Janusz Korczak Sämtliche Werke: Band 1 Kinder der Straße. Kind des Salons 9783641247690

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Janusz Korczak Sämtliche Werke: Band 1 Kinder der Straße. Kind des Salons
 9783641247690

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Inhalt
KINDER DER STRASSE
KIND DES SALONS
Kommentare
Anlagen
ZUR EDITION DES GESAMTWERKS
CHRONOLOGIE

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Janusz Korczak Sämtliche Werke Band i

Janusz Korczak Sämtliche Werke

Ediert von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth †

Gütersloher Verlagshaus

Janusz Korczak Sämtliche Werke Band i

KINDER DER STRASSE KIND DES SALONS Bearbeitet von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth

Gütersloher Verlagshaus 1996

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. Aus dem Polnischen von Roswitha Matwin-Buschmann Die Edition Janusz Korczak – Sämtliche Werke erfolgt auf der Grundlage der polnischen Werkausgabe Janusz Korczak: DZIEŁA Verlag Oficyna Wydawnicza , Warschau Redaktionskomitee: Hanna Kirchner, Aleksander Lewin (Leitung), Stefan Wołoszyn, Marta Ciesielska. Diesem Band liegt Band 1 der polnischen Werkausgabe zugrunde, Janusz Korczak – Dzieci ulicy. Dziecko salonou, bearbeitet von Aleksander Lewin (Einleitung), Hanna Kirchner (wissenschaftliche Redaktion), Elżbieta Cichy, Grażyna Syryczyńska (Textbearbeitung), Jan Zieliński (Kommentierung). Die Edition wird von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit aus Mitteln der Bundesrepublik Deutschland finanziell unterstützt. Edycja wspierana finansowo przez Fundację Współpracy Polsko-Niemieckiej ze środków Republiki Federalnej Niemiec.

Copyright © 1996 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Texterfassung: Gabriele Wolff, Wuppertal Satz: Weserdruckerei Rolf Oesselmann GmbH, Stolzenau ISBN 978-3-641-24769-0 www.gtvh.de

Inhalt Band

1

KINDER DER STRASSE 7

KIND DES SALONS I95

Kommentare Zu Kinder der Straße und Kind des Salons 42I

Anlagen 453

ZUR EDITION DES GESAMTWERKS 467

CHRONOLOGIE 489

Korcza k als Student

KINDER DER STRASSE

INHALT I. Der Kinderkäufer

I I

li. Was wird das werden? 23 III. Der Graf Zarucki 3 5 IV. Die Beichte 46 V. Die Flucht 56 VI. Leichenschmaus 69 VII. J6ziek Schnurz BI VIII. Der Held 94 IX. Von Tag zu Tag I04 X. Am Abgrund rr6 XI. Du hast eine Seele

I

3o

XII. Der Verrückte I4Z XIII. Manka r 57 XIV. >>Zum Menschen>Mein Herr, kaufen Sie Blumen.« >>Kaufen Sie einen Strauß für die Dame.« "Nicht nötig.« »Wieso nicht nötig? So eine schöne Dame.« »Nicht nötig, sage ich.« »Bitte, mein Herr, für die Verlobte. Oh! Sehen Sie, Ihre Verlobte hat gelächelt.« »Das ist nicht meine Verlobte, sondern meine Frau.« >>Mein Herr. Ich muß verdienen, fürs tägliche Brot. Zu Hause habe ich eine kranke Mutter, Herr.>Paß auf, Antek!« ruft das Mädchen ängstlich und ergreift Anteks Hand. »Laß los, dumme Gans.« »Laß uns weglaufen.« »Ich könnte ja weglaufen, aber du?« »Dann nimm mein Geld und lauf.>Du bist blöd.>Einen schönen guten AbendKomm bloß nicht näher!>Haha! Ich hab' vor deinem Messer keine Angst.>Das werden wir ja sehen.>Du drohst mir also mit einem Messer?>Ganz recht.>Eh! Wirf es sofort weg.>Antek! Tue ich nicht. Sei still.>Und doch tust du das.>Laß mich los.>Hilfe!>Was machst du hier?>Ich gehe nach Hause.>Nach Hause? Vielleicht gehst du mit mir auf die Wache'?>Wofür, Herr?« >>Wieso hast du so geschrien?>Weil ein Junge mir mein Geld wegnehmen wollte. Er steckt hier hinter dem Zaun.>cyrkulWer ist das?« fragt Manka ängstlich. Es kommt keine Antwort. >>Bist du es, Szmul?Ich weiß nicht; ich hab' jemanden gehört und hab' gesehen, wie er ins Haus reinkam. « >>Lüg mich bloß nicht an, hörst du!« >>Ich habe ihn auch gesehen«, bestätigt Antek. »War es nur einer?« »Ja, ich glaub', nur einer.« Man hört, wie die Kammertür aufgesperrt wird. Im Türrahmen steht der Mann, die Lampe in der Hand. »Wer ist da?« »Ich bin's«, sagt der Fremde im Mantel, mit dem hochgestellten Kragen und dem Kneifer. >>Was wollen Sie?>Wer sind Sie?« stammelt er. »Ich kenne Sie nicht.« »Sie brauchen mich nicht zu kennen. Kann ich reinkommen?Ach!>Ruhe!« befiehlt der Wohnungseigentümer drohend. Er stellt die Lampe auf den Tisch aus Kiefernholz, kreuzt die Hände über die Brust und sagt kurz: »Nun?>Hier läßt sich's leben. Jedenfalls, wenn es immer so bleibt und wenn ich ein paar Kumpane finde.« Den kalten Zigarettenstummel im Mund schläft Antek ein. Auch Maiika ist eingeschlafen. In einem der oberen Zimmer haben sich indes versammelt: der Graf, die Gräfin und der Arzt- und sie beraten. >>Die Kinder kommen aus einer der übelsten Trinkerfamilien «, sagt der Graf, »und waren den schlimmsten Einflüssen ausgesetzt. Die Charaktere sind völlig unterschiedlich. Das Mädchen werden wir leicht auf den richtigen Weg führen können, aber mit dem Jungen, meine ich, werden wir es nicht leicht haben. Er ist verdorben und glaubt, er habe es zu Hause gar nicht schlecht gehabt, und er ist hartnäckig, selbständig.>Ich finde>Geh zu ihr!« Sie erschrickt maßlos. Wer spricht da? Und zu wem? Zu ihr, Manka? Aber zu wem soll sie gehen? Und das Kind der Trinkerin, das von einer schlechten, gefallenen Mutter gepeinigte Kind, ruft schmerzlich und hilflos: »Mama!« Und erschrickt vor der eigenen Stimme, die ihm fremd klingt, und wie von höherer Gewalt getrieben, ruft es abermals: »Mama, Mama, Mama!>Vielleicht hat er sich in eine Frau verwandelt?« schießt es dem Kind . im Fieberwahn durch den Kopf. Die Gräfin kommt an Mankas Bett, kniet nieder, schiebt einen Arm unter das Kopfkissen und umfaßt mit dem anderen den zierlichen Körper Mankas. Dem Kind stockt der Atem in der Brust.

