Jakob Mauvillon (1743–1794) und die deutschsprachige Radikalaufklärung 9783110793611, 9783110793536

Jakob Mauvillon combined radical Enlightenment positions with Christian theological convictions and even anti-Catholic r

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Jakob Mauvillon (1743–1794) und die deutschsprachige Radikalaufklärung
 9783110793611, 9783110793536

Table of contents :
Inhalt
Zur Einführung: Jakob Mauvillon (1743–1794) und die deutschsprachige Radikalaufklärung
1 Biographie und historischer Kontext
Jakob Mauvillon in Ilfeld (1766–1771)
Aufgegebene Projekte und verschollene Schriften
Wie schreibt man die Geschichte der radikalen Spätaufklärung?
2 Psychologie und Geschlechter-Anthropologie
Psychologische Analyse statt Metaphysik
»so mag mich ein tiefforschendes und zugleich aufrichtiges Weib zurecht weisen«
3 Zur Physiokratischen Theoriebildung
»in meine eigne Form gegossen«
Aufklärung und ökonomische Analyse
4 Religion und Politik
»Ich halte es für sehr gut, gegen die Religion zu schreiben«
Das Christentum als vernünftige Religion bei Jakob Mauvillon
Das Problem der Offenbarung in Mauvillons ›System der christlichen Religion‹
Naturrecht und Politik bei Mauvillon
Jakob Mauvillons kriegsgeschichtliche Schriften
Ordenskonkurrenz
5 Sprache und Literatur
Mauvillon als Übersetzer literarischer und enzyklopädischer Werke
Gegen jede »Art von litterärschen Cromwellismus«
Jakob Mauvillons radikalaufklärerische Kritik an Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik
6 Anhang
Zeittafel
Siglenverzeichnis
Bibliographie
Personenregister

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Jakob Mauvillon (1743 – 1794) und die deutschsprachige Radikalaufklärung

Werkprofile

Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Frank Grunert, Stefan Klingner, Udo Roth und Gideon Stiening Wissenschaftlicher Beirat: Wiep van Bunge, Knud Haakonssen, Marion Heinz, Martin Mulsow, Stefanie Buchenau und John Zammito

Band 20

Jakob Mauvillon (1743 – 1794) und die deutschsprachige Radikalaufklärung Herausgegeben von Dieter Hüning, Arne Klawitter und Gideon Stiening

ISBN 978-3-11-079353-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-079361-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-079370-3 ISSN 2199-4811 Library of Congress Control Number: 2022935661 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

auvillon, Nachstich nach Radierung, 1784 Werner Kobold: Jakob Eléazar von Ma Universitätsbibliothek Leipzig, Port rträtstichsammlung, Inventar-Nr. 32/128

Inhalt Dieter Hüning, Arne Klawitter, Gideon Stiening Zur Einführung: Jakob Mauvillon (1743–1794) und die deutschsprachige Radikalaufklärung  | 1

1 Biographie und historischer Kontext  Kevin Hilliard  Jakob Mauvillon in Ilfeld (1766–1771) Neue Funde  | 13 Arne Klawitter  Aufgegebene Projekte und verschollene Schriften Mauvillons Briefwechsel als Dokument einer heuristischen Quellenphilologie  | 55 Martin Mulsow  Wie schreibt man die Geschichte der radikalen Spätaufklärung? Mauvillon im Kontext  | 85

2 Psychologie und Geschlechter-Anthropologie  Udo Thiel  Psychologische Analyse statt Metaphysik Mauvillons Aufsatz Ueber das Ich (1778)  | 107 Jutta Heinz  »so mag mich ein tiefforschendes und zugleich aufrichtiges Weib zurecht weisen« Jakob Mauvillons Mann und Weib nach ihren gegenseitigen Verhältnissen geschildert in der zeitgenössischen Geschlechterdebatte  | 129

3 Zur Physiokratischen Theoriebildung  Michael Schwingenschlögl  »in meine eigne Form gegossen« Jakob Mauvillons Aufklärungsdenken im Kontext der Physiokratie  | 151

VIII | Inhalt

Till Kinzel  Aufklärung und ökonomische Analyse Jakob Mauvillon und Christian Wilhelm Dohm im Streit um die Physiokratie  | 201

4 Religion und Politik  Hans-Peter Nowitzki  »Ich halte es für sehr gut, gegen die Religion zu schreiben« Mauvillons Briefwechsel mit Unzer, Diez, von Schmettau und von Knoblauch im Kontext der Radikalaufklärung der 1770er und 1780er Jahre  | 221 Stefan Klingner  Das Christentum als vernünftige Religion bei Jakob Mauvillon  | 251 Sebastian Abel  Das Problem der Offenbarung in Mauvillons ›System der christlichen Religion‹  | 269 Gideon Stiening  Naturrecht und Politik bei Mauvillon  | 285 Ere Nokkala  Jakob Mauvillons kriegsgeschichtliche Schriften  | 311 Martin Mulsow  Ordenskonkurrenz Mauvillon als Freimaurer in Kassel und als Gründer der Braunschweiger Illuminatenfiliale  | 325

5 Sprache und Literatur  Hans-Jürgen Lüsebrink  Mauvillon als Übersetzer literarischer und enzyklopädischer Werke Selbstverständnis und kulturelle Dynamik  | 365 Arne Klawitter  Gegen jede »Art von litterärschen Cromwellismus« Jakob Mauvillon als Literaturkritiker  | 385

Inhalt | IX

Kevin Hilliard  Jakob Mauvillons radikalaufklärerische Kritik an Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik  | 423

6 Anhang  Zeittafel | 457 Siglenverzeichnis | 463 Bibliographie | 465 Personenregister | 495

Dieter Hüning, Arne Klawitter, Gideon Stiening

Zur Einführung: Jakob Mauvillon (1743–1794) und die deutschsprachige Radikalaufklärung Mauvillons Tod ist doch ein Verlust für die Deutsche Literatur. Christian Garve an Christian Felix Weiße am 2. Februar 1794

1 Deutschsprachige Radikalaufklärung? Die europäische Radikalaufklärung ist häufig und unter vielfältigen, sich kritisch verändernden Kriterien in den Blick der Forschung geraten.1 Allerdings gilt dieser Befund in geringerem Maße für die eigenständige Gruppierung und Positionierung einer radikalen Aufklärung in den deutschsprachigen Gebieten.2 Zwar gab und gibt es Studien zu einzelnen Autoren in regionalgeschichtlicher bzw. biographischer Hinsicht;3 aber eine konzentrierte Auseinandersetzung mit dem von Jonathan Israel inaugurierten Konzept einer Radikalaufklärung am Beispiel eines ebenso produktiven wie zeitgenössisch bekannten Autoren ist bislang als Desiderat zu verzeichnen. Nach wie vor scheint sich die auf die deutschsprachige Aufklärung fokussierte Forschung an Kant kritisch abarbeiten zu müssen.4 Dabei gibt es eine Reihe von Autorinnen und Autoren, die seit den 1760er Jahren auch in den verschiedenen deutschsprachigen Ländern ein Verständnis von Aufklärung zu kultivieren versuchten, das sich vom Mainstream der entweder durch Christian Wolff oder durch John Locke bzw. durch Lessing oder Wieland maßgeblich beeinflussten moderaten Formen der Aufklärung abzusetzen strebte – und dies nicht allein auf den von Jonathan Israel bevorzugten Feldern der Religions- und

|| 1 Siehe hierzu u. a. Jonathan I. Israel: Radical Enlightenment: Philosophy and the Making of Modernity. 1650–1750. Oxford 2001; Margaret C. Jacob: The Radical Enlightenment. Pantheists, Freemasons and Republicans. New Orleans, Los Angeles 2006; Jonathan I. Israel, Martin Mulsow (Hg.): Radikalaufklärung. Berlin 2014; zu einer kritischen Sichtung des Konzepts siehe Frank Grunert (Hg.): Concepts of (radical) Enlightenment. Jonathan Israel in Discussion. Halle 2014 sowie Steven Ducheyne (Hg.): Reassessing the Radical Enlightenment. London 2017. 2 Siehe hierzu als eine der wenigen Ausnahmen: Martin Mulsow, Guido Naschert (Hg.): Radikale Spätaufklärung in Deutschland. Einzelschicksale – Konstellationen – Netzwerke. Hamburg 2012. 3 Siehe hierzu Maximilian Lässig: Radikale Aufklärung in Deutschland. Karl von Knoblauch, Andreas Riem und Johann Christian Schmoll. Berlin, Boston 2020. 4 Vgl. hierzu die sich an einer spezifischen Kant-Kritik abarbeitende Studie von Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild. Hamburg 2015. https://doi.org/10.1515/9783110793611-001

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Politiktheorie. Vor allem in den 1770er Jahren entwickelten Göttinger Philosophen, Wissenschaftler oder Literaten Vorstellungen von einer konsequenten Aufklärung, die sich möglichst aller Bereiche des menschlichen Denkens und Handelns bemächtigen sollte.5 Neben der Religions- und Staatstheorie suchte man nach neuen Perspektiven auf den Feldern der rationalen und empirischen Geschichte, der Ökonomietheorie, der Gesellschaftstheorie, der Geschlechterordnung, der Literatur und Kunst und vielen anderen Bereichen mehr.6 In Göttingen zählten neben Georg Christoph Lichtenberg und Johann Georg Heinrich Feder vor allem Christoph Meiners, August Ludwig Schlözer oder Michael Hißmann zu den ebenso bedeutenden wie selbstbewussten Neuerern auf den Feldern der Radikalaufklärung.7 Neben der das Feld der Radikalaufklärer dominierenden Göttinger Universität und dem Kreis um Johann Heinrich Merck in Frankfurt,8 der als frühe Erscheinung des Sturm und Drang ganz eigentümliche Formen politischer und sozialer Radikalaufklärung kultivierte,9 trat das im Einflussbereich der Göttinger Akademie agierende Kasseler Collegium Carolinum hervor,10 das mit Christian Wilhelm von Dohm, Georg Forster, Thomas Samuel Soemmerring u.v.m. eine Reihe herausragender Aufklärer aus den unterschiedlichsten Fächern anstellte, die in der Folge erheblichen Einfluss auf den intellektuellen und politischen Verlauf der Spätaufklärung nehmen sollte.11

|| 5 Vgl. hierzu u. a. Erich Bödeker, Philippe Büttgen, Michel Espagne: (Hg.): Die Wissenschaft vom Menschen in Göttingen um 1800. Göttingen 2008. 6 Siehe hierzu u. a. Heiner F. Klemme, Gideon Stiening, Falk Wunderlich (Hg.): Michael Hißmann (1752–1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung. Berlin 2013. 7 Falk Wunderlich: Empirismus und Materialismus an der Göttinger Georgia Augusta – Radikalaufklärung im Hörsaal? In: Aufklärung 24 (2012), S. 65–90 sowie Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening (Hg.): Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821). Empirismus und Popularphilosophie zwischen Wolff und Kant. Berlin, Boston 2018. 8 Siehe hierzu u. a. Ulrike Leuschner: Johann Heinrich Merck. Hannover 2010. 9 Siehe hierzu Johann Heinrich Merck: Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772. Hg. von Ulrike Leuschner (Gesammelte Schriften Bd. 2.1.) Göttingen 2020. 10 Siehe dazu Jochen Hoffmann: Jakob Mauvillon. Ein Offizier und Schriftsteller im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipationsbewegung. Berlin 1981, S. 44ff.; Eberhard Mey: Aufklärung in der Residenzstadt Kassel: Das Collegium Carolinum. In: Bernd Heidenreich (Hg.): Aufklärung in Hessen. Facetten ihrer Geschichte. Wiesbaden 1999, S. 46–56. 11 Siehe hierzu u. a. Hans Erich Bödeker, Ulrich Herrmann (Hg.): Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung. Hamburg 1987; Hans Erick Bödeker, Etienne François (Hg.): Aufklärung / Lumières und Politik. Zur politischen Kultur der deutschen und französischen Aufklärung. Leipzig 1996.

Zur Einführung: Jakob Mauvillon (1743–1794) und die deutschsprachige Radikalaufklärung | 3

2 Die Arbeits- und Reflexionsfelder Jakob Mauvillons In bestimmten Hinsichten gehört in diese Reihe auch der einer hugenottischen Flüchtlingsfamilie entstammte Jakob Mauvillon,12 der einige Jahre als Professor für Militärtechnik eine Anstellung in Kassel innehatte, sich gleichwohl ebenso als Literaturkritiker, Religionsphilosoph, Militärhistoriker oder Gesellschafts- und Geschlechtertheoretiker einen Namen machte. Seine eigentliche Leidenschaft aber gehörte dem Militär, und dies nicht nur als historischer und ingenieurstechnischer Theoretiker, sondern als praktischer Soldat. Schon früh trat er während des Siebenjährigen Krieges der Armee Friedrichs II. bei und brachte es dort bis zum Fähnrich. Auch späterhin verfolgte er neben oder im Rahmen seiner Lehrtätigkeiten eine militärische Laufbahn, die ihn bis zum Obristenlieutnant aufsteigen ließ, obwohl er durch eine schwere Rückgradverkrümmung körperlich beeinträchtigt war. Diese sicher auch seiner adeligen Herkunft zu verdankende affirmative Einstellung zum Soldatenstand führte aber zu bzw. basierte auf einer anthropologischen Prämisse, die die Grenzen seiner Stellung zur Radikalaufklärung anzeigen kann; in den Physiokratischen Briefen aus dem Jahre 1780 heißt es ausdrücklich an die Adresse der Theoretiker eines Ewigen Friedens gewandt: Freylich wer ein Mittel zeigt wie alle Menschen billig vernünftig und tugendhaft gemacht werden könnten, der macht dadurch alle Soldaten unnütz und tut der Menschheit einen grossen Dienst. [...] Allein dies Mittel und die Quadratur des Zirkels möchten wohl zugleich erfunden werden; denn die Quelle von Hader und Zweitracht, die den Krieg gebiehrt, liegt in der menschlichen Natur, und diese umzuformen ist so leicht nicht.13

Im Rahmen der Staatsklugheitslehren des 18. Jahrhunderts ist diese Annahme nicht unüblich,14 zugleich kann solcherart Legitimation des Militärs nicht zu Konzepten

|| 12 Zu den bisherigen biographischen Informationen vgl. u. a. Friedrich Schlichtegroll: Nekrolog auf das Jahr 1794. 5. Jg., 1. Bd. Gotha 1796, S. 163–245; Karl Georg Wilhelm Schiller: Braunschweig’s schöne Literatur in den Jahren 1745 bis 1800, die Epoche des Morgenrothes der deutschen schönen Literatur. Wolfenbüttel 1845, S. 132–151; Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 10), S. 24–62 sowie Dieter Hüning: Art. Mauvillon, Jakob Eléazar. In: Heiner F. Klemme, Manfred Kuehn (Hg.): The Dictionary of Eighteenth Century German Philosophers. 2 Bde. London, New York 2010, Bd. 1, S. 328–330. 13 Jakob Mauvillon: Physiokratische Briefe an den Herrn Professor Dohm. Oder Vertheidigung und Erläuterungen der wahren Staatswirthschaftlichen Gesetze die unter dem Nahmen des Physiokratischen Systems bekannt sind. Braunschweig 1780, S. 259. 14 Vgl. hierzu u. a. Gideon Stiening: Politik als »ausübende Staatsklugheit«. Machiavelli und die Aufklärung. In: David Nelting, Linda Simonis (Hg.): 550 Jahre Machiavelli. Heidelberg 2022 [i. D.].

4 | Dieter Hüning, Arne Klawitter, Gideon Stiening

einer konsequenten und darin eben radikalen Aufklärung gerechnet werden, die am Telos eines Ewigen Friedens mit guten Gründen festhielten.15 Eine ähnlich ambivalente Haltung nahm Mauvillon zu Fragen der christlichen Religion ein: Einerseits schreibt er an seinen Freund und Göttinger Kollegen Michael Hißmann: Denn unter uns u. als Freund gesagt, bin ich überzeugt, daß man der Menschheit keinen wichtigern Dienst erzeigen kann als an der Untergrabung des Christentums zu arbeiten. Diese Religion macht die Menschen schwach, furchtsam, kleinmüthig; sie erstickt jede Hoheit des Geistes, allen Adel der Seelen. 16

Andererseits tritt er 1787 mit einer umfangeichen Abhandlung als Verteidiger des Einzigen wahren Systems der christlichen Religion auf17 und bezieht sich auch in anderen Texten affirmativ auf die Gottes- als Schöpfungsinstanz sowie die Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Mauvillons zudem häufige und polemische Ausfälle gegen den Katholizismus verunmöglichen ebenfalls die Zuweisung zu einer radikalen Aufklärung. Gleichwohl kann und muss Mauvillon in anderen Zusammenhängen durchaus als Vertreter einer konsequenten und radikalen Aufklärung bezeichnet werden: Dazu zählen u. a. seine Kritik an der Ständegesellschaft bzw. des aus seiner Sicht abzuschaffenden Adelsstandes, seine überaus positive Interpretation der amerikanischen und der französischen Revolution, die er als Zeichen des Wiedereintritts der Geltung ursprünglicher Menschenrechte deutet, sowie insbesondere seine Einsichten in die prägende Bedeutung staatswirtschaftlichen Handelns für materiellen Wohlstand und politische Stabilität neuzeitlicher Staaten machen ihn zu einem der fortschrittlichsten und konsequentesten Aufklärer seiner Generation. Auch in einer mehr formalen als inhaltlichen Hinsicht lässt sich dieses Argument fortführen: Denn in den 25 Jahren seiner intellektuellen, lehrenden und politisch handelnden Entwicklung durchlief Mauvillon die biographischen Linien eines Aufklärers, der als Theoretiker Praktiker sein wollte und als Praktiker Theoretiker war. Dabei zeigt sich an Autoren und Lehrern wie Mauvillon – mehr als an Herder oder Goethe –, dass der frühe Sturm und Drang auch als eine Erweiterung und Radikalisierung der Aufklärung wahrgenommen und praktiziert wurde, und keineswegs nur als deren kritische Beendigung.

|| 15 Siehe hierzu den Band: »jenen süßen Traum träumen«. Kants Friedensschrift zwischen objektiver Geltung und Utopie. Hg. von Dieter Hüning und Stefan Klingner. Baden-Baden 2018. 16 Mauvillon an Hißmann, 23. Juni 1777. In: Michael Hißmann: Briefwechsel. Hg. von Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening und Falk Wunderlich. Berlin 2016, S. 13. 17 [Anonymus:] Das einzige wahre System der christlichen Religion. Berlin 1787; vgl. hierzu die Beiträge von Sebastian Abel und Stefan Klingner in diesem Band.

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Denn Jakob Mauvillon hat früh schon die analytischen und polemischen Instrumente der Aufklärung gegen deren konservative bzw. moderate Vertreter aufgewandt – so in seinem zu Unrecht vergessenen, das Jahrzehnt des Sturm und Drang aber einläutenden Briefwechsel mit Ludwig August Unzer Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter,18 in dem die beiden jungen Intellektuellen nicht nur die tugendempfindsam fundierte Dichtungstheorie Gellerts unter die Lupe nahmen, sondern auch gesellschafts- und politiktheoretische Fragen sowie anthropologische Grundlagentheorien mit einiger Verve erörterten. Dass dieser zeitgenössisch für erheblichen Wirbel sorgende fiktive Briefwechsel der literaturwissenschaftlichen Forschung lange unbekannt blieb, und zwar auch den umfangreichen Untersuchungen zum Sturm und Drang,19 legt eine ausführliche Auseinandersetzung mit dessen Gehalten mehr als nahe.20 Von hier aus lassen sich neue und sachhaltige Argumente für das ideen- und sozialgeschichtliche Verhältnis von Aufklärung und Sturm und Drang gewinnen. Diese Aussicht auf neue Erkenntnisse gilt ebenfalls für die weiteren Reflexionsund Publikationsfelder des spätaufklärerischen Autors, der vor allem auf dem Gebiet der Religionsphilosophie, der physiokratischen Politik- und Ökonomietheorie, der Militärgeschichte und der soziohistorischen Geschlechtertheorie originelle und einflussreiche Ergebnisse erzielte. Auf allen drei Feldern bewegt sich Mauvillon programmatisch zwischen einer philosophischen Grundlagentheorie und einer pragmatischen Anwendungstheorie, um eben jenen Übergang zwischen Theorie und Praxis schon in der Theorie ebenso rational wie methodisch abgefedert zu gestalten. Mit Mauvillon nimmt der nachfolgende Band einen auf drei zentralen Feldern der aufklärerischen Gesellschaftstheorie des späten 18. Jahrhunderts (Ökonomie, Militär, Geschlechterpolitik) tätigen Intellektuellen in den Blick, der mehr durch seine strenge Wissenschaftlichkeit als durch seine eher moderate Religionskritik zu Ergebnissen kam, die noch im 19. Jahrhundert theoretische wie praktische Konsequenzen zeitigte.21 Neben seiner Bedeutung für die Debatten innerhalb der deutschen Radikalaufklärung spielt Mauvillon eine zentrale Rolle im französisch-deutschen Kulturtransfer, und zwar einerseits als Übersetzer der Werke von Turgot, Quesnay, Raynal,

|| 18 Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel. 2 Stücke. Frankfurt a. M., Leipzig [d. i. Lemgo] 1771/72 [ND WP 21]. 19 Siehe hierzu das umfangreiche Handbuch Sturm und Drang. Hg. von Matthias Lusercke-Jaqui. Berlin, Boston 2017, in dem Mauvillon nicht erwähnt wird. 20 Vgl. hierzu Arne Klawitter: Das »abgeschmackte« deutsche Publikum und seine »Gellertomanie«. Ludwig August Unzers und Jakob Mauvillons ›Dichterbriefe‹ und deren Verteidigung durch Christian G. Rautenberg. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 60 (2016), S. 3–38 sowie Klawitters zweiten Beitrag in diesem Band. 21 Zur Rezeption Mauvillons vgl. Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 10), S. 281ff.

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andererseits als Co-Autor (und später auch als Übersetzer) von Mirabeaus De la monarchie prussienne, einer umfassenden, mit statistischem Material gesättigten Bestandsaufnahme des preußischen Staates. Auch in dieser Rolle hat Mauvillon zentrale Positionen der Radikalaufklärung transportiert.22

3 Aufbau und Beiträge des Bandes Ein entscheidendes Desiderat der bisherigen Forschung besteht in einer Sichtung und Interpretation der umfangreichen Textbestände des mauvillonschen Œuvres und damit der Reflexions- und Wissenschaftsfelder, auf denen Jakob Mauvillon intellektuell und publizistisch tätig war. Denn es deutet sich mithilfe der TheoriePraxis-Korrelation eine Vermittlung an, auf die hin die ausnehmend unterschiedlichen Felder der intellektuellen Arbeiten Mauvillons – Literaturkritik, Religionsphilosophie, wissenschaftliche Ökonomie, Anthropologie, Geschichte, Politik und kritische Geschlechterforschung – vermittelt werden können. Vom kritisch reflektierten Begriff und Konzept einer Radikalaufklärung kann zugleich die Erforschung der sprachlichen und konzeptionellen Mittel der Spätaufklärung und des Sturm und Drang profitieren. Die nachfolgenden Auseinandersetzungen mit den Texten Jakob Mauvillons stellen – zumindest für den deutschsprachigen Raum – genuin neue Erkenntnisse und Einsichten bereit, welche die grundlegenden Kenntnisse sowohl der allgemeinen als auch der radikalen Spätaufklärung zu erweitern versuchen. Zum Zwecke dieser Vermittlung der Arbeits- und Reflexionsfelder Mauvillons und damit der Erstellung eines Werkprofils werden zunächst einzelne Werkbereiche erschlossen, die zum Teil weitgehend oder gar vollständig unbekannt waren. Dazu gehören zunächst neuere biographische Details, die Kevin Hilliard über Mauvillons Zeit in Ilfeld aus noch unbearbeiteten Aktenbeständen ermitteln konnte. Klar wird schon hier, dass Mauvillon auch lebensweltlich als unkonventioneller ›Störenfried‹ wahrgenommen wurde, weil er nicht nur den regelmäßigen Kirchgang verweigerte, sondern auch in Geschlechterfragen zu einem liberalen Umgang neigte. Arne Klawitter dokumentiert im Anschluss daran anschaulich, in welcher Weise aus den veröffentlichten und daher literarisch geformten Briefen Mauvillons Rückschlüsse auf seine tatsächliche Biografie gezogen werden können, die das Bild des Aufklärers weiter differenzieren können, und sucht in den Briefen nach aufgegebenen Projekten und verschollenen Schriften Mauvillons. Martin Mulsow zeigt in seinem, diesen ersten Abschnitt abschließenden Beitrag, warum und in welcher Weise die Erforschung zur Radikalaufklärung am Beispiel Jakob Mauvillons betrieben und weiter ausdifferenziert werden kann.

|| 22 Siehe hierzu auch den Beitrag von Hans-Jürgen Lüsebrink in diesem Band.

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Neuland betritt der Band auch mit den Beiträgen zur Psychologie und Geschlechter-Anthropologie Mauvillons, weil die Positionen des Aufklärers auf diesen Feldern der spätaufklärerischen Grundlagentheorien par excellence bislang vollkommen unbekannt waren. Udo Thiel weist in seiner eingehenden Interpretation des aus den späten 1770er Jahren stammenden Textes Ueber das Ich nach, dass Mauvillon den hochdifferenzierten Debatten der Spätaufklärung über Fragen der empirischen Psychologie, speziell des Subjekts bzw. des Ich, genuin neue Aspekte abgewinnen konnte. Jutta Heinz diskutiert anschließend Mauvillons ebenso energisches wie umfangreiches Engagement in den Geschlechterdebatten der vorrevolutionären Spätaufklärung, die er gegen konservative Aufklärungskritiker einsetzte. Mauvillons kritischer Einspruch gegen die sich in den 1780er Jahren abzeichnenden Zurückweisungen genuin aufklärerischer Forderungen nach sozialer und rechtlicher Egalität der Geschlechter ist sowohl in der Gender-Forschung zum 18. Jahrhundert als auch in der Forschung zur Radikalaufklärung noch weitgehend unbekannt; hier aber lässt sich klären, ob die Aufklärung feministisch bzw. der Feminismus aufklärerisch war.23 Die Beiträge des anschließenden Abschnittes befassen sich mit dem bekanntesten Teil des mauvillonschen Œuvres: der physiokratischen Theoriebildung. Dabei kann Michael Schwingenschlögl in einer weitgespannten Kontextualisierung die Grundlagen und Anregungen der Staatswirtschaftstheorie Mauvillons rekonstruieren und zugleich die Besonderheiten der Konzeption des deutschen Physiokraten nachzeichnen. Schingenschlögl gelingt es dabei, die durch die heterogenen Theorieund Wissensbestände, die Mauvillon seiner Wirtschaftstheorie zugrunde legte, hervorgerufenen Problemlagen und Widersprüche herauszuarbeiten. Till Kinzel stellt in seinem anschließenden Beitrag die physiokratische Theorie Mauvillons in den größeren Kontext der vor allem französischen und deutschen Konzeptionsbildungen zu einer Staatswirtschaftskunst, der die Besonderheiten der Theorien des Braunschweiger Aufklärers erkennen lässt. Mauvillons physiokratische Theorie ist nämlich gegenüber den französischen Klassikern wie Turgot, Quesnay oder Mirabeau eigenständig und auf die regionalen Besonderheiten der deutschen Länder ausgerichtet. Kinzel gelingt es, diese Einsicht Mauvillons in die besonderen Herausforderungen einer physiokratischen Konzeption für Nordeuropa präzise herauszuarbeiten. Der sechste Abschnitt des Bandes enthält Beiträge zur Religionsphilosophie und zum Politikverständnis des Spätaufklärers. Hans-Peter Nowitzki konzentriert sich in diesem Zusammenhang auf den frühen, allerdings erst 1801 von Mauvillons Sohn herausgegebenen Briefwechsel zwischen seinem Vater und Ludwig August Unzer,

|| 23 Siehe hierzu auch Isabel Karremann, Gideon Stiening: Feministische Aufklärung in Europa. Skizze eines Forschungsprogrammes. In: dies. (Hg.): Die feministische Aufklärung in Europa / The Feminist Enlightenment across Europe. Hamburg 2020 [Aufklärung 32], S. 5–15.

8 | Dieter Hüning, Arne Klawitter, Gideon Stiening

Heinrich Friedrich Diez, Karl von Knoblauch u. v. a. Dabei zeigt sich vor allem in den kontroversen Debatten über das Unsterblichkeitsverständnis, dass die frühen 1770er Jahre durch einen erheblichen Säkularisierungsschub gekennzeichnet sind, der erst in den 1780er Jahren abebbte. Diese Bewegungen der religiösen und theologischen Überzeugungen der Zeit dokumentieren sich auch an Mauvillons umfangreicher Abhandlung über das Einzige wahre System der christlichen Religion, das in den nächsten beiden Beiträgen von Sebastian Abel und Stefan Klingner einer eingehenden Interpretation unterzogen wird. Denn es lässt sich an diesem Text anschaulich nachweisen, dass Mauvillon zwar ein energischer Kritiker der Institutionen, insbesondere der katholischen Kirche war, er zugleich aber an dogmatischen Grundzügen einer calvinistischen Religion und Theologie festhielt, die ihn nur schwer ins Lager der Radikalaufklärung lozieren lassen. Das gilt in anderer Hinsicht auch für Mauvillons Verständnis von Politik und deren begründungstheoretischen Voraussetzungen und institutionellen Konsequenzen. Gideon Stiening versucht nämlich die naturrechtlichen Grundlagen der Staatsklugheits- und Staatswirtschaftspolitik Mauvillons zu analysieren und die damit verbundenen rationalistischen Prämissen des im Selbstanspruch empiristischen Politik- und Wirtschaftsmodells. Ere Pertti Nokkola zeigt dagegen in seiner Betrachtung der militärgeschichtlichen Abhandlungen Mauvillons, dass der Braunschweiger Aufklärer eine genuin historische Perspektive auf seinen Gegenstand entwirft und systematisch umsetzt, womit er einem gewichtigen Postulat der Aufklärungstheorie, nämlich der substanziellen Historisierung der Gesellschafts- und Staatstheorie sowie aller ihrer Momente, Rechnung trägt. Martin Mulsow leistet in seiner minutiösen Rekonstruktion der politischen Aktivitäten Mauvillons im Rahmen unterschiedlicher Geheimbünde in Kassel und Braunschwieg einen entscheidenden Beitrag für die Beantwortung der Frage nach Anspruch und Wirklichkeit der praktischen Umsetzung aufklärerischer Politik unter den Bedingungen eines aufklärungsfeindlichen Absolutismus. An Mulsows Beitrag lässt sich ermessen, wo genau eine bestimmte Aufklärungskonzeption die Vermittlungsstelle zwischen Theorie und Praxis der Politik sah und mit welchen internen und externen Schwierigkeiten sie umzugehen hatte. Der letzte Abschnitt des Bandes versammelt Beiträge zu Mauvillons umfangreichen Übersetzungsarbeiten und seinen Abhandlungen zu Sprache und Dichtung. Hans-Jürgen Lüsebrink arbeitet in diesem Zusammenhang nicht allein den thematischen und gattungsspezifischen Umfang der mauvillonschen Übersetzungen heraus, sondern auch die subjektiven und objektiven Funktionen dieser Tätigkeit, die zwischen dem Interesse an Nebenverdiensten, einer echten Passion und soziokulturellen Dynamiken verortet werden. Arne Klawitter konzentriert sich anschließend auf Mauvillons Tätigkeiten als Literaturkritiker, die er in unterschiedlichen Zeitschriften, vor allem aber in der Lemgoer Auserlesenen Bibliothek unternahm. Klawitter zeigt mit allem Nachdruck, dass Mauvillon auch auf diesem Gebiet kulturpolitische Interessen verfolgte und energisch umzusetzen suchte. Kevin Hilliard

Zur Einführung: Jakob Mauvillon (1743–1794) und die deutschsprachige Radikalaufklärung | 9

beschließt diesen Abschnitt und damit den ganzen Band mit einem Beitrag zu Mauvillons wuchtiger Klopstock-Kritik, die den Kritiker erneut deutlich ins Lager einer Radikalaufklärung lozieren lässt. Zusammenfassend lässt sich mithin festhalten, dass sich die Beiträge des Bandes darum bemühen, eine eigenständige Bearbeitung und Vermittlung der unterschiedlichen Werkteile, d. h. der Reflexions- und Handlungsbereiche Jakob Mauvillons herauszuarbeiten, die einen mehr als kontingenten Zusammenhang ausbilden. Das komplexe Verhältnis Mauvillons zur Radikalaufklärung sowie das Verhältnis von Theorie und Praxis der Aufklärung bieten hierfür zwei von vielen kategorialen Ordnungen an.

Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die die Herausgeber am 11. und 12. Oktober 2019 an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel durchführen durften. Zu danken ist daher zunächst und zumeist Volker Bauer (HAB), der die Tagung umsichtig begleitete. Für die wertvollen praktischen und administrativen Hilfen vor, während und nach der Tagung sei an dieser Stelle zudem Uta Röhrig (HAB) ganz herzlich gedankt. Darüber hinaus wurde die Tagung von der FritzThyssen-Stiftung in großzügiger Weise unterstützt, wofür sich die Organisatoren ausdrücklich bedanken. Schließlich gilt ein besonderer Dank dem Verlag Walter de Gruyter und dabei insbesondere Serena Pirrotta und Anne Hiller, die sich für unseren Sammelband zu Jakob Mauvillon mit großem Engagement einsetzten. Trier, Tokyo und München im März 2022

| 1 Biographie und historischer Kontext

Kevin Hilliard

Jakob Mauvillon in Ilfeld (1766–1771) Neue Funde »In Ilfeld«, schreibt Jakob Mauvillon 1792 anlässlich eines Besuchs, den er der dort gelegenen Klosterschule abgestattet hatte, an der er von 1766 bis 1771 als französischer Sprachmeister tätig gewesen war, »habe ich knapp sechs ebenso nützliche wie angenehme Jahre verbracht«.1 »[D]ie Ilfeldsche Einsamkeit war ihm in allem Betracht ausserordentlich zuträglich«. So fasst auch Friedrich Wilhelm Strieder 1788 Mauvillons Aufenthalt in der in den Ausläufern des Harzes gelegenen hannoveranischen Eliteanstalt zusammen.2 Ein entgegengesetztes Bild zeichnet Friedrich Schlichtegrolls Nekrolog auf das Jahr 1794, das Todesjahr Mauvillons. Schlichtegroll3 konnte sich auf handschriftliche und gedruckte Quellen stützen; außerdem hat er seine Ausführungen – bis zu Jochen Hoffmanns Doktorbarbeit aus dem Jahre 1981 die einzige umfassende biographische Darstellung – von einem »unpartheyischen Bekannten Mauvillons« prüfen lassen.4 Zur Ilfelder Zeit heißt es da: »Es war dieß freylich nicht der Wirkungskreis, den er sich wünschte; er konnte da weder seine Kenntnisse erweitern, noch seine Ideen durch Mittheilung berichtigen; und überdieß war die Arbeit lästig und mit mancherley Verdruß verknüpft.«5 Um es vorgwegzunehmen: Schlichtegrolls Darstellung liegt näher an der Wahrheit als Mauvillons eigener, von beschönigender Erinnerung gefärbter Bericht. »Verdruß« ist es in der Tat, womit Mauvillon in Ilfeld zu kämpfen hatte. Der folgen-

|| 1 »[À] Ilfeld j’ai passé près de six ans aussi utilement qu’agréablement« (Jakob Mauvillon an George August Frensdorff, 21.8.1792 [Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 118a 2799, Nr. 150]). Die ansonsten nicht ausgewiesenen Übersetzungen sind vom Verf. 2 Friedrich Wilhelm Strieder: Jakob Mauvillon. In: Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten und Schriftsteller Geschichte. Seit der Reformation bis auf gegenwärtige Zeiten. Cassel 1788, Bd. 8, S. 295–303, hier S. 297. Strieder, Bibliothekar in Kassel, wohin Mauvillon nach seiner Ilfelder Zeit gewechselt war, kannte diesen persönlich und konnte bei seiner Darstellung auf einen »eigenhändige[n] Aufsatz« von Mauvillon selbst zurückgreifen (ebd., S. 295). 3 Nach der Neuen Deutschen Biographie, Bd. 23 (2007) hat Schlichtegroll die Beiträge zu seinem Nekrolog »größtenteils […] selbst verfaßt« (https://www.deutsche-biographie.de/sfz3146.html, Zugriff 5.10.2019). 4 [Friedrich Schlichtegroll:] Mauvillon. In: Nekrolog auf das Jahr 1794. Enthaltend Nachrichten von dem Leben merkwürdiger in diesem Jahre verstorbener Deutschen. Hg. von Friedrich Schlichtegroll. Gotha 1796, 5. Jg., 1. Bd., S. 163–245, hier S. 163 Anm. In Frage käme etwa Joachim Heinrich Campe, zu dem Mauvillon in seinen letzten, Braunschweiger Jahren (1785–1794) eine enge Beziehung hatte. 5 Ebd., S. 170. https://doi.org/10.1515/9783110793611-002

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de Beitrag setzt sich zum Ziel, die damit verbundenen Umstände näher zu beleuchten. Schlichtegrolls Nachruf lässt sich über die Einzelheiten nicht weiter aus. Genaueres erfahren wir erst von Jochen Hoffmann, der sich auf in der Zwischenzeit aufgetauchte, in der Landes- und Murhardschen Bibliothek in Kassel aufbewahrte Briefe Mauvillons beziehen konnte.6 Zunächst war in einem Schreiben vom 2. September 1769 an den Braunschweiger Freund Johann Joachim Eschenburg von »Zank u. Streit, Mistrauen und Neubegierde einer auf den andern, [und] Aerger von Seiten der jungen Leute« die Rede, die ihm Ilfeld zu einem »verdrüßlichen Aufenthalt« machten.7 Daran knüpfte sich ein abenteuerlicher Plan, sich mit einer nicht näher identifizierten »Geliebten« nach Hamburg abzusetzen und sich dort als Sprachlehrer durchzuschlagen. Davon nahm Mauvillon auf Anraten Eschenburgs Abstand. Zwei weitere Jahre mussten verstreichen, bevor es ihm gelang, eine ihm gemäße Stelle in Kassel zu bekommen und Ilfeld den Rücken zu kehren.8 Am 10. November 1771, knappe zwei Wochen nachdem er von Ilfeld abgereist war,9 schrieb er einen Brief an die Lehrer des Pädagogiums, der sich über seinen ›Verdruß‹ weiter auslässt. Nicht die Lehrer seien Schuld daran gewesen, die ihm vielmehr durch ihren »freundschaftlichen Umgang« seinen »Aufenthalt in Ilfeld [angenehm] gemacht« hätten.10 »Die Ursache, warum [er sich] bemühet habe wegzukommen«, habe einzig und allein im »feindseligen« »Betragen des H[err]n Amtmanns gegen [ihn]« gelegen. Diesem habe er deshalb einen Brief geschrieben, in dem er ihm »sein Unrecht […] vorh[ält]«. Damit die Lehrer auch im Bilde seien,

|| 6 Jochen Hoffmann: Jakob Mauvillon. Ein Offizier und Schriftsteller im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipationsbewegung. Berlin 1981, S. 35. 7 Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 4o Ms. Litt. 37[Mauvillon:02. Der Standort im Folgenden abgekürzt: LMB. 8 Strieder: Jakob Mauvillon (s. Anm. 2), S. 279; [Schlichtegroll:] Mauvillon (s. Anm. 4), S. 172; Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 6), S. 36. 9 Am 30. 10. 1771. Zu diesem Datum s. Mauvillon an Wilhelm Ernst Christian von Wüllen, mit dessen Empfangsbestätigung vom 29. Oktober 1771 »abends 5 Uhr«. Mauvillon hatte den Brief am selben Tag dem nebenan wohnenden Amtmann »zu Hande« zustellen lassen; signiert ist er lediglich mit der Angabe »Dienstag Abend«. Der 29. Oktober 1771 war ein Dienstag. Landesarchiv SachsenAnhalt, Wernigerode, A 19k III, Nr. 253, Bll. 61–62 (Bl. 61r und Bl. 62r‒v). Der Standort im Folgenden abgekürzt: LASAW. 10 Der Brief an Frensdorff (s. Anm. 1) erwähnt besonders »mon ancien ami Paetz, Régent du Collége, homme de mérite dans toute la force du terme« (mein alter Freund Pätz, der Direktor der Schule, ein im vollsten Wortsinne verdienstvoller Mann). Heinrich Alexander Günther Pätz war 1766, gleichzeitig mit Mauvillon, Collaborator in Ilfeld geworden (s. Ernst Wiedasch: Das Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge des Pädagogiums zu Ilfeld seit seiner Gründung. In: Programm des Königlichen Pädagogiums zu Ilfeld. Nordhausen 1853, S. 72). Zu seiner weiteren Laufbahn an der Schule s. Anm. 79 unten. Wiedaschs chronologisch angeordnete Liste der Schüler verzeichnet auch die Zu- und Abgänge der Lehrer.

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und um in der Folge etwaigen Gerüchten vorzubeugen, lege er ihnen eine Kopie dieses Briefes bei.11 Jochen Hoffmann lag der Brief an die Lehrer vor, nicht aber der Brief an den Amtmann. So konnte er mangels weiterer Einzelheiten nur schließen, dass der Konflikt »offenbar heftig« gewesen war, ohne dass Näheres zu seinem »Grund« in Erfahrung zu bringen sei.12 Ich habe 2012 im antiquarischen Handel eine Abschrift des Briefs an den Amtmann erwerben können. Er ist auf den 5. November 1771 datiert. Eine Woche vorher, am 29. Oktober, noch in Ilfeld, einen Tag vor seiner Abreise, hatte Mauvillon in einem kurzen Schreiben den Amtmann noch in untertänigster Weise bitten müssen, ihm sein »Quartalgeld«, den Rest seines Jahresgehalts also, auszuzahlen.13 Kaum aber war er auf Hessen-Kasselschem Boden in Sicherheit, setzte er sich hin, um dem Amtmann über vier beidseitig beschriebene Folioseiten seine wahre Meinung zu sagen. Es ist eine Abrechnung, in der sich offensichtlich ein jahrelang aufgestauter Hass entlädt. Zusammen mit anderen einschlägigen Quellen, handschriftlichen wie gedruckten, gibt uns dieser Brief die Möglichkeit, Mauvillons Umstände in Ilfeld, zwar nicht in allen Einzelheiten, aber doch mit einiger Genauigkeit zu rekonstruieren. Für Mauvillons Werdegang waren die Ilfelder Jahre besonders bedeutsam. Hier knüpfte er »jene ominöse Verbindung mit den Gebrüdern Unzer in Wernigerode«, wie sich ein missbilligender Biograph des 19. Jahrhunderts ausdrückt,14 der sich der zusammen mit Ludwig August Unzer verfasste Briefwechsel Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter (1771–1772) verdankte.15 Weil aber die nächste größere Publikation Mauvillons einige Jahre auf sich warten ließ, und diese Sammlung von Aufsätzen über Gegenstände aus der Staatskunst, Staatswirthschaft und neuesten Staatengeschichte (1776–1777) sich auf Gegenstände bezog, für die er erst in Kassel ein Interesse entwickelte, wird leicht übersehen, dass in Ilfeld der Grund gelegt

|| 11 LMB, 4o Ms. Litt. 37[Mauvillon:04. 12 Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 6), S. 35. 13 Mauvillon an Wilhelm Ernst Christian von Wüllen, 29.10.1771, LASAW, A 19k III, Nr. 253, Bl. 61v. Entwurf der Antwort von Wüllens: LASAW, A 19k III, Nr. 253, Bl. 63. Auf den Brief Mauvillons vom 29. Oktober 1771 hat schon Peter Kuhlbrodt hingewiesen: Der Freundes- und Bekanntenkreis Leopold Friedrich Günther von Goeckingks im südlichen Harzvorland – ein Beitrag zur Biographie des Dichters. In: Harz-Zeitschrift für den Harz-Verein für Geschichte und Altertumskunde 43/44 (1992), S. 105–120, hier S. 119 Anm. 65. Auch er weiß, mit Hinweis auf den Brief an die Lehrer, jedoch ohne nähere Einzelheiten, von dem »Streit« zwischen Mauvillon und dem Amtmann zu berichten (ebd., S. 114 und S. 119 Anm. 65). 14 Carl G. W. Schiller: Braunschweig’s schöne Literatur in den Jahren 1745 bis 1800, die Epoche des Morgenrothes der deutschen schönen Literatur. Zum hundertjährigen Stiftungsfeste des Collegii Carolini. Wolfenbüttel 1845, S. 134. 15 Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter und ueber andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel. Lemgo 1771/72.

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worden war für zum Teil erst sehr viel später erschienene Werke, denen er unter den deutschen Radikalaufklärern seine Stellung verdankt – Werke mit freigeistigen Inhalten zur Anthropologie (Über das Ich, 1778) und vor allem zur Religion (Vom Genius des Sokrates, 1777; Das einzige wahre System der christlichen Religion, 1787). Dass aber eine Wechselwirkung bestand zwischen der Richtung, die seine Gedanken in Ilfeld nahmen, und dem dort Erlebten, soll im Folgenden plausibel gemacht werden. Die archivalischen Quellen zu Ilfeld befinden sich teils in Göttingen, teils in Hannover, teils in Wernigerode: in Göttingen, weil ab 1747 der Universität die pädagogische Aufsicht über die Schule übertragen wurde,16 in Hannover und Wernigerode, weil sowohl das Kurfürstentum Hannover als auch die Grafschaften Stolberg-Wernigerode und Stolberg-Stolberg in der (ehemaligen) Grafschaft Hohnstein, zu der Ilfeld gehörte, bestimmte Hoheits- und Patronatsrechte ausübten.17 Das Haupthindernis, das sich der Erforschung der Ilfelder Zeit entgegenstellt, ist, dass das einst umfangreiche Archiv der Anstalt18 1945 verlorenging.19 In jüngster Zeit haben sich einige disiecta membra des Ilfelder Archivs, darunter auch Briefe von Mauvillon, im Universitätsarchiv Göttingen finden lassen.20 Dadurch sind jedoch längst nicht alle Verluste wiederhergestellt. Umso dankbarer ist man daher

|| 16 Ludwig Adolf Wiese (Hg.): Das höhere Schulwesen in Preussen. Historisch-statistische Darstellung. Berlin 1869, Bd. 2, S. 430f. 17 Ebd., S. 429f. Vgl. Marcus Ites: Die Verlegung der Ilfelder Klostereinkünfte nach Göttingen. In: Göttinger Beiträge zur deutschen Kulturgeschichte. Hg. von H. Thiersch. Göttingen 1927, S. 90–130, hier S. 121f. und S. 124; Heinrich Daniel Andreas Sonne: Topographie des Königreichs Hannover. München 1834, Bd. 5, S. 466. 18 Hans Kleinschmidt: Zwei Jugendbriefe von Goethes Freund Plessing an Ilfelder Freunde: In: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 65 (1932), S. 129–138: »Die Klosterschule Ilfeld schätzt sich glücklich […] ein […] recht umfangreiches und nicht minder inhaltreiches Archiv zu besitzen« (S. 132). 19 »[Das] 1945 zerstreute und größtenteils vernichtete Ilfelder Schularchiv« (Niedersächsisches Landesarchiv Hannover, Dep. 90: Klosterschule Ilfeld (https://www.arcinsys.niedersachsen.de/ arcinsys/detailAction.action?detailid=b2410, Zugriff 28. 9. 2019)). Im Niedersächsischen Landesarchiv Hannover (im weiteren Verlauf abgekürzt: NLAH) ist ein Teil eines wohl gegen Ende des 19. Jahrhunderts angefertigten Verzeichnisses des Ilfelder Schularchivs erhalten (NLAH Dep. 90, Nr. 9). 20 Das entscheidende Indiz ist, dass sich unter den neu aufgefundenen Handschriften im Universitätsarchiv (Stand: Herbst 2018) zwei Briefe von Friedrich Viktor Leberecht Plessing vom 24. August und dem 19. und 24. August 1768 befinden (Universitätsarchiv Göttingen, vorläufige Mappe ›Rest‹). Diese Briefe hat Kleinschmidt seinerzeit im Ilfelder Schularchiv gefunden (Kleinschmidt: Zwei Jugendbriefe [s. Anm. 18], S. 132). Die Wahrscheinlichkeit ist also groß, dass auch die anderen Akten in der Sammlung des Universitätsarchivs Ilfelder Ursprungs sind. – Im weiteren Verlauf wird unter der Sigle UAG auf diese Handschriften verwiesen. Die einschlägigen Akten waren zur Zeit der Abfassung noch nicht inventarisiert. Die Verweise entsprechen dem Stand der vorläufigen Sortierung vom 15. Oktober 2018.

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für Arbeiten, die vor 1945 entstanden sind und die Bestände des Archivs noch nutzen konnten. Direkt an der Quelle standen der Ilfelder Schuldirektor Wiedasch und der Lehrer Volckmar im 19., der Bibliothekar Meyer sowie die Direktoren Kleinschmidt und Ites im 20. Jahrhundert. In den Programmschriften des Pädagogiums oder fachspezifischen und regionalgeschichtlichen Zeitschriften finden sich die Früchte ihrer Arbeit.21 Das größte Verdienst um die historische Bergung des Ilfelder Archivmaterials gebührt jedoch dem Forscher Wolfram Suchier (1883–1964), der sich besonders intensiv vor 1914, aber auch in den Jahrzehnten danach und bis in die 1950er Jahre hinein mit Mauvillon beschäftigt hat. Ihm haben wir die Eschenburg-Briefe aus den Jahren 1766–1769 zu verdanken.22 Er war es auch, der im Juli 1909 aus dem antiquarischen Handel Mauvillons Brief an die Ilfelder Lehrer erwarb.23 Dadurch auf die Ilfelder Verhältnisse aufmerksam geworden, wandte er sich sogleich an den dortigen Bibliothekar Georg Meyer, um sich weitere Auskünfte einzuholen.24 Die im Schreiben an die Lehrer erwähnte Kopie des Briefs an den Amtmann musste ihn natürlich besonders interessieren. Und tatsächlich konnte Meyer diese Kopie im Archiv aufspüren und Suchier zur Verfügung stellen. Suchiers Abschrift davon ist es, die ich 2012 erwarb.25 Die beiden Originale – der Brief an den Amtmann und die dem Brief an die Lehrer beigelegte Kopie desselben – sind (jedenfalls nach dem jetzigen Wissensstand) verschollen. Nur Suchiers Abschrift hat die Katastrophe von 1945 überdauert – so prekär kann historische Überlieferung sein. Die Handschrift hätte nicht in bessere Hände fallen können. Suchier, wissenschaftlicher Bibliothekar mit Stationen in Marburg, Halle und Erfurt, war mit den

|| 21 Die einschlägigen Beiträge sind an gegebener Stelle zitiert. 22 Die Briefe waren eine Schenkung am 27. März 1914 von »Frau Geh.-Med. Rat. Mathilde Eschenburg geb. Ebert in Detmold« (Staatsbibliothek Berlin, Suchier-Nachlass, Mappe: Mauvillon Jakob II). Sie befinden sich jetzt in der Landes- und Murhardschen Bibliothek Kassel (4o Ms. Litt. 37). – Der umfangreiche Nachlass Suchiers ist noch nicht inventarisiert. Die hier gegebenen Nachweise auf die von Suchier angelegten Mappen und Ordner können nur ungefähren und vorläufigen Charakter haben. Besondere Schwierigkeiten bereitet die Einordnung der vielen losen Zettel. Dem Berliner Nachlass verdankt dieser Aufsatz dennoch zahlreiche wertvolle Informationen. Auf ihn aufmerksam gemacht hat schon Martin Fontius: Constant und die Mauvillons. In: Benjamin Constant devant l’Allemagne et la critique allemande. Hg. von Kurt Kloocke. Annales Benjamin Constant 10. Lausanne, Paris 1989, S. 9–23, hier S. 14. Fontius’ Beitrag ist Wolfram Suchier gewidmet. Im Folgenden wird auf diesen Nachlass unter der Sigle SN verwiesen. 23 »[A]m 18.7.1909 von E. Hirsch in München Preis 12.‒ Mark« (SN, Mappe: Mauvillon Jakob II). Auch dieser Brief ist jetzt im Besitz der Landes- und Murhardschen Bibliothek Kassel (4o Ms. Litt. 37[Mauvillon:04). 24 Die Postkarten und Briefe befinden sich im Berliner Nachlass. 25 In einem Konvolut, das offensichtlich zum Suchier-Nachlass gehört. Wie es von dem Gros des Nachlasses abgezweigt wurde, ist unbekannt. Der Verkäufer, das Antiquariat Kristen in Berlin, konnte mir keine Information zur Provenienz geben.

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Praktiken der Edition bestens vertraut.26 Wie der Vergleich von erhaltenen Originalen und seinen Abschriften zeigt,27 kann auf seine Transkriptionen absolut Verlass sein, bis hin zur Kennzeichnung von Seitenumbrüchen, orthographischen Eigenheiten und ausgestrichenen Stellen – allerdings unter Verlust der materiellen Dimension der Originale. Immerhin dürfen wir uns sicher sein, dass seine Abschrift des Briefs an den Amtmann dessen Wortlaut mit akribischer Genauigkeit wiedergibt. Der Brief zog einen emphatischen Schlussstrich unter Mauvillons Ilfelder Zeit. Unklar ist, was ihn fünf Jahre vorher veranlasst hatte, dorthin zu ziehen. Seine Berufung verdankte er womöglich seinem Vorgesetzten im Siebenjährigen Krieg, dem Grafen Johann Ludwig von Wallmoden, der eine enge Verbindung zum geheimen Kanzleisekretär Georg Friedrich Brandes hatte; diesem unterstanden die Klostersachen im Kurfürstentum Hannover, zu denen auch das säkularisierte Stift Ilfeld gehörte.28 Nach dem Abgang von Jakob Friedrich Duvernoy, dem Vorgänger auf der Sprachmeisterstelle, war er allerdings nicht die erste Wahl. Erst nachdem zwei andere Kandidaten ausgeschieden waren, fiel ihm die Stelle zu.29 Am 25. Juni 1766 trat er den Dienst an.30 Das Jahresgehalt eines ›Collaborators‹ (so der Dienstgrad des Sprachmeisters) betrug 100 Reichstaler, bei Logis und Kost.31 Bis zu 50 Reichstaler konnte ein Collaborator durch »accidentia u. für privatisima« dazuverdienen.32 Auch so scheint es nicht gereicht zu haben; Mauvillon hat Ilfeld mit Schulden verlassen.33 Zum Vergleich: Als der Göttinger Professor Christian Gottlob Heyne von Joachim Heinrich Campe 1777 gebeten wurde, ihm einen Lehrer für das Philanthropinum in Dessau in Vorschlag zu bringen, bedingte sich Heyne

|| 26 Erhard Selbmann: Wolfram Suchier. Lebensabriß und bibliographischer Überblick. Halle 1956. Vgl. besonders die Tabelle der wissenschaftlichen Arbeiten, S. 11–30. 27 Etwa im Fall der Briefe von und an Eschenburg, LMB, 4o Ms. Litt. 37. 28 Arnold Hermann Ludwig Heeren: Christian Gottlob Heyne. Biographisch dargestellt. Göttingen 1813, S. 140. Zu Wallmoden und Mauvillon s. [Schlichtegroll:] Mauvillon (s. Anm. 4), S. 167f.; vgl. Anm. 94 unten. Mauvillons Schrift Paradoxes moraux et littéraires (1768) ist Wallmoden gewidmet. 29 LASAW, A 19k III, Nr. 253, Bll. 49–50, 51. 30 Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge (s. Anm. 10), S. 72. 31 Niedersächsische Staats- und Universitäts Bibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. Heyne 68, Bl. 49, undatiert, in der Handschrift Christian Gottlob Heynes; s. auch Bll. 55 und 56. Der Standort im Folgenden abgekürzt: SUBG. 32 Ebd. Der Stundenlohn für Privatstunden betrug 4 Reichstaler, vgl. Ausführliche Nachricht von den itzigen Einrichtungen des Königl. Paedagogii zu Ilfeld. Nordhausen 1768, S. 13. – Bei den Zitaten wird auf Eingriffe in die Orthographie ebenso verzichtet wie auf eigene Warnsignale bei Abweichungen von der heutigen Norm. 33 Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 6), S. 46 (s. dazu die Briefe des Vaters Éléazar de Mauvillon an Rudolf Erich Raspe vom 4. Okt. 1771, 30. Juni 1772, 12. Juli 1772 und 30. Juli 1772, LMB, 4° Ms. hist. litt. 2[Mauvillon,E.:1–4).

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für den Kandidaten ein Gehalt von 250 Talern aus, bei freiem Tisch.34 Heyne selbst (der neben seiner Professur über Jahrzehnte auch die pädagogische Aufsicht über das Ilfelder Institut ausübte) hatte 1767 ein Gehalt von 1000 Reichstalern.35 Bei dem geringen Gehalt36 waren die Collaboratorenstellen keine längerfristige Existenzgrundlage. An eine Haushaltsgründung war nicht zu denken. Als man Duvernoy um ein Gutachten für einen gewissen Ferrand als möglichen Nachfolger bat, und die Frage zu beantworten war, »Ist er verheyrathet?«, antwortete Duvernoy mit spürbarer Verbitterung »Er kann ebensowenig daran denken wie ich«.37 Erst als Mauvillon nach Kassel ging, bei einem Jahresgehalt von knapp 400 Reichstalern, konnte er ans Heiraten denken.38 Im Unterschied zu den ordentlichen Ämtern des Rektors, Konrektors, und Subkonrektors sollten die Collaboratorenstellen daher auch auf fünf oder sechs »Expektanzjahre« befristet sein, d. h. sie sollten beruflich, wenn alles gut ging, als Übergang »zu größeren Ämtern« dienen.39 Man hatte Mauvillon auch Hoffnung auf die Nachfolge des Göttinger Professors für französische Sprache Isaac Colom du Clos gemacht, der von 1744 bis 1747 selber einmal französischer Sprachmeister in Ilfeld gewesen war.40 Mauvillon erinnerte 1769 in einem devoten Schreiben den Hannoveranischen Minister und Kurator der Georgia Augusta Gerlach Adolph von

|| 34 Christian Gottlob Heyne an Joachim Heinrich Campe, 27. Febr. 1777. In: Briefe von und an Joachim Heinrich Campe. Hg. von Hanno Schmitt. Wiesbaden 1996, Bd. 1, S. 147. 35 Deutsche Forschungsgemeinschaft, Niedersächsische Staats- und Universitäts Bibliothek Göttingen, Georg-August-Universität Göttingen: Christian Gottlob Heynes Vorlesungen über die Archäologie (https://heyne-digital.de/, Zugriff 20.9.2019). 36 Freilich nicht so gering wie das eines ›Informators‹, d. h. Privatlehrers oder Hofmeisters, nach der Anfrage zu urteilen, die der Konrektor Sebastian Christoph Schwabe aus Ilfeld bei seinem Bruder machte, ob er nicht einen geeigneten Kandidaten auf einen solchen Posten kenne: das »Salair geht vor erst nicht höher als 30 Rth« (Sebastian Christoph Schwabe an Johann Samuel Gottlob Schwabe, 29. März 1768, Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, GSA 117/99). »Wenn sich ein solcher« aber »gut einschießt, so kan er Collaborator werden« (ebd.). 37 »Il ose, aussi peu que moi, y penser« (LASAW, A 19k III, Nr. 253, Bl. 50r [31. Jan. 1766]). 38 [Schlichtegroll:] Mauvillon (s. Anm. 4), S. 173; Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 6), S. 145. Vgl. [Heinrich Friedrich Diez:] Philosophische Abhandlung von einigen Ursachen des Verfalls der Religion (1773). In: Diez: Philosophische Abhandlungen, Rezensionen und unveröffentlichte Briefe (1773–1784). Hg. von Arne Klawitter. Würzburg 2018, S. 13–23: »In unsern Staaten [muß die Verheyrathung] so lange unterbleiben, bis man ein reichliches Auskommen hat, wobey man mit Frau und Kindern anständig leben kann« (S. 22). Als man im Januar 1775 die Sprachmeisterstelle in Ilfeld neu ausschrieb, hieß es in der Annonce, dass Anwärter auf die Stelle »unbeweibt seyn« mussten (SUBG, Cod. Ms. Heyne 68, Bll. 55 und 56). 39 Ites: Die Verlegung der Ilfelder Klostereinkünfte (s. Anm. 17), S. 113. Das konnte sich jedoch hinziehen: der Lector linguae gallicae und Collaborator Charles Christophe Nardin z. B. blieb von 1751 bis 1764 in Ilfeld (Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge [s. Anm. 10], S. 57 und S. 70). 40 Johann Stephan Pütter: Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte von der GeorgAugustus-Universität zu Göttingen. Göttingen 1765, S. 193f.

