Jesus und seine Predigt: Ein Volkshochschulkurs [Reprint 2019 ed.] 9783111543703, 9783111175591

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Jesus und seine Predigt: Ein Volkshochschulkurs [Reprint 2019 ed.]
 9783111543703, 9783111175591

Table of contents :
Programm
1. Die Geschichtlichkeit Jesu, der neueste Angriff auf sie, die geschichtlichen Zeugnisse für sie. Die Duellen des Lebens Jesu. - Das Leben Jesu bis zu seinem öffentlichen Auftreten
2. Das Leben Jesu nach seinem öffentlichen Auftreten. Seine Krankenheilungen
3. Das Selbstbewußtsein Jesu von seiner Gottessohnschaft, seiner Sündlosigkeit, seiner Stellvertretereinheit mit Gott und seinem Messiastum
4. Jesu Selbsterklarung seines Wesens. - Jesu predigt von Gottes Reich, Zeit, Ort und Art seiner Gründung, seinen Gütern und seinen Empfängern. Die Vollendung des Gottesglaubens durch die Reichspredigt Jesu
5. Die Sittenpredigt Jesu von der wahren, in seiner Nachfolge zu Selbstverleugnung und Selbsterniedrigung willigen Gottes- und Menschenliebe
6. Die Stellung der Sittenpredigt Jesu zur Selbstbehauptung der Einzelpersönlichkeit und zur Kultur (Familie, Staat, Arbeit, Besitz)
Anhang

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Jesus und seine predigt Ein Volkshochschulkursus von

D. Karl Thieme a.o. Professor der Theologie in Leipzig

Verlag von Alfred Opelmann

(vormals ). Ricker) * Gießen 1908

Druck von L. G. Röder G. m. b. H. in 5eipzig.

Diese sechs Volkshochschulvorträge sind Ende 1907 in der Universität zu Leipzig gehalten worden.

Programm. 1.

Die Geschichtlichkeit Jesu, der neueste Angriff auf sie, die geschichtlichen Zeugnisse für sie. Die Duellen des Lebens Jesu. - Das Leben Jesu bis zu seinem öffentlichen Auftreten

S.

5-26

2.

Das Leben Jesu nach seinem öffentlichen Auftreten. Seine Krankenheilungen. -

S.

27-45

3.

Das Selbstbewußtsein Jesu von seiner Gottessohn­ schaft, seiner Sündlosigkeit, seiner Stellvertreter­ einheit mit Gott und seinem INessiastum . . . .

S. 46-66

4.

Jesu SelbsterklLrung seines Wesens. - Jesu predigt von Gottes Reich, Zeit, (Drt und Art seiner Grün­ dung, seinen Gütern und seinen Empfängern. Die Vollendung des Gottesglaubens durch die Reichs­ predigt Jesu. -

S. 67-88

5.

Die Sittenpredigt Jesu von der wahren, in seiner Nachfolge zu Selbstverleugnung und Selbsterniedri­ gung willigen Gottes- und Menschenliebe . . .

S. 89-106

6.

Die Stellung der Sittenpredigt Jesu zur Selbst­ behauptung der Einzelpersönlichkeit und zur Kultur (Samilie, Staat, Arbeit, Besitz) -

S. 107-127

Anhang

S. 127-128

5

1.

Vie Geschichtlichkeit Jes«, -er neueste Angriff aus sie, die geschichtlichen Zeugnisse für sie. Vie Wellen des Lebens Jesu. - Vas Leben Jes« bis zu seinem öffentlichen Austreten. Mit Jesus und seiner predigt beschäftigt man sich all­ sonntäglich in der Rirche. Da werden an Jesus Gebete und Lieder gerichtet. Stücke aus seiner predigt werden beständig durch die Vorlesung des Evangeliums vorgeführt. Recht oft find solche der Text, über den gepredigt wird. Das alles ge­ schieht im Glauben, im kirchlichen Glauben an die Gottheit Jesu, und zur Erbauung seiner Gläubigen. Dagegen in einem Hochschulkursus über Jesus und seine predigt sieht man so sehr als möglich vom Glauben ab, nur auf das wissen kommt es da an, man erstrebt nicht Erbauung, sondern rein wissenschaft­ liche Belehrung. Vas Thema ist: welches wissen hat die heu­ tige Wissenschaft von Jesus und seiner predigt? Vie heutige Wissenschaft! Ist damit die theologische Wissen­ schaft gemeint? (Es ist ein weit verbreiteter Argwohn, daß die Theologie kein unverfälschtes, reines wissen über Jesus bieten könne, weil die Vorurteile des Glaubens sie beeinflußten, wir christlichen Theologen geben zu, daß die Voraussetzung unserer Wissenschaft der Glaube ist, daß nicht nur das Weltall, sondern auch Gott existiert, und daß Gott sich besonders in Jesus und seiner predigt geoffenbart hat. Aber ehe wir mit diesem Glauben eigentümlich theologische Glaubensansichten über Jesus ausbilden, wollen auch wir Theologen erst rein wissenschaftlich verfahren und abgesehen vom Glauben rein historisch erforschen: was wissen wir von Jesus? Man mutz also zwischen den rein historischen Erkenntnissen und den sogenannten dogma­ tischen Ansichten der Theologen über Jesus unterscheiden.

6 warum von vornherein um des Dogmatischen willen dem historischen mißtrauen, das von den Theologen kommt? warum nicht lieber erst prüfen, ob es ihnen nicht doch ge­ lungen ist, die historische Forschung über Jesus von dogma­ tischen Einflüssen freizuhalten? Solche Prüfung erwartet auch dieser theologische hochschulKursus von den Teilnehmern. Im zweiten Vortrag sollen die Krankenheilungen Jesu besprochen werden. So steht im Pro­ gramm. „Heilwunder" sind sie darin nicht genannt. Venn auch der Theologe, der wie auch ich die Glaubensüberzeugung hat, daß Gott Jesus bei seinen Ilrankenheilungen wunderbar geholfen hat, soll erst von Gott und seiner Wunderhilfe ganz absehen und bloß unser wiflen von der ärztlichen Tätigkeit Jesu feststellen, will er dann seine Glaubensansicht hinzu­ fügen, so muß er den Punkt ganz deutlich merken lasten, von wo ab er sie eingreifen läßt und also nicht mehr rein histo­ risch, sondern dogmatisch die Ilrankenheilungen Jesu behandelt, wenn die Theologen in dieser Weise zwischen ihren beiden verfahrungsweisen reinlich scheiden, so werden ste als die eigentlichen Sachverständigen in bezug auf das heutige Misten von Jesus und seiner predigt anerkannt werden müsten. Denn es gibt nur ganz wenige Forscher, die nicht gelernte Theologen sind und doch ausnahmsweise alle nötigen Kenntnisse und For­ schungsweisen beisammen haben, mit denen die wissenschaftliche Theologie die Forschung über Jesus regelmäßig betreibt. Vie allermeisten von Nichttheologen über Jesus aufgestellten An­ sichten haben sich nicht als wissenschaftlicher denn die theolo­ gischen erwiesen, sondern als dilettantisch. So haben z. B. neuerdings zwei Arzte über Jesus geschrieben, der eine hat ihn für geistig gestört erklärt, der andere für einen wirklichen Wunderarzt. Jeder verständige Historiker, jeder unparteiische Philosoph wird erkennen, daß diese Schriften fast ganz wertlos sind, weil gearbeitet ohne die Kunst der wissenschaftlichen Jesus­ forschung. Nach alledem ist es die theologische Wissenschaft, die den heutigen Stand des Mistens von Jesus und seiner predigt bestimmt und ihn kennen lehrt. Kommt es nun uns in diesem Kursus auf den heuttgen Stand dieses wistens an, so darf ich nicht verschweigen, daß die Menge des wirklich ganz sicheren Wissens auf diesem Ge­ biete nicht groß ist. Allgemein anerkannte Ergebniste der

7 wissenschaftlichen Jesusforschung gibt es nur wenige. Das liegt an den übermäßigen Schwierigkeiten, die die vorhandene geschichtliche Überlieferung der Forschung bereitet. Wir werden heute bei den Quellen des Lebens Jesu darauf zurückkommen. Dieser Hochschulkursus möchte gegen alle diejenigen vorsichtig machen, welche so sehr vieles über Jesus genau zu wissen be­ haupten, was man weder weiß noch wissen kann. Auch wissen­ schaftliche Theologen lassen sich bisweilen zu dem Fehler fort­ reißen, mehr wissen zu wollen, als man weiß und wissen kann. So wird in Boussets „Jesus", einem der „Religionsgeschicht­ lichen Dolksbücher", als bewiesen behauptet, daß Jesus sich noch nicht selber als den zukünftigen Weltrichter bezeichnet habe. Es ist aber irreführend, dies „bewiesen" zu nennen. Andere Forscher der gleichen wissenschaftlichen Schule verwerfen den sogenannten „Beweis". Also soll man in einem „Volks­ buch" die Ergebnisse der Kritik nicht als sicherer hinstellen, wie sie sind. Dieser Dolkshochschulkursus will sich davor hüten. Man darf ja hoffen, daß der Fortschritt der Wissenschaft das sichere Wissen über Jesus mehren wird, und hoffentlich macht dieser Kursus uns alle darin einig, daß, was wir jetzt schon sicher von Jesus wissen, kostbar genug ist. Unser erstes Problem ist das der Geschichtlichkeit Jesu, das heißt wir müssen uns heutzutage sogar mit der Frage herumschlagen: „hat Ehristus überhaupt gelebt?" Man kann diese Frage seit ein paar Wochen in den Schaufenstern der Buchhändler lesen auf dem grellroten Umschlag der zweiten Auflage eines Vortrags von dem freireligiösen Prediger TschirnBreslau. Dieser gelangt übrigens zu der bejahenden Antwort: Er hat doch wohl gelebt! Eine Vorbemerkung ist nötig, die, daß niemand, dessen herz an Christus und das Thristentum noch irgendwie gebunden ist, der Frage, ob Christus überhaupt gelebt hat, rein wissen­ schaftlich, kühl bis ans herz gegenübersteht. Also scheinen alle noch irgendwie christlichen Forscher in dieser Frage als be­ fangen, als nicht unparteiisch abgelehnt werden zu müssen. So wollen wir sie entscheiden lassen von gar nicht mehr christ­ lichen, von irreligiösen oder von jüdischen, muhammedanischen, buddhistischen Gelehrten! Aber vermögen denn solche dabei ganz unparteiisch, rein wissenschaftlich, kühl bis ans herz zu bleiben? Muß man nicht argwöhnen, daß die Ungunst gegen

8 das Christentum, ihnen selbst unbewußt, sie beeinflussen wird? Gerade daran erkennt man, was der Name Jesus Christus auf dem Erdball bedeutet, daß kein Gelehrter auf Erden sich zur Frage, ob Christus überhaupt gelebt hat, bloß als Ge­ lehrter verhält. Es ist eine Frage, die nicht bloß der gelehrte verstand, sondern der ganze Mensch, auch das Gemüt, der Wille bejaht oder verneint. Befangen also sind hier alle. Über dar Herzensinteresse, das der noch irgendwie christliche Forscher an der Bejahung jener Frage hat, mutz nun nicht seine Gründe selbst unwissenschaftlich machen, vielmehr kann der allerdings auch vom Herzen aufgebotene Kopf jedermann, der Kopf haben will, teilt wissenschaftlich einleuchtend machen, datz die An­ griffe auf die Geschichtlichkeit Jesu unwissenschaftlich sind. Aber einige wollen ihren Huerkopf haben und halten ihn für besonders findig. Seit fünf Jahren haben die geschicht­ liche Existenz Jesu angegriffen der Bremener Pfarrer Kalthoff, ein schweizerischer Advokat, ein englischer Theosoph, ein ame­ rikanischer Professor der Mathematik und endlich der Mar­ burger Profeffor der Assyriologie Jensen. Fast alle fünf haben nicht geringe Gelehrsamkeit aufgeboten, und mindestens Kalthoff und Jensen find durchaus ernst zu nehmende Forscher. Wir haben nur zu einer kurzen Auseinandersetzung mit dem neuesten Angreifer Jensen Zeit. vor einem Jahre erschien sein dickes Buch über das baby­ lonische Gilgamesch-Epos. Aus dieser babylonischen Dichtung soll stammen, was die vier Evangelien als die Geschichte Jesu erzählen. Dies soll also nicht Geschichte, sondern reine Sage sein. Ein Mann namens Jesus mit einer Geschichte, wie sie in den Evangelien erzählt wird, habe nie gelebt. Das ist Jensens „Hauptresultat", von seiner hochgelehrten Begründung kann ich auch nicht einmal eine Probe vorführen, sondern nur ein wenig einleuchtend machen, wie unwissenschaftlich er trotzdem verfahren ist. Er räumt selbst ein, daß nicht auf die Gilgameschsage zurückzüführen sind die in den Evan­ gelien überlieferten Reben. Wie findet er sich nun damit ab? Da er den Jesus, dem die Evangelien die Reden zuschreiben, für sagenhaft hält, läßt er sie stammen von einem unbekannten Manne aus nicht genau bekannter Zeit und aus unbekannter Gegend. Also wie Hilst sich Jensen? Er Hilst sich mit „dem großen Unbekannten"! Der geschichtlich bekannte Jesus wird

9 aus der Geschichte gestrichen. Um nun das geschichtlich vor­ handene, die überlieferten Reden, noch erklären zu können, wird ein geschichtlich Unbekannter extra erfunden. Das ist unwissenschaftliche Willkür, die die Geschichte nicht Heller, son­ dern dunkler macht. Der unbekannte Mann aus nicht genau bekannter Zeit und aus unbekannter Gegend müßte ein sehr, sehr großer Unbekannter sein. Venn daß die Reden in den Evangelien, die von ihm stammen sollen, etwas einzig Großes find, spürt wohl jedermann. Ebenfalls auf ganz unwissenschaftliche weise wird Jensen mit dem geschichtlichen Zeugnis fertig, das man für die Ge­ schichtlichkeit Jesu in den Briefen des Apostels Paulus hat. Paulus erzählt im Galaterbrief, daß er zweimal in Jerusalem mit Jakobus, einem Bruder Jesu, verkehrt habe, hatte nun nie ein Mann namens Jesus existiert, so gab es auch nie einen Bruder Jesu. Jensen vermutet, daß Paulus in Jerusalem „in wunderbarer weise" betrogen worden sei, d. h. daß diejenigen, welche Jesu Existenz erdichtet hatten, einen gewissen Jakobus als Bruder des erdichteten Jesus Paulus vorzustellen wagten. Jensen nennt diesen von ihm vermuteten Betrug „wunderbar". Er wäre in der Tat so wunderbar, so wunderbar frech wie wohl kein zweiter. Venn zwischen dem angeblichen Endpunkt des erdichteten Lebens Jesu und der Vorstellung eines angeb­ lichen Bruders des Erdichteten würden nur wenige Jahre ge­ legen haben, allerhöchstens dreizehn. Schon nach wenigen Jahren das Leben und den Tod eines Mannes am angeblichen Todesorte zu erdichten, das wagt wohl kein Betrüger, weil ihn ja alle sofort entlarven können, die damals dort gelebt haben und also wissen, daß der Mann gar nicht existiert hat. Aber dieser ersten Vermutung, daß Paulus in wunder­ barer weise betrogen worden sei, zieht Jensen offenbar die zweite vor, die er sich leistet: daß Paulus selbst ein Betrüger sei, daß er sich an der Erdichtung Jesu durch die Lüge, einen Bruder Jesu gesehen zu haben, mitbeteiligt habe, wir wollen uns nun nicht sittlich darüber entrüsten, daß Jensen gegen den Apostel Paulus so respektlos ist, ihn zum Lügner und Betrüger zu machen. Rein, rein wissenschaftlich muß man sich entrüsten, darüber nämlich, daß Jensen Paulus zu einem psychologischen Monstrum macht. Paulus schreibt im Brief an die Galater, er selbst lebe gar nicht mehr, Ehristus lebe in ihm; er lebe

10 im Glauben an den Sohn Gottes, der ihn geliebt und sich für ihn dahin gegeben habe. Vas ist eine probe seiner urechten Glaubensleidenschast für Jesus Christus den Gekreuzigten. Und von diesem Jesus soll Paulus nichts wie Sagenhaftes wissen? Er soll sich in demselben Galaterbrief durch eine Lüge an der Erdichtung der Jesussage beteiligt haben? Jensen hat ohne jedes Verständnis für religionspsychologische Wahrheit ein psychologisches Monstrum erfunden. Jensen braucht also, um Jesus aus der Geschichte streichen zu können, den großen Unbekannten und den wunderbaren Betrüger oder das psychologische Monstrum. Ich kann Ihnen nun versichern, daß die heutige Geschichtswisienschaft diese drei Figuren in das geschichtswisienschaftliche Altertumsmuseum ver­ bannt hat. wer sie heutzutage in seinen historischen Ver­ mutungen losläßt, gilt als unwissenschaftlich. Dos Urteil über Jensens Buch gegen die Geschichtlichkeit Jesu hat zu lauten: „(Es ist nicht das Resultat einer ruhigen, historischen Forschung, sondern eine leidenschaftliche, im voraus ihrer Resultate sichere Streitschrift gegen die geschichtlichen Grundlagen der christlichen Religion." Da man sich heutzutage mit der im Grunde unwissen­ schaftlichen Frage: hat Christus überhaupt gelebt? herum­ schlagen muß, ist es doppelt geboten, nach den geschichtlichen Zeugnissen für das Leben Jesu zu fragen. Vas ist das Zweite, was wir heute tun wollen. Vie ältesten Schriften, in denen Jesus vorkommt, sind die Briefe des Apostels Paulus. Aber mehr Zeugenwert als christ­ liche Schriftsteller scheinen doch nichtchristliche, jüdische und heid­ nische, zu haben, weil sie kein Interesse an der Geschichtlichkeit Jesu hatten. Ein jüdischer Schriftsteller des ersten Jahrhunderts nach Christi Geburt war der bedeutende Geschichtsschreiber Iosephus. In seinen zahlreichen Werken kommt Jesus nur an zwei Stellen vor, aber diese sind beide unecht, sie sind später von christlichen Fälschern eingeschoben worden. Vaß Iosephus von Jesus und dem schon weit verbreiteten Christen­ tum geschwiegen hat, muß als Absicht beurteilt werden; denn daß er nichts davon gewußt, scheint ganz ausgeschlossen. Richt durch die jüdische Geschichtsschreibung, sondern auf ganz andere Weise erhalten wir jüdischerseits ein Zeugnis für die geschichtliche Existenz Jesu, dadurch nämlich, daß diese nie-

11 mals, soviel wir wissen, von den Juden bestritten worden ist. Schon sehr früh griffen die Juden die Christen mit gehässigen Verleumdungen an - niemals mit dem Zweifel, ob ihr Jesus überhaupt gelebt habe, niemals mit dem verdacht, daß sie ihren Jesus nur erdichtet hätten. Niemand weiß es anders, als daß er als angeblicher Messias am Kreuze gehenkt worden sei. Vie Juden hätten die Existenz Jesu bezweifeln müssen, wenn hier auch nur der Schatten einer Unsicherheit vorhanden gewesen wäre; denn eine schlagendere Widerlegung konnte es nicht geben. während der jüdische Geschichtsschreiber Josephus von Jesus und dem Christentum absichtlich geschwiegen hat, findet sich bei dem großen römischen Geschichtsschreiber Tacitus die hochberühmte Angabe, daß der Urheber der sogenannten Christen­ sekte, Christus, unter der Regierung des Tiberius auf Befehl des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden sei. Uber diese Erwähnung von Christus bei Tacitus hat keinen großen geschichtlichen wert. Sie beruht wahrscheinlich nicht auf selb­ ständiger Kunde von Christus und seiner Hinrichtung, sondern nur auf Hörensagen; Tacitus braucht das nicht etwa in einem römischen Archiv erforscht zu haben, sondern kann es aus christ­ lichen Aussagen ausgenommen haben. Außer Tacitus erwähnen Christus fast gleichzeitig noch ein paar römische Schriftsteller in noch Kürzeren Notizen. Aber diese Erwähnungen in der römischen Literatur erfolgen erst mehr als achtzig Jahre nach Jesu Tode, im zweiten Jahrzehnt des zweiten Jahrhunderts. Dagegen beginnt schon etwa zwanzig Jahre nach dem Tode Jesu das Zeugnis der ältesten christlichen Schriften, der paulinischen Briefe. Wir haben gesehen, was Jensen aus Paulus macht, um mit ihm als Zeugen für die Geschichtlichkeit Jesu fertig zu werden. Er bestreitet nicht, daß Paulus der Verfasser der vier Briefe an die Galater, Römer und Korinther ist, vermutet aber, daß er sich darin durch grobe Lügen an der Erdichtung Jesu beteiligt habe. Wer beim Angriff auf die Geschichtlichkeit Jesu nicht so unwiffenschaftlich mit Paulus umspringen will, muß das Zeugnis der paulinischen Briefe für sie dadurch beseitigen, daß er diese nicht von Paulus, sondern viel später verfaßt sein läßt. Kalthoff hat denn auch die Unechtheit aller paulinischen Briefe, auch jener vier Hauptbriefe, verfochten. Darin sind ihm ein paar Gelehrte vorangegangen.

12 Man kann es aber als den heutigen Stand der Wissenschaft bezeichnen, daß sie diesen Forschern den wissenschaftlichen Blick, den Wirklichkeitssinn, die wahre historische Schulung abspricht, wer nicht den Apostel Paulus mit seinen Hauptbriefen als unanfechtbaren Zeugen für die Geschichtlichkeit Jesu anerkennt, der steht heutzutage außerhalb der eigentlichen Wissenschaft. So urteilen auch die nichttheologischen Meister. Während Paulus mit seinen Briefen der älteste unanfecht­ bare Zeuge dafür ist, daß Jesus überhaupt gelebt hat, bezeugt er merkwürdig wenig davon, wie das Leben Jesu verlaufen ist. 3u erklären, warum die Lebensgeschichte Jesu in den paulinischen Briefen so sehr zurücktritt, ist nicht zu schwer, aber jetzt nicht unsere Aufgabe. Weil die Paulusbriefe so wenig aus dem Leben Jesu überliefern, können sie kaum zu dessen eigentlichen (Quellen gerechnet werden. Als die Duellen des Lebens Jesu haben eigentlich nur die Evangelien zu gelten. Aber ehe wir uns ihnen zuwenden, müssen wir dem Zeugnis der ältesten christlichen Schriften, der Paulusbriefe, dasjenige hinzufügen, welches die späteren christlichen Schriften für die Geschichtlichkeit Jesu ablegen. Jedermann kennt außer den vier Evangelien und den paulinischen Briefen eine Anzahl urchristlicher Schriften, die­ jenigen, welche neben jenen im Neuen Testament stehen. 3u ihnen kommt außerhalb des Neuen Testaments eine ganze Reihe altchristlicher Schriften aus den ersten Jahrzehnten des zweiten Jahrhunderts, hauptsächlich Briefe, von diesen Schriften hat Ralthoff behauptet, daß der Herr Thristus darin kein historisches Individuum bedeute, sondern eine personifizierte, verkörperte Idee, die Idee der Rirche. Das ist eine ganz leichtfertige Behauptung. Thristus ist in diesen Schriften zwar der jetzt im Himmel thronende, von der ttirche angebetete „Vereinsgott", um Kalthoffisch zu reden. Aber so gewiß er jetzt ein ideales, göttliches, himmlisches wesen ist, so gewiß war er auf Erden als menschliches Individuum, hieß Jesus und wurde unter Pontius Pilatus gekreuzigt. Einige von diesen Schriftstellern erzählen auch Einzelheiten aus dem Leben Jesu. Fast alle deuten an, daß er Lehrer gewesen und Ge­ bote gepredigt habe; sie weisen auf das Vorbild hin, das er in seinem irdischen Wandel gegeben hat. Endlich haben wir noch eine letzte Gruppe sicherer Zeug-

13 nisse für die Geschichtlichkeit Jesu, von verwandten Jesu wird uns erzählt in einer so schlichten und zuverlässigen Weise, daß an den Berichten nicht zu rütteln ist. Wissenschaftlich unwürdig nannten wir die Hrt, wie Jensen an dem Bericht des Paulus über seinen Verkehr mit Jakobus, dem Bruder Jesu, rüttelte. Später hören wir von einem Vetter Jesu und von zwei Großneffen. Diese wurden etwa sechzig Jahre nach Jesu Tod als König Davids Nachkommen denunziert und vor den römischen Kaiser Domitian geführt. Aber sie waren ab­ gearbeitete Kleinbauern mit schwieligen Händen und erschienen deshalb ungefährlich. Solche Kunde von verwandten Jesu bezeugt seine Geschichtlichkeit und den bürgerlichen Stand, die soziale Schicht, der er angehört hat. Fassen wir nun abschließend zusammen, wie die Geschicht­ lichkeit Jesu geschichtlich bezeugt ist: jüdischerseits dadurch, daß der frühzeitige Judenhaß gegen die Lhristen sie nicht bezweifelte; römischerseits durch einige Angaben bei römischen Schriftstellern; christlicherseits durch die ganze urchristliche Literatur, voran die Paulusbriefe; endlich durch Berichte von verwandten Jesu. Wir gehen weiter zu den eigentlichen (Quellen des Lebens Jesu, zu den Evangelien. Kommt man von der Frage her, ob Jesus überhaupt gelebt habe, von der Behauptung, daß das in den Evangelien Erzählte rein sagenhaft sei, so muß man die Evangelien vor allem daraufhin betrachten, ob und wieviel Sagenhaftes, Erdichtetes sich in ihnen findet. Ich werde nun zunächst rein wissenschaftlich darstellen, welches das heutige Wiffen über Dichtung und Sagenbildung in den Evangelien ist. Erst dann soll die Stellung des Glaubens dazu kurz be­ sprochen werden. Vie heutige Wissenschaft hält einerseits recht vieles in den Evangelien für sagenhaft, anderseits hält sie einen größeren oder kleineren Teil des von Jesus Erzählten für unanfechtbar geschichtlich, vor allem verwirft sie als unwissenschaftlich die Ansicht, daß auch die drei ersten Evangelien nichts als bloße Sagenbücher oder Kunstdichtungen seien. Was das vierte Evangelium, das Johannesevangelium anbelangt, so urteilen manche Theologen, daß man seinen Jesus für den Helden einer religiösen Dichtung halten könnte. Nach anderen wäre die Vorstellung von Jesus als Phantasieprodukt selbst dann nicht haltbar, wenn wir als (Quelle für ihn nur das Johannes-

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evangelium besäßen. Diese Verschiedenheit der Urteile ist eine Probe der großen Unsicherheit unseres Wissens über das vierte Evangelium. Auch diejenigen Theologen, welchen seine Ab­ fassung durch den Apostel Johannes wissenschaftlich nicht zweifelhaft ist, beschränken sich heutzutage bei Untersuchungen über Jesus und seine predigt gern auf das Zeugnis der drei ersten Evangelien. Sie können da eher hoffen, sich mit denen über Jesus wirklich zu verständigen, die das vierte Evangelium als Geschichtsquelle von vornherein ausgeschieden wissen wollen. Auch dieser Hochschulkursus über Jesus und seine Predigt wird sich ganz auf das Zeugnis der drei ersten Evangelien be­ schränken, um auf dem gesichertsten Boden stehen zu bleiben. Schon in der Tuellenfrage wird das vierte Evangelium fortab gar nicht mehr berücksichtigt werden. Wir wiederholen, daß die Wissenschaft das Matthäus-, das Markus- und das Lukas-Lvangelium keineswegs als bloße Sagenbücher oder Kunstdichtungen einschätzt. Sie sind fteilich auch keine mit der Absicht und der Kunst des Geschichts­ forschers gearbeiteten Lebensbeschreibungen Jesu, keine Ge­ schichtswerke, sondern „Geschichtenbücher". Um die Leser für den Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Herrn Jesus Lhristus zu werben oder darin zu stärken, erzählen die Evangelisten die ihnen überlieferten Geschichten von seinem Leiden, Sterben und Auferstehen, auch von seinen Wundertaten und seiner Lehrerarbeit, schließlich auch einige Geschichten aus seinem Lebensanfang. Wohl keiner der drei Evangelisten hatte etwas von diesen Geschichten miterlebt; der älteste von ihnen, Markus, schrieb etwa 40 Jähre nach Jesu Tod, die beiden andern noch etwa 10 bis 20 Jahre später. 3u erforschen, wie sich die drei Evangelien zueinander verhalten und welche Überlieferungen ihre Verfasser zur Verfügung hatten, ist so übermäßig schwierig, daß eben deshalb unser sicheres Wissen von Jesus so gering ist. Und wenn wir nur wenigstens wort für Wort genau wüßten, wie es die Evangelisten selbst damals in ihren Büchern niedergeschrieben haben! Aber es ist leider später in den Texten ihrer Schriften noch viel herumkorrigiert, gestrichen, eingeschoben worden. Man empfindet es besonders bei manchen Aussprüchen Jesu recht schmerzlich, daß der ur­ sprüngliche Wortlaut nicht sicher ist, in dem die Evangelisten sie überliefert bekamen und niederschrieben.

15 Zwischen den geschichtlichen Ereignissen, die die drei evangelischen Geschichtenbücher erzählen wollen, und der Ab­ fassung dieser Bücher vollzog sich die volkstümliche Überliefe­ rung der Geschichten von jenen Ereignissen. Sie vollzog sich sowohl durch ununterbrochene mündliche Weitererzählung als auch durch schriftliche Aufzeichnungen. Vie Wissenschaft meint nun feststellen zu können, daß mit der wirklichen Geschichte Jesu bei ihrer Überlieferung Veränderungen vorgegangen sind: es hat Sagenbildung stattgefunden. Vie Erlebnisse und die Taten Jesu sind gesteigert, größer, herrlicher geschildert, seine weissagenden und belehrenden Worte sind umgeformt und ver­ mehrt worden. Vie vergleichende Geschichtsforschung findet ihren Grundsatz bestätigt, daß jeder wirklich große Mann in seiner Umgebung und in der Nachwelt die Sage weckt: hätte Jesu Leben und Sterben die Sage nicht geweckt, so wäre Jesus kein großer Mann gewesen. Er wurde von denen, die die Geschichten aus seinem Leben weiterüberlieferten, nicht nur verehrt und geliebt, sondern sogar als ihr himmlischer Herr angebetet: kein Wunder, daß sie sich sein irdisches wirken und Kämpfen gar nicht herrlich genug, sein Leiden gar nicht er­ greifend genug, sein weissagen und Lehren gar nicht voll­ ständig und weitblickend genug denken konnten. Den Erzählern lag „daran, das übernatürliche, das Unvergleichliche und Un­ begreifliche an ihrem Stoff kräftig herauszuheben: nicht das in unserm Sinne vestbeglaubigte hat für sie den höchsten wert, sondern was am geeignetsten scheint, Zweifel an Jesu Gött­ lichkeit zu unterdrücken, das vertrauen zu ihm und seiner Sache zu stärken". An einem ganz einfachen Beispiel möchte ich zeigen, wie man in den Evangelien beobachten kann, daß die Sage an der Lebensgeschichte Jesu webte. Markus erzählt, daß bei der Verhaftung Jesu in Gethsemane einer von denen, die dabei standen, dem Knecht der Hohenpriesters das Ghr abhieb. Vas Matthäusevangelium erzählt auch noch nicht mehr. Aber Lukas erzählt hinzu, daß es das rechte Ghr war, und daß Jesus es anrührte und wieder anheilte. Es ist interessant, wie der be­ kannte Theologe Adolf harnack diese Erweiterung der Ge­ schichte bei Lukas erklärt hat. Lukas war Arzt; als solcher hat er daran Anstoß genommen, daß der arme Teufel sein Ghr verlor,- wie er den ärztlichen Stand schon einmal in

16 seinem Evangelium in Schutz genommen hat, so tritt er hier für den Krzt Jesus ein; unverantwortlich wäre es gewesen, wenn er als Wunderarzt nicht geheilt hätte, harnack fügt hinzu, man könne hier einmal mit Händen greifen, wie eine wundergeschichte entstanden ist, und was sich Lukas erlaubt hat. Eine Sonderquelle habe er sicher nicht besessen: weil es so sein mutzte, ist es so gewesen. Nach meiner Ansicht ist diese Erklärung der Wunder­ geschichte ein Mitzgriff. (Es durste nicht so sicher behauptet werden, daß sich Lukas aus Standesinteresie eine Erdichtung erlaubt habe, und datz er eine Sonderquelle sicher nicht be­ sessen habe. Auch nach meiner Ansicht kann man hier einmal mit Händen greifen, wie eine Wundergeschichte entstanden ist. Aber sie wird nicht am Schreibtisch des Arztes Lukas ent­ standen sein, sondern dieser kann recht gut eine Sonderüber­ lieferung gehabt haben, die ihm die Wundergeschichte zutrug, vielleicht nicht eine schriftliche Sonderquelle, sondern eher eine aus der mündlichen Weitererzählung von ihm aufgelesene Fort­ bildung des Geschichtchens von dem blutigen Schwertstreich. Solche volkstümliche Geschichten bereichern sich beim Weiter­ erzählen wie von selbst. Man kann da nicht mit Fingern auf den deuten, der hinzuerzählte, es sei das rechte Ghr ge­ wesen, noch auf den, der die Wundertat hinzuerzählte. Bei harnacks Erklärung riecht man zuviel Studierlampe: nicht der Arzt dichtete aus Standesinteresie, sondern eher waren es wohl die christlichen Knechte und Mägde, die mit dem armen Kerl Mitleid hatten, der damals sein Ghr verlor. Grenzenlos war ihr Zutrauen zum Heiland: da raunte die Sage einem zu: er mutz das Ghr wieder angeheilt haben. Nun erst befriedigte die Geschichte, man hatte daran eine neue Wundergeschichte — Jesu zu Lob und Ehren. Ich glaube feststellen zu können, datz die gesamte wisienschastliche Theologie, einschlietzlich der konservativ gerichteten, heutzutage zu der Annahme bereit ist, datz sich in der urkirch­ lichen Überlieferung der Geschichte Jesu die Wundergeschichten vermehrt haben können. Auch wer diese Annahme vielleicht nur in einem einzigen Falle macht, gibt damit grundsätzlich Sagenhaftes in unsern Evangelien zu. Aber nicht sind nun deshalb alle ihre Geschichten von Jesus nur fromme Sagen und Legenden, so datz seine wirk-

17 liche Geschichte ganz verschwunden oder er überhaupt keine geschichtliche Person wäre. Zuerst kann mancherlei in den Evangelien einfach deshalb nicht fromme Sage sein, weil es den ersten Lhristen vielmehr unfromm erschienen wäre, solches ihrem himmlischen Herrn Jesus Christus anzudichten. Ls mutz also aus der wirklichen Geschichte Jesu stammen, und weil es aufs beste bezeugt war, aufs treuste weitererzählt worden sein, obwohl es zum Glauben der Weitererzähler an die Herr­ lichkeit Christi nicht recht patzte. (Es zu erfinden, wäre keinem Lhristen in den Sinn gekommen. Lin Beispiel ist das bekannte Wort Jesu, Gott allein wisse Tag und Stunde des Weltendes. Er bekennt darin seinen Abstand von dem allein allwissenden Gott. Seit man Jesus anbetete, was doch den Glauben an seine Allwissenheit und Allmacht voraussetzt, und seit man hoffte, datz er selbst alsbald zur Weltvollendung wiederkommen werde, wird man nicht darauf verfallen sein, datz er jemals Allwissenheit abgelehnt und die Zeit seiner eigenen Wieder­ kunft nicht gewußt habe. Sollte man ihm ein Wort dieses Inhalts in den Mund zu legen gewagt haben? vollends wenn Jesus überhaupt nicht gelebt hätte, sondern nur in der Sage eines religiösen Vereins existierte, in der Sage vom Erdenleben des vereinsgottes, so hätte man dieses Erdenleben sicher so göttlich als möglich ausgemalt - Schranken des Wissens hineinzudichten, wäre wider den Stil der religiösen Sage und Dichtung. Man hat dasjenige in den Evangelien, was Jesus nicht verherrlicht, sondern zu ihrem Bestreben, ihn zu verherrlichen, in Spannung steht, den „Granit der historischen Wahrheit" oder „die Grundsäulen eines wahrhaft wissenschaftlichen Lebens Jesu" genannt. Mir scheint dieses Verfahren richtig, zunächst einmal solchen Granit in den Evangelien bloßzulegen und sie dadurch als Geschichtsquellen zu verteidigen. Ls lassen sich so aus ihnen einige unanfechtbare Tatsachen der Geschichte Jesu schöpfen. Nur darf man sich bei diesem Verfahren nicht an­ gewöhnen, alles in den Evangelien von vornherein als un­ geschichtlich preiszugeben, was Jesus vor allen andern Menschen verherrlicht. Wir müssen uns jetzt nur noch ausdrücklich die Frage stellen, warum die Evangelisten dasjenige überhaupt in ihre Evangelien ausgenommen haben, was Jesus nicht verherrlicht, Thieme, Jesus und seine predigt.

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18 sondern zu ihrem Bestreben, ihn zu verherrlichen, in Spannung steht. Vie Antwort kann eben nur lauten, daß die Evange­ listen durch die ihnen gegebene Überlieferung einfach dazu ge­ zwungen waren, gewisse in ihr bestbezeugte Stoffe autzunehmen. Das führt uns auf einen zweiten Beweis dagegen, daß alle evangelischen Geschichten von Jesus nur fromme Sagen und Legenden seien. Zwar ist sogar das älteste Evangelium, das des Markus, wie gesagt, erst etwa vierzig Jahre nach dem Leben Jesu geschrieben. Aber zugrunde liegt ihm ältere Über­ lieferung, Überlieferung aus solcher zeitlichen Nähe zum Leben Jesu, daß sie nicht als reine Sage vorgestellt werden kann. Ich erinnere daran, wie wir die Vermutung Jensens wider­ legten, daß man in Jerusalem Paulus mit einem angeblichen Bruder Jesu betrogen habe. Wir sagten, solch einen wunder­ bar frechen Betrug gäbe es nicht. Denn zwischen dem er­ dichteten Leben Jesu und dem Betrug würden nur wenige Jahre gelegen haben. Schon nach wenigen Jahren das Leben und den Tod eines Mannes am angeblichen Todesorte zu er­ dichten, das wagt kein Betrüger, weil ihn ja alle sofort ent­ larven können, die damals dort gelebt haben und also wissen, daß der Mann gar nicht existiert hat. Aus demselben Grunde kann die den Evangelisten gegebene ältere Überlieferung nicht als reine Sage vorgestellt werden. Zeigen sich die Evan­ gelisten stark gebunden durch einen fest überlieferten Stoff wo bleibt da die Zeit für die Erfindung dieses Stoffes? Cr ist längst fertig gewesen, ehe Markus daraus sein Evangelium machte, also zu Lebzeiten noch vieler Zeitgenoffen des angeb­ lichen Jesus: diese würden doch die Erfindung seines Lebens sofort als ungeheure Lüge entlarvt haben. Noch mehrere andere Gründe nötigen jeden wahrhaft Sachverständigen dazu, einen größeren oder geringeren iTeil des von Jesus in unsern Evangelien Erzählten für wirkliche Geschichte zu halten. Nur eine Scheinwiffenschaft bezweifelt, daß man noch Sicheres von Jesus wissen kann. Das Urteil der wahren Wissenschaft über die (Quellen des Lebens Jesu lautet anders. Sie schätzt das Matthäus-, Markus- und Lukas­ evangelium als Geschichtsquellen, aus denen sie den Lebens­ gang Jesu wenigstens in Umriffen und seine Persönlichkeit und seine predigt in ihren Grundzügen erkennen kann. Aber wohlgemerkt: nur Umrisse und Grundzüge vermag die strenge

19 Wissenschaft sicher zu wissen, und sie betont lieber, es sei nicht viel, was sie sicher wisse, als daß sie die Menge und Sicher­ heit ihres wisfens überschätzen ließe. Nachdem nunmehr das heutige wissen über das Neben­ einander von Sage und Geschichte in den Evangelien kurz dargestellt ist, soll noch ein Wort über die Stellung des Glau­ bens dazu gesagt werden. (Es gibt immer noch einen Glauben, der Gott den heiligen Geist als den eigentlichen Geschichts­ schreiber der Geschichte Jesu in den Evangelien betrachtet. Dieser Glaube hält jene Rnheilung des abgehauenen Ghres einfach deshalb für wahr, weil Gott der heilige Geist diese Wundergeschichte zwar weder dem ersten, noch dem zweiten, noch dem vierten Evangelisten, aber doch eben dem dritten Evangelisten Lukas eingegeben habe. Man ist als religiöser Mensch nicht berechtigt, diesen Glauben zu verachten, wohl aber ihn dem Absterben zu überlassen, das die Weiterentwickelung der Religion ihm langsam, aber sicher bringen wird. Ein anderer Glaube ist es, dessen Stellung zum heutigen wissen über die Evangelien uns noch interessiert. Dieser Hochschulkursus wird im dritten Vortrag nachweisen, daß in dem Selbstbewußtsein Jesu der Glaube an seine alles über­ ragende Einzigartigkeit begründet ist. Solchem Glauben kann es glaubhaft erscheinen, daß der Einzigartige auch eine ganz einzigartige Geschichte hatte, so einzigartig, daß die Wissenschaft ihre gewöhnlichen Forschungsweisen nicht darauf anwenden darf. Denn es fehle bei der eben einzigartigen Lebensgeschichte Jesu an der Gleichartigkeit des Geschehens mit allem sonstigen Geschehen, wo sich jene Forschungsweisen bewähren. Möge mit ihnen überall sonst das wirklich Geschehene erforschlich sein - in der Geschichte Jesu sei das mit ihnen Unerforschliche wirklich geschehen. Dieser Glaube an die Einzigartigkeit Jesu und seiner Geschichte ist weiter geneigt, auch die Überlieferung bieser Geschichte für einzigartig zu halten. Er glaubt zwar nicht mehr, daß Gott der heilige Geist selbst sie besorgt habe, wohl aber, daß der heilige Geist der Wahrhaftigkeit und Gewissen­ haftigkeit in den Erzählern der Geschichten von Jesus zu stark gewesen, als daß er irgend eine wesentliche Veränderung zugelassen habe. So würde z. B. Lukas jene Wunderheilung des rechten Ghres nicht erzählt haben, wenn er nicht durch gewissenhafte Nach­ forschungen festgestellt hätte, daß sie wirklich stattgefunden hatte.