so

Kinder der Straße

»Manka, warum schläfst du nicht?« flüstert die Gräfin. »Weil ich mich fürchte, weil ich mich ganz schrecklich fürchte.« »Wovor fürchtest du dich, Mania? Warum küssen Sie mich?« »Weil ich dich liebe.>Weil du leidest, mein Kind.« »Woher wissen Sie das?« »Ich fühle es, mein Kleines.Ich habe schon eine Mutter.Meine Mutter ist nicht unglücklich, sie ist gemein, und ich hasse sie. Ich könnte ... ich könnte sie ... sie .... umbringen. Sie ist ... >Sag jetzt nichts, Mania. Versuch zu schlafen. Wir reden später darüber. Schlaf jetzt, Mania. » >>Aber Sie bleiben hier bei mir?>Ja, ich bleibe hier.'' >>Die ganze Nacht?« >>Die ganze Nacht.>Legen Sie sich hier zu mir ins Bett.>Nein, Mania, ich sitze gut hier.>Was tun Sie?« >>Ich bete.>Aufstehn, Herr Antos, ich bringe das Frühstück.>Herr Antek>AntekHerrDinger>Strutz>So oder so, einmal muß ein Ende seinHoho! Ein neuer Anzug! Und wie elegant 4 .>Studzieniec-System>Familien>KlassenErziehungsmittelsznapagalantneWas willst du von mir?« >>Ich will gar nichts, ich gratuliere dir nur, daß du eine große Dame bist.« »Du hast doch auch einen neuen Anzug.>Du lügst.>Ohne Furcht könnt ihr heruntersteigen, Wo Nacht und Grauen und der Zweifel wohnt. Euch trügt höllisch nicht der Götter Reigen, Da Licht in Fülle euren Weg belohnt!« Über die Lichtsymbolik in Asnyks Dichtung schrieb Korczak in seinem Beitrag Asnyk i Tetmajer (Asnyk und Tetmajer), in W~drowiec (Wanderer), Warszawa r9or, Nr. 31-33. Zu Asnyk vgl. auch Anm. I+2., S. 345·