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Münchhausen daran, und bat um eine feste Zusage.41 Die Antwort fiel zwar positiv aus.42 Der Haken war aber, dass die Stelle nur bei du Clos’ Tod frei werden würde. »Das kann noch lange währen«, seufzte Mauvillon 1769 in einem Brief an Eschenburg.43 In der Tat: Colom du Clos überlebte Mauvillon um ein Jahr und starb 1795 hochbetagt im Amt.44 In Ermangelung besserer Aussichten musste es Mauvillon einstweilen in Ilfeld weiter aushalten. Das Stundendeputat hielt sich zwar in Grenzen – täglich waren zwei, sonntags drei Stunden zu geben45 – und auch die Zahl der Schüler war überschaubar, so dass an Korrekturen wohl nicht allzuviel anfiel. In einem der halbjährlich abzuliefernden Zeugnisse zählte Mauvillon 1771 sechzehn Schüler auf.46

|| 41 UAG, vorläufige Mappe Ilfeld 9; datiert 20. März 1769. Der mit ›Monseigneur‹ angesprochene Adressat erschließt sich aus dem darauf antwortenden Reskript (s. Anm. 42). Mauvillons Brief ist eine der Akten, die in aller Wahrscheinlichkeit aus dem einstigen Ilfelder Schularchiv stammen (s. Anm. 20). 42 Reskript Münchhausens vom 7. April 1769, LASAW, A 19k III, Nr. 253, Bl. 60. 43 Jakob Mauvillon an Johann Joachim Eschenburg, 2. Sept. 1769, LMB, 4° Ms. hist. litt. 37 [Mauvillon: 02. 44 Hermann Krapoth: Die Beschäftigung mit romanischen Sprachen und Literaturen an der Universität Göttingen im 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Philologie in Göttingen. Sprach- und Literaturwissenschaft an der Georgia Augusta. Hg. von Gerhard Lauer. Göttingen 2001, S. 57–90, hier S. 60f. Als Mauvillon 1771 eine Stelle in Kassel antrat, musste er zur Bestätigung dafür, dass sein Anspruch auf die Göttinger Professorenstelle erloschen war, die sogenannte ›Survivance‹ auf dieselbe (also wohl das schriftliche Reskript von Münchhausens [s. Anm. 42] an die hannoveranische Regierung zurückschicken: s. Karl Friedrich Meisner an Wilhelm Christian Ernst von Wüllen, 8. Nov. 1771 (LASAW, A 19k III, Nr. 253, Bl. 64), und von Wüllen an die Regierung, 27. Nov. 1771 (ebd., Bl. 66). 45 SUBG, Cod. Ms. Heyne 68, Bl. 49. 46 Ebd., 74, Bll. 22–23. Die Jahreszahl ermittelt nach den unter den jeweiligen Jahrgängen rubrizierten Namen bei Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge (s. Anm. 10). Nach Georg Meyer: Ein geplanter Bibliotheksbau für das Pädagodium Ilfeld 1780. In: Jahresbericht über die Königliche Klosterschule zu Ilfeld von Ostern 1907 bis Ostern 1908. Göttingen 1908, S. 3–28, hier S. 4, waren 1770 nur einundzwanzig Schüler an der Schule. In Anbetracht solcher Zahlen »[erschien] die Anstalt […] mit Lehrkräften fast verschwenderisch ausgestattet« (Johann Friedrich Julius Arnoldt: Fr. Aug. Wolf in seinem Verhältnisse zum Schulwesen und zur Pädagogik. Braunschweig 1861, Bd. 1, S. 41). Für den Französischunterricht wurden die Schüler auf fünf Klassen verteilt, von den Anfängern bis zu den Fortgeschrittensten: s. Ausführliche Nachricht (s. Anm. 32), S. 12f.; Mauvillon: Nachricht von meinen Lectionen [1770] (SUBG, Cod. Ms. Heyne 73, Bll. 91–93). (Die Jahreszahl ermittelt durch Vergleich mit: Verzeichniß der Lektionen auf dem Pädagogio zu Ilfeld von Michaelis 1770 bis Ostern 1771. In: Hannoverisches Magazin […] Achter Jahrgang vom Jahre 1770. Hannover 1771, Sp. 1393– 1402, hier Sp. 1398f.) Zu den halbjährlichen ›Conduiten-Listen‹ vgl. Ausführliche Nachricht (s. Anm. 32), S. 36. – Im weiteren Verlauf wird auf die im Hannoverischen Magazin bei Schlüter unter leicht abgewandeltem Titel jeweils zum Winter- und zum Sommersemester erscheinenden ›Verzeichnisse der Lektionen‹ abgekürzt verwiesen, nach dem Muster: Verz. Winter 1766/67, HM 4 1767.

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Aber »daß [der Collaborator] auch Stunden giebt, ist der geringere Theil des Amts«; es wurde von ihm auch erwartet, dass er sich auch außerhalb der Lehrstunden um die Schüler kümmerte. Der Lehrer sollte »eine Art von Gouverneur, beständiger Gesellschafter und vertraulicher Freund der jungen Leute sein«.47 Das hört sich gut an, aber eigentlich war es wohl eher auf eine ständige Überwachung der Schüler abgesehen. Als besonderen Vorzug der Anstalt lobte Heyne 1780, dass kein Schüler länger als eine Stunde unbeaufsichtigt war, »und auch in der Zeit muß[te] er einen Ueberfall [!] von einem Lehrer befürchten«; selbst auf Spaziergängen in den Erholungsstunden würden die Schüler »immer von ihren Lehrern unbemerkter Weise beobachtet«.48 Es waren gerade die Collaboratoren, die diese Aufsichtspflicht auf sich nehmen mussten.49 Auch »unvermutet und des Nachts« sollten sie die »Zellen« der »Scholaren« »visitieren«.50 Dass zumindest einige davon das als »häßliches Geschäft« empfanden, geht aus der Selbstbiographie Friedrich August Wolfs hervor, der 1779 bis 1782 als Collaborator in Ilfeld tätig war, und sich noch am Ende seines Lebens erinnerte, wie unangenehm es »für einen jüngern Lehrer [war], fast alle Morgen und Abende visitare eorum cubicula, ubi non raro periculum erat ne in lectis aut nudi aut semitecti naturalia ostenderent«.51 Mauvillon tat sich denn auch schwer mit der Disziplin. Wir haben oben schon gehört, wie er Eschenburg von »Aerger von Seiten der jungen Leute« berichtete. Das findet umgekehrt seine Bestätigung, wenn Mitte des 19. Jahrhunderts aus den »wenigen über M. noch vorhandenen [Ilfelder] Akten« ermittelt werden konnte,

|| Die erste Jahreszahl bezeichnet das Berichtsjahr, die zweite das Publikationsjahr der Buchausgabe des Periodikums. 47 SUBG, Cod. Ms. Heyne 73, Bll. 26–72: Christian Gottlob Heyne: Verbesserungsvorschläge für das Pädagogium zu Ilfeld. Zitiert nach der Transkription in: Hugo Holstein: Zwei Schriftstücke zur Hebung des Pädagogiums zu Ilfeld und des hannöverschen hohen Schulwesens aus dem Jahre 1770. In: Mitteilungen der deutschen Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 4 (1894), S. 65–84, hier S. 68f. 48 Christian Gottlob Heyne: Nachricht von der gegenwärtigen Einrichtung des Königl. Pädagogii zu Ilfeld. Göttingen 1780, S. 62 und S. 64. 49 Vornehmlich zu diesem Zweck waren die Collaboratorenstellen 1752 eingeführt worden, vgl. Peter Kuhlbrodt: Von wilden Scholaren, ihren Liebschaften und Saufgelagen. Kulturgeschichtliches aus der Klosterschule Ilfeld vom 16. bis 18. Jahrhundert. In: Beiträge zur Heimatkunde aus Stadt und Kreis Nordhausen 19 (1994), S. 70–78, hier S. 72. Vgl. auch LASAW, A 19k III, 253, Bll. 1–5 zu den Aufgaben des Collaborators Nardin (1751–1764). 50 Kuhlbrodt: Von wilden Scholaren (s. Anm. 49), S. 72, nach einer »Instruction für die Arbeit der Collaboratoren« (1752). 51 »[…] ihre Kammern aufzusuchen, wo nicht selten die Gefahr drohte, dass sie entweder nackt oder halbnackt die Geschlechtsteile blicken ließen«. [Friedrich August Wolf:] De vita et studiis Friderici Augusti Wolfii Philologi. In: Friedrich August Wolf. Ein Leben in Briefen. Hg. von Siegfried Reiter. Ergänzungsband I. Die Texte. Hg. von Rudolf Sellheim. Halle 1956; ND Opladen 1990, S. 162– 166, hier S. 163.

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dass er ein sehr leidenschaftlicher Mann war, der in der Behandlung der Schüler von einem Extrem zum andern überging, so dass er mit diesen einen beständigen Kampf hatte und nicht minder mit dem ganzen Collegio wegen Handhabung der Disziplin im Streite lag. Der Direktor Meisner hält ihm in allen diesen Beziehungen eine lange Vorlesung.52

Eine nochmalige Nachfrage an das Schularchiv, Anfang des 20. Jahrhunderts, brachte weitere Einzelheiten ans Licht: In den Konferenzprotokollen jener Zeit kommen mehrfach Disziplinarfälle vor, die M. vorträgt. Werfen eines Schneeballs an die Tür der Klasse, Rufen seines Spitznamens (»Knüttel«) durch einen Schüler, Ohrfeigen, die ihm ein Schüler im Dunkeln gibt, angeblich in der Absicht, einen andern Schüler zu treffen – u. d. m.53

Wir wissen sogar, welcher Schüler es war, der ihm die besagten Ohrfeigen erteilt hatte. Im Protokoll der Aufnahmen und Abgänge wird über den demittierenden Schüler Gustav Friedrich Heyligenstaedt berichtet: Ein übelwollender und schlauer Mensch, der, als er durch keine Strafen zu bändigen war, zuletzt wegen irgendeiner an dem Lektor der französischen Sprache im Dunkeln angetanen Gewalt angewiesen, seine Sachen zu packen, die Schule Ende Januar 1771 verließ.54

Man kann aus all dem gewiss auf Mauvillons »leidenschaftlichen« Charakter schließen. Man kann das Problem aber auch strukturell verorten. Für die fünfzehnbis zwanzigjährigen55 Alumnen aus meist reichem, oft adligem Hause56 dürfte der kaum ältere französische Sprachmeister eine subalterne Figur gewesen sein, der man keinen großen Respekt schuldig war. Auch Mauvillons Vorgänger und Nachfolger gaben Klagen über Misshandlungen seitens der Schüler zu Protokoll.57

|| 52 Arnoldt: Fr. Aug. Wolf (s. Anm. 46), Bd. 1, S. 67f., nach einer Information von Ernst Wiedasch, Lehrer (1835–1853) am und Direktor (1853–1857) des Pädagogiums Ilfeld. 53 Brief von Schuldirektor Dr. Felix Schreiber an Wolfram Suchier, erhalten am 25. Okt. 1909 (SN, Mappe Mauvillon Jakob II). 54 »Gust. Fridericus Heyligenstaedt, Halberstadiensis. – Homo malevolus et versutus, qui cum poenis nullis coerceretur, postremo ob vim aliquam Lectori ling. gall. in tenebris factam res suas sibi habere jussus abiit fine m[ensis] Jan. 1771« (Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge [s. Anm. 10], S. 75). Heyligenstaedt bzw. Heiligenstedt war 1769 an die Schule gekommen. Er wurde in der Revolutionszeit zu einem der führenden Jakobiner in Altona. Zu Mauvillons Jugendfreund Johann Christian Unzer hatte er dort enge Beziehungen. Vgl. Walter Grab: Demokratische Strömungen in Hamburg und Schleswig-Holstein zur Zeit der ersten Französischen Republik. Hamburg 1966, S. 109–112. 55 Johann Christoph Unzer: Hinterlassene Schriften, poetischen Inhalts. Altona 1811, Bd. 1, S. 245. 56 [Friedrich August Wolf:] De vita et studiis (s. Anm. 51), S. 163 (»ein Cötus von […] Jünglingen, besonders aus dem Hannövrischen und von den nobilissimis gentibus«). Zum »Standesdünkel« der Schüler s. auch Kuhlbrodt: Von wilden Scholaren (s. Anm. 49), S. 72 und S. 77. 57 LASAW, A 19k III, Nr. 253, Bll. 53–54 (Duvernoy an unbekannt, 11. Febr. 1766); SUBG, Cod. Ms. Heyne 119, Nr. 42 (D. J. G. Schulenberg an Heyne, 2. Nov. 1796). Auch Wolf berichtet, dass »im

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Bei Mauvillon mag bei einer herzlosen Jugend erschwerend dazugekommen sein, dass er klein von Statur war und einen Buckel hatte.58 Man kann sich leicht vorstellen, dass er auf Provokationen und Beleidigungen jähzornig reagierte. Das würde womöglich seinen Spitznamen erklären. Aber auch damit machten sich die Schüler nur über ihn lustig. Höchstens durch seine zuweilen »temperamentvollen« Zeugnisse59 konnte er sich einigermaßen rächen. »Mir ahnt nichts Gutes von ihm«, schreibt er z. B. von Ernst Karl Ludwig von Püchler; in den Stunden stifte er nur Lärm (»tapage«), und er mache sich ein Vergnügen daraus, seinen Lehrern in jeder denkbaren Weise zu missfallen.60 Noch 1780 klagte Mauvillon im Rückblick auf seine Ilfelder Jahre über »die gänzliche Vernachläßigung des moralischen Charakters« der Schüler »zu meiner Zeit« – »so vernachläßigt, daß man sich so arg nicht vorstellen konnte«.61 Und als er 1771 im Begriff war, seine Stelle in Ilfeld gegen einen Lehrerposten am Collegium Carolinum in Kassel zu vertauschen, erkundigte er sich ängstlich bei seinem Kasseler Vertrauensmann Rudolf Erich Raspe »ob es zu befürchten sei, dass meine jungen Schüler bis zu dem Grad Flegel seien, dass sie mir Verdruss bereiten

|| Pädagog[ium] ein roher Studentengeist herrschte, ad modum non studentium seu studiosorum bursariorum (Burschengeist)« ([Friedrich August Wolf:] De vita et studiis [s. Anm. 51], S. 163) (›bursarii‹, wörtlich ›Stipendiaten‹; »diese Benennung […] [wird] nur i[m] familiären oder komischen Styl […] gebraucht« (Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften. Frankfurt a. M. 1780, S. 640); vgl. auch Arnoldt: Fr. Aug. Wolf (s. Anm. 46), Bd. 1, S. 42–45. Die Insolenz der Schüler konnte sich auch auf die bestallten Lehrer erstrecken: s. Friedrich August Wolf an Christian Gottlob Heyne, Ilfeld, 2. Juni 1781, in: Friedrich August Wolf. Ein Leben in Briefen. Hg. von Siegfried Reiter. Stuttgart 1935, Bd. 1, S. 2–4, hier S. 2. Das war nichts Neues: schon für das 17. Jahrhundert wird über die abschreckende »Sittenroheit der Zöglinge« berichtet (Das höhere Schulwesen in Preussen [s. Anm. 16], Bd. 2, S. 429). 58 [Schlichtegroll:] Mauvillon (s. Anm. 4), S. 163, S. 218. Das sollte ihm auch in den literarischen Fehden der Zeit manchen Spott eintragen. Vgl. Abraham Gotthelf Kästner: Zum Theil noch ungedruckte Sinngedichte und Einfälle. Zweite […] Sammlung. Frankfurt, Leipzig 1800, S. 149; [August von Kotzebue:] Dr. Bahrdt mit der eisernen Stirn, oder Die deutsche Union gegen Zimmermann, von Freyherrn von Knigge. s.l. 1790, S. 20. Zu »Buckeln« als Gesprächsthema bei Mauvillon vgl. [Karl Julius Weber:] Demokritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen. 8. Aufl. Stuttgart [1868], Bd. 1, S. 205; in Das Lachen, das Lächerliche und der Witz. Erläutert durch eine Menge lächerlicher Geschichten, witziger Antworten und Anekdoten. Nebst Fragment aus des Verfassers Leben (Stuttgart 1842) stellt Weber Mauvillon mit Aesop, Mendelssohn, Scarron, Pope, und Lichtenberg als »Bucklichte« in eine Reihe (S. 212). 59 Georg Meyer an Wolfram Suchier, Ilfeld 12. Dez. 1909 (SN, Mappe Mauvillon Jakob II). 60 »Je n’augure pas bien de lui […] il se fait un plaisir […] à causer des chagrins à ses précepteurs de toutes les façons dont il peut s’aviser« (SUBG, Cod. Ms. Heyne 74, Bl. 22r–v [1771]). Mauvillons Vorgefühl betrog ihn nicht: 1772 wurde von Püchler von der Schule verwiesen, nachdem er, durch ›Frechheit‹ und ›ausschweifenden Mutwillen‹ unangenehm aufgefallen, sich »weder durch gelinde Behandlung noch durch Zwang bessern ließ« (»ad bonam redire frugem neque leniter ductus neque coercitionibus tractus nollet«) (Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge [s. Anm. 10], S. 77). 61 Mauvillon an Christian Gottlob Heyne, 24. Sept. 1780, SUBG, Cod. Ms. Heyne 114, Nr. 46, Bl. 1v.

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könnten«.62 So tief saß ihm offenbar der ›Verdruss‹ in den Knochen, den ihm die Heiligenstedts und von Püchlers in Ilfeld bereitet hatten. Hatte Mauvillon bei den Lernwilligen mehr Erfolg? An gutem Willen seinerseits mag es nicht gemangelt haben. Zum Teil hielt er sich an den Stoff, den er von seinen Vorgängern Nardin und Duvernoy übernommen hatte. So las er mit den Fortgeschritteneren Voltaires Henriade und dessen Histoire de Charles XII, oder er ließ aus Gellerts Briefsteller übersetzen.63 Er versuchte aber auch, frischen Wind in das Lektüreangebot zu bringen. Altständische Titel wie La véritable politique des personnes de qualité (1693) und L’Eloquence du temps (1699) ließ er fallen;64 an deren Stelle setzte er Fénelons Télémaque und dessen Dialogues des morts, Le Sages Diable boiteux sowie, für die Fortgeschritteneren, Erzählungen von Marmontel sowie dessen Belisaire, von Fontenelle die Entretiens sur la pluralité des mondes und die Lettres galantes de Monsieur le Chevalier d’H***, schließlich auch Theaterstücke von Diderot.65 Zum letzten Schliff im Gesprächston las er La Fontaines Fabeln mit

|| 62 »[…] s’il y a lieu d’appréhender que mes jeunes écoliers soient assez brutaux pour me causer des chagrins« (an Rudolf Erich Raspe, 10. Sept. 1771, LMB, 4° Ms. hist. litt. 2). 63 Vgl. Verzeichniß der Sommerarbeiten und Uebungen, welche von den ordentlichen Lehrern, Mitarbeitern, und geschickten Meisters in Wissenschaften, Sprachen, und freyen Künsten sonderlich der Musik, Tanzen, und Zeichnen mit der auf dem Paedagogio zu Ilfeld studierenden Jugend von Ostern bis Michaelis 1755 vorgenommen werden. Stolberg [1755], S. 12; Kurze Anzeige derjenigen Vorlesungen und Ubungen in den freyen Künsten und schönen Wissenschaften, welche mit der auf dem Königl. Paedagogio zu Ilfeld studirenden Jugend von Michaelis 1763 bis Ostern 1764. angestellet und getrieben werden sollen. Nordhausen [1763], S. 8f. Duvernoy: s. Verz. Sommer 1765, HM 1766, Sp. 343 und Sp. 345. Mauvillon: s. Verzeichnis der Lectionen welche auf dem Königl. Pädagogio zu Ilfeld studirenden Jugend von Michaelis bis Ostern 1771. gegeben werden sollen. [Nordhausen] 1770, S. 9; Verzeichnis der Lectionen welche auf dem Königl. Pädagogio zu Ilfeld studirenden Jugend von Ostern bis Michael 1771. gegeben werden sollen. Nordhausen [1771], S. 8. 64 Nardin: Kurze Anzeige (1763) (s. Anm. 63), S. 11. Duvernoy: Verzeichniß der Lectionen, die auf dem Königlichen Pädagogio zu Ilfeld in dem Winterhalbenjahr von 1765 bis 1766. gehalten werden sollen. Wernigerode [1765], S. 10. – La véritable politique des personnes de qualité (Paris 1693) (mutmaßliche Verfasser: Nicolas Rémond des Cours, François de Callières, ? de Cherbonnières); Joseph Leven de Templery: L’éloquence du tems enseignée à une dame de qualité. Très-propre aux gens qui veulent aprendre à parler & à écrire avec politesse, et acompagnée de quantité de bons mots et de pensées ingénieuses (Paris, Bruxelles 1699). Duvernoy las außerdem über David Etienne Choffin: Abrégé de la vie de divers princes illustres et des grands capitaines (Halle 1748–1751): vgl. Verzeichniß der Lectionen [1765] (s. oben), S. 10. Diese Lektüre hat Mauvillon anfangs übernommen: s. Verz. Winter 1766/67, HM 1767, Sp. 1238, und Verz. Winter 1767/68, HM 1768, Sp. 1222. Im Sommersemester 1767 hat er nach einem die Reihe der ›Fürsten und großen Feldherren‹ unterbrechenden Zwischenkapitel Choffins »das Leben des Sokrates traktir[t]« (Verz. Sommer 1767, HM 1767, Sp. 439–440; vgl. Choffin: Abrégé, Bd. 1, S. 281–353). Der Abschnitt bei Choffin »Du Démon ou Esprit familier de Socrate« (S. 289–295) mag eine Anregung zu Mauvillons Abhandlung Vom Genius des Sokrates gewesen sein (in: Deutsches Museum, 1777, 6. St., S. 481–510). 65 Verz. Sommer 1767, HM 5 1768, Sp. 440; Winter 1767/68, HM 5 1768, Sp. 1222; Verz. Sommer 1768, HM 6 1769, Sp. 486; Verz. Winter 1768/69, HM 6 1769, Sp. 1352; Verzeichnis der Lectionen (1770)

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den Schülern, weil sie »eine Quelle von ächten französischen, im gemeinen Leben zu gebrauchenden Ausdrücken« seien.66 Auffällig ist die Liste der Autoren für die zweite (also zweitoberste) Klasse, zu denen mit Marmontel und Diderot zwei Enzyklopädisten, und mit Le Sage ein populär-satirischer, mit Fontenelle ein freier Geist aus einer älteren Generation gehören, allesamt also Schriftsteller, die so oder so in einem gewissen geschmacklich-ideologischen Zwielicht standen.67 Mauvillon war sich auch bewusst, dass er zu dieser Auswahl unter Rechtfertigungszwang stand. In der 1770 aufgesetzten »Nachricht von meinen Lectionen« begründet er die Lektüre von Marmontel, Diderot und Fontenelle damit, dass die Schüler an solche »Schriftsteller« heranzuführen seien, »aus welchen sie, den neologischen, witzigen, und philosophischen Stÿl, der anjetzt in Frankreich herrscht, mögen kennen und verstehen lernen«.68 »Wer die französische Litteratur kennt«, führt er weiter aus, weiß daß seit diesem Jahrhunderte der prosaische Stÿl dieser Nation sich fast gänzlich verändert hat. Moliere sieht den jetzigen comischen Dichtern in der Schreibart gar nicht ähnlich;69 und so geht es mit allen andern prosaïschen Schriftstellern, so wohl im Fache der schönen Wissenschaften, als auch der Weltweisheit, und absonderlich der Moral. Da aber alle neuern Schrifften eines Marmontel, Diderot, d’Alembert u. a. m. in diesem Stÿl geschrieben sind, so habe ich geurtheilt, daß es nothwendig sey ihnen denselben bekannt zu machen.70

Zu Marmontel und Diderot tritt hier als weiterer Enzyklopädist d’Alembert hinzu. Zwar beziehen sich Mauvillons Bemerkungen nur auf den »neologischen, witzigen, und philosophischen Stÿl« der neueren Franzosen. Als Sprachmeister beobachtet er dessen Entwicklung aus scheinbar neutralem Gesichtspunkt; die Sprachlehre dürfe, || (s. Anm. 63), S. 9; Nachricht von meinen Lectionen (1770) (s. Anm. 46), Bl. 92v; Verzeichnis der Lectionen (1771) (s. Anm. 63), S. 8. 66 Nachricht von meinen Lectionen (1770) (s. Anm. 46), Bl. 93r. 67 Eine ausgefallene Wahl für die männliche Schuljugend sind besonders die Lettres galantes von Fontenelle (1683/1687): ein »Lehrbuch der galanterie«, das Anschauungs- und Sprachunterricht in der »Kunst der […] Verführung« gibt (Birgit Wagner: Zur Mehrfachkodierung von Galanterie und Unterhaltung. Fontenelles Lettres galantes de Monsieur le Chevalier d’Her***. In: Delectatio. Unterhaltung und Vergnügen zwischen Grimmelshausen und Schnabel. Hg. von Franz M. Eybl und Irmgard M. Wirtz. Bern 2009, S. 85–100, hier S. 96). Vielleicht wurde das auch beanstandet; jedenfalls hat Mauvillon diesen Stoff nach zwei Semestern fallengelassen (s. Verz. Sommer 1768, HM 1769, Sp. 486, und Verz. Winter 1768/69, HM 1769, Sp. 1352). 68 Mauvillon: Nachricht von meinen Lectionen (1770) (s. Anm. 46), Bl. 92v. ›Neologisch‹: »Néologie […]. Mot […] qui signifie […] invention, usage, emploi de termes nouveaux« (Dictionnaire de l’Académie Françoise. Nouvelle édition. Paris 1765, Bd. 2, S. 142) (ein Wort, das Erfindung, Anwendung, Gebrauch von neuen Bezeichnungen bedeutet). 69 Anfangs hatte Mauvillon neben den neu eingeführten »theatralischen Werke[n] des Diderot« mit den Schülern wie sein Vorgänger Duvernoy noch »ein Lustspiel in Prosa aus dem Moliere« gelesen (Verz. Winter, HM 4 1766, Sp. 1239); zu Duvernoy s. Verz. Sommer 1766, HM 4 1767, Sp. 358. 70 Mauvillon: Nachricht von meinen Lectionen (1770) (s. Anm. 46), Bl. 92v.

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so das vordergründige Argument, nicht hinter der Sprachentwicklung hinterherhinken. Aber in dem Plädoyer für die verba drückt sich recht deutlich auch eine Parteinahme für die res aus.71 Über den »philosophischen Stÿl« soll auch etwas von der Denkart der philosophes in den Unterricht eingeschleust werden. Es ist bezeichnend, dass nachdem Mauvillon nach einjähriger Vakanz zu Michaelis 1772 durch den Hauptmann Heinrich Wilhelm von Stamford ersetzt worden war, außer Le Sage und Marmontel die von ihm eingeführten Schriftsteller aus dem Lehrplan verschwanden.72 Ob diese Neuerungen bei den Oberen Gefallen fanden, lässt sich nicht ermitteln. Was die eigentliche Lehre angeht, stolperte Mauvillon vielmehr über Mängel, die man in seiner Sprachdidaktik, ja in seinem sprachlichen Können entdeckte. Mauvillon hatte das Pech, dass er zu einem Zeitpunkt an dem Pädagogium war, als ihr der allmächtige Minister Münchhausen eine Evaluierung verordnete.73 Mit der Inspektion, die im Sommer 1770 stattfand, wurde der Göttinger Professor Christian Gottlob Heyne beauftragt.74 Am 28. Juli angekommen,75 hielt sich Heyne knapp zwei Wochen lang in Ilfeld auf.76 Am 13. August 1770 schickte er seinen Inspektions-

|| 71 Als Mauvillon im Sommersemester 1767 zusätzlich zu den »Comödien des Herrn Diderots« auch über seine »Abhandlungen über die dramatische Dichtkunst« las, hat er dieses Erkenntnisinteresse ausdrücklich unterstrichen: er wolle »keine Gelegenheit versäumen, den Lernenden mit dem, was zur Sprache gehört, einen Begrif von den Sachen […] beyzubringen« (Verz. Sommer 1767, HM 5 1768, Sp. 440). 72 Verzeichniß der Lectionen welche der auf dem Königl. Pädagogium zu Ilfeld studirenden Jugend im Sommer halben Jahr 1773. gegeben werden sollen. [Nordhausen 1773], S. 8f.; Verzeichnis der Lectionen welche der auf dem Königl. Pädagogium zu Ilfeld studirenden Jugend im Winter halben Jahr von Michael 1773. bis Ostern 1774. gegeben werden sollen. [Nordhausen 1773], S. 8; Verzeichnis der Lectionen welche der auf dem Königl. Pädagogium zu Ilfeld studirenden Jugend im Sommer halben Jahr von Ostern bis Michael 1774. gegeben werden sollen. [Nordhausen 1774], S. 9. Auch La Fontaines Fables, in der obersten Klasse, ersetzte der Nachfolger (u. a. durch Boileaus Satiren) (ebd.). Die Fables galten und gelten noch als harmlose Kinderlektüre; in dem Werk des GassendiAnhängers steckt aber auch philosophische Konterbande: »Il y-a encore, dans plusieurs Fables de la Fontaine, des traits de Physique, qu’il y-a placez d’une maniére très ingénieuse« (Jean-Baptiste de Boyer, marquis d’Argens: Réflexions historiques et critiques sur le goût et sur les ouvrages des principaux auteurs anciens et modernes. Amsterdam 1743, S. 169f.). (Es gibt auch, in mehreren von La Fontaines Fabeln, Züge der Physik, die er auf sehr geistreiche Weise platziert hat). Siehe z. B. Discours à Madame de la Sablière, in: La Fontaine: Fables choisies, mises en vers, Paris 1759, Bd. 4, S. 1–8. Zu La Fontaine und der Philosophie Gassendis vgl. ebd., Bd. 1 (1755), S. IX–XXX, hier S. XV, und d’Argens: Réflexions, S. 170. 73 Zu der von Münchhausen initiierten Reform und Erneuerung des Pädagogiums s. Das höhere Schulwesen in Preussen (s. Anm. 16), Bd. 2, S. 430–432. 74 Zu Heynes Ilfelder Inspektionstätigkeit s. Heeren: Christian Gottlob Heyne (s. Anm. 28), S. 114f. und S. 310–312. 75 Inspektionsbericht Heynes, UAG, unsortierter Bestand zu Ilfeld, vorläufige Mappe 55, Bl. 1v. 76 Meyer: Ein geplanter Bibliotheksbau (s. Anm. 46), S. 4.

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bericht an den »Premier Ministre und geheimen Rähte«.77 Am 16. August 1770 ließ er seine »Unterthänigsten Verbesserungsvorschläge das Pädagogium betreffend« folgen. Von beiden Dokumenten sind sowohl von Schreibern ausgefertigte Reinschriften als auch Heynes eigenhändige Entwürfe erhalten.78 Heyne fand fast gar nichts vor, was zu seiner Zufriedenheit gewesen wäre, weder bei den Scholaren, noch bei den Lehrern. Außer dem Subkonrektor Pätz waren alle Lehrer bestenfalls mittelmäßige, in einigen Fällen inkompetente Lateiner, vom Griechischen ganz zu schweigen.79 Die beiden Collaboratoren für das Lateinische waren »als untüchtige und dem Institut ganz nachtheilige Personen« auf der Stelle zu entlassen – eine Empfehlung, die, nachdem der Bericht in Hannover eingelaufen war, das Ministerium auch sofort umsetzte.80 Obwohl Heyne in Bezug auf Mauvillon keine solche Empfehlung aussprach, war es deshalb nicht unbedenklich, wenn er auch an dessen fachlichem Können einiges auszusetzen hatte: Der französische Vortrag des Collab. Mauvillon entsprach meiner Erwartung nicht, auch dem Begriff nicht, den man sich von ihm machen sollte, wenn man ihn sprechen und von seiner Lecture reden hört. Es war der völlige Sprachmeister-Schlendrian.81 Weder Idiotisme, noch

|| 77 UAG, vorläufige Mappe Ilfeld 55, Bl. 1v. 78 Der Entwurf des Inspektionsberichts: SUBG, Cod. Ms. Heyne 73, Bll. 26–29. Die Reinschrift: UAG, vorläufige Mappe Ilfeld 55, Bll. 1–11. Der Entwurf der »Verbessungsvorschläge«: SUBG, Cod. Ms. Heyne 73, Bll. 30–38. Die Reinschrift: SUBG, Cod. Ms. Heyne 73, Bll. 39–72. Die »Verbesserungsvorschläge« sind vollständig abgedruckt bei Holstein: Zwei Schriftstücke (s. Anm. 47), S. 66–82; Holstein hat auch den Entwurf punktuell ausgewertet. 79 Ebd., S. 68–70. Pätz rückte (wohl unter der Protektion Heynes) im Verlauf der Jahre in der Rangordnung weiter auf, bis er 1789 das Amt des Direktors übernahm (Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge [s. Anm. 10], S. 74, S. 80, S. 85). 80 Holstein: Zwei Schriftstücke (s. Anm. 47), S. 68. Es handelte sich um Andreas August Muncke (Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge [s. Anm. 10], S. 69) und Gotthilf Jakob Rassmann (ebd., S. 74). Munckes fehlende Eignung war schon vorher bemerkt worden. »Einer von unsern Collabor. [wird] nächstens ins Predigtamt befördert, weil er keine Lust und Anlage zu der hiesig[en] Arbeit hat« (Sebastian Christoph Schwabe an Johann Samuel Gottlob Schwabe, 29. Jan. 1769, Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, GSA 117/99). Anderthalb Jahre später jedoch hatte sich noch nichts bewegt, so dass Heyne zu drastischeren Mitteln greifen musste (s. oben). Dass mit Schwabes Bemerkung Muncke gemeint war, geht aus dem Eintrag in den Matrikeln der Schule hervor, wo von seinem Aufrücken zum Prediger die Rede ist (s. Wiedasch: Verzeichniss sämmticher Zöglinge [s. Anm. 10], S. 77); von Rassmann wird nur berichtet, dass er einen ehrenhaften Abschied erhalten habe (ebd.). – Zu Heynes weitgehenden Vollmachten bei Stellenbesetzungen s. Heeren: Christian Gottlob Heyne (s. Anm. 28), S. 311 (»besonders hing die Ernennung der unteren Lehrer, oder Collaboratoren, ganz von ihm ab«). 81 Entwurf: »Der franz. Vortrag d. H. Mauvillon […] war so unzulänglich, alltäglich, als ihn ein jeder gemeine Sprachmeister hab[en] kan« (SUBG, Cod. Ms. Heyne 73, Bl. 28r).

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Feinheit in der Wendung u. dem Ausdruck ward bemerckt. So gar erklärte er die Etymologie eines Worts, das vorkam (parage) halb falsch halb unverständlich.82

»Parage« – nämlich »im Lafont[aine] von dem man s[eine] Fabel[n] las u teutsch gab«, wie es im Entwurf ergänzend heißt.83 Immerhin wissen wir damit, welche Fabel La Fontaines Mauvillon an einem Julitag 1770 mit seiner ersten Klasse durchnahm, und zwar »Le rat et l’éléphant« (Buch VIII, Nr. 15): Un rat des plus petits voyoit un éléphant Des plus gros, et railloit le marcher un peu lent De la bête de haut parage […]84

Was damals jedoch zählte, war nur, dass Mauvillon bei der falschen Erklärung eines Wortes ertappt worden war und dass sein Kredit bei seinem Vorgesetzten deshalb sank. Ungünstig war es auch, dass er der weiteren Aussprache darüber aus dem Weg ging.85

|| 82 UAG, vorläufige Mappe Ilfeld 55, Bl. 7r. 83 SUBG, Cod. Ms. Heyne 73, Bl. 28r. 84 M. N. S. Guillon: La Fontaine et tous les fabulistes, ou La Fontaine comparé avec ses modèles et ses imitateurs. Nouvelle édition. Paris 1803, Bd. 2, S. 132–134, hier S. 132f. »Die allerkleinste Ratte sah einmal / Den allergrößten Elefanten gehen, / Und höhnte laut, es wäre ein Skandal, / Den Schneckengang des Riesen anzusehen. / Der Elefant war feierlich geschmückt […]« (Jean de La Fontaine: Fabeln. Berlin 1923, S. 150–152, hier S. 150. Vgl. die Anm. in Guillon: »De la bête de haut parage, expression familière, et très-ancienne dans la langue. Un homme de hault parage (Poésies manuscrites d’Eustache Deschamps, fol. 556, col. 2), de grande apparence« (S. 134) (De la bête de haut parage, umgangssprachlicher Ausdruck, und in unserer Sprache sehr alt. Un homme de hault parage […] [Ein Mann] von prunkvollem Auftreten). »Expression familière«: wir erinnern uns, dass Mauvillon die Lektüre La Fontaines damit begründete, dass er den Schülern Anschauungsunterricht im Gebrauch solcher alltäglichen Ausdrücke biete. 85 UAG, vorläufige Mappe Ilfeld 55, Bl. 7r. Das hatte zwar andere Ursachen (s. unten); dennoch musste es einen schlechten Eindruck machen. Mauvillon – Sohn hugenottischer Eltern – hätte freilich auch fragen können, ob Heyne überhaupt kompetent sei, über sein Französisch zu urteilen. Heyne selbst hatte keinen Zweifel daran. Jahre später sollte er noch einmal Mauvillons Sprachvermögen kritisieren. In einer Rezension der ersten 6 Bände (von 7) von Mauvillons Übersetzung von Raynals L’Histoire des deux Indes in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen steht zu der Übersetzungsleistung: »Der Ausdruck des Hrn. Prof. [ist] oft uncorrect und nachlässig, zuweilen schleppend […], selbst in der Uebersetzung, wo des Abbts Declamation manchmal eher in Schwatzhaftigkeit übergehet, und wo durch die Lockernheit und Schlaffheit, wenn wir so sagen dürfen, in der Schreibart, oft dunkele und unverständliche Stellen nöthigen, nach dem Original zu greifen« (Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, Zugabe, 52. Stück, 27. Dec. 1777, S. 830f., hier S. 831). Die Identifikation von Heyne als Rezensenten erfolgt nach Martin Fontius: L’Histoire des deux Indes de Raynal vue par les Allemands. In: Lectures de Raynal. L’Histoire des deux Indes en Europe et en Amérique au XVIIIe siècle. Actes du Colloque de Wolfenbüttel. Hg. von Hans-Jürgen Lüsebrink und Manfred Tietz. Oxford 1991, S. 155–187, hier S. 180 Anm. 44. Auch Fontius urteilt zu einem vermutlich 1775 verfassten französischsprachigen Brief an Raynal, Mauvillon sei nicht vollkommen der

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Eine Zwischenbilanz: Aus dem Bisherigen dürfte Mauvillons ›Verdruss‹ über seine Tätigkeit in Ilfeld verständlich geworden sein. Das niedrige Gehalt; das heranrückende Auslaufen der ›Expektanzjahre‹; die fehlenden Berufsperspektiven; die damit verbundene Unmöglichkeit zu heiraten; Ärger mit den Schülern; und vielleicht auch mangelnde Eignung zum Beruf mögen zusammengespielt haben, um ihm seine Position lästig zu machen. Begreiflich wäre es also, wenn er sich weggewünscht hätte. Nur zwischen einem Wunsch und einer Entscheidung ist es noch ein Schritt. Im Sommer 1770 aber spitzte sich die Situation so zu, dass Mauvillon sich tatsächlich zu diesem Schritt entschloss, wobei es alledings erst ein Jahr später so weit war, dass er ihn auch ausführen konnte. Kehren wir zu Heynes Inspektion zurück. Die mangelnde Sprachbeherrschung war nicht das einzige, was Heyne an Mauvillon auszusetzen fand. Es folgte eine weitere, gravierendere Kritik. Ich setze in Heynes Inspektionsbericht an der eben zitierten Stelle wieder an: So gar erklärte er die Etymologie eines Worts, das vorkam (parage) halb falsch halb unverständlich. Ich hätte mich gern weiter mit ihm hierüber erklärt, allein ich hatte mich seines Beyfalls verlustig gemacht, da ich in einer Conferenz, zwar generaliter, aber doch in Rücksicht auf ihn, mich ein wenig paraenetice darüber ausgelassen hatte, daß sich ein Lehrer in seinen Reden mit jungen Leuten vorsichtig betragen, ihnen keine Blöße geben, am wenigsten aber unmoralische und irreligieuse Dinge unterlaufen lassen müsse; er kam nachher nicht wieder zu mir.86

Aus dem Entwurf wird deutlich, dass auch den anwesenden Lehrern und Mauvillon selbst sofort klar war, auf wen die Rüge sich bezog: Ich hette mich gern geg[en] ihn mehr hierüber erklart, allein weil ich mich in einer Conferenz mit d[en] Pr.[aeceptores] und Coll[aboratores] zwar gener.[aliter] aber doch in Rucksicht auf ihn darüber ein wenig paraenetice erklart hatte, daß man sich in Verkehr[?] mit jung.[en] Leuten vorsichtig betrag[en], ihn[en] k[eine] Bloße geb[en], am wenigst[en] etwa unmoralisches u. Irreligieuses unterlauf[en] lass[en] müste, wowider [?] er auch das Wort nahm u.

|| französischen Sprache mächtig gewesen (»ne posséd[ait] pas parfaitement la maîtrise de la langue française«) (ebd., S. 181 Anm.). Hier ist allerdings hinzuzufügen, dass der Brief in einer fehlerhaften Edition zu uns herabgekommen ist, und dass etwaige sprachliche Verstöße, zumal in einem französischsprachigen Brief, womöglich auf das Konto des Herausgebers gehen. Fontius merkt selber an, dass der Zustand des Raynal-Briefes in dieser Ausgabe »außerordentlich mangelhaft« ist (»extrêmement déformé«). Der Brief an Raynal in Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzogl. Braunschweigschen Diensten verstorbenen Obristleutnant Mauvillon. Hg. von F[riedrich Wilhelm]. Mauvillon. Deutschland [i. e. Braunschweig] 1801, S. 139–149; neu ediert in Fontius: L’Histoire des deux Indes, S. 181–186. Eine Neuedition von Mauvillons Briefwechsel durch Arne Klawitter und den Verf. ist in Vorbereitung. 86 UAG, vorläufige Mappe Ilfeld 55, Bl. 7r.

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[eine?] Verth[eidigung?] führ[en] wollte, weil[?] dieß gescheh[en] war, so hat er nachher vermied[en] vor m[ei]n[e]r Wegreise sich bey mir einzustellen.87

Hatte Heyne selbst solche ›unvorsichtigen‹ Äußerungen von Mauvillon zu hören bekommen? Oder waren sie ihm hinterbracht worden? Letzteres ist gut möglich, vielleicht auch schon vor der Inspektionsreise. Die oben bereits zitierten Ilfelder Akten geben Auskunft: [Mauvillon lag] mit dem ganzen Collegio wegen Handhabung der Disziplin im Streite […]. Der Direktor Meisner hält ihm in allen diesen Beziehungen eine lange Vorlesung. Auch bekam er einen Verweis von Hannover, dass er gar nicht in die Kirche gehe. Dies teilte er unvorsichtig genug den Schülern mit, nebst der Bemerkung, er werde dennoch nicht hineingehen.88

Der Zeitpunkt dieses »Verweises« ist aus dem mir vorgelegenen Material nicht zu ermitteln; nur wird es wahrscheinlich nach dem Juni 1768 gewesen sein, als Karl Friedrich Meisner nach dem Tod von Konrad Nahmmacher zum Direktor aufrückte.89 Wie auch immer: Weit davon entfernt, sich den Verweis zu Herzen zu nehmen, hatte sich Mauvillon, »unvorsichtig genug«, vor den Schülern damit gebrüstet und dann noch zugelegt, indem er verkündete, er werde an seinem Verhalten nichts ändern. Das hätte böse Konsequenzen haben können. Aus der Tatsache, dass er deswegen nicht sofort entlassen worden war, kann man schließen, dass bei den Verantwortlichen keine Einigkeit darüber bestand, wie man ihn behandeln solle. Es gibt in der Tat Anhaltspunkte für die Annahme, dass Mauvillon in der hannoveranischen Regierung Protektoren hatte.90 Zu dieser Hypothese passt, dass es einen Unterschied ausmacht, ob man ihn in Hannover denunzierte, »daß er gar nicht in die Kirche gehe«, oder Heyne bei der Inspektion ihn vor der Gefahr warnte, sich den »jungen Leuten« gegenüber durch »unmoralische und irreligieuse Dinge» »[eine] Blöße [zu] geben«. Es ist der Unterschied zwischen Verbot und Paränese. In dem einen Fall will man gegen einen Delinquenten, weil er keine Religion hat, ein

|| 87 SUBG, Cod. Ms. Heyne 73, Bl. 28v. 88 Arnoldt: Fr. Aug. Wolf (s. Anm. 46), Bd. 1, S. 68 (s. auch Anm. 52 oben). Mauvillon blieb offensichtlich Zeit seines Lebens dabei, nicht in die Kirche zu gehen. Als Lehrer des Kadettenkorps in Kassel sollte er seine Zöglinge dorthin begleiten; »allein dazu war er nicht zu bringen« ([Schlichtegroll:] Mauvillon [s. Anm. 4], S. 180). 89 Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge (s. Anm. 10), S. 74. 90 In einem Brief an den in der hannoveranischen Regierung für das Pädagogium zuständigen Geheimen Sekretär Friedrich Wilhelm von Duve (s. unten, Anm. 139) bedankt sich Mauvillon für »die Protection die mir Dieselben vielfältig haben angedeyen laßen« (16.10.1771, UAG, vorläufige Mappe 9). Günstig für Mauvillon war womöglich auch die Verbindung seines Gönners Johann Ludwig von Wallmoden zum Kanzleisekretär Brandes (s. oben S. 18). Auch Heyne hatte zu Brandes eine vertrauliche Beziehung (s. Heeren: Christian Gottlob Heyne [s. Anm. 28], S. 144–147 und S. 158–161). 1777 heiratete Heyne dessen Tochter Georgine.

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Disziplinarverfahren einleiten;91 in dem anderen den Betreffenden womöglich beschämen, vor allem aber ein öffentliches Ärgernis vermeiden.92 Dennoch hatte sich durch Heynes Rüge im Collegium die Lage zu Mauvillons Ungunsten verändert. Denn erstens geht daraus hervor, dass er sich noch weitere ›unvorsichtige‹ Bemerkungen hatte zuschulden kommen lassen, die nun, neben »Irreligieusem« auch »[U]nmoralisches« zum Inhalt hatten. Zweitens war vorauszusehen, dass diese neuerliche Mahnung, so milde sie auch im Ausdruck war, in Heynes Inspektionsbericht Erwähnung finden würde, wie es denn auch geschah. Und drittens und vor allem war es bedenklich, dass es Heyne war, der dieses Urteil fällte, denn von ihm hing letztlich ab, ob einer seine Stelle behielt oder nicht (zwei Collaboratoren hat es ja auch erwischt). Wenn sich Mauvillon schon durch seine Verweigerung des Kirchgangs in Misskredit gebracht hatte, so wird seine Renitenz ihn noch weiter belastet haben. Bei diesem Stand der Dinge musste er nach Heynes Inspektionsbericht mit weiteren Konsequenzen rechnen; sie waren zumindest nicht auszuschließen, zumal der Bericht auch nach Ilfeld zurückgeleitet wurde.93 Man kann also verstehen, warum von da an die Frage nach einer anderen Anstellung dringlich wurde.94 || 91 Ganz im Stil der Zeit um 1700, wo aus der Lehrerschaft reihenweise »gelehrte Männer […] abgesetzt [wurden], weil sie nicht orthodox genug waren« (Das höhere Schulwesen in Preussen [s. Anm. 16], Bd. 2, S. 429). 92 Bezeichnenderweise lässt Heyne im fertigen Bericht auch die Einzelheit aus dem Entwurf aus, dass Mauvillon, nachdem er ihn zurechtgewiesen hatte, sofort zum Widerspruch aufgelegt war. 93 Die Reinschrift im Universitätsarchiv Göttingen (UAG, vorläufige Mappe 55) stammt vermutlich aus dem zerstreuten Ilfelder Archiv, s. Anm. 20. Der Bericht war an den »Premier Ministre und geheimen Rähte« in Hannover adressiert; eine Ilfelder Abschrift wäre zur Kenntnisnahme für den Rektor und die anderen Präzeptoren beabsichtigt gewesen. 94 In Schlichtegrolls Nekrolog ist über den Zeitpunkt nichts Genaues zu erfahren: Mauvillon habe »[a]ls es ihm in Ilefeld nicht länger gefiel, […] den General [Johann Ludwig] von Wallmoden«, unter dem er im Siebenjährigen Krieg gedient hatte, »um Empfehlungsschreiben nach Cassel [gebeten], worauf ihm dieser Briefe an den […] Generallieutenant von Schliefen [Martin Ernst von Schlieffen, Minister in der landgräflichen Regierung] mitgab« ([Schlichtegroll:] Mauvillon [s. Anm. 4], S. 172). Der Briefwechsel mit dem Kasseler Bibliothekar Rudolf Erich Raspe, über den die Verhandlungen dann liefen, erlaubt aber eine genauere Einordnung. Wohl Ende August oder Anfang September 1771 stellte sich Mauvillon persönlich in Kassel vor und erhielt dort eine Zusage. Erst am 10. September 1771 war er in der Lage, in Hannover um seine Beurlaubung zu bitten: »Fondé sur ce que son Excellence Monsieur de Canngiesser m’a dit, je demande par la poste d’aujourdhui mon congé à Hannovre« (Auf der Grundlage dessen, was mir seine Exzellenz Herr von Canngiesser gesagt hat, verlange ich mit heutiger Post meinen Abschied in Hannover) (Mauvillon an Raspe, 10. Sept. 1771, LMB, 4° Ms. hist. litt. 2; Leonhard Heinrich Ludwig Georg von Canngießer, Minister in der landgräflichen Regierung). Dass Mauvillons Entschluss plötzlich gefasst wurde, und sein Abgang daher in aller Eile geregelt werden musste, geht auch daraus hervor, dass der hannoveranische Amtmann erst Ende Oktober davon erfuhr (Entwurf des Briefs von Wilhelm Christian Ernst von Wüllen, 29. Okt. 1769, LASAW, A 19k III, Nr. 253, Bl. 63). Den Ausführungen über den Französischunterricht im Verzeichnis der Lectionen, welche der auf dem Königl. Pädagogium zu Ilfeld

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Um zu begreifen, in welche prekäre Lage Mauvillon geraten war, muss man sich vergegenwärtigen, in welchem Maße Kirche und Schule im 18. Jahrhundert noch miteinander verbunden waren, ja im Grunde ein und dieselbe Institution bildeten. Das galt uneingeschränkt auch für das Ilfelder Pädagogium. Der Name des Gründungsrektors und Melanchthon-Schülers Michael Neander (1525–1595), unter dem die Schule ihre erste Blüte erlebte, war verpflichtend.95 Rektor, Konrektor und Subkonrektor waren selbstverständlich Theologen. Der Rektor Nahmmacher (von 1763 bis 1768) bekleidete zeitweilig sogar das Amt des Superintendenten der Grafschaft Hohnstein, zu der Ilfeld gehörte.96 Man achtete auf Rechtgläubigkeit der Präzeptoren; bei der Amtseinsetzung des Konrektors Sebastian Christian Schwabe 1763 kam es zum Eklat, weil die dazu anwesenden Stolbergischen Kommissäre einen feierlichen Protest einlegten, dass Schwabe nicht ordnungsgemäß sein Testamen vor dem Hohnsteinischen Konsistorium abgelegt habe.97 Noch einmal kam es 1768 beim Antritt von Heinrich Alexander Günther Pätz als Subkonrektor zu einem Prozedurstreit mit dem Konsistorium.98 Die Schüler mussten »in der Evangel. Religion des unveränderten Augspurgischen Bekänntnisses99 erzogen, und zum

|| studirenden Jugend von im Sommer halben Jahre 1772. gegeben werden sollen [Nordhausen 1772] ist die Verlegenheit, in die das Pädagogium durch den plötzlichen Abgang Mauvillons versetzt wurde, anzumerken; der Rektor Meisner musste mit einem deutlich verringerten Angebot in die Bresche springen (S. 8). Nach diesem Provisorium konnte erst im Oktober 1772 nach einjähriger Vacanz mit Heinrich Wilhelm von Stamford die Stelle neu besetzt werden (Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge [s. Anm. 10], S. 78) – auch das knapp genug: sein Vorstellungsgespräch mit Heyne hatte Stamford erst am 20. September 1772 (von Heyne unterzeichnetes Protokoll, UAG, vorläufige Mappe Ilfeld 55). 95 Johann Georg Leuckfeld: Antiquitates Ildefeldenses, oder Historische Beschreibung des Closters Ilfeld. Quedlinburg 1709, S. 112‒124, S. 197‒203. Neander als »Melanchthon redivivus«: Hamburgische Bibliotheca Historica. […] Die dritte Centuria. Leipzig,1716, S. 81. 96 Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge (s. Anm. 10), S. 74. Nach Nahmmachers Tod 1768 wurden die Ämter wieder getrennt: Während Karl Friedrich Meisner zu seinem Nachfolger als Rektor ernannt wurde (ebd., S. 74), wurde der Ilfelder Pastor Christian Günther Roitzsch (oder Roitsch) zum Superintendenten berufen (https://www.rambow.de/die-evangelischen-prediger-in-ilfeld. html, Zugriff 4.10.2019). 97 Siehe zahlreiche Akten in UAG, vorläufige Mappen Ilfeld 5 und 20. In der Folge wurde der Streit zu allseitiger Zufriedenheit beigelegt. Von Schwabes Rechtgläubigkeit zeugt im Übrigen seine gegen John Tolands Adeisidaemon (1709) gerichtete Ilfelder Programmschrift, Vindiciae credulitatis Livii, cuius ob saepius recensita prodigia insimulatur (Göttingen 1773); vgl. dazu Wilhelm David Fuhrmann: Handbuch der Classischen Literatur der Römer, oder Anleitung zur Kenntniß der Römischen Classiker. Rudolstadt 1810, Bd. 4, S. 645–651 (zu Schwabe dort S. 650). 98 LASAW, »Prüfung des Subkonrektors Pätz durch das hohensteinische Konsistorium«, A 19k III, Nr. 260. Auch hier ging es eher darum, dass das Konsistorium auf seine Rechte pochte; von mangelnder Orthodoxie bei Pätz kann nicht die Rede sein (vgl. Anm. 102). 99 Das ›unveränderte‹ Bekenntnis, die Confessio Augustana Invariata von 1530, gilt im Gegensatz zum ›veränderten‹ Bekenntnis, der Confessio Augustana Variata von 1540, nur für Lutheraner, vgl. Confessio Augustana (https://de.wikipedia.org/wiki/Confessio_Augustana, Zugriff 3.10.2019).

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H. Abendmahl gewesen seyn«.100 In einem Prospekt des Jahres 1763 wird die Glaubensfestigkeit der Schule als ein besonderer Vorzug angepriesen: Damit die Jugend in der Zucht und Vermahnung zum HErrn wohl erzogen werde, so wird sie nicht nur, zu dem ordentlichen und öffentlichen Gottesdienst, und zu dem ordentlichen Morgen und Abend-Gebete sich zu versamlen angehalten, sondern es wird ihr auch ein beständiger Unterricht in der Glaubenslehre, wöchentlich in zwo öffen[t]lichen Stunden […] gegeben.101

Zu diesem Unterricht heißt es 1768 in einem ähnlichen Prospekt: Ein beständiger öffentlicher Unterricht in der christlichen Glaubens-Lehre [wird] erteilet […], der dahin eingerichtet ist, daß diejenigen, welche eigentlich der Theologie sich nicht besonders widmen, dennoch als Christen gelehret werden, Rechenschaft von der Hoffnung, die in ihnen ist, geben zu können, und in so ferne gründlich von der Wahrheit ihrer Religion unterrichtet zu seyn, damit sie nachher in der Welt nicht so leicht durch die Zweifel der Freigeister und Religions-Spötter hingerissen werden.102

Diesen Anstalten wurden in den Statuten von 1749, die das ganze 18. Jahrhundert in Kraft waren, Nachdruck verliehen.103 Besonders bedrohlich für Mauvillon war der Paragraph 3 im Abschnitt zur Religion. Ich zitiere aus Heynes Übersetzung des lateinischen Originals:

|| 100 Nachricht vor dieienigen, welche ihre Söhne oder Pflegbefohlne auf die Closter-Schule zu Ilfeld zu bringen gedencken. s.l. [1749], unpag. 101 Kurze Anzeige derjenigen Vorlesungen und Ubungen in den freyen Künsten und schönen Wissenschaften, welche mit der auf dem Königl. Paedagogio zu Ilfeld studirenden Jugend von Michaelis 1763 bis Ostern 1764. angestellet und getrieben werden sollen: wobey zugleich eine kurzgefaßte Nachricht von denen neu bestellten Lehrern und von dem itzigen Zustande dieses Paedagogii gegeben wird. Nordhausen [1763], S. 6. 102 Ausführliche Nachricht (s. Anm. 32), S. 14. Näheres zum Inhalt: s. Itzige Einrichtungen des königlichen Paedagogii zu Ilefeld. In: Nova acta historico-ecclesiastica oder Sammlung zu den neuesten Kirchengeschichte 8 (1769), S. 754–795, hier S. 754f. Das Lehrfach Theologie vertrat der Subkonrektor Pätz: s. Itzige Einrichtungen des königlichen Paedagogii zu Ilefeld. In: Nova acta historico-ecclesiastica. Oder Sammlung zu den neuesten Kirchengeschichten. Weimar 1769, Bd. 8, Zwey und Sechzigster Theil, S. 754–795, hier S. 754. Seiner Lehre lag das Theologisches Compendium zum Gebrauch der Schulen verfertiget von Johann Christoph Dommerich (Halle, Helmstedt 1759) zugrunde: s. Verzeichnis der Lectionen […] von Ostern bis Michael 1771 (s. Anm. 63), S. 10; Verzeichnis der Lectionen, welche der auf dem Köngl. Pädagogium zu Ilfeld studirenden Jugend von Michael 1771. bis Ostern 1772. gegeben werden sollen. [Nordhausen 1771], S. 11 (der Subkonrektor habe »die Vorlesung der Glaubenslehren, nach dem Dommerischen Auszuge völlig geendet, und fängt diesen Vortrag mit einer Einleitung in die christliche Religion an; in welcher die Wahrheit derselben und die Göttlichkeit der heiligen Schrift erwiesen werden«). 103 1801 und 1831 wurden sie »neu redigirt«; vgl. Das höhere Schulwesen in Preussen (s. Anm. 16), Bd. 2, S. 432; erst 1840 wurden neue »Gesetze und Einrichtungen« beschlossen (ebd.).

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Gottlose und der öffentlichen Religion verkleinerliche und nachtheilige Reden wird, in so fern sie die Ehre Gottes unmittelbar antasten, Gott selbst bestrafen und rächen: So fern aber andere dadurch geärgert werden, müssen sie auch von Menschen geahndet werden; ein frech gottloser Mensch soll, so bald er dessen überführt ist, von diesem Orte entfernt werden.104

Es kam auch zu entsprechenden Ausschlüssen. So berichten die Annalen von zwei Schülern, die 1743 wegen Kartenspiels in der Kirche von der Schule entfernt wurden.105 In anderen Fällen ist die Ursache für den Ausschluss weniger deutlich benannt. Die ›contumacia‹ aber, die bei einigen als Grund angegeben wird, ist dem Begriff nach eng verwandt mit der ›pervicacia‹, von denen im Paragraphen zur Religion die Rede ist.106 In Heynes Übersetzung der Stelle ist daraus ›Frechheit‹ geworden; es wäre aber genauer mit ›Halsstarrigkeit‹ zu bezeichnen.107 Freilich wird es viele Spielarten von Halsstarrigkeit gegeben haben.108 Vielfach kam der Begriff jedoch in Religionsdingen zur Anwendung.109 Bei der 1768 durch Ausschluss geahndeten ›contumacia‹ des Schülers Meinecke könnten also irreligiöse Reden eine Rolle gespielt haben.110 Der Fall von Johann Christoph Unzer ist im Zusammenhang mit Mauvillon von besonderem Interesse. Sein Abschlusszeugnis lautet: »Jo. Christoph Unzer […] quod contumacem se repugnantemque ductoribus

|| 104 Heyne: Nachricht (s. Anm. 48): »Gesetze des Pädagogii zu Ilfeld den dasigen Zöglingen zur Nachachtung geschrieben und publiciret« (S. 69–100, hier S. 75f.). Die »Gesetze« sind Heynes Übersetzung der Leges Paedagogii Ilfeldensis Alvmnis Scriptae et Pvblicatae (Göttingen 1749; 2. Aufl. Göttingen 1773). Nach der Erstauflage wiederabgedruckt in: Evangelische Schulordnungen. Hg. von Reinhold Vormbaum. Bd. 3: Die evangelischen Schulordnungen des achtzehnten Jahrhunderts. Gütersloh 1864, S. 459–466. 105 Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge (s. Anm. 10), S. 51. 106 »Peruicaciter impius homo« (Leges Paedagogii Ilfeldensis, in: Evangelische Schulordnungen (s. Anm. 104), S. 460). Georg Matthiae: Novum Locupletissimum Manuale Lexicon Latino-Germanicum et Germanico-Latinum. 3. Aufl. Halle 1761, Bd. 2, S. 207 (»contumax […] pervicax«). 107 Matthiae: Novum […] Lexicon (s. Anm. 106), Bd. 2, S. 207 (»Halsstarrigkeit […] contumacia«). So auch bei Zedler: »Contumacia, der Ungehorsam, Halsstarrigkeit, Trotz«. Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Leipzig, Halle 1733, Bd. 6, Sp. 1157. Im weiteren Verlauf wird auf das Universal-Lexicon unter der Sigle UL verwiesen, mit dem Publikationsjahr des betreffenden Bandes (z. B. UL 1733). 108 Die ›contumacia‹ des 1768 nach einem Semester relegierten Schülers Friedrich August von Haacke z. B. war ein genereller Ungehorsam (vgl. Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge [s. Anm. 10], S. 74). 109 Nach Habakuk 2. 4. Direkt an diesen locus classicus schließt das Lemma »Halsstarrig« im Universal-Lexicon an: »Die Halsstarrigen werden […] denen Gläubigen entgegen gesetzet, daher denn leicht zu schliessen, daß die also genannte Halsstarrigen ungläubige seyn müssen« (UL 1735, Bd. 12, Sp. 307). ›Contumax‹ heißt auch so viel als ›verstockt‹ (Matthiae: Novum […] Lexicon [s. Anm. 106], Bd. 2, S.399: das Epitheton schlechthin zur Charakterisierung des Ungläubigen (s. »Verstockung«, UL 1746, Bd. 47, Sp. 2068–2075; dort auch »halsstarrig und verstockt«, Sp. 2071). 110 Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge (s. Anm. 10), S. 74 (1768).

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gesserat, relegatus est d. 31. August. 1767.«111 D. h.: »Johann Christoph Unzer wurde von der Schule verwiesen, weil er sich halsstarrig und den Oberen gegenüber aufsässig aufgeführt hatte.« Unzer war nun, wie bekannt, ein besonderer Freund Mauvillons; von ihrer »ominöse[n] Verbindung« war oben schon die Rede gewesen. Die Biographen Unzers behaupten denn auch, nur leider ohne Quellenangabe, dass er »wegen Freigeisterei« verwiesen wurde,112 und dass wiederum »[d]ie freigeistigen Ideen [seines] nur vier Jahre älteren Lehrers [Jakob Mauvillon]« dafür verantwortlich gewesen seien.113 Dem sei wie ihm wolle: Schon durch seine eigene Impietät hatte sich Mauvillon in Gefahr gebracht. Dass er selber (nominell) reformierten Glaubens war, »eccles. Reformatae addictus«, wie es in den Annalen heißt,114 dürfte kaum etwas geholfen haben – sonst hätte man ihn ja auch nicht verwarnen können, weil »er gar nicht in die Kirche gehe«. Bis jetzt war er mit einem Verweis davongekommen. Aber bei wiederholter Widersetzlichkeit (›contumacia‹) konnte das auf Dauer nicht gutgehen. Mauvillon schien es ja auch auf die Spitze treiben zu wollen. Nicht nur ignorierte er demonstrativ den Verweis, er war offenbar auch nicht gewillt, von seinen »unmoralischen und irreligieusen« Reden zu lassen. Und wie wir gesehen haben, war er auch beim Inspektionsbesuch Heynes nicht bereit, die Rüge, die ihm dieses Verhalten eingebracht hatte, auf sich sitzen zu lassen. Es war also abzusehen, dass irgendwann die Geduld seiner Protektoren, wenn er denn welche hatte, am Ende sein würde. Ratsamer war es also, sich beizeiten abzusetzen. Und das umso eher, als er in Ilfeld einen Intimfeind hatte, den er nicht loswerden konnte, und der noch andere Dinge, als seine irreligiösen Meinungen gegen ihn auf dem Herzen hatte. Der eigentliche Wächter über Rechtgläubigkeit und gute Sitten an der Anstalt war nämlich keiner der Präzeptoren, und schon gar nicht

|| 111 Ebd., S. 70. 112 Minna Niebour: Beiträge zur Kenntnis des Dichters Leisewitz. In: Jahrbuch des Geschichtsvereins für das Herzogtum Braunschweig 4 (1905), S. 62–113, hier S. 73. 113 Hans-Werner Engels: Johann Christoph Unzer. In: 250 Jahre Christianeum 1738–1988. Festschrift. Hg. von Ulf Andersen. Hamburg-Altona 1988, Bd. 1, S. 75–90, hier S. 78. Auch im Falle des ein Jahr nach Unzer relegierten Schülers Georg Meinecke (s. oben) ist eine Beeinflussung durch Mauvillon möglich. Meinecke saß nachweislich bei ihm in der Stunde, wie aus einem Brief Mauvillons an den Direktor Konrad Nahmmacher über die Verteilung der Schüler auf seine Klassen für das neue Semester hervorgeht (UAG, vorläufige Mappe 9). Der Brief ist undatiert, muss aber vor Nahmmachers Tod am 5. Mai 1768 geschrieben worden sein. Durch Vergleich der Namen der im Brief genannten Schüler und der Liste der Neuzugänge bei Wiedasch lässt sich ein Datum Anfang April 1768 erschießen (Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge [s. Anm. 10], S. 74). Freilich wird in dem ländlichen Internat bei der geringen Schülerzahl ohnehin jeder mit jedem in Berührung gekommen sein. 114 Ebd., S. 72.

