des Leibes sei 43. Den Ge

danken an eine Schichtung von Wesensformen 44 oder an eine eigene Form der Körperlichkeit, wie sie insbesondere Heinrich von Gent 45 und Duns Skotus 46 statuierten , greift er nirgends auf. Er sucht vielmehr der Definition des Konzils

von Vienne gegen Peter Olivi 47 Rechnung zu tragen, indem er die Geistseele selbst als die seingebende Form des menschlichen Leibes bezeichnet 48. Zugleich hebt er jedoch auch stark die Souveränität hervor, mit der die Seele

sich den Leib bildet, indem sie sich zum „ Ursprung, Mittelpunkt und Ziel “ des Leibes macht 49. Die Art der Gegenwart und Wirksamkeit der Geistseele in jedem Gliede des Leibes vergleicht er mit der Gegenwart und Wirksamkeit Gottes im Weltall 50 .

Die weitere geschichtliche und inhaltliche Erschließung der cusanischen Form

metaphysik “ setzt eine Übersicht über die Bedeutungsentwicklung des Begriffs paares „ Form des Ganzen “ und „ Form des Teiles “ voraus.

43 Aristoteles , De anima II, 1 (112 a-b, bes. b 5); Thom. v. A q., In Arist. libr. De anima Il lect 1—2 (58–64) ; S. theol. I q. 76, a. 1-4. 44 Vor Thomas lehrten fast alle Theologen eine Mehrheit von Formen . Thomas

und seine Schüler hatten gegen die Verfechter des Formenpluralismus einen schweren Stand; vgl. Bayerschmidt 194 ff.; Baudoux 445 ff. 45 Bayerschmidt 209—54 . 46 Baudoux 429–74 .

47 Dieses verurteilte die Lehre : quod anima rationalis seu intellectiva non sit forma corporis humani per se et essentialiter, als häretisch ( D 481). Zur Frage, ob

damit die Pluralität der Formen in keiner Weise mehr vertretbar sei, vgl. Baudoux 454–57 .

48 De visione Dei c. 23 (P 112 ): Quando anima intellectiva cessaret in vivificatione corporis, sine eo quod a corpore separaretur ...; nec tamen (oculus) propterea esset a

forma intellectiva separatus, quae est forma dans esse ... ; corpus non esset sub alia forma quam prius , immo haberet eandem formam. 49 Cusanus denkt nicht daran, daß die Funktion der Geist Vgl. oben S. 240. substanz in der Belebung des Leibes aufgehe. Deshalb unterscheidet er zwischen spiritus oder intellectus und anima ; vgl. De beryllo c. 18 (H 20,8 ff.): In homine est intellectus...,

cuius esse est a corpore separatum et per se verum ... Animam dico, quae animat et dat esse animale ; Vf I 151 .

50 S 62 (Vi 12824—b); De visione Dei c. 14 (P 106—") ; S 165 (V2 7070_va); De Possest (P 176') : Ita se habet universum ad Deum, excepto quod Deus non est anima mundi, sicut anima hominis anima est.

292

Hoch- und spätmittelalterliche Formmetaphysik

Albert 51 und Thomas 52 nennen die aus Leib und Seele zusammengesetzte

Menschennatur die „ Form des Ganzen “ (forma totius). Dem entspricht die Be zeichnung der Seele als „ Form des Teiles“ (partis) , da sie Form des Leibes ist 58. Der Thomist Robert von Colletorto kommt bei der Auseinandersetzung mit

Heinrich von Gent dazu, beiden Termini folgende Bedeutung zu unterlegen : Die Geistseele gibt dem Leibe als forma totius das Sein und alle Stufen der Voll

kommenheit. Zusammen mit der „ Form des Ganzen“ können jedoch auch meh rere ,Teilformen “ (formae partis) bestehen, die an dem von der Seele gegebenen Sein des Ganzen teilhaben. Letztere existieren bei der Trennung der Seele vom

Leibe gegebenenfalls in diesem ohne Einführung einer neuen Form (forma cadaveris) in begrenzter Dauer weiter 54. Robert konnte sich auch dabei insoweit auf Thomas stützen, als dieser eben

falls schon die Seele den Gliedern gegenüber , Form des Ganzen “ nennt. Zugleich bezeichnet der Aquinate jedoch die Seele selbst als die „ Form der einzelnen Teile “ 55

Was Nikolaus von Kues in Predigt 27 von der ,formalen Einung “ oder „menschlichen Form“ sagt 56, stimmt vollauf mit der bei Albert und Thomas gebräuchlichen Terminologie überein . Auch der folgende Abschnitt aus der

Schrift „Über die Gabe des Vaters der Lichter “ entspricht noch nach Sprache und Inhalt der Summa contra gentiles : „ Sokrates hat eine einfache, unteilbare Form, die ganz im Ganzen und in jedem Teile ist 57. Durch sie ist Sokrates und alles, was Sokrates gehört. Daß nämlich die Hand des Sokrates dem Sokrates und keinem andern gehört, hat sie von Sokrates' Form. " Die folgenden Sätze zeigen, daß hier die Seele als die einfache und einzige substantielle Form gemeint ist, die „ ganz im Ganzen und in allen Organen ist“ 58.

Auf der Einheit der substantiellen Form beruht die Einheit des individuellen 51 In Sent. III d. 2, a. 5, sol. (B. 28, 27 a) : Hanc compositionem (ex anima et corpore) sequitur forma totius, quae est homo vel humanitas. Als ,forma partis' bezeichnet Albert ebd. „die Seele im Menschen “. Der Albertist Johannes de Nova Domo kommt

daher zu der These: Esse formae totius resultat et emanat ab esse formae partis, und zu der Erklärung: Esse vero formae partis est esse entelechiae corporis (De esse et essentia q. 6 ; Meersseman I 149 f.) . 52 De ente et essentia c. 2 (L ethielleux 34) : Humanitas significatur ut forma quae dam et dicitur, quod est forma totius ... ; est forma, quae est totum, scilicet formam complectens et materiam ; In Sent. III d . 22, q. 1 , a. 1 , contra 2 ( III 662 f.) ; Quodl. 2, q. 2, a. 4 ( Quaest. disp. V 24 b). 53 Von Aegidius Romanus (Theoremata de esse et essentia, theor. 8 : Hocedez 39 f.) wird diese Terminologie auf Avicenna zurückgeführt.

$* Improbatio in Henr.Gandavensem (Cod. Vat. lat. 987 , 1266– va; Bayer schmidt 289—97) . Dieselbe Ansicht und Terminologie vertritt auch Dominicus de

Dominicis in der Quaestio De sanguine Christi (a . 3 , arg. 2 pro separatione, f. 15" ): n Quia non teneo pluralitatem formarum sequendo Thomam, dico cum Herveo in quod libeto contra Henricum , quodl. 2, 9. 2, quod formae partium adveniente forma substan tiali totius aeque dant esse et denominationem ut anima ... 55 S. c. gent. II, 72 (Quod anima sit tota in toto et tota in qualibet parte ; 166 b ): Sic autem anima est forma totius corporis, quod est etiam forma singularum partium. Si enim

esset forma totius et non partium , non esset forma substantialis talis corporis. 56 Vgl. oben S. 279. 57 Vgl . Anm . 55. 58 De dato Patris luminum c. 2 ( P 1947- ). 293

Der Fortbestand der Menschheit Jesu im Tode

Seins 59. Von diesem heißt es in De visione Dei : „Das Sein des Sokrates umfaßt alles sokratische Sein ... Außerhalb ist dieses weder, noch kann es außerhalb sein. “ 60 Mit dieser Einheit des Seins oder der Form verbindet Cusanus dann

aber – im Gegensatz zu Thomas und mit Robert von Colletorto – die Annahme eines Seins der Glieder oder von Teilformen :

„ Anderseits ist allerdings in diesem durchaus einfachen Sein das Auge nicht Ohr, das Haupt nicht Herz, das Sehen nicht Hören und der Sinn nicht Ver stand ... Das einfache Sein des Sokrates ist vollkommen unmitteilbar und nicht auf das Sein irgendeines Gliedes zusammenziehbar (incontrahibile) 61. Daher ist das Sein des einen Gliedes nicht das Sein des anderen. Wohl aber ist das einfache

Sein des Sokrates das Sein aller Glieder des Sokrates. In diesem ist die gesamte

Mannigfaltigkeit und Andersheit, die sich an den Gliedern zeigt, einfache Ein heit – so wie eine Mehrzahl von Teilformen (pluralitas formarum partium ) in der Form des Ganzen Einheit ist. “ 62

Die Seele ist demnach die Form des Ganzen“ gegenüber den Gliedern des Leibes und den organgebundenen Seelenkräften 63. Das bedeutet nach De Possest z. B.: daß die Hand „ein wahreres Sein in der Seele hat als in der Hand selbst. Denn ihr Leben ist in der Seele, und die tote Hand ist keine Hand mehr “ . Dort

fügt Cusanus noch hinzu : „ So ist es auch mit dem ganzen Leib und den einzelnen Gliedern . “ 64

Was Cusanus des näheren unter dem Sein oder den Formen der Glieder ver steht, ist nicht leicht faßbar. Nach De visione Dei waltet zwischen ihnen und dem

Sein oder der Form des Ganzen ein gewisses Komplikations-Explikations- Ver hältnis. Was die „ andere Form “ ist, unter der die abgehauene Hand des Sokra tes fortbesteht 65, bleibt ungewiß. Im gleichen Zusammenhang wird von einem ,esse cadaveris “ gesprochen. Doch es ist weniger wahrscheinlich, daß Nikolaus dabei an eine neu eingeführte forma cadaveris dachte 66. Eher dürfte dabei das

unter Teilformen fortbestehende, von der belebenden „ Form des Ganzen “ ge löste Teil -Sein gemeint sein. Für die cusanische Christologie ist die vorgefundene Formmetaphysik vor allem unter folgenden Gesichtspunkten von Bedeutung: Nach Predigt 236 erlangten alle „ gestalthaften Glieder “ Jesu schon bei seiner Empfängnis die Einung mit der Gottheit, um fortan unlösbar darin zu bleiben 67.

59 Das gilt von allem, was als reine Form oder in der Zusammensetzung aus Materie und Form subsistiert, nicht von der hypostatischen Einung. 60 De visione Dei c. 14 (P 1067-") . n 20 (H 104) wird dieser Gedanke auf die Glieder der Glieder ausgedehnt : 61 S 213 n. Sumunt enim omnes digiti esse suum a plenitudine esse manus ... Unde, ut esse manus possit omnibus digitis praestare esse, est incontractum ad aliquem. 62 De visione Dei c. 14 ( P 106 '). 63 Ebd . c. 22 (P 111 ") : Vis visiva animalis in homine non in se, sed in anima rationali tamquam in forma totius subsistit ; vgl. c. 23 (P 112').

64 De Possest ( P 175 ' ) .

65 De visione Dei c. 14 ( P 106') .

66 Eine solche nahmen Gottfried von Fontaines (Schilz 373—75), Bernhard von

Auvergne und Herveus Natalis (Bayerschmidt303 321 ) sowie zu Lebzeiten des Cusa nus z. B. Joh . Capreolus (Schilz 373) an . 67 S 236 (V2 164 ): Omnia igitur membra formalia Iesu Salvatoris de massa corporali 294

Christologische Formmetaphysik

Das dürfte weniger von der äußeren Gestalt und äußerlich sichtbaren Proportion zum Ganzen als von „ Teilformen “ im metaphysischen Sinne zu verstehen sein 68. Diese Annahme erleichtert jedenfalls das Verständnis der cusanischen „ These“, 1

in der wiederholt eine unmittelbare hypostatische Einung der Glieder vertreten wird.

Das Hoch- und Spätmittelalter diskutierte lebhaft die Frage, wie bei der Tren nung der Seele als der Wesensform vom Leibe dessen Identität erhalten blieb.

Hörte nämlich der Leib auf zu sein, so löste sich auch, wie Johannes Capreolus bemerkt 69, „ seine Einung mit der Gottheit, weil er zu sein aufhörte, ohne daß eigentlich eine Trennung zu erfolgen brauchte . “ Cusanus sah die Identität und überhaupt den Fortbestand des Leibes wie der Glieder entscheidend durch die untrennbare Subsistenz im Worte gesichert, letztlich auch darin, daß „Gott

nichts verlorengeht“ 70. Seine Antwort auf die weitere Frage, unter welcher Form denn Leib und Blut fortexistieren, hätte vermutlich in dem Hinweis auf formen“ bestanden .

>>

Teil

c) Der Verbleib des Blutes Christi in der hypostatischen Einung sowie die

geschichtliche Einreihung der beiden Aufzeichnungen in Cod. Cus. 40 1. Die 14 christologischen Quastionen in Cod. Cus. 40 gehen von der Untrenn

barkeit und Innigkeit der hypostatischen Einung in Christus aus und dienen dann der Feststellung, daß nach der Lehre Leos d. Gr. zu keinem Zeitpunkt die Gottheit von der Menschheit oder die Menschennatur mit allem, was dazu ge hörte, von der Gottheit getrennt gewesen sei (g. 1–6 ). Als Grund und Ziel die ser unauflöslichen Einung wird die um den Preis des Blutes Christi erfolgte Er lösung der Menschheit und die Erlangung der Herrlichkeit Gottes dargetan ( q. 7-11 ).

Quästio 12 begründet – immer noch mit Worten Leos d. Gr.. – die Christen pflicht, folgendes zu glauben : Christus steht durch die Annahme der Menschen natur aus Maria der Jungfrau mit dem ganzen Geschlechte in Blutsgemein schaft. – Das Blut Christi ist auf Grund der Eigenart dieser Einung „ zugleich

Blut Gottes und des Menschen “. – „ In der Vergießung dieses Blutes liegt die Versöhnung der Welt. “ – Durch die Wiedergeburt in der Taufe soll die Mensch

heit Christus eingegliedert werden und in Ihm und der Kirche die Auferstehung und Unsterblichkeit erlangen. Mariae fabricata per Spiritum in consortium divinitatis transiverunt et unionem semel assumptam indissolubiliter tenebunt. Zu ,membra formalia' vgl. De beryllo c. 18 (H 20,19) ; S 167, notae (V2 73'*): In matrice ... simul omnes partes cum toto formantur. 65 Pius II. läßt in De contentione (Cugnoni 640) den Thomisten erklären : Cum dicimus, quod resurrectione resumuntur omnia, quae sunt de veritate humanae naturae, secundum partes formales intelligendum est, non secundum materiales ; ... illae tantum resurgent, in quibus debita proportio corporis et membrorum continetur.

