Kritik der bürgerlichen Psychologie: Zur Theorie des Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft 3436016977

»Gerade dort wird die Forderung nach einer >neuen< Psychologie am lautesten erhoben oder die bloß kritische Inansp

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Kritik der bürgerlichen Psychologie: Zur Theorie des Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft
 3436016977

Table of contents :
Einleitung
Zur Funktion der Kritik der bürgerlichen Psychologie '» 7
Friedhelm Streiffeier
Die Marxsdie Konzeption des Individuums und Probleme des Verhältnisses von Psychologie und Marxismus 25
Harald Kerber
Kritik der neueren Marx-Kritik; Sozialtechnologie - reflektierte Theorie-Praxis-Vermittlung; das Konzept des
gesellschaftlichen Subjekts. . . . . . . . . . 56
Klaus-Jürgen Bruder
Entwurf der Kritik der bürgerlichen Psychologie . . . 92
%. Psychophysik - Psychotechnik: der doppelte Ausgangspunkt der modernen bürgerlichen Psychologie? . . . . . . . . 92
2. Einrichtung der Bedingungen von Verhalten:
die Verschränkung von Gegenstand und Methode 132
3. Bewußtes Handeln - bewußtloses Reagieren:
Rückwirkungen der Psychologie auf diese Resultate des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses? . . . . 151
4. Kritische Technologie . . . . . . . . . 194
Walter Volpert
Psychologie der Ware Arbeitskraft. Zur Kritik der
Arbeits-und Betriebspsychologie . . . . . . . 218
1. Vorbemerkungen 218
2. Arbeitskraft als Ware . . . 219
3. Die Intensification der Arbeit . . . . . . 222
4. Die Entwicklung der Arbeitswissenschaft . . . 2245- Zum Verhältnis von »Humanisierung« und Intensification . . . . . . . . . . . .
6. Typische Problemstellungen der Arbeitspsychologie . . . . . . . . . . . . . .
7. Die Komplizierung der Arbeit und die Krise der
Arbeitswissenschaft .
8. Zur Einschätzung der Arbeitspsychologie und
der Betriebspsychologen . . . . . . . .

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Bücher des Wissens

Zur Theorie des Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft Herausgegeben von Klaus-Jürgen Bruder

Fischer Taschenbuch Verlag

Die Marxsche Konzeption des Individuums und Probleme des Verhältnisses von Psychologie und Marxismus Kritik der neueren Marx-Kritik; Sozialtechnologie — reflektierte Theorie-Praxis-Vermittlung; das Konzept des gesellschaftlichen Subjekts Entwurf der Kritik der bürgerlichen Psychologie Psychologie der Ware Arbeitskraft. Zur Kritik der Arbeitsund Betriebspsychologie

Originalausgabe

DM 4.80

Über dieses Buch »Gerade dort wird die Forderung nach einer >neuen< Psychologie am lautesten erhoben oder die bloß kritische Inanspruchnahme der Psychoanalyse als einer »kritischen Theorie des Subjekts< praktiziert/ wo sich am klarsten erkennen ließe, daß die neue »positive Wissenschaft, die der alten entgegenzusetzen wäre, deren Kritik nur sein kann; wie audi, daß die einzig adäquate Antwort auf den gesellschaftlichen Charakter dessen, was diese Psychologie ändern sollte, den Individualismus der Individuen, die Veränderung seiner Reproduktionsbedingungen ist. Als Verhalten und Denken entsprechend bürgerlicher Normen, ist er Produkt auch der Entpolitisierung und nur als solches tendenziell aufzubrechen, d.h. durch Initiierung der ausgeschalteten politischen Praxis. Für diese Initiierung gilt, daß sie sich in der Kritik der bestehenden Verhältnisse nur konstituierte die auch diese Ausschaltung ermöglichten, daß sie den Kritiker selbst einschließt, seine politische Praxis, daß sie ihn einschließt als kollektive, die gleichzeitig die Dichotomie von lokaler Borniertheit und überregionaler Beliebigkeit überwindet, daß sie theoretische vor allem insoweit ist, als sie Kritik der Geschichte bisheriger Politik (und ihres Versagens) ist, jedoch keine bloß literarische, daß sie deren Gestalt vielmehr aufhebt in der Politisierung bloß theoretischer Kritik.« Klaus-Jürgen Bruder Die Autoren Klaus-Jürgen Bruder, geb. 1941 in Leipzig. Studium der Psychologie, Wissenschaftstheorie und Kritik der politischen Ökonomie in Heidelberg und Würzburg. Lehrauftrag für Politische Psychologie an der Universität Heidelberg, Hochschullehrer für das Fach Sozialpsychologie an der Fachhochschule Frankfurt, Assistent am Seminar für Wissenschaft von der Politik und am Psychologischen Seminar der TU Hannover. Dr. Friedhelm Streiffeier, geb. 1942 in Koblenz. Studium der Psychologie und Philosophie in Bonn, Münster und Heidelberg. Diplom und Promotion in Heidelberg. Zur Zeit Assistent am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg. Dr. Walter Volpert, geb. 1942 in München. Studium der Psychologie, Soziologie und Pädagogik in München und Berlin. Diplom 1966 in München, Promotion 1969 in Berlin. Zur Zeit Professor für Psychologie unter besonderer Berücksichtigung der Arbeits- und Betriebspsychologie an der PH Berlin. Dr. Harald Kerber, geb. 1932. Studium der Pädagogik in Braunschweig, danach Studium der Politischen Wissenschaft, Soziologie, Philosophie und Neuere Geschichte an der FU Berlin, 1963 Diplom in Wissenschaft von der Politik in Berlin, 1968 Promotion in Soziologie, Neuere Geschichte und Philosophie. Ab 1969 wissenschaftlicher Angestellter an der Universität Göttingen, 1970 Assistent am Psychologischen Institut der FU Berlin, seit 1 9 7 1 Akademischer Rat der Universität Göttingen.

Kritik der bürgerlichen Psychologie Zur Theorie des Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft Herausgegeben von Klaus-Jürgen Bruder

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Fischer Taschenbuch Verlag

Originalausgabe

Fischer Taschenbuch Verlag Mai 1973 Umschlagentwurf: Jan Buchholz/Reni Hinsch Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main © Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1973 Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH/ Hamburg Printed in Germany ISBN 3 4 3 6 0 x 6 9 7 7

Einleitung Zur Funktion der Kritik der bürgerlichen Psychologie '»

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Friedhelm Streiffeier Die Marxsdie Konzeption des Individuums und Probleme des Verhältnisses von Psychologie und Marxismus

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Harald Kerber Kritik der neueren Marx-Kritik; Sozialtechnologie - reflektierte Theorie-Praxis-Vermittlung; das Konzept des gesellschaftlichen Subjekts. . . . . . . . . .

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Klaus-Jürgen Bruder Entwurf der Kritik der bürgerlichen Psychologie . . . %. Psychophysik - Psychotechnik: der doppelte Ausgangspunkt der modernen bürgerlichen Psychologie? . . . . . . . . 2. Einrichtung der Bedingungen von Verhalten: die Verschränkung von Gegenstand und Methode 3. Bewußtes Handeln - bewußtloses Reagieren: Rückwirkungen der Psychologie auf diese Resultate des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses? . . . . 4. Kritische Technologie . . . . . . . . . Walter Volpert Psychologie der Ware Arbeitskraft. Zur Kritik Arbeits-und Betriebspsychologie . . . . . . 1 . Vorbemerkungen 2. Arbeitskraft als Ware . 3. Die Intensification der Arbeit . . . . 4. Die Entwicklung der Arbeitswissenschaft .

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5- Zum Verhältnis von »Humanisierung« und Intensification . . . . . . . . . . . . 6. Typische Problemstellungen der Arbeitspsychologie . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Komplizierung der Arbeit und die Krise der Arbeitswissenschaft . 8. Zur Einschätzung der Arbeitspsychologie und der Betriebspsychologen . . . . . . . .

Einleitung Zur Funktion der Kritik der bürgerlichen Psychologie1

I

Kritik der bürgerlichen Psychologie, wie Wissenschaftskritik allgemein, hat sich in der antiautoritären Studentenbewegung entzündet im Kampf gegen die etablierte bürgerliche Psychologie bzw. Wissenschaft, vertreten durch die Ordinarien bzw. die Personen, die die Inhalte des Studiums dieser Wissenschaften bestimmten. Aber diese Kritik war immer schon mehr als bloße Revolte gegen die Autorität der Ordinarien. Die Studenten erkannten in den Ordinarien, in deren Widerstand gegen ihre Demokratisierungsforderungen, die Vertreter der Interessen der bestehenden Gesellschaft an der Universität und in deren scheinbar wertfreier Wissenschaft die Wissenschaft dieser Gesellschaft. Ihre Kritik meinte also immer schon mehr als den Angriffspunkt allein: die Gesellschaft insgesamt, die diese Wissenschaft hervorgebracht hat und ihrer bedarf, Als Wissenschaftskritik wurde sie artikuliert im Bezugsrahmen von Gesellschaftskritik. Zwar machte diese sich fest an der konkreten Gestalt von Wissenschaft, die an den jeweiligen Instituten betrieben wurde. Aber das mußte nicht notwendigerweise zu einer Fixierung an die isolierte Gestalt dieser Einzelwissenschaft führen, sondern überschritt solche Bornierung im Rahmen der allgemeinen studentischen Politik an der jeweiligen Hochschule. Die lokale Beschränkimg, wenn sie vorlag, war eher Ausdruck der lokalen Begrenztheit studentischer Politik überhaupt. Als solche wurde sie auf dem Tübinger Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 1968, auf dem Gruppen aus verschiedenen Universitäten ein Symposium »umfunktionierten«, auch nicht eigentlich überwunden, sondern überspielt und überregional verbreitet durch die bürgerliche Presse, die sich damals noch für derartige Aktionen interessierte. - In diese Diskussion griffen schon bald andere Gruppen und Individuen ein. Keine Psychologiestudenten, die als solche gezwungen gewesen wären, sich mit der bürgerlichen Psycholo1

Veränderte Fassung der im Organ der Basisgruppen Psychologie 1972, 3, erschienenen >Thesen< zum Hauptthema des Treffens der Basisgruppen Psychologie am22./23. 5 . 1 9 7 1 in Heidelberg.

gie auseinanderzusetzen, sondern die zur Psychologie aus ganz anderem Interesse gestoßen waren: durch (anscheinend) psychologische Probleme ihrer politischen Praxis (in Kinderläden, Kommunen, Agitation). Sie beanspruchten mit der Formulierung ihrer Probleme, die von größerem ÄUgemeinheitsgrad zu sein schienen als die Auseinandersetzung mit einer bürgerlichen Einzelwissenschaft, die eigentlich politische Dimension in die Diskussion zu bringen, der sie selbst die fachidiotische Begrenztheit ihres kritisierten Gegenstandes unterstellten. Indem sie aber ihre Probleme als psychologische begriffen, zwar nicht durch die bürgerliche Psychologie zu lösende, aber durch eine neue, die zu schaffen sie forderten, abstrahierten sie von der gesellschaftlichen Vermitteltheit auch gerade psychologisch sich stellender Probleme, reduzierten gesellschaftliche und damit eminent politische Probleme auf die Ebene unmittelbar psychologisch zu behandelnder und verfehlten damit von vornherein jene politische Stoßrichtung, die die Psychologiekritik bereits erreicht hatte: die Kritik der Gesellschaft in der Kritik ihrer Psychologie. Diese ursprüngliche Intention der Kritik versuchten einige Gruppen und Individuen auf dem »Kongreß kritischer und oppositioneller Psychologie« in Hannover 1969 wieder herzustellen, indem sie der Forderung nach psychologischer Arbeit in politischer Absicht entgegenhielten: »Die konkrete Alternative zum Traum von der Umfunktionierung der Psychologie zum Instrument des Klassenkampfs ist ihre Zerschlagung.«2 Die Zerschlagungskampagne, als eine von vielen zunächst nur Ausdruck der »revolutionären Ungeduld« dieser Phase der Studentenbewegung, geht in ihrer Begründung, die Funktion der bürgerlichen Psychologie sei, »die Profite der Kapitalisten durch Verminderung von Reibungsverlusten zu erhöhen«8, an den Intentionen dieser Gruppen ebenso vorbei, wie sie sich gleichzeitig auf deren Ebene einläßt. An ihren Intentionen geht sie insofern vorbei, als sie psychologische Arbeit aufgrund ihrer Funktion im Verwertungsäusammenhang des Kapitals kritisiert, wohingegen diese Gruppen doch eine Arbeit mit Psychologie außerhalb dieses Verwertungszusammenhangs progagierten. Sie läßt sich aber auf deren Ebene (scheinbar) wiederum ein, indem sie »die Psychologie . . . traditionell und perspektivisch« als eine Wissen- ^ schaff: bezeichnet, »die systembedingte Konflikte zu eliminieren oder zu integrieren versucht (das gilt auch für die Psy8

Resolution vom »Kongreß kritischer und oppositioneller Psychologie« am 16. 5 . 1969 in Hannover. Nachgedruckt in: Kritische Psydiologie. Bochum 1970, S. 166 bis 168. 3 B. Vatter, 1969, >Die Funktion der Psychologie im NeokapitalismusWissenschaftskritik, zum Stand der Diskussion«. In: Organ der Basisgruppen -Psychologie, 1 9 7 0 , 1 , S. 55 ff. 7 K. Marx, Das Kapital, Bd. 3. In: K. Marx & F. Engels, Werke. Berlin 1956ff. {Im folgenden abgekürzt: MEW), Bd. 25, S. 269. * MEW, Bd. 23, S. 54. « MEW, Bd. 25, S. 269. 10 Ebd.*, S. 260.

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serungen der unmittelbaren Situation der Menschen nicht vereiteln zu dürfen glauben. Man kann derartigen Positionen eine naive Vorstellung von Wissenschaft, von ihrer emanzipatorischen Rationalität wie von ihrer autonomen Wirkungsmöglichkeit, nachweisen, naiv selbst in ihrer (materialistisch sich verstehenden) Begründung als der Notwendigkeit der Entwicklung der Produktivkräfte. Denn dabei reduzieren sie »die Entwicklung der Widersprüche einer geschichtlichen Produktionsform« als des »einzig geschichtliche (n) Weg(es) ihrer Auflösung und Neugestaltung«11 auf die Entwicklung abstrakt gefaßter Produktivkräfte, ungeachtet ihrer konkreten Gestalt, in der sich bereits die Kapitalinteressen materialisieren. Sie setzen damit die Entwicklung von Produktivkräften mit der Entfaltung des Individuums, der Verbesserung seines Geschickes12 unmittelbar gleich. Sie negieren die qualitative Begrenztheit der tatsächlichen »Entfaltung« des Individuums im Kapitalismus, »unter der Form der Entfremdung«13, die diese Form der Entwicklung der Produktivkräfte gerade nicht notwendig als die die Produktionsverhältnisse von sich aus sprengende ausweist. Sie »verabsolutieren« »die einer bestimmten Epoche und einer bestimmten Produktionsweise eigene Entwicklung der Individualität«, verwechseln »sie mit der Verwirklichung der >Freiheit schlechthin... sie begreifen eben nicht, daß die bürgerliche Freiheit - weit entfernt davon, die Verkörperung der >Freiheit überhaupt vorzustellen - vielmehr das ureigenste Produkt der kapitalistischen Produktionsweise ist, und deshalb mit dieser all ihre Beschränktheiten teilt«14. »Es ist eben nur die freie Entwicklung auf einer bornierten Grundlage - der Grundlage der Herrschaft des Kapitals.«15 Dieses frappierend naive Verhältnis zur Psychologie, zu ihrer Fähigkeit der Entwicklung ,der Individualität, wurde aber erst möglich gegen die Zerschlagungskampagne. Seine Einseitigkeit, die in die Augen springt, ist in bestimmter Weise durch die umgekehrte Einseitigkeit ihrer bloßen Verwertungskritik, produziert. Mit der Diffamierung der Forderung - nicht nach Verwendung der bürgerlichen Psychologie, sondern — nach einer neuen Psychologie auf dem Kongreß in Hannover hatte sie einer Intention die Artikulationsmöglichkeit genommen, der dieser Position wieder zum Ausdruck zu verhelfen schien, allerdings in entstellter Form. 11

MEW, Bd. 23, S. 512. Ebd., S. 54. * K. Marx, Texte zu Methode und Praxis II: Pariser Manuskripte 1844. Reinbek bei Hamburg 1966 (rowohlts klassiker Bd. 209/210), S. 82. 14 R. Roskolsky, Zur Entstehungsgeschidite des Marxschen Kapital. Frankfurt a. M./Wien 1968, S. 491 f. . 1 5 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf von 1857/ 1858). Frankfurt a. M./Wien, Nadidruck o. J., S. 545. 12

