Janusz Korczak Sämtliche Werke: Band 16 Themen seines Lebens. Kalendarium: Werk-Biographie
 9783641247843

Table of contents :
Inhalt
Einführung
Geburt und Herkunft: 1878 (79?)
1. Erinnerungen an die Kindheit: 1878–1890
2. Gymnasialzeit: 1891–1898
3. Die Studentenzeit: 1898–1905
4. Kinderarzt und Publizist: 1905–1912
5. Gründer einer Kinderrepublik: 1912–1913
6. Ein »poetischer Pädagoge«: 1913–1914
7. Die Zeit des Ersten Weltkrieges: 1914–1918
8. Konturierung des Erziehungsmodells: 1918–1920
9. Allein mit Gott: 1920–1921
10. Erzieher der ErzieherInnen: 1921ff
11. Reformator der Kinderliteratur und Kinderpresse: 1923–1926ff
12. Mahner und Forscher: 1926–1933
13. Zeiten des Zweifelns und der Depression: 1933–1938
14. Zeiten der Reflexion: 1938–1939
15. Kämpfer in Zeiten des Krieges: 1939–1942
16. Autor des Ghetto-Tagebuches: 1942
Sach- und Titelregister
Namenregister
Bibliographische Angaben zu Janusz Korczak: Sämtliche Werke

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Janusz Korczak Sämtliche Werke Band 16

Janusz Korczak Sämtliche Werke

Ediert von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth †

Gütersloher Verlagshaus

Janusz Korczak Sämtliche Werke Band 16

THEMEN SEINES LEBENS KALENDARIUM: WERK-BIOGRAPHIE

Erarbeitet von Friedhelm Beiner

Gütersloher Verlagshaus 2010

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Dieses Buch folgt der reformierten deutschen Rechtschreibung

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Janusz Korczak und Stefania Wilczyńska Anfang der 30er-Jahre (Bild im Korczak-Archiv, Israel)

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Inhalt Einführung 13 Geburt und Herkunft: 1878 (79?) 15 1. Erinnerungen an die Kindheit: 1878–1890 17 1.1 Vorschulzeit (1878–1885) 17 1.2 Grundschulzeit (1885–1890) 19

2. Gymnasialzeit: 1891–1898 21 2.1 Beichte eines Schmetterlings (1892ff) 21 2.2 Mein letztes Gedicht (1893) 22 2.3 »Die Welt reformieren heißt …« (1894/95) 23 2.4 Der Gordische Knoten (1896) 24 2.5 Tod des Vaters (1896) 25 2.6 Frühling (1897) 25 2.7 Wohin? (1898) 26

3. Die Studentenzeit: 1898–1905 28 3.1 Die Schweizreise (1898) 31 3.2 Im Dienste der Volksbildung (1898/99) 32 3.3 Die Auszeichnung (1899) 32 3.4 Das pädagogische Credo (1899) 33 3.5 Kinder und Erziehung (1900) 33 3.6 Sozialpädagogisches Engagement (1900/01) 34 3.7 Kinder der Straße (1901) 36 3.8 Didaktische Ambitionen (1902) 36 3.9 Ein umtriebiger Student (1902) 38 3.10 Meine weisen Gedanken (1903) 41 3.11 In einer Sommerkolonie (1904) 41 3.12 Zusammenarbeit mit der Gruppe um Głos (1904/05) 44 3.13 Die Promotion (1905) 45

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Inhalt

4. Kinderarzt und Publizist: 1905–1912 47 4.1 Stationsarzt im Berson-Bauman-Spital (1905ff) 47 4.2 Staat und Schule (1905) 48 4.3 Zur Judenfrage (1905) 49 4.4 Intermezzo im russisch-japanischen Krieg (1905/06) 49 4.5 Kritik an der Gesellschaft (1906) 50 4.6 Zum polnischen Gesundheitssystem (1906) 51 4.7 Kind des Salons (1906) 53 4.8 Ein gefragter Arzt und Redner (1906) 56 4.9 Die Schule des Lebens (1907) 58 4.10 Der Reformpädagoge 60 4.11 Die Sommerkolonie als erzieherische Herausforderung (1907) 62 4.12 Fortbildung in Berlin (1907/08) 65 4.13 »Sympatisant des Sozialismus« (1908) 66 4.14 Bilder aus dem Spital (1908/09) 67 4.15 Vorstandsmitglied der Gesellschaft »Hilfe für Waisen« (1909) 68 4.16 Fortbildung in Paris (1909) 70 4.17 Der kleine Schrei im großen Lesesaal (1909) 70 4.18 Politisch nicht erwünscht (1909) 72 4.19 Der Pädiater (1909/10) 73 4.20 Die ersten Kinderbücher (1909/10) 75 4.21 Planungen für ein »Haus der Waisen« (1910) 77 4.22 Juden und Nicht-Juden in Polen (1910) 78 4.23 Das Recht des Kindes auf Fürsorge (1911) 79 4.24 Grundsteinlegung in der Krochmalna-Straße (1911) 80 4.25 Studienaufenthalt in London (1911) 80 4.26 Die Lebensentscheidung für den Dienst am Waisenkind (1911) 81

5. Gründer einer Kinderrepublik: 1912–1913 84 5.1 Ruhm (1912) 85 5.2 Zur Eröffnung des Dom Sierot (1913) 85 5.3 Erste Schritte demokratischer Organisation (1913) 87

6. Ein »poetischer Pädagoge«: 1913–1914 91 6.1 Aus der Pespektive von Kindern (1913) 92 6.2 Gebet (1914) 97

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7. Die Zeit des Ersten Weltkriegs: 1914–1918 100 7.1 Bei polnischen Kindern in Kiew (1915) 100 7.2 »Wenn jemand fragt, wieviel 2 x 2 ist …« (1916) 101 7.3 Beobachtungsstudien am Rande des Krieges (1917/18) 102 7.4 Aus dem Krieg (1918) 103 7.5 Was auf der Welt passiert (1918) 106

8. Konturierung des Erziehungsmodells: 1918–1920 109 8.1 Die Grundrechte des Kindes (1918) 110 8.2 Erziehungsdiagnostik (1919) 115 8.3 Bildungsberater in der Zweiten Polnischen Republik (1919) 117 8.4 Berichte über das Dom Sierot (1919) 119 8.5 Die Eröffnung eines zweiten Waisenhauses (1919) 120 8.6 Die Zeitung des Nasz Dom (1919) 121 8.7 Die Erziehungs-Tetralogie: Wie liebt man ein Kind (1920) 122 8.8 Institutionen der Selbstverwaltung (1920) 130 8.9 Das Recht auf Anklage und das Gericht (1920) 135 8.10 Die »konstitutionelle« Funktion des Gerichts (1920) 139 8.11 Prinzipien und gesellschaftspolitische Bedeutung 140

9. Allein mit Gott: 1920–1921 143 9.1 Tod der Mutter (1920) 143 9.2 Gebet eines Erziehers (1921) 145 9.3 Die Frage nach der Religion 145

10. Erzieher der ErzieherInnen: 1921ff 152 10.1 In der Kolonie »Różyczka« (1921) 152 10.2 Der Frühling und das Kind und Über die Schulzeitung (1921) 153 10.3 Ausbildung von Kindergärtnerinnen (1922ff) 156 10.4 ErzieherInnen-Ausbildung in der Burse (1923ff) 157

11. Reformator der Kinderliteratur und Kinderpresse: 1923–1926ff 161 11.1 Die König-Maciuś-Erzählungen (1923) 161 11.2 Der Bankrott des kleinen Jack (1924) 164 11.3 Wenn ich wieder klein bin (1925) 164 11.4 Texte für die jüdische Bevölkerungsgruppe (1925) 166 11.5 Unverschämt kurz (1926) 169 11.6 Kleine Rundschau (1926ff) 169

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12. Mahner und Forscher: 1926–1933 175 12.1 Worauf kommt es bei der Erziehung an? (1926–1928) 175 12.2 Öffentliche Anpragerung der Missachtung des Kindes (1929) 178 12.3 Das Recht des Kindes auf Achtung (1929) 181 12.4 Lebensregeln (1929) 184 12.5 Vorlesungen an Hochschulen (1929ff) 189 12.6 Erste Arbeiten für den Rundfunk (1930/31) 191 12.7 Senat der Verrückten (1931) 192 12.8 Die Selbstverwaltung in der Kritik? (1932) 194 12.9 Die Erforschung von Zuneigung und Abneigung (1933) 195 12.10 Kajtuś, der Zauberer (1933) 198

13. Zeiten des Zweifelns und der Depression: 1933–1938 201 13.1 »Der Horizont hat sich verdüstert« (1933) 202 13.2 Korczak wohnt außerhalb des Dom Sierot (1933ff) 203 13.3 Kritik an der Pädagogik (1934) 204 13.4 Reisepläne (1934) 205 13.5 Erste Reise nach Palästina (1934) 206 13.6 Wer kann Erzieher werden? (1934) 207 13.7 Der erste Brief (1934) 208 13.8 Zurück in Warschau (1934) 211 13.9 Der »Alte Doktor« im Radio (1934/35) 212 13.10 Zweite Reise nach Palästina (1936) 215 13.11 Bruch mit dem Rundfunk und mit dem Nasz Dom (1936) 218 13.12 Depressionen und Bilanzen (1937) 218 13.13 Illusionen (1937) 221 13.14 Sorge um die »unbehauste Menschheit« (1937) 221 13.15 Über die Rettung der Kinder (1937) 223 13.16 Das Leben des Louis Pasteur (1938) 224 13.17 Stefania Wilczyńska in Palästina (1938) 225 13.18 Palästinensischer Besuch in der Złota-Str. 8 (1938) 225

14. Zeiten der Reflexion: 1938–1939 230 14.1 Über die Einsamkeit (1938) 230 14.2 Die Menschen sind gut (1938) 234 14.3 Reflexionen (1938) 236 14.4 Esterkas Geheimnis (1938) 238

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14.5 Erziehungskunst (1938) 239 14.6 Kinder der Bibel: Mose (1939) 240 14.7 Drei Reisen Herscheks (1939) 241 14.8 Pädagogik mit Augenzwinkern (1939) 242

15. Kämpfer in Zeiten des Krieges: 1939–1942 246 15.1 Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges (1939) 246 15.2 Erstes Okkupationsjahr – noch in der Krochmalna-Str. (1939/40) 246 15.3 Zweites Okkupationsjahr – in der Chłodna-Str. (1940/41) 250 15.4 Drittes Okkupationsjahr – in der Sienna-/Śliska-Str. (1941/42) 253 15.5 Beständigkeit der pädagogischen Arbeit (1941/42) 254 15.6 Einsatz für Kinder außerhalb des Dom Sierot (1942) 255 15.7 Curriculum vitae (1942) 257

16. Autor des Ghetto-Tagebuches: 1942 260 Sach- und Titelregister 270 Namenregister 285 Bibliographische Angaben zu Janusz Korczak: Sämtliche Werke 288

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Einführung Das in den Bänden 1 bis 15 der Sämtlichen Werke veröffentlichte Gesamtwerk des Janusz Korczak alias Henryk Goldszmit ist in einem großen Zeitraum entstanden (1892 bis 1942) und hat natürlich enge biographische Bezüge, ohne die es nur schwer zu verstehen und zu würdigen ist. In Band 16 wird darum beschrieben, in welchen Lebensabschnitten welche Themen entwickelt wurden und worauf sie im Kern abzielen. Die Darstellung ist kalendarisch geordnet, so dass mit der Entfaltung der Themen seines Lebens zugleich eine Art Werk-Biographie Korczaks entsteht. In sechzehn Kapiteln, die sechzehn Lebensabschnitten mit je speziellen Arbeitsschwerpunkten gewidmet sind, werden die Breite und Tiefe des Korczak’schen Denkens und Handelns nachgezeichnet: Angefangen von Erinnerungen an die Kindheits- und Jugendjahre, über die Werkanfänge in der Studentenzeit, hin zur Tätigkeit als Kinderarzt und Publizist; über den Wechsel zur Pädagogik, hin zur Gründung einer Kinderrepublik; vom Einsatz als Lazarett-Arzt im Ersten Weltkrieg bis zu Zeiten, in denen er sich »Allein mit Gott« fühlte; von der Konturierung eines eigenen Erziehungsmodells bis hin zur Reformierung der Kinderliteratur; über Zeiten des öffentlichen Mahnens und Forschens, des Zweifelns, der Depression und des Reflektierens über Einsamkeit und Heiterkeit; bis er schließlich zum Kämpfer für das Überleben der Kinder im Warschauer Ghetto und zum Verfasser des letzten Tagebuchs wird, das er am 4. August 1942 jäh abbrechen muss, weil die Nazi-Schergen ihn und seine Kinder in die Todeswaggons nach Treblinka treiben. Band 16 enthält – in enger Anlehnung an die Bände 1–15 und authentische Dokumente und Zeitzeugenberichte – eine biographisch gegliederte und fachwissenschaftlich bearbeitete Zusammenfassung des gesellschaftskritischen und reformpädagogischen Gesamtwerks Korczaks, das er in 24 Büchern und über 1000 Fachartikeln in einem Zeitraum von 50 Jahren verfasste und zum größten Teil zu seinen Lebzeiten publizierte. Der unveröffentlichte Nachlass ist in das Gesamtwerk integriert. Zur Erleichterung des Zugriffs auf einzelne Titel, Begriffe oder Lebensereignisse enthält Band 16 ein ausführliches Register. Mit dem vorliegenden Band wird (international) die erste vollständige, kritisch kommentierte und biographisch strukturierte Gesamtausgabe der

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Einführung

Werke Janusz Korczaks, eines der größten Pädagogen und Humanisten des zwanzigsten Jahrhunderts, zum Abschluss gebracht und der Öffentlichkeit übergeben. Im Mai 2010

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Für die Herausgeber und Bearbeiter Friedhelm Beiner

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Geburt und Herkunft: 1878 (79?) Aufgrund der fast vollständigen Vernichtung des polnischen Judentums und der Niederbrennung und Zerstörung von Korczaks Geburtsstadt Warschau durch die Nazis gibt es keine Dokumente über die Geburt und Namensgebung des Henryk Goldszmit; es gibt lediglich einige Selbstzeugnisse in seinen Schriften, die den Anfang des Lebensweges des späteren Arztes, Erziehers und Poeten ein wenig erhellen: So findet sich in seinem letzten Typoskript, dem Pamiętnik, was mit »Tage- oder Erinnerungsbuch«1 übersetzt werden kann, unter dem Datum 21. Juli 1942 die Notiz: »Morgen werde ich dreiundsechzig oder vierundsechzig. Mein Vater ließ für mich mehrere Jahre keine Geburtsurkunde ausstellen.« Korczaks Geburtstag ist demnach der 22. Juli des Jahres 1878 oder 1879. Und zu seinem Vornamen erläutert er im selben Text: »Ich bin nach meinem Großvater benannt, und Großvater hieß mit Vornamen Hersz (Hirsz). Mein Vater hatte das Recht, mich Henryk2 zu nennen, denn selbst hatte er den Namen Józef 3 erhalten.«4 Und dank der Recherchen der Warschauer Korczak-Forscherin Maria Falkowska5 wissen wir auch etwas über seine Herkunft: Henryks Vater, Józef Goldszmit (1846–1896), ist ein angesehener, gut verdienender Rechtsanwalt. Mit einer Arbeit zum Scheidungsrecht, einigen literarischen Texten sowie Appellen an polnische Juden trat er öffentlich in Erscheinung. Obwohl selbst als Mitglied der jüdischen Religionsgemeinschaft aufgewachsen, fördert er als Anhänger der Aufklärungsbewegung »Haskala« die Integration der jüdischen Bevölkerung in die polnische Kultur und Gesellschaft; so plädierte er beispielsweise an die orthodoxen Juden, ihre 1. Das Pamiętnik ist sowohl ein Tage- als auch ein Erinnerungsbuch. Es wurde als Typoskript von Korczaks engstem, nicht-jüdischen Mitarbeiter Igor Newerly aus dem Warschauer Ghetto »geschmuggelt«, im Waisenhaus für nicht-jüdische Kinder in Bielany eingemauert und nach dem Krieg aus dem Versteck geholt und veröffentlicht. 2. Henryk ist die polnische Namensvariante zum jiddischen Hersz, Diminutivform: Hirsz. 3. Józef ist die polnische Variante zum jiddischen Josef. 4. Zitiert nach: Korczak, Janusz: Sämtliche Werke (künftig abgekürzt mit: SW). Nähere bibliographische Angaben zu allen Bänden der Sämtlichen Werke: s. S. 288. 5. Vgl. Falkowska, Maria: Kalendarz życia, działalności i twórczości Janusza Korczaka (Kalendarium über Leben, Werk und Tätigkeiten Janusz Korczaks), Warszawa 1989, S. 25ff.

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Geburt und Herkunft: 1878 (79?)

Kinder verstärkt in weltliche Bildungsinstitutionen (Kindergärten u. ä.) zu schicken.6 Henryks Mutter, Cecylia Goldszmit (1857–1920), ist eine gebürtige Gębicka. Sie steht dem Familienhaushalt vor, in welchem es eine Köchin, eine Putzfrau und ein Kindermädchen gibt. Henryk hat eine vier Jahre ältere Schwester; sie heißt Anna. Henryks Großvater, Hersz Goldszmit (1804–1872), war Chirurg. Er und seine Frau Chana Goldszmit (1806–1867) lebten als sozialpolitisch engagierte Bürger in Hrubieszów (unweit Lublin). Während ihr ältester Sohn Ludwik 18jährig zum Christentum konvertierte, setzten ihre beiden anderen Söhne, Jakub und Józef (Henryks Vater), die Bestrebungen ihrer Eltern für eine Verständigung zwischen dem christlichen und dem jüdischen Teil der polnischen Gesellschaft fort. Urgroßvater Goldszmit war Glaser. Henryks Großvater, Józef Adolf Gębicki (1826–1877), war erfolgreicher und angesehener Kaufmann in Kalisz. Seine Frau Emilia (Mina) Gębicka (geb. 1830) lebt seit dem Tod ihres Mannes in der Familie ihrer Tochter Cecylia, Henryks Mutter. Sie und ihr Enkel Henryk haben ein herzliches Verhältnis miteinander. Urgroßvater Gębicki promovierte 1808 an der Erfurter medizinischen Fakultät.

6. Vgl. Goldszmit, Józef: O koniecznej potrzebie ochrony dla chlopców mojzeszowego wyzanania w Warszawie (Über die unbedingte Notwendigkeit des Schutzes für die Jungen mosaischer Konfession in Warschau). In: Izraelita 1866, Nr. 24, S. 206. In derselben Zeitschrift ruft er 1869 (Nr. 34, S. 285) dazu auf, »weltliche Kinderhorte« einzurichten.

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1. Erinnerungen an die Kindheit: 1878–1890 1.1 Vorschulzeit (1878–1885) In einem Glückwunschbrief des erwachsenen Korczaks an einen neuen Erdenbürger lesen wir: »So viele Papiere sind mir abhanden gekommen, aber den Brief eines Rabbiners, der mich gesegnet hat, als ich geboren wurde, den habe ich noch.«1 Und in dem schon erwähnten Pamiętnik finden wir seine Erinnerungen an die Kindheit: »Nicht umsonst hat mich Vater in meiner Kindheit eine Schlafmütze und einen Trottel genannt und in stürmischen Augenblicken sogar einen Esel und Idioten. Allein die Großmutter hat an meinen Stern geglaubt. Sonst aber – war ich ein Faulpelz, eine Heulsuse, ein Tölpel … und zu nichts zu gebrauchen. … Großmutter gab mir Rosinen und sagte: ›Du Philosoph‹. Angeblich gestand ich dem Großmütterchen schon damals in einem vertrauten Gespräch meinen kühnen Plan zur Umgestaltung der Welt. … Ich war damals fünf und das Problem beschämend schwer: Was tun, damit es keine schmutzigen, zerlumpten und hungrigen Kinder mehr gibt, mit denen ich nicht spielen darf, im Hof, wo unterm Kastanienbaum, in einer blechernen Bonbonbüchse, in Watte eingepackt, mein erster mir nahe stehender und geliebter Toter beerdigt liegt, wenn auch nur ein Kanarienvogel. Sein Tod warf die geheimnisvolle Frage nach der Konfession auf. Ich wollte ein Kreuz auf sein Grab stellen. Das Dienstmädchen sagte, nein, das sei ein Vogel, etwas sehr viel Niedrigeres als ein Mensch. Sogar zu weinen sei Sünde. Soweit das Dienstmädchen. Schlimmer freilich war, dass der Sohn des Hausmeisters befand, der Kanarienvogel sei Jude. Und ich. Ich sei auch Jude, er aber sei Pole, Katholik. Er im Paradies, ich hingegen würde, sofern ich keine unanständigen Ausdrücke gebrauchte und daheim Zucker stähle, den ich ihm gehorsam brächte – nach meinem Tod in etwas kommen, das zwar nicht die Hölle sei, aber es sei dort finster. Und ich hatte Angst in einem dunklen Zimmer. Der Tod. – Der Jude. – Die Hölle. Das schwarze jüdische Paradies. – Übergenug, um mir Gedanken zu machen.«2 Wie andere über ihn denken, ergibt sich aus Unterhaltungen der Erwachsenen: »Ich war ein Kind, das ›sich stundenlang mit sich allein beschäftigen kann‹, bei dem ›man nicht merkt, dass ein Kind im Hause ist‹. Klötze (Bausteinchen) bekam ich mit sechs Jahren; ich hörte auf, damit zu spielen, als ich vierzehn war. 1. Brief an Dan Golding, in: SW, Bd. 15, S.31. 2. Ebd., S. 301f.

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1. Erinnerungen an die Kindheit: 1878–1890

›Schämst du dich nicht? So ein großer Junge. – Nimm dir doch was vor. – Lies. – Bauklötze – ausgerechnet …‹ Meine Mutter pflegte zu sagen: ›Dieser Junge hat keinen Ehrgeiz. Ihm ist egal, was er isst, wie er sich kleidet, ob er mit einem Kind aus seinen Kreisen spielt oder mit den Hausmeisterkindern. Er schämt sich nicht, mit Kleinen zu spielen.‹ Ich befragte meine Bausteine, andere Kinder, Erwachsene, was sie seien. Ich machte mein Spielzeug nicht kaputt, es interessierte mich nicht, warum die Puppe im Liegen die Augen geschlossen hatte. Nicht der Mechanismus, sondern das Wesen der Sache – die Sache an sich.«3 Das Verhältnis zu seinem Vater beschreibt der erwachsene Korczak rückblickend sehr lebendig: »Zu Recht vertraute Mama die Kinder der Obhut des Vaters nur ungern an, und zu Recht begrüßten wir – meine Schwester und ich – mit schauderndem Entzücken und stürmischer Freude selbst die übermütigsten, anstrengendsten, die unausgegorensten und in ihren Folgen beklagenswertesten ›Überraschungen‹, die Papa, dieser nicht sonderlich solide Pädagoge, mit einer überaus eigentümlichen Intuition für uns erfand, und wir vergaßen sie nie. Er zog uns an den Ohren, dass es schmerzte, trotz strengster Kritik von Seiten der Mama und der Großmama. ›Wenn das Kind taub wird, hast du es dir zuzuschreiben.‹ … Ich erinnere mich, dass ich meinen Schal verlor. Und ich erinnere mich, dass Vater, als ich noch am dritten Tag im Bett lag, auf mich zukam und Mama ihn streng zurechtwies: ›Du hast kalte Hände. Geh nicht zu ihm.‹ Vater verließ fügsam das Zimmer und warf mir im Hinausgehen einen verschwörerischen Blick zu. Ich antwortete ihm mit einem verstohlen schalkhaften Blick, der etwa besagte: ›Alles in Ordnung.‹ Ich glaube, wir fühlten beide, dass letztlich nicht sie – Mama, Großmama, die Köchin, meine Schwester, das Dienstmädchen und Fräulein Maria (für die Kinder) – diesen ganzen Weiberzwinger regierten, sondern wir, die Männer. ›Wir sind die Herren im Haus. Wir geben nach um des lieben Friedens willen.‹«4 Zusammen mit seinem Vater macht Henryk aber auch beängstigende Erfahrungen, beispielsweise das Kennenlernen des Teufels in einem Kindertheater: »Im Saal war es unerträglich heiß. Die Vorbereitungen zogen sich schier unendlich in die Länge. Die Geräusche hinter dem Vorhang hielten uns in einer Anspannung, die jedes den Nerven erträgliche Maß überstieg. Die Lampen schwelten. Die Kinder drängelten. ›Rutsch weiter!‹ ›Nimm deine Hand da weg!‹ ›Tu dein Bein zur Seite.‹ ›Fläz dich nicht auf mich.‹ Klingeln. Eine Ewigkeit lang. Klingeln. Solche Gefühle hat ein Pilot unter 3. Ebd., S. 364f. 4. Ebd., S. 318ff.

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1.2 Grundschulzeit (1885–1890)

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Beschuss, der selbst alles schon verschossen, nichts mehr zu seiner Verteidigung hat, aber dem die wichtigste Aufgabe noch bevorsteht. – Es gibt kein Zurück, und er hat keinen Wunsch, keine Lust, keinen Gedanken mehr an eine Umkehr. Ich glaube nicht, dass der Vergleich fehl am Platz ist. Es begann. Etwas Einmaliges, Einzigartiges, Endgültiges. An die Menschen erinnere ich mich nicht. Ich weiß nicht einmal mehr, ob der Teufel rot war oder schwarz. Wohl eher schwarz, er hatte einen Schwanz und Hörner. Keine Puppe. Ein leibhaftiger. Kein verkleidetes Kind. Ein verkleidetes Kind? An solcher Art Ammenmärchen können nur die Erwachsenen glauben. Der König Herodes in eigener Person sagt ja zu ihm: ›Satan!‹ Und so ein Gelächter und solche Sprünge und so ein echter Schwanz und so ein ›Nein‹ und so eine Ofengabel und so ein ›Komm mit mir‹ habe ich nie mehr gesehen, nie mehr gehört, und ein Ahnen, wenn es nun wahr ist, dass es die Hölle wirklich gibt.«5 Trotz aller problematischen und aufregenden Erlebnisse in der Kindheit erfährt der kleine Henryk aber in seiner Familie doch auch viel Zuwendung und Selbstbestätigung, so dass er sein erstes Lebensjahrsiebt später sehr positiv resümieren kann: »Wenn ich mein Leben zurückverfolge, dann gab mir das siebte Jahr das Gefühl für den eigenen Wert. Ich bin. Ich habe ein Gewicht. Eine Bedeutung. Man sieht mich. Ich kann. Ich werde.«6

1.2 Grundschulzeit (1885–1890) Mit 7 oder 8 Jahren beginnt für Henryk die Schulzeit, über die es ebenfalls keine Dokumente gibt, und noch weniger Selbstzeugnisse als über die Vorschulzeit. Mit der Grundschule wird er aber lebenslang keine guten Erinnerungen verbinden: »In der Freta-Straße gab es noch die Schule von Szmurlo. – Dort bekam man die Rute.«7 »Als ich acht Jahre alt war, da ging ich in diese Schule. Das war meine erste Elementarschule, sie hieß – vorbereitende Schule. Ich kann mich daran erinnern, dass ein Junge damals Prügel gekriegt hat. Der Kaligraphielehrer schlug ihn. Ich weiß nur nicht, ob der Lehrer Koch hieß, und der Schüler Nowacki, oder der Schüler Koch, und der Lehrer Nowacki. Ich hatte damals grässliche Angst. Ich hatte so das Gefühl, dass, wenn man mit Nowacki fertig ist, könnte man mich fassen. Und ich schämte mich furchtbar, weil man ihn nackt schlug. Alles hatte man ihm aufgeknöpft. Und vor der ganzen Klasse, anstatt der Kaligraphie. …«8 5. 6 7. 8.

Ebd., S, 318. Ebd., S. 344. Ebd., S. 319. SW, Bd. 11, S. 436. Der zitierte Text stammt von Newerly, er stimmt im Wesentlichen

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1. Erinnerungen an die Kindheit: 1878–1890

»Überhaupt waren zu meiner Zeit die Schulen nicht gut. Streng ging es dort zu und langweilig. Nichts haben sie erlaubt. So fremd war es dort, kalt und stickig; wenn ich später davon träumte, wachte ich immer schweißgebadet auf und immer glücklich, weil es ein Traum war, nicht Wirklichkeit.«9 Das einzige Foto aus Henryk Goldszmits Grundschulzeit wird der Kinderbuchautor Janusz Korczak später in seinem berühmten Kinderbuch König Maciuś der Erste10 veröffentlichen:

mit der Aussage des Protagonisten in Korczaks Buch Wenn ich wieder klein bin überein (SW, Bd. 3, S. 154); und dass es sich bei diesem Text im Kern um Erinnerungen Korczaks aus seiner Kindheit handelt, bestätigt er in einem späteren Interview: »Immer mehr lebte ich mich in die Kinder ein, lernte ich, sie zu verstehen … Schließlich konnte ich eigene Erinnerungen auffrischen, also schrieb ich ein Buch mit dem Titel Wenn ich wieder klein bin. (SW, Bd. 14, S. 552) 9. Wenn ich wieder klein bin, in: SW, Bd. 3, S. 153. 10. SW, Bd. 11, S. 8.

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2. Gymnasialzeit: 1891–1898 Wahrscheinlich ab dem Jahr 1891 besucht Henryk das humanistische Gymnasium im Warschauer Stadtteil Praga.1 Mit Ausnahme der Religionsstunden müssen auf den Gymnasien Warschaus alle Fächer auf Russisch unterrichtet werden.2 Henryk erfährt nun am eigenen Leibe, was schon Dostojewski und Tschechow bemerkt hatten, nämlich, dass die russische Schule »auf einer seltenen Vereinigung von Unbildung, geistloser Stoffanhäufung und Drill« beruht.3 In seiner Gymnasialzeit führt Henryk Goldszmit sein erstes Tagebuch, das er als Erwachsener unter dem Titel Beichte eines Schmetterlings veröffentlichen wird. Dank dieser Beichte bleibt uns das Erleben des Jugendlichen Henryk nicht ganz verborgen.

2.1 Beichte eines Schmetterlings (1892ff) Die Aufzeichnungen beginnen am 1. April (wahrscheinlich im Jahr 1892): »Ich habe Zosia wiedergesehen. Ich liebe sie aufs Neue. Diese unglückliche Liebe und der Tod der teuren Großmama haben bewirkt, dass ich nicht weiß, was mit mir geschieht. Ich leide, aber ich lästere nicht.«4 Frustrationen, aufwühlende Erlebnisse und jugendliche Träume vertraut Henryk ab dem 1. April diesem Tagebuch an. Zosia, zu der er eine »reine und jungfräuliche Liebe« empfindet, erscheint ihm allerdings schon bald als »etwas Unerreichbares, Imaginäres«.5 Später wird er ihr in seinem Buch Kajtuś, der Zaubere, ein Denkmal setzen.6 Vorerst verlagert er seine Interessen und setzt sich eine ehrgeizige Lebensaufgabe: »Die Natur erforschen, den Menschen nützlich sein, den Landsleuten zur 1. Vgl. Falkowska, Maria: Kalendarz …, a. a. O., S. 39. 2. Polen war seit 1772 in drei Gebiete aufgeteilt, die von Russland, Österreich und Preußen in zunehmendem Maße beherrscht wurden. Warschau gehörte zu dem von Russland annektierten Gebiet, in dem nach einem Aufstand von 1862/63 eine planmäßige Russifizierung einsetzte. 3. Zitiert nach Roos, Hans: Einführung. In Korczak, Janusz: Begegnungen und Erfahrungen. Göttingen 1973, S. 25. 4. SW, Bd. 3, S. 61. Da Henryks Großmutter am 2. März 1892 verstarb und Korczak im Jahr 1901 erwähnt, dass er seit zehn Jahren Tagebuch schreibe (SW, Bd. 6, S. 324), darf man davon ausgehen, dass sich das Datum 1. April auf das Jahr 1892 bezieht. (Der letzte Eintrag erfolgt dann unter dem Datum 27. Juni [1895].) 5. Ebd., S. 63f. 6. SW, Bd. 12, S. 173ff.

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2. Gymnasialzeit: 1891–1898

Ehre gereichen – das ist das erhabene Lebensziel. So oder überhaupt nicht leben.« Folgerichtig konzentriert er sich auf den Erwerb von Wissen und auf weitere Reflexionen über seinen Werdegang. Er wünscht sich, Unsterbliches zu vollbringen, fühlt sich mit seinem Wunsch jedoch von niemandem verstanden. Begeistert von den polnischen Klassikern der Literatur träumt er davon, selbst ein erfolgreicher Schriftsteller zu sein: »Erst in der letzten Zeit ist in mir der Geist des Strebens nach einer höheren Idee, schöneren Neigungen erwacht. Ich bin jetzt 14. Bin ein Mensch geworden – weiß, denke. So ist es: cogito ergo sum. Ach, wie schwer war das Leben genialer Menschen; Menschen, die nicht verstanden wurden, deren Verstand ihrer Zeit weit vorauseilte. Ich fühle mich von der Vorsehung inspiriert, etwas Großes, Unsterbliches zu vollbringen. Wenn der Tod nicht meinen Lebensfaden durchschneidet, werde ich berühmt. Werde ich es!?«7 Im Pamiętnik erinnert er sich, dass die Gedanken des Vierzehnjährigen in verschiedene Richtungen gingen: »Erstes Nachdenken über erzieherische Reformen. – Ich lese. – Erstes Suchen und Sehnen. – Mal Reisen und stürmische Abenteuer, ein andermal ein zurückgezogenes Familienleben, die Freundschaft (Liebe) mit Stach. Der oberste Traum unter vielen: er Priester, ich Arzt in jenem kleinen Städtchen. Ich denke über Liebe nach, bisher habe ich nur gefühlt, geliebt.« Jetzt aber geht es tiefer und weiter: »Die interessante Welt ist nicht mehr außerhalb meiner. Jetzt ist sie in mir. – Ich bin nicht dazu da, geliebt und bewundert zu werden, sondern um zu handeln und zu lieben. Es ist nicht Pflicht meiner Umgebung, mir zu helfen, sondern ich habe die Pflicht, mich um die Welt, um den Menschen zu kümmern.«8 »Als ich fünfzehn Jahre alt war, verfiel ich einer wahnsinnigen Lesewut. Die Welt verschwand vor meinen Augen, nur das Buch existierte … .«9 Auch als Gedichtschreiber versucht sich der jugendliche Henryk – allerdings mit mäßigem Erfolg, wie er sich selbst später erinnert:

2.2 Mein letztes Gedicht (1893) Vierzehn- oder fünfzehnjährig sucht er Aleksander Świętochowski, einen bekannten polnischen Positivisten und Redakteur der Zeitschrift Prawda, auf und trägt ihm sein »letztes Gedicht« vor. Fünfunddreißig Jahre später erinnert sich Janusz an den Auftritt: »Das Gedicht war lang und endete so: 7. Ebd., S. 65f. 8. SW, Bd. 15, S. 344f. 9. Ebd., S. 364.

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2.3 »Die Welt reformieren heißt …« (1894/95)

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Schon will ich nicht mehr wissen, träumen oder glauben. Erspart mir neue Enttäuschung, neue Prüfung, lasst mich sterben, lasst mich nicht mehr leben, statt des Lebens lasst das Grab mich finden. Er (Świętochowski) lächelte betrübt. ›Nun, wenn du unbedingt willst, kann man dich ja lassen.‹ … Ich hörte auf, Gedichte zu schreiben. Ich bin dankbar für die wohlwollende Kritik.«10

2.3 »Die Welt reformieren heißt …« (1894/95) Statt ans Gedichteschreiben denkt der Sechszehnjährige im Tagebuch (Beichte eines Schmetterlings) über eine notwendige Verbesserung der Welt und der Erziehung nach. Bekannte Reformer der Erziehung sind für ihn frühe Identifikationsmodelle: »Spencer, Pestalozzi, Fröbel usw. Einst wird auch mein Name in dieser Reihe stehen.«11 Seinen Mitschülern pädagogisch unter die Arme zu greifen macht ihm Freude und verweist ihn auf eine mögliche Berufung. Obwohl seine Familie auf das Geld angewiesen ist (es wird neuerdings für teure Klinikaufenthalte seines Vaters benötigt), hat Henryk Skrupel, sich seinen Nachhilfeunterricht bezahlen zu lassen: Am Ende der Sommerferien von 1894 notiert er: »In Warschau erwarten mich meine Nachhilfestunden. Die ideale Frau G., und wie sie dennoch zu feilschen versteht. Wie widerwärtig für mich. Ist es nicht eine Schande, Geld zu nehmen für die Erfüllung der erhabenen Berufung, die darin besteht, den Geist zu fördern, das Denken zu entwickeln – ich wiederhole – darf man für alleinige Pflichterfüllung Geld nehmen? Die kapitalistische Gesellschaftsordnung muss abgeschafft werden, ich weiß nur nicht wie.«12 Wie zum Beleg für seine Berufung bringt er 1895 seine erste pädagogische Erkenntnis zu Papier: »Die Welt reformieren heißt, die Erziehung reformieren …«13

10. 11. 12. 13.

Ebd., S. 393f. SW, Bd. 3, S. 103. Ebd., S. 106. Ebd., S. 115.

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2. Gymnasialzeit: 1891–1898

2.4 Der Gordische Knoten (1896) In der satirischen Wochenschrift Kolce (Stacheln) tritt er 1896 mit der Humoreske Der Gordische Knoten an die Öffentlichkeit und unterzeichnet den Text mit seinem ersten Kryptonym »Hen«. In der Redaktion dieser Zeitschrift wird sein Talent entdeckt und gefördert werden. Schon der erste Beitrag thematisiert Erziehungsfragen: »Bleich, zitternd, mit zerzausten Haaren ging ich durch die Welt. Zweifel und schreckliche Vorahnungen – mir blutete das Herz. Finde ich irgendwann eine Antwort auf die Frage, die mir das Hirn zermartert? … Plötzlich erblicke ich ihn. Ein grauhaariger Greis mit einem runzeligen Gesicht. Auf seinem Antlitz zeichnet sich majestätischer Ernst ab, er ist erleuchtet von der starken Kraft der Ausgeglichenheit, der Ergebenheit in sein Schicksal, der Versöhnung mit seinem Los. Ihn frage ich; möge er mir Antwort geben: ›Meister!‹, rief ich und vertrat ihm den Weg, ›sag mir, sage, ob eine Zeit kommen wird, wo die Frauen ihre Gedanken an Kleider, Moden und Spaziergänge verwerfen, wo die Väter ihre Fahrräder und ihre ›grünen Tische‹ in eine Ecke feuern und die Eltern die Erziehung ihrer Kinder in Angriff nehmen werden? …‹ Der Mond trat hinter den Wolken hervor und mir trat der kalte Schweiß auf die Stirn. Er aber erhob beide Hände zum Himmel und nach einer langen Weile des Schweigens begann er so: ›Menschenskind! Junger Mann! Ich lebe schon sehr viele Jahre auf dieser Welt und diese Augen, die bald der Schatten des Todes in Nebel hüllen wird – haben schon viel gesehen; und sie haben Wunder gesehen, wahre Wunder. – Dieses Jahrhundert ist das Jahrhundert der Träume. Vor meinen Augen wurde das Olivenöl durch Petroleum ersetzt, das Petroleum durch Gas, das Gas wurde mit dem Auernetz umhüllt, heute ist die Elektrizität beherrschend. … Das XIX. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Wunder. Denk nur, wie viele Erfindungen uns in den letzten Jahren begeistert haben, wie viele bedeutende Menschen uns mit ihrem Glanz geblendet haben … Ja, wir dürfen glauben, dass der lang ersehnte Augenblick naht, wo die Mütter anstelle der ›allerneuesten Romane‹ irgendein pädagogisches Werk zur Hand nehmen, der Moment, wo die pädagogischen Bücher nicht mehr auf den Regalen der Buchhandlungen vermodern …‹ ›Meister, du hast den Gordischen Knoten durchschlagen, du hast das Problem gelöst, das wie ein Geier meine Eingeweide fraß. Aber sag, wann wird dieser gesegnete Augenblick eintreten?‹ ›Er wird kommen‹, gab er zur Antwort und hob die Hände zum Himmel. … Hätte ich vor einem Jahrhundert gelebt, so hätte ich meine Erzählung mit den Worten beendet: Der Alte verschwand. Oder: Er fiel auf die feuchte

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2.6 Frühling (1897)

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Erde, und als ich seine Hand berührte – war sie kalt. Er war tot. Aber ich mache einen anderen Schluss: Nach einer Weile trat der Alte auf mich zu und sagte: ›Ich bekomme drei Rubel.‹«14

2.5 Tod des Vaters (1896) Am 25. April 1896 stirbt Henryks Vater nach mehreren längeren Aufenthalten in einer Anstalt für Geisteskranke. Henryks Familie trauert um den Ehemann und Vater Józef Goldszmit und beerdigt ihn auf dem alten jüdischen Friedhof an der Warschauer Okopowa-Straße. Sein Grab ist dort erhalten geblieben. Auf dem Grabstein steht: Józef Goldszmit, Vereidigter Advokat; er durchlebte 50 Jahre, starb am 26. April 1896. Friede seiner Seele. Dem geliebten Ehemann und Vater. Die Ehefrau und die Kinder. Die Krankenhausaufenthalte Józef Goldszmits haben allmählich alle materiellen Ressourcen der Familie verschlungen. Ohne das Einkommen eines Geldverdieners steht die Familie nun vor dem finanziellen Ruin. Die wertvollen Möbel und Gemälde müssen im Pfandhaus veräußert werden, die Mutter bemüht sich um eine Beschäftigung und Henryk verstärkt seinen Einsatz als Nachhilfelehrer, um den Unterhalt der Familie zu sichern. In Korczaks Schriften erfährt man allerdings kaum etwas von seinen damaligen Entbehrungen. Interpretiert man jedoch das Kapitel »Reich – arm« in seinem späteren Buch Lebensregeln autobiographisch, so erfährt man: »Ich war reich, als ich noch klein war, später war ich arm, ich kenne also das eine wie das andere. Ich weiß, dass man so oder so anständig und gut, aber auch reich und sehr unglücklich sein kann.«15

2.6 Frühling (1897) Nach dem Tod des Vaters intensiviert der Gymnasiast neben der Nachhilfe seine Schreibtätigkeit und veröffentlicht bereits im Jahr 1897 zwanzig Feuilleton-Artikel in der Zeitschrift Kolce, für die der Text Frühling stellvertretend stehen mag: 14. SW, Bd. 2, S. 17ff. 15. SW, Bd. 3, S. 323.

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2. Gymnasialzeit: 1891–1898

»Ein kleiner Spatz flatterte von einem Kamin, drehte sich hierhin und dorthin und landete im Sächsischen Garten. Die Bäume waren mit frischen Blättern bedeckt, die Sonne schien warm. Dem Spätzchen war so wohl, so wohl. Es atmete tief ein, senkte das Köpfchen und rief aus: ›Frühling!‹ Das Hündchen entwischte aus dem Zimmer, schnupperte entlang der Hofmauer, bellte den Hauswirt, der vorbeiging, an, wedelte mit dem Schwanz und rief aus: ›Frühling!‹ Die Fliege schaute hinaus auf Gottes Welt. Sie rieb die verschlafenen Augen, reinigte die verstaubten Flügel und flog durchs offene Fenster auf die Straße. Dort war es warm und lustig. Die Fliege lächelte, setzte sich auf irgendein Dach, hob ihre beiden Vorderbeinchen und rief freudig aus: ›Frühling!‹ Aus seiner Wohnung kam die Krone der Schöpfung – der Mensch; er dachte an die Mieterhöhung, überlegte sich, ob er im selben Loch bleiben oder in ein anderes umziehen sollte. Und plötzlich hüpften ihm lustige Sonnenstrahlen direkt auf seine Nase und von der Nase in die Augen. Die Krone der Schöpfung, der Mensch, kniff die Augen zusammen, blickte nach der Sonne, seufzte betrübt und sagte: ›Jetzt fängt wieder dieser Kampf um Kleider und Hüte an!‹«16

2.7 Wohin? (1898) Nach seinen frühen Publikationserfolgen beteiligt sich der Gymnasiast an einem im Namen von Jan Ignacy Paderewski ausgeschrieben literarischen Wettbewerb und reicht ein Theaterstück mit vier Akten ein mit dem Titel: Wohin? (Którędy?) Als ihm beim Abschluss der Arbeit einfällt, dass ihm noch ein Pseudonym für die Autorenschaft fehlt, greift er zu seiner aktuellen Lektüre, der Geschichte von Janasz Korczak und der schönen Schwertfegerstochter vom polnischen Schriftstellers Kraszewski und unterzeichnet mit dem Namen des Titelhelden. In der Liste der 1899 beim Wettbewerb ausgezeichneten Arbeiten wird dann auch sein Stück erscheinen, allerdings – bedingt durch einen Druckfehler – nicht unter dem Namen Janasz, sondern Janusz Korczak. Das Stück ist nicht erhalten geblieben, aus der Beschreibung der Jury wissen wir aber, dass es sich um eine literarische Bearbeitung des Verlustes seines Vaters gehandelt haben dürfte. Die Tragödie des geisteskranken Vaters geht nämlich nicht spurlos am jungen Henryk vorüber, und sie wird ihn zeitlebens belasten. Noch als Vierundsechzigjähriger gesteht er: »Ich fürchtete mich panisch vor der Irrenanstalt, in die mein Vater mehrmals eingeliefert worden war. Also ich – der Sohn eines Umnachteten. Also erb16. SW, Bd. 2, S. 26f.

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2.7 Wohin? (1898)

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lich belastet. Jahrzehnte ist das her, und bis heute quält mich der Gedanke zeitweise.«17 Aber die literarische Beschäftigung mit der Krankheit seines Vaters hilft dem Halbwaisen, seinen Weg weiterzugehen. Auch spätere Schicksalsschläge wie den Tod seiner Mutter wird er literarisch bearbeiten, um darüber hinwegzukommen. Auch sein Theaterstück Senat der Verrückten – 1931 uraufgeführt – spielt in einer Anstalt für Geisteskranke und thematisiert depressive Zustände der Gesellschaft.18

17. SW, Bd. 15, S. 360. 18. SW, Bd. 5, S. 87ff.

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3. Die Studentenzeit: 1898–1905 Nach seinem Abitur beginnt Henryk Goldszmit im Studienjahr 1898/99 – trotz seiner schriftstellerischen Ambitionen – ein Studium der Medizin. Als Begründung für diese Studienwahl erklärte der Studiosus seinem Schul- und Jugendfreund Leon Rygier (1875–1948), mit dem er seine Leidenschaft fürs Schreiben teilt: »… der Schriftsteller soll, meiner Ansicht nach, den Ehrgeiz haben, die menschliche Seele nicht nur zu kennen, sondern sie auch zu heilen. Er sollte bestrebt sein, ein Erzieher zu werden, wie beispielsweise unser Prus. Ich wiederhole es, um Erzieher zu werden, muss man Diagnostiker sein. Die Medizin hat hier eine Menge zu sagen.«1 Auch in seinem Jugendtagebuch hatte er schon der Medizin den Vorrang vor der Literatur eingeräumt: »Ohnehin werde ich nicht Literat, sondern Arzt. Literatur – das ist das Wort, und die Medizin – das sind Taten.«2 In der unter russischer Verwaltung stehenden »Kaiserlichen Universität zu Warschau« schreibt er sich als Medizin-Student ein. Die Warschauer Hochschule ist keine Elite-Universität, worauf Korczaks Biographen schon früh hingewiesen haben: »Für den Werdegang des künftigen Pädagogen konnte die ›offizielle‹ Universität Warschau kaum Anregungen bieten. Die Professorenschaft dieser Universität war vielleicht in fachlicher Hinsicht tüchtig, in allen anderen Rücksichten jedoch – und vornehmlich in der Weite des geistigen Horizontes – mit Sicherheit die ärmste des Russischen Reiches. Übertriebenes Reglement und Schikanen prägten sie kaum weniger als das russische Gymnasium, und überdies stellte sie einen Verbannungsort für missliebige Professoren dar, die sich wegen ihrer geringen Qualifikation oder auch wegen politischer Unzuverlässigkeit mit der ihnen fremden Welt Warschaus abzufinden hatten und dort ihrerseits streng überwacht wurden. Immerhin blühte während der Studienzeit Korczaks in Warschau noch eine andere Hochschule, die illegale und konspirative ›Fliegende Universität‹, an der die bedeutendsten Gelehrten des damaligen Königreichs Polen lehrten, immer auf der Flucht vor der allmächtigen Gendarmerie, die alle Privatwohnungen nach ›heimlichem Unterricht‹ zu durchschnüffeln das Recht hatte. An dieser ›Fliegenden Universität‹ hatte auch die spätere Nobelpreisträgerin 1. Rygier, Leon: Janusz Korczak in jungen Jahren. In: Beiner, F./Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung von Zeitzeugen. Mitarbeiter, Kinder und Freunde berichten. Gütersloh 1999, S. 404. 2. SW, Bd. 3, S. 126.

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Die Studentenzeit: 1898–1905

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Maria Curie-Skłodowska ein Jahrzehnt zuvor entscheidende Impulse empfangen und gegeben.«3 An der Fliegenden Universität halten zu Henryk Goldszmits Zeiten »Gelehrte wie der bedeutendste polnische Soziologe Ludwik Krzywicki, der bekannte Geograph und Publizist Wacław Nałkowski, der Pädagoge Jan Władysław Dawid, der Philosoph Mahrburg, der Orientalist Radlinski und viele andere ihre Vorlesungen«.4 »Ohne wissenschaftliche Arbeitsstätte mit modernen Forschungsmitteln, ohne deren technische Bequemlichkeiten und deren Wechselbeziehungen von Versuchsreihen – dabei jedoch stark engagiert in aktuellen sozialen Fragen – tendieren sie alle zur Philosophie hin.«5 Ihre Fragen stellen sie auf einem weit gespannten Problemhintergrund, und sie bemühen sich um übergreifende Deutungen von Grenzbezirken der einzelnen Fachdisziplinen.6 Korczak studiert Anatomie und Bakteriologie bei Professor Edward Przewóski, Biologie bei Professor Nikolaj Nasonow und Psychatrie bei Professor Aleksander Szczerbakow.7 In seinem Gesuch, dem später zum Zwecke einer »Bewerbung« verfassten kurzen Lebenslauf, wird er einiges zu den Ergebnissen seiner akademischen Qualifizierung festhalten: »Ich halte mich für einen Eingeweihten auf den Gebieten der Medizin, der Erziehung, der Eugenik und der Politik.«8 Wobei das »Eingeweiht-Werden« in die Medizin und die Eugenik an der regulären Universität stattfindet, die Einführung in die Erziehung und Politik eher an der Fliegenden Universität. Darüber hinaus hebt Korczak im Gesuch seine Qualifizierung in der »Sozialarbeit« hervor: »Zur Sozialarbeit haben mich erzogen: Nałkowski, Straszewicz, Dawid, Prus … .«9 Des Weiteren betont er die Statistik: »Bücher über Statistik vertieften mein Verständnis des medizinischen Fachwissens. – Die Statistik vermittelt die Disziplin des logischen Denkens und der objektiven Einschätzung eines Faktums.«10 Und Statistik vertritt der schon erwähnte Soziologe Krzywicki, der – wie der Polenkenner Hans Roos herausstellt – als »erster das Kapital von Marx und einige Werke von Friedrich Engels ins Polnische übersetzte und dank seiner eigenen reichen wissen3. Roos, Hans: Janusz Korczak – Tradition, Umwelt und Zeitgeist. In: Korczak, Janusz: Das Recht des Kindes auf Achtung. Göttingen 1973, S. 364. 4. Newerly, Igor: Einleitung. In: Korczak, Janusz: Wie man ein Kind lieben soll. Göttingen 1967, S. XII. 5. Ebd., S. XX. 6. Vgl. Roos, Hans: Janusz Korczak – Tradition … , a. a. O., S. 366. 7. Vgl. SW, Bd. 15, S. 213. 8. Gesuch an das Personalbüro des Judenrats, in: ebd., S. 212. 9. Ebd., S. 214. 10. Ebd., S. 213.

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3. Die Studentenzeit: 1898–1905

schaftlichen Produktion geradezu als ›Nestor des polnischen Sozialismus‹ gelten kann … Von ihm lernte Korczak neben den theoretischen Grundfragen eines stets humanen Sozialismus die Methoden der empirischen Soziologie und der Statistik, die beide bis zuletzt konstitutive Elemente seiner Pädagogik darstellten.«11 Sicherlich wirken sich insbesondere die Atmosphäre und der Geist der Fliegenden Universität auf Korczaks Denken aus. Von hier geht eine nonkonformistische Stimmung aus, die in der Idee der sozialen Verantwortung mündet. Zeugnisse der Epoche und auch spätere biographische Studien betonen die befruchtende Rolle der Fliegenden Universität auf die damaligen Akademiker und ihre zu sozialen Aktivitäten ermunternde Funktion.12 Zu mehreren Hörern und Dozenten der Fliegenden Universität entwickelt der Student Henryk enge Beziehungen. So freundet er sich etwa mit dem Ethnographen und Sozialkritiker Ludwik Stanisław Liciński an, dem späteren Autor der Novelle Aus dem Tagebuch eines Herumtreibers.13 Mit ihm unternimmt er Ausflüge in die Randgebiete Warschaus und trifft dabei auf Armut, Hunger und Kriminalität bei den Bewohnern der Elendsviertel in den Stadtteilen Powiśle, Stare Miasto und Ochota. Hier erfahren sie unmittelbar und ungeschminkt, unter welchen materiellen und moralischen Bedingungen unterprivilegierte Kinder in Polen aufwachsen müssen. Gemeinsam suchen sie nach Perspektiven für soziale Veränderungen und werden dabei sicher auch inspiriert durch sozial eingestellte literarische Vorbilder.14 So entschließt sich Korczak schon bald, die Wirkungsstätten des 11. Roos, Hans: Janusz Korczak – Tradition … , a. a. O., S. 366. 12. Vgl. Sempołowska, Stefania: Uniwersytet Latający (Die Fliegende Universität). In: Społeczenstwo (Gesellschaft) 1910, Nr. 11; und Cywiński, Bohdan: Rodowody niepokornych (Ursprünge der Unbeugsamen). Warszawa 1984. 13. Polnischer Titel: Z pamiętnika włoczegi. Warszawa 1908. 14. Von derartigen Besuchen berichtet z. B. der polnische Schriftsteller Bolesław Prus, der Korczak von Kind auf stark beeinflusst und »zur Sozialarbeit erzogen« hat: »Ich beschloss, mir persönlich diese besondere Armut unserer Stadt anzusehen …« (Kurier Codzienny [Tageszeitung] 1897, Nr. 155). Vgl. auch die Bedeutung der »Individuallage« bei Pestalozzi sowie dessen Methode der moralischen Erziehung in Lienhard und Gertrud, bes. folgenden Absatz: »Kommt mit mir in die Hütte des Armen und zu den Tränen der Waisen, da lernet ihr Gott kennen und gut sein und Menschen werden. Kommt! In dieser Stunde sind in euerm Dorf zehn neue Waisen geworden, sie sind euere Gespielen und an euerer Seite aufgewachsen, sie haben keinen näheren Nächsten als euch. Kommt! Zeigt ihnen, dass ihr Menschen seid und an dem, was euerm Nächsten begegnet, teilnehmt!« Pestalozzi, Heinrich: Lienhard und Gertrud. Ein Buch für das Volk. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Zweiter Band. Zürich 1945, S. 293.

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3.1 Die Schweizreise (1898)

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Sozialpädagogen Pestalozzi in der Schweiz aufzusuchen, dessen Werk zu dieser Zeit in Polen popularisiert wird.

3.1 Die Schweizreise (1898) Nicht nur sein Interesse an Pestalozzis Wirken, auch die Anspannungen der sehr ereignisreichen letzten Monate und Jahre sind für Henryk Anlass, Abstand zu nehmen. Die Krankheit und der Tod seines Vaters und die damit verbundene Trauer, die notwendige Umstellung auf die neuen materiellen Verhältnisse seiner Familie, die geistigen Anspannungen, die Abiturexamen, Studienwahl und Orientierungs-Semester mit sich brachten – verlangen nach Entspannung und Erholung: »Wenn unser Geist, ermüdet von den Sorgen des Alltags, die Nerven, von der fieberhaften Arbeit geschwächt, und unser ganzer Organismus, in seinen Grundfesten erschüttert, anfangen, ihren Dienst zu versagen, dann ist es heilsam, sich aus der ungesunden Umgebung loszureißen, eine Zeitlang die Probleme, das, was uns beschäftigt, in Beschlag nimmt und lästige Pflicht ist, abzuschütteln und zu vergessen. Neue Gesichter, eine neue Umgebung, neue Lebensbedingungen, neue Empfindungen und Eindrücke löschen rasch das im Gedächtnis aus, was am ärgsten zugesetzt hat, und stärken uns moralisch, indem sie den Hunger nach neuen Eindrücken stillen.«15 So heißt es im Reisemosaik16, dem Bericht, den Korczak über seine Schweizreise nach den ersten Semesterferien im Jahr 1898 verfasst. In Zürich trifft er einen polnischen Studenten, der später über ihn berichtet: »Das erste Mal begegnete ich Henryk Goldszmit in Zürich, wohin er als Student der Universität Warschau in den Sommerferien gereist war. … Mir fiel das lebhafte Interesse meines Kollegen Henryk für die Schweizer Kinder und die einschlägigen Institutionen auf: Schulen, Spitäler für Kleinkinder, Pestalozzi-Anstalten. Ich muss gestehen, dass meine Kollegen und ich erst durch ihn etwas mehr über diesen berühmten Schweizer Pädagogen und Kinderfreund erfuhren. Die Reise Henryks nach Zürich hatte eigentlich die nähere Bekanntschaft mit Pestalozzis Leben und Werk zum Ziel. Während unserer Spaziergänge und Ausflüge redete er viel darüber, wie gut es die Kinder in der Schweiz haben, und verglich bekümmert ihre Lebensbedingungen mit der Situation in Warschau.«17 15. SW, Bd. 6, S. 349. 16. Ebd., S. 349ff. Vgl. auch Lewin, Aleksander: Korczak in der Schweiz. In: Korczak-Bulletin. Gießen/Wuppertal 1994, Heft 2, S. 5ff. 17. Gądzikiewicz, Witold: In Zürich. In: Beiner, F./Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 417.

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3. Die Studentenzeit: 1898–1905

Während des Schweizaufenthalts nimmt Henryk im August 1898 am II. Zionistenkongress teil, der in Basel stattfindet.18

3.2 Im Dienste der Volksbildung (1898/99) Seinen Bericht über die Schweizreise veröffentlicht er in der Zeitschrift Leihbibliothek für alle (Czytelnia dla Wszystkich). Diese Schrift wird ab 1899 weitere Korczak-Artikel publizieren und seinen Namen einer weiteren Leserschaft bekannt machen. (Die Zusammenarbeit mit Kolce wird fortgesetzt.) Leihbibliothek für alle trägt den Untertitel »Literatur- und Romanwochenschrift für die polnische Familie«. Henryk findet hier ein Forum für familiale Unterhaltung und Weiterbildung, da die Zeitschrift der Volksbildung dienen will. Die im Titel enthaltene Formel »für alle« macht ihre publizistische Perspektive deutlich. Die Formel wurde vom polnischen Bildungstheoretiker Mieczysław Brzeziński geprägt, der geschrieben hatte: »Es gibt keine Bildung für untere Gesellschaftsschichten, sondern nur eine Bildung für alle.«19 Die Beiträge der Zeitschrift behandeln darum Probleme einer breiten Bevölkerungsschicht; sie haben Ratgebercharakter und sind didaktisch aufbereitet. Auch die ersten sozialmedizinischen Aufsätze veröffentlicht der angehende Mediziner Goldszmit in dieser Zeitschrift schon im Jahr 1898 erscheint ein Aufruf zur Gesundheitserziehung im Sinne Sebastian Kneipps.20

3.3 Die Auszeichnung (1899) Am 23. März 1899 erfolgt die Auszeichnung für sein Theaterstück Wohin? aus dem Jahr 1898. In der erhalten gebliebenen Begründung der Jury wird der Protagonist des Stückes als ein unter Geisteszerrüttung leidender Familienvater beschrieben, der wunderliche Dinge sieht und erlebt sowie hellseherische Fähigkeiten besitzt. Dem Verfasser wird »eine ehrenvolle Auszeichnung für ein Stück verliehen, das im Ganzen auf eine erfolgreiche schriftstellerische Zukunft des Autors hindeutet«.21 18. In einem Interview des Jahres 1925 erwähnt Korczak seine Teilnahme; vgl. SW, Bd. 15, S. 390. 19. Bystrzycki, Kazimierz (=Brzeziński, Mieczysław): Trzy drogi (Drei Wege). In: Głos (Die Stimme) 1887, Nr. 13. 20. SW, Bd. 8, S. 196ff. 21. Rezension in: Echo Muzyczne,Teatralne i Artystyczne (Echo aus Musik, Theater und Kunst) 1899, Nr. 16.

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3.5 Kinder und Erziehung (1900)

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Im Jahr der Auszeichnung publiziert der junge Literat in der Zeitschrift Czytelnia dla Wszystkich Aufsätze zu sozialen Themen, kleine Prosastücke, einige Gedichte und einen bedeutenden, grundlegenden pädagogischen Aufsatz: Die Entwicklung der Idee der Nächstenliebe im 19. Jahrhundert. Er enthält Korczaks pädagogisches Credo, das eine falsche Beurteilung der Kinder durch die Erwachsenen als das zentrale Erziehungsproblem der Gesellschaft benennt und korrigiert:

3.4 Das pädagogische Credo (1899) Der grundlegende Irrtum der Erwachsenen bestehe, so der jugendliche Kritiker, in deren Annahme, dass das Kind erst durch ihre Erziehung zum Menschen werde, statt zu begreifen, dass es bereits Mensch ist: »Kinder werden nicht erst Menschen, sie sind es bereits, ja sie sind Menschen und keine Puppen; man kann an ihren Verstand appellieren, sie antworten uns, sprechen wir zu ihren Herzen, fühlen sie uns. Kinder sind Menschen, in ihren Seelen sind Keime aller Gedanken und Gefühle, die wir haben, angelegt. Deshalb muss man diese Keime entwickeln, ihr Wachstum einfühlsam lenken.«22 Diese neue Sicht vom Kind wird Korczak schrittweise weiterentwickeln. Schon im nächsten Jahr erscheint eine erste umfangreichere pädagogische Abhandlung aus seiner Feder:

3.5 Kinder und Erziehung (1900) In sieben Abschnitten legt er hier zum einen eine schonungslose Kritik an der lebensfernen Schule Polens vor, die den Schülern toten Lehrstoff eintrichtere und so die Persönlichkeit der jungen Menschen deformiere. Zum anderen tritt er für eine partnerschaftlich-soziale Erziehung ein: »Der frühere Despotismus hat sich in der Erziehung überlebt, die frühere Angst der Kinder vor ihren Eltern ist im Laufe der Zeit verschwunden – aber was soll an ihre Stelle treten? Liebe, Achtung und Vertrauen – das ist die Antwort der Vernunft. … Und das Kind braucht den Glanz des Glücks und die Wärme der Liebe. Gewährt ihm eine helle Kindheit, und gebt ihm einen Vorrat an Lachen für das ganze lange und dornige Leben. Die Kinder sollen lachen, sie sollen fröhlich sein.« 22. SW, Bd. 9, S. 50.

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3. Die Studentenzeit: 1898–1905

Und ganz im Geiste der aktuellen internationalen Ansätze einer sozialen Bewegung formuliert er seine Alternative zu dem vorherrschenden Erziehungsziel, das er als »Wissen um des Wissens willen« charakterisiert und ablehnt: »Für die soziale Arbeit sind vor allem Gesundheit, starker Wille, ein stark entwickelter Altruismus, ein tiefes Pflichtgefühl, eine Kenntnis des Lebens und der Menschen und dann erst Wissen erforderlich. Vor allem muss man das Kind lehren zu schauen, zu verstehen und zu lieben, danach erst lehre man es lesen; man muss dem Jugendlichen beibringen, handeln zu können und zu wollen und nicht nur zu wissen und Kenntnisse zu haben. Man muss sie zu Menschen erziehen, nicht zu Gelehrten.«23 Den Zyklus Kinder und Erziehung veröffentlicht der Autor in der illustrierten literarischen Wochenschrift Wędrowiec (Der Wanderer), in der viele bekannte polnische Autoren publizieren. Korczak unerzeichnet seinen Beitrag zum ersten Mal mit dem vollen Pseudonym Janusz Korczak. Seine erste öffentliche Wettbewerbsarbeit hatte der Setzer ja versehendlich mit Janasz Korczak gezeichnet. In der Zwischenzeit verwendete unser Protagonist unterschiedliche Kryptonyme, die er von seinen Namen ableitete: Hen., G., Hagot., Janusz., H. G., Hen. Ryk., t., J. K., Ryk., J. Korczak.

3.6 Sozialpädagogisches Engagement(1900/01) Wie schon in Kinder und Erziehung deutlich wurde, ist der junge Korczak vor allem sozialpädagogisch interessiert. Im Jahr 1900 wird er darum nicht nur Mitglied der »Gesellschaft für Sommerkolonien in Warschau«24, die sich für erholungsbedürftige, benachteiligte Kinder einsetzt, sondern nimmt vermehrt am Leben ärmerer, sozialschwacher Menschen teil, um ihre Lage kennen zu lernen und besser verstehen zu können. Und dabei verändert sich seine Einstellung gegenüber den Menschen, dieses ihm ungewohnten und manchmal auch gefährlichen Milieus. Leon Rygier erinnert sich an jene Zeit: »Manchmal war er auch in der Kneipe von Zacisze, auf halbem Weg zwischen Warschau und Marki. Diese Kneipe wurde von so finsteren Typen besucht, dass ich ihn einmal beunruhigt fragte, ob er dort nicht um sein Leben fürchte. ›Aber was kann mir denn schon passieren‹, antwortete er erstaunt. ›Schließlich gehe ich ja nicht als Detektiv, sondern als Freund dorthin.‹ ›Was heißt das – als Freund?‹ ›Na ja … Wenn ich zwischen zwei Übeln zu wählen hätte, so würde ich hungrige Wölfe im dichten Wald den gemästeten Schweinen 23. Ebd., S. 71, 76 und 96. 24. Der Name Henryk Goldszmit ist von 1900 bis 1915 (mit Unterbrechungen) in den Mitgliedslisten der Gesellschaft verzeichnet.

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3.6 Sozialpädagogisches Engagement(1900/01)

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im Salon vorziehen.‹«25 Und seine Erfahrungen in diesem ihm fremden Milieu verarbeitet er auf die für ihn typische Art: dokumentarisch, aufklärerisch, mit erzieherischen Absichten. In der Zeitschrift Kolce, für deren gesellschaftskritische Rubrik Feuilleton der Kolce er jetzt die Federführung übernehmen soll, bekennt er: »Ich bin ein Mensch, den die Fragen der Erziehung unbeschreiblich interessieren.«26 Und in dieser Rolle beschreibt er dann in der Rubrik die Lebenswelt von Straßenkindern und anderen Benachteiligten, denen er sich in seinen Streifzügen angenähert hat. In einer literarischen Reportage der Monatsschrift des Polnischen Kurier dokumentiert er das, was er allenthalben vorfindet: Warschauer Elend.27 Neben der Beschreibung von Missständen macht er hier auch seinen Zugang zum Milieu deutlich: keinen Einfluss nehmen, sondern zuhören, ergründen und schriftlich festhalten. Und die Wertvorstellungen der »Elenden«28 erlebt er so: »›Wir fürchten keine Not‹ – das ist ein allgemeiner Grundsatz der Notleidenden von Geburt an. Sie haben sich daran gewöhnt, sie sind damit vertraut, sie haben sich eine besondere Philosophie, ja sogar einen speziellen Moralkodex geschaffen, und wenn sich die Stimme der geplagten Seele erhebt, dann ersticken sie sie im Wodka und entledigen sich ihrer mit einem zynischen Scherz.«29 Neben der empathischen Beschreibung des Lebens der Benachteiligten prangert Korczak auch die Dekadenz der Begüterten und den PseudoGlanz der bürgerlichen Welt und ihre unangemessenen Erziehungsvorstellungen an. Im Artikel Affenliebe (im Original in deutscher Sprache) wendet er sich beispielsweise gegen eine falsch verstandene »pädagogische« Liebe: »Affenliebe – das ist eine der größten Katastrophen der Menschheit …, es ist eine Liebe, unbestreitbar, aber nicht die, die den Geist und das Gefühl im Kind weckt und die Phantasie lenkt, sondern die, die den Bauch mit Süßigkeiten voll stopft, mit hübschen Kleidchen die Leere kaschieren will, die Eltern selbst unglücklich macht, das Kind verdirbt und die Pest in der ganzen Gesellschaft verbreitet … Affenliebe … Warum hat sich Rygier, Leon: Janusz Korczak in jungen Jahren …, a. a. O., S. 405. SW, Bd. 2, S. 67. SW, Bd. 7, S. 87ff. 1899 schrieb Korczak bereits eine Rezension zu Victor Hugos Roman Les Miserables: Die Elenden (SW, Bd. 7, S. 38f); 1900 veröffentlichte er die »Reportage« Arme Leute und widmete sie Victor Hugo (ebd., S. 60ff). Und in seiner Sozialutopie Die Schule des Lebens werden die erwirtschafteten »Reichtümer – den Elenden des Lebens« gegeben (ebd., S. 453). 29. SW, Bd. 7, S. 92.

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3. Die Studentenzeit: 1898–1905

die polnische Pädagogik nicht diesen großartigen Terminus zu eigen gemacht?«30 Aus dem reichen sozialpädagogischen Material, den Beobachtungen, Streiflichtern, »frischen« Notizen und seinem kritischen Durchleuchten des Milieus, veröffentlicht in fortschrittlichen Zeitschriften, entwickelt sich auch das Thema des ersten Buches des Volksbildners Korczak. Im Buchverlag von Czytelnia dla Wszystkich erscheint der »Roman«:

3.7 Kinder der Straße (1901) Tadeusz Kończyc charakterisierte den Autor und sein erstes Buch in einer Rezension: »Kinder der Straße31 – die Romanskizze aus der Feder des begabten Humoristen und Journalisten Janusz Korczak – zeigt, dass der junge Autor anscheinend das Leben der Warschauer Gassenjungen kennt, denn in seinem Roman gab er uns sehr gut erfundene und glaubwürdig gezeichnete Pflastertypen. Das Ganze ist von edlem Optimismus durchtränkt, gekennzeichnet durch altruistische Bemühungen um soziales Verhalten und die Bildung der breiten Massen. Der Roman verdient, aufmerksam gelesen zu werden, obwohl er in der Form mehr an ein lebendig skizziertes Feuilleton als an ein romanhaftes Kunstwerk erinnert. … Viel subtile, sanfte Ironie, Humor, Leben, authentische Sprache – dies sind die guten Charakteristika von Herrn Korczaks Roman, welcher schnell unter die Leute kommen und unsere Leserschaft interessieren sollte, denn das verdient er wirklich. Dem jungen Schriftsteller, welcher sich mit dem Herzen zu der ihm fremden, geistig unterlegnen Masse hingezogen fühlt und der er Licht bringen will, ihm gebührt Ermutigung für seine ehrliche Arbeit und restlose Anerkennung …«32

3.8 Didaktische Ambitionen (1902) Der Autor von Kinder der Straße und Kenner des »Milieus« weitet seine praktisch-didaktischen Tätigkeiten weiter aus: Ab 1902 unterstützt er die Lehrtätigkeit von Stefania Sempołowska, die ein geheimes Erziehungs-

30. SW, Bd. 2, S. 153. 31. In: SW, Bd. 1, S. 7ff. Zeitgleich erscheint Heinrich Zilles Berliner »Milljöh«, und sieben Jahre später folgt Zilles Album: Kinder der Straße. 32. SW, Bd. 1, S. 427f.

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3.8 Didaktische Ambitionen (1902)

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institut für Mädchen führt, in dem – parallel zur Fliegenden Universität – engagierte Wissenschaftler und Pädagogen lehren.33 Darüber hinaus wird er in den kostenlosen Lesesälen der »Warschauer Wohltätigkeitsgesellschaft« als Bildungshelfer tätig. Diese größte soziale Organisation im Königreich Polen, bereits 1814 gegründet, kümmert sich um Alte, Waisen und notleidende Kinder; sie organisiert Krippen, Kindergärten, Nähstuben, Billigküchen, Volksbäder und unterhält ein weit verzweigtes Netz kostenloser öffentlicher Bibliotheken, wo freiwillige Helfer die autodidaktischen Arbeiten der Leser unterstützen. Denn auch hier sieht man in der Förderung von Bildung und Ausbildung einen wichtigen Schwerpunkt der Hilfe. Helena Bobińska, gemeinsam mit Korczak in einer Leihbibliothek tätig, erinnert sich später an jene Zeit: »Samstagabends wurde der ›Lesesaal‹ buchstäblich von einer Schar Halbwüchsiger gesprengt. Henryk Goldszmit herrschte, ohne den Kopf zu heben, in einer verblüffenden Art und Weise über diese Masse.«34 Und Korczak selbst schreibt in seiner Kurzbiographie: »Die mehrjährige Arbeit in einer kostenlosen Leihbücherei bot mir ein reiches Beobachtungsmaterial.«35 Eine wichtige didaktische Aufgabe sieht der junge Korczak auch in der Vermittlung von vorbildlichen Biographien an die heranwachsende Generation. In seinem Aufsatz Lebensläufe, veröffentlicht in der Pädagogischen Rundschau (Przegląd Pedagogiczny), heißt es 1902: »Die Phantasie der Kinder und Jugendlichen mit Heldengestalten zu bevölkern, die nicht mit dem Schwert, sondern mit Erfindungen und Entdeckungen gekämpft haben, die dem Denken der Menschen neue Wege gebahnt haben, von denen etliche in Werkstätten und Laboratorien umgekommen sind, die ihr Feld des Kampfes und des Ruhmes waren, kurz, die Vorstellungswelt der Jugend nicht nur mit Napoleons, sondern auch mit Gestalten wie Tyrtaios, Archimedes und Lavoisier zu bevölkern – ist von großer Wichtigkeit.«36 Konsequenterweise beobachtet er das Leseangebot für die Jugend unter dieser Perspektive; und später wird er selbst kindgerechte Biographien schreiben.

33. Vgl. Sempołowska, Stefania: Uniwersytet …, a. a. O. Nach Sempołowskas Deportation durch die zaristische Regierung wird das Institut 1904 leider geschlossen. 34. Bobińska, Helena: Pamiętnik tamtych lat (Tagebuch der frühen Jahre). Warszawa 1963, S. 15. 35. SW, Bd. 15, S. 214. 36. SW, Bd. 9, S. 134f.

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3. Die Studentenzeit: 1898–1905

3.9 Ein umtriebiger Student (1902) Neben seinen didaktischen verfolgt der vielseitige Student natürlich auch medizinische Interessen. Im Jahr 1902 schließt er sich dem Verein »Warschauer Hygienegesellschaft« an, einem Fachverband für Ärzte mit den Sektionen öffentliche Hygiene, Erziehung und Gesundheit. Denn trotz der Vielfalt seiner Aktivitäten im schriftstellerischen, didaktischen und sozialen Bereich ist er ja vor allem Student der Medizin. Und in seinem Medizinstudium versäumt er es offenbar auch nicht, die einschlägigen Inhalte und Methoden zu studieren, denn wie sonst wäre er zu einer so wichtigen Erkenntnis über das Forschen gekommen, wie er sie 1902 en passant in einem Feuilleton zu Papier bringt: »Forschung zu betreiben – das bedeutet, ein gegebenes Faktum hundertmal nachprüfen, sich von der Phantasie nicht hinreißen lassen, alle für und wider ausschließen, ohne vorgefasste Pläne, Vorurteile und Ziele.« Diese Erkenntnis erscheint etwas »versteckt« in einer Humoreske, von denen Korczak im Jahr 1902 allein 47 im Feuilletonteil der Kolce publiziert. In manchen dieser Texte eröffnet er dem Leser durch seine humorvollsatirische Darstellungsform einen neuen Zugang zu durchaus ernsten Problemen. Diese Kunstfertigkeit Korczaks wird uns bei der Erörterung der »Pädagogik mit Augenzwinkern« wiederbegegnen (Pkt. 14.8). Der Text, dem das obige Zitat entnommen ist, kann für die umfangreiche Feuilleton-Produktion des Medizinstudenten stehen: Gehirn oder Magen? »Meine Leser! Heute schon kann ich es wagen kundzutun, dass ich auf dem besten Wege bin, eine der genialsten Entdeckungen zu machen, die das zwanzigste Jahrhundert in seiner Geschichte verzeichnet. Meine Entdeckung ruft eine gewaltige Revolution in der Wissenschaft und im gesellschaftlichen Leben der Menschheit hervor. … Es gab eine Zeit, da wurden alle Gefühle im Herzen lokalisiert. Daraus entstanden die irrtümlichen Bezeichnungen: ein gutes, ein böses, ein empfindsames, ein goldenes Herz, ein Herz aus Stein, ein dankbares, offenes Herz. Das hat sich bis heute in der Umgangssprache erhalten. Dann gab es eine Zeit, wo man das ganze geistig-seelische Ich des Menschen im Gehirn und in den Nerven situierte. Man sprach und spricht noch von einem empfindlichen und überempfindlichen Gemüt, von nervösen

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3.9 Ein umtriebiger Student (1902)

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Menschen, von Gemütstiefe, durchdringendem Geist, flachem sensiblen Gemüt usw. Ich aber habe zahlreiche Beweise, die ich im Laufe von Untersuchungen und durch Erfahrungen gesammelt habe, dass das Organ der Gedanken und Gefühle des Menschen weder das Herz noch das Gehirn ist, sondern einzig und allein der Magen. … Schon zuzeiten meines Junggesellendaseins hatte ich festgestellt, dass zwischen meinen Gedanken und Gefühlen und dem Grad der Völle und der Qualität des Inhalts meines Magens – ein enger Zusammenhang besteht. Ich schenkte dem zunächst keine Aufmerksamkeit, aber der Zusammenhang war so offensichtlich und kontinuierlich, dass ich die Sache zu erforschen begann, zuerst aus Neugier, später mit wachsendem Interesse, schließlich unter Verzicht auf alle anderen Gedanken. Ich bemerkte nämlich, dass in meinem geistigen Ich öfters Trauer aufkam – auf dem Hintergrund eines leeren Magens; und so auch Empfindsamkeit, Rührseligkeit, Mitgefühl; dagegen waren Zufriedenheit mit dem Leben und eine gewisse Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Fragen – das Ergebnis eines vollen Magens. Es kam vor, dass ich meinen Magen überladen hatte und dann erfasste mich Überdruss, wenn nicht gar Hass gegenüber dem Leben. Das war jedoch erst der schwache Beginn weiterer großer Entdeckungen. Ich war erst auf dem Weg zu weiteren märchenhaft neuen und durch ihre Wucht verblüffenden – Beobachtungen. Forschung zu betreiben – das bedeutet ein gegebenes Faktum hundermal nachprüfen, sich von der Phantasie nicht hinreißen lassen, alle für und wider ausschließen, ohne vorgefasste Pläne, Vorurteile und Ziele. Hier ist ein Teil meiner Notizen – nur ein winziger Bruchteil dessen, was ich besitze: die Notizen der letzten paar Tage. Am fünfzehnten Dezember des laufenden Jahres aß ich zu Mittag Graupensuppe, ein Kotelett mit harten Nudeln und zwei Schnitten Brot; danach ging ich spazieren. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen. ›Ach‹, dachte ich, ›wenn man diese Massen sieht, wie sie sich durch die Straßen wälzen, möchte man ihnen eine umfassende, breit angelegte Idee einflößen und sie zu der Arbeit heranziehen, die der Menschheit die Morgendämmerung eines neuen Lebens verkünden soll, voll großer Liebe, großer Geistesanstrengungen und großer Opferbereitschaft. … Am sechzehnten Dezember dieses Jahres aß ich überhaupt nicht zu Mittag; danach ging ich spazieren. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen. ›Abscheuliche, gedankenlose, öde, dumme Masse‹, dachte ich, ›warum

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3. Die Studentenzeit: 1898–1905

treibst du dich da herum, wohin strebst du, was hast du für ein Ziel? … Ach, mit meinem zornigen Blick möchte ich euch das gedankenlose Lächeln auf euren feisten Gesichtern vergiften!‹ Am siebzehnten Dezember dieses Jahres aß ich zum Mittagessen ein halbes Pfund Brot mit gewöhnlichem Käse, aber ohne Butter, und trank zwei Gläser Tee, eines davon – mit Zucker. Danach ging ich spazieren. Auf der Staße wimmelte es von Menschen. ›Was ist das Leben wert?‹, dachte ich. ›Sorgen, Trauer, Schwierigkeiten, ein Gekeife um den Teller voll Essen – Pflichten, Tränen, Trübsal – und schließlich das bleiche Gespenst des Todes. Lohnt es sich, zu kämpfen und sich zu empören, lohnt es sich, zu lieben und zu hassen? … Ihr dauert mich, meine Brüder – ihr tut mir leid, leid, leid.‹ Am achtzehnten Dezember des laufenden Jahres wurde ich zu einem Mittagessen eingeladen – danach konnte man sich die Finger lecken. So ein Süppchen, sag ich dir – so lange ich lebe habe ich so was noch nicht gegessen. Dann Reh, ein Weinchen, verschiedene Schikanen sag ich dir. Wieder Wein. Dann noch einmal verschiedene Spezialitäten. Dann ein Zigarrchen, schwarzer Kaffe mit Likör. Und das alles bei einer Einladung zum Mittagessen. … Danach ging ich hinaus auf die Straße. Auch diesmal wimmelte es von Menschen. ›Jeder von ihnen hat ein Haus, eine Familie, nur ich laufe einsam durch die Welt‹, dachte ich. ›Aber irgendeine weibliche, herzerwärmende Hand und das Gezwitscher von Kindern, das schmückt doch das Leben. …‹ Am neunzehnten Dezember nahm ich Rhabarberpastillen und war auf Diät. Ich trank Tee mit Zitrone und aß Zwieback. Ich ging spazieren. Die Leute strömten nach allen Seiten. ›Wenn diese Masse böse oder gut wäre‹, dachte ich, ›aber sie ist gedankenlos. Es gibt in ihr nichts, was man tadeln oder loben könnte – sie ist fade wie Lakritze …‹ … Ich würde wohl meine Leser beleidigen, wenn ich die Bedeutung dieser Notizen noch erklären würde. Die Evidenz meiner Behauptung scheint in jedem Buchstaben auf. Leute mit einem weniger beweglichen Verstand können mich trotzdem fragen, welche gesellschaftliche Bedeutung meine Entdeckung hat. Ist das nicht klar? Man muss ein starkes Menü zusammenstellen, um in den Mägen der Menschen einen Boden zu schaffen, auf dem ein jungfräulicher Wald emporschießen würde, ein Wald der Zuneigung zu seinem Nächsten – und des Glücks für den Besitzer des entsprechenden Magens selbst. Mit anderen Worten, ich eröffne die Diskussion darüber, welche

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3.11 In einer Sommerkolonie (1904)

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Mahlzeit die Reichen veredeln kann, die Armen versöhnen und die Menschheit beglücken. Die Wissenschaft aber erhält von mir eine neue Wahrheit zum Geschenk, die Korrektur eines fatalen Irrtums. …«37 Über das Privatleben des Studenten Goldszmit ist wenig bekannt. Sicher ist aber, dass er Kontakte zu politisch Gleichgesinnten pflegt und beispielsweise des öfteren im Haus von Wacław Nałkowski weilt, dem angesehenen Geographen und Pädagogen, einem seiner »Erzieher in der Sozialarbeit«.38 Von Nałkowskis Tochter Zofia wird berichtet, dass sie zusammen mit Henryk Goldszmit, Ludwik Liciński und anderen Freunden verschiedene »Spelunken« Warschaus besucht habe.39

3.10 Meine weisen Gedanken (1903) »Ich war ein unendlich geschwätziges Kind und die Lehrer sagten: ›Wenn ein Stummer so viel reden könnte, wie du Unnötiges schwätzt, wäre er nicht stumm …‹ Heute denke ich nur: ›Wenn ein des Schreibens Unkundiger nur so viel schreiben könnte, wie des Schreibens Kundige unnötigerweise schreiben (und leider auch drucken) – wäre er kein Unkundiger mehr.‹40 Mit solchen kurzen Sentenzen nimmt sich der viel schreibende Student 1903 selbst auf den Arm! Von Juni 1902 bis April 1904 bringt Kolce unter der Rubrik Meine weisen Gedanken (Moje mądre myśli) zehn Texte mit Aphorismen unter seinem Namen heraus.41 Und im Jahr 1938 werden noch einmal Aphorismen zum Thema Erziehungskunst erscheinen.

3.11 In einer Sommerkolonie (1904) In den Semesterferien des Jahres 1904 beteiligt sich der Student Goldszmit erstmals an der Durchführung einer Freizeit in der Sommerkolonie »Michałówka«, in der sich arme und schwächliche Großstadtkinder erho37. SW, Bd, 2, S. 364ff. 38. Vgl. SW, Bd. 15, S. 214. 39. Vgl. Falkowska, Maria: Kalendarz …, a. a. O., S. 76f. 40. SW, Bd. 2, S. 402. 41. Aphorismen in: Kolce: SW, Bd 2, S. 219, 225, 240, 245, 286, 332, 402, 419, 557. Aphorismen zum Thema Theater: Eine Handvoll Gedanken, in: SW, Bd.7, S. 123f.

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3. Die Studentenzeit: 1898–1905

len können.42 Dabei macht er als Betreuer beeindruckende Erfahrungen mit bedürftigen Kindern, die aus »finsteren Kellerwohnungen« und traurigsten sozialen Verhältnissen kommen. Aber hier, in der freien Natur, dürfen sie für eine kurze Zeit ihr Elend vergessen und einen offenen Himmel erleben. Der mitfühlende Student verarbeitet seine Erfahrungen auf literarische Weise: Seine Notizen eines Betreuers werden eingeleitet mit einem poetischen Stimmungsbild: Der Regenbogen »›Was ist das?‹, fragen sie. ›Ein Regenbogen.‹ Sie heben den Blick und schauen: hübsch – sonderbar, sehr sonderbar. Die Kinder verstummen. Für einen Moment herrscht vollkommene Stille: Keines der Kinder bricht sie mit einem Wort, einem Ausruf. Ein buntes Band zieht sich als voller, ebenmäßiger Halbkreis weit über den Himmel. – Ein Triumphbogen. ›Was ist das – ein Regenbogen? Wo kommt er her? Warum und wozu?‹ Die Kleineren kehren zu ihren Spielen zurück. Regentropfen hängen an den Nadeln der Kiefern; in jedem Tropfen – ein neuer Regenbogen. Hübsch – sehr hübsch … Der Regenbogen am Himmel wird fahler, verschwimmt – zerreißt, löst sich auf – und ist verschwunden. Er war da – und ist weg. – Die Kinder schauen noch: Das letzte Fetzchen verschwindet. – Er war da – und ist fort. – Wo ist er hin? … Kinder aus dunklen, feuchten Stuben, aus düsteren Chederschulen, schmutzigen, stinkenden Hinterhöfen – in die Sonne, in den Wald, auf die Wiese, mit dem Ball in der Hand … Regenbogen – Traum des Himmels, kurzer Seufzer der Sonne; Regenbogen – stille Sehnsucht.«43 Was vermittelt der Berichterstatter mit diesem Bild? Die Freizeiterlebnisse stehen im krassen Gegensatz zur düsteren Lebenswelt der Kinder in Warschau, in der ihre Erfahrungen und ihr Erleben in kaum vorstellbarer Weise eingeschränkt sind. Plötzlich sehen sie einen Regenbogen. »Was ist das?« Sie haben noch nie einen Regenbogen gesehen – in ihre Hinterhof-Behausungen der Großstadt drang kaum ein Sonnenstrahl. Erst der Sommerkolonieaufenthalt gibt ihnen die Chance, die Schönheiten der Natur kennen zu lernen. Dies neuartige Erlebnis erstaunt die Kinder derart, dass 42. Zum Begriff und zur internationalen Entwicklung der sozialen Einrichtung »Sommerkolonie« vgl. den Kommentar in: SW, Bd. 10, S. 306ff. 43. SW, Bd. 10, S. 9.

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3.11 In einer Sommerkolonie (1904)

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»vollkommene Stille« eintritt; etwas Ungewöhnliches in einer Kinderschar. – »Die Kinder verstummen. Für einen Moment herrscht vollkommene Stille: Keines der Kinder bricht sie mit einem Wort, einem Ausruf.« Um eine solche Wirkung zu erzielen, muss ein Ereignis schon eine große Faszination ausüben. Die folgenden Fragen »Wo kommt er her? Warum und wozu?« spiegeln die kindliche Erfahrung mit der Welt wider: Zwar haben sie schon gelernt, dass es ein Ursache-Wirkungs-Prinzip gibt und dass es für ein Ereignis meistens einen Grund gibt – aber solch ein Phänomen ist ihnen völlig unbekannt. »Die Kleineren kehren zu ihren Spielen zurück.« – Die Jüngeren haben eine kürzere Konzentrationsspanne, auch sehen sie wohl noch nicht das Symbolträchtige des Regenbogens, verspüren nicht die »stille Sehnsucht«, die den Erzähler und wahrscheinlich auch die älteren Kinder beeindrucken, denn diese »schauen noch: Das letzte Fetzchen verschwindet.« – Sie möchten den Anblick bis zuletzt auskosten, spüren etwas von der Sehnsucht. Zwischen dem Verhalten der Kinder steht die stimmungsvolle, poetische Darstellung des Regenbogens selbst. Der Begriff wird siebenmal gebraucht und zusätzlich werden noch Synonyme verwendet: »vollkommen ebenmäßiger Halbkreis«, »Triumphbogen«, »Traum des Himmels, kurzer Seufzer der Sonne«. Und ein weiteres Bild: »Regentropfen hängen an den Nadeln der Kiefern; in jedem Tropfen ein – neuer Regenbogen.« Auch in den kleinsten Tränen schimmert die Hoffnung und Traumkraft eines Regenbogens. Doch der ist vergänglich, denn – er »wird fahler, verschwimmt – zerreißt, löst sich auf – und ist verschwunden«. Erzähler und Kinder beobachten den verschwindenden Regenbogen sehr genau und schauen ihm sehnsüchtig hinterher – bis er verschwindet. Diese Kinder kommen aus »schmutzigen, stinkenden Hinterhöfen«, und nur in der Sommerkolonie haben sie Gelegenheit, auch einmal »in die Sonne, in den Wald, auf die Wiese« zu kommen, um dort zu spielen und für eine kurze Zeit glücklich zu sein. »Manche kommen mich in Warschau besuchen; spielen Domino und Lotterie – am Sabbatabend«44, schreibt Korczak am Ende der Notizen eines Betreuers, – und noch fast dreißig Jahre später erinnert er sich: »Während meiner Studentenzeit arbeitete ich in den Sommerkolonien. Im Herbst fingen die Kinder aus den Kolonien an, mich zu besuchen, und so entstand in meiner Wohnung so eine Art Kinderclub.«45

44. Ebd., S. 57. 45. SW, Bd. 14, S. 551f.

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3. Die Studentenzeit: 1898–1905

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3.12 Zusammenarbeit mit der Gruppe um Głos (1904/05) Im November 1904 beendet Henryk Goldszmits seine Arbeit für die Zeitschrift Kolce.46 Die Humoresken und Satiren, die er hier in den Jahren 1898 bis 1904 unter wechselnden Kryptonymen veröffentlichte, füllen in den Sämtlichen Werken (dt.) einen eigenen Band mit über 700 Seiten (Bd. 2). Alternativ zur Tätigkeit für Kolce beginnt er ab 1904 eine enge Zusammenarbeit mit der berühmten radikal-sozialen Wochenschrift Głos (Die Stimme) und mit den fortschrittlichen Intellektuellen, die sich um dieses Blatt versammeln und im Untergrund Bildungsarbeit betreiben. Ihr führender Kopf ist Jan Władysław Dawid, welcher starken Einfluss auf Korczak ausübt. Er steht der Polnischen Sozialdemokratie nahe und brachte Głos ab 1900 »als ›Sozial-Demokratische Zeitung‹ mit dem Aufruf ›Proletarier aller Länder, vereinigt Euch‹ heraus«.47 In Głos äußern sich viele bekannte Schriftsteller, Wissenschaftler und sozial engagierte Menschen wie Stanisław Przybyszewski, Stanisław Brzozowski, Ludwik Krzywicki, Stefan Żeromski und Wacław Nałkowski zu aktuellen Zeitfragen. Die Zeitschrift verfolgt nach eigenem Zeugnis zwei Aufgaben: »Wir werden dem täglichen Leben folgen, … die Zeitgeschehnisse registrieren und unter die Lupe nehmen – wir werden sie mutig und unabhängig beurteilen. Die zweite Aufgabe verstehen wir als Arbeit an der geistigen und ethischen Entfaltung der gesellschaftlichen Kultur, als Arbeit an der Förderung eines intensiveren geistigen Lebens.«48 Diese ethische Färbung der Głos dürfte Korczak bewogen haben, die Zusammenarbeit mit ihr aufzunehmen. In Głos veröffentlicht er 1904 und 1905 ca. 50 Artikel. Er gehört zu den Autoren der Kolumnen Am Rednerpult49 und Streiflichter50. Dort behandelt er vermeidbares soziales Elend, mangelnde Hygiene und Mängel in der Krankenversorgung. Neben Berichten über kindliche Betteleien im Sächsischen Garten und im Warschauer Rotlichtmilieu geht es um Ansteckungsherde für Tripper, um »Engelmacherinnen« (mit unehelichen Kindern), um vermeidbare Pockentote und um Arbeits- und Wohnungslose, die auf der Straße aus Schwäche zusammenbrechen. Außerdem werden Schulprobleme der Gegenwart, die jüdische Frage, aber auch die Philanthropie thematisiert, »aber nicht so sehr als eine Erscheinung der Barmherzigkeit, sondern als ein Zeichen der Verlogenheit 46. Ein einziger Artikel wird noch im Jahr 1911 gedruckt; s. SW, Bd. 2, S. 592f. 47. Roos, Hans: Janusz Korczak – Tradition …, a. a. O., S. 365. 48. Głos 1900, Nr. 12, Rubrik: Von der Redaktion. 49. SW, Bd. 7, S. 127ff; Bd. 8, S. 79f, 137ff. 50. SW, Bd. 7, S. 136f; Bd. 8, S. 146ff; Bd. 9, S. 144f.

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3.13 Die Promotion (1905)

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und des Egoismus’ der Besitzenden. Weil die Philanthrophie in dieser Form unmoralisch oder mehr noch … langfristig unwirksam ist, fordert er … eine gesetzliche Regulierung des Schicksals der Benachteiligten.«51 Die praktizierte Philanthropie des satten Bürgertums entlarvt er durch einen sarkastischen Vergleich:: »Wenn es um den Viehbestand geht, wenden wir uns in einer ernsthaften Aktion an die Regierung, wenn es jedoch um Familien geht, die Arbeit und Brot verloren haben – werfen wir die Angelegenheit den mildtätigen Herzen zum Fraße vor oder bauen auf Spenden anlässlich von Verlobungsfeiern reicher Söhne oder einer Goldenen Hochzeit …«52 In der Zeitschrift Głos wird auch Korczaks zweiter Roman, Kind des Salons, veröffentlicht: in 31 Folgen von Jan. 1904 bis Aug. 1905. Das Werk markiert eine Zäsur im Werdegang des Verfassers: Der sozialkritische Student Henryk Goldszmit entwickelt sich zum anerkannten Schriftsteller Janusz Korczak. Diesen Entwicklungssprung werden die Rezensenten anlässlich der Buchausgabe von Kind des Salons im Jahr 1906 bestätigen. Zunächst aber wird Korczak promovieren, seine Arzttätigkeit beginnen, Lazarettdienst im russisch-japanischen Krieg leisten und seine Schreibtätigkeit für Głos fortsetzen.