Kinder der Straße

sind meine jüngeren Geschwister. Wer mit mir ist, der ist auch mit ihnen.« >>Und ich- ich bin das Wissen«, sagt mit leiser Stimme der Alte, »ich bin der Bruder der vier, ich bin ihr Vater und ihr Sohn, ohne sie bin ich nichts, und sie sind nichts ohne mich. Ich bin das Wissen, das Licht, und sie sind meine Wärme. Was wäre die Sonne, spendete sie nur Licht, aber strahlte keine Wärme aus; was wäre die Sonne, strahlte sie nur Wärme, aber kein Licht aus? Wir sind die Sonne der menschlichen Seele.« >>Mein Name ist Arbeit«, sagt der Schmied, >>und ich bin der Sklave, der Freund, der Gefährte und der Erzieher meiner Vorgänger. Die Arbeit bin ich, immer mit ihnen, immer bei ihnen.« Das Bild entschwindet, und es erscheint ein drittes; es zeigt abermals sechs Gestalten. Im Vordergrund eine alte, in Lumpen gehüllte Bettlerin mit fahlen Zügen und spöttisch zusammengekniffenen Augen; mit einer Hand hebt sie ihren zerschlissenen Rock bis über das Knie und setzt ihr schmutziges Bein wie zum Tanz. Neben ihr ein blasser, zerstörter Mann mit einem Säufer-Gesicht und haßerfülltem Blick. Weiter ein Mädchen in schmutzigen Kleidern, mit leerem Blick und einem vagen Lächeln auf den Lippen. Ein Halbwüchsiger, betrunken, quer auf dem Kopf eine Mütze mit abgerissenem Schirm, die Hände in den Taschen der zerrissenen Hose. Ein kleines Mädchen in Lumpen. Ein Mann in Ketten und im grauen Sträflingsanzug. Ein Junge mit einer Zigarette im Mund. >>Ich bin der Unglaube«, beginnt die Bettlerin, >>ich glaube an gar nichts, denn alles ist nur Erfindung, also verspotte ich euch und auch mich mit meinen Lumpen und meinem Elend und tanze.« >>Ich bin der Haß«, sagt der betrunkene Mann. >>Ich hasse alle und alles. Kommt mir nicht zu nahe, wenn ich betrunken bin, denn dann spucke ich, und in meiner Spucke ist Gift.« »Ich bin die Gedankenlosigkeit«, sagt stotternd das Mädchen und will weitersprechen, schweigt dann aber mit blödem Grinsen. »Leichtsinn, Larifari, nennt man mich«, sagt der Halbwüchsige. »Larifari, ich pfeife auf eure Gerichte. Gebt mir zu saufen, weiter will ich nichts, Iarifari! Nein danke. Saufen ist schlecht, ist ungesund, unmoralisch. Larifari, lacht ruhig darüber.« »Ich bin das Unwissen LebenMordskerlDie Absprache war, daß ich mich besiegen lasse; ich hab' die Vereinbarung gebrochen, und da will ich auch nichts.< Er hat sich sogar noch entschuldigt. Aber am nächsten Tag, da haben sie ihn geschnappt, als er einem die Uhr gestohlen hat 1 • Oder: Es gibt bei uns die ,pfandleiher< 2 - das sind so kleinere Diebe, die geben das Gestohlene zurück, wenn man dafür bezahlt. •Du gibst mirsoundsoviel, und du findest den Gegenstand da und da.< Und es ist noch nie vorgekommen, daß so einer gelogen hat. Weil wir, mein Herr, unsere Ehre haben.« Zarucki hat aufmerksam zugehört, und er begreift, daß ihm hier die Augen geöffnet werden über eine unbekannte Welt, die weder er kennt noch alle die Schriftsteller, nach deren Werken er die Seele der »Kinder der Straße>Wir können gut und höflich sein, aber man muß behutsam mit uns umgehen, denn wir verstehen es, unsere Ehre zu verteidigen. Da kann einer wer weiß wie betrunken und noch so böse sein, wenn ihn jemand umrennt und er sich dafür entschuldigt, wird nichts gesagt, aber wehe, wenn der sich nicht entschuldigt, dann kann er sich auf was gefaßt machen. Wir bestehlen auch nicht jeden. In unserem Viertel wohnt ein Doktor, der schließt nie seine Wohnungstür ab, und wehe dem, der ihm was wegnehmen würde; wir wüßten, was wir mit dem machen. Denn der Doktor ist gut zu uns und kennt uns, und er weiß, daß wir nicht so schlecht sind, nicht so dumm, wie es Euch vorkommt. Wenn uns einer aber was Gutes antun will, ohne uns zu kennen, wird er >eingewickelt< und betrogen. Ich weiß, daß die Bilder Manka gefallen haben, und jetzt heult sie bestimmt, und sie wird lernen und ein gutes Kind sein; aber ich weiß, daß die Bilder dumm und verlogen sind. Sie glauben, daß die Bettlerin, wenn sie sich betrinkt und tanzt und solche Ausdrücke gebraucht, daß sie dann lustig ist. Lustig! Daß ich nicht lache. Sie weiß, es ist ihr mal besser gegangen und jetzt steht es schlecht um sie, und sie muß bald sterben; da singt und tanzt sie eben, damit niemand glauben soll, daß es ihr schlechtgeht. Weil es sich bei uns nicht gehört, sich Sorgen zu machen, und damit basta. Wozu braucht einer zu wissen, daß es mir schlechtgeht! ... Aber ich rede und rede; wo ich doch weg will.« »Bleib, An tos, lerne wenigstens lesen.« ,, Wozu muß ich lesen können? Wenn ich erst mal anfange zu lernen, dann muß mich jemand unterrichten, und ich will nicht, daß mich jemand unterrichtet; denn ich will immer selber der Lehrer sein. Wir sind sehr stolz, mein Herr.« »Und warum bettelt ihr?« »Wir betteln nicht, mein Herr, wir betrügen nur. Wenn ich Ihnen die Wahrheit sage und Sie mir einen Zehner geben, ist das Betteln; aber wenn ich Ihnen etwas vormache und Sie mir was geben, dann ist das nur >Prellerei< und nicht Betteln. Und wenn ich von meinem Alten was kriege, dann ist das ein Gefallen. Verstehen Sie? ... « Antek lacht über Zaruckis verdutztes Gesicht. »Wir sind stolz ... « »Und verschlossenÜh ja. Wir haben da eine Lumpenhändlerin. Wenn wir zu ihr >Fräulein Zofia Frau Michalowa>Geben Sie mir meine Kleider wieder, und ich geh' Ihnen Ihren Anzug zurück.« "Nein, Antos, nimm ihn nur mit.« »Will ich aber nicht.Gut, dann ist das was anderes.« Der Graf geht ins Haus und kommt nach einer Viertelstunde mit dem weißhaarigen Diener zurück, der einen kleinen Koffer trägt. »Hier sind ein paar Sachen und ein paar Bücher. Versprich mir, daß du die Bücher nicht verkaufst.« »Ich versprech's.« »Hier hast du Geld für den Weg.« Antek gibt dem Grafen die Hand, der küßt ihm die Stirn. »Wenn es dir dort schlecht ergeht, komm zu uns zurück.Äh, guten Tag. Woher kommst du denn, Antek?« »Vom Lande.« »Vom Lande?« Der Hausmeister setzte den Besen ab, sah Antek lange mißtrauisch an und fragte noch einmal gedehnt: >>Vom Lande?« Er schaute auf den Koffer, auf Anteks ordentlichen Anzug und schüttelte den Kopf. >>He, mein Junge, schade um dich, du wirst noch vollständig deine Seele verlieren.« >>Was wissen Sie schon. Geh'n wir in die Stube.« In der kleinen Stube in dem aus Brettern gezimmerten Anbau wohnte Herr Wojciech mit seiner Familie; eine Ecke der Kammer hatte er einem Neffen vermietet- insgesamt neun Personen, falls die älteren Kinder daheim übernachteten, was freilich nur selten vorkam. »Trinken wir einen?« fragte Antek. »Warum nicht?« Antek zog die Flasche, die er unterwegs gekauft hatte, aus der Tasche und trank mit den Worten »Geb's Gott« auf Wojciechs Wohl; dann gab er einem am Ofen sitzenden Kleinen einen Zloty und hieß ihn, Brötchen und Preßkopf kaufen. Man muß nämlich wissen, daß bei den Bewohnern von Powi§le nicht der Gastgeber den Gast bewirtet, sondern der Gast den Gastgeber; das ist verständlich: Der Gastgeber besitzt oft keinen Groschen und hat auch nichts zu verpfänden oder zu verkaufen, und auf Pump bekommt er nichts, weil sein Kredit bei allen umliegenden Krämern und Läden erschöpft ist.