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Heyne, dem es offenbar peinlich war, diese Rolle spielen zu müssen,115 sondern der Königlich kurfürstliche Stiftsamtmann Wilhelm Christian Ernst von Wüllen. Von Wüllen war selber Alumnus des Pädgogiums gewesen. Er war 1732 aufgenommen worden, im folgenden Jahr wurde er aber als »malae notae homo« (Mensch von üblem Ruf)116 vom Rektor nach Hause geschickt und angewiesen, nicht wiederzukommen.117 Das hat ihn nicht gehindert, nach seiner Berufung zum Amtmann in Ilfeld im Jahre 1746 sich den Schulangelegenheiten mit besonderer Fürsorge zu widmen. Nach Zedlers Universal-Lexicon bedeutet ›Amtmann‹ einen Vorgesetzten oder Administratoren der Oeconomie und Justitz, der im Namen des LandesFürsten, die Gerichten ausübet, und die Einkünffte, so der Amts-District trägt, einfordert, und hernachmals berechnet. […] Es habe […] vor denen Aemtern alle Amtsa[c]hen ihre erste Instanz […]. […] Die unter dem Amts-Bezirck passirende Verbrechen, untersuchen und bestraffen sie dergestalt, daß die Landes-Regierung solche nicht einmal zu sich ziehen darff [d. h. braucht], ausser, daß die Beamten die einlauffende Urthel zur Confirmation an die Landes-Regierung einschicken müssen.118

Der Umfang der Befugnisse von Wüllens in Ilfeld deckt sich mit dieser Beschreibung. 1747, ein Jahr nach seinem Amtsantritt, wurde die Verwaltung des Stiftsamts Ilfeld von einem eigenen Administrator an das Ministerium übertragen.119 || 115 Man lese noch einmal den Inspektionsbericht: Nach der fatalen Conferenz, in der er Mauvillon vor unvorsichtigen »irreligieusen« Bemerkungen gewarnt hatte, wollte Heyne ihn noch einmal zur Rede stellen – aber nicht darüber, sondern über seinen Sprachunterricht. Mauvillons »Sprachmeister-Schlendrian« war ihm offenbar wichtiger als seine freigeistigen Ansichten. Auch als Mauvillons Weggang aus Ilfeld beschlossen war, blieb er mit Heyne in gutem Einvernehmen. In seinem Brief an Raspe vom 10. September 1771, nach seinem Aufenthalt in Kassel, berichtet Mauvillon, er habe auf der Durchreise nach Ilfeld Heyne in Göttingen besucht. Dieser habe sich freundlich gezeigt: »Il [...] m’a fort félicité, quoi qu’il eût la politesse d’ajouter que cela ne lui fesait pas plaisir par rapport au Collège d’Ilfeld« (Er hat mir herzlich gratuliert, obwohl er so höflich war hinzuzufügen, dass es ihm mit Hinsicht auf das Pädagogium zu Ilfeld keine Freude mache). Freilich mag Heyne auch froh gewesen sein, auf diese gütliche Art einen unbequemen Gesellen losgeworden zu sein, ohne dass er selber eingreifen musste. Er blieb jedoch Mauvillon gegenüber weiterhin wohlgesinnt. Im Jahre 1780 bat er ihn um Vorschläge zur Verbesserung des Pädogogiums (s. Mauvillon an Christian Gottlob Heyne, 24. Sept. 1780, SUBG, Cod. Ms. Heyne 114, Nr. 46). Auch das Collegium gab sich zuletzt versöhnlich und stellte dem scheidenden Lector linguae gallicae ein gutes Zeugnis aus: vgl. Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge (s. Anm. 10), S. 77. 116 Oder in der Sprache der Zeit: »Verschreyter Mensch« (Jacob Bayer: Paedagogus latinus Germaniae juventutis sive Lexicon germanico-latinum et latino-germanicum. 4. Aufl. Mainz 1740, 1. Halbbd., S. 640). 117 Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge (s. Anm. 10), S. 44. 118 UL 1732, Bd. 1, Sp. 1814. 119 Sonne: Topographie (s. Anm. 17), S. 466. Mit dem letzten Administrator, Gerhard Andreas von Reiche, der nach 1747 den Titel »Drost von Ilfeld« trug, war von Wüllen durch Heirat liiert: ebenfalls 1747 heiratete er, dreißigjährig, die um vierzehn Jahre jüngere Anna Margarethe von Reiche.

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Damit fiel von Wüllen von amtswegen die Verantwortung für die Finanzen des Pädagogiums zu. Aber wie schon seine Vorgänger behielt er sich auch in anderen Belangen der Schule eine leitende Funktion vor: Der Amtmann hat[te] als örtliche Behörde des Stiftes in manchen Dingen der Schule hineinzureden, wie es bei der mangelnden Abgrenzung der damaligen Befugnisse nahe lag. Nicht nur, dass er in allen äußeren Dingen wie Bau, Wohnung, Verpflegung usw. unmittelbar entschied, auch schwerere Strafen der Zöglinge, vor allem Relegation oder zeitweise Entziehung des Beneficiums, standen ihm zu.120

Von Wüllen nutzte diesen Freiraum voll aus. Nicht unwesentlich trug zu seiner Machtausübung bei, dass das 1720 errichtete neue Amtshaus direkt neben der Schule, innerhalb des alten Klostergeländes lag (s. Abb. 1).121 Vom Amtshaus aus hatte er gleichsam die Schule ständig im Auge. Selbst kinderlos,122 speiste er öfter mit den Scholaren,123 oder er lud sie zu sich ein.124 Er machte sich auch keine Umstände daraus, unangemeldet ihre Kammern zu besuchen.125

|| (https://gw.geneanet.org/heermann?lang=en&pz=johann&nz=heermann&p=wilhelm+christian+ ernst+von&n=wullen; Zugriff 4.10.2019; als Quelle wird angegeben Niedersächsische Landesbibliothek. Leichenpredigt EBELL, Heinrich Christoph; Signatur Cm 362 – Söhne und Töchter EBELL – Hannover 13. November 1747). 120 Ites: Die Verlegung der Ilfelder Klostereinkünfte (s. Anm. 17), S. 105. Zur Spannung zwischen Rektor und Amtmann s. ebd. S. 109, S. 116, S. 119, S. 121. Vgl. Kuhlbrodt: Von wilden Scholaren (s. Anm. 49), S. 72. 121 »[Das] Kloster [d. h. die Schule] [ist] 8 Schritte vom Amte« (Sebastian Christoph Schwabe an Johann Samuel Gottlob Schwabe, 29. März 1768, Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, GSA 117/99). Das Amtshaus steht noch immer, während die alten Klostergebäude, in denen das Pädagogium im 18. Jahrhundert noch untergebracht war, im 19. Jahrhundert einem neuen Zweckbau weichen mussten. 122 Laurentius Rhodomann’s Lobgedicht auf Ilfeld. [Hg. und] übersetzt von Dr. Karl Volckmar: nebst einem Anhange ähnlicher Gedichte. In: Programm des Königlichen Pädagogiums zu Ilfeld. Ostern 1854. Nordhausen 1854, S. 1–88, hier S. 75. 123 UAG, vorläufige Mappe 55, Inspektionsbericht Heynes, 13. Aug. 1771, Bl. 8r. 124 Heyne: Nachricht (s. Anm. 48), S. 62. 125 Siehe die Miszelle in: Göttingische Anzeigen. Auf das Jahr 1761. 1762. Göttingen 1762, Bd. 1, 108. Stück, S. 944: »Auf 18 Seiten in Kleinfolio ist hier ohne Wißen des Verfassers, ein Lateinisches Gedicht gedruckt, welches der Herr Amtmann von Wüllen auf der Stube eines auf die Universität gehen sollenden Pädagogisten in seiner Abwesenheit gefunden, und nach dem Rechte eine Freundes und Verwandten zum Druck mitgenommen hat.« Der Verfasser, Ernst Ludwig Ebel (oder Ebell), war verwandt mit von Wüllens Mutter, Louise Eleonore Ebel[l]. Er besuchte das Pädagogium von 1759 bis 1762 (Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge [s. Anm. 10], S. 65). Das Gedicht, Musae Ilefeldensis carmen elegiacum, ist abgedruckt in: Laurentius Rhodomann’s Lobgedicht auf Ilfeld (s. Anm. 122), S. 75–83; im Anhang dazu auch ein Gedicht von Wüllens: »Musarum Ilfeldensium auctori W. C. E. de Wüllen« (ebd., S. 84). Die Eleven waren zu zweit auf den Zimmern, vgl. Ausführliche Nachricht (s. Anm. 32), S. 9. Insofern fällt der Einwand weg, von Wüllen hätte sich den freien Zugang nur zu den Kammern eines Verwandten erlaubt.

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Abb. 1: Königliches Pädagogium zu Ilfeld, in dem ehemaligen Kloster Ilfeld. Nach 1720 (der Errichtung des Amtshauses) und vor 1859 (dem Abriss der alten Klostergebäude). Mit freundlicher Bewilligung von Frau Margot Rambow (https://www.rambow.de, Zugriff 26.5.2020). Das Amtshaus ist in der rechten Bildmitte zu sehen.

Auch die Lehrer konnten sich ihm nicht entziehen. Das Ministerium in Hannover war weit weg; der Amtmann dagegen konnte täglich in die Geschäfte des Instituts eingreifen. So berichten die Akten denn auch von seiner regen Mitsprache in Disziplinarfällen.126 Auch bei Stellenbesetzungen gab er seinen Rat – aus »Pflicht und Gewißen«, wie er versicherte, und aus »Liebe gegen das hiesige- so herrliche Institutum, [das er] […] selbst […] frequentiret«.127 Und dass er ebenso in Personalien eingriff, wo er eine Antipathie entwickelt hatte, zeigte sich ein paar Jahre nach Mauvillons Ausscheiden im Falle von Gerhard Schledehaus, der 1772 zum Collaborator ernannt worden war.128 Georg Meyer, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts Professor und Bibliothekar in Ilfeld, lagen die einschlägigen Akten noch vor. Sie

|| 126 LASAW, A 19k III, Nr. 331 und A 19k III, Nr. 337. Das konnte sich auch zugunsten eines Delinquenten auswirken – insofern er von Reiche hieß und sein Schwager war; vgl. dazu Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge (s. Anm. 10), S. 56. Die Familienverhältnisse ermittelt nach: http://www.familie-winkelhausen.de/toe_3.htm und https://gw.geneanet.org/heermann?lang=en& pz=johann&nz=heermann&p=ernst+carl+von&n=reiche (Zugriff 4.10.2019). Pikanterweise machte sich ein weiterer Verwandter, sein Neffe Georg August von Wüllen, zusammen mit einem Mitverschworenen, einer spektakulären Übertretung schuldig, indem er am 13. Juli 1766 sich heimlich aus der Schule entfernte und sich nach Erfurt absetzte – und dies, obwohl er Primus war (Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge [s. Anm. 10], S. 69 und S. 72). 127 Brief von Wüllens vom 9.4.1763 an die »Herren Geheimte[n] Rähte« der Braunschweig-Lüneburgischen Regierung in Hannover (UAG, vorläufige Mappe Ilfeld 6). 128 Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge (s. Anm. 10), S. 78.

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liefern zugleich die Bestätigung, dass der Amtmann eigenmächtig agierte, ohne sich um den Willen des Ministeriums zu kümmern, und ohne auf den Widerspruch des Rektors Rücksicht zu nehmen. Meyer berichtet: Als [von Wüllen] 1774 mit Superintendent Roitzschs129 Unterstützung einen jugendlichen Collaborator von hier weggraulte, hat die Regierung in einer an Rektor Meisner gerichteten Verfügung vom 4. November 1774 v. Wüllens Vorgehen nicht gebilligt. Und Heyne schreibt am 1. Dezember 1774 […]: »Es thut mir um des Herrn Amtmanns von Wüllen übelverstandene Frömmigkeit leid; vermuthlich ist ihm Herr Schledehaus nicht devot genug. Ein jeder andrer würde bey der Klatscherey vom Kuße den Herrn Rector im Vertrauen gesprochen und ihm gesagt haben, er möchte den Herrn Collaborator ein wenig warnen. Was ist dagegen des Herrn v. W. Verfahren! Das geht ja über alle Inquisition.«130

Hier haben wir die Bestätigung, dass zwischen dem Amtmann einerseits, den Präzeptoren und der Aufsichtsbehörde andererseits, eine grundsätzliche Differenz darüber bestand, mit welchen Mitteln Abweichungen von Rechtgläubigkeit und Sitte zu begegnen sei. Wie vier Jahre früher im Falle Mauvillons, wo es Heyne vorgezogen hatte, eine indirekte Verwarnung auszusprechen, anstatt Alarm zu schlagen, stellt er hier der »Inquisition« des Amtmanns eine väterliche Ermahnung durch den Rektor gegenüber. Vor allem aber gibt uns der Brief Aufschluss über das, was von Wüllens Zorn erregte und ihn zum Einschreiten bewog: die mangelnde Frömmigkeit, und – ein »Kuß«, d. h. ein Vergehen gegen die sexuelle Moral. Beides ging nach den Begriffen der Zeit natürlich Hand in Hand. Den Paragraphen zur Religion in den Statuten folgt unmittelbar ein langer Abschnitt zu den »Pflichten, die ein jeder sich selbst schuldig ist«.131 Zwei Paragraphen handeln von sexuellen Delikten: 8. Den Leib sollen [die Schüler] von aller Unreinigkeit unbefleckt und keusch erhalten, aus Ueberzeugung, daß nichts nicht nur mit der Heiligkeit eines Christen, sondern auch mit der natürlichen Tugend weniger verträglich sey, als ein mit Geilheit befleckter Leib, und eine mit bösen Lüsten angesteckte Seele. Sie mögen gewiß glauben, daß alle natürlichen Vergnügungen desto süssere Früchte nach sich ziehen, und desto dauerhafter sind, je länger der Genuß derselben verschoben wird, und je sparsamer man sich diesen erlaubt. 9. Wer einer an seinem eignen Leibe, oder an einem andern verübten Schande überzeuget wird, der soll von diesem Tempel des heil. Geistes und der Keuschheit auf ewig verwiesen werden.132

|| 129 Vgl. Anm. 96. 130 Meyer: Ein geplanter Bibliotheksbau (s. Anm. 46), S. 19f. Der Adressat ist Friedrich Wilhelm von Duve (s. unten). 131 Heyne: Nachricht (s. Anm. 48), S. 76–81. 132 Ebd., S. 77. Im Original der Leges Paedagogii Ilfeldensis, in: Die evangelischen Schulordnungen (s. Anm. 104), S. 460 (dort für »Geilheit […] und Lüste« der eine Begriff »libido«).

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Auch diese Delikte wurden regelmäßig durch Ausschluss geahndet.133 Und da die Lehrer den Schülern mit gutem Beispiel vorangehen sollten, war der ruchbar gewordene »Kuß« des Collaborators Schledehaus nach dem Dafürhalten des Amtmanns selbst ein zu ahndendes Delikt. Er brauchte ihm dabei wohl nicht einmal förmlich den Prozess zu machen, obwohl auch dafür möglicherweise die gesetzliche Grundlage bestanden hätte.134 Er konnte ihm einfach im täglichen Umgang das Leben so schwer machen, dass er ›vergrault‹ von alleine ging. Und in der Tat: Schledehaus demittierte im April 1775, nachdem er offenbar genug gehabt hatte.135 Gleichzeitig mit ihm verließ Mauvillons Nachfolger Stamford die Schule, auch er ein Opfer des Amtmanns. Heyne schüttelt in dem von Meyer zitierten Brief vom 1. Dezember 1774 auch über diesen Fall den Kopf: »Der Herr Hauptmann von Stramford [!] […] hatte […] sich eben dahin geäusert: Ilfeld sey ihm blos wegen der Domination und der Begegnung des Herrn Amtmanns unausstehlich.«136 Und sicher

|| 133 Vgl. Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge (s. Anm. 10), S. 53 (zu einem Schüler der, »libidinum nimium intentus«, der sinnlichen Lust allzusehr hingegeben, sich nachts außerhalb der Schule umhergetrieben hatte); ebd. S. 57 (zu einem zweiten mit unverbesserlichem Hang zu »libidines«). Ob bei der ›sittlichen Verderbnis‹ eines dritten (ebd.) Sexuelles im Spiel war, sei dahingestellt. 134 Siehe SUBG, Cod. Ms. Heyne 65, »Gerichtstand der Lehrer«, Bl. 16 (in Heynes Handschrift): Notizen, in denen sich Heyne über die Gerichtsbarkeit des Amtmanns über die »Bedienten am Paedogogii« Klarheit zu verschaffen sucht. »[D]ie obern 3 Lehrer haben ein forum privilegiatum – bey [der] K.[öniglichen] Justizc.[ammer] oder [dem] Hofgerichte«; »alle Klosterbediente […] auch die Maitres, Zeichen- Tanz-[Meister] […] haben d.[as] Stiftsamt zum Gerichtstand«. Der strittige Grenzfall waren die »Collaboratores«, darunter »der Lector L[inguae] Gall[icae]«. Die Aufzeichnungen sind undatiert. Man ist versucht, sie auf die kritische Situation im Sommer 1770 zu beziehen, als der Streit um Mauvillon eskalierte. 135 Vgl. Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge (s. Anm. 10), S. 80. Es folgte eine pikareske Laufbahn: 1776 trat Schledehaus (»van Osnabrug«, ebd., S. 78) als Soldat in den Dienst der Niederländischen Ostindien-Kompanie und schiffte sich nach Batavien ein (s. Verenigde Oostindische Compagnie, Inventaris nr. 6642, https://www.nationaalarchief.nl/onderzoeken/archief/1.04.02/ inventaris?inventarisnr=6642&afbeelding=NL-HaNA_1.04.02_6642_0269&activeTab=gahetnascan, Zugriff 13.10.2019). Nach amtlichem Zeugnis starb er daselbst am 18. August 1779 (ebd.). Wunderbarerweise wurde aber im Jahre 1780 »zu Batavia in Ostindien« ein »Herr Gerhard Heinrich Schledehaus, aus Osnabrück, zum Prediger bey der dortigen lutherischen Kirche erwählt« (Journal für Prediger. Halle 1780, Bd. 11, 1. St., S. 63). Der auferstandene Schledehaus scheint am Ende also doch »devot« geworden zu sein. Freilich konnte man in Ostindien auch ohne theologische Ausbildung Prediger werden, vgl. Caspar Adriaan Lobry van Troostenburg De Bruyn: De hervormde kerk in Nederlandsch Oost-Indie onder de Oost-Indische Compagnie (1602–1795). Arnhem 1884, S. 306 (wo auch Schledehaus genannt wird). 136 Meyer: Ein geplanter Bibliotheksbau (s. Anm. 46), S. 20. Dabei war von Wüllen bei Stamfords Amtsantritt besonders ermahnt worden, »sich gegen denselben auf geziemende Art zu verhalten« (Reskript des Geheimen Rats an Amtmann von Wüllen, 24. Sept. 1772, SUBG, Cod. Ms. Heyne 68, Bl. 50). In dem Reskript gleichen Datums an den Rektor Meisner mit ansonsten ähnlichen Anweisungen fehlt diese Klausel (SUBG, Cod. Ms. Heyne 68, Bl. 51).

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wird auch die Erinnerung an den Fall Mauvillon ein paar Jahre vorher in Heynes Fazit mit hineingespielt haben: »Man sieht, daß die allgemeinen Klagen der Herrn Präceptoren über den Herrn Amtmann nicht ganz ungegründet seyn müssen, und so wird nach und nach kein junger Mann mehr nach Ilfeld verlangen.«137 Am Anfang machte Mauvillon noch einen guten Eindruck auf von Wüllen. Am 8. Juli 1766, zwei Wochen, nachdem der neue Lector Linguae Gallicae seinen Dienst angetreten hatte, schrieb der Amtmann den ersten Bericht an den für Ilfelder Schulsachen mit verantwortlichen Geheimen Sekretär Friedrich Wilhelm von Duve nach Hannover:138 Hr Maubillon [!] läßt sich noch zur Zeit recht gut an, und erwirbet sich seines kleinen Exterieurs ohnerachtet bey denen jungen Leuten viele Liebe. Wenn er recht hier warm- und in der Nachbarschaft bekannt wird, als dem wird sich seine Conduite auch weiter developpiren.139

|| 137 Ebd. Auch vorher und nachher zeigte man sich höherenorts unbeeindruckt vom Amtmann. Die Beschwerden der Grafen von Stolberg über sein Verhalten füllen ganze Akten: s. LASAW A 19k III, Nr. 51. Am 22. Juli 1758 schreibt Graf Christian Ludwig von Stolberg-Stolberg an den hannoveranischen Minister Gerlach Adolph von Münchhausen: »[D]er Amtmann von Wüllen zu Ilfeld […] [findet] eine Wollust darinn […] Jedermann zum Verdruß zu leben« (NLAH Cal. Br. Nr. 7763). Meyer berichtet von einem im Schularchiv aufbewahrten Brief von Wüllens an den hannoveranischen Geheimen Rat Friedrich Wilhelm von Duve, wo von Wüllen sich beklagt, dass der Rektor Meisner »seit Jahres Zeit, ich weiß nicht warum, ungemein zurückhaltend gewesen« sei. »An [dieser] Stelle«, schreibt Meyer, »hat v. Duve an den Rand geschrieben (vermutlich zur Kenntisnahme für Heyne […]): ›Daran ist Herr Oberambtmann v. Wüllen wohl selbst schuld und ursache‹« (Ein geplanter Bibliotheksbau [s. Anm. 46], S. 19). 138 Friedrich Wilhelm von Duve (1707–1785): »le Conseiller Duve, qui est le référendaire de tout ce qui régarde le Collège ici dans le Conseil privé« (in Hannover) (Mauvillon an Rudolf Erich Raspe, 29. Sept. 1771, LMB, 4° Ms. hist. litt. 2) (der Geheimrat Duve, der beim Geheimen Rat Referendar ist für alles, was das hiesige Pädagogium betrifft). Duve – selber einst Schüler am Pädagogium (Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge [s. Anm. 10], S. 40) – hat Heyne bei seiner Inspektionsreise 1770 begleitet (Meyer: Ein geplanter Bibliotheksbau [s. Anm. 46], S. 5). 139 LASAW, A 19k III, Nr. 257, Bll. 71v‒72r. Auf den Brief weist auch Kuhlbrodt: Der Freundes- und Bekanntenkreis Leopold Friedrich Günther von Goeckingks (s. Anm. 13) hin (S. 114). Wie sehr man auf den Schulen auf das ›Exterieur‹ sah, geht aus dem bereits zitierten Brief von Heyne an Campe hervor (s. oben Anm. 34), wo als Voraussetzung für den Lehrberuf das »gute Aeuserliche« gleichwertig neben »Erziehung« (d. h. Kenntnissen) und »feinen Sitten« steht. So disqualifiziere sich ein gewisser Ehrhard trotz »schöne[r] Studien« und äußerster Genügsamkeit für die von Campe angebotene Stelle, weil sein »Aeuserliches« zu wünschen übrig lasse (Christian Gottlob Heyne an Joachim Heinrich Campe, 27. Febr. 1777, in: Briefe von und an Joachim Heinrich Campe [s. Anm. 34], Bd. 1, S. 147). Die Kalkulation war gewiss eine gesellschaftliche: wollte man nicht von vorneherein auf Zöglinge aus ›guter Familie‹ verzichten, musste man darauf achten, dass auch der Lehrkörper sich sehen lassen könne. Darauf zielt auch von Wüllens Zeugnis für Mauvillon. Seinem »kleinen Exterieur« war nicht abzuhelfen; seine »Conduite« aber könne im Umgang mit den Honoratioren der »Nachbarschaft« noch eine gewisse Politur bekommen. Vgl. Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister, 1. Akt, 3. Szene: »Sie wissen, daß man heut zu Tage auf nichts in der Welt so sehr sieht,

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Es wird aber nicht lange gedauert haben, bis seine positive Einschätzung ins Gegenteil umschlug. Nach dem bisher Gesagten ist klar, dass Mauvillons freigeistige Ansichten und Reden von Wüllens Missfallen erregen mussten. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass er es war, der nach Hannover meldete, Mauvillon gehe »gar nicht in die Kirche«. Und dann waren auch noch die »unmoralischen […] Dinge«, die bei Heynes Inspektion zur Sprache kamen. Das waren zwar nur »Reden« gewesen. Aber denen hat Mauvillon offenbar auch Taten folgen lassen, die den harmlosen »Kuß« des armen Schledehaus weit in den Schatten stellten. Dafür haben wir keine direkten Zeugnisse aus der Feder von Wüllens, auch keine anderen Zeugnisse von dritter Hand.140 Wir können uns hier nur auf den Brief Mauvillons beziehen, den er nach seiner Ankunft in Kassel an den Amtmann abgehen ließ.141 Der Brief ist eine einzige lange Verteidigungsschrift – wobei die Verteidigung schnell in Angriff übergeht. Es geht mit einem Rundumschlag los: Euer Hochwohlgeb[ohren] haben alles was Sie nur gekonnt, hervor gesucht mir meinen Auffenthalt in Ilfeld unangenehm zu machen. Sie haben mich höhern Orts anzuschwärtzen gesucht, mich überal verläumdet und sich bestrebt, mich bey jedermann verhaßt zu machen, kurtz mich ordentlich verfolget. Ich reise nun endlich weg, und dadurch wird ja hoffentlich der Wunsch Ihres Hertzens erfüllt seyn? Ich gestehe, daß mir die beständigen Anfälle von Ew. HW. auf mich verdrüßlich waren und daß sie würklich zum Theil eine Ursache gewesen sind, warum ich stets gewünscht habe, von dort zu kommen. (S. 1)

Mauvillon will aber von Wüllen nicht das Vergnügen geben, als ob dieser wirklich vermögend gewesen wäre, ihm die Stelle zu kündigen. Vielmehr war das Gegenteil mir von solchen Personen versichert worden, von denen doch wahrhafftig die Sache weit mehr abhängt, als von Ew HW. denn freylich wenn man Sie hört sprechen, so sollte man denken Sie vermöchten alles. (S. 1)

Hier bestätigt sich die oben ausgesprochene Vermutung, Mauvillon habe sich von Heyne und dem Ministerium in Hannover beschützt geglaubt. Sogar von einem eingeleiteten Verfahren ist die Rede, von dem Mauvillon überzeugt ist, dass man es zu seinen Gunsten entschieden hätte, »wenn nicht die Sache die Wendung genommen hätte die sie endl[ich] nahm« (S. 1). Ob dieser Schutz wirklich auf lange Sicht wirksam gewesen wäre, sei dahingestellt. Es kommt auch nicht so sehr auf die

|| als ob ein Mensch sich zu führen wisse. […] [D]ies soll doch noch der galanteste Mensch auf der ganzen Akademie gewesen sein« (Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Hg. von Britta Titel und Hellmut Haug. Stuttgart 1966, Bd. 2, S. 13 und S. 15). 140 Wenn nicht in den hannoveranischen Staatsakten weitere Dokumente zu finden wären. 141 Abschrift des Originalbriefes aus den Akten der Bibliothek der Klosterschule Ilfeld, von Wolfram Suchier, in meinem Besitz. Suchier hat die Seitenumbrüche des auf vier Folioblättern aufgesetzten Originals notiert. Seitenzahlen werden im laufenden Text angegeben.

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Wahrheit der Behauptung an. Vor allem nämlich spricht sich hier Mauvillons Wunsch aus, von Wüllen durch den Erweis seiner faktischen Machtlosigkeit zu demütigen. Ob seine Zuversicht im Ernstfall gegründet gewesen wäre, ist eine andere Frage. Nun wendet sich Mauvillon den Gründen für von Wüllens Verhalten zu: Doch warum haben Sie mich denn gehasset und verfolget und warum haben Sie alles ersinnliche [getan,] um mir zu schaden, ja um mich wenn Sie nur gekonnt hätten vom Brodte zu helfen? Wenn Ihnen jemand diese Frage vorlegte, so würden Sie denke ich folgendes antworten. Erstl[ich]: war der Mauvillon sehr denen Wollüsten ergeben,142 er gieng hier nach eine[m] Mädgen: und zweitens war er gar sehr verdächtig im Puncte der Religion, denn er läugnete die Gottheit Christi, und war also ein Atheist. (S. 1f.)

Es ist wie drei Jahre später bei Schledehaus; der ist Wüllen nicht »devot« genug gewesen, und geküsst hat er sich auch noch. Bei Mauvillon trat aber sowohl das Unmoralische als auch das Irreligiöse in potenzierter Form auf. Er hat ein Mädchen gehabt,143 und er war Atheist. Und von Wüllen hat keine Bedenken gehabt, »höhern Orts [darüber] zu berichten« (S. 2).144 Was das »Mädgen« betrifft, so ist an dieser Stelle zu vermerken, dass die Scholaren nicht selten gegen das Keuschheitsgebot in den Statuten verstießen, indem sie sich mit Mädchen aus dem Dorf einließen.145 In den Akten wurden daraus »Beschwerde[n] der Präzeptoren über Einwohner des Fleckens wegen Verführung

|| 142 In die Sprache der Schülerzeugnisse übersetzt: »libidinum intentus« (s. Anm. 133). 143 Ob dieses »Mädgen« identisch war mit der in den Briefen an Eschenburg vom 2. September und 14. November 1769 erwähnten »Geliebten« (LMB, 4° Ms. hist. litt. 37[Mauvillon: 02 und 03; s. oben), ist unwahrscheinlich. Der semantische Unterschied zwischen den beiden Begriffen dürfte dafür zu groß sein. Dazu stimmt überein, dass Mauvillon seine »Geliebte« heiraten wollte (s. besonders den Brief vom 14. Nov. 1769), und dass bis dahin ihre »Zärtlichkeit« sich gedulden müsse (s. den Brief vom 2. Sept. 1769). Bei dem »Mädgen« dagegen ist von erfüllten »Lüsten des Fleisches« die Rede (s. unten). 144 Aus der Sicht Mauvillons offenbar ein empörendes Vorgehen. Mit dem Atheismus wäre damals zwar nach wie vor ein Strafbestand erfüllt gewesen, so dass von Wüllen hätte entgegnen können, dass er als Amtsperson keine andere Wahl gehabt hätte, als Anzeige zu erstatten. Schuld an den existenzgefährdenden Folgen wäre der Betroffene, der sich eben besser hätte vorsehen sollen. Mauvillon aber geht davon aus, dass die Rechtslage längst nicht mehr der allgemeinen Rechtsempfindung entsprach (u. a. weil die Folgen so drastisch waren). An diesem Widerspruch entzündete sich Mauvillons Empörung. Wer sich vom Buchstaben des Gesetzes leiten ließ, könne sich guten Gewissens nicht mehr auf die Amtspflicht berufen. Nicht diese also habe von Wüllens Vorgehen bestimmt, sondern nur Missgunst. Und das galt auch, wenn er mit seinem »Bericht« kein gerichtliches Straf-, sondern ›nur‹ ein administratives Disziplinarverfahren einleiten wollte. 145 Dazu ausführlich Kuhlbrodt: Von wilden Scholaren (s. Anm. 49), S. 74–76.

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der Schüler auf dem Kloster«.146 Die Gelegenheit war also da; und Mauvillon scheint sie ausgenützt zu haben. Nach einer kurzen Auseinandersetzung mit der Frage, ob von Wüllen von amtswegen für solche Dinge überhaupt zuständig war – natürlich nicht, er sei ja nur »Oeconom des Closters«, und sobald er sich z. B. anmaßte, »Recommandationen zu Besetzung der Lehrerstellen« zu machen, sei es prompt schiefgegangen (S. 2)147 – geht Mauvillon zu seiner Rechtfertigung über. Die ist von bemerkenswerter Freimütigkeit: Gesetzt nun auch, ich hätte den Lüsten des Fleisches ein wenig nachgehängt; das ist freylich schlimm. Allein wenn es geschehen ist, so ist es mit einer Art von Anständigkeit und Mäßigung geschehen, und es würde lange nicht das Aufsehen gemacht haben, wenn Sie nicht selbst denen Leuten die mich antreffen würden Louis d’or zur Belohnung gebothen hätten.148 Mich aber deswegen zu tadeln und zu verfolgen war es nicht gnug, daß Sie jetzt nicht unkeusch leben. Das kann man Ihnen keinen großen Dank wissen. Wäre es nicht lächerl[ich] wenn der 50 Jährige Herr Amtmann von Wüllen der eine Frau hat, hinter den Mädgen herlieffe? Es giebt zwar hie und da Leute die es thun. Noch aber ist es nicht so allgemein Mode geworden, daß der der es nicht thut, ein großes Lob verdiene, so wenig als einer der nicht stielet, oder mordet. Ob Sie aber in Ihren jungen Jahren, so keusch gewesen sind, daß Sie mit Recht über diesen Fehler, bey eine[m] den das Alter noch nicht abgekühlt und der unbeweibt ist eifern könnten, das ist mir nicht bekandt. Untersuchen Sie sich und entscheiden Sie denn: nur bedenken Sie daß ich noch nicht dreißig Jahr alt bin, und keine Frau habe noch nehmen durffte.149 (S. 3)

Nach seinem Dafürhalten ist also eine mit »Anständigkeit und Mäßigung« unterhaltene voreheliche Beziehung schlimmstenfalls eine lässliche Sünde. Im Grunde aber hat der Mann, der junge »unbeweibt[e]« Mann jedenfalls, ein Recht auf ein Sexualleben. So auch er selbst. Von dem nächsten besten »[s]cheinheiligen« (S. 3) Tugendwächter wird er es sich jedenfalls nicht verbieten lassen.150 || 146 LASAW, A 19k III, Nr. 335 (in den Jahren 1748–1778). Speziell um »Mädgen« ging es in einem Protokoll vom 24. Februar 1766 (Bl. 39). Von Wüllen hatte bei der Verhandlung den Vorsitz. – Schon Neander hatte mit dem Problem zu kämpfen, vgl. Michael Wiedemann: Historisch-Poetischer Gefangenschafften Siebender Monat Julius, vorstellend den Frischlinum oder Den allzuberedten Redner. Leipzig 1689, S. 87f. 147 Mauvillon bezieht sich hier auf die Fehlbesetzungen der Collaboratorenstellen von Muncke und Rassmann, die Heyne durch Kündiging wiedergutmachen musste: s. oben. S. 27 und Anm. 80. 148 Eine stattliche Summe: Ein Louisd’or war 1770 5-6 Reichstaler wert (vgl. Helmut Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne. Frankfurt a. M. 1969, Sp. 248). 149 Vgl. dazu den Brief Mauvillons an Eschenburg vom 2. September 1769 (LMB, 4° Ms. hist. litt. 37[Mauvillon: 02), in dem er darüber klagt, dass es aussichtlos sei, beim Ministerium in Hannover die Einwilligung zum Heiraten zu beantragen. 150 Mauvillon gab sich Freunden gegenüber die Allüren eines Libertiners; so stilisiert er sich im Brief an Eschenburg vom 14. November 1769 als einen »Lovelace« (LMB, 4° Ms. hist. litt. 37 [Mauvillon: 03). Im Brief an demselben vom 25. August 1768 (LMB, 4° Ms. hist. litt. 37[Mauvillon: 01)) ist von gemeinsamen erotischen Abenteuern in Braunschweig mit einer »göttliche[n] kleine[n] Schiavetta« (Sklavin) dunkel die Rede. Durch die Blume weisen [Schlichtegroll:] Mauvillon

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Damit ist dieser Punkt für Mauvillon auch erledigt. Er schreitet nun zum »Punkte der Religion […], woraus mir Ew. HW. immer den grösten Vorwurf gemacht haben« (S. 3). Die Beantwortung nimmt den Rest des langen Briefes ein. Mauvillons Strategie ist es, sich nicht über seine eigenen Meinungen auszulassen oder sie zu rechtfertigen, sondern sofort zum Gegenangriff überzugehen. Nach dem Prinzip, dass bei der Religion nicht die Meinungen oder das Glaubensbekenntnis oder die Andachtsübungen, sondern allein die tätige »Ausübung der Pflichten« zählt (S. 3), rechnet Mauvillon von Wüllen nun vor, in welchem Maße dieser hinter dem, was man von einem »rechtschaffenen […] Mann« und »Christen« zu erwarten hat, zurückgefallen sei. Da ist zunächst sein Verhalten ihm selbst gegenüber.151 »[T]hut das wohl ein Christ, daß er seinen Nebenmenschen höhern Orts verläumdet, und anschwärtzt[?]« (S. 4) Sein Urteil gründet sich aber nicht nur auf seine eigenen Erfahrungen. Er hatte offensichtlich herumgehorcht und sich Erkundigungen eingezogen bei solchen, die auch ein Lied zu singen hatten vom Amtmann. Sein »desp[o]tisches Betragen« habe allen Dorfbewohnern eine »Kindische Furcht« eingeflößt (S. 4). Dass von ihm kein Recht zu erwarten sei, ist die »allgemeine Klage aller Leute im gantzen Fleken« (S. 5). Zur Untermauerung dieser pauschalen Anklage rollt Mauvillon in aller Breite drei Fälle auf, in denen der Amtmann seine Machtstellung ausgenützt hat, andere zu übervorteilen. Einmal ist es der Speisemeister Just Fattschild (bzw. Fatschild), der mit unlauteren Mitteln betrogen worden sei (S. 4f.). Dann habe der Amtmann mit dem betrügerischen Müller unter einer Decke gesteckt; »eine Hand [wäscht] die andre […], […] Sie [drücken] bey des Müllers Diebereyen ein Augen zu […], weil er einen

|| (s. Anm. 4), S. 196f., und Weber: Das Lachen (s. Anm. 58), S. 212, auf seinen ausgeprägten Sexualtrieb hin. Die sexuelle Lust an sich (nicht nur als Mittel zur Fortpflanzung) hat Mauvillon auch in seinen Schriften ausdrücklich bejaht: s. Das einzige wahre System der christlichen Religion. Berlin 1787, S. 181. – Der Abschnitt zu Mauvillons Sexualverhalten im Brief an von Wüllen schien dem Ilfelder Schuldirektor Dr. Felix Schreiber noch 1909 so heikel, dass er Wolfram Suchier bat, die entsprechenden Seiten »bei einer etwaigen Veröffentlichung […] diskret zu behandeln« (Brief von Georg Meyer an Wolfram Suchier, 17. Okt. 1909, SN, Mappe Mauvillon Jakob II). Nach höflichem Protest Suchiers – »Diese Seiten […] sind gerade für M. sehr interessant & charakteristisch, sie belasten zwar den Amtmann v. Wüllen, gereichen m. E. aber nicht der Klosterschule zur Unehre, auch sind 140 Jahre seitdem verflossen« (SN, vier lose Zettel, Entwurf eines Briefs von Wolfram Suchier an Georg Meyer, SN, Kapsel Mauvillon 5 Jakob 2) – zog Schreiber diese Auflage zurück (Brief von Georg Meyer an Wolfram Suchier, 25. Jan. 1910, SN, Kapsel Mauvillon 5a Jakob 3). 151 Und auch »Untzern« (S. 4; vgl. auch S. 1). Die strittige Frage war, ob »der gute junge Mensch hier wohnen« dürfe (S. 4); von Wüllen hat sich dem offenbar widersetzt. Es wird sich höchstwahrscheinlich um Ludwig August Unzer gehandelt haben; der ältere Bruder Johann Christoph, der 1767 von der Schule geflogen war, studierte 1767 bis 1771 in Göttingen. Der Wunsch des jüngeren Unzer, in Ilfeld eine Wohnung zu beziehen, dürfte an dieser inkriminierenden Verwandtschaft und der Intimfreundschaft mit dem suspekten Mauvillon gescheitert sein.

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Theil [seines Korns] in Ihre Schweine einfuttert« (S. 5). Und schließlich habe er bei der Armenversorgung des Dorfs nach einer Teuerung die Bedürftigen um ihr weniges Geld betrogen, indem er zwar scheinbar Korn »um ein sehr billiges« verkauft, in Wirklichkeit aber so viel »verdorben Korn und […] verfaulte Erbsen« darunter gemischt hätte, dass »[d]ie Käuffer an statt Sie zu segnen, […] Ihr Gemenge [verwünschten]« (S. 5f.). Durch diesen Unterschleif habe er einen satten Gewinn verbuchen können. Öffentlich spielte er sich dagegen als Wohltäter auf. Dafür erntet er von Mauvillon nur Hohn: »wie muß der nicht drüber lachen, der das Korn gesehen, und die Käuffer deßelbigen gesprochen hat« (S. 5). »[N]och hundert Dinge von dieser Art [könnte er] anführen«, meint Mauvillon abschließend (S. 7). Aber schon nach dem Gesagten sei »klar, wie der Caracter meines Feindes meines Verfolgers meines Anklägers und Anschwärtzers in Ilfeld beschaffen war« (S. 7). Er werde das gegen ihn Vorgebrachte »auch gegen andre zu meiner Rechtfertigung nicht verhe[h]len« (S. 7); er hat eine Kopie des Briefs denn auch (wie oben beschrieben) an die Lehrer des Pädagogiums geschickt. Wie ist der Wahrheitsgehalt von Mauvillons Aussagen einzuschätzen? Die Gravamina, die von Wüllen gegen ihn selbst vorbrachte, fügen sich stimmig zu dem, was wir über sein sonstiges Einstellung den Collaboratoren gegenüber erfahren haben. Die auf Dritte bezüglichen Behauptungen können natürlich größtenteils nicht mehr verifiziert werden. Ein Textzeuge hat sich jedoch erhalten, aus dem hervorgeht, dass zumindest eine davon stimmt. Damit wird die Glaubwürdigkeit auch der anderen untermauert. Es handelt sich um den Fall des Speisemeisters Fattschild. Den Vertrag für die Verpflegung des Pädagogiums hatte er seit 1748;152 in regelmäßigen Abständen von vier bis fünf Jahren wurde der Vertrag erneuert.153 Mauvillon zufolge habe von Wüllen Fattschild in mehr als einer Weise geschadet. Unter anderem habe der Amtmann, der zugleich Pächter des Stiftshaushalts inklusive des Brauwesens war,154 sich eines Kniffs bedient, sich das vom Speisemeister zum Verbrauch am Pädagogium benötigte Bier, das laut Speisekontrakt von der Stiftsbrauerei zu beziehen war, teurer als erwartet bezahlen zu lassen. Hören wir Mauvillon: Fatschild bekomt alle 4 Jahre seinen Contract erneuert. Es versteht sich, das wenn von Seiten Königl Regierung, oder von Seiten des Speisemeisters nichts errinnert wird, so bleibt der Contract auf den alten Fuße, in allen Puncten. In dieser Vermuthung die natürl[ich] ist, nimt Fatschild den Contract ohne ihn weiter zu lesen, wie jeder guthertzige und harmlose Mann sehr geneigt ist zu thun. In dem erstern Contracte steht, Fatschild soll so viel Bier frey, das ihm in Gelde zu so viel gegeben wird: Was er holen läßt, soll er das Stübgen zu 14 Pfennig bezahlen. Er hat es nun aber beständig, um den Preiß um den es andre bezahlen, auch bezahlen müßen.

|| 152 LASAW, A 19k III, Nr. 320. 153 Ebd., Nr. 322; Niedersächsisches Landesarchiv Hannover, Hann. 94 Nr. 5544. 154 NLAH, Hann. 94 Nr. 5522, 5525 und 5532; LASAW, A 19k III, Nr. 662.

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Darüber klagt er auf der Conferentz, und berufft sich auf seinen Contract. Was erblikten wir, als wir da nachsahen! In den vorhergehenden Contracten steht es mit klaren Worten: in dem in den letztern ist es wohlbedächtig ausgelaßen; und zwar mala fide ohne den Mann davon zu benachrichtigen. Und das Bier wißen Sie doch wohl, ist Ew. HW. Profit. Dieselben haben mir es selbst gesagt. (S. 5)

Die Speisekontrakte sind erhalten geblieben.155 In den älteren Kontrakten ist die Klausel, so wie ihn Mauvillon wiedergibt, tatsächlich vorhanden.156 Ein erster, wohl den Wortlaut des auslaufenden Vertrags wiedergebender Entwurf für die Jahre 1762 bis 1766 diente als Ausgangstext für Zusätze und Korrekturen.157 Diese sind in der Handschrift des Amtmanns hinzugefügt.158 Zunächst stand darin die gewohnte Klausel vom »Biere, welches [der Speisemeister] vom Stifte zu nehmen, und das Stübchen159 mit 14 Pf. zu bezahlen, schuldig ist«. Bei der Redaktion hat von Wüllen die Worte »und das Stübchen mit 14 Pf. zu bezahlen« ausgestrichen (s. Abb. 2).160 Sie fehlen daher in einem zweiten, die Revidierungen aufnehmenden »Concept«161 und ebenso in der Reinschrift162 wie auch in den Kontrakten für die folgenden Perioden.163

|| 155 LASAW, A 19k III, Nr. 322, »Speisekontrakt mit dem Speisemeister [Johann Just Christoph] Fattschild« (1762–1773) und NLAH, Hann. 94 Nr. 5544 (1750–1762). 156 NLAH, Hann. 94 Nr. 5544, Bl. 88 (Ostern 1750 [Bl. 93]); Bl. 104 (1. Dez. 1754 [Bl. 111]). 157 LASAW, A 19k III, Nr. 322, Bll. 21–32. »Entwurf«: ebd. Bl. 21r. Datum: 1. März 1762 (ebd., Bl. 31v). 158 Ein längerer Zusatz, mit der Unterschrift von Wüllens (LASAW, A 19k III, Nr. 322, Bl. 31v), erlaubt die Identifizierung seiner Handschrift. 159 »Stübchen«, alte Maßeinheit (s. https://de.wikipedia.org/wiki/St%C3%BCbchen_(Einheit), Zugriff 24.10.2019). 160 LASAW, A 19k III, Nr. 322, Bl. 25r. 161 Ebd., Bl. 38v. »Concept« vom 17. Februar 1762 (ebd. Bl. 35v). 162 NLAH Hann. 94. Nr. 5544, Bl. 13 (datiert 22. März 1762: ebd., Bl. 5). 163 1766–1770 (LASAW, A 19k III, Nr. 322, 126–134); 1770–1774 (LASAW, A 19k III, Nr. 322, 157–164).

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Abb. 2: Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Standort Wernigerode, A 19k III, Nr. 322, Bl. 25r.

Nun hat Fattschild das »Concept« wie auch den fertigen Vertrag unterzeichnet.164 Vor dem Gesetz gab er dadurch seine Einwilligung zu den darin enthaltenen Bedingungen. Ob er die Dokumente auch gelesen hatte, spielt dabei keine Rolle. Freilich hätte er sie lesen und so die Auslassung der Klausel bemerken, und, falls sie ihm nicht genehm war, Protest einlegen sollen. Auch wäre es seitens des Amtmanns billig gewesen, den Speisemeister auf die Änderung aufmerksam zu machen. Dazu verpflichtet war er jedoch nicht. Der Vertrag war also rechtlich nicht anzufechten. Moralisch sauber aber war der Vorgang nicht. So scheint es Fattschild jedenfalls empfunden zu haben. In der nachfolgenden Zeit wird jeder neuerliche Zukauf von

|| 164 LASAW, A 19k III, Nr. 322, Bl. 43r; NLAH Hann. 94, Nr. 5544, Bl. 22.

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Bier, zu einem nunmehr erhöhten Preis, ihn daran erinnert haben, wie er übers Ohr gehauen worden war, während von Wüllen den Gewinn einstrich (Fattschild war ja vertraglich verbunden, das Bier vom Stift zu beziehen). Man könnte es also gut verstehen, wenn er sich nicht damit hätte abfinden können.165 Der Küchenmeister dürfte auch in den Jahren danach dem jungen Collaborator gegenüber seinem Unmut Luft gemacht haben, entweder weil er nicht anders konnte, oder weil ihm in diesem als einem weiteren Opfer des Amtmanns ein sympathisches Gehör sicher war. Mauvillon wiederum hat in seiner Anklageschrift Fattschilds Sache zu seiner eigenen gemacht, um von Wüllen daraus einen Strick zu drehen. Er solle erst einmal in sein eigenes Herz schauen, bevor er anderen Vorwürfe über ihr mangelndes Christentum mache: Gerechter Himmel! welch Verfahren! Freylich vor menschlichen Gerichten behält Fatschild unrecht, und Ew. HW. recht. Aber auch vor Gottlichen. Auch vor den innerlichen Richter des rechtschaffenen Mannes. Wie räumen [reimen] Sie nun dieses mit dem wahren Glauben? (S. 5)

So weit der Brief. Aus seiner Schonungslosigkeit kann man Mauvillons eigenen jahrelang zurückgehaltenen Zorn über seine Behandlung ermessen. Nicht jeder hätte in derselben Lage so reagiert. Man muss dem Verfasser zumindest darin recht geben, dass »von eine[m] andern als den, der […] meine D[e]nkungs-Art hat« die Anklage gewiss nicht »so freymüthig und ohne allen Schleyer vorgebracht worden« wäre (S. 7). »Freimüthigkeit [schätze er] über Alles«, heißt es in einer Würdigung seines Charakters nach seinem Tode;166 »man [durfte] ihn nicht hindern, seine Meynung, ohne alle Rücksicht der Person, zu sagen« in einer anderen.167 Die Abhängigkeitsverhältnisse in Ilfeld verhinderten freilich auch bei einem Mauvillon die freie Aussage, solange er dort beschäftigt war. Erst aus sicherer Entfernung konnte er seinen Zorn über den Amtmann ausschütten. Viele hätten es aber auch bleiben lassen. Das konnte und wollte Mauvillon nicht. Was er in Ilfeld nicht sagen konnte, musste jetzt zur Sprache kommen. Im Brief an von Wüllen steigerte er seine angeborene Freimütigkeit bis zu einer auch im 18. Jahrhundert seltenen parrhesia. Dabei hätte er allerdings bedenken müssen, dass andere die Suppe würden auslöffeln müssen. Auf die Aussagen des Küchenmeisters Fattschild hatte er sich wiederholt berufen, und der war ja nach wie vor Ilfelder Bediensteter. Gerade wenn Mauvillon den »Caracter des Herrn Amtmanns« (S. 6) richtig eingeschätzt hatte, || 165 Obwohl die neue Regelung bereits im Vertrag von 1762–1766 in Kraft war, hat sich von Wüllen offenbar erst ab 1766 darauf berufen: sonst hätte Mauvillon, der erst 1766 seine Stelle angetreten hatte, nicht von dem Protest Fattschilds und der anschließenden Untersuchung auf der »Conferentz« berichten können. 166 Wilhelm Gronau: Christian Wilhelm von Dohm nach seinem Wollen und Handeln. Ein biographischer Versuch. Lemgo 1824, S. 45; vgl. [Schlichtegroll:] Mauvillon (s. Anm. 4), S. 244. 167 Ebd., S. 217. Hinzugefügt: »Dieses machte ihm die Gesellschaft von Leuten, die über seinen Rang waren, sehr lästig« (ebd.).

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hätte er damit rechnen müssen, dass sein Kronzeuge nicht ungeschoren davonkommen würde. Und in der Tat: Wenige Jahre später wurde Fattschild »wegen vertragswidrigen Betragens« entlassen.168 Nach allem bisher Gesagten liegt der Verdacht auf einen Racheakt von Wüllens nahe. Mit der Familie ging es dann bergab. Der Sohn Fattschilds, Johann Andreas, starb 1776, mit neunundzwanzig Jahren. Er liegt auf dem Ilfelder Friedhof begraben. Wegen seines »unordentlichen Lebenswandels« als Trinker und Spieler geschah die Beerdigung auf Anweisung des Pfarrers und Superintendenten Roitzsch »mit warnender Abkündigung«.169 Auf demselben Friedhof wurde am 15. März 1789 Wilhelm Christian Ernst von Wüllen zu Grabe getragen.170 Seine Lehrer hatten von Wüllen einst als einem »malae notae homo« ein schlechtes Charakterzeugnis ausgestellt (s. oben). Superintendent Roitzsch dagegen, sein einstiger Bundesgenosse, als es Schledehaus an den Kragen ging (s. oben, S. 38f.), gab ihm dieses überschwängliche Lob auf den Weg: Mit was für Klugheit, Ordnung, Gerechtigkeitsliebe, Sorgfalt und Arbeitsamkeit er seine Aemter verwaltet hat, ist zu seinem Ruhme allgemein bekannt. Aber grösser als dies ist die feine Klugheit, deren Lob ewig bleibt: seine ernstliche Gottesfurcht, sein unsträflicher Wandel und sein herzlicher Glaube an den Sohn Gottes, ein Glaube, den er durch Liebe thätig zeigte im Mittheilen, geheimen Wohlthun, Stiften vieles Guten und in väterlicher Berathung Aller, die Gott, welcher ihm leibliche Kinder versagt hatte, statt dieser ihm zuwies; dabei bekannte er mit tiefem Sündengefühl den Mangel alles Ruhmes vor Gott und klagte wehmütig, dass er einen solchen Gott so wenig liebe.171

Mauvillon war die Frömmigkeit von Wüllens auch aufgefallen. Er hatte dazu allerdings seinen eigenen Kommentar: Es kömmt hier nicht bloß darauf an daß man sich, wie Ew HW. thun sollen, des morgens eine Stunde einschließt, um zu beten, oder än[g]stl[ich] in der Kirche indem man zum Abendmahl geht die Hände ringt, und beÿm Beten und Singen mit Zukungen die Augen gen Himmel schlägt. (S. 3)

Das letzte Wort sei indessen einem Dritten überlassen, dem Mitte des 19. Jahrhunderts tätigen Ilfelder Lehrer Karl Volckmar. Er kannte sich in den Annalen der Schule gut aus; womöglich war er auch auf Mauvillons Brief gestoßen.

|| 168 LASAW, A 19k III, Nr. 323, »Entlassung des Speisemeisters Fattschild wegen vertragswidrigen Betragens und Annahme des Speisemeisters Gottron« (1773–1774). 169 Bilder vom Leben und Sterben der alten Ilfelder Bürger (https://www.rambow.de/bilder-vomleben-und-sterben-der-alten-ilfelder.html, Zugriff 1.6.2020). Als Quelle ist angegeben: Unveröffentlichtes Manuskript anlässlich eines Vortrags im Saal des Hotels zur Tanne in Ilfeld am 14. Februar 1896 von Pfarrer W. Zwick. Dieser hat das »älteste Kirchenbuch Ilfelds« dazu herangezogen (ebd.). 170 Ebd. 171 Laurentius Rhodomann’s Lobgedicht auf Ilfeld (s. Anm. 122), S. 75.

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Roitzschs Eloge auf von Wüllen quittierte er jedenfalls mit einem trockenen: »Andere urtheilten ungünstiger über ihn.«172 Manches, worüber man gerne mehr wüsste, bleibt ungeklärt. Zu einem in Mauvillons Brief erwähnten, vom Amtmann gegen »Untzer« eingeleiteten Verfahren, fehlen weitere Einzelheiten.173 Und dann gibt uns eine Bemerkung Friedrich August Wolfs in einem Brief an Christian Gottlob Heyne über seine eigenen Erfahrungen als Collaborator in Ilfeld, einige Jahre nach Mauvillon, Rätsel auf: Es fehlte damals wenig, so hätte ich über Ihre Unzufriedenheit mit meiner Behandlungsart der Schriftsteller und der jungen Leute, denen ich zu viel aufzulegen schien, dasselbige getan, was vorher in der nämlichen Lage Mauvillon tun wollte. Zeugen hievon leben gleichfalls noch.174 Indeß auch dieses ging vorüber […].175

Schon Johann Friedrich Julius Arnoldt, in seiner Studie über Wolf, als auch Wolfram Suchier haben sich vergeblich um Aufklärung des Sachverhalts bemüht, auf den Wolf als von etwas Bekanntem anspielt.176 Es hört sich an, als ob es sich um etwas Dramatisches gehandelt habe; desto gründlicher hat man es offenbar vertuscht, denn in den Akten findet sich (bis jetzt) keine Spur davon.177 Wie war es also mit der »Ilfeldsche[n] Einsamkeit«, die Mauvillon »in allem Betracht ausserordentlich zuträglich« gewesen sei? In einem Brief an Rudolf Erich Raspe, sechs Wochen bevor es ihm gelang, ihr zu entfliehen, fand Mauvillon dafür ganz andere Worte. Er könne es kaum erwarten, schreibt er, »endlich Ilfeld zu verlassen; und ich würde ohne Umstände dies letzte mit dem vergleichen, was || 172 Ebd. Man muss es von Wüllen immerhin zugute halten, dass er die ihm obliegenden Formalitäten nach Mauvillons Abschied in sachlicher Weise erledigte, vgl. Wilhelm Christian Ernst von Wüllen an die Regierung, 27. Nov. 1771 (LASAW, A 19k III, Nr. 253, Bl. 66). 173 Vgl. Anm. 151. 174 In Frage käme Rektor Pätz, der seit 1766 und bis zu seinem Tode 1808 an der Schule tätig war. (Wiedasch gibt irrtümlicherweise das Todesjahr 1800 an, vgl. Wiedasch: Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge [s. Anm. 10], S. 90. Vgl. dagegen LASAW, A 19k III, Nr. 274, »Tod des Direktors Pätz […], 1808«.) 175 Friedrich August Wolf an Christian Gottlob Heyne, 9. Jan. 1797, in: Briefe an Herrn Hofrath von Heyne von Professor Wolf. Eine Beilage zu den neuesten Untersuchungen über den Homer. Berlin 1797, S. 82–128, hier S. 100; s. auch Arnoldt: Fr. Aug. Wolf (s. Anm. 46), Bd. 1, S. 56. 176 Ebd., Bd. 1, S. 67f.; Brief von Felix Schreiber an Wolfram Suchier, 24. Okt. 1909, SN, Mappe Mauvillon Jakob II. Wie Suchier richtig anmerkt (loser Zettel, SN, Kapsel Mauvillon 4. Jakob 1.), führt Arnoldts Verweis auf Gervinus, nach dem Mauvillon an Selbstmord gedacht habe, in die Irre: Bei Gervinus ist im Zusammenhang mit Selbstmordgedanken nicht von Mauvillon (dem er, im Gegenteil, ›Heiterkeit‹ attestiert), sondern von Ludwig August Unzer die Rede (s. Georg Gottfried Gervinus: Neuere Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Zweiter Theil. Von Göthes Jugend bis zur Zeit der Befreiungskriege. Leipzig 1842, S. 265f.). 177 Auch in den Briefen des Ilfelder Konrektors Schwabe an seinen Bruder Johann Samuel Gottlob Schwabe aus den Jahren 1768–1786 (Goethe- und Schiller Archiv Weimar, GSA 117/99) fehlt jeder Hinweis auf Mauvillon.

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Philoktet empfand, als Neoptolemus endlich seiner Einsamkeit auf Lemnos ein Ende machte«.178 »Einsamkeit«, gewiss – aber keine beschaulich-ergötzliche, sondern eine durchaus quälende ist hier angedeutet. Wir erinnern uns: Philoktet verbrachte zehn schmerzvolle Jahre auf Lemnos, bevor er errettet und geheilt wurde. Natürlich ist das zum Teil eine witzige Übertreibung; ganz so tragisch war Mauvillons Lage nicht gewesen. Aber aus dem oben Gesagten ist dennoch klargeworden, dass er in Ilfeld auch gelitten hat – an den Schülern, an der von ihm erwarteten sexuellen Abstinenz (die er jedoch nicht einhielt), vor allem aber an den Anfeindungen des Amtmanns von Wüllen, denen er täglich ausgesetzt war. Immerhin: Seine Erfahrungen mit von Wüllen werden Mauvillon gewiss in seinen freigeistigen Überzeugungen bestärkt haben. Das Verhalten des gerade für seinen »herzliche[n] Glaube[n] an den Sohn Gottes« bekannten Amtmanns (s. oben, S. 51) war jedenfalls nicht danach angetan einen, der die »Gottheit Christi« leugnete (s. oben, S. 43), auf andere Gedanken zu bringen. Einen Vorteil hatte die Zeit in Ilfeld auf jeden Fall: Es blieb offenbar viel Muße für das Lesen und Schreiben. In diesem Sinne schreibt er 1780 an Heyne, dass ihm »[d]as Andenken dieses Orts […] immer werth seyn wird, weil ich meinen Geist dort vorzügl. gebildet habe«.179 Mit einem Manuskript über die »Trugschlüsse der christlichen Religion«, einem anderen der Méditations sur la nature humaine und wohl auch anderen subversiven Aufzeichnungen im Gepäck brach Mauvillon Ende Oktober 1771 nach Kassel auf.180 Von dem dort Erarbeiteten sollte er noch jahrelang zehren. Insofern war es vielleicht doch nicht so völlig falsch, wenn er am Ende seines Lebens wohlwollend auf die Ilfelder Episode zurückblickte: Vielleicht hat er, als der »Epikuro-Stoiker«,181 der er war, gewusst, dass Schmerzliches auch ersprießlich sein kann, wenn man produktiv damit umzugehen weiß. So konnte er 1792 sogar der einstigen Stätte seines Wirkens einen Besuch abstatten. Es dürfte aber kein Zufall sein, dass Mauvillon sich erst

|| 178 »[…] enfin de quitter Ilfeld; et je comparerais volontiers ce dernier point à ce que sentit Philoctéte lorsque Néoptoléme le tira de sa solitude de Lemnos« (Mauvillon an Rudolf Erich Raspe, 10. Sept. 1771, LMB, 4° Ms. hist. litt. 2). 179 Mauvillon an Christian Gottlob Heyne, 24. Sept. 1780, SUBG, Cod. Ms. Heyne 114, Nr. 46, Bl. 1r. 180 Zu den Ilfelder Handschriften s. Mauvillon an Rudolf Erich Raspe, 10. Sept. 1771 (LMB, 4o Ms. Litt. 2, fol. 1), und an dens., 15. Sept. 1771 (LMB, 4o Ms. Litt. 2, fol. 2). Speziell zu den sog. »Trugschlüssen der christlichen Religion« (der Titel stammt von [Schlichtegroll:] Mauvillon [s. Anm. 4], S. 165), s. ebd., S. 165f.; Schiller: Braunschweig’s schöne Literatur (s. Anm. 14), S. 143f. und Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 6), S. 29, S. 42 und S. 163 Anm. 24; zu den Méditations sur la nature humaine s. ebd., S. 37 und S. 72. 181 Heinrich Friedrich Diez an Mauvillon, 5. Juni 1774. In: Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 85), S. 116.