3.13 Die Promotion (1905) Bedingt durch sein starkes soziales Engagement, durch seine literarischen und pädagogischen Ambitionen sowie durch die Notwendigkeit, für seinen und seiner Familie Lebensunterhalt zu arbeiten, hat das Studium Henryk Goldszmits relativ lange gedauert. Nach Beendigung des fünften Kurses der Medizinwissenschaft legt er nun am 17. März 1905 sein Examen ab und erhält am 23. März 1905 sein ärztliches Diplom. Auf der nächsten Seite findet sich der Text des Diploms, der als beglaubigte Abschrift dem Warschauer Korczakianum in russischer Sprache vorliegt:

51. Wojnowska, Bożena: Wczesna publicystyka Janusza Korczaka (1898–1911) (Die frühe Publizistik Janusz Korczaks [1898–1911]). In: Instytut Badań Literackich (Hg.): Janusz Korczak. Pizarz – wychowawca – myśliciel. Warczawa 1997, S. 50f. 52. SW, Bd. 7, S. 151.

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3. Die Studentenzeit: 1898–1905

Ministerium für Kultus und Unterricht Archiv des Unterrichtsmin. in Warschau Krakowskie Przedmiescie 26/28 Diplom. Hiermit teilt der Rat der kaiserlichen Universität in Warschau mit, dass Henryk Jozefowicz Goldszmit, der zu Beginn des Studienjahres 1898/99 als Student in die Kaiserliche Universität Warschau eingetreten ist, im Verlauf der Studienjahre 1898/99, 1899/00, 1900/01, 1901/02, 1902/03, 1903/04 als Hörer die volle wissenschaftliche Ausbildung, die in den fünf Kursen der medizinischen Fakultät dieser Universität vermittelt wird, abgeschlossen hat. Auf Grund des bestandenen Schlussexamens in den Fächern, die in der medizinischen Fakultät obligatorisch sind, wird ihm, Goldszmit, durch Beschluss des Universitätsrats vom 17. März 1905 der Rang eines Arztes verliehen. Zur Bestätigung wurde ihm, Henryk Goldszmit, dieses Diplom, mit den erforderlichen Unterschriften und mit dem Siegel versehen, ausgehändigt. Stadt Warschau, 23. März 1905. Der Rektor der Kaiserlichen Universität in Warschau, Wirklicher Staatsrat A. Szczerbakow. Ratssekretär W. Cichocki. Nr. 6436

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4. Kinderarzt und Publizist: 1905–1912 Nach seinem Examen startet Henryk Goldszmit seine Tätigkeit als Stationsarzt im Berson-Bauman-Spital für Kinder mit der Adresse: Śliska-Straße 62/Sienna-Straße 60 in Warschau.

4.1 Stationsarzt im Berson-Bauman-Spital (1905ff) Das kleine Krankenhaus wird finanziert durch das Vermächtnis des Ehepaars Berson (50 000 Rubel) und des Ehepaars Bauman (30 000 Rubel) sowie durch eine Spende von Mathias und Jan Berson (15 000 Rubel). Das Krankenhausstatut legt u. a. fest: »§ 1: Das Spital ist bestimmt für die Versorgung von Kindern beiderlei Geschlechts, mosaischen Glaubens, nicht älter als 13 Lebensjahre. … § 19: Die Behandlung und Versorgung der Kinder geschieht auf Kosten des Spitals. … In der Ambulanz werden ärztliche Beratungen erteilt; sofern notwendig, finden im Spital auch Operationen an sich meldenden Kindern statt sowie unentgeltliche Konsultationen, ohne Konfessionsunterschied.«1 Das Spital verfügt über die Abteilungen Innere Medizin, Ansteckende Krankheiten und Chirurgie (mit einem Operationssaal). Es bietet vor allem jungen Ärzten eine Arbeitsstätte und die Möglichkeit der Weiterbildung. Das Ärzteteam besteht aus Medizinern, die größtenteils eigene wissenschaftliche Studien durchführen. Stadtbekannt ist der Arzt Dr. Izaak Eliasberg, ein guter Diagnostiker und Förderer der unentgeltlichen Kinderversorgung. Korczak wird sich schon bald mit ihm anfreunden. Doktor Goldszmit ist auf den Stationen und in der Ambulanz der Klinik tätig. Er behandelt vor allem Kinder aus den Warschauer Elendsvierteln und ist erschüttert über den katastrophalen Gesundheitszustand der Kleinen, der sich offenkundig als Folge völlig unzureichender, krankmachender Lebens- und Wohnverhältnisse einstellt. Trotz seiner neuen ärztlichen Verpflichtungen hört er darum nicht auf, sich um die häuslichen Lebensverhältnisse der Kinder und insbesondere um ihre Erziehung und Bildung zu kümmern. Und diesbezüglich hat er einen erstaunlichen Weitblick, denn er erkennt die unzureichende Fürsorge für die nachwachsende Generation von Seiten der damaligen Staaten und schaltet sich in die internationale Debatte über eine Reform des Erziehungs- und Unterrichtswesens ein. 1. Warzawa Gazeta Policyjna (Warschauer Polizeizeitung) 1876, Nr. 5, S. 1–2.

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4. Kinderarzt und Publizist: 1905–1912

Da die Zeitschrift Głos über eine eigene einschlägige Rubrik, die Wissenschaftliche Rundschau verfügt, kann er hier das Verhältnis von Staat und Schule problematisieren:

4.2 Staat und Schule (1905) Unter dem Titel Die Schule der Gegenwart2 erscheint im Mai 1905 eine kluge Analyse zum fragwürdigen Einfluss einzelner Staaten auf die schulische Bildung und damit auch auf die Erziehung der Kinder: »Die Schule bildet und erzieht gleichermaßen – sie erzieht in einer von oben vorgegebenen Richtung, je nach dem allgemeinen Trend allgemein verpflichtender Interessen der einzelnen Staaten, die sich der Schulen als eines der mächtigsten Werkzeuge bei der Durchsetzung dieser oder jener politischen Pläne bedienen.« Der Staat bestimme durch seine Schulgesetzgebung und »strenge Kontrolle« – so die Argumentation –, welche Art von Untertanen in der Schule herangezogen werden: »Es ist wohl für niemanden mehr ein Geheimnis, dass die Schule der Gegenwart eine durch und durch nationalistisch-kapitalistische Institution ist, dass ihre erste und vornehmste Verpflichtung ist, klerikale Zentristen und chauvinistische Patrioten zu erziehen …« Die englische Schule erziehe Kolonisten, die deutsche Untertanen, die an die Macht der preußischen Kanonen und der preußischen Zivilisation glauben, die Schule in Galizien züchte Wiener Lakaien und Karrieremacher heran. Die Hauptaufgabe der Schule scheine überall zu sein, »um jeden Preis den für die privilegierten Schichten höchst angenehmen Status quo aufrechtzuerhalten«. Demgegenüber aber sollte die Schule »eine Schmiede der heiligsten Grundsätze sein; durch die Schule sollte all das vermittelt werden, was das Leben bereithält, durch sie sollten die Schüler lernen, lautstark für die Menschenrechte einzutreten, mutig und rücksichtslos anzuprangern, was verderbt ist. Und das kann keine reparierte, zusammengeflickte und bloß frisch übertünchte Schule vollbringen, sondern eine grundlegend andere, eine, die mit beiden Beinen auf der Erde steht und nicht auf dem Mond, wie die Schulen, die wir überall vor uns haben.«3 Eine andere viel diskutierte Thematik ist die Judenfrage in Polen. Auch hierzu veröffentlicht Głos Anfang Juni eine Stellungnahme Korczaks:

2. In: SW, Bd. 9, S. 160ff. 3. Ebd., S. 164.

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4.4 Intermezzo im russisch-japanischen Krieg (1905/06)

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4.3 Zur Judenfrage (1905) Anlaß seiner Stellungnahme ist das Erscheinen eines Romans von Michał Muttermilch mit dem Titel Juden. In seiner Stellungnahme Statt einer Berichterstattung nennt Korczak den Roman eine schäbige und sensationslüsterne Sudelei, weil der Verfasser in unzulässiger Weise verallgemeinernd über »die Juden« schreibt, statt zu berücksichtigen, dass es bei den Juden wie in der übrigen Gesellschaft unterschiedliche Interessengruppen gibt: »Heute sollte man, ja muss man wissen, … dass die Juden in zwei einander feindlich gegenüberstehende, nichts miteinander gemein habende Lager geteilt sind: in das zahlreichere des Proletariats – und das zahlenmäßig geringe der Kleinbürger und Großbourgeoisie in Gestalt der so genannten Intelligenz und Plutokratie. … Herr Muttermilch hat offenbar vergessen, … dass neben der zahlenmäßig geringen, mehr oder weniger widerlichen, bourgeoisen jüdischen Schicht eine mehrere Millionen zählende Masse hungernder, herumgestoßener Juden dahinvegetiert. … Heute, wo man das ›Elend Elend‹ nennt, wo das jüdische Proletariat reift und sich erstaunlich rasch entwickelt, sich bewusst organisiert und gezwungen ist, über sich zu reden, wo es seine besondere Stellung unter den Juden betont, wo es um jeden Preis jegliche, auch die loseste Verbindung zu seiner bürgerlichen ›Oberschicht‹ abzubrechen wünscht, wo nur noch die Nichtswürdigsten nach rassischer Solidarität kläffen und die blutenden, hungernden Massen für die Gaunereien und wucherischen Praktiken einiger ihrer ›Vertreter‹ mitverantwortlich machen, wo vielleicht niegendwo zwei einander feindlich gegenüberstehende Lager so krass erkennbar sind wie gerade hier, die sich nicht nur in ihren Überzeugungen, sondern sogar in ihrer Sprache unterscheiden, wenn man das heute nicht wahrnimmt, nicht sieht –«, dann zeugt das in Korczaks Augen von unentschuldbarer Ignoranz.4 Das Publikationsorgan Głos, in dem diese und ähnliche progressive Positionen öffentlich vertreten werden, ist den herrschenden politischen Kräften aber zu unbequem, sie werden die Zeitschrift noch im Jahr 1905 verbieten.5

4.4 Intermezzo im russisch-japanischen Krieg (1905/06) Ab Ende Juni oder Anfang Juli 1905 muss Korczak seine Arbeiten in Warschau unterbrechen, um als Arzt im russisch-japanischen Krieg Dienst zu 4. SW, Bd 7, S. 204ff. 5. Vgl. den Kommentar in: ebd., S. 491.

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4. Kinderarzt und Publizist: 1905–1912

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tun. Als »begleitender Oberarzt« eines Lazarettzuges gelangt er bis in die Mandschurei. In zwei Aufsätzen – Über den Krieg und Im Lazarettzug6 – beschreibt er die zu behandelnden einfachen Soldaten und ihre Krankheiten aus seiner auch hier gesellschaftskritischen Sicht. Als er beispielweise auf geistig verwirrte Kranke trifft, klagt er die sozialen Zustände an, aus denen die Männer kommen: »Die Wurzeln ihrer geistigen Verwirrung muss man in der schwarzen Grube ihrer Vergangenheit suchen. Syphilis, Trunkenheit, Hunger, Vererbung – der Krieg hat nur ein Übriges hinzugetan, die Sache vorangetrieben, verschärft.«7 Und das verängstigte Verhalten der Soldaten während der ärztlichen Untersuchungen erinnert ihn an eigene Examen in der Schule.8 Wärend diese beiden kleinen Berichte Korczaks 1905 in Głos abgedruckt werden, erscheint im selben Jahr, sozusagen als Krönung seiner Zusammenarbeit mit Kolce, das Buch Koszałki opałki (zu Deutsch: Ungereimtes oder Albernes Zeug9) – bestehend aus einer Auswahl von 33 Texten aus der Vielzahl seiner zwischen 1901 und 1905 erschienenen Kolce-Artikel. Von der Literatur-Kritik viel beachtet, wird Albernes Zeug zwischen 1906 und 1927 auch in Russisch, Tschechisch, Jiddisch und Esperanto herauskommen.10 Nach seiner Rückkehr aus dem russisch-japanischen Krieg (März 1906) widmet sich Korczak seinen ärztlichen Pflichten im Berson-Bauman-Spital; daneben ist er aber auch wieder schriftstellerisch tätig:

4.5 Kritik an der Gesellschaft (1906) In mehreren Artikeln11 übt er scharfe Kritik am Zustand der kapitalistischen Gesellschaft, in der die arbeitenden Massen kaum satt zu essen haben und in erschreckenden Wohnverhältnissen leben müssen. Er argumentiert im Sinne der Warschauer »Freiheitsbewegung«, die das Proletariat unterstützt und gegen die Okkupationsmacht Russland gerichtet ist. Der Autor gibt der Hoffnung Ausdruck, dass sich die politisch unterschiedlichen Lager 6. 7. 8. 9. 10 11.

In: SW, Bd. 8, S. 70ff. Ebd., S. 70f. Ebd., S. 74. SW, Bd. 2, S. 621ff. Vgl. ebd., S. 759. SW, Bd. 7, S. 211ff, insbesondere S. 213f, 221, 226ff.

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4.6 Zum polnischen Gesundheitssystem (1906)

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der revolutionären Bewegung in ihrem Kampf um gleiche Rechte und größere demokratische Freiheiten aufeinander zubewegen werden. Diese Artikel erscheinen schon nicht mehr in der Zeitschrift Głos, weil diese zwischenzeitlich verboten wurde. Freunde der Heraugeber der Zeitschrift haben aber stattdessen die Soziale Rundschau (Przegląd Społeczny) gegründet, die die gleichen Interessen vertritt und damit auch Korczak ein Forum bietet. In eben dieser Soziale Rundschau macht Korczak auf einen anderer Aspekt von gesellschaftlicher Ungerechtigkeit aufmerksam: die unerfreuliche Situation der Kinder. Mit dem Erlebnisbericht eines Grundschülers – Die verhängnisvolle Woche12 – veranschaulicht er die vielen schwierigen und diskriminierenden Erfahrungen von Kindern im Schulalter. Die einfühlsame Erzählung über das Erleben eines Schülers stellt einen ersten Versuch dar, die Perspektive von Kindern einzunehmen, um ihr Fühlen, Denken und Handeln besser verstehen zu können. Diesen neuen pädagogisch-literarischen Ansatz wird er 1913 um zwei weitere Perspektiven erweitern und als einen Beitrag zum mehrperspektivischen Verstehen von Kindern veröffentlichen (Pkt. 6.1) und 1925 mit der phantastischen Erzählung Wenn ich wieder klein bin zu einem gelungenen Abschluss bringen (Pkt. 11.3).

4.6 Zum polnischen Gesundheitssystem (1906) In der Zeitschrift Ärztliche Kritik (Krytyka Lekarska) erscheinen die ersten Publikationen des jungen Arztes mit Medizinbezug im engeren Sinne. Allerdings deckt er auch hier vor allem die wunden Stellen des Systems auf. So kritisiert er beispielsweise Mängel an der ärztlichen Selbstverwaltung und am staatlichen Gesundheitswesen.13 In einem Artikel des Jahres 1906 zitiert er den Privatsekretär von Friedrich Engels, Karl Kautsky, der über die damaligen Intelligenzler schrieb: »Sie haben aufgehört, die geistigen Führer der Bourgeoisie zu sein, und sind ihre Klopffechter geworden … Das Strebertum wuchert unter ihnen empor; nicht die Entwicklung, sondern die Verwertung ihrer geistigen Güter ist jetzt ihre erste Sorge, und die Prostituierung ihres Ichs ihr Hauptmittel, vorwärts zu kommen. …« Und von Kautsky ausgehend betont Korczak, dass der kapitalistische Staat genau auf solch eine Intelligenz angewiesen ist: »Der Staat und die Kapitalisten brauchen die Intelligenz; aber eine 12. SW, Bd. 3, S. 27ff. 13. Medizin in Selbstverwaltung, in: SW, Bd. 8, S. 210ff.

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4. Kinderarzt und Publizist: 1905–1912

rechtlose, gefügige, unterwürfige, zu Zugeständnissen und zu jeglichen Kompromissen bereite Intelligenz, also eine, die nicht nach geistiger Vorherrschaft strebt, sondern sich auf die Seite der Verteidiger und getreuen Diener der bestehenden Ordnung stellt. … Mit fotografischer Genauigkeit wiederholt sich das im heutigen Ärztemilieu. … Ich habe keinen Zweifel, dass bei uns alles ungewöhnliche, ja groteske Formen angenommen hat. Wenn andernorts ein Amtsarzt verhältnismäßig redlich sein kann, muss er bei uns absolut unredlich sein; wenn anderswo die Mächtigen heutzutage schon ein wenig auf die Stimme des Arztes hören, so gilt sie hierzulande absolut nichts; wenn anderswo die Bemühungen um Gehör äußerst gering sind – so gibt es sie hierzulande überhaupt nicht. Entweder sind unsere Schulen (im Sinne des Staates) besser oder die Arbeitsbedingungen schlechter, kurzum, unsere Gabe, sich den Behörden anzupassen, ist erstaunlich, außergewöhnlich, ja unübertroffen.«14 In der Neuen Zeitung (Nowa Gazeta) stellt sich Korczak öffentlich auf die Seite von Krankenhausbeschäftigten, die zum Streik gegen die »Misswirtschaft in Krankenhäusern« aufrufen und folgende Forderungen stellen: »1. Monatsgehalt für Männer und Frauen 15 Rubel. 2. Zwölfstündiger Arbeitstag, von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends. 3. 40 Kopeken pro Tag für den Lebensunterhalt. 4. 40 Pud Kohle pro Monat für Verheiratete. 5. Nach 5 Jahren Erhöhung des Gehalts um 25 Prozent. 6. Keine Ausübung der Frauenarbeit durch die Männer. 7. Wohnungswechsel: ein Zimmer für vier Ledige, ein getrenntes Zimmer für Verheiratete (keine Kellerwohnung). 8. Auszahlung des gesamten Gehaltes während der Krankheit, nach der Krankheit zwei Wochen Erholung, auch bezahlt; Arzt und Pflege auf Kosten des Krankenhauses. 9. Nach Ablauf eines Jahres obligatorisch einen Monat Urlaub; das Krankenhaus bezahlt in der Urlaubszeit die Vertretung. 10. Den am Tage Arbeitenden keinen Nachtdienst in Sälen aufzwingen, dazu soll ein anderes Personal eingesetzt werden. 11. Festsetzung fester Mahlzeiten. 12. Einmal wöchentlich ein Bad. 13. Menschliches Behandeln des Personals, gebührende Achtung für das Personal seitens der Ärzte und der Krankenhausverwaltung. 14. Wahl eines Vertreters, der sich mit den Angelegenheiten seiner Kollegen beschäftigen soll; Ablösung der Nonnen von diesen Posten. 14. Ebd., S. 223.

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4.7 Kind des Salons (1906)

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15. Einstellung des neuen Personals ins Krankenhaus durch einen Delegierten, der von den Beschäftigten gewählt wird. 16. Gründung einer Ortsbibliothek für das Personal. Im Weigerungsfall droht das Personal mit einem unbefristeten Streik in allen Krankenhäusern.«15 Der von Korczak zitierte Aufruf ist vom Warschauer Komitee der Polnischen Sozialistischen Partei Proletariat unterschrieben. Korczak unterzeichnet seine Artikel mit Medizinbezug mit seinem Geburtsnamen H. Goldszmit bzw mit Dr. Henryk Goldszmit oder den entsprechenden Kryptonymen: h. g. bzw g. Im Übrigen bleibt er ab jetzt aber bei seinem Schriftsteller-Pseudonym Janusz Korczak bzw J. Korczak.

4.7 Kind des Salons (1906) Im Jahr 1906 erscheint das Buch Kind des Salons. Mit diesem »Roman« wird Korczak als Schriftsteller bekannt. Das Werk wird von der Kritik applaudiert und zum literarischen Ereignis in Polen.16 Die Fachrezensenten bescheinigen dem jungen Literaten, dass er mit dem Salonkind neue Wege des kulturellen Umgangs mit dem sozialen Leid beschritten habe. Sie weisen mit Recht auf die wichtige Funktion der Literatur bei Korczaks Sozialkritik hin. Für ihn ist die Schriftstellerei tatsächlich eine Art kultureller Kampf gegen das soziale Leid der Unterpriveligierten und dabei vor allem ein Kampf für die Rechte und das Wohl des Kindes. Im Roman werden die bürgerlichen Privilegien des Salon-Kindes radikal in Frage gestellt. Der Schriftsteller Korczak wird zum Fürsprecher des rechtlosen Kindes. Am Anfang der Biographie des späteren leidenschaftlichen Sozialpädagogen steht also der junge gesellschaftskritische Literat Korczak. Als solcher ringt er im Kind des Salons um Identität und Lebensziel. Entscheidend für Inhalt und Material des Romans sind eigene Lebenserfahrungen des Autors, die er auf literarisch verdichtete Weise verarbeitet. Der Romanheld Jan (Kurzform von Janusz) versucht, seinen Lebenssinn 15. An den Industriellenkreis (in Erwiderung), in: ebd., S. 164f. 16. Die Korczak-Bibliographie weist über 20 Drucke von Kind des Salons, bzw. von Teilen daraus in verschiedenen Verlagen und Ländern und über 10 Rezensionen in bekannten Zeitschriften nach. Vgl. Janusz Korczak Bibliografia, herausgegeben von Beiner, F./Dauzenroth, E./Deutsche Korczak-Gesellschaft. Heinsberg 1985, S. 101ff; vgl. auch den Kommentar in: SW, Bd. 1, S. 439ff.

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und seine Lebensperspektive zu finden, indem er, wie der Medizinstudent Henryk, zeitweilig in die Welt der »Elenden« eintaucht, um deren Los zu teilen, zu verstehen und zu lindern. Und das, was er dabei erlebt, entspricht dem, was die späteren Biographen Korczaks über den Medizinstudenten Henryk berichten, der neben seinem Studium in die zwielichtigen Viertel Warschaus geht und als Janusz die Welt »von ganz unten« zu erkunden trachtet: »Manchmal verschwindet Henryk von der Universität … und dann erscheint Janusz in der Altstadt. In den dämmrigen, schmalen Straßen, in den blinden Sackgassen hallen seine Schritte dumpf auf dem ausgetretenen Pflaster, wenn er die Elendsbehausungen des Lumpenproletariats, die Zuhälterquartiere und die Diebeskneipen streift. Um die Mittagszeit besucht dieses Armenviertel der ›Suppentrompeter‹ einer Wohltätigkeitsgesellschaft: Ein Koch mit weißer Schürze und weißem Käppchen ruft mit Trompetenstößen die Hungrigen zu einem Kohlgericht oder einer Erbsensuppe für 3 Kopeken herbei, und wenn man einen Teller mitbringt, braucht man nichts zu zahlen. Ein Schlupfwinkel des Elends und des Lasters, von obdachlosen Kindern und Messerstechern. Manchmal erscheint ein Polizeimeister, revidiert die Passanten, und wenn er bei einem ein Messer findet, dessen Länge die Breite einer Hand überschreitet, so befiehlt er seinen Kosaken, den Betroffenen gleich auf dem Bürgersteig mit ihren Knuten zu verprügeln. Aber das geschieht nur bei Tage. Sobald der Abend dämmert, wagt es keine Amtsperson, kein Schutzmann, sich in diesen Vierteln zu zeigen. Aber Janusz bewegt sich hier ganz ungeniert, hat auch hier seine Freunde, und niemand rempelt den wunderlichen Studenten an. ›Mit unvergleichlicher Meisterschaft rührt Janusz die Herzen an‹ – sagt sein Freund Liciński, ein junger Dichter der polnischen Dekadenz. Sogar die Messerstecher haben ihn gern. Eines Nachts wollten sie sich hinter einer Kneipe um seinetwillen duellieren, aber Janusz redete auf sie ein, umarmte einen von den Schlägern und gab ihm einen Kuss auf seine versoffene Verbrechervisage, bis dieser wütend wurde und unter Fluchen sein Messer auf den Boden schleuderte. Janusz selbst notiert in seinem Tagebuch: ›Die Jahre haben hier finstere und rachsüchtige Gewalten aufeinander getürmt, in diese Welt kann man nicht ungestraft Einblick nehmen. … Ich beginne jetzt zu begreifen, wie man für einen Tagesverdienst von vier, drei oder gar zwei Złoty eine Familie erhalten, Miete, Lebensunterhalt, Kleidung, Wäsche, Petroleum, Doktor, Apotheke und den Pfarrer für das Begräbnis bezahlen und sich manchmal noch betrinken und einen Namenstag ausrichten kann. Ich verstehe jetzt, warum die Kinder hier eine erdige Gefängnishaut, entzündete Lider und krumme Beine haben, und warum von zehn nur vier am Leben bleiben. Ich

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4.7 Kind des Salons (1906)

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kann es mir nur nicht erklären, wie diese vier groß werden können und Kraft zur Arbeit haben.‹«17 Korczak knüpft mit dem Kind des Salons an die literarische Moderne und »Das Junge Polen«18 an und findet dabei seinen eigenen Weg. Er führt seinen Helden ins volle Leben, in eine ungeschminkte Existenz-Erfahrung. »In der Stickluft der Proletarierwohnung, angesichts des einfachen Menschenalltags, der alltäglichen Freuden und Mühen, vergisst der Held im Salonkind seine Qualen und Zweifel. Ohne das Ferment des Aufbegehrens, der Anklage, ohne dieses Lächeln durch Tränen wäre vielleicht aus der Brutalität des Daseins und dem Chaos der Leiden die spezifische Kunst Kor17. Newerly, Igor: Einleitung …, a. a. O., S. XIII ff. 18. Als Korczak sein Buch Kind des Salons schreibt, ist er der literarischen Bewegung »Junges Polen« (Młoda Polska) zuzurechnen. Das »Junge Polen« (ca. 1890–1918) richtet sich im Anschluss an die »Polnische Moderne« mit ihrem naturalistisch geprägten Hintergrund gegen einen nicht wertenden Positivismus. Unter dem Eindruck der Folgen der industriellen Revolution sieht die jetzige polnische Schriftstellergeneration den Menschen an als Produkt seines Milieus, der geschichtlichen Situation und der nationalen Herkunft. Für viele sind die bisherigen gesellschaftlichen Werte in Frage zu stellen, ja sogar zu negieren. Die nihilistische Ablehnung aller Werte und die Verneinung der Möglichkeit jeglichen Erkennens von Wahrheit hatten die Intellektuellen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in eine radikale Krise gestürzt. Die Relativierung aller Autoritäten scheint das sich nun in einer sinnlosen Leere befindende, aber dennoch suchende »Ich« auf das eigene Erleben zu verweisen und nur den Rückzug in einen extremen Subjektivismus offen zu lassen (vgl. SW, Bd. 1, S. 378). Teresa Walas kommentiert in ihrem Nachwort zu einer polnischen Ausgabe von Kind des Salons (Dziecko salono. Kraków 1980): »Alles ist ungültig, nur eines bleibt: die Erfahrung der eigenen Existenz. Es gibt keinen anderen als den eigenen Horizont des Wissens, keine authentische Gegenwart außer der, die sich in der persönlichen Biographie ereignet. Das individuelle Schicksal ist sowohl determiniert als auch offen für Freiheit. Die einzige Wahrheit, die der Schriftsteller verantwortlich entdecken kann, die einzige ethische Orientierung, die er geben kann, ist die, die seine Autobiographie enthält.« Und in der Tat ist das Thema von Kind des Salons zunächst eine ziellose Verzweiflung und die Wahrnehmung der eigenen Existenz in vorgefundenen sozialen Netzen, rücksichtslos geschildert aus der Perspektive eines »Betroffenen«. Unbewusst kommt Korczak mit seinem Protagonisten Jan im Erleben seiner Umwelt dem von ihm am meisten verachteten Philosophen Nietzsche sehr nahe. Jan will jedoch nicht in einem sinnentleerten Erleben verharren und wehrt sich gegen ein Erstarren in der Dekadenz. Nietzsches »Wiederkehr des ewig Gleichen« schließt eine wirkliche Entwicklung und Veränderung aus, diese lässt sich aber vielleicht doch im gelungenen menschlichen Lebenslauf finden. Jedenfalls kommt es auf das gelebte Leben an, entsprechend der von Szczepanowski übernommenen Maxime: »Nicht das Credo der bekennenden Worte, sondern das Credo des gelebten Lebens – ist Maß und Kriterium der Religion jedes Menschen und jeder Epoche« (SW, Bd. 1, S. 244).

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czaks gar nicht entstanden.«19 Und diese literarische Kunst erschließt existentiale Perspektiven, denn – während sich der Erzähler mit den Elenden solidarisiert, ihre Erfahrungen und Sorgen teilt, öffnet sich ihm aus der Tiefe des miterlebten Schmerzes und dem Sehnen nach Veränderung ein neuer Horizont: »Ich spüre, wie sich in mir unbekannte Kräfte sammeln, die mir die Erleuchtung bringen – und das Licht, das mich bis zum letzten Atemzug begleiten wird. Ich spüre, ich stehe kurz davor, aus der Tiefe meiner Seele das Ziel ans Licht zu fördern, aus dem ich mein Glück gewinnen werde.«20 Dieses »Ziel«, aus dem Korczak sein »Glück« gewinnt, ist die Solidarität mit den Unterprivilegierten der Gesellschaft, insbesondere den Kindern. Es entwickelt sich bei ihm offenbar in einer Art Katharsis, in der er das Elend der Ärmsten und die korrespondierenden Hohlheiten der Bürgerlichen und Wohlhabenden literarisch durcharbeitet.

4.8 Ein gefragter Arzt und Redner (1906) Der Bucherfolg macht Janusz Korczak/Dr. Henryk Goldszmit zu einem gefragten Arzt und Redner. Er ist jetzt nicht nur im Berson-Bauman-Spital tätig, auch Privat-Patienten wünschen, von ihm behandelt zu werden. Tagsüber ist er bei den reichen Familien gern gesehen (praxis aurea), nachts kümmert er sich um arme Patienten (praxis pauperum). Beim Schreiben seines Pamiętnik erinnert er sich an diese Zeit zurück: »Die Śliska-, die Pańska-, die Mariańska-, die Komitetowa-Straße. Erinnerungen – Erinnerungen – Erinnerungen. Jedes Haus, jeder Hof. Hier waren meine Hausbesuche für einen halben Rubel, hauptsächlich nachts. Für die Konsultationen am Tage bei den Reichen in den reichen Straßen ließ ich mir bis zu drei und fünf Rubel zahlen. Eine Dreistigkeit … Professorenhonorare. Ich, der Spitalsarzt, das Mädchen für alles, das Aschenputtel des Berson-Spitals. Ein so dicker Band von Erinnerungen. Die jüdischen Ärzte hatten keine christlichen Patienten – es sei denn, sie gehörten zu den bekanntesten Bewohnern der Hauptstraßen. – Und selbst die – stolzgeschwellt: ›Heute habe ich einen Besuch beim Reviervorsteher, beim Restaurateur, beim Portier der Bank, beim Lehrer des Progymnasiums in der Nowolipki-Straße, beim Postmeister.‹ Das war schon was. Und bei mir Anrufe, freilich nicht täglich: ›Herr Doktor, die Gräfin Tarnowska bittet Sie ans Telefon. – Der Staatsanwalt der Gerichts19. Mortkowicz-Olczakowa, Hanna: Janusz Korczak. Arzt und Pädagoge. München/Salzburg 1972, S. 46. 20. SW, Bd. 1, S. 364.

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4.8 Ein gefragter Arzt und Redner (1906)

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kammer. – Die Frau des Direktors Tygajło. Der Herr Rechtsanwalt Makowski, Szyszkowski.‹« In diesem Erinnerungsbericht erfahren wir auch, wovon der junge Arzt lebt: »Als Spitalsarzt bekam ich eine Wohnung mit zusätzlichen Leistungen, zweihundert Rubel jährlich in vier Raten. Die Wirtschaft führte mir mein braves Mütterchen für fünfzehn Rubel. Vom Praktizieren hundert Rubel monatlich, vom Artikelschreiben auch noch ein paar Groschen. … Unentgeltlich behandelte ich die Kinder von Sozialisten, Lehrern, Journalisten, jungen Rechtsanwälten, selbst Ärzten – alles fortschrittliche Leute.«21 Korczak und seine ärztliche, erzieherische und literarische Arbeit werden nun also in der Öffentlichkeit wahrgenommen. So ergreift er im Dezember 1906 für den bekannten Schriftsteller und Kritiker Stanisław Brzozowski, gegen den eine Anklagenkampagne von Anhängern der nationalistischen »Nationaldemokratie« läuft, in der Sozialen Rundschau öffentlich das Wort.22 Von den Veranstaltern einer Vortragsreihe »Mütterversammlungen« wird er – als der »bekannte Schriftsteller, Arzt und Kinderfreund« – im Jan./Febr. 1907 gebeten, Über die Erziehung der Kinder zu sprechen. In Anlehnung an eine Rede von Ferdinand Lassalle ruft er dann auf zum Kampf für die Rechte der Kinder der Arbeiterklasse.23 Neben seinen medizinischen und schriftstellerischen Tätigkeiten verfolgt er also emanzipatorische Interessen, indem er als Redner dezidiert für die Sache des unterprivilegierten Kindes und dessen Rechte eintritt. Ein Ort, an dem man lautstark für die Menschenrechte und damit auch für die Rechte der Kinder kämpfen sollte, ist für Korczak vor allem die Schule (s. Pkt. 4.2). Von solch einer Schule ist das von den Preußen, Österreichern und Russen okkupierte Polen aber noch weit entfernt; obwohl in dieser Zeit in verschiedenen Ländern reformpädagogische Kräften gerade die Schule verändern möchten. Korczak scheint der Überzeugung zu sein, dass es eines utopischen Überschusses bedarf, um solche notwendigen Veränderungen anzustoßen. Jedenfalls arbeitet er seit der Rückkehr aus dem russisch-japanischen Krieg (März 1906) an einem alternativen Modell zur bestehenden Schule und entwirft unter dem Titel Die Schule des Lebens24 eine Art SchulUtopie, die ab Anfang 1907 in Fortsetzungen veröffentlicht wird. 21. SW, Bd. 15, S. 336ff. 22. Vgl. Geehrter Herr Stanislaw!, in: SW, Bd. 7, S. 229ff. 23. SW, Bd. 9, S. 150ff. 24. SW, Bd. 7, S. 311ff.

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Die ersten Fortsetzungen von Die Schule des Lebens erscheinen ab Febr. 1907 in der Sozialen Rundschau. Weil diese Zeitschrift Ende 1907 aber ebenfalls, wie ihre Vorgängerin Głos, verboten wird, erscheinen die weiteren Fortsetzungen bis April 1908 in einem neuen kospirativen Veröffentlichungsorgan, der Zeitschrift Gesellschaft (Społeczeństwo).25

4.9 Die Schule des Lebens (1907) Der Autor versieht seinen literarischen Entwurf zu einer neuen Schule mit einer einführenden Anmerkung: »Die Schule des Lebens – ist eine phantastische Erzählung, geschrieben vor dem Hintergrund einer dem Vernehmen nach existierenden, vorbildlichen reformierten Schule, die den Zwecken der ganzen Menschheit dient und nicht – der kleinen Klasse der Besitzenden.«26 Man könnte den Text also eine Utopie nennen, denn eine Utopie bezeichnet den Entwurf einer möglichen Welt, die »die Grenzen und Möglichkeiten einer jeweiligen Wirklichkeit übersteigt und eine substantiell andere, bessere Welt anzielt. Dieser Entwurf ist ein Gedankenexperiment, aber er ist nicht als bloßes Spiel gemeint, sondern beansprucht eine gewisse Verbindlichkeit des So-soll-es- und So-kann-es-Sein. Utopie ist das Land Nirgendwo, das einmal – nicht im ganzen, aber in wesentlichen Strukturen – irgendwo sein soll.«27 Korczaks »Utopie« von einer reformpädagogischen Schule steht unter dem Banner: »Vom Proletariat und für das Proletariat«.28 Sie stellt eine Verknüpfung dar von Schulunterricht und Volksbildung, Handwerkslehre, sozialer und medizinischer Fürsorge und ökonomischer Hilfe. Sie strebt eine bessere Bildung für die »Kinder des arbeitenden Volkes«29 an und möchte den Fortschritt in Wissenschaft und Technik allen Menschen solidarisch zugänglich machen, statt ihn ausbeuterisch gegen andere zu nutzen. Sie soll als einzige den Namen »Schule des Volkes« verdienen.30 25. Da Korczak die Sommermonate von 1907 in einer Sommerkolonie verbringt und unmittelbar danach darüber schreibt (Pkt. 4.11), anschließend fast ein Jahr in Berlin weilt, dürfte er den vollständigen Text von Die Schule des Lebens bereits vor der Sommerpause abgeschlossen haben: darum die Zuordnung zum Jahr 1907. 26. SW, Bd. 7, S. 311. 27. Bark, J./Steinbach, D./Wittenberg, H. (Hg.): Epochen der deutschen Literatur. Stuttgart/München/Düsseldorf/Leipzig 1989, S. 94. 28. SW, Bd.7, S. 336. 29. Ebd., S. 441. 30. Ebd., S. 456.

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4.9 Die Schule des Lebens (1907)

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Der Autor kritisiert zunächst die menschenunwürdige Lebenssituation der ärmsten Bevölkerungsschichten und setzt sich kritisch mit den das Handeln leitenden Prinzipien der besitzenden Klasse auseinander. »Die ganze Menschheit ist in zwei Gruppen aufgeteilt: die psychisch kranke überwältigende Mehrheit der Benachteiligten und die Minderheit der Satten und scheinbar Zufriedenen.«31 Statt seine finanziellen Mittel zur Verbesserung der Lage aller einzusetzen, denkt das Bürgertum an seine Vergnügungen und den eigenen Profit: »Trunksucht, Glücksspiel und Ausschweifungen haben sich dort ein warmes Nest errichtet, wo die Menschen eines der wichtigsten gesellschaftlichen Probleme lösen sollten. Und hier wie überall dient die Konkurrenz nicht einer Mäßigung der Preise in dem Sinne, dass die Gier der Unternehmer nach großen Gewinnen unterdrückt wird; statt dessen führt sie zur Fälschung der Erzeugnisse, zur Demoralisierung des öffentlichen Geschmacks, zur Ausbeutung der Arbeiter.«32 Das Resultat sind »Millionen unterernährter, verfrorener, erstickter Menschen, die an eine sinnlose Arbeit gefesselt sind, jede Stunde aufs Neue vergiftet werden – die gepeinigt, geschädigt, erniedrigt wurden«.33 So wird der Zustand der gegenwärtigen Gesellschaft als inhuman entlarft: »Solange wir nicht allen Menschen Brot, ein Dach über dem Kopf und die Möglichkeit zur geistigen Bildung bieten, so lange dürfen wir uns auch nicht der Illusion hingeben, dass wir den Namen menschliche Gesellschaft verdienen.«34 Korczaks Alternative: »Kein Unrecht zufügen, sich nicht gegenseitig unterdrücken, nicht wie zwei Hunde oder Wölfe um ein Stück Knochen kämpfen – und auch nicht mit Schläue, sondern nur mit vereinten Kräften die Natur dazu zwingen, Brot für alle in ausreichender Menge zu geben; und wenn sie zu wenig gibt, muss auch dieses Brot gerecht unter den Menschen verteilt werden, wenn es heute auch schon genug für alle gibt. Wenn wir Menschen und keine Tiere sein wollen, dann müssen wir aufhören, uns gegenseitig auszuhungern.«35 Dafür steht sein Entwurf einer neuen Schule. Diese orientiert sich nicht an der politischen Richtung des Staates, sondern an der Individualität jedes einzelnen Schülers. In der Lebensschule werden die spezifischen Anlagen jedes Kindes gefördert, weil die Entwicklung der Gesellschaft nicht voranschreiten kann ohne die Berücksichtigung der in den Individuen angelegten Kräfte. Und neben den individuellen sind auch die sozialen Kräfte durch produktive geistige und körperliche Arbeit zum 31. 32. 33. 34. 35.

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Wohle des Ganzen zu entwickeln: »Denn der Mensch unterscheidet sich vom Vieh darin, dass ihn nicht nur die eigene Krippe etwas angeht, sondern das Schicksal aller Menschen – der Menschheit. Denn der Mensch unterscheidet sich darin vom Vieh, dass er sich immerzu vervollkommnen will: Er forscht, er sucht, er verbessert.«36 Die Schule des Lebens macht ihre Schüler mit fairem Handel vertraut und rüstet sie gleichzeitig für den Existenzkampf: »Nur unsere Schule gibt dem Schüler die Waffen für den Kampf um eine bessere Existenz der ganzen leidenden Menschheit.«37

4.10 Der Reformpädagoge Korczaks aus heutiger Sicht möglicherweise etwas romantisch-naiv anmutende Ausführungen zu einer neuen Schule und Gesellschaft müssen zum einen gesehen werden als ein literarisches Experiment eines jungen Schriftstellers, zum anderen als ein struktureller Entwurf des Reformpädagogen Janusz Korczak in einer auf Reformen gestimmten historischen Situation. Denn das beginnende 20. Jahrhundert ist nicht nur durch politische Verunsicherungen und Umbrüche, sondern vor allem durch Gesellschaftskritiker und Gesellschaftsutopisten geprägt, die es zum Jahrhundert des Kindes ausrufen.38 Mit seinen Forderungen nach einer Ablösung der »toten Schule« durch eine Schule des Lebens tritt Korczak ein in einen weltweiten Kreis von Reformpädagogen, die sich für eine neue, freie, dem Leben verbundene Schule und Erziehung einsetzen. So hatte z. B. Nicolai Frederic Grundtvig bereits im 19. Jahrhundert Die Schule für das Leben gefordert39; und – um die Jahrhundertwende – hatte Ellen Key von der Schule der Zukunft geträumt40 und John Dewey postuliert, man solle anstatt des Lehrplans das »Leben« in den Mittelpunkt der Schule stellen. Schon 1897 sah Dewey in einer neuen Schule die »einzig sichere Methode der sozialen Rekonstruktion« und des »sozialen Fortschritts«.41 So liest sich sein Vortrag Die Schule und der soziale Fortschritt42 von 1905 heute wie eine vorweggenommene Begründung für Korczaks Schule des Lebens.

36. 37. 38. 39.

Ebd., S. 338. Ebd., S. 412. Key, Ellen: Das Jahrhundert des Kindes. Berlin 1902. In: Röhrs, H. (Hg.): Die Reformpädagogik des Auslands. Düsseldorf/München 1965, S. 235ff 40. Ebd., S. 220ff. 41. Dewey, J.: My Pedagogic Creed (1897). In: Ders.: The Early Works, Vol. 5. Carbondale 1972, S. 93f. 42. Dt. in: Reble, A. (Hg.): Die Arbeitsschule. Bad Heilbrunn 1979, S. 59ff.

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4.10 Der Reformpädagoge

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Schon Leo N. Tolstoj hatte darauf bestanden, dass »Bildung nicht zur Selektion und Hierarchisierung missbraucht werden darf, sondern die soziale Gleichstellung befördern muss«43 und bereits 1862 Die Schule von Jasnaja Poljana als eine Alternative zur bestehenden reaktionären russischen Schule beschrieben. Stanislav Teofilowitsch Schazki hatte 1905 unweit Moskaus eine Kolonie gegründet – nach Anregungen seines Freundes, der in Amerika die »Settlements« kennen gelernt hatte. Schazkis Settlement umfasste Kindergarten, Elementarschule, Werkstätten und Klubs. Auch seine Einrichtung wurde von dem Grundsatz »das Leben erzieht« bestimmt.44 Hermann Lietz hatte in Abbotsholme bei Cecil Reddie, dem Gründer des ersten englischen Landerziehungsheims, einen neuen Schultyp kennen gelernt und 1897 in seinem Buch Emlohstobba seinen Erziehungsplan für ein deutsches Landerziehungsheim vorgelegt.45 Nachdem mit der Übersetzung des 1899 erschienen Werkes L’éducation nouvelle von Edmond Demolins durch Jan Władysław Dawid ins Polnische (1900) die literarische Rezeption der westeuropäischen und amerikanischen »neuen Erziehung« in Polen unter dem Titel »nowe wychowanie« begonnen hatte, wurde 1905 von Stanisław Karpowicz unter dem Titel Jakiej potrzeba nam szkoły? (Was für eine Schule brauchen wir?) ein konsequent demokratischer Schulentwurf vorgelegt, in dem es heißt: »Der allgemeinste und damit wichtigste Grundsatz, auf dessen Fundament die neue Erziehung und das gesamte Schulwesen aufgebaut werden müssen, basiert auf der Erkenntnis, dass im Bildungssystem die klassenmäßige, parteiliche oder parteipolitische Richtung ersetzt werden muss durch eine allgemeingesellschaftliche Tendenz. Die Schule wird nicht für die Zukunftsaussichten der einen oder anderen Klasse bilden und erziehen, sondern zum Wohl aller. Die Erziehung wird, anstatt die Natur des Kindes zu vergewaltigen und sie für den ausschließlichen Nutzen der Auserwählten des Schicksals zu dressieren, alle Kräfte der Jugend entwickeln und sie zur vollen Befriedigung und Fülle des individuellen und gesellschaftlichen Lebens hinführen.«46 (Karpowicz wird 1909 Korczaks Kinderbuch Die Mojscheks, Joscheks und Srulek47 rezensieren und sich im Mai

43. Blankertz, Stefan: Tolstojs Beitrag zur Theorie und Praxis anarchistischer Pädagogik. In: Tolstoj, Leo N.: Die Schule von Jasnaja Poljana. Wetzlar 1980, S. 15. 44. Schazki, Stanislav Teofilowitsch: Ausgewählte pädagogische Schriften. Berlin 1970, S. 65–115. 45. Lietz, Hermann: Emlohstobba. Roman oder Wirklichkeit? Bilder aus dem Schulleben der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft? Berlin 1897. 46. Karpowicz, Stanisław: Was für Schulen brauchen wir? In: Zur Geschichte der fortschrittlichen Pädagogik in Polen. Berlin 1984, S. 140. 47. Vgl. SW, Bd. 10, S. 347.

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4. Kinderarzt und Publizist: 1905–1912

1912 an einer Diskussion zu dessen Vortrag Wie können die Kinder am besten die Ferien verbringen? beteiligen.48 Mit der Erziehungsvision Die Schule des Lebens reiht sich Korczak also ein in eine große Gruppe von Erziehungsreformern, die geistig verbunden war durch die Zielvorstellung von einer »neuen Schule« und international beschrieben wurde mit Schlüsselbegriffen wie »Selbsttätigkeit und Selbstverantwortung«, »Learning by doing«, »Projektmethode«, »Gesamtunterricht«, »Group and creative activities«.49 Fast alle diese Ideen bestimmen auch Korczaks Schule des Lebens und viele werden ab 1912 in den Erziehungssystemen des Dom Sierot und des Nasz Dom erprobt und mit spezifischem Inhalt gefüllt werden, so dass man Korczak – so der Vergleichende Erziehungswissenschaftler Oskar Anweiler – zu den »radikalsten ideellen Vertretern« der zeitgenössischen Reformpädagogik rechnen muss – wenn es ihm auch später »nicht in erster Linie um eine ›neue Schule‹, die der ›alten‹ entgegengesetzt wird, sondern um ›das Recht des Kindes auf Achtung‹, um die Anerkennung der Unverfügbarkeit der Person des Kindes durch die Erwachsenen« gehen wird.50

4.11 Die Sommerkolonie als erzieherische Herausforderung (1907) In den Sommerferien des Jahres 1907 betreut der junge Arzt – wie vordem (1904) der sozial-engagierte Student – erholungsbedürftige Kinder in der Sommerkolonie »Michałówka«. Wie damals wird er tief berührt vom Schicksal der Kinder und von den Erlebnissen mit ihnen in dieser von Warschau so verschiedenen Welt. Und wie immer verarbeitet er seine Erfahrungen literarisch: »Im Angesicht einer brutalen Wirklichkeit will ich meinen himmelblauen Traum erzählen, bevor der morgige Tag ihn mir zerstreut. Ein paar Morgen bescheidenen Waldes. Und darin ein ebenerdiges Gebäude: zwei Flügel, durch eine Veranda verbunden. In geringer Entfernung vom Wald ein Flüsschen, nicht sonderlich tief, nicht sonderlich malerisch. Dafür ringsum eine Menge Felder und Wiesen und in der Höhe sehr viel Himmel. – Hier träumen viermal jeden Sommer je einhundertundfünfzig Kinder vier Wochen lang – einen sonderbaren Traum. 48. Vgl. Nowe Tory (Neue Wege) 1912, Heft 5, S. 447. 49. Vgl. Röhrs, Hermann: Die Internationalität der Reformpädagogik und die Ansätze zu einer Welterziehungsbewegung. In: Röhrs H./Lenhart, V. (Hg.): Die Reformpädagogik auf den Kontinenten. Frankfurt/M. 1994, S. 24. 50. Anweiler, Oskar: Ursprung und Verlauf der Reformpädagogik in Osteuropa. In: Röhrs, H./Lenhart, V. (Hg.): Die Reformpädagogik …, a. a. O., S. 136.

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4.11 Die Sommerkolonie als erzieherische Herausforderung (1907)

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Es ist kaum ein paar Tage her, dass ich auf dem Bahnhof aus einem Heft fremde Namen hintereinander aufgerufen und sie in einer langen Reihe vor dem Eisenbahnwaggon habe antreten lassen. Namen habe ich paarweise antreten lassen, nicht Kinder: Ich wusste ja noch nichts über sie, außer dem, was das Heft vermeldete: Chaskiel Altman aus der Smocza-Straße; Moszek Rotkiel; Ojzer Plocki – elf Jahre – Nowolipki-Straße 51. Aus der wartenden, lärmenden und brodelnden Menge tritt wieder und wieder eine fremde, gleichgültige Gestalt heraus und stellt sich auf den ihr zugewiesenen Platz; einer im Kaftan, ein anderer in geflickter Jacke und einer Mütze mit halb abgerissenem Schirm, ein dritter in Feiertagskleidern. Im Traum folgen die Geschehnisse rasch und ohne jeden logischen Zusammenhang aufeinander, im Traum passieren oft Wunder, die uns jedoch nicht verwundern. Nach zwei Stunden Bahnfahrt zeichnen sich bereits undeutlich die Konturen deiner Gruppe ab, beginnen die toten Namen zu leben. – Der Junge da, mit der Krücke, ist auf der Straße angeschossen worden, im Spital hat man ihm ein Bein abgenommen, und jetzt klebt er Schachteln und verdient einen halben Rubel pro Woche; der dort wiederum zieht durch sein sympathisches, aber trauriges Gesicht die Aufmerksamkeit auf sich: Sein Vater hatte Obstgärten gepachtet, er hat sich erkältet und ist gestorben – die Mutter handelt mit Grünzeug hinterm Eisernen Tor; ein Dritter hebt dir den Bleistift auf und gibt ihn dir; du sagst: ›Danke‹ – er erwidert: ›Keine Ursache.‹ – Ihn hat also nicht der Hinterhof erzogen – bestimmt nicht der Hinterhof: Sein Vater war reich, er hat sein Vermögen verloren, weil er noch mehr haben wollte, als er besaß, jetzt ist er Verwalter (gegen ein Zimmer ohne Küche) in dem Haus, dessen Besitzer er einmal war. Aber das sind nur ein paar, nur wenige, und zwar die, die man am leichtesten erkennt; du aber musst alle kennen. Eine Stunde nach der Ankunft in der Ferienkolonie stehst du im Baderaum, die Ärmel aufgekrempelt, Seife in der Hand: Das ist der Augenblick, der über die Sauberkeit der ganzen Freizeit entscheidet; sobald die Kinder gewaschen sind, ziehen sie die Wäsche und die Kleidung der Kolonie an, ihre eigenen Sachen werden für vier Wochen im Magazin weggeschlossen. Das Klingelzeichen. Wieder nehmen sie an den Tischen auf der Veranda Platz, aber sie sind schon anders; das sind nicht mehr die Kinder, die aus unterschiedlichen Straßen des jüdischen Ghettos kommen, die sich durch den Grad des Elends und der Not voneinander unterscheiden, das ist, so scheint es, eine große Familie, einander zugetan, vergnügt und lachend, nach mancherlei Abenteuern um den gemeinsamen Tisch geschart, um einen festlichen Sonnentag mit einem bescheidenen Abendmahl zu beschließen.

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Sei auf der Hut, Herr Betreuer – lass dich nicht verführen vom Schein. Du hast hässliche Kaftane gegen weiße Jacken eingetauscht, hast die hübsch anzusehenden Leinenmützen der Ferienkolonie ausgeteilt, den Schmutz aus Haaren und Ohren gewaschen – das ist lediglich der Auftakt zur Arbeit. Du siehst die fröhliche, übermütige Jungenschar; doch wenn du genau hinschaust, entdeckst du sehr leicht, dass zwar die meisten ein Lächeln im Gesicht und im Blick haben, aber nicht alle. Es gibt welche unter ihnen, die die Brauen runzeln und den Mund zu einer dir unbegreiflichen, finsteren Grimasse verziehen, welche, die sich beunruhigt umsehen – als seien sie in einen Hinterhalt geraten; und schließlich gibt es noch Gesichter ohne Leben, Augen ohne Glanz. Unter diesen reichlich dreißig Kindern müssen ein paar sein, die stumpf, eingeschüchtert, vom Elend gelähmt sind – müssen ein paar boshafte, widerspenstige, asoziale sein – aber sie sind eigentlich nur äußerst vernachlässigt; trotzdem wunderbar fähig, alles anzunehmen, was gut und schön ist. Und schließlich kann auch einer mit einem gefährlichen Laster darunter sein, mit einer verborgenen Hysterie, einer Entartung, die ihn von innen zerfrisst; wie leicht ist es, ihn zu übersehen, nicht zu erkennen. Sei auf der Hut, Herr Betreuer – aus feinen, kaum wahrnehmbaren Zügen musst du dir das geistige Bild jedes deiner Zöglinge zusammenbauen; eine mühselige, interessante und wichtige Arbeit; bei dieser Arbeit können sie dir nicht helfen. Aus finsteren Chederschulen, aus verlogenen städtischen Schulen bringen sie Misstrauen und Ablehnung gegenüber dem »Lehrer« (= Betreuer) mit, den man täuschen, hintergehen, belügen, dessen Wachsamkeit man einschläfern oder dessen Gunst man sich erschleichen muss, um sich besondere Vorteile und Vorrechte zu verschaffen; aus den finsteren Fluren schmutziger Häuser bringen sie Ablehnung mit gegen Pflicht und Ordnung und Benehmen, wie den Gebrauch einer Gabel fürs Fleisch oder eines Taschentuchs; schließlich haben sie mit der Luft ihrer Umgebung auch den Zweifel eingesaugt, ob Sympathie, ob Mitgefühl von Seiten derer möglich ist, die Polnisch sprechen, die ohne Mütze auf dem Kopf essen und am Sabbat schreiben. In den ersten paar Tagen musst du zwei Aufgaben erfüllen, die beide gleich wichtig sind: Erstens – musst du sie kennen lernen, zweitens – müssen sie dich kennen lernen können. Wenn du das vollbringst, bist du Herr der Saison: Du hast gesiegt; und es erwartet dich für diesen Sieg eine herrliche Belohnung. Alle diejenigen nämlich, die den Mehrwert der Gruppe ausmachen, werden sich mit dir verbünden, sie vereinen ihre Anstrengungen mit den deinen, und sie arbeiten für das Wohl der Gemeinschaft. Du allein, in Anspruch genommen von Wirtschaftsdingen, von Kontrolle und Aufsicht, du allein würdest nicht ein Zehntel von dem schaffen, was du mit

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4.12 Fortbildung in Berlin (1907/08)

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ihnen zusammen schaffst. Dabei ist es ja notwendig, dass der Schüchterne Mut fasst und der Phlegmatische Schwung bekommt, der Selbstbewusste sich strenger zu beurteilen lernt, der Wüterich nachsichtiger wird, der Aufdringliche begreift, dass alle Jungen das gleiche Recht auf den Ball haben, wie darauf, ein Spiel anzuführen, dass der Nachgiebige beharrlich für eine gerechte Sache einsteht, – dass jeder etwas mitnimmt, das ihm für allezeit bleibt.«51 Die Kinder und ihr Verhalten in der Sommerkolonie beeindrucken Korczak derart, dass er nicht nur für Erwachsene darüber berichtet, sondern sie später auch in seinem ersten Kinderbuch thematisieren wird (Pkt. 4.20).

4.12 Fortbildung in Berlin (1907/08) Nach dem Sommerkolonieaufenthalt des Jahres 1907 reist Korczak im September für fast ein Jahr nach Berlin, um sich in der Kinderheilkunde weiterzubilden. In Warschau gibt es noch keinen Lehrstuhl für Pädiatrie. Berlin, Paris und London gelten als Vorreiter in dieser Disziplin. In Berlin besucht Korczak kinderärztliche Fortbildungskurse bei Ludwig F. Meyer und Leo Langstein und bildet sich auf den Säuglingsstationen der berühmten Professoren Heinrich Finkelstein und Adolf Baginsky sowie in der Nervenklinik der Charité bei Theodor Ziehen weiter.52 Erlebnisse und Erfahrungen in Kliniken, psychiatrischen Anstalten und Schulen für geistig Behinderte veröffentlicht er noch während seines Studienaufenthalts unter dem Titel Eindrücke aus Berlin in der Zeitschrift Krytyka Lekarska (Ärztliche Kritik).53 In einem etwas später publizierten Artikel Sorgenkinder wird er neben anderem ebenfalls über Berliner Erlebnisse berichten (s. Pkt. 4.17). Nicht ohne eine gewisse Bewunderung für die preußischen sozial-medizinischen Einrichtungen erwähnt er die Berliner Charité, das Erziehungsheim in Zehlendorf, das Spital für geistig Behinderte mit einer Internatsschule für »idiotische Kinder« in Berlin-Dalldorf, die Städtische Anstalt für Epileptiker in Wuhlgarten und das »Städtische Erziehungshaus für verwahrloste Kinder« in Lichtenberg, dem späteren »Lindenhof«. 51. Die Mojscheks, Joscheks und Sruleks. Eindrücke aus der Sommerkolonie in Daniłowo, in: SW, Bd. 10, S. 59ff. 52. Vgl. Graubner, Bernd: Korczaks medizinische Studien in Berlin (1907/1908). In: Beiner, F. (Hg.): Janusz Korczak. Zeugnisse einer lebendigen Pädagogik. Korczak-Kolloquium. Vierzig Jahre nach seinem Tod. Heinsberg 1982, S. 139ff. 53. SW, Bd. 8, S. 29ff.

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4. Kinderarzt und Publizist: 1905–1912

Nachdem Korczak 1908 aus Berlin nach Warschau zurückgekehrt ist, zieht es ihn in den Ferien wieder in eine Sommerkolonie, diesmal in die Kolonie »Wilhelmówka«, die für christliche Jungen bestimmt ist. Über die Erlebnisse mit den hier betreuten Kindern wird er in seinem zweiten Kinderbuch berichten (Pkt. 4.20).

4.13 »Sympatisant des Sozialismus« (1908) Wie schon mehrfach deutlich wurde, sympatisiert Korczak nicht nur mit Gesellschaftsreformern im Erziehungs- und Bildungsbereich, sondern auch mit sozialistisch oder sozialdemokratisch orientierten, zum Teil konspirativ tätigen politischen Eliten, auch wenn er selbst keiner politischen Partei angehört. So wissen wir um seine Kontakte zu dem bekannten Arbeiterführer Tadeusz Rechniewski, über die eine Zeitzeugin berichtet: »Im Jahr 1906 kehrte Tadeusz Rechniewski, ›Pan Tadeusz‹, ein alter Aktivist des Großen Proletariats, nach zweiundzwanzig Jahren Gefängnis, Zwangsarbeit und Verbannung nach Warschau zurück. Mit Rücksicht auf seine konspirative Tätigkeit konnte er nur wenige Leute persönlich treffen. Mit diesen aber wollte er den Kontakt in der sozialen Arbeit aufrechterhalten. Unter anderem bekam ich damals von ›Pan Tadeusz‹ die Adresse eines Doktor Goldszmit, den er – wie er mir erklärte – noch aus der Studentenzeit als Sympathisanten des Sozialismus kannte. In den Jahren 1907–1911 besuchte ich dann alle paar Wochen einmal Korczak, der mir – soweit ich mich erinnere – eine Spende von fünf Rubel aushändigte, die für die Unterstützung des Drucks von Blättern der Arbeiterpartei PPS-Lewica (= Polnische Sozialistische Partei – Die Linke) bestimmt waren, die Tadeusz Rechniewski redigierte. Die Zeitschriften erschienen unter verschiedenen Titeln, die sich jeweils änderten, wenn sie verboten wurden: Wiedza (Wissen), Nowe Życie (Neues Leben), Światło (Licht), Kuźnia (Schmiede). Korczak war ständiger Abonnent und Leser dieser Schriften und interessierte sich auch für die illegalen Veröffentlichungen der Partei.«54 Korczak ist aber nicht nur Leser und Unterstützer, sondern auch Verfasser von Beiträgen dieser Zeitschriften; in Wiedza etwa veröffentlicht er von Dezember 1908 bis Juni 1909 den bedeutenden ärztlichen Berichtszyklus:

54. Kwiatkowska, Anna: Ein Sympathisant der Linken. In: Beiner, F./Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 408f.

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4.14 Bilder aus dem Spital (1908/09)

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4.14 Bilder aus dem Spital 55 (1908/09) Diese Veröffentlichung enthält alamierende Krankenberichte und Informationen aus dem Berson-Bauman-Hospital. Der berichterstattende Arzt Goldszmit erfragt darin von seinen Patienten bei der Aufnahme ins Krankenhaus so viele Informationen wie möglich, um sich ein »Bild« von deren Beschwerden und Poblemen zu machen. Ein erstes »Bild aus dem Spital« entwickelt sich im Gespräch mit einer Mutter über ihre zwölf Kinder: »… Vier leben, acht sind gestorben. Das erste starb gleich nach der Geburt. Das zweite brachte es auf zweiunddreißig Wochen – es war dick, rund, fröhlich – kein einziges Mal krank. Abends hatte sie es in die Wiege gelegt, am Morgen lebte es nicht mehr – eingeschlafen wie ein Hühnchen. Das dritte blieb am Leben. Das vierte war knapp ein Jahr alt, als es starb – es hatte irgendwelche Knoten am Körper. Das fünfte starb an Masern. Das sechste lebt. Das siebte hatte Diphtherie und ist erstickt. Das achte ist auch irgendwie gestorben. Sie weiß nicht genau woran. Das neunte lebt. Das zehnte und elfte starben an der gleichen Krankheit: Das Bäuchlein begann sich aufzublähen, danach schwollen die Beine an. Und das zwölfte lebt. Der Mann hustet, solange sie ihn kennt, und sie hatten immer eine feuchte Wohnung.«56 Nach mehreren solchen Bildern kommentiert der berichtende Arzt: »Man hat den Eindruck, … als gäbe es nur brüchige Mietskasernen mit Stuben, in deren stickiger Luft jeder gesunde Säugling krank werden und jeder schwache – sterben muss. … Durch das Fenster des Ambulatoriums fiel ein Bündel Sonnenstrahlen. Das Kind, von der Mutter auf den Knien gehalten, zuckte zusammen, kniff die Äuglein zu und fing an zu weinen. … ›Warum hat er Angst vor der Sonne?‹ ›Er kennt sie nicht‹, antwortet die Mutter. ›Wohnen Sie in einer Souterrain-Wohnung?‹ ›Das wäre schön. Früher haben wir in einer Souterrain-Wohnung gewohnt, aber jetzt hat sie der Wirt vermietet und uns eine Kellerwohnung gegeben. Unter der Decke ist nur eine Luke. Der Meinige ist Hausmeister. Und jetzt sind wir alle krank wegen der Feuchtigkeit.‹ Das Jäckchen des Kindes, seine Haare – riechen nach Moder und Fäulnis.« 57 In einer ähnlichen Szene kratzt die Feder des Arztes über das Papier des Rezeptblocks und er erklärt: »Alle zwei Stunden einen Teelöffel von der Arznei …« – doch dann schreit es aus ihm heraus: »Wann werden wir endlich, verdammt noch mal, aufhören, einfach nur Salizylsäure gegen all das 55. SW, Bd. 8, S. 11ff. 56. Ebd., S. 12. 57. Ebd., S. 22f.

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Elend, gegen die Ausbeutung, gegen die Rechtlosigkeit, gegen die Verwaisung, gegen Verbrechen zu verschreiben? Wann, zum Teufel!?«58 Die im letzten Satz zusammengefasste Gesellschaftskritik enthält die entscheidenden »Sprengsätze«, die das Leben des Arztes Henryk Goldszmit verändern sollten!: Gegen »Elend« und »Ausbeutung« wird er mit allen seinen Kräften ankämpfen, und zwar praktisch wie publizistisch, auch »in engem Kontakt mit vielen Politikern der Konspiration«59; gegen »Verwaisung« wird er sich als »Vater fremder Kinder«60 engagieren; gegen »Verbrechen« wird er sich als sozial-kritischer Schriftsteller und als Gutachter beim Jugendgericht einsetzen; gegen die »Rechtlosigkeit« von Kindern wird er ihre Rechte fordern und einklagen und dies zu einem zentralen Element seiner Pädagogik der Achtung machen. Und er selbst wird sich vom Assistenzarzt Goldszmit hin zum »Pestalozzi Polens«61 entwickeln: zum Erzieher und Anwalt des vernachlässigten Kindes. Der erste konkrete Schritt dieser sozialreformerischen Entscheidungen erfolgt noch im Jahr 1908: Korczak wird Mitglied der gemeinnützigen Organisation »Hilfe für Waisen«, die sich um bedürftige Kinder und Waisen mosaischer Konfession kümmert.

4.15 Vorstandsmitglied der Gesellschaft »Hilfe für Waisen« (1909) Im Jahr 1909 wählt ihn die Waisen-Hilfsorganisation in ihren Vorstand. Unter seinem Einfluss sollen die Betreuungsmethoden für elternlose Kinder reformiert und weiterentwickelt werden. Der Verein setzte sich seit seiner Gründung (1908) für Kinder eines Heims in der Warschauer Dzika-Straße 5 ein, in dem unsägliche Zustände herrschten. Ein Gründungsmitglied der Gesellschaft, die spätere Vizepräsidentin Stella Eliasbergowa, berichtet, was die Gesellschaft tat, um die Zustände zu verändern: »Wir beschlossen, das Haus in der Dzika-Straße zu schließen und die jüngeren Kinder außerhalb Warschaus, in Grodzisk, unterzubringen. Die älteren Knaben waren völlig verwahrlost, gewohnt zu betteln, die Kleider zu verkaufen, die man ihnen manchmal zukommen ließ, usw. Es stellte sich heraus, dass das Haar der meisten Kinder von einer 58. Ebd., S. 18. 59. Vgl. SW, Bd. 15, S.214. 60. So ein Buchtitel von Jan Piotrowski: Ojciec cudzych dzcieci (Vater fremder Kinder). Łódź 1946. 61. Vgl. Baumgarten, Franziska: Janusz Korczak – der polnische Pestalozzi. In: FAZ vom 27. 4. 1963.

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4.15 Vorstandsmitglied der Gesellschaft »Hilfe für Waisen« (1909)

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ansteckenden Krankheit befallen war. Wir brachten sie nach Warschau; in den Räumen des Vorstands richteten wir ein vorbildliches Heim ein. Die Kinder wurden mit Röntgenstrahlen behandelt. Und das war der eigentliche Anfang des Dom Sierot. 1909 wurden Räume in der FranciszkańskaStraße 2 gemietet und nach europäischem Standard eingerichtet. Die Zahl der Kinder wuchs auf fünfzig an. Sie begannen, die Schule zu besuchen. Damals wandte sich die junge, begeisterungsfähige Stefania Wilczyńska mit der Bitte um eine unbezahlte Mitarbeiterstelle an mich. Sie gab sich der Arbeit mit ganzem Herzen hin; sie organisierte die Dienste und die Beschäftigungen, die Waisen fanden in ihr eine liebevolle Mutter. Die rechte Hand von Frau Stefa bei der erzieherischen Arbeit war ein Zögling des Heims in der Twarda-Straße 6, die dreizehnjährige Esterka Weintraub. Sie hatte pädagogisches Talent und liebte Kinder.62… 1907 lernte ich Doktor Henryk Goldszmit kennen, einen Kollegen und Freund meines Mannes. Sie arbeiteten gemeinsam im Bauman-Berson-Kinderspital. Sie verstanden sich und waren sich sehr zugetan. Eines Tages lud ich den Doktor in unser Waisenhaus ein, wo eine Abendveranstaltung zu Ehren der Dichterin Maria Konopnicka stattfand. Er war begeistert von Esterka, der Selbstständigkeit der Kinder und von ihren Auftritten. Nachdem Doktor Goldszmit uns einige Male in der Franciszkańska besucht hatte, begann ich, ihm zuzureden, in unsere Anstalt einzutreten. Das Statut, das Maurycy Mayzl und der Rechtsanwalt Maksymilian Goldbaum ausgearbeitet hatten und das durch die russischen Behörden bestätigt worden war, verlockte ihn. Es erlaubte uns, Schulen und Werkstätten zu errichten und die vollständige Betreuung der Kinder zu übernehmen. Unter der Bedingung einer Zusammenarbeit mit Dr. Eliasberg trat Dr. Goldszmit 1909 in den Vorstand des Vereins »Hilfe für Waisen« ein.«63

62. Esterka ging später mit Stefania Wilczyńska in das neu gebaute Dom Sierot, wurde dann von Frau Stefa und Korczak zum Pädagogik-Studium in die Schweiz geschickt, aus der sie während des Ersten Weltkriegs zurückkehrte, um Frau Stefa zu unterstützen. Im Raum der Stille des Dom Sierot hing später neben den Porträts von Piłsudski und Hoover ihr Bild mit folgender Unterschrift: »Esterka hatte weder Vater noch Mutter. Sie wuchs bei uns auf. Sie bekam eine Stelle und fuhr weit weg in die Schweiz. Dort fühlte sie sich wohl, aber später gab es bei uns Krieg, Hunger, Krankheiten. Sie wollte hier bei der Arbeit helfen, sie pflegte kranke Kinder, steckte sich an und starb am 25. Februar 1918. Sie wurde 20 Jahre alt.« In ihrem letzten Lebensabschnitt führte sie Tagebuch, das die Kinder- und Jugendzeitung Kleine Rundschau am 4. 10. 1935 abdruckte. 63. Eliasbergowa, Stella: Aus der Geschichte des Dom Sierot. In: Beiner, F./Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 431f.

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Um für mögliche neue Aufgaben gut qualifiziert zu sein und über mehr abgesichertes Wissen über das Kind zu verfügen, fährt Korczak 1909 zunächst für ca. ein halbes Jahr zu wissenschaftlichen Studien nach Paris.

4.16 Fortbildung in Paris (1909) Über den Ertrag seiner Studien in der französischen Hauptstadt berichtet er später in seinem Buch Wie liebt man ein Kind – und kontrastiert dabei die gewonnenen Erfahrungen mit denen aus seinem früheren Berlinaufenthalt: »Das Berliner Krankenhaus und die deutsche medizinische Literatur lehrten mich, über das nachzudenken, was wir wissen, und langsam und systematisch vorzugehen. Paris lehrte mich, über das nachzudenken, was wir nicht wissen, aber wissen wollen, müssen und werden. Berlin, das war ein Arbeitstag voller kleiner Sorgen und Bemühungen; Paris, das war der Feiertag eines künftigen Morgens mit seinem glänzenden Vorgefühl, seiner machtvollen Hoffnung und seinem unerwarteten Triumph. Willenskraft, den Schmerz der Unwissenheit, die Lust des Forschens schenkte mir Paris. Die Technik der Vereinfachung, die Erfindungsgabe im Kleinsten, die Ordnung der Details – brachte ich aus Berlin mit. Die große Synthese des Kindes – davon träumte ich, als ich in der Pariser Bibliothek, mit vor Erregung gerötetem Gesicht, die eigentümlichen Werke der klassischen französischen Kliniker las.«64 Während Korczaks Paris-Aufenthalt erscheint 1909 in Warschau in drei Folgen der schon erwähnte Artikel Sorgenkinder (Dzieci troski), in dem der Autor neben der Thematisierung von Problemen armer, verwahrloster und erblich belasteter Kinder eine Begebenheit erzählt, die er in einer Berliner wissenschaftlichen Bibliothek erlebt hatte, und die ein wunderbares Beispiel seiner sensiblen Wahrnehmungsfähigkeit darstellt:

4.17 Der kleine Schrei im großen Lesesaal (1909) »Ein großer, drei Stock hoher Saal. Ringsum Bücher in dunklen, seriösen Einbänden. Lange, mit grünem Tuch bezogene Tische und ein paar Hundert Menschen, konzentriert darüber gebeugt, vertieft in hundert völlig unterschiedliche Probleme. Nichts verbindet den grauhaarigen Soziologen, der sich Notizen für einen sehr speziellen Artikel macht, mit dem Feuilletonisten einer großen Tageszeitung, den jungen Dozenten an der chemischen Fakultät mit dem Geographen, der Atlanten aus dem achtzehnten 64. Wie liebt man ein Kind, in: SW, Bd. 4, S. 201.

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4.17 Der kleine Schrei im großen Lesesaal (1909)

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Jahrhundert wälzt, den Arbeitsbesessenen, der Material für ein Werk sammelt, das vermutlich nie erscheinen wird, mit dem Ausländer, der ganz betäubt, ganz demütig dasitzt, angesichts all der Schätze, und dem ganz traurig zumute ist, wenn er an das eigene Vaterland denkt. Und dennoch verbindet sie alle ein unsichtbares Band. Ein einheitlicher Geist herrscht hier, eine einheitliche Stimmung schwebt über den Häuptern der über den Tisch Gebeugten. Vielleicht macht sich mal einer der Schreibenden die Mühe und liefert eine anschauliche Beschreibung des Lebens dieser großen Gilde der Gedanken. Stille. Denn Lebende flüstern hier mit den Toten, die weißen Blätter voll mysteriöser Zeichen, voller Gedanken der Abwesenden und Fernen, reden mit den pulsierenden Hirnen der neuen Eroberer der Wissenschaft! Sorgfältig hat man hier alle zufällig entdeckten oder mühsam dem Dunkel entrissenen Geheimnisse und alle Lügen von Wahrheitssuchern zusammengetragen, die Fehler sachlicher Forscher und die verwirklichten Hirngespinste von Träumern, revolutionäre Forderungen, rechtskräftig gemacht durch loyale Nachfolge, Kompromisse von Versöhnlern im Sinne des Staates, gewissenhafte Kommentatoren parteifremder Ideen, verbissene Kritiker und unkritische Bewunderer. Es leben die reglosen Bücher, die in den Regalen, geordnet nach Sachgebieten und Katalognummern, abgestellt sind, leben als Blitze vergangener Gewitter, als kämpferischer Aufschrei vermoderter Triumpfatoren und als ewige Mahnung, ewig lebendige Losung: Vorwärts, auf zu den Sternen! Und es ist schwer zu sagen, wo das Leben der toten Bücher endet und das Leben dieser schweigend über die Bücher auf dem Tisch gebeugten ergrauten oder jungen Kämpfer beginnt, wo in der altehrwürdigen Schatzkammer die Vergangenheit steckt, wo das Gestern und wo das Morgen. Stille. Nur das Knirschen der Stahlfedern. Halbdunkel. Nur hier und da zeichnet eine elektrische Lampe einen hellen Kreis vor dem Lesenden. Jeder etwas lautere Schritt, das Geräusch eines beiseite gerückten Stuhls bewirken sogleich unwillige Blicke. An keiner der Wände hängen irgendwelche Ordnungsregeln, die lautes Sprechen verbäten, denn keiner würde hier wagen, flüsternd eine längere Unterhaltung zu führen, die über eine Begrüßung eines Bekannten, eine leise gestellte Frage und eine leise erteilte Antwort hinausginge. Doch einmal fiel in diese arbeitsintensive, makellose, keine Störung duldende, feierliche Stille, die alle achten, der sich alle beugen, fiel von der obersten Galerie direkt unter der Decke eine laute, helle, unbekümmerte und zutrauliche Kinderstimme. Ein Ausruf der Verwunderung oder Freude, des Staunens oder des Übermuts. Ob er in Worten oder nur im Klang zum Ausdruck kam – vermag ich nicht zu sagen. Die Kinderstimme flatterte in diese Stille wie eine aufgescheuchte weiße Taube, schlug laut mit den Flü-

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geln und flog davon. Ob es das Kind eines der Angestellten war, das sich der Aufsicht entzogen, die zufällig geöffnete Tür gesehen und sich für einen Moment auf die Galerie begeben hatte, oder das Kind von Berlin-Touristen, die unter anderen Sehenswürdigkeiten auch die Bibliothek besichtigten, weiß ich nicht. – Jemand dort oben hat es dann mit raschem Griff weggezogen, aus Angst vor den Folgen der gotteslästerlichen Tat. Hier unten aber hatten sich alle Köpfe zur Begrüßung des übermütigen Täubchens erhoben und ihm mit sanftem Lächeln und nachsichtigem Blick verziehen. Und das war das einzig Interessante, einzig wahrhaftige, dass alle lächelten, wenn auch nur mit den Augen. In diesem Lächeln lag der unbewusste, aber stark verwurzelte und durch tausend Generationen hindurch verfestigte, unbeirrbare und unabdingbare Gedanke, dass alle Kostbarkeiten dieser Schatzkammer, alle hier gesammelten lebenden und verstorbenen Willensregungen, dass alles, was hier und überall die Gedanken auf dem ganzen Erdenrund umfasst, nur einen Wert besitzt, nur einen Sinn hat, wenn von oben die kindlich-naive, unvoreingenommene frische, junge, ungezügelte Stimme der Nachkommen herabhallt, die Stimme derer, die künftig wirken, die nach uns kommen werden. Jeder Säugling, jedes Kind, ist diese unerwartet in der Stunde unserer Arbeit herabflatternde Stimme, die da ruft: ›Ich bin da!‹ Während wir uns plagen und mühen, wird die Stimme immer vorhanden sein. … wenn wir streben, wenn wir schöpferisch wirken, dann nur in der mehr oder weniger bewussten Überzeugung, dass in den Genuss der Früchte unserer Arbeit, unseres Kampfes, unseres Strebens, unseres Tuns nach uns andere, Unbekannte kommen werden, deren frische Stimme, deren unbekümmerter Zuruf auf uns herabflattern.«65

4.18 Politisch nicht erwünscht (1909) Am 17. Oktober 1909 berichtet eine Zeitung von einem Vortrag vor dem progressiven Polnischen Verband zur Gleichberechtigung der Frauen mit dem Titel Herrenlose Kinder: »Korczak stellt auf einfache Art, aber inhaltsreich und bündig dar, was das Ausland für seine verlassenen und vernachlässigten Kinder tut: Berlin setzt Hundertausende Mark ein zur Stärkung der Gesundheit von armen Schulkindern, sorgt für Mittagsmahlzeiten, bekleidet und bildet sie. Die Schulpflicht schafft den Analphabetismus ab. Eine konsequente Organisation der Institutionen garantiert den Kindern Fürsorge bis zur Mündigkeit. … Mit der Beschreibung der großartigen Kinderhaftanstalt in Lichtenfeld bei Berlin (gemeint wohl: Lichten65. Sorgenkinder, in: SW, Bd. 8, S. 50ff.

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4.19 Der Pädiater (1909/10)

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berg; F. B.), einer Anstalt ohne Gitter und voller Grün, beendet Korczak seine höchst interessante Rede.«66 Aufgrund solcher und anderer von der Obrigkeit nicht gewünschten Aktivitäten wird Korczak im Jahr 1909 in Haft genommen. Mit dem Soziologen Ludwik Krzywicki steckte man ihn ins Gefängnis. Die Ursache der Verhaftung war wahrscheinlich die Meldung eines Warschauer Oberpolizeimeisters, der im Jahr 1909 einen Rapport folgenden Inhalts an das Polizeidepartement sandte: »Zur Vergrößerung ihres Fonds plante die Polnische Sozialistische Linkspartei eine Reihe von Vorträgen mit den Literaten Henryk Goldszmit und Ludwik Krzywicki; nach Recherchen über die Bestimmung der Einnahmen aus den Vorträgen wurden diese verboten.« Krzywicki und Korczak werden verhaftet und sitzen in einer Zelle. In einer Studie von J. Miąso wird darüber berichtet: »Sie saßen nicht lange (es ist nicht bekannt, wie lange), es wurde ihnen keine Schuld bewiesen.« Trotz des fehlenden Schuldbeweises werden aber die von der fünften Abteilung des »Polnischen Kulturvereins« geplanten Vorträge verboten.67

4.19 Der Pädiater (1909/10) Der Pädiater Goldszmit ist hauptberuflich nicht nur im Kinder-Spital und in der Privatpraxis für Kinder tätig, er tritt auch wissenschaftlich als Mediziner in Erscheinung. Seine fachwissenschaftlichen Weiterbildungen in Berlin und Paris sowie seine Warschauer Berufserfahrung wertet er in Verröffentlichungen über Säuglingsentwicklung und Säuglingspflege aus. Die Zeitschrift Medizin und Ärztliche Chronik (Medycyna i Kronika Lekarska), deren Mitherausgeber er ab 1910 wird, veröffentlicht 1909/10 vier Artikel zu dieser Thematik: Kleinkindwaage in der privaten Praxis. Über die Bedeutung des Stillens von Kleinkindern. Die Wandlung in den Auffassungen zur natürlichen Ernährung im Laufe von vier Jahren. Stilltechnik bei Säuglingen.68 Diese und einige weitere pädiatrische Artikel belegen – wie die Fachkommentatoren seiner sozialmedizinischen Schriften (in Band 8 der Sämtlichen Werke) ausdrücklich betonen – eine hohe pädiatrische Qualifikation. Sie führen aus: »Die pädiatrischen Publikationen Korczaks zeigen einen 66. Natalia Jastrzębska, in: Bluszcz (Efeu) 1909; zitiert nach: Falkowska, Maria: Kalendarz …, a. a. O., S. 125f. 67. Vgl. Miąso, J.: Poglądy Ludwika Krzywickiego na rolę i zadania oświaty dorosłych (Ludwik Krzywickis Ansichten zu Rolle und Aufgaben der Erwachsenenbildung). In: Studia z dziejów oświaty i wychowania (Studien zum Erziehungs- und Bildungswesen). Bd. IV. Wrocław 1961, S. 235. 68. SW, Bd. 8, S. 81ff.

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hohen wissenschaftlichen Standard. Sie gelten der natürlichen Ernährung des Säuglings, neuen Krankheitskonzepten …, aber auch physiologischen und psychologischen Fragestellungen zur kindlichen Entwicklung. All diese Arbeiten beweisen, dass ihm Berlin und Paris einen hohen wissenschaftlichen Ertrag einbrachten, sowohl die Fortbildungskurse und Hospitationen als auch das Literaturstudium. Er schöpfte aus nahezu allen Standardwerken der deutschen und französischen Pädiatrie. … Korczak vertritt in seinen pädiatrischen Arbeiten nicht nur die gesicherten Positionen der damaligen Pädiatrie, sondern er versucht auch mit allen Mitteln, dieses Wissen für die alltägliche Praxis fruchtbar zu machen. Dafür ist es zunächst notwendig, dieses Wissen aus dem ›Esperanto der Wissenschaft‹ in die ›Muttersprache‹ zu übersetzen, in die Sprache der Hebammen, Kinderschwestern – vor allem aber der Mütter. Auf diesem Gebiet tritt er in die Fußstapfen seiner großen Lehrmeister und leistet für die polnische Pädiatrie Wegweisendes. Bewusst veröffentlicht er seine Erfahrungen nicht nur in Fachjournalen, sondern auch in der ›Laienpresse‹. Dabei scheut er auch nicht vor provozierenden Verkürzungen zurück, etwa wenn er mit dem französischen Pädiater Baptiste Bouchaud die Saugflasche als ›Kindsmörderin‹ bezeichnet. Letztlich möchte er im besten Sinne des Wortes ›aufklären‹: ›Immer wenn eine Mutter meine Ratschläge nicht befolgt hat, musste ich hinterher feststellen, dass ich mich nicht deutlich und verständlich genug ausgedrückt hatte.‹ Vehement setzt sich Korczak für die natürliche Ernährung des Säuglings an der Brust ein und kämpft gegen die ›modische und bequeme‹ Fertignahrung aus der Konserve, die letztlich dazu führt, dass ›man sich in den ersten Monaten mit Klistieren, Rizinusöl und Kompressen hindurch wurschtelt‹. Eingehend beschreibt er die Technik des Stillens mitsamt den Komplikationen und Hindernissen.«69 Mit Berufung auf Theophile Roussell (1816–1903), den ersten Vorsitzenden des französischen Kinderschutzvereins, und den Pädiater Leon Dufour (1856–1928) fordert er die Mütter auf, »sich zum Ernähren ihres Kindes mittels der eigenen Brust verpflichtet« zu fühlen.70 In Das Kind in der Familie wird er dieses Thema erneut aufgreifen und vom »Recht des Kindes auf die Mutterbrust« sprechen.71 Interessant ist Korczaks Werben für die ›Säuglingswaage‹, dem zweitwichtigsten ›Instrument‹ nach der Mutterbrust. »Die Waage ist ein ideales, objektives Beweisinstrument für die Entwicklung eines Kindes; eine zu langsame oder zu schnelle Gewichtszunahme macht eine Verändeung der 69. Kommentar zu Korczaks pädiatrischen Arbeiten, in: SW, Bd. 8, S. 311f. 70. Ein Tropfen Milch oder der Sonntag des Arztes?, in: ebd., S. 124. 71. SW, Bd. 4, S. 26.

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4.20 Die ersten Kinderbücher (1909/10)

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Nahrungsmenge notwendig – vor allem jedoch kann nur mit Hilfe der Waage mit mathematischer Genauigkeit ermittelt werden, wie viel Gramm Milch der Säugling innerhalb von 24 Stunden an der Brust getrunken hat.«72 Auch in den Waisenheimen wird er später die physische Entwicklung der Kinder durch Messen und Wiegen kontrollieren. Kennen gelernt hatte er das Kontrollieren der Gewichtszunahme bei unterernährten Kindern in den Sommerkolonien.73

4.20 Die ersten Kinderbücher (1909/10) Die Erlebnisse mit jüdischen und christlichen Kindern in den Sommerkolonien »Michałówka« und »Wilhelmówka« (in den Jahren 1907 und 1908) haben bei Korczak einen so starken Eindruck hinterlassen, dass er sie in zwei Kinderbüchern literarisch umsetzt. Die zunächst in einer Zeitschrift für Kinder und Jugendliche veröffentlichten Erzählungen erscheinen 1909/10 in Form von illustrierten Büchern.74 Diese folgen zwar nicht den inhaltlichen und stilistischen Konventionen für Kinderbücher jener Zeit, aber sie entsprechen den Absichten seines Verlegers Jakub Mortkowicz, der später schrieb: »Es ist ein Vierteljahrhundert vergangen, seit wir begannen, Bücher für Kinder und Jugendliche zu verlegen. Diese Literatur folgte zuvor pädagogischen Tendenzen, die moralische Ziele der einfachsten Art verfolgten; der künstlerische Wert wurde vollständig vernachlässigt. … Unsere Aufgabe und unser Ziel wurde dagegen die Gleichberechtigung der Kinderund Jugendbücher, die Hebung ihres literarischen und künstlerischen Wertes, der Kampf um ihre Daseinsberechtigung … und ihren Einzug in die gesamte schriftstellerische Produktion als ein unverzichtbares Element.«75 Korczak wird dieser literarischen Zielperspektive Mortkowicz’ bereits mit seinem ersten Kinderbuch Die Mojscheks, Joscheks und Sruleks (1909) gerecht, das den Lesern vor allem Spaß und Entspannung vermittelt, wenn es auch gleichzeitig eine gesellschaftliche Funktion erfüllen soll. Die Vornamen Mojschek (von Mose bzw. [jidd.] Mojsche), Joschek (von Joseph) 72. SW, Bd. 8, S. 81. 73. Vgl. den Kommentar in: SW, Bd. 10, S. 308. 74. Die Kinderbücher, aber auch die zuvor besprochenen Aufsätze für Erwachsene, die sich auf die Sommerkolonie-Aufenthalte beziehen, sind in Band 10 der SW abgedruckt und kommentiert. 75. Sto pięćdziesiąt najlepszych książek dla dzieci i mlodziezy (Die einhundertfünfzig besten Kinder- und Jugendbücher). Katalog der Verlagsgesellschaft Mortkowicz. Warszawa, ohne Datum (nach 1934), S. 1f.

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und Srulek (von Israel) werden nämlich in Polen umgangssprachlich als abwertende Synonyma für jüdische Kinder verwendet. Jüdische Kinder werden von der christlichen Umwelt oft schon über ihre Namen etikettiert und mit Vorurteilen belegt. Der Titel Die Mojscheks, Joscheks und Sruleks soll die Leser darum provozieren, und die Erzählung soll Anlaß geben, Vorurteile zu überdenken. Korczak gelingt es dann auch, mit seinen Geschichten aus dem Leben der Sommerkolonie Aufgeschlossenheit gegenüber den sympatischen Jungen und ihren Abenteuern zu wecken. Das zweite Buch trägt den Titel: Die Józeks, Jasieks und Franeks (1910). Die gebräuchlichen Namen Józek, Jasiek und Franek stehen für christliche Jungen und wecken für die Mehrzahl der Leser positive Assoziationen76 – was in den Erzählungen durch gleichfalls sympatisches Verhalten der Jungen bestätigt wird. In beiden Erzählungen begibt sich der Autor zunächst in die Rolle eines Berichterstatters, um dann mehr und mehr als begeistertes Gruppenmitglied über die miterlebten Abenteuer im Freizeitleben zu berichten. Seine Schilderungen vermitteln von Beginn an den Eindruck, dass hier kein neutraler, unbeteiligter Beobachter schreibt. Vielmehr wird das große, liebende Interesse des Erzählers für die Kinder deutlich; aber auch die erzieherischemanzipatorischen Motive des Freizeitleiters bei der Organisation der Spiel- und Sportaktivitäten. Es wird gezeigt, dass das fröhliche Treiben der zufällig zusammengewürfelten Schar durch kreativ entwickelte demokratische Erziehungsmethoden so gesteuert werden kann, dass kein Chaos entsteht und trotzdem alle zu ihrer wohlverdienten Erholung kommen. Interessant ist dabei, dass Korczak hier in den Sommerkolonien bereits Methoden des Zusammenlebens erprobt, die er später in seinen Heimen mit Erfolg praktizieren wird. Folgende Methoden sind in die Erzählungen verwoben: – Die Kinder regeln ihr Zusammenleben weitestgehend selbst (Selbstverwaltung); – Streitfälle werden vor einem Kameradschaftsgericht verhandelt; – anfallende Arbeiten werden solidarisch erledigt; – schriftliche Kommunikationsmittel werden genutzt: Kolonie-Zeitung, Tagebücher; – gemeinsames Beschreiben des Betragens ersetzt die vorgeschriebene Fremdbenotung; – Phantasie und Humor verbessern das Gruppenklima; – Interessengruppen bereichern das Freizeitleben: Klubs für Lesefreunde und Einsame; 76. Vgl. dazu SW, Bd. 10, S. 347ff.

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4.21 Planungen für ein »Haus der Waisen« (1910)

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– Belehrung und »Erziehung« entfallen zugunsten partnerschaftlicher Gegenseitigkeit. »Denn hier gedeiht eine wunderschöne Arbeit, eine wunderbare Lehre. Die Betreuer lehren die Kinder, die Kinder lehren die Betreuer, und sie alle werden von der Sonne und dem goldenen Ährenfeld belehrt.«77 Die öffentliche Resonanz auf Korczaks erste Kinderbücher ist überraschend; sie werden sowohl von den kleinen Lesern als auch von (erwachsenen) Rezensenten beachtet und gelobt.78 (Sein großer Durchbruch zum anerkannten Kinderschriftsteller wird aber erst 1923 mit den Erzählungen über den Kinderkönig Maciuś gelingen.) Die Schilderungen von Kindergerichten79 im ersten Buch regt die Schüler an, dieses demokratische Selbstverwaltungsorgan in ihren Schulen zu erproben. Die Nachahmungen finden aber bei den Erwachsenen nicht nur Beifall. Die pädagogische Abteilung des Polnischen Lehrerverbandes beruft am 25. Januar 1910 eine Versammlung zu diesem Thema ein: »Die jungen Leser von Die Mojscheks, Joscheks und Sruleks, denen das ›Gericht der Ferienkolonie‹ aufgefallen ist, fangen an, selbstständig Schulgerichte zu bilden; sie klagen sich an, verteidigen und verurteilen sich entsprechend ihres Vorbildes, ohne Kontrolle des Ministeriums.«80 Der in der Versammlung anwesende Korczak erläutert die Funktion des Gerichts und verteidigte in einer Diskussion dessen Einführung.

4.21 Planungen für ein »Haus der Waisen« (1910) Der Verein »Hilfe für Waisen« entscheidet sich 1910, für die Kinder im behelfsmäßigen Heim in der Franciszkańska-Straße ein neues Haus zu bauen, das in der Warschauer Krochmalna-Straße 92 entstehen und den Namen »Dom Sierot« (dt.: Haus oder Heim der Waisen) tragen soll. Von diesem Zeitpunkt an beteiligt sich das Vorstandsmitglied Korczak an den Planungen für dieses Haus, für dessen Leitung man ihn gewinnen möchte. Und der ist nicht abgeneigt, denn hier könnte er neue Wege der Waisenbetreuung entwickeln. Im Dom Sierot könnten nicht nur Elemente seiner Schule des Lebens in die Wirklichkeit umgesetzt werden, es könnte auch ein zuvor 77. 78. 79. 80.

Ebd., S. 120. Vgl. ebd., S. 344ff. In: ebd., S. 86ff und 132f. Sprawozdanie z Sekcji Pedagonicznej PZW (Bericht der Päd. Sektion der Lehrergewerkschaft). In: Nowe Tory (Neue Wege) 1910, H. 2.