69 Defensiones III d. 21/22, q. un., a. 2 (V 274 ) .

70 These arg . I, a (unten S. 320 ); vgl. De visione Dei c. 14 (P 106' ) : Sed si semel separaretur manus (abscisa Socratis sub alia forma manens) ab esse incontracto penitus,

quod est infinitum et absolutum, totaliter desineret esse, quia ab omni esse esset separata . 295

Der Verbleib des Blutes Christi in der hypostatischen Einung Quästio 13 knüpft an ein Wort des Gregor von Nazianz an, nach dem ,wenige Blutstropfen die Welt erneuerten“ und, gleichsam wie ein Gerinnungsmittel die Milch , alle Menschen zur Einheit mit Christus zusammenfaßten . So versteht die

ser Kirchenlehrer die Erlösung. Die Ansicht, das Blut Christi sei dem Teufel geopfert worden, betrachtet er als eine Schmähung. Dies setzte ja auch voraus, daß das Blut von der Gottheit getrennt worden wäre. Um dem entgegenzutreten bezeichnet Gregor das Blut Christi als das „Gottes und des Eingeborenen “.

vermutet der Kardinal

Zuletzt wird gefragt, ob im verklärten Leibe Christi Blut sei“. Das wird be jaht mit der Begründung: „Das Blut ist mit dem Leibe zu einer unteilbaren und unauflöslichen Einung mit der Person Christi aufgenommen. Für die, welche glauben, daß jenes Blut im konsekrierten Kelche ist, ist das gewiß .“ 1 Darauf

folgt das auf ein Dekretale Innozenz' III. gestützte spekulative Argument: „ Wenn sich auch das Blut nicht im toten Leibe befindet, so gehört es deshalb nicht weniger zur Wesenheit des wahren und lebendigen menschlichen Leibes, sondern um so mehr, da dieser ohne es nicht ernährt werden kann .“ Demnach

muß der Leib eines jeden Menschen bei der Auferstehung zum Leben mit dem Blute auferstehen “ .

Das Endergebnis dieser Quastionen läßt sich so formulieren : Das am Kreuze vergossene Erlöserblut blieb auch während des Triduum mortis mit der Gottheit

geeint. Am Ostermorgen stand der verklärte Leib mit diesem Blute aus dem Tode auf. Dabei ist das Augenmerk auf das Blut Christi gerichtet, sofern es not

wendig zum lebendigen Leibe gehört. Die Frage, ob das gesamte Blut Christi . das beim Leiden vergossen wurde, bei der Auferstehung in den Leib zurück kehrte “, hat Cusanus nicht gestellt.

2. Der in Cod. Cus. 40 aufgezeichnete Beweis dafür, daß das, was aufersteht, nie von der Person des Auferstehenden getrennt war “ , setzt die dort unmittel bar zuvor von Cusanus selbst eingetragenen Quastionen voraus. Das folgt ins besondere daraus, daß in der ,These " ausgerechnet auf die Vätertexte, die be

reits in den Quastionen zitiert wurden, nur noch allgemein hingewiesen wird , während es sonst auch in der , These “ nicht an längeren Zitaten fehlt. Inhaltlich stimmt die These mit dem Endergebnis der Quastionen überein .

Beide Male zielt der Beweisgang dahin, daß nicht nur Leib und Seele, sondern auch das Blut jederzeit der göttlichen Person geeint blieb. Die These beschränkt sich jedoch ausdrücklich auf das, was aufersteht “ , während umgekehrt in ihr

die spekulativen Beweismomente der Quästionen breiter und gründlicher ent faltet sind und neue Autoritäten hinzukommen .

Im I. Argument folgt auf die Begründung des allgemeinen Prinzips, daß „ nichts aufersteht, was infolge der Trennung von der Person dem Betreffenden nicht mehr gehört“ 3, die Anwendung: „ Also hörte auch das Blut Christi, das 1 Vgl. die spätere Erklärung des Konzils von Trient (D 876), die tatsächlich auch für die fast allgemeine Rezeption der Ansicht, daß das Blut stets in der Einung blieb, maß gebend wurde (Pohle II 85) .

2 Thom. v. A q. , Quodl. 5 , q. 3. a. 5 (V 102 f.). 3 Vgl. oben S. 284 . 296

„ Was aufersteht, war nie von der Person des Auferstandenen getrennt“

( jetzt) in Christus ist, nie durch Trennung von der Person auf, sein Blut zu sein .“ Hier wird auch das, was Leo und Johannes von Damaskus vom Fleisch Christi sagen, auf das Blut appliziert: Es war nicht früher Blut, als es Blut des Wortes

Gottes war. Hätte es also je aufgehört, Blut des Wortes Gottes zu sein, so hätte es auch zu sein aufgehört und nicht auferstehen können.

Gegen solche, die behaupten, das Erlöserblut habe vom Tode bis zur Auf erstehung von der Person getrennt weiterbestanden, bei der Auferstehung sei es

wieder der Person geeint worden, wendet sich die scharfsinnige Überlegung : Nach diesen wäre das vergossene Blut im Hinblick auf die Auferstehung „ früher Blut als Blut des Wortes Gottes gewesen“ . Das gebe aber kein Theologe zu, da es sich nicht mit dem Charakter der hypostatischen Einung vereinbare. Denn

„ dasselbe Blut existierte vor seiner Vergießung nicht zeitlich früher, als es Blut des Wortes Gottes war “ . So aber hätte es bereits zeitlich existiert, ehe es bei der Auferstehung erneut Blut des Wortes Gottes wurde 4.

Das II . Argument erklärt zu den eucharistischen Einsetzungsworten „Dies ist der Kelch mit meinem Blute, der für euch wird vergossen werden zur Vergebung der Sünden“ 5 : „Hier bringt Christus klar zum Ausdruck, daß es beide Male ein

und dasselbe Blut sei, das sich im Kelch befinde und das vergossen werde. Das im Kelche ist aber der Gottheit geeint. Also war es so auch mit dem, das vergos

sen wurde.“ Die Wirkung der Sündenvergebung verlangt dasselbe. Die An nahme, das Blut Christi hätte auch bei der Trennung von der Person dasselbe bleiben können , verkennt die Bedeutung der hypostatischen Einung. Denn diese ist „ substantiell“, wie Johannes von Damaskus sagt, keineswegs nur akzidentell. Hypostatisch geeintes Blut kann ebensowenig dasselbe sein wie getrenntes, , wie ein vernunftbegabtes Sinnenwesen , z. B. ein Mensch , derselben Art sein kann wie eines ohne Vernunft, z. B. ein Affe “ 6.

Das III . Argument streift nur den Gedanken, daß die örtliche Trennung des

Leibes und des Blutes von der Seele zu keiner Zeit eine Trennung Christi be deutete .

Das Folgende legt dar, daß der Leib Christi durch den Heiligen Geist aus

dem jungfräulichen Blute Mariens gebildet und von hypostatisch geeintem Blute durchflutet und genährt wurde. Das reizt Cusanus zu der Frage : Wie sollten da

die Schandsoldaten dieses Blut vom Worte Gottes haben trennen können? Oder wie sollte sich die Gottheit von dem Blute trennen, das sie erwählte und zu solch

enger Einung annahm , daß keine größere möglich ist? “ Das V. Argument beweist aus der Heiligen Schrift und der lateinischen antik

mittelalterlichen Tradition, daß die Erlösung durch das Blut Christi geschah und sich noch weiter durch das Altarssakrament vollzieht.

Daran schließt sich die Zusammenfassung an : „ Wie kann also ein Christ die • Gegen eine Wiederaufnahme in die hypostatische Einung gelten die gleichen Gründe wie gegen die Assumptus- Theorie; vgl. z. B. Thom. v. A q ., În Sent. III d. 6, q. 1 , a. 2, resp . (III 230). 5 Missale Romanum , Konsekrationsworte ; vgl . Lk 22 , 20. 6 Dieser Vergleich beruht nicht auf einer Verwechslung von Subsistenz und Wesens

ordnung ; er soll hervorheben, daß die Subsistenzweise ebenso wie die Wesenheit für die Identität des Konkreten konstitutiv ist. 297

Der Verbleib des Blutes Christi in der hypostatischen Einung

Behauptung wagen, Gott, der in Christus die Welt versöhnte (2 Kor 5, 19) , das Fleisch gewordene Wort also, sei von dem vergossenen Blute, durch das Es jene

Erlösung und Nachlassung bewirkte, getrennt worden? Ein jeder, der sich dafür ereifert, muß fürchten , daß er durch eine solche Neuerung, von der man bei den Heiligen nichts hört, dem Blut des Bundes, in dem er geheiligt ist, und dem Geist der Gnade Schmach zufüge und dafür die furchtbarste Strafe verdiene, wie der Apostel im Hebräerbrief ( 10, 27 ff .) bezeugt, indem er dies als etwas sehr Erschreckliches bezeichnet .“

Dieser Schluß zeigt, daß Sinn und Zweck der „ These “ und der Quästionen nicht in einem rein dogmengeschichtlich -dogmatischen Interesse zu suchen sind. Cusanus hat vielmehr beide Stücke in der Auseinandersetzung mit zeitgenössi

schen Vertretern einer gegenteiligen Ansicht ? verfaßt. 3. Was mag in seinem Leben der konkrete Anlaß dazu gewesen sein? Hier taucht sogleich die Vermutung auf, daß ein Zusammenhang mit dem Wilsnacker Bluthostienstreit “ bestehe, in den Nikolaus von Kues am 5. Juli 1451 als Aposto

lischer Legat für Deutschland durch das Verbot der Wallfahrt nach Wilsnack eingriff

Bei der theologischen Erörterung der Wilsnacker Frage vertraten die an Tho mas von Aquinº Orientierten den Standpunkt, daß bei der Auferstehung alles vergossene Blut Christi wieder mit dem Leibe vereinigt und seitdem in ihm ver klärt sei. „ Mehrere Franziskaner hingegen setzten sich , der Tradition ihrer Or

denstheologie folgend, ein für die entgegengesetzte Meinung“ 10. Cusanus be gründete sein Verbot der Wallfahrt mit den Worten : „ Wir können eine so ver derbliche und unserem Glauben widerstreitende Sache nicht stillschweigend hin gehen lassen, ohne Gott zu beleidigen. Denn der katholische Glaube lehrt uns, daß der verklärte Leib Christi in seinen Adern ein gänzlich unsichtbares Blut »

hat . “ 11

Der praktischen Konsequenz nach stimmt dieser Entscheid mit der thomistischen Sentenz überein. Die Frage, ob alles vergossene Blut Christi nunmehr in seinem

auferstandenen Leibe enthalten sei, wird darin jedoch nicht berührt 12, noch we 7 Vgl. das ,ut fatentur' arg. I, b (unten S. 322, Z. 15) . 8 Ad. Riedel , Codex diplomaticus Brandenburgensis II, Berlin 1842, 153. 9 S. theol. III q. 54, a. 3 ; Quodl. 5, q. 3, a. 5 (V 102 f.) . 10 Meier , Joh. Bremer 1247.

11 Riedel (s. Anm. 8) 153. Ebd. folgen weitere Dokumente über den Wilsnacker Cusanus ordnete damals auch auf den Provinzialsynoden von Mainz ( 1451 ) und Köln ( 1452) an, daß „ Bluthostien “, wenn möglich, konsumiert, jedenfalls aber verborgen

Streit .

gehalten werden müßten (s. P. Browe , Die eucharistischen Wunder des Mittelalters :

Bresl . Stud. z. hist. Theol. 4, Breslau 1938, 165). – Im Jahre 1454 gestattete er, daß in Andechs einmal jährlich dem Volke Gelegenheit gegeben werde, eine solche Hostie zu

verehren, und zwar mit der Auflage, „daß dem Volke die Wahrheit gesagt werde “ , nām lich daß es sich den geschichtlichen Indizien nach um wirklich konsekrierteHostien handle. Das „ Blutwunder “ wird dabei von Cusanus nicht erwähnt (Brief vom 9. 9. 1454 an Bernh.

von Waging : Vansteenberghe, Autour 150; Browe 150 ). 12 Auch in Frankreich war in La Rochelle ein Streit um Heilig -Blut-Reliquien ausge brochen. Vielleicht berücksichtigt Nikolaus hier den Entscheid der Pariser Theol. Fakultät vom 28. 5. 1448 : Non repugnat pietati fidelium credere, quod aliquid de sanguine effuso tempore passionis remanserit in terris (Chenu : DTC XİV 1096 ). 298

Der zeitgeschichtliche Hintergrund der Quastionen und der These niger aber das Kernproblem der Quästionen und der These, ob das Erlöserblut auch während des Triduum mortis hypostatisch geeint blieb. Die Kontroverse

darüber geht zwar schon weiter zurück 13; sie lebte aber anscheinend im derzei tigen Diskussionstadium nicht auf 14. Eher als den um Wilsnack entstandenen Streit könnte Cusanus bei

einen

Aufzeichnungen den Spanier Alphonsus Tostatus († 1455) im Auge gehabt ha ben . Dieser vertrat in seinen , Paradoxa' die Ansicht, daß das Blut Christi wäh

rend des Triduums nicht dem Worte geeint war, Ihm aber bei der Auferstehung wieder geeint wurde 15. Doch eine solche gelegentliche Äußerung erklärt nicht den Eifer, mit dem sich der Kardinal dieser Frage zuwandte.