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dann dazu entschließen konnte, nachdem sein ehemaliger Widersacher tot war, und somit keine Gefahr bestand, ihm zu noch einmal zu begegnen.182

|| 182 Für freundliche Hilfeleistungen möchte ich danken: Frau Barbara Hampe, Goethe-SchillerArchiv, Weimar; Frau Sabine Wagener von der Universitätsbibliothek Kassel–Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel; Dr. Jörg Brückner, Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Standort Wernigerode; und Dr. Gabriele Kaiser von der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin. Zu besonderem Dank bin ich verpflichtet: Dr. Holger Berwinkel vom Universitätsarchiv Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen; und Frau Bärbel Mund, Handschriften und seltene Drucke, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Ohne deren Hilfe wären mir wichtige Funde entgangen. – Nach Abschluss der Arbeit bin ich auf zwei Briefe von Christian Gottlob Heyne an Rudolf Erich Raspe aufmerksam geworden, die ein Licht auf Mauvillons Weggang aus Ilfeld werfen. Der erste, vom 26. August 1771, ist ein Empfehlungsschreiben für Mauvillon an Raspe: »Der junge Mann hat viele Fähigkeiten, schöne Kenntnisse auch im Mathematischen, und seine ietzige Stelle zu Ilfeld kann ihm nicht die angenehmste seyn« (LMB, 4˚ Ms. hist. litt. 2[Heyne:124; vgl. Anm. 94 oben). Am 6. November 1771, eine Woche nach Mauvillons Abschied, schreibt Heyne noch einmal: »Dem guten Herrn Mauvillon wünsche ich ein besser Glück in Ihrem Kanaan als im ehemaligen Egypten. Zum Theil war es sein eigener Fehler, dass ihn die Pharaonen drückten. Wer hiess ihn den Wunderstab der Zauberer in Zweifel ziehen! und sich den Frohnvögten Pharaos widersetzen! Billig war es also: dass sein Geruch stinkend ward vor Pharao und seinen Knechten!« (LMB, 4˚ Ms. hist. litt. 2[Heyne:125; vgl. 2. Mos. 1.11, 5.21, 7–8). Es wird daraus noch einmal deutlich, dass Mauvillon im Prinzip Heynes Sympathien hatte, dass dieser Mauvillon aber auch seine ›Widersetzlichkeit‹ (›contumacia‹!) ankreidete und ihr mit die Schuld an dem gestörten Verhältnis zu von Wüllen gab. Ob Heyne sich im Ernstfall hinter Mauvillon gestellt hätte, ist nicht sicher. Einfacher war es, dem Konflikt aus dem Wege zu gehen, indem er Mauvillons eigenen Wunsch nach einem Orts- und Stellenwechsel befördern half. Nachdem die Sache glimpflich abgelaufen war, konnte er ihr auch (zumindest privat) eine komische Seite abgewinnen. – Die Briefstellen sind zitiert nach: Albert Duncker: Denkmal Johann Winckelmann’s. Eine ungekrönte Preisschrift Johann Gottfried Herder’s aus dem Jahre 1778. Kassel 1882, S. XXVIIf.

Arne Klawitter

Aufgegebene Projekte und verschollene Schriften Mauvillons Briefwechsel als Dokument einer heuristischen Quellenphilologie

1 Der Briefwechsel als ›Dokument‹ Kaum eine andere Quelle zu Jakob Mauvillon verrät so viel über die Hintergründe des schriftstellerischen Wirkens dieses ›Starkgeistes‹, über seine Rezensionstätigkeit, aber auch über seine Vorstellungen, Projekte und Pläne wie der von seinem Sohn Friedrich Wilhelm herausgegebene Briefwechsel. Dabei liefert diese 1801 erschienene Edition nicht einmal annähernd eine dem Anspruch auf Vollständigkeit genügende Dokumentation der Korrespondenzen Jakob Mauvillons, weder in Hinsicht auf den Personenkreis, mit dem er in Verbindung stand, noch mit Blick auf die Themen und Inhalte, mit denen er sich beschäftigte, und schon gar nicht in Bezug auf die Menge seiner Korrespondenzen. Sie gibt höchstens einen bescheidenen Einblick und markiert einen Anfangspunkt für die Erforschung des publizistischen Wirkens dieses Radikalaufklärers, seiner philosophischen Ansichten als esprit fort, seiner ökonomischen Forderungen, die er aus den Lehren des Physiokratismus zog, sowie seiner politischen Positionen als Freiheitseiferer und Anhänger der Französischen Revolution, und das zu einem Zeitpunkt, als sich die intellektuellen und kommunikativen Möglichkeiten des Briefes als Textgattung bereits voll entfaltet hatten und die Publikation des gelehrten Briefwechsels von Personen der ›Öffentlichkeit‹, von Schriftstellern, Diplomaten und des Militärs durch ihre Nachkommen längst zu einer Art Gewohnheit geworden war. Mauvillons Briefwechsel nimmt gleichwohl eine Sonderstellung ein: Er war gedacht als ›Ehrenrettung‹ des Vaters,1 diente entgegen der Intention jedoch selbst noch späteren Gegnern des Toten als Quelle wilder Anschuldigungen: Georg

|| 1 »Mein erster Gedanke nach dem Tode meines Vaters war, alles zu sammeln, was ihn gegen die häufigen Beschuldigungen verschiedener Leute rechtfertigen, und dem Publikum beweisen könnte, daß er nie der Mann war, wofür ihn einige halten wollten. – Welcher Sohn wird wohl nicht alle Mittel anwenden, um den guten Namen seines Vaters zu retten, und der Welt zu zeigen, wie grundfalsch der Verdacht ist, den man gegen denselben hegte?« (Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzogl[ichen]. Braunschweigischen Diensten verstorbenen Obristlieutenant Mauvillon. Gesammelt und herausgegeben von seinem Sohn F[riedrich Wilhelm]. Mauvillon. Deutschland [d. i. Braunschweig] 1801, S. 3f.). https://doi.org/10.1515/9783110793611-003

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Gottfried Gervinus bezeichnete Mauvillon, der ihm allein schon wegen seiner französischen Herkunft suspekt erschien, als »heimlichen Antichrist«2 und Josef Nadler bezichtigte ihn, den jung verstorbenen Dichter Ludwig August Unzer »vom frommen Glauben des Vaterhauses zum Übermut eines ausgemachten Freigeistes« verführt und »von der Seele des Todgeweihten unumschränkten Besitz«3 genommen zu haben. Für andere Autoren wie Fritz Mauthner bot der Schriftwechsel Anlass, Mauvillon als umtriebigen Atheisten der Spätaufklärung darzustellen.4 Von der Aufklärungsforschung kann der Briefwechsel heute vor allem als ein historisches Dokument für die Erkundung des Gelehrtennetzwerkes, in dem Mauvillon agierte, herangezogen werden. Allerdings ist zuvor die Frage zu beantworten, inwieweit dieser Briefwechsel in seiner vorliegenden Form als zuverlässig gelten kann, und zwar nicht nur hinsichtlich der wortgetreuen Wiedergabe der Originalbriefe, sondern auch bezüglich der mitunter brisanten Inhalte, die dort zur Sprache kommen. Denn nicht selten ist die Rede von ›unterdrückten‹, d. h. zensierten Publikationen, von freigeistigen und freimaurerischen Verbindungen, von revolutionärer »Propaganda«5 und sogar von Selbstmordgedanken (in einem Brief von Heinrich Friedrich Diez über den gemeinsamen Freund Ludwig August Unzer). Schon Eschenburg kritisierte in seiner 1802 erschienenen Rezension zu Mauvillons Briefwechsel, dass verschiedene Schriftstücke, »mit den ärgsten Druckfehlern übersäet, abgedruckt«6 seien, und am Ende seiner Besprechung legt er noch einmal nach: Ihm sei »lange kein Buch vorgekommen, das so durchaus durch die abentheuerlichsten Druckfehler entstellt wäre. Beynahe möchte man glauben, der wahrscheinlich in Braunschweig veranstaltete Abdruck dieser Briefe sey so geheim betrieben worden, daß man auch nicht einmal einen rechtlichen Korrektor zum Mitwisser davon zu machen wagen wollte.«7 Schon der erste Blick in den Text bestätigt diesen Eindruck: Eine Reihe von Fremdwörtern scheint dem Herausgeber (bzw. Setzer) völlig unbekannt gewesen zu sein: Statt ›Nänie‹ liest man in Unzers Briefen »Stänie«, ›Apathie‹ erscheint im Druck als »Ahnthie« und aus der ›Eustachischen Röhre‹ wurde eine »rusechische Röhre«.8 Doch wenn es nur bei Druckfehlern ge-

|| 2 Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der Deutschen Dichtung. 5. Bd. 4. verb. Aufl. Leipzig 1853 [EA 1842], S. 242. 3 Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Regensburg 1923, 2. Bd., S. 532. 4 Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Bd. 3. Stuttgart 1922, S. 463. 5 Mauvillon’s Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 4 (im Original kursiviert). 6 Rez. zu Mauvillons Briefwechsel. In: Neue Allgemeine deutsche Bibliothek, 73. Bd., 2. St., 1802, S. 530–536, hier S. 534. 7 Ebd., S. 536. 8 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 33, S. 62, S. 86.

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blieben wäre! Jahresangaben sind falsch9 ebenso wie einzelne Datierungen der Briefe oder deren chronologische Ordnung.10 Gravierende Fehler finden sich auch bei den Namen erwähnter Personen,11 und der Empfänger des vermeintlich letzten an Bode gerichteten Briefes kann dieser unmöglich gewesen sein, da das im Schreiben erwähnte »a lil[io] conv[allium]«12 sich auf niemand anderes beziehen kann als auf Bode selbst, der damit als Adressat definitiv ausscheidet. Der Abgleich mit den Originalen der Bodmer-Briefe, die heute in Zürich aufbewahrt werden, zeigt darüber hinaus, dass der Herausgeber weit mehr in den Text eingegriffen hat, als man hätte erwarten dürfen, und dass ganze Passagen grammatisch und syntaktisch umgeformt sowie wichtige Informationen weggelassen worden sind. Wie zuverlässig, d. h. vertrauenswürdig ist der Abdruck also? Mit welchen Einschränkungen kann er als historische Quelle für die Erforschung eines Teilbereichs der deutschen Radikalaufklärung und des damit verbundenen Umfelds genutzt werden? Andererseits kann die Forschung nicht umhin, auf diese Dokumente zurückzugreifen, da beispielsweise die Unzer’sche Korrespondenz nach dem Tod des Verfassers von Diez vollständig vernichtet wurde13 und bei vielen anderen Briefen der Verbleib unklar ist.14 Man ist also gezwungenermaßen auf die vorliegende Edition || 9 Die Briefe an Cuhn und Knoblauch sind nicht im Jahrgang 1794 der Zeitschrift Eudämonia abgedruckt, sondern im Jahrgang 1796. 10 So ist beispielsweise der 6. Brief von Unzer chronologisch der letzte (vom 7. November 1773, vgl. Mauvillons Briefwechsel [s. Anm. 1], S. 53f.) und der letzte Brief an Bode stammt sehr wahrscheinlich nicht aus dem Jahr 1782, sondern von 1783 oder sogar aus einem späteren Jahr (Mauvillons Briefwechsel [s. Anm. 1], S. 172). 11 Der französische Philosoph Fontenelle erscheint als »Kontenelle[]« und aus dem Mitherausgeber des Journals für Staatskunde und Politik, Helwig Bernhard Jaup, wird »Taub« (Mauvillons Briefwechsel [s. Anm. 1], S. 62 und S. 202). 12 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 177. Der lateinische Name (wörtlich übersetzt: ›Lilie der Täler‹) bezieht sich auf die Maiblume bzw. das Maiglöckchen (Convallaria majalis), das im Mittelalter (bei Gabriel von Lebenstein) als ›Marienblume‹ beschrieben wurde. Zum Ordensnamen Bodes (eques a lilio convallium, dt. ›Ritter der Lilie der Täler‹) vgl. Albert G. Mackey: An Enyclopædia of Freemasonry and Its Kindred Sciences. Philadelphia 1889, S. 552. Bei dem Empfänger des Briefes könnte es sich um Friedrich Nicolai handeln; vgl. den Beitrag von Martin Mulsow »Ordenskonkurrenz« in diesem Band. 13 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 105; ebenso Eduard Jacobs: Ludwig August Unzer. Dichter und Kunstrichter. In: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 28 (1895), S. 117–252, hier S. 252. 14 Der Bibliothekar Wolfram Suchier, der über die Familie Scipio mit den Mauvillons verwandt war (Jakob Mauvillon heiratete 1773 Marie Luise Scipio), hat im Zuge seiner Recherchen nach erhaltenen Briefen von und an Mauvillon gesucht und diverse Nachfahren diesbezüglich angeschrieben. Von Emil Stutzer erfuhr er in einem Brief vom 11. November 1913 Folgendes: »Ich erinnere mich aus früher Kindheit, daß meine Tante väterlicherseits erzählte: eine Kiste mit Briefen Mauvillons sei von einer bigotten Dame Höstermann verbrannt worden, weil er ein Revolutionsmann gewesen sei, und daß dann die eine zu der anderen sagte: schade, die Briefe sind jedenfalls sehr interessant gewesen, o. ä.« Emil Stutzer (geb. 30. August 1854) war vermutlich ein Enkel von Mauvillons Tochter Friederi-

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angewiesen, so mangelhaft sie auch sein mag, um sich ein nicht immer ganz klares und eindeutiges Bild vom Inhalt der Korrespondenzen zu machen. Gleichzeitig erscheint es heute in gewisser Weise als ein Glücksfall, dass dem Herausgeber gelegentlich Versehen aus Unachtsamkeit unterlaufen sind. Eschenburg merkt beispielsweise an, dass Mauvillons Sohn darauf geachtet habe, von noch lebenden Freunden seines Vaters keine Briefe ohne deren Erlaubnis drucken zu lassen, und er sich deshalb mit den Korrespondenzen von Verstorbenen begnügte. Im Hinblick auf die Briefe von Diez habe er geglaubt, dass auch hier der Absender bereits verstorben sei.15 Was Eschenburg ihm in diesem Falle ganz entschieden vorwirft, ist, »daß er sich nicht genauer erkundigt ha[be]«, denn schwerlich hätte Diez »darin gewilligt, die vielen in diesen Briefen vorkommenden Paradoxieen und unreifen Ideen ins Publikum bringen zu lassen«.16 Damit zielt Eschenburg wohl vor allem auf Diezens philosophisches Bekenntnis ab, in dem er zu verstehen gibt, er sei Materialist und Skeptizist: »Meine Meinung ist natürlicherweise Materialismus, doch letzterer von ganz besonderer Art.«17 Und an anderer Stelle heißt es: »Denn mein System ist arg, und kehrt die Gestalten meist aller Dinge um. Ich stehe weit unter den Naturalisten. Ich glaube gar nichts und leugne alles. Nichts achten. Der Skepticismus ist meine Lehre. Geringfügigkeit aller Dinge, die Summe meiner Sätze.«18 Dazu bemerkt Eschenburg: Freylich entdeckt man unter dem vielen Rohen und Halbwahren, was diese Briefe [von Diez; A.K.] enthalten, manche Spur eines nicht gemeinen philosophischen Kopfs; der sich aber zu früh und fahrlässig zur Zweifelsucht und zum Materialismus neigte, und, statt ruhig zu prüfen,

|| ke Wilhelmine (»Minna«), die 1805 den Obristlieutenant Johann Balthasar Stutzer (1754–1821) heiratete. Karl August Höstermann (ca. 1820–1877), Landgerichtsrat zu Saarbrücken, hatte 1840 wiederum die Tochter von Friedrich Wilhelm von Mauvillon mit Namen Friederike Wilhelmine Marie Louise (1817–1881) geheiratet. Da die Briefe nach dem Tod ihres Vaters am 29. Juni 1851 wohl in die Hände dieser Tochter bzw. Enkelin von Jakob Mauvillon gekommen sind, wird sie diejenige gewesen sein, die die erwähnten Briefe verbrannt hat (Nachl. Wolfram Suchier, Handschriftenabteilung, Staatsbibliothek Berlin; Mappe »Mauvillon II. Jakob«). Vgl. Martin Fontius: Constant und die Mauvillons. In: Kurt Kloocke (Hg.): Benjamin Constant devant l’Allemagne et la critique allemande (Annales Benjamin Constant 10). Lausanne, Paris 1989, S. 9–23, hier S. 14–17. Fontius hat den Suchier-Nachlass als erster ausgewertet und bezieht sich dabei auch auf dieses Schreiben (ebd., S. 15). Wir können daher mit ziemlicher Gewissheit sagen, dass um 1851 (mit einer Ausnahme) alle im Briefwechsel herausgegebenen sowie die unveröffentlichten Briefe, die sich im Besitz des Sohnes Friedrich Wilhelm befunden haben, vernichtet worden sind. 15 »Herr Diez hatte lange nichts im Publikum von sich hören lassen, nach eingezogenen Erkundigungen hat man mir gesagt, daß er todt sei« (Mauvillons Briefwechsel [s. Anm. 1], S. 17). Diez starb aber erst im Jahre 1817. 16 Rez. zu Mauvillons Briefwechsel. In: Neue Allgemeine deutsche Bibliothek 73. Bd., 2. St., 1802, S. 533f. 17 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 79. 18 Ebd., S. 77.

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schnurstracks auf die Gründung einer neuen psychologischen Theorie ausgieng. Für den jetzigen Standpunkt der Philosophie ist die Bekanntmachung dieser vor dreyßig Jahren geschriebenen Briefe vollends gar nicht berechnet.19

Dem kann man heute nicht mehr ohne weiteres zustimmen. Denn gerade die Briefe des jungen Diez zeugen von der Eigenständigkeit seines Denkens, seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Schrifttum und von seiner erkenntnistheoretischen Position im Sinne eines ›funktionalen Skeptizismus‹.20 Hinzu kommt – und allein dieser Umstand macht den Briefwechsel zu einer bedeutenden Fundgrube für die Philologie –, dass hier gleich mehrfach Angaben zu unbekannten, verschollenen bzw. der Forschung bislang entgangenen Schriften zu finden sind, und zwar sowohl zu verloren gegangenen Manuskripten und von der Aufklärungsforschung übersehenen Publikationen von Mauvillon als auch von seinen Freunden Unzer und Diez. Diesen Hinweisen soll im Einzelnen näher nachgegangen werden. Die Briefe geben aber auch Auskunft über die Entstehungsgeschichte der von Unzer und Mauvillon herausgegebenen »Dichterbriefe«,21 über beider Rezensionstätigkeiten und über ihre projektierten Untersuchungen, die nicht zum Abschluss gebracht wurden bzw. nicht zum Abschluss gebracht werden konnten. In den nun folgenden Ausführungen konzentriere ich mich aus Platzgründen lediglich auf den ersten Teil des Mauvillon’schen Briefwechsels, der die Korrespondenzen mit Unzer und Diez umfasst.

2 Der »Trutz- und Schutzbund« mit dem Dichter Ludwig August Unzer Ludwig August Unzer wurde 1748 als zweiter Sohn des Arztes Johann Christoph Unzer (1714–1773), dem Bruder des damals weithin berühmten Mediziners Johann August Unzer (1727–1799), der zunächst in Hamburg und später im dänischen Altona praktizierte, geboren. Obgleich sein Vater Leibarzt des Grafen Christian Ernst zu Stolberg war und der älteste Sohn, Johann Christoph Unzer (1747–1809), ein Medizinstudium in Göttingen aufnahm, schlug Ludwig August einen anderen Weg ein, || 19 Rez. zu Mauvillons Briefwechsel. In: Neue Allgemeine deutsche Bibliothek, 73. Bd., 2. St., 1802, S. 534. 20 Vgl. dazu Dieter Hüning: »Ich will keine Wahrheiten lehren. Ich schreibe nur, was ich denke«. Diez’ Abgesang auf die Konsequenzen des Naturzustandes. In: Heinrich Friedrich von Diez (1751– 1817). Freidenker–Diplomat–Orientkenner. Hg. von Christoph Rauch und Gideon Stiening. Berlin, Boston 2020, S. 41–59. 21 [Ludwig August Unzer, Jakob Mauvillon:] Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel. 2 Stücke. Frankfurt a. M., Leipzig [d. i. Lemgo] 1771/72.

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widmete sich in Halle dem Studium der Rechte,22 fühlte sich aber immer mehr zur Dichtung hingezogen. Nach dem Studium trat er im Sommer 1771 eine Hofmeisterstelle in Zorge im Harz an und debütierte als lyrischer Dichter mit den Versuchen in kleinen Gedichten (1772), die allerdings kaum Beachtung fanden, während seine im »chinesischen Geschmack« gedichtete Nänie Vou-ti bey Tsin-nas Grabe (1772) in mehreren Rezensionszeitschriften besprochen wurde, in ihrer Art jedoch so neuartig und ohne Vorbild war, dass sie überwiegend auf Ablehnung stieß.23 Unzer lernte Jakob Mauvillon als Fremdsprachenlehrer seines älteren Bruders Johann Christoph am Pädagogium in Ilfeld im Südharz kennen, der im August 1767 aus uns unbekannten Gründen von der Schule verwiesen wurde. Obwohl Ludwig August nie selbst Schüler der Ilfelder Klosterschule gewesen war (er verließ erst im Herbst 1767 die Oberschule in Wernigerode), fällt die erste Begegnung mit Mauvillon vermutlich in diese Zeit des Jahres 1767.24 Rasch entwickelte sich eine enge Beziehung zwischen ihnen. Die bei dieser Zusammenkunft begonnenen Gespräche über die Dichtkunst wurden in einem ausgiebigen Briefwechsel fortgeführt und mündeten schließlich 1771/72 in die Publikation der »Dichterbriefe« als einer zweibändigen Sammlung von für den Druck überarbeiteten literaturkritischen Texten in Briefform.25 Im Hinblick auf die Entstehung der »Dichterbriefe« gewährt der reale Briefwechsel mit Mauvillon wichtige Informationen. So erfahren wir, dass der Kontakt zum Lemgoer Verleger Christian Friedrich Helwing (1725–1800) über Unzers Freund Johann Lorenz Benzler (1747–1817) zustande gekommen ist, dass zunächst 3 Stücke des Werks geplant waren und dass Mauvillon im September 1771 die Mitarbeit an dem literarischen Unternehmen vorzeitig beenden wollte.26 Dem Brief vom 18. September 1771 ist auch zu entnehmen, dass Unzer die organisatorischen Fäden des Projekts in den Händen hielt, dass er für die Konzeption der Publikation verantwort-

|| 22 Am 5. Mai 1768 trug er sich in die Matrikel der Universität ein (vgl. Jacobs: Unzer [s. Anm. 13], S. 128). 23 [Ludwig August Unzer:] Vou-ti bey Tsin-nas Grabe. Eine chinesische Nänie. s.l. [Braunschweig] 1772 (in der Forschung wird zumeist die im Göttinger Musenalmanach erschienene Fassung zitiert: Ludwig August Unzer: Vou-ti bey Tsin-nas Grabe. Eine Elegie im chinesischen Geschmack. In: Poetische Blumenlese auf das Jahr 1773. Göttingen, Gotha 1772, S. 57–66); rezensiert in: Magazin der deutschen Critik, 2. Bd., 1. Theil (1773), S. 291; Beurtheilung der Poetischen Blumenlese in dem Göttingischen Musen-Almanach 1773. In: Der Teutsche Merkur, 1. Bd. (1773), S. 163–184 (Rez. von Johann Georg Jacobi); Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1773, S. 90. 24 Vgl. Jacobs: Unzer (s. Anm. 13), S. 125. 25 Der Herausgeber von Mauvillons Briefwechsel scheint sich beim zweiten und dritten Brief unschlüssig gewesen zu sein, welcher der beiden Unzer-Brüder der Absender gewesen ist, denn es heißt dort »C. Unzer« (Mauvillons Briefwechsel [s. Anm. 1], S. 31 und S. 38). Der Inhalt der Briefe und die Erwähnung der »Dichterbriefe« verweisen aber eindeutig auf Ludwig (nicht Christoph) Unzer. 26 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 22f.

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lich war – auch wenn er in den »Dichterbriefen« lediglich als Stichwortgeber auftritt – und dass er das Finanzielle regelte: Ich habe vor 5 Tagen Briefe von B e n z l e r erhalten, worin er mir meldet, daß sein Buchhändler in Lemgo Hr. Rath H e l w i n g schon mit dem Drucke der Briefe den Anfang gemacht hätte, und sich alle Bedingungen wolle gefallen lassen. Er bittet mich überdies um schleunige Uebersendung so vieler Briefe nach Lemgo, daß das erste Stück etwa 15 bis 16 Briefe enthielte; denn der Verleger kann mehrere Briefe auf die Messe nicht fertig schaffen. Ich habe auch noch so viel hingeschickt, daß das erste Stück 14 Briefe enthält. Nun wünscht der Verleger, daß das Werk in 3 Stücken herauskommen mögte; das zweite Stück Weihnachten, das dritte Ostern. Also müssen Sie, wenn sich die Stücke gleich sein sollen, noch 3 bis 4 kleine Briefe aufsetzen, und das können Sie auch noch wol in Ilfeld thuen. [...] Sobald ich das Geld erhalte, will ich augenblicklich mit Ihnen theilen. Machen Sie nur noch ein Paar Briefe.27

Für Unzer aber war das literarische Unternehmen mehr als nur eine Buchveröffentlichung, in der sie den Publikumsliebling Gellert abfertigten und ihre Ansichten über das Geniewesen zum Ausdruck brachten. Für ihn manifestierte sich darin eine Art Bündnis, weshalb er Mauvillon in seinem Brief vom 2. Juni 1772 an »die Pflichten des Trutz und Schutzbundes« erinnert, den sie beide »gegen das ganze ehrsame Deutsche Publikum unter einander errichtet h[ätten]«.28 Dieses Bündnis war auch nötig gewesen, denn Unzer verlor zusehends seine alten Freunde aus dem Halberstädter Dichterkreis: »Gleim, Jakobi und Michaelis fliehen mich wegen der Dichterbriefe«, klagt er Mauvillon und fügt hinzu, dass er sie ebenso »verachte«.29 Obgleich die zeitgenössischen Kunstrichter in erster Linie den kecken und dreisten Ton der Schrift tadeln,30 steht Unzer weiterhin zu der Art und Weise ihrer schonungslosen Kritik. Haben die im 2. Stück »gefällten Urtheile nicht eben den furchtlosen Ton, wie im ersten, ob sie gleich nicht mit so beleidigenden Ausdrücken gesagt sind?«, fragt er seinen Mitstreiter, um anschließend die Neuheit ihrer Theorien und die Qualität ihrer Ausführungen zu loben. Weiter erklärt er, dass er es inzwischen für notwendig halte, den Schluss des fingierten Briefwechsels zu überarbeiten, »um der schleunigen Endschaft unserer Schrift nur einigermaßen einen Anstrich zu geben«. Die Bestimmung der zweiten Klasse der Dichter im Text rechtfertigt er damit, dass »dadurch dem Leser gleichsam ein stiller Wunsch abgelockt w[erde], daß das Werk fortgesetzt werden mögte, damit er die fernere Classification erführe.«31

|| 27 Ebd., S. 22f. 28 Ebd., S. 26. 29 Ebd., S. 27 (korrigiert aus »erachte«). 30 Vgl. die Kritiken in den Rezensionsorganen der Zeit: Hallische Neue Gelehrte Zeitungen, 100. Stück, 12.12.1771, S. 794; Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1772, Leipzig 1772, S. 62f.; Magazin der deutschen Critik, 1. Bd., 2. Tl. (1772), S. 198–201, hier S. 198f. 31 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 28.

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Im gleichen Brief kommt Unzer noch einmal auf das anvisierte dritte Stück zu sprechen: »Wie ich höre, so wollen Sie sich auf ein drittes Stück einlassen. Ich war es anfänglich auch Willens, habe aber meinen Entschluß geändert. Indessen freue ich mich ausnehmend auf Ihre Fortsetzung, und bitte nur im Vorberichte zu erklären, daß ich gar keinen Antheil daran habe.«32 Dass Mauvillon sich tatsächlich lange mit diesem Gedanken beschäftigt hatte, verrät ein Brief von Diez, datiert vom 16. August 1774, in dem der Absender in Erfahrung zu bringen sucht, ob Mauvillon »die Dichterbriefe noch fortsetzen«33 werde. Wir wissen, dass dies nicht geschehen ist. Man könnte sich jedoch fragen, ob nicht die Rezensionen und Abhandlungen für die Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur als eine Art Fortsetzung der »Dichterbriefe« zu verstehen sind: die Fortführung der Kritik mit anderen Mitteln. Aus dem Briefwechsel mit Unzer erfahren wir, dass Mauvillon, nachdem Helwing durch die »Dichterbriefe« auf ihn aufmerksam geworden war, (zunächst gemeinsam mit Karl Renatus Hausen) die Redaktion der vom Lemgoer Verleger ins Leben gerufenen Auserlesenen Bibliothek übernahm, deren erster Band im Frühjahr 1772 erschien. Unzer gehörte zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu den Mitarbeitern der Zeitschrift, mit der Helwing der Nicolai’schen Allgemeinen deutschen Bibliothek Konkurrenz zu machen suchte. Doch erregt das neue Projekt sofort seine Aufmerksamkeit, und er äußert Mauvillon gegenüber unverzüglich den Wunsch: »An dem Lemgoer Journale hätte ich große Lust Mitarbeiter zu werden. Sagen Sie mir doch, wie ich es anfange.«34 Neugierig fragt er weiter: »Arbeiten Sie mit an dem Lemgoer Journale, und welches sind ihre Rezensionen darin?« Vermutlich verfügte Unzer bereits über gewisse Insider-Informationen, denn im Folgenden kommt er zum Teil auf jene Werke zu sprechen, die Mauvillon tatsächlich rezensiert hatte und die im Sinne einer Fortsetzung der »Dichterbriefe« für beide von Interesse waren: »Was sagen Sie zu Lessings Emilia Galotti, zu Wielands Abhandlung über eine alte Aufschrift, zu seinem goldnen Spiegel, zu Klopstocks David, zu Ramlers neuen lyrischen Gedichte[n], und zu dem Gedichte vom Könige von Preußen, welches Gleim unter dem Titel: Lobschrift auf Noel in Deutsche Verse übersetzt hat [?]«35 Wie aus dem Brief vom 22. November 1772 hervorgeht, hat sich Mauvillon nicht ohne Erfolg beim Verleger für Unzer eingesetzt: »Ich kann nicht leugnen«, repliziert dieser, »mit Ihnen zugleich an einem Journale arbeiten zu können, ist mir angenehm.«36 Ein weiterer Brief vom 16. Juni 1773 liefert dann den entscheidenden Hinweis darauf, welche in der Auserlesenen Bibliothek erschienenen Beiträge von Unzer

|| 32 Ebd. 33 Ebd., S. 112. 34 Ebd., S. 29f. 35 Ebd., S. 30. 36 Ebd., S. 56.

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stammen: »Meine Aufsätze in der Lemgoer Bibliothek sind alle mit zwei Sternchen bezeichnet.«37 Das betrifft zwar erst den dritten Band, doch kann aufgrund dieser Briefstelle auch die bereits im zweiten Band erschienene und dann in den beiden folgenden Bänden fortgesetzte Abhandlung »Vom Zustande des Geschmacks beim deutschen Publikum«38 zweifelsfrei Unzer zugewiesen und daneben mit Sicherheit gesagt werden, dass er, seinem Wunsche entsprechend, bereits seit dem zweiten Bande zu den festen Mitarbeitern der Lemgoer Auserlesenen Bibliothek gehörte. Zu seinen Beiträgen zählen auch die oben erwähnten Gedanken über eine alte Aufschrift von Wieland, die Unzer für den vierten Band rezensierte.39 Zur gleichen Zeit ließ Unzer in die Neue Braunschweigische Zeitung eine Besprechung des ersten Bandes der Auserlesenen Bibliothek einrücken, auf die er im Brief vom 19. Juli 1772 anspielt.40 Dort sucht er die Besonderheit des Lemgoer Rezensionsorgans herauszustreichen: Das Charakteristische dieser neuen Bibliothek besteht in der Geschichte einer jeden Wissenschaft, wie dieselbe nehmlich in Deutschland von einer Messe zur andern verändert erschienen ist. Zu dem Ende wird bey Beurtheilung der Schriften vornehmlich auf das Neue gesehen, so sie enthalten. Dieser Plan ist sehr gut, obgleich in dem ersten Bande noch sehr unvollständig ausgeführet.41

Lobend hebt Unzer die »Gründlichkeit« der Urteile sowie die »Wahrheitsliebe und vorurtheilsfreye Denkungsart« der Lemgoer Kritiker hervor: »Kein Ansehen der Person gilt bey den Verfassern etwas; sie urtheilen frey, weil sie selbst denken. Wer diese Bibliothek, die allgemeine Deutsche, und die Leipziger besitzt, kan sehr bequem die Litteratur Deutschlands überschauen, und den größten Theil der übrigen Recensionsschriften entbehren, zumal, wenn sie von Leuten herrühren, die aus einer gewissen Schule hervorgekommen sind.«42 Der Briefwechsel gibt aber noch weitere Hinweise auf Unzers Rezensionstätigkeit: »Weil ich nun überdies verschiedene Rezensionen in die Braunschweigische Zeitung, und in die Leipziger gelehrte Zeitung einschicken muß; so können Sie leicht denken, daß meine Muse nicht zur Langeweile werden kann.«43 Mit Blick auf die Neue Braunschweigische Zeitung konnte Eduard Jacobs bereits 18 Rezensionen

|| 37 Ebd., S. 52. 38 Vgl. ABL 2 (1772), S. 656–672, 3 (1773), S. 683–702, 4 (1773), S. 692–700. Vgl. auch Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 67, wo sich Unzer als Verfasser der Abhandlung zu erkennen gibt. 39 Vgl. ABL 4 (1773), S. 81–85. 40 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 33f. 41 Neue Braunschweigische Zeitung, 28. August 1772 (Nr. 134), unpaginiert. 42 Ebd. – Mit der »gewissen Schule« sind die Anhänger von Christian Adolph Klotz (1738–1771) gemeint, der u. a. in Halle die Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften (24 Stücke, 1767–1771) herausgab. 43 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 30.

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ausfindig machen.44 Betreffs der Neuen Zeitungen für gelehrte Sachen können für die Jahre 1772 und 1773 nach eigenen Recherchen zwölf weitere Rezensionen aus Unzers Feder benannt werden, darunter eine Besprechung von Gleims Lobschrift auf Herrn Noel und eine zweite von Wielands Gedanken über eine alte Aufschrift.45 Für die von Karl Renatus Hausen herausgegebenen Neuen Frankfurter gelehrten Anzeigen wollte Unzer ebenfalls Rezensionen schreiben,46 doch ließ sich dafür bislang noch kein Nachweis erbringen. Auch über andere Publikationsprojekte spricht sich Unzer in seinen Briefen an Mauvillon aus. »Ich habe Weißen meine Abhandlung über die Chinesischen Gärten für seine Bibliothek zusenden müssen. Vielleicht nehme ich auch künftig an den eigentlichen Kritiken dieses Journals Antheil.«47 Eine Mitarbeit Unzers an der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste lässt sich zwar nicht belegen, aber die von ihm erwähnte Abhandlung ist 1773 als selbständige Publikation anonym erschienen, allerdings nicht in der Leipziger Bibliothek. Womöglich war dem Herausgeber Christian Felix Weiße das Thema zu abseitig. Mit dem Brief vom 7. November 1773 übersendet Unzer Mauvillon ein Exemplar seiner kleinen in Lemgo gedruckten Schrift.48 Bereits im Brief vom 2. Juni 1772 war die Rede von einer weiteren »Abhandlung für die Leipziger Bibliothek«, die Unzer im Rahmen seines Studiums der italienischen Literatur zu verfassen gedachte, die aber ebenfalls nicht in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste erschien und aus der später die Nachrichten von den ältern erotischen Dichtern der Italiener (Hannover, bey den Gebrüdern Helwing, 1774) werden sollten, die allerdings erst posthum die Druckerpresse verließen. Unzer erwähnt die projektierte Abhandlung über die italienischen Dichter im Zusammenhang mit einem weiteren Vorhaben: »Da ich Willens bin, in einigen Jahren eine Theorie vom Romane, und einen Roman selbst zu schreiben, der nicht unter die gewöhnlichen gerechnet werden soll; so übe ich mich zum Voraus in kleinen Aufsätzen, die ich vielleicht einzeln werde drucken lassen.«49 Im Brief vom 22. November 1772, seinem Geburtstag, kommt er auf dieses Vorhaben zurück und notiert: »Vielleicht erscheint Ostern von mir: Sinder, eine Erzählung in zehn Catastrophen. Auch möcht ich etwas über den Character Christi schreiben, wenn ich einen Verleger dazu finden könnte.«50 Jacobs vermutet, dass sich Unzer über einen längeren Zeit-

|| 44 Vgl. Jacobs: Unzer (s. Anm. 13), S. 198f. 45 Vgl. Neue Zeitungen für gelehrte Sachen auf das Jahr 1772, No. LIII vom 2. Juli 1772, S. 421 und ebd., S. 422–424. Eine Edition sämtlicher Abhandlungen und Rezensionen Unzers wird von mir vorbereitet. 46 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 65. – Frankfurt meint hier: Frankfurt an der Oder. 47 Ebd., S. 34. 48 Ludwig August Unzer: Ueber die chinesischen Gärten. Eine Abhandlung. Lemgo 1773. 49 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 29. 50 Ebd., S. 61.

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raum hinweg mit dem Gedanken trug, eine Abhandlung über den Roman zu schreiben.51 Jedoch ist weder die Erzählung, die laut Jacobs nicht im Zusammenhang mit jener »kleinen Erzählung«52 zu stehen scheint, die Unzer in seinem Brief an H. A. O. Reichard vom 20. November 1772 für einen geplanten »Almanach der Unzertrennlichen« (ebenfalls nicht erschienen) ankündigte, noch eine Theorie des Romans in den Druck gegangen. Ganz anders aber verhält es sich mit der im Brief vom 16. Juni 1773 erwähnten deistischen Schrift Vermächtnisse für Zweifler, die Jacobs nirgends aufzutreiben vermochte.53 Es ist mir mittlerweile gelungen, ein Exemplar dieses anonymen Traktats in der Königlichen Bibliothek Kopenhagen nachzuweisen, wo es bis jetzt unentdeckt blieb, da es fälschlicherweise dem Onkel Johann August Unzer zugewiesen worden war.54 Bereits am 22. November 1772 berichtete Unzer Mauvillon von einer seinerseits geplanten »Bibliothek der Freigeister oder Freigeister Annalen«55 und spricht dabei in Tönen höchsten Lobes von der dänischen Pressefreiheit, die allein schon die Blätter aus Liebe zur Wahrheit geschrieben bezeugen würden.56 Ihr Verfasser, der Graf und Offizier Woldemar Herrmann von Schmettau (auch: Schmettow, 1719–1785) war für Unzer der »einzige Freigeist, der sich untersteh[e], der christlichen Religion ins Gesicht zu widersprechen«, und er fügt hinzu, dass er die ersten Bogen dieser Schrift »mit viele[m] Vergnügen gelesen« habe.57 Diese Blätter waren auch der Anlass für den Beginn eines Briefwechsels mit dem Grafen, der sich für den Druck von Unzers Vermächtnissen einsetzte. Näheres dazu ist dann aus dem Briefwechsel mit Heinrich Friedrich Diez zu erfahren. Vermutlich im Frühjahr 1773 hatte Unzer das Manuskript an Schmettau geschickt, der es zunächst in Berlin veröffentlichen wollte. Aus einem Brief, den Diez ein Jahr später am 5. Juni 1774 an Mauvillon richtete, geht hervor, dass die Vermächtnisse für Zweifler erst »vier Monate vor seinem Tode in Amsterdam durch Schm[ettaus] Veranstaltung abgedruckt«58 worden seien. Weiter heißt es, dass Schmettau Unzer »ein Exemplar davon mit der Anzeige« geschickt habe und dass »die übrigen 200 Stück aufs Neujahr [1774] erfolgen sollten«. Dieses eine Exemplar habe er, so Diez weiter, von Unzer kurz vor dessen Tod || 51 Jacobs: Unzer (s. Anm. 13), S. 201. 52 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 71. 53 Ebd., S. 52; vgl. Jacobs: Unzer (s. Anm 13), S. 202. 54 [Ludwig August Unzer:] Vermächtnisse für Zweifler. s.l. 1773 (Königliche Bibliothek Kopenhagen, Signatur: 94, 70 00353); originalgetreuer Neudruck in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 13/2 (2019), S. 313–325; vgl. Arne Klawitter: Vermächtnisse für Freigeister. Die religionsphilosophischen Bekenntnisse des Dichters Ludwig August Unzer. In: Das 18. Jahrhundert 45/1 (2021), S. 84–100. 55 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 57 56 Vgl. dazu Gerhard Kay Birkner: »Blätter, aus Liebe zur Wahrheit geschrieben«. Der Zensurskandal »Schmettow« 1772. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 31 (2006) 1, S. 47–78; zur dänischen Pressefreiheit, die keineswegs so uneingeschränkt war, wie Unzer glaubte, ebd., S. 77. 57 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 59; vgl. auch S. 66. 58 Brief von Diez an Mauvillon vom 5. Juni 1774, ebd., S. 119.

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bekommen, die anderen seien aber noch nicht eingetroffen.59 Im übernächsten Absatz geht Diez genauer auf die Beziehung zwischen Unzer und Schmettau ein und erwähnt, dass Unzer Schmettau das Manuskript nebst einem Brief zugeschickt und nach einiger Zeit das besagte gedruckte Exemplar erhalten habe. Unzer antwortete ihm, doch starb er, bevor Schmettaus Replik ihn erreichen konnte. »Weil nun Unzer schon vorher dieses nach Berlin so verabredet hatte, trug er mir zugleich auf, von seinem Tode an Schm[ettau] Nachricht zu geben. Dies ist geschehen, ich habe aber von ihm die Antwort noch nicht.«60 Diese dürfte im Sommer oder Herbst 1774 bei Diez eingetroffen sein, denn am 23. Oktober berichtet er Mauvillon davon, dass der Graf Schmettau über Unzers »standhaften Tod« – denn dieser verweigerte, völlig »von der Falschheit der Religion überzeugt«,61 das Abendmahl – »sehr erfreut«62 gewesen sei und dass er sich ihn zum Vorbild nehme. Aus dem Brief vom 23. Oktober 1774 geht unmissverständlich hervor, dass es neben dem in Kopenhagen befindlichen Exemplar mindestens noch ein zweites gegeben haben muss, das Unzer erhalten hatte und das (wohl während des Besuchs Ende Dezember 1773, als Unzer ihm seinen gesamten Briefwechsel übergab63) in Diez’ Hände gelangte. Sein Verbleib ist jedoch unbekannt. Vermutlich hat Diez es später ebenso wie den Großteil von Unzers Korrespondenz vernichtet.64 Dass er aber die Vermächtnisse tatsächlich gelesen hatte, ist seinem Brief vom 16. August 1774 an Mauvillon zu entnehmen. Dort heißt es: »Der Zweifler entscheidet nicht absolut, weil er nicht weiß auf welcher Seite Wahrheit ist. Ich aber suche keine Wahrheiten, und leugne daß es dergleichen gebe und geben könne. Die Unterschiede, die man macht, als Wahrheit, Irrthum, Vorurtheil, Falschheit etc. hebe ich auf, und bringe alles auf das Wort Ideen zurück, die sich jeder nach seiner Art macht.«65 Auch mit Schmettaus »Hypothese von einer entstandenen Gottheit«, die er in Auszügen referiert, setzte sich Diez offenbar eingehend und gründlich auseinander, denn er schreibt, dass dieser

|| 59 Ebd. 60 Ebd., S. 120. 61 Ebd., S. 101. 62 Ebd., S. 137. 63 Vgl. den Brief von Diez an Mauvillon vom 16. August 1774, ebd., S. 105. 64 Lediglich Unzers Briefwechsel mit dem Braunschweiger Prediger Christian Günther Rautenberg hat Diez an den Herausgeber der Zeitschrift Olla Potrida, Heinrich August Ottokar Reichard, gesendet und damit zum Druck befördert, vgl. Fünf Briefe des verstorbenen Predigers Rautenberg zu Braunschweig. In: Olla Potrida. Eine Quartalsschrift, 4. St., 1782, S. 109–130 und Arne Klawitter: Das »abgeschmackte« deutsche Publikum und seine »Gellertomanie«. Ludwig August Unzers und Jakob Mauvillons »Dichterbriefe« und deren Verteidigung durch Christian Rautenberg. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 60 (2016), S. 3–38. 65 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 107f.

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ein Chaos an[nehme], worin denn auch alle verständige Wesen als Monaden verwickelt gewesen. Die vortrefflichste unter diese[n] habe sich aus Trieb der Menschenliebe von den übrigen abgesondert, und das ganze chaotische Universum umgebildet, und die Reiche und Anordnung der Dinge producirt, wie wir sie jetzt sehen. Dieserhalb und da sich diese vorzügliche Monade schon durch verschiedene Stufen hindurch vervollkomm[ne]t habe, behaupte sie den ersten Rang, sei Gott, und werde ihres Wohlthuns halber verehrt. Andere Monaden konnten sich mit der Zeit zu gleicher Vollkommenheit erheben, und jener bliebe nur, und das beständig der Vorzug übrig, dies alles so geordnet zu haben, das einzige Verdienst was einem Gott anständig wäre.66

Die Vermächtnisse reihen sich ein in die nicht geringe Zahl zeitgenössischer und zum Teil heftiger Angriffe auf den christlichen Offenbarungsglauben, auf die Inspirationslehre der lutherischen Orthodoxie, aber auch auf die Lehre eines vernünftigen Christentums, die neben Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem und Johann August Nösselt, auch von anderen Neologen wie Gottfried Leß, Johann Salomo Semler oder Wilhelm Abraham Teller vertreten wurde.67 Mauvillons Briefwechsel enthält, wie wir sehen werden, noch weitere Belege für religionskritische Streitschriften aus seinem Umkreis, die jedoch zum Teil verloren gegangen sind. Die Angriffe waren vor allem gegen die sogenannten Neologen und ihre kritische Bibelauslegung gerichtet, also nicht gegen die lutherische Orthodoxie, die in den Augen dieser ›Starkgeister‹ schon längst obsolet war, sondern gegen eine vernunftgemäße Theologie, die versucht hatte, den christlichen Glauben mit dem Rationalismus der Aufklärung in Einklang zu bringen. Zunächst hatte Schmettau, wegen des Zensurstreits, den seine Blätter auslösten, vorsichtiger geworden, vermutlich im Herbst 1772 ein anonymes Sendschreiben eines aufrichtigen und Wahrheitsliebenden Naturalisten an alle die es lesen wollen in Umlauf gebracht,68 von dem sich offenbar kein Exemplar erhalten hat. Die in Berlin gedruckte Schmähschrift wurde über diverse Poststationen vertrieben und war vornehmlich gegen Johann Salomo Semler gerichtet, dem er den Vorwurf des Naturalismus machte und der dann auch umgehend auf diese Anschuldigung antwortete.69 Den entscheidenden Hinweis auf die Autorschaft gibt Unzer in seinem Brief vom 30. Dezember 1772, in dem er den Grafen von Schmettau in Plön als Verfasser jenes »Schreiben[s] eines Naturalisten an Semler, Spalding, Jerusalem«70 nennt. || 66 Ebd., S. 107. 67 Zur Neologie vgl. Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium. Göttingen 2009, S. 112–146. 68 Vgl. die Rezension in: Danziger Berichte von neuen theologischen Büchern und Schriften, 3. Bd., 22. Stück, 1772, S. 141–143, vgl. ferner: Betrachtungen über die neuesten historischen Schriften, 4. Teil, 3. Abschnitt, 1773, S. 408 und Allgemeine deutsche Bibliothek, 23. Bd., 2. Stück, 1775, S. 379. 69 Johann Salomo Semler: Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Dritter Theil. Nebst Antwort auf eines ungenannten Naturalisten Sendschreiben. Halle 1773, S. 190–312. 70 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 66.

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Über Unzers eigene religiöse Vorstellungen geben einzelne Passagen mehrerer Briefe Auskunft. Als Freigeist hielt er es »für sehr gut, gegen die Religion zu schreiben« und war fest davon überzeugt, dass der Weise »keine Religion über sich erkennen« dürfe. Unter allen Religionen verehrte er besonders die Zoroasters und war Willens, »die Anbetung der Sonne zu rechtfertigen«.71 Mit seinem Studienfreund Diez begann er einen »philosophischen Briefwechsel«,72 die christliche Religion betreffend, der aber nicht überliefert ist. Gleichzeitig schien Unzer auf der Suche nach einer gewissen Art von Spiritualität gewesen zu sein. So heißt es im Brief vom 22. November 1772 unmittelbar nach der Ankündigung einer Schrift »über den Charakter Christi«: »Wenn Sie mich als geistlichen Liederdichter rühmen hören, so erschrecken Sie nur nicht. Es geht alles mit natürlichen Dingen zu, und der Geist der Salbung, der auf mir ruht, ist ein kleines Geschöpf der Imagination.«73 Gemeint sind die Zehn geistlichen Gesänge, die 1773 zur Ostermesse im Verlag der Dyck’schen Buchhandlung in Leipzig erschienen. Aufschlussreich sind darüber hinaus auch die im Briefwechsel geäußerten Reaktionen Mauvillons auf Unzers eigene Dichtungen, die uns allerdings nur über die Repliken Unzers zugänglich sind, nichtsdestoweniger aber deutlich genug ausfallen. Das betrifft insbesondere die sogenannte ›chinesische Nänie‹ Vou-ti bey Tsinnas Grabe, die Mauvillon heftig kritisiert zu haben scheint. Ihr Druck wird im Brief vom 19. Juli 1772 angekündigt,74 und ein Exemplar des mit den Anmerkungen 16 Kleinoktav-Seiten umfassenden Gedichts wird zusammen mit dem Geburtstagsbrief im November 1772 an Mauvillon verschickt. Im Brief rechtfertigt Unzer – offensichtlich in Erwartung scharfzüngiger Kritik – sein ungewöhnliches Poem mit den Worten: »Die Nänie ist neu in Absicht des Stoffes, und die Naivitäten in Absicht der Gattung und der nicht gemeinen Erklärung derselben.«75 Mit letzterem sind die Naivetaeten und Einfaelle (Göttingen [vordatiert auf] 1773) gemeint, gefolgt von den Neuen Naivetaeten und Einfaelle[n] (Göttingen 1773), beide mit einem Vorbericht versehen, in dem Unzer gattungstheoretische Erklärungen liefert. Sowohl im undatierten »Achten Brief« als auch im Brief vom 30. Dezember 1772 reagiert Unzer auf Mauvillons offenbar wenig freundliche Abfertigung seines poetischen Versuchs: Sie spotten über meine Chinesische Nänie. Habe ich sie denn schon für etwas besonders ausgegeben? Ich dichte zuweilen, wie ich eine Tasse Caffee trinke. Weil ich Lust dazu fühle. Obs gefällt oder nicht, das ist mir gleich. Ich habe mir ganz die Apathie Fontenellens zu eigen ge-

|| 71 Ebd., S. 53. 72 Ebd., S. 72. 73 Ebd., S. 61. 74 Vgl. ebd., S. 33; im Briefwechsel erscheint der Titel verballhornt als »Von-lian-thin-na«. 75 Ebd., S. 60.

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macht. Es haben ja die wenigsten Geschmack, und überhaupt ist Geschmack ein kleiner Popanz der schönen Geister, die selber Popänze sind.76

Unzer verteidigt sein poetisches Experiment mit ähnlichen Argumenten, wie er sie schon in den »Dichterbriefen« und in seiner Abhandlung »Vom Zustande des Geschmacks beim deutschen Publikum« vorgebracht hatte. Ihm geht es, wie auch in seiner Schrift Ueber die chinesischen Gärten, um eine Erweiterung des begrenzten nationalen Geschmacks durch Aufnahme fremder Elemente und die Auseinandersetzung mit fern liegenden, d. h. exotisch-ästhetischen Vorstellungen, was weder bei Leopold Friedrich Günther Goeckingk noch bei Jakob Mauvillon auf Gegenliebe stieß. Goeckingk mahnte Unzer in einem Brief vom 18. Oktober 1772, er möge doch sein »Genie mehr auf vaterländische Gegenstände wende[...]n«, denn es gebrauche »erst einer großen Präparation, ehe wir Gedichte im Chinesischen Geschmacke mit Leichtigkeit lesen können«.77 Auf diese Äußerung scheint sich Unzer dann auch zu beziehen, wenn er zweieinhalb Monate später an Mauvillon schreibt: Ihr Urtheil über meine Nänie ist das Urtheil vieler Leute, und enthält manches wahre. Aber ich muß doch lächeln, daß man über einen Bogen so gefährliche Gesichter macht, als wenn nun schon der ganze Deutsche Parnaß chinesisch geworden wäre. Habe ich denn einen mächtigen Band in Folioform, oder einen kleinen Versuch geliefert? Habe ich denn schon Nachahmer gezeugt? Und billig sollte man sich doch zuvor mit meine[n] Na[ivetaeten] bekannter machen, ehe man dies Stück so decisiv herabsetzte. Uebrigens gebe ich Ihnen mein Wort, daß nichts mehr von der Art erscheinen wird, und danke Ihnen aufrichtig für Ihren Tadel, der vollkommen gegründet wäre, wenn er einen wichtigern Gegenstand hätte.78

3 Der philosophische Briefwechsel mit Heinrich Friedrich Diez Durch die Vermittlung Unzers tritt der zunächst als Referendar im ProvinzialJustizkollegium zu Magdeburg tätige Heinrich Friedrich Diez in Kontakt mit Mauvillon und beginnt einen philosophischen Briefwechsel, auf dessen Inhalt bereits Dieter Hüning ausführlich eingegangen ist.79 An dieser Stelle sei deshalb nur kurz zusammengefasst, welche Hinweise auf verschollen geglaubte Schriften, Aufsätze und Rezensionen die Briefe aus seiner Feder enthalten. Von Diez selbst konnte bereits auf der Grundlage des Mauvillon’schen Briefwechsels eine bislang unbe-

|| 76 Ebd., S. 62. 77 Jacobs: Unzer (s. Anm. 13), S. 227. 78 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 66 (im Original »mit meiner Native«, gemeint sind offensichtlich Unzers Naivetaeten). 79 Vgl. Hüning: »Ich will keine Wahrheiten lehren« (s. Anm. 20).

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kannte Schrift aufgefunden werden. Dem Brief vom 19. Dezember 1773 legte Diez drei seiner Publikationen bei, nämlich die Beobachtungen über der [!] sittlichen Natur des Menschen (Halle 1773) und den Versuch über dem [!] Patriotißmus (Frankfurt a. M., Leipzig 1774 [recte 1773]) sowie eine der Forschung gänzlich unbekannte religionskritische Abhandlung, wobei er hinzufügt: »Der Verfasser der letztern trägt kein Bedenken, sich Ihnen als seinen Freund zu nennen, aber andern will und muss er unbekannt bleiben.«80 Mit Hilfe des Universalcatalogs der Meyerschen Buchhandlung war es mir dann möglich, die anonyme Schrift ohne Druckort als eine in eben diesem Lemgoer Verlag erschienene Publikation mit dem Titel Philosophische Abhandlung von einigen Ursachen des Verfalls der Religion nachzuweisen, nachdem ich durch eine Rezension Mauvillons in der Auserlesenen Bibliothek auf den Titel aufmerksam geworden war.81 Weiterhin kündigte Diez an, in einigen Jahren ein »politisches Werk« fertig zu stellen, »welches die Einrichtung eines Staats, und seine in allen Fächern nöthige Gesetze zum Vorwurf haben soll, erläutert durch die vorhandenen politischen Verfassungen auf der Erde.« Dabei wolle er »vorzüglich ein reelles Ideal« entwerfen, »wonach Staaten gebildet werden könn[t]en«, wobei es »der Idee weder an Eigenheit noch an Wichtigkeit« fehle.82 Von diesem Buch ist weiter nichts bekannt und vielleicht schlummert es noch als anonyme Publikation mit unbekanntem Titel in irgend einer Bibliothek, wenn es denn jemals gedruckt worden ist – ebenso wie der oben erwähnte »philosophisch[e] Briefwechsel«83 mit Unzer, von dem uns Diez’ verrät, dass er tatsächlich in den Druck gelangte: Ich habe aber mit unserem Freunde eine andere Schrift verfaßt, welche zwar schon vor seinem Tode unter die Preße gekommen, aber wegen Verzögerung des Verlegers erst in diesem Sommer [d. i. 1774] fertig werden wird. Sobald sie da ist, werden Sie solche erhalten. Sie werden leicht wißen, weßen Inhalt sie sei. Es versteht sich zwar schon von selbst, ich bitte Sie indeßen noch bei allem was Ihnen heilig ist, nennen Sie niemals meinen Namen als den Verfaßer, denn ich würde die äußerste Gefahr laufen, weil die Schrift gehemmt ist. Eben so tief verschweigen Sie sowohl bei dieser als jener [d. i. Vermächtnisse für Zweifler] U... Namen seiner Mutter und Anverwandte wegen, worunter die erste mir schriftlich geklagt hat, daß ich ja das äußerste anwenden möchte, um zu verhüten, daß er nicht als Freydenker bekannt würde.«84

|| 80 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 93. 81 Zum Erscheinungsort vgl. den Universal-Catalogus der Bücher welche in der Meyerschen Buchhandlung zu Lemgo zu haben sind. 1. Theil: A–M. Lemgo 1783, S. 15; ebenso das Vollständige Verzeichniß der Bücher, welche um beygesezte Preise zu haben sind bey sel. Abraham Vandenhoecks Witwe, Universitätsbuchhändlerin zu Göttingen. 1. Theil: A–L. s.l. [Göttingen] 1785, S. 15. Mauvillons Rezension erschien in ABL 5 (1774), S. 555. 82 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 96f. 83 Ebd., S. 72. Während Unzer von einem »philosophischen Briefwechsel« spricht, ist bei Diez nicht dezidiert von einem Briefwechsel die Rede. 84 Ebd., S. 119f. (Brief vom 5. Juni 1774).

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Es ist durchaus möglich, dass Diez zu einem späteren Zeitpunkt – wenn denn das Buch wirklich erschienen sein sollte – selbst dafür gesorgt hat, dass die bereits gedruckten Exemplare ausnahmslos vernichtet wurden. Ein großer Teil des Briefwechsels zwischen Diez und Mauvillon betrifft die damals viel diskutierten Theorien der Sprachentstehung von Johann Peter Süßmilch, Johann Gottfried Herder und Rudolf Wilhelm Zobel. Vermutlich von Unzer erfährt Diez, dass Mauvillon für die Rezension von Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) in der Auserlesenen Bibliothek verantwortlich zeichnet,85 die er daraufhin gewissenhaft studiert, um sie mit Mauvillon erörtern zu können. Er schreibt: So glauben Sie denn mit Herdern und seinen Vorgängern, daß die Sprache von Menschen erfunden worden? Freund! Sie können sich davon unmöglich überzeugt haben? Doch das ist sehr positiv gesprochen, da es gar wol möglich ist, daß Sie davon überzeugt sind. Ich glaube indeß an keinen Ursprung der Sprache, und bin versichert, daß Menschen für sich als sprachbare Wesen in Ewigkeit dergleichen nicht erfinden können. Die Sprache ist so alt wie die Welt, und die Welt ist ewig, auch sind seit Ewigkeiten viele Sprachen, nach Verschiedenheiten der Nationen üblich gewesen. Das habe ich mir aus der Natur der Welt, und aus dem Baue der Sprache selbst bewiesen. Uebrigens halte ich Herders Abhandlung sehr hoch, weil der Mann, ob er mich gleich nicht überzeugt, als ein nervigter Philosoph, und nicht wie ein Schulschwätzer raisonnirt.86

Die Diskussion fließt dann wiederum in die Rezension zu Zobels Gedanken über die verschiedenen Meinungen der Gelehrten vom Ursprunge der Sprachen (1774) ein, die Diez seinerseits als Mitarbeiter für die Auserlesene Bibliothek verfasste.87 In dieser Rezension erweist sich Diez erneut als materialistischer Denker, der von der Physiologie der Sinne ausgeht, um auf diesem Fundament sein eigenes Theoriegebäude vom Ursprung der Sprache zu errichten. Im Gegensatz zu Rousseau, der Sprache und Denken »als Correlate« annimmt, halte Zobel an der alten These fest, dass die Menschen auch ohne Worte denken könnten, was er jedoch nur unzureichend beweise, weshalb Diez mit Rousseau erklärt: »Der Mensch bedurfte zu sprechen, um denken zu lernen, und er bedurfte zu denken, um Sprache zu erfinden.«88 Im Hinblick auf die eigentliche Ursprungsfrage lehnt er Johann Peter Süßmilchs Hypothese einer göttlichen Spracheingebung von vornherein als indiskutabel ab. Was Herders Abhandlung betrifft, teilt er Zobels Ansicht, dass Herder die ›Erfindung‹ der Sprache durch den Menschen nicht zwingend erwiesen habe, allerdings aus anderen Grün-

|| 85 Vgl. ebd., S. 79; die Rezension erschien in ABL 3 (1773), S. 171–184. 86 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 88. 87 Vgl. ABL 6 (1774), S. 559–573 (Diez unterzeichnete seine Beiträge mit der Chiffre ›14‹). Dietrich Tiedemanns Versuch einer Erklärung des Ursprunges der Sprache (Riga 1772) wird von Diez, so nah die dort vertretenen Standpunkte ihm auch gewesen sein mögen, ausgespart. 88 ABL 6 (1774), S. 563.