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Wollte man dieses ursprüngliche Interesse an Psychologie bestimmen, sei es für Fragen der als politische Praxis verstandenen Kindererziehung, Therapie oder des gemeinsamen Wohnens, sei es aus der als politische Arbeit im engeren Sinn verstandenen Agitation und Organisierung heraus, so träfe man auf die (nicht unbedingt immer theoretisch klare) Einsicht in die Bedeutung subjektiver Faktoren der Politisierung, ihrer die Verbreiterung politischer Reflexion und Diskussion hemmenden oder die Arbeitsfähigkeit der bereits Politisierten beeinträchtigenden Wirkimg. Ob man also psychische »Barrieren« in den Individuen dafür verantwortlich machte, daß sie »nicht ansprechbar« waren, oder dafür, daß sie in die Diskussion nicht eintreten konnten, auch wenn sie sich angesprochen fühlten, es war das Problem der individuellen, gegen den gesellschaftlichen Druck zu erzwingenden Emanzipation gemeint. Dies Problem fand zwar am Anfang der Studentenbewegung seinen Ausdruck im antiautoritären Protest, insofern man sich die individuelle Emanzipation mit der kollektiven zusammenfallend dachte. In der Praxis kam die individuelle Emanzipation stets zu kurz. Das »Kollektiv«, welches nicht der objektive Zwangszusammenhang der Arbeiter, sondern der subjektiv aus einem gemeinsamen Interesse an politischer Arbeit begründete freiwillige Zusammenschluß von Studenten war, reproduzierte den Zwangscharakter der bürgerlichen Gesellschaft vermittels seiner bürgerlich erzogenen Mitglieder und mußte so diejenigen frustrieren, die mit ihrem Eintritt die Hoffnung auf individuelle Emanzipation verbunden hatten. In der Folge wurde ihre Berechtigung entweder gänzlich geleugnet, damit die bestehende Praxis in völliger Verdrängung rationalisiert, und dies gerade bei einem großen Teil der Psychologiestudenten, die damit als besonders strenge Materialisten sich ausweisen, ihre eigene Vergangenheit, ihre Studienmotivation verarbeiten zu müssen glaubten; oder sie wurde zum alleinigen Maßstab, an dem politische Arbeit gemessen, völlig abstrakt und psychologisierend behandelt und von daher diskreditiert. Wenn auch die Kritik von Hannover an diesen Intentionen vorbeigeht, so zeigt die abstrakte Alternative gleichzeitig, daß sie sich auf die Ebene ihrer Artikulation einläßt: der Abstrakt tion von der gesellschafdichen Vermitteltheit psychologisch sich darstellender Probleme der Emanzipation, der Ausschaltung von (nicht bloß äußerlich bleibender Verwertungs-) Kritik, der Negierung politischer Praxis als der einzigen Möglichkeit der Lösimg der gesellschaftlich bestimmten Probleme, ge12

gen die sie in völlig hilfloser Weise ebenso abstrakt die Parole von der Zerschlagung setzte. Damit geht sie in gleicher Weise an jenen Intentionen vorbei wie diejenigen, die sie selbst artikulierten. Begründet ist dieses Vorgehen seinerseits im verkürzten Verständnis von praktischer Kritik als Zerschlagung, die gegen die kritische psychologische Praxis16 ebenso abstrakt gesetzt wurde wie in der Parole von der Wissenschaftskritik überhaupt bzw. in deren Wiederaufnahme und Propagierung. Und zwar zu dem Zeitpunkt, als die Einrichtung von Institutsgruppen sich als Lösung dafür anbot, daß die Studenten durch die Auseinandersetzung mit der Stadt- und Universitätsbürokratie zwar massenhaft, aber immer nur für die kurze Dauer des mobilisierenden Ereignisses aktiviert werden konnten, daß sie danach immer wieder auseinandergelaufen sind. Die Institutsgruppen sollten, indem sie relativ längerfestige Aufgaben stellten, die »Mobilisierten organisieren«, was selbst als Mittel gedacht war, die »Mobilisierung auf Dauer zu stellen«. Eine dieser längerfristigen Aufgaben war die Wissenschaftskritik. Dieser Funktion innerhalb der allgemeinen Mobilisierung, die selbst bloß jedesmalige Reaktivierung des »politischen Potentials« anhand moralischer Empörung war, konnte die bestimmte konkrete Wissenschaft im einzelnen relativ gleichgültig bleiben. Sie mußte zu einer spezifischen Einschränkimg der Wissenschaftskritik führen, wie dazu, daß diese Einschränkung nicht als solche problematisiert werden konnte. Immer waren diese bürgerliche Wissenschaft und ihr bürgerlicher Charakter an ihrer Verflechtung in den Verwertungszusammenhang des Kapitals derart aufzuzeigen, daß daraus wieder eine Mobilisierungskampagne abgeleitet werden konnte, vom Tenor »X forscht für den CIA«. Kann unterm Kapitalismus die offizielle, etablierte Wissenschaft nur bürgerliche sein, so war damit der Begriff »bürgerliche Wissenschaft« keineswegs inhaltlich gefüllt. Ansätze dazu blieben in grober Schematisierung stecken, wie der Unterscheidung in Herrschafts- und Produktionswissenschaften17, die nichts an Fragwürdigkeit verloren, sich im Gegenteil als unanalytisch auswiesen dadurch, daß man sie der bürgerlichen Einteilung in Natur- und Geisteswissenschaften paralleIisierte. Die »Herrschaftsfunktion« von Naturwissenschaften und Technologie geriet ebenso aus dem Blick wie die Geschichtlichkeit dieser Wissenschaftstrennung überhaupt, wie die Tatsache der Einbeziehung von Wissenschaften in den 16

»Zur Funktion der Kritik der bürgerlichen Sozialwissenschaften«. In: Basisgruppeninternes Papier. Heidelberg 1970. 17 J. Schmierer, »Zur Analyse der Studentenbewegung«. In: Rotes Forum, 1969, 5 , K. G. Roth, >J. Schmierers Marsch in die syndikalistische Sackgasse«. In: Apo-Press, 16.12.1969, 22/23.

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Produktionsprozeß, die traditionell dort keine Funktion hatten» Ohnehin waren diese Klassifizierungen eher eine Rationalisierung dafür, daß man sich mit bestimmten, nämlich »ideologischen« Wissenschaften nicht beschäftigte, ein Symptom des generellen Eskapismus der Studentenbewegung, die Bedingungen ihres Entstehens an der philosophischen Fakultät massiv zu verleugnen, statt sie zu reflektieren. Die Faszination, die die ökonomische Erklärung auf den mit ihr nicht

Vertrauten auslöste, ließ alles nicht unmittelbar und bloß Ökonomische zum unbedeutenden Epiphänomen geraten, ohne gleichzeitig aber den Stellenwert der eigenen politischen Arbeit als Studentenbewegung zu relativieren, auf deren revolutionären Anspruch man nicht verzichten zu können glaubte, und sei es, daß man ihn der Geschichte der Arbeiterbewegung entlieh. Die reduktionistische Handhabung der Erklärung wissenschaftlicher Arbeit aus Verwertungsnotwendigkeiten und -Schwierigkeiten des Kapitals machte die »Analyse« unspezifisch für die jeweils gemeinte Wissenschaft. Der bloße Verweis auf den Verwertungszusammenhang gerann zur Beschwörungsformel in der Mobilisierungsstrategie einer auf kurzfristige »Erfolge« (Aktionen) gerichteten Politik, die die Wissenschaftskritik gar nicht zum Ausgangspunkt genommen hatte, sondern sich ihrer nur bediente. Die kurzfristigen Erfolge konnten gleichzeitig darüber hinwegtäuschen, daß diese Politisierung als abstrakte den Individuen selber äußerlich bleiben mußte. Spätestens mit dem Examen (das die Strategen der abstrakten Politisierung nicht zufällig immer weiter hinausschoben) waren sie hilflos. Aber auch das Stagnieren der Mobilisierung, die Anpassung der ehedem so eingeschüchterten Ordinarien an die neuen Bedingungen, die Hilflosigkeit gegenüber der zunehmenden Reglementierung der Ausbildung durch den Staat ließen erkennen, daß die Bedingungen der Politik selbst zerstört worden waren. III Allerdings hatte die abstrakte Politik noch ein Bewußtsein von der Notwendigkeit der Negation alles Bürgerlichen, auch wenn diese Negation abstrakt geblieben war. Die pauschale Verwertungskritik war immer noch Kritik im radikalen Selbstverständnis von Politik, des Kampfes gegen das kapitalistische System in allen seinen Manifestationen18, an dessen Erfordernissen wiederum sich auch das eigene Tun auszuweisen hatte. In ihm auch hatten Am Beispiel Angela ~Davis< am 3-/4. Juni fort. . . . Die große Mehrheit der Teilnehmer verstand den Kongreß so auch als Beginn einer von den arbeitenden Gruppen und Basisorganisationen ausgehenden Erneuerung der sozialistischen Bewegung in der BRD.« 80 P. Brückner, »Kongreß gegen politische Unterdrückung«, Berlin 24.-26. 4 . 1 9 7 2 . In: Meroe-Arbeitspapier 5, Berlin 1972, S. 34.

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tisch arbeitenden Studentengruppen gegenüber sind sie, da sie nichts anderes mitbringen als die selbstgefällige Überzeugung, ihnen das richtige Marxverständnis vorauszuhaben, im besten Fall: Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, wie auch gegenüber der Staatsgewalt, wenn diese exemplarisch zum Schlag ausholt. Hilflos sind umgekehrt auch die Studenten diesen Leuten gegenüber. Der Entpolitisierung und Apathisierung zu entrinnen, stürzen sie sich entweder in antitheoretischen Aktivismus, der sie nur noch weiter den Theoretikern ausliefert, oder sie versuchen selbst, solche linken Theoretiker zu werden. Was entstehen sollte, entsteht nur sehr schwer: die Verbindung von Theorie und Praxis. Als in diesem Sinn Konstitutionsbedingungen linker »Politik« lassen die linken Seminare und Organisationen die Bedeutung subjektiven Bewußtseins und Verhaltens als Faktoren der gesellschaftlichen Emanzipation unmittelbar sinnlich erfahren. ' Zwar sind Bewußtsein und Verhalten nicht nur allgemein, sondern in ihrer konkreten Form bestimmt durch die gesellschaftlichen Bedingungen des Lebens dieser Individuen, ihrer Arbeit, weshalb sie wesentlich nur verändert werden können durch eine Veränderung dieser gesellschaftlichen Verhältnisse (und nicht ohne diese oder unabhängig von ihnen). Aber die gesellschaftlichen Verhältnisse konkretisieren sich in den unmittelbaren Bedingungen der täglichen Lebenspraxis, und die Veränderung dieser gesellschaftlichen Verhältnisse kann nicht anders zustande kommen als durch das (revolutionäre) Handeln der Individuen selbst in diesen Bedingungen. In ihnen zeigt sich, daß das Verhalten der Individuen, seiner Möglichkeit nach, nicht bloße unvermittelte Reaktion auf auslösende (Stimulus-) Bedingungen, das Bewußtsein nicht bloßer reflexhafter Ausdruck der gesellschaftlichen Realität ist. Das Individuum steht vielmehr in dialektischer Beziehung zu dieser: : Es ist in einem ihr Produkt wie ihr Produzent, deshalb nur kann es diese auch verändern. Setzt die Veränderung zu wissen voraus, wie die bestehenden Bedingungen zustande gekommen sind und perpetuiert werden auch durch das Handeln der betroffenen Individuen, also Informationen über die Konkretion gesellschaftlicher Verhältnisse, über die konkrete Verflochtenheit von Verhalten und Denken in diese. Dann ist aber auch die Frage, ob Psychologie hierbei von Nutzen sein kann, nicht mehr einfach mit dem Verweis auf den Verwertungszusammenhang, in dem sie steht, zu verneinen. Dieser könnte ihr j a äußerlich bleiben bzw. er könnte ihr in revolutionärer Absicht auch wieder abgestreift werden. Schließlich ist revolutionäres Handeln keines außerhalb dieses Kapitalverhältnisses, sondern eines auf dessen Boden und zwar mit dem Anspruch, seine Grundlagen zu zer17

stören. Mit den Mitteln, die dieses selbst hervorbringt. Ob und inwiefern die Psychologie ein solches Mittel und in welcher Verwendung sie es sein kann, läßt sich nicht ohne Analyse ihrer aufgrund ihrer Verflochtenheit in den Verwertungszusammenhang des Kapitals notwendigen Struktur als einer bürgerlichen beantworten. IV Psychologie befaßt sich mit dem (Verhalten des) Individuum(s) in der Weise, daß sie vom Individuum selbst abstrahiert, indem sie sein Verhalten als ihren Gegenstand isoliert setzt. Dies Vorgehen der bürgerlichen Psychologie ist gefordert durch die Notwendigkeit, aus der heraus sie in ihrer vorliegenden Form entwickelt wurde und die sie als Gleichgültigkeit gegenüber dem Individuum deshalb reflektiert: von allem abzusehen, was der Verwertung des Kapitals nicht unmittelbar oder mittelbar dient, also von allem Individuellen, was mehr ist als bloße Arbeitskraft, für die das Kapital sich auch interessiert als sich reproduzierende, als Konsument. Gleichzeitig ist Psychologie auch bürgerliche Psychologie in dem Sinn, daß sie Selbstbespiegelung des bürgerlichen Individuums ist. Jener isolierten, abstrakten Monade, die nur über den Austausch mit anderen in gesellschaftliche Beziehung tritt, in welchem sich ihre »persönliche Unabhängigkeit (als) auf sachlicher Abhängigkeit gegründet«21 erweist, beschränkt »durch v o n . . . (ihr) unabhängige und in sich selbst ruhende Verhältnisse«22. »Diese sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse im Gegensatz zu den persönlichen erscheinen auch s o . . . , daß die Individuen nun von Abstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen. Die Abstraktion oder Idee ist aber nichts als der theoretische Ausdruck jener materi llen Verhältnisse, die Herr über sie sind.«23 Diese doppelt begründete Abstraktion vom Individuum gilt es zunächst zu verfolgen nach ihrer Seite als in psychologischer Herstellung verdoppelter, sei es, daß Psychologie entweder die qualitativen Unterschiede von Arbeitskraft, das unterschiedliche Geschick, die unterschiedliche Ausbildung, Interesse, Loyalität... rationeller feststellt, oder - in fortgeschrittenerem Verständnis darüber hinaus auch bereits die Bedingungen einrichtet bzw. Vorschläge dazu macht, die die jeweils gewünschte Äußerung von Arbeitskraft provozieren. Von daher ist es gar nicht einmal mehr das Verhalten, sondern die Bedingungen von Verhalten sind der eigentliche Gegenstand der Psychologie. Der 21

K. Marx, Grundrisse, S. 75. 82 Ebd., S. 81. » Ebd., S. 81 f. "

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ihren Regeln entsprechend organisierte Arbeitsprozeß ist auch materielle Wirklichkeit gewordene Psychologie.24 Aber die Vergegenständlichung von Psychologie in Bedingungen von Verhalten ist keineswegs auf die Bedingungen industrieller Arbeit beschränkt. Vielmehr besteht psychologische Methode überhaupt darin, die für das gewünschte Verhalten spezifischen Bedingungen einzurichten. Nur dann ist sie effektiv, wenn ihr dies gelingt, und sei es dadurch, daß sie die jeweils vorliegende Konkretion gesellschaftlicher Bedingungen auf bloß situative, unmittelbare reduziert, durch solche substituiert. Für das Individuum bedeutet dies, daß es sich in einer Situation befindet, die von anderen, vom Untersucher des jeweiligen Experiments oder vom Verhaltenstechniker2?, der den Arbeitsplatz analog dem Experiment gestaltet, das Betriebsklima reguliert etc., derart einengend strukturiert worden ist, daß sein Verhalten in ihr, wie nach einem Plan vorherbestimmt ohne sein willentliches Zutun, nur noch ablaufen kann, gesteuert durch die Stimulusbedingungen der Situation; während ihm seinerseits eine Gestaltung vorenthalten ist.26 Mit der Verfügung über die Bedingungen von Verhalten hat man das Verhalten des Individuums selbst im Griff, verfügt man innerhalb der Grenzen dieser Situation - über das Individuum, und dies in um so größerem Maße, je weniger es ihr entgehen kann, je mehr es gezwungen ist, sich in diese Situation zu begeben. Diesen Zwang übt nicht die Psychologie aus. Es ist gesellschaftlicher Zwang, begründet in der Notwendigkeit des Verkaufs der Arbeitskraft, mit dem das Individuum dem Kommando des Kapitals unterstellt wird, damit den konkreten Arbeitsbedingungen, die der Kapitalist hat einrichten lassen. Auch ist die Einengimg von Verhaltensmöglichkeiten auf die von vorgegebenen Bedingungen allein erlaubten nicht erst das Werk der Psychologie, sondern als psychologische Technik nur die Reproduktion der gesellschaftlich üblichen, ausgeklügelter, raffinierter eben, weil den »human factors« geschmeidiger angepaßt.27 Diese Psychologie behandelt das Individuum nicht anders denn als jenes Objekt, welches es im Arbeitsprozeß ohnehin bereits ist, sie verfestigt in ihrer aktuellen Anwendung diesen gesellschaftlich gegebenen Objektstatus eher als daß sie ihn aufbricht, sie unterwirft das Individuum jenen Zwecken, die 24

K. Marx, Texte zu Methode und Praxis II: Pariser Manuskripte 1844, a.a.O., S. 82. So nennen sich die Skinner-Leute selbst, vgl. (Aerospace Education Foundation), Technology and Innovation in Education. New York 1968. 26 K.-J. Bruder, »Frustration - Kritik eines psychologischen Begriffs«. In: Psychologen-Info (Heidelberg), 1970, 3, S. 5 - 1 0 . 27 K.-J. Bruder, »Kognitive Kontrolle der Motivation?« In: Zeitschrift für Sozialpsychologie, 1 9 7 0 , 1 , S. 89-96. 85

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der gesetzt hat, in dessen Interesse die jeweilige psychologische Technik konstruiert und eingesetzt wird. Man würde also dem eigentlich intendierten Ziel politischer Praxis entgegenhandeln, würde man sich dieser Psychologie einfach bedienen.^ Abo* auch jede andere Psychologie, die entweder die Bedingungen (des Erwerbs) revolutionären Bewußtseins und Handelns zu setzen sich vornimmt oder die vorliegenden Bedingungen auf ihren, die Entstehung revolutionären Bewußtseins und Handelns fördernden bzw. einschränkenden Charakter hin untersuchen will, hat die Subjekt-Objekt-Beziehung noch nicht aufgehoben, in der der bürgerliche Wissenschaftler zu einem Gegenstand steht, solange ihre Fragestellungen selbst nicht hervorgegangen sind aus der Diskussion der revolutionären Gruppen und ihre Ergebnisse in diese nicht zurückgehölt werden; sie übernimmt als Psychologie mit der Arbeitsteilung die Struktur bürgerlicher Einzelwissenschaft. Im Bemühen, das Individuum mit ihrer Hilfe, d. h. durch psychologische Techniken, zum revolutionären Handeln zu befähigen, steckt die Gewißheit; selbst bereits zu besitzen - und sei es als sicheres Wissen was das Individuum sich allererst aneignen soll, ist »richtiges« revolutionäres Handeln immer schon definiert, dem zum Objekt der Psychologie gewordenen Subjekt vorgeschrieben. Gleichzeitig wird diese SubjektObjekt-Trennung in technischer Weise durchzusetzen versucht: revolutionäres Handeln, das auf Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse doch zielen sollte, wird nicht als in dieser Veränderimg entstehendes begriffen, durch die Subjekte der Veränderung selbst hervorgebrachtes,28 sondern als Folge bereits (durch andere) veränderter Bedingungen; und zwar nicht gesellschaftlich allgemeiner, sondern unmittelbarer, die als Konkretion der gesellschaftlichen Verhältnisse nur die der bestehenden sein können. Aber auch die bloße Untersuchung von revolutionärem Handeln, im Bezugsrahmen von Psychologie, muß von einem selbstgesetzten Verständnis des richtigen revolutionären Handelns ausgehen, solange sie sich selbst nicht In diese Praxis einbezieht, die jenes Verständnis als das der beteiligten Subjekte allererst hervorbrächte. Zwar wird Praxis nicht durch Technik ersetzt. Gleichwohl wird die Subjekt-Objekt-Trennung aufrechterhalten dadurch, daß man den Untersuchungsobjekten die Praxis überläßt, während man sich selbst in die theoretisierende Distanz absetzt, und von dort aus Anleitun28

Vgl. K. Marx, Deutsche Ideologie. MEW, Bd. 3, S. 70: die doppelte Bestimmung der Notwendigkeit der Revolution: „. . . daß also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden."