Im Jahre 1462 entbrannte dann aber in Italien eine heftige geistige Fehde, die vollauf dem entspricht, was die cusanischen Aufzeichnungen als geschichtliche Voraussetzung vermuten lassen. Zu Ostern jenes Jahres behauptete der Franziskaner Jakob von der Mark in einer Predigt, das beim Leiden Christi vergossene Blut sei nicht der Person geeint geblieben 16. Der Dominikaner Jakob von Brescia forderte ihn als Gene ralinquisitor für die Lombardei vergeblich zum Widerruf auf. Daraus entstand eine so leidenschaftliche Auseinandersetzung zwischen Dominikanern und Fran

ziskanern, daß Pius II . am 31. Mai 1462 jede öffentliche oder private Erörterung dieser Frage unter Strafe der Exkommunikation verbot 17. Vom 18. bis 20. De

zember standen sich sodann je drei Vertreter beider Orden vor dem Papste und einer Versammlung von Kardinälen und Prälaten zur Disputation gegenüber. Anschließend wurde auch andern Theologen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben 18. „Danach besprach der Papst die Sache an mehreren Tagen mit den Kardinälen. Der größere Teil stimmte der Ansicht der Prädikanten zu, wenige teilten die der Minoriten. Auch Pius stand auf seiten der Mehrheit, aber die Zeit schien damals für ein Dekret ungünstig. “ 19 So blieb die Kontroverse unentschie 13 Im Jahre 1351 lehrte ein Franziskaner-Guardian in Barcelona, das vergossene Blut Christi habe sich ebensowohl von der Gottheit wie vom Leibe getrennt und sei deshalb

nicht anbetungswürdig gewesen. Der Dominikaner Nikolaus Rosell brachte dies als Inqui sitor für Aragonien vor Papst Klemens VI ., der diesen Satz am 20. Juli 1352 als häretisch erklären ließ (Chenu : Dict. XIV 1095). 14 Joh. Bremer verteidigt in seiner Quaestio magistralis de sanguine Christi

v. J. 1455 die Thesen : Christus ... aliquas particulas sui sanguinis relinquere dignatus Sanguis Christi effusus generaliter in eiusdem gloriosa resurrectione non necessario fuit reassumptus totaliter (Meier 1260 ) . Die Frage der Trennung von der Person erörtert diese auf franziskanischer Seite besonders geschätzte Quaestio nicht. 15 Paradoxa IV, 43 (XXV 57, Sp. 1 ) : Dominicus sanguis in triduo illo Verbo hypo est fidelibus iugi pro memoria.

statice unitus non erat sicut corpus et anima Salvatoris . Cum autem Christus resurrexerit,

sanguis denuo Verbo unitus est. – Die Angabe von Pohle ( II 85) , daß nach Alphonsus Tostatus „ das Blut Christi weder im lebenden Erlöser noch im vergossenen Zustande mit dem Logos secundum hypostasim verbunden war“ , kann ich weder bei Alphonsus in

seinen gedruckten Werken noch in den Anklagepunkten der Streitschrift des Joh. von Torquemada (Cod. Vat. lat. 976, 118 ' — 31") bestätigt finden. 16 Jac. Quétif - Jac. Echard , Scriptores ordinis Praedicatorum I , Paris 1719, 822. 17 Chenu : DTC VIII 291 (unter : Jacques de Brescia ). 18 Pius II., Commentarii rerum memorabilium, Frankfurt 1614 , lib. XI (279 f.) ; Quétif - Echard I 822 b. 19 Commentarii lib. XI (292) ; Quétif -Echard I 823 a. 299

Der Verbleib des Blutes Christi in der hypostatischen Einung den. Kurz vor seinem Tode verbot Pius II . nochmals zur Wahrung der Einheit

und Vermeidung von Ärgernis den Angehörigen beider Orden unter Androhung der Exkommunikation, sich gegenseitig als Häretiker zu bezeichnen 20. Demnach ist zu vermuten, daß die cusanischen Aufzeichnungen beide Ende 1462 oder in den ersten Monaten 1463 entstanden. Der Kardinal war zu dieser Zeit in Rom 21. Zwischen der „ These “ und der damals im Entstehen begriffenen Schrift De venatione sapientiae bestehen auffallende gedankliche und sprachliche

Übereinstimmungen. Der überzeugende Beweis ergibt sich aus einem Vergleich der cusanischen Stellungnahme mit andern Dokumenten aus der damaligen Kontroverse.

4. Dabei sind vor allem die Aufzeichnungen Pius' II . selbst über die römische Disputation von Bedeutung 22. Nach diesen bringt der Minorit die These, „ daß während der drei Tage, die

auf das Leiden folgten, die Gottheit nicht dem vergossenen Blute geeint war und diesem deshalb nicht der Kult der Anbetung gebührte“, in dem Bewußtsein vor,

daß die Menge ihn wegen Schmähung des Blutes Christi als Heiden und Häre tiker betrachten werde, und in der Hoffnung, daß ihn der Papst , vor den Bissen

der Bellenden“ befreie 23. Bei der spekulativen Begründung seiner These führt er unter anderem aus : Das Blut Christi war nur mittelbar, nämlich infolge seiner

Zugehörigkeit zum Leibe, mit der Gottheit geeint 24. Deshalb ist bei der Tren nung vom Leibe auch die Trennung von der Gottheit erfolgt. Das Blut gehörte auch nicht zum Wesen oder zur „Wahrheit der menschlichen Natur“ . Der Embryo

hat zum Beispiel nach seiner Beseelung zunächst noch kein Blut 25. Als Autorität dafür wird Papst Innozenz III. angerufen, da sich nach ihm der Körper aus Ele menten aufbaue, aber durch die Säfte ernährt werde 26.

Das auf Johannes von Damaskus zurückgeführte, allgemein anerkannte Prin 20 Bulla Ineffabilis' vom 1. 8. 1464 : Reg. Vat. 519, 125 "; Bullarium Romanum , Turin 1857 ff ., V 182 ; D 718.

21 Vgl. die Daten der in Cod. Cus. 221, 523 ff. kopierten Briefe.

22 Diesestehen Cod . Vat. Chisianus(Chigi) J VII 251, 25 ' — 64' unter der Überschrift: De contentione divini sanguinis inter Praedicatores et Minores coram se habita. Dieser Kodex stammt aus dem Privatsekretariat des Papstes. Er enthält auch Autographe von

ihm (vgl. Verf., Der Reformentwurf Pius' II.: Röm . Quartalschrift 49 (1954) 189 f. ). Cugnoni hat diese Hs. abgedruckt. Eine zweite trägt die Überschrift: Pii secundi, Ponti. ficis Maximi , tractatus de sanguine Christi (Vat. Urbinatensis lat. 406, 9 '-— 43 '). Wenige Jahre jünger ist eine dritte Hs. , die Chenu nennt,ohne den Verfasser zu kennen (DTC XIV 1094) : Paris, Bibl. Nat. 12390, 42—57 '. Die Aufzeichnungen Pius' II. könnte man

als Bericht bezeichnen , würden darin nicht die Ausführungen von je drei der beider seitigen Diskussionsteilnehmer nur je einem Minoriten und Prädikanten in den Mund gelegt .

23 De contentione (Cugnoni 615 f.) ; vgl. ebd. 517: De sanguine Salvatoris in passione fuso contendimus : An separatus a corpore Verbi retinuerit unionem ; nos amissam dici mus, Praedicatores retentam.

24 Vgl. dagegen die cusanische These arg. I, a (unten S. 321 ) : „Esse eius' dicit hypo staticationem omnium in singularitate personae. 25 Cugnoni 616. Demgegenüber also beruft sich Cusanus (arg. IV, unten 326 f.) auf Joh. von Damaskus. 26 Cugnoni 617. Vgl. die cusanische Replik in q. 14 (unten S. 319) : Non eo minus

est de essentia veri et vivi corporis humani, sed eo plus, cum sine eo non possit vegetari : ferner die Antwort des Dominikaners (Cugnoni646—650): 300

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1

Die Kontroverse 1462/3 zu Rom

zip : ,Was das Wort einmal annahm , entließ Es nie mehr“ , wagt der Franziska ner nicht zu leugnen . Aber er unternimmt es, dessen Gültigkeit zu begrenzen , da

sich sonst Lächerlichkeiten und Absurditäten ergäben. Insbesondere gibt er zu bedenken : „Der Sohn Gottes nahm die Menschennatur an ..., aber nichtsdesto •

weniger legte Er sie im Tode wieder ab. Denn Christus war in den drei Tagen

nicht Mensch . “ So „ nahm das Wort auch die Sterblichkeit an und legte sie ab 27; Es nahm die Zerstörbarkeit an und legte sie ab ...“ 28. Damit begründet der

Franziskaner die Forderung, die Erklärung der neueren Lehrer zu dem genann ten Axiom zu Hilfe zu nehmen. Nach Bonaventura 29 seien nur Leib und Seele

unlösbar in die Einung aufgenommen, nach Duns Skotus näherhin nur die haupt sächlichsten Teile des Leibes, nicht aber das Blut 30. Dann wendet sich der Minorit dem weiteren Einwand zu , die Heilige Schrift und die Glaubenstradition lehrten, daß das Blut Christi der Preis der Erlösung

gewesen sei und die Kirche Gottes erworben habe “, das setze die Einung mit der Gottheit voraus 31. Er glaubt, diese Schwierigkeit umgehen zu können, indem er die einschlägigen Stellen auf den Tod auslegt, denn durch diesen, nicht durch das Blut Christi sei die Erlösung geschehen. Auf die Frage, wie es gewesen wäre,

wenn einer der Apostel während des Triduums zelebriert hätte, „ antwortet er kühn “ , im Kelche hätte sich Blut gefunden, das vergossen und nicht mit der Gott heit geeint gewesen wäre 32. Dann wirft er die Frage auf, ob etwas vom Blute Christi auf Erden zurück

geblieben sei . Er meint, die Gegenseite wage das nicht zu leugnen. Daher sage man nicht, das gesamte Blut Christi sei immer mit dem Worte geeint gewesen, sondern nur jenes, das am übernächsten Tage in den verklärten Leib wiederauf genommen worden sei. Von der Frage der Trennung während des Triduums ab gesehen, stimmten die Franziskaner dem zu, daß der größere Teil des Blutes nunmehr zur Rechten des Vaters die ewige Seligkeit genieße 33.

Die vielfachen Beziehungen zwischen den cusanischen Aufzeichnungen und der

von dem „Minoriten“ vorgetragenen Ansicht dürften schon keinen Zweifel mehr lassen, daß die Sentenz der Franzikaner den geschichtlichen Hintergrund und den Gegenstand der cusanischen Stellungnahme bildet. Deshalb erübrigt sich ein

näherer Vergleich mit den ausführlichen Darlegungen und Widerlegungen des „ Prädikanten “. Hingewiesen sei darauf, daß Leo d. Gr. auch in dessen Aus führungen die meist zitierte und nebst Johannes von Damaskus grundlegende Väterautorität ist 24.

27 Dagegen vgl. Cusanus arg. I, c (unten S. 324) : Mors enim ... non est assumpta in unionem cum divina natura, sed humana natura mortalis sumpta est ad unionem divinae.

23 Dagegen vgl. die Betonung der Unzerstörbarkeit der menschlichen Natur Christi von der Docta Ignorantia an. 20 In Sent. III d. 5, a. 2, q. 5 ad 3 ( III 141 b) . 30 Cugnoni 619 f. 31 Vgl . Cusanus g. 9 11 13; arg. I , b (unten S. 317 f.) ; ferner die Darlegungen des „Prä

dikanten “, Cugnoni 626 ff.; Apg 20, 28. 32 Cugnoni 621 f.; vgl. Cusanus arg. II (unten S. 324 ) .

33 Cugnoni 623.

34 Das gilt auch von dem Tractatus de sanguine Christi, den die drei dominikanischen Teilnehmer an der römischen Disputation (Gabriel de Barcinona , Jacobus de Brixia und

Vercellinus de Vercellis) nachträglich für Papst Pius II . abfaßten (Paris, Bibl. Nat. lat. 12390, 72'— 79'), und erst recht von der Quaestio de sanguine Christi, die der päpstliche 301

Der Verbleib des Blutes Christi in der hypostatischen Einung Besonders aufschlußreich ist noch ein Blick in die Anfang 1463 von Dominicus de Dominicis (Domenichi) abgefaßte Quästio De sanguine Christi sowie in den

Nachtrag dazu 35, der eigens auf die Widerlegung eines von den Minoriten als Autorität angeführten „neuen Lehrers“ , nämlich des Skotisten Franciscus de Mayronis († 1325) , abzielt, den die Thomisten als den „hauptsächlichsten Be gründer“ der Trennungstheorie bezeichnen 36,

Dieser lehrte in einer Osterpredigt mit den Anfangsworten: ,Domine, probasti me' ( Ps 138, 1 ) , „ beim Tode Jesu habe es vier Trennungen gegeben “ : erstens eine Trennung der Seele vom Leibe, zweitens eine Trennung der Gottheit von der Menschheit, drittens eine Trennung des Blutes vom Leibe, viertens eine Tren nung des Blutes von der Gottheit. Die Trennung der Menschheit von der Gott heit begründet Franziskus wie folgt: „Christus war, wie die Lehrer gegen das III. Buch des Magister Sententiarum dartun, im Tode nicht Mensch. Im Hinblick auf diese Trennung (der Gottheit von der Menschheit) hat Christus auch , wie wir

glauben, indem Er sich prophetisch des Präteritums statt des Futurums bediente, am Kreuze ausgerufen : Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen ? (Mt 27 , 46) . “ 37 Nach dem erwähnten Nachtrag scheint sich Franz von Meyrones zur Bekräfti

gung seiner Exegese selbst 38 auf die Ambrosius -Stelle berufen zu haben : „ So rief der Mensch, da er durch die Trennung der Gottheit sterben sollte “ usw. 59 nach demselben Nachtrag seinerseits die Autorität des Johannes von Damaskus und Leos d . Gr. in Anspruch, um die Gültigkeit des Prinzips: ,Was das Wort annahm, entließ Es niemals “ , auf den ausschließlichen Außerdem nahm Franz

Verbleib der beiden Wesensteile Leib und Seele in der Einung zu beschränken 40. Dagegen führt Dominikus insbesondere zahlreiche Zeugnisse des Papstes Leo an, die es als verwunderlich dartun, daß sich Franz „ausgerechnet auf Leo“ berief 41 . Hier tritt mit der wünschenswerten Deutlichkeit zutage, was wir als den un mittelbaren Anstoß zur Abfassung der cusanischen Quastionen und der „These “ betrachten dürfen . Das ist die von den Franziskanern während der römischen

Kontroverse verfochtene, auf Franz von Meyronnes zurückgehende und auf Am brosius gestützte, über den Heilig-Blut-Streit als solchen hinausgreifende These, „ daß die Gottheit auch die Menschheit verließ oder daß sie sich ebenso von der

Menschheit (Christi) wie vom Blute trennte " 12. Referendar Dominicus de Dominicis Anfang 1463 auf Ersuchen des Papstes niederschrieb und vor der von Pius II. einberufenen Konferenz als Gutachten vortrug (ebd. f. 1 '—28 ) . Vgl . auch den auf diese Quästio folgenden Nachtrag, der ebenfalls auf Wunsch des Papstes hinzugefügt wurde ( 2816-30V+). 35 Vgl . Anm . 34 .