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20 (Es besteht also neben dem heutigen wissen über die Evangelien ein Glaube an die Einzigartigkeit Jesu und seiner Geschichte und ihrer Erzähler: er wehrt der Geschichtsforschung, auf diesem Geschichtsgebiet so wie auf jedem anderen ver­ wandten zu verfahren und Sagenhaftes anzunehmen. Aber die Wissenschaft kann sich das nicht wehren lassen, weil sie selbst, sie als solche, jene Einzigartigkeit nicht wissen kann, was sie selbst nicht wissen kann, das gilt für sie nicht: die Wissenschaft wäre eben nicht rein, wenn sie etwa dem Glauben zuliebe jene Einzigartigkeit respektieren würde. Vie Einzigartigkeit Jesu ist nicht und wird nie Sache des wissens, sondern ist und bleibt Sache der persönlichen Glaubens­ überzeugung. Nur wenn Jesus mir persönlich Herr und Hei­ land geworden ist, kann ich auch seine Einzigartigkeit für wahr halten, besser: für wahr fühlen. Beweisen kann ich sie weder mir noch anderen. Aber ebensowenig vermag das wissen die Einzigartigkeit Jesu zu widerlegen. Die Wissenschaft selbst rechnet niemals mit ihr, aber sie kann nicht beweisen, datz an ihr gar nichts wahres sei. wie uns das Dasein Gottes, mit dem die Wissenschaft selbst niemals rechnet, als unwiderleglich gilt, ebenso die alle andern Menschen überragende Einzig­ artigkeit Jesu. wir redeten in den letzten Sätzen nicht mehr wie vorher von der Einzigartigkeit Jesu und seiner Geschichte und ihrer Überlieferung, sondern nur noch von der Einzigartigkeit Jesu selbst. (Es mutz sich nämlich jeder Christ, der als solcher an die Einzigartigkeit Jesu glaubt, ernstlich darüber besinnen, in­ wieweit er um ihretwillen auch an die Einzigartigkeit der Geschichte Jesu und ihrer Überlieferung glauben soll, hier besteht nun noch eine grotze Verschiedenheit des Hürwahrfühlens zwischen den verschiedenen Christen. (Es wird schon deutlich geworden sein, wofür dieser Hochschulkursus im all­ gemeinen eintritt: dafür, datz man nicht um der Einzigartig­ keit Jesu willen auch an eine völlige Einzigartigkeit seiner Geschichte und ihrer Überlieferung glauben mutz, an eine Einzigartigkeit, die die gewöhnlichen Forschungsweisen der Wissenschaft auf diesem Geschichtsgebiet ganz unanwendbar mache, wir treten dafür ein, datz sich der Glaube an Jesus mit dem heutigen Wissen über Sage und Geschichte in den Evangelien bis auf wenige Streitpunkte verträgt. Gott wirkte

21 das Einzigartige in der Geschichte Jesu nicht so verschwenderisch, wie die fromme Sage dichtete und der alte Glaube noch glaubt — er ging sparsamer damit um. Sagenhaftes in den Evangelien gibt, wie betont wurde, gegenwärtig wohl die gesamte wissen­ schaftliche Theologie wenigstens grundsätzlich zu. Wir unserer­ seits können uns nicht davon überzeugen, datz Gott den heili­ gen Geist der Wahrhaftigkeit und Gewissenhaftigkeit so stark über die ersten Christen ausgegossen habe, datz in ihre Ge­ schichten von Jesus gar nichts Sagenhaftes eindringen konnte. Vewutzte Erdichtungen, wie harnack dem Lukas eine vorwarf, wird man viel seltener anzunehmen haben, als datz die ur­ christliche Volksseele sich selbst manches als geschehen suggerierte, was ihr wert deuchte, geschehen zu sein. Unser Standpunkt ist also der, datz der Glaube an die einzigartige Grötze Jesu sich mit der rein wissenschaftlichen Er­ forschung seiner Lebensgeschichte bis auf wenige Streitpunkte verträgt, von diesem Standpunkt aus betrachten wir zunächst heute noch das Leben Jesu bis zu seinem öffentlichen Auftreten. Die letzten Andeutungen über die Stellung des Glaubens zur wissenschaftlichen Jesurforschung gehörten eigentlich gar nicht zum plane unseres Kursus. Denn vom Glauben sollte möglichst abgesehen und nur das Wissen dargestellt werden, das die heutige theologische Wissenschaft von Jesus und seiner predigt hat. Aber vor dieser Darstellung mutzte doch wenig­ stens der Glaube zur Selbstbesinnung darüber aufgefordert werden, ob er der ganzen wissenschaftlichen Jesusforschung feind sein oder sie nur an einzelnen Punkten überbieten müsse. Das letztere ist unser Standpunkt. Deshalb werden wir nur bei einzelnen wenigen Streitpunkten nach dem dargestellten Wissen die Glaubensansicht anzudeuten haben. Ist nun gleich der Lebensanfang Jesu einer dieser Punkte? Die Zungfrauengeburt gilt dem Wissen als Sage. Dagegen sträubt sich der Glaube noch in den meisten Lhristen. Lr hat es säwerlich nötig. Lr glaubt zwar, datz Gott zur Linzigartigieit Jesu schon in seinen allerersten Lebensanfängen den Grün) gelegt hat, wovon im vierten Vortrag die Rede sein wird, aber mutz er glauben, datz Gott das durch die Jungsrauergeburt tat? Datz die Geschichten von der Jungfrauengebuü im Matthäus- und Lukasevangelium sagenhaft sind, ist man aus vielen guten historischen Gründen fast versucht als

22 sicher zu bezeichnen, Wir vermeiden dar, weil noch keine rechte Sicherheit und Übereinstimmung darüber erreicht ist, wie man sich die Entstehung der Sage zu erklären habe. (Es mag sich nur jeder Lhrist selbst prüfen, ob aus seinem Glauben an Jesus ein herzliches Fürwahrfühlen dieser Wundertat Gottes hervorquillt. Wer es nicht spürt, der beginnt wie wir die Geschichte Jesu mit dem Satz: Jesus war der Sohn Josephs und Marias. Daß diese seine Eltern reinblütige Juden waren, darf man als ein sicheres Wissen bezeichnen. Treffend ist gesagt worden: „Die alte Legende von Jesu Erzeugung durch den heiligen Geist hatte viel mehr Sinn als die neueste Hebe von dem Jesus indoeuropäischer Haffe." Diese Hede, aus Lhamberlains „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" bekannt, hängt mit blindem Antisemitismus zusammen z. B. in Max Bewers diesjährigem Buch „Der deutsche Lhristus". Grt und Seit der Geburt Jesu stehen nicht sicher fest. (Es ist historisch wahrscheinlicher, daß Nazareth in Galiläa das Heimatstädtchen seiner Eltern und auch sein Geburtsort war, als daß man sich auf die Geschichten von seiner Geburt in Bethlehem verlaffen kann, die im Matthäus- und Lukasevan­ gelium erzählt werden. Das Geburtsjahr wird man mindestens vier bis fünf Jahre früher ansetzen muffen, als es unsere christliche Seitrechnung tut. Erledigen wir gleich hier die für das Leben Jesu mög­ lichen Settangaben. AIs sein Todestag ist neuestens der 7. April des Jahres 30 berechnet worden. Da er mindestens vier bis fünf Jahre vor dem Beginn unserer Seitrechnung geboten sein wird, wird er bei seinem Tode wenigstens ein mittlerer Drei­ ßiger gewesen sein, wie lange Jesus vor seinem Tode öffent­ lich gewirkt hatte, wiffen wir nicht, nach der wahrscheinlichsten Dermutung nur ein Jahr. Sein Leben vor seinem öffentlichen Austreten wird also mehr als dreißig Jahre umspannen. Was wiffen wir nun von ihm aus diesem Seitraum? Die Antwort: so gut wie nichts, kann zu Übertreibungen und mancherlei historischem Unfug mißbraucht werden. Allerdings wiffen wir das wenige, woran man gleich denkt, nicht einmal so sicher, wie man meist annimmt. 3. B. ob und was für ein Handwerk Jesus getrieben hat, steht nicht fest. Staat heißt er in einer Geschichte bei Markus der Simmeimann, aber das

23 Matthäusevangelium bietet in derselben Geschichte: des Zimmer­ manns Sohn. Ist nur die letztere Bezeichnung die geschichtlich richtige Überlieferung, so wissen wir nicht sicher, ob und was für ein Handwerk Jesus selbst getrieben hat. (Es ist nicht sicher, sondern nur sehr wahrscheinlich, daß man die beiden Überlieferungen als geschichtlich richtig addieren darf und an­ nehmen, daß er das Gewerbe seines Vaters Joseph ergriffen haben wird. Über war es wirklich das eines Zimmermanns? (Es sprechen gute Gründe dafür, daß die Überlieferung mit dem betreffenden Wort den Bauhandwerker meinte, der nicht bloß die Zimmerer-, sondern auch die Steinmetz- und Maurer­ arbeit machte, also die ganzen kleinen Häuser in Nazareth allein fix und fertig baute. Daß Jesus nicht bloß zimmerte, sondern ganz kleine Häuser baute, hat man „beweisen" wollen aus seinen Gleichnisreden, vor allem aus zweien in wichtigen Augenblicken seines Lebens, hat er gesagt: „Auf diesen Fels will ich bauen meine Gemeinde" und: „Brecht diesen Tempel, und am dritten Tage will ich ihn aufrichten", so habe er das aus dem Bewußtsein seines früheren Bauhandwerks heraus gesagt. Vie Bilder „bauen" und „richten", die er aus seinem früheren Berufe nehme, „bewiesen", daß er ein Bauhandwerker war. Wenn man nur vorsichtiger mit dem wort „beweisen" umgehen wollte bei den Rückschlüssen, die man von dem uns bekannten Jesus auf die uns so gut wie unbekannte Zeit seines Lebens macht. (Es lassen sich da viele blendende Ver­ mutungen machen, aber nicht gerade viele sichere Rückschlüsse. Zu jenen Vermutungen gehört auch die folgende. Be­ kannt ist von Jesus, daß er zwar die vaterliebe preist, aber die Mutterliebe unerwähnt läßt. Nur die vaterliebe ist ihm ein Gleichnis der Gottesliebe zu den Menschenkindern, während doch sein Lieblingsprophet Jesaias dazu auch die Mutterliebe heranzieht. Sollte diese Beobachtung auf die uns so unbekannte Jugendzeit Jesu das Licht werfen, daß er die stärksten Eindrücke der Liebe von seinem Vater, von Joseph her empfangen hatte? phantasieren wir nicht der Mutter Maria zuleide über das Elternhaus Jesu! Was wir über dieses noch sicher wissen, ist, daß Jesus jüngere Geschwister hatte, vier Brüder und auch Schwestern. Der Vater scheint schon tot gewesen zu sein, als Jesus Haus und Heimat um seines neuen Berufs willen verließ. Über die Besitzverhältnisse der Familie Jesu hörten wir schon,

— 24 daß später seine Großneffen Kleinbauern waren mit schwieligen Händen. Nicht anders werden Joseph und Jesus dagestanden haben. In Not und bitterer Armut lebten sie schwerlich. Venn die „Armen", die Jesus selig pries und zu denen auch er selbst sicher gehörte, waren nicht etwa nur die Besitzlosen, die von der Hand in den Mund lebten oder von Almosen; sondern wir werden im vierten Vortrag sehen, daß „die Armen" gar kein volkswirtschaftlicher, finanzieller Begriff war. Sagen wir vorläufig: es geht auf die unteren Schichten, die niederen Stände, die kleinen Leute. Der Handwerker Jesus kannte durch lebenslängliche Beobachtung aus nächster Nähe die Nöte, die Stimmungen, die guten und die schlechten Seiten der kleinen Leute. Das ist von ungeheurer Bedeutung. Schon jene Phantasie, daß Jesus mehr Vater- als Mutter­ liebe erfahren habe, streift ein wenig an historischen Unfug. Solcher wird hauptsächlich mit dilettantischen Phantasien über den Bildungsgang Jesu getrieben. Er soll womöglich in Ägypten Medizin und Magie studiert haben. Gder in einem in Deutschland weit verbreiteten buddhistischen Katechismus steht, es sei kaum zu bezweifeln, datz Jesus von seinem zwölften bis zu seinem dreißigsten Jahre ein Schüler der Buddhistenmönche war. Gegen solche Einfälle spricht nicht weniger als alles, was die wirkliche Geschichtsforschung an dem bekannten Jesus zu ersehen und für seine unbekannte Lebenszeit zu erschließen vermag. (Es ist ja selbstverständlich, daß wir über die geistige Ausbildung des Handwerkers Jesus doch einiges sicher wiffen können. Zeigt er sich in seinem uns bekannten letzten Lebens­ jahre als bibelfest, als Kenner des Alten Testaments, so wiffen wir, daß er sich diese Bibelfestigkeit früher erworben haben muß. Er muß sich mit den heiligen Schriften seines Volks durch hören und Lesen fleißig beschäftigt haben. Aber das konnte er tun ohne Studium bei den Schriftgelehrten. (Es ist ganz unwahrscheinlich, daß er eine Zeitlang die Lehrsäle der Schriftgelehrten besucht hat — Jesus war ein Laie. Aber noch etwas scheinen wir aus dem voröffentlichen Leben Jesu ganz sicher zu wissen, und zwar nicht durch Rück­ schluß, sondern durch Überlieferung: daß er einmal als zwölf­ jähriger Knabe seinen Eltern erklärt habe, der Tempel, „das Haus seines Vaters", sei doch selbstverständlich der Grt in

25 Jerusalem, wo er zu finden sei, wenn man ihn vermisse. (Es ist schmerzlich, einräumen zu müssen, daß die Geschichtlichkeit dieser Erzählung des Lukas nicht ganz sicher heißen kann. Aber sie mutz auch nicht ganz bezweifelt werden: es mag eine wirkliche Erinnerung an ein überraschendes Vorkommnis aus der Rindheit Jesu zugrunde liegen. Ja, sogar wenn die ganze Geschichte nur eine Legende wäre — was sie also nicht sein muß - hätte sie geschichtlichen Wert: sie spiegelt den Charakter Jesu ab, wie er sich in der Erinnerung seiner Jünger ein­ geprägt hatte. Sie halten Jesus als den Mann erlebt, dessen kindheitliche Existenz bereits ganz auf Gottesgemeinschaft be­ ruht und hingedrängt haben mußte. Wir haben später noch von Jesu lebenslänglicher Gottinnigkeit zu reden. Es war wohl im Jahre 28, als der Handwerker Jesus in Nazareth durch das Auftreten Johannes' des Täufers in die größte Erregung versetzt wurde. Vieser predigte: „Rehrt um!" Er begründete diese Bußpredigt mit der Nähe des kommenden Zornes Gottes, seines Gerichtes. Daß er auch die Vorstellung des Reiches Gottes in seiner drohenden Bußpredigt verwandt hat, ist nicht sicher. Er wies auf einen nach ihm Rammenden hin, der stärker als er sei und über ihn hocherhaben: der Zeuertäufer, der Heuerrichter, der seine Tenne fegen wird und die Spreu verbrennen. Jesus glaubte an Johannes als einen Boten Gottes; sein Auftreten galt ihm als ein werk „vom Himmel". Niemand kann wissen, wie dieser Glaube Jesu innerlich begründet war, ob er selber auch schon an die Nähe des Weitendes zu glauben gelernt hatte. Wie Tausende zu Johannes pilgerten, so wan­ derte auch Jesus zu ihm an den Jordan und ließ auch die Taufe als ein werk vom Himmel an sich vollziehen. Näheres über seine Stimmung und Absicht dabei wissen wir nicht. Daß er damit kein Sündenbekenntnis ablegen wollte, werden wir später wahrscheinlich zu machen versuchen. Nach den Evangelien beginnt mit dieser Taufe die neue Periode im Leben Jesu: er erlebte etwas dabei, was ihn zu seinem öffentlichen Auftreten zwang, wir wollen mit dem epochemachenden Erlebnis heute schließen und das nächste Mal wieder damit beginnen, indem wir fragen: worin bestand es? Nur ein wort ist heute noch am Platze, ein wort darüber, daß Lieblingsgeschichten der Christenheit übergangen werden mußten,

26 weil sie viel wahrscheinlicher ungeschichtlich als geschichtlich sind: die Weihnachtsgeschichte, die Geschichten von der Anbetung der Weisen aus dem Morgenlande, der Flucht nach Ägypten usw. Kein Christ ist zu beneiden, dem die Unsicherheit dieser Ge­ schichten nicht Schmerzen macht. (Er spielt den Christen von übermorgen, heute sind solche Schmerzen noch an der Zeit. Denn das heute ist eine schmerzensreiche Übergangszeit zwischen dem Christentum als Buchreligion und einer höheren Stufe des Christentums, die wir mehr nur ahnen als schon recht kennen, weil sie im Bibelbuch steht, hielt man früher die Weihnachts­ geschichte für wahr. Seit zwei Jahrhunderten ist der Glaube an das Bibelbuch im Schwinden begriffen. Der Glaube an Jesus macht sich frei davon. Der Christ, aus desien Glauben an Jesus noch ein herzliches Fürwahrfühlen der weihnachtsgeschichte hervorquillt, mag froh sein. Wer es nicht mehr spürt, mag hoffen, daß die Ururenkel es gar nicht mehr entbehren und doch gute Christen sein werden.

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2.

Das Leben Jesu nach seinem öffentlichen Auftreten. Seme ttrankenheilungen. Vie Taufe Jesu durch Johannes den Täufer bildet den Wendepunkt, der sein Leben in zwei sehr ungleiche Abschnitte teilt. Nach mehr als dreißigjährigem Privatleben begann er sein öffentliches wirken und Kämpfen, das ihm wahrscheinlich schon nach einem Jahre den Tod brachte. Vas Werk des Täufers galt Jesus als ein Werk „vom Himmel", d. h. als ein von Gott selbst veranstaltetes werk hat er das Unternehmen des vußpredigers und Täufers begrüßt. Als er, an den Jordan gepilgert, die große Erregung der Hörer und Täuflinge des gewaltigen Gottesboten mit durch­ lebte, da erlebte er selbst etwas ganz vesonderes, für ihn Ungeheures. Die älteste Überlieferung darüber erzählte wahr­ scheinlich, daß Jesus bei seiner Taufe sah, wie der Himmel sich spaltete und der Geist wie eine Taube in ihn herabkam und eine Stimme aus dem Himmel kam: Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt. was wird hier erzählt? Daß Jesus ein Gesicht, eine Vision gehabt habe. Dem modernen Menschen fallen an ihr vor allem auf die antiken Vorstellungen vom sichtbaren Himmel droben als dem Grt, wo Gott ist. Als das wichtigste, was ge­ schehen, gilt der Erzählung offenbar, daß Jesus den Geist Gottes bekam, und erfuhr, daß er Gottes Sohn sei. Aber diese Wir­ kungen Gottes auf Jesus, daß er ihm seinen Geist und Auf­ schluß über sich selbst gab, sollen von einer Gesichts- und einer Gehörswahrnehmung Jesu begleitet gewesen sein. Diese werden beschrieben gemäß jenen antiken Vorstellungen, die ja Jesus selbst gehabt hatte und ebenso die Erzähler seiner Vision hatten. Dabei gelten aber den Erzählern die Wahrnehmungen

- 28 Jesu nicht etwa als reine Sinnestäuschungen, sondern mindestens als gewirkt durch Einwirkungen Gottes auf die Sinne Jesu doch wir können nicht näher auf die urchristlichen Auffassungen von Visionen eingehen. Cs fragt sich vielmehr, was überhaupt an der Über­ lieferung von einem besonderen Erlebnis Jesu bei seiner Taufe geschichtlich ist. Als Legende betrachten sie einige nicht un­ besonnene Forscher, aber die Mehrheit urteilt anders. Mir unsererseits möchten als geschichtlich mindestens festhalten, daß Jesus, wie er später selbst erzählt haben muh, bei seiner Taufe in einer Vision des inne wurde, was er war. In einer Vision! Visionen gehören zur Religiosität der meisten religiösen Führer. Es fragt sich nur immer, ob Gott sie gewirkt, ob sie eine Form seiner Offenbarung sind. Sollen wir Jesus glauben, daß seine Taufvision eine Offenbarung war, durch die er von Gott Aufschluß über sich selbst erhielt? wir bestimmten im ersten Vortrag unsern Standpunkt dahin, daß der Glaube an die einzigartige Gröhe Jesu sich mit der rein wissenschaftlichen Erforschung seiner Lebensgeschichte bis auf wenige Streitpunkte verträgt. Ein solcher Streitpunkt ist die Angabe Jesu, daß er in der Taufvision des inne geworden, was er sei. Vie reine Wissenschaft, die weder mit Jesu Einzigartigkeit noch mit Gott und seinem Dffenbarungswirken rechnet, reduziert die Angabe Jesu darauf, dah die gewaltige religiöse Begeisterung der Tauf­ stunde in seiner urfrommen Seele sein erhabenes Selbstbewußt­ sein entzündet habe, nicht ohne dah damit eine zur Vision gesteigerte Sinneserregung verbunden war. Die reine Wissen­ schaft Kennt nur Religion und Religiosität, die ja in ihren Steigerungen zu ganz außerordentlichen Erscheinungen führen können. Aber Religion und Religiosität sind etwas Mensch­ liches, gehören zur Welt, außer der es für die Wissenschaft überhaupt nichts gibt. Rur der Glaube kennt einen über­ weltlichen Gott und kennt dessen Dffenbarungswirken auf die Menschen als Ursache ihrer Religion. Und wer die persönliche Glaubensüberzeugung von der Einzigartigkeit Jesu hat, der findet es glaubhaft, daß Jesus Aufschluß über seine Einzig­ artigkeit von Gott selbst erhielt durch ein besonderes Dffen­ barungswirken in seiner Seele. Vas wissen erklärt das Tauferlebnis Jesu ohne Gott und ohne Wunder. Für das wissen kann nur der Glaube Jesu, daß damals an ihm ein

29 Wunder geschehen, eine geschichtliche Tatsache sein, aber nie wird die Tatsächlichkeit des Wunders selbst ein Gegenstand der wissens. 3m Unterschied vom Wissen hält der Glaube dafür, Jesus habe durch Gottes wunderbares 3nnewirken in seiner Seele eine Offenbarung über sich selbst erhalten. War nun diese Offenbarung vermittelt durch eine Vision, so war diese Vision eben angeregt durch jenes 3nnewirken Gottes: es war eine sogenannte objektive Vision. Man versteht darunter in der Theologie eine Vision, die nicht nur im religiösen Subjekt ihre Ursache hat, sondern durch Gottes wirken angeregt ist. was nun eigentlich Jesus in seiner Taufvision wahrgenommen hatmuß das dem Glauben genau bekannt sein? (Es ist ja z. B. gut möglich, daß er in dem Moment, wo seine Gottessohnschaft ihm von Gott klargemacht wurde, wie aus dem Himmel den ihm altvertrauten Psalmvers hörte: Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt. Der Gläubige brauchte sich nicht zu scheuen, dies eine Sinnestäuschung Jesu zu nennen, wenn er nur den Glauben Jesu nicht für eine Selbsttäuschung hält, daß Gott selbst ihm damals seine Gottessohnschaft wunderbar klarmachte. Sehen wir nun wieder vom Glauben ab, so können wir es als historisch sehr wahrscheinlich bezeichnen, daß in Jesus bei seiner Taufe das Selbstbewußtsein durchbrach, er sei der einzigartige Sohn Gottes. Dieses Selbstbewußtsein wird laut des Programms im nächsten Vortrag behandelt werden, wo auch die übrigen Inhalte des Selbstbewußtseins Jesu an die Reihe kommen werden. Dahinter erst ließe sich die Frage recht anfassen, ob Jesu Selbstbewußtsein von seiner Taufe ab gleich nach allen Seiten hin fertig ausgebildet war. Wir halten es im allgemeinen für richtig, diese Frage zu bejahen: Jesus wird in der Taufepoche sein ganzes Selbstbewußtsein gewonnen haben. HIs zu unsicher lassen wir also die jetzt nicht seltene Annahme beiseite, daß er seine höchsten Ansprüche erst ganz am (Ende seiner neuen Laufbahn erhoben habe. Kann man von der Erzählung von der Himmelsstimme: „Du bist mein Sohn" fest­ halten, daß damals Jesu Selbstbewußtsein durchbrach, er sei der einzigartige Sohn Gottes, so kann man auf Grund der predigt Johannes' des Täufers noch etwas Weiteres über Jesu damaliges Selbstbewußtsein behaupten. Der große Johannes

30 weissagte einen nach ihm Kommenden, der größer als er sei und über ihn hocherhaben: der Feuertäufer, der Feuerrichter. Er meinte damit den Messias. Diese Weissagung muß doch auch Jesus gehört haben, und auf sie muß sich das Selbst­ bewußtsein mit bezogen haben, zu dem er sich durch die Tauf­ vision erhöht glaubte. Der einzigartige Sohn Gottes — nie­ mand anders als dieser kann zum Messias berufen sein, dessen Kommen Gott durch Johannes weissagen läßt. So mußte Jesus über sich zu denken lernen. (Es bildete sich in der Taufzeit nicht nur sein einzigartiges Sohnesbewußtsein aus, sondern auch ein gewisses Messiasbewußtsein. 3n der Epoche, in der Zeit seiner Taufe, so drückten wir uns jetzt aus, habe Jesus sein ganzes Selbstbewußtsein ge­ wonnen. Die älteste Überlieferung verlegte die Vision in den Moment, wo er nach vollzogener Taufe aus dem Fluß heraus­ stieg. Natürlich war die visionäre Entdeckung seiner eigenen Größe ein momentanes Erlebnis. Über selbstverständlich ist auch, daß Jesus das Geschaute dann nach und nach durch­ dachte, es tagelang, wochenlang mit seiner Überlegung und Selbstbesinnung und seinem Gebet durchdrang. Diese Zeit der Selbstbesinnung nach der Taufe meinen wir auch mit, wenn wir von der Taufzeit reden, in der Jesus sein ganzes Selbst­ bewußtsein gewonnen habe. Man könnte statt Taufzeit etwa auch Versuchungszeit sagen. Auf die Taufgeschichte folgt bekanntlich in den Evangelien die Versuchungsgeschichte. 3n ihr Sagenhaftes anzuerkennen, fällt dem Glauben wohl nicht schwer. Die geschichtliche Grund­ lage der Versuchungsgeschichte sind wahrscheinlich eigene An­ deutungen Jesu, die er seinen Jüngern über den Sturm und Kampf seiner Gedanken und Gefühle in jener Zeit der Selbst­ besinnung gemacht hatte. Die meisten Forscher sehen ein, wie psychologisch verständlich es ist, daß Jesus sein großes Tauferlebnis nachher mehrere Wochen lang in der Einsamkeit erst hat verarbeiten und mit allerhand Bedenken ausgleichen müsien. Als das Hauptergebnis der Selbstbesinnung Jesu muß betrachtet werden, daß er den göttlichen Aufschluß über sich selbst als göttlichen Zwang erkannte, ein neues Lebenswerk zu beginnen, im Namen Gottes öffentlich als der aufoutreten, als den er sich kennen gelernt hatte: als der zum Messias

31 berufene Sohn Gottes. Aber was hatte er nun als solcher zu tun und zu wirken? worin bestand sein neues Lebenswerk? Auch hierüber muß er damals Rlarheit gewonnen haben: wie über seine Person, so über seine nächsten Berufsaufgaben, was wir ihn alsbald tun und wirken sehen, das hatte er als den Gottes- und Menschendienst erkannt, der dem Sohn Gottes zunächst obliege, was tat er denn? Er trat als wandernder Volkslehrer in Galiläa auf und predigte: Rehrt um! denn das Himmelreich ist nahe herbei­ gekommen. Vie Hauptsache war, daß und wie Jesus das Reich Gottes - seine Nähe - ankündigte, wir werden uns im vierten Vortrag mit seiner Reichspredigt zu beschäftigen haben. Zwar hatte auch Johannes der Täufer seinen Ruf: Rehrt um! mit der Nähe der Lndzeit begründet, aber die Idee des Gottes­ reiches hat er wahrscheinlich noch nicht dabei verwendet. Jeden­ falls erfährt diese Idee in Jesu predigt eine ganz andere Ver­ wendung. Infolgedessen bekam auch der alte Prophetenruf: Rehrt um! eine noch nie dagewesene Geltung. Ihn wiederholte ja auch Jesus noch einmal, aber eben unter ganz neuen Be­ dingungen. Wozu man umkehren müsse, um ins Gottesreich zu kommen, das lehrte er in seiner ernsten Sittenpredigt, die im fünften und sechsten Vortrag behandelt werden soll. C§ wird wohl nicht lange nach Beginn seiner Predigt­ tätigkeit gewesen sein, daß Jesus den wichtigen Schritt tat, eine Jüngerschar um sich zu sammeln, die bei seinen Predigt­ reisen dauernd sein Gefolge war, ihm „nachfolgte". Daß es gerade zwölf Jünger waren, ist nicht absolut sicher; aber es wird doch geschichtlich sein und Jesu Absehen auf sein zwölfftämmiges Volk ausdrücken. Die Zwölfe waren wie er selbst kleine Leute, meist Handwerker, unstudiert. Besitzlos waren auch sie nicht, hatten aber, um Jesus nachzufolgen, alles ver­ lassen und lebten mit ihm in freiwilliger Armut. Diese Schüler, bie alle predigten des neuen Volkslehrers mit anhörten, erzog sich dieser zu seinen Mitarbeitern am Volke, wie er sie denn auch einmal, um sein Werk zu fördern, zum predigen ausgesendet hat. Venn das Werk Jesu war groß: er wollte das ganze Volk Israel durch Bekehrung zurüsten für das nahe Gottes­ reich. Run hatte er aber beobachtet, daß die Bekehrungs­ predigt Johannes' des Täufers zwar bei den „Zöllnern und

32 — Sündern" Erfolg hatte, aber nicht bei den Leitern des Volks. Diesen, voran den Pharisäern, den Extrafrommen, hatte es in ihrer Selbstgerechtigkeit beleidigend gedünkt, daß man ihnen predigte: Rehrt um! So tat es Jesus erst recht. Er richtete auch nach oben die Drohungen, die zu seiner Reichspredigt gehörten. Und wie trat er nach unten zu auf, den kleinen Leuten, den Zöllnern und Sündern,, den .Armen gegenüber? Nicht daß er ihnen sein Rehrt um! und sein Drohen mit dem nahen Reich ganz erspart hätte! Denn er kannte, wie wir das vorige Mal sagten, durch lebenslängliche Beobachtung aus nächster Nähe die schlechten Seiten der kleinen Leute. Aber er kannte auch ihre guten Seiten und all ihre Nöte und all ihre verzagten und getrosten Stimmungen. Was tat er darum? Er predigte den Armen die frohe Botschaft, daß ihrer das Himmelreich sei. Und nun hat sich Jesus gerade, sofern er als Armen­ prediger wirkte, als der zum Messias berufene Sohn Gottes gefühlt. Wir sagten vorhin: Jesus sah sich von Gott ge­ zwungen, in seinem Namen öffentlich als der aufzutreten, als den er sich kennen gelernt hatte: als der zum Messias berufene Sohn Gottes. Nicht als ob er sich selbst öffentlich als solchen proklamiert hätte! Aber zwischen ihm und seinen Jüngern wird es ein offenes Geheimnis gewesen sein, daß er und nie­ mand anders zum Messias berufen sei. Die Gewähr dafür hatte er an seinem Tauferlebnis, an seinen Rrankenheilungen und an seiner Armenpredigt. Inwiefern an seinen Rranken­ heilungen, werden wir später sehen. Inwiefern an seiner Armenpredigt? Sein Wirken für die Armen deuchte dem Sohn Gottes schon etwas Messianisches zu sein. Er fühlte sich von Gott ermächtigt, die Armen froh zu machen durch die Bot­ schaft: Euer ist das nahe Himmelreich. Diese Zusage des Reichs an die Armen war ein Vorspiel dessen, was der Prophet Jesaias vom Messias geweissagt hatte: er werde den Armen Recht verschaffen. Ja, wer die Armen selig preisen darf, weil ihrer das Himmelreich ist, der darf sich zum Messias berufen fühlen. Nach diesen Angaben über die Grundzüge des öffentlichen Wirkens Jesu mutz nun weiter über seinen Erfolg berichtet werden. Markus deutet ihn an in den Worten: „er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie die Schrift-

33 gelehrten"; man habe ausgerufen: „eine neue Lehre aus Voll­ macht". Also man hatte bei der predigt Jesu den Eindruck, eine göttliche Offenbarung zu erleben. Deshalb stellte man ihn, den Laien, hoch über die zünftigen Schriftgelehrten — man glaubte, daß er ein Prophet sei, ja manche hielten ihn für mehr als einen Propheten wie andere Propheten. Besonders daß er seine „neue Lehre aus Vollmacht" den „Armen" pre­ digte und diese nicht mit dem Hochmut der Schristgelehrten behandelte, wurde als das Neue an dem Lehrer aus Nazareth teils geliebt, teils gehaßt - „geliebt" von denjenigen, welche er dadurch erquickte, den Armen und Niedrigen, die seine mitleidige Liebe zu ihnen spürten, an denen er ein Heilands­ werk vollbrachte. Gehaßt wurde der Armenprediger von Galiläa sehr bald von den bisherigen Volkslehrern, den Schriftgelehrten, und von der Pharisäerpartei, mit der sie verwachsen waren. Venn Jesus scheute sich eben nicht, mit seiner Bußpredigt gegen ihre Selbstgerechtigkeit aufzutreten, mit seiner Sittenpredigt ihre vermeintliche Musterfrömmigkeit zu entwerten, mit seiner Reichs­ predigt an die Armen ihre ganze Position im Volke zu stürzen, historisch wissen wir, daß Jesus nicht der erste fromme Jude war, der die Erzlaster des Pharisäismus, Hochmut, Herrschsucht, Heuchelei, entdeckte. Cr mag an schon laut gewordene Kritik des pharisäischen Wesens angeknüpft haben. Aber er übte eine sehr viel wuchtigere und schonungslosere Kritik, die zu einem tödlichen Konflikt führte. Vie bisherigen Hüter der Religion wurden seine Todfeinde. Sie hetzten das Volk gegen ihn auf mit Schimpfwörtern wie „Fresser und Weinsäufer", mit der Lästerung, er sei ganz vom Teufel besessen. Schließ­ lich haben sie ihn ans Kreuz gebracht. Johannes der Täufer war auch hingerichtet worden. Dies hatte der Landesherr Jesu verbrochen, der Vierfürst herodes von Galiläa. Cr trachtete auch Jesus nach dem Leben. Als dieser davon erfuhr, sprach er: „Geht und sagt jenem Fuchs" — er meint wohl, was wir „Bluthund" nennen: er hat die Menschen und Dinge immer beim rechten Namen genannt. Cr läßt herodes sagen, daß er sich durch ihn nicht verscheuchen lasse, sondern sein Wirken vorderhand ruhig fortsetze; aber allerdings werde er demnächst aufbrechen; denn es gehe nicht, «daß ein Prophet außerhalb Jerusalems sterbe. Indem Jesus Thieme, Jesus und seine predigt. 3

34 das Morden der Propheten Jerusalem reserviert, deutet er an, was er schon auf Grund der geschichtlichen Erfahrung voraussieht: daß auch er dem Prophetenschicksal nicht entgehen werde. Warum ist Jesus nach Jerusalem gezogen, in den Rachen seiner Todfeinde? Man hat geantwortet: nicht um sich kreuzigen zu lassen, sondern um eine Schlacht zu schlagen in der Hoch­ burg seiner Gegner: „wer sie erstürmte, hatte das Volk in seiner Hand". Dos ist nicht etwa die einzig wissenschaftliche Antwort. Aber keine der wissenschaftlich möglichen Antworten kann heranreichen an eine Antwort des Glaubens wie die: Jesus zog nach Jerusalem, auf daß er mich mit seinem un­ schuldigen Leiden und Sterben erlöse, erwürbe und gewönne von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels. Nur mutz die Wissenschaft nicht meinen, Jesus könne nicht an die Heilsnotwendigkeit davon geglaubt haben, datz auch er stürbe, vielmehr: datz gerade er stürbe — er, der zum Messias berufene Sohn Gottes. Leider ist unser Wissen von Jesu Ge­ danken über seinen Tod recht unsicher; z. B. bei den Worten, er sei gekommen, datz er sein Leben gebe zu einer Erlösung für viele, ist es unsicher, ob sie auf den Tod Jesu gehen, ja ob er sie überhaupt gesprochen hat. Beim Einzug Jesu in Jerusalem haben seine Anhänger unter den galiläischen Festpilgern ihm begeistert zugejubelt ob aber in der Erwartung, er werde jetzt das Reich Davids aufrichten? Auch Jesu eigene Gedanken dabei lassen sich nicht mehr seststellen. Er scheint sich jedenfalls sehr zurückhaltend benommen zu haben, denn der Einzug war kein Gegenstand der Anklage vor Pontius Pilatus. Ein historisch feinfühliger moderner Philosoph, Dilthey in Berlin, hat einmal geschrieben: „In dem grötzten Moment der menschlichen Geschichte, als Ehristus in Jerusalem einzog" usw. Das wäre wohl übertrieben, wenn nicht auch die Tage bis zum Rarfreitag mitgemeint wären. Die Ereignisse dieser Tage sind das Bekannteste im Leben Jesu, „wir ziehen einen Schleier über diese Leiden", um mit Goethe zu reden, und suchen nur noch zweierlei festzustellen. Erstens wegen welches verbrechens ist denn Jesus zum Tode verurteilt worden? Als er vor dem obersten jüdischen Gerichtshof, dem Synedrium, vom Hohenpriester verhört wurde, bejahte er die Frage, ob er der Messias sei. war das die

35 Gotteslästerung, deren Jesus schuldig befunden werden mußte, um zum Tode verurteilt werden zu können? viele Forscher behaupten neuerdings, der Anspruch, der Messias zu sein, könne nicht als todeswürdige Gotteslästerung im juristischen Sinne gegolten haben. Diese Forscher nehmen dann als Rechts­ grund des Todesurteils die Tempellästerung Jesu an. (Er hatte nämlich in den letzten Tagen geweissagt, daß von dem Tempel Gottes kein Stein auf dem andern bleiben werde. Meiner Meinung nach mutz man die Annahme, datz der Messias­ anspruch Jesus den Tod brachte, und die andere, datz die Tempellästerung ihm den Tod brachte, miteinander folgender­ maßen kombinieren. Für das Synedrium war Jesus schon vor dem Prozeß gerichtet wegen seines Auftretens gegen das Gesetz in der pharisäischen Auslegung und gegen den hoch­ heiligen Tempel. Und im Prozeß selbst wurde festgestellt, datz dieser offenkundige Religionsfrevler es wagte, die heiligsten Erwartungen, die Messiashoffnungen, für sich in Anspruch zu nehmen: damit wurden sie gotteslästerlich entweiht. Der Messiasanspruch an sich mag kein todeswürdiges verbrechen ge­ wesen sein — aber der Messiasanspruch eines Tempellästerers war nach jüdischen Richterbegriffen Gotteslästerung. Die Todesstrafe durfte allein der römische Prokurator vollstrecken lassen, vor ihm kam der Messiasanspruch natür­ lich nicht als Religionsvergehen, sondern als politisches ver­ brechen in Betracht. Pilatus ließ die Todesstrafe an dem Galiläer vollstrecken, weil er die politische Befreiung der Juden von der römischen Herrschaft angestrebt habe. Darauf geht doch auch die Aufschrift am Rreuz: „Der Honig der Juden". Zweitens möchte man wissen, wie denn Jesus seinen Unter­ gang innerlich ertragen konnte. Der historische Unfug ist natürlich nicht ausgeblieben, aus seinem Ausruf am Rreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" beweisen zu wollen, datz er ganz zusammengebrochen sei und sein Werk als gescheitert, als von Gott preisgegeben betrachtet habe. Es gibt überlieferungsgeschichtliche Gründe dafür, daß Jesus diesen Rus überhaupt nicht ausgestoßen hat. Anderseits sieht er wie ein Stück jenes „historischen Granits" aus, von dem wir im ersten Vortrag sprachen: der Aufschrei sieht nicht danach aus, datz man ihn Jesus in den Mund zu legen ge­ wagt hätte, weil er zu verzweiflungsvoll klingt. Rechnen wir 3*

36 also einmal mit der Geschichtlichkeit des Ausrufs, so genügt die alte Erklärung, daß er, ein Zitat des Anfangs von Psalm 22, diesen ganzen Psalm zu Jesu Sterbegebet erhebe: Jesus wird den ganzen Psalm, der mit dem Bekenntnis festen Gottvertrauens schließt, zum Trost in seiner Todesnot sich vor­ gehalten haben. Kraft seines festen Gottvertrauens konnte er seinen Untergang innerlich ertragen. Venn worauf vertraute er? Daß Gott ihn durch den Untergang seines irdischen Wesens gerade zu dem machen werde, wozu er ihn berufen hatte: zum Messias. Das irdische Leben Jesu von Nazareth endete wahrschein­ lich am 7. April 30. Damit endet auch das wissen von ihm. höchstens kann das wissen zu seinem Leben eine Wirkung seiner Persönlichkeit noch mit hinzurechnen, die von ihr in kürzester Frist nach dem Tode ausging: es ist der Glaube seiner Jünger an seine Auferstehung. Für die Wissenschaft ist dieser Glaube eine Wirkung, eine sofortige Nachwirkung des irdischen Jesus: so außerordentlich war der Eindruck, den er auf seine Jünger gemacht hatte, daß sie in kürzester Frist zu dem Glauben kamen: der Meister lebt, er ist geworden, was er war: der Messias, wir stehen ja hier bei einem der be­ rühmtesten Streitpunkte zwischen wissen und Glauben. (Es braucht darauf nur früher Betontes angewandt zu werden. Die Auferstehung Jesu ist nicht und wird nie Sache des wissens, sondern ist und bleibt Sache der persönlichen Glaubensüber­ zeugung. Nur wenn Jesus mir persönlich Herr und Heiland geworden ist, kann ich persönlich seine Auferstehung fürwahr­ fühlen. Jesus gewinnt aber mich persönlich zu eigen durch seine irdische Herrlichkeit, wie sie in den Evangelien leuchtet und aus den Evangelien heraus mich persönlich bezwingt. Beweisen kann ich noch weniger seine himmlische Herrlichkeit. Aber ebensowenig vermag das wissen zu widerlegen, was ich glaube. Die Wissenschaft selbst rechnet niemals mit der Auf­ erstehung Jesu, aber sie kann nicht beweisen, daß an ihr gar nichts Wahres sei. Nachdem wir nunmehr das Leben Jesu zu Ende betrachtet haben, unterziehen wir programmgemäß eine Seite seines öffent­ lichen wirkens, seine Krankenheilungen, einer wissenschaftlichen Sonderbesprechung. Sie sind ja auch eine der wenigen Streit­ fragen, wo wissen und Glauben sich nicht ganz vertragen, wo