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gehegter Wunsch des Kinderarztes81 in modifizierter Form in Erfüllung gehen, an den er sich im Pamiętnik rückblickend erinnert: »Das Bedürfnis, wirksam tätig zu sein auf meinem eigenen begrenzten Arbeitsfeld. Ich will können, wissen, mich nicht irren, keinen falschen Weg gehen. Ich habe ein guter Arzt zu sein. Ich arbeite an einem eigenen Modell. Die anerkannten Autoritäten will ich mir nicht zum Vorbild nehmen.«82 Das Waisenhaus könnte das »eigene begrenzte Arbeitsfeld« werden, das ihm helfen würde (nicht im ärztlichen, dafür aber im erzieherischen Feld) – »wirksam tätig zu sein« – zu können, zu wissen, nicht zu irren und sein eigenes Vorbild zu formen. Denn seine Veröffentlichungen belegen nach wie vor sein starkes Engagement in Erziehungsfragen: Im Jahr 1910 erregt er durch einen Aufsatz über die Bedeutung von Lieblingsschülern Aufsehen und sein Beitrag Favoriten löst in der Fachwelt eine lebhafte Diskussion aus.83 Im selben Jahr veröffentlicht die Zeitschrift Gesellschaft einen Nachruf Korczaks auf die verstorbene Begründerin der Fliegenden Universität, Jadwiga Dawidowa, der Ehefrau von Jan Władysław Dawid.84

4.22 Juden und Nicht-Juden in Polen (1910) Am 21. Oktober 1910 erscheint in der Zeitschrift Gesellschaft der Artikel Drei Strömungen, in dem Korczak erneut »als polnischer Jude« zum Verhältnis von Juden und Nicht-Juden in Polen Stellung nimmt. Er beschreibt drei mögliche Positionen (»Stimmen«) für »fortschrittliche« Juden: A. Die politische und kulturelle Assimilation der jüdischen an die polnische Kultur als Voraussetzung für eine faktische Gleichberechtigung. B. Die Juden be81. Vgl. Szlązakowa, Alicja: Janusz Korczak. Warszawa 1978, S. 42. 82. SW, Bd. 15, S. 345. 83. SW, Bd. 9, S. 172ff. 84. [Erinnerung an Jadwiga Dawidowa], in: SW, Bd. 7, S. 267ff. Jadwiga Dawidowa, geb. Szczawińska (1863–1910), war Förderin von Bildungsaktivitäten, Mitredakteurin von Głos und deren Nachfolgezeitschriften. In ihrer Jugendzeit arbeitete sie als Lehrerin in Privathäusern und -schulen. 1885 organisierte sie geheime höhere wissenschaftliche Kurse für Frauen, die auch als Fliegende Universität bekannt waren und ihre Aufgaben bis 1905 im Untergrund wahrnahmen. Jadwiga Dawidowa widmete sich der Gründung einer öffentlichen Bibliothek in Warschau und den Bildungsmöglichkeiten des Volkes. Ihre Hauptaktivität galt jedoch den von ihrem Mann geleiteten Zeitschriften; trotz gewaltiger Schwierigkeiten organisierte sie mit Erfolg die Verwaltung dieser Zeitschriften und beteiligte sich auch an deren Gestaltung. Am 26.2.1910 beging sie in Góra Kalwaria Suizid.

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4.23 Das Recht des Kindes auf Fürsorge (1911)

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wahren ihre eigene, erneuerte Kulturtradion, d. h. die kulturelle Emanzipation der aufgeklärten Haskala. C. Alle – Juden und Nicht-Juden – arbeiten zusammen gegen Armut und Unterdrückung für ein unabhängiges Polen. Seine eigene diesbezügliche gesellschaftspolitische Position beschreibt Korczak so: »Als polnischer Jude stehe ich mit meinem eigenen Herzen gerade dieser letzten Stimme am nächsten, aber ich kann nicht umhin, auch die beiden ersten zu verstehen … Wir sind Brüder eines Landes. Uns verbinden Jahrhunderte gemeinsamen Glücks und Unglücks – ein langer gemeinsamer Weg – eine gemeinsame Sonne scheint uns, derselbe Hagel zerstört unsere Getreidefelder, dieselbe Erde birgt die Gebeine unserer Vorfahren – es gab mehr Tränen als Lachen; doch das ist weder unsere noch eure Schuld. Arbeiten wir also zusammen. Wir sind arm, unterstützen wir einander; wir sind traurig, trotzen wir einander. Wir werden eure Wunden heilen, ihr die unseren – und da wir Fehler haben, wollen wir uns gemeinsam bemühen, sie zu überwinden. … Entfachen wir das gemeinsame Feuer, öffnen wir in seinem Licht unsere Seelen; das Böse werfen wir in die Flammen, das Gute … das Erhaltenswerte – das Ehrenhafte – in die gemeinsame Schatztruhe.«85 Am 9. Dezember 1910 wird auch das Erscheinen der Zeitschrift Gesellschaft zwangsweise eingestellt. Im Februar und März 1911 drucken die Tageszeitung Nowa Gazeta (Neue Zeitung) und das in Wilna herausgegebene Wochenblatt Nowe Życie (Neues Leben) anläßlich des Todes von Wacław Nałkowski Korczaks Grabrede und seine Erinnerungen an seinen Lehrer und Freund Nałkowski ab.86

4.23 Das Recht des Kindes auf Fürsorge (1911) In der Pädiatrischen Rundschau proklamiert Korczak 1911 das erste Mal ein Kinderrecht: das Recht des Kindes auf Fürsorge, gegründet auf seine Würde als Mensch: »Ein Kind hat das Recht auf Fürsorge …, nicht nur im Namen des Allgemeinwohls, sondern auch im Namen der Würde des einzelnen Menschen.«87 Und zusammen mit der Gesellschaft »Hilfe für Waisen« unternimmt er nun einen notwendigen konkreten Schritt, um einigen Gruppen von Warschauer Waisenkindern dieses Recht zu sichern:

85. SW, Bd. 7, S. 273. 86. Einer gegen Tausend, in: ebd., S. 293ff, und [Ansprache am Grab von Wacław Nałkowski], ebd., S. 302ff. 87. Ein Tropfen Milch oder der Sonntag des Arztes?, in: SW, Bd. 8, S. 122.

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4. Kinderarzt und Publizist: 1905–1912

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4.24 Grundsteinlegung in der Krochmalna-Straße (1911) Am 14. Juni 1911 beteiligt sich Korczak an der feierlichen Grundsteinlegung zum Bau des Dom Sierot in der Krochmalna-Straße 92. Die Tageszeitung Nowa Gazeta beschreibt die Absichten der Bauherrin »Hilfe für Waisen«: Das neue Haus wird »nicht wie bei den bisherigen Heimen die Nachteile eines Klosters und einer Kaserne in sich vereinigen und auch nicht gegen die Freiheit und gegen den Menschen gerichtet sein«. Denn das Vorstandsmitglied Korczak werde fürsorglich darüber wachen, dass die individuellen Bedürfnisse der Kinder berücksichtigt werden und sie in ständigen Kontakt mit der Außenwelt, mit der Stadt, den Verwandten und den ehemaligen Zöglingen treten können.88

4.25 Studienaufenthalt in London (1911) Im Juli oder August 1911 bricht der junge Kinderarzt Goldszmit für einen (ca. vier Wochen dauernden) Studienaufenthalt nach London auf. Im nahe gelegenen Forest Hill interessieren ihn zwei besondere Waisenhäuser: »Zwei einstöckige Häuschen, einander ähnlich wie Zwillinge. In jedem sind dreißig Kinder. Die Mädchen haben eine Wäscherei, eine Nähstube und Stickerei, die Jungen – Werkstätten. Außerdem gehen sie zur Schule. Es gibt einen Bericht, selbstverständlich. Man gibt ihn gerne. Es gibt ein Buch, in das die Namen der Besucher eingetragen werden. ›Warszawa?‹, ja, sie haben davon gehört. ›Warszawa? Ja, das ist weit.‹ ›Sehr weit.‹ Sie sind höflich – der Schullehrer, die Leiterin des Heimes – die Bediensteten im Museum. Ruhig, höflich – sie halten sich gerade, die Augen sind hell, die Stirnen glatt. Keine Spur von deutscher Arroganz und französischer Steifheit. ›Warszawa?‹ Ein Gast aus einem fernen Land, ein sonderbarer Mensch. Warum sieht er sich alles so neugierig an? Was ist so besonderes an allem hier? – Die Schule? – Es sind doch Kinder da – also muss es eine Schule geben. Ein Heim? Es sind doch Waisenkinder da – die müssen doch untergebracht werden. Ein Bad, ein Park? – Aber das ist doch alles notwendig.«89 In seinem späteren Gesuch an das Personalbüro des Judenrates blickt Korczak dankbar zurück: »Ein Abstecher von einem Monat nach London 88. Aus dem Zeitungsbericht Dom Sierot, in: Nowa Gazeta 1911, Nr. 134. 89. Forest Hill, in: SW, Bd. 7, S. 307.

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4.26 Die Lebensentscheidung für den Dienst am Waisenkind (1911)

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gestattete mir, vor Ort das Wesen karitativer Arbeit zu begreifen (ein großer Gewinn).«90 Die Erziehungseinrichtungen in Forest Hill gehören zu den frühen reformpädagogischen Arbeitsschulen, genannt »Industrial Schools«, in ländlicher Umgebung gelegen, der Förderung von Arbeit, Lernen und Spiel verpflichtet. Da es in den Korczak-Quellen keine weiteren Informationen über den Londonaufenthalt gibt, erforschte Ph. E. Veerman 1987 den historischen Hintergrund und stellte Informationen über die Waisenhäuser zusammen, die Korczak in Forest Hill besucht haben muss: Zum einen gab es das Shaftesbury House, gegr. 1873, für 40 Jungen zwischen 7 und 10 Jahren, und zum anderen das Louise House, gegr. 1881, für 30 Mädchen zwischen 6 und 10 Jahren. In beiden Häusern wurde gearbeitet: die Jungen in Schusterwerkstätten und im Garten, die Mädchen in der Wäscherei. Die Mehrzahl der Kinder besuchte die nahe gelegene Schule London County School at Catford, Rathfern Road. Veerman belegt an Beispielen, aus welchen Familienverhältnissen die Kinder der Industrieschulen stammten: »Die Mutter in schlechter gesundheitlicher Verfassung , sie verdient als Dienstmädchen sehr schlecht, der Vater ist tot. … Die Mutter ist tot, dem Vater bleiben neun Kinder unter fünfzehn Jahren, er arbeitet als Fuhrmann. … Der Vater verließ die Familie, die Mutter blieb mit fünf Kindern zurück. …«91 In Forest Hill begegnet Korczak also ähnlichen Kinderschicksalen, wie er sie aus seiner Zusammenarbeit mit der Gesellschaft »Hilfe für Waisen« kennt, und um die er sich schon bald als Waisenhausvater kümmern wird: Denn aus einem Brief an Mieczysław Zylbertal wissen wir, dass er hier in London seine Entscheidung für ein Leben mit Waisenkindern trifft und darauf verzichtet, eine eigene Familie zu gründen:

4.26 Die Lebensentscheidung für den Dienst am Waisenkind (1911) »Ich erinnere mich, wie ich beschloss, keine Familie zu gründen. … Das war in Hagen bei London: ›Ein Sklave hat kein Recht auf ein Kind: ein polnischer Jude unter russischer Fremdherrschaft …‹« 90. SW, Bd. 15, S. 213. 91. Veerman, Philip E.: Janusz Korczak in London. In: Concern. Journal of National Children’s Bureau (GB) 1987, Nr. 62, S. 8f.

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4. Kinderarzt und Publizist: 1905–1912

Und verbunden mit dieser Entscheidung gegen eigene Kinder verbindet Korczak die Entscheidung für den Dienst an der Sache des Kindes, wie er 1937 rückblickend resümierend bestätigen kann: »… Ich habe versucht, für die Idee vom Dienst am Kind und seiner Sache zu arbeiten.«92 Zu dieser lebenslaufbestimmenden Entscheidung hatten offensichtlich beigetragen: – seine Kindheits-Erlebnisse mit unterprivilegierten Kindern, – die Träume des Pennälers von einer Umgestaltung der Welt, – die Begegnungen mit sozial eingestellten Menschen in der »Fliegenden Universität«, – das Zusammenleben mit benachteiligten Kindern in Sommerkolonien, – Überlegungen zur Humanisierung der Gesellschaft mittels einer Schule des Lebens, – schockierende Erfahrungen des Studenten und Arztes in Warschauer Elendvierteln sowie – das Kennenlernen von Sozialeinrichtungen in Warschau, Berlin und London.93 Allerdings dürfte ihm die Entscheidung zum Dienst am Waisenkind nicht leicht gefallen sein, weil er dafür seinen Dienst am kranken Kind aufgeben musste. Aber seine Möglichkeiten, kranken Kindern zu helfen, waren sehr begrenzt, denn das Berson-Bauman-Spital war klein und dem diensthabenden Arzt Goldszmit blieb oft nichts anderes übrig, als hilfesuchende kranke Kinder aus Platzgründen abzuweisen, ohne ihnen helfen zu können. Diesen Zustand hatte er in mehreren Abhandlungen aufs heftigste beklagt94; und, weil keine Abhilfe möglich schien, bekannt, dass ihn diese Hilflosigkeit an die Grenze seiner Belastbarkeit führe: »Ich bin rausgelaufen – entflohen – abgehauen. Ich konnte nicht länger.«95 Denn schon bei der Behandlung von Patienten war es unerträglich gewesen, nur »Salizylsäure gegen all das Elend, gegen die Ausbeutung, gegen 92 Brief an Mieczysław Zylbertal, in: SW, Bd.15, S. 54. 93. In einem Interview von 1933 wird Korczak einen weiteren plausiblen Grund für seinen hauptberuflichen Wechsel von der Medizin zur Pädagogik benennen: »Ich bin deshalb Erzieher, weil ich mich ganz einfach immer am wohlsten unter Kindern gefühlt habe.« (SW, Bd. 14, S. 551) 94. Vgl. die Texte Das kleine Spital, in: SW, Bd. 8, S. 67ff; Und was fehlt dir?, in: ebd, S. 144; Spitäler …, in: ebd., S. 153f; Was kommt?, in ebd., S. 188ff; Gedankensplitter, in: ebd., S. 216ff. 95. Das kleine Spital, ebd., S. 69.

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4.26 Die Lebensentscheidung für den Dienst am Waisenkind (1911)

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die Rechtlosigkeit, gegen die Verwaisung, gegen Verbrechen« verschreiben zu können. Dennoch wechselte Korczak nicht ohne Skrupel seinen Arbeitsplatz, auch wenn seine Beichte aus dem Pamiętnik (zur Zeit der Depression) allzu resignativ klingt: »Für den Rest meiner Jahre wird mich das unangenehme Gefühl begleiten, dass ich desertiert bin. Ich habe am kranken Kind, an der Medizin, am Spital Verrat begangen. Falscher Ehrgeiz hat mich mit sich fortgerissen: Arzt und Bildner der kindlichen Seele. Der Seele. Nicht mehr und nicht weniger.«96 Der Londonaufenthalt hat Korczak aber vor Augen geführt, dass ein menschenwürdiges Leben für von Hause aus benachteiligte Kinder möglich ist, und das müsste auch für Warschauer Kinder gelten, zumal die Gesellschaft »Hilfe für Waisen« einen Direktor für das neue »Haus der Waisen« sucht! Und der Kinderfreund Korczak ist bereit.

96. SW, Bd. 15, S. 322.

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5. Gründer einer Kinderrepublik: 1912–1913 Die Gesellschaft »Hilfe für Waisen« ernennt Korczak zum Direktor des neu errichteten Dom Sierot und veranlasst im Oktober 1912 den Umzug der 85 Kinder ihres Übergangs-Kinderheims aus der Franciszkańska-Straße in das neue Haus in der Krochmalna-Straße 92. Neben dem Direktor Goldszmit/Korczak wird die ehrenamtliche Mitarbeiterin aus der Franciszkańska-Straße, Stefania Wilczyńska, zur Haupterzieherin des Dom Sierot ernannt. Sie ist der Ausbildung nach Naturwissenschaftlerin und aus Neigung Erzieherin. Als sie nach ihrem Studium der Naturwissenschaften an der Universität Lüttich in ihr wohlhabendes Elternhaus in Warschau zurückgekehrt war und in der Nachbarschaft die Kinderbetreuung der Gesellschaft »Hilfe für Waisen« im FranciszkańskaHeim kennen lernte, bot sie ihre Mithilfe an und wurde bald unentbehrlich. Während Korczak als Spiritus Rector den Geist des neuen Hauses in der Krochmalna-Straße prägen wird, wird Wilczyńska die gute Seele des Hauses sein, ohne die Korczaks Inspirationen keine sichtbaren Konturen erhalten würden. Eine enge Vertraute des Waisenhauses, die spätere Biographin Hanna Mortkowicz-Olczakowa, weiß zu berichten: »Frau Stefa war immer da. Man konnte mit den winzigsten Sorgen zu ihr kommen. Mit frohen und betrüblichen Dingen, mit einem Riss im Hemdsärmel und mit einem Klecks im Heft.«1 »Wenn nicht ihr Organisationstalent, ihr nüchterner Sinn für die Wirklichkeit, ihre behütende Umsicht gewesen wären, dann hätten Korczaks Reformen und Ideen niemals auf solch sicheren und soliden Fundamenten geruht.«2 Im Dom Sierot werden Wilczyńska und Korczak entscheidende Ideen der Reformpädagogik praktizieren und dabei viel Mut und Experimentierfreude beweisen. Da beide ihre Aufgaben ehrenamtlich versehen und dadurch relativ ungebunden sind, können sie sich ganz auf die Kinder und die Verbesserung ihrer Entwicklungsbedingungen konzentrieren. Beim Einzug ins Dom Sierot in der Krochmalna-Straße sind die Bauarbeiten noch nicht ganz abgeschlossen, so dass die offizielle Einweihung erst 1913 stattfinden wird. 1. Mortkowicz-Olczakowa, Hanna: Janusz Korczak …, a. a. O., S. 89. 2. Ebd.

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5.2 Zur Eröffnung des Dom Sierot (1913)

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Zwischenzeitlich erscheint zu Weihnachten 1912 im Verlag Jakub Mortkowicz noch eine Nachlese zu Korczaks frühen Kinderbüchern:

5.1 Ruhm (1912) Die Erzählung Ruhm3 handelt von drei Kindern, die sich zu einem Klub zusammentun und für ihre Zukunft kämpfen: Die Arbeiterkinder Władek, Olek und Mania suchen und finden einen Weg aus Hunger, Elend und Arbeitslosigkeit, indem sie sich um Wissen, Solidarität und sozialen Aufstieg bemühen. Kraft und Antrieb zu diesem Emanzipationsprozess gewinnen sie zum einen aus ihren Träumen vom Ruhm – Władek will Arzt, Olek Heerführer, Mania Schriftstellerin werden – zum anderen aus ihrer Freundschaft und dem gemeinsam geschlossenen »Bund der Ritter der Ehre«. Die Realisierung ihrer hohen Ziele wird allerding durch die realen Gegebenheiten leicht eingeschränkt: Władek wird nicht Arzt, sondern ein geachteter Pfleger im Krankenhaus; Olek wird nicht ein berühmter Feldherr, sondern Gewerkschaftsführer; Manias veröffentlicht ihr Tagebuch, auch wenn sie in einer Teppichfabrik arbeitet. Obwohl die Kinder ihre hochgesteckten Ziele nicht voll erreichen können, gelingt es ihnen doch, ihr Leben in aussichtsreichere Bahnen zu lenken. Jahre später kommentiert Korczak das Schicksal einer Figur aus Ruhm: »Wenn ein Bursche aus dem Volk davon träumt, Arzt zu werden, und wird Krankenpfleger, so hat er sein Lebensprogramm erfüllt.«4 Träume, gepaart mit Eigeninitiative und Solidarität, eröffnen neue Perspektiven. Der »Bund der Ritter der Ehre« sorgt gleichsam für einen Lichtblick im sonst vom harten Existenzkampf geprägten Alltag der Kinder.

5.2 Zur Eröffnung des Dom Sierot (1913) Am 27. Februar 1913 findet die offizielle Einweihungsfeier des neuen »Hauses der Waisen« statt. Neben dem Vorsitzenden des Vereins »Hilfe für Waisen« spricht Korczak; er hält eine programmatische Rede, in der deutlicht wird, dass er sich als Direktor des Hauses einsetzen will für die Erforschung der Entwicklung von (gesunden) Kindern, für die Förderung der Emanzipation der Kinder und, ausgehend von Erfahrungen im eigenen Internat Dom Sierot, für die Reformierung der zeitgenössischen Internatserziehung. 3. SW, Bd. 10, S. 261ff. Im Impressum des Buches wird, gemäß der in solchen Fällen gängigen Praxis, 1913 als Erscheinungsjahr angegeben. 4. Wie liebt man ein Kind, in: SW, Bd. 4, S. 132.

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5. Gründer einer Kinderrepublik: 1912–1913

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Das Dom Sierot soll ein »Haus der Arbeit und eine Schule des Lebens« werden. Hier die wichtigsten Passagen seiner Rede: »Wem unser Programm zu erhaben erscheint, der soll daran denken, dass man stark aufsteigen und hoch empor fliegen muss, – um dann langsam sinkend, dennoch viel Weg zurückzulegen. Wem unser Programm vielleicht zu phantastisch erscheint, der soll daran denken, dass ein eiserner Motor allein nicht genügt, um in der Höhe zu schweben, sondern auch – Flügel nötig sind. … a) Wir kennen das Kind, wenn es krank ist, wenn es sich im Zustand gestörten Gleichgewichts befindet, wir müssen es in seiner stabilen Entwicklung kennen lernen. Wir kennen erhebliche Störungen, aber wir kennen nicht die geringen Abweichungen. Wir kennen das Kind nur zu einem Bruchteil, nur einen Abschnitt seines Lebens, wir müssen aber die verschiedenen Typen und individuellen Unterschiede kennen lernen, über die erste, die zweite Kindheit und Reifezeit, anhand vieler Profile physischer und geistiger Entwicklung. Jedes der Natur entlockte Geheimnis – ist eine kostbare Errungenschaft nicht nur für eine Handvoll Kinder, sondern für alle, nicht nur für einen bestimmten Moment, sondern für Jahrhunderte. b) Wenn wir die sich vor unseren Augen vollziehende Entwicklung der Sache des Kindes aufmerksam beobachten, stellen wir eine verstärkte Bewegung in Richtung der Emanzipation des Kindes fest. Arbeitsschulen in der Schweiz, in Frankreich, Belgien; Selbstverwaltung in den Besserungsanstalten für Minderjährige in Amerika und England; Pfadfinder, Kinderklubs in Schweden, das alles sind nicht nur Versuche und Forschungen von besonderer Tragweite, sondern – Zeichen der Zeit. ›Dom Sierot‹, als Haus der Arbeit und Schule des Lebens, kann die Bedeutung des Kindes als Mitarbeiter untersuchen, um den Umfang dieser Arbeit zu ermessen und ihre Grenzen aufzuzeigen. c) Die Böswilligen behaupten, die Internatsreform sei nur eine Reform der Mauern und nicht des Geistes. Und der Geist des Internats sei böse. Als vor hundert Jahren die ersten Kinderspitäler gegründet wurden, waren die Resultate so traurig, dass man sie schließen und darauf ganz verzichten wollte. Man verdoppelte die Wachsamkeit, spürte das Wesen des Bösen auf, reformierte sie, so dass sie immer noch da sind und Nutzen bringen. Man muss aufspüren, was den Lebensraum im Internat vergiftet, wieso

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5.3 Erste Schritte demokratischer Organisation (1913)

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ein Kind in der Familie sich besser, froher entwickelt. Es ist nicht nur ein Problem von wissenschaftlicher, sondern auch von immenser gesellschaftlicher Bedeutung. Denn immer mehr Kinder werden in Internaten erzogen.«5 Die Rede zeigt, dass Korczak mit seiner Arbeit erzieherische und gesellschaftliche Ziele von allgemeiner Bedeutung verbindet. So wird er in der Folgezeit auch nicht nur Direktor eines Waisenhauses sein, sondern wie bisher ein unbequemer Publizist und mehr und mehr auch eine Autorität zur Beurteilung allgemeiner Erziehungsfragen. Im Vordergrund seiner vielfältigen Tätigkeiten aber steht, insbesondere am Anfang seiner »Erzieher-Karriere«, die Arbeit im Internat »Dom Sierot«.

5.3 Erste Schritte demokratischer Organisation (1913) Das Dom Sierot wird ein Zuhause für Kinder, die sich im Alter der Pflichtschuljahre, also zwischen 7 und 14 bis 15 Jahren befinden. Über die Schwierigkeiten des Anfangs mit den stark vernachlässigten Kindern und den – abgesehen von Frau Stefa – unkompetenten Mitarbeitern wird Korczak in seinem großen Erfahrungsbericht, dem Text Dom Sierot, erst 1920 berichten. Aber die vielfältigen Probleme halten ihn nicht davon ab, sein erstes und wichtigstes Ziel zu verfolgen: »die Bedeutung des Kindes als Mitarbeiter« zu untersuchen und seine Emanzipation zu fördern (Pkt. 5.2, b). Und er wird hernach nicht ohne Stolz herausstellen, »wie wir uns bei der Organisation des Waisenhauses Dom Sierot der Hilfe der Kinder versichert haben, ohne Furcht vor bösen Folgen, und wie wir Öffentlichkeit ins Internatsleben eingeführt haben«.6 Die Wertschätzung »der Hilfe der Kinder« und die Einführung von »Öffentlichkeit« ins bisher unbeobachtete (hinter verschlossenen Türen stattfindende) Internatsleben sind also die ersten Schritte zu dessen Reform. Denn in einer Erziehungsgemeinschaft mit partnerschaftlichen Zielvorstellungen kann auf die Mitwirkung der Kinder und auf Öffentlichkeit – und ab einer bestimmten Größe der Gemeinschaft – auf eine von den Kindern mitgestaltete freie Presse als wichtiges Organ der »Öffentlichkeit« nicht verzichtet werden. Darum wird als Erstes eine Heimzeitung ins Leben gerufen. 5. Die Rede wurde von der Gesellschaft »Hilfe für Waisen« in einem Flyer mit dem Titel Zur Eröffnung des Dom Sierot gedruckt; dt. in: SW, Bd. 9, S. 199ff. 6. SW, Bd. 4, S. 159.

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5. Gründer einer Kinderrepublik: 1912–1913

Im Dom Sierot gibt es darüber hinaus noch einen weiteren Grund, eine Zeitung in polnischer Sprache einzuführen: Korczaks Anliegen, den in der Regel jiddisch sprechenden Heimkindern die offizielle Verkehrssprache näher zu bringen und ihren korrekten Gebrauch zu pflegen. Ab August 1913 erscheint die Heimzeitung, betitelt Wochenblatt des Dom Sierot. Sie wird auf den wöchentlichen Treffen der Heimbewohner am Freitagnachmittag vorgelesen. Alle Kinder und Erzieher nehmen an diesen Treffen teil. Auch Gäste sind willkommen – unter anderen die Mitglieder der Gesellschaft »Hilfe für Waisen«, Verwandte der Bewohner sowie Freunde und Bekannte des Hauses (und später auch ehemalige Zöglinge). Über die Existenz und die Inhalte des Wochenblatts wissen wir heute nur etwas dank der Berichte von Zeitzeugen und dank des Nachdrucks einiger Artikel in der öffentlichen Kinder- und Jugendzeitschrift W Słońcu (In der Sonne). Das Wochenblatt selbst bestand aus einem handgeschriebenen Exemplar, das nach dem Vorlesen auf dem »Regal« des Hauses ausgelegt wurde und so allen zur Verfügung stand. Die Originale des Wochenblatts fielen später – wie fast das gesamte »Gedächtnis« des Hauses – der Venichtung zum Opfer. Am 6. Dezember 1913 erscheint in W Słońcu ein Nachdruck der ersten Nummer des Wochenblattes vom 8. 8. 1913. Hier die Ankündigung der Zeitungsredaktion: »An die Leser Das Wochenblatt des Dom Sierot wird jeden Freitag erscheinen. Jede Nummer wird Berichte von der ganzen Woche enthalten. Wir bitten also, alle interessanten Neuigkeiten auf Zettel zu schreiben und diese am Abend bei der Redaktion abzugeben. Das Personal des Wochenblatts wird sich zusammensetzen aus: dem Redakteur dem Sekretär dem Expedienten. Später werden wir auch ständige Mitarbeiter haben. Jetzt müssen uns alle helfen. Hochachtungsvoll. Die Redaktion.7 7. SW, Bd. 13, S. 320.

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5.3 Erste Schritte demokratischer Organisation (1913)

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Über die Heimzeitung berichtete später eine Bewohnerin des Dom Sierot, Teresa Osińska: »Nach so vielen Jahren erinnere ich mich noch immer an die kleine Zeitung, die regelmäßig jede Woche vorgelesen und besprochen wurde. Sie trug den Titel Tygodnik Domu Sierot (Wochenblatt des Dom Sierot). Jede Nummer begann mit einem Leitartikel Korczaks, den er eigenhändig verfasst hatte. Danach wurde die Verlautbarung eines Erziehungspraktikanten (jede Woche war es ein anderer) mit Informationen über den jeweiligen Arbeitsbereich bekannt gegeben. Als Nächstes folgten Artikel der Kinder zu vorher festgelegten oder freien Themen … Die Zeitung las der Doktor selbst vor. Vor dem Verlesen der Gerichtsurteile verkündete er allwöchentlich: ›Niemand ist vom Personal geschlagen worden.‹ Dies war so etwas wie eine Selbstkontrolle und eine feierliche Warnung für die Erwachsenen vor der Anwendung von körperlichen Strafen. Das Vorlesen der Zeitung wurde von Ausrufen und Beifallsbekundungen unterbrochen, wenn etwas den Kindern besonders gefiel.«8 Dass die Zeitung mehr ist als ein reines Nachrichtenblatt, zeigt sich an der Thematisierung von existentiellen Problemen, die die Kinder betreffen. Beispielsweise dann, wenn sie wegen problematischen Verhaltens außerhalb des Waisenhauses eine Beschäftigung suchen müssen. Über dabei auftretende Schwierigkeiten berichtet das Wochenblatt des Dom Sierot im August 1913: »Arbeitssuche Figa sucht einen Arbeitsplatz in einem Wurstladen. Sie konnte keinen finden, und sie schreibt: ›Ich ging in die Nalewski-Straße – sie sagten, sie brauchen niemanden. Sie fragten, woher ich bin. Ich habe es gesagt. Dann ging ich zur TłomackaStraße 15. Sie fragten, woher ich komme. Ich hab’ es gesagt. Sie haben gesagt, sie bräuchten mich nicht, und ich sei zu klein. … In der ŻelaznaStraße Nr. 40 haben sie gesagt, ich soll in zwei Monaten wiederkommen, und in der Karmelicka Nr. 3 ging ich in den Laden und hab’ den Zettel abgegeben. …‹ Hier hat Figa die Beschreibung ihrer Erlebnisse abgebrochen, aber man weiß, dass sie keinen Platz gefunden hat. Arme Figa! Man hat sie aus der Küche rausgeworfen, weil sie sich schlecht benommen hat, und im Wurstladen will man sie nicht. Wie’s weitergeht, weiß man nicht, unterdessen hilft sie Wojciech (dem Hausmeister). … 8. Osińska, Teresa: Er war für mich ein Vorbild. In: Beiner, F./Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 106.

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5. Gründer einer Kinderrepublik: 1912–1913

Nachrichten Es fand eine Sitzung wegen unserer Zeitung statt. Um ständige Mitarbeit wurden gebeten: Fela, Felcia, Dora, Jakub, Andzia, und Altszyler. Fela übernahm die Abteilung Küche und Garderobe, Jakub wird Korrespondent der Schreinerwerkstatt, Dora berichtet aus dem Ruheraum. Aus dem Gesangsunterricht werden der Alt Andzia und der Sopran Altszyla Nachrichten liefern. Nacia und Altszyla werden Expedienten des Wochenblatts. Auf der Sitzung wurden die Anwesenden davon unterrichtet, dass einige Nummern des Wochenblatts in einer der richtigen Warschauer Zeitungen gedruckt werden können. … Auf alle geschriebenen Fragen wird die Redaktin gerne antworten.«9 Mit der öffentlichen Kommunikation und der Mitwirkung der Kinder an ihren eigenen Problemen hat der demokratische Organisationsprozess der Waisenhausgemeinschaft seinen Anfang genommen. Welche weiteren Elemente das Internatsleben in den folgenden Jahren nachhaltig verändern werden, wird Korczak 1920 in dem schon angekündigten Erfahrungsbericht Dom Sierot ausführlich beschreiben.

9. SW, Bd. 13, S. 321 und 324.

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6. Ein »poetischer Pädagoge«: 1913–1914 Neben seiner Mitarbeit an der Heimzeitung und der Leitung des Internats Dom Sierot ist Korczak weiterhin publizistisch und, wie in seiner Eröffnungsrede angekündigt, auch wissenschaftlich tätig. Ende 1913 veröffentlicht er unter dem Titel Bobo1 eine Trilogie mit drei psychologischen Studien, die die Entwicklung von Kindern unterschiedlichen Alters (Kleinkind-, Grundschul- und Jugendalter) beschreiben: A. Bobo (Studie – Erzählung); B. Die verhängnisvolle Woche (Aus dem Schuleben); C. Beichte eines Schmetterlings. Diese drei Texte sind nicht nur eine Darstellung von kindlichen Entwicklungsphasen, sie erschließen dem Leser vor allem einen Zugang zur Erlebniswelt von Kindern. Sie belegen Korczaks kreative Fähigkeit, sich in die Lage von Kindern zu versetzen und die Welt und die Menschen aus ihrer Perspektive wahrzunehmen und zu beschreiben. Erich Kurzweil schreibt Korczaks Fähigkeit zu solch einem perspektivischen Sehen seiner künstlerischen Begabung zu und er spricht (in Anlehnung an Ernst Simon) von Korczaks Fähigkeit zu einer »methodischen psychologischen Regression«.2 Die Trilogie-Texte dokumentieren diese Fähigkeit, d. h. sie beschreiben Situationen so, dass deutlich wird, was die handelnden Kinder fühlen und was sie vorhaben.3 Die künstlerischen Erzählungen belegen gleichzeitig, dass sich Korczak vom Kinderarzt zum »poetischen Pädagogen« entwickelt hat.4 Psychologisch bedeutsame Ent1. Dt.: »Baby«; in: SW, Bd. 3, S. 7ff. Die Schrift wurde zu Weihnachten 1913 ausgeliefert; das Impressum weist Warszawa 1914 aus; vgl. SW, Bd. 3, S. 415ff. 2. Kurzweil, Zwi Erich: Vorläufer progressiver Erziehung. Ratingen/Kastellaun/Düsseldorf 1974, S. 143f. Simon, Ernst: Pestalozzi we Korczak: Chaluzim le Chinuch soziali (Pestalozzi und Korczak: Pioniere der sozialen Erziehung). Tel Aviv 1950. Zum Begriff »Regression«: Rückkehr auf ein einfacheres, früheres Entwicklungsniveau. Während der Begriff in der Psychoanalyse für einen eher krankhaften Vorgang verwendet wird, steht er in unserem Zusammenhang für eine Erweiterung der Erwachsenenperspektive durch Einbeziehung einer schon vergessenen kindlichen Erlebniswelt. 3. Wie Kinder denken und wie wichtig es ist, dass Erwachsene deren Fühlen und Wollen aufspüren und berücksichtigen, zeigt Margaret Donaldson in ihrem beachtenswerten Buch: Wie wir denken, München 1991. Donaldson räumt mit der seit Piagets Veröffentlichungen falsch verstandenen Unfähigkeit zur Dezentralisierung bei Kindern auf und verweist stattdessen auf die Tendenz der Dezentralisierung bei vielen Erziehern hin. 4. Jürgen Oelkers hat Korczak im Anschluss an eine Anregung Dauzenroths als einen »poetischen Pädagogen« bezeichnet. Oelkers, Jürgen: Was ist poetische Pädagogik? In: Beiner, Friedhelm (Hg.): Zweites Wuppertaler Korczak-Kolloquium. Korczak-Forschung und -Rezeption 1984. Wuppertal 1984, S. 239ff.

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wicklungsschritte werden in einer existentiellen Dichte und Tiefe, wie sie vielleicht nur dem Dichter erreichbar sind, nach- und miterlebt:

6.1 Aus der Perspektive von Kindern (1913) Zu A: Bobo. In dieser Schrift kann man als Leser die körperlich-geistige Entwicklung eines Säuglings während des ersten Lebensjahrs mit durchleben. Der Erzähler beginnt mit der Schilderung der Geburt aus der Perspektive Bobos: »Bobo fühlte einen empfindlichen Schmerz, er erlebte großes Entsetzen.« Während die Mutter rational erfassen kann, dass sie wenig später wieder schmerzfrei sein wird, stürzt ihr Kind in eine ihm unbekannte, kalte Welt, in der es ohne die Wärme und den Schutz des Mutterleibes zu leben erst lernen muss. Das erste Atemholen ist ein verzweifeltes Sich-wehren gegen das Ersticken. »Der Priester Schmerz vermählt das kleine Menschenwesen mit dem Leben.« Vor dem sich dabei ereignenden Wunder der Verselbstständigung des jungen Lebens fühlt sich der Erwachsene hilflos, und der Erzähler fordert ihn auf: »Versuche möglichst wenig zu tun, weil du nichts weißt, weil du nichts verstehst.« Reaktionen, die dem schweren Gang Bobos ins Leben nicht gerecht werden, könnten ihm Schaden zufügen. Doch die Mutter richtet schon wenig später hohe Erwartungen an ihr Kind, »schon sucht sie nach einer Regung der Vernunft. ›Bobus, guck her zur Mama!‹« Bobo kann diesem Appell jedoch nicht nachkommen, weil die wenigen bisher vorhandenen Vernetzungen in seinem Gehirn intentionales Handeln noch nicht zulassen. Seine Fähigkeiten, die Mutter zu verstehen und ihrem Appell zu folgen, sind noch nicht ausgeprägt. Mit einem Bild verdeutlicht der Erzähler, was gegenwärtig physiologisch in Bobos Gehirn vor sich geht: »Bobo hat unter seiner Schädeldecke im Gehirn – sonderbare Schmetterlinge, aus einem feinen Gespinst gewirkt, über das farbige Bilder hingleiten, wechselnd von Station zu Station, sich zu Familien und Völkern verflechtend – Gedankenbilder. Noch gibt es bei den Führern und Meldern keine Vorsteher.« Bobo ist zu diesem Zeitpunkt ein von Reflexen gesteuertes Wesen, das mit den Lippen nach der Mutterbrust sucht. Als »sekundärer Nesthocker«5 ist er weniger als ein Küken, das seiner Mutter hinterherläuft, weniger als eine Raupe, die über die Pflanzenblätter hinweggleitet. »Bobo kann noch nichts, nicht einmal richtig zu saugen ist er imstande.« Im Halbschlaf nimmt er »Geräusche, Töne, Flüstern, Klänge« wahr. 5. Vgl. Portmann, Adolf: Zoologie und das neue Bild vom Menschen. Hamburg 1956, S. 55.

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Plötzlich gehen ihm die Augen auf und das »graue Frühlicht zeichnet erste unklare Striche eines prächtigen Bildes«. Erstaunt und verwirrt sucht er nach Deutungen. Sein Verstand ist in keiner Lebensphase so wachsam wie jetzt. »Bobo schaut und denkt, denkt in der geheimnisvollen und lebendigen Sprache, einer Sprache ohne Worte –, in einer Sprache der Bilder und Bildfragmente, die allen Bobos der ganzen Welt und allen lebenden Geschöpfen gemeinsam ist …« Mittels vorbegrifflicher Assozitionen schafft er Material heran für den Spracherwerbsprozess, der ihn letztendlich zu dem rationalen Denken befähigen wird, das seine Eltern schon jetzt von ihm erwarten. In Windeseile durchmisst Bobo Jahrtausende der Entwicklung menschlicher Denkfähigkeit. Indem der Erzähler die Ontogenese Bobos mit der Phylogenese des Menschengeschlechts vergleicht, verdeutlicht er die herausragende Bedeutung dieser Lebensphase für das Individuum und die Gattung. Schon bald wird Bobos Verstand auch das »schlaueste Tier« überholen, um sich mit dem »Genius des Menschengeschlechts zu verbrüdern«. Bobo wird dazu beitragen, dass sich die Gattung Mensch weiterentwickelt. Das wird jedoch nicht ohne Irrungen und Wirrungen möglich sein. In einem Exkurs in die Zukunft Bobos weist der Erzähler auf die Schmerzen hin, die die »Suche nach den Ursachen, Zielen, Wegen und Stegen« mit sich bringen wird. Er prophezeit Bobo kleine Ungerechtigkeiten und großes Ungemach. Vorher muss Bobo allerdings sich und seine Umwelt wahrzunehmen lernen, um danach allmählich die Ungeschiedenheit von Ich und Umwelt und die Zentrierung auf den eigenen Körper zu überwinden, zugunsten der Erkenntnis einer relativen Geschiedenheit von Ich und Objekt.6 In langen, mühseligen Studien lernt Bobo zwei »gute Schatten« als seine eigenen Hände zu begreifen. Das seine beiden »Händeschatten« seinem Willen gehorchen, ist eine »grandiose, außergewöhnliche, epochale, entscheidende Entdeckung«. Bobo ist geblendet von seiner »Entdeckung, er findet Gefallen an seiner Macht, seinem ersten Eigentum – der ersten Stufe zur Unabhängigkeit, Befreiung, Stärke«. Obwohl er von der vollen Wahrheit noch weit entfernt ist – er weiß noch nicht, dass seine Hände ein Teil von ihm selbst sind – ermöglicht ihm sein Wissen, mit der Bildung kühner Hypothesen fortzufahren, um letztendlich zwischen Ich und Nicht-Ich differenzieren zu können. Aufmerksam registriert Bobo seine Umwelt: »Hundertfach hat er das Band auseinanderfallender und wieder zusammenlaufender, gehälfteter 6. Vgl. Trautner, Hanns-Martin: Lehrbuch der Entwicklungspsychologie. Band 2: Theorien und Befunde. Göttingen/Toronto/Zürich 1991, S. 177.

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und vollständiger, deutlich ausgeprägter oder verschwommener Bilder verloren und wieder zu fassen bekommen und sich damit die armselige Hütte, den bescheidenen kleinen Unterschlupf für ein erstes Weltbild zusammengebastelt.« Das Lutschen an Gegenständen ist nicht, wie seine Eltern meinen, ein Spiel, sondern ernsthafte Arbeit: »Die Natur kennt kein Ausruhen, sie wird zur Arbeit gedrängt durch die Kraft einer unsichtbaren Hand. Wunderbar gebildet hat sie einen kleinen Menschen, kraft ihrer schöpferischen Inspiration.« Bobo versucht, tastend und lutschend zu begreifen. Planmäßig und mit immer größerem Eifer erkundet er die unterschiedlichsten Gegenstände. Dabei steigt plötzlich »eine neue Welt herauf, sehr logisch und klar«: »Aus einer Reihe von Fakten, in denen sich etwas verbirgt, scheinbar merkwürdigen, scheinbar zersprengten, voneinander unabhängigen, zufälligen und dennoch durch irgend etwas verbundenen Fakten, die im Grunde eine latente Gemeinsamkeit besitzen, entsteht unvermutet in den verborgensten Zellen des Gehirns eine lebendige, blendende Synthese«: Bobo erkennt Zusammenhänge und wechselseitige Abhängigkeiten. Sein Wissen wird differenzierter, er glaubt längst nicht mehr »an die Unfehlbarkeit der guten Geister«. Er hat nicht nur gelernt, gezielt Mittel einzusetzen (seinen Schrei), um seine Bedürfnisse zu befriedigen, sondern auch die Erfahrung gemacht, dass er selbst seiner Ernährerin nicht bedingungslos vertrauen darf. Konzentriert beobachtet er beim Spazierenfahren »die unzähligen beweglichen Schatten«. »Die Straße mit ihrem Lärm, der Garten mit seinem vielen Grün, fremde Wohnungen und fremde Gestalten, das sind ferne, unbekannte Länder, die er auf seinen langen, mehrjährigen Reisen besucht.« »Bobo erforscht die Sprache der guten Geister; als seine Mutter einmal ärgerlich auf Bobo einredete, staunte er mit seinem größten Erstaunen: ›Das ist gewichtig, sehr gewichtig, sehr geheimnisvoll.‹ Bald – wird Bobo an die Stelle der öden Beschwörungsschreie und der trügerischen Beschwörung mit den ausgestreckten Händen die Beschwörungsformel des ersten Wortes setzen. … Die guten Geister haben für ihn längst aufgehört, Schatten auf hellem Grund zu sein.« Zu Hause, beim Baden, macht er wieder eine Entdeckung: »Außer Armen besitzt er Beine – zwei entlegene Landstriche. Aber vielleicht sind ja auch die Zudecke, das Kopfkissen, das ganze Bett ein Teil von Bobo.« Gerade erworbene Erkenntnisse müssen erneut überprüft, bisher gewonnene Wahrheiten einer gründlichen Revision unterzogen werden. Dennoch triumphiert Bobo; er hat viel erreicht, ahnt aber im Gegensatz zu dem allwissenden Erzähler nicht, welche Schwierigkeiten in der nächsten Altersstufe auf ihn zukommen werden. Korczak beendet die Studie Bobo daher

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mit den Worten: »Bobo, Bobo, mit welch erschreckender Vertrauensseligkeit gehst du dem Leben entgegen …«7 Wie treffend die »Erzählung« des Poeten Korczak über die frühkindliche Entwicklung auch in wissenschaftlicher Hinsicht ist, zeigt ein Dialog zwischen den berühmten Hirnforschern John C. Eccles und Karl R. Popper aus dem Jahre 1977, der in den Anmerkungen abgedruckt ist.8

7. Alle Bobo-Zitate in: SW, Bd. 3, S. 9–25. 8. Der Dialog zwischen Popper (P) und Eccles (E) ist veröffentlicht, hier die wesentlichen Auszüge: P: »Ich nehme an, dass die in den allerersten Lebenstagen einlaufenden Sinnesdaten ziemlich chaotisch sind und nur allmählich organisiert und gedeutet werden. Ich glaube, das gilt auch für die Arbeitsweise des Gehirns. Durch Sinnesreize gereizt, oder wenn man will, herausgefordert muss das Gehirn mit seiner Tätigkeit beginnen, die, was die Sinne betrifft, hauptsächlich in der Interpretation besteht. Diese Interpretations-Tätigkeit muss weitestgehend im vorhinein angelegt sein; und sie muss gegenüber dem Erleben der äußeren Welt oder des Ich ›primär‹ sein. … Ich muss zunächst einmal lernen, ich selbst zu sein; und ich lerne, ich selbst zu sein im Gegensatz zum Lernen dessen, was nicht ich selbst ist. Durch diesen Prozess kann ich letztlich mich selbst schrittweise begründen. Das geht nicht auf einmal – es braucht wahrscheinlich Wochen.« E: »Ich stimme gerne zu, dass das neugeborene Kind mit den wenigen primitiven Instinkten, über die ein neugeborenes Kind beim Saugen und Schreien verfügt, handelt, doch es lernt sehr schnell. In wenigen Tagen lernt es, mit seinen Augen zu folgen, und es lernt sogar, die Stimme seiner Mutter zu erkennen und es selbst orientiert sich auch. … Es setzt Gesehenes zur Bewegung seiner Hände in Beziehung, indem es die ganze Zeit beobachtet und berührt, Berührtes und Gesehenes, Berührtes und Gehörtes vergleicht usw. Da findet ein intensiver Lernprozess statt. … Ich denke, wir haben hier einfach einen Organismus mit ungeheuren Möglichkeiten und Antrieben zu lernen, zu entwickeln und schrittweise herauszufinden, dass er eine unabhängige Existenz verkörpert, indem er entdeckt, was er ist und was er nicht ist; was also Umgebung ist – was zu ihm gehört als Hände und Füße, und was nicht zu ihm gehört, wie Schuhe und Socken usw. Er lernt allmählich, sich selbst auf das Wesentliche zu reduzieren, und er lernt, wie er handeln und durch Bewegung unter visueller Kontrolle Geschehnisse in Gang bringen kann usw. Er lernt, wie er akustisch befehlen kann. All dies spielt sich während des ersten Lebensjahres ab. Während dieser ganzen Zeit gehen ihm die Leistungen anderer junger Säugetiere, besonders all die komplizierten instinktiven Leistungen ab – stehen und laufen und springen, wie es zum Beispiel die jungen Pflanzenfresser können. Er ist anfangs ganz hilflos, doch er lernt schnell und ist sehr flexibel. Ich denke, das ist das Wesen des Babyalters etwa im ersten Jahr, bis es mit seiner Sprachentwicklung mehr und mehr beginnt, seine eigene Selbstheit zu realisieren.« (Popper, Karl R./Eccles, John C.: The Self and Its Brain – An Argument for Interactionism. Heidelberg/Berlin/London/New York 1977. Deutsche Ausgabe: Das Ich und sein Gehirn. München 1982, S. 507f.)

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Zu B: Die verhängnisvolle Woche.9 Die einfühlsame Erzählung handelt vom Leiden eines Kindes unter sozialen und schulischen Verhältnissen. Der Autor beschreibt überwiegend aus der Sicht des Schülers Stasio die Ereignisse einer typischen, für Stasio und seine Mitschüler geradezu fatalen Schulwoche. Der Leser des Büchleins wird unmittelbar angerührt von den unseligen Ereignissen und der Traurigkeit, die die »Unglückswoche« eines Grundschülers bestimmen. Durch Hinweise auf die russische Schulordnung ist die Handlung in den historischen Zusammenhang der Schulzeit Henryk Goldszmits gestellt. Wie einst Henryk so erlebt jetzt Stasio die hierarchischen Machtverhältnisse und den Schuldrill, wie sie im »Königreich Polen« als einem Teil des russischen Reiches damals herrschten, und er erlebt die schulische Situation mit all ihren Ängsten, Demütigungen und Unsicherheiten als sehr belastend. Offenkundig lässt Korczak Erfahrungen, Begebenheiten und psychisches Befinden aus seiner eigenen Grundschulzeit in die Geschichte von Stasio einfließen. Zu C: Beichte eines Schmetterlings.10 Der Text stützt sich wahrscheinlich auf Tagebuchnotizen aus den Jugendjahren Korczaks. (Erwähnte Zeiten und Ereignisse stimmen nachweislich mit biographischen Daten überein, so dass die Beichte schon zur Beschreibung der Gymnasialzeit herangezogen werden konnte.) Das Tagebuch war ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Ausdrücklich stellt der jugendliche Chronist heraus: »Ich schreibe für mich, sonst müsste ich vieles ändern und viele Dinge verschweigen.«11 Den Sinn seines Tagebuchs sieht er in der psychologischen Bedeutung für sich selbst. Offen und ehrlich, ohne sich und andere zu schonen, schreibt er sich seine Empfindungen von der Seele und ist bemüht, sie rational zu verarbeiten. Rasche Veränderungen des Gemütszustands werden reflektiert und als alterstypisch charakterisiert: »Von einem Extrem ins andere fallen, fehlendes seelisches Gleichgewicht – ist für mein Alter charakteristisch.«12 Das Tagebuch und vermutlich die darin immer wieder erwähnten eigenen literarischen Versuche helfen dem jungen Henryk, die ihn aufwühlenden Gefühle zu bewältigen und seine Gedanken zu ordnen. Dies gibt ihm die Kraft, sich gegen Konventionen aufzulehnen und in einem Bild fest9. SW, Bd. 3, S. 27ff. Vgl. auch Pkt. 4.5, S. 51. 10. SW, Bd. 3, S. 59ff. Der Titel ist eine Reminiszenz an das Tagebuch Fragments d’ un journal intime (Geneve 1901) von Henri Frederic Amiel (1821–1881), Korczak bezieht sich auf den letzten Satz der Tagebucheintragung vom 29.4.1852: »Die Seele ist auch ein Schmetterling.« 11. SW, Bd. 3, S.110. 12. Ebd., S. 121.

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zuhalten: »Ich werde dem Leben nicht erlauben, meine bunten Flügel zu stutzen, meinen Flug zu senken.«13 Entgegen seiner früheren Absicht und trotz seiner Angst, nicht verstanden zu werden, entschließt sich Korczak jedoch als Fünfunddreißigjähriger, sein Tagebuch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Selbst wenn die Publikation allein der Vervollständigung der entwicklungspädagogischen Einsichten aus Bobo und der verhängnisvollen Woche dienen sollte, zeigt er damit doch, dass seine Absicht, sich nicht der Gesellschaft anzupassen, mehr war als jugendlicher Überschwang. Der Autor und Pädagoge legt es geradezu auf eine Konfrontation mit seinen in ihren bürgerlichen Denkschemata verhafteten Rezipienten an. Indem der jugendliche Tagebuchschreiber den Lesern die »Wahrheit des Schmetterlings«14 verkündet, macht er ihnen gleichzeitig ihre eigene eingeschränkte Perspektive deutlich: Träume, Wünsche, Sehnsüchte, das Gefühl des inneren Zwiespalts haben sie als Erwachsene zugunsten von Selbsttäuschung und Blendertum soweit wie möglich aus ihrem Dasein verbannt. In aphoristisch nebeneinander stehenden Empfindungen und Gedankensplittern werden traditionelle Werte in Zweifel gezogen und die Entwicklung eines Jugendlichen transparent gemacht. Die Subjektivität und Authentizität des Ich-Erzählers fordern den Leser auf, sich selbst ein Urteil zu bilden. Völliges Unverständnis erscheint genauso möglich wie die vermutlich intendierte Identifizierung mit dem Jugendlichen. Die Beichte eines Schmetterlings ist ein origineller Versuch, aus eigenem biographischem Erleben die psychischen Probleme eines Jugendlichen zu verstehen und zu beschreiben. Die Methode der »methodischen psychologischen Regression« wird Korczak 1926 mit der Erzählung Wenn ich wieder klein bin zu einem kröneneden Abschluss bringen (s. Pkt. 11.3).

6.2 Gebet (1914) Im Normalfall verlassen die Heimkinder, wie erwähnt, mit 14 bis 15 Jahren das Dom Sierot. Manchmal zeigt ein Hausbewohner aber vorher schon ein Verhalten, das von der Waisenhausgemeinschaft nur schwer zu dulden ist. In solch einem Fall würde in späterer Zeit das sog. Kameradschaftsgericht des Waisenhauses tätig werden. Vor der Etablierung eines solchen Gerichtes musste sich vor allem der Heimleiter überlegen, wie damit umzugehen sei. 13. Ebd., S. 128. 14. Ebd.

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Korczak bringt einen solchen Fall mit dem Wochenblatt des Dom Sierot in die Öffentlichkeit: »Gebet Heute Nacht bin ich lange durch den Schlafraum gegangen. Ich war traurig. Die Jungen schliefen. Nur einer erwachte und sah mich verwundert an – er wusste nicht, wozu ich umhergehe, wenn alle ruhig schlafen. Aber er schlief bald wieder ein. Doch ich schlief nicht. Ich betete: Gott, kennst du Piotruś? Weißt du, wie sehr wir darunter gelitten haben, als sich herausstellte, dass Piotruś stiehlt und andere zu Bösem anstiftet? Wir mussten ihn aus dem Dom Sierot entfernen. Und was war? Wir haben ihn zu einem Meister getan – aber es geht ihm schlecht. Man nahm ihm das Bett und die Seife weg, er sollte zwei Groszy für jeden Mantel, den er wegbrachte, bekommen – aber er bekommt sie nicht. Sie wissen, dass er ein Waisenkind ist – und wer setzt sich schon für ein Waisenkind ein? Gib mir einen Ratschlag, mein Gott, was soll ich machen? Soll ich ihn zu uns zurücknehmen? Und wenn er wieder stiehlt und andere zu Bösem verleitet? Soll man ihn dalassen, wo er ist? – Und wenn er sagt: ›Sie haben mir die Seife weggenommen, also kann ich ihnen auch etwas wegnehmen?‹ Sollen wir ihn zu einem anderen Meister bringen? Dann muss man dem Meister sagen, dass Piotruś gestohlen hat. Und dann nimmt ihn ein ordentlicher Meister nicht, und irgendein anderer wird genauso sein – vielleicht noch schlimmer? Oh Gott, warum müssen wir Kinder aus unserer Obhut zu fremden Leuten geben? Warum kann es nicht so sein, wie wir uns wünschen, dass es wäre? Warum? Es schneit. ›Hei, Kinder, es schneit! Lasst uns nach draußen gehen und eine Schneeballschlacht machen! Und mit lautem Gesang – lärmend – voller Freude – rennen wir mit dem Wind – und jedem, den wir treffen, rufen wir zu: ‚Es schneit!’‹ Freuen wir uns! Wir wollen fröhlich sein, glücklich! Denn wer im Herzen Freude und Glück hat – der muss auch gut sein. Und Du willst doch, mein Gott, dass unsere Kinder gute Kinder sind.‹ Jetzt ist Nacht. So viele Sterne am Himmel! Hei! Kinder! Kommt, wir werden zusammen zu den Sternen schauen. In später Nacht schauen wir mit den Kindern zu den Sternen, die am Himmel glitzern. Kleine Sterne – große – so fern … Und die stille Nacht spricht zu uns: ›Kinder, schaut zu den Sternen. Auf

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dieselben Sterne haben eure Mama, euer Vater, die Großmutter und der Großvater geschaut – und die Vorfahren – vor Tausenden von Jahren. Auf dieselben Sterne schauen alle Menschen – auf der ganzen Welt – die guten und die bösen. Und ihr – Kinder – was seid ihr?‹ Wie kann man die Sterne, die stille Nacht, den Himmel belügen? Und ein Kind sagt: ›Ich tue es nicht mehr. Ich bessere mich.‹ Oh Gott, wie hast Du das gemacht, dass in einer solchen Sternennacht sogar die guten Kinder sagen: ›Wir wollen noch besser sein.‹ Frühling. Bis jetzt haben die Bäume geschlafen – schwarz und still. – Nun aber kommen grüne Blättchen aus den Zweigen hervor – noch klein und schwach. Die Blättchen entfalten sich und sind verwundert, dass sie sehen, was sie bisher nicht gesehen haben – sie lachen und freuen sich, dass es warm ist. ›Kinder, betrachtet lange die Blättchen, die nicht da waren und jetzt da sind. Und denkt darüber nach, dass auch ihr, wie diese Blättchen, nicht da wart und jetzt da seid. Dass auch ihr euch wie die Blättchen gewundert habt, dass ihr so viel Neues seht, ihr habt gelacht und euch gefreut, dass die Sonne scheint und es warm ist.‹ Die Kinder schauen auf die grünen Blättchen, die nicht da waren und jetzt da sind, und denken an alles, was nicht war und was jetzt ist. Sie denken an das, was nicht mehr ist, und an das, was sein wird. Sie denken und werden klüger. Und Du, oh Gott, willst, dass die Kinder klug sind und Weisheit in ihren Herzen tragen! Oh Gott, warum können wir nicht alle unsere Kinder in den weißen Schnee hinausführen? Warum können wir sie nicht in stiller Nacht zu den Sternen schauen lassen? Warum können wir sie nicht mit einem schönen Frühling erfreuen? Wir müssen sie zu fremden Leuten geben – in Werkstätten, die nichts von dem sagen, was die grünen Blättchen sagen – wo man ihnen die Seife wegnimmt und ihnen die zwei Groszy für den Mantel, den sie wegbringen, nicht bezahlt. Weiser Gott, sage mir, was ich mit Piotruś machen soll.15 15. SW, Bd. 13, S. 362f. Der Text »Gebet« stammt aus einem frühen Exemplar des Wochenblatts des Dom Sierot, nicht später als 1914, auch wenn er erst während Korczaks kriegsbedingter Abwesenheit im Jan. 1917 in der Zeitschrift In der Sonne veröffentlicht wurde.

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7. Die Zeit des Ersten Weltkrieges: 1914–1918 Nach zwei Jahren des Bestehens ist das Dom Sierot in Polen anerkannt und findet Unterstützung in verschiedenen Gruppen der Bevölkerung. Die Zahl der Kinder steigt, obwohl die finanzielle Situation prekär ist. Nach Ausbruch des ersten Weltkrieges im August 1914 wird Korczak zum Militärdienst in die russische Armee einberufen. Stafania Wilczyńska übernimmt die in dieser Zeit nicht leichte Aufgabe der Leitung des Dom Sierot. Und Korczak? Obwohl seine praktische Erziehungstätigkeit durch den Militärdienst unterbrochen wird, bleibt er in Gedanken mit dem Dom Sierot, mit den Problemen der Kinder und ihrer Erziehung verbunden, auch wenn ihn natürlich die Kriegsereignisse gefangen nehmen. In einem Brief an Cesia Rajchman, einem Waisenkind aus dem Dom Sierot, schreibt er am 15. Februar 1915: »… Denn am meisten schmerzt mich ja dieses langsame Sich-Entfernen von den Kindern und den Angelegenheiten des Waisenhauses.«1 Auf der anderen Seite nutzt er den Abstand vom unmittelbaren Erziehungsalltag, um seine bisherigen Erfahrungen als Kinderarzt und Waisenhausvater wissenschaftlich zu überdenken und auszuwerten: Er möchte einen Beitrag leisten zu der jeden Erzieher interessierenden Frage: Wie liebt man ein Kind. Und seine diesbezüglichen Erkenntnisse müssen zu Papier gebracht werden, ehe sie sich verflüchtigen. Darum werden alle freien Stunden genutzt, um an seinem ersten großen Erziehungsbuchs zu arbeiten. Im Pamiętnik erinnert er sich, dass am Buch »selbst in Rastzeiten geschrieben wurde, die nur wenige Stunden dauerten. … Es kam vor, dass ich auf Truppenhalts auf einer Wiese, unter einer Kiefer, auf einem Baumstamm schrieb. Alles war wichtig, und wenn ich es nicht festhielte, vergäße ich es.«2

7.1 Bei polnischen Kindern in Kiew (1915) Seinen ersten dreitägigen Weihnachts-Urlaub verbringt Korczak 1915 in Kiew. Hier lernt er Janina und ihre Mutter Wacława Peretjatkowicz kennen. In einem Brief an Igor Newerly erinnert sich Janina an ihre Begegnung mit Korczak: »Am ersten Weihnachtstag fuhr er direkt vom Bahnhof zu meiner 1. Brief an Cesia Rajman, in: SW, Bd. 15, S. 416. 2. Ebd., S. 344 und S. 360.

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7.2 »Wenn jemand fragt, wieviel 2 x 2 ist …« (1916)

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Mutter, … der Begründerin und Direktorin des polnischen Mädchengymnasiums in Kiew. Es ging ihm darum, jemand aus dem pädagogischen Umfeld kennen zu lernen, jemanden, der ihn über Internate informieren könnte, die ähnlich wie sein geliebtes Dom Sierot geführt wurden. Ich hatte das Glück, bei diesem ersten Gespräch anwesend zu sein und Korczak sogar selbst darauf hinzuweisen, wo er das nächstgelegene Beobachtungsfeld für die wenigen Tage finden könnte.« Es war das Erziehungsheim für polnische Jungen in der Bogoutowska-Straße, das von einer Maria Falska geleitet wurde. Frau Falska, Arbeiterfunktionärin und Volksbildnerin, widmet ihr Leben nach dem Tod ihres Mannes und ihres einzigen Kindes den ärmsten Kindern im Kriegs-Asyl in der Bogoutowska-Sraße. Das Heim war vom Polnischen Hilfkomitee für Kriegsopfer eingerichtet worden. Korczak sucht das Heim auf und fühlt sich sogleich heimisch. Nach dem Kennenlernen des Heimlebens bereichert er es durch das Einbringen demokratischer Elemente. Janina Peretjatkowicz berichtet über Korczaks Aktivitäten: »Er organisierte eine Kinderselbstverwaltung mit den Funktionen einer Legislative und eines Gerichts und gründerte eine ›Zeitung‹ als Organ der öffentlichen Meinung der Zöglinge. Die Gazeta (Kleine Zeitung) erschien während der ganzen Zeit ihrer Existenz in jeweils nur einem Exemplar und wurde von Hand geschrieben. Der Leitartikel der ersten Nummer stammte aus der Feder Korczaks (in seiner schönen Handschrift).«3

7.2 »Wenn jemand fragt, wieviel 2 x 2 ist …« (1916) Im Jahr 1916 informiert die Jugendzeitschrift In der Sonne ihre Leser, dass Korczak, der »Freund der Kinder aus der Krochmalna-Straße«, jetzt zwar als Arzt in der russischen Armee Kriegsdienst leisten müsse, trotzdem aber an seine Kinder denke und über Probleme der Erziehung schreibe. Dann folgt der Nachdruck eines Korczak-Artikels aus dem Wochenblatt des Dom Sierot: »Wenn jemand fragt, wieviel 2 x 2 ist – dann sage ich ihm – vier, denn das weiß ich sicher. Aber die Erziehung von Kindern, das ist keine Multiplikationstabelle. – Wenn ein Gärtner einen Baum pflanzt und der Baum wächst schön heran, blüht und trägt wohlschmeckende Früchte – dann weiß der Gärtner, dass er ihn gut gepflegt hat. – Wenn der Erzieher sieht, dass die Kinder heranwachsen, dass sie zunehmen, dass sie fröhlich und 3. Peretjatkowicz, Janina: Begegnung in Kiew, in: Beiner, F./Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 418ff.

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7. Die Zeit des Ersten Weltkrieges: 1914–1918

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fleißig sind, gerne lernen und sich nützlich machen – dann weiß er, dass er sie gut erzieht. Ein Kind kann man wiegen, messen, und man kann seine Zähne anschauen. Aber wie soll man erforschen, was im Kopf und im Herzen der Kinder heranwächst? Das kann man weder wiegen, noch messen, noch ausprobieren. Es gibt Kinder, von denen wir sagen können: ›Dieses Kind hat an Verstand zugenommen, es hat nun mehr kluge Gedanken im Kopf und mehr gute Gefühle im Herzen.‹ Wir wissen nur nicht, wie viele. Von anderen aber müssen wir leider sagen: ›Sie haben nicht zugenommen.‹ Oder noch schlimmer: ›Sie haben abgenommen.‹ Wenn wir (die Erzieher im Dom Sierot) an unseren Kindern etwas Gutes entdecken, haben wir gleich mehr Kräfte, wir sind heiter, und wir kommen mit den Kindern besser zurecht – und die Kinder mit uns. Wenn wir etwas Schlechtes sehen, dann fühlen die Kinder auch das sofort – wir reden weniger, wir sind weniger mit den Kindern zusammen. Wir tun alles, was getan werden muss, aber man hat keine Lust auf einen Witz oder ein Gespräch. Traurig in der Seele – das ist schlimm.«4

7.3 Beobachtungsstudien am Rande des Krieges (1917/18) Während seiner Dienstzeit in einem Feldlazarett in der Nähe von Kiew holt Korczak im März 1917 den Jungen Stefan, einen Zögling des Tarnapoler Kinderheims, zu sich, um ihn individuell zu betreuen und seine Entwicklung zu beobachten. Die Beobachtungen hält er täglich schriftlich fest und veröffentlicht sie später in seiner Schrift Erziehungsmomente.5 Ende des Jahres überschlagen sich die Kriegsereignisse und in Folge der russisch-bolschewistischen Auseinandersetzungen verschlägt es Korczak erneut nach Kiew, wo er sich ein halbes Jahr lang als Kinderarzt um polnische Kriegswaisen kümmert. Später wird er davon berichten: »Kiew. Chaos. Gestern die Bolschewiken – heute die Ukrainer – es nähern sich die Deutschen – und noch das zaristische Russland. In diesem denkwürdigen Zeitraum war ich Arzt in drei Waisenhäusern bei Kiew. Schon keuchte alles ringsum vor unterdrücktem Verbrechen.«6 In Kiew trifft er sich auch dieses Mal wieder mit Frau Peretjatkowicz und mit Maria Falska, mit der er nun eine freundschaftlich-kollegiale Beziehung aufbaut. Durch Vermittlung von Frau Peretjatkowicz kann er in einem Kindergarten und in einer Grundschulklasse Beobachtungs-Studien durchführen, 4. Ein Freund der Kinder, in: SW, Bd. 13, S. 359. 5. SW, Bd. 4, S. 350ff. 6. SW, Bd. 15, S. 409.

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7.4 Aus dem Krieg (1918)

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deren Ergebnisse er ebenfalls im Buch Erziehungsmomente als Forschungsmaterial veröffentlichen wird.7

7.4 Aus dem Krieg (1918) Über seine Erlebnisse während des Truppenrückzugs aus den Kriegs- und Revolutionsgebieten schreibt er einen Artikel, der 1918 in der Krakauer jüdischen Zeitung Nowy Dziennik (Neues Tagebuch) erscheint. Da dies das einzige unmittelbare Dokument über Korczaks Erfahrungen während des Ersten Weltkriegs ist und gleichzeitig eines der wenigen Quellen, in denen er sich als Jude äußert, seien der Bericht und ein fachkundiger Kommentar zum Bericht hier wiedergegeben: »Wozu? Es gibt Leute, die versprechen, dass das Opfer an Blut und Tränen die Wiedergeburt bringt. Vielleicht. Aber was bringt der Schmutz des Krieges, der Sumpf des Krieges? Wenn die Geschädigten etwas gewinnen, was erwartet die Schadensstifter? Ein paar Bilder. Myszyniec. Ein Grenzstädtchen. Der Markt. Die Läden ausgeraubt, die Fenster eingeschlagen, die Türen aufgebrochen. Schon sind Häuser niedergebrannt. Einwohner gibt es fast keine mehr, Juden sind überhaupt keine mehr da. Wagen der Kriegslager, Pferde, Infanteristen und Kavelleristen. Ich habe gesagt, es gebe keine Juden mehr – nein, einer ist übrig geblieben, nur einer, alt und blind. Er geht über den Marktplatz und tastet den Weg mit dem Stock ab, sonderbar weicht er den Wagen aus, bewegt sich langsam durch das Meer von Pferden und Menschen. Vielleicht hat er keine Familie gehabt, vielleicht haben sie bei der Flucht den Alten zurückgelassen? Nein – er ist geblieben, weil er wollte, er ist geblieben, weil in Myszyniec die Synagoge und der Friedhof geblieben sind. So hat man mir in Kadzidlo gesagt. Żyrardów. In den Fabrikhallen, in großen Sälen, auf allen Stockwerken Tragbaren mit Verwundeten. Kinder teilen ihnen Tee aus, sie klettern oder hüpfen über die Verwundeten und Toten. Im Spital – sterben sie an Cholera. Überall der Tod. Aber im Fenster des kleinen Ladens nähen, wie vor einer Woche oder einem Monat, drei Schneider, vornübergebeugt, Großvater, Vater und Sohn. Sechs Uhr morgens – zur Mittagsstunde – am Abend – in der Nacht, – es brennt die Lampe, und sie nähen. Es kam ein Erlass heraus, die Juden auszusiedeln, – alle packen zusammen, rennen, – aber die drei Schneider, der Alte, der Erwachsene und der Bub – sitzen und 7. SW, Bd. 4, S. 319ff.

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nähen. Ob sie der Erlass nichts anging? – Heute noch, als ich um Mitternacht heimkehrte, sah ich sie, gebeugt – sitzend; und am Tag darauf war der Laden geschlossen. Stulsk – ein Dorf in den Karpaten. Am Fuße des Berges – eine kleine Hütte. Darin ein Licht: zwei Kerzen. Wir – eine Armee, wie gewöhnlich auf dem Rückzug, auf der Flucht. Und warum die russische Armee auf der Flucht war, weiß jeder, – es war bedrohlich für alle, – zuallererst für die Juden. – Am Freitagabend zwei Kerzen anzünden und nicht mal das Fenster mit einem Tuch verdecken, – das ist Wahnsinn, vielleicht Heldenmut. Ich weiß nicht, wer in dieser Hütte wohnte, wer es gewagt hatte, die Kerzen anzuzünden, ohne das Fenster zu verdunkeln. Pomorzany. Galizien. Man konnte meinen, dass schon alles verbrannt war, was man verbrennen konnte. Es schien, als gebe es keinen Menschen mehr. Und trotzdem bringt man hundert Juden her; die einen sagen, es seien Spione, andere, dass man sie nur aussiedeln will. Man hat sie in irgendeinem Gebäude eingesperrt. Und in der Nacht ist jenseits ein Brand ausgebrochen. Und eine Frau rannte aus der Hütte, ein Kind hielt sie auf dem Arm, zwei ältere liefen hinter ihr drein. Jemand hat gesagt, dass Soldaten das Haus, wo die Arrestierten waren, angezündet haben. Und sie glaubte das. Und rennt – rennt mit den Kindern, – um sie zu retten? Genug. Nicht nur die Juden leiden – die ganze Welt ist in Blut und Feuer, in Jammer und Tränen und Trauer. Nur noch ein Bild. Ein ganzes Dorf flieht: Wagen, Kühe, Kinder, Kälber, Mütter und Väter, Greise. Und ein Jude geht mitten zwischen ihnen und kauft. Er zahlt wenig, fast nichts. Aber er rät zu verkaufen, er heißt sie verkaufen … Er zeigt ein Papier mit einem Stempel. Wenn sie nicht verkaufen, dann sieht er voraus, was geschieht … Ich ließ den Kopf tief hängen und fragte nicht den Himmel, ich fragte die Erde mit meinen Augen, mit den Gedanken, voll Schmerz: Ist dir unsere Wanderschaft nicht genug, unser Leid, unser aller Unglück, – sag, brauchst du auch noch unsere Schande, sag, wozu brauchst du sie?«8 Nora Koestler, von Haus aus Slawistin und durch ihre Übersetzungsarbeit an den Sämtlichen Werken in intimer Weise mit der Korczak-Literatur vertraut, verdanken wir den folgenden kenntnisreichen Kommentar zum vorstehenden Artikel: »Der Bericht ist für eine jüdische Zeitung verfasst, und das Schicksal der Juden, die zwischen die Fronten geraten waren, ist das Thema. Der Verlauf der Front zwischen den Mittelmächten und den russischen Streitkräften, die Ende 1917 in die Hände der Bolschewisten übergegangen waren, war 8. SW, Bd. 15, S. 383f.

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7.4 Aus dem Krieg (1918)

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einem vielfachen Wechsel unterworfen. Korczak nennt einige Namen aus dem Grenzgebiet der Fronten: im Nordosten von Warschau – Myszyniec/ Kadzidlo, aus Galizien – Pomorzany, und die Industriestadt Żyrardów. Es ist das aus allen Kriegen bekannte Szenario der Flucht und Zerstörung, des Infernos einer zusammenbrechenden Front und der dazwischen zerriebenen Zivilbevölkerung. Insbesondere aber gilt die Beschreibung der Situation der Juden. Zunächst fehlt jeder Kommentar. Das Wort Pogrom fällt nicht. Korczak setzt auf die Eindringlichkeit von Bildern. Wir wissen, wie sehr er vom Kinofilm fasziniert war und seine Momentaufnahmen erinnern an Filmszenen, nicht zuletzt durch die Präzision der Details. Die ›Kamera‹ ist auf die unschuldigen Opfer gerichtet, auf Alte, Kinder, Frauen, Arme. Unvergesslich das Bild der drei Generationen von Schneidern in einem kleinen Laden – man glaubt, ein Gemälde von Chagall vor Augen zu haben. Zweimal ist von Aussiedlung die Rede. Das bezieht sich auf ein in vielen Kriegen (auch im Zweiten Weltkrieg) angewandtes willkürliches Verfahren, die Juden als potentielle Verräter und Spione aus den Grenzgebieten auszusiedeln bzw. zu vertreiben. Zu welchen Exzessen diese Verdächtigung gelegentlich geführt hat, ist im dritten Bild aus Pomorzany mehr angedeutet als ausgesprochen. Das Haus, in das die als Spione Verdächtigten untergebracht werden, wird angezündet. Oder ist das nur ein Gerücht? Die Mutter der drei Kinder glaubt es und flieht. Wird sie sie retten? In einer Art von bewusster Regie aber bleiben der Höhepunkt und das eigentliche Anliegen für den Schluss aufgespart. Während die drei ersten Teile fast ausschließlich dem Los der Juden gewidmet sind, wird im Schlussabschnitt ein neuer Ton angeschlagen: ›Nicht nur die Juden leiden …‹ – ein ganzes Dorf flieht. Und doch ist da auch ein Jude – aber einer, der in betrügerischer Absicht den Flüchtlingen ihr Hab und Gut abschwindelt. Für ein paar Groschen und mit einer unterschwelligen Drohung, indem er ein pseudoamtliches Papier vorweist. Diese Szene ist es, die Korczak zutiefst persönlich trifft und verzweifeln lässt. Nicht das Leid, das Unglück (›unser aller Unglück‹ …), die ewige Wanderschaft der Juden, sondern die Schande. Die Identifikation Korczaks mit dem Judentum wird immer wieder in Frage gestellt. Es gibt müßige Diskussionen um die Zugehörigkeit Korczaks zum Polentum oder Judentum. An dieser Stelle jedenfalls bekennt er sich eindeutig zu seiner Herkunft, längst vor der Zeit des Warschauer Ghettos im Zweiten Weltkrieg, wo ihm diese Herkunft zudiktiert werden wird. Früh schon hat Korczak seine Kritik am saturierten Bürgertum vornehmlich gegen die jüdische Bourgeoisie gerichtet, obwohl er auf deren Unterstützung für das Waisenhaus angewiesen war. Seine Sympathien gehörten den armen Juden …

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Ohnmächtiger Zorn, schmerzliche Verachtung und Verzweiflung packten Korczak angesichts des betrügerischen Juden, der ein Klischee bestätigt, unter dem ein ganzes Volk leiden muss. Und er schämt sich für ihn; nicht zum Himmel, nicht zum Gott der Juden, richtet er seine Augen, sondern er senkt sie zur Erde, der Repräsentantin der Menschheit – ›Brauchst Du auch noch unsere Schande?‹ Korczaks Gerechtigkeitsgefühl kennt keine Parteinahme, aber er spricht hier zu seinen Leuten, den Angehörigen seines Volkes, zu den Juden. Wir sollten diesen Text deshalb mit dem gebotenen Abstand, mit Respekt und sine ira et studio lesen. Und unser eigenes Gefühl für Gerechtigkeit daran schärfen.« 9 Im Juni 1918 kehrt Korczak aus dem Ersten Weltkrieg nach Warschau zurück, zu seiner Mutter und zu seinen erzieherischen und publizistischen Aufgaben. In seinem Gepäck befindet sich das Manuskript seines ersten und später berühmten Erziehungsbuchs Jak kochac dziecko (Wie liebt man ein Kind), an dem er – wie erwähnt – in Gefechtspausen, »im Feldlazarett, unter dem Donner der Geschütze«10 gearbeitet hatte. Seine Rückkehr wird öffentlich wahrgenommen und begrüßt: »Der bekannte und bei den Lesern der Zeitschrift In der Sonne beliebte Dr. Janusz Korczak kehrte nach mehrjähriger Abwesenheit nach Warschau zurück. Leser, Mitarbeiter und Redaktion des Blattes begrüßen ihn herzlich.«11

7.5 Was auf der Welt passiert (1918) Neben der Entlastung von Stefania Wilczyńska bei der Leitung des Dom Sierot und der Weiterarbeit am Manuskript seines Erziehungsbuches drängt es Korczak jetzt dazu, die Kinder über die ihr Land verändernden politischen Ereignisse zu informieren. Dazu entwickelt er eine neue literarische Form für die Kinder- und Jugendpresse: Journalistik zur politischen Bildung Heranwachsender. Er möchte die Kinder und Jugendlichen teilnehmen lassen an den ihr Land verändernden politischen Ereignissen. Den Anstoß zu diesem neuen Projekt gaben und geben die dramatischen weltpolitischen Veränderungen während und nach dem Ersten Weltkrieg und der russischen Oktoberrevolution – und insbesonder die Bestrebun9. Koestler, Nora: Kommentar zum Text »Aus dem Krieg«. In: Korczak-Bulletin, Jg. 12, Heft 2/2003, S. 11ff. 10. SW, Bd. 4, S. 115. 11. W Śłońcu (In der Sonne) 1918, Nr. 11, S. 182.

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7.5 Was auf der Welt passiert (1918)

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gen zur Wiedererlangung der staatlichen Souveränität Polens. Denn noch während das Zweiwochenblatt In der Sonne Korczaks neue Reihe zur politischen Bildung12 zwischen dem 15. November 1918 und dem 1. März 1919 veröffentlicht, kommt es zur Gründung der Zweiten Polnischen Republik: Józef Piłsudski, der spätere Staatspräsident, wird als Oberbefehlshaber der sich formierenden polnischen Truppen zum Begründer des wieder freien Polen. Mit der Fortsetzungsreihe Was auf der Welt passiert beschreibt Korczak die politischen Zusammenhänge am Ende des Ersten Weltkriegs in für Kinder verständlichen Worten. Für diese Art der Publizistik gab es bisher kaum Vorbilder. Weil aber nun für die Polen Dinge möglich erscheinen, auf die sie über hundert Jahre warten mussten, möchte Korczak die Kinder seines Landes nicht ausschließen von diesem historischen Geschehen, das in dieser Zeit jeden polnischen Bürger berührt. Der Zyklus Was auf der Welt passiert behandelt die Teilung Polens und seine Okkupation durch fremde Staaten, den Ersten Weltkrieg, die ihm folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen und die Arbeit am Aufbau einer Demokratie. Um den Kindern diese Ereignisse zu erklären, knüpft Korczak an deren Lebenswelt an. So erinnert er z. B. an eine Prügelei in der Schule und überträgt die dabei ausgelösten Assoziationen: »Der Krieg ist auch eine Schlägerei, nur dass die Erwachsenen sich mit Kugeln schlagen und nicht nur zwei oder drei, sondern Tausende von Menschen.«13 Er erläutert die anstehenden Wahlen, in denen über die politische Führung zu entscheiden ist. »Wenn der Wahltag da ist, bekommt jeder einen Zettel, und er schreibt darauf, für welche Liste er stimmen will, und wer dann die meisten Stimmen hat, der ist für den Sejm gewählt. … Im Sejm sind über 300 Abgeordnete.« Jeder von ihnen hat »seinen festen Platz. Auf der rechten Seite sitzen solche, die möchten, dass alles so bleibt, wie es früher war. …. Auf der linken Seite sitzen solche, die wollen, dass alles anders wird, weil sie sagen, es war schlecht. … Aber in der Mitte des Saals sitzen diejenigen, die sagen, man solle es ein bisschen so lassen, wie es früher war und ein bisschen versuchsweise ändern. … So sitzen die Abgeordneten im Saal des Sejm, für Ordnung sorgt der von den Abgeordneten gewählte Sejmmarschall. Der Marschall ruft den auf, der das Wort bekommen soll, und er unterbricht den, der zu viel redet, und er wird ärgerlich, wenn jemand die Reden stört und Lärm macht.«14 12. SW, Bd. 13, S. 131ff. 13. Ebd., S. 138. 14. Ebd., S. 145ff.

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7. Die Zeit des Ersten Weltkrieges: 1914–1918

Was auf der Welt passiert ist gleichsam eine Einführung in die Grundregeln einer demokratischen Staatsorganisation. Der Autor ist ein Vorreiter von politischer Bildung für die nachwachsenden Generationen. Eine kindgerechte Beschreibung kriegerischer Auseinandersetzungen und staatspolitischer Aktionen wird er auch in seinen Kinderbüchern König Maciuś der Erste und König Maciuś auf der einsamen Insel vorlegen. Die Aufklärung über das politisches Geschehen wird er dann allerdings in eine Romanform kleiden und um eine zentrale Forderung ergänzen: die Beteiligung von Kindern an staatlichen Entscheidungen.

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8. Konturierung des Erziehungsmodells: 1918–1920 Korczaks Ansatz zur politischen Aufklärung von Kindern ist ein Teil seines allgemeinen Anliegens: einen Beitrag zu leisten zur »Reformierung der Welt«, die ja entsprechend den Überlegungen in seinem Jugendtagebuch über die Reformierung der Erziehung anzugehen ist.1 Diesem Anliegen folgend, arbeitet er nun an der Fertigstellung des Werks Wie liebt man ein Kind. Unter diesem Titel wird er in den Jahren 1918 bis 1920 ein eigenes, spezifisches Erziehungsmodell in vier Schritten (als Tetralogie) begründen und konturieren. Der erste Teil der Tetralogie erscheint zu Weihnachten 1918 und hat den Untertitel: Das Kind in der Familie (Dziecko w rodzinie)2, die Teile zwei bis vier werden 1920 erscheinen. Im gesamten Buch tritt Korczak als kluger Kritiker der in der Gesellschaft vorherrschenden Haltungen und Einstellungen zum Kind auf. Er stellt mit wissenschaftlicher Skepsis naive Erwartungen an Erziehungslehren in Frage und erschüttert Scheinwissen.3 Das Werk wird wie kein anderes mit seinem Namen assoziert werden. Man wird es als sein »revolutionäres pädagogisches Manifest« bezeichnen (Aleksander Lewin) und zu den internationalen Klassikern der Erziehungsliteratur zählen. Die große Errungenschaft von Das Kind in der Familie ist die Proklamation der Rechte des Kindes: 1. SW, Bd. 3, S. 115. 2. SW, Bd. 4, S. 9ff. Im Impressum der Schrift erscheint als Erscheinungsjahr 1919; aus diesem Grunde – und wegen der Herausgabe der kompletten Schrift erst im Jahr 1920 – findet man in der Korczak-Literatur häufig abweichende Erscheinungsjahre. 3. Leider kam diese Intention des Autors im Titel der ersten deutschen Übersetzung der Tetralogie nicht zum Ausdruck, denn der lautete: Wie man ein Kind lieben soll, und er erweckte Erwartungen, denen Korczak nicht entsprechen wollte und konnte, wie schon aus den Ausführungen der ersten Seite des Buches, auf der der Titel erläutert wird, hervorgeht: »Wie, wann, wieviel – warum? Ich ahne viele Fragen, die auf Antwort warten, Zweifel, die Aufklärung fordern. Und ich antworte: ›Ich weiß nicht.‹ Immer, wenn du ein Buch aus der Hand legst und beginnst, den Faden eigener Gedanken zu spinnen, hat das Buch sein angestrebtes Ziel erreicht. – Wenn du rasch umblätterst – Vorschriften und Rezepte suchst und dich ärgerst, dass es so wenige sind – wisse, falls es da Ratschläge und Hinweise gibt, entspricht das nicht dem Willen des Autors. Ich weiß nicht und kann nicht wissen, wie mir unbekannte Eltern unter unbekannten Bedingungen ein mir unbekanntes Kind erziehen können – ich betone – können, nicht – wollen, und auch nicht … sollen.« (SW, Bd. 4, S. 10) Die in den Sämtlichen Werken gewählte Übersetzung von Jak kochac dziecko mit Wie liebt man ein Kind – im Sinne eines fragenden Reflektierens – ist redlicher und macht die Absicht des Autors deutlicher.

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8. Konturierung des Erziehungsmodells: 1918–1920

»Ich fordere die Magna Charta Libertatis als ein Grundgesetz für das Kind. Vielleicht gibt es noch weitere, ich aber habe diese drei Grundrechte herausgefunden: 1. Das Recht des Kindes auf den Tod. 2. Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag. 3. Das Recht des Kindes, das zu sein, was es ist.«4 Erstmals in der Geschichte der Erziehung wird also nicht an den Erwachsenen appelliert, das Kind zu umsorgen und zu lieben, es für den Lebenskampf tüchtig zu machen, ihm Vorbild und Wegweiser zu sein, auch nicht, die »Erziehung vom Kinde aus«5 vorzunehmen, sondern es wird die Respektierung von Kinder-Rechten eingefordert: Die Anerkennung von Rechten, die das Kind dem Erwachsenen gegenüber ebenbürtig sein lassen, die Anerkennung der »Große Charta der Freiheit« für das Kind. Diese Proklamation von Kinderrechten erfolgt im Jahr 1918; erst einundsiebzig Jahre später werden die Vereinten Nationen ihre »Convention on the Rights of the Child« verabschieden (1989). Der Aufklärungsprozess für die Gesellschaft der Kinder währte also sehr lange, und die Korczak’schen Forderungen zur Respektierung von Grundrechten für ein Kind brauchen auch heute noch eine Begründung und Interpretation. Fragen wir hier nach der Bedeutung bei Korczak:

8.1 Die Grundrechte des Kindes (1918) Zu 1.: »Das Recht des Kindes auf den Tod.« Hinter diesem Recht steht in Wirklichkeit Korczaks großes Engagement für ein glückliches, Erfahrung sammelndes Leben des Kindes. »Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreißen, entreißen wir das Kind dem Leben; wir wollen nicht, dass es stirbt und erlauben ihm deshalb nicht zu leben.«6 Bei seiner Arbeit mit wohlhabenden Warschauer Bürgern hatte Korczak als »Modearzt« die Erfahrung gemacht, dass die Kinder oft einer überwältigenden Fürsorge der Erzieher ausgesetzt sind, die das Kind in allen Lagen vor Gefahren schützen 4. SW, Bd. 4, S. 45. Neben den Kinderrechtsfragen enthält Das Kind in der Familie noch eine entwicklungspsychologische Beschreibung der kindlichen Entwicklung von der Geburt bis zur Pubertät, auf die hier aber nicht weiter einzugehen ist, weil der Autor mit diesem Teil des Buches selbst nicht zufrieden war: »Ich würde den Versuch nicht wiederholen, alle Entwicklungsphasen aller Kinder in einer kleinen Broschüre zu behandeln.« (Ebd., S. 116) 5. Das Motto einer damals sehr populären reformpädagogischen Bewegung. 6. SW, Bd. 4, S. 49.

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8.1 Die Grundrechte des Kindes (1918)

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möchten. Dass dies dem Kind nützen könnte, hielt er für falsch. »Dagegen scheint mir wahr zu sein, dass die Chancen für eine einigermaßen gelungene körperliche Entwicklung und geistige Selbstständigkeit umso ungünstiger sind, je mehr der Gedanke an einen möglichen Tod des Kindes die Mütter aus wohlhabenden Kreisen erschreckt. Sooft ich in einem weiß gestrichenen Zimmer mit weiß lackierten Möbeln ein blasses Kind in einem weißen Kleidchen mit weißem Spielzeug sehe, habe ich das ungute Gefühl: In diesem Kinderzimmer, das einem Operationssaal gleicht, muss eine blutlose Seele in einem anämischen Körper heranwachsen.«7 Dieses Übermaß an Fürsorge missachtet das Recht des Kindes auf Freiheit, Selbsterfahrung und Selbstbestimmung. Das Kind benötigt aber einen Freiraum, um eigene Erfahrungen mit sich und seiner Umwelt sammeln zu können. Und das bedeutet für den Erzieher: »Du musst eben den Mut haben, ein bisschen Angst um sein Leben auf dich zu nehmen.«8 Diese Forderung deckt sich mit der berühmten Feststellung von Johann Friedrich Herbart: »Knaben und Jünglinge müssen gewagt werden, um Männer zu werden.« Stattdessen sind die Kinder oft Märtyrer der Besorgnis um ihr angebliches Wohlergehen, obwohl in Wirklichkeit Unglücksfälle verhältnismäßig selten vorkommen und nie ganz zu verhindern sind. Die Forderung nach Zubilligung eines angemessenen Spielraumes für Erfahrungen am eigenen Leibe – zugespitzt zu einem Recht auf Tod – bedeutet jedoch nicht die Ablehnung jeder erzieherischen Fürsorge: »Aber nein: ich möchte ein Übermaß an Aufsicht nicht gegen ihr völliges Fehlen austauschen.«9 Die Fürsorgepflicht des Erziehers und die Ansprüche des Kindes auf entwicklungsentsprechende Freiheit sind in einer angemessenen Balance zu halten. Für Korczak hat der Begriff Freiheit – bedingt durch die polnische Sprache – zwei Bedeutungen: Freiheit meint zum einen die freie Verfügung über die eigene Person (poln.: »swoboda«), zum anderen aber auch den freien Willen zur handelnden Tat (poln.: »wolnosc«).10 Statt aber dem Kind in diesem Doppelsinne Freiheit zuzutrauen, trachtet die ganze traditionelle Erziehung danach, »ein bequemes Kind heranzubilden; konsequent, Schritt für Schritt, trachtet sie danach, alles einzuschläfern, zu unterdrücken, zu zerstören, was im Kind Wille und Freiheit, Seelenstärke und Unternehmungsgeist ausmacht. Brav, gehorsam, gutwillig, bequem 7. 8. 9. 10.

Ebd., S. 46. Ebd., S. 241. Ebd., S. 53. Ebd., S. 47.

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8. Konturierung des Erziehungsmodells: 1918–1920

aber ohne einen Gedanken daran, dass es innerlich willenlos und lebensuntüchtig sein wird.«11 Korczak verbindet also mit dem Grundrecht auf den Tod zwei miteinander verknüpfte Forderungen: – Einerseits müssen die Erwachsenen Formen und Konsequenzen falsch verstandener Fürsorge vermeiden, indem sie sich vor unnötiger Bevormundung sowie vor Drohungs- und Abschreckungspraktiken und vor Misstrauen hüten. – Andererseits sollten sie dem Kind Handlungsfähigkeit zutrauen und diese fördern, indem des Kindes Willensentscheidungen bejaht, Verantwortungsbereitschaft geweckt, sein Bedürfnis nach Bewältigung von Gefahren und Schwierigkeiten geachtet, vielfältige Erfahrungen ermöglicht und dabei Fehler und Misserfolge zugestanden werden. Zu 2.: »Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag.« Bereits Jean-Jacques Rousseau hatte im 18. Jahrhundert die Bedeutung der Gegenwart für die Entwicklung des Kindes in Abhebung zur gängigen Zukunftsorientierung der Erziehung herausgestellt und die Kindheit als eine wichtige Lebensphase des Menschen betont. In seinem großen Erziehungsroman Emile (1762) heißt es: »Ich habe meinen Emile nicht erzogen, damit er etwas wünsche und erwarte, sondern damit er sich freue; … dass er mit seinen Gedanken immer mehr im Gegenwärtigen als beim Zukünftigen weilt.«12 Und auch der Theologe und Pädagoge Friedrich Schleiermacher thematisierte ein halbes Jahrhundert später die Gefahr, im Interesse der Zukunft des Kindes seine Gegenwart zu vernachlässigen. Er versuchte, den Widerspruch zwischen einer zukunftsorientierten Erziehung, die leicht zu Lasten der Gegenwart des Kindes durchgeführt wird, dialektisch zu lösen. In seinen Vorlesungen des Jahres 1826 stellte er fest: »Wir können nicht anders den Widerspruch aufheben, als wenn wir nach ethischen Gesichtspunkten die Sache also entscheiden: die Lebenstätigkeit, die ihre Beziehung auf die Zukunft hat, muss zugleich auch ihre Befriedigung in der Gegenwart haben; so muss auch jeder pädagogische Moment, der als solcher seine Beziehung auf die Zukunft hat, zugleich auch Befriedigung sein für den Menschen, wie er gerade ist. Je mehr sich beides durchdringt, umso sittlich vollkommener ist die pädagogische Tätigkeit. Es wird sich aber beides desto mehr durchdringen, je weniger das eine dem anderen aufgeopfert wird.«13 Korczak bezieht sich auf keines der historischen Vorbilder, aber auch er bricht mit 11. Ebd., S. 19. 12. Rousseau, J. J.: Emil oder über die Erziehung. Paderborn 1963, S. 483. 13. Schleiermacher, F.: Pädagogische Schriften. Düsseldorf/München 1966, S. 48.