r. Im Polnischen: »galarAuf Wiedersehen, Herr Wojciech!« rief er, ohne auf die Frage zu antworten: »Wie ist es denn heute so auf dem Lande?« -, lief aus der Stube hinaus auf den Platz, durch die Anlage, auf die Straße, auf die Brücke und zum Viadukt und pfiff dabei die bekannte Weise: 1

Ich hatte einen Schamster, Den hatt' ich gar sehr lieb Ich schickt' ihn aus zum »Stemmen" Da >>schnappten« sie ihn mir, Da »schnapptenDu bist abgehauen.« Antek wunderte sich. >>Du bist abgehauen, und das war gut so. So wird aus dir vielleicht noch ein ehrlicher Mensch, dort hätten sie dich nur verzogen. Da, in einen herrschaftlichen Anzug haben sie dich schon gesteckt. Das ist das einzige, was sie können. He ... Pferdefuß, hol Holz für den Ofen.« >>Hol Holz«- hieß in Feleks Sprache nicht etwa: >>kaufe«, sondern »reiß Latten aus einem Zaun, finde was, stiehl, mach, was du willst, aber bring was her, sonst gerb ich dir das Fell«. Pferdefuß ging los. »Wenn Sie, Herr Felek, wollen ... « » Feliks, du Esel.« >>Wenn Sie, Herr Feliks, wollen, dann schenk' ich Ihnen diesen Anzug.« »Gut, dann gib ihn her, ich finde einen passenderen und ordentlicheren für dich.« Antek drückten die neuen Schuhe, und der neue Anzug ohne Löcher und ohne Flicken behagte ihm nicht. Herr Feliks humpelte zu einer Truhe, suchte herum, ging in die »Vorratskammer>Können Sie mir sagen, wie es meinem Vater geht?« »Der hat jetzt Geld, also säuft er, klar. Er wird so lange saufen, bis er in der Gosse verreckt, das Miststück.« Der Lahme Felek begann zu fluchen, wurde sogar wütend auf Antek; fast hätte er ihn hinausgeworfen, bis er schließlich seinen Zorn zähmte und im Unterricht fortfuhr.

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Kinder der Straße

»He, J6ziek, schlaf nicht ein, du Tropf, lies weiter. Lies, sage ich dir. Und du, leg dich hin und schlaf«, befahl er Antek. Antek warf sich aufs Sofa, und er vernahm zwei Stimmen: die eine sprach zu ihm über die »Kinder der Straße«, die andere war Feleks Stimme. Eine Stimme sagte: »Dort sind Kinder, die der Stolz der Nation sein könnten.« Die andere Stimme sagte: "Ich hatte für mein Wissen nichts weiter als meinen Kopf, die Augen, zehn Finger und ein lahmes Bein.« Antek konnte nicht einschlafen. »Ihr meint vielleicht«, dozierte Felek, auf beiden Krücken gestützt, »die Menschen können schon seit Adam und Eva lesen und schreiben. Schön wär's. Die haben sich mächtig abgeplagt, bis sie alle diese Zeichen erfanden, die ihr hier bei mir lernt. Genauso wie Kopernikus sich auch nicht gleich ausgedacht hat, daß sich die Erde um die Sonne dreht, und Kolumbus nicht sofort Amerika entdeckt hat. Ihr Galgenvögel meint, es gibt außer der Weichsel und Warschau nichts mehr. Denn ihr wißt nicht, daß die Weichsel vom Karpatengebirge bis in das Baltische Meer fließt und daß es solche Städte wie Warschau auf der Welt zu Millionen und aber Millionen gibt. In diesen Städten leben nicht nur Menschen wie wir, sondern auch schwarze Menschen, so schwarz wie die Schornsteinfeger. So ein Mensch kann sich wer weiß wie lange waschen, er bleibt immer schwarz, denn er ist ein Neger. Und die Engländer haben diese Neger totgeschlagen und aus ihrer Haut Schuhe für sich gemacht, denn bei denen gibt es weder Wälder noch Tiere. als Napoleon sagte, daß man aus den Negern keine Schuhe machen darf, mußten sie damit aufhören.>Vater, darf ichDer Maurer Franek ist heute nacht gestorben.ch wußte, daß der stirbt. Er hat sich totgesoffen.>Na klar. Er hat mit dem Szczepan gewettet, wer mehr verträgt. Das war gestern, bei der Klempnersfrau. Franek hat einen Schoppen Spiritus ausgetrunken, und das hat ihn gleich umgehauen. Der ist nicht mal mehr bis nach Hause gekommen.,, >>Schoppen hin, Schoppen her, geschieht ihm recht, dem Schwein. Gott, sei seiner Seele gnädig. Er hat zwei Kinder zurückgelassen: Olek kannst du mir bringen. Wird zwar nicht leicht sein mit so einem Balg. Ach was. Es sei denn, daß Walenty ihn nimmt.>Und ... den Strohhändler Wacek haben sie für die Erbsen zwei Wochen eingebuchtet.>Weil er blöd ist. Ich hab' ihm gleich gesagt, er soll den Zeugen''.. >Du schläfst nicht?>Kann nicht.>Hast du alles gehört?>Hab' ich.>Also weißt du jetzt, wie es deinem Vater geht?>Ich weiß.>Willst du auch so werden?>Wenn ich will, werd' ich auch so.>Bist ein Hartgesottener.>Ich bin, wie es mir paßt.>Dann verschwinde! >Na schön.>Hals- und Beinbruch.>Ich will nicht zurück.>Sag mir ... Ach, es ist sowieso alles egaL« »Siehst du. Merk dir, was ich dir sage. Alles ist schnurz, sonst nichts. Manchmal bin ich auch, siehst du, so irgendwie ... eben so ... Aber dann sag' ich mir: Alles schnurz, und basta ... « Aus dem Kellergeschoß hört man Schreie. >>Sie prügeln sich!>Ach, schnurz.« >>Komm!Nein, das ist nicht schnurz.AnschauungsunterrichtZug« gelang. Man klebte ein Stück Papier mit Teer an die Scheibe, drückte das Glas neben dem Riegel ein, J6ziek kletterte in die