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geh zu jener Praxis mit den Ergebnissen dieser Untersuchungen zu geben gleichwohl beansprucht. Beide Positionen^ von denen aus eine neue Psychologie (in revolutionärer Absicht) gefordert (und betrieben) wird, nehmen damit die Notwendigkeit der Kritik als Konstitutionsbedingung revolutionären Bewußtseins und Handelns, der Einsicht in die Notwendigkeit einer »gründlichen Revolution«, in keiner Weise ernst, von Kritik als umwälzender Praxis und kollektivem Kampf, in der der bloße Theoretiker als isolierter überflüssig wird, in der mit der Vereinigung von Kopf und Hand das Subjekt-Objekt-Verhältnis aufgehoben wird. Das heißt allerdings gerade nicht, auf theoretisches (und empirisches) Wissen zu verzichten. Im Gegenteil setzt revolutionäres Handeln, als Antwort auf jene gesellschafdiche Wirklichkeit, die es ändern will, gerade Wissen über sie voraus. Wissen jedoch, das zwar nicht einfach aus dieser Praxis unmittelbar zu gewinnen ist, sondern aus ihr nur, wenn es deren Unmittelbarkeit sinnlicher Erfahrimg wie die ihrer sie herausfordernden Bedingungen übersteigt; aber als auf praktische Veränderung dieser Wirklichkeit zielend, muß Wissen Reflexion der Praxis sein, wie Praxis Praktischwerden der Reflexion, im Sinn jenes Satzes von Engels: »Für den schließlichen Sieg der im >Manifest< aufgestellten Sätze verließ sich Marx einzig und allein auf die intellektuelle Entwicklung der Arbeiterklasse, wie sie aus der vereinigten Aktion und der Diskussion nötwendig hervorgehen mußte.«29 Praxis als selbst nicht nur aktuelles, zeitlich und räumlich begrenztes Ereignis, sondern im geschichtlichen Kontext einer gesellschaftlichen Bewegung sich vollziehende, enthält selbst der Möglichkeit nach dieses Übersteigen ihrer (und ihrer Bedingungen) Unmittelbarkeit in der Überlieferung ihrer geschichtlichen Erfahrung von Auseinandersetzungen. Als ihrer Geschichte bewußte Praxis ist sie durch das in ihr aufbewahrte Wissen immer schon angeleitete. Diese Unmittelbarkeit muß überstiegen werden, zum einen weil die unmittelbaren Bedingungen Konkretionen der gesellschaftlichen Verhältnisse sind und nur als solche begriffen Ansatzpunkt ihrer Veränderung sein können; zum anderen weil das Kapital als dieses gesellschaftliche Verhältnis im Prozeß der Verwissenschaftlichung der Produktion wie der Regelung der gesellschaftlichen Verkehrsformen ein Wissen hervorgebracht hat, das kritischer Reflexion ein adäquates Erfassen dieser Wirklichkeit versperrte, wollte man auf es verzichten. In diesem Sinn wird auch die Beschäftigung mit bürgerlicher Psychologie als der der bürgerlichen Gesellschaft bzw. dem in 89

F. Engels, III. Vorwort zur deutschen Ausgabe des Manifest der Kommunistin sehen Partei. Bücherei des Marxismus-Leninismus. Berlin 1967, S. 16.

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dieser lebenden Individuum adäquate Psychologie tinumgänglich. Richtet sie doch die (unmittelbaren) Bedingungen ein bzw. effektMert die vorhandenen, unter denen die Individuen im Kapitalismus arbeiten und leben müssen, deren konkrete Gestalt aber durch die Bedingungen und Notwendigkeiten der Kapitalverwertung bestimmt ist. Sie wäre also als Wissen über das Herrschaftssystem zu verwenden - wie die These von Hannover lautete darüber, wie diese unmittelbaren Bedingungen beschaffen sind, was mit dem Individuum geschieht, aufgrund welcher Bedingungen seine eingeschränkten Reaktionsweisen zustande kommen, unter der allgemeinen Bedingung der Herrschaft des Kapitals. Allerdings in spezifischer Weise: Einerseits stellt die Psychologie zutreffend dar, wie das Verhalten tatsächlich ist: durch andere bestimmt, quasikausale Reaktion auf Bedingungen, die nicht die des Individuums, auch nicht von ihm gesetzte sind. Andererseits verfehlt die Psychologie das tatsächliche Wesen des Verhaltens, den gesellschaftlichen Charakter seiner Bestimmtheit, wenn die Untersuchungen von Verhalten unter Bedingungen des Experiments, als dem reinsten Ausdruck psychologischer Methode, und die Herstellung von Verhalten unter experimentanalogen Bedingungen, diese experimentellen Bedingungen als Bedingungen von Verhalten schlechthin erscheinen lassen. Das heißt, wenn Verhalten ausschließlich bedingt gedacht wird durch solche Bedingungen wie die des Experiments, die situative sind, wird von den diese situativen Bedingungen selbst wieder bestimmenden Bedingungen der gesellschaftlichen Verhältnisse abstrahiert. Abstrahiert von den gesellschafdichen Bedingungen reaktiven Verhaltens, die zugleich die Bedingungen der Möglichkeit und Notwendigkeit einer Psychologie sind, die solches Verhalten nur provoziert, wird der reaktive Charakter wiederum zu einer Eigenschaft von Verhalten an sich. Damit kann schließlich, was durch die gesellschaftlichen Verhältnisse erst hervorgerufen, zur Rechtfertigung dieser Verhältnisse dienen bzw. zur Rechtfertigung einer Behandlung von Verhalten (und damit des Individuums), die, indem sie einer Response die Stimulus-Bedingungen vorgibt, bloßes Reagieren perpetuiert, den Individuen jene Responsen abverlangt, womit sie die gesellschafdichen Verhältnisse reproduzieren. Diese Darstellungsweise der Psychologie liegt begründet in ihrem doppelt bestimmten Status, allgemeine Theorie über das (Verhalten des) Individuum (s) und Technologie (der Einrichtung der Verhaltensbedingungen) zugleich zu sein80; als 30

K.-J. Bruder, »Verhalten als Funktion der Bedingungen von Verhalten. - Zum Doppelcharakter der bürgerlichen Psychologie^ In: Wissenschaftstheorie und gesellschaftliche Praxis, edition 2000, Gießen 1972.

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Technologie muß sie präzise Feststellungen treffen, jedoch in einem reduzierten Ausschnitt; als allgemeine Theorie wird sie mit allgemeiner Gültigkeit ausgestattet, deren Grundlage außerhalb der Psychologie selbst liegt: in den allgemein herrschenden Vorstellungen und Ideen. Als allgemeine Vorstellungen dienen sie dem Individuum zur Verständigung (mit anderen, über sich, über seine Verhältnisse), als allgemein herrschende Vorstellungen, die die der Herrschenden sind31, machen sie Verständigung zu einer im Sinn der Herrschenden, und Handeln im Bezugsrahmen dieser Verständigung zur blinden Reproduktion der herrschenden Verhältnisse; worin die Notwendigkeit der (Ideologie-) Kritik dieser Vorstellungen gründet, mit dem Ziel, ihre (Vor-) Herrschaft zu brechen, als Kritik der undurchschauten Verflochtenheit von Verhalten und Bewußtsein in die Totalität der gesellschaftlichen Bedingungen, Kritik des verzerrten Verständnisses des Individuums von sich und seinen gesellschaftlichen Bedingungen. Dieses verzerrte Verständnis ist selbst nicht bloß Ausdruck der wirklichen Verhältnisse, sondern kann gleichzeitig (hilflose) Auflehnung gegen diese sein.32 Seine Inhalte sind demnach nicht nur als Stoff der Analyse der Ideolpgiekritik zu betrachten, sondern sie bilden gleichzeitig den »Motivationshorizont ihres emanzipatorischen Interesses«33. An ihnen muß Ideologiekritik im Sinn der bestimmten Negation ansetzen, wie im positiven Sinn der Aufhebung, der Anerkennung der Berechtigung des in ihnen verzerrt zum Ausdruck Kommenden. Psychologie ist aber nicht nur eingebunden in diese allgemeinen Vorstellungen, sondern sie ist selbst säkularisierende Kritik von undurchschauten Gründen (Bedingungen) von Verhalten, aber Kritik, die diese durchsichtig macht auf dem Hintergrund der Einrichtung von Verhaltensbedingungen und damit der Verfügung über das (Verhalten des) Individuum(s). Sie ist also jeder auf Emanzipation zielenden Kritik entgegengerichtet. Als (Selbst-) Kritik vom Individuum übernommen, nimmt es diese Anstrengung der Verfügung tendenziell in eigene Regie. Ideologiekritik, die damit rechnet, daß ihre kritische »Information über Gesetzeszusammenhänge (des sozialen Handelns) im Bewußtsein der Betroffenen selber einen Vorgang der Re81

MEW, Bd. 3, S. 46. 32 »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend.« »Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt.« »Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand , aufzugeben, der der Illusionen bedarf.« (K. Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosphie. Einleitung. MEW, Bd. l , S. 378 f.) 33 D. Böhler, Metakritik der Marxsdien Ideologiekritik. Frankfurt a. M. 1971,

S. 55.

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flexion auslöst«84, schließt auch Psychologiekritik ein, ate Kritik der ideologischen Darstellung von Verhalten als unvermitteltem und seiner Bedingungen als situativen, die den Zwang der gesellschaftlichen Verhältnisse vermitteln. Aber nicht nur der Darstellung, sondern auch ihrer Herstellung. Psychologiekritik stellt sich als Aufgabe überall dort, wo Psychologie praktisch wird. Nicht nur in der eng umschriebenen Praxis des Psychologen, sondern im weiten Feld der Arbeit mit Psychologie: als Technik der Ausschaltung von Politik. . Aber gerade dort wird die Forderung nach einer »neuen« Psychologie am lautesten erhoben oder die bloß kritische Inanspruchnahme der Psychoanalyse als einer »kritischen Theorie des Subjekts« praktiziert, wo sich am klarsten erkennen ließe, daß die neue »positive Wissenschaft«, die der alten entgegenzusetzen wäre, deren Kritik nur sein kann35; wie auch, daß die eiinzig adäquate Antwort auf den gesellschaftliehen Charakter dessen, was diese Psychologie ändern sollte, den Individualismus der Individuen, die Veränderimg seiner Reproduktionsbedingungen ist. Als Verhalten und Denken entsprechend bürgerlicher Normen ist er Produkt auch der Entpolitisierung und nur als solches tendenziell aufzubrechen, d.h. durch Initiierung der ausgeschalteten politischen Praxis. Für diese Initiierung gilt, daß sie sich in der Kritik der bestehenden Verhältnisse nur konstituiert, die auch diese Ausschaltung ermöglichten, daß sie den Kritiker selbst einschließt, seine politische Praxis, daß sie ihn einschließt als kollektive, die gleichzeitig die Dichotomie von lokaler Borniertheit und überregionaler Beliebigkeit überwindet, daß sie theoretische vor allem insoweit ist, als sie Kritik der Geschichte bisheriger Politik (und ihres Versagens) ist, jedoch keine bloß literarische, daß sie deren Gestalt vielmehr aufhebt in der Politisier rung bloß theoretischer Kritik. Hannover, im August 1972

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Klaus-Jürgen Bruder

J. Habermas, Technik und Wissenschaft als »Ideologie«. Frankfurt a. M. 1968, S. 158. MEW, Bd. 3, S. 27. K. Marx, Zur Kritik der Hegelsdien Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelsdien Staatsredits. MEW, Bd. 1 , S. 296.

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Friedhelm Streiffeier Die Marxsche Konzeption des Individuums und Probleme des Verhältnisses von Psychologie und Marxismus

I

Seit den zwanziger Jahren ist in der sowjetischen Psychologie und im Freudomarxismus der Versuch gemacht worden, Psychologie und Marxismus zueinander in Beziehung zu setzen. Man versuchte dabei, zwei voneinander unabhängige Elemente miteinander zu verbinden. Die Konzeptionen vom psychischen Apparat bei Bechterev, Pavlov, Kornilov, Vygodtskij u.a. einerseits und Freud andererseits wurden mit marxistischen Konzeptionen kombiniert. Unleugbar war in allen Fällen die Suche nach einer revolutionären Psychologie das Motiv für die Fusionsversuche, so verschieden die Suchbilder auch aussahen. In der Sowjetunion trachtete man einerseits danach, bürgerliche Konzeptionen der Psychologie zu überwinden (s. Petrovskij 1967), andererseits danach, eine Psychologie zu entwerfen, die dem neuen Menschen, dem Menschen im Sozialismus, gerecht wird. Der Freudomarxismus sah, daß die Verankerung der bürgerlichen Ideologie im Bewußtsein und dadurch ^ die Stabilität des Kapitalismus triebdynamisch vermittelt ist, und glaubte durch psychotherapeutische bzw. psychohygienische Befreiung von Triebunterdrückung, Erdrückung durchs Überich und von psychischen Zwängen, revolutionäre Energien freisetzen zu können. Wenn den verschiedenen Ansätzen der erhoffte Erfolg versagt blieb1, so ist das gewiß nicht nur oder direkt den theoretischen Konzeptionen anzulasten: Die weitere Entwicklung der Ansätze wurde zunehmend von der weiteren Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse in die Hand genommen. Was dabei bis zur Karikatur - Psychologie als Mittel zur Produktivitätssteigerung einerseits und analytische Sozialpsychologie andererseits - entwickelt worden ist, enthüllt nachträglich in der Deformation und im Auseinanderfallen die schwache Verbindung bereits der Ansätze. Ob - wie im Fall Reichs - der Marxismus schließlich abgelehnt wurde oder ob er zum formelhaften Zitat der 6. Feuer1 Jüngere Vertreter des Freudomarxismus versuchen, die Schuld für die Fehlschläge bei Reich und seinen Diskussionspartnern und -gegnern in einem dogmatisierten - sprich mechanistischen - Marxismus zu sehen. Obwohl hieran einiges richtig ist, reicht diese Diagnose dennoch nicht bis zum Grund des Fehlschlages, der äußerlichen Verbindung zweier Elemente.