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den. Im weiteren Verlauf seiner Besprechung geht Diez mehr auf Herder ein, statt Zobels Schrift zu rezensieren, und sucht die Widersprüche in Herders Argumentation aufzudecken. So weist er darauf hin, dass Herder »dem sprachlosen Menschen Sin[n]arten bei[lege], die selbiger erst haben kan, nachdem er lange Zeit hindurch eine Sprache gelernt hat. [...] Die Sphäre des Menschen ist allerdings einförmig, sein Wirkungskreis klein, seine Vorstellung einartig [!], seine Handlung Instinkt: so lange er noch nicht spricht,«89 woraus Diez den Schluss zieht, dass man den Ursprung der Sprache keineswegs als ein Ergebnis der menschlichen Vernunft bestimmen könne: »Da wir mit Herders Theorie von den Sinnen nicht einig sind: so müssen für uns seine Beweise vom Sprachursprung ihr Gewicht verlieren; denn diesen bauet er hauptsächlich auf jene.«90 Mit seiner Kritik zielt Diez auf das spekulative Moment in Herders Argumentation und betont, dass die Beweise, die Herder zur Stützung seiner These vom Sprachursprung anführt, nicht gegründet seien: »Man kan auch über den Spracherfinder niemals mehr als einen Roman liefern, weil man weder philosophisch, noch historisch andeuten kan, in welchem Zustand dieser wundersame Mensch [ohne Sprache] gelebt haben solle.«91 Außerdem lehre die Erfahrung, »daß die Denkorganen verhärten, wenn nicht frühe Uebung sie schmeidigt; daß dem Menschen die Sprachlernung desto schwerer falle, je älter er wird; daß die Lust zum Denken desto mehr nachlasse, je weniger das Bestreben durch gute Vorbereitung aufgeholfen, und in Lauf gesetzt worden«.92 Wer also die Frage nach dem Ursprung der Sprache beantworten wolle, der müsse, so Diez, zuerst herausfinden, wer oder was der Urheber der Sprache gewesen sei. Dazu aber sei eine Wissenschaft vom Menschen notwendig, die seine Natur als sprachfähiges Wesen untersucht, denn die direkte Frage nach dem Ursprung der Sprache, die die menschliche Natur außer Acht lasse, gehe von völlig falschen Prämissen aus: »Man wil uns die innere Genesis des ersten Worts zeigen, man legt dem Erfinder innere Sprache bei, und müste sie ihm auch bei seinem Unternehmen beilegen. Allein man hat noch nicht analysirt, wie innere Sprache entstehe?« Für Diez ist jene »innere Sprache« nichts anderes als »die Tochter der äußern Sprache« und ehe man diese nicht erfasst und beschrieben habe, könne man nichts über die innere sagen: »Wenn ein Mensch dem andern die Sprache nicht ablernt: so lernt er nie Sprache.«93 Aus epistemologischer Sicht führt Diez hier die Unmöglichkeit, den Ursprung zu denken, vor Augen: der Ursprung als das, was sich unablässig entzieht und den das

|| 89 Ebd., S. 569. 90 Ebd., S. 571. 91 Ebd. 92 Ebd. 93 Ebd., S. 572.

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Denken nie erreichen kann. Der Ursprung der Sprache ist nicht mehr denkbar als »Transparenz zwischen der Repräsentation einer Sache und der Repräsentation eines Schreies, Lautes, der Mimik (der Gebärdensprache), die sie begleitete«. Die Sprache hat eine eigene Historizität angenommen: »Es ist nicht mehr der Ursprung, der der Geschichtlichkeit Raum gibt, sondern die Historizität, die in ihrem Raster die Notwendigkeit eines Ursprungs sich abzeichnen läßt, der ihr zugleich innerlich und fremd ist.«94 In diesem Sinne markieren die Diskussionen, die Diez und Mauvillon in ihren Briefen führen, und ihre Rezensionen im Zusammenhang mit diesem Thema die Schwelle zum ›modernen‹ Denken von Geschichtlichkeit. Der Mensch entdeckt sich als mit einer bereits vorhandenen Historizität verbunden: [E]r ist niemals Zeitgenosse jenes Ursprungs, der durch die Zeit der Dinge hindurch sich abzeichnet und sich verheimlicht. [...] Wenn er seine Essenz als die eines sprechenden Subjekts zu definieren versucht, diesseits jeder effektiv konstituierten Sprache, findet er stets nur die Möglichkeit der bereits entfalteten Sprache und nicht das Gestammel, das erste Wort, von dem aus alle Sprachen und Sprache selbst möglich geworden sind. Stets auf einem Hintergrund eines bereits Begonnenen kann der Mensch das denken, was für ihn als Ursprung gilt.95

Ein gleichermaßen akutes Thema diskutieren Diez und Mauvillon im Dezember 1773, was für Mauvillons Biobibliographie insofern relevant ist, als er offenbar schon zu dieser Zeit sich mit dem Gefühl des Ichs und der Vorstellung eines monadenhaften Ichs auseinandergesetzt hat und vielleicht auch einen Entwurf zu seinem späteren Aufsatz Ueber das Ich zu Papier gebracht haben dürfte, der erst 1778 gedruckt erscheint.96 Diez ist überrascht, in Mauvillons Überlegungen so viele Gemeinsamkeiten im Denken zu finden: Ihre Gedanken vom Gefühle des Ichs, haben mich am mehrsten frappirt, weil sie beinahe die meinigen zu sein scheinen. Dies Capitel ist richtig, weil es bisher fast der einzige beträchtliche Zufluchtsort gewesen, von dem aus der Materialist seine Monade vertheidigt hat. Es ist also Zeit, daß die Leute einmal bedeutet werden, worin das Ding, das Ich eigentlich bestehe. Zwischen Gefühl und Bewusstsein der Identität mache ich mit Ihnen keinen Unterschied. Die Thiere empfinden blind, d. h. sie fühlen bloß den verursachten Reiz, ohne in einer abgesonderten Idee zu wissen, daß sie empfinden, weil sie keine Sprachzeichen haben. Das, was Sie bei den Thieren als Gedächtniß und Erinnerung wahrnehmen, entwickele ich aus andern Grün-

|| 94 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 1971, S. 397. 95 Ebd., S. 398. 96 [Jakob Mauvillon:] Ueber das Ich, in Briefen an Hrn. Prof. Tiedemann. In: Deutsches Museum 1778, 1. Bd., 2. St., S. 155–161, 3. St., S. 254–261; 2. Bd., 1778, 11. St., S. 395–419. Gleich zu Beginn des Textes bemerkt Mauvillon, dass das Gefühl des Ich schon lange der Gegenstand seiner Untersuchungen gewesen sei (ebd., S. 156).

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den, und dennoch haben auch hierbei selbst die klügsten Thiere keine abgesonderte Notion von ihrem Ich.97

Auch in dem im Deutschen Museum abgedruckten Text geht Mauvillon zunächst von dem Unterschied zwischen Mensch und Tier aus (ohne ihn jedoch auf eine physiologische Grundlage zu stellen, wie sie der Briefwechsel mit Diez mit Verweis auf die ›Chorda tympani‹ nahelegt) und unterstreicht die Rolle der Sprache bei der Empfindung des Ichs. In der Fortsetzung des ersten Briefs postuliert er die Gleichsetzung von Bewusstsein und Selbstgefühl und kommt im zweiten Brief auf das Gefühl der Identität zu sprechen, das er als dasjenige Gefühl bestimmt, »nach welchem wir empfinden [...], daß wir eben diejenigen Menschen oder Wesen sind, die wir vor zehn [...] Jahren, kurz, von der Zeit her, da wir uns überhaupt etwas besinnen können, waren.«98 Dieses Gefühl der Identität seiner selbst über die zeitliche Veränderung hinweg sei eng mit dem Selbstgefühl verbunden, das Gefühl des Ichs unterscheide sich aber wesentlich von allen anderen Gefühlen, die lediglich »das Gefühl eines Eindrucks auf das Ich«99 seien, während das Gefühl der Identität als Folge des bloßen Erinnerungsvermögens bestimmt wird und sich nur auf die Vorstellungsart vergangener Empfindungen gründet. Da auch Tiere Erinnerung besitzen, sei ihnen ein Gefühl der Identität möglich, jedoch ohne ein Bewusstsein davon zu haben, was aber nicht heißt, dass man ein wirkliches Bewusstsein der Identität des Ichs voraussetzungslos in jedem Augenblick jedem Menschen zuschreiben könne, was Mauvillon zuvor an verschiedenen Beispielen eines schwindenden Gefühls der Identität im Wahn und in der Raserei oder während einer fiebrigen Krankheit aufgezeigt hatte. Auch hier ließe sich fragen, ob Mauvillon in seiner langatmigen Argumentation nicht die Dimension des denkenden Ichs zu ergründen sucht, die von einem Teil seiner selbst zum Denkakt, d. h. zum Bewusstsein vom Gefühl des Selbst verläuft, ohne dabei die Zerbrechlichkeit dieses Denkens (das Schwinden des Gefühls der Identität) aus den Augen zu verlieren. Dabei geht es Mauvillon nicht um die Begründung und Festigung des Ichs im Cogito; das Denken führt das ›ich denke‹ nicht zur Evidenz des ›ich bin‹. Es geht vielmehr darum, die komplexe Zusammengehörigkeit von Selbstgefühl, Identität, Bewusstsein und Sprache bzw. Denken zu ergründen, auch auf die Gefahr hin, dass die Frage nach dem ›Was ist ...‹ nicht eindeutig beantwortet werden kann. Was den Briefwechsel mit Diez darüber hinaus für die philologische Forschung interessant macht, ist die Erwähnung weiterer Unternehmungen Mauvillons wie gewisser »projectirte[r] Untersuchungen über den Homer« und einer »Apologie des

|| 97 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 88f. 98 Mauvillon: Ueber das Ich (s. Anm. 96), 2. Bd., 1778, 11. St., S. 395–419, hier S. 396. 99 Ebd., S. 398.

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Incredu[l]us«,100 von der es später heißt, dass sich ein Verleger schon finden würde; selbst Helwing nehme es »ohnfehlbar«, ohne dass der Name des Verfassers genannt werde.101 Auch ist die Rede von einem Vorsatz Mauvillons, »die Parallele zwischen unsern Staaten, und den Griechen und Römern auszuarbeiten«,102 von dessen Ausführung allerdings nichts weiter bekannt ist. Über seine eigenen Ambitionen äußert sich Diez wie folgt: Was ich einst für vollständige Werke, in Hoffnung auf die Nachwelt zu kommen, ausarbeiten werde, ist schon in meinen Ideen beschlossen. Nur Zeit, Freiheit und ruhiges Leben muß ich haben. Die Brochüren, die ich von Zeit zu Zeit ausgehen lassen will, sollen nur dazu dienen, mich mit den [!] Publicum in einiger Connexion zu erhalten.103

Der Briefwechsel mit Diez endet abrupt am 18. April 1775 mit wenigen Worten, die zwar nach Abschied klingen, aber aus denen kein Grund für den Abbruch der Korrespondenz hervorgeht: »Ich liebe Sie unter allen Umständen, wie sie mich auch treffen mögen, mit vollkommener Hochachtung, und wünsche Ihnen das beste Schicksal.«104

4 Mauvillons Projekte, verschollene Manuskripte und übergangene Schriften Die zahlreichen Hinweise auf projektierte Untersuchungen und geplante Übersetzungen lassen Mauvillons Briefwechsel als eine erfolgversprechende Quelle bei der Suche nach verschollenen bzw. übergangenen Schriften erscheinen. Über die Untersuchungen zum Homer wie auch über die Absicht, Lessings Hamburgische Dramaturgie ins Französische zu übersetzen, war bislang nichts in Erfahrung zu bringen,105 obgleich der Entschluss zu letzterem gefasst zu sein schien, denn Unzer schreibt am 16. Juni 1773: »Ich billige es sehr, daß Sie die Dramaturgie übersetzen wollen, nur begleiten Sie die Uebersetzung mit einigen Anmerkungen. Lessing pinselt zuweilen.«106 Ein anderes Übersetzungsprojekt wird ein Jahr später am 5. Juni

|| 100 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 81f. (dort als »Apologie des Increduus«). 101 Ebd., S. 97. 102 Ebd., S. 95. 103 Ebd., S. 97. 104 Ebd., S. 138f. 105 Allerdings findet sich in der Zeitschrift Olla Potrida eine Abhandlung »Ueber Homer« mit dem Zusatz: »Aus einer ungedruckten Französischen Handschrift des Abts Raynal«, was auf Mauvillons Mitwirkung hindeuten könnte, doch fehlt dafür jeglicher Beleg, vgl. Olla Potrida 1780, 4. Stück, S. 61–79. 106 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 51.

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1774 von Diez vorgeschlagen, der, wohl auf Nachfrage Mauvillons im Kontext sensualistischer Grundsätze, eingesteht, George Berkeleys Buch zwar nicht gelesen zu haben, aber sicher sei, dass »der Materialist Mauvillon [...] den Spiritualisten englischer Nation mit schönen Anmerkungen begleiten [würde]« und ihn deshalb zur Übersetzung ermuntert.107 Während diese Spuren offenbar ins Leere laufen, führte ein weiterer Verweis tatsächlich zu einem Ergebnis. Kevin Hilliard und mir gelang es unabhängig voneinander, die in verschiedenen Briefen verstreuten Hinweise auf eine der Forschung bislang entgangene Übersetzung Mauvillons zu konkretisieren und diese als Examen des motifs à la vertu, tirés du principe de l’amour propre (Amsterdam, Leipzig 1774) zu identifizieren.108 Es handelt sich dabei um eine kommentierte Übersetzung von Gotthilf Samuel Steinbarts Prüfung der Bewegungsgründe zur Tugend, nach dem Grundsatze der Selbstliebe (Berlin, Züllichau 1770). Die Schrift wird sowohl von Unzer als auch von Diez erwähnt: Unzer äußert am 16. Juni 1773, dass er begierig sei auf die »Med i t a ti o n und das Examen des moti[fs]«,109 und Diez bedankt sich am 23. Oktober 1774 »[f]ür die Steinbartsche Schrift«,110 die sich übrigens in seinem Nachlass wiederfinden lässt.111 Möglicherweise ist mit der von Unzer erwähnten »Apologie des Incredu[l]us« ebenfalls diese Schrift gemeint, denn der Theologe Steinbart bezieht sich direkt auf den Essai sur l’Amour-propre envisagé comme Principe de Morale (1770) Friedrichs des Großen, den Mauvillon wiederum verteidigt. Auch Unzers Frage im Brief vom 2. Juni 1772, ob denn die »Vertheidigung der Abhandlung des Königs schon im Druck« sei, verweist auf nichts anderes als auf diese kommentierte Übersetzung Mauvillons und gibt einen zusätzlichen Hinweis auf deren Entstehungszeit.112 Mit der »Meditation«, auf die Unzer in seinem Brief anspielt, ist das Manuskript einer weiteren umfangreichen Schrift gemeint, die einmal als Méditations sur la nature humaine,113 ein anderes Mal als Système sur la nature humaine114 zitiert wird, und von der es bei Jochen Hoffmann heißt, dass das 1767 begonnene und 1772 fertig gestellte Werk »aufgrund des Zusammenbruchs der Schreuderschen Buchhand-

|| 107 Ebd., S. 124. 108 Vgl. Kevin Hilliard: Neology vs. Radical Enlightenment: Gotthilf Samuel Steinbart, Jakob Mauvillon, and Frederick the Great’s Essai sur l’Amour-propre envisagé comme Principe de Morale (1770). In: Publications of the English Goethe Society 90.2 (2021), S. 109–128, wo dieser Fund detailliert ausgewertet wird. 109 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 51 (dort als »Examen des motissa«). 110 Ebd., S. 136. 111 Staatsbibliothek Berlin, Bibl. Diez oct. 6302. 112 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 30. 113 Ebd., S. 51 und S. 53 sowie bei Diez im Brief vom 23. Oktober 1774, ebd., S. 135. 114 Ebd., S. 79.

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lung« nicht mehr veröffentlicht werden konnte und das Manuskript verloren ging.115 Tatsächlich findet sich im Messkatalog der Weidmannschen Buchhandlung (Ostermesse 1773) der Eintrag: »Meditations sur la Nature humaine. 4. Amsterdam, chez J. Schreuder.«116 Das Manuskript muss also zum Druck vorgelegen haben bzw. vom Amsterdamer Verlag zum Duck angekündigt worden sein. Dennoch bleiben Zweifel bestehen, ob dem Manuskript wirklich das oben erwähnte Schicksal widerfahren ist. Zu fragen wäre zunächst einmal, ob nicht Mauvillon selbst dieses Projekt womöglich aus bestimmten Gründen aufgegeben hat. Das scheint eher unwahrscheinlich, da er über Jahre an dem Manuskript gearbeitet und auch Rudolf Erich Raspe und Christian Konrad Wilhelm Dohm darüber berichtet hatte.117 An Christian Garve schreibt Dohm im November 1772: »Auf Ostern wird der Messias vollendet werden; – und von Mauvillon nächstens ein Werk erscheinen, worinn er sich als einen entschiednen Materialisten bekennt. Er hat an diesem Werke viele Jahre gearbeitet; u. seine Freunde erwarten von demselben ganz neue Aufschlüsse über die menschliche Natur, u. eine feste Gründung der Sterblichkeit unsrer Seele.«118 Am 16. Juni 1773 erkundigte sich Unzer bei Mauvillon, ob »Schröder in Amsterdam« (franz. Schreuder) auch deutsche Schriften annehme,119 was in Hinblick auf Unzers Vermächtnisse von Interesse gewesen sein mag, und auch Diez erwähnt in diesem Zusammenhang den Verlagsort Amsterdam mehrfach, jedoch ohne den Namen ›Schreuder‹ zu nennen.120 Vermutlich gilt die Anspielung zu Beginn von Mauvillons Rezension zu Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache ebenfalls seiner »Meditation«. Dort heißt es:

|| 115 Jochen Hoffmann, S. 69 (mit Verweis auf einen Brief Mauvillons an Frensdorf vom 8. Oktober 1787, H. St. A. Marburg, 118 a. 2799, fol. 89). 116 Allgemeines Verzeichniß derer Bücher, welche in der Frankfurter und Leipziger Ostermesse des 1773 Jahres entweder ganz neu gedruckt, oder sonst verbessert, wieder aufgelegt worden sind, auch inskünftige noch herauskommen sollen. Leipzig 1773, S. 576. 117 Brief an Rudolf Erich Raspe vom 10. September 1771, Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek, Signatur: 4° Ms. hist. litt. 2 [Mauvillon, J.:1. Vgl. auch Günter Arnold: Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß. In: Impulse: Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik. Hg. von Werner Schubert und Reiner Schlichting. Bd. 13. Berlin, Weimar 1990, S. 264–318, hier S. 270. Zu Dohm siehe dessen Brief an Christian Garve vom 17. November 1772 sowie seinen Brief an Klamer Schmidt vom 19. November 1772, Staatsbibliothek Berlin. Handschriftenabteilung; Nachl. Wolfram Suchier 4, Mappe »Jakob Mauvillon«. 118 Dohm an Christian Garve vom 17. November 1772, Nachl. Wolfram Suchier 4, Mappe »Jakob Mauvillon« mit Verweis auf die Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Wrocław (Breslau). Dort ist der Brief unter der Signatur M 1293 (93) zwar aufgelistet, er ist aber nicht mehr an seinem ehemaligen Standort befindlich und gilt als Kriegsverlust (Mitteilung von Michał Broda an Kevin Hilliard, 23. Oktober 2020). 119 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 53. 120 Ebd., S. 119, S. 132.

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Wir sind bei Lesung dieser Abhandlung erstaunet, über die Uebereinstimmung des größten Theils der Gedanken darin, mit dem, was wir über diese Materie in einem französischen Werke gelesen haben, welches uns vor nicht gar langer Zeit in der Handschrift ist communicirt worden, und, so viel wir wissen, anjetzt unter der Presse seyn mus. Hr. Herder ist der Wahrheit außerordentlich nahe gekommen, ob er sie schon nicht ganz genau getroffen hat, und wir glauben dem Leser einen Gefallen zu thun, wenn wir die fernern Erläuterungen hierüber aus diesem französischen MScrpt nehmen, so viel wir uns derselben von einer aufmerksamen Lectüre her erinnern.121

Letztlich muss aber offen bleiben, ob es sich bei dieser Handschrift um einen versteckten Selbstverweis oder um Abbé Copineaus Essai synthétique sur l’origine et la formation des langues (Paris 1774) handelt, in dem der Verfasser im Anschluss an Rousseau eine sensualistische Theorie entwickelt, wobei er vom primitiven Urmenschen ausgeht, der in relativer Nähe zum Schreie ausstoßenden Tier über eine physische Disposition verfügt, die ihm schließlich das Sprechen ermöglicht. Ein Teil der Méditations ist mit Sicherheit in die Zoologie géographique (1784) eingeflossen, die Mauvillon übersetzt hatte und von dem auch die Einleitung und ein Anhang stammen.122 An beiden Stellen spricht er von seiner früheren Beschäftigung mit der Materie und einem größeren Werk, das er darüber verfasst habe und das seither verlorengegangen sei.123 Im Anhang geht es wiederholt um die Sprachfähigkeit des Menschen mit Bezug auf die Physiologie der ›Sprachwerkzeuge‹.124 Schließlich findet sich in Unzers Brief vom 30. Dezember 1772 noch eine weitere Spur eines aufgegebenen Vorhabens oder vielleicht sogar einer verschollenen Schrift: Unzer bedauert dort, dass Mauvillon sein »Project zur Tilgung der Christlichen Religion« aufgegeben habe: »Es gefällt mir kaum, daß Ihre Geliebte so fest an diesen Punkt hält. Billigkeit ist zu allen Dingen nütze. Sie brauchte ja deshalb nicht irreligiös zu sein, welches ich auch nicht leiden kann bei einem Mädchen.«125 Diese Sätze sind wohl so zu verstehen, dass Mauvillon seiner Verlobten und späteren Frau zuliebe, weil sie ernsthafte Bedenken hatte, von diesem Projekt Abstand nahm, es gewissermaßen auf Eis legte und es wahrscheinlich zum Teil in Das einzige wahre System der christlichen Religion (Berlin 1787) einfließen ließ. Göckingk teilte er bereits am 13. Juli 1783 mit, dass das Manuskript des einzigen wahren Systems für den Druck bereit liege,126 dennoch dauerte es bis zur Publikation noch weitere vier Jahre. || 121 ABL 3 (1773), S. 171. 122 Zoologie géographique, Premier Article, l’Homme, par Mr. Eberhard August Guillaume [Wilhelm] Zimmermann, Prof. d’hist. nat. à Bronsvic, Cassel 1784, S. I–XX (Einleitung) und S. 217–258 (Anhang). 123 Ebd., S. XIX und S. 223. 124 Diesen Begriff verwendet Mauvillon auch in seiner Rezension von Christian Gottlieb Selles Urbegriffen von der Beschaffenheit, dem Ursprunge und Endzwecke der Natur (Berlin 1776). In: ABL 10 (1776), S. 289–305, wo gleichermaßen die Sprachursprungsfrage berührt wird. 125 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 67. 126 Brief an Göckingk vom 13. Juli 1783, Murhardsche Bibliothek, 4° Ms. hist. litt. 37, fol. 11.

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Ein Auszug (mit leichten Änderungen) aus dem 20. Kapitel (»Abschweifung über die Natur und die Grundsätze einer wahren, vernunftmäßigen Moral«) erschien allerdings schon ein Jahr zuvor im Deutschen Museum.127 Sowohl Friedrich Schlichtegroll als auch Karl Schiller erwähnen ein ungedruckt gebliebenes religionskritisches Jugendwerk Mauvillons über die Trugschlüsse der christlichen Religion, das mit dem »Project zur Tilgung der Christlichen Religion« identisch sein könnte und welches, so Schlichtegroll, Mauvillon »als Handschrift an die Schraudersche [sic!] Buchhandlung in Amsterdam verkaufte; als aber diese bankeru[p]t machte, konnte dieses Manuscript aller Mühe ungeachtet, nicht wieder zum Vorschein gebracht werden«.128 Dass dieses Manuskript das gleiche Schicksal ereilt haben soll wie die »Meditation« ist nur schwer vorstellbar, aber durchaus möglich. In der Forschung herrscht diesbezüglich noch viel Unklarheit129 und fraglich bleibt, inwieweit man sich auf Schlichtegrolls Informationen bzw. jene von Mauvillons Witwe hier tatsächlich verlassen kann.130 Wie bereits dargelegt wurde, ist auch der von Mauvillons Sohn in Druck gegebene Briefwechsel in textkritischer Hinsicht völlig unzureichend ediert. Erschwerend kommt dabei hinzu, dass fast alle der von Friedrich Wilhelm Mauvillon publizierten Briefe als verloren angesehen werden müssen: Der Unzer’sche Briefwechsel wurde von Diez vernichtet und der Verbleib der meisten anderen Korrespondenzen ist unbekannt bzw. nicht mehr überprüfbar. Ein Brief allerdings, adressiert an den Schweizer Professor und Dichter Johann Jakob Bodmer, konnte in der Zentralbibliothek Zürich nachgewiesen werden, und es bietet sich mit ihm eine willkommene Vergleichsmöglichkeit mit der gedruckten Fassung des Schriftstücks an, um Aufschluss darüber zu erhalten, wie der Herausgeber des Briefwechsels mit dem Origi|| 127 Fragment aus einem größern Werke, worinnen die wichtigsten Verhältnisse des Menschen betrachtet werden, und welches binnen Jahr und Tag erscheinen dürfte. In: Deutsches Museum 1786, 2. Bd., 9. St., S. 214–240. 128 Friedrich Schlichtegroll: Nekrolog auf das Jahr 1794. 5. Jg. 1. Bd. Gotha 1796, S. 165; vgl. auch Karl G. W. Schiller: Braunschweig’s schöne Literatur in den Jahren 1745 bis 1800, die Epoche des Morgenrothes der deutschen schönen Literatur. Wolfenbüttel 1845, S. 143. 129 Vgl. Gisela Winkler: Die Religionsphilosophie von Jakob Mauvillon in seinem Hauptwerk Das einzige wahre System der christlichen Religion. Bochum 2000 (zugl. Diss. Bochum 2000), S. 141f., S. 144 und S. 154f. 130 Schlichtegroll bezog seine Informationen für den Nekrolog in erster Linie von Mauvillons Witwe, die wiederum, Unzers Brief vom 30. Dezember 1772 zufolge, dafür verantwortlich gewesen war, dass die heiklen Texte vorerst nicht gedruckt wurden. Sie könnte deshalb auch nach dem Tod ihres Mannes ein Interesse daran gehabt haben, sie als verschollen gelten zu lassen. Sicher ist, dass der Schreuder’sche Verlag spätestens ab 1775 faktisch insolvent war; andererseits aber waren die Trugschlüsse schon vorher druckfertig, und man kann sich deshalb kaum vorstellen, dass Mauvillon die 617 Seiten des Systems im Ganzen neu geschrieben haben sollte. Im Vorwort heißt es dort zudem, dass er die Schrift aus »seinem Pulte« geholt habe, wo sie bereits längere Zeit gelegen hätte ([Jakob Mauvillon:] Das einzige wahre System der christlichen Religion. Berlin 1787, S. I). Damit können nur die Trugschlüsse gemeint sein.

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nal umgegangen ist und inwieweit er in den Text eingegriffen hat. Konkret geht es um Mauvillons ersten Antwortbrief an Bodmer, nachdem dieser ein Schreiben an den Verleger Helwing als Herausgeber der Auserlesenen Bibliothek gerichtet hatte, »mit der Bitte[,] ihn an denjenigen Recensenten zu geben, dessen Recensionen das dabey gesetzte Zeichen haben«,131 womit derjenige Mitarbeiter gemeint war, der seine Beiträge mit der Ziffer 4. zu unterzeichnen pflegte. Über Helwing ist dann der Brief, datiert mit dem 30. Juni 1776, in Mauvillons Hände gelangt. In dem 1801 publizierten Briefwechsel sind neben diesem ersten Brief die unmittelbare Antwort Mauvillons und ein zweiter Brief Bodmers vom 19. Februar 1777 abgedruckt. In Zürich werden lediglich die Antwortschreiben Mauvillons aufbewahrt, und zwar vier an der Zahl, von denen nun ein Brief als Vergleichsgrundlage dienen kann. Auf den ersten Blick frappiert, dass der Herausgeber in der Druckfassung den Briefkopf einschließlich des Datums und der Anrede weggelassen hat: Der gedruckte Text beginnt schlicht mit »P. P.«. Stattdessen wird die höfliche Anrede »Verehrungswürdigster Herr« zwischengeschaltet, um so einen Absatz zu schaffen, der im Original nicht zu finden ist. Der Textvergleich zeigt weiter, dass für den Druck einzelne Wörter gestrichen und einige Sätze völlig umgestellt wurden. Dabei hat der Herausgeber auch Formulierungen benutzt, die im Original nicht vorhanden sind: Statt »u. ohngeachtet mir der Gedanke nie einfiel, daß ich im Stande sey etwas von so ausgebreiteter Dauer u. Würkung zu schreiben«, heißt es in der Druckfassung: »[...] und ohnerachtet ich mir nie die schmeichelhafte Hoffnung machen konnte, daß ich im Stande sey [...]«;132 und statt: »[...] denn die Apathie gegen wahren Ruhm u. Ehre ist eine falsche oder eine garstige Gesinnung. Die größten Männer auf Erden haben nicht geleugnet, daß sie unter die Haupttriebfedern ihrer Handlungen gehörten; u. warum sollte ich es nicht gestehn?« ist im Druck zu lesen: »Denn ich affectire nicht die falsche Apathie gegen wahren Ruhm und Ehre, die die größten Männer auf Erden, als eine der Haupttriebfedern ihrer Handlungen angeben.«133 Es handelt sich also weitgehend um stilistische Änderungen, aber recht erheblichen Ausmaßes. Die beiden hier zitierten Auszüge könnten durch weitere Beispiele ergänzt werden. Sie genügen jedoch, um einen Eindruck von den grammatischen, syntaktischen und stilistischen Modifikationen zu geben, die der Herausgeber an vielen Stellen des Textes vorgenommen hat. Viel gravierender ist, dass er am Ende eine entscheidende Information absichtlich weggelassen hat, die für den Leser von erheblichem Interesse gewesen wäre. Denn es geht dabei um den Anlass des Briefwechsels, um den eigentlichen Auslöser, der Bodmer dazu bewogen hat, Mauvillon als Rezensenten der Auserlesenen Bibliothek anzuschreiben. Es ist nicht, wie sich hätte vermuten lassen, die Besprechung eines Werkes des Schweizer Dichters, die man in den ent-

|| 131 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 182. 132 Ebd., S. 183. 133 Ebd., S. 184.

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sprechenden Bänden der Auserlesenen Bibliothek vergeblich suchen wird, sondern eine Rezension von Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste, deren zweiter Teil 1775 in Leipzig erschienen war.134 Entsprechend beendete Mauvillon seinen Antwortbrief mit folgenden Worten: Wollen Sie mich noch mehr bestärken, so schreiben Sie mir, u. thun Sie es nur direkte an meine Addresse die Sie auf dem Titelblatte in beykommenden Buch finden; u. sagen mir nur daß es Ihnen nicht misfällig gewesen ist, daß sich der Recensent von Sulzers Theorie der schönen Künste näher entdeckt hat; der die Ehre hat sich auf ewig zu nennen.135

Der Herausgeber hat diese Information wahrscheinlich deshalb eliminiert, damit der Leser nicht durch Nachschlagen in der Lemgoer Auserlesenen Bibliothek Mauvillons Chiffre hätte entdecken können, mit der er seinen Beitrag unterzeichnet hatte, was im Grunde genommen eine überflüssige Maßnahme gewesen ist, da Mauvillon selbst in der Lemgoer Bibliothek eine Spur zur Entdeckung seiner Chiffre gelegt hatte, die einem aufmerksamen zeitgenössischen Leser nicht entgangen sein wird. Nun ist jedoch das Auffinden des Antwortbriefes an Bodmer ein Einzelfall. Wir können nicht davon ausgehen, dass sich noch weitere Briefe aus Friedrich Wilhelms Sammlung im Original wiederfinden lassen.136 Zweifellos aber bietet Mauvillons Briefwechsel trotz aller unautorisierten Texteingriffe einen reichen Fundus an Hinweisen und Anhaltspunkten, die für die Erforschung des Gelehrtennetzwerkes, in dem sich Mauvillon bewegte, sowie für die Suche nach projektierten Unternehmungen und Übersetzungen und vielleicht auch für die Ermittlung verschollener Schriften genutzt werden können. Für die gemeinsam von Kevin Hilliard und mir in Angriff genommene Edition des Mauvillon’schen Briefwechsels stellen die Fehler und Auslassungen der bereits vorliegenden Druckfassung zweifellos eine große Herausforderung dar. Dennoch versprechen wir uns durch die möglichst vollständige Einbeziehung aller heute noch zur Verfügung stehenden Korrespondenzen viele neue Einsichten in das Denken und Wirken Mauvillons. Denn über den bereits gedruckten Briefwechsel hinaus können wir mittlerweile auf eine Vielzahl weiterer Schriftstücke mit Hinweisen auf vergessene oder verschollene Schriften zurückgreifen.

|| 134 Rez. zu Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. 2. Thl. Leipzig 1775. In: ABL 8 (1775), S. 350–386. 135 Zentralbibliothek Zürich, Hss., Magazin, MS Bodmer 4.13, Brief vom 29. Dezember 1776, 2v. 136 Friedrich Wilhelm Mauvillon war im Besitz vieler weiterer Briefe, doch ist unklar, von wem sie waren. Im Vorwort schreibt er: »Man wird nun zwar die Frage aufwerfen, sind denn dieses die einzigen Personen, mit denen Mauvillon correspondirte? Nein! er wechselte Briefe mit vielen andern; und ich besitze noch sehr viele derselben von verschiedenen Gelehrten, die ich auch zur Beförderung des Zwecks dieser Herausgabe sehr nöthig hielt; aber konnte ich wol, als Mann der Ehre, Briefe öffentlich bekannt machen von noch lebenden Männern, ohne erst dazu ihre Erlaubniß zu haben?« (Mauvillons Briefwechsel [s. Anm. 1], S. 18).

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Im Druck erschienen bislang außer den schon genannten Korrespondenzen zwei Briefe an den Nassau-Oranischen Justizrat von Knoblauch und an den Rath Cuhn in Kassel,137 drei Briefe an Friedrich Nicolai vom 1. Juli 1786, 8. Oktober 1787 und 18. März 1791,138 ein Brief an Christian Gottfried Schütz vom 23. April 1790,139 einzelne Briefe von Tempelhoff und Scharnhorst140 und schließlich ein erheblicher Teil des Briefwechsels mit Mirabeau (insgesamt 97 Schriftstücke).141 Doch die meisten archivierten Korrespondenzen Mauvillons warten noch auf ihre Veröffentlichung. Mit ihrer editorischen Aufarbeitung verbinden wir auch die gezielte Suche nach weiteren unbekannten Schriften und Aufsätzen Mauvillons. Erste Ergebnisse liegen bereits vor: So bekennt sich Mauvillon beispielsweise in einem Brief an Christoph Wilhelm Hufeland als Verfasser des Artikels »Betrachtungen über die Regierungsformen bei Gelegenheit der Waserischen Hinrichtung in Zürch«,142 während ein Brief an Nicolai vom 21. September 1786 auf den im Deutschen Museum publizierten Text »Fragment aus einem größern Werke« verweist.143 In seinem Brief vom 22. Juni 1788 an Nicolai144 kündigt Mauvillon dann einen Aufsatz mit dem Titel »Von

|| 137 Copia eines Schreibens von Obristlieutenant Mauvillon an den Nassau-Oranischen Justizrath v. Knoblauch in Dillenburg. d. d. Braunschweig den 13. May 1791 und Copia eines Schreibens vom Obristlieutenant Mauvillon an den Rath Cuhn in Cassel. d. d. Braunschweig den 13. May 1791. In: Eudämonia, oder deutsches Volksglük. Ein Journal für Freunde von Wahrheit und Recht, 2. Bd., 4. St. (1796), S. 295–297; Eudämonia, 2. Bd., 5. St. (1796), S. 431–434. 138 Briefe des Obrist-Lieutenants Mauvillon an Nicolai (Hg. von G[oeckingk].). In: Der Gesellschafter. Hg. von F. W. Gubitz. 7. Jg., 48. Blatt, 24. März 1823, S. 229f., 49. Bl., 26. März 1823, S. 238f. 139 Brief an Christian Gottfried Schütz vom 23.April 1790. In: Christian Gottfried Schütz. Darstellung seines Lebens, Charakters und Verdienstes, nebst einer Auswahl aus seinem litterarischen Briefwechsel mit den berühmten Gelehrten und Dichtern seiner Zeit. Hg. von Friedrich Karl Julius Schütz. 2. Bd. Halle 1835, S. 239f. 140 Briefe, ausgezogen aus einer Privat-Correspondenz der Generale Tempelhof[f] und Scharnhorst mit einem ihrer Freunde [d. i. Mauvillon]. In: Militairische Blätter, 5. Jg., 2. Bd., Essen 1824, S. 141– 152 [von Tempelhoff] und S. 153–162 [von Scharnhorst] [ND Gerhard von Scharnhorst. Private und dienstliche Schriften. Bd. 1: Schüler, Lehrer, Kriegsteilnehmer (Kurhannover bis 1795). Hg. von Johannes Kunisch. Köln, Weimar, Wien 2002, S. 94–96 und S. 220–224. [Auszug aus Briefen von Scharnhorst an Mauvillon.] In: Georg Heinrich Klippel: Das Leben des Generals von Scharnhorst. Nach größtentheils bisher unbenutzten Quellen. 3 Bde. Leipzig 1869–1871, Bd. 1, S. 153f. und S. 162f. 141 Briefe aus der Französischen Revolution. Ausgewählt, übersetzt und erläutert von Gustav Landauer. 1. Bd. Frankfurt a. M. 1922, S. 33–131. 142 Betrachtungen über die Regierungsformen bei Gelegenheit der Waserischen Hinrichtung in Zürch, und dessen was Hr. Prof. Meiners in seiner Reisebeschreibung davon sagt. In: Deutsches Museum 1785, 2. Bd., 10. St., S. 338–361; Mauvillons Brief an Christoph Wilhelm Hufeland vom 30. März 1791, vgl. ebenso Mauvillons Brief an Nicolai vom 21. September 1786 und Christian Konrad Wilhelm Dohm an Heinrich Christian Boie vom 8. Oktober 1785, dazu Walther Hofstätter: Das Deutsche Museum (1776–1788) und das Neue Deutsche Museum (1789–1791). Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Zeitschriften im 18. Jahrhundert. Leipzig 1908, S. 194. 143 Fragment aus einem größern Werke (s. Anm. 127). 144 Biblioteka Jagiellonska Krakau, Berol. Varnhagen-Sammlung 120, Mauvillon.

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der Würde der Gelehrten, in einem Brief an den Geh[eimen]. Rath Leuchsenring, bey Gelegenheit des Zimmermannschen Werks über den König« an, der ursprünglich für die Berlinische Monatsschrift gedacht war und drei bis vier Bogen umfassen sollte, doch konnte bislang weder eine selbständige Publikation unter diesem Titel noch ein entsprechender Zeitschriftentext gefunden werden. Mauvillons Briefe an Göckingk wiederum liefern zahlreiche Informationen über das Journal von und für Teutschland, für das er auch tätig war,145 und in einer »Nota« zum Brief vom 13.7.1783 an denselben Empfänger erklärt er seine Beweggründe zur Abfassung des wahren Systems der christlichen Religion, die für die Interpretation dieses Textes zweifellos von maßgeblicher Bedeutung sind.146 Als Rezensent der Auserlesenen Bibliothek macht Michael Hißmann dann Mauvillon als Bearbeiter der »Bemerkungen auf einer Reise von St. Petersburg nach der Crimm im J[ahr]. 1771 von dem Hrn. von – « namhaft.147 Die 1776 von Mauvillon anonym publizierte Schrift Vom Patriotismus der Deutschen, auf die ein Brief Dohms an Heinrich Christian Boie vom 20.3.1776 hinweist, hat Kevin Hilliard in diesem Band umfassend ausgewertet.148 Auch über Mauvillons Beschäftigung mit dem Theater ist Neues zu erfahren. Bereits für den von Raspe herausgegebenen Casseler Zuschauer (21 Stücke, Januar bis Mai 1772) lieferte Mauvillon zahlreiche Beiträge. Mit Wolfram Suchier dürfen wir vermuten, dass von Mauvillon diejenigen Texte stammen, die nicht mit dem Kürzel »Z.« unterzeichnet sind.149 Ein Brief von Dohm an Boie vom 11.3.1783 bringt Mauvillon als Verfasser eines weit umfangreicheren Textbeitrags zum Theater ins Spiel, der für eine Publikation im Deutschen Museum vorgesehen war, dort aber nie erschienen ist. Unter dem Titel »Schreiben des Herrn *** an einen Freund in Gotha, über die Grosmannsche Schauspielergesellschaft und ihre Vorstellungen in Cassel« wurde er schließlich in die Litteratur- und Theater-Zeitung aufgenommen.150 Mauvillon stand mit Gustav Friedrich Wilhelm Großmann (1746–1796), dem Direktor der Bonner Schauspielertruppe, in brieflichem Kontakt und die hier gedruckten Briefe

|| 145 Nachrichten von den Heßischen Samt-Hospitalien, besonders dem Kloster Marxhausen. In: Journal von und für Teutschland 1784, 1. St., S. 29–36; Schreiben über einen seltsamen Bußprediger. In: Journal von und für Teutschland 1784, 10. St., S. 225–227. Vgl. dazu den Brief an Goeckingk vom 13. Juli 1783, Murhardsche Bibliothek, 4° Ms. hist. litt. 37 [Mauvillon:11]. 146 Vgl. Winkler: Die Religionsphilosophie (s. Anm. 129), S. 352f. Dort ist allerdings nur die erste Seite der »Nota« wiedergegeben. 147 In: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur. Hg. von Georg Christoph Lichtenberg und Georg Forster. 1. Jg., 4. St., Göttingen 1780, S. 92–116 und S. 227–247; vgl. ABL 20 (1781), S. 356. 148 Vgl. Hofstätter: Das Deutsche Museum (s. Anm. 142), S. 56 und S. 64. 149 Vgl. Nachl. Suchier, Mappe »Mauvillon (Jakob). Bibliographie.« 150 Schreiben des Herrn *** an einen Freund in Gotha, über die Grosmannsche Schauspielergesellschaft und ihre Vorstellungen in Cassel. In: Litteratur- und Theater-Zeitung für das Jahr 1783, 2. Theil, Nr. 25, Berlin, den 21. Juni 1783, S. 385–398 und Nr. 26 vom 28. Juni 1783, S. 401–413; Nachl. Suchier, Mappe »Mauvillon 5. Jacob 2.« und Mappe »Mauvillon (Jakob). Bibliographie.«

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(wohl an H. A. O. Reichard) aus dem Jahr 1781 beziehen sich auf dessen neunwöchiges Gastspiel in Kassel, von dem Mauvillon ausführlich Bericht gibt. Darüber hinaus hat er, wie einer Anzeige in den Gothaischen gelehrten Zeitungen zu entnehmen ist, Großmanns Theaterstück Nicht mehr als sechs Schüsseln (1777 verfasst und 1780 in Bonn gedruckt) als Pas plus de six plats (Paris 1781) ins Französische übersetzt.151 Schließlich lassen sich auch neue Erkenntnisse über Mauvillons freimaurerische Aktivitäten gewinnen. Die französischen Beiträge »Sociétés secrètes« und »Illuminés en Bavière« aus Mirabeaus De la Monarchie prussienne sind der Forschung bereits bekannt.152 Hinzuzufügen wären noch die Übersetzung des zweiseitigen Stiftungsbrief des Eklektischen Freimaurerbundes, bearbeitet von Johann Karl Brönner, unterzeichnet von Simon Friedrich Künstner jun. und Christian Wilhelm Rotberg, ins Französische übertragen von Mauvillon (Frankfurt, Wetzlar 1783)153 sowie die »Einweihungs-Rede in der Loge zum Tempel der wahren Eintracht zu Cassel, gehalten den 6. des 11. 5784 [1784] (abgefaßt nach dem eclectischen Ritual von Mauvillon)« (Wetzlar, Ungewitter 1784).154 Damit beschließe ich meine Ausführungen über die der Mauvillon-Forschung bislang entgangenen Schriften und über die von ihm geplanten und aufgegebenen Projekte, ohne auf die kriegswissenschaftlichen Texte und die zahlreichen Rezensionen Mauvillons in der Allgemeinen deutschen Bibliothek, der Neuen Allgemeinen deutschen Bibliothek, der Jenaer Allgemeinen Litteraturzeitung und in diversen militärwissenschaftlichen Fachblättern einzugehen. (Dazu sei auf die Bibliographie im Anhang verwiesen.) Die hier sichtbar gewordenen Desiderate gilt es mit der Herausgabe ausgewählter Schriften Mauvillons sowie seines Briefwechsels aufzuarbeiten.

|| 151 Vgl. Gothaische gelehrte Zeitungen auf das Jahr 1781, 53. Stück, 4. Juli 1781, S. 440. 152 Vgl. Honoré Gabriel de Riquetti, Comte de Mirabeau: De la Monarchie prussienne sous Frédéric le Grand. Tome 5. Londres 1788, S. 58–110 in der Oktav-Ausgabe und Tome 3. Londres 1788, S. 464– 499 in der Quart-Ausgabe. 153 Die deutsche Fassung findet sich bei Erich Servati: Bruchstücke zur Geschichte der deutschen Freymaurerey. Basel 1787, S. 494–507; die franz. Fassung ist abgedruckt in: J.-P. Dubreuil: Histoire des francs-maçons. Bd. 2. Brüssel 1838, S. 6–16. 154 Nachgewiesen bei Georg Franz Burkhard Kloss: Bibliographie der Freimaurerei und der mit ihr in Verbindung gesetzten geheimen Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1844, S. 74 (Nr. 1054). Vgl. Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums (GV) 1700–1910. Bearb. unter der Leitung von Hilmar Schmuck und Willi Gorzny. Bd. 32: Ei–Els. München, New York, London, Paris 1981, S. 150. Dort unter dem Titel: Einweyhungs-Rede der ger. u. vollk. Loge zum Tempel der wahren Eintracht, gen Osten von Cassel. Gehalten den 6ten des 11ten Monats 5784. Wetzlar [1784]: Ungewitter 31 S. 8o. Hinzugefügt der Hinweis: »Selten. Über d. Notwendigkeit geheim. Verbindungen u. üb. d. Mittel zur Erhaltung des Frmrbundes.«

Martin Mulsow

Wie schreibt man die Geschichte der radikalen Spätaufklärung? Mauvillon im Kontext

1 Regalbretter Wilhelm David Fuhrmann war ein unscheinbarer Mann. Er hatte in den 1780er Jahren in Halle bei Semler und Nösselt Theologie studiert, aber auch Naturgeschichte, Mathematik, Philosophie und Theologie, und er fühlte sich sein Leben lang als Universalgelehrter.1 Zeitweilig arbeitete er in Münster als Bibliothekar, dann als Prediger in Hamm, in seiner Freizeit betätigte er sich als Pomologe, also als Fachmann für Äpfel und für Obst im allgemeinen; wir können davon ausgehen, dass er einen großen Garten besessen hat. Und eine große Bibliothek, sogar eine riesengroße: knapp 20.000 Bücher, das ist, wenn man sich das vorstellen möchte, eine große 6-Zimmer-Altbauwohnung vollgepfropft mit Büchern. Bücher aller Fachrichtungen, aber auch – und nur deshalb beginne ich hier mit Fuhrmann – mit einer exzellenten Sammlung clandestiner, heterodoxer, verbotener Schriften. Die Bücher sind aufgelistet in dem zweibändigen Auktionskatalog, der 1838 nach Fuhrmanns Tod veröffentlicht wurde.2 Man fragt sich, wo er das alles herhatte und wie er so viel Geld und Kennerschaft aufbringen konnte, diese hochseltenen Schätze anzuhäufen. Um nur einige Handschriften zu erwähnen, die er ergattert hat: das unikale Manuskript Der unbekannte Gott von Johann Christian Edelmann, das vorher der Orientalist Tychsen sein eigen nennen konnte, das heute in der Harvard-Andover-Bibliothek liegt und

|| 1 Zu Fuhrmann vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 8 (1878), S. 190f. Fuhrmann war theologischer Rationalist; seine eigentlichen Ansichten gingen wohl über seine veröffentlichten ein Stück hinaus. Das zeigt sein Handwörterbuch der christlichen Religions- und Kirchengeschichte (3 Teile. Halle 1826–1829; veranlasst und teilweise redigiert von August Hermann Niemeyer in Halle, der auch eine ausführliche Vorrede dazu schrieb); handschriftliche Ergänzungen dazu, in denen der Rationalismus des Fuhrmanns offenbar stärker als im gedruckten Werk deutlich wird, befinden sich in der StuUB Göttingen. Zur geistigen Situation der späten 1830er und 1840er Jahre vgl. Martin Mulsow: Die Wiederkehr der Radikalaufklärung im Vormärz: Kontinuitäten und Diskontinuitäten. In: Differenz und Wahrheit. Theologische Transformationen konfessioneller Glaubensreflexion im 19. Jahrhundert (1790–1914). Hg. von Markus Wriedt (erscheint 2022). 2 Bibliotheca Fuhrmanniana, oder Verzeichniss der von dem verstorbenen Prediger W. D. Fuhrmann hinterlassenen, äusserst reichhaltigen Bibliothek, welche den 13. April 1839 und folgende Tage zu Hamm in der Grafschaft Mark gegen gleich baare Zahlung meistbietend versteigert werden soll. 2 Bde. Hamm 1838. https://doi.org/10.1515/9783110793611-004

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noch immer ungedruckt ist;3 eine bis heute unbekannte deutsche Übersetzung der Mediationes des frühaufklärerischen Freidenkers Theodor Ludwig Lau;4 eine bis heute unbekannte deutsche Übersetzung von Helmonts Seder Olam;5 ein Exemplar des Colloqium heptaplomeres von Jean Bodin; natürlich die Schrift De tribus impostoribus in ihrer lateinischen und ihre Historie in einer französischen Fassung; das Examen de la Religion von du Marsais; das Autograph von Hermann von der Hardts rationalistischen Bibeldeutungen von Bileam und weiteren Episoden, dazu Manuskripte von Servetus, Blount und diversen anderen Autoren.6 Eindrucksvoller noch sind seine Regalbretter voll unzähliger heterodoxer Drucke, darunter als Nummer 11565 Jakob Mauvillons Das einzig wahre System der

|| 3 Ebd., Bd. 2, S. 595 unter »Manuskripte in Oktavo«: »49. Der unbekannte Gott von J. C. Edelmann. Sehr seltene, 342 S. starke Handschrift dieses nie gedruckten Buches eines der merkwürdigsten Freidenker. Ldrbd.« Vgl. heute: Harvard Andover Theological Library, bMS 503/1. Hermann Stockinger, der eine Edition des Textes vorbereitet, hat gezeigt, dass der Titel irreführend ist, dass er vielmehr »Quedlinburgisches Nachdenken« heißen müsste, da es um eine Auseinandersetzung Edelmanns mit den Radikalpietisten in Quedlinburg geht. Ich danke Hermann Stockinger für die Auskunft. 4 Ebd.: »48. Philosophische Gedanken über Gott und die Welt. von Th. Ludw. Lau. Schöne Handschr. aus der Mitte vorigen Jahrh. Frzbd.« Vgl. Theodor Ludwig Lau: Meditationes philosophicae de Deo, Mundo, Homine (1717). Meditationes, Theses, Dubia philosophico-theologica (1719). Dokumente. Mit einer Einleitung herausgegeben von Martin Pott. Stuttgart 1992. 5 Ebd.: »Helmont, Seder Olam, oder historische Lehre von der Ordnung der Zeitläuffte, übers. von C. D. F. Hoffkuntz. 1660. 330 S. Ppbd.« Die Angabe »1660« kann natürlich nicht stimmen. Christian Daniel Hoffkuntz aus Torgau war ein Pietist, der in Briefkontakt mit August Hermann Francke stand; in einer Valediktionsrede von Gymnasialrektor Gottfried Steinbrecher (De tribus vitiis capitalibus. Torgau 1711) bezieht sich dieser auch auf Hoffkuntz als Absolventen. Jürgen Dinter (Köln) schreibt in seinem Antiquariatskatalog anlässlich einer Ausgabe von Franciscus Mercurius van Helmont: Seder Olam sive Ordo Seculorum, historica enarratio doctrinae. s.l., s.a. [1693], »Die Zitate stammen aus einer um 1700 angefertigten Übersetzung ins Deutsche, die mir als Manuskript vorliegt.« 6 Ebd. S. 593 zu [Jean Bodin]: Colloquium heptaplomeres (in folio), S. 594: »Geschichte des Bileam’s, der Füchse und der Eselskinnbacke Simson’s, der Raben des Elias und des Antichrists. 1707. Scheint eine Originalhandschrift Herm. V. der Hardt’s zu sein.« Das könnte sein, wenn Hardt die Schriften, die auf Französisch erschienen, zunächst auf Deutsch verfasst hat. Vgl. [Hermann von der Hardt:] Histoire de Bileam; Renards de Samon; Machoire d’Ane; Corbeus d’Elie; L’antichrist. [Helmstedt] 1707. Dazu Wilhelm Brambach: Gottfried Wilhelm Leibniz: Verfasser der Histoire de Bileam: mit Vollständigem Abdruck der Histoire de Bileam in der von Leibniz gebilligten Form. Leipzig 1887. Die Fuhrmann vorliegende Handschrift ist nicht weiter bekannt. Ebd: »Serveti dialogorum de trinitate libri duo. Manuscr. aus dem Anf. des vor. Jahrh. Ppbd.« »Serveti de trinitatis erroribus libri VII. Manuscr. aus dem Anf. des vor. Jahrh. 169. S. stark.« Ebenfalls: »Examen de la religion. Manuscr. aus der Mitte des vor. Jahrh. Ppbd.« Ebenfalls: »De imposturis religionum breve compendium. Handschrift aus dem Anf. des vor. Jahrh. Br.«, S. 595: »Histoire du fameux manuscrit de tribus impostoribus. Manuskr. vom J. 1741.« »Blount the oracles of reason. Handschrift aus dem Anf. des vor. Jahrh. Ldrbd.« »Eiusd. Anima mundi or an historical narration of the ancients concerning mans [!] soul after this life. Handschr. Aus derselben Zeit. Ldrbd.«

Wie schreibt man die Geschichte der radikalen Spätaufklärung? | 87

christlichen Religion von 1787.7 Uns interessiert hier die Umgebung, in der dieses Buch steht. Denn: So etwas wie »Radikalaufklärung« oder »Untergrundliteratur« entsteht zunächst einmal im Auge des Betrachters, genauer beim Sortieren der Büchersammler, denn sie sind in erster Linie diejenigen, die in der Vielfalt des Gedruckten das zueinander gehörige wahrnehmen.8 Da darf man den Connoisseurs vertrauen, und Fuhrmann war zweifellos ein Connoisseur. Solche Männer hatten, das zeigt die Erfahrung, immer einige Regale für so etwas wie »Rares«, »Verbotenes« oder gar »öffentlich Verbranntes« reserviert.9 Was also stand links und rechts neben Mauvillon, vor allem an Büchern des späten 18. Jahrhunderts, denn das ist es, was uns hier angeht: Wie bestimmt man so etwas wie den radikalen Rand der deutschen Spätaufklärung? Welche Autoren, welche Titel sind da zu nennen? Und wie standen diese Autoren zueinander in Beziehung? Schauen wir also auf die Seiten 395 bis etwa 415 im Auktionskatalog, wo nach der Sektion über Frauen, Misogynie und Erotik die heterodoxen Schriften beginnen und dann langsam in andere Felder wie Schwärmertum übergehen; das sind rund 400 Titel.10 Schon ein kurzer Blick auf die deutschen Werke, die neben all den Helvetius, Voltaire, Boulanger, La Mettrie, d’Argens, und wie die Franzosen alle heißen, und neben den älteren lateinischen Schriften und denen der englischen Deisten auftauchen, zeigt uns, dass wir es in den 1780ern und 90ern mittlerweile mit einem publizistischen Breitenphänomen zu tun haben, das als solches noch völlig unerforscht ist. Es grenzt an die Grauzone der skandalösen Trivialromane und der pornographischen Literatur, die ebenfalls in ihrer ganzen Weite kaum überschaubar ist.11 So auch die antireligiöse Literatur.12 Wer kennt denn den anonymen Roman von

|| 7 Ebd. S. 401. [Jakob Mauvillon:] Das einzige wahre System der christlichen Religion. Berlin 1787. 8 Vgl. Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2007, S. 232–236; Martin Mulsow: Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720. 2 Bde. Göttingen 2018. 9 Vgl. auch Martin Mulsow: Die Transmission verbotenen Wissens. In: Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert. Hg. von Ulrich Johannes Schneider. Berlin 2008, S. 61–80. 10 Bibliotheca Fuhrmanniana (s. Anm. 2), Bd. 2, Nr. 11427 bis ca. 11800. 11 Die einschlägige Bibliographie ist hier Hugo Hayn und Alfred N. Gotendorf: Bibliotheca Germanorum Erotica et Curiosa. Verzeichnis der gesamten deutschen erotischen Literatur mit Einschluß der Übersetzungen nebst Beifügung der Originale. Zugleich dritte, ungemein vermehrte Auflage von Hugo Hayns »Bibliotheca Germanorum Erotica«. 9 Bde. München 1912‒1929, die auch viele der antireligiösen Schriften verzeichnet. Einer der besten heutigen Kenner ist Dirk Sangmeister, der mit mir zusammen zwei Sammelbände herausgegeben hat, die diese graue Literatur untersuchen. Vgl. Dirk Sangmeister, Martin Mulsow (Hg.): Subversive Literatur Erfurter Verlage und Autoren im Zeitalter der Französischen Revolution. Göttingen 2014; dies. (Hg.): Deutsche Pornographie in der Aufklärung. Göttingen 2018. 12 Hier tut sich ein Feld auf, das mir fast gänzlich unbearbeitet scheint, da sich zwar Germanisten zumindest gelegentlich mit der grauen schönen Literatur befassen und Theologen gelegentlich mit der seriösen religionskritischen Literatur, aber die graue religionskritische Literatur – die, wenn

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1786, Der Einsiedler in Helsa,13 oder Heinrich Kellers, eines Schauspielers und Schriftstellers anonyme Schrift Über Pfaffrei und Religion von 178314, die anonymen Biographien aus der Bibel von 1785,15 die gegen Niemeyers Charakteristik gerichtet waren, die Aphorismen am Grabe der Theologie kurz vor Einsenkung der Leiche von 180216, den Brief des heiligen Jambres in Elysium an seinen Freund Jannes, im Limbus der Väter, den schwarzen Mann auf dem Berge Sinai betreffend von 1786,17 die Philosophischen Abendstunden vom Koche des Königs von Preußen, […] übersetzt und mit Anmerkungen versehen von einem Illuminaten von Bayern aus dem Jahr 1786,18 die in Wahrheit eine Koproduktion des Grafen von Schwerin mit dem Laukhard-Freund Franz Heinrich Bispink waren, Carl Venturinis anonyme Peripatetiker des achtzehnten Jahrhunderts von 1795,19 die Natürliche Religion nach Ursprung, Beschaffenheit und Schicksalen von 1789,20 Friedrich Maximilian Klingers anonyme Geschichte vom goldenen Hahn. Ein Beytrag zur Kirchenhistorie von 1785,21 Die gesunde Vernunft, oder die übernatürlichen Begriffe im Widerspruch zu den natürlichen von 1788, und so weiter und so fort?22 Um reißerische und phantasievolle Titel war diese Art von Literatur nie verlegen, auch wenn die Inhalte oft den Titeln nicht standhielten. Es ist aber Fuhrmanns Kennerblick, und nur der Blick von Zeitgenossen wie ihm, die es uns überhaupt möglich machen, diesen Publikationsbereich noch und wieder wahrzunehmen. Immerhin sind dazwischen auch Namen und Titel genannt, die bereits auf dem Radar der Forschung existieren. Es gibt etliche Bücher von Andreas Riem in Fuhrmanns Regalen, dem Ultra-Neologen und frühen Demokraten, etwa Philosophische Untersuchungen über das Alte Testament und dessen Göttlichkeit von 1785,23 Neues System der Natur,24 Das reinere Christentum von 178925 und Christus und die Vernunft von 1792,26 außerdem Titel von Johann Heinrich Schulz, dem sogenannten »Zopfschulz«, einem Deisten und Querkopf, Pfarrer im märkischen Gielsdorf, der sich

|| nicht Trivialliteratur, so doch populäre Literatur der Religionskritik – scheint bisher durch alle Wahrnehmungsraster gefallen. 13 Bibliotheca Fuhrmanniana (s. Anm. 2), Bd. 2, Nr. 11469. 14 Ebd., Nr. 11456. 15 Ebd., Nr. 11455. 16 Ebd., Nr. 11472. 17 Ebd., Nr. 11475. 18 Ebd., Nr. 11486. 19 Ebd., Nr. 11490/91. 20 Ebd., Nr. 11492. 21 Ebd., Nr. 11511. 22 Ebd., Nr. 11531. 23 Ebd., Nr. 11564. 24 Ebd., Nr. 11748. 25 Ebd., Nr. 11571‒11575. 26 Ebd., Nr. 11570.

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weigerte, beim Predigen eine Perücke zu tragen, und dem 1791 der Prozess gemacht wurde;27 weiter Vom historischen Glauben und die Betrachtungen über die Religion von Christian Tobias Damm, Philologe und Rektor des Köllnischen Gymnasiums zu Berlin, Freund von Nicolai und Mendelssohn.28 Schauen wir auf andere Titel links und rechts von Mauvillon. Die von Lessing veröffentlichten Reimarus-Fragmente sind vorhanden und auch der anonyme Horus von Christian Ernst Wünsch aus dem Jahr 1783, in dem die mosaischen Texte der Bibel als Missverständnisse allegorischer Sterndarstellungen kritisiert werden.29 Dann hat Fuhrmann sehr viele Titel von Christian Ludwig Paalzow in seinem Regal, dem Beamten im Kriegsministerium und dann Kammerfiskal, der heimlich, und ohne dass das groß bekannt wurde, der wohl effektivste Vermittler von materialistisch-atheistischem französischen Gedankengut nach Deutschand gewesen ist: sein Hierokles von 1785 findet sich da,30 ebenso wie dessen extrem seltener Nachfolgeband Porphyrius,31 beides Kompilationen aus clandestinen Schriften von Levesque de Burigny, Fréret und Holbach, in Dialogform gegossen, indem sich Theologen wie die Göttinger Leß und Michaelis angeblich mit Atheisten wie Fréret unterhalten und dabei den Kürzeren ziehen.32 Aber auch Paalzows andere Schriften wie die seltsame Parodie der Gewißheit der Beweise des Apollinismus zu Apollonius von Tyana finden sich da und die unkenntlich gemachten Holbach-Übersetzungen Geschichte der menschlichen Ausartung und Verschlimmerung durch das gesellschaftliche Leben und die Geschichte der religiösen Grausamkeit, ebenso wie Freret über Gott, Religion und Unsterblichkeit – insgesamt eine fast vollständige Sammlung von Paalzows Untergrundtätigkeit.33 || 27 Ebd., Nr. 11476, 11480. Vgl. Andreas Menk: Johann Heinrich Schulz – »Meteor an dem Kirchenhimmel der Mark von Deutschland«: über eine personelle Konstellation der Ermöglichung radikaler Religionskritik im spätfriderizianischen Preußen. In: Radikale Spätaufklärung in Deutschland. Hg. von Martin Mulsow und Guido Naschert. (Aufklärung 24.) Hamburg 2012, S. 135–171. 28 Ebd., Nr. 11515–11517. 29 Ebd., Nr. 11566. 30 Ebd., Nr. 11569. 31 Ebd., Nr. 11568. 32 Vgl. Martin Mulsow: Christian Ludwig Paalzow und der clandestine Kulturtransfer von Frankreich nach Deutschland. In: Geheimliteratur und Geheimbuchhandel im Europa des 18. Jahrhunderts. Hg. von Christine Haug und Winfried Schröder. Wiesbaden 2011, S. 67–84; ders.: Deutscher Deismus der Spätaufklärung. In: Gestalten des Deismus in Europa. Hg. von Winfried Schröder. Wiesbaden 2013, S. 161–202; ders.: »Vom Verfasser des Hierokles«. Christian Ludwig Paalzow als Autor von Vollmers Verlag. In: Subversive Literatur Erfurter Verlage und Autoren im Zeitalter der Französischen Revolution. Hg. von Dirk Sangmeister und Martin Mulsow. Göttingen 2014, S. 277– 295; ders.: Paalzow, Lessing und die ›Historische Einleitung in die Offenbarung Johannis’. In: Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Hg. von Christoph Bultmann und Friedrich Vollhardt. Berlin 2011, S. 337–350. 33 Bibliotheca Fuhrmanniana (s. Anm. 2), Bd. 2, Nr. 11602, 11477, 11603 und Bd. 1, Nr. 5131 (letzteres versehentlich unter die rechtgläubigen Bücher eingeordnet).