I.

Johann Heinrich Pestalozzi (1746-r827), bekannter Schweizer Pädagoge mit weltweitem Einfluß auf die Erneuerung der Erziehung. Friedrich Wilhelm August Fröbel (1782.-1 8 52) gilt als »Vater« des Kindergartens. Den ersten »Kindergarten« nach Fröbel'schem Vorbild in Polen gründete der Redakteur Adam Wislicki r87o; 1899 gab es hier I4 »Kindergärten«. Marie Olinde Pape-Carpantier (r8r s-r878), Leiterin eines Horts und einer Schule in Paris. Auch in Polen war ihr Buch Lekcje o rzeczach (Lektionen von den Dingen), Warszawa 1872, früh bekannt.

VII. ]6ziek Schnurz

Wohnung, öffnete die Wohnungstür, der "Posten«·~ führte ihn, wie abgesprochen, auf den Dachboden, die »Spinne« •f setzte ihn aufs Dach, und von dort ließ er ihn zum Zaun hinunter, von wo J6ziek schleunigst in Richtung Weichsel zum verabredeten Platz rannte. Der Zug war gelungen, denn niemand hatte die Täter gestört, er gelang aber auch nicht, da die Beute nicht groß war: Im Schreibtisch hatte man nur ein paar Rubel gefunden, in der Kredenz' etwas Silber, auf dem Kleiderhaken einen Pelz, dann noch zwei nicht sehr kostbare Ringe - da war nicht viel zum Aufteilen. Aber J6ziek bekam, weil er seine Sache gut gemacht hatte, die begehrte Harmonika, gewissermaßen als »AnreizKahle nicht äugtHäschern«', den >>Greifern«4 und den »Amtsschergen« 5 entkommt, und mit jener Solidarität, die zu leiden verlangt, aber nie zu verraten; und er hätte zu kämpfen mit dem Gefühl, das ihn mit seiner Harmonika verband. Warum man ihn Schnurz nannte? Weil er dieses Wort häufig benutzte. Zunächst konnte man meinen, er wende sein »Schnurz>skiel«; Ganovenjargon für: Polizeiagent. 4· Im Polnischen: »sledz«; Ganovenjargon für: Polizeiagent; auch Hering. 5· Im Polnischen: >>bury«; Ganovenjargon für: Schutzmann. I. 2.

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Kinder der Straße

meinsame Verantwortung. Solidarität bis zur Selbstaufgabe, bis zur Tötung seines Feindes. Das ist ihr Gesetz der Freundschaft, heilig und unantastbar. Die Jungen wohnten zusammen mit Bronek, einem Kellner, und Andrzej, einem Koch, und sie fühlten sich wohl in der Gemeinschaft mit diesen bis ins Mark ihrer Seele verdorbenen Leuten. Bronek war vierzundzwanzig Jahre alt und befand sich in der Phase, da er aufhörte, auch nur noch ein Quentehen Stolz zu haben; mit tiefer Verbeugung »erniedrigte« er sich vor jedem, der ihm ein Trinkgeld in die Hand drückte, sich zwischen Betrunkenen und Prassern bewegend, mit einem unterwürfigen Lächeln auf den Lippen, stets mit einem: ,, Zu Diensten, gnädiger Herr>gnädiger HerrWarum weinst du?•Antek« rief, aber weich, singend >>Antos«. Da hörte der Junge auf zu weinen, schaute auf die breite, noch von Schnee gesprenkelte Weichsel, auf die Sonnenstrahlen, die sich in den Eiskristallen spiegelten, und gab sich ganz diesem Schauen hin. »Alles schnurz«- kam es ihm plötzlich in den Sinn. Er stand auf und ging nach Hause. Er fühlte sich einsam und sehr unglücklich. Im Zimmer war niemand. Drei schmutzige Betten, der Fußboden vollleerer Flaschen und Zigarettenstummel, auf dem Tisch ein Teller mit angebackenen Fleischresten. Zwei Hunde begrüßten ihn winselnd. Der Junge legte sich aufs Bett, zündete sich eine Zigarette an, und in der Rauchwolke, die sich träge erhob, sah er ein anderes Zimmer, sah Manka im sauberen Kleid, mit glattgekämmtem Haar. Und Antek erinnerte sich an J~drek. Neugier erwachte in ihm: Hat der Graf den J~drek zu sich geholt? Er stand vom Bett auf und machte sich auf zur Wohnung von J ~dreks Vater. Marcin war Hauswart in der Czerniakowska-Straße. Er bewohnte mit sieben Kindern eine Kammer unter der Treppe. Im Sommer schlief ein Teil der Familie im Freien, im Winter schlief nur Mareins Frau auf einem Sofa in der Toreinfahrt. Früher hatte Marcin selbst in der Toreinfahrt geschlafen, aber als die Schmerzen in die Knochen zogen und sich seine Arme und Beine krümmten, so daß er zwei Monate im Spital leiden mußte, da erlaubte ihm der Doktor nicht mehr, die Nacht in der Kälte zu verbringen. r. Im Polnischen: »andrus«; Bezeichnung für einen jugendlichen Analphabeten,