- 37 der Glaube meines Erachtens die rein wissenschaftliche Jesus­ forschung an einem genau zu bezeichnenden Punkte über­ bieten mutz. (Es fällt dieser Forschung nicht ein, zu bestreiten, daß Jesus außerordentliche Krankenheilungen gelungen sind, wie stellt sie sich aber zu der ganzen Überlieferung von einer solchen ärztlichen Tätigkeit Jesu? was die vorhandenen Krankheits- und Heilungsberichte anbelangt, so sind sie ja nicht von der Irrtumslosigkeit (Bottes des heiligen Geistes verfaßt, sondern sie stammen von Men­ schen mit bestimmten medizinischen Annahmen, die wohl nie­ mand mehr von vornherein für irrtumslos hält, von be­ stimmten medizinischen Annahmen sind die Kranken, der Arzt, die Zeugen der Krankheit und Heilung, die Weitererzähler und endlich die Evangelisten beherrscht. (Es scheint bemerkens­ wert, daß der Evangelist Lukas ein Arzt war, und zwar nicht ein jüdischer, sondern ein griechischer. Vie griechischen Arzte jener Zeit waren unendlich viel weiter in der Erkenntnis des Wesens der Krankheiten und in den Methoden der Heilung. Lukas war mit der medizinischen Fachsprache und den medi­ zinischen Theorien gut vertraut; er korrigierte in die ihm überlieferten Heilungsgeschichten medizinische Kunstausdrücke hinein. Man muß aber nicht etwa annehmen, daß er die einzelnen Fälle etwa durch Befragung der Geheilten neu unter­ sucht hätte, und vor allem ist gegen ihn einzuwenden, daß gerade er sich in abergläubischem Wunderglauben besonders groß zeigt. . Nicht immer müssen übrigens irrtümliche medizinische An­ nahmen die Krankheits- und Heilungsberichte für uns ganz wertlos machen. Vie Symptome können richtig beobachtet und beschrieben und nur falsch gedeutet sein. Sehr schwierig ist für uns aber oft die Deutung der Angaben, heißt es z. B. von dem kranken Knaben Mark. 9, der Dämon, von dem er be­ sessen sei, habe ihn oft bald ins Feuer, bald ins Wasser ge­ stürzt, so kann das auf epileptische Zufälle gehen, bei denen der Kranke einmal ins Feuer und einmal ins Wasser gefallen war, oder es kann auch heftiges Fieber gemeint sein, bei dem der Körper bald wie Feuer glüht, bald Schüttelftost hat. Da wir also heute keinen einzigen Fall mehr sicher diagnosieren können, kann auch bei keinem sicher gesagt werden, ob eine

38 natürliche Erklärung der Heilung ausgeschlossen erscheint oder nicht. Und was kann man denn über dauernde Heilerfolge wissen, die Jesus erzielte? wurden die Geheilten fortgesetzt beobachtet? handelte es sich etwa meist nur um vorübergehende Besserung? Über eine völlige Heilung Kann den Berichten meist nichts entnommen werden, aber sie gilt den Bericht­ erstattern als selbstverständlich. von den medizinischen Annahmen, die uns in den Evan­ gelien begegnen, ist die wichtigste die der dämonischen Besessen­ heit. Danach gibt es Menschen, die besessen sind von Dämonen. Das sind persönlich gedachte Geister, übermenschliche, den Ge­ setzen der wahrnehmbaren Welt nicht unterworfene Wesen. Sie gehören zu dem widergöttlichen Reich des Teufels, der ihr (Oberster ist. Sie fahren am liebsten in einen Menschen hinein und bewohnen ihn wie ein Haus. 3n welcher Gestalt? Vas ist nicht sicher zu beantworten. 3n der (Offenbarung Johannis (16, 13) kommen unreine Geister vor, die Gestalten wie Frösche haben und aus dem Munde ausfahren. von welchen Menschen nahm man nun an, daß sie be­ sessen seien? hier ist stark zu betonen, daß die Annahme der Besessenheit durchaus keine Verurteilung des sittlichen Charak­ ters des Besessenen ist. (Es werden damit nicht religiös-sittliche Defekte und Verirrungen in ursächlichen Zusammenhang ge­ bracht. Vie Meinung ist weder, daß Sünden Besessenheit ver­ ursachen, noch daß Sünden durch Besessenheit verursacht werden. Besessenheit wird nicht bei sündigen, sondern bei gewissen geistig und leiblich kranken Menschen angenommen. (Es wurde keineswegs bloß Geisteskrankheit für Besessenheit gehalten. Allerdings legten am meisten gewisse geistige Störungen die Annahme der Besessenheit nahe, nämlich solche Bewußtseins­ störungen, wobei das Denken und handeln dermaßen verändert ist, daß es durch eine fremde Macht getrieben zu sein scheint, voran stehen unter den auf Besessenheit gedeuteten Zuständen tobsüchtige Erregungszustände, dann absonderliche Lebensgewohn­ heiten, dann Störungen des 3chbewußtseins. Wo nämlich die Vorstellung herrscht, daß es Besessenheit gibt, da befällt gewisse Rranke selbst der Besessenheitswahnsinn und ihr 3chbewußtfein wird mehr oder weniger gespalten: es tritt Verdoppelung des Bewußtseins ein: der Rranke unterscheidet sich oft oder beständig nicht mehr vom Dämon, sondern redet, als ob er

39 selbst der Dämon wäre. Alle diese Zustande, Tobsucht, ab­ sonderliche Lebensgewohnheiten, Voppelbewußtsein zeigt das lehrreiche Krankheitsbild des besessenen Geraseners, das Mark. 5 gezeichnet ist. Außer diesen Zuständen wurden noch folgende andere auf Besessenheit gedeutet: krampfartige Anfälle und gewisse auffallende, unheimliche Funktionsstörungen: der Sinnes­ organe, der Sprache, des Bewegungsapparates, durch Läh­ mungen usw. Als Besessenheit wird alles gedeutet, was den Eindruck der gebundenen, im geistigen Verkehr gehemmten Persönlichkeit gewährt. was die Verbreitung der Besessenheitsidee anbetrifft, so war sie nicht etwa bloß jüdisch, sondern gehörte zur orien­ talischen Weltanschauung seit Jahrtausenden. Im Zeitalter Jesu war sie auch im Hellenismus weit verbreitet. Also ist nicht etwa das Christentum allein schuld an ihrer Verbreitung in Europa. Aber die Stellung Jesu Christi zu der Besessenheitsidee ist ein schweres Problem. Ist es nicht etwas Kllzumenschliches an ihm, daß er auch diese menschliche Idee teilte, über die griechische ürzte wie hippokrates schon hinaus waren? Daß er sie wirklich geteilt hat, steht fest, wo vermeintlich Besessene ihm nahen, behandelt auch er sie als solche ohne neue medi­ zinische Gesichtspunkte. Er redet die Dämonen energisch an als wirkliche, ihm gegenüberstehende Personen. Man hat zwar dieses Verhalten Jesu als bloße Anbequemung an die volks­ tümliche Vorstellung beurteilt; er habe die vermeintliche Be­ sessenheit richtig als natürliche Krankheit erkannt und sich nur aus verschiedenen Gründen davon nichts merken lassen. Aber gegen diese Anpassungstheorie entscheidet am meisten das Gleich­ nis vom Rückfall bei Matthäus 12, 43 ff. Jesus wählt hier als Gleichnis einen Vorgang nicht aus dem Menschenleben, sondern aus dem Geisterreich. Man sieht daraus, daß das Aus- und Einfahren der Dämonen in Menschen für ihn genau soviel Wirklichkeit hat wie etwa das Arbeiten der Sklaven. Die Anbequemungstheorie hat die Absicht, die Autorität Jesu neben der Autorität der Wissenschaft festzuhalten, die ja die Besessenheitsidee für Aberglauben erklärt, wir werden die heutige medizinische Erklärung jener Krankheiten gleich kennen lernen? Aber darf sich denn der echte Jünger Jesu auf sie einlassen? handelt es sich bloß darum, für die eine

40 medizinische Erklärung eine andere einzutauschen? Ist die An­ nahme von Besessenheit, die Jesus geteilt hat, blotz medizinisch und nicht auch religiös? Wäre sie auch religiös, müssen wir Christen sie dann nicht um der Autorität Jesu willen unbe­ dingt respektieren? Einig sind wir wohl alle darüber, daß Jesus irrtums­ fähig war in allen nicht wirklich religiös-sittlichen Dingen, auf dem Gebiet des Welterkennens, also auch in medizinischen An­ nahmen. Nun wird man unterscheiden müssen zwischen der Annahme, daß es den Satan und seine Dämonen gibt, und der anderen, daß es satanisches oder dämonisches Besessensein gibt. Die letztere kann als rein medizinisch gelten. Jesus täuschte sich über die Ursache der Krankheiten, aber nicht wie wir glauben! — über den eigentlichen Urheber seiner Heilungen der Krankheiten, wovon nachher. Eine Frage nur für den Glauben, die jeder für sich zu entscheiden hat, ist es, ob er „in dem, was Jesus sagt über den ,Böten', als eine persönliche Geistesmacht, den Ausdruck einer tieferen Einsicht in die eigentlichen Abgründe der Welt, als sie jemals ein an­ derer gehabt hat, verehren" will. vergegenwärtigen wir uns noch kurz, wie es zuging, wenn Jesus Besessene heilte. Furchtbar aufgeregt durch den Eindruck seiner predigt und seiner Persönlichkeit, haben sie vor ihm meist einen Anfall ihrer Krankheit. Er reagiert da­ gegen nicht wie die damaligen Geisterbanner mit Räuchern und Flüstern von Beschwörungsformeln, sondern herrscht, offen­ bar in starkem Affekt, die (Quälgeister an und kommandiert sie heraus aus den Kranken. Das wirkt nach einem letzten kurzen Chok der Krankheit Beruhigung und gesundes Ge­ baren der Kranken. Dafür, datz gründliche, dauernde Hei­ lungen eingetreten sind, gibt es gute überlieferungsgeschichtliche Gründe. Auch die moderne Heilwissenschaft hat nichts dagegen ein­ zuwenden. Sie kennt in der Gegenwart gewiffe auffällige Heilerfolge von Ärzten, INagnetiseuren, Gesundbetern und er­ kennt deshalb Heilerfolge der Geisterbanner des Altertums durchaus an. Sie denkt dabei weder an Betrügereien noch an Wunder, sondern an Suggestion. Auch in bezug auf Jesus ist ihre Formel: „Er war ein wandernder Suggestivtherapeut vom reinsten Wasser." INan geht dabei von einer bestimmten

41 Diagnose der von ihm geheilten vermeintlichen Besessenheiten aus: es habe sich um mehr oder weniger schwere Hysterien ge­ handelt. Unter den weiten Begriff „Hysterie" fallen in der heutigen Medizin sowohl bloß nervöse als auch psychische Stö­ rungen. Man spricht z. v. von hysterischen Kopf« und Gelenk­ schmerzen, von hysterischen Lähmungen und auch von hyste­ rischem Irresein. 3u den hysterischen Erkrankungen werden auch gewiffe Blind-, Stumm- und Taubheiten gerechnet. Er­ innern wir uns, daß im Zeitalter Jesu auch gewiffe Funk­ tionsstörungen der Sinnesorgane, der Sprache, des Bewegungs­ apparates auf Beseffenheit gedeutet wurden — statt „dämo­ nischer" Blindheit sagt man heute „hysterische" Blindheit. Buch die Heilung solcher Funktionsstörungen durch Jesus erscheint der heutigen Medizin ganz glaubhaft, indem sie sie als hysterische diagnosiert — als hysterische und also durch Suggestion heil­ bare. Kurz, man betrachtet alle von Jesus geheilten Krank­ heiten als hysterische und ihn als Suggestivtherapeuten. Aber was versteht denn das heutige Missen unter „Suggesfton"? Man muß ausgehen von der allgemeinen Definition: Eingebung einer geistleiblich wirksamen Vorstellung. Das mäch­ tigste Suggestionsmittel ist die menschliche Sprache. Man ver­ mag mit ihr bekanntermaßen zu Tränen zu rühren und die Schamröte ins Gesicht zu treiben. Am Ende der hiermit be­ ginnenden Tatsachenreihe liegt, daß in unsern Tagen hyste­ rische, die seit Jahren blind und lahm waren, durch bloßes Zureden geheilt worden sind. 3n diese Tatsachenreihe gehört auch, daß gewiffe Personen durch Befehlen und Einreden bei manchen Individuen Erscheinungen wie Gliederstarre, Schmerz­ losigkeit, Sinnestäuschungen Hervorrufen können. Man spricht hierbei von Wachsuggestionen. Auch bei Jesus behauptet man nicht, daß er seine Patienten hypnotisiert und in der Hypnose geheilt habe, sondern nimmt Wachsuggestionen an. Als solche gelten seine eindrucksvollen Befehle an die Dämonen und Worte wie: Steh auf und wandle! Aber diese Wortsuggestionen gelten nicht als die einzigen suggerierenden Mittel bei Jesus. Er „flößte", wie man ja sagt, grenzenloses vertrauen „ein", er begeisterte für sich und seine Heilkraft. Er bezwang die Seelen durch seine ganze willensstarke und liebreiche Persönlichkeit, durch sein ganzes überraschendes Auftreten, durch seine predigt von der Nähe des Himmelreichs, durch seine vorangegangenen

42 Heilerfolge. Was bei jedem Arzt zur Heilung mithilft, das ver­ trauen der Patienten, das ist Jesus gewiß im höchsten Maße entgegengebracht worden. So läuft also die heutige wissen­ schaftliche Erklärung der Krankenheilungen Jesu darauf hin­ aus, daß er vermöge des tiefgreifenden Einflusses psychischer Kräfte auf das leibliche Leben Psychotherapie oder ein Heil­ verfahren mit seelischer Einwirkung geübt habe. Wenn wir daneben Jesu eigene Erklärung seines heilens stellen, die wir übrigens erst im Zusammenhang des nächsten Vortrags über sein Selbstbewußtsein ganz verstehen werden, so zeigt sich, daß er in den Höhepunkten seiner Krankenheilungen eine eigentümliche Krafteinheit mit Gott als dem eigentlichen Wundertäter zu spüren glaubte. Ja, nicht sich selbst, sondern Gott hat Jesus als den eigentlichen Wundertäter betrachtet. Er aber hat durch sein Gebet Macht über Gottes Wunder­ allmacht, als gläubiger Beter bietet er Gott als Wundertäter wider die Krankheiten auf. Vieser Glaube Jesu an seine Ge­ betsmacht über Gottes Wunderallmacht darf von der missen« schaftlichen Erklärung seiner Krankenheilungen nicht außer acht gelassen werden. Sie muß ihn vielmehr zu den Gewalten seiner Persönlichkeit rechnen, womit er die Seelen der Kranken heil­ sam an sich bannte. Wenn wir freilich selber zu denen gehören, deren Seelen Jesus an sich als Herrn und Heiland gebannt hat, so über­ bieten wir weit das Wissen, indem wir selber auch wirkliche Wundertaten Gottes auf Jesu Gebet hin zu seiner Größe passend fühlen, hier ist der Punkt, wo eine Kombination zwischen dem Glauben an den Wundercharakter der Krankenheilungen Jesu und ihrer wissenschaftlichen Erklärung versucht sein soll. Nehmen wir als Beispiel die Geschichte von der Fern­ heilung der besessenen Tochter des kananäischen Weibes. Dieses hatte von Jesus als Geisterbanner gehört, voller Glaube er­ bittet es seine Hilfe und bewährt vor ihm noch weiter über­ raschende, seltene Glaubensgröße. Daran hat Jesus eine be­ stimmte Weisung Gottes, daß er dessen Wunderhilfe aufbieten darf. Venn Gott und Jesus verständigen sich stetig mitein­ ander. Dieser betrachtet den außerordentlichen Glauben des Weibes als von Gott gewirkt und wagt darum von ihm auch das Heilwunder zu erbitten, hätte er jenen Glauben nicht vor­ gefunden, so hätte er sich nicht aufgefordert und also „mora-

43 lisch nicht imstande" gefühlt, die Wunderbitte zu wagen, wie er sich nun bas Wunder dachte, das er Gott an der Besessenen in der $ente zu tun bat, das ist für uns nicht mehr verbind­ lich. Nur daß wirklich eine Wunderwirkung Gottes an ihr erfolgte, wollen wir glauben. Nun befand sich aber die Seele der Kranken schon unter mehreren suggestiven Einflüssen. Wie sehr wird auch sie selbst der Rus des Geisterbanners Jesus er­ regt haben! Ihre Mutter hatte auf sie von ihrem großen Glauben übertragen. Der Bittgang der Mutter zu Jesus flößte ihr vollends die hoffnungsreichste Stimmung ein. Ein medi­ zinischer Sachverständiger sagt: „Bereits die Vorstellung der Kranken, daß eine solche vertrauenswerte, im heilen bewährte Persönlichkeit von den Angehörigen um Hilfe angegangen werde, vermochte einen heilenden Einfluß auszuüben." Man kann aber annehmen, daß die Heilkraft dieser suggestiven Einflüsse unzu­ reichend war, und man kann im Glauben ihre nötige Ver­ stärkung auf Gottes wunderbare Innewirkung in der Seele der Kranken zurückführen. Man braucht nicht an direkte Ein­ griffe Gottes auf die kranken Körperelemente zu denken, son­ dern kann gemäß jenem tiefgreifenden Einfluß psychischer Kräfte auf das leibliche Leben an eine wunderbare Psychotherapie des überweltlichen Gottes glauben - daran, daß seine Innewirkung in der Seele der Kranken die das Leibliche heilenden Kräfte beschaffte. Es gibt freilich manche Heilungsgeschichte in den Evan­ gelien, wo es der Krankheiten wegen absurd wäre, an Psycho­ therapie zu denken. Erinnern wir uns nur an unser früheres Beispiel: die Anheilung des abgehauenen Ohres. Wie diese sagenhaft ist, so steckt gewiß eine Menge Sagenhaftes in den evangelischen Heilungsgeschichten. Es gibt überhaupt gar nicht soviel wirklich gut überlieferte Krankenheilungen Jesu, wie man oft meint; es stellt sich z. B. bei mehreren heraus, daß sie in der Überlieferung verdoppelt worden sind. Möchten doch immer mehr Christen die historischen Bedenken teilen lernen gegen die Berichte von Massenheilungen wie z. B. Matth. 4,24: Und sie brachten zu ihm alle Kranken, mit mancherlei Seuchen und Oual behaftet. . . und er machte sie alle gesund. Die Stellung der Christenheit zu den evangelischen Wunder­ geschichten kann meiner Meinung nach nicht auf die Dauer von folgender Tatsache unbeeinflußt bleiben, die ich Ihrem Nach-

44 denken empfehle: auch die gläubigsten Christen beten heutzu­ tage nicht mehr nach dem biblischen Grundsatz: Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Auch dem gläubigsten Christen fällt es nicht ein, zu beten, daß ihm sein abgefahrenes Bein wieder amvachse oder sein verstorbenes Rind wieder lebendig werde oder das Brot im Rasten vermehrt werde. Solchen sich selbst beschränkenden Betern fehlt es nicht etwa am Wunderglauben. Sie beten zuversichtlich, daß Gott dem Nachbar den Gedanken eingebe, Brot zu bringen. Sie beten zu Gott um Heilung einer für alle Arzte der Welt unheilbaren inneren Rrankheit, aber wirklich kaum um das wachsen neuer Gliedmaßen. Man nimmt sozusagen tunliche und untunliche Wunder an, solche, die es Gott zu tun gefällt, und solche, die es ihm nicht zu tun ge­ fällt, solche, die man von ihm erwarten darf, und nicht zu erwartende. Aber was kann denn die gegenwärtige Gebetspraxis in der Christenheit für ihre Stellung zu den evangelischen Wunder­ geschichten bedeuten? verträgt sich mit dieser bescheideneren Praxis nicht der schwärmerische Glaube an die biblischen Seiten als goldene Seiten andersartiger Wunder, als sie jetzt noch zu erwarten sind? Damals habe Totenauferweckung, Brotver­ mehrung, Ghranwachsen stattgefunden — seitdem beliebe solches Gott nicht mehr. Er habe die einzigartigen Gffenbarungszeiten durch einzigartige Wunder ausgezeichnet. Ich möchte hoffen, daß jene Gebetspraxis allmählich rückwirkende Kraft gewinnen und bewirken wird, daß man immer mehr die in den (vffenbarungszeiten geschehenen Wundertaten Gottes we­ nigstens denen gemäß aufzufassen lernt, die man jetzt noch für tunlich hält. Sunt Schluß betrachten wir noch die gut beglaubigte Ge­ schichte von der Auferweckung der Tochter des Jairus. Vieser bat Jesus: „Mein Töchterchen liegt in den letzten Bügen, komm doch und leg ihr die Hände auf, damit sie gerettet werde und lebe." In einem solchen Moment wird auch noch heutzutage ähnlich zu Gott oder Christus gebetet. Jesus mochte solches Glauben noch nicht begegnet sein, er betrachtete es als von Gott gewirkt und wagte darum von ihm auch das Rettungs­ wunder zu erwarten. Auf dem weg zum Sterbebett wurde der Tod gemeldet. Aber Jesus blieb der Wunderhilfe Gottes sicher und verbot die Totenklage: „Vas Rind ist nicht ge-

45 storben, sondern schläft." Damit ist gemeint, daß der vorüber­ gehende Zustand des Kindes deshalb nicht Tod genannt werden solle, weil es alsbald daraus wie aus vorübergehendem Schlaf werde auferweckt werden. Jesus will zwar nicht einen von Scheintod verschiedenen Todeszustand leugnen, aber denkt er sich (seinen Seelenvorstellungen gemäh) die Seele schon aus dem Körper* entflohen? Gder hätte er das von einer Enthaup­ teten gesagt? Wen Gott alsbald wieder lebendig macht, den heißt Jesus nicht tot, und den denkt er sich nicht ohne jede Lebensmoglichkeit wie etwa einen in Stücke zerrissenen Leich­ nam. Und auch wir kennen das Geheimnis des Lebens und des Todes viel zu wenig, um nicht annehmen zu können, daß Gott eine für ihn noch vorhandene Lebensenergie verstärkt hat, so daß wirkliches Weiterleben wieder eintrat. Wir sind zuletzt von der rein wissenschaftlichen Jesus­ forschung weit abgekommen und haben uns verstiegen ins Kombinieren des alten Wunderglaubens mit moderner Wissen­ schaft, das jetzt im allgemeinen eher als altmodisch gilt. Klan wird allerdings auch diejenigen christlichen Brüder zu verstehen lernen müssen, welche an Jesus als ihren Herrn und Heiland glauben wollen, ohne irgendeine Wunderglorie in seinem Leben für wahr fühlen zu können.

46

3.

Vas Selbstbewußtsein Jesu von seiner Gottessohnschast, seiner Sünblosigkett, seiner Stellvertreter­ einheit mit Gott und seinem Mesfiastum. Der Gegenstand, den wir heute zu behandeln haben, ist das Selbstbewußtsein Jesu. Jesu Selbstbewußtsein erfassen heißt seine Persönlichkeit, seinen Charakter erfassen. Denn sein Selbstbewußtsein von seiner einzigartigen Stellung zu Gott war das personbildende, charakterbildende (Element in seinem geistigen Leben. Jesus kann aber dieses Selbstbewußtsein in den zwei durch die Taufzeit getrennten Abschnitten seines Lebens nicht immer in ein und derselben Weise gehabt haben. Wir hielten es für geschichtlich, daß er geglaubt und bezeugt hat, er habe bei seiner Taufe von Gott selbst wunderbaren Aufschluß über seine Einzigartigkeit erhalten. Und in der Tat wird der Historiker damit rechnen können, daß in Jesus bei seiner Taufe das Selbstbewußtsein, er sei der einzigartige Sohn Gottes, durchbrach, und daß er dieses Selbstbewußtsein in einer darauf­ folgenden Zeit der Selbstbesinnung zur Triebkraft seines weiteren Lebens erhob. Mer das Selbstbewußtsein Jesu in seinem früheren, voröffentlichen Leben fanden wir eine Überlieferung in jener Geschichte, daß er einmal als zwölffähriger Knabe seinen Eltern erklärt habe, der Tempel, „das Haus seines Daters", sei doch selbstverständlich der Grt in Jerusalem, wo er zu finden sei, wenn man ihn vermiffe. Diese Geschichte lehrt mindestens, daß der Charakter des Mannes annehmen ließ, schon seine kindheitliche Existenz habe ganz auf Gottes­ gemeinschaft beruht und hingedrängt. Und in der Tat wird der Historiker mit der lebenslänglichen Gottinnigkeit Jesu als dem Kern seines Wesens rechnen können. Einer unserer besten

Religionshistoriker, Wellhausen, sagt, Jesus sei sich des Rindes­ verhältnisses zu Gott bewußt gewesen und habe die Frömmig­ keit genossen wie vor ihm niemand. Über an dem Wort „bewußt" haftet ein Doppelsinn. Es bezeichnet sowohl das unmittelbare, naive Erleben als auch die Reflexion über das Erlebte. Lebenslänglich hat Jesus sein Rindesverhältnis zu Gott als den Mittelpunkt seines Selbst aufs stärkste unmittel­ bar erlebt, aber es ist ganz unwahrscheinlich, daß er schon vor der Taufepoche seiner selbst sich besonnen, sein Rindesverhältnis zu Gott durch Betrachten und vergleichen als seine unvergleichliche Eigenheit kennen gelernt habe. Erst in der Taufzeit erfolgte in Jesus der Durchbruch des Selbstbewußtseins von seiner Gottessohnschaft im Sinne der klaren Selbstbesinnung über sie, des besonnenen Wissens um ihre Bedeutung und Tragweite. wir sprachen bereits im letzten Vortrag die Ansicht aus, daß Jesus in der Taufzeit sein ganzes Selbstbewußtsein ge­ wonnen habe, nicht nur das Sohnesbewußtsein, sondern auch ein gewisses Messiasbewußtsein und dazu den Antrieb, öffent­ lich als der zum Messias berufene Sohn Gottes zu wirken. Er hat nicht erst ganz am Ende seiner neuen Laufbahn den Messiasanspruch erhoben, sich freilich auch nicht von Anfang an öffentlich vor dem Volke als den zum Messias berufenen Sohn Gottes proklamiert. Er bezeichnete sich vielmehr als Lehrer und Prophet, z. B. in dem erwähnten Ausspruch, es gehe nicht, daß ein Prophet außerhalb Jerusalems sterbe. Wodurch er indirekt höhere Ansprüche geltend machte, werden wir sehen. Ziemlich direkt bezeugte er sein Bewußtsein, über den Propheten zu stehen, dadurch, daß er Johannes den Täufer den Propheten überordnete und als Vorläufer unter sich selbst stellte. Dazu kam, daß er von sich als Bußprediger sagte: „hier ist mehr als Jonas", von sich als Weisheitslehrer: „hier ist mehr als Salomo". Die Gründe für sein Recht, sich über solche Größen zu stellen, hat Jesus im Kreise seiner Jünger wohl von Anfang an ausgesprochen. E§ wird, wie wir sagten, zwischen ihm und seinen Jüngern ein offenes Geheimnis gewesen sein, daß er der zum Messias berufene Sohn Gottes sei. Was verstand nun aber Jesus zunächst unter dem ihm eigentümlichen Sohnesvechältnis zu Gott? Wir müssen das einer einzigen Aussage

48 entnehmen, weil die Geschichtlichkeit der anderen zu stark be­ zweifelt werden kann. Zwar ist auch die eine, bestbezeugte Stelle nicht unangefochten geblieben, aber z. B. harnack hat ihre Geschichtlichkeit in einem diesjährigen Buche glänzend ver­ teidigt. (Es ist das große Selbstzeugnis Jesu Matth. 11, 27. Sein Wortlaut ist verschieden überliefert. Mir scheint der folgende richtig: „Alles hat mir der Vater überliefert, Und niemand kennt den Sohn als nur der Vater, Und auch den Vater kennt niemand als nur der Sohn, Und wem ihn der Sohn will offenbaren."

Den Vater, von dem Jesus hier redet, hat er dicht vorher angebetet als „Vater, Herr Himmels und der Erde": es ist Gott. Es ist Gott, von dem er sagen kann, daß er ihm alles über­ liefert habe. Damit meint er nicht etwa, daß ihm pom Herrn Himmels und der Erde alle Dinge der Welt zur Mitherrschaft übergeben worden seien, sondern daß ihm alles, was er von Gott und seinem Reiche lehrt, von Gott selbst überliefert, d. h. gelehrt worden sei. Jesus hebt sich in diesem Wort unendlich hoch über die Schristgelehrten empor. Diese „stützten sich überall auf Überlieferung und gaben sie weiter. »(Empfangen* und »überliefern* sind neben dem »wiederholen* die wichtigsten Tätigkeiten des Schriftgelehrten". Sie berufen sich fortwäh­ rend auf Autoritäten, auf das, was Rabbi B von Rabbi A empfangen und an Rabbi C überliefert hat. Jesus gebraucht gerade dieses Wort „überliefern", um an das schulmätzige Überlieferungswissen der jüdischen Schriftgelehrten zu erinnern. Als denjenigen, welcher ihm überliefert hat, kann er niemand Geringeres als den Vater, als Gott nennen. Er hat alles, was er weiß und lehrt, sich nicht bei Schulautoritäten der .Schriftgelehrten in Lehrsälen anstudiert, sondern unmittelbar von Gott gelernt. Sein Meister, sein Lehrvater ist Gott allein — er, der unstudierte Handwerker, ist nur in Gottes Schule gewesen, daher hat er seine „neue Lehre aus Vollmacht". Das „alles", das ihm der Vater überliefert habe, ist nicht etwa auf alles ohne Ausnahme, auf alles, was Gott selbst weiß, zu mißdeuten. Denn ebensowenig wie Allmacht will Jesus hier oder irgendwo Allwissenheit von sich behaupten. Diese hat er vielmehr ausdrücklich abgelehnt in dem bekannten Ausspruch, daß von dem Tag und der Stunde des weitendes

49 niemand ein Wissen habe, auch die Engel im Himmel nicht. Der Schluß „auch nicht der Sohn, sondern nur der Vater" ist nicht sicher, sondern vielleicht ein unechter Zusatz. Aber schon durch die Worte „hat niemand ein wissen" stellt sich Jesus mit Engeln und Menschen zusammen unter den allein all­ wissenden Gott. Nein, Jesus will nicht sagen: alles, was er selbst weiß, hat Gott auch mir überliefert, sondern: alles, was ich Euch von Gott und seinem Reiche lehre, hat er selbst mir überliefert, wie und wann dieses Überliefern stattfand, wer­ den wir später noch fragen. Jetzt gilt es die folgenden Sätze zu verstehen: „Niemand kennt den Sohn als nur der Vater, und auch den Vater kennt niemand als nur der Sohn." Damit will Jesus zunächst eine häufige Erfahrung aus dem Menschenleben aussprechen: daß doch nur Vater und Sohn einander recht kennen und verstehen. Diesen Sachverhalt be­ nutzt er als Gleichnis für ein übermenschliches Verhältnis: für das Verhältnis zwischen Gott und sich selbst, von Gott und sich selbst hatte er ja eben erst gesprochen: „Alles hat mir der Vater überliefert." Dadurch kam Gott als sein Lehrer, er selbst als Gottes Schüler zu stehen. Dieses Verhältnis zwi­ schen Gott und sich selbst überbietet Jesus durch die Behaup­ tung, daß sie sogar im Verhältnis derjenigen zueinander stehen, welche allein einander recht kennen und verstehen: Vater und Sohn. Was von Vater und Sohn überhaupt gilt, baß zwischen ihnen ein volles gegenseitiges Erkennen und Verstehen hin und her geht und sie zusammenschließt, das wagt Jesus auf sein Verhältnis zu Gott zu übertragen: auch von Gott und ihm gilt, daß sie sich durch und durch aufeinander verstehen, daß der eine mit dem andern völlig vertraut ist. Wenn sich Jesus in dieser Stelle als den Sohn Gottes hin­ stellt, so liegt im Gebrauch dieses Bildes eben laut dieser Stelle der Anspruch, daß er allein sich mit Gott in höchster Vertrautheit befinde. Nicht mehr und nicht weniger liegt hier im Namen Sohn Gottes. Nicht mehr! Man könnte fragen: warum verstehen sich denn nach Jesus Vater und Sohn in einziger Weise aufeinander? und antworten: er dachte als den Grund davon ihre gegenseitige Liebe oder auch ihre geistige Wesensähnlichkeit. Mit dieser zweiten Antwort möchte man womöglich an das kirchliche Dogma von der Gottheit Jesu Ghristi herankommen, wonach er als Gott der Sohn mit Gott Thieme, Jesus und seine predigt. 4

50 dem Vater in einerlei Wesen ist. Über daß Jesus als den Grund der Vertrautheit zwischen Vater und Sohn ihre gegen­ seitige Liebe oder ihre geistige Wesensähnlichkeit gedacht habe, ist durch den ganzen Zusammenhang nicht so nahegelegt wie etwas anderes, Einfacheres. Jesus wird einfach daran gedacht haben, daß Vater und Sohn sich durch und durch verstehen lernen, weil sie miteinander in beständigem unmittelbarsten Verkehr leben, weil sie in größter Offenheit und freistem Ge­ dankenaustausch aufs vertraulichste sich gegenseitig aufschließen. wenn Jesus derartige Intimität zwischen Vater und Sohn auf sein eigenes Verhältnis zu Gott überträgt, so ist das wahrlich nicht wenig. Nicht weniger als dies liegt hier im Namen Sohn Gottes. Jesus will allein der einzigartige vertraute Gottes sein. Er sagt von sich: „Den Vater kennt niemand als nur der Sohn". Damit wird nicht nur das Schriftgelehrtentum seines Zeitalters abgesetzt, sondern auch das ganze israe­ litische Prophetentum, ja sogar Moses untergeordnet dem ein­ zigen Nenner Gottes, dem Sohne Gottes. Aber ehe Jesus sich als den einzigen Nenner Gottes be­ zeugte, hat er gesagt: „Niemand kennt den Sohn als nur der Vater." Gott ist hiernach der einzige Nenner Jesu, wer sich keinem Menschen, sondern nur Gott erkennbar nennt, der mutz sich für etwas höchstes halten, für ein übermenschliches Ge­ heimnis. Aber auch diese Selbsterkenntnis selbst, die mutz er als Gottes Geschenk ansehen, wenn wirklich gilt, niemandem außer Gott sei er erkennbar. Man wird in der Tat diese Aussage Jesu dahin verstehen müssen, daß er das, was er schon von sich selbst erkannt habe, nicht aus sich selbst erkannt, sondern durch Gott kennen gelernt habe. Man wird auch aus dem Präsens: „Niemand kennt (nicht: kannte) den Sohn als nur der Vater" den Gedanken Jesu heraushören dürfen, daß er sich selbst jetzt vielleicht noch gar nicht ganz auskenne, son­ dern daß Gott noch Größeres von ihm und seiner Zukunft kennen könne, als außer Gott zunächst er durch Gott schon jetzt von sich weiß. Geschichtlich sicher zu machen vermag man natürlich die Ergebnisse solcher Auslegungskünste nicht. Es wäre nun zu fragen, wie und wann sich Jesus seine höchste Vertrautheit mit Gott und seine Selbsterkenntnis seiner geheimnisvollen Größe entstanden dachte, und in was allem er diese Größe fand, wir verschieben diese Fragen und stellen

51 jetzt nur noch einmal fest, was Jesus in dem einzig sicheren SelLstzeugnis über sein eigentümliches Sohnesverhältnis zu Gott darunter versteht: daß er allein sich mit Gott in höchster Ver­ trautheit befinde. AIs ihr Grund tritt, wie gesagt, die geistige Wesensähnlichkeit Jesu mit Gott in dem Selbstzeugnis selbst nicht hervor. Und doch wird sich Jesus auch ihretwegen als den Sohn Gottes gefühlt haben. Denn wir dürfen vergleichen, in welchem Sinne er andere Menschen Gottes Söhne genannt hat. Wenn er mahnte: „Liebt eure Feinde, damit ihr Söhne seiet eures Vaters im Himmel", so bedeutet hier das Sohnesbild die sittliche Wesensähnlichkeit mit dem Vater. Menschen, die ihre Feinde lieben, sind Gott sittlich ähnlich, weshalb sie seine Söhne heitzen können. Nun wird Jesus sicher auch seine eigene Liebesfülle als Gottähnlichkeit aufgefatzt haben. Dann wird er aber auch diese mit eingeschlosien haben, wenn er auf sein eigenes Ver­ hältnis zu Gott das Sohnesbild anwandte. Daß er allein sich mit Gott in höchster Vertrautheit befinde, und datz er allein sich mit Gott in sündloser sittlicher Wesensähnlichkeit befinde - dies beides umfaßte das Selbstbewußtsein Jesu, datz er der einzigartige Sohn Gottes sei. Wir untersuchen also etwas, was zum Selbstbewußtsein Jesu von seiner einzigartigen Gottessohnschast gehört haben wird, wenn wir uns nunmehr seinem Selbstbewußtsein von seiner religiös-sittlichen Vollkommenheit, von seiner sündlosen sittlichen Wesensähnlichkeit mit Gott zuwenden. Aber hatte denn Jesus wirklich das Bewußtsein, frei von Schuld, sündlos zu sein? Ist es noch wissenschaftlich, mit diesem Selbstbewußtsein bei ihm zu rechnen? 3m vorigen Jahre ver­ öffentlichte der Winterthurer Pfarrer Johannes Hindi eine Untersuchung über „Jesus als Charakter". Das hat für ihn die Folge gehabt, daß er seine Stellung als Pfarrer an der positiven Minoritätsgemeinde von Winterthur aufgeben mußte infolge der auf Grund des Buchs gegen ihn eingeleiteten Agi­ tation. Eine positive Gemeinde kann allerdings nicht Sätze er­ tragen wie den folgenden auf S. 244: „Das Dogma von der Sündlostgkeit Jesu und die damit zusammenhängenden Ge­ dankenreihen sind eine Verirrung des menschlichen Verstandes." Ich möchte auch nicht das ganze kirchliche Dogma von der Sündlosigkeit Jesu verteidigen; denn es hängt mit dem Dogma 4*

52 von der Jungfrauengeburt zusammen, das ich nicht für nötig halte. Aber ich will jetzt zeigen, wie der menschliche verstand die Wissenschaft noch nötigt, bei Jesus mit dem Selbstbewußt­ sein von seiner Sündlosigkeit zu rechnen. Daß er dieses Selbst­ bewußtsein gehabt hat, kann man meiner Meinung nach zu großer historischer Wahrscheinlichkeit bringen. Und daß dieses Bewußtsein keine Selbsttäuschung Jesu war, wird sich nicht widerlegen lassen. Freilich, die Gewißheit davon, daß Jesus sich nicht selbst getäuscht, sondern wirklich keine Sünde gehabt hat, ist Sache der persönlichen Glaubensüberzeugung. Man darf es Hindi nicht weiter vorwerfen, daß er eine Äußerung Jesu nicht versteht, die von den meisten mißdeutet wird. Als Jesus einmal „Rabbi täbä’“ angeredet wurde ich werde das sofort übersetzen - sprach er: „Was nennst du mich täbä’? niemand ist täbä’ außer einem, Gott!" Indem man hier mit „gut" übersetzte, fand man hier ein eigenes Be­ kenntnis Jesu, daß er ganz schuldlose Gutheit nicht habe; nie­ mand sei gut, vollkommen gut außer Gott. Aber man mutz richtigerweise übersetzen: „Gütiger Meister" und „Was nennst du mich -gütig*? niemand ist ,gütig* außer einem, Gott!" Be­ kannte nun Jesus hiermit, daß er nicht immer ganz gütig ge­ wesen, etwa zu schroff gegen seine Feinde, ungeduldig gegen seine Jünger? In Wahrheit hat seine Abwehr der Anrede „gütig" nicht das geringste mit seinem sittlichen Selbstbewußt­ sein zu tun. Die Abwehr erklärt sich damit, daß das Wort täbä’, „gütig", nur für Gott gebräuchlich war, wie z. V. unser „allergnädigster" nur für den König. Jesu Frömmigkeit dul­ dete es nicht, daß das Wort aus den Gebeten herabgezogen und zu einer monströsen Anrede mißbraucht wurde. Wenn heute jemand den Minister anredete: „Allergnädigster Herr Minister", so würde der antworten: „was nennen Sie mich ,allergnädigst* ? niemand ist ,allergnädigst* außer dem König." will etwa der Minister damit sagen, nur der König habe ein gnädiges herz, er aber nicht? Daran denkt er gar nicht. Ebenso­ wenig richtete Jesus auch nur einen Gedanken darauf, ob er selbst auch irgendein Recht auf „gütig" habe oder nicht. Cr wehrte nur die überschwängliche Titulatur ab, zumal ihm das ganze eitle Titelwesen der Schriftgelehrten höchst widerwärtig war. Damit ist es also nichts, daß diese Äußerung Jesu sein sitt­ liches Selbstbewußtsein aufschlösse. Dies tut aber folgendes Wort,

53 in Gethsemane gesprochen aus eigener Erfahrung: „wacht und betet, daß ihr nicht in Versuchung kommt; der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach." Auch Jesus hatte nicht nur willigen Geist, sondern auch schwaches Fleisch und kam dadurch in Versuchungen: es widerstrebte z. B. dem schmerz- und schmach­ vollen Leiden. Aber neben der Erfahrung von Kämpfen des Fleisches gegen den Geist kann doch das Selbstbewußtsein sündloser, religiös-sittlicher Vollkommenheit bestehen. Jesus kann sich bewußt gewesen sein, daß sein williger Geist nie unter­ legen war, daß er dem Fleisch nie nachgegeben und es da­ durch gestärkt hatte: daß er ohne Schuld geblieben. Aber ist das wirklich denkbar bei einem menschlichen Wesen? Schließt die Annahme fehlloser sittlicher Vollkommen­ heit nicht von vornherein die Annahme mehr als menschlichen Wesens ein? Man hat keinen Grund zu dem Vorurteil, daß solche Vollkommenheit bei gar keinem einzigen Menschen in der Erfahrung vorkommen könne. Die Erfahrung, womit die Geschichtswissenschaft eine Größe wie Jesus mißt, ist ja die Er­ fahrung des Genialen. Er hat ihr als religiös-sittlicher Ge­ nius, Heros zu gelten. Nun bescheiden wir uns sogar auf andern Gebieten und meinen, keine Grenzen bestimmen zu können, die dem Genius unüberschreitbar seien. Wir glauben, daß der Genius unsere Erfahrung des Menschenmöglichen mehren kann, daß beim Genius das Unglaubliche Ereignis geworden sein oder werden kann. „Sollten wir das nicht auch endlich für das Gebiet der sittlichen Reinheit und der religiösen Innig­ keit und Kraft verstehen?" Die religiös-sittliche Vollkommenheit Jesu darf also nicht von vornherein als nicht menschlich und als nicht möglich gelten. Aber läßt sie sich denn aufrechterhalten gegenüber den sitt­ lichen vorwürfen, die ihm von seinen Lebzeiten ab bis zum heutigen Tag gemacht worden sind? Sind sie alle so leicht zu entkräften wie jenes Schimpfwort seiner pharisäischen Tod­ feinde: „Siehe, der Fresser und Weinsäufer"? Neuestens hat besonders Eduard von Hartmann sich zum Sittenrichter über Jesus aufgeworfen. Er, als Philosoph ersten Ranges, hat sich dabei als Historiker dritten Ranges ausgewiesen. Wir brauchen nur denjenigen seiner vorwürfe zu berühren, welchen auch echte Historiker Jesus nicht ersparen: daß er wirklich nicht immer gütig gewesen, sondern zuweilen ungeduldig gegen seine Jünger