36 Vgl. Pius II., De contentione (Cugnoni 639) : Praecipuus separationis assertor (Worte des „ Prädikanten “ ); Dominicus, Nachtrag (30 " ); principalis fundator istius opinionis.

37 So nach Dominicus, Quaestio De sanguine Christi a. 3, obi. 7 (12'6—13 ) . 38 Jedenfalls taten das die Franziskaner im Laufe der römischen Disputation ; vgl. Dominicus , Quaestio a. 2 , resp. ad 1 ( 10 " ). 39 Näheres s . unten S. 322 f. va

40 Dominicus, Nachtrag (auctoritates) f. 28"-" ; vgl. 3014 - v . 41 Ebd . , bes . 30 " - " . 302

42 Ebd . 285b.

Dogmengeschichtliche Einreihung der cusanischen Ansicht

Die cusanischen Aufzeichnungen stellen eine präzise Erwiderung hierauf dar. Das läßt vermuten , daß sie bald nach der ersten dreitägigen Disputation ent

standen 43 und das Votum des Kardinals vor dem Papste und der von ihm ein berufenen Versammlung darstellen 44. 5. Die dogmengeschichtliche Einreihung der cusanischen Stellungnahme in der

um die Jahreswende 1462/63 in Rom ausgetragenen Kontroverse über den Ver bleib des Heiligen Blutes in der hypostatischen Einung während des Triduum mortis läßt sich nunmehr zusammenfassend also wiedergeben :

a) Nikolaus von Kues vertrat, aufs ganze gesehen, entschieden den Stand punkt der Dominikaner, daß das Blut Christi auch nach der beim Todesleiden erfolgten Trennung vom Leibe hypostatisch der Gottheit geeint blieb. b ) Zur Begründung dieser Ansicht läßt er, wie auch manche der damaligen Thomisten, den Gedanken der Einheit der substantiellen Form zurücktreten

hinter der Annahme, daß das Blut Christi ebenso wie die „ formalen Teile “ sei

nes Leibes zumindest der Potenz nach, nämlich für den Fall der Trennung von der Seele als der Form des Ganzen, unmittelbar in der Gottheit hypostasiert war 45

c) Mit den Thomisten 46 stützt sich Cusanus auf das mit der Autorität Leos d. Gr., des Johannes von Damaskus sowie der folgenden Tradition begrün dete Axiom, daß das Wort das, was Es einmal angenommen habe, niemals mehr

entließ. Die auf Franz von Meyronnes fußende Geltungsbeschränkung dieses Leitsatzes auf den ausschließlichen Verbleib der beiden Wesensteile Leib und

Seele in der hypostatischen Einung wies er zurück . d) Gegenüber der Sentenz des Aquinaten selbst 47 machten die Thomisten in Rom das Zugeständnis, das genannte Axiom sei nicht so zu verstehen, daß jeder materielle Bestandteil des Fleisches und Blutes mit auferstanden sei “ . Sie räum

ten auch ein, daß das noch verschiedentlich gezeigte Heilige Blut, wenn es zer fallen sei, sicher nicht mehr hypostatisch geeint sei 48. Cusanus dürfte bei der

Formulierung seiner These : „Das, was aufersteht, war nie von der Person des Auferstehenden getrennt“ , dieselbe Einschränkung intendieren 49. 7

43

45Die Untersuchung , ob zwischen den cusanischen Aufzeichnungen und dem Gutachten

des Dominikus eine Abhängigkeit oder zeitliche Priorität festzustellen sei , dürfte schwie rig sein ; sie führte hier zu weit.

44 Daß Cusanus ein solches abgab, ist bei der Vertrauensstellung, die er bei Pius II. genoß, anzunehmen. Im Jahre 1459 war er Legatus Urbis. Damals verfaßte er wohl auch

schon die Reformatio generalis, und zwar schon gleich in Form einer päpstlichen Reform bulle. Die Cribratio Alchoran sollte dem Papst Unterlagen für die Beurteilung und Widerlegung des Mohammedanismus an die Hand geben (Widmung; P 123“ ). 45 Vgl. oben S. 293–295: Dominicus, Quaestio a. 2, resp. ad arg. ( 11" );3 a. 3 ad 2 ( 15"") ; unten 304 ; Chenu : DTC XIV 1095.

46 Vgl. Pius II., De contentione (Cugnoni 624 ff .); Dominicus , Nachtrag (aucto ritates ) f. 287–30V6.

47 Quodl. 5, q . 2 , a. 5 (Quaest. disp. V 102 f.). 48 Pius II., De contentione (Cugnoni 640) :: Dominicus , Quaestio a. 2, resp. ad arg. (11 " ). 49 Das stimmt sachlich genau mit der Konzession überein, die der Minorit dem Prädi kanten zuschreibt (vgl. oben S. 301 ) . 303

Der Verbleib des Blutes Christi in der hypostatischen Einung

e) Auf die franziskanische These, daß sich beim Tode Jesu die Gottheit nicht nur vom Blute, sondern auch von der Menschheit getrennt habe, da Christus im Triduum mortis nicht Mensch gewesen sei, antworteten die Dominikaner zu meist, die Gottheit habe nicht die Menschheit aufgegeben, diese habe vielmehr aufgehört 50. Cusanus geht nirgends auf diese dialektische Lösung ein. Er betont vielmehr von der Docta Ignorantia an unentwegt die Unzerstörbarkeit der Menschheit Jesu und sträubt sich gerade dagegen, daß das Menschsein Jesu durch den Tod .annihilisiert “" worden sei .. - Sachlich steht die cusanische An sicht einer anderen Lösung näher, die Domenichi mit der eben genannten ver knüpft: „ Materiell genommen , im Hinblick auf ihre Teile, war die mensch liche Natur nicht von der Gottheit getrennt, denn mit beiden Teilen blieb die

Gottheit geeint.“ 51 Aber das erzwingt nicht die Konsequenz, daß „die Aussage, zwischen Gottheit und Menschheit habe beim Tode eine Trennung bestanden , unstatthaft sei “ 52, wenn man zugleich festhält, Christus sei im Triduum mortis nicht Mensch gewesen .

Solcherlei Überlegungen dürften Cusanus von der Docta Ignorantia an dazu bestimmt haben , von der Leugnung des Menschseins Christi für die Zeit des To des abzurücken und sich fortan auf spekulativem und dogmengeschichtlichem

Wege um den Beweis des ununterbrochenen Fortbestandes der Menschheit Jesu zu bemühen 53.

50 Vgl. bes. Pius II., De contentione (Cugnoni 639) : Humanitas ipsa non potest dici relicta vel dimissa , quia desiit esse in triduo ... ; non est dimissa humanitas, sed exstincta ... annihilata in passione Domini.

51 Dominicus , Nachtrag (auctoritates) f. 30. Der dort folgende Text lautet : Humana etiam natura formaliter sumpta, quae est partes unitae sive id , quod resultat ex partibus unitis, non fuit separata in morte, quia non dicitur separatum ab alio id, quod esse desinit, sicut dicit Petrus de Tarantasia in III° dist. 21 . 52 So Dominicus ebd.

53 Infolge des Trienter Konzils (D 876) wurde die thomistische Ansicht in den Grund

zügen so allgemeinrezipiert, daßdie entgegenstehende Theorie der Franziskaner kaum noch Anhänger zählt “ . Bei der Auslegung des Prinzips : Quod Verbum (semel) assumpsit,

nunquam dimisit', setzte sich hingegen weitgehend die franziskanische begrenzende Ten denz durch ( Pohle II 85 f.) .

304

RUCKBLICK

DAS CHRISTUS - BILD DES NIKOLAUS VON KUES

Nikolaus von Kues spricht oft von Urbild und Abbild, von Zeichnen und Malen . Das sinnenhafte Sehen nimmt er in Dienst für die Schau metaphysischer Wirk lichkeiten 1. Sein großes kontemplatives Werk „ Über das Sehen Gottes “ geht von

einem gemalten Christusbild aus, um vor das Geheimnis des allsehenden und alles liebend umfassenden Gottes hinzuführen .

Als ein tiefgründiges Gemälde der Größe Jesu Christi - der deshalb als Mensch das erhabenste Abbild Gottes darstellt, weil Er zugleich seiner göttlichen

Hypostase nach der wesensgleiche Abglanz des Vaters sowie das Urbild der Schöpfung ist 3 — möchten wir auch die cusanische Christologie bezeichnen. Cu sanus verlangt nämlich bei seinen Denkbemühungen um die Aufhellung des Christus -Mysteriums – ähnlich wie bei seinem Ringen um das Geheimnis des Dreieinen Gottes sehr danach , das zu schauen und sichtbar zu machen , „was wir im Glauben hörten “ 4 . Hier versuchen wir nur noch in skizzenhaften Strichen rückblickend den Ge

samteindruck des Bildes festzuhalten , das die vorangehende Untersuchung aus vielerlei zerstreuten Fragmenten rekonstruieren konnte, und zwar unter den drei

Gesichtspunkten : der biblisch - geschichtliche Untergrund ; hervorstechende Züge ; zur Perspektive des Ganzen . 1. Wie tief das cusanische Denken in der Glaubenstradition und im Geistes

gut der Vorzeit wurzelt, ließ sich bei der Durchmusterung der verschiedenen Problemzusammenhänge und der Darstellungsweise fast Schritt für Schritt verfolgen.

Größtes Gewicht legte Nikolaus, aufs ganze gesehen, auf lebendigen Kontakt

undunmittelbare Orientierung an der Heiligen Schrift, vor allem auf eine mög lichste Ausschöpfung der johanneischen und paulinischen Christologie. Der Jo hannes-Prolog beschäftigte ihn von früh bis spät. Dessen Leitsätze bilden gleich sam Kristallisationspunkte seines theologischen Denkens. Auf paulinischem Un tergrund beruht insbesondere seine Konzeption der einzigartigen Größe und des Vorranges der Menschheit des Mittlers und Erlösers. · Cusanus benützt die Bilder gleichsam als Sprungbrett zum Übersinnlichen hin. Daher wurde er von dem Kartäuser Vinzenz von Aggsbach angegriffen, weil er sich überhaupt auf Bilder stützte (vgl. dessen Brief vom 19.12. 1454 ; Vansteenberghe ,

Autour 205) , und von Joh. Wenck , weil er eine Loslösung der geistigen Erkenntnis vom Phantasma erstrebe ( Näheres s. Verf. , Studien 120 f. 124 ). 2 Näheres über das Cusanus vorliegende und auch den Mönchen von Tegernsee zu

gesandte Bild des allsehenden Christus s. De visione Dei , praef. (P 99') ; Bohnenstädt, Vom Sehen Gottes 163 f. 3

Vgl. oben S. 256 f.