Gassenjungen.

VII. ]6ziek Schnurz

Frau Marcinowa begrüßte Antek und wünschte ihm Gottes Segen, als sie ihn in den Dampfschwaden erkannte, die aus dem Zuber mit heißem Wasser aufstiegen. »Oh, Antek, Antek, der Herr Jesus möge dir Gesundheit schenken, daß du uns J~drek vom Hals geschafft hast.« »Also war der Herr da und hatJ~drek mitgenommen?« fragte Antek. »Üh ja, er war hier und hat ihn mitgenommen, und fünfundzwanzig Rubel hat er unsermAlten noch gegeben. Oh, ist er nicht verrückt, sich eine Uhr davon zu kaufen?« zeterte mit weinerlicher Stimme Frau Marcinowa. "Und er hat J~drek mit allem mitgenommen?« »Üh ja, mit allem. Und was er alles schwatzte, was er redete. >Ihrhabt falsch gehandelt, daß Ihr den Jungen nicht habt lernen lassen, daß Ihr ihn geschlagen habt.< Oh, mein Antek, wie dumm er ist. Wie hätte ich J~drek nicht schlagen sollen, wo er mir ständig zwischen die Füße kam und mir wegen Büchern und Heften in den Ohren lag? Bei einem herrschaftlichen Kind ist das was anderes, das ist doch klar, daß das aus Büchern lernen muß, aber mein J~drek, was macht der mit solchem Wissen? Ich sag' dir, zuerst habe ich mich schrecklich gefürchtet, weil ich nicht wußte, was er will. Und wie er zu reden anfing, hat mir das Herz so gebibbert ... Wacka! he, Wacka! Wo bist du da hingekrochen? Komm her, wenn ich dich rufe.« Aus den Dampfschwaden tauchte aus der Ecke unter der Treppe ein Mädchen auf. »Geh zu Vater, sag ihm, Antek ist gekommen. Und er soll Wodka mitbringen. Schnell, hörst du?« In ihrem vom Dampf feuchten Kleidchen, Wassertropfen auf der Stirn und an den Schläfen, ging Wacka mit den blaßblauen Augen leise, ängstlich, hustend durch die offene Tür hinaus. »Ich konnte erst gar nicht begreifen, was er will«, fuhr Frau Marcinowa fort. »WennJ~drek besonders hübsch wäre, das wär' etwas anderes. Aber so ein kränkliches Unglückskind ... Erst als er sagte: >So und so, und daß er von Antek weiß, daß er gern lernen möchte und wir ihn deswegen schlagen>nicht alles erzählen, denn das sind eigentlich Geheimnisse, und ihr seid noch zu grün. Also, wißt ihr, ich sag' euch, das Leben ist beschissen, aber so ist es; so und nicht anders, da kann man nichts machen ... « I.

Im Polnischen: »fajgiel«; von jidd. »Fajgiel« (Vogel); für Spatz (wr6bel) und Rubel; vgl. Wortspiel »wr6bel-rubek

VIII. Der Held

95

Eine Weile Schweigen. »Antek ist ein hübscher Junge, der kann in eine Konditorei gehen, sag' ich, damit er sich ein bißchen umsieht. Danach kann er vielleicht ... Und J6ziek wär' auch kein schlechter Junge, aber dem fehlt ein Finger an der Hand, das ist nichts, der muß ein Handwerk lernen oder so. Der paßt höchstens in eine Garküche, nicht in ein Restaurant, wo man hohe Herren bedient ... Nur muß man sich da ein bißchen Bildung verschaffen.Würden Sie mir, Herr Bronek, das Lesen beibringen?>Beibringen nicht, aber zeigen kann ich es dir. Morgen bring' ich den Kurier mit, dann zeig' ich es dir ... Und du,J6ziek, weiß der Teufel, was man aus dir machen solLch mach' schon selbst etwas aus mirÜb ich voll bin oder nicht, das ist meine Sache, du Rotznase, aber daß du mal am Galgen baumeln wirst, das ist sicher.« >>Mein Bruder ist kein Dieb wie Ihrer, und der sitzt in der >VerbannungHältst du endlich die Klappe, hergelaufener Lausebengel?>Besser hergelaufen als aus einer Diebesfamilie. Mein Großvater war ein ehrlicher MenschDein Großvater war genau so etwas wie du, nämlich ein Hundefänger.>Da hast du's, du Diebessohn, da hast du's, du Hundefänger. Geh nicht auf einen Älteren los, tu das nicht, das nicht ... >Seit zwei Uhr, sagt man.« Ein Horn ertönt. Ein Feuerwehrmann zu Pferd überholt sie. Am Himmel ein gewaltiger Feuerschein. »He, Vater, ein bißchen schneller. Ich laß' einen Rubel springen. Ich hab' gut verdient, da sollst du auch verdienen.« Er drückt dem Droschkenkutscher ein Stück Rehrückenbraten und eine Zigarre in die Hand. >>Steck dir eine an, du wirst sehen, echter geht's nicht.« Er zieht den Korken aus der Likörflasche. »Nimm einen Schluck.« gibt Antek die Flasche. >>Hier, trink; du bist sicher hungrig ... Und ich sag dir, Vater, der Chef war heut' nicht da, das haben wir ordentlich ausgenutzt. Wenn der zurückkommt, gibt es Zores. Doch das steh'n wir durch.« Schon sieht man eine große Menschenmenge. Die Polizei hält die Droschke an. Bronek bezahlt einen Rubel, ein Viertel von dem, was er diese Nacht verdient hat. Sie steigen aus. Bis zur Fabrik können sie sich nicht durchzwängen. Soldaten sperren diesen Teil ab. Der Wind bläst ganze Funkengarben auf die Holzhäuser in der Nachbarschaft, das Feuer breitet sich immer mehr aus. Die Bewohner tragen ihre armselige Habe hinaus oder werfen sie aus dem Fenster. Die Polizei wird der Schaulustigen nicht Herr, kann den Gefährdeten keine Hilfe leisten. Schon drei Holzhäuser stehen in Flammen, ein viertes ist nicht mehr zu retten. Das Dach hat schon Feuer gefangen. Plötzlich übertönt ein herzerweichendes Schluchzen das Stimmengewirr.