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8.1 Die Grundrechte des Kindes (1918)

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den traditionellen Vorstellungen, die Erziehung vor allem mit Fitmachen für die Zukunft zu verbinden; er proklamiert statt dessen für den Zögling ein »Recht auf den heutigen Tag« und für den Erzieher die »Verantwortung für den heutigen Tag«: »Ich bin verantwortlich für den heutigen Tag meines Zöglings, es ist mir kein Recht gegeben, sein zukünftiges Schicksal zu beeinflussen und mich da einzumischen.«14 »Der Erzieher ist nicht verpflichtet, die Verantwortung für eine ferne Zukunft auf sich zu nehmen, aber er ist voll verantwortlich für den heutigen Tag. Ich weiß, dass diese Ansicht ein Missverständnis hervorruft. Man denkt gerade umgekehrt, meiner Überzeugung nach falsch, wenn auch ehrlich. Aber ehrlich? Vielleicht verlogen. Es ist bequemer, die Verantwortung hinauszuschieben, sie in ein nebelhaftes Morgen zu übertragen, als schon heute über jede Stunde Rechenschaft abzulegen. Der Erzieher ist indirekt auch für die Zukunft verantwortlich, vor der Gesellschaft, aber unmittelbar ist er in erster Linie für die Gegenwart vor seinem Zögling verantwortlich.«15 »Ich werde verbissen immer wieder auf die Verteidigung eben dieses Grundsatzes zurückkommen, entgegen der landläufigen Formel vom künftigen Glied der Gesellschaft, vom künftigen Bürger. Wer die Kindheit überspringen will und dabei in die fernliegende Zukunft zielt – wird sein Ziel verfehlen.«16 Korczak entdeckt die Wichtigkeit der kindlichen Jahre, die »Arbeit« des Wachsens, die Ernsthaftigkeit des kindlichen Fühlens und Denkens. Er zeigt, dass wir überhaupt nur im Hier und Heute etwas tun können, was dem Kind hilft. Das Kind hat ein Recht darauf, dass sein Heute ernst genommen wird. Mit seiner Betonung des Hier und Heute, mit seiner Wertschätzung des »Augenblicks« steht Korczak in der jüdischen Lebens- und Glaubensauffassung nicht allein. Bei seinem deutsch-jüdischen Zeitgenossen Franz Rosenzweig beispielsweise heißt es: Die »ganze Kunst des Lebens steckt wohl darin, in jedem Augenblick immer das Nächste, immer nur den Anfang zu wollen und das Ende – Gott befohlen sein zu lassen (im redensartlichen und im ernsthaften Sinne der Redensart). … Das rächt sich immer, wenn man sich das Nächste, was vor einem steht, zum bloßen Mittel für das, was nachher kommen soll, erniedrigt. Man muss das Nächste so tun, als gäbe es weiter gar nichts. Es gibt auch weiter gar nichts. Schon das Übernächste geht uns nicht mehr an.«17 14. 15. 16. 17.

SW, Bd. 9, S. 250. Ebd., S. 242. Ebd., S. 256. Rosenzweig, Franz: Briefe und Tagebücher. Bd. 2. Nijhoff 1979, S. 653f. Vgl. auch Kirchner, M.: Vom Gebot und der Gnade des Augenblicks. In: Beiner, F. (Hg.): Janusz Korczak – Pädagogik der Achtung. Heinsberg 1987, S. 219ff.

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8. Konturierung des Erziehungsmodells: 1918–1920

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Zu 3.: »Das Recht des Kindes, das zu sein, was es ist.« Es geht nicht darum, wie das Kind sein soll, sondern wie es sein kann. Korczak fragt danach, wie das Kind ist, wie man seiner Individualität und Identität gerecht werden und sie fördern kann. Er fragt nicht nach Idealvorstellungen, die die Erwachsenen vom Charakter ihres Kindes entwerfen und nach denen sie es zu prägen versuchen. Im Gegenteil – er fordert die Erwachsenen auf, die »trügerische Sehnsucht nach vollkommenen Kindern«18 aufzugeben und ihr Kind erst einmal kennen zu lernen: »Anstatt genau hinzuschauen, um Erkenntnisse und Wissen zu sammeln, nimmt man das erstbeste Beispiel eines ›wohlgeratenen Kindes‹ – und fordert von seinem eigenen: Diesem Vorbild sollst du gleichen.«19 Korczak achtet das Recht des Kindes, zu sein, was und wie es ist, indem er ihm zutraut, zu Willensbildung und Selbstbestimmung fähig und bereit zu sein, indem er ihm unterstellt, dass es das Gute anzustreben und das Böse zu überwinden trachtet. Gleichzeitig achtet er des Kindes entwicklungsbedingte Fürsorge- und Hilfsbedürftigkeit und fordert in des Kindes Interesse ein Recht auf menschliche Schwächen und unterstützende Entwicklungsbedingungen, ein Recht auf Kindsein! Der Realist Korczak rät: »Erlaube den Kindern, Fehler zu machen und frohen Mutes nach Besserung zu streben.«20 Dazu gehört auch, unerwünschte Anlagen zu akzeptieren: »›Du bist jähzornig‹, sage ich zu einem Buben. ›Gut – dann schlag zu, aber nicht zu stark; werde wütend, aber nur einmal am Tag.‹«21 Die Grundrechte schützen das Kind – aber auch den Erwachsenen, sofern er diese als Herausforderung begreift. Dann können diese Rechte ihm helfen, eine Haltung zum Kind aufzubauen, die den Prinzipien von Achtung, Vertrauen und Liebe folgt. – Die Rechte warnen den Erwachsenen vor overprotection: Das Recht des Kindes auf den Tod fordert von ihm, dem Kind das Risiko eigener Erfahrungssammlung zuzutrauen. Er muss dem Kind etwas zu-trauen. – Die Rechte warnen ihn vor ausschließlicher Zukunftsorientierung: Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag erleichtert dem Erwachsenen, auf den Segen des Augenblicks zu ver-trauen. – Die Rechte warnen den Erwachsenen davor, dem Kind überhöhte Ideale aufzubürden. Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist, erfordert 18. 19. 20. 21.

SW, Bd. 4, S. 413. Ebd., S. 18. Ebd., S. 187. Ebd., S. 62.

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8.2 Erziehungsdiagnostik (1919)

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die Bereitschaft, dem Kind in seinem So-sein zu trauen, ihm »über den Weg« – über seinen Weg – zu trauen.

8.2 Erziehungsdiagnostik (1919) Unmittelbar nach der Auslieferung von Wie liebt man ein Kind. Das Kind in der Familie erscheint ein weiteres Buch als »Nachlese« der pädagogischen Arbeiten Korczaks während des Krieges: Im Januar 1919 erscheinen unter dem Titel Erziehungsmomente22 Korczaks Versuche zu einer »Erziehungsdiagnostik«, die auf Beobachtungen aus Kiew (1917 und 1918) basieren. Die Vorbemerkungen des Buches beginnen mit den berühmten Sätzen: »In der Medizin hat die Diagnose den wichtigsten Stellenwert. Der Medizinstudent untersucht ganze Reihen von Einzelpersonen, er lernt zu beobachten, Symptome wahrzunehmen, sie zu deuten, zusammenzufassen und auf ihrer Grundlage Schlüsse zu ziehen. Wenn die Pädagogik den von der Medizin geebneten Weg gehen will, muss sie eine Erziehungsdiagnostik ausarbeiten, die sich am Erfassen von Symptomen orientiert. Was Fieber, Husten, Erbrechen für den Arzt, das sind Lachen, Tränen, Erröten für den Erzieher. Es gibt keine Symptome ohne Bedeutung. Man muss alles notieren und sich darüber Gedanken machen, Zufälliges beiseite lassen, Ähnliches verbinden und nach Gesetzmäßigkeiten suchen. Es geht nicht darum – sich Gedanken zu machen, was und wie man etwas von einem Kind verlangt, es geht auch nicht darum – was man befiehlt oder verbietet, sondern darum – was ihm fehlt und wovon es zuviel hat, was es verlangt und was es von sich aus geben kann.«23 Korczak hatte in Kiew zwei Schulklassen und eine Kindergartengruppe beobachtet und alles Beobachtete schriftlich festgehalten und anschließend vorsichtig kommentiert. Das sei an einem Beispiel verdeutlicht: Er beobachtet das Verhalten des Jungen Bolek in einer ersten Klasse: »Notiz: (eine fünfminütige Beobachtung in der letzten Viertelstunde des Unterrichts; [Arithmetik]). Bolek reibt sich das Kinn, zieht sich am Ohr, wackelt mit dem Kopf, schaut aus dem Fenster, sitzt unruhig in der Bank, verschränkt die Arme, wippt mit den Hüften, misst zuerst mit dem Heft, dann mit der Hand die Breite des Tisches, blättert im Heft, hängt mit dem halben Hinterteil auf der Bankkante, beugt sich lauernd nach vorn, fuchtelt mit den Händen, poliert mit der Hand die Bank, schüttelt den Kopf, schaut aus dem Fenster 22. Ebd., S. 319ff. 23. Ebd., S. 321.

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(es schneit), kaut an den Fingernägeln, schiebt die Hände unter den Hintern, zieht sich die Schuhe fest, fächert mit dem Heft, steckt die Hände in die Taschen, reckt sich, wackelt ungeduldig mit den Hüften, wischt sich die Hände … ›Fräulein! Ich möchte an die Tafel.‹ – Stichwort: Schreiben! – Er greift nach dem Federhalter, fuchtelt damit in der Luft herum, pustet heftig und taucht die Feder ungestüm ins Tintenfass. Einige heftige Bewegungen mit der Hüfte. ›Fräulein, ichhh … oh-oh-oh!‹ – Schlägt sich mit der Hand an die Stirn, springt auf. – Stichwort: Addiere 332 + 332. – Er addiert blitzschnell – schaut sich um: ›Hast du es?‹ und leise flüsternd: ›Wir machen dasss schnell wie der Windddd …‹ – er schnalzt mit der Zunge und atmet erleichtert auf. … Kommentar: So verteidigt sich ein Kind, so entlädt es die angestauten Energien, so ringt es mit sich selbst, um den Unterricht nicht zu stören, so bittet es, aktiv werden zu dürfen, so beklagt es sich, wirft sich auf seine Arbeitsutensilien, bis es schließlich mit dem poetischen Bild ›wie der Winddd‹ seine unbewusste, verborgene Sehnsucht ausdrückt. Registriere die Qualen eines lebhaften, leicht erregbaren Kindes – wie klug und ökonomisch es sich verhält, wie es sich, um nicht den Unmut des Lehrers zu wecken, mit halben oder auch nur Viertel-Bewegungen abplagt, seine überschüssigen Energien zu entladen – wie es sich abmüht, ehe es mit etwas herausplatzt, was ihm die Ermahnung einbringt: ›Sitz ruhig.‹ – Wie ›glücklich‹ ist da ein apathisches, verträumtes Kind!«24 Ein schönes Beispiel dafür, was unvoreigenommenes Beobachten, Notieren und deutendes Kommentieren zutage fördern können. Korczaks Schriften sind zum großen Teil Dokumente seiner teilnehmenden Beobachtung beim Umgang mit Kindern und Erziehern. Ihm lag viel daran, auch andere Erzieher zum Beobachten anzuregen. So geghörte es zu den Pflichten der Waisenhaus-Praktikanten (Bursisten), die Kinder nicht nur zu beobachten, sondern auch die Beobachtungen zu notieren. Korczak machte dann zu den Notizen schriftliche und mündliche Anmerkungen. Diese regten zum Reflektieren, zum erzieherischen Experimentieren und wiederum zum sorgfältigen Beobachten an. Bei der Darstellung wichtiger Prinzipien seiner Erziehung bringt Korczak es wenig später auf die prägnante Formel: »Wir wollen das Kind nicht kneten und ummodeln, sondern wir wollen es verstehen und uns mit ihm verständigen … An die erste Stelle setzen wir das Kennenlernen.«25 Bis zum Ende seines Wirkens hielt Korczak an der Hochschätzung der 24. Ebd., S. 324. 25. SW, Bd, 9, S. 207f.

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8.3 Bildungsberater in der Zweiten Polnischen Republik (1919)

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Methode des Beobachtens zum Zwecke des Kennenlernens des Erziehungspartners fest. Als er am 20. September 1940 von der deutschen Okkupationsbehörde danach befragt wird, ob er eine wissenschaftliche oder lehrende Tätigkeit ausübe, antwortet er: »Tak, obserwacje dziecka ( Ja, die Beobachtung von Kindern).«26

8.3 Bildungsberater in der Zweiten Polnischen Republik (1919) In der nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Zweiten Polnischen Republik ist Korczak schon bald ein gefragter Berater in Bildungsangelegenheiten: Er wird von der Lehrerschaft der Anfangsschulen in ein Komitee für Angelegenheiten der Bildungsorganisation berufen, das einen Lehrerkongress vorbereiten und eine Sejm-Arbeitsgruppe beraten soll. Außerdem ist sein fachkundiger Rat bei der Organisation und Kontrolle der Nachkriegsmaßnahmen im Zentralkomitee für Kinderhilfe gefragt. Und vom Polnisch-Amerikanischen Kinderhilfs-Komitee wird er um eine Präsentation der diesbezüglichen jüdischen Aktivitäten gebeten.27 In zwei Publikationen behandelt er Probleme der Schule, die jetzt – nach vielen Jahren russischer, preußischer und österreichischer Okkupation – endlich wider polnisch und damit neu zu strukturieren und zu profilieren ist: Im Artikel Der Herr war heute schlecht gelaunt thematisiert er im Februar 1919 die von Lehrern gerne verschwiegenen Probleme der zeitweiligen »schlechten Laune« und des oft damit verbundenen Schlagens von Schülern. Wenn ein schlecht gelaunter Lehrer auf eine nervende Schülerschar trifft, kann es leicht dazu kommen, dass »das Fass überläuft« und es zu Gewaltausbrüchen kommt, obwohl der Lehrer doch beherrscht und angemessen reagieren sollte. »Die preußische Schule hat sich dazu verleiten lassen, diese unbestritten schwierige Aufgabe zu lösen, sie gab dem Lehrer Richtlinien und verfügte: Schlage ohne Zorn, schlage wie eine Maschine.‹ Und es geschah etwas Furchtbares, denn nun hieß es: ›Schlagen ist erlaubt. Schlagen ist nötig.‹ Also schlug der Lehrer, wenn er guter Laune war; er schlug für alles, immer und jeden; auch wenn er schlecht gelaunt war, verdrosch er seine Schüler. … ›Der Herr war heute schlecht gelaunt‹ – ist eine der schwerwiegensten Anklagen, die jeder von uns von Seiten der Kinder zu hören bekommt.«28 Im Artikel Quellen der Nachsicht vom April 1919 lässt er einen polnischen 26. Vgl. Frage 30 im Fragebogen zur Meldung der Heilberufe, in: SW, Bd. 15, S. 439. 27. Nachweise in: Falkowska, Maria: Kalendarz …, a. a. O., S. 176. 28. SW, Bd. 9, S. 177.

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Schulmeister seine Kinder um Nachsicht bitten: »Ich bin ein armer Lehrer einer armen polnischen Schule und ihrer armen Kinder. Ihr seid zusammengepfercht, aber auch ich mit euch; wenn es euch kalt ist, ist’s auch mir kalt; wenn es für euch stickig ist, ist’s auch mir so. … Wenn ich Zwang ausübe, so bin ich selbst gezwungen, wenn ich befehle, so gehorche ich selbst einem Befehl, wenn ich etwas verbiete, so nicht – um euch zu drangsalieren. … Ich möchte wollen, ich möchte können, ich möchte der fröhliche Lehrer einer heiteren Kinderschar sein, voller Freude in einer reichen, schönen polnischen Schule … . Ich kenne die unzulänglichen Bedingungen und die eigenen Mängel. Ich rufe mir die Erinnerungen einer nicht immer engelsgleichen Kindheit ins Gedächtnis zurück. … «29 In einer weiteren Publikation zum »Tag der Verfassung«, der am 3. Mai 1919 zum ersten Mal feierlich begangen wird, ruft Korczak die polnische Gesellschaft auf, Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Am 3. Mai 1791 hatte man in Polen die erste geschriebene Verfassung Europas erlassen, die wesentliche Errungenschaften der französischen Aufklärung berücksichtigte. Korczak mahnt 1919 an diesem Erinnerungstag unter dem Titel Das Frühlingsfest – bezugnehmend auf die laufenden Verhandlungen in Versaille über Konsequenzen aus dem Ersten Weltkrieg – eine bessere Zukunft für die Kinder an: »Wenn es weiterhin so sein wird, wie es war, wenn die Geschichte ihre Wege von Gewalt zu Gewalt, von Verbrechen zu Verbrechen weist, durch Fetische mit Kronen auf Thronsesseln oder Marionetten, die durch das Kopfnicken der gefügigen Massen gewählt sind – wenn nicht der Geist, die gemeinsame Anstrengung und ein Siegeszug in der Beherrschung der Rechte und Pflichten – zur Geschichte werden – ja dann, wehe euch, ihr armen Kinder. … Wir sind dem Kind dafür verantwortlich, dass es Krieg gab, dass es ihn gab und gibt, dass es ihn gibt und geben wird, dass Tausende umgekommen sind und dass Tausende aufgefressen werden: von Läusen und Tuberkolose und von der Sehnsucht nach dem Vaterhaus. Das ist noch nicht der Tag des Frühlingsfestes. Es ist der Tag von Allerseelen – der Tag des Kindes als Märtyrer.«30 Am 1. Juni 1919 wird Henryk Goldszmit zum Reservearzt der polnischen Armee im Majorsrang befördert.

29. SW, Bd. 9, S. 178. 30. Ebd., S. 558f.

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8.4 Berichte über das Dom Sierot (1919)

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8.4 Berichte über das Dom Sierot (1919) In zwei Zeitungen wird 1919 über das Dom Sierot berichtet. In der Kinderzeitschrift In der Sonne erfährt man am 15. Juni, wie das Waisenhaus seine langjährigen Bewohner verabschiedet: Der Abschied »In der Schrift, die im Dom Sierot herausgegeben wird, wendet sich Herr Janusz Korczak mit diesem Abschied an die Zöglinge, die das Heim verlassen: Wir nehmen Abschied von all denen, die uns schon verlassen haben oder bald weggehen werden, um nicht mehr zurückzukehren. Vor einer langen und weiten Reise nehmen wir Abschied. Diese Reise heißt – das LEBEN. Viele Male haben wir darüber nachgedacht, wie wir sie verabschieden sollen, welche Ratschläge wir geben sollen. Leider, Worte sind arm und schwach. Wir geben euch nichts. Wir geben euch keinen GOTT, denn ihr müsst IHN selbst in der eigenen Seele, in einsamer Bemühung, suchen. Wir geben euch kein VATERLAND, denn ihr müsst es mit eigener Anstrengung des Herzens und der Gedanken finden. Wir geben euch keine Menschenliebe, denn es gibt keine Liebe ohne Vergebung, und verzeihen – das ist mühselig, das ist eine Mühe, die jeder selbst auf sich nehmen muss. Wir gebn euch eines: Die Sehnsucht nach einem besseren Leben, das es nicht gibt, aber einmal geben wird, nach einem Leben der WAHRHEIT und GERECHTIGKEIT. Vielleicht wird euch diese Sehnsucht zu GOTT, zum VATERLAND und zur LIEBE führen. Lebt wohl, vergesst es nicht.«31 Und das Neue Wochenblatt (Tygotnik Nowy) bringt am 21. Juni 1919 einen gutachterlichen Bericht über das Dom Sierot: »Unter den jüdischen philanthropischen Einrichtungen verdient das Dom Sierot, klug und geschickt geleitet von dem berühmten Arzt, Pädagogen und Schriftsteller Dr. Goldszmit in Zusammenarbeit mit Dr. Eliasberg und Frau Stefania Wilczyńska, eine besondere Auszeichnung. Das 31. SW, Bd. 13, S. 370.

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Institut steht hinsichtlich der Anwendung der allerneuesten Errungenschaften der Pädagogik und Hygiene den besten Erziehungsanstalten Europas in nichts nach. Dr. Goldszmit vertritt die Überzeugung, dass das Kind der entscheidende Experte, Gesetzgeber und Richter der Erzieher ist; nach diesen Prinzipien wird das Dom Sierot geleitet. … Die praktizierte Erziehung unter Beachtung der Freiheit und Individialität der Kinder, die sich in Selbstkontrolle üben, führt zu unerwartet günstigen Resultaten.«32

8.5 Die Eröffnung eines zweiten Waisenhauses (1919) Auf der Basis der 1915 und 1917 in Kiew begonnenen Zusammenarbeit zwischen Korczak und Maria Falska wird 1919 ein zweites reformorientiertes Waisenhaus gegründet. Die Korczak-Biographin Alicja Szlązakowa berichtet: »Die damals geschlossene Freundschaft der Maria Falska mit Janusz Korczak vor dem Hintergrund der Zusammenarbeit und des gemeinsamen Trachtens, beste Erziehungsmethoden für die ihrer Obhut anvertrauten Kinder ausfindig zu machen, hat die Kriegszeit überdauert. Seither arbeiten sie gemeinsam an den Methoden der Fürsorge- und Erziehungspädagogik. … Im Jahre 1919 gründen Korczak und Maria Falska mit Hilfe von gesellschaftlichen Aktivisten der Volksbildung … in Pruszków bei Warschau, in einem gemieteten Haus, ein Waisenheim unter dem Namen ›Nasz Dom‹ (Unser Haus/Unser Heim) für 5o Arbeiterkinder.«33 (1929 wird das Nasz Dom in ein eigenes Haus in Bielang verlegt werden.) Maria (auch: Maryna) Falska, geb. Rogowska ist Haupterzieherin des am 15. November 1919 eröffneten Hauses, ähnlich wie Stefania Wilczyńska im Dom Sierot. Korczaks Ideen sind maßgebend für die pädagogische Arbeit beider Häuser. Alicja Szlązakowa bezeugt: »›Nasz Dom‹ realisiert mit wenigen Abänderungen Korczaks Erziehungssystem. Korczak weilt darin 2 Tage wöchentlich, ist Anstaltsarzt, leitet die Burse (für Erziehungspraktikanten), schult die Erzieher.«34 Wie im Dom Sierot arbeitet man auch im Nasz Dom am Modell einer fortschrittlichen Erziehung. Im Protokoll einer späteren Mitglieder- und Wahlversammlung der Trägergesellschaft »Nasz Dom« wird dies wie folgt formuliert: »›Nasz Dom‹ ist keine Philanthropie, es ist auch keine gesellschaftliche Verpflichtung gegenüber armen Waisen, es ist weder eine Zufluchtsstätte 32. Zitiert nach: Falkowska, Maria (Hg.): Myśl pedagogiczna Janusz Korczaka. Nowe źródła (Pädagogische Gedanken Janusz Korczaks. Neue Quellen). Warszawa 1983, S. 213f. 33. Szlązakowa, Alicja: Janusz Korczak …, a. a. O., S. 50f. 34. Ebd., S. 55.

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8.6 Die Zeitung des Nasz Dom (1919)

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noch eine Burse, es ist eine Erziehungsanstalt. Erziehung – das ist die Losung von ›Nasz Dom‹. Die Erziehungsfrage begann, sich dem pädagogischen und gesellschaftlichen Denken unserer Zeit beharrlich aufzudrängen. Man hat angefangen zu begreifen, dass die Erziehung gleichermaßen für das Wohl einer Gruppe wie auch für das Wohl des Einzelnen Sorge tragen muss. Sie muss gleichzeitig sowohl gesellschaftlich als auch individuell sein. Soziale Gewohnheiten und moralische Kräfte müssen parallel ausgebildet werden. Man hat begriffen, dass Erziehung – keine Kunst, sondern eine Wissenschaft ist, und der Erzieher – kein Zauberkünstler, sondern ein Fachmann. Es zeigte sich die Notwendigkeit, eine Methodik für die Gruppenerziehung auszuarbeiten. Diese Frage ruft gegenwärtig das Interesse von Pädagogen und Gesellschaftsaktivisten auf der ganzen Welt hervor. Überall werden Versuche gemacht, sich auf diesem Feld entweder theoretisch oder praktisch zu betätigen. ›Dom Sierot‹ und ›Nasz Dom‹ wirken an eben dieser Arbeit mit, an der Ausarbeitung einer Methodik für die Gruppenerziehung. Hier sind Theorie und Praxis zu einer Einheit verschmolzen. Es ist ein einzigartiger Versuch in Polen. Darin steckt die gesellschaftliche und pädagogische Bedeutung von ›Nasz Dom‹.«35

8.6 Die Zeitung des Nasz Dom (1919) Auch im Heim der Arbeiterkinder, im Nasz Dom, gibt es eine von der Waisenhausgemeinschaft gestaltete Zeitung nach Korczak’schem Vorbild, die Maria Falska ja bereits aus Kiew bekannt war. Im November 1919 wird sie als Zeitung des Nasz Dom angekündigt: »In Nasz Dom wird es eine Zeitung geben, in der jeder schreiben kann, was ihm gefällt. Wenn die Zeitung fertig ist, lesen wir sie durch. Heute lesen wir das erste Mal diese Zeitung. In der Zeitung wird es verschiedene Nachrichten darüber geben, was bei uns geschieht: wer gekommen ist, wer abgefahren ist, wer gesund ist, wer krank ist, wer hilft, wer stört, ob es gut ist oder schlecht. Wenn etwas nicht gut ist, kann man schreiben, was man tun soll, damit es besser wird. Jeder, der etwas ändern will, dem etwas fehlt, der unzufrieden ist, möge an die Zeitung schreiben. Manchmal geniert sich einer, etwas zu sagen, aber er schreibt gern. Manchmal meint man, jemand sei fröhlich, aber er hat einen Kummer und niemand weiß davon. Manchmal müsste man etwas tun, aber niemand bemerkt es. Manchmal weiß jemand, wie man Ordnung schaffen könnte, aber er sagt nichts, denn er meint, dass 35. Zur gesellschaftlichen und pädagogischen Bedeutung von »Nasz Dom«, SW, Bd. 9, S. 206f.

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man sich nicht einmischen darf. Aber für die Zeitung schreibt jeder gerne alles auf. Wer also für die Zeitung schreiben will, bekommt Papier, entweder gleich oder später – und er mache sich rasch an die Schreibarbeit.«36 Wie zu erwarten, bleibt die Einführung einer Kinder- und Jugendpresse nicht auf die Waisenhäuser beschränkt. So wird Korczak 1921 als Mitglied einer Schulkommission in seiner Broschüre Über die Schulzeitung für die Einführung von Schülerzeitungen werben (Pkt. 10.2) und 1926 für ganz Polen eine öffentliche Kinder- und Jugendzeitung ins Leben rufen: Die Kleine Rundschau (Pkt. 11.6).

8.7 Die Erziehungs-Tetralogie: Wie liebt man ein Kind (1920) Im Jahr 1920 erscheinen erstmals alle vier Teile von Korczaks pädagodischem Hauptwerk unter den Titeln: Wie liebt man Kinder. Das Kind in der Familie. Das Internat. Sommerkolonien. Dom Sierot. (Erst die zweite Auflage von 1929 wird wieder den Haupttitel von 1918 tragen, der auch heute in der Regel verwendet wird, nämlich: »Wie liebt man ein Kind«.) Im ersten Teil des Buches (Das Kind in der Familie) hatte Korczak (wie unter 8.1 dargestellt) vor allem seine neue Einstellung zum Kind und zu dessen Rechten dargelegt. In den drei neuen Teilen der Tetralogie von 1920 – Das Internat. Sommerkolonien. Dom Sierot – berichtet er nun über eigene Erfahrungen beim Umgang mit Kindern und über die dabei gewonnenen Erkenntnisse: Zum Buchteil Das Internat: Korczak beschreibt, wie ihm die Reflexion seines erzieherischen Tuns half, wissenschaftlich vertretbares Verhalten zu erlernen und einzuüben. Das Internat, herkömmlicherweise lediglich »Gegenstand der Moral, nicht der Forschung«37, hatte er in den ersten Jahren seiner Tätigkeit zum pädagogischen Untersuchungsfeld gemacht: »Ich habe kaum drei Jahre im Internat verbracht, genug, um sich umzusehen – und ich wundere mich nicht, dass ich einen reichen Schatz an Beobachtungen, Projekten und Hypothesen erworben habe; denn in diesem goldenen Reich war noch niemand, man weiß nichts von seiner Existenz.«38 Korczak entdeckt demgegenüber die Chancen, die das Internat dafür bie36. Aus Nasz Dom: Unserer Zeitung, SW, Bd. 13, S. 382f. Auch die Originale der Waisenhaus-Zeitungen aus dem Nasz Dom sind verlorengegangen. Erhalten geblieben sind einige Nachdrucke aus W Śłońcu, siehe SW, Bd. 13, S. 381ff. 37. SW, Bd. 4, S. 205. 38. Ebd.

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8.7 Die Erziehungs-Tetralogie: Wie liebt man ein Kind (1920)

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tet, eine wünschenswerte Entsprechung von Theorie und Praxis der Erziehung zu erreichen. Das gelingt ihm, indem er seine Erfahrungen aus der medizinischen Profession ins pädagogische Feld überträgt: »Der Medizin verdanke ich die Technik der Untersuchung und die Disziplin wissenschaftlichen Denkens. Als Arzt stelle ich Symptome fest: Ich sehe den Ausschlag auf der Haut, höre den Husten, fühle das Ansteigen der Temperatur und mit meinem Geruchssinn bemerke ich, dass das Kind aus dem Mund nach Aceton riecht. Die einen Symptome nehme ich sofort wahr, die mehr verdeckten suche ich. Als Erzieher habe ich ebenfalls Symptome vor mir: Lächeln, Lachen, Erröten, Tränen, Gähnen, einen Schrei, einen Seufzer. So wie es einen trockenen, einen feuchten und einen erstickenden Husten gibt, so gibt es ein Weinen mit Tränen, mit Schluchzen und fast ohne Tränen. Die Symptome stelle ich ohne Ärger fest. Das Kind hat Fieber, das Kind hat Launen. Ich senke das Fieber und beseitige nach Möglichkeit seine Ursache; ebenso vermindere ich die Spannung des launischen Verhaltens, soweit das ohne Schaden für die Seele geht. Ich weiß nicht, warum meine ärztliche Behandlung nicht den erwünschten Erfolg hat, aber ich gräme mich nicht, sondern suche weiter. Ich sehe, dass meine Anordnung das Ziel verfehlt, dass der Befehl von mehreren Kindern oder von einem einzelnen nicht befolgt worden ist, ich ärgere mich nicht, sondern forsche weiter. Manchmal spricht ein scheinbar unbedeutendes Symptom von einer großen Gesetzmäßigkeit, ein scheinbar zusammenhangloses Detail hängt im Grunde mit einem wichtigen Problem zusammen. Als Arzt und als Erzieher kenne ich keine Bagatellen und gehe dem, was zufällig und wertlos erscheint, aufmerksam nach. … Die Medizin zeigte mir die Wunder der Therapie und ließ mich die wunderbaren Anstrengungen, der Natur ihre Geheimnisse abzuschauen, erkennen. … Dank ihr habe ich gelernt, zerstreute Details und widersprüchliche Symptome mühsam zum logischen Bild der Diagnose zusammenzufügen.«39 Die Anwendung ärztlicher Techniken und die wissenschaftliche Anstrengung, »der Natur ihre Geheimnisse abzuschauen«, ärztliches Handeln und medizinische Erkenntnissuche gehören untrennbar zusammen. Und wie selbstverständlich nimmt Korczak diese Doppelaufgabe auch in seinem Wahlberuf Pädagoge wahr. Hier geht es um die Doppelaufgabe: erzieherisches Handeln und pädagogische Erkenntnissuche. Und die Frucht39. Ebd., S. 202.

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barkeit dieses Ansatzes zeigt sein gesamtes Werk, so auch Das Internat. Der beobachtende Theoretiker fördert hier nämlich Erkenntnisse zutage, die von immens praktischer Bedeutung sind: »Kinder haben eine andere Begriffsskala, einen andren Erfahrungsschatz, andere Impulse, eine andere Gefühlswelt. – Denk daran, dass wir sie nicht kennen.«40 »Ein Erzieher, der mit der süßen Illusion an die Arbeit geht, er trete in eine Miniaturwelt reiner, empfindsamer und offenherziger kleiner Seelchen ein, deren Gunst und Vertrauen ganz einfach zu gewinnen seien – wird rasch desillusioniert. Und anstatt denen zu zürnen, die ihn irrgeführt haben, oder sich selbst, weil er daran geglaubt hatte – wird er den Kindern grollen, weil sie seinen Glauben enttäuscht haben. Aber sind sie denn schuld daran, dass dir die verlockenden Seiten der Arbeit gezeigt, die dornenvollen aber unterschlagen wurden? Unter den Kindern gibt es ebenso viele schlechte Menschen wie unter den Erwachsenen, es fehlt ihnen nur das Bedürfnis oder die Möglichkeit, dies offen zu zeigen. In der Welt der Kinder geschieht all das, was in der schmutzigen Welt der Erwachsenen geschieht. Du findest die Vertreter aller Menschentypen und Musterbeispiele all ihrer Untaten. Denn die Kinder ahmen das Leben, die Unterhaltungen, die Bestrebungen des Milieus nach, in dem sie aufgewachsen sind, weil dessen Leidenschaften bereits im Keim bei ihnen angelegt sind.« 41 Dem Leser von Das Internat fällt es leicht, sich mit der Argumentation des Autors auseinanderzusetzen oder sogar zu identifizieren, weil Korczak von realistischen, jeden Erzieher betreffende Fragen ausgeht, die ihm unmittelbar in der Erziehungspraxis zum Problem wurden. Und die Interpretationen oder Schlussfolgerungen, die Korczak vornimmt, verharmlosen oder entschärfen die sperrige Praxis keineswegs; vielmehr eröffnen sie aus der Distanz der Reflexion eine neue Perspektive und ermöglichen eine Einstellungsänderung, vermittelt durch das liebevolle Engagement des Autors für die im Internat beschriebenen Kinder, die ja von ihrer Herkunft her oft vernachlässigt sind. Das soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden: • Ein neuer Zögling ist ins Internat aufgenommen, gebadet und eingekleidet worden – und sieht jetzt aus wie ein braves Kind. »Gib dich nicht der Täuschung hin, dass du die düsteren Erinnerungen, die bösen Einflüsse, die schmerzlichen Erfahrungen aus seinem Gedächtnis getilgt hast. Diese sauberen und sauber gekleideten Kinder bleiben lange zerknüllt, schmerzlich zerrissen und verblichen – es gibt unsaubere Wunden, die man monatelang geduldig ausheilen muss, und dann bleiben noch Narben, 40. Ebd., S. 147f. 41. Ebd., S. 193f.

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die immer wieder aufbrechen können. Das Internat für Waisenkinder ist eine Klinik, wo dir alle Unzulänglichkeiten des Körpers und der Seele begegnen; zudem ist die Abwehr des Organismus dort schwach, wo eine erbliche Belastung die Gesundung verzögert und behindert. Und sofern das Internat keine moralische Heilanstalt ist, besteht die Gefahr, dass es zu einem Ansteckungsherd wird.«42 • Der Erzieher Korczak macht sich im Schlafsaal Gedanken über die Zukunft der Kinder: »Wohin soll ich euch führen? … In der Stille der nächtlichen Atemzüge und meiner bangen Fragen ertönt ein Schluchzen. Ich kenne dieses Weinen, das ist er, der weint. So viele Kinder, so unterschiedlich die Art des Weinens, von den still und verhalten vergossenen Tränen über das launische, gespielte Schluchzen bis hin zum lauten und schamlosen Heulen.43 Es ist bitter, wenn ein Kind weint; aber nur das Schluchzen dieses einen, dieses erstickte, hoffnungslose, unheilverkündende Schluchzen ist grauenerregend. … Es gibt einige Kinder, die nicht das Alter ihrer zehn durchlebten Jahre haben. Sie tragen das Gewicht vieler Generationen; in ihren Gehirnwindungen hat sich die Qual vieler leidvoller Jahrhunderte angehäuft, und unter dem Einfluss eines unbedeutenden Reizes entlädt sich die in ihrer Veranlagung verborgen gebliebene Gewalt des Schmerzes, des Leides, des Zorns, des Aufruhrs, und man gewinnt den Eindruck eines Missverhältnisses zwischen dem kleinen Reiz und der stürmischen Reaktion. Nicht das Kind ist es, das hier weint, es weinen die Jahrhunderte, Schmerz und Sehnsucht wehklagen; nicht weil es in der Ecke stehen musste, sondern weil es gequält, gejagt, verachtet, verflucht wurde. Drücke ich mich zu poetisch aus? Nein, ich finde nur keine Antwort und stelle mir Fragen. Sein Gefühl muss einer heftigen Spannung ausgesetzt sein, wenn eine Kleinigkeit es aus dem Gleichgewicht bringt. Es muss ein negatives Gefühl sein, denn mit Mühe nur rufst du ein Lächeln hervor oder einen freundlichen Blick, nie aber ein deutliches Anzeichen kindlicher Freude. Ich ging zu ihm hin und sagte leise mit entschiedener, aber sanfter Stimme: ›Weine nicht, du weckst die anderen auf.‹ Er verstummte. Ich ging in mein Zimmer zurück. Er schlief nicht ein. Dieses einsame Schluchzen inmitten der Stille, auf Befehl unterdrückt, 42. Ebd., S. 150. 43. Der empathische und diagnostisch erfahrene Korczak weiß die unterschiedlichsten Arten des Weinens wie die des Schreiens zu unterscheiden: »Schließlich gibt es die Semiotik des Schreiens.« (SW, Bd. 8, S. 135)

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ist zu schmerzlich, zu verwaist. Ich kniete an seinem Bett nieder, weder die Worte noch die Intonation musste ich in einem Lehrbuch suchen. Mit halblauter Stimme sagte ich: ›Du weißt, dass ich dich liebe. Aber ich kann dir nicht alles erlauben. Nicht der Wind hat die Scheibe zerschlagen, sondern du. Die Kinder hast du beim Spiel gestört. Du hast deine Abendmahlzeit nicht gegessen. Du wolltest dich im Schlafsaal prügeln. Ich bin dir nicht böse. Du hast dich ja schon gebessert … Wieder ein lautes Weinen. … Er schluchzt laut, nach einer Weile wird es still. ›Vielleicht hast du Hunger? Soll ich dir ein Brötchen bringen?‹ Ein letztes Mal verkrampft sich die Kehle. Schon weint er nur noch, beklagt sich bitterlich, aus tiefster, schmerzerfüllter, gekränkter Seele. ›Soll ich dir einen Gute-Nacht-Kuss geben?‹ Er schüttelt den Kopf. ›Nun, dann schlaf, schlaf, mein Söhnchen.‹ Ich berühre leicht mit der Hand seinen Kopf. ›Schlaf.‹ Er schlief ein. Oh Gott, womit wirst du diese empfindsame Seele beschützen, damit ihr Leben nicht im Sumpf endet? …«44 Das liebevolle Nahesein lässt den Erzieher erahnen, was dem Kind fehlt und wie er ihm beistehen kann. Zum Buchteil Sommerkolonien: Auch der dritte Text der Tetralogie – Sommerkolonien – ist, wie Das Internat, ein Dokument dafür, dass Korczak den Erziehungsalltag realistisch wahrnimmt und nichts beschönigen will. Diesmal legt er den Schwerpunkt auf das Lernen des Erziehers aus selbstgemachten Fehlern: »… Sprich lieber davon, welche Hoffnungen du selbst hegtest, welchen Illusionen du erlagst, welchen Schwierigkeiten du begegnet bist, wie du gelitten hast, als du mit der Realität in Berührung kamst, welche Fehler du begingst, und wie du, indem du sie korrigiert hast, gezwungen warst, von geheiligten Ansichten abzurücken, und welche Kompromisse du eingegangen bist …«45 Diesem Motto, das der Autor dem Text voranstellt, folgt er bei der nachträglichen Beschreibung der Erfahrungen, die er als werdender Arzt in der Sommerkolonie Michałówka46 gemacht hatte. Dabei wird für den 44. SW, Bd. 4, S. 209f. 45. Ebd., S. 211. 46. Zu Korczaks Aufenthalten in den Sommerkolonien vgl. den Kommentar in: SW, Bd. 10, S. 311ff.

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Leser deutlich, wie wichtig ein Lernen aus Erfahrung für den Aufbau erzieherischer Kompetenzen ist.47 Dieses Lernen aus Erfahrung stützt sich auf genaue Beobachtungen und auf kritisches Hinterfragen der Handlungszusammenhänge, auf Re- und Selbstreflexion statt auf voreilige Schlüsse und unberechtigte Schuldzuweisungen an andere. An einem Beispiel wird der Zusammenhang deutlich: • In den ersten Tagen des Kolonieaufenthalts steht der unerfahrene Erzieher Henryk relativ hilflos vor dem ausgelassenen Treiben der Kinder, die er aber nach seinen Vorstellungen meint steuern zu müssen. Diese aber widersetzen sich ihm auf ihre Weise – nämlich, indem sie einen nächtlichen »Aufstand« veranstalten. Als es dem Erzieher nicht gelingt, die Kinder zur Ruhe zu rufen, fasst er einen der Missetäter und setzt ihm im Affekt zu. Darüber erschrickt er … hatte er so erziehen wollen? Nun beginnt er, aus Fehlern zu lernen, da »eine heftige Krise oft der Anfang der Genesung ist«.48 Und seinen Lernprozess aus der Krise beschreibt er anschließend so: »Ich hatte verstanden, dass Kinder eine Macht darstellen, die man zur Mitwirkung ermuntern und durch Missachtung gegen sich aufbringen kann, mit der man aber auf jeden Fall rechnen muss. Diese Wahrheiten hatte mich, durch einen merkwürdigen Verlauf der Dinge, der Stock gelehrt. Am nächsten Tag sprach ich das erste Mal … nicht zu den Kindern, sondern mit den Kindern; ich sprach nicht davon, was ich möchte, dass sie seien, sondern davon, was sie sein wollten und könnten. Vielleicht habe ich mich damals das erste Mal davon überzeugt, dass man von Kindern viel lernen kann, dass auch sie Forderungen und Bedingungen stellen und Einwände machen und dass sie ein Recht darauf haben.«49 Der aus Fehlern lernende Erzieher übt sich weder in Verdrängung noch in Rationalisierung oder Rechtfertigung, sondern in Selbstkritik und Veränderungsbereitschaft! Zum Buchteil Dom Sierot: Zum vierten Teil der Tetralogie Wie liebt man ein Kind, dem Dom Sierot (Haus der Waisen), schreibt Korczak: In diesem »Teil des Buches werde ich berichten, wie wir uns bei der Organisation des Waisenhauses Dom Sierot der Hilfe der Kinder versichert haben, ohne Furcht vor bösen Folgen, und wie wir Öffentlichkeit ins 47. Vgl. Beiner, Friedhelm: Erfahrung und Lernen in pädagogischen Feldern. In: KorczakBulletin, Jg. 14, H. 1/2005, S. 7ff. 48. SW, Bd. 4, S. 222. 49. Ebd.

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Internatsleben eingeführt haben.«50 Korczak möchte im Text Dom Sierot also den Organisationsstand des Erziehungsmodells darstellen, das 1912 in der Krochmalna-Straße 92 mit der Zielvorstellung seinen Anfang genommen hatte, die Mitwirkung der Kinder zu erreichen und Öffentlichkeit herzustellen, um »eine Kindergesellschaft auf den Prinzipien der Gerechtigkeit, der Brüderlichkeit, der gleichen Rechte und Pflichten« aufzubauen.51 Korczak berichtet zunächst, wie er nach dem Einzug ins Dom Sierot (im Jahr 1912) wieder eine Überraschung erlebte: »Ich hatte gedacht, dass meine Erfahrung in den Sommerkolonien mich vor Überraschungen bewahren würde. Zum zweiten Mal traf ich mit den Kindern als einer bedrohlichen Masse zusammen, gegen die ich machtlos war; zum zweiten Mal begannen sich durch schmerzliche Erfahrungen solide, einleuchtende Wahrheiten abzuzeichnen. Allen Anordnungen setzten die Kinder bedingungslosen Widerstand entgegen, der mit Worten nicht zu brechen war; Zwang erzeugte Unwillen. … Es kam vor, dass mir während einer Unterredung mit ihnen die Stimme versagte und mir aus Ratlosigkeit Tränen in die Augen schossen. Solch schwere Stunden muss jeder junge Erzieher, jeder neue Erzieher durchmachen. Er sollte sich nicht entmutigen lassen und nicht vorschnell sagen: ›Das kann ich nicht, das ist unmöglich.‹ – Nur scheinbar bewirken Worte nichts; langsam entsteht so etwas wie ein kollektives Gewissen, von Tag zu Tag wächst die Zahl derer, die den guten Willen des Erziehers und einen vernünftigeren Kurs akzeptieren; das Lager der Parteigänger der ›neuen Linie‹ wird gestärkt. … Einer der größten Lausbuben zerschlug beim Aufräumen ein ziemlich teueres Porzellanpissoir. Ich wurde nicht böse. Ein paar Tage später zerbrach derselbe Bursche eine Flasche mit fünf Litern Lebertran. Auch diesmal wies ich ihn eher milde zurecht. Es half: Ich hatte einen Bundesgenossen gewonnen … Wie leicht ist es, einen bestimmten Kurs einzuhalten, wenn der Erzieher die ganze Schar beherrscht; wie höllisch ist die Arbeit, wenn der Erzieher hilflos hin- und hergerissen ist und die Horde es weiß, es fühlt und rachsüchtig alle gegen ihn aufhetzt. Die Gefahr ist groß, dass er sich der eigenen Sicherheit zuliebe auf ein System brutalster Gewalt einlässt. … Das Aufbaujahr endete mit einem Triumph. – Eine Wirtschafterin, eine Erzieherin, ein Hausmeister und eine Köchin – für hundert Kinder. Wir hatten uns unabhängig von irgendeinem x-beliebigen Personal und dessen 50. Ebd., S. 159. 51. SW, Bd. 9, S. 207.

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Tyrannei im ehemaligen Heim gemacht. Hausherr, Mitarbeiter und Leiter des Hauses wurde – das Kind.«52 Auch wenn diese Beschreibung ein wenig euphorisch klingt – im ersten Jahr des Dom Sierot sind offenbar – gestützt auf das »klare, demokratische Empfinden des Kindes«53 – die Grundlagen für eine Art Kinderrepublik mit »öffentlich« kontrollierten Organisationselementen geschaffen worden, die im Folgenden näher zu beschreiben sind. Von der eigenen Heim-Zeitung als einem wichtigen Element zur Herstellung von Öffentlichkeit war ja schon die Rede. Darüber hinaus entwickelten die Erwachsenen zusammen mit den Kindern eine Reihe von Hilfsmitteln zur Organisation des Zusammenlebens, die seit Hartmut von Hentigs Laudatio zur posthumen Verleihung des Friedenspreises an Janusz Korczak »Institutionen der Selbstverwaltung«54 genannt werden. Die soziologische Würdigung von »Institutionen« als wirksamen Organisationsformen in Sozialverbänden geht vor allem auf Arnold Gehlen zurück. Er stellte heraus, dass Institutionen der »Daseinsstabilisierung« und »Daseinsentlastung« dienen. Institutionen entlasten das instinktmäßig »mangelhaft« ausgestatte Lebewesen Mensch, indem sie einen Handlungsrahmen zur Bewältigung von lebenswichtigen Aufgaben schaffen, der vorhersehbares Handeln nahelegt und damit den Einzelnen entlastet und das Zusammenleben der Gemeinschaft stabilisiert.55 Natürlich braucht auch das Dom Sierot für das tagtägliche Zusammenleben von über hundert Kindern und einigen Erwachsenen eine stabile und entlastende Organisationsstruktur. Allerdings geht es Korczak nicht um eine beliebige, Hauptsache funktionierende, sondern um eine partnerschaftliche und pädagogisch förderliche Organisation. Die »Institutionen« der Waisenhäuser sollen dabei helfen, ein zufriedenstellendes Miteinander dauerhaft zu ermöglichen, ohne die Grundrechte des Einzelnen zu beschneiden. Sie sind also so etwas wie indirekte Erziehungshilfen für die Heimbewohner, um eigene und gemeinschaftliche Aufgaben und Probleme demokratisch zu bewältigen. 52. SW, Bd. 4, S. 253ff. 53. Ebd., S. 389. 54. Hentig, Hartmut von: Janusz Korczak oder Erziehung ín einer friedlosen Welt. In: Janusz Korczak. Ansprachen anlässlich des Friedenspreises. Hg.: Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. Frankfurt/M. 1972, S. 41. 55. Vgl. Gehlen, Arnold: Der Mensch. Wiesbaden 1995. Ders.: Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung. Gesamtausgabe, Bd. 4. Frankfurt/M. 1983.

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Mit den pädagogisch-demokratischen Institutionen schließt sich der Kreis des von Korczak entworfenen anderen Bildes vom Kind hin zu einem auf Freiheit und Gerechtigkeit basierenden Zusammenleben einer größeren Erziehungsgemeinschaft. Wurden am Anfang Grundrechte proklamiert, so steht am Ende eine differenzierte Organisation, in der diese Rechte gelebt und geschützt und gleichzeitig ein gleichberechtigtes Gemeinschaftsleben ermöglicht werden. Im vierten Teil der Tetralogie, dem Text Dom Sierot, beschreibt Korczak die Institutionen, die bis 1920 eingeführt sind und das Leben des Waisenhausalltags im Sinne einer Kinderrepublik strukturieren:

8.8 Institutionen der Selbstverwaltung (1920) Im Dom Sierot gibt es aktuell: eine Anschlagtafel, einen Briefkasten, ein Regal für Wörterbücher, Spiele und Rapporte, einen Schrank für Fundsachen und Privateigentum, einen Laden für Schulbedarf, ein System zur Organisation der Heimdienste, eine Betreuungskommission für Neulinge, Konferenzen, eine Zeitung, ein Parlament (Sejm) und das Kameradschaftsgericht, für das es eine eigene Gerichtszeitung gibt. • Die »Anschlagtafel«, das schwarze Brett der Heime, regelt als stilles Kommunikationsmittel einen Teil des turbulenten Alltags und erleichtert dem Erzieher die Arbeit: »Ohne diese Tafel ist das Leben eine Qual; du sagst laut und deutlich: ›Die Kinder a, b, c, d – gehen, nehmen, machen – das und das.‹ Gleich kommen: e, f und g … ›Ich auch?‹ – ›Und ich?‹ – ›Und er?‹ Du sagst alles noch einmal, es hilft nichts. ›Und ich, bitte schön?‹ Du sagst: ›Geht jetzt, ihr werdet schon sehen …‹ Wieder Fragen, Lärm, Verwirrung. ›Wann? – wohin? – wozu?‹ Fragen, Forderungen, Herumschubserei – ermüden und machen ungeduldig. Aber es kann nicht anders sein. Denn nicht alle Kinder haben es gehört, nicht alle haben es verstanden, nicht alle sind ganz sicher, dass sie genau wissen, worum es geht, schließlich kann auch der Erzieher bei diesem Tumult etwas übersehen. Im Chaos der ständig anfallenden Arbeiten muss der Erzieher plötzlich eine Anordnung treffen, die nicht durchdacht und vorbereitet und deshalb mit Mängeln behaftet ist; er muss rasch entscheiden, also kommt es auf seine Veranlagung und seine Geistesgegenwart an, immer passiert im letzten Moment etwas Unvorhergesehenes. – Die Tafel zwingt ihn plötzlich dazu (später wird das zur Gewohnheit), rechtzeitig jedes Vorhaben zu durchdenken. … Die Tafel ist ein Betätigungsfeld für den Erzieher und die Kinder. Kalender, Thermometer, eine wichtige Nachricht aus der Zeitung, ein Bild, ein Rätsel, die Kurve der Schlägereien, eine

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Liste der angerichteten Schäden, die Ersparnisse der Kinder, ihr Gewicht, ihre Größe.«56 • Korczaks Erklärungen zum »Briefkasten« der Heime verdeutlicht seine Hochschätzung der schriftlichen Kommunikation: »Der Erzieher, der den Nutzen einer schriftlichen Verständigung mit den Kindern erkannt hat, wird sich auch bald von der Notwendigkeit eines Briefkastens überzeugen. Die Anschlagtafel verlangt vom Erzieher nur eine alltägliche, mühelose – Antwort: ›Lies es, bitte schön, dort nach.‹ – Der Briefkasten ermöglicht es ihm, jede Entscheidung zu vertagen durch die Antwort: ›Schreibe es auf.‹ … Der Briefkasten lehrt die Kinder: 1. Auf eine Antwort zu warten: sie nicht sofort, nicht auf Abruf zu erhalten. 2. Geringfügige und vorübergehende Klagen, Sorgen, Wünsche oder Zweifel von wichtigen zu unterscheiden. Eine Niederschrift verlangt eine Entscheidung (und selbst dann möchten die Kinder oft einen Brief, den sie eingeworfen haben, wieder zurückziehen). 3. Er lehrt sie denken und begründen. 4. Er lehrt zu wollen und zu können.«57 • Ein »Regal« im Gemeinschaftsraum des Waisenhauses bietet Platz für Lexika, Spiele, Rapporte und andere Dinge, auf die man schnell mal zurückgreifen muss. (Das Regal wird später auch zum Aufbewahrungsort für das »schriftliche Gedächtnis« des Heims werden; hier werden Protokolle und Kommunikationshilfen, wie das Notariats- sowie das Dank- und Entschuldigungsbuch und die verschiedenen »Tagebücher« deponiert werden.) • In einem Haus mit über 100 Kindern geht des öfteren etwas verloren, das sein Eigentümer über einen »Schrank für Fundsachen« zurückbekommen kann. Zur Sicherung des Privateigentums und der Intimsphäre verfügt jedes Kind über ein nur ihm zugängliches, verschließbares Schrankfach, in dem es ihm wichtige Dinge verstauen kann. »Es ist eine Aufgabe des Erziehers, dafür zu sorgen, dass jedes Kind etwas hat, das nicht namenloses Eigentum der Institution ist, sondern seine Habe, für die es einen sicheren Aufbewahrungsort haben muss. – Wenn das Kind etwas in sein Schublädchen legt, muss es sicher sein, dass niemand es anrührt«.58 • Der »kleine Laden« versorgt die Kinder mit Lern- und Schulbedarf. • Zu den obligatorischen »Heimdiensten« heißt es: »Im Dom Sierot haben wir Besen und Putzlappen aus ihrem Schlupfwinkel unter der Treppe hervorgeholt und ihnen nicht nur einen sichtbaren, sondern auch einen ehrenvollen Platz am Haupteingang zu den Schlafsälen gegeben. Und sonderbar, durch das Tageslicht wurden diese alltäglichen Dinge ver56. SW, Bd. 4, S. 256ff. 57. Ebd., S. 258f. 58. Ebd., S. 262.

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edelt und beseelt, der Blick erfreut sich an ihrem ästhetischen Aussehen. Zwei Schlafsäle haben sechs Kehrbesen. Wären es weniger, würden wir Zeugen ständiger Streitereien und Kämpfe. Wenn wir auf dem Standpunkt stehen, dass ein sauber abgewischter Tisch so viel wert ist wie eine sorgfältig beschriebene Seite, wenn wir darauf achten, dass die Arbeit der Kinder nicht die bezahlte Arbeit des Personals ersetzt, sondern dass die Kinder durch sie erzogen und gebildet werden, – dann müssen wir ihre Tätigkeit gründlich studieren, erproben, zwischen allen aufteilen und überwachen, für Abwechslung sorgen und dem Problem viele Gedanken widmen. Hundert Kinder – hundert Mitarbeiter für die Ordnung und Bewirtschaftung des Hauses; hundert verschiedene Niveaus, hundert verschiedene Abstufungen von Kraft, Können, Temperament, Charakter, gutem Willen und Gleichgültigkeit. … Es gibt Morgen- und Abenddienste, Tages- und Wochendienste (die Ausgabe von Wäsche, das Bad, das Haarschneiden), einmalige Dienste (das Ausklopfen der Matratzen), Sommerdienste (die Gartentoiletten) und Winterdienste (Schneeräumen usw.). Jeden Monat wird eine neue Liste der Dienste erstellt und ausgehängt. Vorher reichen die Kinder schriftliche Gesuche ein. Also: ›Ich möchte im Schlafsaal Dienst tun.‹ – ›Ich möchte das Klassenzimmer putzen und auf die Badelaken aufpassen.‹ – ›Ich möchte den Dienst im Waschraum übernehmen, wenn nicht dort, dann in der Garderobe.‹ – ›Ich möchte in den Toiletten Dienst tun und am achten Tisch Essen auftragen.‹ Jeder Dienst hat seine Kandidaten, die sich frühzeitig für eine freiwerdende Stelle melden, sich absprechen und Zustimmung erhalten; zahlreiche Vereinbarungen werden getroffen.«59 Die Dienste werden nach Arbeitszeiteinheiten bewertet. Die Überprüfung und Verrechnung der Pflicht- und Wahlarbeiten wird zusammen mit dem Selbstverwaltungsrat organisiert. • Neulingen des Heims wird ein »Beschützer« an die Seite gestellt. An die Betreuung durch einen »Beschützer« erinnert sich Adam Dembiński: »Jeder von uns war dort einmal ein Neuling und erinnert sich an den Augenblick der Verlorenheit, als er sich zum ersten Mal inmitten der großen Kinderschar befand. Da wurde dem Neuling ein Beschützer, ein älteres, bereits heimisch gewordenes Kind zur Seite gestellt. In den folgenden Monaten schrieb der Beschützer täglich in ein Büchlein, wie sich der Schützling führte. Die Rapporte wurden von Frau Stefa kontrolliert und mit Hinweisen, wie in schwierigen Fällen vorzugehen sei, versehen, zurückgegeben.«60 59. Ebd., S. 263ff. 60. Dembiński, Adam: Wir lebten wie alle Korczak-Kinder. In: Beiner, F./Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 60.

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• In den »Heim-Konferenzen« werden anstehende Probleme direkt mündlich besprochen. Allerdings verlangt die mündliche Kommunikation mit Kindern Einfühlungsvermögen, Respekt und Ehrlichkeit: »Ein Kind denkt nicht weniger, nicht armseliger, nicht schlechter als die Erwachsenen, es denkt anders. In unserem Denken sind die Bilder verblichen und ausgefranst, die Gefühle glanzlos und verstaubt. Das Kind denkt mit dem Gefühl, nicht mit dem Intellekt. Deshalb ist es so schwer, sich mit Kindern zu verständigen, und es gibt keine schwierigere Kunst, als Kinder anzusprechen. Lange Zeit schien es mir, man müsse zu Kindern einfach sprechen, verständlich, spannend, bildhaft, überzeugend. – Heute denke ich anders: Nämlich, dass wir kurz und mit Gefühl sprechen sollten, aufrichtig – nicht gewählt und mit besonderen Redewendungen. – Ich würde lieber sagen: ›Meine Forderung ist nicht berechtigt, unbillig, undurchführbar, aber ich muss das von euch verlangen‹, als lange Begründungen anzuführen und zu erwarten, dass sie mir Recht geben.«61 • Die »Heimzeitung«, das Wochenblatt des Dom Sierot, war – wie berichtet – von Anfang an ein zentrales Kommunikationsmittel des Waisenhauses. In der von Korczak sehr geschätzten Zeitung werden Probleme, Klagen Bitten, Lob und Dank aus den die Kinder betreffenden Konfliktfeldern Heim, Straße, Schule, Eigentum, Spitznamen, Vandalismus …, und natürlich auch das nicht immer reibungsfreie Verhältnis zu den nicht-jüdischen Nachbarn thematisiert. Möglichst viele Kinder und Erwachsene sollen sich aktiv an dieser schriftlichen und damit besonders verbindlichen demokratischen Kommunikation beteiligen. • Zum »Parlament« (poln.: Sejm) schreibt Korczak in der Heimzeitung des Nasz Dom: »Wir haben so gesagt: ›Die Kinder sollen selbst regieren. Wenn sie das gut besorgen, dann wird es ihnen gutgehen; wenn sie schlecht regieren, wird es ihnen schlechtgehen. So werden sie lernen, gut zu regieren, sie werden vorsichtig sein, weil sie wollen, dass es ihnen gutgeht.‹ Wir haben gesagt: ›Wir wählen einen Sejm. Die Kinder wählen selbst ihre Abgeordneten. Die Kinder werden selbst abstimmen. Wer vier Stimmen bekommt, ist Abgeordneter des Sejm. Dann wird jede Angelegenheit auf der Sitzung des Sejm vorgebracht, und die Abgeordneten werden nach ihrer Beratung entscheiden, was getan werden soll, um das Beste zu erreichen.‹ Wir haben so gedacht: ›Wir, die Erwachsenen, wissen viel von einem Kind, doch wir können uns irren. Aber das Kind weiß, ob es ihm gutgeht oder schlecht.‹ Der Sejm selbst soll beraten, was man tun muss, damit jeder ruhig ausschlafen kann, ruhig beten, ruhig essen, lernen und spielen kann. Der Sejm selbst soll beraten, was man tun kann, damit nicht einer den 61. SW, Bd. 4, S. 270.

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anderen belästigt, stört, schlägt und betrügt. Der Sejm soll darüber beraten, was man tun soll, damit es bei uns keine Tränen und Klagen gibt und es fröhlich bei uns zugeht.«62 • Das »Kameradschaftsgericht« ist die Institution für die Klärung von Konflikten, die in einer Gruppe von über hundert Personen natürlich nicht selten auftreten und in einer sich demokratisch verstehenden Gemeinschaft nach einer öffentlich kontrollierten Rechtsordnung zu regeln sind. Das Kameradschaftsgericht nimmt innerhalb der Institutionen darum einen Sonderplatz ein. Es sichert das wichtigste Recht einer Demokratie: das Recht auf Anklage; es wird in einem eigenen Abschnitt (8.9) gesondert behandelt. • Als weitere Institutionen müssen genannt werden: Das »Plebiszit« und die damit zusammenhängende »Bürgerqualifikation«, auch wenn diese im vierten Teil der Tetralogie noch nicht auftauchen, weil Korczak erst um das Jahr 1920 damit zu experimentieren beginnt.63 Beim »Plebiszit« handelt es sich, wie der Name schon andeutet, um eine »Volksabstimmung«, die in den Waisenhäusern durchgeführt wird, um für jeden Heimbewohner den sozialen Status, den er in der Gruppe einnimmt, zu ermitteln. Mit Hilfe von drei Kärtchen mit den Bezeichnungen Plus, Minus und Null – die für: »Ich mag ihn«, »Ich mag ihn nicht« und »Weiß nicht«, stehen – wird über jeden abgestimmt. Und auf der Grundlage der so ermittelten Beliebtheit wird vom Selbstverwaltungsrat für jedes Kind eine »Bürgerqualifikation«, auch »Benennung« genannt, festgelegt. Es gibt die Benennungen: Kamerad, Bewohner und gleichgültiger Bewohner; die Benennungen können bei Bedarf nach drei Monaten überprüft und – falls dann bessere Ergebnisse vorliegen – angehoben werden. Wegen der Bedeutung der gegenseitigen Gefühlsbeziehungen beim Zusammenleben einer Gruppe erhält das Plebiszit einen festen Platz im Leben der Waisenhäuser. Es dient als Hilfmittel zur Selbsterziehung und Sozialisation. Da man davon ausgeht, dass sich ein Kind in der Regel selbst bessern möchte, bietet man ihm die Möglichkeit einer realistischen Selbsteinschätzung als Ansporn für die Selbsterziehung im Rahmen der bewusst offen und demokratisch gehaltenen Meinungsbildung. Maria Falska erleutert die Funktion und den Einsatz des Hilfsmittels Plebiszit so: »Das Kind 62. SW, Bd. 13, S. 392f. 63. In einem Artikel für die Kinder- und Jugendzeitung Kleine Rundschau von 1927 erwähnt Korczak, dass er vor sechs Jahren mit Abstimmungen darüber begonnen habe »Wer wen mag« (SW, Bd. 14, S. 379); und in den Lebensregeln von 1929 heißt es: »Seit zehn Jahren veranstalte ich Plebiszite.« (SW, Bd. 3, S. 344)

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zur Anstrengung anregen. Ihm die Absichten nennen und Zeit geben. … Dem Kind die Möglichkeit geben, die Meinung der Gruppe über es zu erfahren.«64 Wie wichtig den Heimbewohnern die Plebiszite waren, bezeugen im Nachhinein mehrere Zöglinge und Erzieher. Der Bursist Michał Wróblewski beispielsweise bestätigt: »Dank des Plebiszits erkannten wir häufig die verborgene, gleichsam unterirdische Lebensströmung der Kinderschar. Und das war zweifelsohne wertvoll. … Mir persönlich gefiel die Plebiszitidee als eine Art diagnostischer Prüfung, die den Erziehern veranschaulichte, was sich mit bloßem Auge nicht erfassen ließ.« Und dann berichtet er noch über ein wichtiges Detail: »Nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen mussten sich dem Plebiszit unterwerfen. Und diese Hinweise für Sympathie oder Gleichgültigkeit waren für uns ein Erlebnis und gaben uns wichtige Hinweise.«65 Plebiszite und Benennungen sind nach ihrer Bewährung auch zu festen Bestandteilen des Reglements des Dom Sierot geworden.66 Alle Institutionen der Selbstverwaltung des Dom Sierot wurden als ein Experiment eingeführt und, wenn nötig, weiterentwickelt. Das wird bei der Beschreibung des Kameradschafts-Gerichts deutlich werden:

8.9 Das Recht auf Anklage und das Gericht (1920) Korczak hatte zu Beginn seiner Erziehungstätigkeit die Beobachtung gemacht, dass innerhalb der Kinderschar typische Hierarchien ausgebildet waren, nach denen ungebrochen das Recht der Älteren über die Jüngeren, der Starken über die Schwächeren galt. Es gab keine Vorstellung von Gleichberechtigung. Daher bemühte er sich bei der Entwicklung seines Erziehungsmodells darum, einen Sinn für Gleichberechtigung aufzubauen, und das nicht nur im Verhältnis der Kinder zueinander, sondern auch im Verhältnis der Erwachsenen (Erzieher und Personal) zu den Kindern. Und dabei nahm das sog. Kameradschafts-Gericht eine Schlüsselrolle ein: »Wenn ich dem Gericht unverhältnismäßig viel Platz einräume, so in der Überzeugung, dass das Gericht zum Ausgangspunkt der vollen Gleichberechtigung der Kinder werden könnte … . Das Kind hat ein Recht auf die ernsthafte Behandlung seiner Angelegenheiten, auf ihre gerechte und ausgewogene Beurteilung. Bis heute war alles vom guten Willen und den Lau64. SW, Bd. 13, S. 554. 65. Wróblewski, Michał: Sieben gute Jahre. In: Beiner, F./Ungermann,S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 174. Vgl. auch daselbst S. 60 und S. 240f. 66. Vgl. SW, Bd. 13, S. 543f.

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nen des Erziehers abhängig. Das Kind hatte kein Recht auf Einspruch. Diesem Despotismus müssen Grenzen gesetzt werden.«67 Darum richtete er im Dom Sierot einen öffentlichen Ort für Anzeigen ein: »An einem sichtbaren Ort hängt eine Tafel. Jeder hat das Recht, seine Angelegenheit auf der Tafel einzutragen: den eigenen Namen und den Namen dessen, den er anzeigen will. Man kann sich selbst beim Gericht anzeigen und jedes Kind, jeden Erzieher, jeden Erwachsenen.«68 (Das Recht, auch Erwachsene anzeigen zu dürfen, wurde erst nach einem Probejahr eingeführt; s. unten.) Jedes Mitglied der Waisenhausgemeinschaft, das glaubt, Unrecht oder Missachtung erfahren zu haben, kann jetzt also eine Anklage gegen den mutmaßlichen Täter erheben. Richter sind die Kinder. Dabei machen alle tiefgreifende Erfahrungen. Sowohl die Kläger als auch die Angeklagten und Richter entwickeln Sensibilität für Ungerechtigkeit und für Kränkungen oder Verletzungen, aber auch für die Bedeutung von Verstehen und Verzeihen. Das vorangestellte Motto des Gerichts lautet: »Wenn jemand etwas Böses getan hat, ist es am besten, ihm zu verzeihen. … Das Gericht aber muss die Stillen schützen, damit ihnen die Aggressiven und Aufdringlichen kein Unrecht zufügen; das Gericht muss die Schwachen schützen, damit die Starken sie nicht quälen; es muss die Gewissenhaften und Fleißigen gegen die Nachlässigen und Faulen in Schutz nehmen; das Gericht muss für Ordnung sorgen, denn Unordnung belastet die guten, stillen und gewissenhaften Kinder am meisten. Das Gericht ist nicht die Gerechtigkeit, aber es soll nach Gerechtigkeit streben; das Gericht ist nicht die Wahrheit, aber es möchte die Wahrheit finden.«69 Wer sind die Richter? In jeder Woche werden 5 Richter per Los aus denjenigen Kindern bestimmt, gegen die kein Verfahren anhängig ist. Wer führt die Gerichtsakten? Ein erwachsener Sekretär.70 67. 68. 69. 70.

SW, Bd. 4, S. 273. Ebd., S. 274. Ebd. Da Korczak nicht alle Einzelheiten der Institutionen selbst erläutern will, verweist er in: SW, Bd. 4, S. 141 auf ein Buch von Maria Falska, das – wie er sagt – die Grundzüge der Selbstverwaltung vermittelt. Es handelt sich um Rogowska-Falska, Maria: Zakład wychowawczy »Nasz Dom«. Szkic informacyjny (Die Erziehungsanstalt »Nasz Dom«. Eine Informationsskizze). Mit einer Einführung von J. Korczak. Warszawa 1928, Wiederabdruck 1959. Zu den Gerichtsmodalitäten heißt es auf S. 33f der 1959-ger Ausgabe: »Das Gericht tritt einmal in der Woche zusammen. … Der Sekretär – ist ein Erzieher ohne Stimmrecht. Er hat kein Richteramt, er sammelt nur die Aussagen und liest sie während der Gerichtssitzungen vor. Auf der Vollversammlung verliest er dann die

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Das Gericht sorgt für Ordnung, für die Erfüllung der Pflichten, für den Schutz des Eigentums, der Gesundheit und manchmal auch für eine begründete Ausnahmebehandlung: Es trägt »Sorge um den Menschen«.71 Es gibt einen Gerichtskodex, bestehend aus 109 Paragraphen, in denen mögliche Urteilssprüche vorformuliert sind. Zu den Paragraphen 1 bis 99 heißt es: »Es gibt neunundneunzig Paragraphen, die freisprechen oder die besagen: Das Gericht hat den Fall nicht behandelt. Und nach dem Verfahren ist es so, als hätte es diesen Fall nie gegeben, oder aber es bleibt eine Spur von Schuld, die den Angeklagten verpflichtet, sich zu bemühen, dass dies nicht wieder vorkommt.«72 Die Hunderter-Paragraphen 100, 200, 300 … bis 1000 gelten als Strafen mit steigendem Gewicht. Paragraph 100: »Das Gericht verzeiht nicht und stellt fest, dass A das getan hat, wessen man ihn beschuldigt.«73 Paragraph 500: »Das Gericht erklärt, dass A sehr schlecht gehandelt hat. – Das Urteil wird in der Zeitung veröffentlicht.«74 Paragraph 1000: »Das Gericht weist A von der Anstalt. Das Urteil erscheint in der Zeitung.« »Jedem, der von der Anstalt verwiesen wurde, steht das Recht zu, nach drei Monaten um Wiederaufnahme zu bitten.«75 Die Hunderter-Paragraphen können in einer »Kurve der moralischen Gesundheit der Anstalt« dargestellt werden: »So wie im Krankenhaus jeder Patient eine Fieberkurve hat, auf einer Tafel, die Krankheit und Gesundheit an-

71. 72. 73. 74. 75.

Urteile. Es gibt ein Organ – die Heimzeitung, in dem er seine eigenen kritischen Gedanken bezüglich einzelner Urteile zum Ausdruck bringen kann – er soll es nicht unmittelbar. … Jeden Abend zur gleichen Zeit sammelt er die Aussagen zur »Prüfung der Streitsachen«. … Neben den Aussagen des Klägers und denen des Angeklagten hält er ggf. auch Aussagen von Zeugen fest. Die Aufnahme und Prüfung der Aussagen ist öffentlich; die Gerichtsverhandlung selbst findet hinter verschlossenen Türen statt. Nur in Ausnahmefällen, wenn die vorliegenden Aussagen ergänzt werden müssen, werden die Betroffenen gerufen. Die Urteile werden am nächsten Tag – in Anwesenheit aller – verlesen. Jeder, der glaubt, dass das Urteil ungerecht sei, kann die Angelegenheit zur erneuten Prüfung vorlegen, allerdings erst nach einem Monat. Der Kläger kann vor der Prüfung des Falls seine Anzeige zurückziehen oder verzeihen. Dann wird das Gericht nicht aktiv in der Sache.« Um eine Vorstellung vom Klagevolumen zu geben, gibt M. Falska beispielhaft alle Aktionen an, die im Nasz Dom während einer Woche (15.-23. Jan.) anfielen. Es waren: Anzeigen insgesamt: 57. Davon zurückgezogen (wegen Verzeihens oder ohne Begründung): 10. Geklärt, aber nicht vor Gericht gebracht: 24. Vom Gericht behandelt: 23. Bestrafende Urteile (§ 100 oder mehr): 10. Zur genaueren Prüfung aufgeschoben: 2. Verzeihende Urteile (unter § 100): 12. SW, Bd. 4, S. 276. Ebd., S. 277. Ebd., S. 283. Ebd. Ebd., S. 279 und S. 284.

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zeigt, so ist an der Gerichtstafel die Kurve der moralischen Gesundheit der Anstalt angeschlagen – auf diese Weise kann man erkennen, ob es gut oder schlecht steht. Wenn das Gericht bei einer Sitzung vier Urteile nach Paragraph einhundert (100 x 4 = 400), sechs Urteile nach Paragraph zweihundert (200 x 6 = 1200) und ein Urteil nach Paragraph vierhundert ausgesprochen hat, so macht das zusammen: 400 + 1200 + 400 = 2000. Auf der Kurve notieren wir, dass in dieser Woche die Urteilssprüche zusammen zweitausend ergeben haben.«76 Nach den ersten Monaten der Gerichtspraxis gab es Probleme im Ablauf der Gerichtsverfahren, weil einige Kinder die Möglichkeit der Anzeige für Bagatellen missbraucht und es so überfordert und in Misskredit gebracht hatten. Nach der öffentlichen Diskussion in einer Gerichtszeitung des Waisenhauses77 wurde das Gericht für vier Wochen suspendiert. Nach vier Wochen des Nachdenkens und Überdenkens wurde es wieder eingeführt, aber es erhielt drei wichtige Ergänzungen. »1. Wer mit seinem Urteil unzufrieden ist, hat das Recht, nach einem Monat Berufung einzulegen. 2. Bestimmte Fälle verweist das Gericht an den Gerichtsrat. 3. Die Kinder haben das Recht, auch Erwachsene, auch das Personal vor Gericht zu bringen.«78 Alle Neuerungen wurden auf ihre Wirkung hin beobachtet und überprüft: Zu 1: Von der Berufungsmöglichkeit wurde kaum Gebrauch gemacht. Zu 2: Der Gerichtsrat bekam viel zu tun; er bearbeitete ca. 7 Fälle pro Woche und bekam die Kompetenzen einer Art zweiten Instanz.79 Im Laufe der Jahre wurde er weiterentwickelt zum Selbstverwaltungsrat mit gesetzgebenden Funktionen.80 Zu 3: Zur Anzeige von Erwachsenen schreibt der Zögling Samuel Gogol: »Großen Eindruck übte auf mich das Gericht des Waisenhauses aus, wenn die Kinder z. B. Korczak wegen eines Scherzes, der einem Kind nicht gefallen oder ihm sogar Verdruss bereitet hatte, vor Gericht brachten. Und Korczak bekam den § ›Hundert‹ und musste das Kind um Entschuldigung bitten. Unser Gericht sprach nicht nur in unseren Angelegenheiten Recht, 76. 77. 78. 79. 80

Ebd., S. 279f. Vgl. ebd., S. 284ff, insbesondere S. 292ff. Ebd., S. 312. Vgl. ebd., S. 296. Vgl. Rogowska-Falska, Maria: Zakład wychowawczy …, a. a. O., S. 42.

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8.10 Die »konstitutionelle« Funktion des Gerichts (1920)

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sondern auch in denen der Erwachsenen, sogar solcher von außerhalb, auch wenn es sich um Lehrer der Schule handelte, die wir besuchten. Man erzählte mir, ein Lehrer habe mit dem Tintenfass nach einem Kind aus dem Waisenhaus geworfen. Das Kind erhob gegen ihn Klage vor Gericht, und der Lehrer wurde aus der Schule entfernt. Dies geschah auf Korczaks Veranlassung. Für uns war das Gericht etwas Mächtiges und sehr Wichtiges. Es war unsere Wehr, unser Schutz, deshalb kam es selten zu gegenseitigen Reibereien und scharfen Konflikten.«81

8.10 Die »konstitutionelle« Funktion des Gerichts (1920) Im Text Dom Sierot der Tetralogie zieht Korczak sein Resümee aus dem gemeinsamen Experiment mit einem Kameradschaftsgericht. Er betont: Das Gericht ist notwendig, weil es hilft, viele Konfliktstoffe aufzudecken und sie einer gerechten und förderlichen Behandlung zuzuführen. Es begrenzt die Macht der Stärkeren, auch die des Erziehers. Hatte er sich doch vordem davon überzeugen können, »dass der Erzieher sich in den Angelegenheiten, die die Kinder betreffen, nicht auskennt; dass die Macht des Erziehers größer ist als seine Kompetenz; dass die ganze Hierarchie darin besteht, dass jeder Ältere das Recht hat, den, der zwei Jahre jünger ist, zu verachten oder ganz einfach nicht mit ihm zu rechnen, und dass die Willkür je nach dem Alter der Zöglinge genau dosiert ist. Und der Aufseher in diesem Gebäude der Rechtlosigkeit ist der Erzieher.«82 Und diese Ungerechtigkeiten verhindert nun das Gericht, denn es sorgt dafür, »dass der Erzieher nicht wie ein Hirte oder Pferdeknecht ganz ordinär mit der Peitsche und Geschrei Gehorsam erzwingen muss, sondern dass er ruhig und verständig – zusammen mit den Kindern überlegt, berät und urteilt. Diese wissen nämlich oft besser, wer Recht hat oder inwieweit einer Unrecht hat. Aufgabe des Gerichts ist es, Zank durch Gedankenarbeit zu ersetzen und Wutausbrüche in pädagogische Einwirkung zu verwandeln.«83 Und seine eigenen Erfahrungen fasst Korczak nach einem halben Jahr Gerichtspraxis so zusammen: »Im Laufe eines Halbjahres habe ich mich selbst fünfmal beim Gericht angezeigt. Einmal, weil ich einem Jungen eins hinter die Ohren gegeben hatte, einmal, weil ich einen Buben aus dem Schlafsaal geworfen hatte, einmal, weil ich einen in die Ecke stellte, einmal, weil ich einen Richter beleidigte, und einmal, weil ich ein Mädchen des 81. Gogol, Samuel: Im Leben begleitete mich Korczak. In: Beiner, F./Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 16. 82. SW, Bd. 4, S. 305. 83. Ebd., S. 301.

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Diebstahls bezichtigt hatte. In den ersten drei Fällen bekam ich § 21, im vierten Fall § 71 und im letzten § 7.84 Jedes Mal hatte ich eine ausführliche schriftliche Aussage vorgelegt. Ich behaupte mit aller Entschiedenheit, dass diese wenigen Fälle Grundstein waren für meine Erziehung zu einem neuen, ›konstitutionellen‹ Pädagogen, der den Kinder nicht deshalb kein Unrecht zufügt, weil er sie gern hat oder liebt, sondern deshalb, weil es eine Institution gibt, die sie vor Ungerechtigkeit, Willkür und Despotismus des Erziehers schützt.«85

8.11 Prinzipien und gesellschaftspolitische Bedeutung Die grundlegenden Prinzipien seines Erziehungsansatzes, nach denen ab 1913 im Dom Sierot und ab 1919 auch im Nasz Dom gearbeitet wird, fasst Korczak 1921 nachträglich so zusammen: »Die gegenwärtige Erziehung ist von dem Grundsatz durchdrungen, dass der Erzieher gegenüber der Gesellschaft für die Kinder verantwortlich ist. Wir möchten die Erziehung auf Grundsätzen aufbauen, wo der Erzieher vor den Kindern für die Gesellschaft verantwortlich ist. Das Ziel der gegenwärtigen Erziehung ist es, die Kinder auf das Leben vorzubereiten, wenn sie dann nach Jahren zu Menschen werden; wir möchten die Allgemeinheit davon überzeugen, dass die Kinder schon Menschen sind und dass man sie wie lebendige und bereits menschliche Wesen behandeln muss. Wir wollen eine Kindergesellschaft auf den Prinzipien der Gerechtigkeit, der Brüderlichkeit, der gleichen Rechte und Pflichten aufbauen. … Wir müssen vorsichtig und behutsam handeln, uns wachsam in Zusammenarbeit mit den Kindern bilden und erziehen.«86 Und zur Umsetzung der Prinzipien sind die Institutionen der Waisenhäuser von unschätzbarer Bedeutung, denn sie sichern allen Bürgern der Republik Zugang zu Öffentlichkeit, Selbstverwaltung, Aufgabenerledigung und Konfliktbearbeitung. Die Institutionen lösten die Macht- und Herrschaftsstrukturen der »alten« Erziehung ab zugunsten einer neuen, der »konstitutionellen« Erziehung. 84. Die genannten Paragraphen des Kollegialgerichtes lauten: § 7: Das Gericht nimmt die Benachrichtigung von diesem Verschulden zur Kenntnis. § 21: Das Gericht ist der Ansicht, dass A das Recht hatte, so zu handeln (zu sprechen). § 71: Das Gericht verzeiht, denn A bedauert, dass er so gehandelt hat. (Ebd., S. 280ff.)

85. Ebd., S. 312. 86. SW, Bd. 9, S. 207f.

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8.11 Prinzipien und gesellschaftspolitische Bedeutung

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Schon im Zusammenhang der Diskussion um das Kollegialgericht hatte Korczak ja festgestellt, dass ein »konstitutioneller« Pädagoge »den Kinder nicht deshalb kein Unrecht zufügt, weil er sie gern hat oder liebt, sondern deshalb, weil es eine Institution gibt, die sie vor Ungerechtigkeit, Willkür und Despotismus des Erziehers schützt«.87 Und auch Maria Falska betont die neue Rolle des erwachsenen Pädagogen im neuen Erziehungsmodell: »Der Erzieher steht vor dem Phänomen, dass er immer mehr durch die Rechte der Gruppe eingeschränkt wird; eingeschränkt durch das Recht – und bewaffnet mit dem Recht. Seine Rolle ändert sich. Nicht mehr Aufseher mit unbegrenzter Macht über die Kinder, sondern Mitarbeiter, konstitutioneller Erzieher.«88 An der Veränderung der bestehenden Macht- und Herrschaftsstrukturen lässt sich die gesellschaftspolitische Relevanz des konstitutionellen Erziehungsansatzes verdeutlichen, die in der Korczak-Literatur bisher kaum gewürdigt worden ist. Erst 2006 wurde in einer Dissertation von Philipp Hermeier dieser Aspekt gesondert thematisiert. Dort heißt es: »Korczaks eigentliches Thema ist die Veränderung des Generationenverhältnisses durch die Einsicht der Erwachsenen in die Ungerechtigkeit bestehender Macht- und Herrschaftsstrukturen. … Korczak fühlt sich berufen, stellvertretend für die Kinder einen Kampf um ihre Befreiung aus der Unterdrückung zu führen.« Bei der Beschreibung dieses Kampfes ist zu unterscheiden zwischen dem »republikanischen« und dem »demokratischen Prinzip«: »Korczak verankert das republikanische Prinzip, indem er sein Hauptanliegen umsetzt, die Macht innerhalb der Strukturen des Waisenhauses zu teilen und die Kinder auf diese Weise über eine zumindest partielle Selbstregulierung und Selbstorganisation in die Ausübung von Leitungs- und Entscheidungsprozessen einzubinden. Das Volk dieser ›Republik der Kinder‹ sind die Kinder und die Erzieher des Waisenhauses. …« Die verschiedenen politisch-pädagogischen Institutionen … repräsentieren ausnahmslos wichtige politische Prinzipien. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Öffentlichkeitsprinzip zu. Korczak versucht, die öffentliche Partizipation der Kinder institutionell zu unterstützen. Dieses Fördern und Fordern kindlicher Teilhabe am Diskurs des Gemeinwesens weist, wie Korczak es ausdrücklich für sein ›Experiment‹ beansprucht, über seine Bedeutung für die Kindergemeinschaft hinaus auf die ›Welt der 87. Ebd., S. 312. 88. Falska, Maria: Umriss der Organisation der Erziehungsarbeit in Nasz Dom. In: SW, Bd. 13, S. 556.

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Erwachsenen‹89, d. h. auf die gesamte Gesellschaft. Hier schließt sich ein großer Motivationsbogen innerhalb der politischen Dimension des korczakschen Denkens. Ausgehend von dem demokratischen Empfinden des Kindes führt Korczak den Nachweis über dessen Qualifikation zur Partizipation am öffentlichen Diskurs zumindest in den Angelegenheiten, die es selbst betreffen. Korczak fordert damit faktisch eine Veränderung des Bürgerverständnisses, indem er, anders als in der Realität der demokratischen Strukturen der Gesellschaft berücksichtigt, das Kind als zur, wenn auch eingeschränkten, aktiven Partizipation an der Demokratie fähig erklärt. Das Kind, so Korczak, ist in der Lage, politisch zu partizipieren, und hat deshalb ein Recht auf diese Partizipation. In der gesellschaftlichen Realität wird dieses Recht jedoch unterdrückt. Der Freiheitskampf Korczaks für die Kinder ist deshalb ein zutiefst demokratischer, da er die in der französischen Revolution errungenen Freiheitsrechte, ähnlich wie im Verlaufe der Geschichte die feministische Bewegung für die Frauen, nun für die Kinder einfordert. Damit wäre die Gesamtheit der aktiven Staatsbürger um die Gruppe der Kinder erweitert.90

89. Vgl.: »… ein Thema für die bewusste Forschung im Rahmen der Beobachtung des Gemeinschaftslebens. Denkanstöße durch eine kleine Gruppe von Kindern des Internats für die Welt der Erwachsenen, ihre Phänomene und ihre Regeln; sie weisen immer deutlicher: von der Selbstverwaltung der Kinder zum Weltparlament.« (SW, Bd. 4, S. 140.) 90. Hermeier, Philipp: Die politische Relevanz der Erziehung bei Janusz Korczak. Göttingen 2006, S. 239f.

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9. Allein mit Gott: 1920–1921 Kriegerische Auseinandersetzungen unterbrechen 1920 Korczaks praktische und konzeptionelle Arbeit an seinem Erziehungmodell. Polen ist zwar wieder unabhängig, aber es wird von seinen ehemaligen Okkupanten noch nicht voll respektiert und kämpft für seine Rechte und ein angemessenes Staatsgebiet. Korczak zieht die Offiziersuniform der polnischen Armee an und versorgt im Range eines Majors Kranke in Seuchenspitälern in Łódź und Warschau. Während seines Dienstes im Warschauer Kamionek-Hospital steckt er sich mit Fleckthyphus an und wird zu Hause von seiner Mutter, Cecylia Goldszmit, gepflegt. Die Zeitung Robotnik berichtet: »Janusz Korczak, der Gründer des besten Kinderhorts in Polen, ist an Flecktyphus erkrankt. Er steckte sich im Militärkrankenhaus für ansteckende Krankheiten, in das er abgeordnet war, an.«1 Tragischerweise infiziert sich seine ihn pflegende Mutter und stirbt am 11. Februar 1920.

9.1 Tod der Mutter (1920) Henryks Trauer und Schmerz scheinen unüberwindbar. In neunzehn Meditationen, die unter dem Titel Allein mit Gott – Gebete derer die nicht beten2 gedruckt werden, verarbeitet er seine Trauer und sein Hadern mit Gott. Das Gebet der Traurigkeit drückt seine Verzweiflung über den Tod der Mutter aus: »Solche Traurigkeit, Gott; Gott, solche Traurigkeit. Graue Traurigkeit, Gott; Gott, graue Traurigkeit. Weder Töne noch Farben, Gott, weder Farben noch Töne. Traurigkeit, Gott, Traurigkeit. … Die Sonne schien, sie schien, sie scheint nicht mehr, Gott, nicht mehr, nicht mehr, die Sonne schien, Gott. Still, traurig, traurig, still. Still, traurig, auf einer schwarzen Welle wiegt sich ein Sarg. Schwarzen Tau von schwarzen Blumen trinken schwarze Schmetterlinge. Nie wird ein Mensch ein Lied anstimmen; das Kind wird nicht mehr lächeln, die letzte Glocke ist geborsten, alle Uhren auf der Welt sind stehen geblieben, der letzte Turm ist zerfallen, gestern erlosch der letzte Stern – wem sollte er leuchten? 1. Robotnik, »Chronika«, 1920, Nr. 36, S. 6. 2. In: SW, Bd. 5, S. 29ff.

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9. Allein mit Gott: 1920–1921

Vorbei, vorbei, Gott, alles ist vorbei. … Weder Farben noch Töne, Gott; Gott, weder Töne noch Farben noch Tränen.«3 Das im Jahr 1921 erscheinende Büchlein Allein mit Gott ist vielleicht der persönlichste Text, den wir von Korczak kennen. Er beginnt mit einer »Widmung« an seine Eltern: »Mütterchen – Väterchen. … Ich danke Euch, dass Ihr mich gelehrt habt, das Flüstern der Toten und Lebenden zu hören, ich danke Euch, dass ich das Geheimnis des Lebens in der schönen Stunde des Todes erfahren werde. Euer Sohn.«4 Die Schrift besteht (wohl in Anlehnung an das jüdische »AchtzehntGebet«) aus neunzehn Gebeten (18 + 1).5 Sie werden von ganz unterschiedlichen Betern gesprochen, die ein breites Spektrum menschlicher Probleme und Gefühlslagen zur Sprache bringen. Am Anfang steht das Gebet einer Mutter, gefolgt vom Gebet eines Knaben, Gebet einer leichtsinnigen Frau, vom Gebet der Klage, Gebet des Übermuts, dem Gebet eines Gelehrten … sowie dem Gebet eines Künstlers. Das Gebet eines Erziehers schließt den Gebetszyklus ab. Wie im Beispiel Gebet der Traurigkeit handelt es sich bei allen neunzehn Gebeten nicht um eingelernte Gebetsphrasen, sondern um Ausdrücke für Not und Sehnsucht derer, die sie sprechen. Neben der Trauer nach dem Verlust eines geliebten Menschen vernimmt man: die Klage einer Mutter, die Angst vor dem Tod ihres Kindes hat und von Gott Glück für ihr Kind fordert; die Sorge eines kleinen Mädchens, das sich über die Ungerechtigkeit der Erwachsenen beklagt und Gott um einen starken Willen bittet; die Probleme eines Jungen, der bei Gott die Erfüllung eines Wunsches – die vom Onkel versprochene Uhr – anmahnt, dabei um Verzeihung seiner Sünden bittet und seine Besserungswilligkeit beteuert. Man vernimmt die Reue und Zweifel einer Prostituierten, die von Gott Verständnis für ihre Leichtlebigkeit erhofft, die Gefühle eines Künstlers, der Gott für seine übermütige Liebe zum Leben dankt, und die des Erziehers, der seine einzigen »Juwelen«, seine »Traurigkeit und Arbeit«, Gott darbringt:

3. Ebd., S. 38. 4. Ebd., S. 65. 5. Wie im jüdischen Achtzehnt-Gebet (Schmone-Esre [hebr.] = achtzehn) besteht Korczaks »Gebetbuch« Allein mit Gott aus neunzehn Gebeten. Vgl. Görtzen, René: Janusz Korczak als unbehauster Gläubiger. In: Ungermann, S./Brendler, K. (Hg.): Janusz Korczak in Theorie und Praxis. Gütersloh 2004, S. 34ff.

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9.3 Die Frage nach der Religion

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9.2 Gebet eines Erziehers (1921) »Ich trage Dir keine langen Gebete vor, o Gott. Sende nicht Seufzer über Seufzer aus … Ich verneige mich nicht in tiefer Demut, bringe kein reiches Opfer dar, um Dich zu preisen und zu Ehren. Ich begehre nicht, mich einzuschleichen in Deine mächtige Gnade, buhle nicht um ehrwürdige Gaben. Meine Gedanken haben keine Flügel, ein Lied hinaufzutragen in den Himmel. Meine Gedanken haben weder Duft noch Farbe, noch sind sie blumenreich. Müde bin ich und erfschöpft. Mein Blick ist geschwächt und mein Rücken gebeugt unter der schweren Last der Pflicht. Und dennoch trage ich eine innige Bitte vor, o Gott. Und dennoch besitze ich ein Kleinod, das ich nicht dem Bruder – dem Menschen – anvertrauen möchte. Ich fürchte, dass es der Mensch nicht versteht, nicht empfindet, nicht beachtet, dass er es verlacht. Wenn ich graue Demut bin vor Deinem Angesicht, Herr, in meiner Bitte stehe ich vor Dir – wie eine flammende Forderung. Wenn ich auch leise flüstere, diese Bitte spreche ich aus mit der Stimme unbeugsamen Willens. Einen befehlenden Blick feure ich über die Wolken. Erhobenen Hauptes fordere ich, denn es ist nicht für mich. Gib den Kindern ein gutes Schicksal, gewähre ihren Anstrengungen Hilfe, ihrem Bemühen Segen. Nicht den leichtesten Weg führe sie, sondern den schönsten. Und als meiner Bitte Draufgeld nimm an mein einziges Kleinod: meine Traurigkeit. Traurigkeit und Arbeit.«6 Die Texte bringen die Ohnmacht, die Schwächen, aber auch den Willen und die Sehnsucht nach Veränderung, nach Besserung des Lebens zum Ausdruck. Und das in Form von Gesprächen mit Gott, in Form von »Gebeten«. Korczak – ein Beter? Ist Korczak ein religiöser Mensch? Dieser Frage soll an dieser Stelle nachgegangen werden:

9.3 Die Frage nach der Religion Schon der junge Korczak schreibt in seiner Beichte eines Schmetterlings (wahrscheinlich 1894): »Im Grunde bin ich ein Zweifler, der Riten ablehnt. 6. SW, Bd. 5, S. 67.