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bachthese (deren allseitige Interpretierbarkeit die nur in Bänden zu fassende Vielzahl von Interpretationen dokumentiert) oder einiger methodologischer Anweisungen aus der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie< ritualisiert wurde - in beiden Fällen sind die Elemente auseinandergefallen. Ist so durch die Geschichte entwickelt worden, daß die äußere Kombination von Psychologie und Marxismus keine Einheit ergibt, ist man auf der Suche nach einer inneren Einheit tatsächlich auf die Suche nach der Rolle des Individuums bei Marx verwiesen2. Ziel dieses Rekurses auf die Marxschen Texte ist nicht eine Marx-Interpretation, bei der das Individuum einen bedeutenden Platz zugewiesen erhält, um damit »ökonomistischen« Marx-Interpretationen entgegenzutreten, sondern zunächst einmal die Kritik bürgerlicher Ansichten in der Kritik der Theorie des Individuums, also der Psychologie.3 Wie sich ferner die Psychologie durch den Ausgang von der Marxschen Theorie des Individuums positiv befruchten läßt, hat Luden Shve (1969) gezeigt, ohne daß er damit einer separaten »marxistischen Psychologie« das Wort reden wollte. Die »marxistischen Psychologen« werden sich vielmehr umgekehrt gefallen lassen müssen, daß man ihre Ansätze mit der Marxschen Konzeption des Individuums vergleicht. Die Thematisierung Marxscher Aussagen über das Individuum trifft auf eine seit geraumer Zeit andauernde Diskussion, in der gerade der Stellenwert des Individuums bei Marx eine zentrale Rolle spielt. In dieser Diskussion wurde herausgearbeitet - und zu diesem Ergebnis wird auch diese Arbeit führen daß - entgegen der Meinung »humanistischer« Marx-Interpreten - nicht nur in den früheren, sondern auch in den späteren" Marxschen Schriften das Individuum einen zentralen Platz einnimmt. Bei der Verfolgung der Entwicklung der Marxschen Konzeption des Individuums ergeben sich sowohl Kontinuitäten als auch Unterschiede. Aus Raumgründen muß hier darauf verzichtet werden, die Ursachen und Gründe für das Auftreten dieser Unterschiede zu untersuchen. Es wird deudich werden, daß Marx je nach der Perspektive des Werkes neue Aspekte der Individualität enthüllt. Es soll 8

Audi Versuche einer Erneuerung des Freudomarxismus, etwa wie der Lorenzers (1971)/ rekurrieren auf die Marxschen Aussagen über das Individuum. Der Bezug zur Psychologie unterscheidet die hier unternommene Zusammenstellung Marxscher Aussagen über das Individuum von anderen. So geht es hier im Gegensatz zur Geschichtsanthropologie Helmut Fleischers (1968) weniger um die individuellen Voraussetzungen der Geschichte als um die geschichtlichen Voraussetzungen des Individuums. Im Gegensatz zu der Arbeit von Lepenies und Nolte (1971) geht es hier audi nicht direkt um die anthropologischen Voraussetzungen emanzipatorischer Praxis - der Popper-Marxismus, zu dem die Autoren gelangen, veranlaßt, hinter diesem direkten Weg ein Fragezeichen anzubringen. 8

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nicht darauf verzichtet werden, den Kontext des jeweiligen Werkes zur Interpretation einzelner Aussagen heranzuziehen. Ich versuche, möglichst viele Zitate zur Skizzierung der Position heranzuziehen. Interpretationen und Skizzen des Kontextes der Aussagen werden auf das Notwendigste beschränkt; auf Auseinandersetzungen mit anderen Interpreten verzichte ich weitgehend. II i . Ich übergehe die frühesten Schriften, in denen Marx sich noch mit dem Hegeischen Standpunkt identifizierte, und beginne mit der Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, die Marx 1843 unternahm: Hegel geht vom Staat aus und macht den Menschen zum versubjektivierten Staat; die Demokratie geht vom Menschen aus und macht den Staat zum verobjektivierten Menschen. Wie die Religion nicht den Menschen, sondern wie der Mensch die Religion schafft, so schafft nicht die Verfassung das Volk, sondern das Volk die Verfassung.4 Marx läßt keinen Zweifel daran, daß es ihm letztlich nicht um eine Kritik Hegels, sondern um eine Kritik des bürgerlichen Staats geht, wenn er ausführt: So war ebensosehr umgekehrt das deutsche, vom wirklichen Menschen abstrahierende Gedankenbild des modernen Staats nur möglich, weil und insofern der moderne Staat selbst vom wirklichen Menschen abstrahiert oder den ganzen Menschen auf eine nur imaginäre Weise befriedigt.5 In der bürgerlichen Gesellschaft kommt es zu einer Entgegensetzung von Individuum und Staat; die Hegeische Versöhnung beider wird als nur scheinbar entlarvt. Das Individuum in seiner wirklichen Existenz wird dem Staat gegenüber als kritische Instanz geltend gemacht. Schon hier wird deutlich, daß Marx nicht vom Individuum spricht, ohne daß er das Spannungsverhältnis Individuum-konkrete Gesellschaft im Auge hätte, so daß Individualität sich als eine dialektische Kategorie erweist. Marx faßt diesen Gegensatz nur in seiner historischen - bürgerlichen - Konkretion; weder konstruiert er einen ewigen Gegensatz Individuum-Gesellschaft, was eine Verabsolutierung des bürgerlichen Zustandes wäre, noch 4

K. Marx & F. Engels, Werke. Berlin 1956 ff. (im folgenden abgekürzt: MEW), Bd. 1 , S. 231. Ebd., S. 384 f.

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spricht er von der endgültigen Aufhebung dieses Gegensatzes, was auch das Ende der Dialektik bedeuten wurde. 2. Die »Philosophisch-ökonomischen Manuskripte« (1844) sind ein Werk, in dem sich Hegeische, Feuerbachsche und nationalökonomische Elemente zu einer Tieferlegung der kommunistischen Kritik am Privateigentum vereinigen. Die bürgerliche Nationalökonomie wird kritisiert, weil sie das Privateigentum voraussetzt; die frühen kommunistischen Kritiker (Fourrier, Saint Simon, Proudhon), weil sie seifte letzte Entstehungszelle: das Produktionsverhältnis, nicht begriffen hätten. In der Phänomenologie des bestehenden Zustandes ist sich Marx mit den kommunistischen Theoretikern einig: Die Reichen werden immer reicher, während die Armen immer ärmer werden; obwohl immer mehr Reichtum produziert wird (die dafür verantwortliche industrielle Produktion war zu dieser Zeit gerade in voller Entfaltung begriffen), verelenden die Produzenten immer mehr. Dieser Zustand ist es, den Marx als »Entfremdung« bezeichnet. Die Entfremdimg geht letztlich darauf zurück, daß der Produzent sich in seinem Produkt vergegenständlicht, veräußert6: Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzen- ten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichimg.7 Nach Marx hat die Entfremdung drei Seiten: a) Entfremdung gegenüber dem Produkt der Arbeit, wie sie in diesem Zitat beschrieben wurde. b) Entfremdung gegenüber dem Akt der Produktion: Wie würde der Arbeiter dem Produkt seiner Tätigkeit fremd gegenübertreten können, wenn er im Akt der Produktion selbst sich nicht sich selbst entfremdete? Das Produkt ist ja nur das Resümee der Tätigkeit, der Produktion. Wenn also das Produkt der Arbeit die Entäußerung ist, so muß die Produktion selbst die tätige Entäußerung, die Entäußerung der Tätigkeit, die Tätigkeit der Entäußerung sein. 6

Dies klingt nach metaphysischen Wesensgesetzen. Seve möchte deshalb die Philosophisch-ökonomischen Manuskripte nicht als Beiträge des »reifen« Marxismus zur Theorie des Individuums anerkennen. Dem kann jedoch nicht ganz zugestimmt werden, wenn Markus' (1969) Interpretation und Interpolation zutrifft, wonach bereits hier Entfremdung, Arbeitsteilung und Privateigentum interdependent sind. 7

M.E.W., Erg. Bd., S. 5x1 f.

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In der Entfremdung des Gegenstandes der Arbeit resümiert sich nur die Entfremdung, die Entäußerung in der Arbeit selbst.8 Die Arbeit unter der Herrschaft des Privateigentums ist dem Arbeiter äußerlich, gehört nicht zu seinem Wesen, ist Zwangsarbeit und keine »Selbsttätigkeit«9. c) Nach der dritten Bestimmung entfremdet die entfremdete Arbeit dem Menschen das Gattungsleben. Dieses dritte Moment hat zunächst eine menschliche Seite: Indem der Mensch dem Menschen entfremdet ist, sieht er in ihm nur noch den anderen, fremden Menschen. Es hat aber auch eine gegenständliche Seite, denn er ist damit gleichzeitig auch der kollektiv bearbeiteten Natur entfremdet. In dieser wurde nämlich der tierische Gegenstandsbezug, also der Kurzschluß Bedürfnis-Gegenstand des Bedürfnisses aufgebrochen und durch einen das unmittelbare Bedürfnis transzendierenden zunehmend universelleren Gegenstandsbezug, der gegenüber verschiedenen Individuen und Situationen invariant - also allgemeingültig - ist, ersetzt. Diese Invarianz stellt sich in Arbeit und Kommunikation her und ist nichts anderes als der Erwerb des Bewußtseins; der Prozeß des Invariantwerdens gegenüber konkreten Bedürfnissituationen und die daran ausgerichtete, d. h. auf Dauer und Überindividualität abgestellte Naturbearbeitimg sind nichts anderes als der Prozeß des Übergangs von Natur in Kultur. Die Entfremdung von der Gattung ist es auch, die es verhindert, daß die Menschen in der bearbeiteten Natur sich selbst als Subjekt der Bearbeitung wiedererkennen. Nun stellt Marx die Frage: Wenn das Produkt der Arbeit mir fremd ist, mir als fremde Macht gegenübertritt, wem gehört es dann? Wenn meine eigne Tätigkeit nicht mir gehört, eine fremde, eine erzwungene Tätigkeit ist, wem gehört sie dann? Einem andern Wesen als mir. Wer ist dieses Wesen?10 Die Antwort lautet: »Der Kapitalist... oder wie man sonst den Arbeitsherrri nennen will.«11 Die Entfremdung hat bereits zu Bestrebungen ihrer Aufhebung geführt. Marx kritisiert allerdings die entsprechenden Ansätze Fourriers, Saint Simons, Proudhons, Weitlings, Owens u. a. als noch zu oberflächlich. Sein eigenes Programm des Kommunismus verklammert die Befreiung vom Privateigentum mit der Befreiung des Menschen: 8

Ebd., S. 514. Ebd. » Ebd. S. 518. 11 Ebd., S. 520.

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Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus-Humanismus, als vollendeter4 Humanismus-Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.12 Der Umsturz als Aufhebung der Entfremdung hat wahrnehmungspsychologische Konsequenzen: erst wenn mit dem Privateigentum die Entfremdung aufgehoben ist, kann das Individuum in seinen Produkten seine eigenen Wesenskräfte wiedererkennen: Indem daher überall einerseits dem Menschen in der Gesellschaft die gegenständliche Wirklichkeit als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte, als menschliche Wirklichkeit und darum als Wirklichkeit seiner eignen Wesenskräfte wird, werden ihm alle Gegenstände als die Vergegenständlichung seiner selbst, als die seine Individualität bestätigenden und verwirklichenden Gegenstände, als seine Gegenstände, d. h. Gegenstand wird er selbst.19 Im Zustand der Entfremdung ist der Bezug der Gegenstände auf den Menschen nur an den eindeutigsten Gebrauchsdingen zuerkennen:14 Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, daß ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben, also als Kapital für uns existiert oder von uns unmittelbar besessen, gegessen, getrunken, an unsrem Leib getragen, von uns bewohnt etc., kurz, gebraucht wird.15 Für Marx entspricht daher dem Unterschied vom Zustand der Entfremdung und Kommunismus ein Unterschied in der Er18

Ebd., S. 536. Ebd., S. 541. Dafür ist aber in der Marxschen Darstellung die bürgerliche Wahrnehmungspsychologie wiederzuerkennen: ihr Naturalismus reflektiert präzise, daß unter der Herrschan des Kapitals in der Wahrnehmung die »menschlichen Wesenskräfte« nicht wiederzuerkennen sind. 16 MEW, Erg. Bd. S. 540. 13

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scheinungsweise der Dinge und subjektiv der Sinne, welche die Erscheinungen vermitteln: Die Aufhebung des Privateigentums ist daher die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften; aber sie ist diese Emanzipation gerade dadurch, daß diese Sinne und Eigenschaften menschlich, sowohl subjektiv als objektiv, geworden sind. Das Auge ist zum menschlichen Auge geworden, wie sein Gegenstand zu einem gesellschaftlichen, menschlichen, vom Menschen für den Menschen herrührenden Gegenstand geworden ist. Die Sinne sind daher unmittelbar in ihrer Praxis Theoretiker geworden. Sie verhalten sich zu der Sache um der Sache willen, aber die Sache selbst ist ein gegenständliches menschliches Verhalten zu sich selbst und zum Menschen (...) und umgekehrt. Das Bedürfnis oder der Genuß haben darum ihre egoistische Natur und die Natur ihre bloße Nützlichkeit verloren, indem der Nutzen zum menschlichen Nutzen geworden ist.16 Ist es einmal möglich, auf der gegenständlichen Seite die menschlichen Wesenskräfte wiederzuerkennen, so ist es auch retrospektiv möglich, die bisher produzierten Gegenstände als Verwirklichung menschlicher Wesenskräfte zu erkennen: Man sieht, wie die Geschichte der Industrie und das gewordne gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie ist, die bisher nicht in ihrem Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen, sondern immer nur in einer äußern Nützlichkeitsbeziehimg gefaßt wurde... In der gewöhnlichen, materiellen Industrie . . . haben wir unter der Form sinnlicher, fremder, nützlicher Gegenstände, unter der Form der Entfremdung, die vergegenständlichten Wesenskräfte des Menschen vor uns. Eine Psychologie, für welche dies Buch, also grade der sinnlich gegenwärtigste, zugänglichste Teil der Geschichte zugeschlagen ist, kann nicht zur wirklichen inhaltvollen und reellen Wissenschaft werden. Was soll man überhaupt von einer Wissenschaft denken, die von diesem großen Teil der menschlichen Arbeit vornehm abstrahiert und nicht in sich selbst ihre Unvollständigkeit fühlt, solange ein so ausgebreiteter Reichtum des menschlichen Wirkens ihr nichts sagt, als etwa, was man in einem Wort sagen kann: »Bedürfnis«, »gemeines Bedürfnis«?17 » Ebd., S. 540. « Ebd., S. 542 f.

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Im dritten Manuskript zeigt sich, wie eng die Aussagen über das Individuum mit Aussagen über Triebe und Bedürfnisse in Zusammenhang stehen: Die Aussage, daß der Mensch sich in Gegenständen verwirklicht bzw. entwirklicht, verbietet es Marx, ihn losgelöst von seinem Weltbezug zu sehen: Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen. Als Naturwesen und als lebendiges Naturwesen ist er teils mit natürlichen Kräften, mit Lebenskräften ausgerüstet, ein tätiges Naturwesen; diese Kräfte existieren in ihm als Anlagen und Fähigkeiten, als Triebe; teils ist er als natürliches, leibliches, sinnliches, gegenständliches Wesen ein leidendesf bedingtes und beschränktes Wesen, wie es auch das Tier und die Pflanze ist, d. h. die Gegenstände seiner Triebe existieren außer ihm, als von ihm unabhängige Gegenstände; aber diese Gegenstände sind Gegenstände seines Bedürfnisses, zur Betätigimg und Bestätigung seiner Wesenskräfte unentbehrliche, wesentliche Gegenstände.18 Die ökonomische Entfremdung des Produzenten spielt sich auch auf dem Gebiet der Bedürfnisse ab : Teils zeigt sich diese Entfremdung, indem die Raffinierung der Bedürfnisse und ihrer Mittel auf der einen Seite die viehische Verwildrung, vollständige, rohe, abstrakte Einfachheit des Bedürfnisses auf der andren Seite produziert.19 3. Ist die Deutsche Ideologie (1845/46) einerseits eine Übertragimg der Kritik, die Feuerbach an der Religion geübt hat, auf verselbständigte Ideologeme und Philosopheme, wie die Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie eine Übertragung der Feuerbachschen Kritik auf die politisch-rechtliche Sphäre gewesen war, so ist sie andererseits auch mehr: Marx begnügt sich nicht mehr mit der Umkehrung der theoretischen Verkehrungen, mit dem theoretischen Umsturz der Verhältnisse, sondern betont, daß die verselbständigten Verkehrungen nur durch einen praktischen Umsturz beseitigt werden können und daß das Proletariat als Vollzieher dieses Umsturzes schon bereitsteht und ständig neu erzeugt wird. Zudem wird Feuerbachs Kritik noch weitergetrieben, insofern diesem und seinen Epigonen vorgeworfen wird, selbst noch den verkehrten Anschauungen verhaftet zu sein (Bruno Bauer und Max Stirner werden als Konzils- und Kirchenväter, Heilige, Theologen etc. tituliert): Die wirkliche Basis, von der sich verselbständigte Entfremdungsgestalten ablösen, ist nicht »der« Mensch, sondern die Individuen in ihrer historisch bestimmten materiellen » Ebd., S. 578. 19 Ebd., S. 548.

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Produktion und dem Verkehr, in den sie dabei treten. Der Ausdruck »der Mensch« ist vielmehr eine Abstraktion, bei der von der historischen Veränderlichkeit abgesehen wird und die sich bei näherem Zusehen als Verewigung des gegenwärtigen Zustandes entpuppt: Sie20 verwandeln ganz konsequent die Verhältnisse dieser bestimmten Individuen in Verhältnisse »des Menschen«, sie erklären sich die Gedanken dieser bestimmten Individuen über ihre eignen Verhältnisse dahin, daß sie Gedanken über »den Menschen« seien. Sie sind damit vom wirklichen geschichtlichen Boden auf den Boden der Ideologie zurückgekommen und können nun, da sie den wirklichen Zusammenhang rticht kennen, mit Hülfe der »absoluten« oder einer andern ideologischen Methode leicht einen phantastischen Zusammenhang konstruieren.21 Wenn Sankt Max auf das physische und soziale »Leben« des Individuums keine Rücksicht nimmt, überhaupt nicht vom »Leben« spricht, abstrahiert er ganz konsequent von den historischen Epochen, von der Nationalität, Klasse etc., oder, was dasselbe ist, er bläht das herrschende Bewußtsein der ihm am nächsten stehenden Klasse seiner unmittelbaren Umgebung zum Normalen Bewußtsein »Eines Menschenlebens« auf.22 Die verselbständigten ideologischen Ausgestaltungen finden ihre reale Grundlage in den Lebensbedingungen der Individuen, die sich diesen gegenüber verselbständigt haben. Diese Verselbständigung geht auf den langen historischen Prozeß der Teilung (und anschließenden Kombination) der Arbeit zurück, der über die Teilung in Stadt und Land über viele Zwischenstufen (darunter die für die Ideologiebildung entscheidende in Hand- und Kopfarbeit) bis zur Arbeitsteilung in der Industrie verläuft. Die Arbeitsteilung ist ein Erfordernis der Entwicklung der Produktivkräfte, die ihrerseits ein Erfordernis der Bevölkerungsentwicklung ist: Wie weit die Pröduktionskräfte eine Nation entwickelt sind, zeigt am augenscheinlichsten der Grad, bis zu dem die Teilung der Arbeit entwickelt ist. Jede neue Produktivkraft, sofern sie nicht eine bloß quantitative Ausdehnung der bisher schon bekannten Produktivkräfte ist (z. B. Urbarmachung von Ländereien), hat eine neue Ausbildung der Teilung der Arbeit zur Folge.23 20

Gemeint sind die »Wahren Sozialisten«. MEW, Bd. 3, S. 442. « Ebd., S. 1 1 2 (s. a. S. 167). 28 Ebd., S. 21 f. 21