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Kinder der Straße

>>Mein Kind ist noch dort drin. Mein Kind!>Wo?« fragen die Umstehenden. >>Auf dem Dachboden, ganz oben auf dem Dachboden.« Sofort wird eine Leiter angestellt, ein Feuerwehrmann, mit nassen Leinentüchern umwickelt, steigt auf den Dachboden, kämpft sich durch die Flammen. Drei Wasserstrahle richtet man dorthin, wo der wackere Mensch verschwunden ist. Nach einer Weile kommt er heraus, aber ohne das Kind. >>Gebt mir mein Kind wieder, mein Kind!« ruft die Frau. »Es ist nicht da drin«, sagt der Feuerwehrmann. ,, Es ist, es ist, es ist vier Jahre alt, es ist dort. Gebt es mir zurück!>Ich geh' hinauf.« »Das darfst du nicht.« Der Junge war mit einem Sprung auf der Leiter. >>Komm runter, härst du, komm runter.« Aber der Junge war schon weg. Er war im Feuer verschwunden. Und die Verrückte sprang plötzlich auf und fing schrill zu lachen an. »Ha! Ha! Ha! Hab' ich euch alle reingelegt, ihr Dummköpfe! Seht ihr! Ich wollte, daß ihr seht, daß ich nicht so verrückt bin ... Was, ich, eine Mutter, würde mein Kind im Feuer zurücklassen? Ha! Ha! Ha! Ich hab' es an einen sicheren Ort gebracht. Die Dummköpfe. Ha! Ha! Ha!« Im selben Moment zerbarst der Balken, und die Leiter fiel unter Feuerfunken zur Erde. Im Fenster des zweiten Stocks stand der Junge, schwarz im Gesicht, das Haar versengt. Antek und Bronek riefen gleichzeitig voller Verwunderung aus: >> J6ziek Schnurz!>So, das reicht.,,« »Warte«, bittet der Kutscher. »Du kennst dich da nicht aus, aber ich ... « »Ja, ich weiß, ich weiß. Zwei Finger hat es dir bei der Jagd weggerissen, und du hast immer noch nicht genug.« »Lies vor von Scyzoryk, An tos", bittet der Schlosser. »Na, meinetwegen«, sagt der Kutscher. Und die Worte von Mickiewicz erfüllen die Kammer, und sein geistiger Faden wird in den Köpfen der Zuhörer fortgesponnen. r. Mickiewicz, Adam: Pan Tadeusz (Herr Thaddäus); Nachdichtung von Hermann

Buddensieg, München 1963, S. r r6f. Vgl. zu Mickiewicz Anm. r, S. 90.

IX. Von Tag zu Tag

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Antek liest mal fließend, mal mit Mühe, je nachdem, wie gut er den Text schon kennt. Er liest, und in den Pausen blickt er in die schwarzen Augen des Mädchens, wundert sich, wie diese »Bucklige>Ich rate euch, nicht.« Von da an ließen sie ihn in Ruhe. Einmal setzte ihm der Besitzer allzu deutlich auseinander, er habe nicht erst um neun Uhr ins Geschäft zu kommen, das verstieße gegen den geltenden Brauch, und es gehöre zu Anteks Aufgaben, den Billardsaal aufzuräumen; aber Antek nahm in wenigen Worten dazu Stellung, erinnerte an ein gewisses stilles Hinterzimmer mit einem grünen Kartentischchen, an die »Zahnwehtropfen« und ... machte seinen Prinzipal für lange Zeit >>mundtot«. Antek war jemand, mit dem man zu rechnen hatte. Der Waisenjunge aus der Provinz war etwas, das man herumschubsen durfte, weil er sich nicht wehren konnte. Antek war sich sicher, daß er einen Arbeitsplatz bekäme, der Waisenknabe zitterte, daß man ihn in der fremden Stadt auf die Straße setzen könnte. Die heißen Sommermonate waren vorüber, ein gut Teil Herbst ins Land gegangen; der Winter war nicht mehr fern, und in Anteks Leben hatte sich nichts verändert, und er wäre den eingeschlagenen Weg, so wie er ihm von dem toten Bronek abgesteckt worden war, weitergegangen, hätte es nicht einen kleinen Vorfall gegeben. Antek war um ganze zwei Stunden zu spät gekommen. Der Besitzer raste vor Wut, also schlug er ... den Waisenjungen. Und wie geht das Bestrafen eines Jungen vonstatten? Ganz einfach: Man schlägt ins Gesicht, zieht an den Ohren und an den Haaren. Der Junge bricht in Tränen aus. >>Heul mir nicht, heul mir nicht, du Mistkerl, hör auf zu jammern, plärr nicht.« Und bei jedem Satz folgte eine neue Portion Schläge. Antek stockte das Blut in den Adern. Ihm fiel ein, daß solche Prügel aus J6ziek Schnurz- einen Verbrecher gemacht hatten; er dachte, daß 2

1.