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9. Allein mit Gott: 1920–1921

Aber geblieben ist mir der Glaube an Gott und das Gebet. Beides verteidige ich, da man ohne sie nicht leben kann. Der Mensch kann doch nicht das Produkt blinden Zufalls sein.«7 Und seine undogmatische Glaubenshaltung spiegelt sich lebenslang wider in seiner Freude an allem Lebendigen, Existierenden. Den polnischen Dichter Brodziński zitierend, gibt er in Kinder und Erziehung (1900) seine eigene Auffassung wider: »Ein hervorragender Forscher … kann sagen, dass er nichts hervorragend weiß, aber in allem etwas Hervorragendes wahrnimmt und darin Gott.«8 Vor allem die menschliche Würde verbietet ihm eine zynische Weltsicht, die den Schöpfer dieser Würde bestreitet. Er bewundert die Vielschichtigkeit und Intensität menschlichen Denkens und Empfindens und bringt sie mit Gott in Verbindung: Ein Wesen, das so stark und differenziert empfindet wie der Mensch, kann nicht bloß ein Zufallsprodukt oder ein hochentwickeltes Tier sein. In seinem Pamiętnik heißt es: »Jemand hat irgendwo boshaft geäußert, die Welt sei ein Tröpfchen Schlamm, das im unendlichen Raum schwebe; und der Mensch sei ein Tier, das Karriere gemacht habe. Das mag schon sein. Aber eine Ergänzung: Dieser Tropfen Schlamm kennt den Schmerz, versteht zu lieben und zu weinen und ist angefüllt mit Sehnsucht. Und die Karriere des Menschen ist, wenn er das Gewissen(haft) prüft –zweifelhaft, sehr zweifelhaft.«9 Seine religiöse Grundhaltung, die in einer »nicht konfessionell eingeengten Religiosität«10 besteht, überträgt Korczak auf seine pädagogische Arbeit. Er will den Waisenkindern hierdurch einen seelischen Halt geben. Gott gilt ihm als Orientierung, durch die ein Verständnis der Welt sowie humanes Leben erst sinnvoll erscheinen. Eine Ablehnung des Glaubens bedeutet ihm gleichzeitig einen Verzicht auf notwendigen moralisch-ethischen Halt und menschliche Seinsdeutung. »Wie kindisch ist die Hoffnung der Eltern (nennt sie bloß nicht fortschrittlich), dass man den Kindern das Verständnis der Welt, die sie umgibt, erleichtert, wenn man ihnen sagt: Es gibt keinen Gott. Wenn es keinen Gott gibt, was ist dann; wer hat das alles gemacht …?«11 Sein Glaube an einen guten Schöpfergott verbindet sich mit der Überzeugung , dass das Gute gesucht, gelebt und verwirklicht werden kann, auch 7. 8. 9. 10.

SW, Bd. 3, S. 91. SW, Bd. 9, S. 97. SW, Bd. 15, S. 303. Switalski-Ebersmann, Jolante: Die politisch-kulturelle Entwicklung Polens (1815–1939) und Janusz Korczaks Beitrag für die Erneuerung der Erziehung. Phil. Diss., Gießen 1979 (MS), S. 160. 11. SW, Bd. 4, S. 107; vgl. auch Bd. 9, S. 450.

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wenn der gegenwärtige Zustand der Welt dagegen spricht. Mit den Kindern Gott zu suchen und Mitmenschlichkeit zu praktizieren ist für ihn darum eine wichtige Aufgabe der Erziehung. Dennoch muss jedes Kind hier seinen eigenen Weg finden. So schreibt er in dem zitierten Abschiedsbrief an die Zöglinge, die das Heim verlassen: »Wir geben euch keinen Gott, denn ihr müsst Ihn selbst in der eigenen Seele, in einsamer Bemühung, suchen. … Wir geben euch eines: die Sehnsucht nach einem besseren Leben, das es nicht gibt, aber einmal geben wird, nach einem Leben der Wahrheit und Gerechtigkeit. Vielleicht wird euch diese Sehnsucht zu GOTT, zum Vaterland und zur Liebe führen. …«12 Trotz dieser religiösen Grundeinstellung kann man Korczak im landläufigen Sinne aber kaum als einen »religiösen Menschen« bezeichnen. Berücksichtigt man allerdings das ostjüdische (chassisische) Umfeld, von dem Korczak ja in Polen umgeben ist13, so fällt auf, dass sich bedeutende Existentialien und Maximen seines Lebens durchaus religiös interpretieren lassen. Hella Kirchhoff hat vier solcher Lebensmaximen, nämlich – Entscheidung, Handlung, Situationsdenken und Verantwortung – in Korczaks Lebenseinstellung und Lebensvollzug nachgewiesen.14 Im Chassidismus charakterisieren diese (nach der Interpretation des Chassidismus-Experten Martin Buber) den »rechten Weg des Menschen in dieser Welt«.15 Dem soll im Folgenden nachgegangen werden. Ein besonderes Kennzeichen jüdischer Religiosität im Buber’schen Sinne ist die Unbedingtheit der Entscheidung zu einer notwendigen Handlung. Der sich nur im Denken realisierende Mensch wird abgelehnt und stattdessen die Einheit von Denken und entscheidendem Handeln gefordert. 12. SW, Bd. 13, S. 370. 13. Aufgrund seines Lebens und Denkens erblicken manche Interpreten in Korczak gleichsam den »letzten chassidischen Heiligen«. Vgl. Roos, Hans: Janusz Korczak – Tradition …, a. a. O., S. 355. 14. Vgl. Kirchhoff, Hella: Dialogik und Beziehung im Erziehungsverständnis Martin Bubers und Janusz Korczaks. Frankfurt/M. 1988. Vgl. auch: Beiner, F./Kirchhoff, H.: Zum religiösen Hintergrund von Korczaks Leben und Werk. In: Licharz, W./Karg, H./v. Natzmer, F. (Hg.): Janusz Korczak in seiner und in unserer Zeit. Frankfurt/M. 19904, S. 95ff. 15. Vgl. Buber, Martin: Vom Geist des Judentums. Reden und Geleitworte. Leipzig 1916. Ders.: Das dialogische Prinzip. Heidelberg 1973. Nach neueren Untersuchungen erscheint es nicht als ausgeschlossen, dass Buber und Korczak einander über den gemeinsamen Freund Stanisław Brzozowski gekannt haben.

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Eine so verstandene Entscheidung lässt sich an Korczaks Hinwendung zur Pädagogik ablesen, die er selbst als »Verrat an der Medizin«16, als »Scheidungsprozess«17 bezeichnet. Eine Entscheidung impliziert das Merkmal der Ausschließlichkeit, d. h. eine Wahl zwischen sich ausschließenden Möglichkeiten. Eine Entscheidung als Scheidungsprozess. Diese Wahl hat Korczak getroffen, indem er sich entschieden hat, sein Leben den (Waisen-)Kindern zu widmen. Er hat einen Scheidungsprozess vollzogen, indem er sich von seinem Beruf als Arzt abwandte; auch wenn diese Entscheidung mit Schmerzen verbunden war: »Für den Rest meiner Jahre wird mich das unangenehme Gefühl begleiten, dass ich desertiert bin. Ich habe am kranken Kind, an der Medizin, am Spital Verrat begangen.«18 Korczak weist wiederholt darauf hin, dass jeder Mensch für sich selbst, oft unter mühsamem Ringen und Suchen, eine Entscheidung im Hinblick auf sein Lebensziel und seinen Lebensweg zu treffen hat. Empfehlungen oder Entscheidungen anderer Menschen ersetzen nicht das eigene Nachdenken. Darum wird der Leser in Wie liebt man ein Kind davor gewarnt, Korczaks Entscheidungen und Erkenntnisse fraglos zu übernehmen, davor gewarnt, fremde Gedanken zu »adoptieren«, sich diese unreflektiert zu eigenen zu machen und damit die eigene Wahl und Entscheidung zu umgehen.19 Jeder Mensch hat nach Korczak – wie nach der Lehre der Chassidim – einen bestimmten Lebensauftrag, den er erst entdecken muss und dem er Folge leisten kann. Das heißt, die Entscheidung, die er zu treffen hat, besteht darin, den »Ruf des Lebens« zu hören oder zu überhören und sich damit ihm zu verschließen – das Leben zu »ergreifen« oder vorbeifließen zu lassen. Menschliches Leben bedeutet also: ein wahl- und entscheidungsbedingtes, zielgerichtetes Leben, welches nicht im Wort, sondern in der Handlung seinen existentialen Vollzug und Ausdruck findet. In seinen Reflexionen über Die Einsamkeit des Alters wird Korczak (1938) diesen »Ruf des Lebens«, auf den jeder Mensch handelnd zu antworten hat, so thematisieren: »Das Leben? Hast du es sehr durcheinander gebracht, oder hat es sich selber irgendwie verworren – sich verströmt, und du weißt nicht einmal, wie. Hast du es nicht rechtzeitig bemerkt, oder hat das Leben dich übersehen? Es hat nicht gerufen; vielleicht hast du 16 17. 18. 19.

Vgl. SW, Bd. 15, S. 322. Vgl. Newerly, I.: Einleitung …, a. a. O., S. XVIII. SW, Bd. 15, S. 322. Vgl. SW, Bd. 4, S. 143, 147f.

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nicht hingehört – hast dich verhört, nicht begriffen, es nicht rechtzeitig geschafft? Bist du gleich herbeigeeilt bei seinem Ruf oder nur träge dahingeschlurft?«20 Auch Igor Newerly – engster Mitarbeiter Korczaks – verweist auf den Zusammenhang zwischen Entscheidung und Handlung. Eine Entscheidung ist seiner Auffassung nach nur von Bedeutung, wenn sie sich in Handlungen im gelebten Leben niederschlägt. Der Wert einer Entscheidung misst sich an ihrer praktischen Umsetzung. »Er (Korczak) ist sich dessen bewusst, dass alle unsere Ideale und Wahrheiten nur den Wert besitzen, den wir ihnen durch unser eigenes Leben verleihen. Und er hat das Thema seines Lebens bereits gefunden: das Kind. ›Ich habe es gelobt und will dabei bleiben: Der Sache des Kindes bin ich verpflichtet.‹«21 Für Martin Buber konstituieren Entscheidung und Handlung eines Menschen erst das, was für ihn »Welt« bedeutet, d. h. dem einzelnen Menschen werden nur auf diese Weise Anteil- und Einflussnahme am Weltgeschehen ermöglicht. »Die Entstehung der Welt und die Aufhebung der Welt sind nicht in mir; sie sind aber auch nicht außer mir; sie sind überhaupt nicht, sie geschehen immerdar, und ihr Geschehen hängt auch mit mir, mit meinem Leben, meiner Entscheidung , meinem Werk, meinem Dienst zusammen, hängt auch von mir, von meinem Leben, meiner Entscheidung , meinem Werk, meinem Dienst ab. Aber nicht davon, ob ich die Welt in meiner Seele ›bejahe‹ oder ›verneine‹, sondern davon, wie ich meine Seelenhaltung zur Welt zu Leben, zu welteinwirkendem Leben, zu wirklichem Leben werden lasse …«22 Entscheidung und Handlung bestimmen ständig unser Leben, auch im Bereich der Erziehung. Erziehung ereignet sich in einer Kette von folgenreichen Entscheidungen und Handlungen. Sich bei diesen Erziehungshandlungen allein auf andere, auf Theorien oder auf Routinen oder ausgetretene Bahnen zu verlassen, hält Korczak für höchst fragwürdig. Selbst ausgewiesenen Fachautoren begegnet er skeptisch: »Der Autor beweist mit zahlreichen Zitaten, dass er belesen ist. Er wiederholt noch einmal, was schon allgemein bekannt ist. Dieselben frommen Wünsche, barmherzigen Lügen, undurchführbaren Ratschläge. – Der Erzieher sollte … sollte … sollte. – Und letztlich muss er in allen unwichtigen und wichtigen Dingen selbst entscheiden, so wie er 20. SW, Bd. 3, S. 378. 21. Newerly, I.: Einleitung …, a. a. O., S. XVII. 22. Buber, M.: Das dialogische Prinzip …, a. a. O., S. 95f.

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9. Allein mit Gott: 1920–1921

es eben weiß und wie er es kann und, was das Wichtigste ist – wie er es vermag.«23 Korczak warnt z. B. die Mütter, Sollensvorschriften für die Erziehung von anderen fraglos zu übernehmen; er fordert sie stattdessen auf, basierend auf eigenen Beobachtungen und Überlegungen, selbst Entscheidungen zu treffen, d. h. unter den konkret vorliegenden Bedingungen selbstverantwortlich zu handeln. Er rät einer Mutter, nicht auf eigene Beobachtungen – selbst in den Nächten – zu verzichten: „Sie können dir geben, was kein Buch, kein guter Rat zu geben vermögen. Hier liegt nämlich das Wesentliche nicht nur im Wissen, sondern in einem tiefen seelischen Umschwung, der dich nicht zu nutzlosen Überlegungen zurückkehren lässt: was sein könnte, was sein sollte, was gut wäre, wenn doch …, sondern dich lehrt, unter den gegebenen Bedingungen zu handeln«24 – und damit Verantwortung zu übernehmen. Denn Entscheidung und Handlung – in der Erziehung wie im Lebensvollzug – beziehen sich jeweils auf eine bestimmte Situation und verlangen die Übernahme von Verantwortung. Es geht darum, den »Anspruch« einer konkreten Situation zu »hören«, mit allen Sinnen und mit dem Herzen wahrzunehmen, um dann dieser Situation entsprechend richtig zu »antworten«. Erst die Offenheit für diesen Anspruch macht mich fähig, ihm gerecht zu werden und verantwortlich handelnd zu antworten. Nach chassidischer Auffassung ist das Geschehen in der Welt göttlicher Anspruch an alles Lebendige, von dessen Wahrnehmung alles abhängt: »… leben heißt angeredet werden, wir brauchen uns nur zu stellen, nur zu vernehmen.«25 Der Mensch kann diesem Anspruch des Lebens dann antworten oder aber den Anspruch überhören, eine Antwort schuldig bleiben. Wenn er jedoch die jeweilige Situation wahrnimmt und fühlend, denkend und handelnd antwortet, übernimmt er Verantwortung für sein Leben und Tun. Zugespitzt und auf die Religion bezogen heißt es bei Buber: »Ich kenne keine Fülle mehr als die Fülle jeder sterblichen Stunde an Anspruch und Verantwortung. Weit entfernt davon, ihr gewachsen zu sein, weiß ich doch, dass ich im Anspruch angesprochen werde und in der Verantwortung antworten darf … . Vielmehr weiß ich nicht. Wenn das Religion ist, so ist es einfach alles, das schlichte gelebte Alles in seiner Möglichkeit der Zwiesprache.«26

23. SW, Bd. 4, S. 145. 24. Ebd., S. 22. 25. Buber, M.: Das dialogische Prinzip …, a. a. O., S. 153. 26. Ebd., S. 159.

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9.3 Die Frage nach der Religion

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Religion ist daher für Buber wie wohl auch für Korczak nichts Sakrales, dem Alltag Enthobenes, sondern vollzieht sich in der Profanität, durch ständiges Entscheiden und Handeln, durch situationsentsprechendes Antworten und Verantworten. Und der Erwerb und die Ausübung von Verantwortungsbewusstsein führen zur Einheit des gelebten Lebens, d. h. zur Kongruenz von Einstellungen und Handlungen – eine altjüdische Forderung –, die Korczak in einem letzten Sinn gelebt hat, auch in den schwersten Tagen seines Lebens.

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10. Erzieher der ErzieherInnen: 1921ff Ab dem Jahr 1921 ist Korczak nicht mehr nur der Erzieher der Kinder, sondern auch ein Erzieher der ErzieherInnen und das nicht nur im Dom Sierot und Nasz Dom. Er wirkt in mehreren Bereichen als pädagogischer Lehrer: – Die pädagogischen MitarbeiterInnen der Außenstation »Różyczka« arbeiten nach seinen Methoden und Ideen; – er hält Referate, beispielsweise: Der Frühling und das Kind sowie Über die Schulzeitung; – er beteiligt sich an der Ausbildung von Kindergärtnerinnen; – in den Bursen der Waisenhäuser hilft er angehenden ErzieherInnen, praktische pädagogische Erfahrungen zu sammeln.

10.1 In der Kolonie »Różyczka« (1921) Korczak hatte bereits vor einigen Jahren im Wochenblatt des Dom Sierot darüber berichtet, dass sich die Mitglieder der Gesellschaft »Hilfe für Waisen« auf ihren Jahresversammlungen stets über den Stand der Erziehung im Dom Sierot informieren und sich erkundigen, »was man noch tun muss, damit es die Kinder besser haben. Also haben wir einmal gesagt, dass im Sommer nur 2 Jungen aufs Land fahren konnten, und alle anderen Kinder saßen in der Stadt, obwohl sie so gerne gefahren wären. Damals haben sie beschlossen, dass man im Sommer ein Haus für die Kinder bauen müsse, damit sie in den Ferien dort hinfahren können; und wenn jemand hustet oder nicht zunimmt, dann sollte er auch den Winter über auf dem Land bleiben können.«1 Dieser Wunsch geht im Jahr 1921 in Erfüllung: Das Dom Sierot erhält eine Außenstation auf dem Lande. Im einem Jahresbericht der Gesellschaft heißt es: »Auf dem 10 Morgen großen Landgut, das uns von Maksymilian Cohn gespendet wurde, haben wir eine eigene Sommerkolonie eingerichtet.« In Gocławek, in der Gemeinde Wawer nahe Warschau, entsteht die Kolonie »Różyczka«, so genannt nach der Tochter (Röschen) des Spenders. Różyczka soll nicht nur den Kindern des Dom Sierot, sondern auch Kindern anderer Erziehungsanstalten zur Erholung dienen. Nach dem Vorschlag von Dr. Eliasberg, dem Vorsitzenden der Gesellschaft, pachtet der Verein zusätzlich 20 Morgen Land in der Nachbarschaft des Koloniegebäudes, um dort eine Landwirtschaft zu betreiben. Auf dem Bauuernhof 1. SW, Bd. 13, S. 369.

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10.2 Der Frühling und das Kind und Über die Schulzeitung (1921)

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sollen Lebensmittel für das Waisenhaus erwirtschaftet werden: »Wir beginnen mit dem Aufbau eines Bauernguts. Womöglich ist es ein riskantes Unterfangen, aber notwendig; ohne eigenes Mehl, eigene Kartoffeln und Milch sowie eigenes Gemüse – werden wir den Bedürfnissen nicht gerecht.«2 Der Hof wird sich mit der Zeit zu einem Lehrhof für Zöglinge des Dom Sierot entwickeln, auf dem einige nach Verlassen des Heims die Landwirtschaft erlernen können. In der Różyczka wird später auch ein Kindergarten entstehen. Die Betreuung der Kinder unterschiedlichen Alters erfolgt über pädagogische »Multiplikatoren«: Mitarbeiter aus der Burse, die in der Różyczka nach Korczaks Methoden und Ideen arbeiten. Und Korczak selbt wird in den Sommermonaten gerne Gast in der Różyczka sein.

10.2 Der Frühling und das Kind und Über die Schulzeitung (1921) »Der Saal war überfüllt«, schrieb das Tageblatt des Regierungskommissariates für die Hauptstadt Warschau, als Janusz Korczak im Rahmen einer Vortragsreihe am 22. April 1921 im großen Saal der Warschauer Hygiene-Gesellschaft zum Thema Der Frühling und das Kind3 referiert hatte. »Mit dem Ziel der Popularisierung der Idee der Fürsorge für Kinder und Jugendliche unter der breiten Masse der Bevölkerung« hatte das »Polnisch-Amerikanische Komitee für Kinderhilfe« unter Mitwirkung der »Polnischen Gesellschaft für Pädiatrie« einen Vortragszyklus organisiert, den Korczak als Mitglied des Organisationsrates eröffnete.4 Trotz seiner politischen Hoffnungen am »Frühling« der Unabhängigkeit Polens, »am Morgen seiner Befreiung«5, sieht sich Korczak genötigt, bei den Zuhörern seines Vortrags einen »Frühling« für das Kind erst anzumahnen: »Das Kind ruft nach Befreiung, das Kind ruft um Hilfe. Das Kind hasst seine Kindheit, – es erstickt. – Kind – ist ein Schimpfwort. Ein Junge protestiert gegen die Sklaverei der Kindheit und manifestiert seine Unabhängigkeit mit einer bitteren, gestohlenen Zigarette zwischen den Zähnen. Diese idyllische Kindheit wurde den Kindern so vergällt, dass die Jugendlichen ohne Bedenken in den Abgrund springen, nur um vor dem verhassten Morgen – dem Frühling des Lebens – davonzulaufen und als Ruine ins Erwachsenenalter einzusteigen. 2. Bericht der Gesellschaft »Hilfe für Waisen« für das Jahr 1921. In: Falkowska, Maria (Hg.): Myśl pedagogiczna …, a. a. O., S. 214. 3. SW, Bd. 5, S. 7ff. 4. Falkowska, Maria (Hg.): Myśl pedagogiczna …, a. a. O., S. 342. 5. Halecki, Oskar: Geschichte Polens. Frankfurt/M. 1970, S. 227.

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10. Erzieher der ErzieherInnen: 1921ff

Ein Drittel der Menschheit sind Kinder und Jugendliche, ein Drittel des Lebens ist die Kindheit. Kinder werden nicht erst zu Menschen – sie sind bereits welche. Von den Erträgen und Reichtümern der Welt gehört ihnen ein Drittel – und dies zu Recht und nicht aus Gnade. Die Früchte eines Drittels der siegreichen Gedanken der Menschheit gehören ihnen. Ich sagte einmal im Gespräch mit einem Richter: ›Wenn ein Drittel der Warschauer Bevölkerung Kinder und Jugendliche sind, dann sollte jedes dritte Haus, jedes dritte Geschäft, jede dritte Straßenbahn zu ihrem Nutzen sein. Dass heute nicht der Mensch, sondern die Maschine produziert, ist das Erbe der Anstrengungen früherer Generationen. Wir, die Erwachsenen, haben die Kinder um ihr Erbe gebracht.‹ Der Hüter des Rechts hörte aufmerksam zu und antwortete nach kurzer Überlegung: ›Wissen Sie: Das ist für mich neu. Ich habe noch nie daran gedacht, dass Kinder – auch Bevölkerung sind.‹«6 Und mit dieser Einstellung stand der »Hüter des Rechts« offenbar nicht allein, denn der Referent hatte im selben Vortrag noch über Schlimmeres zu berichten, nämlich über »eine Episode« aus den letzten Tagen: »In Utrat hält der Zug nur für eine Minute. Eine kleine Gesellschaft steigt ein: drei Frauen und ein fünfjähriges Kind – Gedränge – Hast. ›Steig ein – hier ist kein Platz – schneller – danke.‹ Sie haben Plätze ergattert, jetzt lachen sie. ›Bleib bei mir stehen – hörst du?‹ ›Warum heult sie?‹ ›Als der Zug einlief, ist sie auf einmal weggelaufen.‹ ›Ich wollte zu der Tante.‹ ›Nein, du hast nichts zu wollen.‹ An mehr kann ich mich nicht erinnern – das Kind wischt mit dem Taschentuch die blutende Lippe: Die Mama hat ihr eine Ohrfeige gegeben. Und sie führen das lustige Gespräch fort. Ich frage nun, was würde geschehen, wenn kein Kind, sondern ein Erwachsener, ein weniger Empfindlicher, der das Leben kennt, weil er sich tausendmal mit ihm herumschlagen musste und schon abgehärtet ist – ungerechtfertigt im Gedränge eins in die Fresse bekommen hätte? Ich frage mich, was würde der für einen Krach schlagen? Das Geheimnis liegt darin, dass man sich erst durch einen ganzen Müllhaufen von Unrecht und Ohrfeigen hindurchwühlen muss, um die menschlichen Gefühle eines erst zehnjährigen Menschen zu ertasten. Darum fordere ich, endlich aufzuhören mit dem falschen Schein unseres zärtlichen und gefühlsduseligen, geradezu gnädigen Verhältnisses zum 6. SW, Bd. 5, S. 25.

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10.2 Der Frühling und das Kind und Über die Schulzeitung (1921)

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Kind, stattdessen sollte man fragen, welche Rechte es hat. Die Wärme des mütterlichen Herzens – ist heute nur noch eine Phrase. Ich fordere eine durchdachte, konkrete, wissenschaftliche Definition.«7 Die Forderung, die der Autor als Schlussfolgerung aus der »Episode« zieht, überrascht: Zwar ist das geringschätzende Verhalten der Mutter für ihn Anlass, nach Rechten des Kindes zu fragen, aber er greift für seine Schlussfolgerung nicht auf die von ihm selbst 1918 proklamierten »Grundrechte« zurück, sondern fordert eine »durchdachte, konkrete, wissenschaftliche Definition«. Es fehlt ihm für eine angemessene Kommentierung des Geschehens anscheinend noch etwas Entscheidendes, damit Kinder in ihrer Würde geachtet und wie selbstverständlich vor Übergriffen der Erwachsenen geschützt werden. Er vermisst einen allgemein anerkannten, quasi »wissenschaftlich definierten« Rechtsstatus der Kinder, der in der derzeitigen Gesellschaft nicht vorliegt. Auf dieses Problem wird er 1929 im Zusammenhang einer öffentlichen Diskussion über Kinderrechte in Polen wieder zurückkommen, um sein »Grundgesetz für das Kind« von 1918 mit einem zusammenfassenden Recht des Kindes auf Achtung zu vervollständigen. Über die Schulzeitung (1921) In der Schriftenreihe des »Verbandes Polnischer Allgemeinschullehrer« setzt sich Korczak als einer der ersten Pädagogen mit Nachdruck für eine Schülerpresse ein: »Ich glaube fest daran, dass es einen Bedarf an Zeitungen für Kinder und Jugendliche gibt, aber eben an solchen Zeitungen, deren Mitarbeiter sie selbst sein sollten, an Zeitungen, die Themen berühren sollten, die wichtig und interessant für sie sind und nicht nur – Wochenblättchen mit Märchen und Verschen. … Welchen Nutzen bringt eine Schulzeitung? – Einen ganz großen! – Sie lehrt die gewissenhafte Erfüllung freiwillig übernommener Pflichten, sie lehrt planvolles Arbeiten, das sich auf die vereinte Anstrengung verschiedenartiger Menschen stützt, sie lehrt Mut, die eigenen Überzeugungen auszusprechen, sie lehrt eine anständige Auseinandersetzung mit Argumenten, nicht mit Streiterei, sie schafft Klarheit, wo ohne Zeitung Klatsch und Verleumdung herumgeistern, sie ermutigt die Mutlosen, gibt den zu Selbstsicheren eins auf die Nase – reguliert und steuert die öffentliche Meinung, sie ist das Gewissen der Menge. Du hast etwas auszusetzen, so schreib an die Zeitung; du ärgerst dich, so schreib; du wirfst mir Unklarheit 7. Ebd., S. 23f.

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10. Erzieher der ErzieherInnen: 1921ff

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oder ein Missverständnis vor, bitte – ein offener Disput unter Zeugen, ein Dokument, das du später nicht abstreiten kannst. Eine Zeitung bringt Annäherung, verbindet die Schüler einer Klasse oder der ganzen Schule miteinander, dank einer Zeitung lernen sich welche kennen, die sich überhaut nicht kannten, und sie bringt diejenigen zum Vorschein, die sich in der Stille mit der Feder in der Hand konzentrieren und ausdrücken können, im lauten Disput aber niedergeschrieen werden.«8 Die Schrift Über die Schulzeitung ist ein weiteres Dokument für Korczaks Eintreten für Öffentlichkeit, für Zivilcourage und schriftliche Kommunikation!

10.3 Ausbildung von Kindergärtnerinnen (1922ff) Ida Merzan berichtet über ihre erste Begegnung mit Korczak während ihrer Kindergärtnerinnen-Ausbildung: »Der Unterricht sollte etwas später beginnen, also wartete ich ungeduldig auf ihn. Die Hörerinnen, die ihn aus dem vorherigen Kursus kannten, sagten, seine Vorträge seien sehr interessant, aber schwierig. Sie könnten sie nicht wiedergeben. ›Aber worüber spricht er?‹, fragte ich neugierig. ›Über das Kind‹, antworteten sie. Mehr konnten sie nicht sagen. Schließlich hieß es, er käme. Er kam jedoch nicht, dagegen bat er um Zustellung von Erinnerungen aus unseren Kinderjahren. Wir schrieben rasch etwas nieder, und eine Freundin brachte Korczak unsere Hefte. … Endlich traf er ein. Mit schnellem, federndem, militärischem Schritt betrat er den Klassenraum, bekleidet mit einem grauen Anzug. Er beeindruckte mich sehr. ›Das ist ein Mann der Tat‹, dachte ich. Er vertrat eine andere Welt, als ich sie bis jetzt kannte. Er legte unsere Hefte schweigend auf den Tisch und erfasste mit aufmerksamem Blick die ganze Klasse. Das Schweigen dauerte lange. Dann fing er an zu sprechen. Der erste Vortrag war der Auftakt zur Pädologie. Ich habe nicht mitgeschrieben, weil ich so ins Hören vertieft war. Ich sehe noch Korczaks graue Silhouette an der Tafel. Er zeichnete Diagramme und Tabellen. Er war dauernd in Bewegung. Das, was er sagte, war klar und überzeugend. Der Verlauf des Vortrags war übersichtlich, seine Worte einfach: Dem Kind auf der Welt gehe es schlecht. Man müsse ihm helfen. Und dann: ›Also, meine Herrschaften, ich habe Eure Kindheitserinnerungen gelesen. 60 ehrliche Bekenntnisse. Von denen sind 58 traurig und nur zwei fröhlich. So ist das Leben des Kindes. Diese Erinnerungen an die Trauer und das Nichtver8. SW, Bd. 13, S. 97ff.

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10.4 ErzieherInnen-Ausbildung in der Burse (1923ff)

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stehen der Welt der Erwachsenen wird aus der Kindheit hervorgebracht. Dies betone ich.‹ … Zu dem Gedanken ›im Schmerz wird der Mensch geboren, und mit Schmerz erringt er jede neue Erfahrung‹ kehrte Korczak oft zurück, sowohl in theoretischen Betrachtungen wie auch in der Analyse der einzelnen Beispiele. Er lehrte uns auch, dass sich das Kind von Erwachsenen nicht nur in der Quantität von Gefühlen und Gedanken unterscheidet, sondern auch in ihrer Qualität. Das Empfinden des Kindes ist tiefer und ehrlicher. Und das soll man nicht vergessen. … Nach jedem Vortrag sammelte Korczak Fragen. Sie konnten anonym sein. Alles hielt er für wichtig und beantwortete sie zu Beginn der folgenden Unterrichtsstunde. Auf die Frage, warum er sich für die Kinder aufopfere, antwortete er: ›Es lügt der, der behauptet, er würde sich für etwas oder jemanden aufopfern. Einer liebt die Karten, ein anderer die Frauen, jemand versäumt kein Pferderennen – ich liebe die Kinder. Ich opfere mich nicht auf, ich tue das nicht für sie, sondern für mich. Ich brauche das. Diejenigen, die das Aufopferung nennen, sind verlogen und heuchlerisch.‹«9

10.4 ErzieherInnen-Ausbildung in der Burse (1923ff) Im Jahr 1923 wird im Dom Sierot in zwei Zimmern in der ersten Etage die sog. Burse für Zöglinge über vierzehn Jahren eingerichtet, die das Waisenhaus sonst verlassen müssten. Die Burse bietet ihnen stattdessen die Möglichkeit, die Schule oder eine Ausbildung zu beenden. Die Mitglieder der Burse sind verpflichtet, für Kost und Logis täglich 3 bis 4 Stunden im Dom Sierot zu arbeiten. Im Jahre 1925 wird sich das Profil der Burse etwas ändern: Statt nur Zöglinge aus dem eigenen Hause werden auch Teilnehmer von Lehrerseminaren und aus Kursen für Erzieher, Studenten der Universität und andere junge Menschen aufgenommen, die ihr theoretisches Wissen über Erziehung mit pädagogischer Praxis verbinden möchten. Für Unterkunft und Verpflegung sind auch diese Bursisten verpflichtet, ihre Arbeitskraft für 3 bis 4 Stunden täglich in den Dienst des Dom Sierot zu stellen. Welche Überlegungen zur Gründung einer derartigen Burse im Internat Dom Sierot geführt haben, beschreibt Korczak so: »Das frühere Personal ist alt, es verbraucht sich und ermüdet. Die Jugend hat einen unverwüstlichen Vorrat an Energie, den man zum Wohl der Kinder nutzen 9. Merzan, Ida: Aby nie uległo zapomnieniu (Auf dass nichts in Vergessenheit gerät). Warszawa 1987, S. 13ff.

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10. Erzieher der ErzieherInnen: 1921ff

kann, und ihr Enthusiasmus kann der Organisation Gewinn bringen. Sie werden vorausstürmen; wir werden aufpassen und sie im Zaum halten. Das Budget der Einrichtung erlaubt uns nicht, zahlreiches und gut ausgebildetes Personal zu halten. Die Burse, die Jugend, kann beim Sport eine leitende Funktion übernehmen, beim Spiel, bei der Handarbeit, beim Musizieren, beim Singen und beim Tanz. Die Internate beklagen sich über den Mangel an qualifizierten Erziehern. Die Bursisten wären Hospitanten, die in alle Details des Internatslebens Einblick nehmen könnten, sie könnten die Technik der Führung einer Gruppe in den Grundzügen kennen lernen, und sie könnten hier gefahrlos und ohne starke Erschütterungen die Illusionen und die Vorurteile der Jugend loswerden und sich auf eine zukünftige, selbstständige Arbeit in der Schule oder im Internat vorbereiten. Im Verhältnis zu den Zöglingen des Dom Sierot soll die Burse ein Mittelding sein zwischen einer Auszeichnung, einer Vorbereitung auf ein selbstständiges Leben und der Möglichkeit, Voraussetzungen für eine Fachausbildung oder ein Studium zu erlangen.«10 Die Alltagsprobleme der Burse des Dom Sierot werden im Wochenblatt der Burse veröffentlicht. Korczak schreibt einen Einleitungsartikel, die Bursisten berichten über ihre Arbeit und Probleme mit den Kindern, Stefania Wilczyńska legt vor allem organisatorische Angelegenheiten dar. Die Artikel werden in ein großformatiges dickes Heft eingetragen, das in einem Schrank zusammen mit dem Wochenblatt des Dom Sierot (der Heimzeitung der Kinder) aufbewahrt wird. Die Bursisten greifen individuell nach dem Wochenblatt der Burse, es wird nicht öffentlich verlesen wie das Wochenblatt der Zöglinge. Einige erhalten gebliebene Korczak-Beiträge für das Wochenblatt der Burse sind in den Sämtlichen Werken, Bd. 9, S. 487ff, abgedruckt. Dort ist auch das berühmte Zitat zu finden, in dem Korczak festhält, dass in der Erziehung alles ein Experiment ist, das anstelle von Dogmen das erzieherische Handeln leiten sollte.11 Wie sie als angehende Bursistin mit dem Regel- und Erziehungssystem des Dom Sierot vertraut wurde, erzählt Sara Biberman, Studentin des hebräischen Lehrerseminars: »Ich möchte erzählen, was mir an meinem ersten Tag im Dom Sierot widerfahren ist. Es verhielt sich wie folgt: Um ein Uhr Nachmittag hatte ich Dienst im Saal. Es war ein trüber Tag. Die Kinder spielten 10. SW, Bd. 9, S. 488. 11. Vgl. ebd., S. 519.

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10.4 ErzieherInnen-Ausbildung in der Burse (1923ff)

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im Saal, und die älteren Jungen spielten im Hof Ball. Plötzlich hörte ich ein Scheppern. Ich wusste nicht, was passiert war, bis ich die zerbrochene Scheibe bemerkte. Ich war aufgeregt, dass es gerade während meiner Aufsicht passierte. Ich lief auf den Hof und nahm den Jungen den Ball weg. Sie reagierten damit, dass sie ohne mit mir über den Vorfall zu sprechen, in den Saal liefen, wo sich die Anzeigetafel – und die Beschwerdeliste – befanden, und schrieben eine Beschwerde über mich, dass ich ihnen den Ball weggenommen hätte. Eines der älteren Mädchen merkte, dass ich sehr erstaunt über das Verhalten der Jungen war, und kam auf mich zu. Sie kannte sich mit dem Rechtskodex aus, der im Dom Sierot herrschte, und erklärte mir, dass ich anhand des Kodex nicht das Recht hatte, den Jungen den Ball wegzunehmen, sondern eine Beschwerde darüber hätte einreichen müssen, dass die Jungen die Scheibe zerschlagen hatten. Ich notierte diesen Vorfall in mein Notizheft, das zu jener Zeit jeder Bursist bei sich trug und einmal in der Woche vom Herrn Doktor und Frau Stefa durchgesehen wurde. Denn es war so: Nach dem Durchlesen der Bursistennotizen durch Herrn Doktor und Frau Stefa sagten diese uns ihre Meinung zu den Angelegenheiten, die zu ihrem Tätigkeitsbereich gehörten. Erzieherische Fragen gehörten zur Domäne des Herrn Doktor. Am Ende der Woche gab ich mein Notizheft ab und erwartete die Antwort mit Ungeduld. Sie lautete folgendermaßen: ›Seien Sie nicht die Richterin des Kindes. Leiten Sie es auf einen Weg, der zur Selbstständigkeit und Selbstkritik führt. Das Kindergericht ist klug. Was den Vorfall anbelangt – machen Sie sich keine Sorgen – aus Fehlern lernt man.«12 Das pädagogisch-psychologische Prinzip der Bursen heißt: Lernen aus Erfahrung. Dieses Lernen wird initiiert durch den unmittelbaren Einbezug der Praktikanten in den erzieherischen Alltag; und durch professionelle Reflexion gemachter Fehlern sollen eigene Schlüsse gezogen werden, die die Heimleitung durch ihre Anleitungen zur Selbstreflexion zu unterstützen weiß. Langfristiges Ziel ist es, selbstständiges Theoretisieren und eigenverantwortliches Handeln in erzieherischen Feldern zu lernen. Die Zeit in der Burse wird für viele Praktikanten fundamental für ihren Erzieherberuf. Viele bestätigten später, dass es Korczak verstand, »das Ver12. Biberman, Sara; Według kodeksu (Anhand des Kodex). In: Międzynarodowe Stowarzyszenie im. Janusza Korczaka (Internationale Korczak-Gesellschaft) (Hg.): Okruchy wspomnien (Krümelchen der Erinnerung). Warszawa 1984, S. 58f.

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größerungsglas und das Auge des Gelehrten mit der romantischen Wahrheitssuche des liebenden Herzens zu vereinen«.13 Das sehr erfolgreiche Bursenkonzept wird ab 1928 auch im Nasz Dom umgesetzt werden.

13. Vgl. die Berichte der Bursisten in: Beiner, F./Ungermann, S, (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 171–348.

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11. Reformator der Kinderliteratur und Kinderpresse: 1923–1926ff Korczak reformiert nicht nur das Zusammenleben in Waisenhäusern; auch mit seinen Büchern für Kinder möchte er Reformen einleiten. Mit drei neuen Kinderbüchern – der Erzählung über den Kinder-König Maciuś, den Reformator, mit dem Bankrott des kleinen Jack und dem »psychologischen Roman« Wenn ich wieder klein bin – geht es ihm sowohl um eine Reformierung der Gattung Kinderbuch als auch – inhaltlich – um die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen. Darüberhinaus setzt er sich für eine Reformierung der Kinder-Gesellschaft durch Förderung der Meinungsfreiheit mittels einer unabhängigen Kinderpresse ein.

11.1 Die König-Maciuś-Erzählungen (1923) Mit den Erzählungen über den Kinderkönig Maciuś (SW, Bd. 11) wird Korczak 1923 als Kinderbuchautor in ganz Polen – und nach dem Zweiten Weltkrieg auch international – bekannt. Das zweibändige Werk zählt heute zu den Klassikern der Kinderliteratur. Eine erste deutsche Übersetzung des ersten Teils erschien 1957 in Warschau unter dem Titel König Hänschen I. Nachdrucke erfolgten ab 1970 in Göttingen und wurden begeistert aufgenommen. Die Rezensenten urteilten: Es sei ein »politisches Buch – und ein poetisches« (Süddeutsche Zeitung); in ihm sei »es gelungen, Erlebnisfülle und Abenteuerreichtum mit einer Schule der Demokratie zu verbinden« (Die Zeit). Der bekannte Pädagogik-Professor Hartmut von Hentig schrieb unter dem Titel Die Kinder an die Macht? eine Rezension im Spiegel, und Herbert Grönemeyer trat mit dem Song Kinder an die Macht! an die Öffentlichkeit. Worum geht es beim »König Maciuś Reformator«? Hartmut von Hentig umreißt das Skelett der Geschichte so: Nachdem der König des Landes gestorben ist, erbt sein Sohn Hänschen (= Maciuś) die Krone und wird König. »Sein Land wird von anderen Königen überfallen; als unbekannter Kindersoldat kämpft Hänschen mit – einen grausigen und zugleich abenteuerlichen modernen Krieg. Nach dem Sieg will er für eine bessere Welt sorgen. Häufig betrogen, ständig am Rande seiner kleinen Kraft, von den Verhältnissen widerlegt, von den Erwachsenen, die stets ›gute Gründe‹ gegen ›gute Programme‹ haben, verlacht und verlassen, beschließt er, die Reformen mit den Kindern durchzuführen und wenigstens sie glücklicher zu machen – durch Selbstbestimmung: ›Sie haben vergessen‹, ruft er sei-

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nen Ministern zu, ›dass das Volk nicht nur aus Erwachsenen, sondern auch aus Kindern besteht. … Es soll also zwei Parlamente geben, eines für die Erwachsenen, eines für die Kinder.‹ ›Die Erwachsenen gehen nicht zur Schule, daher wissen sie auch nicht, wie ungerecht es da zugeht‹, sagt der Kinderminister im Kinderparlament. ›Wenn die Lehrer die Kinder nicht unterrichten wollen, sollen sie einmal Erwachsene unterrichten …‹ Die Kinder lernen in ihren Parlamentsdebatten ihre eigene Lage, ihre Bedürfnisse, Interessen verstehen und formulieren; sie lernen ihre Gegensätze austragen und Alternativen zur gewohnten Ordnung zu erfinden. Sie geraten dabei in Konflikt mit den Erwachsenen, die ihre Privilegien und ihre autoritätsgestützte Sicherheit verlieren. Die Lehrer verlassen ihre Posten. Auch die Einführung eines Schülergehalts rettet die Lage nicht. Es kommt zu Demonstrationen und ihrer Zerstreuung durch berittene Polizei. Kinder in anderen Ländern fordern auch Kinderparlamente, und ein Journalist treibt die Kinder an, mit ihren Veränderungen immer weiter zu gehen. Es kommt zur völligen Umkehr der Verhältnisse: Die Kinder verrichten die Berufe der Erwachsenen (schlecht); die Erwachsenen lernen in den Schulen (noch schlechter). Chaos bricht aus und am Ende der Krieg. Hänschen wird an die Feinde verraten. Einer der drei Siegerkönige rettet ihn vor der Exekution. Er geht in die Verbannung.«1 Hartmut von Hentig urteilt: »Diese Geschichte ist … voller Abenteuer, lehrreicher Einzelheiten und aufregender Parallelen zu unserer Gegenwart – ganz und gar ein Kinderbuch, ja, es setzt einen Maßstab für das, was ein gutes Kinderbuch leisten sollte: 1. Ein Kinderbuch muss auch Erwachsene interessieren können, sie erfreuen oder betroffen machen. Es muss beiden, den Kindern und den Erwachsenen, helfen, miteinander, übereinander und über die Welt zu reden. … 2. Das Buch muss dem Kind erlauben, sich in den Gestalten selbst zu erkennen und zu erproben. … 3. Das Buch muss die Welt zeigen, wie sie ist, die interessanten und komplizierten Verhältnisse schildern, die bekannten verfremden, so dass man über sie nachdenken muss, die fernen, unbekannten heranholen, so dass man über sie nachdenken kann. … 4. Das Buch muss aber auch einen Ausblick auf eine mögliche bessere Welt geben und Wege zeigen, wie man dahin gelangt. Korczaks Geschichte 1. Hentig, Hartmut: Die Kinder an die Macht? In: Der Spiegel Nr. 51, 1970, S. 161.

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11.1 Die König-Maciuś-Erzählungen (1923)

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bringt es fertig, den Kindern ein so abstraktes Ziel wie die Selbstbestimmung erkennbar und erstrebbar zu machen. … 5. Das Buch muss auch die Widerstände zeigen, die den guten Absichten und Ansprüchen entgegenstehen. … Die Geschichte von Hänschen geht traurig aus – und doch richtig. Die Verwirklichung von Hänschens Hoffnungen wäre zugleich eine Entmutigung für die Leser: weil es bei ihnen dies alles nicht gibt. Wichtiger, als dass sich die Hoffnung im Buch erfüllt, ist, dass sie in den Lesern ungebrochen weiterlebt.«2 Der Kinder-Roman zeigt den Lesern, wie schwer es ist, ein gerechtes und gleichberechtigtes Zusammenleben zwischen den Generationen und Völkern zu ermöglichen, und er hilft den Erwachsenen, die Welt mit den Augen eines Kindes zu betrachten. Hochaktuelle politisch-pädagogische Themen wie Friedfertigkeit, Gleichberechtigung und Partizipation, aber auch Krieg und Unterdrückung werden von dem einfühlsamen Kinderarzt, Erzieher und Poeten Korczak so dargestellt, dass sie kleine und große Leser gleichermaßen fesseln und zur Umgestaltung der Verhältnisse ermuntern. Mit seinen Texten für Kinder weist sich Korczak aus als Kenner der Psyche, des Wortschatzes und des Sprachstils von Kindern. Er schreibt in einer Art Kindersprache, ein Novum in der damaligen polnischen Literatur. Es ist nur scheinbar eine »arme« Sprache. Sie ist einfach und klar; oft stehen Wörter für ganze Sätze, einzeln oder sich wiederholend. Dialoge, Monologe, kurze Episoden sorgen für Aufmerksamkeit und Stimulans. Trotz ihrer Einfachheit und Kinderweltverbundenheit sind sie jedoch nicht kindisch, sondern dem reichen Innenleben, den Problemen, Zweifeln, Fragen und Freuden der kindlichen Leser angepasst. Die polnische Philologin und Korczak-Kennerin Hanna Kirchner meint: »Der unwiederholbare Stil und die Sprache seiner Werke – eine bewundernswert schlichte, nahezu geschrumpfte Sprache, fesselnd durch ihre Beherrschtheit – … ist ein Äquivalent zur Unvollständigkeit der Sprache des Kindes, das mit Wiederholungen und Intonation seine lexikalischen Mängel auszugleichen sucht. … In der monotonen, einfachen Sprache gelingt es ihm, eine breite Skala von Erregungen auszudrücken, die ihren Ursprung im kindlichen Erleben haben. Eine einmalige Erscheinung in der Literatur.«3 2. Ebd., S. 161f. 3. Kirchner, Hanna: Dzieciece i człowiecze (Kindlich und menschlich). In: Nowa Szkoła (Neue Schule) 1963, Nr. 7/8, S. 7f.

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11.2 Der Bankrott des kleinen Jack (1924) Korczak setzt seine kindgemäße Darstellung wichtiger reformerischer Themen 1924 unter dem Titel Der Bankrott des kleinen Jack fort. Im Mittelpunkt stehen nun die Auseinandersetzung mit genossenschaftlichem und kaufmännischem Handeln, Fragen der Weltoffenheit, schulreformerische Ideen, Spiel und Sport.4 Das Buch wird 1935 als erste deutsche Korczak-Übersetzung im Berliner Verlag Williams & Co. erscheinen und vom Rezensenten als »ganz neuartiges« Kinderbuch gerühmt werden, das den ganz und gar »unromantischen Bezirk« des nüchternen Handels- und Geschäftslebens in den Mittelpunkt der Erzählung rückt. Es beeindruckt, dass weder ein wildes Indianerdorf noch seltsame Märchen nötig sind, um spannend zu erzählen, und dass die Spannung unmittelbar aus der Schilderung des Alltags entspingt.5

11.3 Wenn ich wieder klein bin (1925) Mit seinem »psychologischer Roman« Wenn ich wieder klein bin6 nimmt Korczak ein weiteres Mal mit Hilfe der »methodischen psychologischen Regression« einen Perspektivwechsel vor. Doch während er 1913 aus einer Kinderperspektive erzählte (aus der eines Babys, eines Grundschülers und eines Jugendlichen), beschreibt er jetzt gleichzeitig zwei Perspektiven: das Erleben eines erwachsenen Lehrers und zusätzlich dessen erinnertes Fühlen und Erleben als Schüler. Korczak folgt hiermit offenbar einer Empfehlung, die er selbst im Text Das Internat ausgesprochen hatte: »Verlange nicht von dir selbst, bereits ein seriöser, abgklärter Erzieher mit einer psychologischen Buchhaltung im Herzen und einem pädagogischen Kodex im Kopf zu sein. Du hast einen wunderbaren Bundesgenossen, einen Zaubergeist – deine Jugend …«7 Und diesen »Zaubergeist« erweckt er nun, um zu erfahren, wie die Welt aussah und wie sie sich »anfühlte«, als er noch ein Kind war. Die Handlung der wundersamen und anrührenden Geschichte8 beginnt damit, dass sich ein von Schülern und Kollegen geplagter Lehrer nichts 4. 5. 6. 7. 8.

Vgl. SW, Bd. 12, S. 9ff und den Kommentar S. 393ff. Vgl. ebd., S. 406ff. SW, Bd. 3, S. 133ff. SW, Bd. 4, S. 148. Welche Faszination die Geschichte auszulösen im Stande ist, habe ich [F. B.] in einem Korczak-Seminar mit Studenten erlebt, in dem ein Teilnehmer aus Begeisterung über den Text weite Teile desselben auswendig lernte und am nächsten Tag seinen Kommilitonen vortrug.

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sehnlicher wünscht, als wieder Kind sein zu dürfen. Der Lehrer ist überzeugt: Erst, wenn ich wieder klein bin, wird es mir besser ergehen als jetzt. Und, nachdem er durch die Zauberkraft eines Zwerges tatsächlich wieder zum Kind wird, erfährt er, wie unterschiedlich Kinder und Erwachsene die Welt erleben, wie unterschiedlich ihre Perspektiven sind und wie die einen die anderen missverstehen und missachten. Hier einige Erfahrungen und Erkenntnisse des wieder zum Kind gewordenen Lehrers, der sich aber an die Erwachsenenwelt »zurück«-erinnert: »›Ein Kind ist wie der Frühling. Entweder es herrscht Sonne, schönes Wetter, sofort ist alles fröhlich und schön. Oder es gibt plötzlich ein Gewitter, es blitzt, donnert, ein Blitz schlägt ein. – Und der Erwachsene – wie im Nebel. Ein trauriger Nebel hüllt ihn ein. Keine großen Freuden und keine großen Schmerzen. Grau und ernst. – Ich erinnere mich ja. Unsere Freuden und Schmerzen, die brausen wie der Sturmwind, aber ihre, die schleppen sich dahin. – Ich erinnere mich.‹ … Sie erlauben einem nicht, traurig zu sein. Werden einem so lange auf die Pelle rücken, bis aus einem Traurigen ein Wütender wird. … Erwachsene und Kinder behindern sich gegenseitig: einer den anderen. … Sobald ich wieder Lehrer bin, will ich versuchen, mich mit den Schülern zu verständigen. Damit es nicht diese beiden feindlichen Lager gibt: auf der einen Seite die Klasse, auf der anderen ich und ein paar, die sich einschmeicheln. Ich will es versuchen, damit Ehrlichkeit herrscht. … Sind Kinder nun Menschen oder nicht? Ich weiß nicht mal mehr, soll ich mich freuen, dass ich ein Kind bin, soll ich mich freuen, dass der Schnee weiß ist, oder soll ich traurig sein, weil ich schwach bin. … Wir leben wie ein kleinwüchsiges Völkchen, unterjocht von Riesen, Priestern, die die Kraft der Muskeln und die Macht geheimen Wissens besitzen. Wir sind eine benachteiligte Klasse, die ihr um den Preis geringsten Verzichts, der kleinsten Anstrengung, am Leben erhalten wollt. … Die Erwachsenen wollen nicht begreifen, dass ein Kind auf Sanftheit mit Sanftheit antwortet und dass bei Zorn in ihm gleich – ein Bedürfnis nach Vergeltung, nach Rache wach wird. In der Art: ›So bin ich nun mal, und so bleib’ ich.‹ Dabei will sich jeder, selbst der Allerschlechteste von uns, bessern. … Am schlimmsten ist, wenn etwas nicht klappt und ihr gleich bösen Willen argwöhnt. … Es ist bitter, dass alle unsere Angelegenheiten so rasch und wie nebenbei erledigt werden, dass unser Leben, unsere Kümmernisse und Misserfolge für die Erwachsenen nur eine Art Zugabe zu ihren wirklichen Sorgen sind. Es gibt anscheinend zwei Arten von Leben: das ihre – ernst-

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zunehmende, das Achtung verdient, und das unsere, eine Art Scherz. Kleiner und schwächer, sind wir nur so eine Art Spielzeug. Daher die Missachtung. Die Kinder – das sind die zukünftigen Menschen. Also werden sie erst sein, es gibt sie also noch gar nicht recht. Dabei sind wir da: Wir leben, fühlen, leiden. Unsere Kinderjahre – das sind wirkliche Lebensjahre.«9

11.4 Texte für die jüdische Bevölkerungsgruppe (1925) Parallel zu seinen üblichen polnisch-sprachigen Veröffentlichungen, die natürlich an die gesamte Bevölkerung Polens gerichtet sind, tritt Korczak zwischen 1924 und 1940 auch gelegentlich als Autor von Texten an die Öffentlichkeit, die insbesondere an die jüdische Bevölkerubgsgruppe gerichtet sind und darum z. T. ins Jiddische oder Hebräische übersetzt wurden. Sie verdeutlichen u. a. Korczaks Position zum Zionismus.10 1925 beispielsweise enthält ein Sammelheft der Zentralen Organisation jüdischer Kinderfürsorge (Centos), das anlässlich der »Woche der Waisen« gedruckt wird, einen Beitrag Korczaks in jiddischer Übersetzung mit dem Titel: Verwaist »Die Betreuung verwaister Kinder, als ein Teil der Betreuung von armen Schutzlosen und Unglücklichen, kann, war und ist immer noch der Zweck eines religiösen Gebotes, welches sich in unseren heiligen Schriften findet und uns heißt, den ›Armen-Zehntel‹ abzugeben. Unsere Großväter haben das getan, ohne es zu verstehen, sogar ohne es zu fühlen. Sie haben es getan, weil man es tun muss, weil es nicht anders sein kann. So ist es gewesen, und so ist es in einem gewissen Maße heute noch. Der Schutz der Waisen ist ein Befehl des Verstandes, ein Ergebnis des Nachdenkens: Durch den Staat oder aus privater Initiative muss es, auch wenn es manche nicht wollen, die Möglichkeit geben, die Schwachen und Hilflosen zu unterstützen, die einen gewissen Prozentsatz der heutigen Bevölkerung ausmachen. Das sachliche Amerika hat den europäischen Kindern geholfen, ohne sie zu sehen, ohne viel zu wissen.11 Einfach so, weil man sie am Leben erhalten 9. SW, Bd. 3, S. 151ff. 10. Die meisten dieser Texte sind im Kapitel 6 (S. 409ff) von Bd. 9 der SW zusammengefasst. Zu dieser Gruppe gehören auch die später zu besprechenden Beiträge Illusionen (Pkt. 13.12) und Erziehungskunst (Pkt. 14.5). 11. Nach dem Ersten Weltkrieg hat Amerika über das Polnisch-amerikanische Kinder-

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muss. Weil es sie gibt und weil sie – wenn auch in der Ferne, unsere Zukunft sind. Zu einem Ganzen, zu einer Einheit gehörend. Das gemeinsame Interesse, die gemeinsame Verantwortung, die gemeinsame Pflicht. … Das Verwaist-Sein des Kindes kann man mit nichts vergleichen. Ein solches Kind baut seine Welt am Rand eines Grabes oder von Gräbern auf. Auf der ganzen weiten Welt – ist es einsam. …«12 Im selben Jahr bringt die polnisch-sprachige jüdische Tageszeitung Unsere Rundschau zum Festtag Lag baOmer einen Aufruf, der neben Korczak auch von anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterzeichnet ist: An die jüdische Berufsintelligenz in Polen »Wir sollten an diesem Tag vor der ganzen Welt unsere Sympathie für die Anstrengung des Jüdischen Volkes beim Wiederaufbau des Landes Israel manifestieren. Deshalb wenden wir uns mit einem inständigen Appell an euch, Kollegen: Jeder von euch möge den Verdienst dieses Tages für die Sache des Keren Kajemeth (Dauernder Fonds für Israel) spenden, der zum Ziel hat, palästinensisches Land als ewigen und unveräußerlichen Besitz der Jüdischen Nation aufzukaufen. Das Opfer des Tagesverdienstes ist eine Tradition, die in Eretz Israel entstanden ist. … Die kulturellen Werte, die in Palästina als Produkt der Arbeit der Chaluzim geschaffen werden, zeigen sich in den neu entstehenden Niederlassungen, die nicht nur nationale, sondern allgemeine – menschliche – Bedeutung haben. Sie besitzen eine Ausstrahlung über die Grenzen Palästinas hinaus, und sie üben über Meere und Berge hinweg ihre Wirkung auf die in der Diaspora zerstreute jüdische Intelligenz aus. … Dieser ›Tag der Arbeit‹ hat nicht nur eine materielle Bedeutung, sondern auch eine moralische, weil er Ausdruck unserer Solidarität mit unseren Brüdern sein wird, die im Schweiße ihres Angesichts das jüdische Land aufbauen. Möge unser Handeln ihnen Mut machen und ihren Geist stärken für den weiteren schweren Kampf um ein besseres Morgen der Nation!«13 Korczak verhält sich also, was die Veröffentlichungen betrifft, durchaus solidarisch gegenüber seinen Glaubensgeschwistern (schließlich leitet er ja auch ein Heim für jüdische Waisenkinder), auch wenn er selbst weder jiddisch noch hebräisch spricht und sich mehr der polnischen Kultur zugehöhilfs-Komitee in Polen und über entsprechende Komitees in anderen Ländern in großartiger Weise Kindern geholfen. 12. SW, Bd. 9, S. 421f. 13. SW, Bd. 15, S. 385f.

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rig fühlt. Auch seine Einstellung zu den Zionisten, die in dieser Zeit in Polen großen Einfluss ausüben, ist eher reserviert. So beantwortet er beispielsweise eine Einladung zur Präsidiumssitzung des »Jüdischen Natinalfonds« am 23. Mai 1925 abschlägig: »Ich bedanke mich für die Einladung. An der Tagung werde ich nicht teilnehmen. Seit meiner zufälligen Anwesenheit auf dem Zweiten Zionistenkongress in Basel (1898) hat das Problem Palästina in mir viele Stadien durchlaufen. Es geschieht etwas sehr Großes, sehr Mutiges, sehr Schwieriges. Man kann es verstehen, aber es emotional zu fassen, ist unerhört schwer. … In jedem muss in aller Stille der Messias geboren werden, der ihn wie eine Mutter führt, die das Kind vorsichtig begleitet. So geht die Jugend, ein bestimmter Teil der Jugend ihren Weg. Ich bin ein Mensch des einsamen Weges, individueller Entscheidungen und Taten. Deshalb habe ich ein Ressentiment gegen die, ich gebe zu – unverzichtbare, unumgängliche, notwendige – Propaganda und Organisation.«14 Trotz aller Vorbehalte gegenüber der »Propaganda und Organisation« der Zionisten hinsichtlich Eretz Israel wird Korczak 1929 aber, neben Adam Czerniakow und anderen, zum stellvertretenden Mitglied im Rat der Jewish Agency for Palestine gewählt werden.15 1925 versucht Korczak auch, im Stil der jüdischen Erzähltradition für Kinder zu schreiben: Im September erscheint in der Zeitschrift Alim (Blätter) in hebräischer Sprache das Fragment Herschele, eine Erzählung über ein armes jüdisches Waisenkind, das aufgebrochen ist »zu einer Reise ins gelobte Land, welches ihm der Gott Israels auf wundersame Weise, in den Flammen der untergehenden Sonne gezeigt hatte«.16 In einem begleitenden Interview erläutert Korczak: »Keine Geschichte hat mich so sehr beschäftigt wie die, von der nun ein Kapitel in Alim abgedruckt wird. Sie beschäftigt mich schon seit Jahren. Immer wieder habe ich die Arbeit daran vernachlässigt, um sie nach einiger Zeit wieder aufzunehmen, denn es ist ein schwieriges Thema. Die Form ist neu und ungewöhnlich, der Inhalt erfordert Umsicht und Aufmerksamkeit. … Die Geschichte habe ich

14. Ebd., S. 387. 15. Vgl. SW, Bd. 5, S. 245. 16. SW, Bd. 13, S. 187.

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noch nicht beendet, aber ich freue mich, einen Teil davon auf Hebräisch zu sehen, denn diese Übersetzung gibt mir einen schöpferischen Impuls.«17 Das Fragment wird er erst vierzehn Jahre später mit dem Büchlein Drei Reisen Herscheks zum Abschluss bringen. Im Interview äußert sich Korczak auch noch einmal – in etwas positiverer Weise – zum Zionismus und zum 14. Zionistischen Kongress, der gerade in Wien zu Ende gegangenen ist: »Was die zionistische Bewegung betrifft, kam ich damit auf dem Kongress in Berührung, an dem ich als Gast (1898) teilnahm. Damals war ich noch jung und unerfahren. Ich empfand Abscheu vor der Bewegung, deren Programm mir wie ein Thema nur für Mädchen vorkam. Damals hatte ich das Gefühl, dass sich dort viele versammelten, die zwar dumm, aber vollauf begeistert waren. Dennoch interessiere ich mich seither für alles, was mit dem Zionismus zusammenhängt. Heute ist mein Interesse für den Kongress (in Wien) beinahe noch so groß wie damals die Begeisterung der anderen auf dem zweiten Kongress. Meiner Meinung nach hat der Zionismus das Stadium der Utopie schon hinter sich gelassen, jetzt befindet er sich in dem der Umsetzung und der Arbeit. Die Poesie – die Begeisterung, sind vergangen, stattdessen kommt die Prosa – und damit die Arbeit.« Korczak beendet das Inteview mit dem Hinweis, dass er ins Land Israel reisen werde, aber vorher müsse er noch seine vielfältigen Aufgaben abschließen.18

11.5 Unverschämt kurz (1926) Zur Jahreswende 1925/26 meldet sich noch einmal der Satiriker Korczak zu Wort, jener gesellschaftskritische Publizist, der in der Zeitschrift Kolce (Stacheln) debütierte und gegen Heuchelei und Lüge, Dummheit und Lächerlichkeit antrat. Knappe satirische Reflexionen über das zeitgenössische Polen – von ihm »Novellen« genannt – erscheinen unter dem Buchtitel: Unverschämt kurz (Bezwstydnie krótkie) …: »Geschrieben in der Hauptstadt Warschau. Silvester 1925–1926.«19

11.6 Kleine Rundschau (1926ff) Nachdem Korczak gute Erfahrungen mit schriftlichen Kommunikationsmitteln aller Art gesammelt hat und seine Heimkinder allmählich gelernt 17. [Ein Gespräch mit Janusz Korczak], in: SW, Bd. 15, S. 388f. 18. Ebd., S. 390. 19. SW, Bd. 5, S. 85.

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haben, mithilfe der Heimzeitung und den anderen Instrumenten der Selbstverwaltung ihr gemeinsames Leben demokratisch zu gestalten, stellt sich ihm die Frage nach der Emanzipation der übrigen Kinder in Polen und der Welt, denn in Korczaks Augen sind die Kinder weltweit eine »unterdrückte soziale Schicht in der Unfreiheit unter den Erwachsenen«.20 Der erste Schritt aus der Unfreiheit könnte auch hier durch eine Zeitung, durch die Möglichkeit zu freier Meinungsäußerung sein. Diese Idee von der Notwendigkeit einer internationalen freien Presse für Kinder hatte sich überraschenderweise in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs entwickelt, in denen die »schmutzigen Bilder« des Krieges Korczak und seine Kameraden zum kritischen Infragestellen des Handelns der Kriegsteilnehmer zwangen: »Durch die zwei Linien der Schützengräben erscholl der laute Ruf nach einer grundlegenden Reform des Lebens. Wenn das hier zu Ende geht, muss etwas Neues, anderes kommen. Was? Man muss es herausfinden. Man muss andere Menschen vorbereiten. … Wenn wir, die Erwachsenen, uns nicht verständigen können, wenn der über Jahre sich hinschleppende schändliche Kampf, dieser gemeine, unsinnige, dumme, gefährliche, aber zermürbende Streit – feststellen soll, auf welcher Seite das Recht liegt … , dann soll das Kind sich mit dem Kind verständigen.«21 Und bei den Überlegungen darüber, was nötig ist, um eine friedliche Verständigung der Kinder, der »kommenden Hauswirte der Welt«, zu fördern, »wurde die Idee von einer Kinderpresse geboren, von einer Tageszeitung für Kinder, der ABC-Zeitung. Das Alphabet des Lebens. … Die Kinder, eine vielköpfige gesellschaftliche Klasse, haben eine ganze Reihe beruflicher Probleme und eigener Belange, haben Schwierigkeiten im Leben, haben Bedürfnisse, Wünsche, Zweifel. Sollen sie fragen, mögen sie es aussprechen.«22 1925 mit derartigen Überlegungen vorbereitet, kam es im folgenden Jahr zur Gründung einer Kinder- und Jugend-Zeitung: Am 30. September 1926 teilt die Redaktion der großen polnisch-sprachigen jüdischen Tageszeitung Nasz Przegląd (Unsere Rundschau) ihren Lesern mit: »Bei dem Vorhaben, die Lücke in unserem Zeitschriftenwesen auszufüllen, die sich daraus ergibt, dass eine spezielle Zeitschrift für Kinder und Jugendliche fehlt, haben wir beschlossen, die Grundlage für eine solche Zeitschrift zu schaffen in Form einer kostenlosen Wochenbeilage für Kinder und Jugendliche unter dem Titel Mały Przegląd (Kleine Rundschau). … 20. Newerly, Igor: Offene Arme und ein offenes Herz. In: Monatsschrift Polen. Warszawa 1979, Heft 1, S. 45. 21. ABC, in: SW, Bd. 9, S. 182f. 22. Ebd., S. 183.

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Für den Redakteursposten dieser Beilage ist es uns gelungen, einen der besten Kenner der kindlichen Seele zu gewinnen, den hervorragenden Schriftsteller, Autor von Kind des Salons, Albernes Zeug, Die Mojscheks, Joscheks und Sruleks, König Maciuś der Erste, Der Bankrott des kleinen Jack.«23 Am 3. Oktober 1926 erscheint die erste Zeitung, in der sich der so angekündigte Redakteur selbst zu Wort meldet: »An meine zukünftigen Leser! Unsere Zeitung wird ihren Sitz in einem großen Eckhaus haben. Ringsum ein Park: rechts ein riesiges Spielfeld, links ein Teich und Boote; im Winter eine Eisbahn. Fahrräder, Autos und Flugzeuge für die Mitarbeiter und Korrespondenten – versteht sich. Auf dem Dach eine Antenne. Um ganz leicht Nachrichten aus dem ganzen Land, der ganzen Welt zu sammeln. Wo etwas Wichtiges und Interessantes passiert, dort ist unser Berichterstatter und ist unsere Kamera. … Die Zeitung wird alle Probleme der Schüler und Schulen erwägen. Und sie wird so redigiert werden, dass sie die Interessen der Kinder vertritt. Die Zeitung wird darauf achten, dass es in allen Dingen GERECHT zugeht. Drei Redakteure werden es sein. Ein alter (kahlköpfig, mit Brille), damit es kein Durcheinander gibt. Der zweite ist ein junger Redakteur für die Buben, und ein Mädchen wird Redakteurin für die Mädchen sein – damit sich keiner geniert und jeder laut und deutliche sagt, was er braucht, was für ein Unrecht ihm zugefügt wird, was er für Sorgen und Nöte hat. … In der Redaktion von Unsere Rundschau hat man mir so gesagt: ›Wir wollen eine Beilage für Kinder einführen. Die Beilage für Kinder kann einmal in der Woche erscheinen. Wir stellen einstweilen zwei Seiten wöchentlich zur Verfügung. Wir mischen uns nicht ein. Schreibt einfach, was euch passt. Sie haben schon ein paar Bücher für Kinder geschrieben, also wird es Ihnen leicht fallen.‹ Ich sagte: ›Gut.‹ Aber nachher begann ich mir Gedanken zu machen. Denn ein Buch ist etwas anderes als eine Zeitung. … Vielleicht ist es besser, eine Zeitung zu schreiben, weil einem da die Leser helfen. Selber werde ich nicht damit fertig. Und das wird so gehen: Jeder, der uns öfter schreiben wird, erhält die Bezeichnung Korrespondent. Wenn seine Nachrichten interessant sind, erhält er nach einem halben Jahr die Bezeichnung Mitarbeiter. Dann kann er schon ständiger Mitarbeiter werden. …. Unser Organ wird unpolitisch und unparteiisch sein. Ich weiß tatsäch23. Nasz Przegląd (Unsere Rundschau) 1926, Nr. 268, S. 1.

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lich nicht genau, was das heißt, aber so schreiben die Zeitungen gewöhnlich in ihren Prospekten. Warum sollen wir also schlechter sein als sie? Hochachtungsvoll Janusz Korczak«24 Die Kinder- und Jugendzeitung Kleine Rundschau wird ein Erfolg, sie wird von 1926 bis zum Kriegsausbruch 1939 in jeder Woche erscheinen, und das als eines der ersten Publikationsorgane, das fast ausschließlich von Kindern und Jugendlichen für Kinder und Jugendliche gemacht wird. Der erwachsene Redakteur Korczak ist vor allem Initiator und Förderer des Blattes, er tritt bei den Veröffentlichungen bewusst in den Hintergrund. Er regt vor allem die Leser zur Korrespondenz mit der Zeitung an, um auf diesem Wege die Kommunikation zwischen den Kindern zu fördern und ihre Stellung in der Gesellschaft zu verbessern. Und die Kinder in Polen reagieren schon bald mit einer Fülle von Leserbriefen, auf die die Redaktion gerne eingeht. So wird Korczak auch bei den Kindern weit über die Grenzen der Warschauer Waisenhäuser hinaus bekannt und pädagogisch wirksam. Viele Leser und Korrespondenten der Kleinen Rundschau werden später bezeugen, dass sie durch die Kontakte zur Zeitung und zu den »Rundschaulern« fürs Leben geprägt wurden. So etwa Leon Harari, vielen deutschen Korczakianern in unvergesslicher Erinnerung: »Der Freitag, an dem unsere Zeitung erschien, war jede Woche ein Festtag für uns. Wir trafen uns bei einem der Kinder – nicht alle konnten wir die Zeitung kaufen, da sie der N. P. (Nasz Przegląd) beigefügt war, deren Freitagsausgabe sehr teuer war. Das Lesen der Kleinen Rundschau war für uns jedes Mal ein neues Erlebnis: Wir waren stolz, dass unsere Gedanken, Probleme und Forderungen in ihren gedruckten Worten Ausdruck fanden. Selbstverständlich waren alle Aufsätze erst von den Sekretären auf ihre Richtigkeit geprüft worden, bevor sie zum Druck kamen. Im Jahre 1927, ein Jahr nach der Gründung der Kleinen Rundschau, wurden wir zu einer Leserversammlung eingeladen. Können Sie sich das vorstellen? Wir, zwölf- und dreizehnjährigen Kinder, und sogar jüngere sind eingeladen, um über eine Zeitung zu sprechen – unsere Zeitung! Diese Versammlung fand in einem Saal statt voller Kinder und Jugend, die einen unheimlichen Lärm machten. An einem Tisch saßen drei Männer: Janusz Korczak, sein Stenograph Igor Newerly und der Sekretär Schaar-Jaschuw. Der Doktor sprach, stellte Fragen und spornte uns zum Reden an … Ein oder zwei Jahre nach dieser Versammlung musste ich, wegen der schlechten Geldverhältnisse in meinem Elternhaus, die Schule verlassen 24. SW, Bd. 14, S. 13ff.

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und Arbeit suchen. Ein Kind mit minimaler Schulbildung in einer fremden und grausamen Welt. In den Straßen der großen Stadt, zwischen der riesigen Menschenmenge, lief ich und ›bot meine Hände zum Verkauf‹, fand aber keinen Käufer. All diese neuen Eindrücke notierte und beschrieb ich und brachte sie zur Zeitung. ›Pan Jerzy‹ (Newerly) ermunterte mich und zwang mich beinahe: ›Schreib und bringe es her, verschönere nichts, verbessere nichts!‹ Er druckte meine Notizen und bezahlte dafür. Ein Junge mit Autoren-Honorar! Und hier will ich betonen, dass ich nicht der Einzige war. Der Doktor, und nach ihm Newerly, zahlten auch den Reportern und Gruppenleitern in anderen Städten Honorare und Stipendien sowie Rückerstattung ihrer Ausgaben. Und nicht genug damit: Sie organisierten auch eine Sozialhilfe für bedürftige Schüler, eine Art geheime Spende. Jeder Fall wurde geprüft. Das Geld für diese Hilfe kam aus dem Gehalt Korczaks für seine Arbeit in der Kleinen Rundschau. … Zwei Jahre nach der Gründung der Kleinen Rundschau – im Oktober 1928 – erklärte Korczak in seiner Zusammenfassung über die Arbeit der Zeitung: ›Im ersten Jahr erreichten uns 5000 Leserbriefe, im zweiten Jahr 6500. Viele dieser Briefe schrieben uns Gruppen von Kindern. Jeder Brief wird mindestens fünfmal gelesen und je nach seinem Thema abgelegt und in einem Schrank aufbewahrt.‹ … Im Jahre 1936, zum 10jährigen Bestehen der Zeitung, wurde eine Liste gedruckt von 57 Jubiläums-Mitarbeitern, von denen neun noch heute am Leben sind: 4 leben in Israel, 3 in Polen, 1 in Amerika und 1 in Tunis. Die Kleine Rundschau begnügte sich nicht mit Moralpredigten, sondern erzog ihre jungen Leser zu Anständigkeit und Wahrheit – wozu auch all die verpflichtet wurden, die mit dem Doktor, und später mit Newerly, zusammenarbeiteten. … Die frühe Begegnung mit Janusz Korczak hat Spuren in mir hinterlassen – sie hat mir geholfen, sie hat mich geformt.«25 Die allgemeine Bedeutung der Kleinen Rundschau im Erziehungskonzept Korczaks und für dessen Verbreitung unterstreicht auch Korczaks mehrjähriger Mitarbeiter Aleksander Lewin: »Er suchte nach neuen Wegen und Mitteln, um anderen Menschen seine Vision von einer veränderten Welt zu vermitteln, d. h. die Vision einer vollberechtigten Situation des Kindes in der Erwachsenengesellschaft. Im Rahmen der Keinen Rundschau verwirklichte Korczak seine wichtigsten erzieherischen Ideen, die seine pädagogische Konzeption und sein ganzes Erziehungssystem durchdrangen. Nicht nur er selbst zeigte durch seine Texte auf, dass die Kinder das Recht 25. Harari, Leon: Die Kleine Rundschau. In: Ermert, K. (Hg.): Erziehung in der Gegenwart. Loccumer Protokolle 60/1987, S. 108ff.

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haben, sich ungezwungen zu den sie betreffenden Themen zu äußern, auch die Kinder bewiesen dies in unzähligen Texten. Aus den Texten, die sie schrieben, und auf die Korcazk engagiert reagierte, ging hervor, dass überall dort, wo Kinder leben und wirken – zu Hause, in der Schule, auf der Straße oder auf dem Hof – ihnen bestimmte Rechte und Erleichterungen zustehen, über die sie bisher aber nicht verfügten. Die Kleine Rundschau war, ähnlich wie das Dom Sierot oder vielleicht noch in einem größeren Maße, von der Idee der Selbstverwaltung und Selbstorganisation der Kinder durchdrungen, von Partnerschaft und ständigem Dialog. Es war kein Zufall, dass die Kinder alle entscheidenden Funktionen in der Redaktion ausübten. … Aus den Angaben der ehemaligen Korrespondenten geht hervor, dass die Reichweite der Zeitschrift für damalige Zeiten und Umstände sehr groß war. Dank der Kleinen Rundschau erweiterte sich der Einflussbereich der Korczak’schen Erziehungsideen erheblich, nicht nur im Kreis der Kinder.«26

26. Lewin, Aleksander: »Mały Przegląd« nie byl rzecza sama w sobie (Die »Kleine Rundschau« war nicht etwas Alleinstehendes). In: Międzynarodowe Stowarzyszenie im. Janusza Korczaka (Hg.): O »Małym Przeglądzie« pro latach (Über die »Kleine Rundschau« nach Jahren). Warszawa 1989, S. 91ff.

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12. Mahner und Forscher: 1926–1933 In den Jahren 1926 bis 1933 erfährt Korczaks Wirkungsfeld über die Kleine Rundschau hinaus eine weitere Öffnung nach außen. Die bisherige schwerpunktmäßige Konzentration auf Kindheits- und Erziehungsprobleme im Nahbereich wird erweitert. Er sensibilisiert jetzt Lehrer für schwierige Erziehungsaufgaben, prangert die Gesellschaft wegen ihrer Missachtung von Kindern an, entwickelt eine spezielle Pädagogik für Jugendliche, hält Vorlesungen an Hochschulen, spricht im Rundfunk, schreibt fürs Theater und führt soziometrische Forschungen durch.

12.1 Worauf kommt es bei der Erziehung an? (1926–1928) In seiner jüngsten Zusammenarbeit mit der Vierteljahresschrift Sonderschule (Szkoła Specjalna) und ihrer leitenden Redakteurin, Frau Professor Maria Grzegorzewska (1888–1967), veröffentlicht Korczak zwischen 1925 und 1939 wichtige Artikel für die Lehrerfortbildung, die sich um Themen der pädagogischen Theorie und Praxis ranken und schwierige Erziehungsaufgaben behandeln.1 1926 bis 1928 erscheinen in dieser Zeitschrift Aufsätze, die Korczaks neue, für seine Zeit fast revolutionären Positionen zu Erziehungsfragen verdeutlichen: Im Artikel Der kleine Übeltäter heißt es 1926: »Es gab ›Straf‹-Anstalten – es ist besser – es wird ›Erziehungs‹-Anstalten geben. Erziehen – bewahren – die Kinder unter den Fittichen des Wohlwollens und der Erfahrung schützen, in Wärme und Frieden, abschirmen gegen Gefahr, sie verwahren, abwarten, bis sie heranwachsen, erstarken, Kräfte gewinnen für einen selbstständigen Flug …«2 Auf diesen Erziehungsbegriff wird Korczak im Jahr 1937 noch einmal zurückkommen, wenn es um die Rettung der Kinder in den bedrohlichen dreißiger Jahren geht (Pkt. 13.15).

1. Sie sind im Band 9 der Sämtlichen Werke in einem eigenen Kapitel (4) zusammengefaßt. Zum Theorie-Praxis-Problem vgl. auch: Beiner, Friedhelm: Was Kindern zusteht. Janusz Korczaks Pädagogik der Achtung. Inhalt – Methoden – Chancen. Gütersloh 2008, S. 53ff. 2. SW, Bd. 9, S. 249.

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Im Aufsatz Das offene Fenster charakteresiert Korczak das, was alle Kinder – unabhängig von ihrer Herkunft und ihren Beeinträchtigungen – für eine gute Entwicklung brauchen, mit dem Bild des offenen Fensters: »Das Kind braucht Bewegung, Luft, Licht – einverstanden, aber auch noch etwas anderes. Den Blick ins Freie, – ein offenes Fenster.« Und als grundlegende Aufgabe des Erziehers prägt er im selben Artikel die aufklärerische Formel: »Ehrgeiz des Erziehers muss es sein, günstigste Ergebnisse auf dem Weg geringster Verletzungen der Menschenrechte zu erzielen.«3 Im Text Der Erzieher als Verteidiger reflektiert er 1927 als Gerichts-Sachverständiger über die Einstellung zu kriminellen Kindern und zieht zum Vergleich die Einstellung eines Artzes bzw. die eines Priester heran: »Zu Recht besteht das Prinzip, dass ein Arzt den Kranken pflegt, der zum Tod verurteilt ist. Zu Recht wird er durch einen Priester mit Gott versöhnt. Den Arzt kümmert der moralische Wert des Patienten nicht. Ich erinnere mich an die beschwerliche nächtliche Operation an einem notorischen Kriminellen. Ein Messer war ihm in den Bauch gestoßen worden. Telefonisch wurde der Chirurg, ein Oberarzt, herbeigerufen und Hilfe mobilisiert. Lange zog sich die Genesung hin. Auf mich (als Student) machte diese Tatsache einen starken Eindruck; sie gab mir Mut. Wenn doch die Erzieher durchdrungen wären vom Geist selbstloser Sorge gegenüber kriminellen Kindern. Man sorgt für den heutigen, heiteren, lindernden Tag – um die Zukunft mögen sich die Sicherheitsbehörden kümmern. Ich werde verbissen immer wieder auf die Verteidigung eben dieses Grundsatzes zurückkommen, entgegen der landläufigen Formel vom künftigen Glied der Gesellschaft, vom künftigen Bürger. Wer die Kindheit überspringen will und dabei in die fern liegende Zukunft zielt – wird sein Ziel verfehlen. Der Priester vernachlässigt den Augenblick des diesseitigen Lebens im Vergleich mit der Ewigkeit, er trennt die Nachsicht Gottes vom Maß menschlicher, strenger Gerechtigkeit. Darin liegt ein tiefer Gedanke.«4 Im Artikel Die Kaste der Autoritäten vergleicht er im selben Jahr die Arbeit eines bücherschreibenden pädagogischen Theoretikers mit der Masse der erziehenden Praktiker: »Das Buch – ein dicker Band, besser zwei Bände; der wissenschaftliche Titel des Verfassers: Direktor, Dr., Professor. Gering an Zahl und Auserlesenen. Außerdem die riesige Schar der durchschnitt3. Ebd., S. 253 und 254. 4. Ebd., S. 256.

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12.1 Worauf kommt es bei der Erziehung an? (1926–1928)

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lichen Mitarbeiter, das gemeine Volk der Praktiker. Höhen und Tiefen und dazwischen ein Abgrund. Hier – Ziele, Richtungen, Parolen, Verallgemeinerungen, dort mühselige Geschäftigkeit von einem Fall zum anderen. … Das Ganze fügt sich aus Kleinigkeiten zusammen. Über die zerschlagene Scheibe und das zerrissene Handtuch, den schmerzenden Zahn, den erfrorenen Finger und das Gerstenkorn im Auge – den verbummelten Schlüssel und das gestohlene Buch; das Brot, die Kartoffeln und fünf Deka Fett – durch tausendfache Tränen, Klagen, Unrecht und Schlägereien – durch das Gewirr von Bösem, Schuld und Fehlern – muss man sich durchkämpfen und sein heiteres Gemüt bewahren, um zu lindern, zu stillen, zu versöhnen und zu verzeihen, um das Lächeln gegenüber dem Leben und den Menschen nicht zu verlieren.« Und um seine Einschätzung von »Worten« gegenüber »Taten« durch eine anerkannte Autorität bekräftigen zu lassen, zitiert Korczak den polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz (der gesagt hatte: »In den Worten sehen wir nur den Willen, im Handeln die Kraft«): »Es ist schwieriger, einen Tag gut zu durchleben, als ein Buch zu schreiben.« Darum rät Korczak den Theoretikern der Erziehung, aus ihrem Elfenbeinturm herabzusteigen, praktische Erfahrungen zu sammeln und über diese Praxis zu schreiben: »Die Autoritäten mögen sich herablassen, über praktische Aufgaben zu reflektieren. Es muss der Zwang zum Schreiben existieren, als Zins der Erfahrung. Die Stille des Studierzimmers der Gelehrten sei dahin. Sie sollen Auge in Auge mit der Wahrheit, den Schwierigkeiten, dem Schrecken erzieherischer Arbeit konfrontiert werden.«5 Und im Aufsatz Gefühl lenkt er 1928 den Blick vom Intellekt zum Gefühl, weil dieses die Kinder weit mehr steuert als die Ratio: »Maschinen und Tests sagen, ob jemand begabt ist, ob er etwas kann; es bleibt aber das Tragische – will er denn überhaupt? Er könnte: nützlich und wertvoll, geachtet und glücklich sein – warum ist er ein Schädling, weshalb das Gefängnis? Sie versuchen, über den Intellekt an die Gefühle zu kommen. … Es gilt, den Menschen zu erkennen, also in erster Linie das Kind zu prüfen und auf tausenderlei Weise zu erproben! Andere können es – warum soll ich schlechter sein? Also tue auch ich das – unwissenschaftlich, unfachmännisch schaue ich mit bloßem Auge. Und mir scheint, es ist nicht der Intellekt. Ich sehe keinen Unterschied. Die Kinder und ich – der gleiche Prozess des Denkens – alles das Gleiche, nur lebe ich schon länger. Aber auf dem Gebiet der Gefühle ist das Kind anders. Also gilt es, nicht zu verstehen, sondern mit ihm mitzufühlen: sich kindhaft freuen und be5. Ebd., S. 264f.

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trübt sein, lieben und zürnen, beleidigt sein und sich schämen, Furcht haben und Vertrauen. Wie soll man es selber machen, und wenn das gelingt, wie es den anderen beibringen? Die Pädologie6 – vielleicht sage ich etwas Törichtes – muss sehr viel von der körperlichen Entwicklung und erst recht viel von den Gefühlen sprechen; der Intellekt kommt erst am Ende.«7

12.2 Öffentliche Anprangerung der Missachtung des Kindes (1929) Die zweite Auflage von Wie liebt man ein Kind versieht Korczak 1929 im Anschluss an die Proklamation der Grundrechte des Kindes mit einem Zusatz: »Wenn wir zur Achtung vor dem Kind und zum Vertrauen zu ihm heranwachsen, wenn es selbst Vertrauen gewinnt und sein Recht artikuliert – wird es weniger Rätsel und Fehler geben.«8 Wie notwendig es war, dass die damalige Gesellschaft »zur Achtung vor dem Kind und zum Vertrauen zu ihm« heranwachse, ist durch Katharina Rutschkys historische Quellensammlung Schwarze Pädagogik spätestens seit 1977 Teil des kollektiven Bewusstseins der aufgeklärten Bevölkerung. Die Texte, die eine unsagbare Missachtung des Kindes in der Geschichte der Erziehung aufdecken, erschrecken viele Erzieher bis heute. Korczak erkennt die gesellschaftliche Missachtung des Kindes schon 1929 und macht mit seiner ins Mark gehenden Anklageschrift Das Recht des Kindes auf Achtung auf seine Art darauf aufmerksam: »Von frühester Kindheit an wachsen wir in dem Bewusstsein auf, dass das, was größer ist – wichtiger ist als das Kleine. ›Ich bin groß‹, freut sich das Kind, wenn man es auf einen Tisch stellt. ›Ich bin größer als du‹, stellt es mit Stolz fest, wenn es sich mit einem Gleichaltrigen misst. Es ist verdrießlich, wenn man sich auf Zehenspitzen stellt und doch nichts erreicht; es ist mühsam, mit kleinen Schrittchen hinter den Erwachsenen herzutrippeln; das Glas rutscht aus der kleinen Hand. Ungeschickt, nur mit Anstrengung klettert es auf den Stuhl, in den Wagen, auf die Treppen; es kann die 6. Zur Jahrhundertwende versuchte man, eine experimentelle Wissenschaft zur Erforschung der physischen und psychischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu forcieren, die man als Pädologie bezeichnete. Die Pädologie untersuchte die biologischen (angeborenen) und umweltbedingten (sozialen) Einflüsse in der Ontogenese. Korczak zählte sich selbst zu den Pädologen und Pädiatern; vgl. die Antwort auf Frage 25 im Fragebogen von 1940 in SW, Bd. 8, S. 290. 7. SW, Bd. 9, S. 267. 8. SW, Bd. 4, S. 45. (Durch Kleindruck weist Korczak diesen Satz als Zusatz für die zweite Auflage des Buches von 1929 aus.)

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12.2 Öffentliche Anprangerung der Missachtung des Kindes (1929)

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Türklinke nicht fassen, nicht aus dem Fenster schauen, es kann nichts aufhängen, nichts herunternehmen, weil alles zu hoch ist. Steht es in der Menge, verdecken sie ihm die Sicht, sie bemerken es nicht, stoßen es an. Es ist unbequem und unerfreulich, klein zu sein. Achtung und Bewunderung weckt, was groß ist, mehr Raum einnimmt. Klein – das ist gewöhnlich, uninteressant. Kleine Leute, kleine Bedürfnisse, kleine Freuden und Leiden.«9 Die alltäglichen Lebenserfahrungen des Kindes besagen: »Was imponiert, das ist: eine große Stadt, hohe Berge, ein riesiger Baum. – Wir sagen: ›Eine große Tat, ein großer Mensch.‹ Das Kind ist klein, leicht, es ist weniger. … Was schlimmer ist, das Kind ist schwach.«10 Und das hat Folgen: »Das Gefühl der Ohnmacht erzieht zur Verehrung der Stärke; jeder, nicht nur der Erwachsene, sondern jeder Ältere und Stärkere kann seine Unzufriedenheit brutal ausdrücken, seine Forderung durch Stärke bekräftigen und Gehorsam erzwingen: Er kann ungestraft Unrecht tun. Durch unser eigenes Beispiel lehren wir zu verachten, was schwächer ist. Eine schlechte Schule, eine finstere Prognose.«11 Und bei der Sichtbarmachung unserer Einstellung und unses Habitus erklärt sich diese finstere Prognose: 12 »Wir kennen den Weg zum Glück, wir geben Hinweise und Ratschläge. Wir entwickeln die Tugenden und unterdrücken die Laster. Wir lenken, verbessern, trainieren. Es ist nichts, wir sind alles. … Wir missachten das Kind, weil es nichts weiß, nichts ahnt, nichts voraussieht. Es kennt die Schwierigkeiten und Komplikationen des Erwachsenenlebens nicht … . Es meint, das Leben sei einfach und leicht. Es gibt den Papa, da ist die Mama; der Vater verdient, die Mutter kauft ein. Es weiß nichts von Pflichtvergessenheit und von den Methoden, die der Mensch im Kampf um das Seine und noch darüber hinaus anwendet. … Wir achten das Kind gering … . Beaufsichtigen, keinen Moment aus den Augen lassen. Aufpassen, nicht allein lassen. Überwachen, auf Schritt und Tritt verfolgen. 9. 10. 11. 12.

Ebd., S. 385. Ebd. Ebd., S. 385f. Um die irrationalen Abwertungen der Kinder durch die Erwachsenen deutlich zu machen, werden im folgenden Text – abweichend vom Original – das Wir und das Es durch Kursivschrift hervorgehoben.

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Es fällt hin, es stößt sich, es verletzt sich, es macht sich schmutzig, es verschüttet etwas, es zerreißt, zerbricht, verdirbt, verschlampert, verliert etwas, es spielt mit dem Feuer, es lässt einen Dieb ins Haus. Es schadet sich und uns, es macht sich, uns und seinen Spielkameraden zum Krüppel. … Wir haben den Wunsch, dass die Kinder besser werden, als wir es sind. Wir träumen vom perfekten Menschen der Zukunft. … Wir haben uns mit uns selbst verständigt und versöhnt, wir haben uns selbst verziehen und uns von der Pflicht, uns zu bessern, freigesprochen. Man hat uns schlecht erzogen. Nun ist es zu spät. Unsere Fehler und Untugenden haben schon Wurzeln geschlagen. Wir erlauben den Kindern nicht, uns zu kritisieren, und kontrollieren uns selbst nicht. Einmal freigesprochen, haben wir auf den Kampf mit uns selbst verzichtet und beschweren mit seiner Last die Kinder.«13 »Das bringt den Erzieher zu Fall: Er verachtet, misstraut, verdächtigt, verfolgt, erwischt, tadelt, klagt an und bestraft, er sucht geeignete Mittel zur Vorbeugung; immer häufiger spricht er Verbote aus und übt immer rücksichtsloser Zwang aus; er sieht nicht die Anstrengung des Kindes, ein Blatt Papier oder ein Stundenblatt seines Lebens sorgfältig zu beschreiben; er behauptet kalt, es sei schlecht. Selten zeigt sich das Himmelblau des Verzeihens, häufig das Scharlachrot des Ärgers und der Entrüstung.«14 Diese Missachtung des kindlichen, Erfahrung sammelnden Bemühens, eine Seite seines Lebens sorgfältig zu beschreiben, kann nicht ohne Folgen bleiben: »Die Antwort auf schlechte Behandlung ist Geringschätzung, die Antwort auf vorgetäuschtes Wohlwollen Unwillen und Aufruhr, auf Misstrauen – Verschwörung.«15 Lange bevor die Sozialwissenschaftler den Teufelskreis der Etikettierungsfolgen im sog. labelig approach formulieren werden, macht Korczak schon auf den Zusammenhang zwischen Missachtung und entsprechendem reaktivem Verhalten der Kinder aufmerksam, allerdings mit seinen (literarischen) Mitteln. Korczaks Vertrauen dem Kind gegenüber zeigt sich darin, dass er ihm zutraut, zu Willensbildung und Selbstbestimmung fähig und bereit zu sein, dass es das Gute anzustreben und das Böse zu überwinden trachtet. Und dieser Einstellung liegen eigene Erfahrungen zugrunde: »Meine langjährige Arbeit bestätigte immer offensichtlicher, dass die Kinder Achtung, Vertrauen und Zuneigung verdienen, dass es in einer heiteren Atmosphäre 13. SW, Bd. 4, S. 388–406. 14. Ebd., S. 394. 15. Ebd., S. 395.

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12.3 Das Recht des Kindes auf Achtung (1929)

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behutsamer Empfindungen, fröhlichen Lachens, lebendigen Bemühens und Sich-Wunderns, reiner, ungertübter, teurer Freuden angenehm ist, mit ihnen zusammen zu sein, und dass die Arbeit anregend, fruchtbar und schön ist.«16 Wir müssen unsere oft irrationale Einstellung also korrigieren: »Das Kind ist ein vernünftiges Wesen, es kennt sehr wohl die Bedürfnisse, Schwierigkeiten und Hindernisse seines Lebens. Nicht der despotische Befehl, die aufgezwungenen Ordnungen und die misstrauische Kontrolle, sondern taktvolles Vorgehen, Glaube an Erfahrung, Zusammenarbeit und Zusammenleben. Das Kind ist nicht dumm; es gibt unter den Kindern nicht mehr Dummköpfe als unter den Erwachsenen.«17 Darum fordert Korczak:

12.3 Das Recht des Kindes auf Achtung (1929) Der Autor appelliert an die Generation der Erwachsenen: Lasst uns Achtung haben vor der Unwissenheit des Kindes, vor seiner Erkenntnisarbeit, vor den Misserfolgen und Tränen, vor dem Eigentum des Kindes, vor seinen Geheimnissen und vor der schweren Arbeit des Wachsens, vor der gegenwärtigen Stunde, dem heutigen Tag, vor jedem einzelnen Augenblick, denn er verlöscht und wird sich nie wiederholen.18 Mit dem Recht des Kindes auf Achtung von 1929 wird die Charta der Grundrechte des Kindes von 1918 nicht nur zusammengefasst, sie bekommt auch den Status von Menschenrechten. Der Leitgedanke für alle pädagogischen Überlegungen lautet bei Korczak: »Das Kind ist ein ebenso wertvoller Mensch wie wir.«19 Und als Mensch hat das Kind Anspruch auf die Menschenrechte, die ja nach Immanuel Kant auf der Achtung der Menschenwürde basieren: »Achtung, die ich für andere trage, oder die ein anderer von mir fordern kann (observantia aliis praestanda), ist also die Anerkennung einer Würde (dignitas) an anderen Menschen, d. i. eines Werts, der keinen Preis hat, kein Äquivalent … . Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden anderen verbunden. Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch gar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muss jederzeit zugleich als 16. 17. 18. 19.

Ebd., S. 395f. Ebd., S. 402. Vgl. ebd., S. 402ff. Ebd., S. 417.