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Dieser naturwüchsig verlaufende Prozeß der Entwicklung der Produktivkräfte und zugleich der Arbeitsteilung gipfelt in bürgerlichen Verhältnissen, die hauptsächlich dadurch gekennzeichnet sind, daß es zu einer Trennung von Privateigentum (speziell Handels- und Industriekapital) und Arbeit und damit von Bourgeoisie und Proletariat gekommen ist: Erstens erscheinen die Produktivkräfte als ganz unabhängig und losgerissen von den Individuen, als eine eigne Welt neben den Individuen, was darin seinen Grund hat, daß die Individuen, deren Kräfte sie sind, zersplittert und im Gegensatz gegeneinander existieren, während diese Kräfte andererseits nur im Verkehr und Zusammenhang dieser Individuen wirkliche Kräfte sind. Also auf der einen Seite eine Totalität von Produktivkräften, die gleichsam eine sachliche Gestalt angenommen haben und für die Individuen selbst nicht mehr die Kräfte der Individuen, sondern des Privateigentums (sind), und daher der Individuen nur, insofern sie Privateigentümer sind... Auf der andern Seite steht diesen Produktivkräften die Majorität der Individuen gegenüber, von denen diese Kräfte losgerissen sind und die daher alles wirklichen Lebensinhalts beraubt, abstrakte Individuen geworden sind, die aber dadurch erst in den Stand gesetzt werden, als Individuen miteinander in Verbindung zutreten.24 Wie sich in dem letzten Satz andeutet, werden bei dem Prozeß der Proletarisierung die Individuen als Individuen freigesetzt: In den vorhergehenden Stufen bis zur vorbürgerlichen waren die Individuen mit den sozialen Formationen, die einerseits ihren Lebensunterhalt garantierten, sie andererseits beschränkten25, verschmolzen, die Lebensbedingungen gehörten zu ihrer Individualität: Die Bedingungen, unter denen die Individuen, solange der Widerspruch noch nicht eingetreten ist, miteinander verkehren, sind zu ihrer Individualität gehörige Bedingungen, nichts Äußerliches für sie, Bedingungen, unter denen diese bestimmten, unter bestimmten Verhältnissen existierenden Individuen allein ihr materielles Leben und was damit zusammenhängt produzieren können, sind also die Bedingungen ihrer Selbstbetätigung und werden von dieser Selbstbetätigung produziert26. In den bürgerlichen Verhältnissen tritt ein Novum auf: Das proletarische Individuum löst sich von seiner Klasse (als Be24

Ebd., Marx Ebd., S. *« Ebd., 25

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S. 66 f. und Engels sprechen in diesem Zusammenhang von Klassenindividuen: 76. S. 7 1 f.

standteil des überkommenen Gesellschaftssystems), da ihm die Existenzmöglichkeit nicht mehr garantiert ist. Es hört auf, ein Klassenindividuum zu sein, und ist zunächst auf seine persönliche Individualität zurückgeworfen. Daß das klassenmäßige Gesellschaftssystem überhaupt in Frage gestellt wurde, ist bisher noch in keiner Gesellschaftsformation der Fall gewesen: Aber im Lauf der historischen Entwicklung und gerade durch die innerhalb der Teilung der Arbeit unvermeidliche Verselbständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse tritt ein Unterschied heraus zwischen dem Leben jedes Individuums, soweit es persönlich ist und insofern es unter irgendeinen Zweig der Arbeit und die dazugehörigen Bedingungen subsumiert i s t . . . Im Stand (mehr noch im Stamm) ist dies noch verdeckt, z. B. ein Adliger bleibt stets ein Adliger, ein Roturier stets ein Roturier, abgesehn von seinen sonstigen Verhältnissen, eine von seiner Individualität unzertrennliche Qualität. «Der Unterschied des persönlichen Individuums gegen das Klassenindividuum, die Zufälligkeit der Lebensbedingungen für das Individuum tritt erst mit dem Auftreten der Klasse ein, die selbst ein Produkt der Bourgeoisie ist.27 Das proletarische Heraustreten aus dem Klassenwesen schlechthin verdeutlicht sich im Kontrast zur Bourgeoisie, die in ihren »revolutionären« Zeiten »nicht aus dem Ständewesen heraus (trat), sondern nur einen neuen Stand (bildete)«28. Indem das proletarische Individuum aufhört, ein Klassenindividuum zu sein, und nur noch ein persönliches Individuum ist, hört das alte Gesellschaftssystem gleichzeitig auf, eine Notwendigkeit zu sein, und wird zu etwas Zufälligem: Bei den Proletariern dagegen ist ihre eigne Lebensbedingung, die Arbeit, und damit sämtliche Existenzbedingungen der heutigen Gesellschaft, für sie zu etwas Zufälligem geworden, worüber die einzelnen Proletarier keine Kontrolle haben und worüber ihnen keine gesellschaftliche Organisation eine Kontrolle geben kann, und der Widerspruch zwischen der Persönlichkeit des einzelnen Proletariers und seiner ihm aufgedrängten Lebensbedingung, der Arbeit, tritt für ihn selbst hervor, namentlich da er schon von lugend auf geopfert wird und da ihm die Chance fehlt, innerhalb seiner Klasse zu den Bedingungen zu kommen, die ihn in die andre stellen.29 87 88

MEW, Bd. 3, S. 75 f. Ebd., S. 76. Ebd., S. 77.

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Hieraus entsteht eine revolutionäre Perspektive: : . . . müssen die Proletarier, um persönlich zur Geltung zu kommen, ihre eigne bisherige Existenzbedingung, die zugleich die der ganzen bisherigen Gesellschaft ist, die Arbeit, aufheben. Sie befinden sich daher auch im direkten Gegensatz zu der Form, in der die Individuen der Gesellschaft sich bisher einen Gesamtausdruck gaben, zum Staat, und müssen den Staat stürzen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen.30 Die persönliche Existenz, die von der Klassenexistenz freigesetzt wurde, bildet auch die Basis der revolutionären Vergemeinschaftung, die zum Sturz der alten Ordnung erforderlich ist. Hier handelt es sich bereits um eine freie, erstmals nicht entfremdete Form der Gesellschaft: Bei der Gemeinschaft der revolutionären Proletarier dagegen, die ihre und aller Gesellschaftsmitglieder Existenzbedingungen unter* ihre Kontrolle nehmen, ist es gerade umgekehrt; an ihr nehmen die Individuen als Individuen Anteil. Es ist eben die Vereinigung der Individuen (innerhalb der Voraussetzimg der jetzt entwickelten Produktivkräfte natürlich), die die Bedingungen der freien Entwicklung und Bewegung der Individuen unter ihre Kontrolle gibt, Bedingungen, die bisher dem Zufall31 überlassen waren und sich gegen die einzelnen Individuen, durch ihre notwendige Vereinigung, die mit der Teilung der Arbeit gegeben, und durch ihre Trennung zu einem ihnen fremden Bande geworden war, verselbständigt hatten.32 Indem die Proletarier aus dem überkommenen Klassensystem heraustreten, befreien sie sich zugleich von den klassenbedingten Perspektiveverkürzungen, wie sie für die Klassenindividuen kennzeichnend sind. Indem sie als persönliche Individuen freigesetzt werden und sich als solche revolutionär vereinigen, heben sie erstmalig in der Geschichte die Subsumtion der Individuen unter die Arbeitsteilung und sachlichen Mächte33 auf und subsumieren vielmehr diese unter sich. Marx und Engels weisen auf den Unterschied der Aneignung zwischen den von Klassenschranken befreiten Proletariern und anderen revolutionären Klassen der Vergangenheit hin: 80

Ebd., S. 77. Dies gilt buchstäblich für die bürgerliche Entwicklungspsychologie, die die Ursachen der Entwicklung als kontingent und zufällig behandelt. Sie konstituiert sich dadurch als von der Pädagogischen Psychologie, welche die Entwicklungsbedingungen bewußt gestaltet, unterschiedene Disziplin. Allerdings vermindert sich dieser Unterschied im Zuge sozialtechnologischer Bestrebungen, die aber primär nicht im Dienst der Individuen, sondern im Dienst der Produktionsverhältnisse stehen (F. St.). 32 MEW, Bd. 3, S. 74 f. 83 Ebd., S. 75 f.'

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Nur die von aller Selbstbetätigung vollständig ausgeschlossenen Proletarier der Gegenwart sind imstande, ihre vollständige, nicht mehr bornierte Selbstbetätigung, die in der Aneignung einer Totalität von Produktivkräften und der damit gesetzten Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten besteht, durchzusetzen. Alle früheren revolutionären Aneignungen waren borniert; Individuen, deren Selbsfbetätigung durch ein beschränktes Produktionsinstrument und einen beschränkten Verkehr borniert waren, eigneten sich dies beschränkte Produktionsinstrument an und brachten es daher nur zu einer neuen Beschränktheit.34 Ihr Produktionsinstrument wurde ihr Eigentum, aber sie selbst blieben unter die Teilung der Arbeit und unter ihr eignes Produktionsinstrument subsumiert; bei der Aneignung der Proletarier müssen eine Masse von Produktionsinstrumen- ten unter jedes Individuum und das Eigentum unter alle subsumiert werden.35 Die Aneignimg der Produktivkräfte ist auf der subjektiven Seite nichts anderes als die Entwicklung von Fähigkeiten: Die Aneignung dieser Kräfte ist selbst weiter nichts als die Entwicklung der den materiellen Produktionsinstrumenten entsprechenden individuellen Fähigkeiten. Die Aneignung einer Totalität von Produktionsinstrumenten ist schon deshalb die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst.36 Marx und Engels bringen hierin zum Ausdruck, daß die revolutionäre Aneignung der Produktivkräfte die vorhandene Arbeitsteilung, bei der eine ausgebildete Spezialfähigkeit neben vielen verkümmerten besteht, nicht unangetastet lassen darf; es soll zur Entwicklung einer »Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst kommen«. Das für Fähigkeiten Gesagte gilt auch für Eigenschaften, deren Entwicklung unter den Bedingungen der vorhandenen Arbeitsteilung so beschrieben wird: Wenn die Umstände, unter denen dies Individuum lebt, ihm nur die einseitige Entwicklung einer Eigenschaft auf Kosten aller andern erlauben, wenn sie ihm Material und Zeit zur Entwicklung nur dieser Einen Eigenschaft geben, so bringt dies Individuum es nur zu einer einseitigen, verkrüppelten Entwicklung.37 84 Von dieser sind nicht nur bürgerliche und vorbürgerliche Individuen, sondern auch die Theoretiker der hier beschriebenen Lern- und Leistungsmotivation kennzeichnet (F. St.). MEW, Bd. 3, S. 68. * Ebd., S. 67 f. Ebd., S. 245 f.

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Es ist zu beachten, daß Marx und Engels sich primär negativ und polemisch gegenüber den bestehenden Zuständen der vorhandenen Arbeitsteilung, welche die individuelle Entwicklung vereinseitigen, äußern; eine Arbeitsteilung, die auf vernünftiger Vereinbarung beruht, wird nicht ausgeschlossen. Die »allseitige Entwicklung der Individuen« hat folgenden systematischen Aspekt: Wenn das Klassenwesen letztlich auf der naturwüchsig gewordenen Arbeitsteilung beruht, so impliziert die Abschaffung der Klassengesellschaft die Abschaffung der überkommenen Arbeitsteilung, und dies ist auf der subjektiven Seite nichts anderes als die allseitige Entwicklung der Fähigkeiten; an die Stelle der Subsumtion der Individuen unter die Arbeitsteilung soll die Verteilung der Arbeit, unter die freien Individual treten. Die »allseitige Entwicklung« ist kein humanistisches Postulat, sondern Bedingung der Weiterentwicklung des Verkehrs und der Produktivkräfte zum Wohl aller. Unter der Herrschaft der Bourgeoisie ist folgender Zustandeingetreten: Diese Produktivkräfte erhalten unter dem Privateigentum nur eine einseitige Entwicklung, werden für die Mehrzahl zu Destruktivkräften, und eine Menge solcher Kräfte können im Privateigentum gar nicht zur Anwendung kommen38. Diese Einseitigkeit steht im Widerspruch zur Universalität, die als Kooperation und Tausch von der modernen Produktion erfordert wird. Allseitige Entwicklung39 ist also eine Bedingung für die Weiterentwicklung der Produktion und statt eines humanistischen Postulats eine geschichtliche Notwendigkeit: \ Wir haben ebenfalls gezeigt, daß die Aufhebung der Teilung der Arbeit bedingt ist durch die Entwicklung des Verkehrs und der Produktivkräfte zu einer solchen Universalität, daß das Privateigentum und die Teilung der Arbeit für sie zu einer Fessel wird. Wir haben ferner gezeigt, daß das Privateigentum nur aufgehoben werden kann unter der Bedingung einer allseitigen Entwicklung der Individuen, weil eben der vorgefundene Verkehr und die vorgefundenen Produktivkräfte allseitig sind und nur von allseitig sich entwickelnden Individuen angeeignet, d. h. zur freien Betätigung ihres Lebens gemacht werden können. Wir haben gezeigt, daß die gegenwärtigen Individuen das Privateigentum aufheben müssen, weil die Produktivkräfte und die Verkehrsformen sich so weit entwickelt haben, daß sie unter 88

Ebd., S. 60. Der allseitigen Entwicklung nach der proletarischen Revolution steht die »allseitige Abhängigkeit, diese naturwüchsige Form des weltgeschichtlichen Zusammenwirkens der Individuen« (ebd., S. 37) vor ihr gegenüber. 89

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der Herrschaft des Privateigentums zu Destruktivkräften geworden sind, und weil der Gegensatz der Klassen auf seine höchste Spitze getrieben ist. Schließlich haben wir gezeigt, daß die Aufhebung des Privateigentums und der Tei-_ lung der Arbeit selbst die Vereinigung der Individuen auf der durch die jetzigen Produktivkräfte und den Weltverkehr gegebenen Basis ist40. Schließlich stehen die Fähigkeiten in einem intergenerationellen Zusammenhang, in einer historischen Kontinuität: lede Generation hat sich die überkommenen Gegenstände und Produktivkräfte neu anzueignen: Da diese Bedingungen auf jeder Stufe der gleichzeitigen Entwicklung der Produktivkräfte entsprechen, so ist ihre Geschichte zugleich die Geschichte der sich entwickelnden und von jeder neuen Generation übernommenen Produktivkräfte und damit die Geschichte der Entwicklung der Kräfte der Individuen selbst41. Der Zusammenhang der Generationen ist dinglich vermittelt; Fähigkeiten werden nicht - wie in der bürgerlichen Psychologie - unbefragt vorausgesetzt; sie haben nur als historisch verstandene ihren Stellenwert. Es läßt sich zusammenfassen, daß auch in der »Deutschen Ideologie« das Individuum nur aus seiner Gesellschaftsbezogenheit verstehbar ist. Die Gesellschaft ist im alten, unrevolutionierten Zustand dem Individuum gegenüber verselbständigt, nur ein »Surrogat der Gemeinschaft«42; durch die Aufhebung der überkommenen Arbeits- und Klassenteilung wird sie »Assoziation«43 der Individuen, »wirkliche Gemeinschaft«44, »menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit« (10. Feuerbachthese). Gehen die Aussagen von Marx und Engels zum Individuum im Text der Deutschen Ideologie schon nicht weit über Andeutungen hinaus, so ist die 6. Feuerbachthese für sich allein wohl kaum zu interpretieren. Sie lautet: Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: 1. von dem ge40

MEW, Bd. 3, S. 424. « Ebd., S. 72. « Ebd., S. 74. 48 Ebd., S. 74. 44 Ebd., S. 74.

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schichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für skh zu fixieren, und ein abstrakt-isolzerf-mensch; liches Individuum vorauszusetzen. 2. Das Wesen kann daher nur als »Gattung«, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefaßt werden45. Daß die Interpreten keine Einigung erzielen konnten, solange sie den Kontext nicht miteinbezogen, versteht sich von selbst. Es empfiehlt sich daher eine Interpretation der 6. Feuerbachthese im Kontext der Deutschen Ideologie. Hierzu wäre folgende Passäge herbeizuziehen: da er [Feuerbach] sich auch hierbei in der Theorie hält, die Menschen nicht in ihrem gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhange, nicht unter ihren vorliegenden Lebensbedingungen, die sie zu Dem gemacht haben, was sie sind, auffaßt, so kommt er nie zu den wirklich existierenden, tätigen Menschen, sondern bleibt bei dem Abstraktum »der Mensch« stehen... Er kommt allso nie dazu, die sinnliche Welt als die gesamte lebendige sinnliche Tätigkeit der sie ausmachenden Individuen aufzufassen, und ist daher gezwungen, wenn er z. B. statt gesunder Menschen einen Haufen skrofulöser, überarbeiteter und schwindsüchtiger Hungerleider sieht, da zu der »höheren Anschauung« und zur ideellen »Ausgleichung in der Gattung« seine Zuflucht zu nehmen, also gerade da in den Idealismus zurückzufallen, wo der kommunistische Materialist die Notwendigkeit und zugleich die Bedingung einer Umgestaltung sowohl der Industrie wie der gesellschaftlichen Gliederung sieht. Soweit Feuerbach Materialist ist, kommt die Geschichte bei ihm nicht vor, und soweit er die Geschichte in Betracht zieht, ist er kein Materialist46. Es geht klar aus dem Gesagten hervor, daß Marx sich dagegen wendet, an die Stelle des religiösen Wesens das genus »Mensch« zu setzen. Die Gattung »Mensch« ist nicht wie irgendeine Tiergattung aufgebaut, die aus gleichartigen Exemplaren bestünde, welche untereinander in einem natürlichen (generativen) Zusammenhang stehen. Die Individuen sind einander äußerst ungleich, weil sie durch die Produktionsordnung (das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse: Produktivkräfte, Kapitalien und soziale Verkehrsformen)47 so organisiert sind48. Diese Organisation ist geschichtlich geworden 45

Ebd., S. 6. « Ebd., S. 44 f. Ebd., S. 38. • 48 Die sozialisationstheoretisdien Konsequenzen aus der 6. Feuerbachthese zieht P. E. Krjazev (1972) S. 45, wenn er die Persönlichkeit als das Maß be47