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All das sind kritische Denker, die von Berlin und Umgebung aus operierten, und man sieht schnell, wie sehr die Szene in Preußen in der Spätaufklärung gegenüber anderen Regionen heraussticht, auch wenn in Sachsen, im Badischen oder sogar im katholischen Raum gelegentlich in dieser Richtung publiziert wurde; Wekhrlin mag stellvertretend für die süddeutschen Aktivisten genannt sein.34 Mauvillon in Kassel und dann in Braunschweig ist topographisch am Rande des preußischen Einflussgebietes zu sehen, aber seine Zusammenarbeit mit Mirabeau über die preußische Monarchie setzt ihn natürlich mitten in die unbequeme Berliner Szenerie, eine Szenerie, die selbst zu Lebzeiten Friedrichs des Großen und weitgehender Toleranz der Zensur bestanden hatte, vor allem aber nach 1786 sich ausdehnte, als immer weniger offen gesagt werden konnte.35

2 Wie lässt sich die Geschichte der radikalen Spätaufklärung schreiben? Durch Fuhrmanns Bibliothek haben wir einen ersten Blick von außen auf das in Frage stehende Feld erhalten, der noch völlig additiv ist und nichts über echte Zusammenhänge aussagt. Wenn wir nun aber die Frage stellen »Wie lässt sich die Geschichte der radikalen Spätaufklärung schreiben?«, dann heißt es, die Perspektive umzukehren, und jetzt nicht die Beobachter-, sondern die Akteursperspektive zu rekonstruieren. Wie sah es »von innen« aus, wenn man Teil der religiös-politisch radikaleren Szene war? Wie hat man selbst diese Szene wahrgenommen, wie sich in ihr orientiert? Ein Forschungsprogramm, das sich durch die eben vorgestellten Titel nahelegt, will ich erst einmal beiseitelassen: Das wäre, die ganze Breite der radikalen Literatur, die in Trivialliteratur, Romane, Pamphlete, ja sogar Lieder und Karikaturen hineinreicht, zu kartieren und in ihrem Zusammenhang zu studieren.36 Das ist mir schlicht eine Nummer zu groß. Man kann Stippvisiten in solche Fragestellungen hinein machen, etwa wie Dirk Sangmeister und ich es anhand der Verlage einer einzigen Stadt, Erfurt, und nur in den 1790er Jahren, getan haben;37 und auch wie wir es annäherungsweise für das Feld der pornographischen Literatur – mit ihren

|| 34 Vgl. Jean Mondot: W. L. Wekhrlin. Un publiciste des lumières. 2 Bde. Bordeaux 1986; Jürgen Wilke: Spion des Publikums, Sittenrichter und Advokat der Menschheit. Wilhelm Ludwig Wekhrlin (1739–1792) und die Entwicklung des Journalismus in Deutschland. In: Publizistik 38 (1993), S. 322– 334. 35 Vgl. allg. Edoardo Tortarolo: La ragione sulla Sprea. Coscienza storica e cultura politica nell'Illuminismo berlinese. Bologna 1989, bes. S. 273–287: »L’illuminismo degli esclusi«. 36 Vgl. oben, Anm. 12. 37 Sangmeister, Mulsow (Hg.): Subversive Literatur (s. Anm. 11).

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Querbezügen zur Religionskritik – unternommen haben.38 Aber die gesamte Szenerie, auch nur für das Preußen zwischen 1780 und 1800, das wäre eine gigantische Aufgabe; es ist keineswegs gesagt, dass es einem gelänge, alle Anonyme und Pseudonyme zu entschlüsseln; und selbst wenn, hätte man oft Figuren vor sich, über die fast kein Material vorliegt, sodass Fragen danach, wer mit wem Umgang hatte, kaum zu beantworten wären. Ich skizziere hier daher nur etwas sehr viel kleiner Dimensioniertes: eine Kartierung der Kontakte und Aktionen der zentralen, etwas bekannteren Köpfe der radikalen Spätaufklärung, insbesondere in den norddeutsch-protestantischen Gebieten. Wichtig ist mir dabei, das sei gleich gesagt, dass die Kartierung deutlich weiter geht als nur das Rekonstruieren sozialer Netzwerke. Denn damit allein ist noch nicht viel erreicht – zu früh wird hier oft haltgemacht. Was eigentlich in den Blick kommen sollte, sind die Aktionsmöglichkeiten, der Handlungsspielraum, die Wirkungsmacht von Personen, all das, was im englischen Begriff der »agency« zusammengeht.39 Erst wenn man die Agency ‒ sagen wir: eines Mauvillon ‒ richtig versteht, kann man seine Kontaktaufnahmen und Handlungen nachvollziehen, ihren Sinn innerhalb von Erfahrungen, Werten und Taktiken einordnen. Diese Kategorie der »agency« ist in der akteurszentrierten Mikro-Historiographie nichts Besonderes. Ich möchte aber einen zweiten Begriff einführen, der schon eher ungewöhnlich in diesem Feld ist: den der Resonanz.40 Ich habe immer wieder festgestellt, dass emotionsgeschichtlich es für Außenseiter und Radikale von enormer Wichtigkeit gewesen ist, einen Resonanzraum für ihre – im Sprachgebrauch der Zeit: »paradoxen« – Ansichten zu finden, ein echtes Gegenüber, eine Kleingruppe, in der sie sozusagen auftanken konnten, um dann wieder in die Welt zu gehen, wo sie entweder dissimulieren müssen, wie ein Paalzow oder ein Reimarus, oder kämpferisch sich durchschlagen, wie ein Bahrdt, ein Edelmann, ein Schulz. Bei Resonanz sollte man vielleicht unterscheiden, ob es Resonanz unter Anwesenden ist, also in einer Gruppe von Freunden, einem Lesezirkel, einer FreimaurerVersammlung – das würde ich Nahresonanz nennen – oder ob es Resonanz unter Abwesenden ist, so wie man im 18. Jahrhundert vor allem über Briefe Freundschaften herstellte und aufrechterhielt. Ich treffe diese Unterscheidung im Hinblick auf Rudolf Schlögls Begriff einer Vergesellschaftung unter Anwesenden, die er für die Frühe Neuzeit für charakteristisch hält, und der Vergesellschaftung unter Abwesenden, die ich danebengestellt habe, um die besondere Situation von clandestinen || 38 Sangmeister, Mulsow (Hg.): Deutsche Pornographie (s. Anm. 11). 39 Die Literatur über Agency ist gewaltig. In der Geschichtsschreibung hat sie sich im Anschluss an Arbeiten wie etwa die von Edward P. Thompson: Plebejische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1980 oder Natalie Z. Davis: Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Frankfurt a. M. 1987 etabliert. 40 Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016.

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Verhältnissen abzubilden: Unter anonym operierenden Radikalen oder Geheimgesellschaftlern mit Decknamen ist es schwer, eine Verbindung herzustellen, denn selbst wenn die Person neben mir anwesend ist und ich ihren Namen kenne, erkenne ich vielleicht nicht, dass es sich um den Autor einer berüchtigten Schrift oder um einen Illuminaten handelt.41 Vergesellschaftung unter Abwesenden kann also entweder die räumliche Ferne oder die soziale Ferne durch Opakheit meinen. Diese Opakheit weist auch auf weitere Begriffe hin, die wir uns zurechtlegen müssen, um die Agency von Akteuren am radikalen Rand zu erfassen. Wir haben ihre spezifischen Praktiken und Taktiken zu erkennen, etwa wie sie publizieren oder nichtpublizieren, oder auch wie sie mit der eigenen Prekarität umgehen, also der Tatsache, dass die eigene soziale Existenz und auch der verschwiegene Wissensbestand unsicher waren und verloren gehen konnten.42 Es mag darüber hinaus sinnvoll sein, die »moralische Landkarte« der Spätaufklärer zu rekonstruieren. Darunter versteht Charles Taylor ein Panorama all der Dinge, die den Aufklärern wirklich wichtig waren, für die sie starke Wertungen entwickelt haben, etwa Vorurteilsfreiheit, Partizipation oder Freundschaft.43 Man kann das mit einer Analyse ihrer »dichten Begriffe« verbinden, der »thick concepts«, bei denen Beschreibung und Bewertung eng miteinander verknüpft sind und die daher gleichermaßen deskriptive wie normative Aspekte enthalten.44 Ein Beispiel wäre die »Vervollkommnung der Menschheit« oder der »Jesuitismus«. Außerdem spielt das Selbstverständnis der Radikalen eine nicht geringe Rolle: haben sie sich als Drifter gesehen, die eher passiv den Unbilden der Kirche, des Absolutismus, der Polizei und der Zensur ausgesetzt waren, oder als Surfer, die ihren Verfolgern stets ein Schnippchen schlugen und jede neue Möglichkeit, in ein momentan zensurfreies Territorium zu wechseln, mit Triumphgefühl annahmen?45 Bei all dem sollte natürlich nicht vergessen werden, ganz traditionell nach den Inhalten und Gehalten der Vorstellungen dieser Personen zu fragen, ihre Argumente ernst zu nehmen und deren Eigenständigkeit oder Abgeleitetheit zu prüfen. Man kann erst in dieser ideengeschichtlichen Sicht bestimmte Transformationen von || 41 Rudolf Schlögl: Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. In: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155–224; Martin Mulsow (Hg.): Kriminelle – Freidenker – Alchemisten. Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit. Köln 2014, S. 9–14. 42 Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere Geschichte der Frühen Neuzeit. Berlin 2012. 43 Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt a. M. 1994. 44 Bernard Williams: Ethik und die Grenzen der Philosophie. Hamburg 1999, S. 197f. Vgl. auch Hilary Putnam: The Collapse of the Fact / Value Dichotomy and Other Essays. Cambridge, Mass. 2002 und John McDowell: Non-cognitivism and rule following. In: ders.: Mind, Value, and Reality. Cambridge, Mass. 1998, S. 198–218. 45 Zu dieser Begrifflichkeit vgl. Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2000. Ich habe sie adaptiert in: Die unanständige Gelehrtenrepublik (s. Anm. 8), S. 200–204.

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Radikalität wahrnehmen, die vielleicht gar kein soziales Korrelat gehabt haben, aber zum Beispiel einen Übergang von radikalem Wolffianismus zu radikalem Kantianismus zeigen, ein Auswechseln der Munition sozusagen.46

3 Die Aktivitäten der radikalen Spätaufklärer Das sind viele verschiedene Konzepte, und ich werde sie gar nicht alle anwenden können, wenn ich nun in diesem Sinne einige wenige der Protagonisten der radikalen Spätaufklärung in Deutschland durchgehe, die uns von der Beobachterseite der Büchersammler her aufgefallen sind. Welche Handlungsmöglichkeiten und Aktionsräume gab es bei ihnen? Wie haben sie selbst Beziehungen hergestellt, die sie auch aktiv zu einem Teil eines radikalen Milieus gemacht haben? Welche »moralischen«, nämlich kognitiv-evaluativen Landkarten und Orientierungsmaßstäbe haben sie dabei benutzt, und welche Resonanzsphären haben sich ergeben?47 Beginnen wir mit Karl von Knoblauch, einem Hofbeamten aus verarmtem Landadel im hessischen Dillenburg, der in den späten 1780er und frühen 1790er Jahren anonyme Beiträge in diversen Aufklärungszeitschriften verfasst hat, die meist der Wunder- und Aberglaubenskritik gewidmet waren.48 Aber auch eine Reihe von

|| 46 Vgl. Martin Mulsow: Deismus. Radikale Religionskritik. In: Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Hg. von Helmut Holzhey und Vilem Mudroch. Basel 2014, Bd. 5, S. 345–369, hier S. 353f. Außerdem Martin Mulsow und Guido Naschert: Geheimbünde und radikaler Kantianismus. Unberücksichtigte Diskussionszusammenhänge und Konstellationen im Umkreis der klassischen deutschen Philosophie. In: Selbstbewusstsein. Dieter Henrich und die Heidelberger Schule. Hg. von Manfred Frank und Jan Kuneš. Stuttgart 2022, S. 443‒468. 47 Mein Ansatz unterscheidet sich dezidiert zum auch möglichen Ansatz bei Zensur und Unterdrückung durch staatliche und kirchliche Institutionen, bei denen den Radikalaufklärern in gewisser Hinsicht automatisch die passive Opferrolle zugewiesen wird. Zur Zensur vgl. etwa das verdienstvolle Buch von Wilhelm Haefs, York-Gothart Mix (Hg.): Zensur im Zeitalter der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis. Göttingen 2007. Vgl. auch die Diskussion in: Global Intellectual History (2020) zwischen Thomas Gruber und mir. Gruber: Labyrinthine radicality: in dialogue with Martin Mulsow’s Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720; Mulsow: Radical enlightenment in early eighteenth century Germany – a reply to my critics. Außerdem unterscheidet er sich vom Ansatz, der die Zuschreibungen von Radikalität durch Orthodoxe (im Sinne von Feindbildern) untersucht. Vgl. dazu Björn Spiekermann: Der Gottlose. Geschichte eines Feindbilds in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2020. 48 Zu Knoblauch gibt es jetzt eine ausführliche Analyse in Maximilian Lässig: Radikale Aufklärung in Deutschland. Karl von Knoblauch, Andreas Riem und Johann Christian Schmohl. Berlin 2020. Zur Biographie dort S. 20–67, zum Werk passim. Lässig trifft die kluge Entscheidung, die radikale deutsche Spätaufklärung zu untersuchen, indem er exemplarisch drei Werkkomplexe auswählt, die er miteinander vergleicht und durch die Themenfelder Religion, Gesellschaft und Wirtschaft verfolgt. Das hat den Vorteil, dass radikales Denken in den 1770er und 1780er Jahren in seiner ganzen inhaltlichen Breite transparent wird – was in der bisherigen Forschung kaum der Fall war. Freilich han-

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schmalen anonymen Monographien in geringen Auflagen hat dieser Spinozist und Materialist herausgebracht; sie sind so selten, dass sie nur in wenigen Bibliotheken vorhanden sind. Knoblauch klagt immer wieder – nicht zuletzt in seinen Briefen an Mauvillon – über seine Isoliertheit und Einsamkeit in der hessischen Provinz; in seiner moralischen Landkarte steht ein authentisches Leben in einer nicht von Fürsten dominierten Gesellschaft ganz oben, daher sympathisiert er nach 1789 stärkstens mit der Französischen Revolution.49 Nun lässt sich beobachten, dass sich Knoblauch zumindest Fernresonanz durch aktives Korrespondenz-Handeln verschafft hat. Er schreibt im August 1791 ganz von sich aus an den von ihm als Autor des Aufsatzes über den Genius des Sokrates bewunderten Mauvillon: »Euer Hochwohlgeboren verzeihen die Freyheit, die ein Ihnen völlig unbekannter sich nimmt, Sie mit einem Schreiben zu belästigen.«50 Diese »Freyheit« ist genau die Agency, mit der er aus der Isolierung ausbricht und zumindest über wenige Jahre, bis zu seinem frühen Tod 1794, auf eine resonante Beziehung mit einem Gleichgesinnten trifft, dem er sich öffnen kann. Dasselbe hat Knoblauch schon zuvor mit mindestens zwei anderen Freidenkern gemacht. 1788 eröffnet er einen Briefwechsel mit Karl Friedrich Bahrdt, mit den Worten: […] Ich hoffe […] der Ehre würdig zu seyn, der Ihrigen einer zu werden. Daß ich alle meine Kräfte angewendet habe, das unselige Reich des Aberglaubens und der Vorurtheile zu bekämpfen, dafür mögen so viele anonyme Aufsätze von mir im Teutschen Merkur, dem Grauen Ungeheuer, den Hyperboräischen Briefen, und einige kleine Schriften zeugen […].51

Die eigenen Schriften werden als kulturelles Kapital ins Spiel gebracht, das im radikalen Milieu – aber auch nur dort – in soziale Beziehungen und Anerkennung umgesetzt werden kann. Und auch Johann Heinrich Schulz, den »Zopfschulz«, hat Knoblauch offenbar von sich aus angeschrieben, um Resonanz zu bekommen, entweder nach dessen Veröffentlichungen, wie etwa dem Erweis des himmelweiten Unterschiedes der Moral || delt es sich aber auch nur um drei Denker; eine Analyse von Dutzenden von Theoretikern und ihren komplizierten, oft opaken Beziehungen zueinander kann das Bild, das Lässig zeichnet, durchaus noch verändern. 49 Knoblauch an Mauvillon. In: Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzogl[ichen]. Braunschweigschen Diensten verstorbenen Obristlieutenant Mauvillon. Gesammelt und herausgegeben von seinem Sohn F[riedrich Wilhelm]. Mauvillon. Deutschland [d. i. Braunschweig]1801, S. 190–230. Vgl. auch Martin Mulsow: Karl von Knoblauch und Georg Friedrich Werner als Materialisten. Eine Gießen-Dillenburger Konstellation. In: Aufklärung 24 (2012), S. 91– 112. 50 Knoblauch an Mauvillon, 10. August 1791. In: Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 49), S. 190. 51 Knoblauch an Karl Friedrich Bahrdt, 17. Juli 1788. In: Briefe angesehener Gelehrten, Staatsmänner und anderer, an den berühmten Märtyrer D. Karl Friedrich Bahrdt. Hg. von Degenhard Pott. Bd. 4. Leipzig 1798, S. 158.

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von der Religion von 1788, was aber schwierig war, da das Buch, wie meistens in diesen Kreisen, anonym »von einem unerschrockenen Wahrheitsfreunde« veröffentlicht worden war, oder aber nach dem Beginn des Prozesses gegen Schulz 1791, als er ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt wurde.52 Auf jeden Fall erwähnt Knoblauch Mauvillon gegenüber im Juli 1792 beiläufig: »Was sagen Sie zu der unwürdigen Behandlung des Prediger Schulz zu Gielsdorf, meines alten Freundes und Correspondenten?«53 Dass Knoblauch ihn dezidiert als »alten« Freund bezeichnet, deutet auf eine bereits längere Beziehung hin, möglicherweise hat Knoblauch Schulz gar schon nach dessen ersten deistischen Schriften im Jahr 1783/84 kontaktiert.54 Er scheint ihm, wie auch Mauvillon, regelmäßig seine Bücher zugeschickt zu haben; eines nämlich befindet sich in der Forschungsbibliothek Gotha und trägt den Namensvermerk »Schulz« auf der Innenseite.55 Dazu kommen – teilweise nur zu erschließende – Briefwechsel mit den Zeitschriften- und Zeitungs-Herausgebern Rudolf Zacharias Becker, Johann Wilhelm von Archenholz, Christoph Martin Wieland, Heinrich August Ottokar Reichard, Johann August Eberhard, August von Hennings und Wilhelm Ludwig Wekhrlin.56 Auf diese Weise ergeben sich bereits bei unserem ersten Beispiel erste Konturen einer Topographie des radikalen Randes des intellektuellen Feldes. Hinzu kommt noch Knoblauchs Nahresonanz-Bereich, für den der höchst eigenwillige materialistische Gießener Professor Georg Friedrich Werner zu nennen ist, der wiederum in

|| 52 [Johann Heinrich Schulz:] Erweis des himmelweiten Unterschiedes der Moral von der Religion, von einem unerschrockenen Wahrheitsfreunde. Frankfurt a. M., Leipzig 1788. Zum Prozess um Schulz vgl. Johannes Tradt: Der Religionsprozeß gegen den Zopfschulzen (1791–1799): Ein Beitrag zur protestantischen Lehrpflicht und Lehrzucht in Brandenburg-Preußen gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1997. 53 Knoblauch an Mauvillon, 14. Juni 1791. In: Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 49), S. 217. 54 [Johann Heinrich Schulz:] Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen ohne Unterschied der Religion, nebst einem Anhange von den Todesstrafen. Berlin 1783; ders.: Philosophische Betrachtungen über Theologie und Religion überhaupt und die jüdische insonderheit. Berlin 1784; ders.: Predigt über die falsche Lehre von ewigen Höllenstrafen. Berlin 1784. Vgl. zur Rezeption der »Anleitung« bei den Illuminaten unten Anm. 85. 55 Karl von Knoblauch: Anti-Thaumaturgie oder die Bezweiflung der Wunder. »Loretto« 1790, FB Gotha, Th 8° 05044. 56 Knoblauch veröffentlichte nämlich in Archenholzʼ Minerva, in Wielands Teutschem Merkur, in Reichards Olla Potrida, in Eberhards Philosophischem Magazin und Philosophischem Archiv, in Hennings Schleswigschem ehem. Braunschweigischem Journal und Genius der Zeit und in Wekhrlins Grauem Ungeheuter, Paragrafen und Hyperboreischen Briefen. Allerdings scheint er, der Vorsichtige, auch diese Korrespondenz teilweise anonym geführt zu haben. Mit Becker stand Knoblauch in Korrespondenz wegen eines neuen Journals, das Becker plante. Vgl. Lässig: Radikale Aufklärung (s. Anm. 48), S. 310. Vgl. aber auch Knoblauch an Mauvillon, 10. März 1792. In: Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 49), S. 208: »Noch eine satyrische Vertheidigung des Diebstahls, die ich gedruckt zu sehen wünschte – ich ersuche Sie liebster Obrist-Liutenant es an Becker zum Abdrücke zu schicken, und mir weitläuftig darüber zu berichten.«

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Gießen mit »progressiven« Kollegen wie August Friedrich Wilhelm Crome und dem Verleger Johann Christian Konrad Krieger verbunden war.57 Doch Knoblauch war in Dillenburg im Haus seines Onkels zu vereinsamt, als dass er wirklich an den Gießener Kreisen beteiligt sein konnte. In den Jahren 1777 und 1778 hatte sich beim Studium in Göttingen, beim Hören eines Hißmann, Meiners, Feder oder Schlözer, seine moralische Landkarte herausgebildet, hatten sich für ihn die Perspektiven eröffnet, die ein kritisches und materialistisches Denken zu bieten hatte. All seiner späteren Korrespondenz liegt dieses Erlebnis zugrunde.58 Doch nicht nur Korrespondenz macht die Agency eines Radikalaufklärers aus, sondern auch Reisen ermöglicht die Herstellung und Aufrechterhaltung von Kontakten mit Gleichgesinnten, die sukzessive Vergesellschaftung. Das hat Guido Naschert am Beispiel der Reisen des radikalen Kantianers Johann Benjamin Erhard während der Jahre der Französischen Revolution in aller Deutlichkeit gezeigt.59 Auch Knoblauch haben die Revolution und die anschließenden kriegerischen Auseinandersetzungen und linksrheinischen Besetzungen zum Reisen gebracht. Fast im Wochentakt berichtet er Mauvillon im Herbst 1792 von den Truppenbewegungen und den Emotionen, die mit ihnen einhergingen – bei Knoblauch ein Fiebern mit den Franzosen und ein Hoffen auf die Befreiung von der deutschen Fürstenherrschaft durch die »Franken« oder »Neufranken«, wie die Franzosen genannt wurden.60 Naschert spricht von »klandestinem Netzverkehr«, wenn er auf die heimlichen und verheimlichten Intentionen und Aktivitäten innerhalb des Reisegeschehens rekurriert.61 So kann man Knoblauch im Mai 1793 in Landau finden, das bis vor kurzem noch französisch besetzt war. Es hat ihn dort hingezogen, wie er Mauvillon ironisch sagt, »um die von unseren Zeitungsschreibern so gerühmten Progressen derjenigen Mächte in der Nähe zu sehen, welche die jetzt so wenig galanten Franken

|| 57 Vgl. Rolf Haaser: Spätaufklärung und Gegenaufklärung: Bedingungen und Auswirkungen der religiösen, politischen und ästhetischen Streitkultur in Gießen zwischen 1770 und 1830. Darmstadt 1997; Christine Haug: Das Verlagsunternehmen Krieger (1725–1825). Die Bedeutung des Buchhändlers, Verlegers und Leihbibliothekars Johann Christian Konrad Krieger für die Entstehung eines Buchmarktes und einer Lesekultur in Hessen um 1800. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 49 (1998), S. 97–262; Christa-Irene Nees: Vom Katheder in die große Welt: Zum Selbstverständnis August Wilhelm Cromes (1753–1833). Eine kritische Biographie. Hildesheim 2012; Mulsow: Karl von Knoblauch und Georg Friedrich Werner als Materialisten (s. Anm. 49). 58 Vgl. Knoblauch an Mauvillon, 22. Oktober 1791. In: Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 49), S. 199: »Hier entwickelten sich meine Begriffe. Hier ward ich Skeptiker, hier trat ich in interessante Verbindungen ein, deren endliches unwillkührliches Zerreissen bey meinem Abschiede von Göttingen (1778) das schmerzhafteste Ereignis meines Lebens war […].« 59 Guido Naschert: Netzwerkbildung und Ideenzirkulation. Johann Benjamin Erhards Reisen durch das Europa der französischen Revolution. In: Kriminelle – Freidenker – Alchemisten. Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit. Hg. von Martin Mulsow. Köln 2014, S. 503–553. 60 Knoblauch an Mauvillon. In: Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 49), S. 221–230. 61 Naschert: Netzwerkbildung und Ideenzirkulation (s. Anm. 59), S. 508.

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les déspots coalisés zu nennen belieben.«62 Also: was die deutschen Konterrevolutionäre nach der Befreiung gemacht haben, in der Wiederherstellung der alten Verhältnisse, bei der es – wie auch Goethe wenige Monate zuvor beobachten musste – zu Lynchjustiz gegenüber den deutschen Jakobinern kam, die unter der Franzosenherrschaft ihre Republiken errichtet hatten.63 Schauen wir auf andere Radikalaufklärer. Carl Friedrich Bahrdt ist mit seiner wechselvollen Geschichte als einer von wenigen ausgiebig studiert worden, vor allem von Günter Mühlpfordt, daher will ich ihn hier übergehen, trotz seiner außerordentlichen Bedeutung für die 70er und 80er Jahre.64 Bahrdt wurde im Zweifelsfall alles zugeschrieben: das Gothaer Exemplar von Mauvillons Einzig wahrem System trägt auf dem Rücken die handschriftliche Zuschreibung an Bahrdt;65 und als Johann Friedrich Mieg sich an Weishaupt wegen Wünschs Horus wendet, schreibt er auch diesen ohne weiteres Bahrdt zu.66 Ich will Bahrdt hier nur erwähnen, weil er dem Impuls zur Vergesellschaftung besonders weit getrieben und die »Deutsche Union« gegründet hat, eine Geheimgesellschaft in der Art der Illuminaten, die auf Lesezirkel aufbaute.67 Wenn Knoblauch an Bahrdt schreibt, um »der Ihrigen einer zu

|| 62 Knoblauch an Mauvillon, 18. Mai 1793. In: Mauvillons Briefwechsel (Anm. 49), S. 228. Zu dieser Reise vgl. auch Lässig: Radikale Aufklärung (s. Anm. 48), S. 62. 63 Vgl. Gustav Seibt: Mit einer Art von Wut. Goethe in der Revolution. München 2014. 64 Vgl. etwa Günter Mühlpfordt: Karl Friedrich Bahrdt und die radikale Aufklärung. In: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte. Tel Aviv 1976, Bd. 5, S. 49–100; ders.: Demokratische Aufklärer. Bd. 1: Bahrdt und die Deutsche Union. Halle 2014. Vgl. auch Andrew McKenzie-McHarg: Überlegungen zur Radikalaufklärung am Beispiel von Carl Friedrich Bahrdt. In: Radikale Spätaufklärung in Deutschland. Hg. von Martin Mulsow und Guido Naschert. (Aufklärung 24.) Hamburg 2012, S. 207–240. 65 FB Gotha, Theol. 8° 00360/15. 66 Johann Friedrich Mieg an Adam Weishaupt, 26. Mai 1783. In: Die Korrespondenz des Illuminatenordens. Hg. von Reinhard Markner, Monika Neugebauer-Wölk und Hermann Schüttler. Berlin 2013, Bd. 2, S. 632–633; weiter Mieg an Weishaupt, 23. Juli 83, wo er nach Weishaupts Urteil über Bahrdts »Horus oder astrognostisches Endurtheil über die Offenbarung Johannis« fragt; dann aber Mieg an Weishaupt, 25. August 1783: »Vom Bahrdt ist Horus gewislich nicht; dies verräth so wohl Styl, als eigenthümlicher Gang der Ideen.« Vgl. auch Bode an Knigge, 3. September 1783 (StA Hamburg 1256): »Haben Sie das Buch Horus, oder Astro-gnostisches Endurtheil, gelesen? Mir komt es vor, als ob ein Illuminat es geschrieben habe.« 22. bis 26. September 1783, Knigge an Bode: »Das Buch Horus habe ich gelesen. Einige sagen Mauvillon habe es geschrieben, aber dazu ist es zu gelehrt.« Meiners an Weishaupt, 5. August 1784 (StA Hamburg 1274): »So sehr man diese Männer bedauren muß, so nachtheilig kann doch diese[r] Schritt dem O[rden] werden, so wie das Gerücht, daß das Buch Horus von einem I[llumina]ten seÿ. Mich selbst haben einige Stellen in der Vorrede dieses Buchs, so wie auch einige Stellen in den Schriften des entlaufenen Mönches, der in Gera ein Journal und einige andere Bücher herausgegeben hat, stuzig gemacht. Wenn solche Leute im Orden wären [...], so wäre eine umschmelzende Reformation durchaus unvermeidlich.« 67 Vgl. außer der in Anm. 64 genannten Literatur auch Agatha Kobuch: Die deutsche Union. Radikale Spätaufklärung, Freimaurerei und Illuminatismus am Vorabend der Französischen Revolution. In: Beiträge zur Archivwissenschaft und Geschichtsforschung 10 (1977), S. 277–291.

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werden«, dann meint er offenbar eine Mitgliedschaft in der Deutschen Union. Zugleich kann man auch sehen, dass es am radikalen Rand Konkurrenzen geben konnte, denn Johann Joachim Christoph Bode, der Organisator des Illuminatenordens in seiner Spätphase, hat alles versucht, um Bahrdts »Deutsche Union« zu zerstören.68 Kommen wir zu Mauvillon selbst. Nur wenige Bemerkungen, denn Mauvillon wird mit all seinen Facetten von den Beiträgen dieses Bandes beleuchtet. Das Interessante an ihm ist, so denke ich, die Fluidität und Gewandtheit seines Umgangs und seines Intellekts sowie die Spannbreite seiner Ansichten zwischen radikaler Kritik am Christentum, physiokratischer Wirtschaftsauffassung, skeptischer Philosophie und literarischer wie militärischer Bildung. Er kann uns lehren, zu differenzieren und die moralische Landkarte seiner Wertungen wie auch die kognitive Landkarte seiner Kenntnisse sehr genau zu vermessen. Radikal ist nicht radikal. Dem jungen Knoblauch gegenüber mahnt er, in seinem in Kassel abgefangenen Brief, das Christentum weniger »geometrisch« abstrakt, sondern eher von seiner »historischen« Schwachstelle, den anzweifelbaren Zeugenaussagen her anzugreifen.69 In seinem eigenen Einzig wahren System scheint seine Strategie zu sein, scheinbar immer noch einen Begriff von »wahrem Christentum« beizubehalten, aber diesen mithilfe der calvinistischen Prädestinationslehre so zu marginalisieren, dass nur noch einige wenige übrigbleiben, die sich selbst von Gott angesprochen und auserwählt fühlen und ein christlich-asketisches Leben wählen.70 Das lässt sich, nach Mauvillons Ansicht, ohne Probleme anerkennen und respektieren, auch wenn man ansonsten das Christentum für die Pest der Welt hält. »Reducirt man es blos auf den unmittelbaren Einfluß des göttlichen Geistes auf jede menschliche Seele, so habe ich nichts dagegen«, sagt er Knoblauch gegenüber.71 Auch Mauvillon hat seine frühe Phase der Nahresonanz gehabt, sogar noch intensiver als Knoblauch. Das waren die frühen Jahre im Amicistenbund mit Heinrich Friedrich Diez und dem früh verstorbenen Ludwig August Unzer.72 Diez und Unzer || 68 Andrew McKenzie-McHarg: How to Sabotage a Secret Society. The Demise of Carl Friedrich Bahrdt’s German Union in 1789. In: The Historical Journal 61.2 (2018), S. 379–402; Ralf Klausnitzer: Poesie und Konspiration. Beziehungssinn und Zeichenökonomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur und Wissenschaft 1750–1850. Berlin 2006. 69 Mauvillon an Knoblauch, 13. Mai 1791. In: Eudämonia oder deutsches Volksglük. Zweyten Bandes Fünftes Stück. Frankfurt a. M. 1796, S. 295–297, bes. S. 295. 70 Vgl. Gisela Winkler: Die Religionsphilosophie von Jakob Mauvillon in seinem Hauptwerk »Das einzige wahre System der christlichen Religion«. Bochum 2000. Auch: Jochen Hoffmann: Jakob Mauvillon. Ein Offizier und Schriftsteller im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipationsbewegung. Berlin 1981. 71 Mauvillon an Knoblauch, 13. Mai 1791 (s. Anm. 69), S. 297. 72 [Ludwig August Unzer und Jakob Mauvillon:] Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel. Frankfurt a. M., Leipzig 1771/72. Vgl. Arne Klawitter: Die Lemgoer Auserlesene Bibliothek der neues-

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wetteiferten geradezu darum, wer noch ungläubiger sei als der andere. Auch Michael Hißmann kann man zu den Freunden zählen, wie wir aus dem kürzlich edierten Brief von Mauvillon an Hißmann aus dem Jahr 1777 wissen, den Arne Klawitter genau analysiert hat und in dem Mauvillon sehr klar die Motive nennt, warum er dabei war, an der »Untergrabung des Christentums« zu arbeiten.73 Es sind Motive, wie sie ein Jahrhundert später auch für Nietzsche bestimmend werden sollten: »Diese Religion macht die Menschen schwach, furchtsam, kleinmüthig: sie erstickt jede Hohheit des Geistes, allen Adel der Seelen, Muth im Tode, Widerstand gegen Gefahren u[nd] Unterdrückung […].«74 Ein Satz voller dichter Begriffe, voller starker Wertungen. Ich will Mauvillon hier auch deshalb ganz kurz behandeln, weil es in diesem Band zahlreiche Beiträge gibt, die seine radikalaufklärerischen Ansichten und Aktivitäten zum Thema haben. Einen Teilausschnitt seines Handelns, nämlich die Vergesellschaftung unter Anwesenden, sehe ich mir in einem gesonderten Aufsatz an, wo es um seine Herstellung eines illuminatischen Nahresonanzraumes in Kassel und Braunschweig geht.75 Schauen wir stattdessen noch etwas näher auf das Berliner Milieu, zu dem Paalzow, Riem, Damm und zum Teil Schulz gehören.76 Da stellt sich gleich zu Beginn die Frage: waren all diese Aufklärer miteinander vernetzt? Oder nicht? Das ist immer noch eine sehr offene Forschungsfrage. Natürlich waren die Männer der Mittwochsgesellschaft eng miteinander vernetzt, und natürlich gab es seit Jahrzehnten die freigeistigen Gruppen am Hof in Potsdam, man denke nur an Voltaire, d’Argens oder La Mettrie. Aber am Rande dieser Gruppen waren eben auch noch die Außenseiter. Fest steht, dass Paalzow mit Männern wie Carl Christoph Nenke und Julius Friedrich Knüppeln umgegangen ist, Juristen wie er, die ebenfalls eine schriftstellerische oder journalistische Ader hatten, und dass er zusammen mit dem

|| ten deutschen Litteratur (1772–1781) und ihre allzu lange übersehenen Mitarbeiter [insbes. zu Jakob Mauvillon, Ludwig A. Unzer, Michael Hißmann, Karl Friedrich Flögel und Abraham Jakob Penzel]. In: Euphorion 112/1 (2018), S. 117–137; ders.: Das »abgeschmackte« deutsche Publikum und seine »Gellertomanie«. Ludwig August Unzers und Jakob Mauvillons ›Dichterbriefe‹ und deren Verteidigung durch Christian Rautenberg. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 60 (2016), S. 3– 38. 73 Arne Klawitter: Der sokratische Dämon als »Würgeengel der christlichen Religion«? Ein bislang nicht ausgewerteter Brief Jakob Mauvillons an Michael Hißmann zum »Genius des Sokrates«. In: Das achtzehnte Jahrhundert 41/1 (2017), S. 28–45. 74 Mauvillon an Hißmann, 23. Juni 1777. In: Michael Hißmann: Briefwechsel. Hg. von Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening und Falk Wunderlich. Berlin 2016, S. 39f., hier S. 40. 75 Vgl. meinen entsprechenden Beitrag in diesem Band: Ordenskonkurrenz. Jakob Mauvillon als Freimaurer in Kassel und als Gründer der Braunschweiger Illuminatenfiliale. 76 In der Bibliotheca Fuhrmanniana (s. Anm. 2) gibt es auf S. 396 unter Nr. 11471 einen Eintrag: Briefe über die Berliner Deisten. Minden 1789. Der Text wird Carl Westphal oder Friedrich August Weihe zugeschrieben. Zum Berliner Milieu vgl. Tortarolo: La ragione (s. Anm. 35).

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Juristen Karl Ludwig Amelung den Deisten Schulz in dessen Prozess verteidigt hat.77 Paalzow wiederum hoffte, Bahrdt als Gutachter für eine seiner Publikationen zu bekommen, also kann man da zumindest schwache Bande vermuten.78 Worüber wir noch nichts wissen, sind die Beschaffungswege dieser Gruppen. Woher bezog man clandestine Literatur, die man dann übersetzte, woher bekam man Informationen über Gleichgesinnte? Was Andreas Riem angeht, so war er Freimaurer in der Loge Zur Eintracht, doch mit seiner Radikalisierung nach 1786 bis zur Ausweisung aus Preußen 1795 änderten sich sicherlich seine Kontakte.79 Wie auch Damm hatte er Zugang zu einem vollständigen Manuskript von Reimarusʼ Apologie, das sehr begrenzt in Berlin zirkulierte und aus dem er neue Fragmente veröffentlichte.80 Man kann Kontakte in die Kreise von Paalzow vermuten, aber wir wissen darüber nichts. Vielleicht werden uns Gegenschriften wie die Briefe über die Berliner Deisten von 1789, die Fuhrmann in seinem Regal stehen hatte, helfen können, einen Einblick in die Szene von Riem und seinen Freunden zu gewinnen.81 Ganz andere Fragen lassen sich bei Christian Ernst Wünsch stellen.82 Er war von Haus aus ein einfacher Webersohn und hat seine Jugend als Webstuhlbursche verbracht, bevor er durch einen kalendermachenden Webermeister dazu gebracht wurde, sich autodidaktisch Mathematik beizubringen. Er arbeitete aber immer noch als Hausierer, bis er schließlich in Leipzig studierte, wo er sich durch das Bauen von hölzernen Kometenplanetarien sein Geld verdiente. Später brachte er es sogar zu einer Professur in Frankfurt an der Oder. Doch er konnte es nicht lassen, sein Praktiker-Denken auf die Bibel anzuwenden und veröffentlichte so seinen Horus, in dem alle biblischen Wunder auf ganz handfeste technische Tricks zurückgeführt werden.83 Moses etwa vermischte die Säure, die er zur Auflösung des Goldenen Kalbes

|| 77 Vgl. Mulsow: »Vom Verfasser des Hierokles« (s. Anm. 32). 78 Paalzow an Gebauer, 6. August 1785. Stadtarchiv Halle a.d.S. 417 Nachlass Gebauer & Schwetschke A 6.2.6. Nr. 22187a (Kartonnr. 77). Vgl. Mulsow: Deutscher Deismus der Spätaufklärung (s. Anm. 32). 79 Zu Riems Biographie vgl. Lässig: Radikale Aufklärung (s. Anm. 48), S. 72–100. 80 [Andreas Riem (Hg.):] Uebrige noch ungedruckte Werke des Wolfenbüttlischen Fragmentisten: Ein Nachlass von Gotthold Ephraim Lessing. s.l. 1787. 81 Briefe über die Berliner Deisten. Minden 1789. Vgl. Bibliotheca Fuhrmanniana (s. Anm. 2), Nr. 11471. 82 Zu Wünsch vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 44 (1898), S. 317–320; Christoph Meinel: »Des wunderlichen Wünsch seltsame Reduktion …« Christian Ernst Wünsch, Kleists unzeitgemäßer Zeitgenosse. In: Kleist-Jahrbuch 1996, S. 1–32; Katrin Löffler (Hg.): Als Studiosus in Pleiß-Athen. Erinnerungen von Leipziger Studenten des 18. Jahrhunderts. Leipzig 2009, S. 223–248. 83 [Christian Ernst Wünsch:] Horus, oder astrognostisches Endurtheil über die Offenbarung Johannis und über die Weissagungen auf den Messias wie auch über Jesum und seine Jünger. »Ebenezer« 1783. Zu diesem Buch vgl. Jürgen von Kempski: Apokalypse, »Horus« und Wünsch. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 47 (1995), S. 304–319.

Wie schreibt man die Geschichte der radikalen Spätaufklärung? | 101

gebraucht hatte, mit Wasser, um Kühltränken für seine Leute daraus zu machen. Als Aaron das erste Brandopfer vor der Stiftshütte zubereitet hatte, warf ein anderer Priester ein brennendes Wollbüschel, das mit Terpentin und Kampfer versetzt war, unbemerkt auf den Altar. Und so weiter. Im Falle Wünschs ließe sich also studieren, wie technisches Wissen in einem Milieu, das durch Lessings Reimarus-Fragmente religionskritisch sensibilisiert war, gewirkt hat. Wünsch ist ganz offensichtlich auch durch seine Lektüren von Pluche und Bailly angeregt und hat deren Vorstellung von frühen astronomischen Menschheitskulturen mit der Religionskritik synthetisiert.84 Er fand dabei ein großes Echo in den Geheimgesellschaften, denen er, so der Untertitel seines Astrognostischen Endurtheils, einen »Denkzeddel« verpassen wollte.85

|| 84 Noël-Antoine Pluche: Histoire du ciel considéré selon les idées des poètes, des philosophes et de Moïse, où lʼon fait voir: 1° lʼorigine du ciel poétique, 2° la méprise des philosophes sur la fabrique du ciel et de la terre, 3° la conformité de lʼexpérience avec la seule physique de Moïse. Paris 1739; JeanSylvain Bailly: Des Herrn Bailly Geschichte der Sternkunde des Alterthums bis auf die Errichtung der Schule zu Alexandrien. 2 Bde. Leipzig 1777. Für eine ähnliche Mischung von Religionskritik und Spekulation über astronomisch-geologische Zyklen und Menschheitsentwicklung bei NicolasAntoine Boulanger vgl. Martin Mulsow: »Steige also, wenn du kannst, höher und höher zu uns herauf.« Adam Weishaupt als Philosoph. In: Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde. Hg. von Walter Müller-Seidel. Würzburg 2003, S. 27–66. 85 Vgl. Anm. 66 zu den Diskussionen unter führenden Ordensmitgliedern über den »Horus«, den man mit seinen astronomischen Religionserklärungen neben die Theorien von Boulanger (vgl. Anm. 84) stellte. Am 15. August 1783 berichtet auch Franz von Ditfurth an Weishaupt (StA Hamburg, 6141/72, Gr. Loge, Nr. 1254), daß er das Buch »Horus« gelesen habe und ungemein anregend finde. Außerdem hat er Johann Heinrich Schulz rezipiert und reflektiert von dieser Lektüre her über die Möglichkeiten einer materialistischen Lehre vom Denken: »Zu lesen habe ich angefangen: den Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen pp. Gewiß ist viel herrliches in dem Buch, und ich bin mit fast allen conclusionen verstanden, die aber wie ich glaube auch aus andern praemissen folgen könten, und dagegen aus des auctoris seinen nachtheiligere, als er daraus ziehet, gefolgert werden könten. Ich übergehe die Frage: ob Gott nicht machen könne, daß die Materie denke? Das kann seyn, ich kenne die Eigenschaften des denkens und die der Materie zu wenig um darüber zu urtheilen; daß aber ich selbst die denkende Materie seye, möchte ich nicht gern mit dem auctore als gantz ausgemacht annehmen – Meiner Erfahrung wiederspricht es überdies, ich weiß gewiß daß es ein Geist ist, der in mir denkt, wer er aber seye, ob Gott selbst, ob ein Theil der Gottheit, oder ob ein besonderes Wesen, das weiß ich nicht – und weil ich das nicht weiß so kann ich ihm nicht leügnen – ja es läßet sich die Fortdauer nach dem Tode, die der Verfaßer annimmt mit seiner hypothese , dann hat die Materie, mein Körper gedacht, so kann er nicht fortdauren, das leidet keinen Wiederspruch. Ob aber mein Geist fortdauren wird? Das weiß ich nicht, der Herr ist allmächtig, weise und liebevoll, was er auch mit | mir im Sinne hat, kann nicht ander als weise und liebevoll seyn. Und hieran, Mensch! hast du zu deiner hiesigen Glückseeligkeit und Beruhigung genug.« Zum Problem der denkenden Materie in der deutschen Spätaufklärung vgl. Falk Wunderlich: Materialismus und Mortalismus in der deutschen Aufklärung. In: Aufklärung 29 (2018), S. 193–211.

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Zumindest den konservativ-okkultistischen. Seit 1784 war er selbst Freimaurer und wusste, wie interessiert man dort an religionsgeschichtlichen Hypothesen war.86 Ich breche hier meinen kurzen Durchgang durch die radikale Szenerie ab, die, wie wir sehen, durchaus vielfältig gewesen ist und unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten bot. Auf jeden Fall aber, das lässt sich erkennen, ist die Dichte der Vernetzung stärker ausgeprägt als bei Radikalaufklärern im frühen 18. oder gar im späten 17. Jahrhundert, denen sich kaum irgendeine Resonanz geboten hat.87

4 Schluss Man sieht: Wir sind noch weit entfernt von einer umfassenden Darstellung der Radikalaufklärung in der deutschen Spätaufklärung. Mir war es an dieser Stelle nur wichtig, einige Perspektiven aufzuzeigen, wie eine solche Darstellung aussehen könnte und was sie berücksichtigen müsste. Wir haben begonnen mit einem Blick von außen, auf Mauvillon als den Autor des Einzig wahren Christentums, genauer auf das Buch Nr. 11565 in den Regalen von Wilhelm David Fuhrmann. Wir haben dann neugierig nach links und rechts von diesem Standort geschaut und gesehen, dass deutsche radikalaufklärerische Werke in den 1780er Jahren bereits in eine breite, schwer überschaubare religionskritische Publizistik eingebettet waren. Danach sind wir zur Akteursperspektive übergegangen, haben ein paar begriffliche Vorschläge gemacht und sind sehr skizzenhaft unter diesen Vorgaben einige der norddeutsch-mitteldeutschen radikaleren Spätaufklärer durchgegangen, auch Mauvillon, aber auch einige seiner Korrespondenten und Gesinnungsgenossen. Einzelne Querverbindungen zwischen diesen Radikalen haben sich aufgetan, aber längst noch nicht so viele, als dass man von einem einzigen dichten Netzwerk sprechen könnte. Hier bleibt noch viel Forschung zu leisten, und neben der Vernetzungsvermutung steht immer auch gleichberechtigt die Isolationsvermutung. Die Aufmerksamkeit auf die »Agency« der Akteure und die Netzwerkforschung ließen sich mit dem Begriff der Resonanz miteinander vermitteln, denn Resonanz war es, was Radikale unter Gleichgesinnten zu finden hofften, und mit dieser Resonanz auch eine Absicherung und eine Vergrößerung ihrer Handlungsspielräume. Auch der Begriff der Vergesellschaftung und der moralischen Landkarte konnte – hier nur angedeutet – helfen, die zugleich kognitiven und sozialen Orientierungsversuche der Akteure nachzuvollziehen.

|| 86 Vgl. allgemein etwa Jan Assmann: Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung. Berlin 2010; Jan Assmann, Florian Ebeling: Ägyptische Mysterien. Reisen in die Unterwelt in Aufklärung und Romantik. München 2011. 87 Zu diesen vgl. Mulsow: Radikale Frühaufklärung in Deutschland (s. Anm. 8).

Wie schreibt man die Geschichte der radikalen Spätaufklärung? | 103

Mauvillon steht mitten innerhalb dieser uns erst schemenhaft bekannten Szenerie, sei es durch seine intellektuellen Debatten, sei es, durch seine geheimbündlerischen Anstrengungen. Es bleibt uns ein staunender Blick auf die so gewaltige Agency dieses Mannes, eine Wirkungskraft, die sich auf so viele Gebiete bezogen hat, in so viele Sphären hineinreichte, und ihn nicht nur mit so vielen anderen Männern verbunden, sondern für manche auch zum Vorbild als radikaler Denker gemacht hat.

| 2 Psychologie und Geschlechter-Anthropologie

Udo Thiel

Psychologische Analyse statt Metaphysik Mauvillons Aufsatz Ueber das Ich (1778)

1 Einleitung Nimmt man die Bibliographie seiner publizierten Schriften zum Maßstab, scheint die Abhandlung Ueber das Ich thematisch eine Ausnahme in Mauvillons Werk zu sein.1 Dieses ist zwar vielfältig, enthält Physiokratische Briefe, Schriften zur Dichtung, zu Mann und Weib, zur Religion und zur Militärgeschichte, aber das, was man heute auch mit Bezug auf die frühe Neuzeit ›Philosophie des Geistes‹ nennt, scheint bei Mauvillon keine Rolle zu spielen. Der Eindruck, dass Ueber das Ich daher Resultat einer gelegentlichen Nebenbeschäftigung sein müsse, täuscht jedoch. Denn der Aufsatz verfolgt ein Thema, mit dem sich Mauvillon ausgiebig beschäftigt hatte. Er schreibt dementsprechend gleich zu Beginn seiner Abhandlung: »Das Gefühl des Ichs war lange der Gegenstand meiner Untersuchungen, und ich meinte darin einige Besonderheiten bemerkt zu haben«.2 Diese Selbstaussage wird durch Mauvillons Briefwechsel mit Heinrich Friedrich Diez und Ludwig August Unzer bestätigt, in dem es 1773 im Rahmen einer Diskussion über ein von Mauvillon verfasstes anthropologisches Werk auch um Themen aus der Abhandlung von 1778 geht.3 In dieser behauptet er, dass die Arbeit an seinem anthropologischen Projekt für ihn »eine Zeitlang« sogar seine »Lieblingsbeschäftigung« gewesen sei.4 Und in der Tat erwähnt Ludwig Unzer in einem Brief vom 7. November 1773 ein Buch Mauvillons über die »Menschliche Natur«, von dem er offenbar annimmt, dass es bereits erschienen sei, denn er bittet um Zusendung eines Exemplars:

|| 1 Jakob Mauvillon: Ueber das Ich, in Briefen an Herrn Prof. Tiedemann. In: Deutsches Museum (1778), S. 155–161, S. 254–261 und S. 395–419. 2 Ebd., S. 156. 3 Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzogl[ichen]. Braunschweigischen Diensten verstorbenen Obristlieutenant Mauvillon. Gesammelt und herausgegeben von seinem Sohn F[riedrich Wilhelm]. Mauvillon. Deutschland [d. i. Braunschweig] 1801, S. 53 und S. 80–89. 4 Mauvillon: Ueber das Ich (s. Anm. 1), S. 156. https://doi.org/10.1515/9783110793611-005

108 | Udo Thiel

Wollen Sie einen kranken Freund noch einmal erfreuen, so senden Sie mir Ihrem Versprechen zufolge, so bald als möglich Ihr Werk über die Menschliche Natur, worauf ich äusserst begierig bin, oder melden mir wenigstens die Gelegenheit, wo ich solches bekommen kann.5

Unzer berichtete Heinrich Friedrich Diez von diesem Werk, und in einem Brief an Mauvillon vom 16. Oktober 1773 stellt dieser diesbezüglich konkrete Fragen, auch zum Selbstgefühl und Identitätsgefühl, also zu den Haupthemen des Aufsatzes von 1778. In einem weiteren Brief, vom Dezember 1773, referiert Diez einige Auffassungen Mauvillons hierzu.6 Offensichtlich hatte Mauvillon wenigstens einige Grundgedanken seines 1778 publizierten Aufsatzes bereits 1773 formuliert, die in einem Kapitel seines Werks über die menschliche Natur vorkamen. Dieses Werk blieb jedoch unveröffentlicht und gilt als verschollen.7 Mauvillon weist im Aufsatz von 1778 darauf hin, dass »Zeit und Umstände« ihn von diesem Projekt »abgerissen« hätten. Außerdem sei er in seinen früheren Untersuchungen in die »Finsternis des Skeptizismus« geraten.8 Unverkennbar ist aber, dass Ueber das Ich entgegen dem ersten Eindruck keine bloße Gelegenheitsarbeit ist, sondern vielmehr aus einem konkreten Anlass Themen aufgreift, mit denen sich Mauvillon bereits Jahre vorher ernsthaft

|| 5 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 3), S. 53. Vgl. zu dem Werk »über die Menschliche Natur« auch ebd. S. 51, S. 79 und S. 135. 6 Diez schreibt am 16. Oktober 1773: »Was ist das Gefühl des Ichs, das Bewusstsein, und wie und woraus erklären Sie das? Ist das Vieh sich seiner bewusst, und wenn es nicht wäre, warum nicht? Hierüber, ich bitte sie recht sehr, schreiben Sie mir Ihre Meinung« (Mauvillons Briefwechsel [s. Anm. 3], S. 81). Mauvillons Antwort ist nicht überliefert, aber Diez beschreibt in seinem Brief vom 19. Dezember 1773 einige Aspekte dieser Antwort: »Ihre Gedanken vom Gefühle des Ichs, haben mich am mehrsten frappirt, weil sie beinahe die meinigen zu sein scheinen. Dies Capitel ist richtig […]. Zwischen Gefühl und Bewusstsein der Identität mache ich mit Ihnen keinen Unterschied. Die Thiere empfinden blind, d. h. sie empfinden blos den verursachten Reiz, ohne in einer abgesonderten Idee zu wissen, dass sie empfinden, weil sie keine Sprachzeichen haben. Das, was Sie bei den Thieren als Gedächtnis und Erinnerung wahrnehmen, entwickele ich aus anderen Gründen, und dennoch haben auch hierbei selbst die klügsten Thiere keine abgesonderte Notion von ihrem Ich« (Mauvillons Briefwechsel [s. Anm. 3], S. 88f.). 7 Vgl. Jochen Hoffmann: Jakob Mauvillon. Ein Offizier und Schriftsteller im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipationsbewegung. Berlin 1981, S. 69. 8 Mauvillon: Ueber das Ich (s. Anm. 1), S. 156. Auch Diez bekannte sich 1773 noch zum Skeptizismus. Vgl. Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 3), S. 77. Diez verband seinen Skeptizismus mit einem Materialismus, der allerdings »von ganz besonderer Art« sei (ebd., S. 79). Es ließe sich die kritische Frage stellen, ob eine materialistische Auffassung von der Seele mit Skeptizismus überhaupt vereinbar ist. Jedenfalls wollte Mauvillon offenbar von Diez erfahren, wie sein Skeptizismus genau zu verstehen sei. Diez antwortet in seinem Brief vom 16. August 1774, dass er »nicht in dem Sinne Sceptiker« sei, »worin man diesen Namen zu nehmen pflegt« (ebd. S. 107). Denn: »In dem […], wovon ich überzeugt bin, entscheide ich absolut […] Deshalb aber gebe ich meine Sätze nicht für absolute Wahrheit aus« (ebd., S. 108). In seinem Brief vom 5. Juni 1774 spricht Diez vom »Materialist[en] Mauvillon« (ebd. S. 124). In Ueber das Ich legt sich Mauvillon, wie wir sehen werden, nicht auf eine materialistische Metaphysik fest.

Psychologische Analyse statt Metaphysik | 109

auseinandergesetzt hatte. Im vorliegenden Beitrag soll Mauvillons Aufsatz analysiert, gewürdigt und historisch verortet werden. Den soeben erwähnten konkreten Anlass für seine Abhandlung gibt Mauvillon im Untertitel an. Es handele sich um »Briefe« an »Herrn Prof.« Dietrich Tiedemann. Tiedemann hatte gerade, 1777/78, ein dreibändiges Werk mit dem Titel Untersuchungen über den Menschen publiziert, ein Werk also, das thematisch Mauvillons frühem Projekt entspricht.9 Freilich sind um 1777 mehrere Arbeiten zum Thema ›menschliche Natur‹ erschienen, durchaus auch gewichtigere als die Tiedemanns, an denen sich Mauvillon hätte orientieren können. Es sei nur an Tetensʼ Riesenwerk, Philosophische Versuche über die menschliche Natur, erinnert, das bekanntlich für Kant von großer Bedeutung war.10 Tiedemann, der zu dieser Zeit wie Mauvillon am Collegium Carolinum in Kassel tätig war, hatte jedoch Mauvillon ein Exemplar seines Werkes zukommen lassen und so den Anlass für Mauvillons Abhandlung gegeben.11 Dieser notiert, dass ihm sein altes Projekt durch »die Durchlesung Ihres schönen Buchs wieder ins Gedächtnis gebracht« worden sei. Darüber hinaus adressiert Mauvillon seine Bemerkungen an Tiedemann, um sie dessen »Urtheile … [zu] unterwerfe[n]«.12 Im letzten Teil des Aufsatzes, der etwas später als die ersten beiden Teile publiziert wurde, deutet Mauvillon an, dass Tiedemann auf Aspekte seiner Ausführungen im ersten Teil reagiert habe.13 Ob und wie Tiedemann Mauvillons Aufsatz inhaltlich kommentiert hat, lässt sich jedoch meines Wissens nicht feststellen. Mauvillon wiederum übt nur sehr gelegentlich explizit Kritik an Tiedemann, und das obwohl sich seine Position von der Tiedemanns in einigen wesentlichen Punkten unterscheidet. Tiedemanns Werk liegt zwar ein breit angelegtes anthropologischen Konzept zu Grunde, aber im Mittelpunkt seiner Untersuchungen steht die Seelenlehre, es geht ihm, wie er sagt, um die Erstellung eines »psychologischen Systems«.14 Und in die-

|| 9 Dietrich Tiedemann: Untersuchungen über den Menschen. 3 Bde. Leipzig 1777/78. 10 Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig 1777. Neu herausgegeben und kommentiert von Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin, Boston 2014. 11 Siehe Mauvillon: Ueber das Ich (s. Anm. 1), S. 155. Tiedemann war am Kasseler Collegium Carolinum von 1776 bis 1786 Professor für alte Sprachen. Vgl. die ausführliche biographische Darstellung in der Vorrede von Ludwig Wachler, in Dietrich Tiedemann: Handbuch der Psychologie. Hg. von Ludwig Wachler. Leipzig 1804, S. XIV. 12 Ebd., S. 156. 13 »[D]a Ihnen die vorigen […] [Bemerkungen] nicht aller Aufmerksamkeit unwerth geschienen haben« (ebd., S. 395). 14 Tiedemann spricht von einer »Seelen-Lehre und Menschen-Kenntniß« (Tiedemann: Untersuchungen [s. Anm. 9], Bd. 1, S. XII). Hauptsächlich geht es ihm aber um die »Entwickelung der Seelen-Kräfte« (ebd., S. XXV). Den Ausdruck »psychologisches System« benutzt Tiedemann in der »Vorrede« (ebd., S. XXVIII). Vgl. zu diesem Thema bei Tiedemann im Einzelnen Udo Thiel: The Early Modern Subject. Self-consciousness and Personal Identity from Descartes to Hume. Oxford

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sem Kontext behandelt Tiedemann auch Fragen zum Ich- und Identitätsgefühl, die Themen, die im Mittelpunkt von Mauvillons Aufsatz stehen. Tiedemanns Ausgangspunkt ist das schon im 18. Jahrhundert so benannte ›Leibniz-Wolffische System‹, von dem er sich in vielen Details jedoch absetzt. Obwohl seine Ausführungen zur Funktionsweise des menschlichen Geistes (im Gegensatz zu Wolff) mit dem Materialismus vereinbar wären, argumentiert er, wie etwa auch Charles Bonnet und David Hartley, die er in diversen Zusammenhängen erwähnt, gegen die materialistische Auffassung vom menschlichen Geist und weist selbst Lockes Gedanken zurück, gemäß dem der Begriff einer ›denkenden Materie‹ jedenfalls keinen Widerspruch enthalte. Unüblich, wenn auch alles andere als einzigartig, ist Tiedemanns Auffassung, dass die menschliche Seele zwar unkörperlich, aber doch im Raum ausgedehnt sein müsse, weil sie sonst nicht mit dem Körper interagieren könne – eine ähnliche Auffassung vertrat in der ersten Jahrhunderthälfte beispielsweise Samuel Clarke.15 Außer Tiedemann erwähnt Mauvillon in seinem Aufsatz mehrmals Reimarus (auf den auch Tiedemann eingeht), und dies hauptsächlich mit Bezug auf dessen Auffassung von den kognitiven Fähigkeiten der Tiere.16 Hinsichtlich bestimmter Details bezieht sich Mauvillon auf Bonnet, Locke und Leibniz, sowie auf GuillaumeThomas Raynals sechsbändige Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes (zuerst Amsterdam 1770), ein Werk, das Mauvillon ins Deutsche übertagen hat.17 Zwar verweist Mauvillon nur auf einzelne Punkte dieser Denker explizit, aber es wird deutlich, dass er mit deren Positionen und Argumenten vertraut war und sie kritisch in seine Reflexionen über Selbstgefühl und Identität einbezieht. In Mauvillons Ueber das Ich geht es wie bei Tiedemann hauptsächlich um psychologische Fragen, die er durch den mehrfach angestellten Mensch-Tier Vergleich in ein anthropologisches Konzept einordnet. Genaugenommen handelt es sich bei den ›Briefen‹ nur um zwei nummerierte Stücke, von denen das erste allerdings in || 2 2014, S. 339–342 sowie Falk Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts. Berlin, New York 2005, S. 107–113. 15 Tiedemann: Untersuchungen (s. Anm. 9), Bd. 2, S. 111 und S. 113f. Die detaillierte Auseinandersetzung mit der materialistischen Seelenlehre befindet sich im zweiten Hauptstück des zweiten Bandes (S. 35–129). Zu Samuel Clarkes Seelenkonzeption vgl. Ezio Vailati: Clarke’s Extended Soul. In: Journal of the History of Philosophy 31 (1993), S. 387–403. Zu Clarke über persönliche Identität vgl. Thiel: The Early Modern Subject (s. Anm. 14), S. 229–234. 16 Vgl. Hermann Samuel Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunst-Triebe. Hamburg 1760. 17 Mauvillon bezieht sich hier auf dieses Werk als »Reynals Geschichte des Handels nach beiden Indien« (Mauvillon: Ueber das Ich [s. Anm. 1], S. 417). Mauvillons Übersetzung erschien unter dem Titel Philosophische und politische Geschichte der Besitzungen und des Handels der Europäer in den beiden Indien (7 Bde. Hannover 1774–1778). Vgl. zu Mauvillons Übersetzung den Beitrag von HansJürgen Lüsebrink in diesem Band.