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Zweck gebraucht werden. Gleichwie er also sich selbst für keinen Preis weggeben kann (welches der Pflicht der Selbstschätzung widerstreiten würde), so kann er auch nicht der ebenso notwendigen Selbstschätzung anderer, als Menschen, entgegenhandeln, d. i. er ist verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen, mithin ruht auf ihm die Pflicht, die sich auf die jedem anderen Menschen notwendig zu erzeigende Achtung bezieht.«20 Kants Erkenntnis, dass ein jeder Mensch »rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen« hat, gilt – und das ist die große Errungenschaft des Korczak’schen Denkens – ohne Einschränkung auch für das Kind; er proklamiert: Das Kind hat als Mensch einen Anspruch auf Achtung von Seiten der Erwachsenen, es darf nicht dem Belieben der Gesellschaft, nicht dem Gutdünken des Erziehers und auch nicht dem Wohlwollen eines mütterlichen Herzens überlassen bleiben, was dem Kind geschieht. Und ein Verhalten, wie Korczak es 1921 in der »Episode« in Utrat beobachten musste (S. 154f.), widerspricht diesem »rechtmäßigen Anspruch« des Kindes auf Achtung als Mensch. Damit wird der gesellschaftliche Emanzipationsprozess der Aufklärungszeit einen entscheidenden Schritt vorangebracht: Das Menschenrecht auf Achtung gilt auch für jedes Kind.21 So dass alle von Korczak bis20. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten. In: Ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 7. Darmstadt 1968, S. 600f. 21. Trotz der Übereinstimmung in der Betonung der Achtung scheint zwischen Kants und Korczaks Denken ein Widerspruch zu bestehen hinsichtlich der Bedeutung der Erziehung. Denn bei Kant heißt es: »Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung«, und bei Korczak: »Kinder werden nicht erst Menschen, sie sind es bereits«, d. h. sie müssen nicht erst zu Menschen erzogen werden. Auf den ersten Blick scheinen beide Autoren entgegengesetzte Überzeugungen zu vertreten. Bei genauer Betrachtung kommt man aber zu einer überraschenden Erkenntnis: Die auf die »Bestimmung des Menschen« gerichtete Argumentation Kants hinsichtlich der Menschwerdung durch Erziehung ist nur ein scheinbarer Widerspruch zur Korczak’schen Position des Menschseins des Kindes. Denn: Nach Kant weist sich der Mensch (als Gattung) durch sein Unfertigsein, sein »Werden«, aus; als »vernunftbegabtes Lebewesen« bleibt ihm seine »Bestimmung«, die Verpflichtung auf die »Idee der Menschheit«, d. h. auf einen »zukünftig möglichen besseren Zustand des menschlichen Geschlechts«, stets aufgegeben. (Dieser Befund deckt sich mit dem anderer Anthropologen: Der im Mensch-Tier-Vergleich feststellbare »Mangel an Instinkten« [Kant; Gehlen] ist kein Nachteil, sondern eine Auszeichnung, da es die Würde des Menschen ausmacht, als »erster Freigelassener der Schöpfung« [Herder] seine Bestimmung, die »Menschlichkeit«, erst selbst zu schaffen.) Und für mehr »Menschlichkeit« durch Erziehung kämpfte ja auch Korczak. Denn natürlich sind Menschen erziehungsbedürftig, aber – und dies ist das Hervorzuhebende für ihn – als Erzieher haben die Erwachsenen die erste Pflicht, an sich selbst und ihrer Erziehungskompe-

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12.3 Das Recht des Kindes auf Achtung (1929)

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her für die Kinder gefordeten Rechte nun zusammengefasst sind zu einem umfassenden Grundrecht eines jeden Kindes – zum unverfügbaren Recht des Kindes auf Achtung.22 tenz zu arbeiten, sich selbst zu erziehen, damit sie bessere Erziehungshelfer für die Kinder und damit letztlich auch für die Gattung »Mensch« sein können. Trotz seines engagierten Eintretens für die Geltung des Menschseins des Kindes – erkennt auch Korczak die Bedeutung des Werdens in der menschlichen Existenz an, wenn er zum Beispiel schreibt: »Denn der Mensch unterscheidet sich vom Vieh darin, dass ihn nicht nur die eigene Krippe etwas angeht, sondern das Schicksal aller Menschen – der Menschheit. Denn der Mensch unterscheidet sich vom Vieh darin, dass er sich ständig vervollkommnen will: Er forscht, sucht und verbessert.« (SW, Bd. 7, S. 338) Auch nach Korczak bleibt uns die Verwirklichung der Menschlichkeit im Menschsein stets aufgegeben: »Versuchen wir, Mensch zu sein, mehr und mehr Mensch.« (SW, Bd. 6, S. 336) Für ihn gilt: »Wert« und »Würde« des Menschen – aber auch des Menschenkindes! – resultieren aus ihrer doppelten Auszeichnung: Sie sind zugleich »seiend« und immer auch »werdend«. Und beide, das Kind genauso wie der Erwachsene, haben als Menschen ein Recht auf Achtung, haben aber als Erziehungsbedürftige auch die Pflicht, an sich zu arbeiten. 22. Wie kam es zu Korczaks programmatischer Schrift über das Recht des Kindes auf Achtung? In seinem Vortrag Der Frühling und das Kind hatte er 1921 bereits auf die gesellschaftlich praktizierte Missachtung des Kindes hingewiesen und eine »wissenschaftliche Definition« des Kindstatus gefordert. 1928 erreichte die Diskussion der Kinderrechte dann öffentliche Aufmerksamkeit mit der Proklamation der »Woche des Kindes« (17.-23.9.1928) durch das Polnische Kinderschutzkomitee (forciert durch Stefania Sempołowska). Die Veranstalter verwiesen auf die Probleme der Kinder, die »der Hunger quält, die durch Kälte, Elend und Obdachlosigkeit … und nicht selten durch die häuslichen Bedingungen verdorben werden«. Als Mitglied des Exekutivkomitees nahm Korczak vermutlich an den Vorbereitungen und den anschließenden Feierlichkeiten in Warschau teil. Dies könnte seine Arbeit an Das Recht des Kindes auf Achtung ebenso beeinflusst haben wie die zahlreichen Buchveröffentlichungen des Jahres 1928. Unter dem Titel »Declaracja Praw Dziecka« w twórczości dziecięcej (»Erklärung der Rechte des Kindes« in Darstellungen von Kindern) publizierte das Polnische Kinderschutzkomitee eine Broschüre, die u. a. Illustrationen einzelner Thesen der »Genfer Erklärung« der Kinderrechte enthielt. Und im Oktober 1928 äußerte sich Korczak zu der von Stanisław Mar im Morgenkurier angeregten Ergänzung des polnischen Strafgesetzbuches um einen Paragraphen, der das misshandelte Kind unter Schutz stellt. In einem Brief an die Redaktion des Morgenkurier schrieb er, dass das Problem allein mit einem neuen Pargraphen nicht zu lösen sei, da man in allen gesellschaftlichen Bereichen Gewalt gegen Kinder toleriere und Kinder allenthalben geschlagen würden, obwohl ein polnisches Gesetz dies bereits jetzt verbiete: »Es prügeln die Eltern, die Arbeitgeber, die Erzieher, die Lehrer, die Priester und die Melamdim. Geschlagen und misshandelt werden die Kinder von der erwachsenen Generation, leider auch von der jungen Generation der Erzieher und von den Jugendlichen. Wer stärker ist, hat Recht. … Man schlägt Kinder, weil sie ungehorsam und quecksilbrig sind, weil sie nicht ruhig in den von Ausdünstungen vergifteten, überfüllten Klassen-

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Der Anspruch auf Achtung wird bei Kant, wie dargestellt, rückbezogen auf die Würde des Menschen. Diesen Rückbezug auf die Würde des Menschen werden wir auch bei Korczak – im Jahr 1937 anlässlich der dann aktuellen »Krise der Moral« – kennen lernen, wenn er sich ausdrücklich auf »den Wert und die Würde des Menschen und der Menschheit«23 beruft. Bei Korczak sind aber zwei Dinge hervorzuheben: Zum einen spricht er vom »Glauben an den Wert und die Würde des Menschen«, d. h.: Er stellt klar, dass es sich hier um eine glaubensmäßige moralische Positionierung handelt, und zum zweiten ist diese Positionierung für ihn nicht nur eine letztgültige Norm in einer allgemeinen Wertehierarchie, sondern auch der »Grundstein« jeglicher »Erziehung«.24

12.4 Lebensregeln (1929) Nach der Kinderrechtsdiskussion veröffentlicht Korczak 1929 ein Buch mit dem Titel: Lebensregeln. Pädagogik für Jugendliche und Erwachsene.25 Die ersten Adressaten des Textes sind also Jugendliche. Erwachsene bezieht er wohl deshalb mit ein, weil er ihnen etwas Wichtiges bewusst machen will: »Junge Menschen haben ihre eigenen Angelegenheiten, ihre eigenen Sorgen, ihre eigenen Tränen und Freuden, ihre eigenen jungen Ansichten und ihre eigene junge Poesie.«26

räumen sitzen können, weil die Eltern keine eigene Wohnung haben, weil eine Einschränkung, eine Ausweisung oder Steuern drohen … Die einen prügeln nur, andere küssen und schlagen abwechselnd … Ein großer Teil des Landes wurde in einer Schule völliger Rechtlosigkeit erzogen.« (Kinder – vergöttert – und Kinder der Armut, in SW, Bd.9, S. 582f; vgl. auch Über Schläge für Kinder, S. 331f) Darum kämpft Korczak öffentlich für einen Einstellungwandel den Kindern gegenüber und für die Anerkennung ihrer Menschenwürde. Als Vorarbeiten für seine Ausführungen verwendet er vermutlich drei seiner Vortragsmanuskripte aus den Jahren 1926–1928. Im Frühjahr 1926 hatte er eine Diskussionsreihe zum Thema Rechte des Kindes eröffnet, organisiert von der Sonderschulabteilung des Elementarschullehrerverbandes. 1927 hielt er auf einem zweimonatigen Fortbildungskurs für Erzieher an Fürsorgeeinrichtungen einen Vortrag: Das Recht des Kindes als Individuum. Und zur Jahreswende 1927/1928 nahm er an einer Vortragsreihe über Das benachteiligte Kind teil, die von der Kommission für Öffentlichkeitsarbeit des Polnischen Kinderschutzkomitees durchgeführt wurde. 1929, ein Jahr nach der Vortragsreihe, erscheint Das Recht des Kindes auf Achtung. 23. SW, Bd. 9, S. 231. 24. Ebd. 25. SW, Bd. 3, S. 277ff; 1929 zu Weihnachten in Krakau erschienen, im Impressum vordatiert auf 1930. 26. Ebd., S. 280.

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12.4 Lebensregeln (1929)

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Am Anfang wird berichtet, dass der Autor schon lange die Absicht hegte, der Jugend etwas mit auf den Lebensweg zu geben, aber lange Zeit skeptisch war, ob ihm das gelingen würde. Bis ihm ein Junge in einem Gespräch Folgendes sagte: »Wir sind häufig deshalb in großer Not, weil wir die Lebensregeln nicht kennen.« »›Lebensregeln.‹ … Der Junge hat die Wahrheit gesagt – das ist es. Und ich entwarf einen Plan. Ich werde über ihr Zuhause schreiben, … über ihre Spiele daheim und über ihre Kümmernisse.«27 Denn, so Korczaks Überlegung, obwohl Kinder und Jugendliche im Grunde genommen »Dichter und Philosophen«28 sind, fällt es ihnen schwer zu sagen, »was sie fühlen und worüber sie nachdenken, weil man es in Worten ausdrücken muss.«29 Sie »sprechen nicht gern darüber, was sie wirklich empfinden und was sie wirklich denken. Sie vertrauen uns ihre Schwierigkeiten und Zweifel, ihre Träume und Zukunftspläne, ihre Erfahrungen aus der Vergangenheit nicht gern an. Der eine will nicht sprechen, weil er sich nicht sicher ist: Mal scheint ihm eine Sache so, mal wieder anders. Und es ist ihm peinlich. Er weiß nicht, dass auch die Erwachsenen vieles nicht ganz sicher wissen, und dass sie verschiedene Gedanken haben, dass sie schwanken und irren. Ein anderer will nicht sprechen: Er hat Angst, dass man ihn auslacht, dass man Witze reißen wird über das, was für ihn ernst und wichtig ist. Ein dritter möchte schon reden, aber er weiß nicht, wie er anfangen soll. Am allerschwierigsten ist es ja, über das zu sprechen, was einen am meisten beschäftigt.«30 Aus allen diesen Gründen bringt Korczak Dinge zur Sprache, die den Jugendlichen Probleme bereiten oder die sie verunsichern und die sie am liebsten mit einfachen Lebensregeln aus der Welt schaffen würden – aber dem auf Hilfe bedachten Pädagogen bleibt ja nur das Mittel des verständnisvollen Problematisierens. Darum thematisiert der Autor Fragen unterschiedlicher Lebenszusammenhänge der Jugendlichen: Etwa ihr Zuhause: »Jeder möchte, dass daheim alle zufrieden und guter Dinge sind, dass man ohne Sorgen lebt. Aber man muss sich damit abfin27. Ebd., S. 279. 28. »Ein Dichter ist ein Mensch, der sehr ausgelassen und sehr betrübt sein kann, der leicht zornig wird und stark zu lieben versteht – der stark empfindet, mitfühlt und mitleidet. Und genau so sind Kinder. Ein Philosoph aber ist ein Mensch, der sehr lange überlegt und unbedingt wissen will, wie alles in Wirklichkeit ist. Und wiederum, genau so sind Kinder.« (Ebd., S. 362) 29. Ebd., S. 362. 30. Ebd., S. 358.

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den, dass nicht immer alles zum Besten stehen kann. Ein Tag ist fröhlich, ein anderer traurig, eine Sache gelingt, eine andere nicht. Einmal herrscht Sonnenschein, ein andermal Regen.«31 Und nicht jeder der Kameraden genießt bei allen anderen große Sympatien: »Wer gut aussieht – gewinnt leichter Sympathien. Ja, für den Gesunden, Gutaussehenden, Lustigen, Begabten ist es auch leicht, sympathisch zu sein. Er selbst lächelt die Leute freundlich an, und die Leute erwidern sein Lächeln. Den Schwachen, Hässlichen, Mürrischen und Unbegabten wird man meist angreifen und schikanieren. Er nähert sich den Menschen voll Misstrauen, beneidet die glücklicheren Kameraden.«32 Auch der Umgang mit dem Spiel will gelernt sein. Hier nennt der Autor eine Regel: »›Man soll sich eines Spiels nicht schämen. Es gibt keine kindischen Spiele.‹ Die Erwachsenen sagen zu Unrecht, und die Eingebildeten beten es nach: ›So ein großer Junge – und spielt wie ein Kind. So ein großes Mädchen – und spielt noch mit Puppen.‹ Es ist nicht wichtig, womit man spielt, sondern wie und was man dabei denkt und fühlt. Man kann vernünftig mit einer Puppe und albern und unreif Schach spielen. Man kann interessant und phantasievoll Feuerwehr, Eisenbahn, Jagd, Indianer spielen und gedankenlos Bücher lesen. Ich habe einen Jungen gekannt, der nicht nur las, sondern auch selbst hübsche Gedichte und Erzählungen schrieb, und sein Lieblingsspielzeug waren Soldaten: Er besaß ganze Regimenter verschiedener Waffengattungen und verschiedener Nationen, baute sie auf dem Tisch auf, am Fenster, auf dem Fußboden, auf Stühlen, zeichnete Landkarten und Pläne. Es ist keine Schande, mit Mädchen und Jüngeren zu spielen. Ich habe bemerkt, dass die Jüngeren nicht immer gern von ihren Spielen erzählen und sich schämen, wenn ein Erwachsener zuhört: Sie haben Angst, ausgelacht zu werden, weil sie ihre jungen Träume nicht zu verteidigen wissen. Ich sage nicht: ›Spiel das und das. Spiel mit denen da.‹ Zum Spiel braucht man einen vertrauten Gefährten und Inspiration, also Freiheit.«33 Und Regeln für das Lernen? »Der eine – hört etwas nur einmal und begreift sofort, ein Gedicht liest er sich einmal durch und kann es fehlerlos aufsagen. Der eine lernt leicht, aber vergisst rasch, ein anderer behält alles lange. Der eine ist besser im Mündlichen, der andere, wenn er es aufschreibt. Der eine beginnt sofort, 31. Ebd., S. 282. 32. Ebd., S. 341. 33. Ebd., S. 317.

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12.4 Lebensregeln (1929)

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dem anderen fällt gerade der Anfang am schwersten. Der eine wird leicht ungeduldig und verliert rasch die Lust, der andere hat es gern schwer; was leicht ist, langweilt ihn. Der eine schließlich erzählt frei heraus, man hilft ihm nur mit einem Wörtchen, schon weiß er weiter, irgendwie windet er sich heraus und hinterlässt einen guten Eindruck. Und der andere ist schüchtern und unsicher, selbst wenn er es weiß und kann, sieht er aus, als würde er stottern und herumraten. Zu dem einen sagt der Lehrer: ›Nicht so hastig. Lass dir Zeit.‹ Zu dem anderen immer wieder: ›Na, weiter. Na, mach schon.‹ Der eine hat also bessere Noten, als ihm zustehen, er kommt spielend von Klasse zu Klasse und der andere strampelt sich ab, erhält unter Mühen, beständig bangend, mit Ach und Krach die Versetzung. … Es ist keine Schande, etwas nicht zu wissen, sich zu irren, etwas zu vergessen; auch der Allergescheiteste kann einmal eine Frage nicht verstehen, kann etwas Dummes sagen.«34 Und wann verhält man sich »gut«? Der Autor identifiziert sich mit den Wertungen von Kindern: »Ich habe oft darüber nachgedacht, was es heißt, gut zu sein. Ich glaube, gut ist jemand, der sich vorstellen kann, wie einem anderen zumute ist, der nachfühlen kann, was der andere fühlt. Wenn einer einen Frosch oder eine Fliege quält, sagt der andere: ›Was wäre, wenn man es mit dir so machen würde?‹ … Wir sollten Mitgefühl haben mit den Guten und mit den Bösen, mit den Menschen und mit den Tieren, selbst mit einem umgeknickten Bäumchen und mit einem Stein. Ich kenne einen Jungen (inzwischen ist er groß), der sammelte Steine vom Weg auf und trug sie in den Wald: Dort wird keiner auf ihnen herumtrampeln.«35 Und wie steht es mit dem Mögen und Nicht-Mögen? Worauf kommt es an? Korczaks Antwort stützt sich auf seine Erfahrungen mit Kindern: »Inzwischen weiß ich, wie mir scheint, wen beinahe alle am meisten mögen. Nicht den Hübschesten, nicht den Lustigsten, nicht den Begabtesten – einen, der gerecht, gefällig und taktvoll ist. Es ist nicht leicht zu erklären, was Takt bedeutet. Taktvoll ist wohl jemand, der mit Menschen umzugehen versteht. Er erkennt entweder durch Güte oder mit dem Verstand, was jemandem gerade am meisten fehlt, und er ist gern bereit zu helfen. Er ist behutsam; bei einem Streitsüchtigen liegt ihm nichts daran, auf seiner Meinung zu bestehen, er rühmt sich nicht und spottet nicht, den Traurigen verstört er nicht durch einen Scherz, er greift nicht ein und erteilt keine Ratschläge, solange er nicht darum gebeten wird, er redet nicht zu viel, er 34. Ebd., S. 335f. 35. Ebd., S. 327.

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wird nicht wütend, und er versucht, jeden zu entschuldigen und in Schutz zu nehmen. Er ist nicht da, wenn er nicht gebraucht wird, doch er ist zur Stelle, wenn er sich nützlich machen kann. Er drängt seinen Beistand nicht auf, aber er versagt ihn auch nicht. Ungebeten nimmt er niemanden in Schutz, aber er hat keine Angst, jemanden zu verteidigen, sobald er Ungerechtigkeit und Unrecht sieht. Er fürchtet weder die Kameraden noch den Lehrer, also hat er manchmal Unannehmlichkeiten, ein paar sind ihm nicht wohl gesonnen.«36 Und zum Schluss: Gibt es auch Hilfen (Regeln?) zur Vermeidung von unerwünschtem Verhalten? Korczak legt Wert auf die Selbsterziehung von Kindern und Erwachsenen. Als Hilfsmittel führte er in den Waisenhäusern u. a. das Wetten37 ein, für das er in den Lebensregeln ein Beispiel gibt: »Ich kannte einen Jungen, der sich prügelte, manchmal zwei-, dreimal am Tag. Er konnte diesen Fehler nicht abstellen. Ich riet ihm: ›Prügel dich einmal am Tag.‹ Er war einverstanden. Er hatte einen starken Willen. Wir wetteten um zwei Bonbons pro Woche: ›Wenn du dich nicht mehr als siebenmal geprügelt hast, geb’ ich dir zwei Bonbons für die Woche; wenn du verlierst, gibst du sie mir.‹ So ging das vier Monate. Anfangs wetteten wir nur um die Prügelei zu Hause, dann um die zu Hause und die in der Schule. Anfangs um sieben Prügeleien, dann um sechs, um fünf, um vier, drei, zwei, eine Prügelei pro Woche. Schließlich um Null, keine einzige. … Ich erinnere mich an seinen letzten Sieg. Er stand auf der Treppe. Da kam ein anderer Junge angerannt und rempelte ihn an, also rempelte er zurück. Aber der andere war auch ein Kampfhahn: Er stieß wieder zu. Und er: Er lief rot an, runzelte die Brauen, biss sich auf die Lippen, ballte die Fäuste. Das dauerte nur kurz. Plötzlich spannte er sich, rannte ganz schnell die Treppe hinunter geradewegs auf den Hof. Dort stand er lange, wartete, bis er sich beruhigt hatte. Als unser Wetttag kam, sagte er lächelnd: ›Um ein Haar hätte ich verloren; beinahe hätte ich mich geprügelt.‹ Jetzt ist der Junge schon erwachsen; er sagt, durch die Wetten habe er sich die Schlägereien abgewöhnt.«38

36. Ebd., S. 344. 37. Viele Ehemalige berichten darüber, beispielsweise: Izrael (Stasiek) Zyngman, Teresa Osińska, Michał Wróblewskie und Ada Nehustai, alle in: Beiner, F./Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 86ff, 105, 175f , 330. 38. SW, Bd. 3, S. 350.

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12.5 Vorlesungen an Hochschulen (1929ff)

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12.5 Vorlesungen an Hochschulen (1929ff) Die Fachschule für Sozial- und Bildungsarbeit an der Freien Polnischen Universität betraut Korczak 1929 mit der Durchführung einer Vortragsreihe (Vorlesung) zum Thema Die Gesellschaft der Kinder; die Reihe wird bis 1939 durchgeführt werden. Er übernimmt auch Veranstaltungen am Staatlichen Institut für Sonderpädagogik und am Staatlichen Lehrerinstitut. Die Zusammenarbeit wird von Maria Grzegorzewska initiiert, die beide Institute bis 1935 leiten wird. Korczaks Veranstaltungen sind mit der pädagogischen Praxis des Dom Sierot und des Nasz Dom verknüpft und sprechen die werdenden Erzieher durch ihre originellen Aspekte unmittelbar an, was an zwei Beispielen veranschaulicht werden kann: • Der werdende Sozialpädagoge und spätere Mitarbeiter Korczaks, Michał Wróblewski, berichtet aus seiner Studienzeit: »Korczaks Unterricht wird mir immer im Gedächtnis bleiben. Ein Beispiel: Seine Vorlesungen während meines ersten akademischen Jahres auf der Hochschule. Der Doktor erscheint mit einem kleinen Jungen an der Hand und teilt den Studenten mit, dass die Vorlesung im Röntgenlabor stattfinde. Das durch die Anwesenheit der vielen Leute und die Dunkelheit erschrockene Kind hält krampfhaft die Hand des Doktors. Auf der hellen Leinwand erscheint ein kleines, stark pulsierendes Herz. Dazu die leise Stimme des Doktors: ›Betrachtet es und vergesst es nicht! Wenn ihr müde und schlecht gelaunt seid, wenn die Kinder unerträglich sind und euch aus dem Gleichgewicht bringen, wenn ihr erregt darauf reagieren wollt – denkt daran, dass das Herz eines (ängstlichen) Kindes so aussieht und dass es so schlägt.‹«39 • Ein Fortbildungs-Student berichtet: »Als Hörer des Staatlichen Lehrerbildungsinstituts … habe ich Dr. Janusz Korczak persönlich kennen gelernt. Er sprach über ausgewählte Erziehungsfragen. Den Inhalt seiner Vorträge entnahm er eigenen Beobachtungen, Gedanken und Erfahrungen. Er stützte sich auf keinerlei pädagogische Doktrinen oder Konzeptionen. Sein Herangehen an die Fragen war unmittelbar und bescheiden. Vor Beginn seines Vortrags zog er einen Stapel Zettel aus der Tasche, die mit einem Gummiring, meistens von einem Weckglas, zusammengehalten wurden. Auf den Zetteln hatte er bestimmte Erziehungsphänomene notiert, die sich ihm bei seiner Arbeit mit den Kindern im Waisenhaus aufgedrängt hatten. Zunächst las er den Inhalt der Notiz, die er in statu nascendi niedergeschrieben hatte, nahm dann die Brille von einem Ohr, so dass sie vom anderen (rechten) herunterhing, und 39. Wróblewski, Michał: Doktor Korczak hat die Medizin nicht verraten. In: Beiner, F./ Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung…, a. a. O., S. 186.

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entwickelte konzentriert den in jener Verkürzung enthaltenen Gedanken. Über den zusammengezogenen Brauen zeichneten sich dann zwei charakteristische tiefe Furchen ab. Seine Kommentare versetzten uns in Staunen, erweiterten den pädagogischen Horizont, erfreuten, zwangen zum Überlegen, weckten Vertrauen in die pädagogischen Maßnahmen und entfachten Begeisterung für die Erziehungsarbeit. Er sprach fast genauso, wie er schrieb: straff, in kurzen Sätzen. Nie verkündete er unverrückbare Wahrheiten und Doktrinen oder fertige Rezepte. Unwillkürlich brachte er uns dazu, alle Erziehungsphänomene tiefer zu erfassen, über die Reaktion der Zöglinge nachzudenken; er lehrte uns die Achtung vor jedem Kind. Mit Spannung lauschte man der neuen, ganz anderen Behandlung der Probleme. Anfangs schien es so, als fehle es seinen Seminaren in der äußeren Form an Methode, bald jedoch bemerkte man einen kristallisierten und beabsichtigten Arbeitsstil. Seine Methode geistiger Arbeit ging unmerklich auf uns über. Mancher Kursteilnehmer des Instituts benutzte sie später in seiner Praxis. Ich persönlich habe von Janusz Korczak gelernt, alle erzieherischen Momente, denen ich bei meiner pädagogischen Arbeit begegnete, auf Handzetteln zu notieren. Selbstverständlich ging es nicht nur um diese Zettel, sondern vor allem um die wichtigsten, beim Durchleben dieser erzieherischen Momente entstehenden Gedanken, also um das kurze, knappe Festhalten des Wesens eines Phänomens. Je mehr ich zu tun hatte, desto mehr Gedanken schossen mir durch den Kopf, desto weniger Zeit blieb für ausführliche Aufzeichnungen. Da kam mir Janusz Korczak mit seiner Methode, sich Notizen zu machen und sie dann zu verarbeiten, immer näher. Das erlaubte mir, meine theoretischen Kenntnisse im Alltag praktisch zu verwerten, vor allem aber eigene, individuelle Methoden zur Lösung erzieherischer Probleme zu finden. Mit anderen Worten: Diese Methode zwang zu schöpferischer Arbeit. Ich lernte, den Schüler konkret anzuschauen, ihn allseitig kennen zu lernen, sein Handeln und Denken zu verstehen. Ich hörte auf, das Vorgehen der Kinder und Jugendlichen schablonenhaft, nach bestimmten Maßstäben zu beurteilen. Solche Art von Arbeit gewährt mir viel persönliche Befriedigung.«40

40. Waszek, Alojzy: Was Korczak mir gab. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Messe-Sondernummer vom 6.9.1972, S. 12f.

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12.6 Erste Arbeiten für den Rundfunk (1930/31)

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12.6 Erste Arbeiten für den Rundfunk (1930/31) Um neben den Kindern seiner Heime auch die Kinder ganz Polens zu erreichen, schreibt Korczak 1930/31 zwei Texte für Sendungen, die der Polnische Rundfunk anlässlich der »Woche des Kindes« ausstrahlt: Für den neu eingerichteten »Tag des Kindes« wird 1930 ein Feuillton gesendet, mit dem er Eltern, Erzieher und Kinder anspricht: Das Fest des Kindes.41 »Wenn etwas Neues anfängt, weiß man nie genau, was daraus wird. Erst während der Arbeit hat man verschiedene Einfälle. Der Tag des Kindes, wie die einen sagen, oder das Fest des Kindes, wie andere sagen – ist etwas Neues in Polen. Also wissen wir erst eines: ›Es soll ein Tag sein, der den Kindern gewidmet ist: so wie ein Namenstag für alle Kinder in Polen.‹ Das ist kein kirchlicher Feiertag, das ist kein Nationalfeiertag, wie zum Beispiel der Jahrestag einer siegreichen Schlacht, sondern es ist ein netter, lustiger Tag der Erholung, der Spiele und der Geschenke – eben für die Kinder. Die Kinder sollen wissen, dass die Erwachsenen ihnen geneigt sind, dass sie an sie denken, sie lieben und ihnen Spaß bereiten wollen. In allen Städten Polens, den großen und den kleinen, und auf dem Land – tun sich Erwachsene zusammen und denken über irgendeine Überraschung für die Kinder nach. In der Hauptstadt Warschau zum Beispiel werden Ausflüge organisiert, in den Kinos und den Theatern gibt es kostenlose Vorstellungen für Kinder, in den Schulen werden Bonbons und Lebkuchen verteilt. … Wir sind arm, der Krieg hat uns zu Grunde gerichtet. Wir werden arbeiten und, gebe Gott, man wird alles immer schöner und reicher gestalten und mit Geschenken ausstatten können. Einstweilen hängt das nicht von uns ab. Oft meinen die Kinder, dass die Erwachsenen tun, was sie wollen. Wenn sie wollten, könnten sie etwas kaufen und verschenken. Die Kinder meinen, nur sie hätten kein Geld, aber die Erwachsenen hätten welches. Sie irren sich; so ist es nicht. Die Erwachsenen haben zwar mehr Geld, aber sie haben große Ausgaben und sie müssen vernünftig haushalten, damit sie nicht für weniger wichtige Dinge Geld ausgeben und es für das unbedingt Notwendige fehlt. … Es ist wahr – es gibt verschiedene Kinder und verschiedene Erwachsene, Familien sind verschieden und Schulen sind verschieden. Einmal geht es den Kindern besser, einmal schlechter, einmal 41. Das Fest des Kindes wurde in Polen am 1. Juni 1930 im Rahmen der »Woche des Kindes« gefeiert. Der Text Das Fest des Kindes ist die Sprechvorlage für das am 29. Mai 1930 im Polnischen Rundfunk gesendete Feuilleton.

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kann und will man sich mehr um sie kümmern, und einmal kümmert man sich weniger um sie. Aber jeder findet seine eigene Erklärung. Wo Eintracht herrscht, ist es gut, aber es kommt vor, dass Groll und Anschuldigungen im Spiel sind. … Und eben hier kann der Tag des Kindes helfen. Möge jeder offen sagen, was ihm fehlt, was schmerzt, was nicht so ist, wie es sein sollte. Vielleicht wird klar, warum. … Mögen unsere Kinder gesund leben und aufwachsen – Vivat! Mögen ihre Eltern und Erzieher gesund bleiben und glücklich leben – Vivat! Möge es wenig Trauer geben und weniger Tränen, aber viel Freude!«42 In der Woche des Kindes des Jahres 1931 sendet das Polnische Radio ein Dialog-Hörspiel für kleinere Kinder, betitelt Im Waisenhaus.43

12.7 Senat der Verrückten (1931) Am 1. Oktober 1931 wird Korczaks Schauspiel Senat der Verrückten – Eine düstere Humoreske – im Warschauer Theater »Ateneum« uraufgeführt. Das Stück behandelt weitgespannte Themen wie Wahnsinn, Wahrheit, Gottsuche, Gesellschaftskritik und Eugenik. Diese Themen sind für Korczaks Werk nicht neu. Neu ist die Form der Bearbeitung – und über ihr Gelingen fällen die Theaterkritiker in der Mehrzahl ein negatives Urteil, obwohl einige Aussagen des Stückes durchaus tiefgründig sind. Hier Auszüge aus einem Monolog: »Verlange nicht nach Wahrheit: Sie ist hart, und ihre Kanten sind scharf. … Ein ums andere Mal sind die Kinder die Erneuerung der erlöschenden Generationen, sie sind der Teil dieses Stammes, der durch sie, die Unbewussten, in eine heilere, helle, klare Zukunft geht. Wir sind ihr Bindeglied, der gemeinsame Anteil, die einzige Brüderlichkeit – Schatz, Banner und Testament – Trost in der Stunde von Zwitracht und Schande – Glaube, Liebe, Hoffnung. Sie waren immer da. – Wir hören nicht nur wildes Geifern, böses Grollen, Heulen und Wimmern, sondern auch Hymnen – und stilles Aufseufzen. – Das Raubtier, aber auch sein trauriges Opfer, die Brüderlichkeit des Elends und die scheue Güte. – Sie existieren nebeneinander, aber nicht nur das. – In ein und demselben Menschen sind der Feind und der Verbündete, der demütige Gefangene und der hartnäckige Rebell, der Erbauer und der Brandstifter, in ein und demselben Menschen sind Priester, Richter und Rächer, Henker und Verurteilter, Blitz und Regenbogen. 42. SW, Bd. 13, S. 227ff. 43. Ebd., S. 232ff.

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12.7 Senat der Verrückten (1931)

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Gemeinsam zerstören sie, gemeinsam bauen sie auf. … Der Bruder ist dem Bruder unbegreiflich. … Daher die vergebliche Suche nach Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit – daher Erniedrigung und Verachtung.«44 So bedeutsam die angeschnittenen Themen auch sein mögen – und trotz großer Namen in der Regie und in der Hauptrolle und trotz der 27 Theater-Aufführungen in der Spielzeit 1931/32 – auch der Autor ist nicht zufrieden, so dass er vor der Drucklegung des Regiebuchs eigentlich noch Änderungen vornehmen wollte45, zu denen es aber nicht mehr kam. Eine Thematik aber sollte sicher erhalten bleiben, denn sie lag Korczak sehr am Herzen: Die Eugenik – Geburtenkontrolle und bewusste Vaterschaft werden im Stück mehrfach angemahnt. Sie sollten wohl zur Achse des Dramas werden. Hier ein Ausschnitt aus einer Rede: »Ich behaupte: Ohne Eugenik werden wir alle im Sumpf umkommen, ohne Rettung und auf ewige Zeiten. – Jeder gebiert, was er will und so viel er will. – Es wird geboren, und diese Gleichgültigkeit und Böswilligkeit drängt uns neue Menschen auf. – Wenn ein Mensch seines Lebens beraubt wird, stehen darauf strenge Strafen, ohne Rücksicht darauf, wer warum gemordet hat und ermordet worden ist. Aber für die, die Missgeburten und Idioten in die Welt setzen, gibt es keine Strafe. … – Es muss die Frage gestellt werden, wer das Recht hat zu gebären. – Wer ohne Erlaubnis zeugt (nicht tötet), wird mit – Gefängnis bestraft. – Es gibt also eine Prüfung und eine Aufgabe, die man für ein Kind bestehen muss; man muss ein Reifezeugnis für die Anschaffung von Nachkommen haben. … – Für jede Bude, in der es Sodawasseer gibt, braucht man eine Lizenz. – Legitimationen, Qualifikationen, Stammkapital, Kontrolle. – Prüfungen, um Friseur, Schuster, Kaminfeger, Koch, Bäcker, Beamter zu werden. – Fünfzehn Jahre lang die Schule der Unfreiheit, um dann unter strenger Kontrolle im Rahmen der Vorschriften und in enger Zusammenarbeit einen Beruf auszuüben, der zu Unrecht frei genannt wird; aber jeder kann allein, so dumm er auch ist, der Erste von hinten, der Letzte der Letzten, Vater werden und damit einen Schritt in die Unsterblichkeit tun – denn er schafft eine Zukunft.«46 Zum Thema Eugenik hatte sich Korczak schon früher geäußert: Im Vortrag Der Frühling und das Kind forderte er 1921: »Man muss aufhören, Kinder links und rechts auszuspucken, sei es durch Zufall oder durch Laune; man muss aufhören, sie leichtsinnig zu zeugen; man sollte anfangen, sie 44. SW, Bd. 5, S. 126, 132, 133. 45. Vgl.: »Senat szaleńców« będzie obradował w teatrze »Ateneum« (Der »Senat der Verrückten« wird im Theater »Ateneum« debattiert). Rozmowa z autorem (Gespräch mit dem Autor), in: Kurier Czerwony (Roter Kurier). Warszawa 1931 (7. Sept.). 46. SW, Bd. 5, S. 128f.

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zu – gebähren. Man soll über die Kinder nachdenken, noch bevor sie geboren werden. Man sollte anfangen, sie zu – erschaffen.«47 Dementsprechend stellte er 1923 im Artikel Arzt im Internat fest: »Die Eugenik – eine wichtige(!) Zukunftslehre«.48 Und 1929 in der zweiten Auflage von Das Kind in der Familie: »Eine unüberlegte Vermehrung empfinde ich heute als Unrecht und leichtsinnigen Frevel.«49 Diese Auffassung findet dann im Senat der Verrückten eine künstlerische Bekräftigung.

12.8 Die Selbstverwaltung in der Kritik? (1932) In der Sozialen Rundschau (Przegląd Społeczny) erscheint 1932 eine Stellungnahme zum Selbstverwaltungssystem, das in Korczaks Waisenhäusern praktiziert wird. Der Pädagoge Dr. M. Sobel drückt Zweifel aus, ob die Selbstverwaltung , die mit imponierender Anstrengung aufgebaut sei, überhaupt ein adäquates Interesse bei den Kindern finde. Kinder interessieren sich nach seiner Meinung vor allem für »Zeitvertreib, Spiele, Vorstellungen und Handarbeiten, und dabei bleiben sie gerne unter sich«. Auch am Kameradschaftsgericht nehmen sie nach seiner Vermutung nur ungern teil.50 Ein ganz anderes Urteil über die Selbstverwaltung findet dagegen Jean Piaget, der in dieser Zeit das Dom Sierot besucht und schreibt: »Der die Anstalt leitende wunderbare Mensch hat den Mut, den Kindern und Jugendlichen, die er betreut, so zu vertrauen, dass er die schwersten Aufgaben einschließlich der Disziplinangelegenheiten in ihre Hände legt. Zwei Aspekte seines Experiments berührten uns besonders: Die Umerziehung der Neuen durch die Gruppe und die Organisation des Gerechtigkeitstribunals, dessen Funktion durch die Inernatsbewohner voll gesichert wurde. Debattenberichte und Beschlüsse werden in der kleinen Zeitung festgehalten, durch die auch wir – durch Assistentenvermittlung – auf die Selbstverwaltung aufmerksam wurden. Für einen Psychologen gibt es kaum etwas Packenderes als solch ein Dokument. … Die Humanität, das Verständnis und das Feingefühl dieses Jugendgerichts rührten uns an.«51 Die mit Hilfe der eingespielten Institutionen der Selbstverwaltung arbeitenden Waisenhäuser Korczaks werden also national und international wahrgenommen und diskutiert. 47. Ebd., S. 15. 48. SW, Bd. 8, S. 240. 49. SW, Bd. 4, S. 15. 50. Vgl. Falkowska, Maria: Kalendarz …, a. a. O., S. 265f. 51. Piaget, Jean: Dokąd zmierza edukacja, Warszawa 1977, S. 100ff. Zitiert nach: Falkowska, Maria: Kalendarz …, a. a. O., S. 266.

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12.9 Die Erforschung von Zuneigung und Abneigung (1933)

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Korczak selbst sammelte seit 1930 empirisches Material, um in einer neuen Fragestellung die Bedeutung von Zuneigung und Abneigung wissenschaftlich untersuchen zu können.

12.9 Die Erforschung von Zuneigung und Abneigung (1933) Während im Dom Sierot wie im Nasz Dom seit etwa 1920 sog. Plebiszite über Zuneigung und Abneigung regelmäßig durchgeführt und unter anderem zur Festlegung von Bürgerbenennungen genutzt werden (S. 134f), möchte Korczak nun die Bedeutung dieser zwischenmenschlichen Emotionen erforschen. »Das ist heute in der Psychologie noch nicht aktuell; man untersucht da erst den leichter zu beurteilenden, aber für ein Zusammenleben weniger wichtigen Intellekt.«52 Da er also noch nicht auf entsprechende Forschungen zurückgreifen kann, entwickelte er einen eigenen Ansatzt, über den er 1933 in zwei Aufsätzen berichtet: Zuneigung und Abneigung und Plebiszite der Zuneigung und Abneigung53, letzterer mitunterzeichnet von der Bursistin und späteren Psychologin Ada Poznańska, veröffentlicht im »Polnischen Archiv für Psychologie«. Ungefähr zeitgleich zu Korczak und Poznańska, aber ohne voneinander Kenntnis zu haben, werden zwischenmenschlichen Emotionen auch vom Sozialtherapeuten Jacob Levy Moreno (1892–1974) in Österreich und den USA untersucht. Im Anschluss an Moreno heißt dieser Forschungszweig heute: Soziometrie.54 Eine gängige Definition lautet: »Soziometrie ist die quantitative Untersuchung zwischenmenschlicher Beziehungen unter dem Aspekt der Bevorzugung , der Gleichgültigkeit oder Ablehnung in einer Wahlsituation.«55 Für eine empirische Studie standen Korczak ab 1930 zwei »Experimentalgruppen« zur Verfügung: eine dem Nasz Dom angegliederte Kindergartengruppe (27 Kinder zwischen 3– 9 J.) und eine in der Kolonie Różyczka untergebrachte Vorschulgruppe von Findelkindern (27 Kinder 52. SW, Bd. 9, S. 373. 53. Ebd., S. 373ff und 377ff. 54. Vgl. Moreno, J. L.: Die Grundlagen der Soziometrie. Wege zur Neuordnung der Gesellschaft. 3. Aufl. 1996. Vgl. auch Dollase, Rainer: Soziometrische Techniken. Techniken zur Erfassung und Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen in Gruppen. Weinheim/Basel 1973. 55. Handbuch der Psychologie in 12 Bänden. 7. Band, 1. Halbband. Göttingen/Toronto/ Zürich 1975, S. 375.

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zwischen 5–10 J.). Mit diesen beiden Gruppen führte er mehrere Plebiszite durch, um den folgenden Fragenkomplex ein wenig aufzuklären: »Was verbindet die Gruppe, was bewirkt das Gegenteil? An welchen positiven und negativen Erlebnissen haben die Kinder Anteil? Welche Werte bewirken Wohlwollen, welche Eigenschaften und welche Fehler rufen Abneigung hervor? Was überwiegt? Ist der Mensch dem Menschen ein Wolf oder ein Bruder? Egoismus oder Altruismus? Kann man die geheimnisvolle Welt der Gefühle durchdringen und sie durch eine Zahl erhellen?« 56 Die Plebiszite führte Korczak – anders als bei den bisher befragten Schulkindern – mündlich durch, indem er die Kinder fragte, wen sie mögen und wen nicht, bzw. wem sie gleichgültig gegenüberstehen. Die Antworten codierte er mit: +, – , 0. Ada Poznańska erläutert: »Er rief die Kinder in beliebiger Reihenfolge auf und fragte sie gemäß einer Liste nacheinander: ›Magst du Hania, Jozio usw. oder nicht und warum?‹ Und nach der Antwort stellte er, um Zufälligkeit zu vermeiden, die gleiche Frage umgekehrt: ›Magst du Hania nicht, oder magst du sie?‹«57 Außerdem fragte er nach den Gründen für die Zuneigung, Ablehnung oder unentschiedene Haltung und hielt die Antworten schriftlich fest. Dass die Kinder in einer echten Wahlsituation standen und ohne Zwang antworten konnten, war für eine wissenschaftliche Studie natürlich nicht unwichtig: »Die Organisation unseres Kindergartens gibt den Kindern die uneingeschränkte Freiheit, ihre Meinung zu äußern. Es hat sich eine Tradition der Aufrichtigkeit und des absoluten Rechts auf Zuneigung und Abneigung ausgebildet. Nur unter solchen Bedingungen kann das Vergleichsmaterial von Wert sein.«58 In der Veröffentlichung des »Polnischen Archivs für Psychologie« sind die so erhobenen Daten von allen 54 teilnehmenden Kindern detailiert aufgelistet und unter den interessierenden Gesichtspunkten analysiert. Die gefundenen Ergebnisse sind sehr interessant und stellen einen deutlichen Erkenntnisgewinn hinsichtlich der Bedeutung von Emotionen in Kindergruppen dar, wie die zusammenfassende Auflistung zeigt: – »Kindergartenkinder kennen (im Vergleich zu älteren Kindern) keine Gleichgültigkeit, daher die auffallend geringe Zahl der Nullen. Sie lassen sich vom Gefühl leiten, nicht vom Wissen; bereitwillig nehmen sie gerne ihnen unbekannte, gefühlsbetonte Haltungen ein.« … 56. SW, Bd. 9, S. 373. 57. Ebd., S. 377f. 58. Ebd., S. 375.

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12.9 Die Erforschung von Zuneigung und Abneigung (1933)

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– »Die Pluspunkte überwiegen: Es gibt weniger Menschenfeinde als Menschenfreunde.« – »Abneigung ist oft eine Ungeduldsreaktion auf Zusammengepferchtsein, auf Beengtsein, auf lästige Zwangssituationen (Mahlzeiten, Mittagsruhe, Aufstellen in Zweierreihen). Ungeduld lästigen Eindringlingen, Neulingen gegenüber, die mit der Gruppe noch nicht eingespielt sind.« – »Verzeihen oder Versöhnen reifen erst langsam; sichtbare Schwächen und Fehler fallen sofort auf, Vorzüge treten erst langsam zutage.« – »Die Lieblinge – das sind die Heiteren, Ausgeglichenen, die Ehrlichen, Wohlgesinnten. Kinder schätzen geistige Regsamkeit, aber sie sind allergisch gegen Aufgeblasenheit und falschen Ehrgeiz. Sie mögen die Aufdringlichen, die Krachmacher, die schnell Beleidigten und die Streitsüchtigen nicht.«59 Aus den Begründungen für die getroffenen Wahlen geht außerdem hervor: – »Unter den Kindern sind Mädchen beliebter als Jungen, obgleich sie oft gleich kritisch oder sogar kritischer im Verhältnis zu allen sind.« – »Wenn Kinder ihre Kameraden einschätzen, lassen sie die Eigenschaften des Intellekts fast ganz außer Betracht (Intelligenz, Schlauheit, Dummheit).« – »Aktuelle Ereignisse färben die Beurteilungen der Kinder über ihre Kameraden stark ein.«60 Die Daten sind in der Veröffentlichung des Psychologischen Archivs so dargestellt, dass man das komplette Beziehungsgefüge der untersuchten Gruppen, also die Beliebtheit bzw. Unbeliebtheit jedes Einzelnen, seinen sozialen Status und dessen Begründungen erkennen kann. An den Zahlen und Begründungen für das beliebteste und das unbeliebteste Kind der 27köpfigen Kindergartengruppe des Nasz Dom lässt sich so beispielsweise ablesen, was Kinder an anderen Kindern schätzen und was sie eher abstößt: – Das beliebteste Kind (Henia): »Sie erhielt 26 Plus und nur eine Null. Ihr größter Vorzug ist ihre Geselligkeit (8 Stimmen) und ihr guter Charakter (9 Stimmen). Und eine ganze Litanei der Gefälligkeiten in Bezug auf die Kinder: gibt Spielzeug her, lässt einen mitspielen … . Sie hat auch äußerliche Vorzüge – sie ist hübsch, zeichnet schön. Eine Null 59. Ebd., S. 375f. 60. Ebd., S. 405.

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bekam sie dafür, dass sie das hässliche Wort ›die Verrückte‹ benutzt hat.« Henia ihrerseits beurteilte die anderen nicht besonders mild: »Sie gab nur 13 Plus, bis zu 12 Minus und eine Null. Das häufigste Motiv, das sie angibt (8 mal), ist das Schlagen. (Sie beklagt sich z. B.: ›Weil sie mich zwickt, schlägt, stößt‹, ›er spuckt mich an, tritt mich‹ – das heißt also, obwohl sie sie gern haben, ärgern sie sie.) Als das häufigste Motiv der Sympathie gibt sie dasselbe an wie die Kinder im Verhältnis zu ihr – das gemeinsame Spiel.« – Das unbeliebteste Kind (Marta): »Sie bekam die meisten Minus im Nasz Dom (16) und nur 6 Plus und 4 Nullen. An Marta berührt vieles unangenehm, erstens, dass sie die Nase nicht putzt und den Rotz isst (5 Stimmen). Von Natur aus ist sie streitsüchtig, macht um ihre Person viel Aufhebens (krakeelt wie nicht gescheit), ist ungehorsam, prügelt, foppt andere gern und lacht sie aus, wenn sie weinen, dabei ist sie selbst eine Heulsuse. Sie ist nicht nett, Spielzeug will sie nicht hergeben. Gering sind die Stimmen der Anhänger von Marta. Jemand mag sie wegen des gemeinsamen Spiels, ein anderer wegen einer Gefälligkeit (›weil sie mich fahren ließ‹), einige der Kinder sagen, dass sie ›jetzt schon brav sei‹. Marta selbst liebt sich nicht. Sie sagt nicht warum, sie seufzt. Den Kindern gibt sie selten Minus (4), der Hälfte der Kinder gibt sie Plus (14) und sehr viel, am meisten von allen Kindern, verteilt sie Nullen (8).«61

12.10 Kajtuś, der Zauberer (1933) Für die Leser der Kleinen Rundschau sucht Korczak nach spannender Lektüre und kreiert dazu ein neues Genre der Kinderliteratur (dessen Bedeutung man erst in heutiger Zeit voll zu schätzen weiß): Geschichten über das Zaubern. Ab August 1933 erscheint in zwanzig Folgen der »Roman« für Kinder und Jugendliche: Kajtuś, der Zauberer.62 In dieser spannenden Erzählung geht es um die Abenteuer des zu Beginn etwa achtjährigen Antoś, eines aufgeweckten, von Eltern und Großmutter umsorgten Jungen mit großer Abenteuerlust, der von seinen Kameraden den Spitznamen Kajtuś (Lau61. Ebd., S. 398f. Kinder mögen es nicht, wenn jemand rücksichtslos mit ihnen umgeht. Stattdessen schätzen sie das, was bereits Johann Friedrich Herbart für den pädagogischen Umgang Erwachsener mit Kindern gefordert hat (vgl. seine Göttinger Vorlesung von 1802), nämlich: taktvolles Verhalten. Korczak fasst an anderer Stelle zusammen, was er unter taktvollem Verhalten versteht: vgl. S. 187f. 62. SW, Bd. 12, S. 173ff.

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sebengel) bekommen hat und immer im Verdacht steht, etwas angestellt zu haben, denn er liebt es, Streiche zu spielen. Er interessiert sich für alles Merkwürdige und Geheimnisvolle. Er will weder Königspage noch Ritter, nicht Zirkuskünstler oder Cowboy und nicht einmal Magier oder Detektiv, – er will Zauberer werden. »Er will und muss alle Zaubersprüche erfahren. Er will mächtig sein …«63 Trotzt der Vorsicht, mit der er seine Zaubereien in Warschau beginnt, ist die ganze Stadt bald in heller Aufregung. Kajtuś sprengt Gesetze der Natur und Normen gesellschaftlichen Zusammenlebens. So lässt er beispielsweise Menschen rückwärts laufen, stellt eine Brücke hochkant und errichtet auf einer gezauberten WeichselInsel ein Schloss. Er wird berühmt, reich und angesehen, aber er erfährt auch die Kehrseite seiner Zauberkunst: Er wird selbst verwandelt und muss ein geschundenes Hundeleben erleiden. Nur die mitfühlende Liebe seiner Lehrerin kann den Bann brechen. … Am Ende macht sich Kajtuś zu einer Endeckungsreise zum Nordpol auf. Am Grab eines Arktisforschers gelobt er, künftig wachsam und streng zu sich sein zu wollen. Und der Erzähler schließt mit einer Widmung: »Sonderbar ist das Leben. Wie ein sonderbarer Traum ist das Leben. Wer einen starken Willen hat und entschlossen ist, den Menschen zu dienen, dem wird das Leben zu einem schönen Traum. Auch wenn der Weg zum Ziel verschlungen ist und die Gedanken ruhelos. Vielleicht werde ich eines Tages noch einen Schluss schreiben.«64 In der Kajtuś-Geschichte lassen sich unschwer autobiographische Bezüge zum Autor erkennen: In Dialogen mit einem berühmten Geiger zum Beispiel werden die Korczaks Persönlichkeit kennzeichnenden Begriffe Inspiration, Traurigkeit und Sehnsucht thematisiert.65 Und wie Kajtuś liegt dem Autor das Kreative. Korczak hatte viel klassische Literatur gelesen, nicht nur polnische. Märchen und Sagen gehörten ebenso dazu wie phantastische Schriften und Populärdrucke. Groß war auch sein Interesse an Rundfunk und Film. Viele Inhalte beflügelten seine Phantasie und bildeten gleichzeitig eine Brücke für empathisches und freundschaftliches Zusammenleben mit Kindern. Roman Bertisch – ein Erzieher des Dom Sierot – charakterisiert Korczak so: »Ich erinnere mich an eine spannende Dikussionen zwischen ihm und den jüngsten Zöglingen. Er hatte immer einen Freund unter ihnen, der ihm besonders am Herzen lag. Zu meiner Zeit war das Piekołek, ein Siebenjähriger, der unglaublich aufgeweckt war. Er kam aus dem schrecklichsten Elend. Korczak sah sich mit Piekołek und 63. Ebd., S. 209. 64. Ebd., S. 388. 65. Ebd., S. 333.

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anderen Kindern Sensations- und Cowboyfilme an. Nach der Rückkehr aus dem Kino entspann sich eine heftige Diskussion über die technischen Tricks dieser Filme. Korczak nahm dabei Piekołek, seinen Widersacher, ganz ernst. Das Wichtigste war, dass er dies auf ganz natürliche Art und Weise tat, ohne eine Spur von Überlegenheit; und oft beugte er sich den Argumenten seines Gesprächspartners.«66 Piekołek galt als überdurchschnittlich intelligent, aber schwierig zu erziehen – ein Lausebengel; er war vermutlich lebendes Modell für die literarische Figur Kajtuś. Der Autor möchte sich über die Beschäftigung mit Abenteuern, Geheimnissen und unbegreiflichen Weltereignissen den Gedanken und Träumen der Kinder nähern und diese dabei gleichzeitig anstecken mit seiner eigenen Hochschätzung von Wissenschaft und Kultur. So lässt er einen Wissenschaftler auf einer geheimen Sitzung, die der Aufklärung der Zaubereien Kajtuś’ gilt, sagen: »Meine lieben, verehrten Kollegen. Es hat immer Zaubereien gegeben, es gibt sie heute und wird sie immer geben. – Ist das keine Zauberei, dass man aus zwei Gasen eine Flüssigkeit herstellen kann – nämlich Wasser, und dass man Wasser in hartes Eis verwandeln kann? – Ist das keine Zauberei, dass man einen Kranken in Schlaf versetzen und aufschneiden kann, und dass er dabei schläft und nichts fühlt? – Ist das keine Zauberei, dass die Kraft des Blitzes Leute in der Straßenbahn bewegt, und dass sie bescheiden in einer elektrischen Lampe brennt und unsere Stimme und Gedanken durch einen Draht oder auch ohne Draht Tausende von Meilen weit trägt? – Wir können die Knochen eines lebenden Menschen fotographieren. – Und das Mikroskop, das Teleskop, das Unterseeboot, das Flugzeug? – Das Radio?«67

66. Bertisch, Roman: Ein einzigartiger Pädagoge. In: Beiner , F./Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 275f. 67. SW, Bd. 12, S. 291.

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13. Zeiten des Zweifelns und der Depression: 1933–1938 Die frühen dreißiger Jahre waren bekanntlich international Jahre der Depression. Polen und die meisten anderen Länder der Welt leiden in dieser Zeit unter der Weltwirtschaftskrise. Zu den wirtschaftlichen Problemen kommen rassistische und antisemitische Strömungen, unter denen insbesondere die jüdische Bevölkerung leidet. Viele Juden – nicht nur in Deutschland, auch in Polen und anderen europäischen Ländern – sehen kaum einen anderen Ausweg, als ihr Heimatland zu verlassen und nach Übersee auszuwandern oder dem Werben der zionistischen Bewegung zu folgen und ins »Land ihrer Väter« zu immigrieren. So sind schon mehrere ehemalige Kinder und Mitarbeiter des Warschauer Dom Sierot nach Eretz Israel (= Land Israel) ausgewandert. Denn auch die finanzielle und gesellschaftliche Situation des Dom Sierot ist angeschlagen – und Korczak denkt darüber nach, ob er die Leitung des Hauses nicht besser aufgeben und einem Jüngeren überlassen sollte. An Regina Szawelson-Grosz, die im Anschluss an ihre Zeit als Zögling im Haus der Waisen nach Amerika ausgewandert war, aber über eine freundschaftliche Korrespondenz dem Heim verbunden blieb, hatte er bereits 1932 geschieben: »Liebe Tochter. … Es ist schlecht – Unklugheit ist in der Welt, in Polen und im Dom Sierot. – Eine immer größer werdende Unruhe herrscht: Wem soll ich die Arbeit vermachen, in welcher Form soll ich den Menschen die erlangten Erfahrungen zukommen lassen?«1 Und in einem Brief an die ebenfalls in die Vereinigten Staaten immigrierte Rózia Ajzensztajn heißt es 1933: »Liebe Rózka, herzlichen Dank, dass Du Dich gemeldet hast. Seit Deiner Ausreise sind viele von den späteren Generationen unserer Kinder nach Amerika ausgereist. Sie sind in Kanada, Brasilien, Argentinien, Kalifornien, in China, England, Frankreich, Belgien, Spanien – und in Palästina. … Aus den Zeitungen weiß ich, dass es in den Verein. Staaten schlecht steht, so wie ihr wisst, dass die Krise bei uns nicht geringer ist … und wir fristen ein kümmerliches Dasein.«2 Auch Korczak beschäftigt sich mehr und mehr mit Palästina; insbesondere interessiert er sich für die dortige Situation der Kinder: »Wenn es ein Land gibt, wo man dem Kind ehrlich die eigenen Träume und Nöte, Sehnsüchte und Zweifel überlässt, dann vielleicht in Palästina. Dort sollte das Denkmal des Unbekannten Waisenkindes stehen. … Ich 1. SW, Bd. 15, S. 427. 2. Ebd., S. 429.

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verliere nicht die Hoffnung, dass ich die letzten paar Jahre in Palästina verbringe«.3 Dort lebt bereits (seit 1929) die ehemalige Bursistin und Freundin von Stefania Wilczyńska, Fejga Lifszyc. Sie unterhält einen regen Briefwechsel mit ihrem ehemaligen Zuhause und lud Stefania Wilczyńska wiederholt ein, sie in Israel zu besuchen. Frau Wilczyńska folgte der Einladung bereits 1931 und wird auch 1934 und 1935 für mehrere Wochen wieder Gast in Palästina sein.

13.1 »Der Horizont hat sich verdüstert« (1933) Bei ihren Sympatien und Erwartungen hinsichtlich Palästinas sorgen sich Korczak und Wilczyńska zunehmend mehr um ihre Kinder und das Dom Sierot. Dass dies begründet ist, geht aus den Jahresberichten der Gesellschaft »Hilfe für Waisen«, des Trägervereins des Dom Sierot, hervor. Anlässlich des fünfundzwanzigjährigen Jubiläums dieser Gesellschaft schreibt Korczak 1933: »… leider besteht die Befürchtung, dass in der Flut der Sorgen und laufenden Belastungen die Existenz der Gesellschaft ›Hilfe für Waisen‹ gefährdet ist … ›Wir leben in einem Umbruch.‹ Die Bilanz dieses Jahres schloss mit einem Minus von 21 000 Złoty ab. … Der Horizont hat sich verdüstert. Wieder muss man sich um den nächsten Tag sorgen. Es geht nicht nur um den Ausbau: Es fehlen die Mittel, den Besitzstand zu wahren. Wir haben keine Reserven.«4 Die Bemühungen der Gesellschaft reichen nicht aus, um die Arbeit im Dom Sierot im bisherigen Umfang aufrechtzuerhalten. Die Anzahl der Praktikanten in der Burse muss zunächst auf 11 reduziert werden, wenig später wird die Burse ganz zu schließen sein.5 Korczak fragt: »Wie soll man die Einrichtung vor dem Ruin retten, die mühsam errichtet worden ist, die am Ende ist, nur scheinbar erhalten bleibt?«6 Schwerwiegende Einschränkungen gibt es auch beim Personal, von denen offensichtlich auch Korczak selbst betroffen ist. In seiner Korrespondenz mit dem ehemaligen Mitarbeiter und Freund Józef Arnon, der bereits in Eretz Israel lebt, erörtert er in einer privaten Korrespondenz7 die Chancen, 3. Ebd., S. 20. 4. 25 Jahre, in: SW, Bd. 9, S. 212ff. 5. Vgl. Sprawozdanie Towarzystwa »Pomoc dla Sierot« (Bericht der Gesellschaft »Hilfe für Waisen«) vom 1.4.1936 bis 31.3.1937. Wieder abgedruckt in: Falkowska, Maria (Hg.): Mysł pedagogiczna …, a. a. O., S. 267f. 6. Ein schöner Film, in: SW, Bd. 9, S. 223. 7. Der Briefwechsel mit Jozef Arnon, die umfangreichste Korrespondenz Korczaks, die erhalten geblieben ist, ist ein anrührendes Zeugnis von Korczaks Ringen um die rich-

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13.2 Korczak wohnt außerhalb des Dom Sierot (1933ff)

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die das im gesellschaftlichen Aufbruch befindliche Palästina ihm (und vielleicht auch seinen Kindern?) bieten könnte. Und er klagt über die einschneidende Verschlechterung seiner persönlichen Situation und seines Befindens: »Ich fühlte mich ausgelaugt, alt und überflüssig im D. Sierot, deshalb habe ich mich zurückgezogen, vielmehr, ich wurde zurückgezogen.«8

13.2 Korczak wohnt außerhalb des Dom Sierot (1933ff) Seit Anfang Februar 1933 hat Korczak seinen Wohnsitz nicht mehr im Waisenhaus in der Krochmalna-Straße 92, sondern in der Żurawia-Straße 42.9 Hierzu schreibt Stefania Wilczyńska an Fejga Lifszyc: »Dr. Korczak ist zwar umgezogen, aber volle drei Tage und Nächte ist er bei uns und in Bielany mit beratender Stimme, und vier Tage schafft er für sich.«10 Neben Korczaks relativer Unabhängigkeit vom Dom Sierot gibt es möglicherweise noch eine relative Abhängigkeit, über die wir bis heute aber nur wenig wissen. Es gibt lediglich drei Andeutungen: In einem Brief an Stefania Wilczyńska vom 14. 1. 1933 fragt ihre Freundin Fejga: »Es ist eine merkwürdige Neuigkeit, dass der Herr Doktor eine Anstellung hat; weshalb?«11 Und Korczak selbst erwähnt diese »Anstellung« später: »Ich habe mehrere Jahre lang für Krankenkassen über die französ. und deutsche Presse berichtet, Projekte erarbeitet: Kurse für Krankenschwestern, fahrende Hygieneausstellungen, Regeln für Sommerkolonien. Zuerst mit Eifer, dann ungern, schließlich mit Abscheu. Man nickte, das sei interessant, und es wanderte ins Archiv. Schluss mit der Komödie. – Man entließ mich nicht, ich bekam weiter meine 300 Złoty. Bis ich aufbegehrte und die Kündigung verlangte.«12 Und in seiner Kurzbiographie heißt es: »Vier Jahre lang war ich Referent für Zeitschriften deutscher und französischer Krankenkassen.«13

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tigen Lebensentscheidungen in den 30er-Jahren; vgl. das erste Kapitel in: SW, Bd. 15. SW, Bd. 15, S. 21. Die neue Anschrift von Dr. Henryk Goldszmit ist im Ärztebuch der Republik Polen für 1933/34 verzeichnet. 1937 zieht Korczak noch einmal um in die Złota-Straße 8. Die Hintergründe für seinen Auszug aus dem Dom Sierot sind nicht bekannt. An Józef Arnon schreibt er im zuletzt zitierten Brief: »Sie werden das nicht verstehen, aber erklären will ich es auch nicht.« (Ebd.) Aus einem Brief Stefania Wilczyńskas an F. Lifszyc; im Korczak-Archiv Israel. Brief im Korczak-Archiv Israel. SW, Bd. 15, S.61. Ebd., S. 215.

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In dieser Zeit schreibt Korczak erneut ein Feuilleton für den Polnischen Rundfunk: Träume eines Kindes. Es wird am 26. Mai 1933 gesendet, ist aber leider nicht erhalten geblieben.14 In der Zeitschrift Sonderschule äußert er sich zum Missbrauch von Kindern.15 Unter dem Titel Für den Schutz des Kindes berichtet er über Interviews mit Kindern und meint: »Das Kind erlebt erotische Emotionen, aber es begehrt nicht, und es hat keine bewussten sexuellen Empfindungen. So war es, so kann es weiterhin sein, aber es muss nicht so sein. Das Kind kann gewaltsam in sexuelle Erlebnisse hineingezogen oder heimtückisch eingewöhnt werden; seine Demoralisierung kann sich ausweiten und einwurzeln«.16 Das Hauptproblem bei der Aufklärung missbrauchter Kinder ist deren Angst. »Was kann die Schule im Rahmen des gängigen Verständnisses dieser Probleme tun? – Sie soll wenigstens darauf aufmerksam machen, dass es unter den Erwachsenen scheinbar normale Wahnsinnige gibt, vor denen man sich in Acht nehmen muss, weil sie gefährlich sind; dass die Kinder in jedem Falle verdächtiger Belästigung schnell und offen sprechen sollen.«17

13.3 Kritik an der Pädagogik (1934) Ein Beitrag der Denkschrift des Staatlichen Lehrerinstituts von 1934 enthält Korczaks schonungslose Kritik an der zeitgenössischen Pädagogik, verbunden mit einem Plädoyer für eine »Verbrüderung der zu den Wolken ragenden pädagogischen Studien mit dem normalen Alltag«: »›Es gibt keine Krankheiten, es gibt nur Kranke‹ – das ist der leitende Gedanke in der Pathologie und einer ins Einzelne gehenden Therapie. Das fehlt der Pädagogik, daher die Willkürlichkeit, Undeutlichkeit und Unaufrichtigkeit – und das rächt sich in der pädagogischen Praxis und in der Vorbereitung des Lehrers auf die praktische Arbeit. Trotz der mächtigen Entwicklung und der Erfolge der Laboratorien nimmt die Klinik in der Medizin bis jetzt die führende Stellung ein. Es besteht die Befürchtung, es könnte in der Pädagogik weiterhin gerade umgekehrt gehen. Wenn uns die Schulen Schüler schicken würden, die lügen und stehlen, die undiszipliniert, unmoralisch und faul sind – mit einer Anamnese, der Krankenge14. Angekündigt von der Redaktion der Wochenschrift Radio in einem Artikel mit dem Titel Verteidiger des Kindes, in: Radio 1933, Nr. 21. 15. SW, Bd. 8, S. 273ff. 16. Ebd., S. 273. 17. Ebd., S. 278.

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13.4 Reisepläne (1934)

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schichte und einer Analyse – mit der Untersuchung von Blut, Lunge, Gedächtnis, Urin, Aufmerksamkeit, Augen, Ohren und Intelligenz – dann würden die farblosen Vorlesungen Farbe annehmen. … Ich wage nicht, dies als einen ›Antrag für die Zukunft‹ zu stellen, ich verleihe nur der Sehnsucht Ausdruck – nach einer Verbrüderung der zu den Wolken ragenden pädagogischen Studien, wo alles, was ist, sein kann und sein sollte, beispiellos vermischt ist, mit dem normalen Alltag.«18 Ähnlich kritisch bewertet Korczak die Pädagogik in einem weiteren Artikel, der wenig später veröffentlicht wird: »Im Gegensatz zur Medizin, wo jede Einzelheit über Jahre zum Forschungsobjekt für zahlreiche Kliniken und Laboratorien wird, wobei sich das Problem um eine Reihe von Fragen vermehrt – zeichnet sich die Pädagogik aus durch Leichtfertigkeit und Schnelligkeit endgültiger Urteile. Als ob das psychische Leben weniger komplex und zugänglicher sei als Prozesse des somatischen Lebens.«19

13.4 Reisepläne (1934) Da die Lage für Juden in Polen immer heikler wird, arbeitet Korczak ernsthaft an Plänen für eine Reise nach Palästina und wird dazu von Freunden im In- und Ausland ermuntert und unterstützt. Allerdings ist solch eine Reise kein einfaches Unterfangen. Sowohl was das Finanzielle, als auch was das Besuchsprogramm zu den historischen Stätten betrifft, ergeben sich nicht wenige Fragen und Probleme, so dass er – wie wir aus einem Brief vom 20. März 1934 an Józef Arnon wissen – nach anfänglichem Enthusiasmus zunächst einen Aufschub für notwendig hält: »Lieber Herr Józef, die Reise nach Palästina – die beschlossen ist – habe ich, voraussichtlich, nur verschoben, auf August. Ich bin zu alt, als dass ich mich ziellos in der Welt herumtreiben könnte oder nur, um meine gewöhnliche menschliche Neugier zu stillen. Ich muss wissen, was ich Palästina über es selbst und über Polen, oder was ich Polen über Palästina zu sagen habe. … Ich brauche ganz einfach sowohl den Himmel als auch die Landschaft, den Jordan und den Sand und die vielen, vielen Ruinen und historischen Stätten.«20 Im Sommer 1934 kommt es dann aber tatsächlich zu der Reise. 18. SW, Bd. 9, S. 194f. 19. SW, Bd. 8, S. 279. 20. SW, Bd. 15, S. 25.

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13.5 Erste Reise nach Palästina (1934) Sein Freund Józef berichtet: »Am 24. Juli 1934 kam Korczak zu Schiff in Haifa an. Nur für drei Wochen. Sein Plan war, die Vergangenheit einzusaugen, eine Stütze zum Nachdenken über die Gegenwart zu finden und vielleicht einen Weg in die Zukunft zu bahnen.« 21 In Palästina ist Korczak – wie vor ihm auch Stefania Wilczyńska – Gast im Kibbuz von Fejga Lifszyc, in Ejn Harod. Aus einem Bericht von Aza Ronen, damals Schulkind in diesem Kibbuz, geht hervor, dass Korczak Palästina vor allem von hier aus zu erkunden sucht und dass in Israel nicht nur Korczak der Nehmende und Sich-Informierende ist, sondern dass auch die Kibbuz-Mitglieder ihrerseits stark von Korczak »beschenkt« werden: »Obwohl Korczak von seinen vielen Freunden, die über ganz Israel verstreut lebten, gedrängt wurde, lehnte er es ab, zu verschiedenen Plätzen zu reisen, und entschied sich, an einem Platz zu bleiben, nämlich im Kibbuz Ejn Harod, dem ersten großen Kibbuz in Israel, gegründet nach dem 1. Weltkrieg von jungen Männern und Frauen, die aus Russland, Polen, Deutschland und anderen Ländern hierher gekommen waren. Korczak wünschte, einen tieferen Einblick zu bekommen in unseren Lebensstil und in die spezielle Gemeinschaft, die wir entwickelt hatten. Er meinte, dies würde ihm besser gelingen, wenn er an einem Platz wohnen würde. Beim ersten Kontakt mit Korczak machten unsere Eltern, Lehrer und Kindergartenmitarbeiter ganz besondere Erfahrungen. Obwohl wir Kinder noch sehr jung waren, spürten wir den Respekt, den sie alle dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit entgegenbrachten. Wir hörten oft Diskussionen und Unterhaltungen zwischen unseren Erziehern über Korczaks Ideen, die er in den abendlichen Vorlesungen für die Kibbuzmitglieder äußerte. Meine Mutter sprach russisch und war ein Mitglied des Erziehungskomitees unseres Kibbuz. Sie hielt auch die Abschiedsrede im Namen aller Mitglieder des Kibbuz, bevor Korczak zurück nach Warschau reiste. In ihrer Rede betonte meine Mutter die Veränderungen in den Erziehungsvorstellungen unserer Eltern, die sich durch die Vorträge des Doktors ergeben hatten. Mein Elternhaus ›atmete‹ die neuen Erfahrungen, genannt ›Korczak und das Kind‹.«22

21. Arnon, Joseph: The Passion of Janusz Korczak. In: Midstream. New York, 5/1973, S. 47ff; zitiert nach: Dauzenroth, Erich: Janusz Korczak. 1878–1942. Zürich 1978, S. 33f. 22. Abgedruckt in: SW, Bd. 15, S. 461.

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13.6 Wer kann Erzieher werden? (1934)

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Während seines Aufenthalts in Ejn Harod wird Korczak gefragt, ob er einen Unterschied zwischen der Erziehung von Waisenkindern und von Kindern des Kibbuz, die Eltern haben, sieht. Darauf antwortet er: »Ich erziehe keine Waisenkinder. Ich erziehe Menschen.« Und fügt hinzu: »Ich kann keinen Vergleich ziehen, ich kann nur allgemein sagen, wer für die Erziehung von Kindern geeignet ist«:

13.6 Wer kann Erzieher werden? (1934) »Wer Kinder nicht liebt, kann sie nicht erziehen. Wer sich mit sich selbst beschäftigt, für den interessieren sich Kinder nicht. Und der, für den sich Kinder nicht interessieren, ist nicht geeignet, sie zu erziehen.« Und als die Kibbuzniks ihn nach seinem eigenen Weg in der Erziehung fragen, erzählt Korczak eine Geschichte: »Die Geschichte spielt im Ausland. Die Rede ist von einer gewissen Familie: Vater Mordechai, Mutter Rywka, der ältere Sohn Arie, Tochter Esterka, der jüngere Sohn Srulik. Und noch der Großvater Abraham; er ist gelähmt und sitzt im Rollstuhl. Morgens gehen alle weg: die einen zur Arbeit, die anderen in die Schule. Mutter Rywka ist auf den Markt gegangen. Daheim blieben der kleine Srulik mit dem Großvater Abraham im Rollstuhl. Großvater Abraham ist 70 Jahre alt. Er sitzt bequem, ist gut angezogen, neben ihm hat man die heiligen Bücher aufgestellt, damit er sie lesen kann. Der kleine Srulik rennt auf dem Hof dem Ball nach. Großvater Abraham greift nach den Büchern und verliert dabei die Brille. Er will sie aufheben, aber er kann es nicht. Jetzt erwarten ihn drei Stunden der Untätigkeit. Er wird traurig und fängt an zu weinen. Der kleine Srulik rennt hierhin und dorthin und hört plötzlich, dass der Großvater die Nase putzt. Er geht zu ihm und sieht, dass der Großvater weint. Srulik ist sehr erstaunt: ›Großvater, warum weinst du?‹ Der Großvater antwortet: ›Es ist nichts, gib mir nur die Brille, die mir auf den Boden gefallen ist.‹ Srulik gibt ihm die Brille, und Großvater kann wieder lesen. Die Mutter kehrt vom Markt zurück, und der kleine Srulik erzählt ihr, immer noch erstaunt: ›Großvater hat geweint.‹ Warum?! Hätte er es gekonnt, hätte er gesagt: ›Wegen so einer Kleinigkeit!‹ Die Schwester Esterka kommt von der Schule zurück, rennt in ihr Zimmer, legt sich aufs Bett und weint. Mutter Rywka geht zu ihr und fragt, was passiert ist. Das Mädchen weint bitterlich, mit Mühe bringt sie die Worte heraus: ›Am Anfang haben sie gesagt, ich bin die Königin der Klasse, jetzt sagen sie, dass ich es nicht mehr bin und haben mir die Bücher zerrissen.‹ Die Mutter tröstet sie: ›Dummerchen, das ist doch nicht schlimm. Aus so einem Grund weinst du?‹

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Der Ältere, Arie, fünfzehnjährig, kommt am Nachmittag heim. Sie rufen ihn zum Essen, aber er kommt nicht. Er steht draußen, und Tränen tropfen ihm aus den Augen. Der Vater fragt: ›Warum weinst du denn? Was ist passiert?‹ Arie erzählt mit Mühe, tränenerstickt: ›Ein Mädchen hat mich beleidigt. Sie möchte mich nicht anschauen und nicht wissen, was ich ihr zu sagen habe.‹ Der Vater hört zu und tröstet den Sohn: ›So eine Dummheit, und du weinst wegen eines Mädchens, du wirst eine andere finden.‹ Die Mutter kommt von einem Besuch und ist verzweifelt: ›Sie haben gesagt, mein Kleid sei ein Lumpen. Und das ist doch mein bestes Kleid. Ich habe nichts anzuziehen.‹ Erzählt es und weint. Vater Mordechai wundert sich: ›Du weinst wegen eines Kleides?‹ Er kann seiner Frau kein Geld für ein neues Kleid versprechen. Sie sind nicht reich. Und es gibt Leute, die mit privaten Autos zur Arbeit fahren. Mordechai fährt mit dem Bus. Er schämt sich. Wegen dieser Scham füllen sich seine Augen mit Tränen. Großvater Abraham wundert sich: ›Zu meiner Zeit gab es keine Autos für alle. Was ist schlimm daran, mit dem Bus zu fahren? Weinst du wegen eines Autos?‹ Der kleine Srulik weint; er hat Angst, dass der Teufel vor der Tür steht. Das Bübchen fürchtet sich, er brüllt und weint. Die Mutter öffnet die Tür und zeigt ihm, dass da niemand ist. Srulik weint weiter und bittet die Mutter, ihn auf den Arm zu nehmen. Alle Tränen sind salzig. Wer das begreift, kann Kinder erziehen; wer das nicht begreift, dem gelingt es nicht, sie zu erziehen.«23

13.7 Der erste Brief (1934) Nach drei Wochen Aufenthalt in Palästina tritt Korczak von Haifa aus per Schiff die Rückreise nach Polen an. Auf dem Schiff »Polonia« schreibt er an die Freunde in Ejn Harod einen Dankesbrief, der in der Kibbuz-Zeitung Dawar Mibifnim (Wort von Innen) veröffentlicht wird: »Nacht – das Schiff gleitet langsam. Würdevoll und schnurrend wie eine verwöhnte Katze. Ich höre den Wellenschlag an diesem Ort zwischen drei Kontinenten, wo sich so viel ereignet hat. Ich bin aufgewacht und warte auf einen Gedanken, der mich ins Bewusstsein zurückbringt. Vor dem Fenster der runden Kajüte tobt der Wind. Er schaut ins Innere, saust um die Ecken, verschwindet – er hat nichts gesagt. Ich warte noch. Ich stehe auf dem Deck des Schiffes und betrachte die siedende Wut 23. SW, Bd. 9, S. 433ff.

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13.7 Der erste Brief (1934)

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der seltsam ungeduldigen Wasser. Ich atme die Feuchtigkeit der Luft und das Salz ein. Keine Sterne am Firmament. Ich kann keinen Laut von mir geben. Immer schaute ich auf den Rauch aus dem Kamin eurer Bäckerei in Ejn Harod. Ich befragte nacheinander die Sterne aus dem Sternhaufen des Orion – und den Berg Gilboa, auf dem einer eurer Friedhöfe sein wird. Mögen sie antworten. Ich schaute auf die Felsen eurer düsteren Berge, auf das dunkle Grün des Sees von Genezareth, doch in den Augen hatte ich – unbegreifliche Müdigkeit. Mögen sie doch zu mir sprechen. Ich horchte auf das Lied einer Grille und auf den Schrei der Hähne vor dem Morgenrot … In meinem ersten Brief wollte ich euch grüßen. Euch für so viele Dinge danken und mich vor euch rechtfertigen. Mich rechtfertigen wegen des Mangels an Glauben. So war es. Ich kam, um darüber zu diskutieren, wie viel Unwahrheit in eurer Wahrheit ist, durch die ihr euer Schicksal und das eurer Enkel bestimmt habt – denn in jedem Körnchen Aufrichtigkeit muss ein Stäubchen Unwahrheit sein; so ist das Gesetz dieser Welt, weil so der Mensch ist. Eure Anstrengungen und Ziele sind rein, aber die Sorgen, die Fehler und die Unordnung – sind menschlich. Die Ehrlichkeit ist eure Festung; in ihr gibt es nichts, wovor man die Augen zudrücken müsste – die Wahrheitsliebe ist eure Stärke, weil sie geboten ist, weil sie auf Früchte wartet – sie übersteigt nicht die menschlichen Möglichkeiten und befleckt nicht, was heilig ist. Wir – das ist mehr als ich. Nicht nur Jude und nicht nur Araber und sogar nicht einmal nur der Mensch im Allgemeinen. Weil es auch die Grille und ihr wunderbares Lied gibt und – das Rauschen der Wellen. … Ich lege den Bleistift beiseite. Er stört mich, weil er Worte verlangt, weil er zur Eile drängt. Doch die Worte sind immer wieder ungenau, deshalb ist stummes Gebet wahrhaftiger, weil Worte mit ihren Silben und Lauten dabei entbehrlich sind. Das Gebet langer Stunden schweigender Arbeit auf dem Feld, im Kuhstall, im Hühnerstall, an Orten, wo nur das Herz schlägt und der Gedanke ohne Worte umherschweift. Eine andere Kraft, ein anderes Gewicht und eine andere Farbe hat dann die Frage: Wozu, warum? Der Bauer spricht nicht gern. Unterhalten sich die Bienen im Stock, wenn sie Honig geben? … Der Tag bricht an. So hat der Gott seine Rosse gesattelt und gleich wird er die Sonne über der Welt heraufführen. … Dämmerung. Noch ein Augenblick und die Sonne geht auf. Ich flüstere die Verse eines bescheidenen polnischen Dichters:

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Komm, helles Morgenrot, gieß deines Lichtes Flut über der Erde aus, die giert nach Leben, dring bis zum Grund, mit goldner Strahlenglut den Seelen neuen, reinen Glanz zu geben; Zerreiß der düstern Zukunft Spinnenweben, dem Zweifler schenke Hoffnung als das höchste Gut, dass unser Sein auf immer neuer Neugeburt beruht, dies zeig den Augen, die nach Schönheit streben. Komm, helles Morgenrot. Die Welt, berührt von einem Ahnen, in Häusern, wo Verderbtheit herrscht und der Genuss. In Höhlen, wo die Not und das Verbrechen mischen ihre Bahnen, schaut aus nach dir in Sorge oder Überdruss, denn du wirst an ein Leben sie gemahnen, das, neu und würdiger und besser, kommen muss. Die Sonne erhebt sich – so wundervoll und sicher. Ich kehre in die Kajüte zurück. Jetzt schlafe ich ein.«24 Von dem Sonett »Komm, helles Morgenrot« des polnischen Schriftstellers Adam Asnyk25 fühlt sich Korczak seit seiner Jugend in besonderer Weise angerührt. Er zitiert es in seinen Werken dreimal in voller Länge. Igor Newerly fand eine Abschrift des Sonetts in Korczaks Nachlass und schreibt dazu: »Dieses Gedicht fand ich 1942 unter den mir übergebenen Papieren Korczaks. Abgeschrieben vor mehr als vierzig Jahren, zwischen die letzten Blätter des Tagebuchs gelegt, hatte es die Aussagekraft eines intimen Bekenntnisses oder Testaments.«26

24. SW, Bd. 15, S. 91ff. 25. Adam Asnyk (1838–1897), Studium der Landwirtschaft und Medizin (u. a. in Breslau), Promotion zum Dr. phil. (in Heidelberg), Lyriker und Schriftsteller, Vertreter des polnischen Positivismus, wurde von Korczak hoch geschätzt, der ihn in den Sämtlichen Werken mehr als zwanzigmal zitiert bzw erwähnt und zusätzlich das Sonett vollständig wiedergibt in: SW, Bd. 1, S. 345, Bd. 9, S. 105 und in: Der erste Brief. Als Sechszehnjähriger zitiert der junge Korczak Asnyk bereits in der Beichte eines Schetterlings und 1901 veröffentlicht er eine ausführliche vergleichende Würdigung der beiden populären Schriftsteller Asnyk und Kazimierz Tetmayer. (SW, Bd. 9, S. 109ff) 26. Newerly, Igor in: Janusz Korczak. Wybor pism. Tom 1. Warszawa 1957, S. XXXI f.

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13.8 Zurück in Warschau (1934)

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13.8 Zurück in Warschau (1934) Nach drei Wochen Aufenthalt in Palästina kehrt Korczak mit einem Schatz von Beobachtungen und Erfahrungen nach Warschau zurück. Hier wünscht die interessierte Öffentlichkeit (natürlich insbesondere die jüdische) zu erfahren, wie es um das exotische Land steht und was Korczak dort begegnete. Über seine Vorträge berichten die Zeitungen. Hier die Mitschrift eines Reporters anlässlich eines Palästina-Vortrags im Dezember 1934: »Dies war weder der Vortrag eines Reisenden noch das Referat eines zionistischen Agitators, der alles pflichtschuldigst lobt, noch auch der Bericht eines Touristen, der von der Exotik des Landes hingerissen, kritiklos von allem, was er ringsum sah, begeistert ist … Es waren die Impressionen eines Poeten, der auf ganz spezifische Art und Weise die Schönheit und die Wunder der Natur empfindet, es waren die Bemerkungen eines gründlichen und klugen Beobachters, die Eindrücke eines Psychologen, der in Palästina alles, was ringsum passierte, ohne Voreingenommenheit, aber auch ohne eine rosarote Brille betrachtet hat … ›Begeisterung weckt im Allgemeinen mein Misstrauen‹ – so begann Korczak seinen Vortrag – ›Palästina wird von Menschen gestaltet, und als ein menschliches Werk muss es neben den guten seine schlechten Seiten haben … Dies ist kein Mangel an Vertrauen zum Menschen, sondern ein Mangel an Vertrauen in die Ausdauer, in die menschliche Geduld, in eine beständige Anstrengung … Helden haben begonnen, Palästina aufzubauen. Zwar ist Heldentum zum Tod nicht schwer, aber dieses tropfenweise Tag für Tag, Stunde um Stunde, diese beständige, andauernde Anstrengung verlangt fast mehr als Heldentum … .«27 Im Warschauer Stadtteil Bielany endet 1934 die zweijährige ExperimentalPhase der seit 1932 im Nasz Dom bestehenden Grundschule. Dank des Zeitzeugenberichts von Stanisław Rogalski, eines der beiden Lehrer dieser Schule, wissen wir etwas über diese Schule und über die Ziele, die ihre Lehrer im Sinne Korczaks verfolgten: »– Der neue Mensch muss die ihn umgebende Welt verstehen, er muss die Veränderungen, die eintreten, sehen, sich ihnen anpassen und Motor von neuen Veränderungen sein. … – Man muss die Rechte ändern, die nur den Erwachsenen die Macht geben und die Welt des Kindes übersehen. Nur eine andere Erziehung der Kinder und die Vergabe von gleichen Rechten wie bei den Erwachsenen wird die Welt verändern. 27. Über Palästina, in: SW, Bd. 15, S. 94ff.

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– Die Erziehung zu voller Toleranz wird erst zum Frieden in der Welt führen.«28 Die in diesem Geist geführte Versuchsschule gleicht vielen Alternativschulen, die es bis heute weltweit gibt. Leider kann sie über 1934 hinaus nicht weiter betrieben werden, weil ihre Lehrer das Nasz Dom aus beruflichen Gründen verlassen müssen und sich keine Alternative auftut, denn – auch für das Nasz Dom sind die 30er-Jahre mit schmerzhaften Einschnitten verbunden.29

13.9 Der »Alte Doktor« im Radio (1934/35) Im Oktober 1934 diskutiert Korczak zusammen mit anderen KinderbuchAutoren in der Kinderabteilung des Polnischen Rundfunks über neue Formen von Kindersendungen30, nachdem er in den Jahren 1930/31 bereits traditionelle Vorlagen für Sendungen erstellt hatte (s. Pkt. 12.6). Am 18. Dezember 1934 tritt er dann erstmals selbst ans Mikrophon und eröffnet eine Hörfunksendung neuen Typs, die viel Zuspruch erfährt und bis zum 27. Februar 1936 laufen wird. Er spricht sowohl Kinder als auch Erwachsene an, darf aber seine Identität nicht preisgeben, weil auch der Rundfunkbereich in Polen zu dieser Zeit bereits vom Antisemitismus infiziert ist: Trotz der Hochschätzung, die man ihm von Seiten der Mitarbeiter entgegenbringt, wird die Sendung weder unter seinem Künstlernamen noch unter Henryk Goldszmit angekündigt, sondern als: Plaudereien des »Alten Doktors«. Die mit Korczak befreundete Hanna Mortkowicz-Olczakowa berichtet empört über den Vorgang: »Mit Lob überschüttet, immer wieder aufgefordert und von der Direktion wegen der Anziehungskraft seiner Sendungen geschätzt, war ihm, dem berühmten, unter seinem polnischen Pseudonym allgemein bekannten Schriftsteller und Pädagogen untersagt, sein Inkognito zu lüften. Nur als Stimme eines Unbekannten ließ man ihn zu den Ohren und Herzen sprechen. Dass Korczak zu dieser Rolle sein Einverständnis gab, zeugt von seiner Größe.«31 28. Rogalski, Stanisław: Das Schulexperiment Dr. Janusz Korczaks. In: Beiner, F./Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 400f. 29. Zur Experimental-Schule Korczaks gibt es bisher kaum Literatur. Wanda Wacińska wertete 1978 die vorliegenden Materialien aus. Vgl. Wacińska, Wanda: Szkoła experymentalna Doktora Janusza Korczaka. In: Historyczno-Oświatowy 1978, Nr. 3, S. 371– 387. 30. Vgl. SW, Bd. 4, S. 578. 31. Mortkowicz-Olczakowa, Hanna: Janusz Korczak …, a. a. O., S. 190f.,

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13.9 Der »Alte Doktor« im Radio (1934/35)

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Korczak selbst schenkt seinem neuen Pseudonym und der Rundfunkarbeit offenkundig nicht viel Aufmerksamkeit, denn er erwähnt diese nicht einmal, als er am 17. Januar 1935 der befreundeten Familie Simchoni, bei der er in Palästina zu Gast gewesen war, berichtet, wie er seine Tage verbringt: »Was ich treibe? – Montag – Verhör von Kindern beim Untersuchungsrichter; Dienst., Mittwoch – Bibliothek; Donn., Freitag – Nasz Dom; Freitag, Sonnab. – Dom Sierot. – Sonntag – Geschreibsel. Darüber hinaus – Vorträge, Sitzungen und ›diverse‹ Angelegenheiten, zahlreich und beschwerlich.« Die »Plaudereien des ›Alten Doktors‹« fallen dann wohl unter die Rubrik: »Vorträge, Sitzungen und ›diverse‹ Angelegenheiten«. Die Warschauer Sendungen des »Alten Doktors« werden aber trotz des Inkognitos seines Urhebers sehr populär. Denn, obwohl keine der von Korczak selbst vorgetragenen Texte erhalten geblieben sind32, wissen wir dank der Radiozeitschrift Antena (Antenne), in der regelmäßig über die Sendung berichtet wird, dass sie sehr gut bei den Hörern ankommt. Viele Fach-Kommentatoren nehmen zu den Sendungen Stellung, vor allem zu deren Stil. »Diese Plaudereien sind eine kleine Revolution im Polnischen Rundfunk. … Die Originalität des Herangehens an das Thema ist mit der Originalität des Stils organisch verknüpft, auf einzigartige Weise entsteht eine Ganzheit.«33 Die Sprache ist »anschaulich, … weit entfernt von Rhetorik«.34 Der Autor versteht es, die jungen Hörer anzusprechen, jede seiner Sendungen ist »ein wahrhaftiges Labmahl für die Kinder«.35 Man ist überzeugt: Diese Rundfunkbeiträge »regen die Kinder zu eigener Gedankenanstrengung an, sie erschließen ihnen und vertiefen in ihnen Probleme, bekannte und zugleich völlig neue Erlebnisse«.36 Korczak selbst freut sich natürlich über ein so positives Feedback durch professionelle Kritiker, legt aber mehr Wert auf die Beurteilung und Zufriedenheit der Kinder, darum bittet er diese um schriftliche Stellungnahmen und hofft auf einen multimedialen Dialog mit ihnen. Nach ersten Briefen von Kindern äußert er sich wesentlich kritischer zu seiner Arbeit. Er spricht von einer Aufgabe, der er »nicht gewachsen« sei. Er gibt sich 32. Die letzte »Plauderei« aus diesem Zeitabschnitt ist von Adam Nowmiński aus der Erinnerung rekonstruiert worden; sie ist in SW, Bd. 3, S. 442ff abgedruckt. 33. Waga, M.: Rezension zu Korczaks Radioplaudereien. In: Antena 1935, Nr. 20, S. 9. 34. Ulatowski, Jan: Rezension zu Korczaks Radioplaudereien. In: Antena 1935, Nr. 29, S. 6. 35. Matiasiak, Branislawa: Rezension zu Korczaks Radioplaudereien. In: Antena 1935, Nr. 15, S. 12. 36. Stary Doktór (Der Alte Doktor). In: Dziecko i matka (Kind und Mutter) 1935, Nr. 11, S. 18–20.

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nicht zufrieden mit allgemeinem Lob, sondern stellt fest, dass er die zuhörenden Kinder offenbar nicht zu authentischen Stellungnahmen motivieren konnte, und konstatiert: In den Zuschriften der Kinder sind nur zwei Aspekte authentisch: »Unterschriften und Adressen«. Nach seinem Urteil schreiben die Kinder im Stil von Schulaufsätzen und Glückwünschen zum Namenstag. Der an den Gedanken und Gefühlen, der reichen Innenwelt, den intuitiven Visionen und metaphysischen Höhenflügen von Kindern interessierte Korczak wertet seinen Versuch daher eher als Niederlage denn als Erfolg, aber auch als Ansporn: »Einen Korrespondenten zu erziehen bedarf es längerer Zeit.«37 Darum setzt er den Dialog mit den Kindern zusätzlich schriftlich via Antena fort. In einem Antena-Artikel des Jahres 1935 berichtet er zum Beispiel über seine Erfahrungen beim Märchenerzählen: »Der Gestiefelte Kater: Ich habe im Radio das Märchen vom Gestiefelten Kater erzählt. Das war nichts, es ist nicht gelungen. Das Märchen … habe ich in Schulen und Kindergärten erzählt, in Warschau und auf dem Land; im Wald und an einem Fluss; ich habe es kranken Kindern im Spital und im Schlafsaal erzählt, zum Einschlafen. Manchmal, nur selten, hörte nur einer zu: Oder es hörten – hundert – zu. – Und es war gut. Sogar im Krieg habe ich Kindern vom Gestiefelten Kater erzählt: damit sie sich nicht fürchteten, wenn die Kanonen so laut donnerten. Ich bin imstande, dieses Märchen interessant zu erzählen – ich kann es auch schnell erzählen (gleich gibt es Mittagessen), und ich kann lange Zeit erzählen, von Sonntag zu Sonntag. Ich weiß: ›Oh, an dieser Stelle wird gelacht; und da werden sie fragen, warum, und hier fragen sie, wer; und da sagen sie dies und dort jenes.‹ Ich weiß es, weil ich dieses Märchen schon viele Male erzählt habe. Im Radio aber erst einmal. Und irgendwie ist es nicht geglückt. Die großen haben zugehört; die Großen – sieben Jahre alt – hörten zu; aber die Kleinen nicht.«38 Der »Alte Doktor« tritt auch als Berichterstatter für Kinder und Jugendliche im Radio auf. Beispiel: Nachdem die Antena für den 18. August 1935 eine Rundfunkübertragung aus der Sommerkolonie Małkinia angekündigt hatte, »die von dem allen Rundfunkhörern gut bekannten ›Alten Doktor‹ durchgeführt wird und die sowohl Kinder und Jugendliche als auch Erzieher und Fürsorger interessieren dürfte«, berichtet der Chefredakteur Jan Piotrowski darüber: »… Der ›Alte Doktor‹ offenbarte sich als ausgezeichneter ›Kapellmeister‹, unter dessen Leitung 700 fröhliche 37. In: SW, Bd. 9, S. 344.. 38. SW, Bd. 13, S. 270ff.