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und daher veränderbar. Wenn von diesen sozialen und geschichtlichen Besonderheiten^ die für den Menschen entscheidend sind und ohne die auch die religiöse Entfremdung nicht erklärt werden kann, abgesehen wird, behält man ein Abstraktem49 in den Händen, das die Wirklichkeit nicht zu erfassen vermag und daher als idealistische Verfehlung der Wirklichkeit anzusprechen ist. Wenn unter »menschlichem Wesen« der Gattungszusammenhang50 zu verstehen ist, der nicht biologisch oder logisch, sondern gesellschaftlich ist, kann er nicht das »Wesen des Menschen« (Vessence de l'homme) sein, wie Seve meint; dies wäre wieder eine Abstraktion51. Adam Schaff52, der dies moniert, hatte in einem früheren Werk58 die 6. Feuerbachthese im Licht der »Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie« verstanden: Danach bestimmt sie das Individuum zum Ausgangspunkt der Analyse. Diese Analyse enthüllt die gesellschafüiche Determiniertheit des Individuums und bestimmt es in gedanklicher Rekonstruktion als Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse. Ein Überblick über die - wie erwähnt - sehr ausgedehnte Diskussion über die 6. Feuerbachthese zeigt, daß es dabei primär um die Bedeutung des Ausdrucks »menschliches Wesen« ging. Leider wurden aber bei der näheren Analyse die Bedeutung des Ausdrucks »ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« und die daraus fließenden Folgerungen für das menschliche Wesen vernachlässigt. Wenn das menschliche Wesen das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, und wenn das en$emble aus den Elementen »Produktivkräfte, Kapitalien und soziale Verkehrsformen« besteht, welche aber zueinander in Widerspruch geraten, so läßt sich folgern, daß auch das menschliche Wesen selbst nicht vor Widersprüchen verschont ist, was Marx am Schicksal der proletarischen Individuen im Kapitalismus konkret aufzeigt. zeichnet, »in dem das menschliche Individuum sich sein soziales Klassenwesen allseitig zu eigen macht«. 49 Die Marxsdie Kritik an Feuerbach läßt sich aktualisierend als Kritik an der »Allgemeinen Psychologie« lesen, nicht nur deshalb, weil Feuerbach seine Theorie der sinnlichen Erkenntnis Psychologie nennt, sondern auch weil die Abstraktion von den Klassenverhältnissen, welche die Allgemeine Psychologie konstituiert, in der Feuerbadischen Psychologie geradezu vorgebildet ist. 6 ® Auch L. S. Kon (1971) vertritt diese Interpretation. &1 Indem Seve dieses Wesen allerdings als geschichtliches und gesellschaftliches auffaßt, da es das »ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« ist, wirkt sich dieser Interpretationsfehler nicht nachteilig aus. 52 A . Schaff 1971. 58 A . Schaff 1969. Wenn Schaff (1969) gegen Seve betont, in der 6. Feuerbachthese liege die Pointe darin, daß dem Feuerbadischen abstrakten Individuum das wirkliche und konkrete, d . h . gesellschaftliche Individuum entgegengesetzt würde, so muß er auch zugestehen, daß in dem von ihm (1969) herangezogenen zweiten Satz aus der »Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie« (»In Gesellschaft produzierende Individuen - daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen ist natürlich der Ausgangspunkt.«) der Akzent nicht auf »IndivK duum«, sondern auf »in Gesellschaft produzierende« liegt.

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4- Gegenüber der Deutschen Ideologie hat sich im Kommunistischen Manifest (1848) die Rolle des Individuums bedeutsam gewandelt: Die Revolution als der Übergang der alten in die neue Gesellschaft wird nicht mehr von klassenlosen vergemeinschafteten Individuen vollzogen, sondern von der proletarischen Klasse. Zusammen mit der Bourgeoisie entwickelt sich auch das Proletariat aus lokalen Anfängen zur Universalität. Durch Kämpfe mit der Bourgeoisie und Organisation über Parteien kommt es zur »Bildung des Proletariats zur Klasse«54, welcher Prozeß auch von der Entwicklung der Kommunikationsmittel unterstützt wird. Die Aufhebung des Klassensystems erfolgt hier nicht bereits in dem Moment, in dem sich zeigt, daß die alte Klassengesellschaft den Individuen keine Lebensbedingungen garantiert, sondern erst nach der Konsolidierung der Herrschaft der proletarischen Klasse. Erst hier55 sprechen Marx und Engels von »assoziierten Individuen«. Jedoch existieren nicht nur die Proletarier nicht als »persönliche Individuen«; bei den Bourgeois kann natürlich auch nur von Pseudoindividuen die Rede sein; ihre Personalität entpuppt sich bei näherem Zusehen als Kapital-, Geld- oder Bodenbesitz: Von dem Augenblick an, wo die Arbeit nicht mehr in Kapital, Geld, Grundrente, kurz, in eine monopolisierbare gesellschaftliche Macht verwandelt werden kann, d. h. von dem Augenblick, wo das persönliche Eigentum nicht mehr in bürgerliches umschlagen kann, von dem Augenblick an erklärt ihr, die Person sei aufgehoben. Ihr gesteht also, daß ihr unter der Person niemanden anders versteht als den Bourgeois, den bürgerlichen Eigentümer. Und diese Person soll allerdings aufgehoben werden.56 54

MEW, Bd. 4, S. 474. Ebd., S. 482. Im Kapital finden sich die Aussagen zum Individuum speziell im 4. und 3 . Abschnitt: Wir sahen im vierten Abschnitt bei der Analyse der Produktion des relativen Mehrwerts: innerhalb des kapitalistischen Systems vollziehn sich alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktionskraft der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbeiters; alle Mittel zur Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschungs- und Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine, vernichten mit der Qual seiner Arbeit ihren Inhalt, entfremden ihm die geistigen Potenzen des Arbeitsprozesses im selben Maße, worin letzterem die Wissenschaft als selbständige Potenz einverleibt wird; sie verunstalten die Bedingungen, innerhalb deren er arbeitet, unterwerfen ihn während des Arbeitsprozesses der kleinlichst-gehässigen Despotie, verwandeln seine Lebenszeit in Arbeitszeit, schleudern sein Weib und Kind unter das Juggernaut-Rad des Kapitals. (MEW, Bd. 23, S. 595.) Ähnlich im 3. Abschnitt (»Die Produktion des absoluten Mehrwerts*), wo der fundamental unmenschliche Charakter des Kapitalismus herausgestellt wird. Das proletarische Individuum wird im 4. und 3. Abschnitt als der Leidtragende des kapitalistischen Produktionsprozesses thematisiert. Wenn Marx auf der anderen Seite vom Kapitalisten spricht, versteht er ihn durchweg nicht als Individuum, sondern als Sozialrolle. Manfred Vorwerg (1968) gelangt, an die Marxsche Konzeption der Kapitalistenrolle anknüpfend, zu einer Kritik der subjektivistischen Rollenkonzeptionen. 55

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5. Obgleich Marx in seinen späteren Analysen nicht von den Individuen ausgeht, so haben sie dennoch - wie sich zeigen wird - in ihnen ihren Stellenwert. Den Ausgangspunkt bilden in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie (1857/58) das Geld und im Kapital (1867) die Waren - Marx wählt den Standpunkt der Ökonomie als Ausgangspunkt. Ware und Geld führen auf den Begriff des Tauschwerts und damit zur Untersuchung des Austauschs der Produkte. Die Individuen rücken erst als warentauschende in den Blick. Damit stehen sie von vornherein in einem wechselseitigen Zusammenhang, statt als abstrakte Individuen aufgefaßt zu werden: Diese wechselseitige Abhängigkeit, ausgedrückt in der beständigen Notwendigkeit des Austauschs und in dem Tauschwert als allseitigem Vermittler . . . Die wechselseitige und allseitige Abhängigkeit der gegeneinander gleichgültigen Individuen bildet ihren gesellschaftlichen Zusammenhang. Dieser gesellschaftliche Zusammenhang ist ausgedrückt im Tauschwert, worin für jedes Individuum seine eigne Tätigkeit oder sein Produkt erst eine Tätigkeit und ein Produkt für es wird57. Die Individuen sind also über den Tauschwert vergesellschaftet. Jedoch ist diese Form der Vergesellschaftung als entfremdete zu kritisieren, da sie weder auf vernünftiger Vereinbarung beruht noch die Individuen die Austauschverhältnisse nach ihren Bedürfnissen organisieren, sondern da umgekehrt die Austauschverhältnisse die Individuen organisieren: Der gesellschaftliche Charakter der Tätigkeit, wie die gesellschaftliche Form des Produkts, wie der Anteil des Individuums an der Produktion erscheint hier als den Individuen gegenüber Fremdes, Sachliches; nicht als das Verhalten ihrer gegeneinander, sondern als ihr Unterordnen unter Verhältnisse, die unabhängig von ihnen bestehn und aus dem Anstoß der gleichgültigen Individuen miteinander entstehn. Der allgemeine Austausch der Tätigkeiten und Produkte, der Lebensbedingung für jedes einzelne Individuum geworden, ihr wechselseitiger Zusammenhang, erscheint ihnen selbst fremd, unabhängig, als eine Sache. Im Tauschwert ist die gesellschaftliche Beziehung der Personen in ein gesellschaftliches Verhalten der Sachen verwandelt; das persönliche Vermögen in ein sachliches.58 Die Individuen sind unter die gesellschaftliche Produktion subsumiert, die als ein Verhängnis außer ihnen existiert;; aber die gesellschaftliche Produktion ist nicht unter die In57 68

Marx, Grundrisse . . ., S. 74. Ebd., S. 75

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dividuen subsumiert, die sie als ihr gemeinsames Vermögen handhaben.59 Die gesellschaftliche Beziehung der Individuen aufeinander als verselbständigte Macht über den Individuen, werde sie nun vorgestellt als Naturmacht, Zufall oder in sonst beliebiger Form, ist notwendiges Resultat dessen, daß der Ausgangspunkt nicht das Freie gesellschafdiche Individuum ist.60 Wenn Marx vom Tausch zum Individuum kommt,61 muß er natürlich die Konzeption eines autonomen Individuums als Abstraktion kritisieren: . . . und die Individuen scheinen unabhängig (diese Unabhängigkeit, die überhaupt bloß eine Illusion ist und richtiger Gleichgültigkeit - im Sinn der Indifferenz - hieße), frei aufeinander zu stoßen und in dieser Freiheit auszutauschen; sie scheinen so aber nur für den, der von den Bedingungen, den Existenzbedingungen (und diese sind wieder von Individuen unabhängige und erscheinen, obgleich von der Gesellschaft erzeugt, gleichsam als Naturbedingungen, d.h. von den Individuen unkontrollierbare) abstrahiert, unter denen diese Individuen in Berührung treten.62 Die Behauptung individueller Unabhängigkeit ist nicht unwesentlich vom Aufhören persönlicher Abhängigkeiten bedingt, die im Feudalismus zwischen Feudalherrn und Vasall bestanden. Tatsächlich besteht nun aber statt der persönlichen eine sachliche Abhängigkeit. Wer auf das Privatinteresse pocht, übersieht die dialektische Beziehung des Privaten und Gesellschafdichen: Die Pointe liegt vielmehr darin, daß das Privatinteresse selbst schon ein gesellschaftlich bestimmtes Interesse ist und nur innerhalb der von der Gesellschaft gesetzten Bedingungen und mit den von ihr gegebnen Mitteln erreicht werden kann; also an die Reproduktion dieser Bedingungen und Mittel gebunden ist. Es ist das Interesse der Privaten; aber dessen Inhalt, wie Form und Mittel der Verwirklichung, durch von allen unabhängige gesellschaftliche Bedingungen gegeben.63 » Ebd., S. 76. Ebd., S. 1 1 1 . Hierin liegt ein fundamentaler Unterschied zum Vorgehen der bürgerlichen Psychologie, die sich selbst als voraussetzungslos vorkommt. Eine Verbindung zur Ökonomie ist ihr allenfalls als »Angewandte Psychologie« denkbar, indem sie sich die Wege überlegt, auf denen »psychology enters economics« (Simon & Stedry, 1969, S,. 269). Die umgekehrte Überlegung, »how economics enter psychology«, würde auch eine Umkehrung der Psychologie bedeuten. 62 Marx, Grundrisse . . ., S. 81. 68 Ebd., S. 74.

60 61

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Ähnliches gilt für die Konkurrenz : Diese Art individueller Freiheit ist daher zugleich die völligste Aufhebung aller individuellen Freiheit und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen - von den sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen Sachen - annehmen . . . Wenn es heißt, daß innerhalb der freien Konkurrenz die Individuen rein ihrem Privatinteresse folgend das gemeinschaftliche oder rather allgemeine Interesse verwirklichen, so heißt das nichts, als daß sie unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktion aufeinander pressen und daher ihr Gegenstoß selbst nur die Wiedererzeugung der Bedingungen ist, unter denen diese Wechselwirkung stattfindet.64 Die Konzeption der unabhängigen Individualität ist nicht nur illusionär, sie ist außerdem ein notwendiges Ideologem der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer sachlichen Vermittlung der Individuen. In vorbürgerlichen Formationen bestanden die verschiedensten Formen der Abhängigkeit, aus denen sich das Individuum aufgrund ökonomischer Prozesse löste: Der Mensch vereinzelt sich erst durch den historischen Prozeß. Er erscheint ursprünglich als ein Gattungswesen, Stammwesen, Herdentier - wenn auch keineswegs als ein zoon politikon im politischen Sinn. Der Austausch selbst ist ein Hauptmittel dieser Vereinzelung65. Leitfrage für Marx' historischen Rückgriff ist die Frage, welche Bedingungen der bürgerlichen Produktionsweise entwickelt sein mußten. Ohne Zweifel liegt hier ein Stück Kritik des Idealismus66 vor, wenn dieser Bestimmungsmomente, die er dialektisch entwickeln will, in der Wirklichkeit voraussetzt. Marx hingegen verfolgt die realgeschichtliche Entwicklung der Momente der bürgerlichen Verhältnisse; die bürgerliche Ordnung entstand nicht aus einer Idee, sondern deshalb, weil ihre Bedingungen realisiert waren, sich »heraufentwickelt« hatten. Hierbei ist neben der Entstehung des Kapitals die Entstehung des freien Lohnarbeiters zentral; für diesen stellt sich die Frage so, wie er von seinen Arbeitsmitteln getrennt wurde: Wenn freie Arbeit und Austausch dieser freien Arbeit gegen Geld... Voraussetzung der Lohnarbeit und eine der historischen Bedingungen des Kapitals ist, so ist die Tren« Ebd., S. 545. «s Ebd., S. 395 f. 68 Nach Alfred Schmidt (1971) kam es bei Marx vor der Abfassung der Grundrisse zu einer zweiten Hegelrezeption; es fragt sich allerdings, ob man nicht lieber von einer »zweiten Hegelkritik« sprechen sollte.

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nung der freien Arbeit von den objektiven Bedingungen ihrer Verwirklichung - von dem Arbeitsmittel und dem Arbeitsmaterial - eine andre Voraussetzung. Also vor allem Loslösimg des Arbeiters von der Erde als seinem natürlichen Laboratorium.. ,67 Allen dabei unterschiedenen Stadien (Formationen) entsprechen mit ihren spezifischen Verkehrsformen spezifische Formen der Individualität. So zählt etwa Marx bei den antiken Gemeinwesen mit Privateigentum die Produktionsmittel zur Persönlichkeit des Individuums: Sie verhalten sich als Eigentümer zu den natürlichen Bedingungen der Arbeit; aber diese Bedingungen müssen noch fortwährend durch persönliche Arbeit wirklich als Bedingungen und objektive Elemente der Persönlichkeit des Individuums, seiner persönlichen Arbeit, gesetzt werden.68 So verschieden die früheren Gestalten der Individualität auch gewesen sein mögen, so unterscheiden sie sich doch alle vom freien Arbeiter: Das Verhalten zur Erde als Eigentum ist immer vermittelt durch die Okkupation, friedliche oder gewaltsame, von Grund und Boden durch den Stamm, die Gemeinde in- irgendeiner mehr oder minder naturwüchsigen oder schon historisch entwickelteren Form. Das Individuum kann hier nie in der Punktualität auftreten, in der es als bloßer freier Arbeiter erscheint. Wenn die objektiven Bedingungen seiner Arbeit vorausgesetzt sind als ihm gehörig, so ist es selbst subjektiv vorausgesetzt als Glied einer Gemeinde, durch welche sein Verhältnis zu Grund und Boden vermittelt ist.69 Der freie Lohnarbeiter ist gezwungen, seine Arbeitskraft als Ware gegen die Waren, die er zum Lebensunterhalt braucht, einzutauschen. Aber entgegen der bürgerlichen Meinung ist der Kapitalismus kein ewiger oder Endzustand. Auch der Kapitalismus kommt nicht umhin, die Bedingungen für eine andere Gesellschaftsformation zu entwickeln. Indem der Kapitalismus dem Lohnarbeiter die Existenz nicht garantieren kann, stellt er sich dadurch selbst in Frage: In dem Begriff des freien Arbeiters liegt schon, daß er Pauper ist: virtueller Pauper... Als Arbeiter kann er nur leben soweit er sein Arbeitsvermögen gegen den Teil des Kapitals 67

Marx, Grundrisse . .