54 und unbillig gegen die Pharisäer, hierzu ist folgendes zu be­ merken. Vie Pharisäer zu bekämpfen und die Jünger zu Mit­ arbeitern zu erziehen, das gehörte zu dem Beruf Jesu, zu dem Gottesdienst, der ihm oblag. Je weniger aber sein außer­ ordentlicher Beruf ein allgemein menschlicher war, um so un­ meßbarer ist für uns die Art seiner Erfüllung. (Es ist doch sehr fraglich, ob Jesus aus leidenschaftlicher Hingabe an den Dienst Gottes zu leidenschaftlich gegen Menschen geworden ist, so leidenschaftlich, daß er sich darüber Selbstvorwürfe machen mußte. Ja, wenn man ihm irgendwelche Selbstvorwürfe an­ merken Könnte! Dann erst wäre die ganze Sittenrichterei historisch berechtigt. Natürlich schrieb auch von Hartmann: „Dadurch, daß er sich der Taufe unterzog, legte er das Tatbekenntnis seiner Sündhaftigkeit und seiner Bedürftigkeit nach Sündenvergebung ab." Der Historiker kann über die Johannestaufe nur sagen, daß er Kaum mehr sagen kann, was für einen Sinn sie hatte. Also können wir erst recht kaum mehr sagen, in welcher Stim­ mung und Absicht Jesus sich dieser Taufe unterzog. Wir sind bereits dafür eingetreten, daß in der Taufzeit auch schon sein Messiasbewußtsein anhob, und dieses werden wir ja heute noch gründlich kennen lernen. Daß sich aber mit dem Messiasbewußtsein in der Seele Jesu das Schuld­ bewußtsein vertragen habe, erscheint uns ganz unwahrschein­ lich. Jn einer jüdischen Dichtung aus dem ersten Jahrhundert vor Thristi Geburt heißt es vom Messias, er sei rein von Sünde, auch werde er nie in seinem Leben straucheln gegen seinen Gott. Sollte Jesus geringere Ansprüche an den Messias gemacht haben? Nein, er würde nie und nimmer die Messiashoffnung auf sich selbst bezogen haben, wenn er nicht sein ganzes Leben frei von jedem Straucheln gegen Gott gewußt hätte. Ein Jesus hätte sich als Sünder gefühlt und kein gutes Gewissen gehabt, wenn er auch nur zeitweilig, in einzelnen Fällen hinter den höchsten sittlichen Anforderungen zurückgeblieben wäre. Da wäre seine lebenslängliche Gottinnigkeit nicht kräftig genug gewesen, um an die Berufung zum Messias zu glauben. Man wird es als das Normale, in der Idee Notwendige anerkennen müssen, daß in dem Manne, der an Gottes Statt den Sündern als Gesetz­ geber, Retter und Richter gegenübertritt, das religiös-sittliche Ideal vollkommen verwirklicht sei. Daß aber Jesus in seinem

55 Selbstbewußtsein» dieser Mann zu sein, unter dar Normale her­ untergegangen sei, scheint mir historisch nicht wahrscheinlich. Das wären die rein historischen Erwägungen, die für die Freiheit Jesu von Schuldgefühl sprechen. Wie diese sein Messias­ bewußtsein ermöglichte, so gehörte sie zu seinem einzigartigen Gottessohnbewußtsein. Denn dieses ging gewiß auch darauf, daß er allein sich mit Gott in sündloser sittlicher Wesensähn­ lichkeit befinde. Indem wir jetzt dieses Selbstbewußtsein Jesu von seiner sündlosen sittlichen Wesensähnlichkeit mit Gott unter­ suchten, machten wir nur erst die Untersuchung des Selbst­ bewußtseins von seiner Gottessohnschaft vollständig. Uber was bedeutet die Gottessohnschaft Jesu Christi nach dem kirchlichen Dogma? Sie bedeutet mehr, als was wir bis­ her in seinem Selbstbewußtsein nachwiesen: höchste Vertrautheit mit Gott und sündlose sittliche Wesensähnlichkeit mit Gott. Sie bedeutet, daß er „wahrhaftiger Gott vom wahrhaftigen Gott" ist, daß er „mit dem Vater in einerlei Wesen" ist, daß er sich mit Gott dem Vater in totaler Wesenseinheit befindet. Totale Wesenseinheit Jesu mit Gott! Ging auf sie sein Selbstbewußtsein? Ging es auf irgendeine Einheit mit Gott? Auf was für eine? Jesus hat eine Einheit mit Gott als dessen Stellvertreter geltend gemacht. Das tat er, indem er z. B. sagte nach Matth. 10, 40: „Wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat." Er bezeugt hier erstens sein Gesandt­ sein von Gott. Er glaubt an seine göttliche Mission. Er will nicht von sich selbst gekommen sein. Cr hat sich nicht selbst vom Handwerker zum überprophetischen Propheten aufge­ schwungen. Als Gesandter Gottes ist er Gott natürlich stark untergeordnet, eine weit genug von ihm abstehende Person, die der Sendung, der Vollmacht, des Auftrags und steter Wei­ sung bedarf. Aber den Menschen ist er als Gesandter Gottes stark übergeordnet. Denn zweitens liegt in dem Wort: „Wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat" eine gewisse Einheit Jesu mit Gott. Wir haben hier die überall vorkommende Idee, daß der Absender selbst in seinem Abge­ sandten kommt, daß der Gesandte Kraft ihm erteilter Voll­ macht in Person seinen Auftraggeber vertritt: Stellvertreter­ einheit mit Gott nimmt Jesus in Anspruch. Sie ist nicht etwa Wesenseinheit mit Gott, sondern nur eine Einheit der Geltung gegenüber andern Personen, vor den Menschen will Jesus

56 wie eins mit Gott gelten, ihnen wie Gott selbst gegenüber­ treten, so daß seine Aufnahme als Gottes Aufnahme gilt. Seine Stellvertretereinheit mit Gott machte aber Jesus so geltend, daß er von ihr alle andern Gottesboten ausschloß, die früher im Namen Gottes gekommen waren, wir kennen seinen Anspruch: „Niemand kennt den Vater als nur der Sohn." Er will allein der einzigartige vertraute Gottes sein und Kraft dessen sein einziger Stellvertreter. Er traut auch niemand an­ ders seine sündlose sittliche Mesensähnlichkeit mit Gott zu, Kraft deren er Gottes Liebeswesen mit seiner Liebesfülle vertreten kann. Aus diesem Stellvertreterbewutztsein Jesu erklärt sich das berühmte „Ich aber sage euch", das er als neuer Gesetzgeber auch gegen Moses richtete. Es bedeutet: Ich, der Sohn, an Gottes Statt. Er gibt Gebote umkleidet von Gottes Autorität. Er meint nicht: Ich aber sage euch aus eigener Autorität; denn als eine eigene göttliche (Quelle des Sittlichen fühlte sich Jesus nicht, im eigenen Namen zu lehren, war nicht sein Ehrgeiz. Er rühmte: „Alles hat mir der Vater überliefert." Als Gottes stellvertretender Sohn hat Jesus nicht nur gesetzgeberisch gewirkt, sondern auch richterlich, nämlich frei­ sprechend. Zum Gelähmten z. B. sagte er: „Mein Sohn, dir sind deine Sünden vergeben", nämlich von Gott vergeben. Auf Gott versteht er sich, sein himmlisches Begnadigen verkündigt er auf Erden und überträgt es dadurch auf die Erde. Aus dem Glauben Jesu an seine Stellvertretereinheit mit Gott erklärt sich auch die Forderung des Anschlusses an seine Person, nicht bloß an sein Werk, seine Lehre. Jesus hat ver­ langt, um seinetwillen sogar das Leben einzusetzen und mit der Familie zu brechen, wenn sie wider ihn ist. Für seine Person müsse man sich jetzt entscheiden, weil er der Gottesbote ohne­ gleichen sei als der letzte vor dem Weltende, als der, an dem sich alles entscheidet. Er ist mit Gott eins als der endgültige Herabträger Gottes, sofern der Anschluß an seine Person be­ deutet, daß man bei ihr die Gemeinschaft mit Gott erst recht gewinnt und fern von ihr auf ewig verliert. Daraus, daß Jesus über alle Dinge geliebt sein wollte, schließt man immer wieder, daß er nicht nur an seine Stell­ vertretereinheit, sondern an seine wahrhaftige Wesenseinheit mit Gott geglaubt habe. Aber Jesus forderte jene Liebe doch nur insofern für sich, als er sagen konnte: Wer mich über alles

57 liebt, der liebt nicht mich über alles, sondern durch mich hindurch den, der mich gesandt hat. Er forderte sie nur deshalb für sich, weil jetzt die Zeit gekommen, daß man ihn über alles lieben müsse, wenn man Gott noch weiter lieben wolle. Der Anschluß an Jesus führt durch ihn hindurch zu Gott empor, zu endgültiger Gemeinschaft mit (Bott Gottesgemeinschaft be­ steht auch nach Jesus darin, daß Gott seinerseits hilft und ge­ bietet und vergibt, und die Menschen ihrerseits zu Gott beten, ihm gehorchen und vertrauen. Indem Jesus an Gottes Statt half, gebot, vergab, richtete er das Beten, Gehorchen und vertrauen der Menschen durch sich hindurch auf Gott selbst. Gottes Stell­ vertreter Jesus will den Menschen zu dem Wesen werden, an dem sie Gott erleben: an ihn ist und bleibt dieses Erleben ge­ bunden, aber er bindet dabei nicht an sich, sondern durch sich hindurch an Gott selbst. Wer Gott erleben will, kann nicht an Jesus vorbeileben, sondern muß ihn durch Jesus hindurch erleben. Das ist der Sinn des Anspruchs Jesu, Gottes einziger, voll­ gültiger Stellvertreter zu sein. Aber neben seiner stetigen Stell­ vertretereinheit mit Gott hat Jesus noch eine andere Art von Einheit mit Gott bezeugt. Über seine Heilungen von Besessenen sagte er, daß er „in Gottes Geist die Dämonen austreibe", hieraus und aus einigen verwandten Aussprüchen geht her­ vor, daß Jesus in den Höhepunkten seiner Rrankenheilungen eine eigentümliche Nrafteinheit zu spüren glaubte zwischen Gott als dem eigentlichen Wundertäter und sich selbst als Gottes passivem Werkzeug dabei. Das betonten wir schon bei den Rrankenheilungen, daß Jesus sie nicht für seine eigenen Wunder hielt, sondern für Wunder, die die Allmacht des Vaters auf das Gebet des Sohnes hin wirke. „In Gottes Geist" bannt dieser die Geister. Die Taufgeschichte erzählt zwei Wirkungen Gottes auf Jesus: daß er ihm seinen Geist gab und daß er ihm Aufschluß über sich selbst gab. Daß Jesus auf Gott seine Selbsterkenntnis zurückführte, sahen wir heute bei dem Wort: „Niemand kennt den Sohn als nur der Vater." Ls ist wahr­ scheinlich, daß er wirklich selbst erzählt hat, bei seiner Taufe hauptsächlich habe ihm Gott Aufschluß über sich selbst gegeben, hat er nun auch wirklich selbst erzählt, daß er damals zu­ gleich Gottes Geist empfangen habe? Angenommen dies sei der ^all, so dürfte man doch meines Erachtens Jesus gewisse

58 Vorstellungen über sein Verhältnis zu Gottes Geist nicht zu­ schreiben. Unter Gottes Geist, in dem er die Geister banne, muß er verstanden haben die mit ihm irgendwie in Verbin­ dung gesetzte Wunderkraft Gottes. So denkt er sie sich aber nicht mit ihm in Verbindung gesetzt, daß er mit ihr ganz ver­ schmolzen sei, daß er selbst der Ausgangspunkt ihrer göttlichen Rraftwirkungen wäre. Nein, als Ausgangspunkt der Gottes­ kraft, in der er das Wunderbare wirkt, denkt er sich vielmehr Gott droben im Himmel, sich selbst aber nur als Durchgangs­ punkt. vom Himmel herab kommt, wie er zu spüren glaubt, die Fülle des Geistes über ihn, um durch ihn hindurch das Wunderbare zu wirken. Er fühlt sich nicht fortwährend eins mit der wirksamen Wunderkraft Gottes, sondern eben nur in den Höhepunkten seiner Rrankenheilungen fühlt er eine mo­ mentane Lebenseinheit zwischen Gott als dem eigentlichen Wun­ dertäter und sich selbst als Gottes passivem Werkzeug dabei. Den Höhepunkten seiner Rrankenheilungen werden wir wohl noch ganz besondere Momente des Redens im Geiste hinzu­ fügen müssen. Jesus hat nämlich seinen Jüngern für gewisse Stunden Geisteseingebung verheißen: nicht sie seien dann die Redenden, sondern der göttliche Geist sei es, der dann durch sie rede. Wer andern solches verheißt, der wird selbst Mo­ mente erlebt haben, wo er nicht sich, sondern Gottes Geist als den Redenden spürte. Ein unsicher überliefertes Wort Jesu lautet: „Wer mich hört, hört den, der mich gesandt hat." Sollte er es gesprochen haben, was hätte er damit gemeint? Natürlich nicht, daß Gott alles durch ihn als sein passives Werkzeug rede, sondern damit hätte er seine regelmäßige, fort­ währende Stellvertretereinheit mit Gott bezeugt. Außer auf diese geht, wie nun gezeigt, das Selbstbewußt­ sein Jesu nicht auf eine totale Wesenseinheit mit Gott, sondern nur noch auf eine momentane Einheit mit Gottes Wunder­ kraft in gewissen Höhepunkten seines Wirkens. Dieses letztere Linheitsbewußtsein ist dem Sohn Gottes eine Gewähr dafür gewesen, daß er zum Messias berufen sei. Als der sich mit Gott in höchster verttautheit und sündloser sittlicher Wesensähnlichkeit befindende Sohn glaubte Jesus, der Stellvertreter Gottes zu sein. Das Linheitsbewußtsein des Stell» Vertreters hängt eng mit dem einzigartigen Sohnesbewutztsein zusammen. Jenes andere Linheitsbewußtsein, das den Geister-

59 Banner befiel, gehört mehr zum Messiasbewutztsein. Dieses haben wir nunmehr zu untersuchen. Da muh zuerst berichtet werden, datz in den letzten Jahren einige tüchtige Forscher behauptet haben, es sei Jesus nicht eingefallen, sich für den Messias auszugeben. Aber sie sind damit bei den meisten, auch nicht voreingenommenen Forschern auf so siegreichen Widerspruch gestohen, daß dieser Kursus mit dem Messiasbewutztsein Jesu rechnen kann, ohne die Zeugnisse dafür besonders vorzuführen. Beginnen wir die Untersuchung dieses Bewußtseins lieber mit der Frage, wie die Messiashoffnung der Juden im Zeit­ alter Jesu beschaffen war. Sie war eine sehr mannigfaltige, weshalb „man noch nicht viel gesagt hat, wenn man sagt, Jesus habe sich für den Messias gehalten. Für was für einen Messias*?" Für einen weltlichen König der Juden oder für einen übermenschlichen, engelgleichen Himmelskönig? Nur diese beiden Messiasbilder seien berücksichtigt. Das erste hat Jesus ab­ gelehnt, er hat nichts mit dem nationalen, politischen Messias­ traum zu tun haben wollen. Dieser begeisterte damals weite Kreise des jüdischen Volks, am glühendsten die Partei der Ze­ loten oder Eiferer, die die politische Selbständigkeit der Juden mit Gewalt anstrebte. Ihr hatte wohl einer der Jünger Jesu früher angehört, sie war diesem jedenfalls bekannt. Nach der Versuchungsgeschichte, die hierin recht haben wird, legten sich auch Jesus Gedanken an politische Macht und weltliche Herr­ lichkeit nahe, aber er stieh sie von sich. Man kann geradezu vermuten, daß er seine Idee vom kommenden Reich Gottes in bewußtem Gegensatz zu den Zeloten entwickelt hat. Er hat sich in seinem Selbstbewußtsein an ein anderes Messiasbild als das nationalpolitische gehalten, nämlich an das vom Menschensohn. So wird der Messias in den jüdischen Apokalypsen genannt, d. h. in jenen (vffenbarungsbüchern, deren Art man im Buch des Propheten Daniel und in der Offen­ barung Johannis kennen lernt. Daß Jesus sich nicht bloß als den Menschensohn gedacht, sondern auch so genannt hat, wird eine geschichtlich zuverlässige Überlieferung unsrer Evangelien sein, obwohl sie gegenwärtig stark bezweifelt wird, wir lassen diese Streitfrage beiseite und treten hier nur dafür ein, daß das Bild Jesu von seiner Zukunft das des Menschensohns war. Es umfaßte hauptsächlich viererlei: daß er werde verklärt wer-

60 den zu göttlicher Herrlichkeit, sitzen zur Rechten Gottes, herab­ kommen mit Engelheeren aus die Erde, abhalten das Welt­ gericht. Venn es mutz jetzt folgendes betont werden, was überaus wichtig ist: wenn Jesus das Menschensohnbild auf sich selbst anwandte, so bedeutet das, dah er der Messias eigentlich noch nicht sein, wohl aber werden wollte, wir haben uns des­ halb früher immer so ausgedrückt: Jesus habe in der Lauf­ zeit ein gewisses Messiasbewußtsein gewonnen, sich als der zum Messias berufene Sohn Gottes erkannt, seine Messias­ hoffnung auf sich und niemand anders zu richten gelernt. Denn sein eigentliches Messiastum verlegte er in die Zukunft. Er will nicht weltlicher Judenkönig sein, sondern überweltlicher Weltregent werden. Dazu glaubt er sich auserlesen, er wird es ganz gewitzlich werden. Aber seine Messiasidee ist eine viel zu hochfliegende, als datz er etwas anderes denn ein Vor­ gefühl seines eigentlichen Messiastums hätte haben können. 3um Messias gehörte ihm begriffsnotwendigerweise jenes vier­ fache: göttliche Herrlichkeit, Zitzen zur Rechten Gottes, Heer­ fahrt mit den Engeln auf die Erde, Weltrichteramt. Datz solches zum Messias notwendig sei, lag ihm aber auch im Ge­ fühl: er sehnte sich aus seiner gegenwärtigen Niedrigkeit nach Erhöhung, nach der Thronbesteigung, nur nicht aus Herrschsucht und Ehrgeiz, sondern aus Liebe, um den Armen zuliebe, den Leidtragenden zugute als mächtiger Weltregent zu regieren, herrschen war ihm das höchste - natürlich rechtes herrschen, das die Untertanen von allem Bösen erlöst und mit allem Guten segnet. Das ist die sittliche Seite seiner himmelhohen Zukunfts­ hoffnungen. Sie werden dadurch jedermann sympathisch, haben sie das nicht sehr nötig? wie stellt sich denn der moderne Mensch zu den himmelhohen Zukunftshoffnungen Jesu? Seine Gegner finden, datz er darin unerlaubte Schwärmerei, gotteslästerliche Selbstvergötterung, religiösen Gröhenwahnsinn verrate, vor ein paar Jahren erschienen zwei Bücher über Jesus als Geisteskranken. Das andere Extrem vertreten die Anbeter Jesu im Sinne des kirchlichen Dogmas: sie finden, datz er in seiner Messiashoffnung eben einfach sein wahrhaft göttliches Selbstbewußtsein gellend gemacht habe. In der Mitte stehen die historisch-kritisch forschenden Verehrer Jesu. Die

61 einen suchen Jesus zu entlasten: ihre Seele hängt nur an Jesus als Propheten, sie machen Abstriche an seiner ihnen unheim­ lichen Messiashoffnung, behaupten z. B. das Weltrichteramt habe er nicht beansprucht, d. h. sie werden unhistorisch, um Jesus zu verteidigen. Vie andern betonen, daß unsereins nicht zu beurteilen vermag, was alles für Zukunftshoffnungen einem frommen Juden jener Zeit innerlich erlaubt, bei ihm noch gesund waren, und zwar einem Juden, der so erhabene religiöse Erfahrungen machte wie Jesus. Endlich wieder andere stellen fest, daß der Rern der Messiashoffnung Jesu Stimmungen waren, die ihre Gesundheit retten - demütige Stimmungen. Diese drei Arten der Beurteilung müssen sämtlich an­ gewandt werden, um Jesus gerecht zu werden. vor allem mutz man die richtige Stellung zu dem ge­ winnen, was in der Messiashoffnung Jesu als „abergläubisch" gilt: die antiken Vorstellungen vom sichtbaren Himmel droben als Gottes Residenz, wohinaus Jesus zu fahren hofft, auf den Thronsitz zur Rechten Gottes, von wo er auch herabzufahren hofft an der Spitze der himmlischen Heerscharen. Lng damit zusammen hängen jüdische, ja allgemein antike Vorstellungen über die Daseinsweise Gottes, der Engel, der Seligen in gött­ licher Herrlichkeit: als Lichtwesen dachte man sich die Himmels­ bewohner. Solchen antiken „Aberglauben", wie es heutzutage heißt, hat Jesus geteilt. Man darf ihn nicht etwa ganz davon ent­ lasten, als ob er sich dem Aberglauben — selber frei davon — bloß anbequemt habe. Man hat unbedenklich vergängliches zuzugeben in der Messiashoffnung Jesu: es ist das auf die Daseinsweise der himmlischen Dinge Bezügliche, wie es bedingt ist durch die Irrtümer der antiken Welterkenntnis. Freilich darf es auch nicht ohne weiteres unhistorisch gescholten werden, wenn man die Möglichkeit betont, daß manches phantastische Jesus erst in der Überlieferung angedichtet worden oder bei ihm wohl bloß Bild und Gleichnis sei; wenn man sagt, Jesus würde nicht Ja geantwortet haben auf die Frage, ob Gott wirklich in einem menschenleibähnlichen Lichtleib auf einem Thron aus Feuerflammen sitze. Einig sind sich die Forscher darüber, daß Jesus über diese Dinge nicht selbständig nach­ gedacht, sich seine messianische Zukunft nicht mit eigener Phan­ tasie ausgemalt hat. Er hat nur in der einen Aussicht ge-

62 schwelgt: mächtiger im helfen und Segnen zu werden. Werfen wir etwa noch einen Blick auf Jesu Bild vom Weltgericht! Wem die volkstümliche Vorstellung, daß wirklich alle Menschen als Auferstandene vor Jesu Richterstuhl erscheinen werden, allzu phantastisch vorkommt, der mag bedenken, daß man diese be­ stimmte Vorstellung nicht mit Bestimmtheit Jesus zuschreiben kann. Ls ist gar nicht sicher, daß er das alles gedacht und gelehrt hat, was die christlichen Theologen übers Weltgericht gelehrt und die Maler danach gemalt haben. weiter mutz man sich klar darüber werden, welches das Urteil der jüdischen Zeitgenossen Jesu über seine Messiashoff­ nung sein mutzte, wie hochfliegend sie sie fanden, ob überhoch, ob grötzenwahnsinnig. Man versuche nur einmal in die Ge­ schichte recht einzudringen, die Markus 10 erzählt ist. Die beiden Jünger Johannes und Jakobus bitten Jesus, ihnen zu verleihen, datz sie rechts und links von ihm sitzen in seiner zukünftigen Herrlichkeit. Wie müssen sie über sein Thronen in seiner Herrlichkeit gedacht haben? Sie können es sich nicht als göttliche Regierung des Weltalls vorgestellt haben. Sonst hätten sie sich nicht in ihren wünschen an seine rechte unb linke Seite hinaufgewagt. Sie können ihre eigene Zukunft und Jesu Zukunft nicht als völlig unvergleichlich gedacht haben. Jesus selbst betont in seiner Rntwort demütig seinen wesent­ lichen Ab stand von Gott: jenes Sitzen neben ihm zu verleihen, stehe ihm nicht zu, sondern es würde denen verliehen, denen es Gott bereitet hat. Indem Jesus auf den, der da alles bereitet, hinweist, unterscheidet er wesentlich seine eigene Regent­ schaft vom Weltregiment des Schöpfers. Er macht es den Jüngern klar, datz jene Chrensitze von etwas abhängen, das in einen Machtbereich des Schöpfers gehört, an den seine Voll­ macht nicht heranreicht. Die Jünger wollten neben ihm thronen „in seiner Herrlichkeit", wie sie sagten, d. h. wenn er die Messiasherrschaft angetreten haben wird. Datz er und niemand anders dazu berufen sei, war, wie gesagt, ein offenes Geheim­ nis zwischen ihm und seinen Jüngern. Aber auch darüber war man sich einig, datz der Meister nicht so, wie er war, Messias­ herrscher sein könne: er mutz eine Wesenserhöhung durchmachen. Auf eine solche hofften aber damals alle frommen Juden: sie würden in der neuen Welt „Herrlichkeit" haben, eine strahlende, sternengleich glänzende Lichtnatur. Vie Herrlichkeit des Messias

63 galt nicht als gänzlich verschieden von der seines Volkes, es ward nicht etwa an eine Distanz gedacht wie zwischen Gott und Kreatur von der Messiashoffnung der Juden und Jesu und der Seinen mutz man die Idee einer „Gottwerdung" ganz fernhalten. (Es wird durchweg zweierlei festgehalten: die Ein­ zigkeit Gottes und die Wesensverwandtschaft des Messias mit allen seligen Geistern. Durch solches vergleichen mit der Zukunftshoffnung aller frommen Juden lernt man die Tragweite der Messiashoffnung Jesu richtiger abschätzen, ihre relative höhe kennen. Sie war nicht so hochfliegend, wie man ohne Kenntnis der Jesus umgebenden religiösen Ideenwelt meinen könnte. Nach unbefangenem, all­ gemein jüdischem Urteil war sie nicht ungesund, größenwahnsinnig, gotteslästerlich, flls Jesus sich im Verhör als Messias bekannte und sprach: „Ihr werdet den Menschensohn sehen, sitzend zur Rechten der Macht und kommend mit den Wolken des Himmels", da sagte zwar der Hohepriester zum Gerichtshof: „Ihr habt die Lästerung gehört." Uber wir haben gesehen, was nach den Begriffen der Todfeinde Jesu die todeswürdige Gotteslästerung war: nicht der Messiasanspruch an sich, auch nicht der Messiasanspruch im Sinne des Menschensohnbildes, sondern datz dieses Subjekt, der Tempellästerer, es wagte, auf den Messiasthron Anspruch zu erheben. Um der Messiashoffnung Jesu gerecht zu werden, mutz man endlich den inneren Zusammenhang beachten, der zwischen dem Selbstbewußtsein Jesu von seiner gegenwärtigen und dem von seiner zukünftigen Größe bestand. Er glaubte schon zu sein der einzige Stellvertreter Gottes gegenüber den Menschen, hoffte er, datz er als Messias mehr sein werde als Gottes Stellvertreter? hoffte er etwa, datz aus seiner Stellvertreter­ einheit mit Gott wahrhaftige Wesensheit mit Gott werden werde? „Gottwerdung" gibt es nicht für Jesus, wie vorhin gesagt. Er hoffte demütiger. Er hoffte überhaupt nicht, etwas total Neues zu werden, sondern zu bleiben, was er war, Gottes Stellvertreter, freilich nicht mehr in Niedrigkeit, sondern in großer Macht und Herrlichkeit. Jesus durfte seine Messias­ hoffnung auf sich selbst richten, weil er sich als Gottes einzig angemessenen Stellvertreter schon jetzt fühlte. Was in ihm, dem Sohne, ein für allemal angelegt und bereitet ist, sein Stellvertretertum, das wird Gott auch dann durchführen, wenn

64 sein Reich kommt: Jesus wird es dann sein, dessen sich Gott als stellvertretenden Messiaskönigs bedienen wird. Gott wird den, durch den hindurch er gegenwärtig wirkt, nicht unbenutzt lassen bei der Aufrichtung des Gottesreichs, sondern er wird sich dann seiner noch ganz anders bedienen, nämlich als seines Stellvertreters im herrschen und Richten. (Es lassen sich also folgende Verbindungslinien ziehen zwi­ schen Jesu gegenwärtigem, irdischen und seinem zukünftigen, himmlischen Stellvertretertum. Glaubt Jesus schon gegenwärtig die Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen an seine Person geknüpft, glaubt er, daß sie sich nur durch ihn hin­ durch vollzieht, durch sein helfen und Gebieten und vergeben, so wird es dabei bleiben in der neuen Welt: auch die Vollen­ dung des Heils wird an seine Person geknüpft sein. Worin sie, worin das nahe Gottesreich nach Jesus besteht, wird uns im nächsten Vortrag beschäftigen. Jesus vertrat manchmal Gott im vergeben der Sünde, d. h. als freisprechender Richter. Vies richterliche Walten Jesu wird fortgesetzt und durchgeführt werden, wenn über das Endschicksal von Menschen künftig die Entscheidung gefällt werden wird, nämlich im jüngsten Gericht. Gegenwärtig fühlt sich Jesus in sündloser sittlicher Wesens­ ähnlichkeit mit Gott befindlich. Diese Beschaffenheit ist es, vermöge deren er einstens den Matzstab bilden kann im Ge­ richt. Gegenwärtig heilt Gottes Geist durch Jesus hindurch die Rranken, wenn er ihn herabbetet. Diese momentane Rrafteinheit Jesu mit Gottes Geist wird Überboten werden durch das stetige Wundervermögen des zu göttlicher Herrlichkeit verklärten Weltregenten. Jesus freute sich auf dieses Herrscher­ vermögen allem Unheil gegenüber, dessen die gegenwärtige Welt voll ist. Rach alledem drückte Jesus dadurch, dah er die Messias­ hoffnung auf sich selbst richtete, nur seine Zuversicht aus, datz Gott durchführen werde, was er in ihm bereitet hat: die einzig­ artige Gottessohnschaft, die ihn schon zum irdischen Stellver­ tretertum befähigt. Diese Erklärung der Messiashoffnung Jesu gilt den Ver­ teidigern des kirchlichen Dogmas von seiner wahrhaftigen Gott­ heit als ungenügend. Sie sagen, Jesus hätte auf seine himm­ lische Zukunft ohne gotteslästerliche Selbstvergötterung nicht rechnen können, wenn er nicht sein wahrhaft göttliches Wesen

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gefühlt hätte, Kraft dessen er in göttliche Herrlichkeit zurück­ kehren mutzte. Wir müssen also die Untersuchung der Selbst» bewutztseins Jesu noch damit abschlietzen, daß wir in seine Selbsterklärung seines Wesens einzudringen versuchen, heute sollen aber nur noch Zeugnisse dafür vorgeführt werden, daß 3e(u$ selbst nicht an seine ebenbürtige Arteinheit und wahr­ haftige Wesenseinheit mit Gott geglaubt hat. Einer der Aussprüche Jesu, die seine Wesensart beleuchten, wurde heute schon berührt: daß über Tag und Stunde des Weitendes auch er kein Wissen habe, sondern allein der all­ wissende Gott. (Es ist richtig, daß man als das Entscheidendste geltend zu machen pflegt, daß zu Jesu Existenz das Beten ge­ hörte. Als Beter ist er sehr untergeordnet dem Wesen, zu dem er betet. Er betet zu Gott als ein von ihm zu beschränktem und bedürftigem Sein gebildetes Wesen. Auch was er betet, zeigt sein Bewußtsein um die Schranken seiner Wirkungskraft, die von göttlichem vermögen weit entfernt ist. Er kann nicht selbst dem Simon helfen, daß sein Glaube nicht ausgehe, son­ dern muß Fürbitte darum tun, Luk. 22, 32. Auch in dem Beter von Gethsemane ist der im Wissen beschränkte, hilfs­ bedürftige Unecht Gottes zu erkennen. Daß er Ungeheures, eine Leibwache von mehr als zwölf Legionen Engel, von seinem Vater erbitten könnte und sofort erhalten würde, soll Jesus nach Matth. 26, 53 betont haben. Aber daß er selber gött­ licher Befehlshaber über die Engel sei, kommt ihm nicht in den demütigen Sinn. Wie Jesus dadurch, daß er betet, und durch das, was er betet, seine von der allmächtigen Art des Weltschöpfers ver­ schiedene Wesensart bekundet, so beweisen noch manche anderen Äußerungen sein Gefühl gänzlicher Abhängigkeit von dem, der da alles wirkt und gibt, was er, Jesus, ist und hat und weitergibt. Alles, was er von Gott und seinem Reiche erkennt, bezeichnete er als ihm von Gott überliefert. Er fühlt sich nicht etwa in seinem ganzen Wesen so verwandt mit Gott, daß die Erkenntnis seiner selbst zugleich die Erkenntnis Gottes wäre und er deren Überlieferung nicht nötig hätte. Nach Luk. 22, 29 sagte er zu seinen Jüngern: „Ich vermache euch Herrschaft, wie sie mir mein Vater vermachte." Daß Jesus seine Messiasherrschaft als ein mit der Übertragung von Herr­ schaft an seine Jünger vergleichbares Vermächtnis bezeichnen Thieme, Jesus und seine predigt. 5

- 66 konnte, klingt nicht gerade danach, daß er sie in seiner Art­ gleichheit mit Gott begründet sah. Besonders in dem schon vorhin berücksichtigten Wort Jesu: „Das Sitzen zu meiner Rechten oder Linken ist nicht meine Sache zu verleihen, son­ dern (das gehört denen) für die es bereitet ist", spürt man das scharfe Gefühl seines Abstandes von der unendlichen Macht über alle Dinge und Zeiten. Sie allein bestimmt alle Menschen­ lose und wie das Kommen des Reichs, so auch die Rang­ verhältnisse in ihm. Das sind einige Zeugnisse dafür, datz Jesus mit dem Judentum einig war über die Einzigkeit Gottes. Daß ein anderer, er selbst, als „wahrhaftiger Gott" zu dem EinzigCinen Gott gehöre, oder neben ihn oder in ihn hinein, lag ganz außerhalb des religiösen Horizontes Jesu Christi.

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4.

Jesu Zelbsterklärung feiner Wesenr. - Jesu predigt von Gottes Reich, Zeit, ®rt und Hrt seiner Grün­ dung, feinen Gittern und feinen Empfängern. Vie Vollendung der Gotterglaubenr durch die Reichs­ predigt Jesu. Das Selbstbewußtsein Jesu war der Gegenstand, den wir im vorigen Vortrag untersucht haben. Vie Ergebnisse der Unter­ suchung waren folgende. Erstens: Jesus hatte das Selbst­ bewußtsein, der einzigartige Sohn Gottes zu sein, d. h. sich allein in höchster Vertrautheit und in sündloser sittlicher Wesens­ ähnlichkeit mit Gott zu befinden. Zweitens: Jesus hatte das Selbstbewußtsein, als der einzigartige Sohn Gottes sein einzig angemessener Stellvertreter gegenüber den Menschen zu sein. Drittens: Jesus hatte das Selbstbewußtsein, daß er als der einzige Stellvertretersohn Gottes der Messias werden werde, d. h. verherrlichter Stellvertreter Gottes im Weltregiment und Weltgericht. Indem die Untersuchung diese drei Inhalte des Selbst­ bewußtseins Jesu feststellt, kann sie hier und da auf den Ge­ danken kommen, daß sie es mit einem wahrhaft göttlichen Selbstbewußtsein zu tun habe. Es erweist sich jedoch jedesmal als Schein, daß Jesus bei irgend etwas Gegenwärtigem oder Zukünftigem sich selbst als Gott gedacht hätte. Aber es bleibt der Gesamteindruck, daß seine Wesensart ein Problem seines Selbstbewußtseins war. wir müssen also dessen Untersuchung noch damit abschließen, daß wir iü Jesu Selbsterklärung seines Wesens einzudringen versuchen. Bereits wurden einige Zeug­ nisse dafür vorgeführt, daß Jesus zu demütig war, um sich als Art von Gottes Art neben Gott zu erhöhen. Einig mit dem Judentum über die Einzigkeit Gottes war er der Idee, irgendwie Gott neben Gott zu sein, wohl überhaupt nicht fähig. 5*

68 Ulan kann vielmehr bei Jesus deutlich spüren, daß er ein Gefühl gänzlicher Abhängigkeit von dem Schöpfer und Herrn Himmels und der Erde hatte. Lr fühlte sich als ein Gebilde Gottes und deshalb seiner Wesensart nach verwandter mit den Geschöpfen als mit dem Schöpfer. Aus einer eigentlichen Wesens­ verwandtschaft mit Gott wird er nicht einmal seine sündlose sittliche Wesensähnlichkeit mit ihm erklärt haben. Daß auch geschaffene Geister ihrem sittlichen Wesen nach dem Schöpfer ähnlich sein können, liegt ja schon in der Mahnung Jesu, barm­ herzig zu sein, wie Gott barmherzig ist, und in seiner Bezeich­ nung derer, die ihre Feinde lieben, als Söhne Gottes. Da aber Jesus seine eigene sittliche Gottähnlichkeil als sündlos kannte, könnte man annehmen, er habe sie auf eine wirklich gottverwandte Seite seines Wesens zurückgeführt. Sollte er sich nicht nach seinem sittlichen Charakter mit Gott wesensgleich ge­ fühlt haben? Könnte er sich nicht geradezu als das Gebilde Gottes begriffen haben, das, wie Gott Liebe ist, ebenfalls wahr­ haft göttliche Liebe ist? wir haben gesehen, was die Forde­ rungen Jesu bedeuten, sich an seine Person anzuschließen und ihn über alle Dinge zu lieben. Sie bedeuten, daß er das Wesen sei, an dem die Menschen Gott erleben, der endgültige Herab­ träger Gottes, bei dem man in endgültige Gemeinschaft mit Gott kommt. Aber kann sich Jesus als den Herabträger Gottes geschätzt haben, ohne wenigstens seine Menschenliebe für wesens­ gleich mit der vaterliebe Gottes zu den Menschen zu halten? Dies würde darauf hinauslaufen, daß er die göttliche Liebe als zweimal in der Wirklichkeit vorhanden gedacht hätte: außer in Gottes Person droben im Himmel auch in seiner eigenen Person unten auf Erden. Mich führt mein Studium des Selbstbewußtseins Jesu immer wieder von der Annahme ab, daß er irgend etwas in seinem Wesen für wahrhaft göttliches Wesen gehalten habe. Ich finde ihn in bezug auf alles Göttliche von bloßem Stellvertreter­ bewußtsein getragen, d. h. er will es nur auf Erden vertreten, aber gar nichts wahrhaft Göttliches selber auch haben oder sein, nicht einmal die göttliche Liebe. Er bedroht die Einzig­ keit Gottes, der Liebe ist, auch nicht durch die Idee, daß ein zweiter, er selbst, ebenfalls wahrhaft göttliche Liebe sei. Der Sohn fühlt sich nicht neben Gott als von ihm selbständig ge­ machter Inhaber irgendwelchen eigenen göttlichen Seins, er

69 fühlt sich nicht als ein zweiter von Gott eröffneter Ausgangs­ punkt irgendwelchen eigenen göttlichen Wirkens. Nicht schon, wenn die Menschen an Jesus hangen, hangen sie an der gött­ lichen Liebe, sondern erst wenn sie durch seine Person hindurch zu Gott selbst durchgedrungen sind. Jesus behauptet von keiner Seite seines Wesens, daß er damit die Gemeinschaft zwischen den Menschen und Gott selbst zu ersetzen vermöge. Die Men­ schen können freilich einzig und allein durch ihn hindurch in endgültige Gemeinschaft mit Gott, der Liebe ist, kommen. Aber die Liebe, die Gott ist, gibt es nur einmal; Jesus glaubt nicht, daß er selber sie auch sei; er ist nur der einzige Begegnungs­ punkt zwischen der Liebe, die Gott ist, und den Menschen. Er hat nur die Liebe, die Gott allein ist, auf Erden zu vertreten. Dazu wäre er nicht geeignet gewesen, wenn er nicht selber auch barmherzig wie Gott gewesen wäre; aber diese seine eigene Barmherzigkeit war eben nicht Gottes barmherziges Vaterwesen, auf das er durch sich hindurch den Glauben der Menschen gerichtet hat. Also wenn für Jesus seine Wesensart ein Problem war, so hat er es meines Erachtens nicht durch die Ahnung seiner göttlichen Wesensart gelöst. Aber diese Richtung seines Ahnens zu verneinen, ist historisch viel leichter, als die wirkliche Rich­ tung der Gedanken zu ermitteln, womit er selbst sich sein Wesen erklärt hat. Ich kann ihm nur die im folgenden vor­ geführte Selbsterklärung seines wesens abmerken. Sie ist gleich vom Standpunkt des Glaubens aus vorgeführt, auf dem man wie Jesus selbst mit Gott und seinem Gffenbarungswirken rechnet. Als wir das große Selbstzeugnis Jesu besprachen, alles habe ihm der Vater überliefert und den Vater kenne nie­ mand als nur der Sohn, verschoben wir auf später die fragen, wie und wann dieses Überliefern stattfand, wie und wann Jesus der einzige wahre Renner Gottes wurde. Die Antwort auf diese Fragen haben wir nunmehr Jesus abzulauschen. Es wird seine selige Erfahrung gewesen sein, daß er sein ganzes bisheriges Leben hindurch von Gott Überlieferungen, d. h. Offen­ barungen erhalten hatte. Daß er aber diese Offenbarungen entgegennehmen und verstehen konnte, wird er sich aus der ihm von Gott bereiteten Naturanlage erklärt haben. 3um einzigartigen Gffenbarungsempfänger wußte er sein Wesen von

70 Mutterleib an gebildet. (Er hatte von Geburt dar Wesen, das ihn befähigte, zur höchsten Vertrautheit mit Gott zu gelangen. Und auch daß er seinem sittlichen Wesen nach Gott sündlos ähn­ lich war, wird Jesus der ihm von Gott bereiteten Naturanlage mit verdankt haben. Mehr als menschliches Wesen mutz man, wie früher gesagt, um der Sündlosigkeit willen nicht annehmen. Aber wenn man die angeborene (Empfänglichkeit Jesu für Gottes Gffenbarungen einzigarttg nennt, so mutz man „einzig­ artig" vielleicht ganz im eigentlichen Sinne fassen: Jesus könnte sich als ein Wesen begriffen haben, das einzig in seiner Art sei, weder Gott von Art, noch ein Wesen wie die andern, ge­ schaffenen Geister, sondern ein Gebilde Gottes von ganz eigener Wesensart, das nicht seinesgleichen hat. weiter als mit diesem Gedanken kann man dem Glauben, datz Jesus ein übermensch­ liches Wesen sei, nicht entgegenkommen. Der volle Nirchenglaube denkt ja an wahrhaftige Gottheit und sucht mit ihr wahrhaftige Menschheit zusammenzudenken. (Es ist wohl rich­ tiger, diese, die wahrhaftige Menschheit, nicht zu gefährden durch jenen Gedanken, daß Jesus ein Zwischenwesen sei, weder Gott noch Mensch. Jesu eigenes Ahnen ist wohl nie darüber hin­ ausgeflogen, daß er wahrhaft menschlichen Wesens sei, und seine Wesensart war ihm wohl nur in dem Sinne ein Problem, daß er seine Anlage zum einzigen Sohne Gottes als das Geheim­ nis seines Wesens empfand, das ihm innerhalb der Menschheit eine einsame höhe verlieh. Daß Gott die Menschennatur Jesu in einzigartiger Weise auf sich hin angelegt hatte, ermöglichte besten lebenslängliche Gottinnigkeit, die in der Menschheit einzig dasteht, wirklich zustande gekommen ist diese Gottinnigkeit durch den stetigen Wechselverkehr zwischen dem Vater und dem Sohne: der Vater überlieferte, d. h. offenbarte, und zwar so wie niemandem an­ ders, der Sohn glaubte und schaute und betete, und zwar so wie niemand anders. Sagt man, der Vater habe dem Sohne geoffenbart so wie niemandem anders, so meint man vor allem den einzigartigen Inhalt der Gffenbarungen. Man kann ein ganz neues, alles überbietendes, vollständiges Sichaufschlietzen Gottes an Jesus annehmen, hier ist nur auch zu berücksich­ tigen, daß Jesus vermöge seiner Anlage zum vertrauten Gottes diesen in allen seinen Gffenbarungen so wie niemand anders verstand: er vermochte ihn in einzigartiger Weise auch mittels