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13.10 Zweite Reise nach Palästina (1936)

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Kinder ein Konzert gaben, wie es die Welt bisher noch keines gehört hatte. In dem von schallendem Lachen durchzogenen Konzert gab es einen Wettbewerb von Fingerpfeifern – Solo, Duett, Trio – , Halmenquartette, Salonmusik auf Kämmen, Concertino von Vögeln, einen Chor von Ziegen, Solovorträge von Hühnern, Enten, Ferkeln … und als Höhepunkt: Löwengebrüll und Geschrei von Menschenfressern, das einem das Blut in den Adern erstarren ließ. Der Kinderschwarm vor dem Mikrophon tobte vor Freude, und wir, die Erwachsenen, beneideten sie um ihren Freund und Vortragenden.«39 Am 27. Oktober 1935 heißt es in Antena: »Um zur Steigerung der Kultur und des Gesellschaftslebens beizutragen, beginnt der Polnische Rundfunk – nach dem Muster des Londoner Rundfunks – eine Sendereihe unter dem Titel Wir diskutieren für Gruppen oder Diskussionskreise. Am 30. 10. und 6. 11. senden wir zwei Korczak-Vorträge zum Thema: Der Mensch in der Gesellschaft.«40 Am 14. November 1935 wird berichtet: »Eine Radioübertragung aus der Marschall-Józef-Piłsudski-Kinderklinik. ›Der Alte Doktor‹ begleitete eine Visite zu kranken Kindern, um mit ihnen zu plaudern und sich zu erkundigen, was ihnen fehlt. … ›Wenn der Herr Lehrer, dank der Röntgenstrahlen, sehen könnte, wie besorgt das Herz mancher Kinder schlägt, würde er sicher weniger streng sein.‹«41

13.10 Zweite Reise nach Palästina (1936) Der zunehmende Antisemitismus und die sich ständig verschlechternde politische Situation in Polen – insbesondere nach dem Tod des hoch geschätzten Staatschefs Piłsudski – setzen Korczak immer mehr zu. Józef Arnon berichtet wieder als Zeitzeuge: »Der Tod Piłsudskis (1935) – in Józef Piłsudski sah Korczak einen Patrioten, der für Polens Freiheit kämpfte – traf ihn tief; die faschistische extreme Rechte erhob ihr Haupt, und offener Antisemitismus überschwemmte ganz Polen. Mehr und mehr wurden die Juden aus dem gesellschaftlichen, dem Kultur- und Wirtschaftsleben verdrängt: Hie und da erschienen Boykottwachen, und es kam zu Ausschreitungen gegen Juden. Korczak fing an zu fühlen, dass der Boden unter den Füßen der Juden brennt … In Polen zog sich der Strick auch um seine Kinder in der Krochmalna 92 zusammen. Die Nachbarn des Waisenhauses belästigten die Kinder: ›Dreckige Juden‹, ›Juden nach Palästina‹, Aufschrif39. Antena 1935, Nr. 33. 40. Antena 1935, Nr. 40, S.3; Nr. 43, S. 12. 41. Antena 1935, Nr. 47, S. 18.

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ten an den Hauswänden: ›Juden ins Ghetto‹. Zwei Betrunkene erschreckten seine Kinder mit Rufen: ›Gib eine Pistole, ruf Hitler …‹, alles ringsherum war erschüttert, und die Erde bebte unter den Füßen der Juden.«42 Darum macht sich Korczak im Juli 1936 erneut auf den Weg nach Palästina. Hatte er sich bei seinem ersten Besuch 1934 hauptsächlich im Kibbuz Ejn Harod aufgehalten, um die neue Lebensform einer Kibbuz-Siedlung und insbesondere die hier lebenden Kinder und ihre Erzieher kennen zu lernen, so wohnt er zwar ab dem 20. Juli 1936 auch wieder hier, macht aber weitere Ausflüge und studiert andere Formen des Zusammenlebens, hält sich in Jerusalem auf und besucht Freunde und Bekannte. Nicht ohne eine gewisse Faszination hält er dabei seine ersten Eindrücke und Betrachtungen über das Land der jüdischen Glaubensväter und der Bibel fest: »Und da bin ich zum zweiten Mal. … Niemand, keiner meiner Vorfahren. Ich bin der Erste. … Siehe da, es erfüllt sich die Bitte, die wir Jahr um Jahr im Gebet wiederholen: ›Nächstes Jahr in Jerusalem.‹ Hier ist das Ende der Diaspora. Das ist die Rückkehr nach tausendjähriger Wanderschaft und Verfolgung. Ich habe es verdient und deshalb bin ich hier.«43 Im September 1936 – noch während seines Aufenthalts in Eretz Israel – appelliert er an die palästinensischen Juden, sich für ein »neues Epos«, eine neue Bibel zu engagieren: »Der Blick zum Himmel und in das Morgen. Shakespeare hat die Geschichte Englands in Dramen gefasst, Dostojewski hat in seinen Romanen einen Querschnitt der russischen Seele gegeben, Racine spottete, Sienkiewicz glorifizierte, Faust erfasste das philosophische Problem des Daseins. Josef Flavius hat den tragischen Augenblick der Geschichte wie Herodot oder Caesar behandelt. Die Hammurabisäule und die römischen Gesetzestafeln verkündeten das Recht ohne poetische Beimischungen. Anders die Bibel. Anders die Propheten. Ich fühle es mehr, als ich es weiß, dass aus ihr die ganze Poesie geboren wurde. Die Heiligkeit des Werkes ist vergangen, sein Wert ist geblieben. Es wäre verwunderlich, wenn die neue hebräische Sprache auf das Recht und die Möglichkeit verzichten würde, ein neues – das dritte Epos nach dem Alten und Neuen Testament – eine Trilogie, nicht als Fortsetzung, sondern für jetzt und heute – zu schaffen.«44

42. Arnon, Joseph: The Passion of Janusz Korczak …, a. a. O. 43. Eindrücke und Betrachtungen, SW, Bd. 15, S. 100. 44. Für ein neues Epos, in: ebd., S. 111.

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13.10 Zweite Reise nach Palästina (1936)

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Nach sechs Wochen tritt er die Heimreise nach Polen an. Über seine tiefen Eindrücke und Erlebnisse im »Altneuland« (Herzl) berichtet er nach seiner Reise in Warschau voll Bewunderung und Anerkennung: »Ich behaupte mit dem ganzen Verantwortungsgefühl für meine Worte, dass man dort gründlich und vollständig die schwierige, grundlegende Aufgabe der Zusammenarbeit und des Zusammenlebens mit Menschen verschiedener Rassen, Bekenntnisse, Kulturen, verschiedenen Geschlechts, Temperaments, verschiedener Ansichten, Begabungen, Anlagen und Ambitionen lösen möchte. Man will es – das ist wichtig. Sich nicht verstecken, sich nicht herauslügen, sondern eine Aufgabe lösen. Außerdem versuchen das in ihrem eigenen Leben auch die Kinder – sie suchen, passen sich an und tolerieren, ändern, rücken zurecht, vervollkommnen. In diesem Spiel, ich wiederhole es, engagieren sie sich vertrauensvoll mit ihrem – ganzen Leben und dem der Kinder. Und was noch wichtiger ist: Schon – gelingt es ihnen, so schnell, trotz so vieler Hindernisse und Schwierigkeiten (und was für Schwierigkeiten!), trotz der wenigen Mittel – und der Vereinsamung.«45 Seine Freunde bedrängen ihn von Palästina aus, doch für immer zu ihnen zu kommen; aber er ist noch nicht so weit, obschon ihm die Pioniertaten der Zionisten und ihrer Kinder imponieren. In den Eindrücken und Betrachtungen, die im Nachhinein in Ejn Harod veröffentlicht werden, listet er – für den Fall einer zu erwägenden endgültigen Auswanderung nach Israel – nüchtern die Unterschiede und Schwierigkeiten auf, die zwischen Warschau und den Galiläischen Bergen zu überwinden wären: »a) Von Norden nach Süden – Klimawechsel. b) Aus der Ebene in die Berge. c) Aus der Stadt aufs Land. d) Vom Handel in die Landwirtschaft. e) Vom raschen Lebenstempo, den schnellen Gedanken und Ereignissen zu einem langsamen Rhythmus, sogar was die Gefühle betrifft. f) Eine andere Umgebung – der arabische Nachbar; manchmal etwas mehr als ein Nachbar, manchmal weniger. g) Die fremde Sprache, die schwierige Sprache der Vorfahren. h) Ohne den früheren Gott, ohne seine Feste und Heiligtümer. i) Andere Führer, eine andere Ethik, ein Gewirr alter und neuer Gefühle und sogar früherer Ansichten. j) Vom Besitzsystem zur Kommune. k) Ein Bruch mit der Familie, mit der Vergangenheit. 45. Notizen für Vorträge über Palästina, in: ebd., S. 128.

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Das bewusste oder unbewusste Gefühl eines Versuchs, eines Experiments.«46

13.11 Bruch mit dem Rundfunk und dem Nasz Dom (1936) Kaum hat sich Korczak von den Strapazen der zweiten Palästina-Reise erholt, wird er in Warschau von zwei schweren Schlägen getroffen, die ihn – im Verein mit dem allgegenwärtigen Druck der nicht-jüdischen Gesellschaft und den nationalistisch-rassistisch eingestellten Regierungsstellen – in eine tiefe Depression stürzen und ihm eine endgültige Emigration nahe legen: »Ganz unerwartet und brutal kündigte man ihm seine Rundfunksendungen, und ebenso unerwartet kam es nach einer stürmischen Sitzung zum Bruch mit Mayna Falska. So endete nach einer fünfzehnjährigen Zusammenarbeit die Beziehung zu ›Unserem Haus‹ (Nasz Dom) in Bielany. … Auch hier musste man den Druck von Regierungsstellen vermuten, denen die Fonds für das Waisenhaus unterstellt waren. Es ist anzunehmen, dass Frau Maryna Falska bei dem Überhandnehmen der Rassenverhetzung dem Druck nicht widerstehen konnte. Ebenso gut können aber auch Konflikte zwischen diesen beiden so stark ausgeprägten Persönlichkeiten an dem Zerwürfnis schuld gewesen sein. Kein Wort hat Korczak je über die Ursachen gesprochen, die zu dem Bruch mit ›Unserm Haus‹ geführt haben. Maryna Falska schwieg sich ebenfalls darüber aus. Die Trennung von Korczak kam für sie und für ›Unser Haus‹ einer Katastrophe gleich. Nun war die innige Verbindung zum Polentum, die Korczak stets als etwas Kostbares hegte, die Verbindung zum Rundfunkhörer und zum polnischen Kind, um dessen Erziehung seine Gedanken so viele Jahre kreisten, abgebrochen. … Er beschloss, zu fliehen und in Palästina ein neues Leben zu beginnen.«47

13.12 Depressionen und Bilanzen (1937) Nach diesen Schlägen und Enttäuschungen und der am Vorabend des Zweiten Weltkrieges immer brisanter werdenden politischen Situation ist Korczak zutiefst deprimiert und verzweifelt. Beim Rückblick im Pamiętnik charakterisiert er die Zeit so: »Schäbige, schändliche Jahre – zersetzende, nichtswürdige. Die Jahre vor dem Krieg, falsch, verlogen. – Verflucht. Man 46. Ebd., S. 101. 47. Mortkowicz-Olczakowa, Hanna: Janusz Korczak …, a. a. O., S. 192f.

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13.12 Depressionen und Bilanzen (1937)

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hatte keine Lust zu leben.«48 Auch seine Korrespondenz mit schon emigrierten Freunden belegt, wie aussichtslos ihm seine Situation erscheint, und wie er sich (vielleicht endgültig?) zu seinen Wurzeln und zum Land der Bibel wendet.49 In den Briefen nach Palästina bilanziert er sein bisheriges Leben, artikuliert seine tiefe Sehnsucht nach einem Rückzug aus den Warschauer Verpflichtungen – und beschreibt seine Träume von einem Neuanfang in Jerusalem. Hier Auszüge aus zwei Briefen: Im März 1937 schreibt er an den befreundeten Mieczysław Zylbertal : »Ich erlegte mir ein Leben auf, das scheinbar ungeregelt war – ein Einsamer und ein Fremder. Ich habe versucht, für die Idee vom Dienst am Kind und seiner Sache zu arbeiten. Dem Scheine nach habe ich verspielt. … Alt, erschöpft, mittellos – will ich es ein letztes Mal probieren. … – Vorerst habe ich alle Verbindungen hier abgebrochen, geblieben ist mir eine Handvoll Freundlichgesinnter. Und der Eindruck, ich flüchte? … Vielleicht gibt mir Jerusalem Kraft. Die Diaspora, die Sehnsucht – das so unmenschliche Leben, es ist, als betrachtete ich die teuflische Komödie der heutigen Wirklichkeit schon aus einer anderen Welt. … Nicht mich möchte ich retten, sondern meine Idee.«50 Und im Mai 1937 blickt er auf sein Leben zurück: »Ich selbst fühle mich verantwortlich für das Kind, ich möchte ihm dienen, denn an das Kind ist die Arbeit meines Lebens gebunden, ich muss, nicht nur, weil ich die Welt in Verwirrung zurücklasse; nicht genug, dass ich das Kind nicht schützen konnte, ich fand nicht einmal ein williges Ohr für die Frage des Weges, den ich – vielleicht täusche ich mich – gefunden habe (… :) Die kindliche Gemeinschaft auf gegenseitige Sympathie und Gerechtigkeit stützen, die Kinder für immer von den üblen Dingen der Erwachsenen fernhalten; ihnen Jahre der Unabhängigkeit, der Ruhe, der Heiterkeit geben – damit sie heranwachsen und reifen können; zu nichts zwingen, nichts aufbürden, sie nicht sich selbst überlassen, ihnen nicht Unrecht tun. Ich stelle fest, das ist mir mit einigen wenigen im Dom Sierot gelungen. Trotz der schwierigen Bedingungen: Das ist eine Oase, die, zu meinem Bedauern, der schlimme Alltag der sich ringsum erstreckenden Wüstenei verdeckt (verstellt?).«51 48. SW, Bd. 15, S. 354. 49. Die Briefe an Freunde in Palästina sind in SW, Bd. 15, S. 17 bis 87, chronologisch geordnet, abgedruckt. 50. SW, Bd. 15, S. 54ff. 51. Ebd., S. 64.

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Was diese »Oase« für die Kinder der Waisenhäuser bedeutet haben muss, kann man nach der Lektüre der folgenden persönlichen Notiz Korczaks erahnen: »Nacht. Halbdunkles Licht der blauen Lampe. Sie schlafen. Stille. – Der Atem von fünfzig Kindern. Er hat Zahnschmerzen. Lange hat er mit dem Schluchzen gekämpft. Es tut weh. Er ist acht Jahre alt. Dann weint er laut. Er könnte andere wecken … ›Leise, – gleich …‹ ›… es ist schon besser; aber bitte, gehen Sie nicht fort.‹ Er hält meine Hand. Er redet schnell. Flüstert. ›… dann die Mama. Dann war ich bei der Oma, aber sie ist auch gestorben. Dann war ich bei der Tante. Sie jagte mich aus dem Haus. Es war kalt. Der Onkel hat mich aufgenommen. Er ist arm. Ich war sehr hungrig. Er hat Kinder. Alle Kinder wurden krank. Ich auch. Der Hauswirt befahl, in der Kammer zu schlafen, aus Furcht vor Ansteckung. – Die Zähne tun immer in der Nacht weh. – Dann hat mich eine Dame aufgenommen, aber nur für kurze Zeit. – Sie ging mit mir auf einen Platz und hat mich dort stehen lassen. Es war dunkel. Ich war noch klein. Ein Junge stieß mich herum. Dann hat mich der Polizist wohin gebracht. Dort waren Polen. Ich war dort. – Dann haben sie mich zurückgeschickt. Die Tante hat geschrieben. – Hier fühle ich mich wohl. Die Tante hat mir nicht erlaubt, Ihnen zu erzählen, wo ich war. Ich bleibe hier, nicht wahr? – Sie sind mir doch nicht mehr böse, dass ich den Ball auf den Rasen geworfen habe?‹ ›Die Jungen haben dir nicht gesagt, dass es verboten ist?‹ Er antwortet nicht. Er ist eingeschlafen. Komisch. – Vielleicht war es doch das Licht? Oder schien es mir nur so? – Es war ein kurzer Moment, aber ich habe ihn gesehen. Ja. Ein heller Rand – ein Glorienschein – eine Aureole – um sein gequältes Köpfchen. – Es ist mir erst das zweite Mal passiert. Nur ungern veröffentliche ich diese Notiz. – In keiner Weise wird sie derjenige verstehen, der das in der nächtlichen Stille in einem großen Schlafraum nicht selbst, der es nicht selbst miterlebt hat …«52 In dieser Zeit der inneren und äußeren Erschütterungen schreibt Korzak für die jiddisch-sprachige Zeitschrift Dos Kind einen desillusionierenden Aufsatz über die Stellung der Jugend unter der Herrschaft der Erwachsenen, der im April 1937 unter dem Titel Illusionen erscheint, und der vielleicht – man vergleiche den letzten Absatz des Aufsatzes – auch mit Korczaks eigener Gemütsverfassung zusammenhängt: 52. Notizen auf einem Zettel ohne Datum, in: SW, Bd. 9, S. 233f.

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13.14 Sorge um die »unbehauste Menschheit« (1937)

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13.13 Illusionen (1937) »Unseren Kindern erlauben wir nicht, entsprechend ihrem eigenen Willen und Verstand zu leben. Man bereitet sie die ganze Zeit auf das künftige Leben vor, wenn sie erwachsen sein werden. Und in der Zwischenzeit werden sie gefesselt und begrenzt in ihrem Recht. Das alles angeblich im Namen der Erziehung und des Schutzes. In Wirklichkeit aber zu unserem eigenen Nutzen und Wohlbefinden. … Einerseits wird von ihnen Fröhlichkeit, andererseits Ernst verlangt, einmal Naivität, das andere Mal Klugheit, zeitweise Initiative, Energie, Unterhaltung, Spiel, Hoffnung und noch viele andere Sachen, die unsere Schwächen kompensieren und nicht ihre Bedürfnisse befriedigen sollen. Das alles und vieles andere bewirkt, dass das Kind danach strebt, erwachsen zu werden: wachsen, sich befreien, die Ketten abwerfen, unabhängig werden, bei sich selbst sein. Sie warten und träumen – endlich das Ende des Sklavenlebens, endlich die erträumte Freiheit. … Wenn man auf die Kindergesellschaft so wie ein Soziologe auf eine unterdrückte gesellschaftliche Schicht oder wie ein Historiker auf ein Slavenvolk schaut, dann sind die Jugendlichen jener rebellische Clan, welcher noch keine Ahnung hat, was er mit der eigenen, gerade erst erworbenen Freiheit tun soll, weil er die Mittel des kultivierten Lebens noch nicht kennt. … Heißt das, wieder warten? Worauf und wie lange noch? Es entsteht Misstrauen und Unglaube, nicht nur gegenüber den Erwachsenen, sondern auch – und das ist viel gefährlicher – gegenüber sich selbst. Und vielleicht, lieber Freund, ist die ganze Unabhängigkeit des Menschen nur eine Fiktion, ein Trugbild … Und vielleicht, wenn man vor Befehlen und Verboten flüchtet, denen man sich entziehen kann, fällt man hinein in viel schwierigere, eigene Pflichten, von denen sich zu befreien einfach unmöglich ist, weil sie von dem eigenen Leben diktiert weden. … Es ist schwer, das Leben zu verstehen …«53

13.14 Sorge um die »unbehauste Menschheit« (1937) Im Jahr 1937 zieht Korczak noch einmal um: von der Warschauer ŻurawiaStraße in die Złota-Straße 8. Der genaue Zeitpunkt ist nicht bekannt; aber aufgrund eines Briefes vom 8. 8. 1937, den er aus der Złota-Str. 8 verschickt54, wissen wir, dass es vor diesem Zeitpunkt gewesen sein muss. 53. Ebd., S. 442f. 54. SW, Bd. 15, S. 66.

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Auch Stefania Wilczyńska – bisher voll involviert in die Arbeit des Waisenhauses (Haupterzieherin im Dom Sierot, Leiterin der Burse und Verantwortliche für die Kolonie Różyczka) – schaut mit Sorge auf die schwieriger werdende Situation in Polen; sie sucht für die Kinder des Dom Sierot eine Brücke zur Welt außerhalb des Waisenhauses. Am 1. 7. 1937 bezieht auch sie eine eigene Wohnung außerhalb des Dom Sierot und arbeitet ab September 1937 für die pädagogische Hilfsorganisation »Centos«.55 In dieser Funktion berät sie 180 Internate in ganz Polen. Die formelle Leitung des Dom Sierot übernimmt Matylda Temkin. Korczak wendet sich in den Sommermonaten einem bisher venachlässigten Projekt zu, über das er am 14. September 1937 Edwin Markuze, einem ehemaligen Mitarbeiter der Kleinen Rundschau, der jetzt in einem Kibbuz lebt, in einem Brief berichtet: »Zwei Monate habe ich in einem velassenen Dörfchen in Podlasien zugebracht. Während eines der beiden Monate leistete mir Louis Pasteur Gesellschaft. Ich habe seine Biographie für Kinder aufgeschrieben. Was für eine großartige Gestalt, was für ein wunderbares Leben um die Wahrheit.« (Die Drucklegung des Buches wird 1938 erfolgen.) Und auf die politische Situation und den eigenen Lebensauftrag eingehend, schreibt er: »Es ist ein Irrtum zu denken, nur die Juden litten. Allen geht es schlecht, es leiden die Benachteiligten und die Benachteiliger! Glück kann man (vorerst nur) den Kindern geben. Eine freudlose Kindheit muss ein verkrüppeltes Leben nach sich ziehen!«56 Trotz des offenen Antisemitismus’ in der Gesellschaft wird Korczak am 4. November 1937 noch von der Polnischen Akademie für Literatur für sein literarisches Schaffen mit dem Goldenen Lorbeer ausgezeichnet. Kurz danach aber schreibt er seinem Freund Józef Arnon, wie hoffnungslos er die gegenwärtige gesellschaftliche Situation einschätzt: »Es ist so schwer, so unwahrscheinlich schwer … lange kann es so nicht weitergehen. Das Böse ist noch nicht auf dem Grunde angelangt; die nächsten fünf, vielleicht zehn Jahre – das sind Gewitter und Überschwemmungen; ihr werdet das Morgenrot der neuen Ordnung schauen. Unsere Generation hat ein gewaltiges Stück Geschichte und missglückte Versuche miterlebt, 55. Der volle Name: Centralne Towarzystwo Opieki nad Sierotami i Dziećmi Opuszczonymi (Zentrale der Gesellschaften zum Schutz von Waisen und vernachlässigten Kindern). »Centos« entstand 1924 mit dem Sitz in Warschau, Fredostraße 10 (im Ghetto: Leszno 2). Sie vereinigte in über zweihundert Städten Polens tätige soziale Einrichtungen, die für einige zehntausend Kinder in Erziehungsanstalten, Internaten, Halbinternaten, Ersatzfamilien u. a. Sorge trugen. 56. SW, Bd. 15, S. 68f.

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13.15 Über die Rettung der Kinder (1937)

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vor unsern Augen sind Glaubensvorstellungen zusammengebrochen, Schlechtes und Gutes ist eingestürzt, das Jahrhunderte bestand. … Wir haben so lange von Illusionen gelebt … Man darf die Welt nicht so lassen, wie sie ist. … Verzeihen Sie … manchmal scheint mir, ich würde gerade in einem Brief jene Zauberformel finden, mit der sich ein Haus für die so unbehauste Menschheit bauen ließe.«57

13.15 Über die Rettung der Kinder (1937) Indessen wird die finanzielle Lage der Trägergesellschaft des Dom Sierot immer bedrohlicher: Die Bilanz wird »mit einem bedeutenden Defizit abgeschlossen«, so dass die »Arbeit des Vereins zwangsläufig reduziert werden muss«. Korczak sieht sich gezwungen, am 22. Dezember 1937 an die Leser der jüdischen Tageszeitung Unsere Rundschau (Nasz Przegląd) zu appellieren, sich in dieser schwierigen Zeit für die »Rettung von Kindern«58 einzusetzen: »Sowohl im Leben des Einzelnen wie auch der Nationen gibt es leichtere und allerschwerste Zeitabschnitte: Letzte erfordern nicht allgemeine Maßnahmen und durchschnittliche Bemühungen, sondern eine Entscheidung, eine Wahl, eine fehlerfreie Antwort, wohin und wie – und nicht morgen, sondern heute, jetzt, gleich, sofort. Ohne faule Vertagung, ohne Nachlässigkeit.« Es gilt für jeden verantwortlichen Erwachsenen, sich für die Erziehung der Kinder, für ihre Versorgung, ihre Entwicklung, ihr Wohl einzusetzen! Und dabei erinnert Korczak noch einmal an den Kern des Begriffs Erziehen: »Es gibt ein schönes polnisches Wort: wychowywac (erziehen), chowac (bewahren). Nicht das deutsche Wort: erziehen – ziehen, schleppen, herausziehen. Chowac, das ist schützen, beschirmen, vor Hunger, Misshandlung und Leiden in Sicherheit bringen.«59 Und woher kann eine solche Erziehung – selbst in Zeiten der größten Not – ihre Kraft und Motivation beziehen? In seiner Tatsachenbilanz desselben Jahres spricht Korczak von einer aktuellen »Krise der Moral« und einer »Entwertung des Menschen« und hält fest, dass seine Motivation letztlich im »Glauben« an die Menschen57. Ebd., S. 71f. 58. SW, Bd. 9, S. 227f. 59. Ebd., S. 229. Eine vergleichbare Begriffsbestimmung wurde auch unter Pkt. 12.1 gegeben.

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würde besteht: »Grundstein der Waisenfürsorge und der Erziehung ist der Glaube an den Wert und die Würde des Menschen und der Menschheit.«60

13.16 Das Leben des Louis Pasteur (1938) Mit der schon in einem Brief angekündigten Biographie über Louis Pasteur61 – »Was für eine großartige Gestalt, was für ein wunderbares Leben um die Wahrheit« – setzt Korczk einen Baustein einer lange gehegten Idee um: das Vorstellen von beispielhaften Frauen und Männern der Weltgeschichte, die Kindern ein Vorbild sein können, weil sie sich für eine Verbesserung dieser Welt eingesetzt haben. Eine geeignete Vorlage für eine solche Darstellung liefert der Lebenslauf Louis Pasteurs. Korczak war vom Leben und Wirken des heute international bekannten und anerkannten französischen Chemikers und Mikrobiologen bereits während seiner Studienzeit fasziniert. Bei seinem Aufenthalt in Paris suchte er Pasteurs Wirkungsstätte auf. Pasteur war ein Verfechter der Wahrheit, gegen alle Widerstände und Feinde, und er handelte im Interesse der Verbesserung der Lebensqualität aller Menschen. Mit der Jugend-Biographie Ein hartnäckiger Junge – Das Leben des Louis Pasteur konzipiert Korczak jetzt eine Figur, die Willensstärke, Ausdauer, Zielstrebigkeit 60. Ebd., S. 231; vgl auch S. 184. Korczaks Vorstellung von »Würde« dürfte sich im Wesentlichen mit dem Begriffsinhalt decken, den Otto Speck so beschreibt: »Mit Menschenwürde wird nach jüdisch-christlicher und allgemein-rechtlicher Auffassung, wie sie ihren Niederschlag u. a. im Artikel 1 des Grundgesetzes gefunden hat, ein unverlierbarer und unverfügbarer Wert ausgedrückt, auf den nicht verzichtet werden kann, wenn es eine sittliche Ordnung des Zusammenlebens aller geben soll. Gemeint ist der unhintergehbare Kennwert des Menschen als Person, als Selbst oder als Subjekt jenseits ökonomischer und sozialer Nutzeinschätzungen durch andere. Er ist Zweck an sich und entzieht sich der einseitigen Verfügung durch andere, also für fremde Zwecke. Mit der unbedingten Achtung dieser unveräußerlichen Menschenwürde wird das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, aber auch auf Freiheit der Person geschützt, und zwar in der Weise, dass man den Menschen nicht nur in seinem zufälligen Dasein akzeptiert, sondern ihn auch teilhaben lässt an den Gütern des Lebens, damit er ein menschenwürdiges Leben, d. h. ein mitmenschliches Leben führen kann.« (Speck, Otto: Erziehung und Achtung vor dem Anderen. Zur moralischen Dimension der Erziehung. München/Basel 1996, S. 81) Zur Ethik der Achtung vor dem Anderen vgl. auch Levinas, E.: Humanismus des anderen Menschen. Hamburg 1989, und ders.: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen. München/Wien 1995. 61. SW, Bd. 13, S. 13ff.

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13.18 Palästinensischer Besuch in der Złota-Straße 8 (1938)

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und Hartnäckigkeit verkörpert – Charaktereigenschaften, die gerade in der gegenwärtigen Zeit besonders notwendig wären.

13.17 Stefania Wilczyńska in Palästina (1938) Im März 1938 tritt Frau Wilczyńska ihre vierte Reise nach Palästina an, diesmal nicht nur für einen Besuch, sondern um dort für immer zu bleiben; sie hat eine Daueraufenthaltsgenehmigung erhalten. Drei Monate später berichtet Korczak einem ehemaligen Mitarbeiter des Dom Sierot, Jakub Kutalczuk, in einem Brief, wie es in der Zwischenzeit ums Haus der Waisen bestellt ist: »Ich weiß, Sie möchten wissen, was mit dem Dom Sierot ist. Nichts Neues seit der Ausreise von Frau Stefa. … Der Horizont bewölkt, es fehlt an Geld, die Kinder haben sich (wie immer) bewährt: und haben sich taktvoll an die neuen (?) Bedingungen angepasst, versuchen die Veränderung nicht auszunutzen.«62

13.18 Palästinensischer Besuch in der Złota-Straße 8 (1938) Korczak fühlt sich nach wie vor für die Kinder des Dom Sierot zuständig – auch wenn er nicht mehr in der Krochmalna-Straße wohnt. Aber auch seine Kontakte zu Zionistischen Kreisen nehmen deutlich zu. Ein Beispiel dieser Kontakte ist seine Freundschaft mit Zerubawel Gilead, einem Dichter und Emissär der Kibbuz-Bewegung aus Ejn Harod, der von Ende 1937 bis Juni 1939 in Polen weilt und Korczak häufig besucht. Gilead genießt bei Korczak hohes Ansehen, trotz der Verständigungsschwierigkeiten – Korczak spricht kein Hebräisch, der Gast kein Polnisch. Aus einem später verfassten Bericht Gileads erfahren wir, wie Korczak in der Złota-Straße 8, zusammen mit seiner Schwester Anna, lebt und was ihn in dieser Zeit bewegt: »Eine alte Holztreppe führt zu der kleinen Wohnung in der Złota-Straße in Warschau. Der Hofraum hinter dem Eingangstor ist sauber und still. Kaum ein paar Schritte von hier brodelt das Leben in der lauten, verkehrsreichen Marszałkowska-Straße voller Reichtum und Glanz. Die Schwester des Doktors (Doktor – das ist der Beiname Korczaks bei seinen Freunden und Zöglingen) öffnet die Wohnungstür – eine würdevolle alte Dame in einem einfachen, schwarzen Kleid, mit warmherzig strahlenden Augen. ›Willkommen, willkommen!‹ Sie begrüßt mich herzlich. Mit fröhlicher Stimme ruft sie ihren Bruder aus dem angrenzenden Zimmer: ›Doktor, der Gast aus Palästina ist da!‹ Der Doktor kommt mit 62. SW, Bd. 15, S. 75.

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raschem Schritt in den Flur, er trägt einen grauen Arbeitskittel und ein wollenes Käppchen. Er begrüßt mich freudig und führt mich gleich in sein Zimmer. Dort ist es halb dunkel. Am Fenster ein großer, schäbiger Schreibtisch. Ein altes hölzernes Kanapee, ein Schrank von unbestimmter Farbe, eine Etagere, mit Büchern und Broschüren überladen. Nur eine Fotographie hängt an der Wand – ein Porträt von Korczaks Mutter. Das Fenster zur Straße steht zu jeder Jahreszeit offen, aber der Straßenlärm dringt nicht bis in diesen kleinen, stillen Raum. Auf dem Tisch eine Büste von Piłsudski (ein Staatspreis, der dem Doktor verliehen wurde), eine große, elektrische Stehlampe und eine polnische Bibel, deren Rand mit Bemerkungen und Notizen vollgekritzelt ist. Mengen von Schreibpapier, illustrierte Zeitschriften und Bücher. Viele Reisebücher. Aber immer liegt dort die Bibel, meist geöffnet und mit frischen Anmerkungen am Rand vesehen. ›Das ist jetzt mein täglicher Fortsetzungsroman‹, scherzt der Doktor und fügt hinzu: ›Ich mache mich jetzt daran, die Kinder der Bibel zu schreiben, ich vertiefe mich ganz in die Erzählungen des Pentateuch. Immer wieder entdecke ich etwas Neues. Das ist ein wundervoller Urwald! Setz dich, warum stehst du? Bedien dich von dem, was du vor dir hast. Tatsächlich finde ich, sooft ich ihn in diesem Zimmer besuche, auf dem Tisch irgendetwas von den ›Früchten der Erde Palästinas‹: Orangen, Datteln, Mandeln. ›Das ist für dich, um dein Heimweh zu mildern‹ – er fordert mich auf zuzugreifen, um mich aufzuheitern. ›Für das Gespräch zu zweit gibt es nichts Besseres als gute Laune, und nichts verbessert das Wohlbefinden so – wie Früchte.‹ Nur einmal, am Tag des Abschieds, stellte er eine Flasche Karmelwein für uns bereit. ›Jetzt erlauben wir uns eine kleine Schlemmerei‹, sagte er scherzend, wie es seine Art war, und nahm aus dem Schrank eine Flasche Palästina-Wein. ›Nun, was soll’s – wir müssen Abschied nehmen. Vielleicht nicht für lange, aber immerhin liegt eine gewaltige Entfernung zwischen uns. … Aber lass uns anstoßen. Lechaim, mein Freund, lechaim!‹ Unser Gespräch beginnt mit Fragen nach Neuigkeiten aus Palästina, nach seinen Bekannten. Es ist erstaunlich, wie viel er von den Kibbuzim im Gedächtnis behalten hat, obwohl er sie nur während seiner kurzen Ausflüge gesehen hat. Die Tage sind immer überladen mit Ereignissen. Er nimmt eine Landkarte von Palästina aus der Schublade und bezeichnet genau die Orte mit allen Angaben. Die Unterhaltung dreht sich natürlich um sein Liebligsthema – Kinder. … Er redet mir eifrig zu, unter unseren Kindern das Drachensteigen zu propagieren. Ich habe einen handschriftlichen Brief Korczaks über dieses Thema aufbewahrt. Einmal sah ich auf seinem Tisch bunte Papierstreifen und Fäden liegen, er interessierte sich für das Zusammenbasteln der Drachen, er bestellte sogar in einer Buch-

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handlung ein Buch über Drachen. Er fragte mich auch aus, ob wir günstige Windverhältnisse für dieses Kindervergnügen hätten.« »Korczaks Drachen63 ›Meine Idee zum Drachensteigenlassen ließ sich bisher nicht verwirklichen, … vielleicht bald. Eine orangefarbene Schlange verfolgt eine rote, und über ihnen erhebt sich ein grüne. – Nein, es ist nicht genug, die Phantasie anzuregen oder zu Wagemut und Begeisterung zu inspirieren. Bitte verstehe: Ohne atemberaubende Spannung keine Kinderspiele.‹ Das Licht der Zigarette flimmerte zwischen seinen Lippen, und er stockte und fragte: ›Woher weht der Wind in eurem Land am Morgen? am Abend? Und bläst der Wind gewöhnlich vom Meer? Ah, das ist gut, das ist sehr gut! Stell dir vor, wie ein Drachen im Wind flattert, und eine feine Schnur in eines Kindes Hand vibriert. Und es funkelt gold und blau, tiefblau, wie das Blau über dem Berg Gilboa, das ich sah als ich kam, euch zu besuchen. – Als ich vier oder fünf war, ließ auch ich einen Drachen zum Himmel steigen, aber meine Schnur zerriss. Mein Drachen flog davon und verschwand zwischen den Wolken. Tränen füllten meine Augen. Und durch meine Tränen hindurch sah ich Engelsflügel meinen Drachen umarmen. Jetzt bin ich alt, wie Du weißt. Aber wenn Bitterkeit aufkommt, schließe ich die Augen und sehe vor mir 63. Bei einem Besuch im Kibbuz Ejn Harod überließ man mir (F. B.) die englische Fassung dieses Gedichts von Zerubawel Gilead, das seinem Nachlass entstammt. Es gibt m. E. die Stimmung der Erzählung Korczaks über Drachen sehr schön wieder, darum habe ich es in Gileads Bericht integriert.

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weiße Flügel zwischen den Wolken.‹ Die Zigarette erlosch. Wir schwiegen beide in der Dunkelheit.«64 Zerubawel Gilead setzt seinen Bericht fort: »Ich kam, um ihm zum Erscheinen seines neuen Buches Ein hartnäckiger Junge zu gratulieren. Er erzählte mir kurz den Inhalt und fügte hinzu: ›Es kann sein, dass es nicht viele Kinder lesen. Es ist an die ruhelosen Leser gerichtet, die von großen Taten träumen, die beharrlich zu arbeiten verstehen. Die Anhänger von Abenteuern und Sensationen ziehen König Maciuś vor, die Lausbuben Kajtuś, der Zauberer. Jedes Kind muss das Buch finden können, das sein Herz begehrt. Immer habe ich mich beim Schreiben darum bemüht. Jedes Kind ist ja doch eine neue, eigene Welt. Jedes Kind, das geboren wird, bringt etwas Eigenes, Individuelles mit, das es auf der Welt vorher noch nicht gab. Die Erziehungskunst der Eltern und Pädagogen beruht darauf, dem Kind zu helfen, das in sich zu entdecken, was sein ureigenes Wesen ist. Den Hartnäckigen Jungen habe ich gerade jetzt geschrieben – in dieser Zeit, in der Unmenschlichkeit und geistige Sklaverei uns lähmen, in dem Moment, wo der Hitlersche Wahnsinn sich ringsum ausbreitet. Ich schrieb das Buch, um den heute heranwachsenden Kindern zu zeigen, dass es auf der Welt auch andere Leute gibt, die ihr Leben geopfert haben und noch opfern – nicht um den Menschen zu vernichten, sondern um ihn zu befreien, um das menschliche Wesen zu bereichern und zu veredeln. Davon hat doch Louis Pasteur geträumt!‹. … Wir hatten uns ein paar Wochen lang nicht gesehen. Ich hatte irgendwo an einem Jugendlager teilgenommen und war gerade in die Stadt zurückgekehrt. Der Doktor bat mich, ihn in die Anstalt, ins Dom Sierot, zu begleiten. Wir gingen in Richtung Krochmalna. Als wir in eine der Straßen einbogen, stach uns an einem großen Eckhaus ein frisch angeklebtes Plakat in die Augen: Am Rand entlang war ein schwarzer Besen gezeichnet, die Aufschrift in roten Lettern lautete: ›Juden ins Ghetto‹. Den Doktor durchfuhr ein Schauder. … ›Vollidioten! Sie verderben die eigene Seele und schaden ihrem eigenen Staat! In diesem Jahr wollte ich in meinen Radioplaudereien zu ihnen sprechen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Aber sogar die vernünftigen Leute haben jedes Maß verloren; auch ihnen gefällt mein freies Wort nicht.‹ … Plötzlich drehte er sich zu mir um, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: ›Die Erde bebt … Das ist es!‹ Als wir zur Anstalt kamen und eintraten, begrüßte uns ein Freuden64 Gilead, Zarubawel: Die Erde bebt. In: Beiner, F./Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 477ff.

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schrei, wie immer, wenn der geliebte Herr Doktor auftauchte. Sein Gesicht hellte sich auf. Nur in den Mundwinkeln zuckten ein paar verborgene Fältchen. Er scherzte wieder fröhlich, seine Augen lachten schelmisch. So war er immer, wenn er unter Kindern war. … Als wir uns verabschiedeten sagte er: »Wir haben in diesem Jahr einen schönen Herbst in Polen, so einen hast du nicht einmal in Palästina! Könnte ich doch mit meiner ganzen Kinderschar dorthin übersiedeln, ich wäre glücklich! So ist die Lage, mein Freund!« 65

65. Ebd., S. 480ff.

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14. Zeiten der Reflexion: 1938–1939 An eine Umsiedlung der »ganzen Kinderschar« nach Palästina ist natürlich weder aus finanziellen noch aus behördlichen Gründen zu denken, und Korczaks persönliche Pläne, für eine längere Zeit ins Land seiner Väter zu fliehen, sind bisher nicht nur am mangelnden Geld gescheitert, es liegt auch daran, dass er seine Unabhängigkeit bedroht sieht: Obwohl ihm seine dortigen Freunde eine Anstellung vermitteln wollen, mag er sich nicht von deren Protektion abhängig machen. Außerdem hat er hier in Warschau noch einiges zu sagen: Aufrufe und Reflexionen, gerichtet sowohl an Kinder, Jugendliche und Alte wie an Polen und Juden; zu verbreiten über verschiedene Printmedien und über den Rundfunk. Zwar gefällt den Radio-Machern sein »freies Wort nicht«, wie er bei Zerubawel Gilead beklagt, aber auf die Mitarbeit des »Alten Doktors« will der Staatliche Rundfunk denn doch nicht verzichten. Nach dreijähriger Pause tritt Korczak 1938 wieder ans Mikrophon, um diesmal mit Jugendlichen und Erwachsenen über das existentielle Lebensthema Einsamkeit zu reflektieren:

14.1 Über die Einsamkeit (1938) Der Radio-Text Über die Einsamkeit, nachträglich in Antena abgedruckt, besteht aus drei Teilen: Die Einsamkeit des Kindes. Die Einsamkeit der Jugend. Die Einsamkeit des Alters.1 In Die Einsamkeit des Kindes wird noch einmal die Entwicklung des Kleinstkindes thematisiert, das Entwicklungswunder Mensch, das Korczak vom ersten Augenblick des beginnenden Lebens an fasziniert. Ergänzend zu seinen Ausführungen in Das Kind in der Familie und in Bobo hebt er jetzt die »schöpferische Einsamkeit« des Babys hervor und betont dessen »selbstständiges Mühen, sein Streben nach Erkenntnis«, sein »Suchen, Irren, Entgleisen«, seine »Niederlagen und Siege«, sein »Ringen mit dem Leben«.2 Das beginnt schon mit der Geburt: »Der Schmerz der Mutter. Freilich! Aber doch auch seiner; – des Kindes Schmerz – wenn die Hirnschale in den Nähten zusammentrifft – wenn eine fremde Macht – der 1. Die drei Texte über die Einsamkeit, SW, Bd. 3, S. 365 ff, erschienen in Polnisch unter den drei Einzel-Titeln, im Hebräischen unter dem gemeinsamen Titel: Über die Einsamkeit. 2. SW, Bd. 3, S. 370.

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14.1 Über die Einsamkeit (1938)

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erste Schrei. Wie ein Dolch in der Kehle ist die Luft. Erstickt die Brust, erfüllt mit Eiseskälte das Innere. Hilflos, wehrlos, nackt und einsam.«3 Hilflosigkeit und Einsamkeit kennzeichnen das nun beginnende Suchen und Ringen nach Orientierung und nach Beherrschung seiner selbst und der äußeren Welt. Getrieben von einem wunderbaren Entfaltungsdrang strebt das Baby eine eigenständige Existenz an – um den Preis einsamer Anstrengung. Zwar hilft die Mutter, sie unterstützt und erleichtert, doch »unter seiner Kontrolle und Zensur. Es selbst ändert um, verarbeitet und verwirft. Was es nicht in einsamer Anstrengung seines Wachens und Träumens zu beherrschen lernt und erobert – das ist nur ein Hall der Seele, ein fremdes Gebilde, eine aufgebürdete Last. Das wird nicht wachsen, nicht stärken.«4 Und die Mutter »weiß nichts von seiner einsamen Arbeit, wenn es sammelt, zusammenfügt, auswählt, vergisst oder ins Gedächtnis ruft, um weiterzukommen, um zu bewahren für morgen, für lange, für immer.«5 Das Erstaunen des Hörers/Lesers über das unerwartete Faktum der Einsamkeit eines Klein-Kindes erahnend, führt der Autor aus: »Es gibt – oh ja – es gibt die Einsamkeit des Kindes. Die gibt es. Das Kind, es will Mama und Papa für sich ganz alleine haben, für sich allein die Welt und vom Himmel einen Stern. Und naiv erstaunt, schmerzlich verstört, wird es gewahr, dass das nicht geht – dass dieser hier und jener dort, es selbst aber allein suchen und finden muss – keiner nimmt ihm dieses stellvertretend ab, keiner hilft ihm dabei. Und so beginnt es zu bauen in konzentrierter Einsamkeit, möge sie freundlich sein, nicht fremd, nicht feindlich«.6 Dass in der Selbstfindungsphase der Pubertät/Adoleszenz neben anderen Problemen Die Einsamkeit der Jugend eine Tatsache ist, muss der Autor nicht erst begründen oder beschreiben, er setzt dies als bekannt voraus. Stattdessen gibt er zwei Dialoge wieder, die zum Thema hinführen und zugleich verdeutlichen, wie sensibel die Erwachsenen im Gespräch mit jungen Menschen dieser Altersgruppe reagieren müssen. Für die Dialogform erweist sich der humoristische Stil Korczaks, den er in seiner Fröhlichen Pädagogik weiterentwickeln wird, als besonders hilfreich. Am Anfang und Ende des Textes über Die Einsamkeit der Jugend steht ein Gespräch des Autors mit einer hilfesuchenden Mutter, die mit ihrer jugendlichen Tochter nicht mehr zurechtkommt. Auf die Bitte der Mutter hin sagt der 3. 4. 5. 6.

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14. Zeiten der Reflexion: 1938–1939

Erzähler ein »Gespräch unter vier Augen«7 mit der Tochter zu. Im Gespräch stellt sich dann heraus, dass Mutter und Tochter sich ständig über alltägliche Kleinigkeiten streiten und einander nicht mehr zu verstehen scheinen. Im ironisierenden, aber positiv zugewandten Aufnehmen der Alltagssorgen durch den Gesprächspartner öffnet sich das Mädchen langsam und gibt Einblick in verborgene, tiefere Probleme: »›Ich bin nicht sentimental. Ich bin mir durchaus im Klaren … Ich weiß: Mama ist gut, die anderen sind gut, wollen das Beste, meinen es gut mit einem. Aber …‹ Ihre Äuglein trüben sich vor Hilflosigkeit: ›Sie reden, erteilen gute Ratschläge – und trotzdem – man ist allein.‹«8 Das ist das Entscheidende: Man fühlt sich hilflos und allein! Und der Gesprächspartner kommentiert: »Jaa. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Das nimmt dir keiner ab (keiner hilft dir dabei). Du kannst dich weder herauswinden noch entkommen. Du willst entfliehen, die Einsamkeit wird dich einholen. Du versteckst dich – sie wird dich finden. Man muss sich ihr stellen. Entweder packt sie dich bei den Haaren oder du packst sie. Eine notwendige Entscheidung. Nur mutig – und vorwärts – und gut gelaunt. Es hat nicht geklappt? Steh dazu. Es hat geschmerzt? Das geht vorüber. Die Einsamkeit kann man vertun, herumstoßen, beschmutzen. Aber man kann sie auch bändigen, mit ihr ein Bündnis schließen. Gezähmt, gefügig, trägt sie hoch empor, verleiht Unbeugsamkeit und Stärke. Dann wirst du sie fließend lesen können, die Buchstaben der Einsamkeit. Ihre Noten: langweilige Übungen, später – Überraschungen und Eingeweiht-Sein. (Es ist angenehm, in zwei so groß aufgesperrte Augen hineinzusprechen, die ich verstehen möchte. Doch Geist, gib gut Acht: Ein einziges ungeschicktes Wort – und du hast es verpatzt.) ›Die Einsamkeit redest du weder weg noch überschreist du sie‹, sagte ich. ›Du liebst keine Phrasen, doch ebenso übel und peinlich ist die Pose.‹ … Wieder Stille. Und dann sie: ›Ich verstehe mich selbst nicht.‹ ›Anders wär’s langweilig.‹ Dann fiel das Wort: Glück. ›Ach je. Glück? Weiter nichts? Vielleicht auch noch Ruhm? Darf ’s nicht ein bisschen weniger sein?‹ … ›Also gibt es weder Ruhm noch Glück?‹ ›Doch, es gibt beides.‹ ›Das ist gut … Glauben Sie mir: Ich kann Mamachen verstehen und habe es schon auf verschiedene Art und Weise versucht. Doch Mama ist unverbesserlich, und ich verliere oft die Geduld.‹«9 Solche ehrliche Offenheit und Einsicht findet der Autor im abschließenden Gespräch mit der Mutter keineswegs. Als er erklärt, die Tochter habe auch ihrer Mutter Recht gegeben und gesagt, dass sie über die Strei7. Ebd., S. 371. 8. Ebd., S. 373. 9. Ebd., S. 373f.

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14.1 Über die Einsamkeit (1938)

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tigkeiten nachdenken werde und dass sie auch die Mutter verstehe, antwortet diese empört: »›Sie – mich?! Das ist ja … Na, also wissen Sie … Vielleicht wäre es ohne dieses Gespräch überhaupt besser gewesen …‹«10 In Die Einsamkeit des Alters11 setzt Korczak seine Überlegungen zur Entwicklung des Menschen(-Kindes) konsequent über das Jugendalter hinaus fort. Nicht nur Säuglinge, Kinder und Jugendliche haben ihre besonderen Nöte, auch das Alter konfrontiert mit spezifischen existentialen Problemen, bei denen jeder Einzelne letztendlich einsam auf sich selbst gestellt bleibt. Das wird dem Erzähler deutlich, als er eine alte Linde betrachtet, auf die ihn eine fröhliche Kinderschar aufmerksam gemacht hatte. Angesichts der Narben, Falten, Runzeln und Knoten, die er an der Linde endeckt und sogleich auf sich selber bezieht, denkt er über die Sinnhaftigkeit seines eigenen Lebens nach und endeckt vielfältige Einsamkeiten: »Einsamkeit inmitten von Nahestehenden … Einsamkeit der Schwäche – der Enttäuschung – der Flucht – des Grolls – des Verlustes – der Niederlage? … Die düstere Einsamkeit nicht verwirklichter Ambitionen, faden Begehrens, der Selbstsucht«.12 Und der Erzähler fragt sich wie den Adressaten des Textes: »Was für einer bist du? Ein Pilger, ein Wanderer, ein Schiffbrüchiger, ein Deserteur, ein Bankrotteur, eine verkommene Existenz, ein Verbannter?«13 Und wie ein Chassidim (vgl. S. 148f) fragt er sich, ob er den »Ruf des Lebens« vernommen und geantwortet oder ihn doch überhört habe: »Das Leben. … Hast du es nicht rechtzeitig bemerkt, oder hat das Leben dich übersehen? Es hat nicht gerufen; vielleicht hast du nicht hingehört – hast dich verhört, nicht begriffen, es nicht rechtzeitig geschafft?«14 »Du hast gelebt? Wie viel hast du gepflügt? Wie viel Brot hast du für Menschen gebacken? Wie viel hast du gesät? Hast du Bäume gepflanzt? Wie viele Ziegel hast du zu einem Bau beigetragen, ehe du abtrittst? Wie viele Knöpfe hast du angenäht, wie viel geflickt, gestopft, wie viel schmutzige Wäsche hast du besser/schlechter ausgewaschen? Wem hast du Wärme geschenkt und wie viel? Wie war dein Dienst? Welche Überschriften tragen die Kapitel deines Lebensweges?«15 10. 11. 12. 13. 14. 15.

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14. Zeiten der Reflexion: 1938–1939

Eindringlich und unübersehbar autobiographisch zieht der Erzähler Korczak Bilanz und verweist auf das Problem der »Übergabe« an die jüngere Generation, die ihn jetzt selbst beschäftigt: »Die Einsamkeit des Alters – ein Tagebuch – und Beichte – und Bilanz – und Testament. Sorge um die Übergabe – was und an wen? Die Fahne! Wird sie ein Schüler, ein einziger nur, ins Leben tragen?«16 Am Schluss dieses Textes steht – wie in Bobo – die Vergewisserung unserer Eingebundenheit in die Geschichte der Menschheit und des Kosmos: »Nicht wahr, alte Linde, eine einzige Generation ist wieder so wichtig auch nicht – und es gibt weder Kinder, noch Jugendliche, noch Greise, noch Einsamkeit – sondern nur verschiedenartige, verschieden einsame Menschen, Bäume, Tiere, Pflanzen und Steine, nicht wahr?«17 Im selben Jahr (1938) erscheint in der Palästina-Bibliothek für Kinder (Biblioteka Palestyńska dla dzieci) als Prämie für die Leser der Kleinen Rundschau im Warschauer Verlag »Jüdischer Nationalfonds« und Verlag »Judaica« die Broschüre:

14.2 Die Menschen sind gut (1938) Es handelt sich um eine Einwanderungsgeschichte, die von einem kleinen Mädchen erzählt wird, das nach dem Tod seines Vaters mit seiner Mutter nach Palästina auswandert. 18 Mit dem Titel der Geschichte greift Korczak noch einmal eine für ihn grundlegende Lebensphilosophie auf, zu der er sich im Laufe seines Lebens häufig geäußert hat: Die Menschen sind gut – und: Das Gute kann und soll das Böse überwinden. Diese Grundüberzeugung sieht er durch seine Erfahrungen mit Kindern bestätigt. Hier einige Beispiele aus unterschiedlichen Publikationen: Der Frühling und das Kind (1921): Korczak schaut einer Kindergruppe beim Baden in einem kleinen Fluss zu: Ein Junge verletzt sich, weil er von einem anderen behindert wird. Danach kommt er hinkend aus dem Wasser und betrachtet seinen Fuß. »›Was ist passiert?‹ ›Er kam auf mich zugeschwommen, da wollte ich hochkommen, und dabei habe ich mich an einem Stein gestoßen.‹ 16. Ebd., S. 379. 17. Ebd. 18. SW, Bd. 5, S. 137ff.

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14.2 Die Menschen sind gut (1938)

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›Das sehe ich – aber wie kam’s denn: Du hast ihm keine runtergehauen, nicht ausgeschimpft – nichts?‹ Er lächelte und winkte ab. Ich habe verstanden. Es war nur eine kleine Episode, aber sie reicht fürs ganze Leben. Ich habe begriffen, dass der Mensch gut ist. Der Mensch ist gut, aber oft versteht er nichts, oder es geht ihm schlecht, oder – er muss so handeln, weil er nicht anders kann.«19 Theorie und Praxis (1925): »Die Moral stärken – das ist zugleich, das Gute hegen. Das Gute hegen, das es gibt, das es trotz der Laster, der Fehler, der angeborenen bösen Instinkte – gibt. Und das Vertrauen, der Glaube an den Menschen – ist das nicht jenes Gut, das man bewahren, entwickeln kann, als Gegengewicht zum Bösen, das man manchmal nicht ausschalten, sondern nur mit Mühe in der Entwicklung bremsen kann?«20 Lebensregeln (1929): »Ich bin zu der Überzeugung gelangt, es existiert viel mehr, zehnmal mehr Gutes als Böses, und man muss in Ruhe abwarten, bis das Böse vorbei ist. Jedes lebendige Wesen, nicht nur der Mensch, zieht die Eintracht dem Kampf vor …«21 Das Recht des Kindes auf Achtung (1929): »Lautstark wird über die bösen Taten und die bösen Kinder gesprochen, das Flüstern des Guten wird übertönt – und doch gibt es … mehr Gutes als Schlechtes. Das Gute ist stark und bleibt unverbrüchlich bestehen. Es ist nicht wahr, dass es leichter ist, zu verderben als zu verbessern.«22 Zuneigung und Abneigung (1933): »Es gibt weniger Menschenfeinde als Menschenfreunde. Abneigung ist oft eine Ungeduldsreaktion auf Zusammengepferchtsein, auf Beengtheit, auf lästige Zwangssituationen … . Der Mensch will lieben, Abneigungen und Zorn sind ihm zuwider. …«23 Und nun, im Text Die Menschen sind gut (1938), lässt der Autor die kleine Erzählerin erfahren, dass man im Kibbuz Verständnis für sie und ihre Probleme hat, sobald man ihre Lebenszusammenhänge kennt und versteht. Obwohl sie das Verhaltensreglement der Gemeinschaft verletzt hatte, kann 19. 20. 21. 22. 23.

Ebd., S. 22. SW, Bd. 9, S. 242. SW, Bd. 3, S. 285. SW, Bd. 4, S. 407. SW, Bd. 9, S. 375f.

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14. Zeiten der Reflexion: 1938–1939

der Erzähler erstaunt feststellen: »Niemand ist auf sie böse. Denn die Menschen sind gut, wenn sie wissen und können.«24 »Die Menschen sind gut« – an vielen Stellen des Korczak’schen Werks erkennt man eine verblüffend große Ähnlichkeit zwischen seinem Denken und Schreiben und dem des Schweizer Pädagogen Pestalozzi, wenn der beispielsweise ausruft: »Freund! Der Mensch ist gut und will das Gute; … und wenn er böse ist, so hat man ihm sicher den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.«25

14.3 Reflexionen (1938) Die Gesellschaft »Hilfe für Waisen« druckt 1938 in ihrem Rechenschaftsbericht Korczaks Appell Reflexionen ab, um die Spendenbereitschaft der jüdischen Bevölkerung zu aktivieren und das Dom Sierot vor einer Notlage zu bewahren. Der Autor fragt, was das Schlimmste ist, das einem Menschen in der derzeitigen Situation passieren kann: »›Ist es gut, ein Kind zu sein?‹ ›Vielleicht, aber nicht unbedingt. Ich weiß nicht. Ich habe es vergessen. – Ich weiß aber, dass es schlimmer ist, ein armes, verwaistes Judenkind zu sein.‹ So ist es. Jeder kann das ohne Vorbehalt bestätigen. Aber gibt es noch Schlimmeres? Warum nicht? Vielleicht. Es ist schlimm, alt zu sein, aber noch schlimmer, ein alter Jude zu sein. Gibt es noch Schlimmeres? Oi – oi. Und wenn der alte Jude kein Geld hat? ›Und wenn er kein Geld hat und außerdem noch unbeholfen ist?‹ Ist das schon das Schlimmste? Nein. Erst wenn der alte, unbeholfene Jude noch dazu einen Haufen Kinder auf dem Buckel hat, das Herz ihm weh tut und nicht nur das Herz, auch die Beine und der Rücken, und er merkt, wie kraftlos er schon ist. Und wenn es kein Jude ist, nur eine Jüdin? Dazu fast hundert Jahre alt, dann ist es noch viel schlimmer. Gibt es noch Schlimmeres? ›Warum nicht? – Denn wenn dieser Jude oder jene Jüdin einen Haufen eigene Sorgen haben, und wenn dieser Jude oder jene Jüdin Mitglied der Gesellschaft Hilfe für Waisen sind und sehen, dass die Zahl der Mitglieder, die Spenden und die Opfergelder immer geringer werden – was dann?‹ Sie kann nicht einmal böse sein, kann nicht schreien. Und dabei weiß jeder, dass es einem sehr hilft, wenn man sich austoben und wütend werden kann. Was soll man machen, wenn die Leute kein Geld haben? Ist 24. SW, Bd. 5, S. 157f. 25. Pestalozzi, Johann Heinrich: Wie Gertrud ihre Kinder lehrt. In: Gesamtausgabe, Bd. 13, Berlin/Leipzig/Zürich 1932, S. 244.

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14.3 Reflexionen (1938)

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das das Schlimmste? Nein – es gibt noch Schlimmeres. – Was? – Wenn ein junger, gesunder, in voller Kraft stehender Jude oder eine Jüdin Geld haben und spenden könnten, – aber nicht wollen – das ist schlimmer als das Schlimmste, das ist wirklich ein großes Unglück. Was sollte man tun? – Ich frage, wie soll man dieses Allerschlimmste verkraften? Gibt es denn keine Hoffnung, keine Möglichkeit, keine Arznei, keine Hilfe? Doch – aber welche? Dieser Jude und jene Jüdin glauben an Wunder und glauben an Gott. – Also sind sie ein wenig verrückt – und begegnen noch braven Juden, sie treffen noch gute jüdische Herzen an, und es gelingt ihnen – nicht gerade im Übermaß, aber immerhin – wenn sie anklopfen, kleine Spenden, längerfristige finanzielle Verpflichtungen oder Sachspenden aufzutreiben. Es gibt sogar Hilfsbereite (ich habe dafür Zeugen), die die Telefonnummer 624-o1 anrufen und zu kassieren bitten. Auch solche Leute und solche exzentrischen Ereignisse gibt es. Na und? – Wenn es so ist, was soll man da tun? Ein bisschen philosophieren und ein bisschen scherzen. ›Nur ein bisschen stöhnen?‹ ›Es gibt noch genug Mutterwitz auf dieser Welt. Sollen sie stöhnen, weinen – und zahlen.‹ Jetzt weiß schon jeder, wozu diese ganze Aufmachung ist. Der Winter kommt, die Kasse – leer – das wünsche ich nicht einmal meinem ärgsten Feind. ›Warum sollte nicht eben jetzt ein Wunder geschehen? Warum sollte das Schlimmste, wobei es doch nichts Schlimmeres gibt, geschehen – dass manche – (wie ich schon sagte) nichts spenden, obgleich sie etwas haben und geben könnten und auch sollten?‹ Und deshalb gibt es heute keinen Verrückten mehr, der Umschau hält, herumhorcht, liest und trotzdem unerschütterlich glaubt und hofft? Das wär’ ja noch schöner. Unser Verein besteht schon 30 Jahre. Wir bemühen uns um unsere Mitglieder – nehmen Spenden an, quittieren Opfergelder, verschenken Amulette, Talismane, Maskottchen, die langes Leben, Gesundheit, Glück und Erfolg bringen. – Ich lüge nicht. ›Bitte vertraue mir. – Du sagst, es gibt keine Wunder? – Es gibt sie. Heutzutage ist es gut, ein wenig verrückt zu sein.‹«26 Weitere Texte mit jüdischen Bezügen erscheinen in Jiddisch und/oder Hebräisch. Adressaten sind vor allem Menschen mit jüdischen Wurzeln, aber auch Mitglieder von Jugendgruppen, in denen junge Menschen auf die Emigration 26. SW, Bd. 9, S. 231ff.

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14. Zeiten der Reflexion: 1938–1939

nach Eretz Israel vorbereiten werden. Beispielhaft folgen: die Erzählung Esterkas Geheimnis (veröffentlicht in Hebr. u. Poln.), Aphorismen zum Thema Erziehungskunst (ursprünglich in Jidd. u. Hebr.) und Kinder der Bibel (in Hebr.).

14.4 Esterkas Geheimnis (1938) Esterka ist Kind einer armen Familie. Ihre Mutter ist keine gute Pädagogin und leidet unter der wirtschaftlichen Not des Landes. Ihr Großvater ist Schuhmacher, zu ihm geht Esterka gerne, um der unfreundlichen Atmosphäre ihrer Familie zu entfliehen. »Wieder ist Esterka nicht da. Wo sie ist? Wo sie sein kann? Man braucht nicht viel zu fragen. Man braucht sie nicht lange zu suchen. … Esterka ist wieder zum Großvater gelaufen.« Denn beim Großvater, dem wortkargen Schuster, ist Esterka willkommen. Hier kann sie Kind sein und spielen. Während ihre Mutter stets etwas fordert, an ihr herumnörgelt und oft sehr ungehalten ist, hat Großvater Verständnis für ihre Sorgen und Nöte, aber auch für ihre kindlichen Interessen. In Konfliktfällen mit der Mutter oder anderen Kindern verurteilt er weder seine Enkelin noch andere Beteiligte, sondern weist stattdessen auf mögliche Ursachen und ungünstige Umstände hin und ist um Verständnis bemüht: »Einmal, als Esterka aus der Schule zurückkam, haben sie sie in den Schlamm gestoßen, herumgewälzt und geschlagen. Sie hat Mama nichts erzählt, nur dem Großvater. Und der gab diesen Rat: ›Wenn du in die Schule gehst, zähle, wie viele Kinder um dich herum ruhig an dir vorbeigehen und dich nicht ärgern. Du wirst sehen, wirst dich überzeugen, dass es mehr Kinder gibt, die in Ordnung sind, als Lümmel.‹ Einer ging vorbei und ärgerte sie nicht. Ein Zweiter ging vorbei. Ein Dritter, Vierter und Fünfter. Neun Jungen gingen ruhig vorbei, und erst der zehnte polnische Junge sagte: ›Judenkind‹ und drohte ihr, aber er schlug nicht zu. Esterka erzählte das, und der Großvater sagte: ›Ja, ja. Ein Lümmel findet immer etwas. Die eine ärgert er, weil sie Jüdin ist, eine andere, weil sie ein Mädchen ist, die dritte, weil sie ein billiges Kleid hat. Er denkt, das muss so sein. Auch unter den Juden herrscht an Lümmeln kein Mangel.‹ Großvater sagt immer die Wahrheit und ist nie böse. … Als sie sich beschwerte, weil Mama sie geschlagen hatte, sagte Großvater: ›Wenn ein Mensch viele Sorgen und kein Geld hat, ist er oft böse und weiß selbst nicht, was er macht. … Und obwohl Esterka Mama liebt und sie auch Angst vor ihr hat, und

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14.5 Erziehungskunst (1938)

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obwohl sie hören will, rennt sie doch wieder zum Großvater. Denn Esterka hat ein Geheimnis. Sie sprach über ihr Geheimnis weder mit der Mama noch mit dem Großvater, obwohl sie ihm alles erzählt, sie sprach sogar mit sich selbst nicht darüber. Esterka will ein Kind sein. Das ist ihr Geheimnis. Deshalb mag sie die Schule und den Hof. Esterka will spielen, wie Kinder spielen, sie will sogar ihre Kindersorgen haben, und sie will sich mit ihren Freundinnen streiten und auch weinen, wenn es anders nicht geht – und so ist es nun einmal, dass es den Menschen mal gut, mal schlecht geht, wie Großvater sagt, dass sie mal fröhlich, mal traurig sind; aber Esterka mag mit Kindertränen weinen. Denn, sagt Großvater, mal leidet ein Mensch, weil er selbst schuld ist, und mal leidet er, obwohl er sich nicht schuldig gemacht hat. Esterka ist schließlich nicht schuld daran, dass sie noch nicht groß ist.«27 Esterka ist schließlich ein Kind, und sie hat ein Recht auf Kindsein!

14.5 Erziehungskunst (1938) »1. Die Leiter der Erziehungskunst hat viele Sprossen. Die Erziehungskunst hat ihre Tradition, ihre Theorien und Kommentare dieser Theorien. … 2. Das Kind ist ein Mensch. Man muss den guten Menschen genauso wie den schlechten achten. Wenn du das gute Kind achtest, wird es dir viel helfen. Wenn du das schlechte Kind achtest, wird es dich nicht stören. … 3. Ein Kind hat eine eigene große und wichtige Welt. Zwei Kinder – haben drei große Welten. (1; 2; 1+2) Drei Kinder – das ist nicht eins plus eins plus eins. Das ist viel mehr als drei (zusätzlich): das erste und das zweite Kind, das erste und das dritte Kind, das zweite und das dritte und alle drei zusammen. Sieben große Welten. … Allein, ohne die Hilfe des Kindes, kannst du sie nicht erfassen. 4. Sie kennen sich am besten, weil sie Tag und Nacht zusammen sind. Wenn eins von den Kindern mit dir spricht, spricht es wie mit einem Erwachsenen, einem Erzieher, und nicht wie mit einem gleichaltrigen Freund. … 5. Gleichheit ist eine Lüge. … Menschen sind verschieden, sie wollen Verschiedenes und empfinden unterschiedlich. … 8. … Verlange nicht so viel von ihnen, sondern von dir selbst. Ein ambitionierter Politiker gibt Befehle, ein Erzieher – versucht und forscht. … 27. SW, Bd. 13, S. 196ff.

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14. Zeiten der Reflexion: 1938–1939

10. … Worte tun weh, Worte sind wie Schläge und hinterlassen Wunden. … 17. Ich habe interessante Bücher gelesen. Jetzt lese ich interessante Kinder. Sag nicht: ›Ich weiß schon.‹ Ich lese einmal, zweimal, dreimal und zehnmal das gleiche Kind. Und ich weiß immer noch nicht viel, weil ein Kind über eine eigene Welt verfügt, eine große Welt, die schon lange existiert und die noch lange bleiben wird. … 18. Achtzehn28 Aphorismen sind genug. Man kann die Worte der Gesetze übernehmen, aber sie verstehen, alle ihre Geheimnisse entdecken, das muss man selber tun.«29

14.6 Kinder der Bibel: Mose (1939) Im Jahr 1939 veröffentlicht die hebräisch-sprachige Zeitschrift Omer in Palästina in sieben Folgen Korczaks Geschichte über das Kind Mose.30 Die Geschichte ist der erste Band einer geplanten Buch-Reihe mit dem Titel Kinder der Bibel. Das polnische Manuskript von Mose – es wird zu Korczaks Lebzeiten nicht mehr in Druck gehen – übersendet Korczak dem Übersetzer Dow Sadan und charakterisiert in einem Begleitbrief die geplante Reihe: »Die ganze Reihe soll das Kind beschreiben, das viele Jahre nach der Sintflut geboren wurde: Benjamin (Mose), David (das Dichter-Kind), Salomo (das Denker-Kind), Jeremia (das Propheten-Kind), den Unbekannten – geboren in der Wüste, auf dem Weg von Ägypten nach Palästina. Sie alle zusammen als Einführung für eine Kinderbibel: Die Genesis – das ist nicht das Werden der Welt, sondern das Werden in der Welt.«31 Zur Entstehung von Kinder der Bibel: Mose trugen nicht nur Korczaks Reisen nach Eretz Israel bei, die ihm Anlaß waren, die Geschichten der Bibel intensiv zu studieren, sondern auch seine Hochschätzung der Lebensläufe großer Menschen und ihrer Bedeutung für die Erziehung der Kinder: »In den Lebensläufen sind die Kindheitsjahre wie Berge, in denen der Fluß des Lebens seinen Anfang, seinen Schwung und seine Richtung nimmt: Wie dürfen wir sie gering schätzen?«32 Der Moses-Text enthält die später vielzitierten Reflexionen über Gott und über die Wahrheit: 28. 29. 30. 31. 32.

Achtzehn bedeutet im Hebräischen: Leben. SW, Bd. 9, S. 470ff. SW, Bd. 5, 175ff. SW, Bd. 15, S. 65f. SW, Bd. 9, S. 561f.

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14.7 Drei Reisen Herscheks (1939)

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»Das werden sie dir sagen: ›Gott hat es gefügt. Gott will es so. Gott vergibt die Schuld und verzeiht. Gott zürnt und wütet. Er belohnt. Er segnet. Gott hilft. Und straft.‹ Die eine einzige Wahrheit. Die eine Antwort auf alles: Gott.« … »Eine Wahrheit und eine kurze Antwort auf alles. Eine schnelle und leichte Antwort auf alle Fragen. Willst du denn wirklich eine leichte und schnelle Antwort, eine fertige Antwort, oder suchst du eine schwierige und lange Antwort, willst du eine alte oder eine neue, die du dir selber suchst? 33 … Du sagst: Der ist gut, und die ist gut. Er sagt: Der ist nicht gut, und die ist schlecht. … Das sind deine und seine Wahrheiten, deine Wahrheit des gestrigen Tags und deine Wahrheit des heutigen Abends. Du sagst: Er hat mich zuerst geschlagen. Du lügst nicht. Aber er sagt, du hast ihn zuerst geschlagen. Er lügt auch nicht. Du weißt deines, und er weiß seines von dem, was heute geschehen ist. … Es gibt verschiedene Wahrheiten: deine, meine, seine. Unsere Wahrheiten von heute und gestern sind verschieden, und morgen wird deine und meine Wahrheit wieder anders sein.«34

14.7 Drei Reisen Herscheks (1939) In der Palästina-Bibliothek für Kinder erscheint eine weitere Prämie für Leser der Kleinen Rundschau: Drei Reisen Herscheks (Trzy wyprawy Herszka).35 »Diese Geschichte (wurde) vor langer Zeit erzählt, von einem Menschen, der nicht mehr lebt, über Menschen, die schon über hundert Jahre nicht mehr leben. … Das ist eine lange Geschichte. Ja, ja, ja.«36 Herschek, ein Waisenkind, das vom gestohlenen Essen seines älteren Bruders lebt und ein wenig beschränkt wirkt, träumt davon, nach Israel zu reisen und macht drei vergebliche Reise-Versuche. In seinen Gedanken vermischen sich Reales und Irreales. Die Geschichte ging Korczak schon Jahre zuvor im Kopf herum37 – wurde dann aber zunächst verdrängt von anderen Gestalten seiner Phantasie. Aber jetzt, wo durch die Antisemiten die Herkunft für viele seiner 33. 34. 35. 36. 37.

SW, Bd. 5, S. 178. Ebd., S. 181f. SW, Bd. 5, S. 159ff. Ebd., S. 173. Vgl. Herschele [Fragment], in: SW, Bd. 13, S. 185ff; vgl. auch Pkt. 11.4.

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14. Zeiten der Reflexion: 1938–1939

Kinder problematisch zu werden droht, bringt er die ireale Erzählung von der Sehnsucht des kleinen Herschek (= Herschele, Hersz, Hirsz, Henryk) nach dem gelobten Land zu einem nicht unbedingt tröstlichen Ende: »Herschek lernte in verschiedenen Schulen, sah viele große Städte, wohnte in verschiedenen hohen Häusern. Eretz Israel erreichte er nicht. Ja, ja, ja. Schon groß, kein kleiner Junge mehr, versteht er, dass die richtige Zeit noch nicht gekommen ist … Das ist lange her. So lange auch nicht. Ja, ja …«38

14.8 Pädagogik mit Augenzwinkern (1939) Die letzte Monographie, die zu Korczaks Lebzeiten erscheint, trägt den Titel Pedagogika zartobliwa, was übersetzt werden kann mit Pädagogik mit Augenzwinkern oder auch mit Fröhliche Pädagogik.39 Sie ist das bedeutendste Produkt der langjährigen Zusammenarbeit Korczaks mit dem Polnischen Rundfunk; sie geht auf »Radioplaudereien« zurück, die von Juli bis Anfang August 1938 ausgestrahlt wurden. Im Vorwort der Monographie heißt es: »Als ich einen Zyklus von Vorträgen in einer kleinen Broschüre zusammenfasste, gab ich ihr den Titel: Das Recht des Kindes auf Achtung. Der Leitgedanke: Das Kind ist ein ebenso wertvoller Mensch wie wir. Diese Radioplaudereien sind ein weiterer Versuch: diesmal auf scherzhafte Weise. … Ohne Pedanterie, wohlwollend und vertrauensvoll den Menschen im Kind sehen. Nicht zu leicht wägen.«40 Den originellen Stil dieser Radio-Erzählung beschreibt Hanna Kirchner so: Hier verknüpft Korczak unterschiedliche Erzählweisen zu einer hervorragenden vielgestaltigen Prosa, in der er Dialogsituationen verdichtet, sich selbst auf die Bühne bringt, spricht, sich unterhält, erzählt und spielt. Es werden alle Eigenschaften der gesprochenen, also der ungeordneten, gebrochenen, durch Lautmalerei ergänzten Sprache integriert. Korczaks langjährige Experimente führten zu diesem Meisterstück sprachlichen Witzes, in dem er die wesentlichen Inhalte seiner Werke bündelt.41

38 SW, Bd. 5, S. 172 39. SW, Bd. 4, S. 415ff. 40. Ebd., S. 417. 41. Vgl. Kirchner, Hanna: Miejsce Korczaka w literaturze (Die Stellung Korczaks in der Literatur). In: Wydawnictwa Szkołne i Pedagogiczne (Hg.): Korczak, Janusz. Życie i Dzieło (Leben und Werk). Warszawa 1982, S. 59.

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14.8 Pädagogik mit Augenzwinkern (1939)

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Die Fröhliche Pädagogik illustriert Korczaks »Pädagogik mit Augenzwinkern«, einen Aspekt seiner Pädagogik, der in der Praxis wie in der Theorie dieser Disziplin bisher fast vollständig ausgeblendet wurde: Die Bedeutung des Humors bei der Bewältigung schwieriger, alltäglicher Erziehungsaufgaben. Das mag am Beispiel vom Umgang mit Schülern, die sich über die Schule und ihre Lehrer beklagen, veranschaulicht werden: »Ihr beklagt euch über die Schule? – Ich höre. – Über den Lehrer? Gut. Ihr beschwert euch über eure Kameraden. – Bitte sehr. – Die Menschen sind verschieden. – Einem genügt ein guter Kamerad, der andere fühlt sich in der Masse wohl, im Haufen, im Getöse. – Einer mag alles still und langsam, der andere aber schnell und geräuschvoll. – Einer ist fröhlich, der andere ernst. Dieser ist schüchtern, jener selbstbewusst. – Er ist friedlich, er streitsüchtig. – Pardon: Jeder hat Tugenden und Fehler. – Dieser singt, jener zeichnet, dieser stellt die Aufgabe, jener geht an die Ausarbeitung. Es ist gut, dass jeder anders ist. – Du aber sagst gleich: ›So einer, der da, der taugt nichts.‹ Der Lehrer schreit euch an? – Pardon, Monsieur: Aber was soll er tun, wenn ihr ihn ärgert? – Auch er ist ein lebendiger Mensch mit Nerven und Beschwerden, er hat Familienprobleme und ein Gallensteinchen. Niemand schreit sich bloß zu seinem Vergnügen heiser. – Der Lehrer stellt Ansprüche? – Hat er denn das Programm aufgestellt, kontrolliert man ihn nicht, muss er nicht der Behörde über die Fortschritte seiner Klasse Rechenschaft ablegen? Er erklärt nichts, er lehrt schlecht? – Pardon: Soll man denn ausschließlich an deine Schule sämtliche Kopernikusse aus ganz Polen, ausschließlich exzellente Redner wie Skarga42 und Poeten wie Słowacki43 zusammentreiben? Soll man für dich aus dem ganzen Land möglichst schnell das Ei des Kolumbus herausfinden? – Und nur für dich, für deine Klasse, alle Gleichaltrigen des Vaterlandes aussieben und nur das schulische Marzipan auswählen, nur um dich zufriedenzustellen? … Pardon: Wenn du aus dem Kuchen die Rosinen herauspickst, wird ein anderer weniger bekommen. – Es gibt über zwei Milliarden Menschen auf der Welt; in Polen sind fünf Millionen Geister begierig auf das Schulwissen. Jeder hat das Recht auf einen guten Lehrer und auf sein Portiönchen Himbeereis. – Ist nicht schon ein guter Kollege eine Gnade und die paar anderen sind eben nicht so gut? – Was das Haus bieten kann, steht zur 42. Piotr Skarga (1536–1612), bekannter polnischer Schriftsteller und Redner. Rektor des Jesuitenkollegs in Wilna. Ab 1588 Hofprediger bei Sigmund III. 43. Juliusz Słowacki (1809–1849), mit Mickiewicz der bedeutendste Vertreter der polnischen Romantik.

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14. Zeiten der Reflexion: 1938–1939

Verfügung. – Verlange nicht zu viel, kommandiere nicht herum, drängle nicht, denn nicht nur du, nicht nur deine wichtige Person – hat die Güte zu leben.«44 Mit der Radioplauderei Fröhliche Pädagogik präsentiert sich Korczak ein letztes Mal als realistischer Praktiker, der die Erziehungswirklichkeit nicht beschönigt, sondern mit einem Schuss Humor zu bewältigen sucht. Der Text greift Erfahrungen aus dem Alltag eines Erziehers auf und erinnert an den Erfahrungsbericht Das Internat, in dem Korczak seine ersten PraxisErfahrungen ausgewertet und so beschrieben hatte: Der »Praktiker kennt vor allem bequeme und unbequeme Kinder – die durchschnittlichen, mit denen man sich nicht besonders befassen muss, und die außergewöhnlichen, die viel Zeit beanspruchen. Unbequeme Kinder: die Jüngsten, jünger als der Durchschnitt; die Ältesten – kritisch und widerspenstig; dann die Ungeschickten, die Schlampigen, die Schwächlichen, die Gewalttätigen und die Aufdringlichen. … Ein Kind, das dauernd mit einer Frage ankommt, sich beklagt, weint, etwas verlangt, das nicht in Gesellschaft von Kindern sein will und sich dir aufdrängt, immer irgendetwas nicht weiß, um etwas bittet, etwas braucht und dauernd etwas Wichtiges zu berichten hat. Ein Kind, das schroff geantwortet und jemanden vom Personal beleidigt hat, sich gestritten und geprügelt, einen Stein geworfen und absichtlich etwas zerbrochen oder zerrissen hat, und das einem sagt, dass es nicht will. Ein empfindliches und launisches Kind, dem schon eine kleine Zurechtweisung, ein strenger Blick oder kühle Gleichgültigkeit als Strafe weh tun. Ein reizender Schelm, der das Waschbecken mit Steinchen verstopft, an der Tür schaukelt, den Wasserhahn aufdreht, den Ofenschieber zumacht, die Glocke abschraubt, die Wand mit einem blauen Farbstift verschmiert, mit einem Nagel die Fensterbretter verkratzt, Buchstaben in den Tisch ritzt. Unglaublich erfinderisch, aber unberechenbar. Sie rauben dir deine Zeit, stellen deine Geduld auf eine harte Probe …«45 Ja, auch dieses hat Korczak deutlich gesehen: Es gibt eine Überforderung der Erzieher: »Aber wo bleibt mein eigenes Leben? Meine eigene Vergangenheit, mein eigenes Glück, mein eigenes Herz? Großzügig teile ich meine Gedanken aus, meine Ratschläge, meine Warnungen, meine Gefühle. Wenn alle Augenblicke ein anderes Kind kommt und immer wieder einen anderen Wunsch, eine andere Bitte oder Frage äußert und deine Zeit, deine Gedanken und dein Gemüt beansprucht – dann kommt es vor, 44. SW, Bd. 4, S. 489. 45. Ebd., S. 154f.

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14.8 Pädagogik mit Augenzwinkern (1939)

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dass du das Gefühl hast, dass du selbst erstarrst, während du für die ganze Schar eine Sonne bist, dass du, der du für sie ein Licht bist, selbst Strahl um Strahl deiner Leuchtkraft verlierst. Alles für die Kinder, was bleibt für mich?«46 Auch ein Erzieher hat nur eine begrenzte Kraft. Auch er hat ein Recht darauf zu sein, wie er ist: oft müde und traurig. Auch er braucht Liebe und Verstehen. Korczak ist aber überzeugt, dass die Kinder ihm dies nicht versagen werden, wenn er ihnen mit Liebe, Achtung und Verständnis begegnet, wenn er ihnen zugesteht, zu sein, was und wie sie sind: Kinder. Und beiden – dem Erzieher wie den Kindern – wird ihr Alltag umso weniger beschwerlich erscheinen, je fröhlicher sie sich einlassen auf das Abenteuer des pädagogischen Zusammenlebens.

46. Ebd., S. 162f.

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15. Kämpfer in Zeiten des Krieges: 1939–1942 15.1 Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges (1939) Frau Stefania Wilczyńska kehrt im Mai 1939 aus Palästina zurück, um sich wieder wie früher mit ganzer Kraft um das Dom Sierot und seine bedrohten Kinder zu kümmern. Korczak begleitet im Juli nach langer Pause wieder Kinder in die Ferienkolonie Różyczka. Danach schreibt er am 2. August an seinen Freund Józef: »Der Juli war bezaubernd. … Wieder, wie vor Jahren, wichtig: ein Paar verbummelte Latschen, ein Schiefer im Fuß, ein Streit um die Schaukel, ein abgebrochener Ast. … Ihre Augen voller Geschäftigkeit und die Abdrücke der kleinen Schritte im Sand. – Was danach?«1 Beide, »Frau Stefa« wie der »Doktor«, sorgen sich um die Kinder und um deren Zukunft, und sie kehren zurück zum Dom Sierot, denn Krieg droht! Sie werden wieder gebraucht! Trotz persönlicher Krisen und zwischenzeitlicher Suche nach Neuorientierung bleiben sie ihrem Lebensauftrag treu. Glücklicherweise hat das Erziehungssystem des Dom Sierot eine harte Bewährungsprobe bestanden: Es wurde aufrechterhalten, trotz der zeitweiligen Abwesenheit der geliebten Heimeltern.

15.2 Erstes Okkupationsjahr – noch in der Krochmalna-Str. (1939/40) Der Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen (1. September 1939) und die Zeit der Besatzung bringen für das Dom Sierot schrittweise einschneidende Veränderungen. Zu Beginn erwartet Korczak noch, dass der Kriegszustand nach den »schäbigen« Vorkriegsjahren auch zu positiven Nebenwirkungen für das Verhalten der Menschen führen könnte, wie die Zeitzeugin und KorczakBiographin Hanna Mortkowicz-Olczakowa zu berichten weiß: »Als der Krieg ausbrach und der Kampf begann, lebte er auf. Er war wie verwandelt in seinem Tatendrang – einem alten Schlachtross gleich, welches das wohlbekannte Wecksignal hört. Er sagte, dass der Krieg mit seinem Blitz und Donner – oft drohend und mörderisch – trotzdem ein Gewitter sei, das die vergiftete und drückende Atmosphäre reinige und erfrische. Nach einer langen, erstickenden Depression hatte er wieder den Wunsch, Menschen 1. SW, Bd. 15, S. 82.

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15.2 Erstes Okkupationsjahr – noch in der Krochmalna-Str. (1939/40)

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um sich zu haben, und er wollte die Einigkeit einer gemeinsamen Front gegen eine Gefahr spüren, die man bekämpfen konnte, die allen ohne Unterschied drohte und die man endlich definieren und beim Namen nennen konnte.«2 So versucht er vom Tag des Kriegsausbruchs an, alle polnischen Kinder und Jugendlichen zu Vorsorge- und Hilfsarbeiten anzuregen, indem er sie über den Rundfunk anspricht und ermutigt. Das ist möglich, weil Jan Piotrowski3 einen Radio-Informationsnotdienst eingerichtet hat, in dem Korczaks Stimme bis zur Schließung des Rundfunks zu hören sein wird. Trotz der sich verschlimmernden Lage sind die Bewohner des Dom Sierot in der ersten Phase der Okkupation noch guten Mutes: Weil sie in der Krochmalna-Straße 92 bleiben können, haben sie »das Gefühl einer relativen Stabilität, einer Beständigkeit und Sicherheit«.4 Gegen mögliche Kriegsfolgen werden im Waisenhaus konkrete Maßnahmen ergriffen. In den ersten Septembertagen 1939 wird im Souterrain des Dom Sierot ein Luftschutzkeller eingerichtet, der auch außenstehenden Personen offen steht. Kinder und Mitarbeiter werden zur Brandbekämpfung herangezogen5 und zu Wachdiensten eingeteilt; der Kassierer der Gesellschaft »Hilfe für Waisen«, Józef Sztokman, wird von einem der sieben Geschosse, die das Haus treffen, getötet.6 Korczak verlangt ein ge2. Mortkowicz-Olczakowa, Hanna: »Wenn die Wälder brennen, muss man sich an die Rosen erinnern«. In: Beiner, F./Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 487. In Korczaks Tagebuch heißt es dazu: »Das Gewitter kam. Die Luft war gereinigt. Man atmete tiefer durch. Es gab mehr Sauerstoff.« (SW, Bd. 15, S. 354) 3. Korczak und Piotrowski kannten sich. Jan Piotrowski (1886–1947) war Mitarbeiter beim Polnischen Rundfunk und Chefredakteur der Zeitschrift Antena. In dieser Eigenschaft publizierte er 1938 ein Interview mit Korczak über dessen Radioarbeit. Vgl. Piotrowski, Jan: Beim »Alten Doktor«. In: Beiner, F./Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 473ff. Und 1946 veröffentlichte Piotrowski die Monographie Ojciec cudzych dzieci. Wspomnienie o »Starym Doktorze« Januszu Korczaku (Vater fremder Kinder. Erinnerungen an den »Alten Doktor« Janusz Korczak). Łódź 1946. 4. Lewin, Aleksander: So war es wirklich. Die letzten Lebensjahre und das Vermächtnis Janusz Korczaks. Gütersloh 1998, S. 29. 5. Fela Tetelbaum erinnert sich, dass sich jedes Kind im Rahmen seiner Möglichkeiten nützlich machte. Die Mädchen stellten Eimer mit trocknem Sand bereit, der zum Löschen eventueller Brände benötigt wurden. Die Jungen schleppten Wasser von weit entfernten Stellen herbei, um ein Minimum an Hygiene zu gewährleisten. Vgl. ebd., S. 31. 6. Die Geschosse schlagen in den ersten Septembertagen ein. Vgl. ebd. und Eliasbergowa, Stella: Unser Alltag während der Okkupation. In: Beiner, F./Unggermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 496.

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naues Befolgen notwendiger Verhaltensregeln und tritt »konsequent für die Wahrung der unerlässlichen Ordnung ein, die die schwierige Situation, das ganze Netz der widrigen Bedingungen draußen«, diktieren.7 Mit neuem Elan wendet er sich nach der Besetzung Warschaus wieder den inneren Angelegenheiten des Dom Sierot zu. Mortkowicz-Olczakowa: »Er kämpfte um das Recht der Kinder, nicht nur auf eine warme Unterkunft, auf Kartoffeln und Brot, sondern auch um ihr Recht auf Poesie, Blumen und Lebensfreude. … Korczak wollte nicht auf das Recht seiner Kinder auf Schönheit und Blüte verzichten«8 Entsprechend der Tradition des Dom Sierot möchte er den Kindern 1940 wieder einen Sommerurlaub in der Kolonie Różyczka, im nahegelegenen Gocławek ermöglichen. Trotz erschwerter Bedingungen, was die Kosten für die Verpflegung, den Transport und notwendiger Genehmigungen betrifft, gelingt es ihm schließlich, diesen »letzten Sommer« zusammen mit seinen und über 100 Kindern aus anderen Fürsorgeeinrichtungen in der Sommerkolonie zu verbringen.9 Im August 1940 berichtet er in einem Aufruf an die jüdische Bevölkerung: »Dreihundert Kinder verbrachten den Sommer auf dem Lande. – Die Gebäude der Kolonie und die verspätete Aussaat der Farm hatten spürbaren Schaden gelitten. – Die Jugendlichen und Kinder wurden vom Wahn des Wiederaufbaus ergriffen, das Land hatte es ihnen angetan. Gocławek wurde zur Legende. Kein einziges Vergehen innerhalb von drei Monaten … Schade, dass die jüdische Bevölkerung nicht weiß, wie stark, gesund, jung wir sind, trotz des Greisenalters von tausend Jahren. – Abgehärtet, mutig, geduldig, nachsichtig. Kühn schauen wir ins Morgen hinein.« Aber die zusammengewürfelte Schar der Kinder und Betreuer aus verschiedenen Fürsorgeeinrichtungen, die bereits vom Krieg gezeichnet sind, weckt in Korczak nicht nur gute Gefühle. Und der sonst stets Zugewandte und Verständnisvolle zeigt eine nüchterne, sachliche und realistische Einschätzung der Menschen, mit denen er es zu tun hat, indem er im selben Aufruf einen »zaghaften Versuch einer Synthese« vorlegt: »Es gibt drei Typen von Kindern. 1. Abfall, Abschaum, Auswurf des Krieges und der Revolution; übelriechende Nachkommen verdorbener Eltern. Arglistig, unverschämt, lügnerisch. Man wird sie nicht los. Zum Glück gibt es nicht viele von diesen, aber es gibt sie. 7. Lewin, Aleksander: So war es wirklich …, a. a. O., S. 31. 8. Mortkowicz-Olczakowa, Hanna: »Wenn die Wälder brennen …, a. a. O., S. 491. 9. Vgl. Lewin, Aleksander: So war es wirklich …, a. a. O., S. 45ff

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2. Diejenigen aus reinen, ruhigen Familien der Armut und Resignation,

traurige Küken mit verängstigten Augen. – Dankbar für eine grüne Ecke, einen kleinen Sonnenstrahl und ein bisschen Wärme. 3. Prinzen, Meister, Priester versteinerter Herzen. Wo ist der gestrige sichere und heitere Tag geblieben? Kann man sein Zuhause, die Mutter, den Vater, das Bilderbuch, den Kanarienvogel – alles auf einmal und für immer verlieren? … Es gibt zwei Typen von Mitarbeitern. 1. Diejenigen, die leichte Beute gerochen haben. Schelme. Pack. Mit Fäusten und Zähnen kämpfen und beißen sie, um noch mehr für sich zu ergattern. Sie haben nichts zu befürchten, lediglich den Verrat der Sache des Kindes. – Eine Kleinigkeit. Ein niederträchtiger Verrat. – Ho, ho. 2. Die, die dankbar dafür sind, dass sie eine Wirkungsstätte haben; eine schwierige Aufgabe für das Gute, ohne Verschulden der Wehrlosen; die Würde eines treuen Dienstes.«10 Nach dem Sommer in der Różyczka droht den Kindern des Dom Sierot eine Vertreibung aus ihrem Zuhause – eine schmerzliche Herausforderung für Korczak: »Als bereits die Anordnung bekanntgegeben war, dass die jüdische Bevölkerung der Stadt in einen speziellen Stadtteil umziehen müsse, als er bereits wusste, dass er das Dom Sierot in der Krochmalna aufgeben musste und für lange Zeit mit seinen Kindern in eine gefängnisähnliche Isolation gesperrt würde – kam er zum letzten Mal zu uns«, schreibt Hanna Mortkowicz-Olczakowa, mit deren Familie Korczak befreundet war. »Damals bat er darum, ihm einige Reproduktionen von Gemälden zu stiften, mit denen er die Wände im neuen Gebäude des Waisenhauses im Ghetto schmücken wollte. Andere Freunde bat er zur gleichen Zeit um Geranienableger für Töpfe, die er in die Fenster stellen wollte.«11

10. SW, Bd. 15, S. 206. 11 Mortkowicz-Olczakowa, Hanna: »Wenn die Wälder brennen …, a. a. O., S. 492.

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15.3 Zweites Okkupationsjahr – in der Chłodna-Str. (1940/41) In einem am 29. Oktober 1940 an den jüdischen Sozialverband »Joint«12 gerichteten Gesuch versucht Korczak, den drohenden Umzug ins Ghetto zu verhindern. Er bittet darum, die Kinder in dem Haus belassen zu dürfen, von dem zu trennen ihnen so schwer fallen würde. Weiter argumentiert er, dass er im ersten Jahr der Okkupation seine pädagogische Tätigkeit weiterentwickelt und es nicht einen einzigen Fall einer ansteckenden Krankheit gegeben habe.13 Aber – seine Bemühungen bleiben erfolglos. Ende 1940 muss das Dom Sierot ins Ghetto umziehen, und zwar in das Gebäude der Roesler-Handelsschule in der ChłodnaStraße 33, die innerhalb des Ghettos liegt. Von der Gestapo wird Korczak gestattet, alle Vorräte des Dom Sierot ins Ghetto mitzunehmen.14 Der Besitz aus der Krochmalna-Straße wird auf Fuhrwerke geladen und von den älteren Zöglingen sowie Mitgliedern des Personals in die ChłodnaStraße transportiert.15 Bei seinem Versuch, während des Umzugs (wahrscheinlich am 16. November 1940) bei der Stadtverwaltung wegen eines von der Polizei beschlagnahmten Wagens mit Kartoffeln zu intervenieren, wird Korczak verhaftet, weil er sich ohne die vorgeschriebene Armbinde zu den Behörden begeben hat.16 Bei Hanna Mortkowicz-Olczakowa heißt es dazu: »Korczak trug diese Armbinde mit dem Judenstern nicht vorschriftsmäßig auf der Straße, wie es die Hitlerschen Gesetze zur Pflicht machten. Damit konnte er sich nicht abfinden, dagegen lehnten sich sein ganzer Stolz und sein Ehrgefühl auf. Einem Beamten, der ihn deswegen verhörte, antwortete er einfach, er achte und anerkenne nur die göttlichen Gesetze – die ewig seien, nicht aber die menschlichen – die vergänglich seien. Aber im Innern des Dom Sierot, das im Augenblick noch sicher war, bei einer fast familiären Feier und Unterhaltung, legte 12. Übliche Bezeichnung für das American Jewish Joint Distribution Committee. Diese 1914 geschaffene Institution unterstützte u. a. eine Reihe jüdischer Sozialverbände und Organisationen der sozialen Fürsorge in Polen während des Ersten Weltkriegs sowie in den Zwischenkriegsjahren und in den Jahren der Okkupation. Bis Dezember 1941 (d. h. bis zum Kriegseintritt der USA) wirkte Joint offiziell, danach illegal; ein Teil seiner Mitglieder arbeitete mit der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe (ZSS) zusammen. 13. Vgl. SW, Bd. 15, S. 159. 14. Vgl. Eliasbergowa, Stella: Unser Alltag …, a. a., O. S. 497. 15. Laut eines mündlichen Berichts von Yona (Tosia) Bocian. Vgl. Lewin, Aleksander: So war es wirklich …, a. a. O., S. 57. 16. Über das Gespräch in der deutschen Stadtkommandatur berichtet Eliasbergowa, Stella: Unser Alltag …, a. a. O., S. 497.