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S. 375.

eintauscht, der den Arbeitsfonds bildet. Dieser Austausch selbst ist an für ihn zufällige, gegen sein organisches Sein gleichgültige Bedingungen geknüpft.70 Der universale Tausch entwickelt auch die Universalität der Individuen. Der Entwicklung der Produktivkräfte entspricht die Entfaltung der Fähigkeiten und Bedürfnisse der Individuen, so daß sie zur Assoziation »auf der Grundlage der gemeinsamen Aneignung und Kontrolle der Produktionsmittel«71 in der Lage sind. Um der eigenen Lebenserhaltung willen sind sie gezwungen, die Entfremdung im Kapitalismus, die sich so auswirkt, daß ihre Arbeit zur eigenen Verarmung und zur Bereicherung anderer führt, aufzuheben: Die Schranke des Kapitals ist, daß diese ganze Entwicklung gegensätzlich vor sich geht und das Herausarbeiten der Produktivkräfte, des allgemeinen Reichtums etc., Wissens etc. so erscheint, daß das arbeitende Individuum selbst sich entäußert; zu den aus ihm herausgearbeiteten nicht als den Bedingungen seines eignen, sondern fremden Reichtums und seiner eignen Armut sich verhält. Diese gegensätzliche Form selbst aber ist verschwindend und produziert die realen Bedingungen ihrer eignen Aufhebung72. In der anschließenden Passage wird die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen so eng mit der individuellen Entfaltung verknüpft, daß man sich fragt, wie marxistische Psychologen diese Stelle übersehen könnten: Resultat ist: die ihrer Tendenz und dynamei nach allgemeine Entwicklung der Produktivkräfte - des Reichtums überhaupt - als Basis, ebenso die Universalität des Verkehrs, daher der Weltmarkt als Basis. Die Basis als Möglichkeit der universellen Entwicklung des Individuums, und die wirkliche Entwicklung der Individuen von dieser Basis aus als beständige Aufhebung ihrer Schranke, die als Schranke gewußt ist, nicht als heilige Grenze gilt. Die Universalität des Individuums nicht als gedachte oder eingebildete, sondern als Universalität seiner realen und ideellen Beziehungen... Der Prozeß der Entwicklung selbst als Voraussetzung desselben gesetzt und gewußt. Dazu aber nötig vor allem, daß die volle Entwicklung der Produktivkräfte Produktionsbedingung geworden; nicht bestimmte Produktionsbedingungen als Grenze für die Entwicklung der Produktivkräfte gesetzt sind.73 Ebd., S. 497. » Ebd., S. 77. Ebd., s. 440. w Ebd., s. 440. 12

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Marx' Ausführungen über das Individuum sind hier nur brüchstückhaft wiedergegeben; sowohl die ausgewerteten Werke als auch die nicht ausgewerteten enthalten zahlreiche weitere Aussagen über es; beide erfordern eine viel umfangreichere Interpretation und genauere Einordnung, als hier geleistet werden konnte. Die hier wiedergegebenen Äußerungen genügen aber zum Beleg dreier allgemeiner Aussagen: 1. Das Individuum nimmt im Marxschen Denken - und nicht nur im Frühwerk - einen bedeutenden Platz ein. Es ist nicht gerechtfertigt, wenn Psychologen, die sich auf Marx berufen, die Marxschen Aussagen über das Individuum übergehen. 2. Je nach dem Kontext des Werkes fällt neues Licht auf das Individuum; wenn Marx in den »Grundrissen« die Gesellschaft als eine Tauschgesellschaft konzipierte, ergeben sich dabei andere Aussagen über das Individuum als etwa in den »Philosophisch-ökonomischen Manuskripten«, wo die Gesellschaft als eine durch das Privateigentum entfremdete gekennzeichnet war, ohne daß sich daraus ein Gegensatz konstruieren ließe. Um das Ergebnis der Marx-Lektüre zu verallgemeinern: Die Theorie des Individuums ist zu einem Teil ein Implikat der Theorie der Gesellschaft. 3. Gegenüber diesen Unterschieden sind aber die Gemeinsamkeiten nicht zu übersehen: In der Marxschen Konzeption besteht eine enge Verklammerung zwischen dem Individuum und seinen historisch-sozialen, also gesellschaftlichen Lebensumständen. Marx lehnt es ab, zunächst ein diesen Umständen präexistierendes Individuum und dann je nach Umgebung verschiedene Ausgestaltungen anzunehmen; wegen des dialektischen Bezuges von Individuum und Gesellschaft können beide Momente nicht unabhängig voneinander thematisiert werden. Ein zunächst für sich definiertes Individuum ist eine Abstraktion, die nicht die Wirklichkeit erreicht; unabhängig vom ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse kann das Individuum in seiner Konkretion nicht erreicht werden. Faßt man die Marxschen Aussagen über das Individuum zusammen, so läßt sich von einer revolutionären Psychologie bei Marx sprechen: Zunächst etwa im Sinn der 6. Feuerbachthese, wonach Marx die isolierte Fassimg des Individuums ablehnt und den von ihm als bürgerlich identifizierten Individualismus umstürzt. Aber es läßt sich noch in einem zweiten Sinn von einer revolutionären Psychologie sprechen: Durch die verschiedenen Werkphasen hält sich beharrlich durch, daß das Individuum im Zusammenhang mit dem revolutionären Umsturz der Verhältnisse thematisiert wird. Das heißt nicht, daß eine spontaneis tische Psychologie bei Marx an die Stelle 48

einer materialistischen Analyse treten würde (wie vielleicht in der Sexpol-Bewegung), sondern: die Zuspitzung der objektiven gesellschaftlichen Lage zieht in besonderem Maße das Individuum in Mitleidenschaft, das Individuum ist das Feld, auf dem sich die gesellschaftlichen Widersprüche verschärfen, Nicht anders als im gesamtgesellschaftlichen Bereich handelt es sich dabei primär um die Widersprüche zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen. Im Individuum haben die Produktivkräfte die Gestalt der Fähigkeiten und Eigenschaften, die es mit dem Fortschritt der Industrie zu entwickeln hat, sowie der Universalität, die es von der Industrie und vom Handel, die sich kosmopolitisch verbreiten, mitbekommt. Die Produktionsverhältnisse in ihrer Relevanz für die Individuen sind die Umstände, unter denen die Individuen ihre Fähigkeiten zur Anwendimg bringen, nämlich das Privateigentum an Produktionsmitteln, dessen Effekte auf das Individuum allgemein als Entfremdung zu beschreiben sind; als Umstand nämlich, daß die erhöhte Produktivität den produzierenden Individuen immer weniger zugute kommt, daß die Produkte nicht von den Produzenten, sondern von den Kapitalisten angeeignet werden, die sie in tote Arbeit (konstantes Kapital) verwandeln, die die lebendige Arbeit immer erdrückender subsumiert. Die Betätigung der Produktivkräfte unter den gegebenen Produktionsverhältnissen wird unerträglich; die Individuen werden aus den Produktionsverhältnissen herausgetrieben (nach der Deutschen Ideologie werden sie dabei erst zu »Persönlichen Individuen«). Marx wäre der letzte, der leugnen wollte, daß diese Widersprüche historisch wandelbar sind, daß das Lebensniveau ihrer Auseinandersetzung sich anheben kann (Marx beschrieb die Widersprüche in einer Zeit, als sie sich zur Existenzbedrohung der proletarischen Individuen zugespitzt hatten), daß es verschiebbar ist (etwa auf den Gegensatz zwischen Erster und Dritter Welt). Da bei dieser Verschiebung das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen nicht konstant bleiben muß, kann es bei »überproportionalem« Anwachsen der subjektiven Produktivkräfte durchaus zu verschärften Konflikten kommen; von hier aus wären Verbindungen zu Befunden Serge Mallets (1963) herzustellen. Auch hat sich die Entfremdung qualitativ verändert, seitdem der Staat den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit moderiert. Indem Marx die Individuen unter dem Gesichtspunkt des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen thematisiert74, läßt er zugleich die Mängel der 74

Dies ist audi der Grund dafür, daß Lepenies und Nolte (1971) kein festes »Menschenbild« i. S. ein für allemal festgelegter Qualifikationen bei Marx finden konnten.

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bisherigen Ansätze von marxistischer Psychologie sichtbar werden: Sie sehen das Individuum entweder nur im Zusammenhang mit den Produktionsverhältnissen (Freudomarxismus) oder mit den Produktivkräften (gewisse Ausgestaltungen und Abkömmlinge der »marxistischen Psychologie« in der Sowjetunion und anderen Übergangsgesellschaften). Indem beide Ansätze am Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen im Individuum vorbeigehen, bleiben sie fundamental undialektisch. Hier zwei Zitate als Beleg für einseitige Bindung der Psychologie an die Produktivkräfte: Wenn das, was ich vorhin über die Funktion der Psychologie, die sie innerhalb des Systems der menschlichen Produktivkräfte forschend zu erfüllen hat, richtig ist, dann ließe sich als generelle, sozusagen zentrierende Aufgabenstellung dieses Komplexes formulieren: Mit den Mitteln der Psychologie und in enger Verflechtung mit anderen Disziplinen einen maximalen Beitrag dafür zu liefern, die in der »Produktivkraft der menschlichen Arbeit« enthaltenen Ressourcen zu erschließen und für die revolutionäre Entwicklung unserer sozialistischen Gesellschaft und zur Stärkung unseres Staates einzusetzen.75 Die Entfaltung der Gesamtpersönlichkeit zur Produktivkraft ist eine der wichtigsten Existenz- und Entwicklungsgrundlagen des Kommunismus überhaupt. Es ist deshalb erforderlich, die für die Entwicklung der Persönlichkeit zur Produktivkraft entscheidenden Faktoren bewußt und planmäßig ebenfalls zu Produktivkräften zu gestalten, die für die Produktion der Produktivkraft Persönlichkeit potentiell vorhandenen Produktivkräfte systematisch und in vollem Umfang in wirkliche zu verwandeln.76 Die dialektische Entwicklung ist sistiert und ersetzt durch eine Dialektik von innen und außen77 oder die Dialektik von logischen Begriffen wie »abstrakt« und »konkret« etc.. .78 Das Verfehlen des Widerspruchs von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bei den frühen Freudomarxisten erhellt allein schon daraus, daß ihr Untersuchungsgebiet außerhalb des Feldes der Arbeit, d. h. der Lohnarbeit lag. An die Stelle der beruflichen Tätigkeiten und Eigenschaften trat bei ihnen ein reifes oder unreifes Ich. Bei ihrem Versuch, die Fixierung an die Produktionsverhältnisse, die ihnen - perso75

Hiebsch 1971, S. 143. * Lassow 1967, S. 388. Hiebsch & Vorwerg 1969, S. 55. 78 Ich will nicht behaupten, daß es in den Obergangsgesellschaften keine edit dialektischen Ansätze zur Theorie des Individuums gäbe; an hervorragender Stelle wäre etwa die Arbeit M. I. Petrosjans (1972) zu nennen.

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nalisierend - als Identifikation mit den Machthabern erschien, aufzuheben, hatten sie nichts als Bewußtmachung infantiler Abhängigkeiten einzusetzen. Zwar beanspruchten sie Dialektik für sich, jedoch blieben sie teils bei einer biologischen Dialektik von Triebanspruch und Realität, womit sie die Konzeption von Hiebsch und Vorwerg fast vorweggenommen haben, teils bei dürren dialektischen Abstraktionen Engelsschen Typs (das neurotische Symtom qua Durchbruch der Verdrängung als Negation der Negation)79, teils bei der Betonimg des polaren Charakters psychologischer Kategorien (Sexualtriebe und Ichtriebe, Narzißmus und Objektlibido, Eros und Todestrieb etc.)80. Ein Beispiel für den Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in den Individuen ist der Gegensatz von Kooperation, also Gesellschaftlichkeit, in der Produktion und privater Aneignung.81 Marx hatte im 1 1 . Kapitel des »Kapitals« die Kooperation in der Produktion ausdrücklich als Produktivkraft bezeichnet: . . . unter allen Umständen ist die spezifische Produktivkraft des kombinierten Arbeitstags gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit oder Produktivkraft gesellschaftlicher Arbeit. Sie entspringt aus der Kooperation selbst. Im planmäßigen Zusammenwirken mit andren streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen82. In der privaten Aneignung werden die Produzenten nicht nur um die Früchte ihrer erhöhten Produktivität gebracht, sondern sie tritt ihnen auch unter kapitalistischen Verhältnissen als fremde Macht gegenüber, da sie unter dem Kommando des Kapitalisten erfolgt, der hier auch bereit ist, Aufsichtsfunktionen zu delegieren: Der Zusammenhang ihrer Funktionen und ihre Einheit als produktiver Gesamtkörper liegen außer ihnen, im Kapital, 79

W. Reidi 1934. 80 S. Bernfeld 1926. Audi die Populärpsychologie ist weitgehend durch solche Begriffspolaritäten gekennzeichnet (männlich-weiblich, Verstand-Gefühl etc.), während die Wissenschaftliche Psychologie seit Wundt die Polaritäten in voneinander unabhängige Dimensionen aufzulösen, die Widersprüche multidimensional »wegzuorthogonalisieren« versuchte. 81 Näheres hierzu s. A . Sohn-Rethel 1970. Die Unterschlagung der privaten Aneignung wird präzise von der traditionellen Leistungspsychologie reflektiert, die sich nur für Leistung schlechthin interessiert, aber nicht fragt, um wessen Leistung es sich denn handle. Der Gegenstand der Leistungspsychologie ist die der Verfügung der Leistenden entzogene Leistung. Eigentumsverhältnisse spielen in der traditionellen Leistungspsychologie keine Rolle: Es wird als irrelevant für die Psychologie beiseite geschoben, daß die Leistungen von der Klasse der Besitzer der Produktionsmittel angeeignet werden. Die Leistungspsychologie bzw. die Fähigkeitspsychologie hat sich gleichzeitig mit der Sozialpsychologie entwickelt, zu deren wichtigsten Themen das Studium der Arbeitskooperation gehört. 82 MEW, Bd. 23, S. 349.

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das sie zusammenbringt und zusammenhält. Der Zusammenhang ihrer Arbeiten tritt ihnen daher ideell als Plan, praktisch als Autorität des Kapitalisten gegenüber, als Macht eines fremden Willens, der ihr Tun seinem Zweck unterwirft. Wehn daher die kapitalistische Leitung dem Inhalt nach zwieschlächtig ist, wegen der Zwieschlächtigkeit des zu leitenden Produktionsprozesses selbst, welcher einerseits gesellschaftlicher Arbeitsprozeß zur Herstellung eines Produkts, andrerseits Verwertungsprozeß des Kapitals, so ist sie der Form nach despotisch. Mit der Entwicklung der Kooperation auf größrem Maßstab entwickelt dieser Despotismus seine eigentümlichen Formen. Wie der Kapitalist zunächst entbunden wird von der Handarbeit, sobald sein Kapital jene Minimalgröße erreicht hat, womit die eigentlich kapitalistische Produktion erst beginnt, so tritt er jetzt die Funktion unmittelbarer und fortwährender Beaufsichtigung der einzelnen Arbeiter und Arbeitergruppen selbst wieder ab an eine besondre Sorte von Lohnarbeitern. Wie eine Armee militärischer, bedarf eine unter dem Kommando desselben Kapitals zusammenwirkende Arbeitermasse industrieller Oberoffiziere (Dirigenten, managers) und Unteroffiziere (Arbeitsaufseher, foremen, overlookers, contremaitre), die während des Arbeitsprozesses im Namen des Kapitals kommandieren.83 Dem Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen kann sich natürlich auch die Psychologie nkht entziehen; er führt die Psychologie in ihrem fortgeschrittensten Teil dazu, sich zur Sozialtechnologie umzugestalten, um so nicht nur den Versuch zu unternehmen, die Widersprüche zu entschärfen, sondern auch die Produktivkräfte in den Dienst der Produktionsverhältnisse zu stellen. Zum Abschluß möchte ich einige Gedanken Luden Seves skizzieren, der m. E. als erster versucht hat, den Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in den Individuen für die Psychologie in den Blick zu rücken. Ich laufe damit um so weniger Gefahr, Bekanntes zu wiederholen, als Seve im Kreise deutscher Psychologen bisher totgeschwiegen wurde. Seve reflektiert genau den Widerspruch zwischen der individuellen Entwicklungsmöglichkeit, die mit der Entfaltung der Produktivkräfte gegeben ist, und den Grenzen dieser Entfaltung, die aus der Entfaltung der Produktivkräfte unter kapitalistischen Bedingungen resultiert.84 Die folgende Kontra83

Ebd., S. 351. S£ve zeigt, wie diese Widersprüche im Medium der Motivation auftreten und Stagnationen der Fähigkeitsentwicklung und Krisen der Persönlichkeit herbeiführen. 84

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stierung zwischen dem »bornierten« vörindustriellen und dem potentiell universalen industriellen Individuum, entspricht genau den oben wiedergegebenen Marxschen Äußerungen: In seinem persöidichen Leben kann das Individuum zweifellos sehr wohl frei über seine Tätigkeit entscheiden und sie konkret auf seine wirklichen Bedürfnisse beziehen, aber da es nicht die Produktionskräfte besitzt, welche die allseitige Entwicklung des Individuums hervorbringen, da die Grenzen dieses persönlichen Lebens in jeder Hinsicht durch die sozialen Verhältnisse engstens festgelegt sind, da sich selbst innerhalb dieser persönlichen Tätigkeit die Reproduktion dieser Arbeitskraft mit Notwendigkeit durchsetzt, da von ihr die schlichte Lebensmöglichkeit abhängt, findet sich xüeses wirkliche Leben des Individuums selbst zu etwas Untergeordnetem, zu einer bloßen Ablenkung, einem Anhängsel der abstrakten Form der Arbeitskraft alteriert. Demgegenüber befindet sich das Individuum in der gesellschaftlichen Arbeit in der Umgebung der fortgeschrittensten Produktivkräfte: hier könnte es prinzipiell seine individuellen Fähigkeiten umfassend entwickeln. Aber hier ist alles umgekehrt: nicht nur ist diese Entwicklung nicht das Ziel der Tätigkeit, sondern sie kann sich selbst auch nur insoweit vollziehen, als sie zur Schaffung von Tauschwert für den Kapitalisten dient, so daß sie sich mit diesen Grenzen permanent in Widerspruch befindet. Die konkrete Arbeit, die Äußerung der lebendigen Persönlichkeit, Bedingung ihrer eigenen Entwicklung, kann sich also niemals frei entfalten: dort, wo sie es könnte, hat sie nicht die Mittel, und dort, wo sie die Mittel hätte, ist es ihr verboten.85 Seve stellt die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes in einer Reihe von »Hypothesen« über Entwicklungsgesetze und -schranken der Persönlichkeit unter kapitalistischen Bedingungen unter Beweis. Der Verhaltens theoretische Ansatz in der Psychologie wird von ihm als ein solcher identifiziert, indem davon abstrahiert wird, daß die individuelle Tätigkeit unter kapitalistischen Bedingungen stattfindet, d. h. Lohnarbeit ist. Indem die Arbeitskraft zur Ware wird, reproduzieren sich in ihr die Widersprüche der Ware, Gebrauchswert und Tauschwert zu sein, so daß konkrete Arbeit mit abstrakter Arbeit (Lohnarbeit) in Widerspruch gerät. Da im Kapitalismus die abstrakte Arbeit die Vorherrschaft über die konkrete hat, geht der verhaltenstheoretische Ansatz, der sich auf den konkreten Aspekt beschränkt, am Stattfinden des Verhaltens im Kapitalismus vorbei. 85

S£ve 1969, s . 245 f.