2.

Einen ähnlichen Vergleich - Ähnlichkeiten zwischen einer Fabrik und dem menschlichen Organismus - hat Korczak in dem Artikel Fabryka (Fabrik) gebraucht, in Czyteinia d/a Wszystkich (Leihbibliothek für alle), Warszawa 1899, Nr. 12. Im Polnischen sind es zwei Wörter, nämlich »Nie radz~"·

IX. Von Tag zu Tag

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er, Antek, wenn er weniger >>auf Draht>Warum schlagen Sie ihn?« fragte er und schaute seinem Brotgeber selbstsicher ins hochrote Gesicht. "Was geht dich das an, du Diebesbrut? Sei froh, daß ich dich nicht anfasse. besuchten. Ja, aber sie waren von der Schule in die Buchhandlung gekommen; sie hatten mehrere Klassen beendet. Dort mußte man eine Prüfung bestehen. Was für eine? Was mußte man können? Was mußte man tun, um in die Schule zu kommen? Jene Jungen werden einmal Handlungsgehilfen, er wird ein Handlanger bleiben, der zweimal täglich schwere Büchertaschen schleppt, Zeitschriften austrägt, Pakete bei der Bahn und auf der Post aufgibt. »Ah, schnurz! Laufen, herumrennen, sich die Beine kaputtmachen und im Alter betteln gehen; da will ich lieber was anderes machen.« Er hatte schon öfter mal einige und mehrere Rubel besessen.

I. 2.

Im Polnischen: »szwarcowane«; von dt.: schwarz; hier für schmuggeln. Staatliche Handwerkerschule, in der an arbeitsfreien Tagen unterrichtet wurde. I896 gab es in Warschau 26 »staatliche handwerkliche Sonntagsschulen«.

IX. Von Tag zu Tag

III

Morgen ist Zahltag: seine fünf Rubel nehmen, dazu die drei von der Gratifikation, mitgehen lassen, was sich bietet und ... abhauen. Und so handelte Antek. »Und jetzt wird sich ausgetobt für das verplemperte Jahr, für die elende Arbeit und den ganzen Mief.« Da, ein kleiner Wanderzirkus' hat sich in einem leerstehenden Laden niedergelassen. Ein Leierkasten spielt, eine Schar Kinder drängt sich vor dem Eingang, über dem vier Lampen hängen. Auf die Scheiben hat man Plakate geklebt. Ein vor Kälte bibbernder »Zauberer« im roten Trikot, eine Schärpe über der Brust, bittet nach drinnen. »Eintritt zehn Groschen, und für Lahme und Bucklige nur fünf Kopeken. Für Blinde und Kopflose Eintritt frei.« Antek geht hinein. Ja, das hier ist sein Zuhause, hierhin verwiesen ihn unbewußt alle, denen er auf seinem Ausflug zu den »feinen Herrschaften« begegnet war. Das erste Klingeln, das zweite. Der Leierkasten spielt und spielt. Ein Musiker mit roter Nase, mit zugekniffeneo Augen, dreht die Kurbel, und der quietschende, traurige Leierkasten spielt so etwas wie einen Walzer oder ein Opernstück. >>Geschätztes Publikum, außergewöhnliche amerikanische Zauberkunststücke. Wer das nicht gesehen hat, sehe es sich an; wer es schon kennt, kommt von selbst herein. Degenschlucken und ein Frühstück aus glühendem Eisen. Eintritt für Bucklige und Lahme fünf Kopeken, Blinde und Kopflose frei.« Das dritte Klingelzeichen, und der Vorhang aus rotem Perkal 2 mit blauem Blumenmuster geht hoch. Die Zuschauer sind gespannt. Es folgen Degenschlucken, Kartentricks, das Braten eines Omeletts in einem Zylinder. Pause. Der Vorhang fällt. Ein Mädchen mit blau angelaufenen Lippen3 geht mit einem Teller durchs Publikum. Sie trägt ein schmutziges, weißes Kleid und weiße, zerrissene Strümpfe. Im Polnischen: ••buda« (Bude, Hütte); hier in der Bedeutung von >>Wanderzirkus>Als ich siebzehn Jahre alt war, habe ich sogar einen Roman mit dem Titel >Selbstmord< angefangen. Der Held haßte das Leben aus Furcht vor dem Wahnsinn.>Hinter der Schranke, ich sage nicht welcher, liegt eine Kneipe, ich sage nicht wessen« sowie in N~dza Warszawy (Warschauer Elend), a.a.O.: »>ch gehe in Richtung Schenke, die ihre Tradition

1.

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Kinder der Straße

verewigt in der Chronik der Warschauer Kinder. Heute ist von seinem einstigen Ruhm nichts mehr übrig. Antek weiß, daß er dort jemanden treffen wird, bei dem er >>Halt machen>hochherrschaftlichen Schichten