71 der heiligen Schriften und aus der Natur kennen zu lernen. Über die formen, in denen Jesus die neuen Offenbarungen emp­ fing, könnte man nur kühne Vermutungen wagen, was nicht nötig ist. Daß Gott in Jesus keine Visionen angeregt habe, scheint uns ein Vorurteil. Gott hatte gewitz mancherlei Weisen, um Jesus die Fülle seines Innern aufzuschlietzen wie sonst keinem andern Wesen. Aus Gottes Fülle schöpfte Jesus stetig sein in­ neres Leben und verwirklichte so die Idee eines Lebens, das ganz aus Gott und in Gott und auf Gott hin gelebt wird. Dann kam die Epoche seines Lebens, die Taufepoche. In ihr wurde die lebenslängliche Gottinnigkeit Jesu vollendet, voll­ endet zur höchsten Vertrautheit mit Gott. In Zusammenhang mit ihrer Vollendung steht die Offenbarung, die der Sohn vom Vater bei seiner Taufe über sich selbst erhielt. Er lernte sich als den einzigen Sohn Gottes erkennen, der das wesen dazu habe, sein Stellvertreter in Gegenwart und Zukunft zu sein. Seine Stellvertretereinheit mit Gott machte Jesus alsbald öffent­ lich geltend, und seine Jünger zog er in seine Hoffnung hin­ ein, daß er der Gott beim Kommen seines Reiches vertretende himmlische Messiaskönig werden werde. Diese Hoffnung wurde ihm immer mehr zur Gewißheit, je häufiger er in gewiffen Höhepunkten seines wirkens eine momentane Einheit mit Gottes Wunderkraft erlebte. Er glaubte das Wesen dazu zu haben, in Zukunft als Messias ganz anders mit Gottes Wunder­ kraft eins zu werden, aber an eine Rnlage, Gott zu werden, darf man bei Jesu Selbsterklärung seines Wesens keinesfalls denken, wir schließen nunmehr die ganze Untersuchung des Selbst­ bewußtseins Jesu und wenden uns einem neuen Gegenstände zu, seiner predigt vom Reiche Gottes, wir fanden es früher wahr­ scheinlich, daß nicht schon Johannes der Täufer, sondern erst Jesus in der predigt vom nahen Ende die Idee des Gottes­ reiches verwandle. Jedenfalls erfährt diese Idee in Jesu pre­ digt eine ganz andere Verwendung, sie ist darin der beherr­ schende Mittelpunkt. Gb Jesus selber „das Reich Gottes" oder „das Himmelreich" gesagt hat, steht noch nicht fest; „Himmel" wäre aber nur als Ersatz für „Gott" aufzufaffen, entsprechend der Sitte, den Namen „Gott" ganz zu vermeiden und ihn durch Umschreibungen zu ersetzen. Dagegen steht fest, was einem Juden „Reich" in der Verbindung „das Keich Gottes" be­ deutete. Der Jude denkt bei Reich an das Regiment, an die

72 Herrschaft des Königs, nicht an das von ihm beherrschte Volk oder Land. Ein Reich entsteht so, daß ein mächtiger Herrscher­ wille Menschen zum Gehorsam zwingt, und es besteht darin, datz der König befiehlt und die Untertanen gehorchen müssen, von einem guten König erwartet man, datz seine Herrschaft Frieden und Segen bringe. Ein orientalisches Keich ist kein von den Bürgern aus vorgestelltes Staatswesen, sondern eine von dem König aus vorgestellte absolute Herrschaft. Also wären auch die betreffenden Worte Jesu statt mit „das Reich Gottes" genauer mit „die Königsherrschaft Gottes", „die Gottesherr­ schaft" wiederzugeben. Man dachte im Judentum bei „Gottesherrschaft" an die Herrschaft des Gottes, der zwar von jeher König ist, König Israels wie König der Welt, dessen Herrschaft aber gegen­ wärtig gehemmt oder verborgen ist und der deshalb erst in der Zukunft recht König werden wird, wenn er jeden Wider­ stand niederwirft. Vas Spätjudentum hofft dabei hauptsäch­ lich auf die Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes zugunsten seines auserwählten Volkes, die diesem eine Fülle von Glück und Segen bringt. Es fehlt aber in der jüdischen Idee der Gottesherrschaft nicht an einer sittlichen Seite: die Durchsetzung der Gottesherrschast zugunsten seines auserwählten Volkes setzt voraus, daß dieses nicht mehr halsstarrig, sondern ein gehor­ sames Volk ist. Gott als König Israels gebietet ihm das Ge­ setz, Israel gehorcht, gehorcht, um gesegnet zu werden, wenn Gott ihm zugunsten recht König werden wird. Nun pochten die Juden zur Zeit Jesu auf ihre Gesetzes­ treue, sie fühlten sich als Gottes gehorsames Volk, das es ver­ diene, durch feine volle Herrschaft überschwänglich gesegnet zu werden. In diese Selbstgerechtigkeit der Juden wetterten Jo­ hannes und Jesus ihren Butzruf hinein: Kehrt um! Kehrt um! Und Jesus begründete ihn damit, datz die Gottesherrschaft nahe herbeigekommen sei. Gegen die Selbstgerechten war das nur eine furchtbare Drohung. Bei ihnen hatte der Butzruf des Täufers keinen Erfolg gehabt. Jesus wiederholte ihn, wieder­ holte seine Begründung mit der Nähe des Endes, des Ge­ richtes, und wenn er ihn mit der Nähe der Gottesherrschaft begründete, so war das zum Teil auch wieder ein Drohen Mit dem Gericht: wer die allen nötige Umkehr nicht mitmacht, dem bringt die nahe Gottesherrschast nichts als das Strafgericht.

73 Aber vor allem mutz untersucht werden, was Jesus über die zeitlichen Verhältnisse der Gottesherrschaft predigte. Einer­ seits: sie sei nahe herbeigekommen, sie stehe unmittelbar be­ vor. Darin liegt ebensosehr, datz sie nächstens kommt, wie, daß sie noch nicht da ist. Anderseits predigte Jesus in andern Aussprüchen, datz die Gottesherrschaft schon gekommen sei. Das ist eine berühmte Schwierigkeit in der predigt Jesu. Jedoch das Wesentliche an der Reichspredigt Jesu ist überhaupt nicht die größere oder geringere Nähe des Keichs, sondern die An­ kündigung, datz es jetzt ganz gewitz kommt, datz die Warte­ zeit vorbei und die Wendezeit da ist. Aber datz Gott die Wendezeit heraufführte, ist noch nicht seine ganze Herrschaft selbst. Jesu Grundstimmung ist Hoffnung, freilich die ihres Zieles ganz gewisse Hoffnung, aber doch immer Hoffnung. Venn es überwiegen die Aussagen, daß die ganze Gottesherrschaft erst nahe ist. welches sind denn die Worte, die die Nähe zur Gegen­ wart machen? Am allersichersten ist der Ausspruch Matth. 12,28 : „Wenn ich im Geiste Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja die Gottesherrschaft schon zu euch gekommen." 3m Geiste Gottes bannt Jesus die bösen Geister, vom Himmel herab kommt, wie er zu spüren glaubt, die Fülle des Geistes, der Wunder­ kraft Gottes über ihn, um durch ihn hindurch die bösen Geister wunderbar zu vertreiben aus den armen Besessenen. Wenn Gottes Wunderkraft so machtvoll das böse Geisterreich in die Flucht schlägt und dadurch das Leid auf Erden mindert, so hat ja die Gottesherrschaft schon einigermatzen begonnen, die Herrschaft, die Gott mit seiner allmächtigen Wunderkrast wider die Satansherrschaft durchsetzen wird zugunsten aller, die da Leid tragen. Jesus triumphiert in diesem Ausspruch darüber, datz die Kräfte der künftigen Welt schon in die Gegenwart her­ einragen, und zwar durch ihn hindurch, den künftigen Messias. Aus dem eigentümlichen Messiasbewutztsein Jesu erklärt es sich, datz er das Reich einerseits als zukünftig, anderseits als gegen­ wärtig predigte. Das Messiasbewutztsein Jesu bestand darin, datz er auf sich selbst seine Messiashoffnung richtete. Er war jetzt noch nicht der Messias, aber er und niemand anders war der, „der da kommen soll", der von Gott zum Messias erhöht werden würde. Gott wird durchführen, was er in ihm an­ gelegt hat: die Sohnschaft, die ihn zum Stellvertreter Gottes

74 befähigt, sogar zum Stellvertreter Gottes in der künftigen Gottesherrschast. Man kann einerseits sagen: der Messias ist da; denn man braucht keines andern zu warten, in dem man erst den Messias bekommen würde. Insofern ist auch die Gottes­ herrschast schon da, denn der in ihr Gottes Stellvertreter sein wird, ist schon vorhanden. So erklärt sich wahrscheinlich das Wort Jesu bei Luk. 17, 21: „Siehe, das Reich Gottes ist in eurer Mitte": er denkt an sich selbst und seine Krafttoten, die Heilungen Besessener, worin die Gottesherrschast schon einiger« matzen begonnen hat. Die Zeitgenossen Jesu leben bereits in -er neuen Zeit: das Neue daran ist er selber, seine Persön­ lichkeit. Er ist schon jetzt der endgültige hereinträger Gottes in die Wett, er vermag auch die Wunderallmacht Gottes, die die Welt neumachen wird, schon in sie herabzubeten wider das Leid von Kranken, kurz durch ihn hindurch berühren sich schon die Menschen mit der segnenden Herrschaft Gottes. Aber anderseits kann man sagen: der Messias als Herrscher an Gottes Statt ist noch nicht da, sondern erst zukünftig. Noch bedarf es einer Wundertat Gottes an Jesus, die ihn in Herrlichkeit ver­ setzt, in mehr als nur momentane Krafteinheit mit Gottes Geist, einer Wundertat, die ihn zum Messias erst wirklich um­ gestaltet. Deshalb überwiegen die Aussagen, -atz die ganze Gottesherrschaft erst nahe ist, und man darf Jesu Sehnsucht danach nicht unterschätzen, datz er die wenigen Anfänge der Gottesherrschaft bald überbieten könne infolge seiner Erhöhung zum Herrscher an Gottes Statt, der die Armen und Leidtragen­ den von allem Übel erlöst und mit allem Guten segnet. Aber Jesus war zu fromm dazu, sich in ungeduldiger Sehnsucht zu verzehren. Seine Hoffnung war ja ihres Zieles ganz gewiß und blieb deshalb getosten, was hat er denn über den Zeitpunkt gepredigt, an dem die volle Gottesherr­ schaft hereinbrechen werde? Er hat jede genauere Zeitbestim­ mung abgelehnt. Schon mehrmals berührten wir ja den de­ mütigen Ausspruch, über jenen Tag oder die Stunde habe nur Gott ein wissen. Dennoch steht Jesus eins fest. Vie Grün­ dung des Reichs ist ihm nur denkbar zu Lebzeiten der Genera­ tion, unter der er gewirkt hat. So hat er z. B. noch Mark. 9,1 versprochen: „Einige von denen, die hier stehen, die werden den Tod nicht schmecken, bis sie das Reich Gottes in Kraft ge­ kommen sehen." Diese Zeitbestimmung ist unbestimmt und weit

75 genug. 3n den großen Zeitraum der nächsten zehn, zwanzig, dreißig Jahre wird dar Ende dieser Welt fallen, eine genauere Angabe läßt sich nicht machen. Diese Zeitbestimmung Jesu be­ ruht nicht auf mühsamer Berechnung, sondern auf der un­ mittelbaren Erwartung, daß er sein Werk an derselben Gene­ ration durchführen werde, an der er es begonnen hat. Zeugen der Anfänge in Schwachheit sollen Zeugen sein der Vollendung in Kraft. In dieser Erwartung hat sich Jesus getäuscht, es war ein „Irrtum". Gottes Weltregierung hat die Weissagung Jesu nicht bestätigt, sondern berichtigt. Gottes werk ist noch größer als Jesu Weissagung. Ihr Irrtum bringt aber nicht in Ver­ legenheit, weil ja Jesus selber auch gesagt hat, nur Gott habe ein wissen über jenen Tag oder die Stunde. Das wirkt wie eine unbewußte Selbstberichtigung. Auf die Zrage nach dem Wann? muß die weitere folgen: wie denkt sich Jesus das Kommen der Gottesherrschaft? (Er denkt es sich als ein ungeheures wunder, das Gottes uner­ meßliche Allmacht wirkt. Vie ganze Natur wird in Mitleidenschast gezogen, Sonne und Mond werden sich verfinstern und die Sterne vom Himmel fallen. Jesus teilt die Hoffnung auf eine allgemeine Welterneuerung; die gegenwärtige Welt gilt ihm viel zu sehr als Jammertal, denn daß sie der Schauplatz für die zukünftige Segensherrschaft Gottes sein könnte. von der Idee der Welterneuerung ist die Vorstellung über den (Ort des Gottesreichs abhängig. Man kann nicht sagen, daß Jesus an die Erde, genauer das Land Palästina, gedacht habe. Denn durch die Welterneuerung entsteht nicht nur eine verklärte Erde, sondern es fällt überhaupt der Unterschied zwischen Diesseits und Jenseits dahin. Man darf also auch nicht das Jenseits, den Himmel als den Grt des Gottesreichs nennen. Dafür spräche nicht etwa der Ausdruck „Himmel­ reich", wenn ihn Jesus gebraucht haben sollte. Er würde, wie vorhin gesagt, gar nichts anderes bedeuten als Gottesreich und über Grt und Art des Keichs gar nichts aussagen. Zur Wellerneuerung gehört nach Jesus vor allem eine Umwandlung der Menschennatur in überirdisches, engelmätziges Wesen, wer schon gestorben ist, wenn das Reich Gottes in Kraft kommt, wird auferweckt werden: Jesus setzt die Auf­ erstehung der Toten voraus.

76 (Eingeleitet wird die Gründung des Reichs durch das Ge­ richt, in dem das Schicksal des einzelnen sich entscheidet, wer darin verdammt wird, wird zum Ausschluß aus dem Reich ver­ dammt. Und wessen geht er damit verlustig? Welches ist der Segen, die Seligkeit, welches sind die Güter, die die Gottes­ herrschaft denen bringt, die int Gericht angenommen werden? von den Fragen nach Zeit, Grt und Art der Reichsgründung gehen wir weiter zu der, was Jesus über die Güter gepredigt hat, womit die Herrschaft Gottes segnet. Sie selber ist das höchste Gut, das Gut der Güter. Den Armen ist es zu eigen laut der ersten Seligpreisung. 3n seiner Muttersprache sagte Jesus, wenn man die Gratulationsformel genau wiedergibt: ® über das Gute! „® über das Gute der Armen, denn das Himmelreich ist ihr." Geht man von der eigentlichen Wortbedeutung aus: Himmelsherrschaft d. h. Gottes­ herrschast, so denkt sich Jesus sie bisher gehemmt weniger durch die Römerherrschast - Gottes Feind muß größer {ein als der Kaiser in Rom! — als vielmehr durch die Satansherrschaft. Der Teufel gilt Jesus nicht nur als der Patron des Lösen, der Versucher zur Sünde, sondern auch als der Urheber alles Übels auf Erden. Wenn nun schon jetzt der Geist Gottes durch Jesus hindurch Satans Schergen, die Dämonen, aus den Besessenen vertreibt, wie wird er erst dereinst in der Gottes­ herrschaft mit allem irdischen Leid und Jammer aufräumen: „® über das Gute derer, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden." Das war die zweite Seligpreisung. Ganz in ihrem Sinne heißt es in der Offenbarung Johannis: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer, noch Geschrei, noch Leid wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen — es ist alles neu geworden." Nach dem Gut der Güter, dem Reich selbst, wird man zuerst aufführen müssen, daß im Reich alles Leid der Erde verschwunden sein wird. Auch der hunger! Deshalb: „® über das Gute derer, die da hunger haben, denn sie sollen satt werden." Daß die dritte Seligpreisung Jesu nur so gelautet hat, kann man mit großer Bestimmtheit behaupten. 3n der Bergpredigt bei Rlatth. 5,6 steht zwar: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechttgkeit; denn sie sollen satt werden." Aber die

77 Worte „und dürstet nach der Gerechtigkeit" fehlen nach der Überlieferung bei Lukas 6, 21 und werden wirklich nicht von Jesus gesprochen worden sein. Aber der Gedanke, den sie im Zusammenhang des Matthäusevangeliums ausdrücken, ist sicher auch von Jesus gepflegt worden. ©der sollte er nicht denen, die sich nach ihrer eigenen Gerechtigkeit, Vollkommenheit, d. h. nach ihrer sittlichen Vollendung sehnen, diese als eine Gabe der Gottesherrschaft verheißen haben? hat er nicht die aller­ höchste Gerechtigkeit und Vollkommenheit, die Gottes selbst, als das Vorbild der Menschen in der Mahnung aufgestellt, barmherzig zu sein, wie Gott barmherzig ist? Daß dieses Ideal schon im Diesseits den dazu Ermahnten erreichbar sei, hat Jesus schwerlich angenommen. In seinem Glauben an die Nähe von Weltende und Himmelreich war er dazu gestimmt, mit der Gegenwart Ohnmacht und Sünde unzertrennlich zu­ sammenzudenken und alles höchste erst von der vollen Ent­ faltung der Allmacht Gottes bei der Welterneuerung zu er­ warten. Seine Frömmigkeit verlegte die vollkommene Ver­ wirklichung aller Ideale in die neue Welt. Erst hinter dieser letzten betrübten Zeit, erst im Keich Gottes, werden Menschen in unwandelbarer Gerechtigkeit und Vollkommenheit Gott gleich sein. Daß sie dazu erhöht werden, gehört mit zur Verklärung der Welt durch Gottes Allmacht. Jetzt ist noch kein Mensch außer dem sündlosen Sohn Gottes den himmlischen Wesen gleich, von denen der Wille Gottes vollkommen geschieht. Aber wer hungert und dürstet nach sittlicher Vollendung, der soll satt werden im Keich. Auch die Unvollkommenheit, das schwache Fleisch, die Sünde, wird abgetan werden. Zur Leid­ losigkeit können wir als ein weiteres Gut des Reichs die Sündlostgkeit fügen. Daß Menschen den himmlischen Geistern sittlich gleich ge­ macht werden, ist eine Seite jener schon vorhin erwähnten Umwandlung der Menschennatur in überirdisches, engelmäßiges Wesen. Diese Umwandlung kommt auch in den Seligpreisungen als ein Gut des Gottesreichs vor: „© über das Gute der Friedfertigen, denn sie sollen Gottes Söhne heißen", heißen bedeutet sein; der Name deckt sich mit dem Wesen. Es ist eine wirkliche Erhebung in den Stand und Rang der Gottes­ söhne gemeint, d. h. die Einreihung in den Kreis der Engel. Diese haben den großen Vorzug, daß sie in Gottes Nähe weilen,

78 ihn schauen dürfen. Auch das Schauen Gottes fehlt nicht in den Seligpreisungen als ein Gut des Gottesreichs: „G über das Gute derer, die reines Herzens sind, denn sie sollen Gott schauen." Dieses Gut stillt die Sehnsucht aller wahrhaft From­ men, denen die Religion möglichst nahe Gemeinschaft mit der Person Gottes bedeutet. Was der einzige Sohn Gottes auf Erden schon jetzt im höchsten Grade hat, Vertrautheit mit Gott, das wird durch ihn ein allgemeines Gut im Reich Gottes ge­ worden sein, nachdem auch noch die Allmacht Gottes alle Reichs­ genossen zu engelgleichen Söhnen Gottes umgewandelt hat, die ihn von Angesicht zu Angesicht schauen können. Als ein weiteres Gut des Gottesreiches verheißt Jesus seinen Jüngern, daß sie herrschen werden. Aber was er damit meint, ist sehr schwierig zu verstehen. Er sagte nach Luk. 12,32: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde, es ist eures Vaters Wille, euch die Herrschaft zu geben", und nach Luk. 22, 2y f.: „Ich vermache euch Herrschaft, wie mir sie mein Vater vermachte... so daß ihr auf Thronen sitzen sollt, um die zwölf Stämme Israels zu regieren." hierzu gibt es eigentlich nur Fragen ohne sichere Antworten. Wer sind die Beherrschten? herrschen bloß die zwölf Jünger? Gder sind diese als Vertreter aller Seligen gedacht? Ist gemeint, daß die jetzt Unterdrückten, die Armen, dereinst Fürsten ihres Volkes werden sollen? Und ist denn herrschen eine Seligkeit? Für sich selbst ersehnte es Jesus allerdings, um bester segnen zu können. Jedenfalls ist das herrschen einem andern Kreis von Menschen geweissagt als dem, an den die Juden in ihrer Reichshoffnung dachten. Diese war politisch und ganz durch­ tränkt vom Nationalstolz des Judenvolkes. Es hoffte das Herrschervolk der Erde zu werden: die römische Weltherrschaft würde zerschmettert werden, Jerusalem statt Rom die Welt­ hauptstadt, der Tempel statt des Kapitols das Zentrum der Dinge, der Messias Kaiser statt Augustus und Tiberius. Wie stellte sich Jesus zu diesen irdischen Reichshoffnungen? Man kann nicht sagen: gegen die Römerherrschaft richtete sich sein hoffen nicht, sie war ihm gleichgültig, sein hoffen war über­ irdisch. (Es ist doch ganz selbstverständlich, daß er sich nicht denken konnte, neben ihm, dem Herrscher an Gottes Statt, würden die Römer weiter die Welt beherrschen. Gerade weil seine Ideen vom Reich überirdisch sind, d. h. als seinen Schau-

79 platz nicht die alte Erde denken, kann er sich in der neuen Ordnung der Dinge auch keine Fortsetzung der Römerherrschast denken. Also Befreiung von ihr kann man zu den Gütern des Gottesreichs zählen, auf die Jesus hinaussieht. Über damit garantiert er nun nicht etwa dem Judenvolk die Weltherrschaft. Wie Johannes der Täufer protestierte er gegen die selbst­ gerechte Erwartung der Juden, datz sich alles zu ihren Gunsten ändern werde. Er wagte jene Tempellästerung, die mit zu seinem Todesurteil führte, datz von dem Tempel Gottes kein Stein auf dem andern bleiben werde, wenn der Tempel Gottes vernichtet wird, so erst recht das jüdische Gemeinwesen. In der predigt Jesu von der Gottesherrschaft treten als die Güter, womit sie segnen wird, im einzelnen also folgende hervor: die Leblosigkeit, die Sündlosigkeit, die vertraute Gottesgemeinschaft, das herrschen, die Befreiung von der Römerherrschaft, wir haben nun weiter zu untersuchen, wer nach Jesus die Empfänger des Reichs und seiner Güter sind. Er hat sie vor allem wieder in seinen Seligpreisungen genannt. Deren gibt es nur sechs, die als echt gelten können, und diese sind von zweierlei Art. Eine Einheit bilden die der Armen, der Leidtragenden und der hungernden. Jesus hat nicht gesagt: „© über das Gute derer, die da geistlich arm sind", sondern einfach: „G über das Gute der Armen, denn ihrer ist das Himmelreich." Die Armen nennt er auch nach Matth. II, 5 in dem Bericht über sein wirken: „Armen wird das Evan­ gelium gepredigt." Das Verhalten Jesu zu den Armen ist der Höhepunkt in dem, was Friedrich Nietzsche den Sklavenaufstand in der Moral gescholten hat. Begonnen habe er mit den Juden. Sie seien es gewesen, die gegen die aristokrattschen Werte die Umwertung gewagt haben, nämlich: die Elenden, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten - die Leiden­ den, Entbehrenden, Rranken, hätzlichen sind auch die einzig Frommen. Und das Christentum sei die jüdische Umdrehung der vornehmen, antiken, arischen werte in unsäglich vergrötzerten Proportionen. Zu dieser Geschichtsbetrachtung Nietzsches sei hier nur bemerkt, datz allerdings der Begriff „die Armen" bei den jüdischen Propheten und auch bei Jesus die Nuance hat, die in der Armut bewährte Frömmigkeit mit zu umfassen. Jesus denkt die Armen, deren das Himmelreich sei, nicht ohne Frömmigkeit, die sie in ihrer Armut bewähren.

80 Aber was war ihre Armut? wer waren die Armen? Jesus und die Hörer seiner predigt bezogen den Ausdruck nicht auf die wirtschaftliche, finanzielle Lage, sondern auf die Geltung und Rangordnung im damaligen jüdischen Volke. Maßgebend ist dafür dessen Schichtung durch das religiöse Parteiwesen. Die „Armen" sind die von den Pharisäern und Schriftgelehrten verachtete Plebs, die von den strengen Beobach­ tern des mosaischen Gesetzes gemiedene schlechte Gesellschaft, die gesetzlich Niedrigen, die gottesdienstlich Unreinen. Auch wohlhabende Leute können zu den sogenannten „Armen" ge­ hören, z. B. die Zöllner, deren Gewerbe als ungesetzlich galt, die sich nicht reinhalten konnten von befleckendem Umgang mit Heiden. Ebendieselbe Volksklasse, die Jesus mit den Armen meint, meint er auch mit den „Unmündigen", die er den „Weisen" gegenüberstellt, und mit den „Mühseligen und Be­ ladenen", die er von den bisherigen Volkslehrern hinweg in seine erquickliche Lehre ruft. Sie sind beladen mit den Satzungen, die zum mosaischen Gesetz noch hinzugefügt waren. (Es gab der Gesetze so viel, daß der Durchschnittsmensch sie gar nicht alle merken, richtig anwenden, im alltäglichen Gewerbsleben befolgen konnte. Unter den sogenannten Armen gab es natürlich auch viele bettelarme, hungernde. Sie leiden an einer Not, die, wie wir sahen, die zur Schicht der Armen gehörige Familie Jesu, diesen selbst und seine Jünger nicht drückte. Wenn nun diesen hun­ gernden die dritte Seligpreisung gilt, so wirkt jene Nuance nach, die der Begriff der Armen hat. Jesus meint immer dieselbe Schicht, deren Angehörige er sich nicht ohne Frömmig­ keit denkt. Man leidet darin nicht nur an einer Not, der religiösen Achtung, sondern viele sind auch Hungerleider, viele tragen schwer an Trauer und Leid — „selig sind, die da Leid tragen". Wie die Armen, sind auch die Leidtragenden und die hungernden als Leute vorgestellt, die in ihrer Leidenslage Frömmigkeit bewähren. Was für Frömmigkeit? Stille Er­ gebung, gelassene Geduld, Gottvertrauen und Sehnsucht nach Erlösung zeichnet diese Armen aus, für die die Pharisäer nichts übrig haben, als was sie nach Joh. 7, 49 über das Jesus anhängende Volk sagten: „Dieser Pöbel, der das Gesetz nicht kennt — verflucht sind sie." hauptsächlich machte das Schuld­ bewußtsein die Armen anziehend für Jesus. Denn wir haben

81 zu seiner Seligpreisung der Armen eine gute Illustration an seinem Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner. (Es hat zur ge­ schichtlichen Voraussetzung, was sich damals auf Johannes' und Jesu Bußruf hin ereignete, daß die Zöllner und Sünder den Pharisäern aufs Himmelreich zu vorauskamen. Da schauen wir den gesetzlich überkorrekten Pharisäer, wie er einen „Armen", den Zöllner, verachtet. Aber selig dieser verachtete Arme, der Schuldbewußtsein bewährt! Venn er ging hinweg gerechtfertigt vor jenem - seiner ist das Himmelreich! Bemerkt werden muß auch, was Jesus in diesen drei ersten Seligpreisungen den Armen, Leidtragenden und hun­ gernden verheißt: den Besitz des Reichs und seiner Güter Trost und Sättigung. Also darin wird Gottes Herrschaft gesehen, daß sie gerade mit dem segnet, was mangelt. Aber absurd wäre es, Jesus zuzutrauen, daß er an Sattessen bei künftigen Festmählern gedacht habe. © über das Gute derer, die jetzt am Leben leiden; denn sie sollen es gut haben! Vie zweite Art von Seligpreisungen, die der Barmherzigen, der herzensreinen und der Friedfertigen, gehört weniger zur Reichspredigt Jesu, als vielmehr zu seiner Sittenpredigt, hier werden in seligpreisender Form Tugenden gepredigt, die die Herrschaft Gottes entsprechend belohnen werde. Aber in der Reichspredigt Jesu sind ausdrücklich als Eigen­ tümer des Reichs nicht nur die Armen bezeichnet, sondern auch die Rindesgleichen, wer kennt nicht das Wort: „Laßt die Rindlein zu mir kommen und wehrt ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes." hier wird nicht etwa eine kindliche Tugend gepredigt, sondern als das, was die Rinder und die Eigentümer des Gottesreichs gleich haben, gilt Jesus nichts weiter als die hilfsbedürftige Kleinheit. Man muß hier wissen, daß auch „die Kleinen" ein Ausdruck Jesu für seine Gläubigen war. Jesus meint, bei „solcher ist das Reich Gottes" die kleinen Leute, die sich durch Geburt und Schicksal, fremde oder eigene Schuld in kleinen Verhältnissen, in niedriger Lebenslage, in geringer Geltung, in mancherlei Ghnmacht und Schwachheit befinden, woraus ihnen geholfen werden möchte. In all ihrer Not sind all diese Kleinen gerade die Rechten für das Gottes­ reich mit seiner Hilfe. 3u unserer jetzigen Untersuchung, wer nach Jesus die Empfänger des Reichs sind, gehört auch eine Zusammenstellung Thieme, Jesus und seine predigt. 6

82 seiner Beweggründe dazu, es gerade den Armen, Unmündigen, Mühseligen und Beladenen, den Kleinen, den Zöllnern und Sündern als Empfängern zu predigen. Diese Beweggründe sind teilweise schon früher berührt worden. Man darf als solche doch nicht nur sein Mitleid mit ihrer hilfsbedürftigen Lage nennen und seine Freude an der Frömmigkeit, die sie darin bewähren. Man mutz davon ausgehen, datz er nach Matth. 11, 25 Gott dafür pries, datz dieser ihn als Reichs­ prediger gerade zu den Unmündigen gesandt und ihm bei ihnen Erfolg gegeben habe. Den Villen Gottes, datz er den Armen predige, entnahm Jesus schon den früheren Offenbarungen Gottes. Er las in den Propheten und in den Psalmen von dem Wert der Armen vor Gott, las im Buch Jesus Sirach, datz den Armen Gottes Geheimnisse geoffenbart werden. Daran dachte er vielleicht bei jenem Preis Gottes, datz dieser gerade den Unmündigen durch seine predigt die höchste Offenbarung gewährt habe. Jesus hatte es ja auch soeben erst miterlebt, datz Gott Johannes dem Täufer bei den Zöllnern und Sündern Erfolg gab, aber bei den Leitern des Volkes nicht. Schön dies war für Jesus eine göttliche Weisung und so wendete er sich selbst zu solchen Kleinen. Aber auch von seiner eigenen Lebensgeschichte mutzte sich Jesus leiten lassen. Gott hatte ihn ja nicht zu einem „Weisen" und Schristgelehrten gemacht, sondern ihm als ungelehrten Hand­ werker alles selbst überliefert. Also setzte der Sohn etwas Selbsterfahrenes fort, wenn er feine Gotteserkenntnis weiter­ überlieferte an die - Ungelehrten, Armen, Mühseligen und Be­ ladenen, wenn er seine Reichspredigt an die Volksklasse rich­ tete, in der ihn Gott hatte auswachsen lassen, damit er ihre Nöte recht mitfühlen lerne. Des Willens Gottes, datz er den Armen predige, wurde Jesus aber vor allem in denjenigen Offenbarungen inne, durch welche er in der Taufzeit sich selbst und seinen Beruf kennen lernte. Damals wurde er berufen zum Gottesdienst an den Armen, der ihm, wie wir gesehen haben, schon etwas Messianisches zu sein deuchte. Sagte er, er sei gekommen, das verlorene zu suchen und zu retten, so meinte er ein Kommen als Gesandter Gottes, in seinem Namen, im Gehorsam gegen seinen Auftrag. Freilich zugleich in höch­ ster Freiwilligkeit! Denn Jesu Berufung zum Heiland der Armen wird sogar schon durch seine Naturanlage von Gott

83 vorbereitet gewesen sein. Der Glaube kann annehmen, daß Jesus von Gott mit einer natürlichen Willensneigung zu den Niedrigen beanlagt war, die ihn dazu geschickt machte, ganz angemessener Stellvertreter jener Gottesliebe zu werden, von der es in den Psalmen heißt, daß sie „den Geringen aus dem Staube aufrichtet, den Armen aus dem Kot erhebt". Mit diesem Rückgang bis auf Jesu persönliche Eigentümlichkeit, auf eine besondere Lharakteranlage in seiner Seele schließen wir die Zusammenstellung seiner Beweggründe dazu, gerade die Armen als Eigentümer des Reichs zu begrüßen. 3um Abschluß unsrer Untersuchung, wer nach Iesus die Empfänger des Gottesreichs find, beantworten wir nur noch kurz die Frage, wie er über das Verhältnis zwischen der Gottesherrschaft und der nichtjüdischen Menschheit gedacht hat. Er hat seine predigt ausschließlich an seine Volksgenossen, die Juden, gerichtet, wenn er heidnisches Gebiet betrat, wollte er nicht Heidenmission treiben. Aber seine predigt an die Juden war nicht mehr national, sondern bekämpfte ihre Einbildung, daß sie bereits durch ihre Abstammung des Reiches sicher seien. Vie Reichsangehörigkeit beruht nur auf der Umkehr zu rechter Frömmigkeit und Sittlichkeit. In solcher Umkehr sollten es ja auch die Armen und Kleinen täglich weiterbringen, die Jesus als Eigentümer des Reichs beglückwünschte. Und wenn jemand, der kein Armer war, umkehrte und in Jesu kleine Herde ein­ trat, so war er tauglich für das Reich Gottes. Der nationale Gegensatz zwischen Jüdisch und heidnisch verbleicht, die Be­ rufung der Armen soll die Standesunterschiede aufheben, nicht verewigen, entscheidend ist allein die zeitgemäße, d. h. durch Jesus gewonnene Frömmigkeit und Sittlichkeit. Je mehr die predigt Jesu in allen Schichten des jüdischen Volks abgelehnt wurde, desto bestimmter drohte er das Gericht über die Juden an, und desto bestimmter weissagte er, daß es der Gottesherr­ schaft nicht an Untertanen fehlen werde, sondern daß eine Menge von Gst und West kommen werde und es gut haben im Reiche Gottes. Das sind allumfassende, auf die Heiden­ völker bezügliche Ausblicke der predigt Jesu. Aber daß er als Auferstandener den Befehl zur Weltmission gegeben: „Gehet hin und lehret alle Völker", bestreitet das wissen mit ver­ schiedenartigen guten Gründen, und der Glaube mutz es meiner Meinung nach nicht zu verteidigen versuchen. Venn es ge6*

84 nügt, daß die Weltmission mit Notwendigkeit aus dem Geiste Jesu und aus der Begeisterung für ihn hervorgehen mutzte. Das rechte christliche Motiv zur Weltmission steht nicht Matthäi am letzten, sondern Apostelgeschichte 4, 20: „wir können's ja nicht lassen, datz wir nicht reden sollten, was wir gesehen und gehöret haben" - nämlich an Jesus, von Jesus. Übrigens kann der Glaube annehmen, datz das wunderbare Erlebnis des Paulus vor Damaskus seinem Gehalte nach ein Welt­ missionsbefehl war. So wären wir nun fertig mit dem, was über Jesu pre­ digt von Gottes Reich, Zeit, Grt und Art seiner Gründung, seinen Gütern und seinen Empfängern gesagt werden konnte. Aber programmgemätz behandeln wir heute noch die Voll­ endung des Gottesglaubens durch die Reichspredigt Jesu. wir haben zunächst vom Gottesglauben und zwar auch von Jesu eigenem zu reden, wenn man bei Jesus von Fröm­ migkeit, Glaube, Gebet spricht, mutz man beachten, datz nicht nur der Stärke, sondern auch dem Inhalt nach ein gewisser Unterschied besteht zwischen seinem eigenen Frommsein, Glauben und Beten und demjenigen, wozu er seine Jünger fördern will. Das ist übrigens eine sehr einfache religionsgeschichtliche Wahr­ heit: der Prophet ist mehr und hat mehr, als was seine An­ hänger sein können und haben dürfen. Der religiöse Riese'ver­ kehrt anders mit seinem Gott als wir Zwerge. Der Haupt­ unterschied ist, daß Jesus frei war von Schuldgefühl; deshalb ist das Vaterunser mit „vergib uns unsre Schuld" nicht auch sein eigenes Gebet. Seine Gottesfurcht war nur die eines zarten Gewissens vor Gott als Gesetzgeber, das zurückbebt vor der geringsten Schuld; sie war nicht die Gottesfurcht des bösen Gewissens vor Gott als Richter. Aber es bestehen doch auch mannigfache Gleichheiten zwischen dem Frommsein, Glauben und Beten Jesu selbst und dem seiner Jünger, vor allem gilt, datz eben auch Jesus glaubte und nicht beständig im Schauen wandelte, datz er wirklich, ernstlich betete. Die höhe seines eigenen Gottesglaubens, auf die er seine Jünger emporziehen möchte, ersieht man aus einem seiner versuche dazu, aus der Mahnung bei Mark. 11: „habt Glauben an Gott, wahrlich, ich sage euch, wer zu diesem Berge sagt: heb dich empor und stürz dich ins Meer - und zweifelt nicht in seinem Herzen, sondern glaubt, datz, was er spricht, geschieht,

85 dem wird es geschehen. Darum sage ich euch: Alles, was ihr betet und bittet, glaubt, datz ihr's empfangen habt, so wird es euch zuteil werden." Jesus hat hier Glauben und Beten zu­ sammengefordert: den Glauben an (Bott, der von ihm das schier Unmögliche kühnlich erbittet. Sehr interessant ist die Wahl des Beispiels: Berge versetzen. Das war sprichwörtlich für: schier unmöglich Scheinendes verwirklichen. (Es war aber mindestens für den Hellenen eine unfromme Idee. Er fand es frevelhaft, gewaltsam in die Natur einzugreifen und die geographische Beschaffenheit des Erdbodens zu verändern. Als z. B. der persische König Xerxes die Landzunge zwischen dem Vorgebirge Athos und dem Festlande durchstechen und die Dardanellen überbrücken liefe, erschien dies den Griechen als unfromme Vermessenheit und Mißachtung des von der Natur Gegebenen. Den Knidiern gab das göttliche Grakel auf ihre Anfrage, ob sie ihre Landenge durchstechen sollten, die abweh­ rende Antwort, wenn Zeus gewollt hätte, würde er eine Insel gebildet haben. Die Idee des Bergeversetzens mufe also für das fromme Gefühl der alten Griechen etwas verletzendes ge­ habt haben. Jesus hat mit ihr die Idee des Unmöglichen aus dem Glauben seiner kleingläubigen Jünger verdrängen wollen: ihr Glaube an die Allmacht Gottes soll grenzenlos sein. Die sprichwörtliche Idee des Bergeversetzens ist Jesus gerade recht gewesen. Sie patzt zu seiner Frage: Seid ihr denn nicht viel mehr als Vögel, Blumen — Berge? Seinem Geist ist es auch nicht zuwider, mit lenkbaren Luftschiffen über die Berge hin­ wegfliegen zu wollen. Aber was sollen wir nun zu dieser überschwänglichen Behauptung über die Allgewalt des bergewegbetenden Glaubens sagen? So etwas kann nur auf Grund ganz aufeerordentlicher Erfahrungen gesprochen sein, wie sie Jesus bei seinen Kranken­ heilungen machen durfte. Er konnte gewitz mit vollster Wahr­ hastigkeit so reden. Der bergeversetzende Glaube im Leben und der predigt Jesu bedeutet eine in der Neligionsgeschichte einzigartige Glaubens- und Gebetsgemeinschaft mit Gott. (Es ist die höhe des Glaubens an die väterliche Vorsehung Gottes, väterliche Vorsehung Gottes! was bedeutet Jesus für den Glauben an Gott als Vater? Gott galt als Vater des Volkes Israel, ja es war auch schon jene Wertschätzung der Einzelpersönlichkeit im Ansteigen, der nur der Glaube genügt,

86 daß Gott der Vater des einzelnen Gläubigen sei. Wir kommen auf diesen sogenannten Individualismus im letzten Vortrag zurück. Aber Jesus brachte die Vollendung: er überbietet alles durch die wie selbstverständliche Gewißheit, womit er den Gott­ vaterglauben übt und predigt. Um dies predigen recht zu wür­ digen, muß man bedenken, daß Jesus nicht etwa unterläßt, die Furcht vor Gott als Richter und seine unermeßliche Er­ habenheit zu predigen, wovon das nächstemal weiter zu reden ist. Er erweicht und verweichlicht nicht den Gottesbegriff durch das Glaubensurteil: „Gott ist mein Vater." Also hat dies Urteil bei ihm etwas zu bedeuten: daß er es dem so, so hehr und hochheilig vorgestellten Gott gegenüber selbstverständlich macht. Am unerreichtesten ist Jesus als Prediger und Stellvertreter der die Sünder suchenden vaterliebe Gottes. Lr hat sie ge­ predigt in solchen Gleichnissen wie dem vom verlorenen Sohn. Aber diese Gleichnisse beziehen sich auch auf das, was jetzt Gott durch seinen Stellvertreter Jesus an den Sündern tut. Vas Gleichnis vom verlornen Sohn steht bei Lukas Rap. 15. Der Evangelist erzählt v. 2, daß die Pharisäer und Schriftgelehrten über Jesus murrten: „Vieser nimmt die Sünder an und ißt mit ihnen". Daraufhin hat Jesus nach Lukas die drei Gleich­ nisse vom verlornen Schaf, Groschen und Sohn gesprochen. Jene Einleitung des Lukas würde zunächst nur darauf führen, daß Jesus sein eigenes Tun an den Sündern durch das eines Vaters an seinem verlornen Sohn rechtfertige, daß er gar nicht die Gesinnung Gottes habe abmalen wollen. Aber gesetzt auch, daß das Gleichnis von der Sünderliebe Gottes redet, so darf man nicht etwa schließen, daß es deshalb von der Sünderliebe Jesu nicht rede. Eben weil Gott so liebt, wie das Gleichnis beschreibt, liebt auch Jesus, sein Stellvertreter, jetzt so. Denn Jesu Liebe hat an Gottes Liebe ihre Vollmacht. Die Gnade, die Jesus schildert, kennt er nicht nur an Gott, sondern er selbst übt sie in seinem Namen. Das Gleichnis drückt eben nicht nur eine Idee Jesu von Gott aus, sondern es erklärt ein gegenwärtiges Geschehen: ein jetzt durch Jesus hindurch geschehendes Tun Gottes: Gott vergibt den schuld­ bewußten Sündern ihre Sünde, indem er seinen Stellvertreter mit ihnen verkehren und ihnen das Reich predigen läßt. Den Glauben an die sündenvergebende vaterliebe Gottes hat Jesus zuweilen ins Herz eines Sünders hineingesprochen durch die

87 Absolution: „Mein Sohn, dir sind deine Sünden vergeben", nämlich von Gott vergeben. Da verkündigt er auf Erden Gottes himmlisches Begnadigen und überträgt es dadurch auf die Erde. Aber als Sündenvergebung galt den Sündern und den Pharisäern und Jesus selbst auch schon sein leutseliger Verkehr mit den Sündern, seine Freudenbotschaft an sie, datz sie nicht untauglich seien für das Reich, wenn sie umkehren. So hat Jesus als Sünder­ heiland den Glauben an Gott als gnädigen Vater vollendet. Nun behaupteten wir aber die Vollendung des Gottes­ glaubens, des Gottvaterglaubens durch die Reichspredigt Jesu. Wie ist das gemeint? Jesus lehrte dafürzuhalten, datz die den Gottvaterglauben bedrohenden Leiden der Gegenwart nichts wert sind gegen die Herrlichkeit des Reiches, die bald soll offenbaret werden. Seine Reichspredigt war einfach seine Rechtfertigung Gottes wegen des Übels in diesem Jammertal. „G über das Gute derer, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden." Niemand hat tiefer die Unvernunft alles Leids empfunden als Jesus. Es ist ein Prachtwort wellhausens: „Jesus lehrt nicht, datz das Rreuz süß und die Krankheit gesund sei." Das Leid ist ihm das, was nicht sein sollte, warum hat es Gott der Vater zugelassen? Nun, wenn seine nahe Herrschaft sich durchsetzen wird, da wird man es gut darin haben. Das Gottesreich Jesu entspricht insofern dem höchsten Gut des Philosophen Kant, als zu diesem gehört, datz die Glückwürdigkeit gekrönt werde mit Glückseligkeit. Man nennt das, man schilt das den christlichen Eudämonismus. Jesu Reichspredigt ist eine Glückseligkeitslehre, womit er die Gewißheit der vaterliebe Gottes vollenden wollte. Das wird hart gescholten. Man beklagt in der christ­ lichen Glückseligkeitslehre „eine auf das äußerste gesteigerte Selbstsucht, ein unersättliches Glücksbedürfnis, das den Lebensgenutz ins unendliche steigern möchte". Aber wurzelte wirklich die Hoffnung Jesu auf das Reich und dessen Herrlichkeit in seinem selbstsüchtigen Glücksbedürfnis? Nein, in etwas ganz anderem wurzelte sie: in seinem frommen Eifer für Gottes Ehre, der seine Herrschaft durchsetzen müsse gegen den Teufel, der alles Übel verschuldet. Jesus hat zwar auch das eigene Kreuz nicht süß genannt, aber seine Seele war so edel und groß, datz er das fremde Leid nicht ertragen konnte ohne seine Reichshoffnung.