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zwei Teilen publiziert wurde, in den Februar- und März-Nummern des Deutschen Museums von 1778. Der zweite Brief wird im November desselben Jahres in derselben Zeitschrift veröffentlicht. Insgesamt sind es demnach drei getrennt publizierte Teile, denen unterschiedliche, aber aufeinander bezogene inhaltliche Schwerpunkte entsprechen. Im ersten Teil des ersten Briefes steht der Begriff des Selbstgefühls im Zentrum.18 Im zweiten Teil des ersten Briefes erörtert Mauvillon das Verhältnis des Selbstgefühls zu anderen Empfindungen.19 Und der zweite Brief handelt ausführlich von dem vom Selbstgefühl zu unterscheidenden Gefühl der Identität.20

2 Selbstgefühl und »das deutliche, durch Reflekzion und Denken erzeugte Bewustseyn« Mauvillon beginnt den ersten Teil des ersten Briefes mit einer allgemeinen Aussage, die er mit einer weiteren allgemeinen Aussage zu begründen versucht. Das »Gefühl des Ichs«, sagt Mauvillon, müsse »allen empfindenden Wesen gemein seyn«. Das sei offensichtlich (»sichtbar«). Denn »es läst sich ohne dasselbe keine Empfindung denken«.21 Jede Empfindung hat laut Mauvillon drei oder wenigstens zwei Bestandteile: (1) Die Wahrnehmung des Eindrucks; (2) die Wahrnehmung des Subjekts, das den Eindruck erhalte; und (3) die Wahrnehmung des Objekts, von dem der Eindruck auf das Subjekt ausgehe. Letzteres entfalle bei inneren Empfindungen wie Hunger, Durst und körperlichem Schmerz. Denn hier »nehme ich den Gegenstand, die Ursache der Empfindung nicht wahr«.22 Wenn ein empfindendes Wesen aber den Eindruck fühle, den etwas auf es mache, dann fühle es auch, dass der Eindruck »in ihm vorgeht«, und dies bedeute: »Es hat das Gefühl des Ichs; man muß ihm Selbstgefühl zugestehn«.23 Fühle es den Eindruck nicht, dann habe es auch keine Empfindung. Da das Selbstgefühl bei jeder Empfindung involviert sei, müssten Tiere, als »empfindende Wesen«, ebenfalls »die Wahrnehmung des Ichs« haben, oder, was dasselbe ist, »das Selbstgefühl, oder genauer zu reden, das Bewustseyn ihrer selbst«.24 Das Selbstgefühl gehöre zur Natur der Menschen und der Tiere und könne

|| 18 Mauvillon: Ueber das Ich (s. Anm. 1), S. 155–161. 19 Ebd., S. 254–261. 20 Ebd., S. 395–419. 21 Ebd., S. 156. 22 Ebd., S. 156f. 23 Ebd., S. 156. 24 Ebd., S. 157.

112 | Udo Thiel diese auch nicht »betrüge[n]« oder täuschen.25 Dies bedeutet aber für Mauvillon nicht, dass man aus dem Selbstgefühl eine wie auch immer geartete Metaphysik des Ich ableiten könne. Seine in dieser Schrift metaphysisch neutrale Position wird besonders bei seiner Analyse des Identitätsgefühls deutlich, auf die wir unten in den Abschnitten 4 und 5 eingehen. Mauvillon unterscheidet wie andere Philosophen nicht nur seiner Zeit zwischen diesem, von ihm »Selbstgefühl« genannten, unmittelbarem Selbstbewusstsein und einem begrifflich vermittelten, reflektierten Selbstbewusstsein. Die Unterscheidung liegt, um nur auf ein Beispiel aus dem unmittelbaren Kontext von Mauvillons Abhandlung zu verweisen, bei Johann Georg Heinrich Feder vor, der sie in seiner vielfach aufgelegten Logik und Metaphysik (zuerst 1769) vornimmt, auf welche Mauvillon freilich nicht verweist.26 Mauvillon bettet diese wichtige Unterscheidung in das weiter gefasste anthropologische Thema des Mensch-Tier-Verhältnisses ein, in eine Untersuchung darüber, »ob wirklich ein gewisser Unterschied in dem Bewustseyn der Thiere und Menschen existire, und worin der bestehe«.27 Er wendet sich mit seiner Position gegen die seines früheren Korrespondenten Heinrich Friedrich Diez, der in seiner 1774 veröffentlichten Abhandlung Vom heutigen Zustande der deutschen Philosophie die Auffassung vertritt, dass die »Kluft« zwischen Mensch und Tier im »Gefühl des Ichs« bestehe, das er mit einem begrifflich vermittelten Selbstbezug gleichzusetzen scheint.28 Für Mauvillon dagegen ist die Differenz zwischen Mensch und Tier nicht am Selbstgefühl, sondern an dem von diesem zu un-

|| 25 Ebd., S. 407. Das »Gefühl des Ichs« beruht, sagt Mauvillon, auf »etwas dem Menschen Wesentliches« (ebd., S. 408). 26 Johann Georg Heinrich Feder: Logik und Metaphysik. Göttingen, Gotha 1769, S. 134. Vgl. auch S. 122f.; Feder spricht hier von dem »deutlichen Gedanken des Ich«, im Unterschied zum durch Unmittelbarkeit gekennzeichneten Selbstgefühl. Vgl. hierzu ausführlich Udo Thiel: Feder und der Innere Sinn. In: Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821). Empirismus und Popularphilosophie zwischen Wolff und Kant. Hg. von Hans Peter Nowitzky, Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin, Boston 2018, S. 55–86, hier S. 67–69. Es war wahrscheinlich Feder, der den Ausdruck ›Selbstgefühl‹ durch seine Logik und Metaphysik für die Psychologie der 1770er und 1780er Jahr populär machte. Meines Wissens hat Johann Bernhard Basedow diesen Terminus ursprünglich in die philosophische Terminologie eingeführt. Vgl. Johann Bernhard Basedow: Philalethie. Neue Aussichten in die Wahrheiten und Religion der Vernunft. 2 Bde. Altona 1764, Bd. 2, S. 5. Von Basedow übernimmt Feder den Terminus zunächst in seiner Abhandlung De sensu interno (Göttingen 1768, S. 25), um ihn dann in seine Logik und Metaphysik einzubauen. Vgl. hierzu Thiel: Feder und der Innere Sinn (s. diese Anm. oben), S. 63–65. 27 Mauvillon: Ueber das Ich (s. Anm. 1), S. 157. 28 Heinrich Friedrich Diez: Vom heutigen Zustande der deutschen Philosophie. In: der.: Philosophische Abhandlungen, Rezensionen und unveröffentlichte Briefe (1773–1784). Hg. von Arne Klawitter. Würzburg 2018, S. 39‒55, hier S. 49.

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terscheidenden reflektierten Selbstbewusstsein festzumachen. Denn nur dieses, nicht das Selbstgefühl sei von der Sprachfähigkeit abhängig.29 Für Mauvillon sind Menschen dank ihrer Sprachfähigkeit in der Lage, »jede Idee vor sich zu bestimmen und von den andern abzusondern«.30 Mittels der Sprache, deren Wirkung das Denken sei, könnten Menschen alle Eigenschaften, die sie an Gegenständen wahrnehmen, bestimmen, verbinden, trennen, in eine Ordnung bringen und miteinander vergleichen. Darüber hinaus »haben sie aber auch allen ihren innern Empfindungen Namen beizulegen gewust«.31 Dadurch könnten sie auch auf diese reflektieren, sie wie äußere Dinge vorstellen und sie miteinander und mit anderen Dingen vergleichen. Der hierin »geübte Mensch« sei sogar in der Lage, im selben Moment, zu dem er eine Empfindung empfange, über diese nachzudenken oder zu reflektieren.32 Er könne auch die Wahrnehmung des eigenen Ichs fixieren und alle ihre Bestimmungen im Denken nachverfolgen.33 Wenn man nur diese Fähigkeiten ›Bewusstsein‹ nennen wolle, dann könne man den Tieren in der Tat kein Bewusstsein zuschreiben. Tiere seien zu dieser Art von Bewusstsein nicht fähig, aus dem einfachen Grunde, dass sie keine Sprache hätten, mithilfe derer sie Vorstellungen fixieren und zwischen ihnen unterscheiden könnten. Und sie hätten keine Sprache und keine »Denkkraft«, weil ihnen die physischen Organe oder »Werkzeuge« für den Spracherwerb fehlten.34 Daher könnten Tiere auch nicht auf ihr inneres und äußeres Ich reflektieren. Es gebe aber auch viele Menschen, die dies nie oder nur sehr selten tun. Jedenfalls sei offensichtlich, dass Menschen nicht ununterbrochen reflektierten.35 Offensichtlich ist für Mauvillon die Reflexion darüber, dass ich dieses oder jenes empfinde oder so oder so handele, im Gegensatz zum Selbstgefühl nicht von der Empfindung oder der Handlung untrennbar. Ein Handeln ohne Reflexion sei nicht ein Handeln ohne Bewusstsein. In dieser Weise unterscheidet Mauvillon demnach zwischen Bewusstsein oder Selbstgefühl als einem unmittelbaren, vor-reflexiven und vor-sprachlichen Selbstbezug, der bei allen Empfindungen involviert sei und Tieren ebenso wie Menschen zukomme, und Bewusstsein als einem durch Denken und Sprache vermittelten Selbstbezug, durch den Empfindungen und auch das

|| 29 Diez behauptet dagegen, dass »dem Gefühl des Ichs in den Elementen der Sprache« nachzuspüren sei (ebd., S. 49). Auch hierauf könnte sich Diez’ oben in Anm. 6. zitierte Feststellung beziehen, dass Mauvillons »Gedanken vom Gefühle des Ichs« nur »beinahe die meinigen zu sein scheinen« (Mauvillons Briefwechsel [s. Anm. 3], S. 88). 30 Mauvillon: Ueber das Ich (s. Anm. 1), S. 157. 31 Ebd., S. 158. 32 »Der also in der Vorstellung, Bestimmung, Vergleichung seiner Empfindungen geübte Mensch kan in dem Augenblick, da er eine Empfindung hat, sich dieselbe zugleich denken« (ebd.). 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 160.

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Selbstgefühl zum Gegenstand des Denkens werden könnten und der nur den Menschen zuzuschreiben sei. Nur wenn man fälschlich allein »das deutliche, durch Reflekzion und Denken erzeugte Bewustseyn«36 als Bewusstsein anerkenne, könne man den Tieren Bewusstsein bzw. Selbstbewusstsein absprechen. Diese Unterscheidung zwischen unmittelbarem Selbstgefühl und reflektierten Selbstbewusstsein führt Mauvillon auf die Frage, ob ersteres ein eigenständiger Akt sei oder von anderen kognitiven Handlungen oder Zuständen abhänge.

3 Das Selbstgefühl im Verhältnis zu äußeren und inneren Empfindungen Mauvillon beginnt seine Behandlung dieses Themas mit einem Hinweis auf die Auffassung der (vor allem cartesianischen) Metaphysiker, dass die Seele immer denke. Da es offensichtlich sei, dass wir uns nicht immer in einem reflektierten, begrifflich vermittelten Bezug auf uns selbst befänden, gehe es dabei nur um die Frage, ob wir immer das Bewusstsein im Sinne eines unmittelbaren Selbstgefühls hätten.37 Bewusstsein in diesem Sinne ermangelten wir beispielsweise in Ohnmachtszuständen und in Zuständen tiefen Schlafes. Es könne aber auch im Wachzustand fehlen, dafür gebe es viele Beispiele. Mauvillon geht in diesem Zusammenhang insbesondere auf indische Philosophen ein, mit denen er durch Raynals bereits erwähnte Histoire des deux Indes vertraut gewesen sein dürfte. Er berichtet, durchaus fasziniert, dass sie durch bestimmte Techniken einen Zustand der Bewusstlosigkeit erreichen könnten, der ein Zustand »der grösten Weisheit und Glückseligkeit« sei. In diesem Zustand fehle jegliches Selbstgefühl, er bestehe in einem »Hinsinken in ein totales Nichts«. Der Mensch habe demnach eine Kraft, sich in »einen ganz fühllosen Zustand, wo er alles Selbstgefühl verliert, und der doch kein Schlaf ist, zu versezen«. 38 Mauvillon schließt aus dieser Kraft und den erwähnten Ohnmachts- und Schlafzuständen, dass das Selbstgefühl auf innere und äußere Empfindungen angewiesen sei. Wenn jegliche Bewegung der äußeren und inneren Organe zum Stillstand komme, dann fühle auch die Seele nicht mehr ihre eigene Existenz. Es gelte, »daß also das Selbstgefühl lediglich und allein von dem Daseyn äußrer oder innrer Empfindungen abhängt, ohne dieselbe gar nicht existire«.39 Zwar gilt ihm das Selbstgefühl,

|| 36 Ebd., S. 255. 37 Mauvillon weist darauf hin, dass er »Bewustseyn« und »Selbstgefühl« hier synonym gebrauche (ebd., S. 255). 38 Ebd., S. 256f. 39 Ebd., S. 259.

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wie wir sahen, als unmittelbar gegenüber dem reflektierten Selbstbewusstsein. Es ist für Mauvillon aber nicht in dem Sinne unmittelbar, dass es keiner anderen Bewusstseinszustände bedürfte. Mauvillon unterscheidet sich mit dieser Position von Philosophen wie etwa Jean Bernard Merian und Johann Christian Lossius, die in unterschiedlicher Weise das Selbstbewusstsein als von anderen mentalen Zuständen unabhängig ansehen, als etwas, das es auch gäbe, wenn wir keine anderen Empfindungen oder Gedanken hätten. Mauvillons Position ist in diesem Punkt beispielsweise derjenigen Michael Hißmanns und Christoph Meiners’ ähnlich.40 Auch der von ihm adressierte Dietrich Tiedemann macht das Selbstgefühl von der Existenz anderer Empfindungen oder Vorstellungen abhängig: Wenn alle unsere thätigen und leidenden Fähigkeiten in einer vollkommenen Ruhe wären: so würden wir von uns selbst, also auch von unserm Daseyn, ebenso wenig Gefühl als ein Stein oder ein Klotz von dem ihrigen haben können. Offenbahr also ist das Gefühl unsers Daseyns kein unmittelbares, sondern ein aus dem Gefühle unserer Thätigkeiten und unserer Leiden abgeleitetes Gefühl. Unleugbar daher auch, daß wir unser Daseyn nicht durch sich selbst, sondern durch die mancherley in uns vorgehenden Veränderungen erkennen.41

4 Das Gefühl der Identität Wenn Mauvillon von ›Identität‹ spricht, meint er die Identität einer individuellen Person über die Zeit hinweg, die diachrone Identität der Person. Mit seinen Ausführungen hierzu tritt Mauvillon in eine Debatte zu einem Thema ein, das seit Lockes berühmtem Kapitel Of Identity and Diversity, publiziert 1694 in der zweiten Auflage seines Essay concerning Human Understanding, kontrovers und lebhaft diskutiert wurde. In Deutschland setzte sich schon Leibniz mit Lockes Position kritisch auseinander. In Mauvillons unmittelbarem Kontext, den 1770er Jahren, leisteten fast alle wichtigen deutschen Philosophen der Zeit wie Feder, Tetens, Tiedemann, Hißmann, Meiners und andere Beiträge zum Thema. Mauvillon macht deutlich, dass er mit der

|| 40 Johann Christian Lossius: Physische Ursachen des Wahren. Gotha 1775 [i. e. 1774], S. 160f. Zu Lossius vgl. Udo Thiel: Experience and Inner Sense: Feder–Lossius–Kant. In: The Experiential Turn in Eighteenth-Century German Philosophy. Hg. von Karin de Boer und Tinca Prunea-Bretonnet. New York, London 2021, S. 98‒118. Vgl. zu Merian Thiel: The Early Modern Subject (s. Anm. 14), S. 365– 380. Vgl. Christoph Meiners: Psychologisches Fragment über die Verschiedenheiten des innern Bewußtseins. In: ders.: Vermischte Philosophische Schriften. 3 Bde. Leipzig 1775/76, Bd. 2, S. 3–44, bes. S. 10. Michael Hißmann: Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik. Frankfurt a. M., Leipzig 1777, bes. S. 118–122. Zu Meiners und Hißmann vgl. Udo Thiel: Varieties of Inner Sense. Two Pre-Kantian Theories. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 79 (1997), S. 58–79. 41 Tiedemann: Untersuchungen (s. Anm. 9), Bd. 2, Anhang, S. 23. Vgl. auch ebd., Bd. 1, S. 56: »Eben dadurch daß wir uns bewußt sind, wir haben eine gewiße Modifikation, sind wir uns auch bewußt daß wir existieren«.

116 | Udo Thiel relevanten Literatur gut vertraut ist, denn er schreibt, dass er zwar »so viel […] über die Materie gelesen und gedacht« habe, er aber meine, dass »die wahre Beschaffenheit des Gefühls der Identität« noch nicht angemessen dargestellt worden sei.42 Mauvillon versucht, eine solche neue Darstellung der »wahren Beschaffenheit« des Identitätsgefühls vorzulegen. Wir werden sehen, dass Mauvillon sich bezüglich der Identitätsfrage sowohl von Denkern wie Feder, Tetens und Tiedemann als auch von materialistischen Philosophen wie Hißmann und Meiners unterscheidet. Freilich erwähnt Mauvillon außer Tiedemann keinen dieser Philosophen namentlich, aber ein wesentliches Merkmal, durch das er sich von diesen Denkern abhebt, lässt sich schon in seiner Definition des Identitätsgefühls ausmachen. Mauvillon schreibt: Das Gefühl der Identität, ist dasjenige Gefühl, nach welchem wir empfinden, (mit oder ohne Wahrheit, das thut hier nichts zur Sache,) daß wir eben diejenigen Menschen oder Wesen sind, die wir vor zehn, funfzehn, zwanzig Jahren, kurz, von der Zeit her, da wir uns überhaupt besinnen können, waren.43

Das Identitätsgefühl haben wir für Mauvillon trotz aller Veränderungen, die wir durchmachen. Dies gilt nicht nur für Veränderungen, deren wir uns bewusst sind, sondern auch für solche, die wir nicht bemerken wie »die Abänderung der innern Theile«. Wir sind in jedem Fall »fest überzeugt« davon, dass wir immer noch dieselbe Person seien.44 Gleichsam nebenbei, im Klammerausdruck, deutet Mauvillon im zitierten Passus das erwähnte wesentliche Charakteristikum seiner Position an. Er wendet sich damit gegen die in dieser Zeit oft gehörte Auffassung, die auch Dietrich Tiedemann vertritt, wonach das Bewusstsein von meiner diachronen Identität Evidenz für die Realität derselben sei. Tiedemann etwa akzeptiert zwar das Argument materialistischer Denker wie Hißmann und Meiners, dass es eine Illusion sei zu meinen, wir hätten ein Bewusstsein von unserer vollständigen Identität. Es sei aber für genuines, wahrheitsgemäßes Identitätsbewusstsein auch gar nicht erforderlich, dass wir uns aller Aspekte unseres vergangenen Lebens bewusst seien. Es reiche aus, dass wir auf Grund von Erfahrung wüssten, dass wir es waren und keine andere Person, die vor 10 oder 20 Jahren an einem bestimmten Ort gewesen sei und in diesen oder jenen Umständen dies oder das getan oder erlebt habe.45 Darüber hinaus behauptet || 42 Mauvillon: Ueber das Ich (s. Anm. 1), S. 395f. 43 Ebd., S. 396. 44 Ebd. 45 »Wir sind uns bewußt, daß wir seit vielen Jahren noch eben diejenigen sind, die ehemals gewisse Handlungen verrichteten, und gewisse Schicksale erfuhren (*[Fußnote:] ›Reimarus natürl. Religion. Abh. VI. Para 2 sqq. gebraucht diesen Beweis gleichfalls, aber auf eine etwas andere Art‹). Falsch, sagt man, dies Bewußtseyn einer vollkommenen Identität haben wir nicht, und wir betrügen uns selbst, wenn wir es zu haben glauben (**[Fußnote:] Meiners vermischte Schriften, Band II).

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Tiedemann, dass es einen unkörperlichen Bestandteil des Ich geben müsse, der über die Zeit hinweg identisch bleibe, was auf unseren Leib, der sich ständig verändere, nicht zutreffe. Andernfalls könne es die tatsächlich vorhandene und durch innere Erfahrung verbürgte Überzeugung von der eigenen Identität gar nicht geben.46 Im Gegensatz dazu argumentiert Mauvillon, dass man aus dem Gefühl der Identität gar keine metaphysischen Schlüsse ziehen könne. Mauvillon beginnt seine Erklärung mit einem Hinweis auf die Verknüpfung des Identitätsgefühls mit dem Selbstgefühl. Wenn wir nicht fühlten, dass wir existierten, könnten wir auch nicht fühlen, dass wir in der Vergangenheit existiert hätten, geschweige denn, dass wir numerisch dieselben Personen wie zu einem vergangenen Zeitpunkt seien.47 Wir können demnach das Identitätsgefühl nicht ohne das Selbstgefühl haben. Und da es nach Mauvillon ohne innere oder äußere Empfindungen kein Selbstgefühl geben kann, kann es für ihn ohne innere oder äußere Empfindungen auch kein Identitätsgefühl geben. Das Identitätsgefühl setzt ebenso wie das Selbstgefühl innere und äußere Empfindungen voraus.48 Es ist laut Mauvillon aber möglich, dass wir uns in jeder Empfindung unseres Ichs bewusst seien, ohne zu fühlen, dass wir vorher exis-

|| Falsch, sage ich auch; denn auf das Bewußtseyn einer vollkommenen Identität baue ich hier nichts; nur das wünschte ich mir nach allen Erfahrungen eingeräumt, daß wir mit vollkommener Ueberzeugung wißen, daß wir selbst, und keine andern Persohnen [sic!] es waren, die vor zehn, zwanzig, oder mehr Jahren an dem und dem Orte waren, mit den und den Gegenständen sich beschäftigten; unter solchen Umständen lebten« (Tiedemann: Untersuchungen [s. Anm. 9]. Bd. 2, S. 67f.). 46 Im Einzelnen argumentiert Tiedemann wie folgt: »In der Reihe von Jahren, die zwischen gewißen Begebenheiten unsers Lebens verfloßen sind, sind in und an uns große Veränderungen vorgegangen; wären diese so allgemein, daß an uns von unsern ehmahligen Theilen nichts übrig geblieben wäre: so könnten wir uns unmöglich überzeugen, daß wir selbst es sind, die ehemals dies oder jenes vornahmen, wie könnte diese Ueberzeugung fortdauern, wenn all diejenigen Theile von uns, in denen und durch die wir sie hatten, verlohren gegangen sind?« (Tiedemann: Untersuchungen [s. Anm. 9], Bd. 2, S. 68). Daraus schließt er: »Es ist also unmöglich, daß wir uns an unsere vorigen Jahre erinnern, und mit vollkommener Ueberzeugung wißen können, daß wir diejenigen sind, die vormahls dies oder jenes thaten, wenn nicht in uns etwas ist, das unter allen unsern Veränderungen immer unverändert fortdauert. Nun aber ist dies nicht unser Körper« (ebd., S. 69). Vgl. auch: »und wir erinnern uns doch der Dinge, die vor 20, 30, und mehr Jahren mit uns vorgegangen sind; wißen gantz genau, daß sie mit uns selbst, nicht mit einer andern fremden Persohn sich zugetragen haben, wißen dies so fest, als ob es erst heute geschehen wäre? Es folgt also, daß das Wesen in uns, welches dies alles weiß, immer unverändert dasselbe bleibt, das ist, daß es von dem Körper und seiner Organisation verschieden ist« (ebd., S. 70). 47 »Wenn wir gar nicht empfänden, daß wir existirten, so könten wir nicht empfinden, daß wir existirt hätten, vielweniger daß wir dieselben wären, die zu der und der Zeit existirten« (Mauvillon: Ueber das Ich [s. Anm. 1], S. 396). 48 Ebd., S. 408.

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tiert und empfunden hätten. Wir könnten also sehr wohl das Selbstgefühl ohne das Identitätsgefühl haben.49 Mit dieser letztgenannten Position unterscheidet sich Mauvillon von Denkern wie dem von ihm in anderem Zusammenhang erwähnten Reimarus. Denn laut Reimarus setzt schon mein Bewusstsein von einer gegenwärtigen Empfindung voraus, dass mir reale diachrone Identität zukommt. Damit ich gegenwärtig bewusste Empfindungen haben könne, müsse ich diese von anderen unterscheiden. Und dieses könne ich nur leisten, wenn ich in der Lage sei, sie mit früheren Empfindungen zu vergleichen. Letzteres schließlich sei mir nur möglich, wenn ich nicht nur ein Identitätsgefühl hätte, sondern auch tatsächlich über die Zeit hinweg dasselbe Wesen sei, dem sowohl die früheren als auch die gegenwärtigen Empfindungen zukämen.50 Mauvillon betont in seinem nächsten Schritt die Rolle der Erinnerung für das Identitätsgefühl. Er argumentiert, dass dieses »ohne dieselbe gar nicht existiren würde«. Wenn wir uns nicht daran erinnern könnten, vor zehn Jahren bestimmte Empfindungen gehabt zu haben, würden wir auch nicht fühlen können, dass wir zu der Zeit existierten und dass wir jetzt dasselbe Wesen seien, das wir vor zehn Jahren waren.51 In diesem Punkt scheint sich Mauvillon wieder mit Tiedemann einig zu sein, der ebenfalls behauptet, dass das Bewusstsein von der eigenen Identität vom Erinnerungsvermögen bzw. »vom Gedächtniße« abhänge.52 Das Identitätsgefühl wird von Mauvillon auch als »eine natürliche, notwendige und unausbleibliche Folge, eine blosse Bestimmung des Erinnerungsvermögens« beschrieben.53 Damit ist gemeint, dass das Identitätsgefühl unmittelbar mit jedem Akt des Erinnerns verbunden sei. Mauvillon spricht daher nicht immer von einer »Folge« des Erinnerungsvermögens, sondern davon, dass das »Gefühl der Identität von jeder Erinnerung ganz unzertrennlich ist und, statt haben mus, sobald als jene statt findet«.54 Denn wenn man sich an eine frühere Empfindung erinnere, werde der Gegenstand, der den Eindruck hervorbrachte, als Erinnerung an den Gegenstand vorgestellt, der Eindruck als die Erinnerung des Eindrucks, und das Selbstge-

|| 49 »Also könte das Selbstgefühl wol ohne Gefühl der Identität, dies aber nicht ohne Selbstgefühl existiren« (ebd., S. 396). 50 Vgl. Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Hamburg 31766, S. 442. Vgl. hierzu ausführlicher Thiel: The Early Modern Subject (s. Anm. 14), S. 335– 339. 51 Mauvillon: Ueber das Ich (s. Anm. 1), S. 401. 52 Tiedemann schreibt: »Bewußtseyn der Personalität hängt doch wol offenbahr vom Gedächtniße ab, weil es mit ihm vergeht und entsteht« (Tiedemann: Untersuchungen [s. Anm. 9]. Bd. 2, Anhang, S. 37). »Bewußtseyn der Personalität« wiederum ist für ihn nichts anderes als Bewusstsein von der eigenen Identität. Vgl. hierzu ebd., S. 37f. 53 Mauvillon: Ueber das Ich (s. Anm. 1), S. 396f. 54 Ebd., S. 399.

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fühl werde als die »Erinnerung des Selbstgefühls« vorgestellt. Das Gefühl der Identität hänge von dieser Art des Vorstellens der Teile, aus denen jede Empfindung bestehe, ab. Sobald ich mich an mein früheres Selbstgefühl erinnerte, müsse ich mich als dasselbe Wesen denken, das einmal den Eindruck erhalten habe.55 Es wird nun deutlich, wie sich Mauvillons Analyse zu metaphysischen Annahmen über die Natur der Seele verhält. Da wir das Identitätsgefühl auch dann haben könnten, wenn wir uns vollständig verändert hätten, lasse sich unsere reale Identität durch es nicht beweisen.56 Daher könne man aus dem Identitätsgefühl auch nichts über das Wesen der Seele ableiten. Hier wendet sich Mauvillon direkt gegen Tiedemann. Denn wie oben erwähnt meint dieser, das durch Erfahrung verbürgte Identitätsgefühl könne es ohne eine durch Veränderungen nicht zerstörbare immaterielle Seele gar nicht geben. Ohne die Gegenposition des Materialismus einzunehmen, argumentiert Mauvillon, man könne die Existenz einer unzerstörbaren Seele, die alle materiellen Veränderungen überstehe, nicht aus dem Gefühl der Identität erschließen, »weil dies Gefühl mit der Erinnerung einer selbst gehabten Empfindung wesentlich und unabänderlich verbunden ist«. Und letzteres bedeute nur, dass wir glauben müssten, wir seien dasselbe Wesen, das wir zum Zeitpunkt der früheren Empfindung waren. Aber dieser Glaube »mag wahr seyn oder nicht«.57 Für Mauvillon gilt daher, dass »sich das Gefühl der Identität nicht auf etwas reelles in unserm Wesen, sondern blos auf die Vorstellungsart vergangner Empfindungen gründet«. Wenn es so wäre, dass das Identitätsgefühl »auf etwas reelle[m] in unserm Wesen« beruhte, dann, so Mauvillon, könnte es uns nie täuschen. Tatsächlich könne das Identitätsgefühl aber im Gegensatz zum Selbstgefühl sehr wohl »betrüglich« sein.58 Schon dies spreche gegen die Existenz von einer »unserm Wesen anklebenden innern Beschaffenheit«, auf die sich das Identitätsgefühl gründe.59 Folglich analysiert Mauvillon lediglich dieses Gefühl und geht das Thema der Identität nicht metaphysisch an, legt sich nicht auf diese oder jene Auffassung vom Wesen der Seele fest. Kurz, es geht ihm um psychologische Analyse, nicht um Seelenmetaphysik. Dass die Psychologie einen Vorrang vor anderen philosophischen Disziplinen habe, war schon 1774 von Heinrich Friedrich Diez als charakteristisch für die neuere deutsche Philosophie beschrieben worden.60 In Ueber das Ich geht die

|| 55 »Sobald als ich mich des damals gehabten Selbstgefühls als Selbstgefühls erinre, so mus ich mich mir auch als dasselbe Wesen denken, das damals den Eindruck empfing, ich mag es seyn oder nicht« (ebd., S. 399). 56 »[E]s beweist also an sich auch nichts im geringsten für die wahre Selbstheit eines solchen Wesens« (ebd., S. 400). 57 Ebd. 58 Ebd., S. 406. 59 Ebd., S. 407. 60 Vgl. Diez: Vom heutigen Zustande (s. Anm. 28), S. 50: »Es hat das Ansehn, als ob sich unsre Philosophen vereinigt hätten, in der Psychologie zuerst reine Bahn zu machen, ehe sie sich die

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psychologische Analyse metaphysischen Lehren von der Seele aber nicht vorher, sondern ersetzt diese vielmehr. Ähnlich wie Mauvillon denkt zur selben Zeit der auch in Deutschland einflussreiche Joseph Priestley über die Gefühle von Einheit und Identität. Dieser argumentiert, dass man aus psychologisch notwendigen Prozessen nichts über die (materielle oder immaterielle) Natur des Ich schließen könne.61 Im 18. Jahrhundert meinte man gar eine Analogie in der Argumentation von Priestley und Kant (in seiner Kritik an der rationalen Psychologie) sehen zu können. Denn sowohl Priestley als auch Kant weisen den Schluss von der Einheit als notwendig zu denkender (Kant) oder angeblich gefühlter (Priestley) auf die Einfachheit der Seele zurück. In Grundsätze der Logik und Metaphysik von 1794 nennt Johann Georg Heinrich Feder unter den Argumenten, die gegen den Spiritualismus vorgebracht worden seien, dieses, dass »aus der Einheit (Individualität) des Denkens, Wollens etc. nur Einheit des logischen Subjectes […] folge; nicht aber Einheit des metaphysischen Subjectes oder der Substanz«.62 Dieses in kantischer Terminologie vorgebrachte Argument schreibt Feder dann sowohl Priestley als auch Kant zu.63 Für Priestley eröffnet sich durch die Zurückweisung der Vorstellung, ein Gefühl oder Bewusstsein von Einheit und Identität könne als Evidenz für eine einheitliches, identisches und gar immaterielles Ich dienen, die Möglichkeit, auf anderer Basis als der des Gefühls für ein materialistisches Verständnis der Seele zu argumentieren – ein Projekt, das allerdings sowohl Kant als auch Mauvillon in Ueber das Ich offensichtlich nicht verfolgen. Wie wir oben sahen, unterscheidet Mauvillon zwischen einem unmittelbaren, vor-reflexivem Selbstgefühl, das sowohl Tieren als auch Menschen zukomme, und einem reflektierten, vermittelten Selbstbezug, der nur den Menschen möglich sei. Eine ähnliche Unterscheidung führt Mauvillon mit Bezug auf das Identitätsgefühl ein. Laut Mauvillon kann kein Zweifel daran bestehen, dass Tiere in der Lage sind, sich an frühere Empfindungen zu erinnern. Damit haben sie auch ein Identitätsgefühl, das für ihn ja »von jeder Erinnerung ganz unzertrennlich ist«.64 Ein genaues Wissen darüber, wann eine bestimmte erinnerte Erfahrung gemacht wurde, sei zwar nur den Menschen möglich, aber auch diese hätten ein solches Wissen oftmals

|| übrigen Reviere der Spekulation ernstlich zueignen. Die von Zeit zu Zeit herauskommenden Schriften bestätigen es. Alles ist psychologischen Inhalts«. 61 Zu Priestley vgl. Udo Thiel: Kant und der Materialismus des 18. Jahrhunderts. In: Akten des 12. Internationalen Kant-Kongresses Natur und Freiheit in Wien vom 21.–25. September 2015. Hg. von Violetta L. Waibel und Margit Ruffing. Bd. 1. Berlin, Boston 2018, S. 595–614. 62 Johann Georg Heinrich Feder: Grundsätze der Logik und Metaphysik. Göttingen 1794, S. 242. 63 »Vergl. Priestley p. 86 sq. Kant Crit. der R.V. 460ff. 769ff. 812ff.« (Feder: Grundsätze [s. Anm. 62], S. 243). Vgl. hierzu ausführlicher Thiel: Kant und der Materialismus (s. Anm. 61). 64 Mauvillon: Ueber das Ich (s. Anm. 1), S. 399. Mauvillon wendet sich hier gegen Reimarus und argumentiert, dass Tiere ein distinktes Erinnerungsvermögen hätten und nicht prinzipiell gegenwärtige mit erinnerten Empfindungen verwechselten (ebd., S. 410).

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nicht.65 Die Tiere »behalten ihr Andenken, und mit demselben das Gefühl der Identität, ohne sich freilich dasselbe deutlich zu denken. Wenn man es aber […] sich deutlich denken müste, um es zu haben, so könte man es nur wenigen grübelnden Köpfen, und auch diesen nur in gewissen wenigen Augenblicken zuschreiben«.66 Als Grund für diesen Unterschied zwischen Mensch und Tier wird wiederum die Sprachfähigkeit und die damit verbundene Abstraktionsfähigkeit angegeben, die den Tieren fehle.67

5 Die »gedoppelte Identität, oder Personalität« Mauvillon wusste offenbar um die Probleme, die eine Auffassung von personaler Identität mit sich bringt, die diese rein in Bezug auf ein inneres Gefühl betrachtet. Er räumt daher ein, dass die Überzeugung von meiner Identität sich auch auf das Zeugnis anderer berufen könne und sich nicht ausschließlich auf die eigene Erinnerung und das Identitätsgefühl stützen müsse. Beispielsweise beruhe der Glaube, dass ich jetzt dieselbe Person wie das Kleinkind sei, nicht auf einer Erinnerung an meine Zeit als Kleinkind, denn eine solche Erinnerung gebe es nicht. Es handele sich vielmehr um »eine Ueberzeugung die aus dem Zeugnis andrer entsprungen ist«.68 Auch bezüglich unseres späteren Lebens gebe es viele Handlungen, an die wir uns gar nicht oder nur dunkel erinnern könnten und bei denen wir uns auf die Berichte anderer verließen. Wie lassen sich Mauvillons Aussagen über die Bedeutung des Zeugnisses anderer in seine Auffassung von Identität als bloß innerem Gefühl einbauen? Bereits Leibniz hatte Locke dafür kritisiert, dass letzterer personale Identität ausschließlich auf Bewusstsein und Erinnerung fußen lasse und nicht das Zeugnis anderer für die Identitätsfrage einbeziehe. Charles Bonnet schließlich führte den Begriff einer zweifachen Identität ein: (1) die aus der Perspektive der ersten Person; hier spielen Bewusstsein und Erinnerung die zentrale Rolle, und (2) die aus der Perspektive der dritten Person, bei der man sich auf das Zeugnis anderer beruft.69 Mauvillon war mit

|| 65 Ebd., S. 416. 66 Ebd., S. 418. 67 Ebd., S. 415–417. In diesem Punkt folgt Mauvillon offenbar Argumenten Charles Bonnets, den er in anderen Zusammenhängen erwähnt. Vgl. Charles Bonnet: Essai analytique sur les facultés de l’âme. Kopenhagen 1760, § 314. 68 Mauvillon: Ueber das Ich (s. Anm. 1), S. 401. 69 Bonnets ausführlichste Bemerkungen zur personalen Identität sind in seinem Essai analytique sur les facultés de l’âme (s. Anm. 67) zu finden, wo er ähnlich wie vor ihm Condillac das Bild einer Statue gebraucht, die nach und nach zum Leben erwacht, um die kognitiven Fähigkeiten des Geistes zu erklären. Zum Verhältnis von personaler Identität aus der Perspektive der ersten und in der dritten Person siehe die §§ 702–712. Allerdings schließt die Perspektive der dritten Person bei Bon-

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Bonnets Werk vertraut, wie aus dem eingangs erwähnten Hinweis in einem anderen Zusammenhang hervorgeht.70 Im gegenwärtigen Kontext führt er den Begriff einer »gedoppelte[n] Identität, oder Personalität« ein, mit dem er an Bonnets Gedanken anknüpft, allerdings ohne diesen hier zu erwähnen.71 Mauvillon argumentiert, dass es eine Identität »für uns« gebe und eine weitere, »für andre, die beide auf ganz andren Gründen beruhen, ganz verschiednen Gesezen folgen, und endlich ganz unabhängig von einander sind, wenn sie schon oft eine auf die andre Einfluß haben, und in ihren Wirkungen auf einander sich vermischen«.72 Die Identität oder Personalität »für uns selbst gründet sich lediglich auf das Erinnerungsvermögen«.73 Bezüglich aller Empfindungen und Handlungen, an die ich mich nicht erinnern könne, hätte ich kein Identitätsgefühl, so sehr auch andere mir berichteten, dass ich dies gefühlt oder das getan hätte. Ich könne ihnen zwar glauben, wenn die Zeugen viele und verlässlich seien, aber ein Gefühl von meiner Identität gehe daraus nicht hervor.74 Wenn Sie sichs aber nicht erinnern können, so kriegen sie auch in ihrem Leben kein Gefühl der Identität von der Handlung und Empfindung, und können also mit innerer Ueberzeugung nimmermehr sagen, ob Sie dasselbe Wesen sind, das das that und empfand, oder nicht.75

Die Identität oder Personalität »für andre« beruhe auf Gründen, die nicht mit unserer »innern Überzeugung« verknüpft seien.76 Das Bewusstsein oder vielmehr die Überzeugung, die ich von der Identität anderer Personen hätte (oder andere von meiner Identität), gründe sich vielmehr »auf die Kontinuität der Erscheinungen und Eindrücke, die ein menschliches Wesen von seiner Geburt an bis auf seinen Tod auf uns machen kan, verbunden mit der Kentnis der Veränderungen die ein solches Wesen in dem ganzen Zeitraum erfahren kann«.77 Es ist jedoch nicht nur die äußere Erscheinung, deren Kontinuität uns dazu veranlasse, anderen Personen diachrone Identität zuzusprechen. Auch Aspekte wie Kenntnisse, Sprache und das Ideensys|| net, anders als bei Mauvillon, die göttliche Perspektive ein. – Bonnets Essai de psychologie von 1755 wird in Mauvillons Briefwechsel erwähnt (s. Anm. 3), S. 51. 70 Mauvillon: Ueber das Ich (s. Anm. 1), S. 398. 71 Ebd., S. 402. Allerdings behauptet Mauvillon trotz des Verweises auf Bonnet an anderer Stelle, dass er kein Buch kenne, in dem der Unterschied zwischen der Identität »für uns« und der »für andre« untersucht werde. Er würde sich aber sehr wundern, fügt er hinzu, wenn ein solches nicht existierte (ebd., S. 405). 72 Ebd., S. 402. 73 Ebd. Ich muss mich »bei der Erinnerung für dasselbe Wesen halten, das ich war, als ich die erinnerte Empfindung hatte, ich mag es seyn oder nicht« (ebd., S. 403). 74 Ebd., S. 403. 75 Ebd., S. 402. 76 »Für andre aber beruht unsre Personalität auf ganz andern Gründen, die mit unsrer innern Ueberzeugung gar keine Verbindung haben« (ebd., S. 403). 77 Ebd., S. 403f.

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tem, dem jemand folge, sollen eine Rolle spielen.78 Details dazu, wie genau diese Aspekte zur Identitätszuschreibung bei anderen Personen beitragen, gibt Mauvillon nicht an. Er greift aber ein Beispiel auf, das auch Locke bespricht, den Fall der Trunkenheit. Jemand möge durch Trunkenheit kein Gefühl der Identität haben, aber im Urteil anderer könne er dennoch als dieselbe Person gelten, die in der Vergangenheit und im Zustand der Trunkenheit bestimmte Dinge getan habe. Die beiden Arten von Glauben oder Gefühl in Bezug auf die diachrone Identität von Personen können sich laut Mauvillon wie angedeutet durchaus gegenseitig beeinflussen. Das Zeugnis anderer, wie etwa das meiner Eltern, und das Gefühl der Identität anderer Personen, könnten mich gemeinsam davon überzeugen, dass ich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit geboren sei, obwohl ich hinsichtlich meiner Geburt kein Identitätsgefühl hätte.79 Und ich könnte andere von meiner Identität überzeugen, die mich lange Zeit nicht gesehen haben, indem ich auf mein Bewusstsein von Identität in Bezug auf Ereignisse verweise, bei denen mein Ich Eindrücke auf ihr Ich gemacht hätte.80 Andererseits könne ich andere ausschließlich auf Grund meines Identitätsgefühls nicht von meiner Identität überzeugen, wenn sie keine anderen, äußeren Evidenzen für diese hätten.81 In diesem Kontext verweist Mauvillon wie Locke und andere Denker vor ihm auf die Bedeutung und Komplexität der Identitätsfrage im rechtlichen Bereich. Ohne explizit auf Locke zu verweisen, greift er dessen Aussage auf, wonach wir zögerten, eine Person für ein Verbrechen zu bestrafen, wenn diese sich nicht ihrer Identität mit der Person bewusst sei, die das Verbrechen begangen habe. Allerdings argumentiert Mauvillon letztlich nicht wie Locke, sondern wie dessen Freund und Kritiker William Molyneux, wenn er sagt, dass man sich beispielsweise im Trunkenheitsfalle nicht auf ein mangelndes Identitätsbewusstsein herausreden dürfe, da die Trunkenheit selbst schon ein Vergehen sei.82 Mauvillon betont allerdings, dass wir uns auch ein »erkünsteltes Identitätsgefühl« konstruieren könnten. Zwar rufe das Zeugnis anderer allein bei mir kein Identitätsgefühl mit Bezug auf die bezeugten Ereignisse oder Handlungen hervor. Wenn aber andere mir wieder und wieder von Ereignissen erzählten, an die ich mich nicht

|| 78 »Aeussere Figur nach allen ihren Bestimmungen, Kenntnisse, Ideensystem, Sprache, Bewegungen, Art die Eindrücke zu empfangen, und darnach zu handeln, das sind die Hauptbestandtheile dessen, woraus wir ein menschliches Wesen für dasselbe erkennen, was ehmals die und die Eindrücke auf uns machte« (ebd., S. 404). 79 Ebd., S. 404. 80 Ebd., S. 405. 81 Ebd., S. 404. 82 »Eben so scheint die menschliche Natur einen Widerwillen zu haben, den zu strafen, der das Gefühl der Identität in Ansehung der strafbaren That nicht hat« (ebd., S. 405). Jeder sehe aber ein, »daß die Trunkenheit, und die Fähigkeit sich derselben so wie jedes andern Frevels zu enthalten, den, der darein verfällt, strafbar macht« (ebd.).

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erinnerte, könne ich schließlich dazu kommen, an die Realität der Ereignisse derart fest zu glauben, als ob ich mich tatsächlich an diese Ereignisse erinnerte. Auf diese Weise »habe ich mir in Ansehung dieser Begebenheiten ein erkünsteltes Identitätsgefühl gemacht, ohne es zu wissen«.83

6 Wirkung? Offenbar hat Mauvillon seine Überlegungen aus Ueber das Ich nicht weiterverfolgt. Das anthropologische Projekt aus den frühen 1770er Jahren, in das diese Überlegungen einzubauen wären, wird von Mauvillon nicht wieder aufgenommen. In seiner Schrift Mann und Weib (1791) kommt er allerdings auf das Selbstgefühl zu sprechen. Dieses ist, so Mauvillon, geschlechtsneutral und für ›Mann und Weib‹ gleichermaßen grundlegend. Er schreibt: Das Urgesetz der menschlichen Natur ist, daß jeder für sich selbst der Mittelpunkt der ganzen Welt ist. Nur von seinem Ich hat man ein innres Gefühl; alles andre sind bloße Erscheinungen, Eindrücke, die auf dieses Ich geschehn, und wovon man ein Bewußtseyn hat.84

Die detaillierten Ausführungen in Ueber das Ich blieben aber in den Seiten des Deutschen Museums verborgen, wurden nicht wieder publiziert und dürften daher kaum Wirkung erzielt haben. Immerhin hat – wie anfangs erwähnt – Dietrich Tiedemann auf Mauvillons Aufsatz reagiert, auch wenn wir nicht wissen, worin diese Reaktion bestand. Ansonsten hat es außer kurzen Hinweisen beispielsweise in der Nürnbergischen gelehrten Zeitung wohl kaum Auseinandersetzungen mit Ueber das Ich gegeben.85 Mauvillons metaphysisch neutrale Überlegungen scheinen jedoch einen Einfluss auf das materialistische Denken Ende des 18. Jahrhunderts gehabt zu haben. Karl Spaziers Anti-Phädon von 1785, ein bekanntes materialistisches Werk, geht auf die Themen Selbstgefühl und personale Identität ein und übernimmt Gedanken, die

|| 83 Ebd., S. 406. 84 Jakob Mauvillon: Mann und Weib nach ihren gegenseitigen Verhältnissen geschildert. Leipzig 1791, S. 141f. Vgl. zu dieser Stelle im Kontext von Mann und Weib den Beitrag von Jutta Heinz in diesem Band. Vom »Gefühl der Existenz« spricht Mauvillon auf S. 347–349, vom »Selbstgefühl« auf S. 7. 85 Vgl. Nürnbergische gelehrte Zeitung 2 (1778), S. 180 und S. 319, wo der Rezensent sich »tiefere Forschung« hinsichtlich des Verhältnisses des Selbstgefühls zu den »Bewegungen der inneren und äußeren Organe« wünscht. Zu Mauvillons zweitem Brief heißt es: »Hier wird scharfsinnig und mit empirischer Populairität das Gefühl der Identität untersucht und dabey allerhand gute Raisonnements über damit verwandte Gegenstände eingeflochten. Da der V. auf dem Wege der Erfahrung ausgeht: so weichen seine Resultate oft von den vorigen Urtheilen ab« (Nürnbergische gelehrte Zeitung 3 [1779], S. 70). Für den Hinweis auf die Reaktionen in der Nürnbergischen gelehrten Zeitung danke ich Arne Klawitter.

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sich bei Mauvillon finden, ohne allerdings auf dessen Aufsatz zu verweisen.86 Die bisweilen nahezu identischen Formulierungen legen nahe, dass tatsächlich Mauvillon die Quelle war und nicht andere Denker, die zu einzelnen Punkten ähnliche Positionen vertreten haben. Spazier benutzt ›Selbstgefühl‹ in derselben Weise wie Mauvillon, als synonym zu »Gefühl des Ichs«, »Gefühl seines Daseins«, »Gefühl der Ichheit […] oder dessen, daß ich existiere«.87 Wie Mauvillon sagt Spazier, dass das Selbstgefühl uns wesentlich sei,88 dass ein jeder von der Existenz eines solchen Gefühls überzeugt sei und dass niemand glaube, dass uns dieses Gefühl betrügen könne. Ein jeder halte seine eigene Existenz auf Grund dieses Gefühls für gewiss.89 Und wie für Mauvillon gilt auch für Spazier, dass das Selbstgefühl zwar von allen anderen Empfindungen unterschieden,90 aber nicht ein von diesen unabhängiges Gefühl sei. Die Seele fühlte ihre Existenz nicht, wenn sie nicht innere und äußere Empfindungen hätte.91 Und ähnlich wie Mauvillon unterscheidet Spazier zwischen dem unmittelbaren Selbstgefühl und einem Selbstbewusstsein, das »durch Vernunft« geleitet werde.92 Bei der Frage nach der Identität geht es Spazier wie Mauvillon nicht um Metaphysik, nicht darum, was Identität konstituiert, sondern um die Erklärung des Bewusstseins oder des Gefühls von unserer diachronen Identität. Und wie Mauvillon ist Spazier der Auffassung, dass das Gefühl der Identität (anders als das Selbstgefühl) nicht »untrüglich« sei, also nicht notwendigerweise ein Wissen von unserer realen Identität beinhalte.93 Er argumentiert wie Mauvillon, dass zwar das Selbstgefühl »auf etwas« beruhe, »das dem Menschen wesentlich ist«, das Identitätsgefühl

|| 86 [Johann Gottlieb Karl Spazier:] Anti-Phädon, oder Prüfung einiger Hauptbeweise für die Einfachheit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele. In Briefen. Leipzig 1785. Die Tatsache, dass Spazier später seine materialistische Position zurücknahm, wie aus seiner Autobiographie hervorgeht, ist im gegenwärtigen Zusammenhang nicht relevant. Vgl. Karl Spazier: Carl Pilger’s Roman seines Lebens. Von ihm selbst geschrieben; ein Beitrag zur Erziehung und Kultur des Menschen. 3 Bde. Berlin 1792–1796. 87 [Spazier:] Anti-Phädon (s. Anm. 86), S. 231, S. 15, S. 231f. 88 Das Selbstgefühl »beruht auf etwas, das dem Menschen wesentlich ist« (ebd., S. 232). 89 Ebd., S. 15. 90 »Bei dem Gefühl des Ichs, – welches ein ursprüngliches, von allen übrigen Arten der Empfindungen verschiedenes Gefühl ist« (ebd., S. 231). 91 »Es ist gewiß und der Erfahrung gemäß, daß, wenn alle Bewegung der äußeren und inneren Organe aufhört, die Seele ihr Eigendasein nicht mehr empfindet. Dieses Selbstgefühl also, aus dem soviel zum Besten des Spiritualismus bewiesen werden soll, hängt einzig und allein von dem Dasein äußerer und innerer Empfindungen ab. Nun aber sind die Empfindungen, aus welchen nachher auf verschiedenen Wegen sich sowohl dunkle als deutliche Vorstellungen bilden, ursprünglich Modifikationen des Körpers. Selbst das, was auf den sinnlichen Eindruck folgt und was wir Reflexion zu nennen pflegen, wird, wenn auch nicht unmittelbar, doch wenigstens mittelbar von ihm erregt« (ebd., S. 233f.). 92 Ebd., S. 24. 93 Ebd., S. 232.

126 | Udo Thiel aber nur auf einer »gewissen Vorstellungsart«,94 woraus keine Schlüsse auf metaphysische Entitäten wie etwa einer einfachen Seele gezogen werden könnten.95 Wie für Mauvillon ist auch für Spazier das Identitätsgefühl eine »natürliche Folge des Erinnerungsvermögens«96 – eine der Formulierungen, die sich nahezu wörtlich bei Mauvillon finden. Wie Mauvillon argumentiert Spazier, dass ohne das Erinnerungsvermögen das Gefühl meines früheren Daseins nicht existierte. Man müsste sich sonst auf das Zeugnis anderer berufen, das sei eine ganz andere Angelegenheit, die nicht hierher gehöre.97 Hier wird Mauvillons Unterscheidung zwischen der Identität »für uns« und der »für andere« angedeutet, aber nicht entwickelt. Letztere spielt für Spazier keine Rolle. Offensichtlich enthält Spaziers Abhandlung weitere Aspekte, die bei Mauvillon keine Entsprechung haben, wie etwa die 1778 noch nicht möglichen Bezugnahmen auf Kants Kritik der reinen Vernunft und nicht zuletzt Spaziers Festlegung auf eine materialistische Philosophie des Geistes. Umgekehrt gibt es bei Mauvillon Argumente und Details, die bei Spazier nicht vorkommen. Beispielsweise sind zwar beide der Auffassung, dass das Identitätsgefühl das Selbstgefühl voraussetze, aber nur Mauvillon wendet sich explizit gegen die These, dass das Selbstgefühl vom Identitätsgefühl abhängig sei. Die Verortung von Mauvillons Positionen und Argumenten zum Selbst- und Identitätsgefühl muss demnach wie bei den meisten Philosophen, die sich im 18. Jahrhundert mit diesen Themen beschäftigen, bis auf Locke und auf Denker wie Charles Bonnet zurückgehen und, nun im Gegensatz zu den meisten, auch empiristisch orientierten Denkern der Zeit, auf Materialisten wie Spazier vorausschauen. Mauvillon ist hier jedoch trotz fehlender Lockeʼscher begrifflicher Unterscheidungen wie der zwischen Person, Seele und Mensch nicht der materialistischen, sondern der Locke’schen Tradition verbunden, und dies vor allem dadurch, dass er darauf abzielt, Selbstbewusstsein und Identität neutral gegenüber metaphysischen Auffassungen von der Seele zu untersuchen, und dass er Schlüsse auf das Wesen || 94 Ebd. 95 Spazier argumentiert, »daß dies Identitätsgefühl […] gar nicht als etwas Besonderes betrachtet werden kann, aus dem man wer weiß was für Folgerungen für die Einfachheit der menschlichen Seele herleiten könne« (ebd., S. 232). 96 Ebd. 97 »Denn das Gefühl meines ehemaligen Daseins, meiner erlittenen Begegnisse, dieses daher entspringende genaue Unterscheiden meiner Personalität von allen anderen Dingen, was ist es anderes als eine Folge des Erinnerungsvermögens? Dies ergibt sich schon daraus, daß es ohne solches gar nicht existieren würde. Denn außer der Überzeugung von dem Gegenwärtigen setzt es ja eine Verknüpfung der Erinnerungsideen mit Ideen von gewissen Umständen als Zeit, Ort, usw. voraus. Wer sich einer vergangenen, von ihm selbst begangenen Handlung gar nicht erinnern kann, der hat auch, bei aller Anstrengung, kein wahres Gefühl der Identität dieser Handlung; weiß nicht, ob er oder ein anderer es war, der diese Handlung beging. Er müßte es denn auf auf die Versicherung anderer glauben; und dies ist ein ganz anderer Fall, der nicht hierher gehört« (ebd., S. 229f.).

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der Seele für nicht zulässig hält. Diesbezüglich weist Mauvillons Abhandlung auch auf andere, nicht psychologisch orientierte, sondern Metaphysik-kritische Analysen systematischer Art voraus.

Jutta Heinz

»so mag mich ein tiefforschendes und zugleich aufrichtiges Weib zurecht weisen« Jakob Mauvillons Mann und Weib nach ihren gegenseitigen Verhältnissen geschildert in der zeitgenössischen Geschlechterdebatte Als Jakob Mauvillon im Jahr 1791 seine Schrift Mann und Weib nach ihren gegenseitigen Verhältnissen geschildert veröffentlicht – er ist zu diesem Zeitpunkt 48 Jahre alt und seit 18 Jahren verheiratet1 –, greift er damit in eine Debatte ein, die eine lange Vorgeschichte und einen eigenen Namen hat: Unter dem Titel Querelle des Femmes wurde seit dem späten Mittelalter über das Geschlechterverhältnis im Allgemeinen sowie die jeweiligen Vorzüge und Mängel von Männern und Frauen insbesondere gestritten und geschrieben.2 Die Debatte brachte misogyne Klassiker hervor, aber auch schon seit jeher Verteidigungsschriften für das weibliche Geschlecht, häufig von Männern, gelegentlich von Frauen. Sie fand europaweit statt, hielt im 17. Jahrhundert vor allem in den berühmten französischen Salons Einzug und griff spätestens zu Beginn des 18. Jahrhundert auch auf die deutschsprachigen Gebiete über.

|| 1 Zu seinen persönlichen Ansichten gibt ein Brief von Dorothea Friderika Baldinger an Mauvillon vom 7. April 1786 einige Hinweise. Baldinger war selbst als Autorin tätig; sie verfasste eine Autobiographie (Lebensbeschreibung von Friderika Baldinger von ihr selbst verfaßt, postum von ihrem Ehemann veröffentlicht Offenbach 1791). Die Familie lebte in Kassel, man kannte sich also wahrscheinlich auch persönlich. In diesem Brief schildert Baldinger ein etwas anderes Bild von Mauvillons Ansichten insbesondere über gelehrte Frauen, die er alle zum Teufel schicken wolle (»ein gelehrtes Weib ist immer unleidlich«, in: Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzogl[ich]. Braunschweigischen Diensten verstorbenen Obristlieutnant Mauvillon. Gesammelt und herausgegeben von F[riedrich Wilhelm]. Mauvillon. Deutschland [d. i. Braunschweig] 1801, S. 290); und: »alle Mütter wollen Sie in das Tollhaus schicken, die ihren Töchtern eine andre als häusliche Erziehung geben!« (ebd., S. 290). Baldinger stimmt ihm durchaus zu, will aber die Autorin Sophie von La Roche von dem Verdikt ausgenommen wissen. Ihre Haltung ähnelt der von Rousseau, wenn sie schreibt: »Unsre Erziehung mag gewesen seyn wie sie will, wir können nie Grund zu gelehrten Studien legen. Die Form worin uns der Schöpfer goß, verhindert dieses. Der Mann ist da um zu herrschen – nicht wir, sein Geist, so wie sein Körper sagt dieses, wir sind seinetwegen geschaffen« (ebd.). Es wäre jedoch lebenspraktisch durchaus nützlich, wenn Frauen wenigstens eine gewisse Schulung im Denken erhielten: »Seine Gedanken auf dem Papier ordnen, ist eben so nöthig, als den Waschschrank in Ordnung bringen und zu halten« (ebd., S. 292). Andererseits bezeichnet sie Mauvillon aber trotz seiner Abneigung gegen gelehrte Frauen und Schriftstellerinnen als »tapferer Streiter für unser Geschlecht« (ebd., S. 293). 2 Vgl. dazu Gisela Engel, Friederike Hassauer, Brita Rang, Heide Wunder (Hg): Geschlechterstreit am Beginn der europäischen Moderne. Die Querelle des Femmes. Königstein/Ts. 2004. https://doi.org/10.1515/9783110793611-006

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Eine deutsche Spezialität war dabei in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Diskussion über das ›gelehrte Frauenzimmer‹: Dürfen Frauen denken, dürfen Frauen studieren, dürfen Frauen gar literarische oder philosophische Werke veröffentlichen? Doch in der zweiten Jahrhunderthälfte wird die Debatte zunehmend breiter angelegt und verlagert sich, dem allgemeinen Trend folgend, mehr auf bürgerliche als höfische Kontexte: Nun geht es im Wesentlichen um die unterschiedlichen ›Geschlechtscharaktere‹ insgesamt, ihre natürliche Basis, die damit verbundene öffentliche und private Rollenverteilung, die angemessene Erziehung und schließlich auch die rechtliche und politische Situation der Frauen. Ich werde im Folgenden Jakob Mauvillons Schrift in diesen zeitgenössischen Debattenkontexten einordnen. Worum es mir explizit nicht geht, ist eine feministische (im engeren Sinne) oder emanzipatorische (im weiteren Sinne) Bewertung dieser Ansätze. Wichtig sind mir vielmehr ihre historische Situierung, ihre innere Konsistenz oder Nicht-Konsistenz und die Art und Weise, wie sie dargeboten werden. Ich gehe dabei davon aus, dass der Ausgangspunkt der Debatte von den biologischen Unterschieden der Geschlechter bzw. ihrer jeweiligen ›Bestimmung der Natur‹ für das 18. Jahrhundert weitgehend verbindlich ist. Kant schreibt dazu in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht etwas gewunden, aber analytisch höchst klar: Man kann nur dadurch, daß man, nicht was wir uns zum Zweck machen, sondern was Zweck der Natur bei Einrichtung der Weiblichkeit war, als Prinzip braucht, zu der Charakteristik dieses Geschlechts gelangen, und da dieser Zweck, selbst vermittelst der Torheit der Menschen, doch, der Naturabsicht nach, Weisheit sein muß: so werden diese ihre mutmaßlichen Zwecke auch das Prinzip derselben anzugeben dienen können; welches nicht von unserer Wahl, sondern von einer höheren Absicht mit dem menschlichen Geschlecht abhängt. Sie sind 1. die Erhaltung der Art, 2. die Kultur der Gesellschaft und Verfeinerung derselben durch die Weiblichkeit.3

Kants geschlechtertheoretisches Apriori ist also: Es geht nicht darum, was wir uns gern denken möchten; nicht darum, welche persönlichen Zwecke wir bei Geschlechterdebatten verfolgen; nicht darum, was wir wählen würden, wenn wir gefragt würden; sondern um das, was die Natur aus einer höheren Absicht und Weisheit heraus mit dem Menschengeschlecht vorhabe, nämlich: die Arterhaltung und die Kultivierung der Menschheit. Das sind die klassischen Argumente in der gesamten Debatte überhaupt, und beide sind zutiefst naturalistisch. Im Folgenden werde ich zunächst Rousseaus Konzept der Geschlechtercharaktere darstellen, wie er es im fünften Buch seines Émile, ou De lʼÉducation für Emils ideale Partnerin Sophie entworfen hat (1); es ist ein Grundtext für diese Debatte, und sowohl Brandes als auch Mauvillon nehmen immer wieder Bezug auf Rousseau. Im || 3 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 10: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Hg. von Wilhelm Weischedel. Wiesbaden 1964, S. 651.