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Freilich sind solche Ausführungen nur allgemeine Vorarbeiten, wie konkret sie in der Kritik bürgerlicher Psychologeme auch sein mögen. Was nottut, sind historisch und empirisch konkretisierte Aussagen über den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in den Individuen, die der politischen Praxis psychologische Hilfen beisteuern können.

Literatur Bernfeld, S., »Sozialismus und Psychoanalysen Berlin 1926. Wiederabgedruckt in: H. G. Gente (HgJ Marxismus, Psychoanalyse, Sexpol, Bd. 1 , Frankfurt a. M. 1970 (Fischer Taschenbuch Bd. 6056). Fleischer, H., Marxismus und Geschichte. Frankfurt a. M. 1968. Hiebsch, H., »Aktuelle Aufgaben der marxistisch-leninistischen Psychologie in der DDRrechenhaftenfalsche< zur Last legt. Indem ihm aufgegeben wird, diese Gründe seines Handelns, die derart zu seinen eigenen Motivationen geworden sind, zu kontrollieren, bringt es sich selbst unter Kontrolle. Indem es dabei die gesellschaftlichen Bedingungen beläßt, bringt es sich unter die Kontrolle gesellschaftlicher Interessen, durch eigene Zustimmung, Mitwirkung. Die Selbstveränderung geschieht in der Form selbstübernommener Repression. Gerade darin, daß die Psychologie die (»unbewußten«) Gründe von Verhalten im Individuum als im Individuum gelegen und vom Individuum zu verantworten »entschleiert«, daß sie Ideologiekritik im Sinn der Kritik von Vorurteilen und gesundem Menschenverstand ist, ist sie eminent technologisch, trägt sie zur Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen nach Maßgabe kapitalprogressiver Rationalität durch das Individuum selber bei. Schmidt und Fichter stellen diesen Zusammenhang am Beispiel der im Konzept der »Umerziehung« an zentraler Stelle stehenden Gruppendynamik sehr einleuchtend dar. Umerziehung als »Veränderung der Einstellungen des Individuums«, durch »die Erfahrung demokratischer Kommunikations- und Kooperationsweisen« in der Trainingsgruppe steht so lange in Gefahr, zur Sozialtechnik zu werden, solange »die Vermittlung von individueller Lebensgeschichte und den gesellschaftlich-relevanten Problemstellungen . . . in dieser Methode ausbleibt, und durch das Psychologisieren gesellschaftlicher Konflikte die Realität nur noch als Widerstand im Bewußtsein erscheint, der im Gruppenprozeß überwunden werden kann«388. Von daher war es nur konsequent, daß Umerziehung nicht die »Mobilisierung derjenigen psychischen Energien und gesellschaftlichen Potentiale« bedeutete, »die eine Zerschlagung der objektiven und subjektiven Voraussetzungen des Nationalsozialismus zum Ziel hatten«. Sie war vielmehr »der Versuch« der amerikanischen Militärverwaltung, »die alten Verhaltensmuster der Deutschen« so »aufzulösen und an eine neue von der Militärregierung geschaffene Gesellschaftsformation anzupassen«389, daß tiefgreifende soziale Reformen verhindert werden sollten auf dem Hintergrund, daß »die Klassenkämpfe, die die Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen des Faschismus zum Ziel hatten... durch das Eingreifen britischer und amerikanischer Militärbehörden zugunsten des deutschen Kapitals entschieden« wurden.390 888

Schmidt & Fichter 1971, S. 137. »8» Ebd. 890

Ebd., S. 135.

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Die Basis der sozialtechnischen Funktion dieser spezifischen Gestalt von (Anwendung von) Psychologie war/angesichts stattfindender Klassenkämpfe nach 1945 militärische Gewalt, die nur die offen zum Ausdruck kommende Gewalt des Kapitalverhältnisses selbst ist, welche nicht in dieser offenen Form sich zu äußern gezwungen ist, solange die Klassenkämpfe sistiert sind. Die Abstraktion von den gesellschaftlichen Verhältnissen mußte also hier erst durch offene Gewalt hergestellt werden, weil die Individuen sie nicht von sich aus bereits akzeptiert hatten. Daß die Abstraktion der Psychologie von den gesellschaftlichen Verhältnissen durch die mit dieser Psychologie konfrontierten und von ihr betroffenen Individuen unwidersprochen hingenommen wird, setzt voraus, daß diese Abstraktion durch die Individuen bereits akzeptiert worden ist, bevor die Psychologie sich ihrer bedienen kann. Nicht nur durch offene Gewalt, sondern durch das Gewaltverhältnis des Kapitals selbst erzwungen, das diese Abstraktion ist: abstraktes Verhältnis von Waren, durch deren Austausch die Individuen miteinander in Beziehung treten. Erst »durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte« treten »die Produzent e n . . . in gesellschaftlichen Kontakt«391, womit »die Verhältnisse der Produzenten... die Form eines gesellschaftlichen Verhältnisses der Arbeitsprodukte«392 erhalten. Den Produzenten »erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d. h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen«393. Diese Arbeitsprodukte erhalten »innerhalb ihres Austausche . . . eine von ihrer sinnlich verschiednen Gebrauchsgegenständlichkeit getrennte, gesellschaftlich gleiche Wertgegenständlichkeit«394. Es muß im Tausch von der konkreten sinnlich erfahrbaren Gebrauchsgegenständlichkeit abgesehen werden, damit unterschiedliche Gebrauchsgegenstände erst vergleichbar werden, was die Voraussetzung dafür ist, daß sie gegeneinander ausgetauscht werden können. Diese Abstraktion vom Gebrauchswert ist keineswegs (bloß und primär) gedankliche, sondern sie geschieht durch das Handeln der Austauschenden selbst395. Aber sie wird nicht erst durch das Handeln, sondern ist vorgängig bereits gesetzt dadurch, daß der »Besitzer« der Ware »sich nicht zu ihr als Gebrauchswert 891 898 898 894 895

MEW, Bd. 23, S. 87. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87. Ebd. Sohn-Rethel 1970, S. 35.

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verhält«306. Es wäre »daher nichts falscher, als zu übersehen, daß die Unterscheidung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert, die in der einfachen Zirkulation, soweit sie realisiert wird, außerhalb der ökonomischen Formbestimmung fällt, überhaupt außerhalb derselben fällt«3®7. Es wird abstrahiert nicht einfach von der Unterschiedlichkeit der Gebrauchsgegenstände, sondern diese Unterschiedlichkeit wird reduziert aüf das ihnen allein gemeinsame: die zu ihrer Herstellung gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Die gedanklichen Abstraktionen sind zwar nicht identisch mit dieser, haben aber ihren Grund in ihr. »Die Abstraktion oder Idee ist aber nichts als der theoretische Ausdruck jener materiellen Verhältnisse, die Herr über sie sind«398 (über diejndividuen). Die Bildung der >reinen< Theorie ist durch die Teilung in materielle und geistige Arbeit nicht nur möglich, sie ist notwendig zur Aufrechterhaltung dieser Arbeitsteilung. »Die Teilung der Arbeit wird erst wirklich Teilung von dem Augenblicke an, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt.«399 »Die Möglichkeit und Ausbildung solcher, von den Abhängigkeiten von der Handarbeit emanzipierten Erkenntnis ist ... ein unentbehrliches Hilfsmittel für die Herrschaft der geld-bzw. kapitalbesitzenden Klassen.«400 »Während sie früher voneinander abhingen«, werden die Individuen »nun von Abstraktionen beherrscht«401. Das Individuum muß losgelöst sein von seinen Beziehungen und Verhältnissen, in denen es steht, und muß gleichwohl immer in abstrakter Beziehung zu irgend etwas angenommen werden, damit man es sinnvoll überhaupt ins Experiment bringen kann. Diese Abstraktionen sind keineswegs die der Psychologie, sondern die psychologischen haben in jenen allgemeinen ihren Grund. Sie sind Teil jener »Ideen«, bezogen auf das Individuum und seine Beziehungen zu anderen, in denen »die Verhältnisse nur ausgedrückt werden können«, in deren Herrschen die »Herrschaft der Verhältnisse... in dem Bewußtsein der Individuen selbst als Herrschen von Ideen erscheint«. Indem Psychologie dieses Bewußtsein rationalisiert, erleichtert sie, daß »der Glaube an die Ewigkeit dieser Ideen, d.h. jener sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse, von den herrschenden Klassen, of course, in jeder Weise befestigt, genährt, eingetrichtert wird«402. Die Möglichkeit des Umschlagens abstrakter Verhältnisse in 896 8W 898 899 409 401 498

Marx, Grundrisse . . ., S. 763. Ebd., S. 540. Ebd., S. 82. M£W, Bd. 3, S. 3 1 . Sohn-Rethel 1970, S. 82. Marx, Grundrisse . . ., S. 82. Ebd.

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»persönliche AbhängigkeitsVerhältnisse«403 erklärt den Widerstand der Individuen, sich auf eine bloße Sache innerhalb dieser abstrakten Beziehung reduzieren zu lassen. Gerade weil das bürgerliche Individuum immer stärker funktionalisiert wird (und damit eigentlich verschwindet), weil die Praxis des bürgerlichen Individuums geregelt und damit als Praxis ausgelöscht wird404, pocht es auf das Vorhandensein von Vermittlungen, darauf, daß es in seine Umwelt aktiv verändernd muß eingreifen können: nach Maßgabe eigener Interessen und innerer Strebungen. In der Trauer um den Verlust dieser Innerlichkeit klammert sich das Individuum an Psychologie, die das Versprechen auf Innerlichkeit einzulösen vorgibt: als Kontemplation. (Ähnlich bei Genossen, die sich aus der politischen Praxis zurückgezogen haben oder sonstwie herausgefallen sind.) Aber gerade das, was bürgerliche Psychologie als Vermittlung anbietet, ist die unvermittelte Ineinssetzung äußerer (unmittelbarer) und innerer Bedingungen von Verhalten, sind die nach innen transponierten äußeren Bedingungen (des Experiments, der Beobachtung), also die Ausschaltung von Vermittlung, das Abstreifen von Vermittlungen von der Oberfläche der Faktizität unmittelbarer (Verhaltens-) Bedingungen. Und hier schließt sich der Kreis der Reflexionslosigkeit: Bürgerliche Psychologen reflektieren nicht, daß sie das, was sie über das bürgerliche Individuum zu formulieren in der Lage sind, auch aufgrund ganz bestimmter methodischer Bedingungen erhalten, reflektieren nicht über das, was sie methodisch mit dem Individuum anstellen, daß sie eigentlich erst herstellen, was sie dann dem Individuum (als dessen eigenste Eigenschaft) zuschreiben. Dies ist die andere Seite der Psychologie als Technologie: Psychologie wird nicht nur dadurch zur Technologie, daß sie die gesellschaftlichen Bedingungen von Verhalten nicht reflektiert, gesellschaftliche Zusammenhänge >psychologisiertBegierdenBewußtsein< auszuschalten durch Versachlichung der Kontrolle. Hier begegnen wir der Verallgemeinerung dieser Tendenz. »Der Prozeß der Verwissenschaftlichung^ der Produktion... erfaßt in zunehmendem Maße auch die Regelung der Verkehrsformen in der kapitalistischen Gesellschaft, erfaßt die Verwaltung, Ausbildung, Konfliktregelung und Umweltprobleme.«411 Damit wird die tayloristische Struktur der Psychologie zur allgemeinen. Nicht nur in dem Sinn, daß in allen Problembereichen, in denen Psychologie einen Beitrag zu leisten sich anstrengt, jene tayloristische Struktur, reflektiert als >Methodenbewußtseinnonreinforcement< als Entzug von vorher gegebener Belohnung, statt als Behinderung einer Zielreaktion, durch eine Barriere methodisch nahegelegt durch die einfachere experimentelle Herstellung des Belohnungsentzugs. Aber die Möglichkeit dazu, überhaupt diese Herstellung glücken zu lassen, ist nur gegeben, wenn das Individuum bereits die Erwartung auf Belohnung mit in dieses Experiment bringt417. So stellt die Veränderung psychologischer Operationen auch die veränderte Erfahrungswelt des Individuums dar, die die psychologische Methode berücksichtigen muß, und sei es unreflektiert, soll sie überhaupt von Erfolg sein. Ist der Entzug von Belohnung frustrierend, die Unterbrechung eines Zusammenhangs, der das Individuum im Streben nach Belohnung blind an die belohnenden Instanzen bindet, so zeigt Psychologie, daß »das Bewußtsein der Massen in den Bannkreis der Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse fixiert bleibt. Daß also mit erhöhter Bedürfnisbefriedigung keineswegs das Bewußtsein politischer 414

MEW, Bd. 23, S. 90. Skve 1969, S. 214. Vgl. Holzkamp 1971. 417 Bruder 1970 (b). - Damit ist nur die - aus dem Vergleich von Tier- und Humanexperiment ableitbare - wesentliche Voraussetzung des psychologischen Experiments erlaßt. Daß darüber hinaus Erfahrungen gemacht werden, ist nicht ausgeschlossen, schließt aber umgekehrt ebensowenig die Tatsache mitgebrachter Erfahrung aus. 415

416

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Sensibilität gegenüber Herrschafts- und Ausbeutungsprozessen zugenommen hat.«418 Der Krisenzusammenhang der kapitalistischen Gesellschaft, das Aufscheinen der Geschichtlichkeit und damit Vergänglichkeit wird aus diesem Zusammenhang gelöscht: Es sind »Lebenskrisen«, die »notwendigerweise« zu Frustrationen führen, mit denen man sich in der Weise auseinandersetzen muß, daß man sich mit ihnen abfindet419. In den kleinen Frustrationen des Alltags, in der Erfahrung des Versagens, des sinnlosen Sich-Aufreibens spiegelt sich schon gar nicht mehr die Fesselung der Produktivkräfte (Sartre 1970), wurde doch nicht nur theoretisch ins Individuum gelegt, was ihm angetan, sondern ist die Doppelseitigkeit von Ingangsetzen von Bedürfnissen und deren Frustration der in eigene Regie genommene Mechanismus. Was mit dem Fortfall der Barriere im Belohnungsentzug als Veränderung der experimentellen Bedingungen erkennbar, ist als Verlagerung der Frustration ins Individuum also nicht nur eine der Interpretation, sondern der gesellschaftlichen Realität. Insofern gilt, was Adorno420 über die Soziologie schrieb, auch hier: Dort, wo die Menschen unter dem Druck der Verhältnisse auf die »Reaktionsweisen von Lurchen« heruntergebracht werden, paßt die empirische Meinungsforschung besser auf sie als etwa eine verstehende Soziologie. Denn das Substrat des Verstehens im Verhalten ist in den Subjekten selbst schon durch bloßes Reagieren ersetzt. Und insofern ist auch Brückner zuzustimmen, wenn er psychologische Aussägen für notwendig hält dort, wohin kritische Vernunft nicht mehr bzw. noch nicht reicht (unveröff.). »Kritische Vernunft« muß sich allerdings als Kritik der bürgerlichen materialisieren, nicht als kritisch gewendete bürgerliche Wissenschaft. Es entspricht keineswegs dem technologischen Status von Psychologie, lediglich zu sagen, wie Adorno: Irreführend wird der unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen richtige Befund erst dadurch, daß die gesellschaftlichen Bedingungen derartiger Reaktionsformen nicht selbst genannt oder mit einbezogen werden421. Wohl ist es zutreffend, daß dadurch so getan wird, als ob die unmittelbaren Bedingungen die letzten Gründe des Verhaltens wären. Der Mensch wird als verdinglichter als Subjekt seines Handelns behauptet, statt ihn als Objekt der verdinglichten Struktur der gesellschaftlichen Beziehungen zu erkennen. Trotzdem genügt es aber nicht mehr, nur ideologiekritisch die Psychologie als bürgerliche Theorie zu entlarven, denn mit der 418

Krahl 1971, S. 42 f. Symonds 1946; Young 1961. Adorno X962, S. 210 t. «« Ebd., S. 211. 419

420

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Betonung der primären Stimuliertheit menschlichen Verhaltens beschreibt sie nicht nur ein kapitalistisches Faktum, sondern auch eine, als eigene Absicht übernommene, Intention des Kapitals: das Individuum völlig zum Stimulierten zu machen. Und auch das wieder mit der Doppelzüngigkeit von Sozialtechnik (und allgemeiner Theorie), mit Einrichtung von Bedingungen von Verhalten und (Selbst-)Steuerung durch Interpretation des unter diesen Bedingungen konsequenten Verhaltens. Indem Psychologie Verhalten theoretisch unmittelbar an den Zustand des Individuums bindet, kann sie - je nach aktuellem Anlaß - entweder rationales Reagieren auf dem Individuum feindlich gegenübertretende Situationen zu Ausflüssen seines »verqueren« inneren Zustandes machen oder umgekehrt politisch falsches Verhalten als »adjusted« (was es ja auch sein kann) darstellen: So wie die bürgerliche Presse in abgefeimter Manier sich der von der bürgerlichen Gesellschaft selbst geschaffenen Konsequenzen bedient zur Denunziation gerade derjenigen, die damit zurechtkommen müssen422, denn noch sind sie nicht der Psychologie liebste Versuchspersonen: M.N.A. 423 . Literatur Ach, N., Über die Willenstätigkeit und das Denken, Göttingen 1905. Adorno, Th. W., »Soziologie und empirische ForschungA propos de la mesure de l'intelligenceZur Gesdiidite der Psychologie^ In:

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