88 (Er hat ja die Hoffnung auf das Gottesreich nicht erfunden, sondern die vorhandene jüdische geläutert in seiner lauteren Seele. Sein herz bejahte jubelnd Weissagungen wie Jesaia§65: „Ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue (Erbe; froh­ lockt und jubelt auf immer über das, was ich schaffe; nicht soll sich darin ferner ein Laut des weinens und ein Laut der wehklage vernehmen laffen." Daß Gottes Herrschaft alles neu machen werde, war ein 3ug im Gottesbild Jesu, den er nicht entbehren konnte, um fertig zu werden mit den fürchterlichen Eindrücken von Sünde und Übel. Also daß Gottes volle Segens­ herrschaft kommen werde, ist für Jesus gewiffermaßen durch Gottes Ehre gefordert: der Vater mutz schließlich volle (Ordnung schaffen im Hause — „moralische Weltordnung" nennt man das philosophisch. Im Interesse der Ehre des Vaters tritt der Sohn vor die Armen und Leidtragenden und hungernden und er­ klärt sie zu Eigentümern des Reichs und seiner Güter. Und nun überbot ja Jesus alle frühere prophetische Reichs­ predigt durch die Botschaft, daß das Reich jetzt ganz gewiß komme, daß die Wendezeit schon angebrochen sei, daß derjenige schon da sei, durch welchen Gott (Ordnung schaffen wird - das ist er selbst. Als der zum Weltordner Bereitete und Berufene fühlt sich Jesus als Bürge dafür, daß Gott trotz des Weltleids dennoch wirklich Vater ist. Daran, daß der Stellvertreter Gottes bei der Weltvollendung schon da ist in der Welt, hat man die Bürgschaft, daß jene Weltvollendung bald genug stattfinden wird: sie wird schauen laffen, an was man jetzt glauben muß: Gottes vaterliebe. Die Weltvollendung ist noch nicht gekommen - aber denen, die an Christus glauben, ist er der höchste Bürge der vater­ liebe Gottes geblieben, von ihr erhoffen sie die eigene Voll­ endung und die der ganzen Welt, und zwar, wenn sie rechte Jünger Jesu sind, auch nicht aus unersättlichem Glücksbedürf­ nis. Das wäre auch wider die Sittenpredigt Jesu, die uns noch zu beschäftigen hat.

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5.

Vie Altenpredigt Jesu von der wahren, in seiner Nachfolge zu Selbstverleugnung und Selbsterniedri­ gung willigen Gotter- und Menschenliebe. Vie beiden letzten Vorträge dieses Hochschulkursus über Jesus und seine predigt sollen seiner Sittenpredigt gewidmet sein. Damit meint man die sittlichen Mahnsprüche und -reden, die Jesus seit seinem öffentlichen Auftreten als Volksprophet gesprochen hat. frühere sind uns ja gar nicht erhalten. Aber schon früher hatte Jesus gewiß einen großen Teil der sittlichen Lebensanschauungen, die er dann öffentlich predigte. (Er war ja schon in dem reifen Alter von etwa fünfunddreißig Jahren, als er die in seinem Leben Epoche machende Taufzeit durch­ lebte. Nicht erst in ihr und während des einen Jahres zwi­ schen ihr und seinem Tode gewann er alle von ihm während dieses einen Jahres gepredigten sittlichen Überzeugungen. Mag die sittliche Tragweite dessen, was Jesus in und seit der Tauf­ zeit erlebte und erkennen lernte, noch so groß sein, gewiß wurden nicht infolge davon alle seine bisherigen sittlichen Gesichtspunkte durch lauter neue überboten, die nun allein seine Sittenpredigt beherrschten, vielmehr ist diese abhängig zu denken von der ganzen Länge und Brette seiner Existenz, z. B. von seiner lebenslänglichen Gottinnigkeit, und nicht nur von der Glut seiner Hoffnung in seinem letzten Lebensjahre. Es denken sich nämlich viele Beurteiler der Sittenpredigt Jesu diese in einseitiger und übertriebener Weise durch seine Erwartung der Nähe des Weitendes beherrscht. Dabei nehmen sie an, daß er diese Erwartung nicht zeitlebens, sondern erst seit der Taufzeit hegte, und diese Annahme wird richtig sein. Aber dann darf man eben nicht alles oder allzuviel aus der neuen Erwartung erklären, sondern mutz voraussetzen, daß mit ihr viele sittliche Mahnungen Jesu gar nichts zu tun haben.

90 Erklärt sich denn z. B. sein verbot der Sorge für den morgen­ den Tag daraus, daß er das Weltende vielleicht schon morgen erwartete? (vder bestimmte nicht vielmehr das Gottvertrauen, das Jesus lebenslänglich übte, seine Rede wider die Sorge? Wenn die von uns als einseitig und übertrieben bezeich­ nete Auffassung der Sittenpredigt Jesu recht hätte, so schiene deren Geltung eine sehr beschränkte zu sein. Ruf die letzte Zeit dicht vor dem Weltende berechnet, würde sie wohl nur für eine solche außerordentliche Zeit passen und nicht für alle Zeitalter ausreichen. Man kann freilich in Betracht ziehen, daß etwas, was ähnlich wirkt wie das Weltende, die Men­ schen aller Zeitalter sehr nahe angeht: ihr eigenes Lebensende. Jesu Erwartung der Nähe des Weitendes war zwar ein Irr­ tum. Aber belastet er seine Sittenpredigt, da doch niemand weiß, wie nahe ihm sein Ende? Wenn Jesus das Kommen des unbekannten Jenseits in nächster Nähe erwartete, so teilen wir diese Erwartung nicht mehr; aber in nächster Nähe bleibt für uns unser Lebensende und unser Kommen ins unbekannte Jenseits. Jesu Sittenpredigt selbst hat auch an dieses Ende gemahnt: daß ja noch heute nacht Gott jedem von uns sein Leben abfordern könne. Vie Abhängigkeit der Sittenpredigt Jesu von seinem Glauben an die Nähe des Weltendes darf man nicht über­ treiben, aber man kann gar nicht stark genug betonen, daß sie durch und durch beherrscht ist von dem allerlebendigsten Glauben an Gott und das Jenseits. Mit dem Gottes- und Jenseitsglauben steht sie und fällt sie. Ghne ihn kann man wohl nichts von ihr so beibehalten, wie es gemeint ist. (Es ist eine Täuschung, wenn man etwa meint, auch Leugner Gottes und der Unsterblichkeit könnten gerade durch die Sitten­ lehre Jesu mit dem Christentum in einer gewissen Fühlung bleiben, wenigstens von der historisch richtig verstandenen, nicht modernisierten Sittenlehre Jesu gilt, daß sie Leugner Gottes und der Unsterblichkeit nur abstoßen kann, weil sie ihnen durch das, was sie als Aberglaube bekämpfen, ganz verdorben scheinen muß. Vie Behandlung der Sittenpredigt Jesu hat auszugehen von dem Ruf Kehrt um! durch den er wie die alten Propheten und sein Vorläufer Johannes der Täufer das Volk aufrüttelte. Er sieht alle auf einem Wege, von dem sie umkehren müssen, weil er sie nicht ins Reich Gottes, nicht zum ewigen Leben

91 führt. Und welches ist denn der Weg, den sie statt dessen schleunigst aufsuchen müssen? hier darf man folgendes Wort Jesu nicht mißdeuten: „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr! wird eingehen in das Reich Gottes, sondern wer den Willen meines Vaters tut." Man hat hier die Erklärung Jesu finden wollen, es bedürfe gar keines auf ihn selbst be­ züglichen Glaubens und Bekennens, sondern den alten Geboten Gottes gehorchen sei ein und alles. Über man mutz vergleichen,

was Jesus in einer bestimmten geschichtlichen Situation über das Tun des Willens Gottes gesagt hat. Als ihm einmal seine Mutter und Brüder angemeldet wurden, sagte er: „Wer ist meine Mutter und meine Brüder?" und er schaute die rings um ihn herum Sitzenden an und sprach: „Siehe da meine Mutter und meine Brüder! jeder, der den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter." hiernach tut den Willen Gottes, wer sein Jünger ist, wer ihn als Meister anerkennt, was seine eigene Familie nicht tut. Der gegenwärtige Wille Gottes ist, Jesu predigt sich gesagt sein zu lassen, dem Wort Gottes, mit dem er austritt, Gehorsam zu erzeigen und zu tun, was er als den willen Gottes kündet. Es ist Jesus nicht eingefallen, in jenem wort über das HerrHerrsagen alle Anerkennung seiner selbst im vergleich mit dem Gehorsam gegen die alten Gebote Gottes zu entwerten. Er hat nur diejenige Anerkennung seiner selbst entwertet, welche nicht den Gehorsam gegen seine sittlichen Forderungen ein­ schließt. Jesus versteht unter dem Tun des Willens Gottes die Anerkennung seiner Person und seiner ganzen predigt durch den Glauben an ihn und durch den Gehorsam gegen seine sittlichen Forderungen, wenn nicht auch solche praktische Anerkennung durch sittlichen Gehorsam Hinzutritt, frommt es nichts, seiner Person anzuhangen. Jene Frage, auf welchen weg der Ruf Jesu Rehrt um! ruft, kann man also mit dem Wort beantworten, das das vierte Evangelium Jesus in den Mund legt: „Ich bin der Weg - und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich." Durch den Ruf Rehrt um! fordert Jesus die hinkehr zu sich selbst, die die hinkehr zum Gehorsam gegen seine Sittenpredigt erschließt. Aber wie verhält sich diese zu den alten Geboten Gottes im mosaischen Gesetz? Jesus fühlte sich als den unfehlbaren

92 Ausleger der alttestamentlichen Gesetzgebung. (Er, der einzige Sohn Gottes, kennt den willen des göttlichen Gesetzgebers besser sogar als Moses, er allein kennt ihn. (Er ist die Wahr­ heit. Darum bedarf es einer hinkehr zu seiner wahren Ge­ setzesauslegung ; diese weist einen andern weg als den, welchen die Pharisäer und Schriftgelehrten gingen und führten. Die geforderte Umkehr, die eine hinkehr zu Jesus ist, ist auch eine Umkehr vom weg der Pharisäer und Schriftgelehrten. Die Sittenpredigt Jesu hatte den Charakter einer Kampfes» predigt gegen die bisherigen Gesetzes- und Sittenlehrer. Das verbietet aber nicht, folgende Annahmen über das Haupt- und Grundgebot der Sittenpredigt Jesu zu machen. Als dieses gilt den meisten mit Recht das Doppelgebot der Liebe: Gott zu lieben von ganzem herzen und den Nächsten wie sich selbst. Diese zwei Gebote stehen ja im alttestament­ lichen Gesetz. Aber sie stehen da an ganz verschiedenen Stellen, und ihre Zusammenstellung gilt vielen als eine der größten Taten Jesu. Dem widerspricht, wie bei Lukas 10 das Ge­ spräch über das Doppelgebot der Liebe überliefert ist. Danach hat gar nicht Jesus selbst die zwei alttestamentlichen Gebote als die Summa des Gesetzes zusammengestellt, sondern ein jüdischer Gesetzeslehrer tat das auf die Frage Jesu hin, was im Gesetz über das zum ewigen Leben nötige Tun stehe. Jesus habe dann nur die das Doppelgebot enthaltende Antwort als richtig bezeichnet. Man kann wirklich annehmen, daß die Zusammenziehung des Gesetzes ins Doppelgebot der Liebe einem verständigen jüdischen Gesetzeslehrer erschwinglich war, und daß es im Sinne Jesu ist, auch seine eigene Sittenpredigt so zusammen­ zuziehen, seine Sittenpredigt, die doch in die zwei alten Formeln einen neuen Inhalt füllt, den alleinwahren. Das Gebot der Liebe zu Gott war das bekannteste von allen Schriftworten; denn es kam in einem Gebet vor, das der Jude schon zu Jesu Zeit täglich morgens und abends betete. Anderseits faßte man auch schon in die Nächstenliebe das Gesetz zusammen. Nicht erst Jesus scheint die sogenannte „goldene Regel" auf­ gestellt zu haben: „Alles, was ihr wollt, daß die Leute euch tun sollen, das sollt auch ihr ihnen tun." war das Gebot der Gottesliebe das bekannteste Schristwort und gab es auch schon die Zusammenziehung des Gesetzes ins Gebot der Nächsten­ liebe, so kann die Überlieferung des Lukas nicht als unwahr-

93 scheinlich gelten, daß nicht Jesus, sondern ein Schriftgelehrter jene beiden Gebote zum voppelgebote der Liebe zusammenfügte. Falsch wäre es, die sogenannte „goldene Kegel" zum Haupt- und Grundgebot der Sittenpredigt Jesu aufzubauschen; denn sie umfaßt ja nicht die Liebe zu Gott. Ebenso einseitig wie die goldene Kegel ist ein anderes hohes Gebot Jesu, das man auch fälschlich hat zu seinem Grundgesetz machen wollen: „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist." Vas Wort „vollkommen" kommt in den Evangelien nur bei Matthäus vor, hier in dieser Stelle und außerdem nur noch einmal. Es ist gewagt, auf diese beiden Stellen hin Jesus den Begriff beizulegen - er wird vom ersten Evangelisten eingesetzt sein statt des viel echteren „barm­ herzig" bei Lukas, der 6, 36 so überliefert: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist." Damit stellte Jesus als Vor­ bild unsrer Feindesliebe hin die „väterliche göttliche Güte und Barmherzigkeit", aus der Gott seine Sonne aufgehen läßt über Böse und Gute. Kur in dieser bestimmten Richtung wird Gott als Vorbild hingestellt, und nur in dieser Gesinnung der Güte und Barmherzigkeit ist Ähnlichkeit mit Gott denk­ bar — aberwie groß ist die Verschiedenheit ihrer Betätigungen! Der Mensch betet für seine Feinde, Gott läßt seine Sonne uufgehen und regnen, wie verschieden sind die menschlichen und die göttlichen Betätigungen der Feindesliebe! Deshalb kann nicht die Gottähnlichkeit als der zusammenfassende Grund­ gedanke der Zittenpredigt Jesu gelten; er wäre unpraktisch und einseitig, er paßt nicht zu ihrer religiösen Seite, weil Gott keine Religion hat. Nicht in der Idee der Nachahmung Gottes tritt uns das Neue der Sittenpredigt Jesu von der Gottes- und Menschen­ liebe entgegen, wohl aber in der Idee der Nachfolge Jesu. Das Nachfolgen bedeutet zunächst: zu dem Gefolge Jesu gehören, das mit ihm, dem Wanderprediger, hin und herzieht. Äußer­ liches, räumliches Eintreten in seine Gefolgschaft als Jünger und Mitarbeiter - das war es, was gemeint war, wenn Jesus z. B. zu Petrus und Andreas sprach: „Kommt her mir nach", wenn Petrus später sagte: „Sieh, wir haben alles ver­ lassen und sind dir nachgefolgt." Aber nun gibt es schwierige Sprüche Jesu wie den Mark. 8, 34: „wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich." hier

94 ist das Bild auffällig, daß der Nachfolger sein Kreuz auf seinen Kücken nehmen soll dementsprechend, daß Jesus, dem er nach­ folgt, sein Kreuz auf sich genommen hat. Ls wäre möglich, daß Jesus, um das schwerste Leiden zu veranschaulichen, schon selber das Bild der römischen Hinrichtungsart, der Kreuzigung, gewählt hätte. Aber wahrscheinlicher ist doch, daß das Wort erst nach dem Vorbild der Kreuzigung Jesu hinterher in der Überlieferung seine Prägung erhalten hat. Durch die Kreuzigung Jesu war das Kreuz den Christen zum Bild für Leiden und Selbstverleugnung geworden, wozu man willig sein müsse. Jesus hat jedenfalls gefordert, daß man ihm in Selbstverleugnung bis in den Tod folgen müsse. Über an wen hat er diese Forderung gerichtet? 3n diesen Sprüchen ist die Nachfolge uneigentlich gemeint und von einem größeren Kreis als dem Gefolge Jesu gefordert. (Es handelt sich dabei nicht bloß darum, daß man bei Lebzeiten Jesu ihn begleitet, sondern darum, daß man wie er für Gottes Sache in den Tod geht. Die Nachfolge wird zur Nachahmung und ist als solche auch nach seinem Tode möglich und geht da erst recht an. Klan soll wie er sich selbst verleugnen bis zum Tode. Vieser ist dar äußerste. AIs eine andere Selbstverleugnung wird z. B. der Bruch mit der Familie genannt. Jesus fordert in diesen Sprüchen die Willigkeit, seine Selbstverleugnung nachzuahmen, indem man mit ihm und für ihn leidet. Nun richtet sich die Selbstverleugnung gegen den natür­ lichen und an sich berechtigten Willen des Selbst zu leben und zu genießen. 3m Selbst sehr mächtig ist aber auch der Wille nach Geltung und Vorrang. Gegen das Geltenwollen richten sich Jesu Mahnungen zur Selbsterniedrigung, und in einer Art von Selbsterniedrigung hat er sich ausdrücklich als Vorbild ausgestellt: im Dienst an den Brüdern. Denn „dienen" be­ deutet Jesus nicht etwa nur anderen helfen, sondern in Niedrig­ keit helfen, worauf wir noch zurückkommen werden. Mit der Nachfolge Jesu in Selbstverleugnung und besonders mit der in Selbsterniedrigung können wir nun das Eigentüm­ liche der Sittenpredigt Jesu hineinbringen in das jüdische Doppel­ gebot der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Wenn es im ersten der beiden Gebote heißt, man solle Gott lieben „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft", so hat Jesus durch sein Leben und durch seine Sittenpredigt dies „von

95 ganzem herzen" recht ausgelegt: im Dienste (Bottes verleugnete und erniedrigte er sich selbst bis zum Tode, und wenn der Thrift in Jesu Nachfolge Gott mit Selbstverleugnung und Selbst­ erniedrigung dient, so liebt er ihn „von ganzem herzen". Und wenn es im zweiten der beiden Gebote heißt, man solle den Nächsten lieben „wie sich selbst", so hat Jesus durch sein Leben und durch seine Sittenpredigt auch das „wie sich selbst" recht ausgelegt: im Dienst für die Menschen verleugnete und erniedrigte er sich selbst bis zum Tode, und wenn der Thrift in Jesu Nachfolge dem Nächsten mit Selbstverleugnung und Selbsterniedrigung dient, so liebt er ihn „wie sich selbst". Denn um seiner selbst willen unterwirst man wohl sein Selbst der Verleugnung und Erniedrigung - man soll das auch um des Nächsten willen tun. Ls konnte also, wie das im Programm geschehen ist, als Inhalt der Sittenpredigt Jesu kurz angegeben werden: die wahre, in seiner Nachfolge zu Selbstverleugnung und Selbsterniedrigung willige Gottes- und Menschenliebe. Aber ehe wir nun die von Jesus gepredigte, zu Selbst­ verleugnung und Selbsterniedrigung willige Gottes- und Menschen­ liebe im einzelnen näher darstellen, möchten wir die Idee der Nachfolge Jesu noch weiter untersuchen. Schon er selbst hat sie zur Idee seiner Nachahmung erweitert und sich dadurch als Vorbild hingestellt. Cr wollte die wahre Gottes- und Menschenliebe nicht nur vorschreiben, sondern auch vorbilden, vormachen. Ja, noch mehr wollte er: er wollte sie hineinbilden in das herz seiner Anhänger, diesen die Kraft zu seiner Nach­ ahmung mitteilen, sie mit fortreißen zu seiner eigenen (Bottes» und Menschenliebe, seinen zu Selbstverleugnung und Selbst­ erniedrigung willigen Geist auf sie fortpflanzen, übertragen. Davon wie Jesus über die kleine Herde seiner Jünger, während sie ein Jahr lang ihm nachfolgte, seinen Geist ausgoß, möchten wir ein wenig reden. Diese Geistesausgießung ist uns bekannter und wohl auch wichtiger, als was zu Pfingsten geschah. Manches freilich im Geiste Jesu war zu groß, zu erhaben, um sich auf seine Jünger sortpflanzen zu können, und etwas fehlte im Geiste Jesu, was seine Jünger nötig hatten: das Schuldgefühl. Wir betonten schon das vorige Mal die unnachahmliche Größe des Propheten über seinen Anhängern und den auch inhaltlichen Unterschied zwischen Sünderftömmigkeit und der Frömmigkeit des schuldlosen Herrn Jesus. Aber doch soll zunächst an einer

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frommen Betätigung, am Gebet, verdeutlicht werden, wie Jesus durch sein Vorbild mehr noch als durch seine Vorschriften seinen Geist ausgotz. Beten gelehrt hat Jesus seine Jünger nicht nur durch das Vaterunser, sondern auch dadurch, datz er sie einige Male zuhören ließ, wie er selbst mit Gott redete. (Einmal dursten sie ihn mit Gott über sie selber reden hören, darüber, daß gerade sie seine Jünger geworden. (Es war jenes Preisgebet: „Ich preise dich Vater, Herr Himmels und der Erde, datz du dies, wahrend du es den Weifen und Klugen verbargst, den Unmündigen geoffenbart hast; ja, ich preise dich, Vater, datz es so vor dir beschlossen wurde." Aus diesem Preisgebet Jesu lernten seine Jünger, wie er in Selbst­ erniedrigung vor Gott ihm allein Preis und Ehre gibt. Denn was rühmt er als die Ursache seiner predigt an die Unmündigen und ihres Erfolges? Nur Gottes Wohlgefallen und Beschlutz. Er fühlte ja seinen persönlichen Trieb, gerade diesen Kreisen zu predigen, und er setzte ja dabei seine große persönliche Werbe­ kraft ein. Aber nichts persönliches bringt er in Anschlag, sondern in heiliger Begeisterung über die Herablassung des Allherrn zu den Unmündigen dankt er dessen Regierung seinen ganzen (Erfolg. (Ein andermal durften drei Jünger Jesu hören, wie er Selbstverleugnung vor Gott im Gebet bewährte. In Gethsemane bat er zwar um Wegnahme des Leidenskelchs, schloß aber mit: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe". Im Vaterunser ist die Bitte „Dein Wille geschehe" (wenn sie echt ist) bekanntlich die Bitte des Hungers nach Gerechtigkeit, nach dem Tun des gebietenden Willens Gottes. Die den Willen des eigenen Selbst verleugnende Erklärung an Gott: „Dein Wille, dein Ratschluß geschehe" hat Jesus im Vaterunser nicht vorgeschrieben, sondern als vorbildlicher Beter vorgebetet. vor allem aber muß man sich deutlich machen, datz Jesus ein Vorbild und ein Sittenprediger war, der auch zum Tun dessen verhalf, was er vorbildete und predigte, der in den herzen seiner Jünger die Kraft zur Nachbildung seiner Gottesund Menschenliebe schuf. Jesus bezeugte, datz in seinem Heilands­ wirken Gottes Segensherrschaft bereits einigermaßen begonnen habe, und diejenigen, welche ihn als Heiland erfuhren und glaubten, erlebten wirklich diesen Beginn. Als Heiland wurde er erfahren von den Kranken, die er heilte. Ihnen machte er durch die Heilung leicht, was er forderte: dankbare Liebe

97 zu Gott, der nach ihrer Überzeugung durch Jesus hindurch sie geheilt hatte. So ist zum Teil die christliche Gottesliebe auf Erden angegangen. Manche im Gefolge Jesu, z. B. Maria Magdalena, hatte er geheilt. Diese Maria wird noch ost fälschlich für die grohe Sünderin gehalten, die Jesus die Füße salbte. Aber auch diese Sünderin hatte Jesus als Heiland er­ fahren. Über sie hat Jesus bekanntlich das berühmte Wort gesprochen: „Ihr ist viel vergeben; denn sie äußerte viel Liebe." (E$ bedeutet, daß man aus ihren vielen Liebesäutzerungen er­ sehen kann, daß sie viel Grund zu diesen Dankesäußerungen hatte. Sie muß also durch Jesus der Vergebung ihrer vielen Sünden gewiß geworden sein, Mut bekommen haben, an Gottes verzeihende vaterliebe zu glauben und umzukehren. Aber nicht nur in solch groben Sündern erweckte Jesus viel dankbare Liebe, sondern im ganzen Kreis der Armen. Durch das, was er für sie tat, begründete er ihre Gottesliebe. Galt er doch sich selbst und den an ihn Gläubigen als Gottes Stell­ vertreter. Durch Jesus hindurch richtete sich ihre Gegenliebe auf Gott. Soll aber Gott „von ganzem Herzen" geliebt werden, d. h. mit Selbstverleugnung und Selbsterniedrigung oder mit Willigkeit, auf Leben und auf Geltung zu verzichten, so muß erst der natürliche und an sich berechtigte menschliche Wille zu leben und zu gelten vollkommen befriedigt werden. Jesus hat ihn in seinen Jüngern befriedigt; denn er hat sie ihres ewigen Lebens im Reich und ihrer Geltung vor Gott gewiß gemacht. „Freut euch," sprach er, freut euch, „daß eure Namen im Himmel angeschrieben sind." Ghne diese Freude wäre es freilich unmöglich, für Gottes Sache sich selbst zu ver­ leugnen und zu erniedrigen bis zum Tode. Den hierzu willigen und freudigen Geist Jesu und seiner Jünger atmet das Luther­ lied: „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr', Kind und Weib: Latz fahren dahin; Sie haben's kein Gewinn, Das Reich muß uns doch bleiben." An solchen Glaubenshelden wie Petrus, Johannes, Luther' kann sich jedermann nötigenfalls deutlich machen, daß Jesus in Menschenherzen die Kraft zu seiner Nachfolge, zur Nachbildung seiner das Selbst verleugnenden und erniedrigenden Gottes- und Menschenliebe schuf. Nachdem wir gesehen, wie Jesus zu dem „Ihr sollt" seiner Sittenpredigt das Können fügte, beginnen wir die Darstellung dieser predigt mit der wahren Gottesliebe. Der Ausdruck Thieme, Jesus und seine predigt. 7

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„Liebe" für das rechte Gesamtverhalten zu Gott entspricht den Ausdrücken, womit Jesus das Verhältnis zwischen Gott und uns beschreibt: „Vater" und „Kind". Als wir Jesus als den Vollender des Gottvaterglaubens würdigten, bemerkten wir schon, daß er auch die Furcht vor Gott als Richter nicht zu predigen unterließ. Denn es ist nicht etwa nur kindliche Ehrfurcht gemeint, wenn er mahnt Matth, l 0,28: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, aber die Seele nicht töten können, fürchtet euch vielmehr vor dem, der Seele und Leib verderben Kann in die Hölle." Ghne Menschenfurcht sollen die Jünger als Missionare das Leben einsetzen, ohne Menschenfurcht, aber nicht ohne Gottesfurcht, nicht ohne Furcht vor Gottes Strafgericht über Untreue bei der Mission. Daß Gott in der Predigt Jesu „die Strafgewalt gegen Ungehorsame behält, ist nicht etwa jüdisches Überbleibsel: ein Gott ohne solche", hat jemand richtig gesagt, „wäre statt eines Vaters ein Trottel". Als eine Eigentümlichkeit der von Jesus gepredigten Frömmigkeit stellt sich die Selbsterniedrigung dar in seinem Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner Lukas 18. Erst wird darin die Selbst­ gerechtigkeit verdammt. Vas ist an ihr das Schlimmste, daß sie sogar vor Gott beim Beten nicht vergeht. 3m Gebet des Pharisäers herrscht eine anspruchsvolle Stimmung, er will mit seinen guten Werken vor Gott etwas gelten. Solchem Willen zu gelten soll das Vorbild des Zöllners ein Ende machen. Den beherrscht der religiöse Trieb, dem heiligen Gott in Selbst­ erniedrigung vor ihm mit Gefühlen und Worten und Gebärden die Ehre zu geben. Ruf religiöse Selbsterniedrigung dringt auch das Gleichnis Lukas 17, das mit der Mahnung schließt: „Ebenso sprecht auch ihr, wenn ihr alles euch Befohlene getan habt: Wir sind niedrige Unechte; was wir schuldig waren zu tun, haben wir getan." Sogar in den seltenen Momenten, wo man das gute Gewissen haben kann, Gott einmal ganz gehorsam gewesen zu sein, soll man das Bewußtsein der Niedrigkeit, der Unechtsstellung Gott gegenüber festhalten und sich besinnen, daß man ja nur seine Unechtspflicht getan hat. So hat also Jesus die Furcht und die Demut vor Gott wahrlich stark genug gefordert, und deshalb ist es eben etwas Ungeheures, daß er als Kennet der furchtbaren Majestät und unermeßlichen Erhabenheit Gottes die niedrigen Unechte doch auch ermächtigt, sich vor Gott zu fühlen wie die lieben Kinder

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vor -em lieben Vater. Vie Menschenfurcht hat er nicht nur mit der Gottesfurcht ausgetrieben, sondern auch mit dem Gott­ vertrauen. Auf jenen Spruch über Menschen- und Gottesfurcht folgt bei Matth. 10, 29: „ja, auch die haare eures Hauptes sind alle gezählt; so fürchtet euch nun nicht." Furchtlos macht der Glaube an die väterliche Fürsorge Gottes, die durch das überschwängliche Bild von den haaren geschildert wird. Dieselbe Stimmung will die Rede Jesu wider die Sorge erzeugen; sie wird uns im Zusammenhang des letzten Vortrags beschäftigen. Jetzt aber gilt es, den Grundsatz zu verstehen, der der Rede wider die Sorge Matth. 6, 24 vorangestellt ist: „Niemand kann Rnecht zweier Herren sein usw. Ihr könnt nicht Gottes und des Mammons Rnechte sein." Rn Stelle des Mammons könnte auch jedes andere Gut gesetzt werden, das man Gott vorziehen kann, z. B. die Familie. Nach Jesus gehört es zum Rnechtsdienst, den Herrn beim Gehorchen über alle anderen Personen zu setzen. Wer nun gleichzeitig zweier Herren A und B Rnecht sein wollte, müßte doch, als A’s Rnecht, A auch über B setzen, und als B's Rnecht müßte er B auch über A setzen, was nicht miteinander zu vereinigen ist. Man muß sich entscheiden, ob man A allen andern, also nicht nur C — Z, sondern auch B, oder ob man B allen andern, also auch A vorziehen will. Jesus will mit dem Gleichnis lehren, daß man ganz allein Gott über alles lieben soll. Man darf das aber nicht dahin übertreiben, daß man Gott allein lieben solle. Jesus gönnt uns z. B. die Liebe zur Familie, man soll sie nur nicht über alles lieben; über alles soll einzig und allein Gott geliebt werden. Ruch ein anderes Wort Jesu darf man nicht dahin mißdeuten, daß die Liebe zu Gott alle Freude und Arbeit am Irdischen ausschließen solle. (Et sagte zu Martha, besser als ihr wirtschaften sei Marias verlangen, seinem Worte zuzu­ hören. Rber er tadelte nicht etwa aus eigenem Antrieb das Wirtschaften Marthas. Nur weil diese vor lauter (Eifer im Wirtschaften den (Eifer ihrer Schwester im hören von Gottes wort nicht mehr begriff, trat Jesus dem wirtschaften gegen­ über für die höhere, bessere Betätigung ein. Gemißbilligt wird die irdische Arbeit nicht, sondern nur ihre Überschätzung, die zur Geringschätzung der ewigen Güter neigt. weiter haben wir den Zusammenhang aufzudecken, der in der Sittenpredigt Jesu zwischen wahrer Gottesliebe und

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guter Gesinnung besteht. 6s ist das allerbekannteste, daß er die Gesinnung, das herz, die inneren Betätigungen versitt­ lichen will. Jedermann weitz auch, daß sich hierauf die Sitten­ gebote der sogenannten Bergpredigt beziehen, z. v. das, nicht nur nicht zu töten, sondern nicht einmal zu zürnen. Man sagt nun in der Regel, Jesus lehre, daß der 3orn ebenso schlimm sei wie der Totschlag. Aber das ist schwerlich seine Lehre. Er scheint mir bloß eingeschärft zu haben, daß auch schon der 3orn durch das Gebot „Du sollst nicht töten" von Gott verboten ist. Schon der 3orn ist ein verbrechen - näm­ lich vor Gottes Gericht, der ihn ja allein recht wahrnehmen kann. Jesus protestierte dagegen, daß man das Gesetz bloß als Rechtsgesetz auslege; als solches würde es bloß die äußeren Handlungen betreffen. Nein, Gottes Gesetz betrifft auch die inneren, weil er auch sie überwachen, weil er tiefer blicken kann als der menschliche Richter: ins herz, in die Beweg­ gründe. Venn der allwissende Gott ein Gesetz gibt, so er­ streckt es sich natürlich auf alles: daß Gottes Gesetz auch auf die Gesinnungen geht, ist selbstverständlich. Jesus macht einfach Ernst mit dem alttestamentlichen Gedanken, daß Gott die herzen kennt; daß er im verborgnen sieht, betont gerade die Bergpredigt. Dem Gott nun, der die herzen kennt, will das Gotteskind auch schon mit den Regungen seines Herzens gehorchen; es fühlt, daß er nicht zufrieden sein kann, wenn das herz ihm nicht geheiligt wird. Bei wahrer Gottesliebe ist es selbstverständlich, daß sich Gehorsam, Gewissenhaftigkeit, Verantwortlichkeitsgefühl auch schon auf alle inneren Betäti­ gungen beziehen. So ist es ganz einfach die Herrschaft des Gottesgedankens über die Sittenpredigt Jesu, die ihr Dringen auf die gute Gesinnung erklärt. 3um Übergang von der Gottesliebe zur Menschenliebe richten wir den Blick noch kurz auf die Stellung Jesu zu den gottesdienstlichen Werken. Er sah sie von den Pharisäern mit Leidenschaft betrieben. Sein Pathos dagegen hing nicht am Sabbat, sondern ging auf den Menschen, dem der Sabbat zu dienen habe. Rach Luk. 13 heilte er am Sabbat eine seit achtzehn Jahren gelähmte Frau. War es nicht ganz gleich­ gültig, ob sie noch bis ans Ende des Sabbats gelähmt blieb? Rein, Jesus fühlt anders — aus Ingrimm gegen den Satan, der sie schon so lange grausam quält, aus Erbarmen mit der

101 Dulderin, die nicht um des Sabbats willen auch nur ein paar Stunden länger leiden darf. So kämpft er in den Sabbat­ streiten mit starkem Pathos für die richtige Rangordnung zwischen Moral und Kultus. (Er ruft Wehe über die Schrift­ gelehrten und Pharisäer, die im verzehnten übergewissenhaft sind und das Gewichtigste im Gesetz dahinten lassen: Rechts­ schutz und (Erbarmen für den Mitmenschen. Ruch das Reini­ gungsfieber der Juden hat den wahren Renner Gottes nicht erfaßt. Jesus erkennt, daß die Unreinheit, die von Gott scheidet, nicht von äußeren Dingen herrührt, gewissen Speisen, ungewaschenen Gefäßen und Händen, sondern daß sie anderswo sitzt, tief im Inneren, woher die verunreinigenden Gedanken, Worte und Werke kommen. von der Sittenpredigt Jesu über die wahre Gottesliebe gehen wir weiter zu der über die wahre Menschenliebe. Der Jünger Jesu soll nicht etwa nur ein einziges Ziel seiner Be­ tätigungen haben, Gott, sondern daneben soll auch der Nächste Ziel und Gegenstand seiner Bestrebungen sein, wenn man sagt, das Neue, das Jesum erfüllte, liege in der (Einheit von Religion und Moral, so darf doch dabei zweierlei nicht ver­ kannt werden. (Erstens daß Jesus den Mitmenschen als Ziel des handelns neben Gott stehen läßt; er lehrt nicht, daß alles, was für den Nächsten getan wird, im Grunde nur auf Gott allein abzielen soll. Zweitens läßt Jesus gottesdienstliche Betätigungen wie selbstverständlich das Gebet stehen. (Es ist also falsch zu sagen, er lehre, Gott nur an den Menschen zu dienen - das Gebet dient nicht an den Menschen Gott - und er lehre, an den Menschen nur Gott zu dienen. Nein, den Menschen selbst soll man dienen wollen, wenn man an ihnen arbeitet, will man nun das Neue und Eigentümliche der von Jesus gepredigten Menschenliebe wissen, so braucht man nur Nietzsches Angriff auf sie zu studieren. (Er hat es als Antipode Jesu, als Antichrist sicher erkannt: es ist die Demut der christlichen Menschenliebe. Das deutsche Wort Demut bedeutet „Diener­ sinn". Die entsprechenden Worte in der Muttersprache Jesu, im Griechischen und Lateinischen bedeuten, daß die Gesinnung sich erniedrigt, man kann kurz „Niedergesinntheit" sagen. Die wahre Menschenliebe ist nach Jesus die demütige, d. h. nieder­ gerichtete, niedergesinnte, zum Sicherniedrigen und Dienen willige.