20 Haubst, Nikolaus v. Kues

4 Vgl. VE I 27 ff. 305

Das Christus-Bild des Nikolaus von Kues

Gewiß nahm Nikolaus von Kues in der Docta Ignorantia und auch sonst die

ganze Schärfe und Kraft dialektischen Denkens zu Hilfe, um aus dem Glaubens inhalt das rational Greifbare möglichst herauszuheben . Nie aber hat er daran gedacht, eine spekulative Fiktion an die Stelle der göttlichen Offenbarung zu setzen . Er wollte vielmehr nur ans Licht bringen, was die Geheimnis-Tiefe und Weite der Schriften schon irgendwie enthält. Wir fanden die Grundhaltung be stätigt, die der Kardinal in seinem „ religiösen Testament“ im Hinblick auf seine Trinitätslehre und Christologie so wiedergibt : „Alles, was ich oder ein anderer von größerem Geist 5 darüber denken, mag dem Menschen eine gewisse Ahn

lichkeitserkenntnis des Göttlichen vermitteln. Es fügt aber nichts zur Autorität des Evangeliums hinzu, das allem andern, was sich denken oder sagen läßt, un vergleichlich vorzuziehen ist. “ 6

Über dem biblischen Goldgrund, der das cusanische Christusbild trägt und umgibt, und innerhalb der biblisch festgelegten Konturen lassen sich in nicht mehr ganz übersehbarer Fülle schwächer oder stärker aufgetragene Linien und Farben erkennen, die teils die Komposition des Ganzen , teils einzelne Umrisse vorbestimmten, manchmal auch nur als Ornamente übernommen wurden : Niko

laus macht sich das Erbgut der philosophisch -theologischen Tradition zunutze 7. An das, was im eigentlichen Sinne patristisch -mittelalterliche Glaubensüberliefe rung darstellt, fühlt er sich strikte gebunden . Der junge Cusanus zeigt sich noch besonders stark dem Mittelalter verhaftet. Auch manches aus der weiteren Vorzeit floß ihm zunächst durch mittelalterliche Quellen zu. Aber sein der Antike zugewandtes Interesse bricht sich mehr und mehr Bahn. Das dokumentiert sich auf philosophischem Gebiete in einer wach senden unmittelbaren Platon- und Aristoteles -Kenntnis sowie in einer zuneh

menden Befruchtung seines Denkens durch Proklos und Dionysius. Auf theolo

gischem Gebiet ist das Zurücktreten des anfangs im Vordergrunde stehenden spätmittelalterlichen Themas der „ dreifachen Geburt“ symptomatisch und noch mehr die unter Berufung auf das patristische Glaubenszeugnis, insbesondere auf Leod. Gr., erfolgte Abkehr von der seit der Hochscholastik herrschenden Sentenz, das Menschsein Christi habe beim Tode aufgehört. Die Konsequenzen, welche Zeitgenossen im Heilig - Blut-Streit aus der hochscholastischen Sentenz zogen,

bestimmten Cusanus mit dazu. Daß Augustinus für ihn jederzeit eine Autorität ersten Ranges bedeutete, sei nur eben erwähnt. Von den griechischen Vätern hinterließen Origenes und Ps. Dionysius die

deutlichsten Spuren. Für die Selbständigkeit, die sich Cusanus wahrt, ist es je doch bezeichnend, daß er sich z. B. von der „ gottmenschlichen Wirksamkeit “, die der Areopagite lehrt, stillschweigend distanziert, während er anderseits den star

ken Platonismus seiner Lehre von den Tugend -Kräften Christi direkt oder in direkt - über den „ antiken Glossator“ , der Origenes exzerpiert - aus diesen

Quellen schöpft. Mit der Rekapitulationslehre des Irenäus von Lyon ist die cu 5 Dem Vorangehenden nach zu schließen, spielt Nikolaus hier auf Raimund Lull an, der allerdings sehr beweisfreudig war.

6 Brief vom 11. 6. 1463 (Siz 1616).

? Um eine Übersicht darüber zu ermöglichen, ist ein Namenverzeichnis beigegeben. 306

Der biblisch - geschichtliche Untergrund - hervorstechende Züge sanische Grundauffassung der Komplikation der Zeiten und des Menschen geschlechtes in Christus, dem zweiten Adam, so eng verwandt, daß man in jener einen geheimen Schlüssel zu seiner christologischen Gesamtkonzeption vermuten darf.

Die feststellbaren Berührungspunkte mit der mittelalterlichen Spekulation und Glaubensverkündigung sind auch noch bei dem Kardinal sehr zahlreich .

Weitaus am häufigsten konnten wir die Übereinstimmung mit Thomas von Aquin und Anlehnung an ihn konstatieren . Dieser „große Gelehrte “ dürfte für Nikolaus vor allem eine mäßigende , negative Norm “ abgegeben haben. Sein Ein fluß reicht jedoch auch positiv bis in die Grundstruktur der cusanischen Christo

logie hinein, allerdings bei weitem nicht so, daß man den Kardinal als einen Thomisten ansprechen dürfte. Neben Thomas tritt die Bedeutung Bonaventuras relativ etwas zurück . Zu Sko tus und seiner Schule steht Cusanus, von seinen Anfängen abgesehen , in entschei denden Fragen in latenter Kontraposition. Franziskanische Christusfrömmigkeit strömte am spürbarsten und nachhaltigsten durch Bernhardin von Siena und vor allem durch Raimund Lull seinem Denken und seiner Predigt zu. Der Mallor kiner bahnte ihm insbesondere den Weg zu seiner kosmologisch -metaphysischen

Motivierung der Menschwerdung. Cusanus folgte ihm jedoch nicht bis zu der Annahme, daß Christus auch ohne den menschlichen Sündenfall Mensch gewor den wäre.

Daß Nikolaus seinem Kölner Lehrer, dem Albertisten Heymeric van den Velde, sowie Albert d. Gr. selbst manches verdankt, fanden wir auch für den Sektor der

Christologie an einigen greifbaren Anhaltspunkten bestätigt. 2. Trotz all dieser geschichtlichen Einflüsse und Abhängigkeiten behält das

cusanische Christusbild ein außerordentlich hohes Maß schöpferischer Konzeption und Originalität. Im Rahmen der Orthodoxie – mitunter gingen die Formulie wählt Nikolaus aus dem, was der Reichtum der Tradition bietet, jeweils das aus, was der in ihm lebendigen Christusvorstellung

rungen bis scharf an den Rand

entspricht; und gerade weil er sich nach Kräften aus den scholastischen Schul gegensätzen heraushält, kann er um so freier aus der ganzen Breite des Über lieferungsstromes schöpfen und um so frischer die Farben der Tradition und

seine eigenen Intuitionen zu einem weniger logisch abgezirkelten, aber desto persönlicher empfundenen Christus-Gemälde mischen . Das Hervorstechendste an der individuellen Menschheit Jesu sieht Nikolaus in deren singulärer universaler Weite und Fülle , die allen Reichtum der Natur und Gnade und seligen Gottesschau in sich schließt. Ist nämlich schon jeder Mensch ein Mikrokosmos, eine Welt im kleinen, so ist Christus das in maximaler Weise

und deshalb die Vollendung und das Ziel des Universums und vor allem des Menschengeschlechtes. Die menschliche Seins- und Lebensfülle Christi ist aber erst der Vordergrund, hinter dem sich ungemessen die göttliche Wahrheit und

Wirklichkeit dehnt. In Ihm ist „ alles im Himmel und auf Erden einheitlich zu sammengefaßt“ (Eph 1 , 10) . Das ist der einheitliche und grandiose Gesamtein druck der paulinisch - cusanischen Christus-Darstellung. 20 *

307

Das Christus- Bild des Nikolaus von Kues

Aus der absoluten göttlichen Größe und aus der relativen Maximität der Menschheit Jesu leitet Cusanus — im Verein mit der dogmengeschichtlichen Be gründung

auch auf spekulativem Wege die größtmögliche Innigkeit und

Festigkeit der hypostatischen Einung ab. Die Menschheit Jesu gründet aufs un mittelbarste in der Ader des göttlichen Seins und Lebens. Sie ist untrennbar an die göttliche Natur herangezogen und in der Personalität des Wortes „ nach oben suppositiert“ . Das gilt von der Seele und dem Leibe Jesu, aber auch von den integrierenden Teilen des Leibes, also auch von dem Erlöserblute, und von der Menschheit als solcher, die auch im Triduum mortis fortbestand. Mit einer derart starken Betonung der hypostatischen Einheit Christi verbin

det Nikolaus gern eine dualistisch -antithetische Konfrontierung der göttlichen und der menschlichen Natur: Christus ist als Gott und Mensch auch Schöpfer und

Geschöpf, Urbild und nächstes Abbild, jedoch kein doppeltes Bild , Gottes- und Menschensohn oder Gottes Sohn von Natur und aus Gnade. Als Mensch ist Er

auch noch im Tode dem Leben geeint. Er ist die Wahrheit und das Leben selbst sowie der Weg, der dazu führt.

In ihrer Wirkkraft krönt schließlich die hypostatische Einung dadurch die ge samte Architektonik des göttlichen Weltenbaues, daß sie die Vollendung eines jeden Menschen durch die Erlösung aus der Sünde ermöglicht. 3. Zur Methode und Perspektive der cusanischen Christus-Betrachtung sei fol gendes zusammenfassend gesagt :

Die apriorisch -deduktiv einherschreitenden Darlegungen zu Beginn des III. Buches der Docta Ignorantia sind hypothetisch und als Vorbereitung auf die Darlegung der christologischen Offenbarungswahrheit zu verstehen. Auch die formale Betrachtungsweise der Gottheit und Menschheit Jesu unter der Kate

gorie der Größe ist „ vorläufig ". Sie füllt sich mehr und mehr mit dem Inhalt »

der erhabenen Weisheit, Heiligkeit und Gnade, welche die Menschheit des Mitt

lers und Erlösers aus dem überfließenden Lichte und Leben der Gottheit emp fängt.

Im Gegensatz zu der üblicheren thomistischen Methode, die Erörterung der hypostatischen Einung von der zweiten trinitarischen Person her aufzurollen und

die einzigartige Gnadenausstattung der Menschheit Jesu mit der Innigkeit der hypostatischen Einung zu begründen , dominiert bei Cusanus — in dem verglei

chenden Hin und Her des theologischen Erkenntnisprozesses zwischen Gottheit und Menschheit - die von der Menschheit zur Gottheit aufsteigende Perspek tive !. Die natur- und gnadenhafte Vollendung alles Menschlichen in Christus

drängt das cusanische Denken mit innerer Dynamik auf die göttliche Absolutheit hin. Dabei erscheint jedoch das Göttliche in Christus bald in der nächsten Nähe. bald wird die Menschheit Jesu selbst zu einem „ Weg “ , der den Erdenpilger nur

stufenweise zu dem in Christus verborgenen Geheimnis der Gottheit hinführt. 8 Vgl. D. Ign. I, 1 ( H 5, 23) : Omnis inquisitio in comparativa proportione facili vel difficili consistit; Vf I 28 ff.

• Diesen Weg beschreitet auch mitunter die skotistische Christologie, insbesondere die des Petrus Aureolus ; vgl. J. Auer : Theol. Revue 50 ( 1954) 61. 308

Zur Perspektive des Ganzen

Für die Sehnsucht des Menschengeistes, der ein lebendiges Bild“ ist, das nach der beseligenden Wahrheit und Herrlichkeit Gottes verlangt, bildet die Mensch heit Jesu mitunter gleichsam nur ein Transparent, in dem das Göttliche leuchtet. So z. B. in dem Bilde der universalen Größe Jesu, das der Kardinal in der letzten aus der Zeit seiner römischen Legation erhaltenen Predigt entwirft: Was immer geistbegabte Menschen wissen können, das war in Christus ( schon auf Erden) Wirklichkeit. Menschen können Sprachen lernen, der eine mehr als der andere : Christus war die lebendige Rede oder das Wort Gottes. Menschen können gelehrt sein :: Christus war die lebendige Weisheit. Menschen können ein vernünftiges Leben führen : Christus ist das Vernunftleben selbst. Menschen können das unsterbliche Leben anziehen :

Christus ist die unsterbliche Lebenskraft selbst. Menschen können Unvergänglichkeit an ziehen :: Christus ist die Unvergänglichkeit selbst. Menschen können von den Toten auf erstehen : Christus ist die Auferstehung selbst. Und so von jeder Vollkommenheit, die Menschen gewinnen können .“ 1

Für diese Betrachtungsweise scheint die natureigene Realität der Menschheit

Jesu fast zu einer reinen Manifestation des Göttlichen dahinzuschmelzen. So un mittelbar stellt der Kardinal hier das Auge des Glaubens vor die göttlichen

Attribute hin, die er von Christus als dem Menschen aussagt, der der Hypostase nach Gott ist. Auch im folgenden bedient er sich ebenso direkt der communicatio idiomatum :

„Da kein (bloßer) Mensch so vollkommen ist, daß er nicht noch vollkommener werden könnte, ist die Vollkommenheit aller Menschen , bei der es ein Mehr und Minder gibt,

nicht mit der Vollkommenheit Christi zu vergleichen (non est proportionabilis). Diese (allein) ist die höchste, so daß keine andere größer oder höher sein könnte. Das Größte aber, in Vergleich zu dem es nichts Größeres geben kann, ist in Wirklichkeit (der Voll kommenheit nach ) alles. In seiner Maximität faltet es alles aktuell ein ( complicat), was im Bereich des Mehr und Minder möglich ist. Daher wird auch durch jene Größtheit oder Fülle alle mögliche Vollkommenheit verwirklicht und vollendet. “ 11

Hier erkennen wir versteckt auch die Prinzipien wieder, mit deren Hilfe

Cusanus den Primat Christi vor aller Schöpfung präzisiert : das Prinzip der complicatio – Christus ist sowohl der Gottheit wie der Menschheit nach eine einheitliche Zusammenfassung von allem – und die Regula doctae ignorantiae: Gott sowie die in Ihm subsistierende Menschennatur stehen unerreichbar und

je in ihrer Weise unvergleichlich über dem Bereich der Andersheit. Betrachtete Cusanus die Menschheit Jesu einzig in dieser „verkürzten Perspek

tive “ , so läge die monophysitische Miſdeutung dessen, was er über deren Er habenheit sagt, nahe. Daß es ihm jedoch fernlag, die Menschheit Jesu im Gött

lichen aufgehen zu lassen oder zu einem Überuniversale zu verflüchtigen, daß es ihm vielmehr darum ging, die Mittlerschaft und die Möglichkeit der Erlösung 10 S 289 (V2 2845b) . Zu dieser Aufzählung von Christusattributen vgl. die „Nomen klatur“ des Johannes -Kommentars von Origenes (s. oben S. 272 Anm. 38). 11 S 289 (C2 28456 –va). 309

Das Christus - Bild des Nikolaus von Kues

durch Christus metaphysisch zu fundieren, ergibt sich aus der Sorgfalt und Inten sität, mit der der Kardinal auch die höchstvollkommene, einem jeden Menschen art- und stammverwandte Realität der Menschheit Jesu betont. Noch unver

kennbarer zeigt das sein Bemühen, den Fortbestand der Menschheit Jesu auch für das Triduum mortis aufrechtzuerhalten und den ununterbrochenen Verbleib

des Blutes in der Einung bis in die himmlische Verklärung hinein darzutun .

Am deutlichsten aber tritt die höchst reale Größe der Menschheit Jesu bei der christologischen Anwendung des Maximitätsprinzips ins Blickfeld. Dieses Prin

zip besagt nämlich, daß die Maximität der menschlichen Eigenschaften Jesu nur dadurch erklärbar ist, daß Er zugleich auch mehr als Mensch und Geschöpf ist und nur in personaler Identität mit dem Absoluten den adäquaten Grund seiner geschichtlich in Erscheinung getretenen höchsten Vollendung haben kann .