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er dieses Zeichen der Schande – oder eben der Ehre – an, als wollte er die Schergen herausfordern.«17 Die Erinnerungen einer Hausbewohnerin spiegeln die niedergeschlagene Stimmung der Zöglinge und ihrer Betreuer nach der Verhaftung Korczaks wieder: »Nicht alle sind da! Allein daran zu denken, fällt schwer; es ist schwer, auf die Sachen zu blicken, die noch verstreut herumliegen, auf das Personal und die Kinder, die hin- und herlaufen, auf die Wände und Mauern – und das Fehlen des einen, einzigen Menschen zu spüren.«18 In der zweiten Dezemberhälfte kehrt Korczak aus dem Pawiak-Gefängnis in die Chłodna-Straße zurück. Obwohl er sich gegenüber seinen Mitarbeitern bemüht, das Leiden während des Gefängnisaufenthaltes herunterzuspielen19, hat sich in seinem Verhältnis zu den Deutschen ein spürbarer Wandel vollzogen. In seinem Gesuch an »Joint« hatte er noch geschrieben: »Wir haben im Laufe des Jahres weder Unrecht noch Unannehmlichkeiten von Seiten der Deutschen Behörden erlitten.«20 Nach dem Verlassen des Gefängnisses überwiegt die Furcht vor den Deutschen. Michał Zylberberg, ein Mitbewohner des Hauses Chłodna-Straße 33, schreibt: Korczak war »sehr nervös, er fürchtete sich vor seinem eigenen Schatten. Unser Haus lag unmittelbar an der Grenze des Ghettos. Die Deutschen waren nah.« Und nach dem Abendgottesdienst am letzten Rosch-ha-Schana in der Chlodna-Straße habe ihm Korczak gestanden: »(I)ch fürchte mich vor dem, was passieren kann. Die Deutschen sind zu allem fähig.«21 Michał Zylberbergs Schilderungen bilden die Grundlage dessen, was die Korczak-Forschung bis heute über die Lebensbedingungen in der Chłodna-Straße 33 weiß. Zylberberg beschreibt das Haus Nr. 33, in dem er selbst zur damaligen Zeit wohnte, als »eines der saubersten und gepflegtesten im Ghetto«. Und weiter heißt es: »Die neuen Mieter bildeten eine sehr verschiedenartige Gemeinschaft. Es wohnten hier orthodoxe und assimilierte Juden, auch einige getaufte. Es gab etliche Zionisten und Sozialisten. Das gemeinsame Schicksal und die ungewisse Zukunft schmiedeten uns zusammen; wir lebten wie in einer einzigen Familie.«22 17. Mortkowicz-Olczakowa, Hanna: »Wenn die Wälder brennen …, a. a. O., S. 492. 18. Zit. nach: Lewin, Aleksander: So war es wirklich …, a. a. O., S. 56. 19. Vgl. dazu insbesondere den mündlichen Bericht von Yona Bocian, in: Lewin, Aleksander: So war es wirklich …, a. a. O., S. 58. 20. SW, Bd. 15,S. 159. 21. Zylberberg, Michał: In der Chłodna-Straße 33. In: Beiner, F./Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 509 und 519. 22. Ebd., S. 508.

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Der Hof wird zu einem Begegnungsort der Bewohner des Dom Sierot und der übrigen Mieter. Und in der Chłodna-Straße wird ein »Komitee für Selbsthilfe« organisiert, das sich neben den allgemeinen Problemen auch um die Belange des Waisenhauses kümmert. Korczak nimmt an allen Versammlungen des Komitees teil: »Er interessierte sich nicht nur für die Angelegenheiten der Zöglinge des Waisenhauses, sondern auch für die Probleme, die die Kinder der Mitbewohner quälten.«23 Um die Kinder mit der sie gegenwärtig umgebenden Welt vertraut zu machen, organisiert Korczak eine Serie von Vorträgen mit jüdischen Intellektuellen und praktisch tätigen Menschen. Darunter sind auch Personen, die sich erst in letzter Zeit durch ihre Tätigkeit im Ghetto hervorgetan haben, »darunter sogar Vertreter der jüdischen Polizei und einige Mitglieder des Judenrates«.24 Neben diesen regelmäßig gehaltenen Vorträgen finden im Dom Sierot von Zeit zu Zeit Konzerte statt. Sie erfüllen zwei Funktionen: Zum einen erhofft man mit Hilfe der Eintrittsgelder der Besucher von außerhalb die größte Not begrenzen zu können, zum anderen sollen die Kinder für kurze Zeit aus der grausamen Wirklichkeit des Ghettos entführt werden. Im Anschluss an ein solches Konzert trägt Korczak satirische Verse auf Hitler, Göring, Goebbels und Frank vor, denn zu diesem Zeitpunkt hat er bezüglich der deutschen Besatzer keine Illusionen mehr: »Unter der Oberfläche von Spott und Hohn waren die bitteren Akzente nicht zu überhören – dass solche Leute das Schicksal von Millionen in ihren Händen hielten.« Im Frühjahr 1941 spricht er offen von »Mördern und Abschaum der Menschheit«.25 Als im Sommer 1941 beunruhigende Gerüchte über Massaker an Juden in den von den Deutschen eroberten Ostgebieten das Ghetto erreichen, beginnt Korczak, im Dom Sierot Gottesdienste auszurichten. Michał Zylberberg: »Ich war sprachlos. Jeder wusste, wie fern Korczak allen religiösen Bräuchen stand. Der Doktor bemerkte meine Verwunderung und sagte, ohne auf eine Frage zu warten: ›In diesen besonderen Zeiten halte ich Gottesdienste im Dom Sierot für dringend notwendig. Das Gebet kann in so tragischen Augenblicken, wie wir sie jetzt erleben, den Menschen ermutigen. Natürlich wird niemand gezwungen, an den Gebeten teilzunehmen.‹ Das bezog sich auf die Zöglinge, die in religiösen Dingen volle Freiheit genossen.«26 23. Lewin, Aleksander: So war es wirklich …, a. a. O., S. 62. 24. Zylberberg, Michał: In der Chłodna …, a. a. O., S. 512. 25. Ebd., S. 515f. 26. Ebd., S. 517.

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15.4 Drittes Okkupationsjahr – in der Sienna-/Śliska-Str. (1941/42)

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15.4 Drittes Okkupationsjahr – in der Sienna-/Śliska-Str. (1941/42) Nach der Verkleinerung des Ghettos (Ende Oktober 1941) müssen die Bewohner des Dom Sierot noch einmal umziehen. Es werden ihnen einige Räume im dreistöckigen Gebäude der »Gesellschaft kaufmännischer Angestellter« im Durchgangshaus Sienna-Straße 16, Śliska-Straße 9 zugewiesen. Die neue Unterkunft muss den Bedürfnissen angepasst werden: »Im ersten Stock wurden in einem großen Saal mit mehreren Nebenzimmern, die davon abgingen, Speiseraum, Klassenzimmer, Nähzimmer, Spielzimmer und ein Isolierzimmer für schwache und kranke Kinder und sogar für Erwachsene eingerichtet.«27 Die Ärztin und Kinderpsychologin Zofia Szymańska beschreibt die Einrichtung dieses Saals wie folgt: »Ein riesiger Saal dient allen Kindern als Schlafraum. Die Gruppen sind geschickt durch Schränke und Wandschirme abgeteilt. Es gibt eine Puppenecke und eine Ecke der Stille. Ein Leseraum wurde organisiert, und dort hinter dem Schrank basteln die Buben etwas. Früher hatte jeder Raum seine Bestimmung, alles lag an seinem Platz. Aber auch heute herrscht in diesem Riesensaal kein Chaos. Alles ist so organisiert, als ob seit vielen, vielen Jahren jeder Winkel die gleiche Funktion hätte.«28 Im Jahr 1942 wird die Situation im Ghetto immer unerträglicher. Zofia Szymańska schreibt: »Durch die heißen, engen Straßen des Ghettos schleppen sich menschliche Gespenster. Der Flecktyphus hat schon Zehntausende von Opfern dahingerafft, der Hunger noch mehr. Es gehen eigenartige, entsetzliche Gerüchte um. Man spricht nicht laut darüber, es fallen aber manchmal ein paar Worte: Ofen – Lager – Liquidierung. Man möchte es nicht glauben, nicht daran denken. Vergessen. Um zu vergessen, organisiert das Ghetto Unterhaltungsveranstaltungen. Die Kinder treten mit gemeinsamen Darbietungen auf, Künstler stellen ihr Talent in den Dienst der Wohltätigkeit. Das Dom Sierot lädt zu einer Theatervorstellung ein.«29 Am 18. Juli führen die Kinder das Drama Die Post von Rabindranath Tagore auf.30 Die Geschichte des kleinen Amal, der auf Anweisung seines Arztes ans Bett gefesselt ist und das Leben draußen ausschließlich durch ein Fenster beobachten kann, ist den Zuschauern eine Veranschaulichung ihres eigenen Eingesperrtseins und ihrer eigenen Sehnsucht nach Freiheit.

27. Lewin, Aleksander: So war es wirklich …, a. a. O., S. 71. 28. Szymańska, Zofia: Den versteinerten Herzen erlag er nicht … In: Beiner, F./Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 525f. 29. Ebd., S. 525. 30. Zum Inhalt des Stücks vgl. Szymańska, ebd., S. 526.

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Über die Wirkung des Stückes auf die Kinder heißt es bei Zofia Szymańska: »Voller Bewunderung schauen die Zöglinge des Dom Sierot auf Amal und nehmen die Worte tief in sich auf. Wie sind die Kinder im Ghetto beengt, wie verzweifelt drücken sie ihre kleinen Nasen an den Mauerlücken platt, um zu sehen, was sich drüben auf ›jener Seite‹ tut. Wie gerne würden sie zusammen mit Amal Eichhörnchen spielen, über die Straße rennen, im kalten Flüsschen baden und einen ganzen Arm voll Blumen pflücken. Sie haben vergessen, wie Blumen aussehen! Mit angehaltenem Atem warteten sie zusammen mit Amal auf den Brief des Königs, der die Befreiung bringen sollte. Sie glaubten mit ihm, dass dieser wunderbare Brief sehr bald schon kommen wird. Diese Nachricht überbrachte ihm das Mädchen mit den Blumen, und der Wächter bestätigte sie. Amal vertraut ihnen, und in Erwartung der Befreiung schlummert er süß ein.«31 Für die Kinder ist die Aufführung nur eine zeitlich begrenzte Flucht aus der Realität – am 5. oder 6. August 1942 werden sie in das Vernichtungslager Treblinka transportiert werden.

15.5 Beständigkeit der pädagogischen Arbeit (1942) Trotz der sich ständig verschlechternden Existenzbedingungen und der Verdoppelung der Zöglingszahlen im Laufe der drei Okkupationsjahre kann Korczak die grundlegenden Elemente seines Erziehungssystems bewahren. In einem Artikel für das Wochenblatt des Dom Sierot, für das er nach wie vor schreibt, heißt es, dass sich die Kinder später sicher an das Haus in der Sienna- und Śliska-Straße erinnern werden: An die »Fundsachenkiste, das Gericht, die Sonnabendzeitung, das Plebiszit …«32 Und im Pamiętnik: »Nach dem Frühstück, auf die Schnelle, à la fourchette – aufs Klosett (im Vorhinein, also auch das mit Anstrengung) und die Versammlung, und dort der Plan für die Schule im Sommer, für Urlaub und Vertretungen. So, wie vergangenes Jahr, das wäre bequem. Aber die Sache ist die, es hat sich vieles verändert, anders der Schlafsaal, es sind viele Kinder hinzugekommen, viele gegangen, neue Rücksichten, es ist – was gibt es da viel zu reden – anders. Aber es besser machen, das möchte man doch. Nach der Versammlung die Heimzeitung und die Gerichtsurteile.«33 Man sieht: Die Institutionen der Selbstverwaltung regeln auch im Ghetto das Zusammenleben der Erzieher und Zöglinge. Angesichts der veränderten äußeren Bedingungen erscheinen sie Korczak allerdings ergänzungs31. Ebd., S. 526f. 32. Ihr werdet euch ein Leben lang erinnern, in: SW, Bd. 13, S. 419. 33. SW, Bd. 15, S. 326f.

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15.6 Engagement außerhalb des Dom Sierot (1942)

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bedürftig: Die Kinder tragen Kümmernisse im Herzen; neue, schwierige Situationen stellen sich ein, in denen »es nicht genügt, ein Gesetz für alle zu verordnen, sondern wo ein guter Rat für den Einzelnen notwendig ist«.34 Darum beschließt er, die Einzelberatung der Kinder stärker zu institutionalisieren. In mehreren Beiträgen für das Wochenblatt des Dom Sierot berichtet er von der Idee eines Beratungsbüros, in dem jeder individuellen Rat erhalten sollte: Mit dem Zögling Adaś und einem Beratungsbüro soll versucht werden, den Kindern einen Ansprechpartner zur Seite zu stellen, der ihre Sorgen teilt und sich um kreative Problemlösungen bemüht. Ob und wie dieses Experiment gelingt, wird man »erst später wissen können. Aber wenn es fehlschlägt, ist es auch keine Schande. Es ist nämlich eine schwierige Sache, eine sehr schwierige, die schwierigste von allen.«35

15.6 Einsatz für Kinder außerhalb des Dom Sierot (1942) Während der Okkupation setzt sich Korczak nicht nur für die Zöglinge des Dom Sierot und die in unmittelbarer Nachbarschaft lebenden Kinder ein; er kümmert sich auch um andere Fürsorgeeinrichtungen und um die Straßenkinder. Mit einer Bewerbung, überschrieben mit Gesuch36, gerichtet an das Personalbüro des Judenrates, bemüht er sich am 9. Februar 1942 um eine »Anstellung als Erzieher im Internat für Waisenkinder in der Dzielna-Straße 39«, dem Zentralen Findelhaus des Ghettos.37 Um seine Eignung für eine rasche Sanierung dieser von ihm selbst als »Schlachthof (und Leichenhaus) für Kinder« bezeichneten Institution zu dokumentieren, fügt er seiner Bewerbung ein »curriculum vitae« bei (s. Pkt. 15.7), die einzige authentische Kurz-Biographie, die von Korczak existiert. 34. 35. 36. 37.

Ein Beratungsbüro, in: SW, Bd. 13, S. 462. Ebd., S. 463. SW, Bd. 15, S. 211ff. Das Findelhaus befindet sich in einem katastrophalen Zustand. Der überlebende Arzt Prof. Ludwik Hirszfeld erinnert sich in seiner Biographie: »Das war die Hölle auf Erden … Gleich am Eingang schlug einem der Geruch von Kot und Urin entgegen. Die Säuglinge lagen ungesäubert, es fehlte an Windeln, im Winter gefror der Urin, und auf diesem Eis lagen die steif gefrorenen kleinen Leichen. Die etwas älteren Kinder saßen ganze Tage auf dem Fußboden oder auf Fußbänkchen, schaukelten monoton vor sich hin; wie Tiere lebten sie von einer Mahlzeit zur anderen, in Erwartung eines erbärmlichen, allzu ärmlichen Essens. Flecktyphus und rote Ruhr grassierten. Die Ärzte waren keine schlechten Menschen, doch vermochten sie nicht, dem geradezu unerhörten diebischen Treiben des Personals Einhalt zu gebieten, das diese Not ausnutzte.« (Hirszfeld, Ludwik: Historia jednego życia. Warszawa 1967, S. 299f.)

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Bereits zwei Tage nach Versendung seiner »Bewerbung« und der »Einstellung« durch den Judenrat trifft Korczak im Zentralen Findelhaus ein.38 In den während der ersten Tage seines Aufenthalts niedergeschriebenen Notizen werden die Lebensbedingungen der Zöglinge deutlich. Korczak berichtet von einer oberflächlichen Ordnung, die nicht über die krassen Mängel des Heims hinwegtäuschen darf. Es erweckt lediglich den »Anschein von Sauberkeit«, den »Anschein einer Milchküche«, den »Anschein von Isolation«, den »Anschein von ärztlicher Fürsorge«, den »Anschein von pädagogischer Aufsicht«, denn das Heft der sog. »Kinderbewegungen« im Heim dokumentiert eine Sterblichkeitsrate von ca. 90 %.39 Schritt für Schritt versucht Korczak, der katastrophalen Bedingungen Herr zu werden. Am 22. Februar 1942 listet er Vorschläge zur Verbesserung der Situation der Zöglinge auf. Die Forderung nach täglichen Rapporten und Berichten durch die Mitarbeiter gehört ebenso dazu wie die Überprüfung des Kohle-Koks-Haushalts und der vier Magazine. Denn eine wesentliche Aufgabe besteht in der Kontrolle des Personals, das sich zu einem Teil aus »Helden und Märtyrern«, zum anderen Teil aber auch aus »Kriminellen« zusammensetze.40 Wie vereinbart, kehrt Korczak nach einem Monat ins Dom Sierot zurück. Sein Einsatz für die Kinder des Zentralen Findelhauses ist damit jedoch nicht beendet. Er interessiert sich weiterhin für die Belange dieser Institution und nimmt sogar einige ihrer Kinder in der Sienna-/ŚliskaStraße auf. Eine besondere Sorge Korczaks gilt in dieser Zeit den Straßenkindern. Mieczysław Kowalski (Kon), seit Ende 1941 Leiter der Gesundheitsabteilung im Ghetto, erinnerte sich später an einen diesbezüglichen Wunsch Korczaks: »Herr Mieczyław, Sie wissen, dass an jedem Morgen mindestens zehn Leichen von Kindern auf der Straße liegen. Das sind entweder obdachlose Kinder, die auf den Straßen an Kälte, Hunger und Krankheiten starben, oder Kinder, die vor oder nach dem Tod von den Eltern auf die Straße gelegt wurden, weil diese nicht in der Lage sind, die Beerdigung zu bezahlen. Oder es sind Kinder, die von den Deutschen erschossen wurden, wenn sie auf der Suche nach Brot die Mauer überschritten hatten. 38. Am selben Tag informiert er die Ärztekammer über sein Vorhaben. In einem Brief an Dr. Anna Braude-Hellerowa spricht er von einem »Konzentrationslager für Waisenkinder«, in dem er ein »halsbrecherisches Unterfangen« wage. (SW, Bd. 15, S. 220) 39. Ebd., S. 237. 40. Ebd., S. 237. In seinem Bericht vom 19. März 1942 teilt Korczak das Personal in »wertvolle Mitarbeiter« und »Schädlinge« ein. (Ebd., S. 253)

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15.7 Curriculum vitae (1942)

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Die Spitäler sind so überfüllt, dass sie diese sterbenden Kinder nicht aufnehmen, sogar, wenn jemand sie dorthin bringt. Man muss einen Ort schaffen, wo man die sterbenden Kinder aufnimmt. Wenn wir ihr Leben nicht retten können, dann garantieren wir ihnen wenigstens einen menschlichen, anständigen Tod. Dafür brauchen wir nicht viel Platz, das verursacht keine großen Kosten. Das kann ein großer Raum sein, mit Regalen wie in einem Textilgeschäft. Es gibt doch leere Geschäfte. Dort kann man das sterbende Kind auf ein Regal legen, man braucht kein großartiges Personal – einen Menschen – so eine Mischung zwischen Sanitäter und Totengräber.«41 Korczaks Engagement außerhalb des Dom Sierot dient im Übrigen zu allererst dem physischen Überleben der Kinder, und sei es nur für Tage oder Wochen. Obwohl ihm die Bedingungen der Zeit kaum Möglichkeiten dazu lassen, verfolgt er aber auch weitergehende Ziele. So gelten seine Anstrengungen auch dem psychischen Überleben der Kinder. In einem Erzieherischen Bericht über das Zentrale Findelhaus hebt er den geistigen Hunger der Kinder hervor: »Nach einem Märchen vom Gestiefelten Kater, das ich versuchsweise zu erzählen wagte, verlangen sie nach mehr«.42 Das Märchen als Mittel der Illusion hilft den Kindern, den Mangel an Nahrung und die stetig gegenwärtige Todesgefahr für einen Augenblick zu vergessen.

15.7 Curriculum vitae (1942) »Wohlmeinende verlangen von mir, ich solle ein Testament schreiben. Ich tue das in diesem Moment mit meinem curriculum vitae, mit dem ich mich um die Anstellung als Erzieher im Internat für Waisenkinder in der Dzielna-Straße 39 bewerbe. Ich bin vierundsechzig Jahre alt. Die Gesundheitsprüfung habe ich im vergangenen Jahr im Gefängnis bestanden. Trotz der aufreibenden Umstände dieses Aufenthalts bin ich kein einziges Mal erkrankt, ich habe keinen Arzt beansprucht, und ich habe mich nicht ein einziges Mal von der Gymnastik befreien lassen, der sogar meine jüngeren Kollegen mit Schrecken zu entfliehen suchten. – (Wolfshunger, Schlaf des Gerechten; vor kurzem noch kehrte ich nach zehn Gläschen starkem Wodka am späten Abend allein in strammem Fußmarsch aus der Rymarska-Straße in die 41. Kowalski, Mieczysław: Ungebrochen. In: Beiner, F./Ungermann, S. (Hg.): Janusz Korczak in der Erinnerung …, a. a. O., S. 529. 42. SW, Bd. 15, S. 245.

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15. Kämpfer in Zeiten des Krieges: 1939–1942

Sienna-Straße zurück. In der Nacht stehe ich zweimal auf und leere zehn große Kübel aus.) Ich rauche, ich trinke nicht, meine Zurechnungsfähigkeit ist für den täglichen Gebrauch ausreichend. Ich bin ein Meister in der Ökonomie des Kräfteeinsatzes: Wie Harpagon rechne ich den sinnvollen Verbrauch jeder Energieeinheit nach. Ich halte mich für einen Eingeweihten auf den Gebieten der Medizin, der Erziehung, der Eugenik und der Politik. … Das Gymnasium und die Universität absolvierte ich in Warschau, die Ausbildung vervollständigte ich in Kliniken in Berlin (ein Jahr) und Paris (ein halbes Jahr). Ein Abstecher von einem Monat nach London gestattete mir, vor Ort das Wesen karitativer Arbeit zu begreifen (ein großer Gewinn). … (An freien Tagen – Besuche in Wäusenhäusern, Besserungsanstalten und geschlossenen Anstalten für so genannte kriminelle Kinder.) Ein Monat in einer Schule für geistig Behinderte, ein Monat in der neurologischen Klinik Ziehens. … Das Spital hat mir gezeigt, wie würdig, gereift und verständig ein Kind zu sterben weiß. Bücher über Statistik vertieften mein Verständnis des medizinischen Fachwissens. – Die Statistik vermittelt die Disziplin des logischen Denkens und der objektiven Einschätzung eines Faktums. Ein Vierteljahrhundert lang habe ich die Kinder jede Woche gewogen und gemessen und besitze so eine unschätzbare Sammlung von Diagrammen, – Wachstumsprofile der Kinder im Schulalter und in der Pubertät. Meine Begegnung mit dem jüdischen Kind fand das erste Mal in einer Sommerkolonie nach Markiewicz in Michałówka statt, wo ich Aufsicht führte. Die mehrjährige Arbeit in einer kostenlosen Leihbücherei bot mir ein reiches Beobachtungsmaterial. Ich gehörte nie einer politischen Partei an. – Ich war in engem Kontakt mit vielen Politikern der Konspiration. Zur Sozialarbeit haben mich erzogen: Nałkowski, Straszewicz, Dawid, Dygański, Prus, Asnyk, Konopnicka, Józef Piłsudski. … Von den Schriftstellern verdanke ich am meisten Tschechow – dem genialen Diagnostiker und Kliniker der Gesellschaft. Zweimal habe ich Palästina besucht, ich lernte seine ›bittere Schönheit‹ kennen …; ich lernte die Dynamik und die Technik des Lebens eines Pioniers und Kolonisten in einem Moschaw kennen … Ich machte Bekanntschaft mit der Rezeptur der Kriege und Revolutionen – ich nahm unmittelbar teil am japanischen und europäischen Krieg,

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15.7 Curriculum vitae (1942)

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am bolschewistischen Umsturz und Bürgerkrieg (Kiew), am polnischsowjetischen, – gegenwärtig lese ich als Zivilist – aufmerksam von den Machinationen der ›Etappe‹ und der Kulissen. – Ohne dies würde ich in der Abneigung und Verachtung eines Zivilisten verharren. Arbeitsgebiete: 1. Sieben Jahre mit Unterbrechungen als einziger örtlicher Arzt am Spital 2. 3. 4. 5. 6.

in der Śliska-Straße. Mehr als ein Vierteljahrhundert im Dom Sierot. Fünfzehn Jahre im Nasz Dom – in Pruszków, anschließend Bielany. Etwa ein halbes Jahr in Heimen für ukrainische Kinder bei Kiew. Ich war Sachverständiger für Kinderfragen beim Bezirksgericht. Vier Jahre lang war ich Referent für Zeitschriften deutscher und französischer Krankenkassen. …

In der Organisation bin ich ganz und gar nicht in der Lage, als Chef zu fungieren. – Hier und in vielen anderen Fällen schadeten mir – meine Kurzsichtigkeit und der Mangel an visuellem Gedächtnis. – Der erste Fehler wurde durch die Altersweitsichtigkeit ausgeglichen, der zweite hat sich verstärkt. Das hat auch seine gute Seite: Ich erkenne die Leute nicht, richte meine Aufmerksamkeit auf die Sache, – ich bin nicht voreingenommen, – nicht nachtragend. Eine Schlafmütze, aber ich kann aus dem Gleichgewicht gebracht und zum Hitzkopf werden; – dank mit Mühe erworbener Bremsen – eigne ich mich für Gemeinschaftsarbeit. … 9. Februar 1942

Goldszmit Korzak«43

43. Ebd., S. 211ff.

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16. Autor des Ghetto-Tagebuches: 1942 Dass letzte Typoskript Korczaks ist das schon mehrfach zitierte Pamiętnik1; inhaltlich sowohl ein Erinnerungs- als auch ein Tagebuch, das vom Autor wohl zur Veröffentlichung vorgesehen ist. Der maschinenschriftliche Text wird später seinem langjährigen Sekretär und Mitarbeiter, Igor Newerly, »nach Korczaks Weisung einige Tage nach seiner und der Kinder Deportation aus dem ›Haus der Waisen‹ nach Treblinka ausgehändigt« werden.2 Newerly wird den Text aus dem Warschauer Ghetto nach Bielany ins Nasz Dom bringen, wo er auf Anweisung von Maryna Falska auf dem Dachboden eingemauer wird. Nach dem Krieg holt man ihn aus dem Versteck, so dass ihn Newerly 1957 erstmals veröffentlichen kann. Die ersten Seiten des Pamiętnik hat Korczak (so Newerly) schon im Januar 1940 geschrieben. Nach einleitenden Überlegungen zum Alter und seinen Beschwerden heißt es hier: »Nun gut. – Ich beginne. ›Eins, zwei.‹ Zwei Alte wärmen sich in der Sonne. ›Sag an, alter Zausel, wie kommt es, dass du noch am Leben bist?‹ ›Tja, ich hab’ ein solides, venünftiges Leben geführt, ohne Erschütterungen und plötzliche Wendungen. Ich rauche nicht, trinke nicht, spiele nicht Karten, bin den Mädchen nicht nachstolziert. War niemals hungrig oder allzu erschöpft, hab’ mich weder geeilt noch etwas riskiert. Alles zur rechten Zeit und in Maßen. Ich hab’ mein Herz nicht gequält, meine Lungen nicht überanstrengt, meinen Kopf nicht traktiert. Mäßigung , Ruhe und Besonnenheit. Und Sie, mein Bester?‹ ›Ich war ein wenig anders. Immer dort, wo man sich leicht Beulen und blaue Flecke holt. Ich war ein junger Spund, da gab es die erste Revolte und Schießerei. Schlaflose Nächte gab es und so viel Gefängnis, wie man so einem Bürschchen verordnen muss, um es halbwegs zu bändigen. Dann kam der Krieg. Der war auszuhalten. Weit von hier musste ich ihn suchen, hinterm Uralgebirge, hinterm Baikalsee durchs Land der Tataren, Kirgisen, Buraten 1. Die erste Seite des aus dem Ghetto geschmuggelten Textes ist in SW, Bd. 15, S. 296 abgebildet. 2. Newerly, Igor: Vorbemerkungen zur zweiten Auflage von Pamiętnik, in: Janusz Korczak: Wybor pism, Tom IV. Warszawa 1958, S. 503; erste deutsche Fassung: Erinnerungen. Vorwort von Igor Newerly, in: Korczak, Janusz: Das Recht des Kindes auf Achtung. Göttingen 1970, S. 236.

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bis hin zu den Chinesen. Im mandschurischen Dorf Taolai Djou machte ich Halt, und wieder Revolution. Dann eine kleine Verschnaufpause, sozusagen. Schnaps hab’ ich getrunken, gewiss, so manches Mal hab ich Karten um mein Leben gespielt, nicht um ein zerknittertes Papierchen. Nur für die Mädchen hatte ich keine Zeit, tja wenn die Weibsbilder nicht so lüstern und so begierig auf die Nächte wären, na und keine Kinder bekämen. Abscheuliche Sitte. Einmal ist es passiert. Und die Drohungen, die Tränen. Zigaretten hab’ ich geraucht ohne Zahl. Am Tag und beim suchenden Diskutieren, ein rechter Schlot. Und es gibt kein gesundes Fleckchen an mir. Verwachsungen, Schmerzen, Leistenbrüche, Narben, ich falle auseinander, ächze, platze, lebe. Und wie! Die mir in die Quere kommen, können ein Lied davon singen. Meine Fußtritte sind nicht zu verachten, aber ja. Es kommt immer noch vor, dass sich die ganze Bande vor mir verdrückt. Im Übrigen hab’ ich Anhänger und Freunde.‹ ›Ich auch. Ich hab’ Kinder und Enkel. Und Ihr? Und Sie, Herr Kollege?‹ ›Ich hab’ zweihundert.‹ ›Ihr seid ein Filou.‹«3 Nach den ersten Seiten legte Korczak das Pamiętnik zunächst beiseite. »Erst zwei Jahre später, angesichts der herannahenden Vernichtung, nahm er die Arbeit wieder auf und führte sie systematisch fort bis zum Ende.«4 Warum nahm er das Schreiben 1942 wieder auf? Aleksander Lewin, kompetentester Erforscher von Korczaks Leben und Werk, gibt folgende Antwort: »Die Tatsache, dass er zu seinen Eintragungen im Pamiętnik zurückkehrte, kann man in Anlehnung an Igor Newerly mit der Vorahnung der Vernichtung, die immer näher rückte, erklären. Das Warnsignal, das Korczak und Tausende anderer Menschen die Gefahr der Situation klar vor Augen geführt hatte, erfolgte in der schrecklichen, blutigen Nacht vom 17. auf den 18. April 1942, als 52 Personen (Aktivisten und Anhänger der Untergrundbewegung und andere) völlig unerwartet im Ghetto erschossen wurden. Diese verbrecherische Aktion erschütterte die Bewohner des abgesperrten Stadtteils zutiefst und weckte eine furchtbare Sorge und Unruhe. Es war nicht klar, was jetzt geschehen würde, wie es weiter gehen sollte. Man konnte noch tragischere Ereignisse erwarten. Vielleicht trug die Ermordung dieser Menschen wesentlich zu Korczaks Entscheidung bei, die Aufzeichnungen in seinem Pamiętnik wieder aufzunehmen. Noch 3. SW, Bd. 15, S. 299f. 4. Newerly, Igor: Vorwort, in: Korczak, Janusz: Recht des Kindes … a. a. O., S. 237.

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ein anderer Aspekt subjektiverer Natur könnte seinen Entschluss gestützt haben: Er befand sich in einem immer schlechteren Gesundheitszustand, im physischen wie im psychischen Sinne. Diese Verschlechterung war im November 1940 während des Umzugs in die Chłodna-Straße deutlich zutage getreten. Davon legen u. a. die ärztlichen Diagnosen aus dieser Zeit Zeugnis ab. Dr. Mordechaj Leński, der Korczak im Ghetto untersuchte, notierte: ›Einmal ist er in die Röntgenabteilung gekommen. Er war abgemagert, seine Wangen waren mit roten Flecken bedeckt, seine Augen brannten fiebrig. Er sprach im Flüsterton und atmete mit Mühe. Eine Durchleuchtung ergab, dass sich Wasser in seinem Brustkorb gesammelt hatte.«5 Und Korczak selbst stellt in einem Schreiben vom 2. April 1942 fest, er sei »alt, erschöpft, schwach und krank«.6 Wenn er die Welt also noch über die Greueltaten der Nazis informieren und in Verbindung damit seinen eigenen Lebenslauf rückblickend reflektieren wollte, dann müsste es jetzt geschehen! Einen knapp abgefassten Lebenslauf hatte er ja schon am 9. Februar 1942 anlässlich der »Bewerbung« um die Stelle eines Erziehers im Zentralen Findelhaus geschrieben (s. Pkt. 15.7). In dem jetzt noch abzufassenden Vermächtnis seines Lebens, von dem er hofft, es könne vielleicht »nach fünfzig Jahren, irgendjemandem von Nutzen«7 sein, beschreibt er zum einen Erlebnisse aus seinem Leben, die vor der Veröffentlichung des Pamiętnik noch niemandem bekannt waren, vor allem seine Kindheit und Grundschulzeit betreffend (sie bilden die Quellen-Grundlage für die Ausführungen am Anfang dieses Buches), zum anderen aktuelle Ereignisse in Form eines ungeschminkten Tagebuchs. – Mit Auszügen aus diesem Tagebuch muss das Kalendarium zu Korczaks Leben und Werk zu seinem Ende kommen: Der Tagebuchschreiber befindet sich im eingemauerten »jüdischen Wohnbezirk«, im ehemaligen Gebäude der »Gesellschaft kaufmännischer Angestellter«, Durchgangshaus Sienna-Straße 16 – Sliska-Straße 9, der letzten irdischen Station des Dom Sierot. Anfang Mai 1942: »Der Mai ist kühl in diesem Jahr. Und die heutige Nacht, die stillste unter den stillen. Fünf Uhr. Die Kinder schlafen. Es sind wirklich zweihundert. Auf dem rechten Flügel Frau Stefa, ich linker Hand, im so genannten Isolationszimmer. Mein Bett in der Mitte des Zimmers. Un5. Lewin, Aleksander, zitiert in: SW, Bd, 15, S. 485. 6. SW, Bd. 15, S. 256. 7. Newerly, Igor: Vorwort …, a. a. O., S. 237.

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term Bett eine Flasche Schnaps. Auf dem Nachttisch Schwarzbrot und Wasser.«8 – Das Vorhaben: »Eine Autobiographie. Ja. – Über mich selbst. Über meine kleine und wichtige Person.«9 15. Mai 1942: »Ein Nationaler sagte einmal zu mir: ›Ein Jude, und sei er ein aufrichtiger Patriot, ist bestenfalls ein guter Warschauer oder Krakauer, aber kein Pole.‹ Das verblüffte mich. Ich gestand loyal … Die Weichsel bei Krakau sei mir fremd, ich würde Gnesen nicht kennen und wolle es nicht kennen lernen. Aber ich liebte die Warschauer Weichsel, und losgerissen von Warschau, fühle ich eine brennende Sehnsucht. Warschau gehört mir, und ich gehöre ihm. Mehr noch: Ich bin Warschau. Ich freute mich und war traurig mit Warschau, seine Heiterkeit war meine Heiterkeit, sein Regen und sein Schlamm war auch der meine. Mit ihm zusammen wurde ich groß. … Warschau war das Terrain oder auch die Werkstatt, wo ich arbeite, hier ist der Ort der Rast, hier sind die Gräber.«10 29. Mai 1942: »Semi (brachte mir) einen Brief ans Bett: Ob das so geht? ›An seine Hochwürden, den Pfarrer der Pfarrgemeinde Aller Heiligen (Grundstück grenzt an die Ghettomauer). Wir bitten den Verehrten Herrn Pfarrer aufs herzlichste, uns die gütige Erlaubnis für das wiederholte Aufsuchen des Kirchgartens an Samstagen in den möglichst frühen Morgenstunden (6.30–10 Uhr) zu erteilen. Wir sehnen uns nach ein bissel Luft und Grün. Bei uns ist es stickig und eng. Wir möchten die Natur kennen lernen und uns mit ihr befreunden. Die Aussaat werden wir nicht zertrampeln. Wir bitten Sie inständig um Gewährung unserer Bitte. Zygmuś, Semi, Abraszka, Hanka, Aronek‹ … Folgende Straßenszene: Am Rand des Gehsteigs liegt ein Halbwüchsiger, noch lebendig oder schon tot. – An derselben Stelle drei Jungen, die Pferd spielen und denen die Stricke (die Zügel) durcheunandergeraten sind. Sie beratschlagen, probieren, werden ungeduldig – stoßen mit den Füßen gegen den, der da liegt. Schließlich sagt einer: ›Komm ein Stück weiter, der ist im Weg.‹ Sie gehen ein paar Schritte zur Seite und mühen sich weiter mit den Zügeln ab.«11

8. 9. 10. 11.

SW, Bd. 15, S. 300. Ebd., S. 303. Ebd., S. 314f. Ebd., S. 333f.

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(Korczak trifft bei einem Bettelgang den ehemaligen Jungen Szulc aus dem Dom Sierot. Die Umstehenden kennen beide:) »Korczak mit einem Schmuggler. …Eine Provokation. … Szulc aber berichtet mir gewissenhaft: ›Morgens trinkt er einen Viertelliter Milch, isst eine Semmel und zwei Deka Butter. Das kostet.‹ ›Und was soll das?‹ ›Er soll wissen, dass er einen Vater hat.‹ ›Hat er’s hinter den Ohren?‹ ›Nicht zu knapp. Mein Sohn.‹ ›Und deine Frau?‹ ›Eine erstklassige Frau.‹ ›Prügelt ihr euch?‹ ›Wir leben schon fünf Jahre zusammen, und ich hab’ sie noch keinmal angeschrien.‹ ›Aber du erinnerst dich?‹ Der Hauch von einem Lächeln. ›Ich denke oft ans Dom Sierot. Manchmal träume ich von ihnen oder von Frau Stefa.‹«12 »Ein Junge sagte beim Verlassen des Dom Sierot: ›Ohne dieses Heim hätte ich nicht gewusst, (dass es auf der Welt ehrliche Menschen gibt, die nicht stehlen. Hätte ich nicht gewusst,) dass man die Wahrheit sagen kann. Hätte ich nicht gewusst, dass es auf der Welt gerechte Gesetze gibt.«13 »Nach dem Krieg werden die Menschen einander lange nicht in die Augen sehen können, um darin nicht die Frage zu lesen: Wie kommt es, dass du durchgekommen bist? Was hast du getan?«14 26. Juni 1942: »Proust ist weitschweifig und geht zu sehr ins Detail? Oh, nein. – Jede Stunde – das ist ein dickes Heft, das ist eine Stunde Lektüre. Nun, ja. Du musst einen ganzen Tag lesen, um einigermaßen meinen Tag zu verstehen. Woche für Woche, Jahr für Jahr. Und wir wollen binnen weniger Stunden, mit dem geringsten Aufwand von ein paar Stunden ein ganzes Leben durchmessen. 12. Ebd., S. 341. 13. Ebd., S. 342. 14. Ebd., S. 350.

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So ist es nicht bestellt. Du wirst es in undeutlichen Verkürzungen, in einer nachlässigen Skizze kennen lernen – eine Episode für tausend, für hunderttausend.«15 »Ich habe einen Toiletten-Tarif festgelegt: 1. Für ein kleines Geschäft sind fünf Fliegen zu fangen. 2. Für ein großes – zweiter Klasse (Kübel-Hocker mit ausgesägter Öffnung) – zehn Fliegen. 3. Erster Klasse – Brille – fünfzehn Fliegen. Einer fragt: ›Kann ich hinterher bezahlen (mit Fliegen), ich muss so nötig.‹ Ein anderer: ›Geh nur, mach … Ich fang’ welche für dich.‹ Eine im Isolierzimmer gefangene Fliege zählt für zwei. ›Und zählt es, wenn eine getroffene Fliege entwischt?‹ … Wie das halt so geht. Aber die Fliegen sind weniger geworden. … So haben vor mehr als einem Dutzend Jahren die Kindergartenkinder in Gocławek für mich Wanzen gefangen. Der gute Wille der Gemeinschaft – eine Macht.«16 »Mein Leben ist schwierig, aber interessant gewesen. Um so eines hatte ich Gott in meiner Jugend gebeten. ›Gib mir, oh Herr, ein schweres, aber ein schönes, reiches, würdiges Leben.‹ Als ich erfuhr, dass Słowacki um das Gleiche gebeten hatte, war ich enttäuscht, dass es nicht meine Erfindung gewesen war, dass ich einen Vorgänger hatte. Als ich siebzehn war, begann ich, sogar an einem Roman Selbstmord zu schreiben. Dem Helden war das Leben aus Furcht, dem Wahnsinn verfallen zu können, verleidet.«17 15. Juli 1942: »Das Dom Sierot ist jetzt ein Altersheim. – Im Isolierzimmer habe ich jetzt sieben Bewohner, davon drei neue. – Alter der Patienten – vom Siebenjährigen bis zum sechzigjährigen Arzyle … . Die Kinder schleichen umher. Nur die äußere Haut ist normal. Darunter lauern Erschöpfung, Mutlosigkeit, Wut, Auflehnung, Misstrauen, Groll, Sehnsucht.«18 15. 16. 17. 18.

Ebd., S. 352. Ebd., S. 356. Ebd., S. 360. Ebd., S. 361.

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18. Juli 1942: » … gestern – eine Aufführung. – Die Post von Tagore. – Anerkennung beim Publikum. Ein Händedruck, Lächeln, Versuche, ein herzliches Gespräch einzuleiten. (Die Frau Vorsitzende besichtigte nach der Vorstellung das Heim und befand, es ginge eng zu hier, aber der geniale Korczak stelle sichtbar unter Beweis, dass er in einem Mauseloch Wunder vollbringen könne.) Darum wurden anderen Leuten Paläste zugesprochen.«19 21. Juli 1942: »Morgen werde ich dreiundsechzig oder vierundsechzig. … Es ist ein schweres Ding, geboren zu werden und leben zu lernen. Mir bleibt eine weitaus leichtere Aufgabe: zu sterben. – Nach dem Tod kann es wieder schwer werden, aber daran denke ich nicht. Das letzte Jahr oder der letzte Monat oder die letzte Stunde? Sterben möchte ich bewusst und bei Sinnen. Ich weiß nicht, was ich den Kindern beim Abschied sagen würde. Ich würde ihnen gerne so viel sagen, dass sie ihren Weg völlig frei wählen können.«20 22. Juli 1942: »Alles hat seine Grenzen, nur die dreiste Schamlosigkeit ist grenzenlos.«21 27. Juli 1942: »Der Regenbogen gestern. Der wundervolle große Mond überm Lager der Umherirrenden. Warum kann ich dieses unglückliche, geisteskranke Viertel nicht beruhigen? Nur ein einziges kurzes Kommuniqué. Die Behörden könnten es genehmigen. Schlimmstenfalls verbieten. Ein so einleuchtender Plan:« Der Tagebuchschreiber verbalisiert den Wahnsinnsplan der Nazis: »Erklärt euch, wählt. Bequeme Wege haben wir nicht zu bieten. Aufs Bridgespiel, aufs Strandbad muss vorerst verzichtet werden, auch auf das wohlschmeckende, mit dem Blut der Schmuggler bezahlte Essen. Wählt: entweder auf die Reise oder Arbeit am Ort. Wenn ihr bleibt, müsst ihr tun, was für die Umsiedler notwendig ist. Der Herbst rückt näher. Sie werden Kleidung, Schuhwerk, Wäsche, Werkzeug brauchen. … Wir leiten ein gigantisches Unternehmen. Sein Name ist: Krieg. – Wir arbeiten planmäßig, diszipliniert, methodisch. – Eure kleinen Geschäfte, Ehrbegriffe, Gefühle, Launen, Vorwürfe, Klagen, Gelüste interessieren uns nicht. 19. Ebd., S. 363. 20. Ebd., S. 368. 21. Ebd., S. 368.

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Gewiss, die Mutter, der Mann, das Kind, die Greisen – ein ererbtes Möbelstück, eine Lieblingsspeise – das ist alles nett, bieder, rührend. –Aber vorerst gibt es Wichtigeres. – In einer freien Minute kommen wir auch auf diese Dinge zurück. Inzwischen, um die Geschichte nicht unnötig auszudehnen, muss es ein bisschen rau, schmerzhaft und, ich möchte sagen, ohne besondere Präzision, Eleganz, ja sogar Gründlichkeit zugehen. Grobschlächtig für den aktuellen, zeitlich festgesetzten Gebrauch. Ihr seufzt doch selber, es möge endlich vorbei sein. Wir auch. Also behindert uns nicht. Die Juden nach Osten. Darüber wird nicht mehr gefeilscht. … Wir Deutschen – es geht nicht um das Aushängeschild, sondern um den Preis, die Vorbestimmung der Erzeugnisse. Wir sind die Eisenwalze oder der Pflug oder die Sichel. – Hauptsache, aus diesem Mehl wird Brot. Und es wird, wenn ihr uns nicht hindert. Uns nicht in die Quere kommt. Nicht winselt – uns nicht aufregt – nicht die Luft verpestet. – Selbst wenn ihr uns mitunter leid tut, wir müssen dennoch mit der Peitsche, dem Knüppel oder mit Eisen – denn Ordnung muss sein. Ein Plakat. ›Wer dies und jenes tut – Erschießung.‹ ›Wer dies oder jenes nicht tut – den erschießen wir.‹ … Für euch ist es schwer, und für uns ist es auch nicht leicht. Umso mehr, als es das Buffet nicht mehr gibt, hinter dem man sich seinerzeit verstecken konnte vor einer schwierigen Debatte. Mein Freund, du bist gezwungen, dir diese programmatische Rede der GESCHICHTE – in der ein neues Blatt aufgeblättert wurde – anzuhören.«22 1. August 1942: »Wenn die Kartoffelstauden allzu üppig wuchsen, fuhr eine schwere Walze über sie hinweg und walzte sie nieder, damit die Frucht noch Zeit hatte, in der Erde auszureifen. … In Myszniec war ein alter, blinder Jude zurückgeblieben. Er schlurfte, auf einen Stock gestützt, zwischen den Wagen, Pferden, Kosaken, Kanonen umher. – Wie grausam, einen blinden Greis zurückzulassen. ›Sie wollten ihn mitnehmen‹, sagt Nascia. ›Er sträubte sich, er geht nicht weg, einer muss auf das Bethaus aufpassen.‹ Mit Nascia schloss ich Bekanntschaft, als ich ihr half, ihr Eimerchen wiederzufinden, das ihr ein Soldat weggenommen hatte und zurückbringen wollte, aber nicht zurückbrachte. 22. Ebd., S. 369ff.

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Ich bin der blinde Jude, und ich bin Nastka.23 … Schon lange habe ich die Welt nicht mehr gesegnet. Diese Nacht habe ich es versucht – es schlug fehl. … Von Tag zu Tag verändert sich das Gesicht dieses Viertels. 1. Gefängnis. 2. Pestverseuchte. 3. Balzplatz. 4. Irrenhaus. 5. Spielcasino. Monaco. Einsatz – der Kopf.«24 Am Ende des Tagebuches kehrt der Chronist, nachdem er am Abgrund der Tragödie dem Allerschlimmsten in die Augen gesehen hat – wie in einem »Dennoch« des Glaubens an das Gute – zurück zu seiner humanistischen Grundhaltung (Unkundige könnten spotten: zurück zur Einfalt des Unrealisten): 4. August 1942: »Ich wünsche niemandem etwas Böses. – Ich kann das nicht. Ich weiß nicht, wie man das macht. … Ich gieße die Blumen. Meine Glatze im Fenster – ein gutes Ziel? Er hat einen Karabiner. – Warum steht er da und sieht ruhig her? Er hat keinen Befehl. Und vielleicht war er als Zivilist Dorfschullehrer, vielleicht Notar, Straßenfeger in Leipzig, Kellner in Köln? Was würde er tun, wenn ich ihm zunickte? – Freundschaftlich mit der Hand grüßen? Vielleicht weiß er gar nicht, dass es so ist, wie es ist? Er kann erst gestern von weither gekommen sein …«25 5. August 1942: Das Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto – wie das gesamte Lebenswerk des großen Warschauer Humanisten, Schriftstellers und Pädagogen – finden ein jähes Ende: Korczak und seine Kinder treten ihren letzten Weg zum Umschlagplatz an. Korczaks langjähriger nicht-jüdischer Mitarbeiter Igor Newerly berichtet: »Bei meinen letzten Besuchen bei ihm im Ghetto hätte er mit mir gehen können, denn ich hatte noch einen gefälschten Passierschein bei mir. Er 23. Nastka ist die Diminutivform von Nascia. 24. Ebd., S. 373f. 25. Ebd., S. 377.

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lehnte ab. Mehr noch, er war überrascht. Er hatte ganz einfach nicht von mir erwartet, dass ich ihm einen so nichtswürdigen Vorschlag unterbreiten werde – die Kinder angesichts des Todes im Stich zu lassen!«26

26. Newerly, Igor: Einleitung …, a. a. O., S. XXXII.

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Sach- und Titelregister Die Titel der Veröffentlichungen sind kursiv gedruckt.

ABC-Zeitung 170 Abitur 28 Abneigung, s. Zuneigung und Abneigung Achtung, achten 33, 114, 155, 166, 175, 178–184, 190, 224, 239, 245 Affenliebe 35 Albernes Zeug 50, 171 Allein mit Gott. Gebete derer, die nicht beten 143 Amerika, Vereinigte Staaten, USA 166, 173, 201 Am Rednerpult 44 An den Industriellenkreis (in Erwiderung) 53 An die jüdische Berufsintelligenz in Polen 167 An meine zukünftigen Leser 171 Anschlagtafel 130 Ansprache am Grab von Wacław Nałkowski 79 Ansteckungsherd 44, 125 Antisemitismus 201, 212, 215, 222, 241 Anzeigen 136, 138 Aphorismen 41, 238, 240 Arbeit 44f, 52, 59, 72, 86f, 89, 124, 132, 145, 167–169, 177, 181, 184, 189–191, 201f, 204, 213, 223, 231, 254, 258, 266 Arbeit des Wachsens 113 Arbeiterkinder 120f Arbeitsbedingungen 52 Armut 79, 249 Arzt im Internat 194 Assimilation, assimiliert 78, 251 Aufopfern 157 Aufruf 248 Augenblick 113, 181, 209, 216, 244, 250, 257 Augenzinkern 242 Aureole 220 Ausbeutung 59, 68, 82 Aus dem Krieg 103 Aus dem Wochenblatt des Dom Sierot 98 Aus der Perspektive von Kindern 92 Ausnahmebehandlung 137 Aus Nasz Dom: Unsere Zeitung 122 Autobiographie, autobiographisch 199, 234, 263

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Sach- und Titelregister

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Bagatellen, Kleinigkeiten 123, 138, 177 Bauklötze 18 Beichte eines Schmetterlings 21, 91, 96f, 145, 210 beliebt, Beliebtheit, unbeliebt 134, 197f Benachteiligter, benachteiligte Klasse 35, 45, 59, 165, 222 Benennung, Bürgerqualifikation 134f, 195 Beobachtung, beobachten 37, 102, 115ff, 122, 127, 142, 150, 189, 211, 258 Beratungsbüro, Ein Beratungsbüro 255 Berlin 58, 65, 70, 72ff, 82, 258 Berson-Bauman-Spital 47, 50, 56, 67, 69, 82 Berufung 23, 138 besitzende Klasse, Besitzender 45, 59 Betreuung, Betreuungskommission 130, 132 Bewerbung, s. Gesuch an das Personalbüro des Judenrates Bewohner 134 Beziehungen, zwischenmenschliche 195, 197, 218 Beziehungsgefüge 197 Bibel 216, 219, 226, 240 Bielany 15, 211, 218, 259f Bilder aus dem Spital 67 Bildner (der kindlichen Seele) 83 Biographie 222, 224, 255 Blumen 284 Bobo 91–95, 97, 230, 234 Böses, das Böse 79, 114, 124, 126, 136, 180, 186, 222, 234ff, 238, 268 Briefkasten 130f Brief an: Cesia Rajchman 100 Dan Golding 17 Edwin Markuze 222 Jakub Kutalczuk 225 Józef Arnon 202f, 205, 222 Mieczysław Zylbertal 81f Regina Szawelson-Grosz 201 Rózia Ajzenstein 201 Bruch (mit M. Falska; dem Polnischen Rundfunk) 218 Brüderlichkeit 128, 140, 192 Bürgerqualifikation, s. Benennung Burse, Bursisten 116, 120, 152f, 157–160, 195, 202, 222 Charité 65 Chassidismus 147f, 150, 233 Cheder(schulen) 42, 64 China 201 Centos 222

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Sach- und Titelregister

Chłodna-Str. 250ff, 262 Credo 33, 55 Curriculum vitae 255, 257 Dank- und Entschuldigungsbuch 131 Das Fest des Kindes 191 Das Kind in der Familie 74, 109, 115, 122, 194, 230 Das kleine Spital 82 Das Frühlingsfest 118 Das Internat 122, 124, 154, 164, 244 »Das Junge Polen« 55 Das offene Fenster 176 Das Recht des Kindes als Individuum 184 Das Recht des Kindes auf Achtung 62, 155, 178, 181, 184, 235, 242, 260 Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag 110, 112ff Das Recht des Kindes auf den Tod 110, 114 Das Recht des Kindes, das zu sein, was es ist 110, 114 Das Recht des Kindes, die Rechte der Kinder 57 auf Einspruch 136 auf Fürsorge 79 auf Kindsein 114, 239 auf Klage, Anklage 134f auf die Mutterbrust 74 auf Poesie 248 auf Schönheit 248 Dekadenz 35, 54 Demokratie, demokratisch 51, 77, 87, 100f, 108, 129f, 134, 142, 161 Depression, depressiv 27, 83, 201, 218, 246 Der Abschied 119 Der »Alte Doktor« 212–215, 247 Der Bankrott des kleinen Jack 161, 164, 171 Der erste Brief 208 Der Erzieher als Verteidiger 176 Der Frühling und das Kind 152, 153, 183, 193, 234 Der Gestiefelte Kater 214, 257 Der Gordische Knoten 24 Der Herr war heute schlecht gelaunt 117 Der kleine Übeltäter 175 Der Mensch in der Gesellschaft 215 Der Regenbogen 42f Deserteur, Desertion, desertieren 83, 233 Deutsche 251f, 256, 259, 267 Diagnose, Diagnostik, Diagnostiker 28, 47, 115, 123, 135, 258, 262 Diaspora 167, 216, 219

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Sach- und Titelregister

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Dichter 92, 185, 209, 225 Didaktik, didaktisch 32, 36ff Die Einsamkeit der Jugend 230f Die Einsamkeit des Alters 148, 230, 233f Die Einsamkeit des Kindes 230f Die Elenden 35 Die Entwicklung der Idee der Nächstenliebe im 19. Jahrhundert 33 Die Gesellschaft der Kinder 189 Die Józeks, Jasieks und Franeks 75f Die Kaste der Autoritäten 176 Die Menschen sind gut 234ff Die Mojscheks, Joscheks und Sruleks 61, 75ff, 171 Die Mojscheks, Joscheks und Sruleks Eindrücke aus der Sommerkolonie in Daniłowo 65 Dienst am Kind 81f, 219 Dienste, s. Heimdienste »Die Post« 253, 266 Die Schule der Gegenwart 48 Die Schule des Lebens 57–60, 62, 77 Die verhängnisvolle Woche 51, 91, 96f Die Wandlung in den Auffassungen zur natürlichen Ernährung im Laufe von vier Jahren 73 Diplom 45f Dom Sierot (Haus der Waisen) 87, 90, 122, 127, 130 Drachen 226f Drei Reisen Herscheks 169, 241 Drei Strömungen 78 Dzielna-Str. 255, 257 Eichhörnchen 254 Eindrücke aus Berlin 65 Eindrücke und Betrachtungen 216f Einer gegen Tausende 79 Ein Freund der Kinder 102 Eine Handvoll Gedanken 41 [Ein Gespräch mit Janusz Korczak] 169 Ein hartnäckiger Junge. Das Leben des Louis Pasteur 224, 228 Ein schöner Film 202 Ein Tropfen Milch oder der Sonntag des Arztes 79 Einsamkeit 230–234 Ejn Harod (Kibbuz) 206, 208f, 216f, 225, 227 Elementarschule, s. Grundschule Elend, die Elenden 35, 42, 44, 49, 54, 64, 68, 82, 85, 192, 199 Emanzipation, emanzipatorisch 57, 76, 79, 85ff, 170, 182

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Sach- und Titelregister

Entdeckung 39f Entscheidung 147–151, 167, 223, 232, 261 Entwicklung, körperliche 73–75, 84ff, 91f, 95, 97, 102, 111, 114, 176, 178, 223, 230, 235 Entwicklungsphasen 110 Episode 154f, 163, 182, 235, 265 Erbanlage, erblich 70, 125 Eretz Israel 167f, 201f, 216, 238, 240, 242 Erfahrung, Erfahrungslernen 35, 42, 51, 55f, 62, 70, 82, 96, 100, 110, 112, 122, 124, 126, 128, 136, 139, 152, 157, 165, 177, 179, 185, 187, 189, 201, 206, 211, 244 [Erinnerung an Jadwiga Dawidowa] 78 Erster Weltkrieg 100, 103, 106ff, 117f, 166, 170, 250 Erzieher, Erzieherin 28, 41, 68, 84, 87f, 91, 100f, 110f, 113, 116, 120f, 123–128, 130f, 135f, 139f, 145, 152, 157–159, 164, 176, 180, 182f, 191f, 199, 205, 216, 222, 239, 244f, 254f, 257 Erzieherischer Bericht 257 Erziehung 23f, 29, 33–36, 38, 41, 47f, 57, 60–62, 65f, 77f, 81f, 87, 91, 100f, 106, 109–113, 115–117, 120–123, 129, 135, 140, 142, 146f, 149f, 152, 158, 173, 175, 177, 182f, 189f, 207, 212, 223f, 240, 243, 246, 254, 258 Erziehungsbegriff 175, 223 Erziehungsdiagnostik 115 Erziehungskunst 228, 239 Erziehungskunst 41, 238f Erziehungsmodell 109, 128, 135, 141, 143 Erziehungsmomente 102f, 115 Esterkas Geheimnis 238 Ethik 217, 224 Eugenik 29, 192ff, 258 Experiment, experimentieren, experimentell 84, 116, 135, 139, 158, 178, 194f, 211f, 218, 242, 255 Favoriten 78 Fehler 79, 114, 126f, 159, 176, 178, 188, 196f, 209, 235, 243, 259 Flecktyphus 143 Fliegende Universität, s. Universität Flügel 86f, 228 Forest Hill 80f forschen, Forscher, Forschung 38, 70, 175, 205, 239 Freiheit 50f, 80, 111, 120, 142, 186, 196, 215, 221, 224, 252 Freizeit-Klubs, s. Kinderklubs freudlos 222 fröhlich, Fröhlichkeit 33, 64, 118, 181, 186, 214, 221, 225, 229, 239, 243, 245 Fröhliche Pädagogik 231, 242ff Frühling 25

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Sach- und Titelregister

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Frühling 26, 99, 118, 153, 165 Fundsachen, Fundsachenschrank, -kiste 231, 254 Für den Schutz des Kindes 204 Für ein neues Epos 216 Fürsorge, Waisenfürsorge 47, 79, 80, 111–114, 120, 184, 224, 248, 250, 255, 256 Gebet, Gebet 97ff, 143–146, 209 Gebet der Traurigkeit 143 Gebet eines Erziehers 145 Geburtsurkunde 15 Gedankensplitter 82 Gedicht 22, 186, 210 Geehrter Herr Stanisław! 57 Gefängnis 73, 257, 266, 268 Gefühl, fühlen (auch Emotionen) 19, 38f, 51, 96f, 102, 106, 111, 124f, 133f, 148, 157, 164, 166, 169, 177, 179, 185f, 195f, 204, 214, 217f, 244f, 247f, 266 Gefühl 177f Gegenwart 112f, 206 Geheimnis 48, 86, 123, 154, 199, 239f Gehirn oder Magen 38f »Genfer Erklärung« 183 Genossenschaft, genossenschaftlich 164 Geranien 249 gerecht, Gerechtigkeit 106, 119, 128, 130, 140, 147, 171, 176, 193f, 219, 264 Gericht, s. Kameradschaftsgericht Gerichtskodex 137 Gerichtsrat 138 gesellschaftspolitische Bedeutung 140 Gesetze 240 Gesetzmäßigkeiten 123 Gesuch (an das Personalbüro) 29, 80, 255f Gesuch (an Joint) 250f Gesundheitszustand 262 Gewissen 128, 146 Ghetto-Tagebuch 260ff Glaube 192, 223f, 235 Gleichberechtigung 78, 135, 163 Glück, beglücken 33, 40f, 56, 79, 98, 101, 179, 192, 222, 232, 237, 244, 248 Goldener Lorbeer 222 Gott, göttlich 98f, 106, 113, 119, 126, 143ff, 168, 176, 191f, 209, 217, 237, 240f, 250, 252, 265 Gottesdienst 252 Große Charta der Freiheit 109f Grundgesetz für das Kind 110, 155 Grundrechte 111f, 155, 181, 183

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Sach- und Titelregister

Grundschule, Grundschüler, Grundschulzeit 19f, 96, 211, 262 Gruppenerziehung 121 Gutes, das Gute 79, 98f, 102, 114, 135, 146, 180, 186f, 223, 234ff, 239, 249 Gymnasium, Gymnasialzeit 21, 28 Haifa 206, 208 Haft, Verhaftung, s. Gefängnis Handarbeit 158, 194 handeln, Handlung 51, 147, 149–151, 177, 190 Haskala 15, 79 Haus der Kinder, Haus der Arbeit 86 Heimdienste 69, 130–132 Heimzeitung, s. Zeitung Herrenlose Kinder 72 Herschele [Fragment] 168 Herz 38f, 102, 155, 182, 189, 199, 209, 212, 215, 228, 236f, 244, 249, 253, 255, 260 »Hilfe für Waisen« 68f, 77, 80–85, 87, 152, 202, 236, 247 Humor 36, 76, 231, 243, 244 Humoreske 38, 44, 192 Hygienegesellschaft 38, 153 Ihr werdet euch ein Leben lang erinnern 254 Im Lazarettzug 50 Im Waisenhaus 192 Ich weiß nicht 109 Illusionen 59, 124, 126, 166, 223, 252, 257 Illusionen 220f Individualität 59, 114, 120 Industrial School, Arbeitsschule 81 Institutionen 72, 129ff, 133f, 140f, 194, 254ff Inspiration 84, 186, 199 Intellekt, Intellektueller, Intelligenz 44, 51f, 167, 177f, 195, 197 Internat, Internatserziehung, Internatsreform 85–87, 90, 125, 194, 222, 255 Intimsphäre 131 Irrenanstalt, -haus 26, 268 Irrtum, Irren 41, 222, 230 25 Jahre 202 Jahrhundert des Kindes 60 Jerusalem 216, 219 Joint 250f Jude, Judentum, Judenfrage, jüdisch, jiddisch 15, 17, 44, 48f, 76, 78–81, 88, 103–106, 117, 119, 147, 166–168, 205, 209–211, 215f, 218, 220, 222f, 236–238, 249–252, 256, 262f, 265, 267 Jugend, Jugendliche 34, 37, 75, 78, 88, 97, 157–159, 164, 168, 183–185, 190, 194, 214, 220, 221, 224, 228, 230, 234, 237, 247f

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Jugendpresse, s. Kinderpresse »Junges Polen« 55 Jewish Agency for Palestine 168 Kajtuś, der Zauberer 21, 198ff, 228 Kamerad 134 Kameradschaftsgericht 76f, 89, 97, 100f, 130, 134ff, 138f, 141, 159, 194, 254 Kanarienvogel 17, 249 Kapitalismus, kapitalistische Gesellschaft 50f Karitative Arbeit 258 Katharsis 56 Kennenlernen 101, 114, 116 Kiew 100, 102, 115, 120, 259 Kind des Salons 45, 53, 55, 171 Kinderbücher 65, 75, 77, 161ff, 212 Kinder der Bibel: Mose 226, 238, 240 Kinder der Straße 36 Kindergarten, Kindergärtnerin 152, 156, 196f, 214, 265 Kindergericht s. Kameradschaftsgericht Kinderklubs 43, 76 Kinderpresse 161, 170 Kinderrechte (spezielle), s. Das Recht des Kindes auf Kinderrepublik 84, 129f, 141 Kinderschutz 74, 183 Kindersendung 212 Kindersprache 163 Kinder und Erziehung 33f, 146 Kinder- und Jugendpresse 106 Kinder – vergöttert – und Kinder der Armut 184 Kindheit 17, 19, 86, 112f, 153f, 157, 176, 178, 222, 262 Kindsein 114, 156, 239 Kleine Rundschau 122, 169ff, 241 Kleinigkeiten, s. Bagatellen Kleinkindwaage in der privaten Praxis 73 Kleinwüchsiges Volk 165 Klub, Zirkel, s. Kinderklubs Kodex, Gerichtskodex, Rechtskodex 159, 164 Kollegialgericht, s. Kameradschaftsgericht kollektives Bewusstsein 178 Kommunikation 76, 90, 133, 156, 169, 172 Konferenzen 130, 133 Konfession 47 Konflikte 139f, 162, 218, 238 König Maciuś der Erste 20, 77, 108, 161, 171, 228 König Maciuś auf der einsamen Insel 108, 161, 228

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Sach- und Titelregister

Konspiration, konspirativ 68, 258 konstitutionelle Erziehung, Struktur, Funktion 139f konstitutioneller Erzieher, Pädagoge 140f Krankenkasse 203 Kriegsdienst 100f Kriminelle Kinder 176, 258 Krise 127, 223, 246 Kriterium 55 Kritik an der Gesellschaft, der Pädagogik, der Selbstverwaltung 194, 204 Krochmalna-Str. 77, 80, 84, 101, 215, 225, 228, 246f, 249, 250 Kryptonyme 24, 34, 44, 53 labeling approach 180 Lachen, lächeln 33, 40 Laden 130f Landerziehungsheime 60 Landwirtschaft (auch Farm) 152f, 217, 248 Laune 117, 226, 266 Lazarett, -dienst, -zug 45 learning by doing 62 Lebenslauf 262 Lebensläufe 37, 240 Lebensregeln. Pädagogik für Jugendliche und Erwachsene 25, 134, 184f, 235 Lebensziel, Lebensprogramm 22, 85 Lehrer 19, 41, 56, 57, 80, 117f, 164, 165, 175, 189, 199, 204, 206, 211f, 215, 243 Leichen von Kindern 256 Lernen aus Erfahrung 127, 159 lernende Erzieher 127 liebendes Interesse 76 Liebling, -sspeise 197, 267 Liebe, lieben, liebevoll, Menschenliebe 21f, 33, 114, 119, 126, 140, 157, 192, 199, 207, 235, 238, 245 Lindenhof 65 literarisch, Literat 51, 53, 57, 68, 73, 75, 199, 222 London 65, 80ff, 215, 258 Lorbeer, Goldener 222 Macht- und Herrschaftsstrukturen 96, 141, 165 Maciuś, s. König Maciuś Magna Charta Libertatis, s. Große Charta Major, Arzt im Majorsrang 118 Märchen 164, 199, 214, 257 Medizin (im Vergleich), Medizinwissenschaft 45, 115, 148, 189, 204f, 258 Medizin in Selbstverwaltung 51 Mehrwert der Gruppe 64

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Mein letztes Gedicht 22 Meine weisen Gedanken 41 Mensch des einsamen Weges 168 Menschenfeinde, Menschenfreunde 196, 235 Menschenrechte 48, 57, 176, 181f Menschheit, unbehauste 221, 223 Messen 75, 258 Methodik für die Gruppenerziehung 121 Michałówka 41, 62, 75, 126 Milieu 34, 36, 124 Militärdienst, s. Kriegsdienst Missachtung, missachten 127, 136, 165, 166, 178, 179f Missbrauch von Kindern 204 Misstrauen 112, 211, 265 Mögen und Nicht-Mögen 187 Moral, moralisch 35, 121, 125, 184, 223, 235 Morgenrot 210 Musizieren 158 Mutter (von Henryk Goldszmit) 16, 18, 25, 27, 57, 143, 226 Nachhilfeunterricht 23, 25 Nasz Dom 120f, 141, 152, 195, 198 »neue Erziehung«, nowe wychowanie 61 Notariatsbuch 131 Notleidende 35 Notiz auf einem Zettel ohne Datum 220 Notizen eines Betreuers 42, 43 [Notizen für Vorträge über Palästina] 217 Oase 219, 220 Öffentlichkeit, öffentlich 57, 87, 90, 97f, 127, 129, 140–142, 156, 161, 166, 178, 211 Offiziersuniform 143 Pädagoge 14, 18, 28, 31, 37, 60, 82, 91, 112, 119, 121, 123, 140f, 155, 228 Pädagogik 36, 38, 61f, 68f, 84, 91, 113, 115, 120, 148, 175, 204f, 231, 243 Pädiatrie, Pädiater 73f Pädologie 156, 178 Palästina 167f, 201–203, 205f, 208, 211, 213, 216–219, 225f, 229, 230, 240f, 246, 258 Pamiętnik (Tagebuch – Erinnerungen) 15, 17, 22, 56, 78, 83, 100, 146, 218, 254, 260, 261f Paris 65, 70, 73f, 224, 258 Parlament, Sejm 107, 117, 133f, 162 Partizipation 141f, 163 Partnerschaftlichkeit, partnerschaftlich 77, 174 Passierschein 268

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Sach- und Titelregister

Perspektive von Kindern, Perspektivenwechsel, perspektivisch 37, 51, 55f, 85, 91f, 97, 164f Pflicht, Pflichten 22, 40, 64, 118, 128, 137, 140, 167, 179f, 182f, 221, 250 Phantasie, phantastisch, phantasievoll (auch schöpferisch) 37ff, 51, 76, 186, 190, 199, 241 Philanthropie, philantropisch 44f, 119f Philosoph, philosophieren 17, 185, 237 Plauderei, plaudern 212f, 215, 228, 242 Plebiszit 134f, 195, 254 Plebiszite der Zuneigung und Abneigung 195f Poet, Poesie, poetisch 91, 95, 125, 161, 163, 169, 184, 211, 216, 243 Politik, Politiker, politisch 72, 106ff, 161, 258 politische Bildung 107f Polnisch-Amerikanisches Komitee 117, 153 Polnische Gesellschaft für Pädiatrie 153 Polnischer Kulturverein 73 Polnischer Lehrerverband 77 Polnischer Rundfunk, s. Rundfunk Polnisches Gesundheitssystem 51 Polnisches Hilfskomitee 100 Polnische Sozialdemokratie 44 Polnische Sozialistische Partei, Sozialismus 53, 66, 73 Polnischer Verband zur Gleichberechtigung der Frauen 72 Praktiker, praktisch, Praxis 74, 124, 176f, 190, 204, 243f Praktikanten, s. Bursisten Priester 165, 176, 183, 192, 249 Prinzipien 59, 116, 120, 140, 159 Privateigentum 131 privilegierte Schicht 48 programmatische Rede 85, 267 Proletariat, Proletarier 44, 49, 55, 58, 66 Promotion 45 Prügel, Prügeleien unter Kindern (zum Schlagen von Kinder s. Schlagen) 188, 198, 244, 264 Pruszków 120, 259 Quellen der Nachsicht 117 Radio, s. Rundfunk Realist, Realität, real, realistisch 114, 126, 241, 244, 248, 254 Recht, Rechte 51, 53, 57, 65, 68, 79, 81, 109, 113f, 118, 128, 140f, 143, 155, 173f, 176, 178, 193, 196, 211, 216, 221, 239, 244, 248 Rechte des Kindes, spezielle Rechte der Kinder, s. Das Recht des Kindes Rechtlosigkeit 83, 184 Reflexion, reflektieren, Selbstreflexion 109, 116, 122, 124, 127, 159, 169, 230, 240

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Sach- und Titelregister

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Reflexionen 226 Reformpädagoge, Reformpädagogik, Reformer, reformieren, reformorientiert 22f, 47, 58, 60, 62, 84f, 109, 161, 164, 170 Regal 88, 130f, 134, 257 Regeln 186, 188; s. auch Lebensregeln Regenbogen 42f, 192, 266 Reglement des Dom Sierot 135 Regression 91, 97, 164 Reisemosaik 31 Reise, Reisepläne 215, 266 Religion 145ff Religion, religiös 21, 55, 145ff, 166, 252 Revolution, revolutionär 38, 51, 103, 106, 142, 213, 248, 258, 261 Rezepte 109, 190 Richter 136, 139, 154, 159, 192 Rights of the Child 110 Röntgenlabor, -strahlen, -abteilung 189, 215, 262 Różyczka 152f, 195, 222, 246, 248f Ruf des Lebens 148, 233 Ruhm 85 Rundfunk, Radio, Polnischer Rundfunk 175, 191f, 199, 204, 212, 214f, 218, 230, 243, 247 Russisch-japanischer Krieg 45, 49f Sache des Kindes 86, 249 Salizylsäure 67, 82 Satire 44 Säuglingspflege 73 Säugligswaage 74 Scheidungsprozess 148 Schlagen (von Kindern), (Kinder) prügeln, verprügeln 19, 89, 117, 183f, 240, 264 Schrank (Schublade) für Fundsachen u. Privates 130f Schule des Lebens 82, 86; s. auch Die Schule des Lebens »Schule des Volkes« 58 Schulen 19f, 31, 33, 44, 48, 50, 52, 57–61, 72, 77, 80f, 86f, 91, 96, 117f, 139, 155f, 162, 172, 174, 179, 191, 196, 204, 206, 211, 214, 238, 243, 258 Schülerpresse 155 Schulgericht s. Kameradschaftsgericht Schwarze Pädagogik 178 Schweiz, Schweizreise 31f Sehnsucht, sehnen 22, 42, 56, 114, 118f, 125, 145–147, 199, 201, 205, 242, 253, 265 Sejm, s. Parlament Selbstbestimmung, Selbsttätigkeit, Selbstorganisation, Selbstregulierung 62, 69, 114, 141, 161f, 174, 180

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Sach- und Titelregister

Selbsterziehung, Selbstkritik 134, 159, 188 Selbstkontrolle 89, 120 Selbstmord 265 Selbstverwaltung 51, 76f, 86, 100f, 129f, 134f, 140, 142, 170, 174, 194, 254 Selbstverwaltungsrat 138 Senat der Verrückten 27, 192ff Sienna-Str. 47, 253f, 256, 258, 262 Singen 158 Situation, Situationsdenken 147, 150f Śliska-Str. 47, 56, 253f, 256, 259, 261 Sklave, Sklaverei 81, 153, 221, 228 Solidarität, solidarisch 49, 76, 85, 167 Sommerkolonie 34, 41f, 62, 65, 75, 76, 82, 126, 128, 203, 214, 248, 258 Sommerkolonien 122, 126 Sorgenkinder 65, 70 Souverenität 107 Sozialisten 251 Sozialarbeit, soziale Arbeit 29, 34, 41, 258 Sozialisation 134 Sozialkritiker 45, 53 Sozialpädagoge 31, 34, 53, 189 Soziometrie, soziometrische Forschung 175, 195 Spiel 158, 164, 186, 191f, 194, 197f, 217, 221, 227, 268 Spitäler 82 Sport 158, 164 Statistik 29, 258 Statt einer Berichterstattung 49 Sterblichkeitsrate 256 Stilltechnik bei Säuglingen 73 Straßenkinder 35, 255f Symptome 115, 123 Synthese des Kindes 70 Tag der (polnischen) Verfassung 118 Tag des Kindes 191f Tagebuch 21, 23, 54, 76, 85, 96f, 131, 210, 234, 247, 260, 266, 268 Tagebuch – Erinnerungen, s. Pamiętnik Takt, taktvoll 187, 198, 225 Tanz 168 Tatsachenbilanz 223 Theater 175, 191–193, 253 Theoretiker, theoretisch, theoretisieren, Theorie 159, 176, 190, 239, 243 Theorie und Praxis der Erziehung 121, 123, 175, 235 Theorie und Praxis 235

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Sach- und Titelregister

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Tränen (auch: weinen) 40, 55, 79, 115, 123, 125, 128, 134, 143, 181, 184, 192, 207f, 220, 227, 261 Traum, träumen 22, 43, 62, 85, 97, 180, 185f, 199ff, 228, 231, 241, 264 Träume eines Kindes 200, 204 Über den Krieg 50 Über die Bedeutung des Stillens von Kleinkindern 73 Über die Einsamkeit 230 Über die Erziehung der Kinder 57 Über die Rettung von Kindern 223 Über die Schulzeitung 122, 152f, 155, 156 Über Palästina 211 Über Schläge für Kinder 184 (Anm. 22) Umschlagplatz 268 Unbeliebtheit 198 unbehaust 144, 221, 223 Und was fehlt dir? 82 Universität 28–30, 36, 46, 54, 78, 82, 84, 157, 189, 258 unterdrückte soziale, gesellschaftl. Schicht 170, 221 unterprevilegiert 57, 82 Unverschämt kurz 169 Utopie, utopisch 57, 58, 169 Vater (von Henryk Goldszmit) 15, 18, 25ff »Vater fremder Kinder« 68 Verantwortung, Verantwortungsbereitschaft 113, 147, 150f, 167, 217 Vererbung 50 Verhaftung, s. Gefängnis Verrat 83, 148, 249 Versöhnen 197 Vertrauen 33, 114, 124, 178, 180, 190, 211 Verwaist, Verwaisung 68, 83, 166f Verzeihen 180, 197 Volksbildung 32, 36 »von ganz unten« 54 Vorlesung 189 Vorschule, Vorschulalter, Vorschulkinder 19, 195 Wahl 148, 195f, 223, 266 Wahrheit 41, 55, 93, 97, 119, 127f, 147, 160, 173, 177, 190, 192f, 209, 222, 224, 238, 240f, 264 Warschauer Elend 35 Was auf der Welt passiert 106, 107, 108 Was kommt? 82 Weinen, s. Tränen Wenn ich wieder klein bin 51, 97, 161, 164f

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Sach- und Titelregister

»Wenn jemand fragt, wie viel 2 x 2 ist …« 101 Wer kann Erzieher werden? 207 Wetten 188 Waage, wiegen 74f Wie können die Kinder am besten die Ferien verbringen? 62 Wie liebt man ein Kind 70, 85, 100, 106, 109, 115, 122, 127, 148, 178 Wie man ein Kind lieben soll 109 (Anm. 3) Wilhelmówka 66, 75 Wille, freier Wille, Willensbildung 34, 111f, 114, 128, 135, 145, 180, 188, 199, 221, 224, 232, 265 Wirtschaftskrise 201 Wissenschaft, wissenschaftlich 38, 41, 48, 58, 74, 91, 109, 117, 155, 200 Wochenblatt des Dom Sierot 158 Wohin? 26, 32 Wohltätigkeitsgesellschaft 54 Würde, würdig 79, 146, 155, 181, 183f, 224, 249, 265 Zaubern, Zaubergeist, Zauberkraft 164f, 198, 199f, 223 Zeitung, Heimz., Wochenblatt … 87–91, 98–101, 104, 121f, 129, 133, 152, 155f, 158, 170, 194, 211, 254f, 259 Zentrales Findelhaus 255ff, 262 Zentralkomitee für Kinderhilfe 117 Zettel 189f Zionisten, Zionistenkongress, Zionismus 166, 168f, 211, 217, 225, 251 Zivilcourage 156 Złota-Str. 203, 221, 225 Zukunft 112f, 125, 167, 185, 192, 193f, 205f, 210, 246, 251 Zuneigung und Abneigung 40, 196, 197 Zuneigung und Abneigung 195, 235 Żurawia-Str. 203, 221 Zur Eröffnung des Dom Sierot 85 Zur gesellschaftlichen u. päd. Bedeutung von »Nasz Dom« 120f Zweifel, Zweifler 97, 109, 145, 194, 201 Zweite Polnische Republik 107, 117 Zweiter Weltkrieg 218, 246

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Namenregister Ajzenstajn, Rózia 201 Amiel, Henri Frédéric 96 Anweiler, Oskar 62 Archimedes 37 Arnon, Józef 202f, 205f, 215, 216, 222 Arzylewski, Henryk 265 Asnyk, Adam 210, 258 Baginsky, Adolf 65 Bark, Joachim 58 Bauman, Salomon 47 Bauman, Paulina 47 Baumgarten, Franziska 68 Beiner, Friedhelm 28, 31, 53, 65f, 69, 89, 91, 101, 113, 127, 132, 135, 139, 147, 160, 175, 188f, 200, 212, 228, 247, 251, 257 Berson, Chaja 47 Berson, Jan 47 Berson, Majer 47 Berson, Mathias 47 Bertisch, Roman 200 Biberman, Sara 159 Blankertz, Stefan 61 Bobińska, Helena 37 Bocian, Yona (Tosia) 250 Bouchand, Baptiste 74 Braude-Hellerowa, Anna 256 Brendler, Konrad 144 Brodziński, Kazimierz 146 Brzeziński, Mieczysław 32 Brzozowski, Stanisław 44, 57, 147 Buber, Martin 147, 149ff Bystrzycki, Kazimierz (= Brzeziński, Miecysław) 32 Caesar 216 Cichocki, W. 46 Cohn, Maksymilian 152 Curie-Skłodowska, Marie 29 Cywiński, Bohdan 30 Czerniaków, Adam 168

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Dauzenroth, Erich 53, 91, 206 Dawid, Jan Władysław 29, 44, 61, 78, 258 Dawidowa, Jadwiga 78 Dembiński, Asam 132 Demolins, Edmond 61 Dewey, John 60 Dollase, Rainer 195 Donaldson, Margaret 91 Dostojewski, Fedor 21, 216 Dufour, Leon 74 Dygański, Adolf 258 Eccles, John C. 95 Eliasberg, Izaak 69, 119, 152 Eliasbergowa, Stella 68f, 247, 250 Engels, Friedrich 29 Ermert, Karl 173 Falkowska, Maria 15, 21, 41, 73, 117, 120, 153, 194, 202 Falska, geb. Rogowska, Maria (Maryna) 101f, 120, 121, 134, 136– 138, 141, 218, 260 Finkelstein, Heinrich 65 Flavius, Josef 216 Frank, Hans 252 Fröbel, Friedrich W. A. 23 Gądzikiewicz, Witold 31 Gębicka, Emilia (Mina) 16 Gębicki, Józef Adolf 16 Gehlen, Arnold 129, 182 Gilead, Zerubawel 225, 227f Goebbels, Joseph Paul 252 Gogol, Samuel (Szmul) 139 Goldbaum, Maksimilian 69 Golding, Dan 17 Goldszmit, Cecylia 16, 143, 225 Goldszmit, Chana 16 Goldszmit, Henryk 13, 15, 34, 45f, 53, 69, 73, 84, 96, 203, 212, 259 Goldszmit, Jakub 16

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Namenregister

Goldszmit, Józef 15f, 25 Goldszmit, Ludwik 16 Göring, Hermann 252 Görtzen, René 144 Graubner, Berd 65 Grönemeyer, Herbert 161 Grundtvig, Nicolai F. 60 Grzegorzewska, Maria 175, 189 Halecki, Oskar 153 Hammurabi 216 Harari, Leon 172, 173 Hentig, Hartmut von 129, 161f Herbart, Johann Friedrich 111, 198 Herder, Johann G. 182 Hermeier, Philipp 141f Herodot 216 Hirszfeld, Ludwik 255 Hitler, Adolf 216, 252 Hoover, Herbert C. 69 Hugo, Victor 35 Jastrzębska, Natalia 73 Kant, Immanuel 181f Karg, Heidi 147 Karpowicz, Stanisław 61 Kautsky, Karl 51 Key, Ellen 60 Kirchhoff, Hella 147 Kirchner, Hanna 163, 243 Kirchner, Michael 113 Kneipp, Sebastian 32 Koestler, Nora 104, 106 Kolumbus 243 Kończyc, Tadeus 36 Konopnicka, Maria 69, 258 Kopernikus, Nikolaus 243 Kowalski, Mieczysław 256f Kraszewski, Józef I. 26 Krzywicki, Ludwik 29, 44, 73 Kurzweil, Zwi Erich 91 Kutalczuk, Jakub 225 Kwiatkowska, Anna 66 Langstein, Leo 65 Lassalle, Ferdinand 57

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Lavoisier, Antoine L. 37 Lenhart, Volker 62 Lenski, Mordechaj 262 Levinas, Emmanuel 224 Lewin, Aleksander 31, 109, 173f, 247, 248, 250–253, 261f Licharz, Werner 147 Liciński, Ludwik S. 30, 54 Lietz, Hermann 61 Lifczyc, Fejga 202f, 206 Lui, Anna, geb. Goldszmit 225 Mahrburg, Adam 29 Mar, Stanisław 183 Markiewicz, Stanisław 258 Markuze, Edwin 222 Marx, Karl 29 Matiasiak, Branisława 213 Mazyl, Maurycy 69 Merżan, Ida 156f Meyer, Ludwik F. 65 Miąso, J. 73 Mickiewicz, Adam 177, 244 Moreno, Jacob Levy 195 Mortkowicz, Jakub 75 Mortkowicz-Olczakowa, Hanna 56, 84, 212, 218, 246–251 Muttermilch, Michał 49 Nałkowski, Wacław 29, 41, 44, 79, 258 Nałkowska, Zofia 41 Napoleon 37 Nasonow, Nikolaj 29 Natzmer, Friederike von 147 Nehustai, Ada 188 Newerly, Igor, auch: Abramow 15, 19, 29, 55, 100, 148f, 170, 172f, 210, 260ff, 268f Nietzsche, Friedrich 55 Nowmiński, Adam 213 Oelkers, Jürgen 91 Osińska, Teresa 89, 188 Paderewski, Jan Ignacy 26 Pasteur, Louis 222, 224, 228

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Namenregister

Peretjatkowicz, Janina 100f Peretjatkowicz, Wacława 100, 102 Pestalozzi, Heinrich 23, 30f, 68, 236 Piaget, Jean 194 Piłsudski, Józef 69, 107, 215, 226, 258 Piotrowski, Jan 68, 214, 247 Popper, Karl R. 95 Portmann, Adolf 92 Poznańska, Ada 195f Prus, Bolesław 28ff, 258 Przewóski, Edward 29 Przybyszewski, Stanisław 44 Racine, Jean 216 Radliński, Ignacy 29 Rajchman, Cesia 100 Reble, Albert 60 Rechniewski, Tadeusz 66 Reddie, Cecil 61 Rogalski, Stanisław 211f Rogowska-Falska, Maria, s. Falska Röhrs, Hermann 60, 62 Ronen, Aza 206 Roos, Hans 21, 29f, 44, 147 Rosenzweig, Franz 113 Rousseau, Jean-Jacques 112 Roussell, Theophile 74 Rutschky, Katharina 178 Rygier, Leon 28, 34f Schaar-Jaschuf 172 Schazki, Stanislav T. 61 Schleiermacher, Friedrich 112 Sempołowska, Stefania 30, 36f, 183 Shakespeare, William 216 Sienkiewicz, Henryk 216 Sigmund III. 243 Simchoni, Dawid u. Fam. 213 Simon, Ernst 91 Skarga, Piotr 243 Słowacki, Juliusz 243, 265 Sobel, M. 194 Speck, Otto 224 Spencer, Herbert 23

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Steinbach, Dietrich 58 Straszewicz, Ludwik 29, 258 Switalski-Ebersmann, J. 146 Świętochowski, Aleksander 22, 23 Szawelson-Grosz, Regina 201 Szczerbakow, Aleksander 29, 46 Szczepanowski, Stanisław 55 Szlązakowa, Alicja 78, 120 Szłokman, Józef 247 Szulc, Buła 264 Szymańska, Zofia 253f Tagore, Rabindranath 253, 266 Temkin, Matylda 222 Tetelbaum, Fela 247 Tetmayer, Kazimierz 210 Tolstoj, Leo N. 61 Trautner, Hanns-Martin 93 Tschechow, Anton P. 21, 258 Tyrtaios 37 Ulatowski, Jan 213 Ungermann, Silvia 28, 31, 66, 69, 89, 101, 132, 135, 139, 144, 160, 188f, 200, 212, 228, 247, 251, 257 Veerman, Philip 81 Wacińska, Wanda 212 Waga, M. 213 Walas, Teresa 55 Waszek, Alojzy 190 Weintraub, Esterka 69 Wilczyńska, Stefania 69, 84, 87, 100, 106, 119, 158, 202f, 206, 222, 225, 246, 262, 264 Wittenberg, Hildegard 58 Wojnowska, Bozena 45 Wróblewski, Michał 135, 188f Żeromski, Stefan 44 Ziehen, Theodor 65 Zille, Heinrich 36 Zylberberg, Michał 251f Zylbertal, Mieczysław 81f, 219 Zyngman, Israel (Stasiek) 188

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Bibliographische Angaben zu Janusz Korczak: Sämtliche Werke, ediert von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth Band 1: Kinder der Straße. Kind des Salons. Bearbeitet von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth, Gütersloh 1996. Band 2: Humoresken. Satiren. Albernes Zeug. Bearbeitet und kommentiert von Erich Dauzenroth, Gütersloh 2002. Band 3: Bobo. Die verhängnisvolle Woche. Beichte eines Schmetterlings. Wenn ich wieder klein bin. Lebensregeln. Über die Einsamkeit. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann, Gütersloh 2000. Band 4: Wie liebt man ein Kind. Erziehungsmomente. Das Recht des Kindes auf Achtung. Fröhliche Pädagogik. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann, Gütersloh 1999. Band 5: Der Frühling und das Kind. Allein mit Gott. Unverschämt kurz. Senat der Verrückten. Die Menschen sind gut. Drei Reisen Herscheks. Kinder der Bibel: Mose. Bearbeitet von Erich Dauzenroth und Friedhelm Beiner, Gütersloh 1997. Band 6: Geschichten und Erzählungen. Belehrungen und Betrachtungen. Die Schweizreise. Bearbeitet und kommentiert von Erich Dauzenroth, Gütersloh 2000. Band 7: Sozialkritische Publizistik. Die Schule des Lebens. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann, Gütersloh 2002. Band 8: Sozialmedizinische Schriften. Bearbeitet und kommentiert von Michael Kirchner und Erich Dauzenroth, Gütersloh 1999. Band 9: Theorie und Praxis der Erziehung. Pädagogische Essays 1898-1942. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner, Gütersloh 2004. Band 10: Eindrücke und Notizen aus Sommerkolonien. Die Mojscheks, Joscheks und Sruleks. Die Józeks, Jasieks und Franeks. Ruhm. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann, Gütersloh 1999. Band 11: König Maciuś der Erste. König Maciuś auf der einsamen Insel. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann. Mit einem Nachwort für junge Leser von Igor Newerly, Gütersloh 2002. Band 12: Der Bankrott des kleinen Jack. Kajtuś, der Zauberer. Bearbeitet von Friedhelm Beiner, Winfred Kaminski und Silvia Ungermann, Gütersloh 1998. Band 13: Ein hartnäckiger Junge – Das Leben des Louis Pasteur. Publizistik für Kinder und Jugendliche. Berichte und Geschichten aus den Waisenhäusern. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann, Gütersloh 2003. Band 14: Kleine Rundschau. Chanukka- und Purim-Szenen. Bearbeitet und kommentiert von Erich Dauzenroth und Michael Kirchner, Gütersloh 2005. Band 15: Briefe und Palästina-Reisen. Dokumente aus den Kriegs-und Ghetto-Jahren. Tagebuch – Erinnerungen. Varia. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner, Gütersloh 2005. Band 16: Themen seines Lebens. Kalendarium: Werk-Biographie. Erarbeitet von Friedhelm Beiner, Gütersloh 2010. Ergänzungsband: Aleksander Lewin: So war es wirklich. Die letzten Lebensjahre und das Vermächtnis Janusz Korczaks. Herausgegeben von Friedhelm Beiner. Bearbeitet von Silvia Ungermann, Gütersloh 1998. Ergänzungsband: Janusz Korczak in der Erinnerung von Zeitzeugen. Mitarbeiter, Kinder und Freunde berichten. Herausgegeben und bearbeitet von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann, Gütersloh 1999.

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