102 Vie wichtigste Rebe Jesu über bas Dienen unb über bas Verhältnis von Größe unb Dienst steht Mark. 10, 42 ff. von bett meisten wirb bas Dienen einfach bem helfen gleichgesetzt, bem liebevollen Wohltun unb wirken für anbere. Der Herr­ scher, ber für sein Volk wirkt, sei sein Diener, ja, es sei ber Gebanke Jesu, ber weiter wirke in bem Grunbsatz Friebrichs bes Großen, ber König sei ber erste Diener seines Staates. Aber in Wahrheit fallen bei Jesus Dienen unb helfen keines­ wegs zusammen. Das Dienen ist ihm vielmehr nur bas helfen in Niebrigkeit unb Schwachheit, sehr unterschieben vom helfen in Macht unb Herrlichkeit, wie es auch ein Herr ausüben kann, wie es z. B. zur Messiasherrschaft gehört. Jesus ver­ glich sein eigenes Auftreten unb wirken bem Bebienen, wie Sklaven es üben, wie bie Schüler ber Schriftgelehrten es biesen erwiesen. Der Kontrast seiner irbischen Gegenwart zu seiner himmlischen Zukunft, wo Engel ihm bienen werben, veran­ laßte Jesus, sein jetziges Werk bem Gegenteil ber Herrschaft, bem Dienst, zu vergleichen. (Es erschien ihm vergleichsweise niebrig, beschränkt, gering an Erfolg, nicht Herrscher-, sonbern bienermatzig. Also nicht baß bas Dienen ein helfen ist, son­ bern baß es etwas Hiebriges ist, ist charakteristisch für Jesu verwenbung bes Begriffs „bienen". Daburch, baß sich Jesus jetzt wie ein Diener vorkam, bezeugte er Selbsterniebrigung von sich selbst. Aber auch wenn er für bas rechte wirken seiner Jünger „bienen" sagt, ist bies nicht einfach bem helfen unb Färbern gleich, sonbern einem helfen, womit Selbsterniebrigung verbunben ist. Aus Matth. 23, 8 ff. ist zu entnehmen, baß bie Jünger Jesu mit Verleugnung aller eigenen Größe für Cieferstehenbe wirken sollen, bie sie sich gleichstellen. Am wenigsten sollen bie Jünger Jesu gesetzlich, sittlich Tiefstehenbe geringschätzen, sonbern wie er selbst gerabe bie Kleinen rufen unb lehren unb gerabe auch zu ben Kleinen, bie ba glauben, eine brüberliche Haltung einnehmen unb bewahren, wenn Jesus mahnt, „aller Diener" zu sein, so hat bas „aller" nicht ben Sinn: „Selb umschlungen, Millionen", sonbern es weist zu ben Riebrigen: Selb gehoben, Ihr ba unten. Durch bas Bilb bes Dienens wirb also bie Selbsterniebrigung ins liebevolle wirken für anbere hinein­ gebracht: ber Jünger Jesu wibmet sich allen, auch ben Niebrigsten, auch benen, bie ihn erniebrigen; er wibmet sich ihnen

103 als Brüdern, ohne sie unter sich, sich über ihnen zu halten; er widmet sich ihnen bis zu tiefster Selbsterniedrigung. Daß die vienstwilligkeit, d. h. die Willigkeit zu irgendwie niedrigem wirken, das Charakteristische der christlichen Art der Menschenliebe ist, kann man auch durch religionsgeschichtliche vergleiche beweisen. Vas Judentum hat, wie Jesu Geschichte belegt, vom Sünder, vom Ungelehrten, vom Ungläubigen sehr unfreundlich geredet. Dies wird gegenwärtig nicht mehr gut geheißen; aber ein praktischer Mangel bleibt bestehen. Dem Judentum fehlt es zwar nicht an Wohltätigkeit, aber es hat nichts, was den christlichen Veranstaltungen zur Rettung der verlorenen, was unsrer inneren Mission entspräche. (Es steht diesen Dingen in der Regel heute noch so verständnislos gegen­ über, wie einst die Pharisäer Jesu. Schauen wir aufs helle­ nische Gebiet, so steht da der „Großgesinnte", das Ideal des Philosophen Aristoteles. Ihm liegt es zwar fern, nicht wohl­ zutun; aber er will damit überragen; er opfert nie etwas von seiner Überlegenheit auf: er hält die Niedrigen und Schwachen nicht wert, sucht sie nicht zu heben, duldet nichts von ihnen. Lei den Stoikern scheint's anders zu sein. Der Mensch soll andern ein Seelenarzt sein, d. h. nicht nur mit Tugendhaften verkehren, sondern gerade mit den verworfensten: die Sünder will der stoische Philosoph aus bessere Wege bringen, wenn's ihm nur sein Philosophenstolz wirklich erlaubte! Dieser zer­ trümmert alle Gesetze der Bruderliebe, der Stolz, der alle Nichtphilosophen für Toren, ja fast für Tiere hält. Selbst der edelste Stoiker Cpiktet hat gesagt: „(Ein Philosoph, der sich mit einem Ungebildeten unterhält, ist wie ein Nüchterner, der zu einem Trunkenen spricht." Endlich vergleichen wir den aristokratischen Ureis der Jünger Buddhas. Einer der besten Renner sagt: „Zür die Geringen im Volke war die Verkündigung vom Schmerz alles Daseins nicht gemacht. »Dem verständigen gehört diese Lehret heißt es, »nicht dem Törichten*. Sehr ungleich dem Wort jenes Mannes, der die Rindlein zu sich kommen ließ, »denn solcher ist das Reich Gottes*. Mr die, welche den Rindern gleichen, ist Buddhas Lehre nicht da." Nach der Dienstwilligkeit ist die Barmherzigkeit der vonIesus gepredigten Menschenliebe zu betrachten, hier erwähne ich zuerst lehrreiche Behauptungen in einem diesjährigen Buche des Philosophen Simmel. Der schildert erst gut Nietzsches be-

104 Kannten Widerspruch gegen das Demokratische der Sittenpredigt Jesu: die Wendung der sittlichen Interessen nach unten, die Hingabe des höheren an den Tieferen, den Dienst des Starken an den Schwachen. Dann aber spricht Simmel von Nietzsches ungeheurem Mißverständnis des Christentums: er habe ver­ kannt, daß es Jesus nicht auf den ankomme, dem gegeben wird, sondern auf den, der gibt, wenn der reiche Jüngling sein Gut an die Armen verschenken soll, so sei das keine An­ weisung zum Almosengeben, sondern ein Mittel und Zeichen der Vollendung und Befreiung der Seele. Vie christliche Nächsten­ liebe teile mit Nietzsche den Gegensatz gegen jedes bloß soziale Ideal: nicht in der dem Nächsten helfenden Handlung als solcher, sondern in der Heiligung der Seele des handelnden liege der höchste wert. Nicht auf den, dem gegeben wird, sondern auf den, der gibt, komme es Jesus an. Ich meine, daß dieser Ausgleich mit Nietzsche an einer einseitigen und unrichtigen Auffassung der Sittenpredigt Jesu leidet. Nach Jesus ist eine barmherzige Handlung am Nächsten ein wertvolles Geschehen sowohl nach selten ihres Beweggrundes als auch nach feiten ihres Zweckes. Jesu Wertschätzung be­ trifft nicht nur das Wohlwollen des Wohltäters, sondern auch das Wohl des Empfängers der Wohltat; sie betrifft nicht nur das innerlich wirkende, sondern auch das draußen am andern Gewirkte. Das ergibt sich schon aus seiner gesunden Glück­ seligkeitslehre. Wir betonten das vorige Mal, daß er das Rreuz nicht süß nannte, daß ihm das Leid als etwas Zweckwidriges und Unvernünftiges galt, als etwas Teuflisches in Gottes gut geschaffener Welt. Also legt er Wert auf die kleine Welt­ verbesserung, die in jedem wohltätigen werk zustande gebracht wird. Daß Not und Leid verdrängt werden und an ihre Stelle Wohlsein tritt, das ist ihm nicht gleichgültig, sondern wichtig, ja hochbedeutsam, das ist ein Vorspiel der Weltum­ gestaltung, die seine eigene Zukunstsaufgabe ist. Daß es Jesus auf den, dem gegeben wird, ankommt, zeigt ein Blick auf sein eigenes Bild in den Evangelien. Sie heben sein Mitleiden hervor, ihn erbarmt das Volk, oerlaffen wie Schafe, die keinen Hirten haben. Es kommt ihm sicher auf das in den heils­ bedürftigen gewirkte heil an, auf die Zustandsänderung in seinen leiblichen und geistlichen Patienten. Und warum soll denn der Reiche von seinem Reichtum weitergeben an den

105 Armen? nicht nur seiner Vollkommenheit wegen, sondern der Sättigung des Armen wegen. Der Reiche hat, damit er es auch dem Armen wohlgehen lasse. Daß er den Mangel des Armen wirklich weichen macht, dieser wirkliche Erfolg adelt den Reichtum, nicht nur daß er das edle Geben ermöglicht. Jesus schaut nicht nur auf die Tugenden, sondern auch auf die Güter. Unerträglich ist ihm nicht nur die Mammonsknecht­ schaft der Reichen, sondern auch der Jammer der armen Lazari. Das mutz man betonen gegen jenen Satz Simmels in Bezug auf den reichen Jüngling. Als sich Jesus mit diesem beschäftigte, da bekümmerte ihn eben dessen Mammonsknecht­ schaft und nicht die Rot der Armen, er sprach als Seelenarzt des Jünglings und nicht als Freund der Armen. Aber dies war er sonst, wenn er den Reichen zu Gemüte führte, daß Reichtum genossen sein will auch von den Armen. Unsere Besprechung der Sittenpredigt Jesu von der Barm­ herzigkeit wäre zu unvollständig, wenn sie sein Gebot der Feindesliebe überspränge. Welche Feinde der Jünger Jesu sind gemeint? Vie Gegner, die sie um des Glaubens willen haben, die ungläubigen Juden, die sie als Uetzer verfluchen und ver­ folgen. Gerade von diesem Gebot sagen auch manche Theo­ logen, es komme Jesus nicht auf den an, der geliebt wird, sondern auf die heroische Vollkommenheit seiner Jünger, sogar ihre Verfolger zu lieben. Dafür beruft man sich besonders auf die Begründung des Gebots mit der Idee der Gottähn­ lichkeit. Venn sie ist bei Matthäus so ausgedrückt: „Ihr sollt also vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist." Aber wir wiederholen, datz „vollkommen" nicht echt ist, sondern vom ersten Evangelisten stammt. Das Echte hat Lukas erhalten: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist." Gegen die Echtheit des „barmherzig" hätte man nicht sagen sollen, Feindesliebe sei keine Barmherzigkeit, und auch Gott werde hier nicht als Erbarmer gedacht. Ist es nicht väter­ liche Barmherzigkeit, datz er Sonnenschein und Regen nicht ab­ hangen läht von Menschenverdienst und -Würdigkeit? Jesus verlangt ja das Gebet für die Verfolger, nicht nur das Ge­ bet, datz Gott ihnen vergebe, sondern datz er sie, die un­ gläubigen Juden, bekehre. Das setzt ein warmes herz für sie, Interesse an ihrer Bekehrung voraus - Feindesliebe kann, soll Barmherzigkeit sein.

106 Zuletzt noch ein kurzes Wort über die Barmherzigkeit im Weltgerichtsgemälde Matth. 25. hiernach wird ja -er Men­ schensohn zu den Gerechten sagen: „Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben." Dann werden die Ge­ rechten antworten: „Herr, wann haben wir dich hungrig ge­ sehen und haben dich gespeist?" „Wahrlich, ich sage euch: Alles, was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." Vas scheint eine Ausführung des Gedankens, daß Jesus selbst ausgenommen werde« wenn man um seinetwillen dienstbedürftige Kleine aufnimmt. Aber das Besondere soll wohl gerade sein, daß die Gerechten den Notleidenden Wohltaten, ohne dabei an Jesus zu denken, ohne ihm persönlich eine Liebe tun zu wollen. Jesus, Gottes Stell­ vertreter, will eben nicht das einzige Ziel der Betätigungen seiner Jünger sein, sondern sie sollen ohne hinterabstchten aus ihn und sein Wohlgefallen den Menschen Liebe erweisen um deren selbst willen. Wir nannten es falsch, daß man nach Jesus an den Menschen nur Gott dienen solle. Der Nächste bleibt in seiner Sittenpredigt als ein zweites Ziel neben Gott stehen.

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6.

Die Stellung -er Sittenvredigt Jesu zur Selbst­ behauptung der Einzelpersönlichkeit und zur Kultur Kamille. Staat, arbeit. Besitz). Die Sittenpredigt Jesu fordert die wahre Gottes- und Menschenliebe. Und welches ist die wahre? Die zu Selbst­ verleugnung und Selbsterniedrigung willige. Die christlichen Ideen der Selbstverleugnung und Selbsterniedrigung werden von vielen modernen Menschen für unverträglich gehalten mit der Idee der Selbstbehauptung. Diese werde gefordert von der modernen Hochschätzung der Einzelpersönlichkeit. Ihr ent­ spreche nur eine selbstvolle Selbstlosigkeit, wie man etwa sagt. Über ganz allgemein ist die Hochschätzung der Einzelpersönlich­ keit und der Selbstbehauptung im Zeitbewußtsein keineswegs. Das Problem „Individuum und Gesellschaft" gilt als noch ungelöst in den Geisteswissenschaften, und eine starke naturwissenschaft­ liche Strömung widerstrebt jener Hochschätzung. Wie sich die Sittenpredigt Jesu dazu verhält, bedarf gewiß der Untersuchung. Die Hochschätzung der Einzelpersönlichkeit kann in einer Sittenlehre an mehreren Punkten auftreten. Zuerst bei der Frage, ob das sittliche handeln auf einzelne Personen geht oder auf eine Gemeinschaft von solchen. Man nennt die Sittenlehren, nach denen immer nur bestimmte Einzelpersonen als Zielpunkte des sittlichen handelns zu gelten haben, „indi­ vidualistisch". Die christliche Moral ist einseitig individualistisch genannt worden, weil sie auf die persönliche Nächstenliebe den hauptsächlichsten Wert lege. Allerdings fordert Jesus die Liebe nicht um des Ganzen willen, nicht als Beitrag zum Gedeihen der menschlichen Gesellschaft. Sagt er z. B. Mark. 10, 44: „Wer unter euch der erste sein will, soll der Unecht von allen sein", so bedeutet das nicht, daß sich der Rang richtet nach dem Maße, in dem man der Gesamtheit förderlich ist.

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vielmehr erklärt sich das „allen", wie schon das vorige Mal betont wurde, aus der Sorge Jesu für die Kleinen: seine Junget sollen allen, auch den Niedrigen, dienen, und zwar indem sie die einzelnen niedrigen Personen zu Zielpunkten haben. Als eine unentbehrliche Leistung für die Gemeinschaft ist das Dienen nicht betrachtet. Jesus schreibt damit nicht eine umfasiende Wirksamkeit fürs allgemeine Beste vor. Individualistisch ist die Sittenpredigt Jesu schon deshalb, weil er den unendlichen Wert und die ewige Bestimmung jedes einzelnen Menschen voraussetzte. Diese Überzeugung Jesu wird nicht immer in genügender Weise nachgewiesen. Man führt dafür seine Worte an, daß die Jünger mehr wert seien als die Vögel und die Feldblumen, als viele Sperlinge, daß ein Mensch viel mehr wert sei als ein Schaf, Matth. Kap. 6 und 10 und 12. Aber wie kann man viel Aufhebens machen von dieser selbstverständlichen Wahrheit, die Jesus gelegent­ lich benützt, wahrlich ohne damit etwas Besonderes verkünden zu wollen! Allzuviel hat man auch gefunden in der Stelle Mark. 8, 35-37, wo Luther übersetzt: „was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme an seiner Seele Schaden?" Da soll Jesus die Menschenseele als wertvoller denn die ganze untermenschliche Welt bezeichnet haben. Aber er sagt nur, wer sein Leben durch Abfall von ihm retten wolle, der werde beim Gericht vernichtet werden; wer aber um Jesu willen sein Leben verliere, der werde beim Gericht gerettet werden. Wer sein Leben retten will, tut es, weil er an der Welt hängt. Aber was nützt ihm der Besitz so­ gar der ganzen Welt, sobald das Weitende oder sein Lebensende kommt? Niemand kann sich vom Tode loskaufen und kein Toter kann sich das Leben wieder kaufen. Es findet hier also keine Wertvergleichung zwischen der ganzen irdischen Welt und einer unsterblichen Seele statt. vielmehr hat Jesus den unendlichen Wert des Menschen zunächst dadurch verkündet, daß er ihm ein unendlich hohes Ziel steckte: die sittliche Gottähnlichkeit. Was für eine wert­ volle Größe in der Welt muß sein, wer zur Ähnlichkeit mit dem Herrn der Welt berufen ist! Das hohe Ziel der Gott­ ähnlichkeit erfüllt mit Achtung vor denen, die dazu ausersehen sind. Nicht was er ist, sondern was er werden soll, bildet den Adel des Menschen. Auf diesem gemeinsamen Ziele ruht auch

109 die Gleichheit der Menschen untereinander. Jesus trat be­ sonders dadurch für sie ein, daß er die Achtung der Kleinen und Niedrigen vorlebte und vorschrieb. Ja, Jesu Wertschätzung der Niedrigen ist es hauptsächlich, wodurch er den unschätz­ baren wert der menschlichen Persönlichkeit bezeugte. Lr hebt den wert der Einzelpersönlichkeit dadurch hervor, daß er ge­ rade den Sündern, den Gemiedenen,, den Aufgegebenen als Heiland nachgeht. Er rechtfertigt das in Gleichnissen wie vom verlornen Schaf und Groschen mit dem Schlußwort, es sei Freude im Himmel d. h. bei Gott über einen Sünder, der Buße tut. hier ist der unendliche wert der menschlichen Cinzelpersönlichkeit verkündigt. Er ist nur da begriffen, wo auch die scheinbar wertlose Menschenseele in Ehren gehalten wird. Die Idee der Frauenwürde hat nur der Mann verstanden, der auch gegen die nicht vornehme Frau nicht unritterlich ist. Vie Idee der allgemeinen Menschenwürde hat nur der verstanden, der auch den tiefstehenden Mitmenschen achtet und ihm dient, auf daß er emporkomme. Dies tut jenes Ideal des Aristoteles, der Großgesinnte, nicht: der will nur auf würdige Freunde hin leben, und wenn er auch die Niedrigen seine Größe und Stärke nicht fühlen läßt, weil das keine Kunst ist, so hält er sie doch nicht wert und sucht sie nicht zu heben. Aristokratisch ist bekanntlich auch Nietzsches Ideal mit seinem „Pathos der Distanz", das den Dienst des höheren am Niedrigeren ver­ bietet. wir fanden neulich den Ausgleich nicht richtig, den der Philosoph Simmel zwischen der Sittenpredigt Jesu und der Moral Nietzsches in einem gewissen Punkte versucht hat. Aber als ganz richtig möchte ich folgenden Satz Simmels anführen: „Der Hatz Nietzsches gegen das Christentum richtet sich prin­ zipiell gegen den Gedanken der Gleichheit vor Gott, als dessen Konsequenz erst man die Wendung der praktischen Interessen zu den geistig Armen, den Mittelmäßigen, den Zukurzgekom­ menen ansehen kann. Daß die Seele jedes armen Schächers, jedes kleinen Lumpen und Dummkopfes denselben metaphysi­ schen wert haben soll, wie die Michelangelos und Beethovens — das ist der Scheidepunkt der Weltanschauungen." Um Jesu Wertschätzung der armen Schächer usw. richtig in ihrer Eigenart zu verstehen, muß man folgendes in Be­ ttacht ziehen. Wenn bei vielen sogenannten „Kleinen" der wert ihrer Menschenseele durch allerlei Unehre verdeckt ist, so

110 läßt er sich natürlich nur mit Hilfe jener ersten Idee be­ haupten, daß nicht war er ist, sondern was er werden soll, den Kdel des Menschen bildet, was auch die armen Schächer werden können und sollen, Gott ähnlich, das adelt sie. Aber über die Art und die Zeit der Verähnlichung mit Gott denkt Jesus durch und durch religiös gemäß seinem alles beherrschen­ den Glauben an Gott und das Jenseits und seiner Hoffnung auf öefieit Nähe. Zwar rüttelt er einerseits mit der Forde­ rung der Gottähnlichkeit jedermanns Willen zu höchster Kraft« Anstrengung auf; aber anderseits denkt er sich das unendlich hohe Ziel nicht erreichbar ohne die Gnadenhilfe Gottes, und wo und wann er es sich durch diese ganz erreicht denkt, das haben wir bereits früher ausgesprochen: nicht schon in dieser Welt, sondern erst im Reich Gottes, das mit Weltverklärung kommt, die die Verähnlichung von Menschen mit Gott einschlietzt. Rlso zu Jesu Idee des unschätzbaren Wertes jeder ein­ zelnen Menschenseele gehört der Glaube an ihre jenseitige Zu­ kunft. Kann man ohne diesen Glauben vernünftigerweise daran festhalten, daß die Seele jedes armen Schächers, jedes kleinen Lumpen und Dummkopfes denselben metaphysischen Wert haben soll, wie die Michelangelos und Beethovens? Ich glaube nicht. Wer für die Ideen vom unendlichen Menschenwert und von der damit gegebenen Gleichheit aller Menschen schwärmt, sollte nicht vergessen, daß das Aufkommen dieser Ideen durch religiöse Weltanschauungen bedingt war. vor allem steht der (Bottes» Und Jenseitsglaube Jesu dahinter und ohne ihn können sie kaum in Geltung bleiben. Die naturwissenschaftliche Weltan­ schauung neigt zu dem Urteil, daß in der Kulturwelt zuviel Gewicht auf das durchschnittliche Individuum gelegt wird, und wenn die philosophische Moral die Vergänglichkeit des Einzeldaseins annimmt, so kann sie nicht die Einzelpersönlichkeiten, sondern nur die Gemeinschaften, zuhöchst die Menschheit, als sittliche Zielpunkte anerkennen - „Ewig ist das ganze Grün, nur das einzle welkt geschwind". Dann gilt es eben als ein­ seitig individualistisch, daß die Sittenpredigt Jesu auf die per­ sönliche Nächstenliebe den hauptsächlichsten wert legt. Übrigens hat die Idee, daß alle Menschen an ihrer ewigen Bestimmung eine Gleichheit haben, Jesus nicht etwa dazu »er» leitet, die Größenunterschiede unter den Menschen zu ignorieren. Vie Eintönigkeit, daß jeder wie der andere sei, hat er nicht

111 durchsetzen wollen. Vas hätte sich auch nicht mit seinem from­ men Sinn für dar wirkliche vertragen, wie es von Gott kommt. Er stürzte die Regel nicht um, daß in jeder Gesellschaft die Kraftunterschiede zu Größen- und Rangunterschieden führen. Daß Petrus in der Jüngerschar der Erste wurde, hat Jesus geschehen laßen, ja gefördert. Er gebot nur die „brüderliche" Gleichheit, daß jeder den ehrgeizigen Willen zur Größe über andern „Brüdern" verleugne, und daß die zur Größe Be­ rufenen sich zu Dienern auch der kleinsten „Brüder" hergäben. Sicher ist auch, daß Jesus im Himmelreich Rang- und Größen­ unterschiede angenommen hat. Gerade bei einem Großen wie Jesus ist neben seiner großen Verachtung kleinlicher Großmanns­ sucht zu erwarten, daß er gottgegebene Kraft und Größe in ihrem Mehrwerte ehrte. Das gehört eben auch zur Hochschätzung der Einzelpersönlichkeiten, daß man nicht übersieht, wie keine der andern gleich ist, sondern jede etwas Eigentümliches hat, ihren Eigenwert, ihren Vorzug, der zur Geltung Kommen darf. wenn die Sittenpredigt Jesu nicht stark gewesen wäre in der Hochschätzung der Einzelpersönlichkeit, so hätte sie eine Ent­ wicklung nicht fortgesetzt, die längst sowohl im Judentum als auch im Griechentum begonnen hatte. Seit dem Propheten Jeremias, den man als den Entdecker der menschlichen Einzel­ persönlichkeit gerühmt hat, war der sogenannte Individualis­ mus immer gewachsen. Der des Judentums zur Zeit Jesu faßte sich zusammen in dem Glauben an eine jenseitige Ver­ geltung für jeden einzelnen. Aber nicht nur hierdurch waren der individualistischen predigt Jesu die Wege gebahnt, sondern auch in der griechisch-römischen Kultur. Den damals herrschen­ den philosophischen Sittenlehren ist gemeinsam, daß sie das Ideal in der Absonderung des Individuums von der Gemein­ schaft suchen. Man sieht in der Sorge für die Seele und in der Beschäftigung mit dem besseren Ich, in der Selbsterziehung, die höchste Lebensaufgabe. Das ist aber die Idee der Selbstbehauptung, die wir nunmehr in der Sittenpredigt Jesu verfolgen wollen. Das alttestamentliche Gebot der Nächstenliebe, das er neu in Gel­ tung gesetzt hat, lautet: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Wie er das „wie dich selbst" gemeint hat, zeigt die sogenannte goldene Regel: „Alles, was ihr wollt, das die Leute euch tun sollen, das sollt auch ihr ihnen tun." hier

112 gilt der natürliche Wille, daß uns die andern wohltun, helfen und fördern, als etwas Selbstverständliches und wird als Maß­ stab für unsre Betätigungen aufgestellt. AIs Maßstab und auch als Triebfeder! Venn wer da aus eigener Erfahrung weiß, was jemandem gut täte, und tut's nicht, dem ist's Sünde. Ebenso ist im Gebot der Nächstenliebe die Selbstliebe von Jesus als etwas Selbstverständliches gedacht, als Maßstab und als Triebfeder. Zur Selbstverständlichkeit der Selbstliebe gehört nach Jesus auch die Achtung des eigenen Selbst im Sinne jener Hoch­ schätzung der Einzelpersönlichkeit, die seine Sittenpredigt durch­ weg beherrscht. Man kann doch nicht von dem Glauben an den unendlichen Wert und die ewige Bestimmung jedes ein­ zelnen Menschen nur das eigene Selbst ausnehmen. Da auch dieses das hohe Ziel der Gottähnlichkeit hat, soll man sich in der Absicht auf dieses Ziel auch seinem eigenen Selbst widmen. Daß dies der Sittenpredigt Jesu gemäß ist, ist unbestreitbar, vielmehr fanden wir schon ihr wirklich soziales Interesse be­ stritten. Sie teilt nach Simmel mit Nietzsche den Gegensatz gegen jedes bloß soziale Ideal; nicht auf den komme es ihr an, dem gegeben wird, sondern auf den, der gibt, auf die Vollendung seiner Seele; nicht in der sozialen Handlung als solcher liege ihr der höchste wert, sondern in der Heiligung der Seele des handelnden. Wir glauben diese unsoziale Deu­ tung der Sittenpredigt Jesu widerlegt zu haben. Aber sie ist sehr lehrreich gegenüber dem Geschrei in der Nietzschegemeinde, daß die christlichen Ideen der Selbstverleugnung und der Selbst­ erniedrigung feindlich seien der Idee der Selbstbehauptung. Das wird widerlegt durch die Sittenpredigt Jesu selbst. Er gibt Vorschriften, wo er Gott oder den Nächsten als Ziele der Selbstverleugnung und Selbsterniedrigung nicht mit ins Auge faßt, sondern dabei verweilt, daß diese zweckdienlich sind für die Selbstbehauptung, d. h. für die Erziehung und Vervoll­ kommnung des besseren Ich. Durch solche Vorschriften entsteht der Schein, daß die Idee der Selbstvervollkommnung die ganze Sittenpredigt Jesu beherrsche, auch ihre Mahnungen zur Näch­ stenliebe. Diese einseitige Auffassung berührten wir auch beim Gebot der Zeindesliebe: es komme Jesus dabei nicht auf den an, der geliebt wird, sondern auf die heroische vollkymmenheit seiner Jünger, sogar ihre Verfolger zu lieben. Ebenso sei das Gebot zu verstehen, daß man allen dienen solle.

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warum? um der Förderung anderer willen? Nein, weit mehr um der eignen Vollendung willen, um sich auch in der Voll­ kommenheit zu üben, daß man sogar das Erniedrigende vermöge. Diese einseitige Auffassung der Sittenpredigt Jesu als einer Anweisung zur Selbstvervollkommnung übertreibt den Eindruck, den einige ihrer Vorschriften machen. Als Beispiel will ich das schwer verständliche, viel mißdeutete, mißbilligte, mißbrauchte verbot der Rache besprechen. Jesus sagte nach Matth. 5, 38-41: „Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Nicht widerstehen dem Bösen! Sondern wer dich auf die rechte Backe schlägt, dem wende auch die andere hin. Und wer mit dir prozes­ sieren und dir deinen Rock nehmen will, dem laß auch den Mantel. Und wer dich preßt für eine Meile, mit dem gehe zwei." wegen dieser Vorschrift sind sehr viele moderne Menschen der Sittenpredigt Jesu geradezu feind, vor einigen Jahren las man auf dem Titelblatt einer Nummer der „Jugend" unter dem Bilde einer gepanzerten Faust: „Ich bin kein hei­ liges Fränzchen - Franziskus von Assist — kein sanftes Lämmer­ schwänzchen, ich bin Kein Pietist, ein Heide bin ich, kein Christ; denn wer mir haut auf die linke Wang', dem hau' ich zwei auf die rechte, so will ich's halten mein Lebenlang im irdi­ schen Gefechte." Ja, die Heiden, die Griechen und die Römer, denkt man, das waren doch andere Kerle! Ach, wie hat uns das Christentum heruntergebracht durch solche unmännliche Zu­ mutungen! Ziemlich das Gegenteil ist richtig! Den modernen Ehrbegriff kennt die antike Welt gerade nicht. Sie empfindet es nicht als Ehrverletzung, wenn persönliche Beleidigungen auch tätlicher Art ungesühnt bleiben. Sokrates sagt, als er einen Fußtritt erhalten hat: „würde ich, wenn mich ein Esel ge­ stoßen hätte, ihn verklagen?" Besonders die cqnischen Philo­ sophen setzten ihren Stolz darein, Unrecht zu dulden. Der eine wird angespieen. Er sagt: „Die Fischer lasten sich vom Meere anspeien, um einen Gründling zu fangen, warum sollte ich dies nicht dulden, damit ich einen Menschen fange?" Der römische General Marius verweigerte dem Teutonen das Duell: wenn dieser seines Lebens überdrüssig wäre, solle er sich aufhängen. Der cynische Philosoph duldete das Anspeien, damit er „einen Menschen fange". Man behauptet oft, auch nach Jesus solle man den Schlag deshalb nicht zurückgeben, um den, der geThieme, 3efus und feine Predigt.

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114 schlagen hat, zu beschämen, zu bessern, zu gewinnen. Aber dieses soziale Ziel ist in dieser Vorschrift selbst mit nichts angedeutet. Andere sagen, man solle Böses deshalb nicht mit Bösem ver­ gelten, um nicht das Böse zu verdoppeln. Es ist natürlich wahr, datz die Rache das Böse verdoppelt und auch deshalb verboten wird. Aber muß man nicht gegen die Weisung Jesu, die andere Wange hinzuhalten, einwenden, daß dies den Böse­ wicht dazu reizen wird, durch einen zweiten Schlag das Böse zu verdoppeln und fortzusetzen? (offenbar hat Jesus hier ganz abgesehen von der Wirkung, die das gebotene Verhalten auf den ausübt, der geschlagen hat. Daß es den einen zur Fortsetzung, den andern zur Einstellung des Bösen bewegen kann, faßt er gar nicht mit ins Auge. Er predigt nichts weiter, als datz das Rind Gottes über den Rachedurst erhaben sein soll und sich zu selig fühlen, als datz es nicht auch einmal entehrende Schläge ertragen, Rock und Rlantel fahren lassen und eine oder zwei Meilen mitgehen könnte. Eine gelassene, ruhevolle Stimmung bietet Jesus hier auf gegen das Racheschnauben und gegen das Autzersichgeraten über einen Schlag. Eine gewisse ironische Heiterkeit weht hier von Jesus her gegen allzumenschliche Wutausbrüche und Angstanfälle bei allerlei „Bösem". Er traut der Frömmigkeit die Kraft zu, eine edle Freiheit zu verleihen. Ls ist ein grobes Mitzverständnis Eduard v. Hartmanns, datz es „willenlose unterwür­ fige Nachgiebigkeit" sei, aus der man zwei Meilen statt einer mitgehen soll. Nein, dies ist als eine ganz freiwillige Mehr­ leistung gedacht, in der sich persönliche Unabhängigkeit von irdischen Gütern und ihrem Verlust bewährt. Es ist natürlich eine autzergewöhnliche Frömmigkeit, die das Gotteskind so frei und selig macht, datz es auch einmal entehrende Schläge ertragen, Rock und Mantel fahren lassen und sogar zwei Meilen mitgehen kann, hätte Jesus nicht in seinen Jüngern die selige Freude darüber, datz ihre Namen im Himmel angeschrieben seien, zu erwecken vermocht, so hätte er auch Kein Recht gehabt, ihnen jene gelassene Selbsterniedrigung auf Erden zuzumuten. Es war übrigens nicht nur der Glaube an die jenseitigen, himmlischen Güter, der die Jünger Jesu zu einer vornehmen Gleichgültigkeit gegen irdische Güter kräftigte. Ls war auch nicht nur ihre Hoffnung aufs nahe Ende, aus der sie gelassen heute auch den Mantel fahren lasten sollten, da sie ihn im

115 vielleicht morgen schon kommenden Reich nicht mehr brauchen würden. Nein, auch der Glaube an die im Diesseits noch waltende Fürsorge Gottes „läßt fahren dahin": sie kann, sie wird Hilfe bringen, Ersatz schaffen; denn sie weitz, was man bedarf, Wir sahen, daß Jesus mit keinem geringeren als dem „bergeversetzenden" Glauben rechnet. Vas tut er zumal in derartigen Spitzen seiner Sittenpredigt. Hber dann muß man gerade beachten, wie maßvoll seine Beispiele gewählt sind: den Schlag auf die Backe nicht zurückgeben, sondern die an­ dere Hinhalten usw. Vas er verbieten will, ist ja: „Rüge um Auge und Zahn um Zahn". Vas hätte ihm doch nahegelegt zu verbieten: wer dir dein Auge ausschlägt, dem halte auch das andere hin. Sollte man denn nicht, sogar kein Auge mehr zu haben, erdulden Kraft der seligen Hoffnung, Gott zu schauen? Betet der Glaube denn bloß Berge hinweg und nicht auch Kugenoerletzungen? Damit weder von Lhristen noch von Unchristen Übertriebenes gefolgert wird aus den Spitzen der Sitten­ predigt Jesu, ist die Beobachtung wichtig, daß er sich in dem sehr hochfliegenden Racheverbot doch nicht ins Rlaßlose versteigt. Unser Eindruck von diesem berühmten Jesuswort war also, daß es keine soziale Nuance hat, sondern die Selbstver­ vollkommnung in der gelassenen Selbsterniedrigung einmal um ihrer selbst willen verlangt. Aber der Gesamteindruck der Sittenpredigt Jesu und vor allem seines eigenen Vorbildes ist der, daß schließlich alles auf den Gottes- und Nächstendienst bezogen ist. Schaut man auf Jesus selbst, so versinkt der Ge­ danke an eine solche Selbstvervollkommnung, die man asketisch bloß um ihrer selbst willen übte, ohne daß sie jemandem zu­ gute käme. (Er war zwar sündlos, hatte aber nicht Gottes Vollkommenheit, sondern sein williger Geist übte sich im Kampfe mit seinem schwachen Fleisch. Aber dabei fühlte er sich nicht als Heros, der ein an sich erhabenes Schauspiel der das Selbst verleugnenden und erniedrigenden Selbstbehauptung aufführt, sondern als schlichter Diener Gottes und der Menschen, denen es zugute kommt, wenn er willig Gottes Willen geschehen macht. So soll auch der Jünger Jesu die Großtaten der Feindesliebe, der dem Bösen nicht widerstehenden Gelassenheit usw. nicht außerhalb seiner stetigen Arbeit für das heil der Brüder in Szene setzen, sondern sie hierfür fruchtbar machen. Will man aber den sozialen Wert z. B. jener Ge8*

116 lassenheit bestimmen, so muß man an viel mehr denken, als an ihren beschämenden, bessernden Eindruck auf den Täter der Bösen. Ein vollkommener Nächstendiener braucht sie fortwäh­ rend. Denn er kann dem Bösen nicht aus dem Wege gehen, sondern mutz es sich gefallen lassen, um Liebeszwecke an an­ dern Personen zu erreichen als am Gewalttäter. Wir können die Idee der Selbstbehauptung in der Sitten­ predigt Jesu nicht weiter verfolgen. Um ihre Geltung darin festzustellen, bedarf es feinerer Abwägungen, als die gewöhn­ lichen Angriffe auf die christliche Selbstaufopferung verraten. Man mutz von einer christlichen Selbstbehauptung mittelst Selbst­ aufopferung reden, die christliche Hochschätzung wie jeder Einzel­ persönlichkeit, so auch des eigenen Selbst feststellen, aber die unsoziale Selbstheiligung als unchristlich bezeichnen. Und nun zu unserm letzten Problem: welches ist die Stellung der Sittenpredigt Jesu zu all dem, was man mit dem Ausdruck „Kultur" zusammenfatzt? Ist sie kulturfeindlich oder nicht? Schätzt sie die Ehe und die Familienliebe gering? Ist sie konservativ inbezug auf Staat und Gbrigkeit? Wie urteilt sie über Arbeit und irdischen Besitz? Kamt man ihr soziale Richtlinien zur Lösung der sozialen Frage entnehmen? Beginnen wir mit der Familie! Man höre einen Beweis Eduard v. Hartmanns gegen den Familiensinn Jesu. Er führt das Wort Matth. 23, 9 an: „Euren »Vater' sollt ihr niemand auf der Erde nennen, denn einer ist euer Vater, der im Him­ mel." „Vater", „Abba" war eine Benennung für Lehrer, die schon im Alten Testament den Propheten Elias und Elisa gilt. Es handelt sich laut des Zusammenhangs nicht im entferntesten um Zerreißung der natürlichen Bande mit dem leiblichen Vater. Aber Jesus wies ja einmal Mutter und Brüder ab, als sie ihn herausrufen ließen: „Wer ist meine Mutter und meine Brüder?" Sie wollten ihn aus seinem neuen Beruf nach Hause holen, weil sie ihn nicht als Propheten anerkannten. Er hatte natürlich auf den Huf Gottes hin Werkstätte und Familie ver­ lassen müssen, wie er dann auch von seinen Jüngern verlangen mußte, Beruf und Familie zu verlassen, um ihm als seine Mitarbeiter nachzufolgen. Sehr verübelt wird ihm sein Aus­ spruch Luk. 14, 26: „Wenn einer zu mir kommt und haßt nicht - so übersetzt man - Vater und Mutter und Weib und Kinder und Brüder und Schwestern, ja sogar sich selbst, der

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kann nicht mein Jünger sein." Inbezug auf den Ausdruck „hassen" bestehen mehrere Möglichkeiten. Im Matthäusevan­ gelium 10, 37 ist der Ausspruch ohne das „hassen" überliefert: „wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich ist meiner nicht wert" usw. Ls ist also möglich, daß Jesus den scharfen Aus­ druck „hassen" gar nicht gebraucht hat, sondern daß Lukas ihn einsetzte, um das Wort wuchtiger zu machen. Aber es ist auch möglich, daß Jesus wirklich „hassen" sagte, aber damit nichts anderes meinte als „zurücksetzen", so daß die Form der Ausspruchs im ersten Evangelium eine ihn richtig erklärende Wiedergabe wäre. Man mutz eben den Sprachgebrauch des betreffenden Wortes „Haffen" kennen. Wenn ein Mann zwei Frauen hat, so heißt die bevorzugte einfach die geliebte und die andere die gehaßte, womit doch nur gemeint ist die zurück­ gesetzte, vgl. 5. Mose 21, 15. „hassen" bedeutet nur: gänzlich zurücksetzen. (Es wäre töricht, Jesus zuzutrauen, daß er den haß gegen die Eltern, Gattin, Kmber und Geschwister als das Normale betrachtet habe, was in seiner Jüngergemeinde herr­ schen solle; er verlangt nur die Willigkeit, in einem Fall, wo man zwischen Familienliebe und dem von Gott gewiesenen Beruf wählen muß, auf das Liebste in der Welt zu verzichten. Der Anfang des Ausspruchs ist zu umschreiben mit: „wenn einer zu mir kommt und ist nicht willig, nötigenfalls gänzlich hinter mir zurückzusetzen Vater und Mutter und Weib." „Und Weib." Im verlassen einer Gattin war Jesus seinen Jüngern nicht vorangegangen. Beweist seine Ehelosig­ keit seine Feindschaft gegen die Ehe? Auf die Frage, warum Jesus nicht in die Ehe getreten war, wird gern geantwortet, sein einzigartiger Beruf habe den ganzen Mann erfordert und keinen Raum mehr gelassen für die Erfüllung jenes allgemein menschlichen Berufes. Aber da der hebräische Jüngling mit dem achtzehnten Jahre zu heiraten pflegte, müßte man an­ nehmen, daß der Handwerker Jesus eine Vorahnung seines künftigen einzigartigen Berufs schon etwa fünfzehn Jahre vorher gehabt habe. Aber hat denn nicht Jesus auch sich selbst mit gemeint, als er nach Matth. 19, 12 von etlichen sprach, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreichs willen? Vies soll bedeuten: um der Sache des Himmelreichs besser dienen zu können. Damit kann Jesus nur eine Aussage über das machen, was erst seit dem Auftreten des Täufers

118 etliche tun: um dem nahen Reich berufsmäßig dienen zu kön­ nen, nicht zur Ehe schreiten. (Es gilt von dem Einsiedler Jo­ hannes und allerdings auch von Jesus, feit ihm sein neuer Beruf klar geworden, und weiter vielleicht auch von andern, die in die Ehe getreten sein würden, wenn sie Jesus nicht in seine Nachfolge berufen hätte. Aber daß Jesus mit „um des Himmelreichs willen" auch den Grund angegeben habe, warum er früher nicht geheiratet hatte, wird man nicht annehmen, sondern als den Grund dafür wohl nur angeben dürfen, daß er eben nie den Impuls zur Ehe empfangen hatte, weder von einem weiblichen Wesen her, noch durch Familienverhältnisse, noch durch seine Natur. Daß er nicht etwa grundsätzlich die Ehe geringgeschätzt hat, beweisen seine bekannten Aussprüche über die Ehescheidung, wie er durch sie die Gattenpflicht ernstlich einschärfte, so die Rindespflicht durch das Wort Mark. 7, 10 ff. Er tritt hier für das mosaische Gebot, die Eltern zu ehren, ein gegen­ über der von den Schriftgelehrten geforderten Heilighaltung gewisser Gelübde, worin jemand verschwört, die Eltern zu unterstützen. Dagegen etwas sehr pietätloses scheint Jesus in folgendem Ausspruch verlangt zu haben, der ihm oft zum Vorwurf gemacht worden ist. Matth. 8, 21 f. steht: „Ein an­ derer (aber von den Jüngern) sprach zu ihm: (Herr,) erlaube mir zuvor fortzugehen und meinen Vater zu begraben. Jesus aber sprach zu ihm: Folge mir und laß die Toten ihre Toten begraben." Man findet es beweisend für den Mangel des Familiensinns bei Jesus, daß er nicht einmal dazu Urlaub geben will, daß einer an seinem Vater die heilig« Begräbnis­ pflicht erfülle. Aber erstens wird „die Toten" mißdeutet, als ob Jesus die Pietät gegen die Familie geistlichen Tod ge­ scholten hätte. Lr meint mit den „Toten" alle, die nicht seine Jünger sind, die nicht Leben schöpfen aus seinen Worten des ewigen Lebens. 3u ihnen gehört auch der Vater des Betreffenden. Denn zweitens wird dieser Vater noch gar nicht gestorben gewesen sein. (Es gibt nämlich Gründe dafür, daß „einen Angehörigen begraben" eine orientalische Redensart ist des Sinnes „sich der Pflichten gegen ihn widmen". Der Wunsch, mit der Nachfolge Jesu bis zur sogenannten Bestat­ tung des Vaters zu warten, mag also eine mit dem Mantel der Pietät verkleidete Vertagung der Nachfolge auf unbe­ stimmte Zeit bedeutet haben.