So wird die Menschheit Jesu zum Weg “ zur Gottheit und die cusanische Methode zu einer Handleitung “ (manuductio) über die Menschheit zur Gott heit Jesu hin.

Die zentrale Blickrichtung dieser manuductio zielt auf das göttliche Wort, das

gleichsam den das Ganze beherrschenden perspektivischen Mittelpunkt der cusa nischen Christologie und überhaupt seiner Theologie und Metaphysik bildet. Der Blick dorthin ist aufgetan durch die Inkarnation und Selbstoffenbarung des

Wortes. „ Von Ihm geht ja eine jede Stimme aus, und zu Ihm strebt sie zurück .“ 12 Des näheren richtet sich die cusanische Handleitung zum Christus- Mysterium , indem sie sich der verschiedensten Begriffe, Bilder und Gleichnisse bedient, bald primär auf die Tatsache der Göttlichkeit Christi und der hypostatischen Einung das trifft insbesondere auf die apologetisch -kontroverstheologische Beweisfüh rung gegenüber dem Mohammedanismus mit Hilfe des Maximitätsprinzips zu —,

bald möchte der Kardinal mit Hilfe des geschichtlichen, schon im Glauben erfaß ten Christusbildes auf die Weisheit, Heiligkeit und Herrlichkeit Gottes hin lenken, die im Antlitz Jesu als ihrem nächsten Abglanz und lebendigen Spiegel bild aufgeleuchtet sind.

Einer solchen gläubigen Christus-Betrachtung enthüllt sich mitunter von ferne das Mysterium fascinosum des wunderbaren Gottes schon in strahlenden Farben .

Zunächst aber und im allgemeinen ist Christus für das nach der Schau ver langende Auge des Erdenpilgers noch in das überlichte Dunkel seiner Majestät

gehüllt, ähnlich wie der Berg Sinai bei der großen Gottesoffenbarung. Der fol gende Abschnitt der Docta Ignorantia schildert den Weg, der durch dieses Dunkel zum Lichte hinführt :

„Wir werden als Christgläubige in belehrter Unwissenheit zu dem Berg hingeleitet, der Christus ist. Ihn zu berühren sind wir noch durch unsere sinnengebundene Natur gehindert. Suchen wir Ihn aber mit geistigem Auge zu erschauen, so fällt unser Blick in Dunkel. Aber wir wissen , daß in ebendiesem Dunkel der Berg ist, auf dem allein es denen zu wohnen gefällt, die sich der Einsicht erfreuen . Suchen wir uns Ihm standhaft mit wachsender Glaubensfestigkeit zu nahen, so werden wir von der Schau mit den Augen derer, die indische Wege gehen, in innerlichem Hören dazu bingerissen, daß wir die 1 : D. Ign. III , 11 (H 153, 30) . 310

Sein perspektivischer Mittelpunkt Stimmen und Donner und furchtgebietenden Zeichen seiner Majestät vernehmen und leicht erkennen, daß Er der eine Herr ist, dem das All gehorcht 13.

So gelangen wir stufenweise zu gewissen unzerstörbaren Spuren seiner Füße, gleichsam wie zu eingegrabenen Erkennungszeichen (characteres) des Göttlichen. Sodann verneh men wir Stimmen, die nicht mehr von sterblichen Geschöpfen herrühren, sondern von

Gott selbst, der durch das Organ und die Zeichen seiner Propheten und Heiligen spricht; und wir beginnen Ihn klarer wie durch eine lichtere Wolke zu schauen .“ 14

Alles das gilt noch von der einem jeden Christen auf Grund der alt- und neu testamentlichen Offenbarung im Lichte göttlicher Gnadenhilfe möglichen Wahr heitserkenntnis. Von da führt die cusanische Handleitung, indem sie das Thema einer mystischen Schau des Göttlichen im Vorübergehen soeben tangiert 15, zur himmlischen Gottanschauung hin, die vollends über alles, was in Worten und

Zeichen ausdrückbar ist, hinausgeht und alles geistige Verlangen erfüllt: Jesus selbst bildet das „ Ruheziel aller Einsicht, da Er die Wahrheit ist“ 16. Seine heilige Menschheit ist auch der Weg oder die Leiter 17 dorthin .

Was Christus auf Erden als Mensch tat und lehrte, ist ein Vorbild, eine Weg bereitung und Handleitung, welche aufs höchste die religiöse Hingabe in Glaube und Liebe weckt. Diese Hingabe erstreckt sich indes für Cusanus wie für Tho hauptsächlich über die Menschheit hinweg auf die Gottheit selbst. mas 18

Gerade deshalb kommt aber der Menschheit Jesu eine eminente manuduktorische Funktion zu. Ihre Heilsbedeutung vertieft sich noch wesentlich durch die fort gesetzten Gnadeneinwirkungen, die von dem verklärten Christus auf das Men schengeschlecht übergehen.

Diese manuduktorisch -soteriologische Mittlerstellung Christi, insbesondere seiner heiligen Menschheit, will Nikolaus von Kues nicht deduktiv beweisen , aber er möchte sie intensiv unterstreichen und unterbauen , indem er seine Metaphysik und die geoffenbarte Christologie in folgender Weise miteinander vereint: Zwischen Gott und Welt, zwischen Unbegrenzt und Begrenzt herrscht propor tionslose Größendistanz.

Diese wird auch dadurch , daß Gott bei der hypostatischen Einung eine kon krete Menschennatur zur innigsten Seins-, Lebens- und Geistesgemeinschaft mit sich selbst emporhob, nicht aufgehoben noch durch Zusammensetzung oder eine mittlere Natur überbrückt. 13 Vgl. Ex 19, 16–18 ; 20, 18. 14 D. Ign. III, 11 (H 153, 8—20).

15 Zur „ spekulativen Mystik“ des Nikolaus von Kues vgl. Vf I 293—299. Ein Gesamt bild seiner Christus-Mystik wird erst bei der Ausführungdes Themas „ Jesus Christus als Mittler und die Wiedergeburt in Ihm als Ziel der Erlösung “ möglich sein (vgl. oben S. 39) .

16 D. Ign. III, 11 (H 153, 21-27 ).

17 Vgl. schon S 3 ( C 45°, 52) : Tua humanitas est scala, per quam creatura in Deum 2

ascendit.

18 S. theol. II. II. q. 82, a. 3 ad 2 : Quae pertinent ad Christi humanitatem, per modum cuiusdam manuductionis maxime devotionem excitant, cum tamen devotio principaliter circa ea, quae sunt divinitatis, exsistat. Vgl. Augustinus , De Trin. VII, 2, 5 (PL 42, 938 ) . 311

Jesus Christus : Mittler und Weg

Aber die menschliche Natur Jesu erlangte dadurch eine Erhabenheit und uni versale Weite, daß sie trotz ihrer Geschöpflichkeit alles Menschliche, ja alle Schöpfung komplikativ umfaßt. Dieser Menschennatur – die das ganze Menschengeschlecht in ihrer Wesens fülle repräsentiert - teilte sich schon durch die Menschwerdung selbst Gottes

Heiligkeit und ewige, selige Lebensfülle als „ unendliche Gnade “ mit. Jesus Chri stus trägt daher auch seit der Inkarnation des Wortes den Quell aller geschaffe nen Gnade in sich , ja, Er ist es selbst als der Gott-Mensch , und Er kann so nach

der Vollbringung seines für jeden einzelnen Menschen eintretenden Erlösungs werkes auch jeden einzelnen heiligen, der sich Ihm geistig anschließt.

Damit ist im Prinzip schon die durch die Sünde entstandene Diskrepanz über wunden . Die Seinsanalogie des auf Gott hin geschaffenen Kosmos ist wieder ge sammelt: in Christus. Schon kulminiert sie in Ihm und geht in seinem Reiche der Vollendung entgegen. Der Kreislauf der Schöpfung schließt sich in Ihm und durch Ihn.

Die ursprüngliche Schöpfungsintention Gottes, die Zielstrebigkeit der Schöp fung sowie die Gottessehnsucht seines eigenen Geisteslebens und irdischen Pilger daseins sieht Nikolaus von Kues durch die Inkarnation Gottes in Christus zu gleich ihr Ziel erreichen . Deshalb dankt er dem Vater :

„ Vor allem gabst Du, mein Herr und Gott, mir Jesus als Meister, als Weg, Leben und Wahrheit. So kann mir nichts fehlen. “ 19 19 De visione Dei c. 25 ( P 113').

312

TEXT - ANHANG

DIE IN COD. 40 ERHALTENEN AUFZEICHNUNGEN DES NIKOLAUS VON KUES ÜBER DIE HYPOSTATISCHE EINUNG UND DAS BLUT CHRISTI

VORBEMERKUNGEN

1. Über den Handschriftenbefund. - Cod . Cus . 40 ( 150 Bl . und beiderseits 2 Deckblätter, Pap. , 285 X 196) enthält f . 1 ' - 139' Predigten von Papst Leo d. Gr. (in Kursive aus der Mitte des 15. Jahrh.) mit einigen Randbemerkungen (108-109 ) von der Hand des Nikolaus von Kues. Die Blätter 139" -142", 143" und 147 f. sind leer. Auf Seite 143 ist ein quer durchstrichenes Textstück (Sed quomodo - vita vivificans) aufbewahrt, das offenbar einem größeren Zusammenhang entstammt. Es ist von Nikolaus von Kues selbst geschrieben, und zwar den Schriftzügen nach in dessen späteren Jahren . Verschiedene Streichungen beweisen, daß es sich um ein Konzept handelt. Die Blätter 144 '- 146 " sind, ebenfalls von der Hand des Kardinals , ohne Überschrift mit Quästionen ausgefüllt. Der Text ist sowohl bei wie nach der Niederschrift von ihm korrigiert. Ein Zettelchen, das nach Marx von derselben Hand wie die vorangehenden Sermones geschrieben wäre¹ , enthält die Inhaltsangabe für die gesamte Handschrift : Sermones Leonis papae ; Questiuncule R™ domini Cardinalis de Cusa cum solutionibus. Daher nimmt bereits Marx an, daß diese ,Quaestiones diversae de coniunctione humanitatis et divinitatis in Christo' auch von Cusanus selbst verfaßt seien. Folio 149-150' folgt, von dritter Hand eingetragen, eine Anzahl von Argumenten für den Satz oder die „ These " : , Illud , quod resurgit, nunquam fuisse separatum a persona resurgentis. Auf dem Außenrand dieser Blätter ging beim Bucheinband ein Streifen verloren . Das macht es bei den meisten Zeilen nötig, kleine Ergänzungen nach dem Zusammenhang , mitunter nur auf Grund unsicherer Vermutung, vorzunehmen . Gegen Schluß dieser Aufzeichnungen trug der Kardinal selbst am Rande einige Zitate nach, deren Rekonstruktion bisher nicht ganz gelang. Dieser Nachtrag legt die Annahme nahe, daß auch die „ These “ von Nikolaus von Kues verfaßt ist. Die Blätter 143-146 sowie 149 f. bestehen aus anderem Papier (Wasserzeichen: Horn) als die übrige Handschrift (mit verschiedenen anderen Wasser- Daß es dieselbe Hand ist, dürfte nicht zu1 J. Marx , Handschriftensammlung 35. — treffen. Die Schrift zeigt deutlicher humanistischen Einfluß .

313

Text-Anhang

zeichen ). Sie wurden ihr jedoch schon vor dem Einband hinzugefügt. Das Alter des Einbandes und des beiliegenden Zettelchens spricht dafür, daß dies noch zu Leb zeiten des Kardinals oder wenig später geschah.

2. Daß Cusanus der Verfasser der drei genannten Stücke ist, wird durch inhalt • liche Kriterien gesichert.

Zunächst ist festzustellen, daß das genannte Konzeptstück in der „ These “ an

schließend an das I. Argument als Widerlegung eines Einwandes in überarbei tetem Wortlaut wiederkehrt. Damit steht auch die Abfassung der , These“ durch Cusanus schon mit großer Wahrscheinlichkeit fest.

Bestätigungen dafür liegen darin, daß sich bei den nun noch verbleibenden

beiden Texten – den Quästionen und der These — sowohl der Problemkreis wie die herangezogenen Zeugen der Vätertradition auffallend weit decken , und vor

allem in der Tatsache, daß ausgerechnet die schon in den Quästionen angeführten Zitate in der These, die sonst auch ausführliche Belegstellen bringt, nur angedeu tet sind. Das läßt schließen , daß die Quastionen zuerst entstanden, und vermuten,

daß die Abfassung der „ These“ bald danach folgte. Dazu kommt insbesondere bei der „ These “ die Quastionen bestehen fast nur aus Zitaten – sprachliche und inhaltliche Verwandtschaft mit Texten aus dem letzten Lebensjahrzehnt des Kardinals?. 3. Inhaltliche Anhaltspunkte ermöglichen auch die genauere Datierung. Der Gedanke, daß die Identität eines jeden Wesens durch die Permanenz seiner „ singulären Idee“ in Gott verbürgt sei , weist in die Nähe von De vena -

tione sapientiae 3. Die angeführten Väterzeugnisse sind bei Cusanus vorher im einzelnen nicht nachweisbar, und aufs ganze gesehen, trat auch sonst bei ihm nie so stark die Berufung auf die Väterautorität hervor. Das erklärt sich daraus, daß die „ These“ wie die Quastionen den auf die

Glaubenstradition gestützten Beweis erbringen wollen, daß das beim Leiden

vergossene und bei der Auferstehung wieder mit dem Leibe vereinigte Blut, ebenso wie die Menschheit Jesu, auch während des Triduum mortis in der hypo statischen Einung mit der Gottheit blieb 4.