119 Fassen wir unsere Erörterung der Stellung Jesu zur Familie nun folgendermaßen zusammen. Wir sagten früher, vieles in der Sittenpredigt Jesu sei abhängig von der ganzen Länge und Breite seiner Existenz, von seinen lebenslänglichen Gesinnungen, wie er sie schon vor der Epoche hatte, die Jo­ hannes der Täufer in sein Leben brachte. Vas gilt aber nicht von seiner Forderung, mit der Familie zu brechen, wenn man wählen muß zwischen ihr und ihm. Wir können bei Jesus rechnen einerseits mit lebenslänglicher Familienpietät, ander­ seits mit klarer Einsicht in die Forderung des Tages, wenn das Reich nahe und der künftige Messias schon da ist; diese Forderung ist, hinderliche Familienpietät zu überwinden. Wir untersuchen nun weiter die Stellung der Sitten­ predigt Jesu zu einem zweiten Gebilde der Kult«, zum Staat. Schon früher wurde gelegentlich erwähnt, daß Jesus seinem Landesherrn, dem Vierfürsten herodes von Galiläa, der den Täufer hatte hinrichten laßen und auch ihm selbst nach dem Leben trachtete, sagen ließ, er laße sich durch ihn nicht ver­ scheuchen, Luk. 13, 32. Dabei nannte er ihn „Fuchs", womit er wohl meinte, was wir „Bluthund" nennen. Dieser herodes war also der nächste Vertreter des Staates im Gesichtskreis Jesu, hat er an ihm beobachtet, was er über die Herrscher sagt in seiner Rede vom Dienen Mark. 10? Aber es wird meist nicht richtig beurteilt. Er beginnt damit, daß er auf das Verfahren der Herrscher der Völker Bezug nimmt: „Ihr wißt, daß die, welche für Fürsten der Völker gelten, als Herren mit ihnen schalten, und daß ihre Großen sie vergewaltigen." hiernach geißelte Jesus das Inhumane, Brutale, Grausame: die Völkerfürsten sind Völkerschinder. Aber bei Luk. 22 ist die Rede etwas anders überliefert, so daß man vermuten kann, der Gedanke Jesu sei durch die Ausdrücke bei Markus, be­ sonders das „vergewaltigen", verschoben. Er wird nur darauf hingewiesen haben, daß die Völkerfürsten die allerhöchsten Herren zu spielen pflegen, während die Seinigen sich zu Die­ nern erniedrigen sollen. Jesus verurteilte hier wohl nicht die tyrannische Härte, sondern den Herrscherstolz der Staatslenker, hätte er ihn nicht an herodes in seiner stolzen Residenz am See Genezareth beobachtet, so vielleicht an den Römern. Mit ihrem Staatswesen berührte er sich bekanntlich in Jerusalem, wo der kaiserliche Landpfleger, Prokurator, regierte. Der da-

- 120 malige, Pontius Pilatus, hat einmal galiläische Landsleute Jesu, Festpilger, im Tempel niedermetzeln lassen. (Es wird wer weiß was für eine kleine Revolte gewesen sein. AIs Jesus von ihrer blutigen Unterdrückung erfuhr, regte es ihn nicht zu Römerhatz auf; man vgl. den Anfang von Luk. 13. von Hatz gegen die römische Herrschaft zeigt Jesus überhaupt keine Spur. Das Unpolitische seiner Messiasidee und seiner Reichs­ predigt besprachen wir ja schon. Als man Jesus einmal ins politische Getriebe der Zeit hineinziehen wollte, da wutzte er sich der Politik weise zu entziehen, ich meine im Gespräch vom Zinsgroschen, Mark. 12. Der hoherat stellte ihm durch einige Pharisäer die gefährliche Frage: „Ist es erlaubt, dem Kaiser die Steuer zu zahlen oder nicht? Sollen wir sie geben oder nicht?" Die strengen Juden meinten, Kopfsteuer dürfe nur an Gott, an den Tempel, entrichtet werden; sonst seien sie niemand untertan. Die Anfrage sollte eine Falle sein. Durch die Antwort Ja sollte sich Jesus beim Volke unbeliebt machen. Auf ein römerfeindliches Nein hin konnte man ihn beim rö­ mischen Prokurator denunzieren. Jesus antwortete: „Was ver­ sucht ihr mich? Bringt mir einen Denar, ich möchte ihn sehen." Man erfährt beiläufig, datz er selbst kein Geld bei sich hat. Die Steuer wurde in Silber bezahlt, das nur in römischer Prägung existierte, mit dem Bild des Kaisers. Als di« Silbermünze gebracht ist, frägt Jesus: „Westen ist dies Bild und die Namensinschrift?" „Des Kaisers." „Was des Kaisers ist, entrichtet dem Kaiser, und was Gottes ist, Gotte." Zuerst mutz betont werden, daß Jesus sich für das Geben der Steuer ausspricht; er widersteht der Versuchung, die Feind­ schaft gegen die Römer zu unterstützen. Freilich spricht er auch nicht als Freund der römischen Herrschaft. Er macht an der Münze deutlich, datz sie ins Gebiet des Kaisers gehört; nun gehört in dies irdische, staatliche Gebiet auch das Zahlen der Steuer mit der Münze, also mag es nur stattfinden, hindert es doch nicht, datz man alles, was ins Gebiet Gottes gehört, auf diesem Gebiet leistet. Jesus gibt den Fragestellern zu ver­ stehen: Macht ums Irdische doch nicht so viel Wesens, als ob es euch am himmlischen hindere. (Es liegt eine Geringschätzung der ganzen politischen Frage in dem Wort. Jesus lehrt zwar, den Anforderungen des Staates zu entsprechen, „aber nur, weil es abgeschmackt wäre, um so nichtiger weltlicher Knge-

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legenheiten willen sich die Mühe des Widerstandes zu geben, während das Gottesreich vor der Türe steht". Diese Gleich­ gültigkeit gegen das politische, die der Ausspruch Jesu atmet, mag mit seinem Glauben an die Nähe der Gottesherrschaft Zusammenhängen, aus dem man nur nicht allzuviel erklären darf. Selbstverständlich hält Jesus Römerreich und zukünftiges Gottesreich für unverträglich; aber zugunsten des gegenwär­ tigen jüdischen Kirchenwesens macht er keine Revolution mit. wie könnte er dafür begeistert sein? (Es wird ebenso wie die Römerherrschaft bald abgelöst werden durch die Gottes­ herrschaft. Aber diese wird nicht durch menschliches handeln wie Steuerverweigerung herbeigeführt. Gewarnt werden mutz ausdrücklich vor der Mißdeutung des Wortes in staatsfreund­ lichem Sinne: wenn man dem Staate gebe, was des Staates ist, so gebe man eben damit, in und mit dem Gehorsam gegen die Gbrigkeit, Gott, was Gottes ist. Denn das ist keine hi­ storische Auslegung. Das Äußerste, was man sagen kann, ist: wenn heutzutage ein Christ staatsfreundlich ist, so entspricht das dem ganzen Geist der Sittenpredigt Jesu besser, als wenn er dessen Gefühl der Nichtigkeit dem Staate gegenüber konservierte, von größtem Interesse ist endlich die Stellung Jesu und seiner Sittenpredigt zu Arbeit und Eigentum, hierüber kann man besonders große Torheiten in Eduard v. Hartmanns Buch über „Das Lhristentum des neuen Testaments" lesen. Er ver­ argt es Jesus, daß er während seiner öffentlichen Wirksamkeit nicht mehr gezimmert habe. Er hätte die Arbeit, wenn er sie nicht als Beruf ausüben wollte, wenigstens gelegentlich symbolisch vollziehen sollen, um dadurch auszudrücken, daß er wenigstens im Prinzip die Nützlichkeit und Notwendigkeit der Arbeit anerkenne. Dieses Gerede steht ungefähr auf der höhe des Mißbrauchs, den man bekanntlich mit dem Ausdruck „die arbeitende Klaffe" zu treiben pflegt. Jesus hat mit predigen und heilen gearbeitet, und zwar öfters so angestrengt, daß er nicht zum Mittagessen kam und vor Ermüdung im Schiff gleich einschlief, Mark. 3, 20; 4, 38. Seine ärztliche Tätigkeit scheint teilweise nicht mühelos, sondern derart gewesen zu sein, daß sie von den Pharisäern unter den Begriff einer am Sabbat uner­ laubten Arbeit gestellt werden konnte. Seine Jünger, die er wie er predigen und heilen ließ, nannte er sicher mit Recht Arbeiter, in die Ernte ausgesandt, Arbeiter, die ihrer Nahrung

122 wert seien, d. h. Essen und Trinken von ihren Wirten an­ nehmen sollten. Er selbst nahm von seinen teilweise wohl­ habenden Anhängern und Anhängerinnen an, war er für sich und seine Kleine mit ihm herumwandernde Jüngerschar brauchte. Daß er und seine Jünger bettelarm gewesen, diesen Irrtum haben wir längst abgewiesen. Aber er lebte seit seinem Berufs­ wechsel in freiwilliger Armut, hatte nichts von zu Hause mit­ genommen, wie er auch seinen Jüngern bei ihrer Aussendung verbot, Kupfer im Gürtel zu haben, einen Geldbeutel, einen Sack, Sandalen, was für einen Sack hat er ihnen verboten? Wahrscheinlich nicht einen Reise-, sondern einen Bettelsack. Sie sollen nichts in einen solchen einheimsen. hieran knüpfen wir die Besprechung der unvergleichlichen Rebe Jesu wider das Sorgen Matth. 6. Sie besonders gilt als durch und durch kulturfeindlich, findet sie doch z. B. die Feldblumen schöner als „alle Herrlichkeit Salomos", als die schönsten Kunstschöpfungen menschlicher Kultur. Solche kannte Jesus: Tempel und Paläste in Jerusalem, Tiberias, jene präch­ tige Residenzstadt des herodes, die eben damals erbaut wurde. Aber Jesus war darauf stolz, wie herrlich fein Vater das Gras des Feldes bekleidet. Am meisten Anstoß pflegt man an den Sätzen jener Rede zu nehmen, daß man die Vögel des Him­ mels anschauen solle: sie säen nicht und ernten nicht und sam-meln nicht in die Scheuern - und die Lilien des Feldes: sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Klingt das nicht so, als ob Jesus den beiden Kulturerscheinungen den Krieg erklärt habe, daß die Menschen arbeiten und Vorräte sammeln? wenn der Mensch Vorräte sammelt, so ist das eine Prometheustat. Pro­ metheus heißt ja der „vorsorgende". Der Mensch stellt sich damit sicher gegen die Launen der Natur, es ist unentbehrlich zur Kultur. Findet Jesus alle Kultur unfromm? Er richtete die Rede wider das Sorgen an solche, die sich um Nahrung und Kleidung sorgen, wer waren diejenigen, denen diese Sorge nahelag? Etwa bettelarme, kleine Leute? Meiner Ansicht nach waren es seine Jünger, die er aus ihren sicheren Erwerbsverhältnissen herausgerissen, in sein Wander­ leben hineingezogen hatte und als Missionare aussendete. Meiner Ansicht nach ist die Rede ganz aus der Situation bei der Aussendung der Jünger zu verstehen. Diese wird Matth. 10 erzählt, und in der hier überlieferten Rede stehen

123 Worte, die ganz dieselbe Stimmung atmen wie jene andere Rebe, die Matth. 6 in die sog. Bergpredigt eingerückt ist. Matth. 10,29 ff. lesen wir nämlich: „Kauft man nicht zwei Sper­ linge um einen Pfennig? Und doch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. 3a, auch die haare eures Hauptes sind alle gezählt. So fürchtet euch nun nicht. Ihr seid viel mehr als Sperlinge." Mit dem vertrauen auf die väterliche Fürsorge Gottes will hier Jesus die Menschenfurcht verdrängen, die seine ausgesendeten Jünger anwandeln konnte. Ruch andere mannigfaltige Sorge mochte sie anwandeln. Sollten sie doch nach Matth. 10 und Mark. 6 auf ihrer Missionsreise kein Brot mitnehmen, keinen Bettelsack, kein Kupfer in den Gürtel; keine zwei Röcke sollen sie anlegen - also auch Kleidersorgen drohten. Vie sorgliche Stimmung zur Zeit der Russendung wird nach einer andern Richtung hin bekämpft in dem Russendungsspruch Matth. 10, 19 f.: „Wenn sie euch aber vorführen" — nämlich vors Gericht — „so sorgt nicht" — es ist dasselbe Wort wie in der Rede wider das Sorgen um Nahrung und Klei­ dung - so sorgt nicht, „wie oder was ihr reden sollt. Denn es wird euch in jener Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt." Mutzte sie Jesus nicht gerade damals auch wappnen wider die Sorge um Nahrung und Kleidung? Und nun ver­ gleiche man noch den Rückblick, den er die Jünger nach Luk. 22, 35 tun lieh: „Rls ich euch ohne Beutel und Tasche und Schuhe aussandte, habt ihr da irgendeinen Mangel ge­ litten? Sie sprachen: Keinen." Die Missionare sind durch ihre gläubigen Hörer und geheilten Patienten mit Nahrung und Kleidung versehen worden. Rber das wird natürlich Gott verdankt in frommer Betrachtung, die die weltlichen Mittel­ ursachen überspringt. Diese sind ja auch übersprungen, wenn Jesus sagt, der himmlische Vater ernähre die Vögel, die nicht säen und nicht ernten. Warum sollen denn eigentlich die Rn» geredeten die Vögel anschauen, die nicht säen noch ernten noch in Scheuern sammeln? Warum sollen sie die Lilien des Feldes betrachten, die nicht arbeiten und nicht spinnen? Die Unver­ ständigen, wie z. B. Eduard von Hartmann, der sonst so große Philosoph, antworten, datz Jesus als Vorbild ausgestellt habe, was bei Vögeln und Blumen geschieht. „Wie käme der Mensch dazu", soll Jesu 3bee sein, „zu arbeiten und seine Meldung zu spinnen, da es doch die Lilien nicht tun und doch von Gott

124 so schön gekleidet werden?" Gft sagt man, Jesus meine offen­ bar, daß, wenn Gott sogar Vögel und Blumen nähre und herrlich kleide, um so weniger Grund zur Sorge für die Men­ schen sei, die zu vorsorglicher Arbeit beanlagt seien. Dann hätte er zwischen den Zeilen die menschliche Kultur gerade anerkannt. Meiner Meinung nach schildert Jesus, was bei Vögeln und Blumen geschieht, deshalb, weil sich seine ausgesendeten Jünger faktisch in der Lage befinden werden, daß sie nicht mehr als Fischer, Zöllner usw. arbeiten, nicht mehr ihre Acker besäen und abernten, nicht mehr sich ihre Kleider verfertigen. Meiner Meinung nach ist eben die Rebe Jesu wider das Sorgen ganz aus der Situation seiner Jünger bei ihrer Aussendung in die Mission zu erklären. 3n bezug auf ihre neue Art von Arbeit, predigen und heilen, sagte er: „Der Arbeiter ist seiner Nahrung wert" Matth. 10, 10: sie sollen Nahrung und Kleidung von ihren Hörern und Patienten erwarten. Und daß sie dies ohne jede ängstliche Sorge voll fröhlichen Gottvertrauens tun sollen, dazu lockt die Rede bei Matthäus 6 mit ihrer heiteren Naturbetrachtung. Merkwürdig ist übrigens, daß sich auch bei stoischen Philosophen der Hin­ weis darauf findet, daß Gatt die Vögel unter dem Himmel nicht verhungern läßt; wieviel mehr werde er für die Men­ schen sargen! Stoisches wird auch in Palästina bekannt ge­ worden sein. „Deshalb kann sehr wohl durch stoische Einflüsse eine sprichwörtliche Redensart, z. B. van der Sorglosigkeit der Vögel unter dem Himmel, entstanden sein, deren sich Jesus bediente, vielleicht bedienen mußte, wenn anders er volkstüm­ lich reden wollte." Um so origineller ist das Wort van den herrlichen Feldblumen, schöner als alle Herrlichkeit Salomos. (Ein Wort voll dieses Naturgefühls kommt in der ganzen Antike nicht vor. Wir beschließen die Besprechung der Rede van der Sorgenfreiheit, indem wir die frühere Bemerkung wieder­ holen, daß sich wohl das lebenslängliche Gottvertrauen Jesu hier ausspricht und nicht eine schwärmerische Hoffnung auf das vielleicht morgen schon alles irdische Sorgen beendende Weltende. „Trachtet", so schloß Jesus nach dem echten Text, trachtet „vielmehr nach Gottes Reiche, und dies alles wird euch dazu gegeben werden", und zwar im Diesseits, nämlich Nahrung und Kleidung, durch die im Diesseits noch waltende Vorsehung Gottes. Gegen das Sammeln in Scheuern, gegen die zur Kultur

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gehörige prometheische Vorratsbildung scheint Jesus auch auf­ getreten zu sein durch das Gleichnis Luk. 12 vom reichen Manne, der sich größere Scheuern bauen will und darin aufspeichern, was seine liebe Seele dann genießen soll. Aber was bekämpft Jesus in Wahrheit durch die Gleichnisse von den reichen Männern? Das andere ist ja das vom reichen Mann und dem armen La­ zarus Luk. 16. Ist denn reich zu sein nach Jesus ein ver­ brechen? Jüdisch war der Glaube, daß der äußere Wohlstand des Menschen seinen inneren wert, seine Gottwohlgefälligkeit erkennen lasse, hat Jesus hierzu das Extrem vertreten, daß Gott den Reichen als solchen feind ist? was tadelt Jesus am reichen Mann, der neue Speicher bauen will? Daß er an gar nichts anderes gedacht hat als an Genuß seines Reichtums, daß er gar keine anderen Güter kennt als Reichtum und Genuß. Stirbt er, so kann er seine einzigen Güter nicht mehr genießen, er hat nichts von ihnen, es bleibt ihm überhaupt nichts übrig. (Er war ein Narr. Im Gleichnis vom armen Lazarus wird Jesus wohl die Pflicht der Reichen angedeutet haben, die Armen nicht bei den Hunden auf der Gasse liegen zu lassen. Jesus ist demjenigen Besitz feind, aus welchem nicht reichlich weitergegeben wird. Reichtum verpflichtet. Zwar nicht in unsern vier Evangelien, aber in einem andern wird folgendes, höchst wahrscheinlich echte Wort Jesu zu einem Reichen über­ liefert: „wie magst du sagen: das Gesetz habe ich gehalten und die Propheten? Da doch im Gesetz geschrieben steht: du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; und siehe, viele deiner Brüder, Abrahams Söhne, sind in Schmutz gehüllt, ver­ schmachten vor Hunger, und dein Haus ist voll von vielen Gütern, und nie kommt aus ihm irgendwas an sie." wir haben schon das vorige Mal mit der wirklich nötigen Vorsicht das Wort Jesu ausgelegt, niemand könne Rnecht zweier Herren sein, man könne nicht Gottes und des Mammons Rnecht fein. Vorsicht tut not, damit* man es nicht dahin über­ treibe, Gott solle ganz allein geliebt werden. Nein, nur über alles will Er allein geliebt sein; aber z. v. Zamilienliebe ist uns Christen auch gegönnt. Da verträgt es sich wohl nach unsrer Ansicht über Jesu Sittenpredigt sogar auch miteinander, Gott allein über alles und daneben doch auch das Geld zu lieben? Am Geld selbst darf natürlich keine Geizhalsliebe hasten bleiben. Aber hat Jesus alle edeln Kulturgüter ent-

126 wertet, die man für Geld haben kann? hat man es nur, um es für die Armen hinzugeben? hier wird man doch die Salbungsgeschichte Mark. 14 beachten müssen. AIs gesagt wurde: „Wozu diese Verschwendung der Salbe!" und ihr Geldwert hätte den Armen gegeben werden können, da nannte Jesus die Salbung ein gutes Werk an ihm vollbracht. „Denn alle­ zeit habt ihr die Armen bei euch und könnt ihnen Gutes tun, wenn ihr wollt, mich aber habt ihr nicht allezeit." Jesus hat Freude an diesem Liebesbeweis, er hat ihm wohlgetan. (Es gibt noch andere Zielpunkte und Ziele als die Armen und ihre Pflege. Jesus kommt hier nicht als Stellvertreter Gottes in Bettacht, als ob der Christ etwa nur für gottesdienstliche, für Kultuszwecke verschwenden, den Armen etwas entziehen dürste. Nein, als ein Freund steht Jesus hier da, der für Liebesbeweise empfänglich ist. Aber seine Sittenpredigt hatte Keine Zeit, über edle Freuden, die man durch das Geld machen kann, Winke zu geben. Auch darüber ist man sich so ziemlich einig geworden, datz sie zur Lösung der sogenannten sozialen Frage nichts weiter beiträgt, als den Geist wahrer Liebe zu allen, das hieß auch zu den Niedrigen, ja, allermeist zu den Niedrigen allerart. Ganz richtig schrieb Friedrich Naumann 1894 in „Jesus als Volksmann" S. 6: „Jesus war kein Nationalökonom, aber er hat für das sittlich Unerträgliche die offensten Augen, die es je gegeben hat. Unerträglich aber ist seinem zarten und tiefen Gefühl das Nebeneinander von Überfluß und Mangel. Was heute tausend Gewohnheitschristen ohne Grauen täglich ansehen können, datz Schwelgerei und hunger in derselben Straffe wohnen, das beunruhigte die Seele Jesu." Diese Unruhe mutz den wahren Jünger Jesu zum Freund sozialer Reform machen. Ich mutz abbrechen und diesen Volkshochschulkursus über Jesus und seine predigt schließen. Gleich im Anfang sagte ich, dieser Kursus möchte gegen alle vorsichtig machen, die so sehr vieles über Jesus genau zu wissen behaupten, was man weder weift noch wissen kann, und er wolle sich selbst davor hüten, die wisienschaftlichen (Ergebnisse der Jesusforschung als sicherer hinzustellen, wie sie sind. Aber vielleicht hat er doch selbst hier und da etwas zu sicher und bestimmt behauptet. Also möchte ich schlietzen mit der bescheiden gemeinten Bitte um Vorsicht auch meinen Aufstellungen gegenüber und aufterbem

127 mit dem Wunsch, datz doch die heutigen Christen sehr duldsam gegeneinander wären in bezug auf die Ansichten über Jesus und seine predigt. Die größte Friedfertigkeit tut not wegen der kirchlichen und wegen der wissenschaftlichen Lage. Die Schranken, die das Wissen im Unterschied vom Glau­ ben an Jesus zu erkennen vermag, sind in diesem Hochschul­ kursus nicht verschleiert worden, wem sie Jesum verleiden, der hat noch gar nicht angefangen, seine Größe zu erfassen, seiner innern Herrlichkeit gerecht zu werden. Er ist so groß, datz wir dies und jenes preisgeben können, ohne von ihm wegzugehen. Möge dieser Kursus es niemand erschwert haben, mit Petrus zu sagen: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte bcs ewigen Lebens."

Anhang:

Verweisungen.

vieles ist weiter ausgeführt und begründet in meinem Buche: Vie christliche Demut. Eine historische Untersuchung zur theologischen Ethik. Erste halste: Wortgeschichte und die Demut bei Jesus. Gießen 1906. Ich zitiere es im folgenden mit „Demut". Erster Vortrag. S. 7o. Demut 160. — S. 10m. Schmidt in Theol. Mau 1907, 236. — S. 10 u. bis S. 13 o. folge ich hauptsächlich Har­ ber die Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte. Ehristl. Welt 1904, 314ff. — S. 14m. „Geschichtenbücher": veißmann in „Bei­ träge zur Weiterentwicklung der christl. Religion". 1905,127. - S. 15m. vgl. Lagarde, Deutsche Schriften 41892,228; Jülicher in „Vie Kultur der Gegenwart". I, IV, 1906, 43. — S. 15u. harnack, Lukas der Arzt. 1906, 130. — $. 18m. Jülicher 45f.— S. 22o. Jülicher46. - S. 23m. (D. Holtz­ mann, Leben Jesu. 1901, 77. - S. 23 u. Grimm, Die Ethik Jesu. 1903, 187/8. — $. 25 o. vgl. Joh. weiß in „Vie Schriften des Neuen Testa­ ments". 2I, 1907, 430f. Zweiter Vortrag. S. 32 u. Demut 180.- S. 33 m. Demut 251/2. 5.33 u. vgl. Wellhausen, Das Evangelium Lucae. 1904, 75/6.— S. 34 o. Iülicher 49. — S. 34 m. vgl. Spitta, Streitstagen der GeschichteIesu. 1907, 219f.-S. 34u. preuß. Jahrbücher Bd.75,48. - S. 36u. Bei der Bespre­ chung der Krankenheilungen folge ich besonders Braun, Die Dämonischen des Neuen Testaments. Zeitschr. für Theol. u. Kirche Vin, 494ff.; Eb­ stein, Vie Medizin im Neuen Testament und im Talmud. 1903; Traub, Vie Wunder im Neuen Testament. 21907. — S. 39 o. vgl. Weizsäcker, Untersuchungen über die evang. Geschichte. 21901, 240 o. - S. 39 u. Dgl. Joh. Weiß 331.-S.4Om. Sell in Zeitschr. für Theol. u. Kirche. II, 499.S. 40 u. Stoll, Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. 21904, 221.- S. 41 m. Stoll 3.-5. 42/3: Witte, Nich. Nöthe über Jesus als Wundertäter. 1907, 19. - S. 43 o. Cbstein 60. -

128 Dritter Vortrag. S.48o. Demut 121 \ harnack, Sprüche und Reden Jesu. 1907,189ff.-$.48m. (v.Holtzmann,Rente,tamentl. Zeitgeschichte. 21906,186.-S.49o. Demut 132.-S. 49m. Demut 120/1.—S. 50o. De­ mut 147. - S. 50u. Demut 121/2. - S. 52 m. Demut 106ff. — S. 53m. Weinei, Jesus im neunzehnten Jahrhundert. 1903, 275. — S. 53 u. von Hartmann, Das Christentum des Reuen Testaments. 1905, 69; Jü­ licher 59 u.- S. 54 m. von Hartmann 54. Demut 112. - S. 54u. Demut 167 f. — S. 55 m. Demut 143. - S. 56 f. Demut 154 -160.- S. 57 m. S. 58 m.: Demut 142. 144. - S. 59 m. Volz, Jüdische Eschatologie 1903, 196/7. Demut 129. - S. 60 m. Demut 176. - S. 60/1. Demut 130. - S. 62f. De­ mut 163ff. - S. 63 u. Demut 162. - S. 65 f. Demut 131 ff. vierter Vortrag. S. 68 ff. Demut 170f. und vgl. die hier ange­ gebenen Ausführungen. - S. 71 u. Bei der „predigt Jesu vom Reiche Gottes" folge ich hauptsächlich, zuweilen auch in treffenden Ausdrücken, dem so betitelten Buche von Joh. Weiß. 21900. - S. 72 o. Gunkel, Theol. Literaturzeitung 1893, 42. - S. 72 m. Gottschick in Haucks Realenzyklo­ pädie XVI, 784,19ff.-S. 77m. Demut 92f. - 5.77 u. Wellhausen, Das Evangelium Matthäi. 1904, 15; Joh. Weiß, Die Schriften 263o. — S. 79 u. Demut 4. 212. - S. 80. Traub, Jesus ein Proletarier? Christi. Welt 1899, 1178 ff. Demut 209u. - S. 81 u. Demut 75 ff. - S. 82f. De­ mut 148f. 253/4. - 5.84 in. Demut 105f. llOff. - S. 85u. Joh. Weitz, Die Schriften 179. — S. 86u. Lütgert, Die Liebe im Reuen Testament. 1905, 73. - S. 87 o. Demut 159u. - S. 87 m. Demut 178 u. - S. 87 u. Wundt, Ethik 8I, 333 o. Zünsler Vortrag. S. 90 m. vouffet, Jesus 48; Jülicher 60. — S. 91 Demut 137 f. - S. 92 m. Spitta 144ff. - S. 92 u. Lütgert 113. heinrici, Die Bergpredigt begriffsgeschichtlich untersucht. 1905, 87 f. - S. 93 o. harnack, Sprüche 47. - S. 94 o. Joh. Weitz, Die Schriften 152. Well­ hausen, Einleitung in die drei ersten Evangelien. 1905, 80. — S. 94 u. Demut 233. - S. 96 m. Demut 148. — S. 98 m. Jülicher 68 o. Demut 54f. 88ff. — $.100 u. Hegels Theol. Jugendschriften ed. Rohl. 1907, 264. — S. 101 u. Demut 15. - S. 102. Demut 184ff. 192 ff. - S. 103. Dalman, Christentum und Judentum. 1898, 21; Demut 195; Leipoldt, Christen­ tum und Stoizismus, Zeitschr. f. Kirchengesch. XXVÜ, 140. 143; Gldenberg, Buddha. 81897,178f.-S. 103 u. Schopenhauer und Nietzsche. (Ein Vortragszyklus. 1907,198ff.- S. 105 m. Joh. Weitz, Die Schriften 280f.Sechster Vortrag. S. 107/8 Demut 203. - S. 108 m. Grimm, Die Ethik Jesu. 74 ff. - S. 109 o. Grimm 81. - S. 109 u. Simmel 215/6. $. 111 o. Demut 203/4. 201 o. — $. 111 u. Wendland, Die hellenistisch­ römische Kultur. 1907, 20f. - S. 113o. Demut 174. - S. 113u. hein­ rici 47. - S. 114 Demut 227 f. - S. 115 u. Demut 198. - S. 116 u. von Hartmann 154. - S. 117 m. Wellhausen, Matth. 29. Jülicher 64 u. S. 118 o. Zahn, Das Evangelium des Matthäus 21905, 585 u. S. 119 o. Wendt, Die Lehre Jesu. 21901, 290; Merx, Die vier kanoni­ schen Evangelien II, 1,1902,145. — S. 119 u. Demut 197. — S. 121 o. von Hartmann 157. - S. 121 u. von Hartmann 52. - S. 122 o. Demut 182. - S. 122 m. Bettelsack: Deitzmann, Christi. Welt. 1903,242s.— $.124o. von Hartmann 147 o. - S. 124 u. Leipoldt 137. 142. — S. 125 u. Heute,tamentl. Apokryphen eä. Hennecke. 1904, 20. -

Der Verlag von Alfred Göpelmann in Gießen zeigt hierdurch an, daß

Das Züchen der Zeit mit den Vorräten der bisher erschienenen ersten vier Bände aus dem Verlage von Karl Robert Langewiesche in Düsseldorf in den (einigen übergegangen ist.

214 S. 1903 Erster Banb: Kart. M. 1.80 Unsere Hoffnung (flrtur Bonus)-Die Sehnsucht nach Persönlich­ keit (Friedrich Vaab) - Maran Rtha (Heinrich lveinel) - Das religiöse Denken der Gegenwart (Friedrich Riebergall) - Väter und Söhne (Hans Wegener) — Die geheimen Erfahrungen der Pro» phetenJsraels (Hermann Gunkel) - Übermensch und Herdenmensch (Heinrich LhotzKy) — Ein Hemmnis deutscher Zukunst und seine Überwindung (Meyer-Zwickau) - (Erfüllung (Gertrud Prellwitz).

210 S. 1904 Zweiter Banb: Kart. M. 1.80 Die Selbsterhaltung des Ichs (Friedrich Naumann) — Was ist Religion? (Hans Wegener) — Die Seele Jesu (Friedrich Daab) — Das Mysterium (Heinrich LhotzKy) — Der Kulturwert der Re­ naissance (flrtur Bonus) - vergib uns unsere Schuld (Heinrich Weinel) — Gedanken (Carl Hauptmann). 223 s. 1905 Dritter Banb: Kart. M. 1.80 was ist die Bibel? (Hans Wegener) - „Sonnig". Geschichte eines Einsamen (Heinrich LhotzKy) - Das Armenevangelium (Fritz Werner) - Erlösung (Friedrich Daab). 220 S. 1906 vierter Banb: Kart. m. 1.80 Die Furcht vor dem Denken (Hans Wegener) — Bekenntniffe eines versöhnten Menschen (Fritz Werner) — vom jungen Leben (Friedrich Daab). Diese „Blätter deutscher Zukunst" wird der neue Verleger in Gemeinschaft mit den Begründern des Unternehmens, den Herren Friedrich Daab und Hans Wegener, künftig alljährlich in einem neuen Bande fortsetzen. ---------

Der fünfte Banb wird im Herbst 1908 erscheinen. ---------

Verlag von Alfred Töpelmann in Gießen

Die christliche Demut Line historische Untersuchung :: zur theologischen Ethik :: von

Prof. D. Karl Thieme in Leipzig I. hälfte:

Wortgeschichte und die Demut bei Jesus Gr. 8° 1906 XVI u. 258 S.

Die II. Hälfte ist in Vorbereitung.

M. 5.60

Jede Hälfte ist einzeln käuflich.

Turm- und Glockenbüchlein, von Prof. Dr. Karl Batier. Line Wanderung durch deutsche Wächter- und Glockenstuben. Wit Buchschmuck von B. Wenig und 20 Abbildungen. Geh. HL 4. -, in Leinen geb. HL 5. —.

Schleiermacher als patriotischer Prediger, von Prof. D. Johannes Bauer. Lin Beitrag zur Geschichte der nationalen Erhebung vor hundert Jahren. Geh. IN. 10. -, in Leinen geb. IN. 11. -.

Der Konfirmanden- und der Religionsunterricht in der Schule in ihrem gegenseitigen Verhältnis, von Senior Prof. D. W. Bornemann. Geh. m. i.so.

Nervöse Kinder, von h. Bosma. und allgemeine Bemerkungen.

Medizinische, pädagogische Geh. IN. 1.60, in Leinen geb. IN. 2.30.

Die Religion des Volkes Israel bis zur Verbannung, von Prof. D. Karl Budde. 2. wohlfeile Ausgabe. Geh. IN. 2.50, in Leinen geb. HL 3.30.

Verlag von Alfred Opelmann in Gießen

Was nun? von Pastor Julius Burggraf, aus der Kirchlichen Bewegung und wider den kirchlichen Radikalismus in Bremen. Geh. IN. -.50.

Vie Zukunft des kirchlichen Liberalismus, von Pastor Julius Burggraf. (Eine Stimme aus dem antiradikalen Sager. Geh. IN. —.50.

Das religiöse Leben der Juden nach dem Exil, von Prof. D. T. K. Lheyne. Deutsch von H. Stocks. 2. wohlfeile Ausgabe.

Geh. IN. 2.50, in Seinen geb. IN. 3.30.

Paulus. Sein Leben und Wirken, von Prof. Lic. Dr. Carl (Demen. L Weil (Untersuchung: Voraussetzungen, (Quellen und Chronologie). Geh. IN. 8. —, in Seinen geb. IN. 9. -. n. Weil (Darstellung). INit einer Karte der INissionsreisen des Apostels. Geh. IN. 5. -, in Seinen geb. IN. 6. -. Beide Teile find einzeln käuflich, der zweite ist auch fürs größere Publikum bestimmt.

Predigt und biblischer Text, von Prof. Lic. Dr. Carl (Demen. (Eine Untersuchung zur Homiletik. Geh. ITC. 2. -.

Zur Reform der praktischen Theologie, von Prof. Lic. Dr. (Earl Tlemen. Geh. m. i.so. Die predigt im 19. Jahrhundert, von Prof. D.paul Drervs. Kritische Bemerkungen und praktische töinfce. Geh. IN. I. —. Evangelische Jugendlehre, von Pros. D. Karl Eger. (Ein Hülfsbuch zur religiösen Jugendunterweisung nach Suthers Kleinem Katechismus (1. u. 2. Hauptstück). Geh. IN. 4.80, in Seinen geb. IN. 5.50.

Die Vorbildung zum Pfarramt der Volkskirche, von Prof. D. Karl Eger. Bestellt die derzeitige theologisch-wissen­ schaftliche Vorbildung zum volkskirchlichen Pfarramt grundsätzlich zu Recht, und ist sie ausreichend? Geh. IN. 1.70.

Verlag von Alfred Töpelmann in Gießen Die Trennung von Staat und Kirche, von Privat­ dozent Dr. iur. 3. K. Julius Friedrich. Geh. m. i.4o. Die Friedhofsfrage. Konfessions- oder Simultanfried­ höfe? von Pfarrer Eberhard Goes. Lin Lösungsversuch auf Grund der Tatsachen.

Geh. HL 3.-.

Das kirchliche Stimmrecht der Frauen in kirchlichen Angelegenheiten, von Pfarrer EmilGüder. G-h.m.-.so. Kepler und die Theologie, von Ludwig Günther. Lin Stück Neligions- und Sittengeschichte aus dem 16. und 17. Jahr­ hundert. Geh. IN. 2.50, in Leinen geb. IN. 3.50.J

Ein Hexenprozeß, von Ludwig Günthers ®njKapitei aus der Geschichte des dunkelsten Aberglaubens.

Geh. IN. 2. — .

Haeckels „Welträtsel" und Herders Weltanschauung, von Prof. Dr. Adolph Hansen. Geh. m. 1.20.

Adolf yarnack: Reben und Aufsätze. Ausstattung.

Zweite Auflage. 2 Bänbe in gediegener Geh. IN. 10.-, in Leinen geb. IN. 12.-.

Prospekt mit dem Inhaltsverzeichnis der Bänbe auf wunsch'postfrei.

Das Mönchtum, seine Ideale und seine Geschichte. 7. verbesserte Auflage.

IN. 1.40.

Augustins Konfessionen. ' (Ein Dortrag.

Sokrates und die alte Kirche.

3. Auflage. IN. —.60.

Hektoratsrede.

HL - .50.

Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und der Bildung. 3. durch gesehenes Auf­ lage.

IN. -.60.

Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte. 1.-3. Auflage, m. -.so.

Verlag von Alfred Topelmann in Gießen

Die Eigenart der amerikanischen predigt, von Pastor Hans Haupt, Geh. m. 1.20. Religionsgeschichtliche Vorträge, von pryf. D. (Oscar Holtzmann. 1. Israel und die Propheten. - 2. Das jüdische Ge­ setz. - 3. Das Jahrhundert Jesu Christi. - 4. Jesus Christus. 5. Vie Eroberung der Welt durch die Kirche. - 6. Das Evangelium und die Konfessionen. Geh. BL 1.50, in Leinen geb. BL 2.25.

Ein Büchlein vom staatlichen Religionsunterricht ins­ besondere in Hessen, von Prof. D. (Oscar Holtzmann. Soeben erschienen!

Geh. BL -.30.

Reue Linien in der Kritik der evangelischen Über­ lieferung. von Prof. D. Adolf Jülicher. Leh. m. i.so. Der Methodismus in Deutschland, von em. Pfarrer Johannes Jüngst, 3.Nufl. Geh. m. 2.40, in Leinen geb. m. 3.20.

Das sittliche Recht des Krieges, von Prof. D. Ferdi­ nand Kattenbusch. Geh. m. -.eo.

von Schleiermacher zu Ritschl. von Prof. D. Ferdinand Kattenbusch. Zur Orientierung über die Dogmatik des 19. Jahr­ hunderts.

3. vielfach veränderte Huflage.

Geh. BL 1.75.

Ausgewählte christliche Reden, von Sören Kierke­ gaard. Deutsch von Julie von Neincke. Geh. M. 3. — , in Leinen geb. Bl. 4. — .

Dom Sein und von der Seele, von Prof. Dr. Walter Kinkel. Gedanken eines Idealisten. Zein geb. Bl. 2.—.

Aus Traum und Wirklichkeit der Seele, von Prof. Dr. Walter Kinkel. Stille Gedanken aus einsamen Stunden. Fein geb. Bl. 2. -.

Verlag von Alfred Opelmann in Gießen

Geschichte der Philosophie als Einleitung in das System der Philosophie, von Prof^ Dr. Walter Kinkel l Teil: von Thales bis auf die Sophisten. Geh. 11t. 6. —, in Leinen geb. IN. 7. -.

Katholizismus und Reformation, von Prof. D. Walther Kohler. Kritisches Referat über die wissenschaftlichen Leistungen der neueren katholischen Theologie auf dem Gebiete der Reformationsgeschichte. Geh. IN. 1.80.

Kirche und Sozialdemokratie, von Pastor Georg Liebster. Soeben erschienen! Geh. IN. 3.20. Was aus ihnen wurde, Novellen.

von E. Müllenhoff.

Drei

Geh. IN. 2.80, in Leinen geb. IN. 3.50.

Die Gefahren der Einheitsschule für unsere nationale Erziehung, von Direktor Prof. Dr. Hugo Müller. Geh. M. 2.40.

Mutter und Kind. Wie man heikle Gegenstände mit Kindern behandeln kann. s.-s. Tausend, um einem Vorworte von Prof. Dr. med. Georg Sticker.

Geb. IN. - .90.

Francis G. Peabody in autorisierten Übersetzungen von E.Müllenhofs: Jesus Christus und der christliche Charakter. dem Bildnis des Verfassers.

mit

Geh. IN. 4. -, in Leinen geb. IN. 5. —.

Jesus Christus und die soziale Frage.

Geh. m. 5.-,

in Leinen geb. IN. 6. —.

Die Religion eines Gebildeten,

«eh. m. i.so,

in Leinen

geb. IN. 2.20.

Der Lharakter Jesu Christi. HbettbftUttbeU.

Zein geh. IN. - .60.

Religiöse Betrachtungen.

Geb. IN. 2.50.

Verlag von Alfred Töpelmann in Gießen Religion gegen Theologie und Kirche, von Privat­ dozent Dr. Td. Platzhoff-Lejeune. Notruf eines WeltMnbes. Geh. TH. 1.40.

Rntilegomena. Die Reste der außerkanonischen Evan­ gelien und urchristlichen Überlieferungen, heraus­ gegeben und übersetzt von Prof. D. Erwin Preuschen. 2. umgearbeitete und erweiterte Huflage. geb. IN. 5.20.

Geh. BL 4.40, in Leinen

Zur Beurteilung der modernen positiven Theologie, von Prof. Lic. Dr. Martin Schian. Geh. m. 2.80. Die evangelische Kirchgemeinde, von Prof. Lic. Dr. Martin Schian. Geh. m. 2.70.

Luther in den Wandlungen seiner Kirche, von Privat­ dozent Lic.horst Stephan. Geh. M. 2.60, in Leinen geb. M. 3.50. Gesundheit und Erziehung, von Prof. Dr. med. Georg Sticker. (Eine Vorschule der Che. 2. vermehrte Huflage. Geb. IN. 5.-.

Wie predigen wir der Gemeinde der Gegenwart? von Pfarrer Walther Wolff. (Ein Konferenjoortrag. Geh. IN. 1. —. Deutsches Wörterbuch von Fr. L. K. Weigand. 5. aufläge in der neusten amtlichen Rechtschreibung. Nach des Verfassers Tode vollständig neu bearbeitet von Karl von Vahder und Ejerman Eprt, a. o. proff. an der Universität Leipzig, und Karl Kant, privatgelehrtem in Leipzig, herausgegeben von Herman Hirt, vollständig bei rund 150 Druckbogen Groh - Lexikon - Formats in 12 Lieferungen zum Subskriptionspreise von je IN. 1.60. Drei Lie­ ferungen sind erschienen, die übrigen folgen etwa in zweimonatlichen Zwischenräumen. Lieferung 1 in jeder guten Buchhandlung zur Einsicht. Prospekt mit Probeseite kostenlos vom Verlag.

Verlag von Alfred Töpelmann (vormals I. Ricker) in Gießen

Malter Kinkel IDom Sein und von der Seele Gedanken eines Zdealiüen Zein geb.

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Philosoph eine Reihe tiefempfundener Aufsätze: zwei Büchlein für das Leben im umfassenden Sinne

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liche, das Schöne, wahre und Gute der Welt nachgedacht, die gelitten und sich durchgerungen hat.

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