Den geschichtlichen Hintergrund und den konkreten Anlaß zur Abfassung beider Dokumente bildet die um Weihnachten 1462 und Anfang 1463 in Rom vor dem Papst ausgetragene Kontroverse zwischen Dominikanern und Franzis kanern. Vor allem die These ist eine bis in präzise Einzelheiten verfolgbare

Stellungnahme gegen die damals auf franziskanischer Seite vertretene Ansicht; beide Texte stellen vermutlich das von Cusanus vor Papst Pius II. abgegebene Votum dar 5.

2 Vgl. die im Apparat zum Text angegebenen Parallelen sowie die Übersicht über die Entwicklung des cusanischen Beweisversuches für die Untrennbarkeit und Unzerstörbar

keit der menschlichen Natur Jesu oben S. 276—86 ; ferner den erst spät ausgesprochenen Gedanken einer unmittelbaren Hypostasierung der einzelnen Glieder in der Person (S. 294 f. ) .

3 Vgl. die Hinweise zum I. Argument der „These “ . 4 Vgl . oben S. 295—298 .

5 Vgl. oben S. 298–304. 314

I. VIERZEHN CHRISTOLOGISCHE QUASTIONEN (Cod . Cus. 40, 144′— 146")

11

Quaestio (I*) : Cum in Christo divina natura suscepit humanam naturam¹ , (primo quaeritur) , an divisibiliter vel indivisibiliter? Responsio: Indivisibiliter. Ita enim ait Leo Magnus papa in sermone XX° de resurrectione 2: ,Quia Verbum et caro una persona est, non dividitur a suscipiente susceptus . ' Quaestio (II") : An aliquid unquam in Christo fuerit, quod non fuerit utriusque naturae? 3 Responsio: Non. Ita enim ait Leo in sermone decimo de nativitate : ,Si, ut Apostolus Paulus ait,,qui adhaeret Deo, unus spiritus est , quanto magis Verbum caro factum unus est Christus, ubi nihil est alterius naturae, quod non sit utriusque?' Quaestio (III ) : An unquam deitas fuerit separata ab humanitate? • Responsio: Non. Dicit enim idem Leo in sermone XX° de resurrectione " : , Sine ulla separatione deitatis verum Christum ab utero Virginis , verum in ligno crucis, verum in sepulchro carnis, verum in gloria resurrectionis, verum in dextera paternae maiestatis agnoscitis ' ; et idem Leo in sermone XIV° resurrectionis et Expositione Symboli Nicaeniº sic ait : , Ab illo initio , quo in utero Virginis , Verbum caro factum est' , nihil unquam inter divinam humanamque substantiam divisionis exstitit, et per omnia incrementa corporea unius personae fuerunt totius temporis actiones. Ea ipsa tamen, quae inseparabiliter facta sunt, nulla commixtione confundimus, sed quid cuiusque naturae 10 sit, ex operum qualitate sentimus.' Quaestio (IV ) : Fuitne unquam aliquid, quod est hominis, a divinitate disiunctum? Responsio: Non, dicente Leone in sermone octavo nativitatis ¹¹ : ‚ Utrique naturae 1 Vgl. oben S. 117 f. 2 Leo M. , Sermo ,Totum' quidem' c. 6 (PL 54, 393 C) . PL zählt diese Predigt als Sermo 72 sowie als De resurrectione II ' . Cusanus hielt sich an Cod. Cus. 40 , 108 : ‚De (passione et) resurrectione Domini sermo vigesimus ( ! ) ' . * Vgl. oben S. 120. 4 Sermo 30, In nativitate Domini 10, c. 5 ( PL 54, 232-233) . 5 1 Kor 6, 17. Zu q. 3-5 vgl. besonders die inhaltliche Übereinstimmung mit der „These “ (s . oben S. 283-86) . 7 Sermo ,Totum quidem' (vgl . Anm. 2) , c. 7 (PL 54, 394 B) . 8 Sermo 65, De passione Domini 14, c. 1 (PL 54 361 D - 362 A) . 9 Ep. 124, Ad monachos Palaestinos , c. (PL 54, 1065 C D) . 10 Sermo 65 (a. a. O.) : quid cuius naturae sit ; Ep. 124 (a . a . O. ) : quid cuius formae sit. Das cusanische Autograph hat den grammatisch fehlerhaften Text: quod cuiusque formae sit. 11 Sermo 28, In nativitate Domini 8 , c. 1 (PL 54, 222 A) .

315

Text - Anhang

in suis proprietatibus permanenti tanta est unitatis facta communio, ut, quidquid ibi est Dei, non sit ab humanitate disiunctum, quidquid autem est hominis, non sit a deitate divisum. '

Quaestio (VⓇ) : Potuitne aut poterit unio eius, quod manet ab aeterno, et eius, quod coepit in tem pore, separari ?

Responsio: Non, hoc Leone papa dicente sermone Xº națivitatis 12, qui ait : ,Unum manet ab aeternitate, aliud coepit in tempore; quae cum in unitatem convenerunt, nec separationem possunt habere nec finem .'

Quaestio (VI“): Quomodo ergo nominari debet Christus , Deus vel homo? 13

Responsio: Non refert, quoniam Deus est et homo, Leone papa ad episcopos per Palaestinam scribente 14 : ,Nec interest, ex qua Christus substantia nominetur,

cum inseparabiliter manente unitate personae [et] idem sit (et) totus Dei et totus hominis filius.

Quaestio (VII“) :

Cur Verbum Dei in suam indissolubilem unitatem nostram mortalem assumpsit unionem ? 15

Responsio: ,Propter nostram salutemʻ16, dicente Leone in Expositione Symboli Nicaeni 17: ,Captivitatis nostrae resolvi originalia iura non poterant, nisi existeret homo nostri generis, quem nostri peccati 18 praeiudicia non tenerent, et qui

immaculato sanguine suo chirographum letale dilueret.' 19 Et idem Leo et Syn odus Romana 20: ,Nullus poenam damnationis evaderet, nisi Verbum caro fieret et habitaret in nobis, in ea scilicet natura, quae nostri et sanguinis esset et

generis.' Et in sermone octavo resurrectionis 21 : ,Cum mortis aculeum accipere non posset natura divinitatis, suscepit ex nobis nascendo, quod posset offerre pro nobis. Et in testimoniis, ubi Leo allegat Hilarium 22: Nos eguimus, ut Deus caro

fieret et habitaret in nobis, id est, assumptioni carnis unitus 23 membra universae carnis incoleret.' Rursum ubi idem Leo allegat Ambrosium (et Augustinum) 24,

qui etiam persanctum in homila 799 Iohannem rec(olit) 25: ,Naturae humanae 12 Sermo 32, In nativitate Domini 10, c. 6 (PL 54, 234 A). 13 Vgl. oben S. 132–34 .

14 Ep . 124 , Ad monachos Palaestinos, c. 7 (PL 54, 1066 D) . 15 Vgl. oben S. 186 f. 16 Symbolum concilii Nicaeni (D 54 ) .

17 Ep. 124, Ad monachos Palaestinos, c. 7 (PL 54, 1067 A B). 18 PL (a . a . O. ) : originalia vincula ... quem veteris debiti.

19 Hs.: cyrographum ; vgl. Kol 2 , 14. 20 Ep. 59, Ad clerum et plebem Constantinopolitanae urbis, c. 4 (PL 54, 870 B) . 21 Sermo 59, De passione Domini 8, c. 8 (PL 54, 342 A ). 22 Hilarius Pictaviensis, De Trinitate II, 25 (PL 10, 67 A) ; Leo M., Ep. 165, Ad Leonem Augustum, testimonia (PL 54, 1175 B) . 23 Leo M. (a. a .O.) : assumptione carnis unius. 24 Bei Leo folgen nach Hilarius - Texten solche von Ambrosius, dann von Augustinus.

Das folgende Zitat findet sich bei Augustinus , In loh. tr. 78, n. 3 (PL 35, 1837 A) , bei Leo : a . a . 0. 1181 C - 82 A. 25 Die Worte ,qui — rec( olit) sind am rechten Rand f. 144' nachgetragen. 316

Vierzehn christologische Quastionen

gratulandum est eo, quod sic assumpta est a Verbo unigenito, ut immortalis constitueretur in caelo atque ita fieret terra sublimis, ut incorruptibilis pulvis sederet ad dexteram Patris.'

Quaestio (VIII“) : Unde recepit carnem nostrae naturae? Responsio : Ex corpore Virginis Mariae, dicente Leone in epistula ad lulianum episcopum 26: ,Nec carnem , quae non materni corporis esset, accepit; natura

quippe 27 nostra nec sic assumpta est, ut prius creata post assumeretur, sed ut in ipsa assumptione crearetur.'

Quaestio (IX ): In quo actu Christi nostra salus facta est? 28

Responsio: In omnibus simul. Ait enim Leo XV° sermone resurrectionis 29: In carnatio quippe Verbi et occisio atque resuscitatio 30 Christi universorum fidelium

salus facta est ; et sanguis unius iusti, quod| 31 nobis donavit, qui eum pro recon ciliatione mundi credimus fusum, hoc contulit Patribus, qui similiter credidere fundendum .' Idem ad Leonem imperatorem 32: Effusio namque iusti sanguinis 83

tam fuit dives ad pretium, ut, si universitas captivorum in Redemptorem suum crederet, nullum diaboli vinculum retineret.' Idem ad Flavianum 34: Audiat et

beatum Petrum apostolum dicentem 35, quod sanctificatio spiritus per aspersionem ?

fiat sanguinis Christi.' Quaestio (X") : Cur in passionibus Christi mansit deitas indivisibilis ?

Responsio : Ut humanitas coaeterna esset in gloria deitatis, Leone papa sic dicente

sermone XX° de resurrectione 36: In cuius passionibus manet deitas indivisibilis, idem coaeternus sic in gloria deitatis.' 37 Quaestio (XIC) : Quid sentis de ecclesia et sacramentis redemptionis et regenerationis ?

Responsio: Id, quod Leo papa sentit, qui ait cum Synodo Romana 38: Ecclesia de Sponsi carne prodiit, quando ex latere Crucifixi manante sanguine et

mentum redemptionis et regenerationis accepit.' Et sermone tertio nativi 26 Ep. 35, Ad Iulianum episcopum, c. 3 (PL 54 , 807 C) . 27 Hs.: quidem .

28 Vgl. oben S. 276. 29 Sermo 66, De passione Domini 15 , c. 1 (PL 54 , 365 B) . 30 PL : resurrectio . 31 PL : sanguis unius iusti hoc nobis donavit .

32 Ep. 165, Ad Leonem Augustum, c. 4 (PL 54 , 1161 B). 33 PL : Effusio enim pro iniustis sanguinis Christi.

34 Ep. 28 ( = , Tomus“) , Ad Flavianum, c. 5 (PL 54, 775 B) . 35 PL : praedicantem . 36 Sermo 72, De resurrectione Domini 2, c. 6 ( PL 54 , 393 C) . 37 Verbessert aus: ut idem coaeternus sit. Diese „Gleichewigkeit“ ist nicht im Sinne des „von Ewigkeit“, wohl aber des „ in alle Ewigkeit “ zu verstehen ; vgl. Symb. conc.

Constantinopolitani I (D 84) : cuius regni non erit finis.

38 Ep. 59, Ad clerum et plebem Constantinopolitanae urbis, c. 4 (PL 54, 871 A). 317

Text- Anhang

tatis 39: Sicut factus est Dominus caro nostra nascendo, ita nos facti sumus ipsius renascendo.* Idem Maximo episcopo Antiocheno 40: ,In ecclesia Dei, quae corpus Christi est, nec sacra sunt sacerdotia nec vera sacrificia, nisi in nostrae proprietate naturae verus nos Pontifex reconciliet, verus immaculati sanguis agni emundet, qui, licet sit in Patris dextera constitutus, in eadem tamen carne, quam sumpsit ex Virgine, sacramentum propitiationis exsequitur dicente Apo

stolo 41 : Christus Iesus, qui mortuus est immo et qui resurrexit, qui est in dextera Dei, qui etiam interpellat pro nobis." Quaestio (XII ): Quid ex his elicis per fidelem christianum credendum? 42

Responsio: Quod humanitas Christi est nostri sanguinis et generis 43, sumpta ex purissimis sanguinibus Mariae Virginis 44 in unionem personalem unigeniti Filii Dei , ut idem sit Dei Filius et hominis Iesus Christus; quodque haec unio in identi

tate personae nostrae naturae, sanguinis et generis non potuit neque poterit unquam dissolvi seu finem habere 45, ita quod quidquid Christi esse dicitur, sit Dei et hominis 46. Corpus Christi est corpus Dei et hominis. Sanguis Christi est sanguis Dei et hominis. Ita de omnibus propter identitatem personae utriusque naturae. Ac quod sanguinis Christi effusio credi debet mundi reconciliatio, uti Leo papa credidit 47, emundatio peccatorum et redemptio, et simul credentes hoc lavacro 48 aquae seu baptismi renati efficiuntur corpus Christi , quod dicitur ecclesia, sicut ipse natus de Virgine factus est nostrae corporeae naturae 49, ac quod taliter facti christiformes in sua natura in Christo resurrectionem vitae et

immortalitatis gloriam consequuntur, ut haec Apostolus Ephesiis clarius scribit. 50 Quaestio (XIII") : Cur Gregorius Nazianzenus sanguinem Christi nominat coagulum ? 51

Responsio: Gregorius Nazianzenus magnus theologus in sermone de pascha ( te ) circa finem 52 sic dicit : ,Signa in sepulchro et post sepulchrum , quae aliquis digne commendaret? Sed nullum tale ac tantum miraculum est salutis meae. Guttae sanguinis paucae mundum totum reformantes ; et fiunt tamquam coagulum lacti omnibus hominibus in unum nos colligantes et conducentes.' In his verbis ex

primit dignitatem guttarum fusarum sanguinis Christi, quem nominat ,sanguinem 39 Sermo 23, In nativitate Domini 3, c. 6 (PL 54 , 203 A).

40 Ep. 80, Ad Anatolium episcopum Constantinopolitanum , c. 1 (PL 54, 914 B) . 41 Röm 8, 34 .

43 Vgl. q. 7f. 44 Vgl. Joh. Damascenus , De fide orthodoxa III , 2 (PG 94, 985 C) , sowie unten : Thesis , arg. IV. 46 Vgl. q. 2. 45 Vgl . q. 10. 47 Vgl. 9. 9 u. 11 ; ferner Pius II ., De contentione (Cugnoni 626—631 641-644 ; Darlegungen des „ Prädikanten “ gegen den „ Minoriten “ ) . 42 Vgl . oben S. 295.

48 Das ,simul ist aus ,sicud' verbessert, vor ,lavacroʻ ist ,regenerati' gestrichen. 49 Vgl. q. 8 u. 11 . 50 Eph 1,6–14 ; 5 , 26—30.

51 Vgl. oben S. 296. — Cusanus schreibt zweimal: Nazanzenus. 62 Gregor von Nazianz, Oratio in sanctum Pascha c. 29 (PG 36, 664 A) . – Die cusanische Übersetzung ist wörtlicher als die der PGL (663 A) . 318

Vierzehn christologische Quastionen

Dei' et Unigeniti' 53, forte, ut tolleret opinionem illam, quam quidam 54 habu erunt, quod ille sanguis redemptionis oblatus fuit maligno, qui humanam naturam captivam tenuit, pro pretio liberationis. Contra quam opinionem exclamat

dicens: ,0 contumelia ! etc.55 Secundum enim illam opinionem sanguis ille separatus a divinitate non fuisset Dei sanguis et Unigeniti. Ideo exprimit ipsum esse ,Dei sanguinem ', ut quisque intelligat sanguinem deitati unitum non fuisse datum maligno. Sed quo modo nos liberet sanguis, in praefatis verbis exprimit,

scilicet ut coagulum nos in unum colligendo et secum uniendo, qui est victor maligni. Quaestio (XIV ):

Cum in corporibus 58 mortuis non reperiatur sanguis, licet reperiatur pituita, bilis et atrabilis, quaero : Si in corpore Christi glorioso sit sanguis? 57 Responsio: Utique est sanguis assumptus cum corpore in unionem personae Christi indivisibilem et infinibilem . Hoc certum est fidelibus 58, qui credunt in calice consecrato veraciter sanguinem illum esse. Nam, etsi sanguis non reperia tur in corpore mortuo, non eo minus est de essentia veri et vivi corporis humani 59 sed eo plus, cum sine ipso non possit vegetari, ut capitulo ) In quadam, De

cele (bratione) Missarum 60. Et clarius hoc dicit Athanasius 61 Alexandrinus in dyalogo ad interrogationem Antiocheni principis 62 capitulo XVIII°, ubi ait corpus humanum ex sanguine, pituita, bile et atrabile ut quattuor elementis constare, et quod primum vitale sit elementum, scilicet sanguis calidae quidem naturae. Ideo in morte primum recedit aliis manentibus.. -- Oportet 6 igitur, quod in resurrectione ad vitam corpus 64 cum sanguine resurgat.

53 c. 22 (PG 36, 653 A B) . Vor ,nominat“ ist, et in sermone illo de machabeis' gestrichen. 54 Vgl. z. B. Origenes , Erklärung zu Mt 20, 25—28 (CSEG 40, 498—501), wo die menschliche Natur Jesu als Lösepreis an den Dämon betrachtet wird ; zur Erklärung solcher Vätertexte vgl.P. Galtier, Rédemption et les droits du démon dans S. Irénée: RchScR 2 ( 1911 ) 1—24 und vor allem J. Rivière , Le dogme de la rédemption chez

S. Augustin, 3. Aufl., Paris 1933, sowie ders., Le dogme de la rédemption après S. Au gustin , Paris 1930.

55 Gregor von Nazianz a. a. O., c. 22 (653 A ) lat. Übersetzung (654 A) : Quod si redemptionis pretium non alií ulli quam ei, qui captivos tenet, persolvitur, quaero : Cui

tandem oblatum est et quam ob causam? Si pravo illi, o gravem contumeliam ! 56 Verbessert aus : corporeis. 57 Vgl. oben S. 296.

58 Vor ,fidelibus' ist ,is qui' gestrichen. 59 Vgl. Pius II., De contentione (Cugnoni 646, Worte des Prädikanten) :: Tota vis

disputationis huius articuli huc tendit: An sanguis humanus sit de veritate humanae naturae? Negant hoc adversarii.Im folgenden (647) wird auch dort Gregorius Nazian zenus in sermone in Paschate zitiert .

60 Decr. Greg. IX lib. JII, tit. 41 (De celebratione Missarum) , capitulum : In quadam (CorpIC II 641 ). Dies capitulum entstammt einem Decretale Innozenz' III .; vgl. Inno .

zenz II I., De sacrificio Missae IV, 30 (PL 217, 876) : Utrum Christus resurgens sangui nem resumpsit, quem effudit in cruce ? ... Si enim ,capillus de capite vestro non perit'

(Lc 21, 19 ), quanto magis sanguis iste non periit, qui fuit de veritate naturae. 61 Vor ,Athanasius ist ,sanctus' gestrichen .

62 A thanasius,Ad Antiochenum principem (de multis et necessariis quaestionibus) 9. 18 ( PG 28, 607 CD) . 63 Oportet igitur' ist verbessert aus : Quare oportet. 64 Nach ,corpus' ist ,vivum' gestrichen. 319

Text-Anhang II. BEWEIS DER THESE :

Quod resurgit , nunquam fuit separatum a persona resurgentis (Cod. Cus. 40, 149—150 ')

( Argumentum Ium) ( a. Praesuppositum)

Ut aliqualiter verum videas: illud, quod resurgit, nunquam fuisse separatum a persona resurgentis 1 , attende, quod oportet eum , qui christianus est, omnem

intellectum suum captivare' ? per fidem , qua credit, ut non aliud quaerat intel ligere, quam credit. Quare, cum dicat Evangelium non transire in oblivionem apud) Deum neque unum passerem neque capillum capitis, quoniam ,omnes

numerati sunt's, ac quod de illis capillis (nullus) peribitº, habemus: Id, quod non transit in oblivionem Dei , quia est in scientia Dei , ideo est non confuse, (sed singulariter et discrete ut numeratum . Certi etiam sumus : minus maiora pas seribus et capillis perire, (sicut) docemur a Magistro veritatis 5. Scimus igitur, quod morte nihil perit et quod post mortem mane(n)t, quae mitti possunt in gehennam 6. Manet et corpus, et sunt viventes qui moriuntur, et resurgent.

(Apud) Deum autem non prius viventes moriuntur et postea resurgunt, cum in aeternitate non sit prius et posterius ), sed simul omnia ?. Non est igitur difficile credere eundem vivere, mori et resurgere, cuius sin gularis ide(a) nunquam perit 8. Nam Lazarus vixit, idem Lazarus mortuus est

et idem resuscitatus est. Hoc verum (apparet) ex Evangelio. Manet igitur Laza rus et non transit in oblivionem Dei, cuius scientia est esse 10 ; et ideo m(anet) La zarus. Si enim capillus capitis eius non perit, nec caput eius nec a fortiori ipse

perit ; m(anet) semper Lazarus et quidquid eius est usque ad capillum . Lazarus autem est nomen singularitatis seu (persona)litatis ipsius, ideo proprium . Sicut igitur singularitas non perit, quae in rationabilibus dicitur personalitas 11, (cuius) sunt, quae eius dicuntur, ita nec aliquid omnium, quae eius dicuntur, ab 1 S 257 (V2 204 " ) führt Cusanus in ähnlicher Weise ein Thema ein : Ut autem intelli gere queas Apostolum , quomodo in Iesu est generatio ad immortalitatem. 2 2 Kor 10 , 5 .

3 Lk 12,6 f.

4

4 Lk 21, 18. Vgl. Augustinus, De civ. Dei XXII, 19 (CSEL 40, II 628) ; Cusanus

zitiert dieses Kapitel in S 50 (V1 4974). Zu Innozenz III . vgl. oben Anm. 60 zu q. 14. Auch Thomas von Aquin zieht die angeführten Herrenworte für die Frage der Integrität des auferstandenen Leibes Christi heran : S. theol. III q.54, a. 3 c., ähnlich der Prädikant in Pius ’ II . De contentione etc. (Cugnoni 638). 5 Mt 6, 30. 6 Mt 5, 29; Hs .: jhehennam. * Vgl. S 36 ( 135°, 25—29 ; oben S. 177) .

8 Vgl. Cribratio Alchoran II, 15 (P_139 "): cum apud ipsum nihil transeat in

oblivionem seu praeteritum; besonders aber De ven. sap . c. 22 (Ø 210"): Singulare, cum sit ab aeterna causa singularisatum, nunquam in non singulare resolvi potest. A quo enim resolveretur ab aeterna causa singularisatum ? Hinc singulare bonum nunquam desinit, cum omne singulare sit bonum. Sic singulare ens nunquam cessat id esse. Vgl. unten Anm . 16 f.

9 Joh 11 , 1–45 .

10 Vgl. Thom . v. A q., S. c. gent. I , 45 f.; Meister Eckhart, Quaestiones Parisien

ses q. 1 (ed . B. Geyer, LW V 37—48) ; zu Cusanus vgl. z. B. De visione Dei c. 3 – 5 ( P 99-101").

11 Vgl. Boethius, De persona et duabus naturis c. 3 (PL 64, 1343 C) : Persona est naturae rationalis individua substantia. 320

Quod resurgit, nunquam fuit separatum a persona resurgentis

ea separatur. Anima enim Lazari), corpus et capilli eius, cum sint eius, non

separantur ab eo. Nam ,esse eius“ dicit hypostaticationem ) omnium in singula ritate personae 12. Est autem prius illa singularitas quam ea, quae sunt eius, licet non prius tempore ). Quae enim sunt eius, ipsum esse praesupponunt. Caro vero

Lazari non prius quam Lazarus 13, sicut etiam 14 non prius ( caro ) in Matre Iesu quam caro Christi, qui Verbum Dei 15,

Recte hoc considerans reperit omnem creaturam in (suo esse) esse Dei simili tudinem . Nam sicut Deus, qui est ipsa absoluta singularitas omnia singulari

zans 16, est inplurifica (bilis ), indivisibilis et inalterabilis, ita omne singulare est inplurificabile, indivisibile et in /alterabile ) 17. (b. Conclusio )

Hoc igitur praesupposito non est difficile credere ea, quae de Christo affirmamus,

cum Christus dicat perso (nam) 18; in qua persona omnia sunt hypostatice unita et inseparabiliter, quae (de Christo) affirmamus - sicut est: natura divina eius,

natura humana eius, corpus eius, caro eius, sanguis eius; id(eo :) Christum Fi lium Dei et Deum , Filium hominis et hominem, et passum , mortuum , sepultum

et resurrexisse 19 – de eodem divina et humana affirmantes propter utriusque naturae eius in unitate personae inseparabilitatem ) 20; sicut quemlibet hominem dicere possumus intellectualem et sensibilem , intellectualem propter unionem

(intellectualis) naturae et sensibilem propter unionem sensibilis naturae in identitate personae 21.

Quare Christus, qui est in (gloria ) Dei Patris perfectus Deus et homo 22, ab omnibus, quae in sua gloria sunt, ut est : anima, corpus, caro (et sanguis? ), nun quam fuit separatus 23.

Sicut enim aliquis homo decapitatus resurg ( et cum) capite, et propter hoc verum est : caput, licet separatum a reliquo corpore, nunquam desiisse esse suum

caput. Si enim) desiisset esse suum , tunc cum non prius fuisset quam suum, etiam desineret esse. Ob hoc vere dicimus caput (sancti Petri) esse in ecclesia Lateranensi et corpus eius in Vaticano et animam eius in caelo propter unionem 12 Vgl. die oben q. 2 u. 4 angeführten Texte aus Leo d. Gr.; Thom. v. A q., De rationibus fidei contra Saracenos etc. c. 6 (79 b) . 14 Hs.: enim. 13 Vor ,Lazarus' ist ,caroʻ gestrichen. 15 Vgl. die folgende Anwendung dieses Gedankens auf das Heilige Blut (unter b) .

16 Vgl. De ven. sap. c. 22 (P 210 ): Singularissimus Deus est maxime implurificabi lis ... Una est omnium singularium causa, quae omnia singularisat...; est singulorum singularissima causa ... Incorruptibilis igitur singularitas est, quae omnia format et conservat, et omnia suae singularitatis causam ut omnium singularissimum bonum

sufficiens et perfectum naturalissimo desiderio appetunt. 17 Vgl. De non aliud c. 10 (H 22, 7—20) ; VE I 238—42. 18 Danach ist gestrichen: quam Verbum Dei nominamus. 19 Vgl. Symb. Apost. (D 6) . 20 Vgl. oben q. 1-6.

21 Vgl. oben S. 132–135.

22 Vgl. das Gloria der Heiligen Messe (,in Gloria Dei Patris“) sowie das Symbolum Quicunque (D 40 : ,perfectus Deus, perfectus homo ) . 23 Danach ist gestrichen: Dicit enim Christus personam Christi. Der letzte Satz stellt eine genauere Umschreibung der vorangestellten „ These“ dar ; zur dogmengeschicht lichen Einreihung vgl. oben S. 303 (unter d) . -

21 Haubst, Nikolaus v. Kues

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Text - Anhang

hypostaticam eius, quae Petrus dicitur. Sic Augustinus 48" homilia super lohan nem 24 dicit verum esse sanctum Paulum vivere in Christo (et esse ) sepultum . In die vero resurrectionis fiet omnium , quae eius sunt, inter se unio, quia idem

resurget; (neque) resurget in ipsa quidquam, quod desiit esse suum per separa tionem a persona .

Sanguis igitur Christi, qui in Ch(risto nunc est) , nunquam desiit esse sanguis eius per separationem a persona.

Sicut enim caro lesu, quae non fuit prius ca