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zweiten Teil werde ich den Text vorstellen, der den unmittelbaren Anlass für Mauvillons Schrift gegeben hat, nämlich Ernst Brandesʼ Über die Weiber (2). Der dritte Teil beschäftigt sich dann mit Mauvillons Text. Ich werde die Hauptargumente herausarbeiten, es geht mir aber auch um die Darstellung neuer methodischer Ansätze und Verfahren (3) und insgesamt um die damit verbundene Charakteristik Mauvillons nicht nur als Denker des Geschlechterverhältnisses, sondern als Denker schlechthin. Abschließend soll Mauvillons Konzept im Blick auf seinen möglichen Beitrag zu einer radikalaufklärerischen Geschlechtertheorie befragt werden (4).

1 Rousseau, Émile: Sophie als Wunschfrau »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei«4 – mit diesem programmatischen Bibelzitat beginnt Rousseaus Skizze von Sophie im fünften Buch seines Erziehungsromans Émile. Der sehr allgemeine Anspruch und die Idealisierungstendenz, die das ganze Buch prägen, sind auch für die Darstellung des idealen weiblichen Charakters immer mit zu bedenken. Rousseau will nicht wirkliche Individuen darstellen, sondern ein Gedankenexperiment durchführen: Wie sähe die beste aller möglichen Ehefrauen für den besten aller möglichen Zöglinge, nämlich Emil, aus? Sein Ausgangspunkt ist dabei der biologische Befund: Mann und Frau sind in erster Linie Gattungswesen der Art Mensch, die deshalb auch über die gleichen Organe, die gleichen Bedürfnisse und die gleichen Fähigkeiten verfügen und in dieser Beziehung nur graduelle Unterschiede aufweisen. Sie sind in zweiter Linie Geschlechtswesen, und sie sind nur insofern unterschiedlich, als sie dies sind; alle Unterschiede zwischen Mann und Frau, die sich finden lassen, sind nach Rousseau auf diese biologische Unterschiedlichkeit gegründet, die allerdings bei weitem noch nicht hinreichend erforscht sei. Insgesamt, so Rousseau, müsse es »zu den größten Wundern der Natur gerechnet« werden, »wie sie zwei so ähnliche und doch zu gleicher Zeit so verschiedene Wesen hat bilden können«.5 Modern gesprochen ist Rousseau also ein klarer Vertreter eines Differenzpostulats für das Geschlechtswesen Mensch; und gleichzeitig eines Identitätspostulats, nämlich im Blick auf die außergeschlechtlichen Aspekte des Gattungswesens Mensch. Daraus ergeben sich für ihn zwei klare logische Folgen: Es hat zum ersten überhaupt keinen Zweck, über die jeweiligen Vorzüge des Geschlechtswesens zu streiten, da es sich um zwei verschiedene Arten von Vollkommenheiten handelt, die schlechthin nicht vergleichbar sind. Zum zweiten erreicht die Gattung Mensch ihre Vollkommenheit insgesamt nur durch die sich ergänzende Komplementarität von || 4 Hier zitiert nach: Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Übersetzt von Hermann Denhardt. 2 Bde. Leipzig 1910, hier Bd. 2, S. 324. 5 Ebd., S. 325.

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Mann und Frau. Diese Komplementarität schließlich wird bestimmt als diejenige von Tätigkeit und Stärke beim Mann und Schwäche und Passivität bei der Frau. Aufs schönste ergänzen sich deshalb, beispielsweise in der Philosophie, Praxis und Theorie: Die Vernunft der Frauen ist eine praktische Vernunft, welche sie zwar die Mittel, welche zur Erreichung eines bekannten Zieles gehören, sehr geschickt finden lässt, nie aber das Ziel selbst. Die geschichtliche Stellung beider Geschlechter zueinander ist bewundernswert. Aus diesem geselligen Verkehr entwickelt sich ein moralisches Wesen, dessen Auge die Frau, dessen Arm aber der Mann bildet.6

Oder, in einer variierten Formulierung: Die Frau hat mehr Geist, der Mann mehr Genie; die Frau beobachtet, der Mann zieht Schlüsse. Aus beider Zusammenwirken entsteht die klarste Einsicht und das vollkommenste Wissen, welche der menschliche Geist aus sich selber zu schöpfen vermag, mit einem Worte die sicherste Kenntnis seiner selbst und anderer.7

Die Vernunftbildung ist außerdem auch für die immer gefährdete Moral der Frauen besonders wichtig: Es ist deshalb von wesentlicher Bedeutung für sie, ein Seelenvermögen auszubilden, welches als Schiedsrichter zwischen diesen beiden Führern dient, das Gewissen vor Täuschungen bewahrt und die Irrtümer des Vorurteils berichtigt. Dieses Seelenvermögen ist die Vernunft.8

Die hier beschriebene Komplementarität der Geschlechter ist also eine durchaus produktive, die im Übrigen die Frau keineswegs auf reine Passivität im Denken verpflichtet. Davon abgesehen jedoch ist das Verhältnis der Geschlechter ihrer Natur zufolge nach Rousseau logisch zwingend ein Herrschaftsverhältnis: Aufgrund ihrer körperlichen Schwäche und Schutzbedürftigkeit sind die Frauen den Männern untergeordnet. Die Abhängigkeit jedoch beruht durchaus auf Gegenseitigkeit: Denn die Frauen herrschen über die Männer, indem sie sich deren »maßlose Leidenschaften«9 zunutze machen und sich sexuell verweigern können. Es ergibt sich also eine dialektische Form der Abhängigkeit, die ein wenig an das Herr-und-KnechtVerhältnis erinnert: »die eigentümliche Erscheinung, daß der Stärkere nur scheinbar der Herr ist, während er in der Tat von dem schwächeren Teil abhängt«.10 Damit aber ist die männliche Dominanz nicht ein reines Produkt von interessegeleiteter

|| 6 Ebd., S. 366. 7 Ebd., S. 388. 8 Ebd., S. 377f. 9 Ebd., S. 328. 10 Ebd., S. 329.

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männlicher Gewaltausübung,11 sondern der »Wille der Natur«.12 Und die Frauen verhalten sich nur logisch sinnvoll, indem sie ihre eigene Macht ausnutzen und jegliches Mittel ergreifen, um den Männern zu gefallen, sie zu reizen und sie – anschließend zu unterjochen.13 Aus dieser spezifischen Konstellation heraus resultieren eine Fülle von Eigenschaften, die den Frauen schon seit jeher vorgeworfen werden: ihre Fixierung auf ihr Äußeres, ihre Eitelkeit, ihre Putzsucht, ihre Neigung zu Verstellung, ihre Koketterie, das ganze ausufernde Galanteriewesen mit der damit verbundenen Luxusindustrie – all das ergibt sich funktional daraus, dass die Frauen die Männer ihrerseits unterwerfen müssen, um sich selbst zu schützen. Vorläufig ist festzuhalten: Das Geschlechterverhältnis ist für Rousseau von Natur aus ein komplementäres und, ebenfalls von Natur aus, eines der gegenseitigen Abhängigkeit von Macht und Ohnmacht. Um nicht in einem »ewigen Zwiespalte«14 zu leben, muss jedoch eines der beiden Geschlechter letztlich übergeordnet werden.15 Daraus ergeben sich rein funktional betrachtet Handlungslogiken und Strategien. Ebenfalls funktional aus der natürlichen Bestimmung der Frau zur Fortpflanzung lassen sich weitere Charakteristika und Verhaltensweisen ableiten. Das weibliche Leben, so Rousseau, ist über weite Strecken geprägt von geschlechtlichen Pflichten, die durchaus einschränkend wirken: die langen Schwangerschaften, das Stillen (das er selbst wirkungsmächtig wieder propagiert hatte), die Erziehung in den ersten Lebensjahren – all das mache es notwendig, dass Frauen ein stärker häuslich zurückgezogenes Leben führen als der Mann, der hinausgeht ins feindliche Leben und seine Freiheit entfaltet. Eine große Rolle spielen dabei auch die natürliche Sexualität der Frau (auch die Frau hat »grenzenlose Begierden«16) sowie die instinktive Mutterliebe. Denn nur durch sie kann laut Rousseau sichergestellt werden, dass die Arterhaltung funktioniert: »nicht etwa die Tugend soll sie zu dem allen antreiben, sondern die Neigung und angeborene Lust, ohne welche das Menschengeschlecht längst ausgestorben wäre«.17 Insgesamt konstituiert sich so die Familie als ›Keimzelle des Staates‹ bzw., so Rousseaus Formulierung, das »kleine

|| 11 Es ist beachtlich, dass Rousseau hier sogar auf das tabuisierte Thema »Notzucht« eingeht (ebd., S. 330). 12 Ebd., S. 331. 13 Vgl. auch Kant: »Die Frau soll herrschen und der Mann regieren« (Kant: Anthropologie [s. Anm. 3], S. 657). 14 Rousseau: Émile (s. Anm. 4), S. 367. 15 Ganz ähnlich noch Kant: »Denn in der Gleichheit der Ansprüche zweier, die einander nicht entbehren können, bewirkt die Selbstliebe lauter Zank. Ein Teil muß im Fortgange der Kultur auf heterogene Weise überlegen sein« (Kant: Anthropologie [s. Anm. 3], S. 648). 16 Rousseau: Emil (s. Anm. 4), S. 328. 17 Ebd., S. 332.

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Vaterland«18 als »Quelle der dem Staat schuldigen Liebe«.19 Das Geschlechterverhältnis hat also unmittelbare soziale und politische Folgen. Es prägt die unterschiedlichen Lebensräume, wiederum: in ihrer Komplementarität von innen und außen, öffentlich und privat, sowie die Machtverteilung in Gesellschaft und Staat. Den unterschiedlichen Handlungsräumen und Verhaltenslogiken muss auch die Erziehung nach Rousseau entsprechen; gerade hier, das ist ja die Grundmaxime des Émile überhaupt, sei in allem der Natur zu folgen. Daraus resultiert jedoch nicht, dass die Mädchen überhaupt keine formale Erziehung erhalten sollen: da die Natur den Frauen einen so anziehenden und gewandten Geist verliehen hat, so soll sie selbständig denken, urteilen, lieben, sich Kenntnisse erwerben und ihren Geist ebenso gut pflegen wie ihren Körper.20

Das jedoch gilt nur für die Frau als Gattungswesen. Ergänzend hinzu kommt ihre spezifische Erziehung als Geschlechtswesen; für sie wiederum gilt die rigorose funktionale Ausrichtung auf das Hauptziel, nämlich den Männern zu gefallen: »Deshalb soll sich die ganze Erziehung der Frauen um die Männer drehen« (wie das genau mit dem »selbständig denken« zusammengehen soll, bleibt etwas unklar).21 Insofern ist die ›natürliche‹ Neigung zum Putz nicht zu bekämpfen, sondern geradezu zu bestärken; aber daneben sollen Mädchen auch frühzeitig Rechnen lernen, dazu gern Zeichnen (was zum modischen Putzen nützlich sein kann) und andere handwerkliche Fähigkeiten. Schließlich, so Rousseau, sei der gesunde Menschenverstand sowieso unabhängig vom Geschlecht gleichverteilt; und erfahrungsgemäß zeigten sich Mädchen gerade in den jungen Jahren häufig gelehriger als Knaben. Verbunden mit den teils gattungsgleichen, teils geschlechtsspezifischen Erziehungsinhalten ist eine Art mentaler Charakteristik, eine Komplementarität der spezifischen Erkenntnis- und Denkformen. Männer seien mehr geeignet für die »Erforschung der abstrakten und spekulativen Wahrheiten, der Prinzipien, der Axiome in den Wissenschaften«;22 die Studien der Frauen müssten sich deshalb mehr auf das Praktische und Anwendungsfragen konzentrieren. Frauen verstehen das menschliche Herz besser, philosophieren aber schlechter darüber; sie könnten deshalb aber immerhin eine »Experimentalmoral« erfinden.23 Die mentale Komplementarität gipfelt schließlich in einer Gegenüberstellung, die oben schon kurz zitiert wurde und die zu einem Klassiker in der Debatte wird: »Die Frau hat mehr Geist, der Mann

|| 18 Ebd., S. 336. 19 Ebd., S. 335f. 20 Ebd., S. 338. 21 Ebd., S. 339. 22 Ebd., S. 387. 23 Ebd., S. 388.

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mehr Genie«.24 Die Begründung dafür bleibt ein wenig unklar: Die Frau habe prinzipiell weniger »Fassungskraft«, »Genauigkeit und Aufmerksamkeit«.25 Letztendlich hält Rousseau aber das Denken sowieso für überschätzt: Von Natur ist der Mensch nicht zum Denken geneigt. Denken ist eine Kunst, die er wie alle übrigen Künste, ja sogar noch schwieriger als diese, erlernt. Ich kenne in Ansehung beider Geschlechter nur zwei wirklich voneinander abweichende Klassen: eine denkende und eine nicht denkende, und dieser Unterschied rührt fast einzig und allein von der Erziehung her.26

2 Ernst Brandes, Ueber die Weiber, oder: Kampf der Galanterie! Der auch politisch streng konservative Göttinger Jurist Ernst Brandes veröffentlicht seine Geschlechter-Schrift mit dem summarischen Titel Ueber die Weiber im Jahr 1788. Er will damit eine Marktlücke ausfüllen: Es sei einfach kein »ausführliches Räsonnement«27 für das Thema verfügbar, da Gelehrte normalerweise eher schlechte Menschenkenner im Allgemeinen und Frauenkenner im Besonderen seien; und die vorhandenen nicht-akademischen Schriften seien durch und durch geprägt durch den modischen Galanteriediskurs und dessen Korrektheitsregeln – also »mehr galant als wahr«.28 Diesem Missstand abzuhelfen, habe er seine »unsystematischen Betrachtungen«29 geschrieben. Er sei dabei besonders um die derzeitige Erziehung der Weiber besorgt: Sie »zweckt alles dahin ab, den Keim der Idee früh zu legen, daß die Weiber der Mittelpunkt, wo nicht der einzige Punkt, sind, um den sich alles in der Welt drehet«.30 Diese fatale Ansicht werde noch verstärkt durch Romane, Gedichte und Schauspiele, die noch dazu durch ihre Fixierung auf die Liebe das Übel verschlimmerten. Ja, sogar in der Philosophie werde Frauen inzwischen ein »Richteramt« zugesprochen: »Dichter und Romanenschreiber, moderne Philosophen und moderne Theologen tragen immer mehr bey, diesen Egoismus, diese übertriebene

|| 24 Ebd. 25 Ebd., S. 387. Außerdem macht Rousseau einen ein wenig seltsam anmutenden Analogieschluss: Männer, als dasjenige Geschlecht, »welches im Besitze der größten Kraft ist und sie am meisten ausübt, kommt es auch zu, über die Verhältnisse der sinnlich wahrnehmbaren Wesen und über die Naturgesetze zu urteilen« (ebd.). Naturgesetze scheinen eine Machtfrage zu sein. 26 Ebd., S. 434. 27 Zuerst anonym veröffentlicht Leipzig 1787; dann mit Namensangabe Wien 1788, hier S. 3. 28 Ebd., S. 4. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 6.

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Prätensionen zu vermehren«.31 Brandes’ Weiblichkeitskritik ist also gleichzeitig eine zeitgenössische Lektürekritik; das wird Mauvillon sehr stark aufnehmen. Die wesentlichen Argumente der tatsächlich recht unsystematischen, äußerlich ungegliederten dreihundert Seiten sind, kurz gefasst: Brandes geht wie Rousseau aus von der unzweifelhaften körperlichen Überlegenheit des Mannes, für die er sogar noch weitere medizinische Belege präsentiert: Die Natur schuf den Mann zum Herrn der Schöpfung. Ist nicht das Weib kleiner, zarter, schwächer geformt? […] Die Verbindungen mehrerer Ideen, das Festhalten und die Folgerungen aus der Verbindung, die die Stärke der männlichen Kopfnerven beweisen, hat ihnen die Natur in dem Grade versagt.32

Der Gegenpol zur Stärke beim Mann ist bei den Frauen die »Feinheit«;33 sie hilft zum Beispiel auch dabei, die »Aufmerksamkeit der Weiber auf die kleinen Verhältnisse und Sachen, die sie umgeben«, zu schärfen.34 Aus dieser Ungleichheit in der physischen Stärke resultieren bei Brandes, wie bei Rousseau, ein klares Herrschaftsverhältnis ebenso wie ein anderer Geschlechtscharakter: Die fehlende »Stärke der männlichen Kopfnerven« führe nicht nur dazu, dass Frauen kein wissenschaftliches Genie haben könnten; sie seien auch unfähig zum Enthusiasmus: »Die erhabene schaffende Einbildungskraft, die die Stärke zum hohen Fluge den Männern giebt, hat die Natur den Weibern versagt«35 – sie können also auch keine hohen Werke dichten. Ebenso habe die Natur ihnen, dabei beruft Brandes sich auf ärztliche Aussagen, das lebhafte Temperament versagt.36 All diese Bestimmungen der Natur sind für Brandes, wie für Rousseau, schlechthin festgelegt: »Modificiren, ändern kann die Societät diese Bestimmung der Natur, nicht aber umschaffen«37 – womit aber immerhin ein gesellschaftlicher Anteil zugestanden wird. Insgesamt vertritt Brandes also wie Rousseau das Differenzpostulat mit einer komplementären Bestimmung: »Das Weib ist in seiner Art so vollkommen als der Mann in der seinigen. Aber beyde sind Geschöpfe verschiedener Gattung«.38 Dabei || 31 Ebd., S. 13f. 32 Ebd., S. 39f. 33 Ebd., S. 55 und S. 68. 34 Ebd., S. 68. 35 Ebd., S. 41f. 36 Vgl. ebd., S. 43. Zur wachsenden Bedeutung des medizinischen Diskurses für die Geschlechterfrage vgl. umfassend Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850. Frankfurt a. M. 1991, bes. Kap. 2 mit einem Exkurs zu Brandes (S. 58–62) und zu Mauvillon (S. 63–65). Sie weist darauf hin, dass auch Hippels Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Weiber sich durch teilweise wörtliche Zitate auf Brandesʼ Text bezieht, ohne ihn namentlich zu nennen (vgl. S. 76f.). Mauvillons Text hingegen ordnet sie ein in das Verhältnis ›Deutscher Jakobiner‹ insgesamt zur Frauenfrage (vgl. S. 65ff.). 37 Brandes: Ueber die Weiber (s. Anm. 27), S. 55f. 38 Ebd., S. 90.

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werden dem Mann die »kalte Vernunft« zugesprochen, der Frau der Takt und das Gefühl als quasi vernunftäquivalente Fähigkeiten.39 Ganz klar ist damit ein Unterordnungsverhältnis verbunden, das nun jedoch, im Unterschied zu Rousseau, auch als Bildungsanspruch formuliert wird: »Der Mann soll das Weib bilden«;40 er ist aber auch schuld, wenn diese Bildung verfehlt oder verzerrt wird und die Frau ihre natürliche Bestimmung deshalb nicht erreicht. Aber die Frau ist dem Mann nicht hilflos ausgeliefert; auch bei Brandes herrscht sie über den Mann durch ihren Einfluss auf »die Sinnlichkeit der Männer«.41 Ausführlich widmet sich Brandes der historischen Betrachtung von Geschlechterverhältnissen, vor allem in der Antike.42 Dort wie auch bei seiner Betrachtung der zeitgenössischen Gesellschaft plädiert er für einen rigiden Ausschluss der Frauen von allen öffentlichen Tätigkeiten und ihre konsequente Beschränkung auf die häusliche Sphäre.43 Ihre Erfüllung findet die Frau in der Ehe (die vor den Männern schützt) und der Aufzucht von Kindern. Dazu kommt nun, dass immer stärker den Frauen eine zivilisatorische Funktion zugesprochen wird – das konnte bei Rousseau aufgrund der eher kritischen Stellung zur Kultur noch nicht ausformuliert werden, ist aber auch schon angedeutet. Zentral sind dabei zunächst das Ritterwesen des Mittelalters, anschließend der Kult der Galanterie an den französischen Höfen, die einen neuen »Ton«44 in den Umgang der Geschlechter brachten;45 dieser verselbständigte sich jedoch bald und wurde damit zum Eingangstor für die nach Brandes übertriebene Wertschätzung des Weiblichen in seiner Gegenwart: Die Vorzüge, die zuerst in den dunkeln Zeiten dem andern Geschlechte aus Mitleiden über seine Hülflosigkeit zugestanden worden, waren nun in dem Maaße vermehrt, daß die Ordnung

|| 39 Ebd., S. 65. 40 Ebd., S. 90. 41 Ebd., S. 59. 42 Der historische Aspekt spielt auch bei Rousseau eine Rolle, ist dort aber nicht besonders ausgeprägt. Immerhin hatte Christoph Meiners bereits ab 1788 eine vierbändige Geschichte des weiblichen Geschlechts vorgelegt, in der er der Vorrede zufolge »nicht sowohl die Geschichte der Sitten, als die Geschichte des ursprünglichen Werthes, der daraus entstehenden Rechte und Pflichten, und der darauf gegründeten Achtung, oder Verachtung, und der glücklichen oder unglücklichen Lage des andern Geschlechts in allen Zeiten und Ländern« untersucht (Hannover 1788, S. IIIf.). 43 Vgl. Brandes: Ueber die Weiber (s. Anm. 27), S. 83. 44 Ebd., S. 99. 45 Eine originelle Beobachtung ist, dass der Frauen wegen nach Brandes weniger Wein in Gesellschaften getrunken wird; dadurch würde mehr Kälte und Gezwungenheit entstehen, »und Jedermann wiegt politisch sorgsam seine Worte« (ebd., S. 124).

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der Schöpfung völlig umgekehrt, der vom Höchsten zum Herrn des Weibes bestimmte Mann, Sklav des Weibes ward.46

Dabei differenziert Brandes durchaus ein wenig nach Stand und kulturellem Kontext: Am schlimmsten sei der fatale Einfluss der Frauen in den mittleren Bürgerstädten, wo sowieso keine reine Gelehrsamkeit möglich sei, sondern der schnöde bürgerliche Erwerbsgeist alles durchdringe: »Alles lebt und webt da in Geschäften und im endlosen Treiben weiter zu rücken«.47 Weder das tiefe Denken noch das »eigentliche Wissenschaftliche«48 sei Frauen zugänglich, da sie immer wieder die Dinge auf ihre sinnliche Grundlage reduzierten; Frauen sind also sozusagen geborene Empiristinnen, während Männer in der Metaphysik exzellieren. Ganz schlimm wird es, wenn Frauen Autorinnen werden, »wegen des so leicht rege werdenden Künstlerneides«,49 der weiter zu ihrer moralischen Verderbtheit beiträgt; kurzum, noch einmal, mit Rousseau: »Es fehlt den Weibern an Genie«.50 Dies nur als Auszug; tatsächlich häuft die Abhandlung wie angekündigt unsystematisch Behauptungen, Erfahrungen und gelegentlich durchaus Bedenkenswertes aufeinander. Man sieht zumindest, wie sich das Thema gut in die sonstigen politischen und moralischen Überzeugungen des Autors einpasst; man sieht, wie sich Schwerpunkte verschieben, beispielsweise zu einer mehr historischen und kulturgeschichtlichen, gelegentlich auch medizinischen Betrachtung; man sieht, wie sich hier durchaus eine Empfindung von Geschlechter-Konkurrenz Bahn bricht, indem immer wieder besonders auf den verderblichen und gleichwohl noch zunehmenden Einfluss der Frauen in Wissenschaft, Literatur und Philosophie hingewiesen wird. Besonders deutlich wird das im abschließenden Statement des Autors zur zeitgenössischen ›Damenphilosophie‹: Sie verdrehe nur den Frauen den Kopf und – zerstöre die Ruhe des Mannes.51

|| 46 Ebd., S. 98. Immer stärker wurde nun nach Brandes auch der fatale Einfluss der Frauen auf die Philosophie; er erst habe zur Popularisierung der verdorbenen Lehren des Helvétius (vgl. S. 102) beigetragen und dazu geführt, »daß das Unsystematische nunmehr System ward« (S. 103). 47 Ebd., S. 111. 48 Ebd., S. 119. 49 Ebd., S. 180. 50 Ebd., S. 182. 51 Vgl. ebd., S. 192.

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3 Jakob Mauvillon, Mann und Weib nach ihren gegenseitigen Verhältnissen geschildert, oder: Von den Gefahren des Frauseins Mauvillon verfasst seine eigene Abhandlung explizit als Gegenschrift zu Brandesʼ Text, der »die falschesten Begriffe über dieses wichtige Verhältniß verbreitet« habe;52 und zu Recht weist er darauf hin, dass der Text selbst »viel schwankendes«53 und jede Menge Widersprüche habe.54 Er selbst hingegen sei besonders durch eine persönliche Eigenschaft zur Darstellung gerade dieses Themas befähigt: eine einzige, zur Untersuchung der Wahrheit höchstnützliche Eigenschaft meyne ich in einem höhern Grade zu besitzen, als viele andre Menschen: nämlich die: bey Betrachtung aller Sätze, die ich mit Ernst untersuchen will, meine vorgefaßten Meynungen, und mit einem Worte, mein ganzes Ich, so sehr als es nur möglich ist, aus den Augen zu setzen; und diese Eigenschaft möchte hier wohl mehr zu Erforschung der Wahrheit beytragen, als aller Witz und Scharfsinn, der mir abgeht, und dem Verfasser des Buchs, über die Weiber, leicht in einem weit höhern Maaße eigen seyn mag.55

Mauvillon erklärt sich also zuerst zu einem unbeteiligten Beobachter im Geschlechterkrieg, und tatsächlich hält er das einigermaßen durch. Er verteidigt die Frauen zwar, aber nicht um jeden Preis. Auch in der Gesamtanlage des Werkes ist er um strengere Gliederung bemüht: Es gibt zwei Abteilungen mit einmal drei und einmal fünf Hauptstücken; auf Ausführungen zu den »natürlichen Anlagen« folgen im zweiten Teil solche zum »sittlichen und gesellschaftlichen Zustand des weiblichen Geschlechtes unter uns«. Bezüglich der biologischen Voraussetzungen ist interessant, dass Mauvillon zum ersten Mal explizit zwischen Differenz- und Identitätspostulat unterscheidet: Entweder man gehe davon aus, dass beide Geschlechter von Natur aus nicht nur || 52 Jakob Mauvillon: Mann und Weib nach ihren gegenseitigen Verhältnissen geschildert. Ein Gegenstück zu der Schrift: Ueber die Weiber. Leipzig 1791, hier S. 1. 53 Ebd., S. 3. 54 Der Text ist in der Forschung gelegentlich untersucht worden, nie jedoch ausführlich. Jochen Hoffmann widmet ihm in seiner Monographie Jakob Mauvillon. Ein Offizier und Schriftsteller im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipationsbewegung (Köln 1980) einen Exkurs unter dem Titel: »eine bemerkenswerte historisch-soziologische Untersuchung« (vgl. S. 218–222). Er betont vor allem die starke »historische Dimension« (S. 219) sowie Mauvillons »entschiedene Opposition gegen den damals verbreiteten Zivilisationspessimismus« (ebd.). Hoffmann weist auch auf Parallelen zu Theodor Gottlieb Hippels Ueber die bürgerliche Verbesserung der Weiber hin, das allerdings erst nach Mauvillons Abhandlung erschien (vgl. S. 221). Insgesamt, so Hoffmann, sei die Abhandlung »Teil eines breiter angelegten Engagements, das als eines der Leitmotive des Gesamtwerks zu gelten hat« (ebd.). 55 Mauvillon: Mann und Weib (s. Anm. 52), S. 8.

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körperliche, sondern auch geistige Unterschiede haben; oder davon, modern gesagt, dass es sich hier nur um Erziehungsunterschiede und gesellschaftliche Prägung handelt.56 Mauvillons eigene Position ist relativ klar: Der Unterschied in der körperlichen Stärke könne nicht sinnvoll bestritten werden; derjenige in Bezug auf die Seelenkräfte sei nach derzeitigem Kenntnisstand unentscheidbar. Prinzipiell sei es denkbar, dass geistige Kräfte von körperlichen abhängen, so zum Beispiel von »der Mischung unsrer Säfte und von gewissen Beschaffenheiten unsrer Nerven, Fibern und Muskeln«.57 Auf keinen Fall aber sei es zulässig, rein eindimensional von stärkeren Körperkräften auch auf stärkere Geisteskräfte zu schließen (wie die »stärkeren Kopfnerven« bei Brandes). Besonders interessant ist auch Mauvillons gegenüber Rousseau noch gesteigerte (und bei Brandes eher schwach ausgeprägte) Betonung der Komplementarität beider Geschlechter: Mauvillon hält es, wie auch der Titel der Studie besagt, für völlig unmöglich, ein Geschlecht ohne das andere zu denken. Er erwägt zwar kurz ein Gedankenexperiment, wie eine Welt aussähe, die allein von Frauen gestaltet würde, kommt aber nur bis zu dem Punkt, wo er zugibt, sie wäre aller Wahrscheinlichkeit nach nicht »mit weniger Klugheit und Scharfsinn eingerichtet«.58 Mit Blick auf die natürlichen Bestimmungen des Geschlechtes sei es jedoch ganz sicher so, dass die Frauen im Evolutionslotto eher die Niete gezogen hätten: Männer hätten mehr Genuss durch ihre stärker ausgeprägte Sexualität, Frauen hingegen vor allem die Last der Schwangerschaften und Geburten – und nun spricht der Militärforscher zu einem ansonsten wenig bedachten Aspekt des Geschlechterkrieges: »Die Gefahr ist ein wenig größer, als die eines Soldaten am Tage einer Schlacht«.59 Der Hauptangriffspunkt von Mauvillon gegen Brandes ist jedoch der machtpolitische Aspekt des Geschlechterverhältnisses: Brandesʼ Behauptung, das Weib sei nur um des Mannes willen da (die im Übrigen reiner Rousseau ist), sei der »gräßlichste« Grundsatz und letztendlich nur mit Sklaverei vergleichbar;60 man sieht hier also aufs klarste die unterschiedlichen politischen Positionen der beiden Kontrahenten durchscheinen. Dagegen stellt Mauvillon eine Forderung auf, die wohl nicht zufällig denen der Französischen Revolution ähnelt: »Es haben beide gleiche Rechte, beide treten in die, zum gemeinschaftlichen Glücke, eingerichtete freye Verbindung«.61 Tatsächlich ist die Ehe ein großes Thema bei Mauvillon, vor allem die Bedeutung der freien Partnerwahl. Glasklar schildert er die Alternativlosigkeit der

|| 56 Vgl. ebd., S. 13. 57 Ebd., S. 31. 58 Ebd., S. 25. 59 Ebd., S. 40. 60 Vgl. ebd., S. 19f. 61 Ebd., S. 22f. Hier könnte man tatsächlich eine Nähe zu Positionen der Radikalaufklärung sehen, in der eine konsequente Herrschaftskritik auch zur Forderung der Gleichberechtigung der Frau führt (vgl. dazu unten, Kap. 4).

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Frauen, die sich dieser Institution faktisch nicht entziehen können, ohne die gravierendsten gesellschaftlichen und persönlichen Nachteile auf sich zu nehmen; ebenso gravierend seien die Gefahren falsch geschlossener Ehen. Auch hier ist das Ideal ein Vertragsverhältnis, nämlich ein »Bund zwischen zwey vernünftigen Wesen […], wovon das eine nur mehr physische Kräfte besitzt als das andre«.62 Damit einher gehen bei Mauvillon erstmals eine explizite Betrachtung juristischer Aspekte, beispielsweise der vielfachen Einschränkung von Frauen in Rechtsverhältnissen (etwas widersprüchlich heißt es dazu: »Zwischen zwey ungleich starken Wesen kann kein völlig gleicher Bund stattfinden«63); ebenso eine Betrachtung ökonomischer Aspekte. So macht Mauvillon zum Beispiel darauf aufmerksam, dass die erbrachten Leistungen der Frauen im Haushalt und bei der Kindererziehung ja auch durchaus ökonomisch verrechenbar wären.64 Ebenso weist er auf den Wert einer reduzierten Kindersterblichkeit durch Aufklärung hin, die von unschätzbarem zivilisatorischem Vorteil sei. Aufschlussreich ist auch, wie Mauvillon systematisch mit den stereotypen Vorwürfen gegen den weiblichen Geschlechtscharakter vorgeht (also Eitelkeit, Putzsucht, Verschlagenheit, Untreue etc.). Immer wieder fordert er dazu auf, einen Rollen- und Perspektivwechsel zu vollziehen und die Dinge von der Position des Anderen zu sehen: »Eitelkeit! Die wagen wir schriftlich und in Büchern dem weiblichen Geschlechte vorzuwerfen! Wer äußert wohl mehr Eitelkeit, als wir Bücherschreiber?«,65 heißt es beispielsweise, oder, angesichts von Brandesʼ Kritik der Unfähigkeit des weiblichen Geschlechts zu Philosophie und Wissenschaft: »denn wir haben, selbst verhältnißmäßig nach der Zahl der lesenden Köpfe, weit mehr solche männliche Narren, als es weibliche giebt«.66 Oder Mauvillon erwägt: Wenn doch einmal die Herren, die so sehr auf das Lesen der Weiber losziehen, nur ein Vierteljahr lang lauter Hausarbeit thun sollten, ohne je den Kopf zu beschäftigen, wie würden sie sich unglücklich schätzen!67

Neben dem Aspekt des Rollenwechsels ist auch das statistische Argument bemerkenswert bezüglich der »Zahl der lesenden Köpfe«: Immer wieder weist Mauvillon darauf hin, dass Einzelfälle und Ausnahmen kein Argument sind, wenn man über Verallgemeinerungen wie Geschlechtercharaktere spricht; eine einzige gebildete Frau allein sagt ebenso wenig über die allgemeine Befähigung des weibliche Ge-

|| 62 Ebd., S. 72. 63 Ebd., S. 141. 64 Vgl. ebd., S. 371. 65 Ebd., S. 188. 66 Ebd., S. 212. 67 Ebd., S. 227.

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schlechts zur Gelehrsamkeit aus wie eine einzige allzu putzsüchtige oder eifersüchtige Frau über die Berechtigung von Geschlechterstereotypen.68 Die Themen Liebe und Ehe behandelt Mauvillon getrennt.69 Speziell die Liebe ist für ihn dasjenige Gebiet, in dem sich die Mittelstellung des Menschen zwischen Vieh und Engel am deutlichsten äußert;70 wobei auch hier dem biologischen Aspekt der absolute Vorrang gebührt. Programmatisch heißt es am Ende: Nein, so sehr ich das Moralische in der Liebe gerühmt, und dessen Existenz vertheidigt habe […]; so sehr bin ich doch auch überzeugt, daß sich die Liebe aufs Physische gründet, und am Ende immer darauf hinführt. Das Moralische soll das Physische verfeinern, erhöhen, eines vernünftigen Wesens, wie der Mensch ist, würdiger machen, aber gar nicht aufheben und vertilgen.71

Der moralische Aspekt der Liebe ist dabei, nun ganz im Unterschied zu Brandes, auch auf die positive Wirkung der Romanlektüre zurückzuführen, die sogar zur »Verbreitung und Erweiterung dieser Moralität«72 beigetragen hätte.73 Kombiniert mit der Fortpflanzung als »heiligem«74 Naturzweck aller lebenden Wesen findet die moralische Liebe ihre beste Ausdrucksform in der Ehe, auch und gerade wenn allenthalben von Männlein und Weiblein gleichermaßen über ihre Nachteile geklagt werde; Mauvillon winkt ab: »Die billigsten, die vernünftigsten Menschen haben unbefriedigte Wünsche. Dieß ist weises Gesetz der Natur«.75 Zudem seien die bei Brandes beklagten Missstände im Geschlechterverhältnis darauf zurückzuführen, dass dieser seine Beispiele nur aus den oberen gesellschaftlichen Ständen nehme und sie dann verallgemeinere. Mauvillon erwägt dagegen eine Differenzierung nach Alter, Ehestand, Vermögensumständen, gesellschaftlicher Position, dazu die äußeren Aspekte von Klima, Ernährung, Regierungsform und regionalen Besonderheiten – also ein klassischer multikausaler Ansatz, wie er allgemein für die Populärphilosophen der Spätaufklärung sehr typisch ist. Ausgeführt wird das jedoch nicht in der Abhandlung, die nur sehr gelegentlich eine kleine Differenzierung anführt; es würde auch das Projekt überfordern.

|| 68 Vgl. ebd., S. 211. 69 Vgl. zum Ehediskurs im 18. Jahrhundert in Lebenshilfebüchern und der Romanliteratur Jutta Heinz: »Ich habe ehemäßig geschrieben« – Beziehungsmodelle und Erzählformen im Umbruch. In: Wezel-Jahrbuch 12/13 (2011), S. 79−108. 70 Vgl. Mauvillon: Mann und Weib (s. Anm. 52), S. 235. 71 Ebd., S. 328. 72 Ebd., S. 276. 73 Geschlechtertheoretisch interessant ist auch Mauvillons Unterscheidung eines geschlechtsspezifischen Leseverhaltens (vgl. S. 256). 74 Ebd., S. 342. 75 Ebd., S. 343.

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Ein weiterer Schwerpunkt bei Mauvillon wie bei Rousseau und Brandes ist die geschlechtsspezifische Erziehung; wie Rousseau geht Mauvillon dabei von dem Grundsatz aus, daß Frauenzimmer anjetzt ihren Geist nothwendig ausbilden müssen. Es könnte, nach der jetzigen Lage der Dinge, keine wahre Harmonie unter beiden Geschlechtern existiren, es würden tausend Unordnungen entstehen, wenn das weibliche Geschlecht in der Ausbildung seines Geistes außer allem Verhältniß mit dem Manne stehen bliebe.76

Es sei auch prinzipiell nichts dagegen einzuwenden, dass sich Frauen als Autorinnen betätigten, zumal das nur extrem selten der Fall sei – wieder ein statistisches Argument – und sich Beispiele fänden (auch wenn Einzelbeispiele bekanntlich nichts beweisen), dass weibliche Autorschaft Frauen nicht zwangsläufig von ihren sonstigen weiblichen Pflichten abhalte.77 Zudem, und das ist das wichtigste Argument von Mauvillon schlechthin, sei es für den Fortschritt des ganzen Menschengeschlechts unentbehrlich, dass die Frauen als Ersterzieherinnen selbst nicht nur eine physische Erziehung, sondern auch eine Geistesbildung erhalten hätten:78 In der ersten Kindheit wird die Grundlage zum Verstande, besonders aber zum Charakter gelegt, ohne welchen der Verstand selbst nichts helfen würde. Es sind aber die Weiber die allgemeinen Erzieherinnen des ganzen menschlichen Geschlechts auf dem ganzen Erdboden, während der ersten Kindheit.79

Als solche sind sie sogar für den gesamten Fortschritt des Geistes und der Wissenschaften verantwortlich:80 »Allein der künftige Cato liegt im Keime des zweyjährigen

|| 76 Ebd., S. 213. 77 Als Beispiel nennt Mauvillon Ernestine Reiske, die Gemahlin des Göttinger Philologen Johann Jacob Reiske, die sich selbst bildete, einen intensiven Briefwechsel mit Lessing führte und ihren Mann bei seinen wissenschaftlichen Publikationen unterstützte (vgl. S. 221). Als vorbildliche Autorin hingegen nennt er Anna Louisa Karsch (vgl. S. 29f.), der er die Abhandlung wohl auch übersandte; ein Antwortbrief von Karsch mit einer Epistel an meinen Ritter zu Braunschweig im September 1790 ist erhalten, indem sie die Auszeichnung aber ablehnt und darauf hinweist, dass ihre Texte ja nur in »schlichter Versart« seien und ganz auf ihrem »deutschen Biedersinn« beruhten (in: Mauvillons Briefwechsel [s. Anm. 1], S. 295). 78 An diesem Argument zeigt Mauvillon besonders schön die Tücke einer klassisch misogynen Argumentation: Zuerst werde den Frauen ihre Putzsucht und ihre Konzentration auf das Äußere vorgeworfen; wenn sie sich aber um innere Bildung bemühten, »dann wird das bald als etwas Erschreckliches und Grundverderbliches, bald als eine fruchtlose und deshalb lächerliche Bemühung dargestellt« (Mauvillon: Mann und Weib [s. Anm. 52], S. 202). 79 Ebd., S. 503. 80 Aber eben nur indirekt. Zu seiner ablehnenden Position gegenüber ›gelehrten Frauen‹ im engeren Sinne vgl. den Brief von Baldinger (s. Anm. 1). Mauvillon führt außerdem ein pragmatisches Argument an: Die wissenschaftliche Ausbildung habe für Frauen »keinen wahren Nutzen«, »da ihnen alle Staats- Kriegs- und Kirchenbedienungen versperrt sind« (Mauvillon: Mann und Weib

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Kindes«.81 Doch nicht nur die Bildung der Frauen, sondern auch ein freierer gesellschaftlicher Umgang kann für diesen Kultivierungszweck nur von Nutzen sein; alles, was den freien Austausch fördert und das Gemüt bildet, wirkt sich über diesen Umweg auf die Kinder und deren Entwicklung aus.82 Das versucht Mauvillon auch historisch zu beweisen, indem er vor allem immer wieder auf die vorbildliche Behandlung der Frauen bei den alten germanischen Völkern hinweist83 – im Unterschied zur Antike beispielsweise, bei deren Behandlung er im Übrigen Brandes eine massive Fehldarstellung und Geschichtsklitterung vorwirft.84 In diesem Zusammenhang singt Mauvillon geradezu ein zivilisatorisches Loblied auf Europa, wo sich das Geschlechterverhältnis seit den Ritterzeiten derart kultiviert habe, dass »das ganze Licht der Wissenschaften in dem jetzigen wirklich erleuchteten Theile von Europa, im Grunde ein Werk der Weiber ist«.85 Das ist sicherlich aus polemischen Gründen ein wenig zugespitzt, der Tenor ist aber klar: In einer durchgängig von absoluter Herrschaft im Geschlechterverhältnis geprägten Kultur wie der orientalischen – mit dem Harem das Gegenbild zur freien europäischen Frau, die sich ihren Partner selbst wählt und in Einehe lebt – kann es Mauvillon zufolge niemals zu wahren Fortschritten kommen: Solange die Frauen als Sklavinnen gehalten werden und damit auch als aufgeklärte künftige Erzieherinnen

|| [s. Anm. 52], S. 26). Außerdem weist er darauf hin, dass die »gesunde Vernunft« als Vermögen sowieso von »Gelehrsamkeit oder Genie« »himmelweit unterschieden« sei (ebd., S. 34). 81 Ebd., S. 514. 82 Ein relativ umfangreicher Teil der Abhandlung ist deshalb der Diskussion der Frage gewidmet, ob Frauen von allem Umgang abzuhalten seien oder nur von dem mit Männern; er bezieht sich dabei auf Brandesʼ Forderung, die Frauen allein auf die häusliche Sphäre einzuschränken. Das, so Mauvillon recht deutlich, wäre zweifellos eine »Marter« – zumal die Unterhaltung mit dem eigenen Ehemann erfahrungsgemäß keinen angemessenen Ersatz für eine freie, gemischtgeschlechtliche Geselligkeit bieten könne (vgl. ebd., S. 155). 83 Es sei der »herrlichste Überrest des Rittergeistes, nachdem ihn Vernunft und Einsichten von dem gereinigt haben, was ihm Wildes und Rohes anklebte« (ebd., S. 194). Das Thema verbindet Mauvillon mit der Romanlektüre: »Es ist eine ganz besondre Bestätigung aller meiner bisherigen Aussagen, daß nirgends auf der Welt, und zu keiner Zeit, die Dichtungsart, die wir Romane nennen, und die Methode eine moralische Liebe bey allen Schauspielen zum Grunde zu legen, so allgemein geherrscht hat, als in Europa, seitdem die altceltischen Völker, die es bewohnen, sich nur einige Kenntnisse der Wissenschaften erworben haben. Wenn diese Werke des menschlichen Witzes nicht dadurch eine geheime Saite unsers Herzens richtig angeschlagen hätten, so würden sie nimmermehr einen so lauten und so allgemeinen Beyfall erhalten haben. Dieß beweiset, daß die Romane gewissermaßen die Natur bey uns treulich schildern, wenn sie eine solche Leidenschaft der Liebe beschreiben« (ebd., S. 250f.). 84 Vgl. den Anhang zum zweiten Hauptstück. Damit wird gleichzeitig die Fixierung auf den Galanterie-Diskurs und seine Folgen entschärft (vgl. ebd., S. 96). Die Idealisierung der ›Ritterzeiten› dient Mauvillon auch dazu, die für ihn absolute Vorrangstellung der europäischen Kultur vor allen anderen, nicht-europäischen zu begründen; ein dezidiert nicht radikalaufklärerischer Gedanke. 85 Ebd., S. 511.

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ausfallen, wird sich die Menschheit niemals weiterentwickeln, sondern nur immer wieder die alten Abhängigkeitsverhältnisse reproduzieren.86 Hier sind Mauvillons politische Positionen wieder mit Händen greifbar; aber ebenso ein relativ unbefangener Optimismus bezüglich des zivilisatorischen Fortschrittes der Menschheit unter Führung der europäischen Nationen. Ein letzter Gesichtspunkt schließlich, und vielleicht nicht der unwichtigste. Die enge, wenn auch nicht systematisch ausgeführte, aber doch fundierende Verbindung zwischen Mauvillons Geschlechterkonzept und seiner (fragmentarischen) Philosophie stellen relativ moderne anthropologische Argumente her. So argumentiert er gegen Brandesʼ Hauptvorwurf, die Frauen sähen sich fatalerweise als alleinigen Mittelpunkt der gesamten Welt, identitätspsychologisch: Das Urgesetz der menschlichen Natur ist, daß jeder für sich selbst der Mittelpunkt der ganzen Welt ist. Nur von seinem Ich hat man ein innres Gefühl; alles andre sind bloße Erscheinungen, Eindrücke, die auf dieses Ich geschehn, und wovon es Bewußtseyn hat. Diesem Gesetze sind die Weiber sowohl unterworfen, als wir.87

Genau dieses Gefühl seiner eigenen, »bloßen Existenz« – das zwingend geschlechterübergreifend gedacht werden muss – übertreffe im Übrigen alle anderen an »Süßigkeit«;88 nur die Gewohnheit habe die Menschen abgestumpft dafür, dieses Gefühl tatsächlich zu empfinden, und an seine Stelle seien (durchaus auch von der Romanlektüre geförderte) »idealische Bilder der Vollkommenheit« und die Erwartung einer ständigen Reihe höchster Genüsse getreten – was gerade für das Eheleben fatal sei.

4 Radikalaufklärerischer Geschlechterdialog und diskursive Gemengelagen Mauvillons Abhandlung zeichnet sich, so kann man zusammenfassend sagen, vor allem durch einige neue methodische Ansätze aus, die meist aber nur skizziert werden. Inhaltlich bietet sie wenig Neues, sondern wiederholt bekannte Argumente des Geschlechterdiskurses von Rousseau an. Deutlich wird seine im Kontrast zu Brandes freiheitliche politische Position, die nun auch den Geschlechterdiskurs prägt; ebenso ein anderes historisches Verständnis. Juristische und ökonomische Argumente || 86 Erst wenn jede Frau frei genug sei, Rousseaus Erziehungsschriften zu lesen und sie auch anzuwenden, wird »des ganzen menschlichen Geschlechts Glückseligkeit« (ebd., S. 521) erreicht werden können. 87 Ebd., S. 141f. 88 Ebd., S. 348f. Vgl. dazu auch seinen Aufsatz: Ueber das Ich, in Briefen an Hrn. Prof. Tiedemann. In: Deutsches Museum 1 (1778), S. 155–161, S. 254–261 und Deutsches Museum 2 (1778), S. 395–419 sowie den Beitrag von Udo Thiel in diesem Band.

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gewinnen an Bedeutung; in Bezug auf biologische Sachverhalte wird ähnlich wie bei Rousseau eingestanden, einfach noch nicht über eine genügend geklärte Kenntnis der wesentlichen Faktoren zu verfügen. Tatsächlich bitter nötige Differenzierungen in der meist sehr pauschal geführten Querelle des Femmes werden angefordert, in Ansätzen auch durchgeführt, aber noch nicht systematisch und durchgängig. Damit zusammen hängt auch die Warnung vor den Tücken der Statistik und dem argumentativ begrenzten Sinn des Einsatzes von Einzelbeispielen, in welcher Richtung auch immer. Mauvillons Eurozentrismus mag ein wenig allzu unbeschwert daherkommen; das damit verbundene zivilisatorische Argument ist jedoch verbreitet und findet sich, wie vieles andere auch, beispielweise exakt genauso in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, wenn er, wie anfangs zitiert, zwei unabweisbare Naturzwecke in der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen findet: »1. die Erhaltung der Art; 2. Die Kultur der Gesellschaft und Verfeinerung derselben durch die Weiblichkeit«.89 Radikalaufklärerisch sind sicherlich Mauvillons Forderungen nach gleichen Rechten für Mann und Frau, beispielsweise in der Ehe, sowie nach stärkerer materieller Unabhängigkeit, der finanziellen Würdigung von Erziehungsleistungen oder einer besseren Ausbildung der Frauen. Diese Forderungen ergeben sich relativ geradlinig aus seinen politischen Positionen und seiner in Grundzügen naturalistischmaterialistischen Philosophie. Gleichzeitig schimmert jedoch ein durchaus traditionelles Verständnis der Ehe als moralische Institution durch, die ganz konventionell auf den Fortpflanzungszweck gründet; durch die natürliche Hilfslosigkeit des Nachwuchses würde beim Menschen das »Moralische der Liebe in der Natur des Menschen innigst verwebt«.90 Der Schutz der Familie ist auch eine zentrale Aufgabe des Staates; er stellt sicher, dass »jeder Bürger des Staats ruhig bey seinem lieben Weibe leben könne«.91 Schließlich ist die gesamte Rechtfertigung einer besseren Erziehung für Frauen durch ihre Funktionalisierung als Erzieherin männlicher Genies sicherlich kein radikalaufklärerischer Gedanke. Er folgt immanent der gleichen Logik wie derjenige der immer wieder betonten Überlegenheit der Europäer als Kulturvolk, nämlich der Unterscheidung unterschiedlich fortgeschrittener Stufen von Aufklärung und Zivilisierung und einer daraus abgeleiteten wertenden Hierarchie. Wenn man liest, es sei doch sehr bedauerlich, wenn »das weibliche Geschlecht in der Ausbildung seines Geistes außer allem Verhältniß mit dem Manne stehen bliebe« – ist es immer noch der Mann, der den Maßstab bestimmt; nur im Verhältnis zu seiner Ausbildung proportional muss die Frau ausgebildet werden. || 89 Kant: Anthropologie (s. Anm. 3), S. 651. Daneben bietet – um einen letzten Vergleich zu ziehen – Kants Darstellung des Geschlechtscharakters der Weiblichkeit den üblichen Gemischtwarenladen an komplementär organisierten Stereotypen, der im Grad der Reflektiertheit deutlich hinter Mauvillon zurückbleibt und eher an Brandesʼ unsystematische Aufzählungen erinnert. 90 Mauvillon: Mann und Weib (s. Anm. 52), S. 235. 91 Ebd., S. 258.

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Mauvillon ist so gesehen ein Beispiel dafür, dass die von Jonathan Israel behauptete notwendige Verknüpfung zwischen religionskritischen, politischen und allgemeinen emanzipatorischen Gedanken im Einzelfall nicht ganz so überzeugend ist, sondern von einer Vielzahl von (nicht immer thematisierten) Prämissen, teilweise unbewussten Unterschieden im Menschenbild und auch methodischen Ansätzen überlagert und verunklart werden kann.92 Dies gilt, so könnte man schließlich vermuten, besonders für Autoren, die sich selbst nicht als systematische, grundlegende Denker verstehen, sondern mehr oder weniger spontan konkret auf andere Denker und Autoren reagieren, die Relativität ihrer eigenen Beobachtungen thematisieren und sich generell eine Offenheit für die Begrenztheit ihrer eigenen und der zeitgenössischen Kenntnisse überhaupt bewahrt haben. Mauvillons Geschlechterentwurf trägt dabei sowohl – vereinzelte – radikalaufklärerische Züge als auch – deutlicher – empiristische, wenn er sich immer wieder auf die nicht zu domestizierende Vielfalt von Erfahrung und Beobachtung als Quellen seiner Überlegungen beruft oder klassenspezifische Differenzierungen und statistische Informationen einfordert. Sein gesamtes Ehe- und Familienverständnis hat, seiner naturalistischen Begründung in der ›physischen Liebe‹ zum Trotz, deutlich moderate Züge.93 Ob es systematisch überhaupt möglich ist, das Geschlechterverhältnis, wenn man es denn als komplementär vorstellt, radikalaufklärerisch zu denken, ist zu bezweifeln.94 Mauvillon scheint mir vielmehr dann am meisten zukunftsweisend zu denken, wenn er die Grenzen der Erkennbarkeit komplizierter Gegenstände und argumentativer Gemengelagen wie im Falle der uralten und immer neuen Querelle des Femmes thematisiert

|| 92 So sieht Jonathan Israel einen engen Zusammenhang zwischen dem »philosophischen Aufstand gegen gesellschaftliche Unterdrückung und extreme ökonomische Ungleichheit, gegen Knechtschaft, Sklaverei und einseitige Ehegesetze« (Jonathan I. Israel: Radikalaufklärung: Entstehung und Bedeutung einer fundamentalen Idee. In: Radikalaufklärung. Hg. von Jonathan I. Israel und Martin Mulsow. Frankfurt a. M. 2014, S. 234–275, hier S. 250); vgl. dagegen schon die Kritik von Antoine Lilti: »Diese Gleichsetzung geht von einer Einheitlichkeit radikaler Positionen aus, so als gehörten zu einer monistischen, materialistischen Ontologie notwendig radikale Haltungen zu Politik und Gesellschaft wie demokratischer Republikanismus, Geschlechtergleichheit, Redefreiheit, Antikolonialismus« (Antoine Lilti: Comment écrit-on l’histoire intellectuelle des Lumières. In: Annales 64 [2009], S. 197; hier zitiert nach: Israel, Mulsow [Hg.]: Radikalaufklärung, S. 253). Dass dem eben nicht so ist, sobald man die geistesgeschichtliche Vogelperspektive verlässt und sich auf die Ebene von spezifischen Einzeltexten und komplexen Persönlichkeiten herablässt, zeigt auch Mauvillons Beispiel. 93 Vgl. dazu auch die in Anm. 1 zitierten Briefaussagen von Baldinger zu Mauvillons persönlicher Abneigung speziell gegen gelehrte Frauen und seinem Bekenntnis zur traditionellen häuslichen Erziehung der Töchter. 94 Rousseau ist in diesem Zusammenhang der deutlich radikalere, wenn eben auch nicht: radikalaufklärerischer Denker. Die fatale Fixierung auf einen vermeintlich notwendigen Zusammenhang von formalen Merkmalen radikalen Denkens mit seinen inhaltlichen Ergebnissen (die doch nur die eigenen Prämissen widerspiegeln) zeigt sich in solchen Beispielen besonders gut. Radikales Denken selbst kann ebenso gut reaktionär wie progressiv sein.

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und zugesteht, sein eigener Beitrag sei vor allem, seine »vorgefaßten Meynungen, und mit einem Worte, mein ganzes Ich, so sehr als nur möglich ist, aus den Augen zu setzen«;95 wenn er experimentelle Perspektivwechsel vorschlägt; und wenn er schließlich fordert, in Zweifelsfällen möge ihn »ein tiefforschendes und zugleich aufrichtiges Weib zurecht weisen«.96 Das ist letztlich ein Angebot zu einem geschlechterübergreifendem Dialog zwischen gleichberechtigten Erkenntnispartnern, der letztlich emanzipatorischer für beide Parteien sein könnte als alle häufig nur rhetorisch vorgetragenen emanzipationspolitischen Forderungen.

|| 95 Mauvillon: Mann und Weib (s. Anm. 52), S. 8. 96 Ebd., S. 230.

| 3 Zur Physiokratischen Theoriebildung

Michael Schwingenschlögl

»in meine eigne Form gegossen« Jakob Mauvillons Aufklärungsdenken im Kontext der Physiokratie

1 Die Menschen haben verschiedene Bedürfnisse, die alle auf tausendfältige Art befriedigt werden können. Zu ihrer Befriedigung gehören durchgängig Dinge, die die Natur hervorbringt: allein fast kein Bedürfniß läßt sich auf eine angenehme Art durch diese Dinge, in der Gestalt wie sie die Natur erzeugt, vergnügen; sondern sie müssen noch durch die Kunst, das heißt, durch die Hände der Menschen, ausgebildet werden und andere Gestalten erhalten. Der Zeugungstrieb und der Nahrungstrieb, in so fern wir diesen dann und wann mit ungeschältem Obst von den Bäumen befriedigen, dürften leicht die einzigen seyn, bey deren Vergnügung wir Europäer die Gegenstände derselben so brauchen, wie sie uns die Natur geschenkt hat, ohne ihnen eine andre Gestalt zu geben.1

Was Jakob Mauvillon in diesen Zeilen zur Sprache bringt, scheint vertraut zu sein: Die Bedürftigkeit des Menschen im Angesicht seiner Begierden, die Notwendigkeit künstlicher Hilfsmittel zur Befriedigung derselben, die im Hintergrund stehende Frage, inwiefern der Mensch mit seinem ökonomischen Handeln einen unvermeidlichen Teufelskreis betritt und doch immer auf die Natur verwiesen bleibt und auf ihrer Grundlage zu leben hat. Man mag an die aristotelische Politik, an die moderne Naturrechtsdebatte, vielleicht an Rousseau erinnert sein, und tatsächlich stehen all jene Assoziationen und Einflüsse, denen man im Werk Mauvillons nachgehen kann, in mehr oder minder entferntem Verhältnis zu der Lösung, die der Autor selbst für das Spannungsverhältnis von Natürlichkeit und Künstlichkeit anvisierte. Aber dieser Lösungsvorschlag muss wenigstens aus der geschichtlichen Distanz befremdlich erscheinen. Denn wenngleich die Problematik, auf die Mauvillon rekurriert, auch aktuell berühren mag, oder, wie wohl so mancher behaupten würde, gar zeitlos ist, so beruft sich Mauvillon auf eine ökonomische Theorie – oder Wirtschaftsphilosophie – die im merkantilistischen Frankreich des 18. Jahrhunderts entstand, kaum eine Realisierung in der deutschen Politik fand und rasch von der klassischen ökonomi-

|| 1 Jakob Mauvillon: Von der öffentlichen und privaten Ueppigkeit (luxe) und den wahren Mitteln ihr zu steuern: nach den Grundsätzen der neuern französischen Physiokraten. In: J. Mauvillon’s Professors der Kriegskunst am Carolino zu Kassel Sammlung von Aufsätzen über Gegenstände aus der Staatskunst, Staatswirthschaft und neuesten Staaten Geschichte. Theil 2. Leipzig 1777, S. 1–128, hier S. 7f. https://doi.org/10.1515/9783110793611-007

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schen Theorie nach Adam Smith abgelöst wurde: Die Physiokratie oder der Physiokratismus, der auch Ökonomismus genannt wurde.2 Ist es mehr als ein Kuriosum, auf das man einen Blick werfen sollte, wenn man sich mit Werk und Leben Jakob Mauvillons beschäftigt, dass der Militärhistoriker sich für eine ökonomische Lehre begeisterte, die ein so kurzes Zwischenspiel auf der Bühne der Geschichte darbot und aktuell kaum mehr bekannt ist? Wie man an dem Eingangszitat sieht, nimmt der Physiokrat nicht nur philosophische Grundsatzfragen auf, sondern die Kenntnis der Physiokratie trägt auch zum historischen Verständnis des Wandels von Wirtschafts- und Gesellschaftskonzeptionen während der Spätaufklärung bei. Die Physiokratie nämlich konstituiert sich zwischen antik-vormoderner und moderner Ökonomie. Sie ist der erste Versuch, ökonomische Kreisläufe als Reproduktionssysteme in all ihren Elementen zu begreifen und durch die Analyse ihrer Komponenten zu korrigieren. Womöglich wirft die physiokratische Denkart überdies auch ein weiteres Licht auf das Gesamtwerk Mauvillons. Um sich der Stellung Mauvillons zur Physiokratie im Rahmen der durch den vorliegenden Band gestellten Frage nach der radikalen Spätaufklärung annähern zu können, soll dieser Beitrag in vier Hauptabschnitte gegliedert werden. Zunächst sind die Hintergründe und ökonomischen Grundannahmen der Physiokratie als Antwort auf den Merkantilismus und dessen Probleme anzusprechen. Sodann soll auf die metaphysischen und naturrechtlichen Fundamente der Physiokratie im Wandel ihrer Theoriebildung eingegangen werden. Ferner sind die Versuche einer Implementierung physiokratischer Wirtschaftspolitik in Deutschland und deren Schwierigkeiten zu betrachten. Zuletzt sucht eine Perspektivierung auf das Denken Mauvillons zu beleuchten, was den Aufklärer allem Anschein nach an der Physiokratie faszinierte und daran festhalten ließ.

2 Der Terminus Physiokratie leitet sich vom griechischen φῠ́σῐς (Natur) sowie κρᾰτεῖν (herrschen) ab und wurde 1768 von dem Physiokraten Pierre Samuel du Pont de Nemours erfunden. Zuvor nannten sich die Physiokraten schlichtweg ›economistes‹.3 Worin besteht im ökonomischen Sinne eine Herrschaft der Natur, und

|| 2 Alle drei Termini werden im vorliegenden Aufsatz bedeutungsgleiche Verwendung finden. 3 Vgl. Ulrich Muhlack: [Art.] Physiokratismus. In: Lexikon zum aufgeklärten Absolutismus in Europa. Herrscher – Denker – Sachbegriffe. Hg. von Helmut Reinalter. Wien 2006, S. 472–477, hier S. 473: »Die Mitglieder der Schule nannten sich selbst ›philosophes économiques‹ und wurden auch von ihren Gegnern so oder ähnlich genannt: zur Unterscheidung oder Abgrenzung von anderen ›philosophes‹ und damit zur Kennzeichnung ihrer besonderen, geradezu sektenmäßig wirkenden Stellung innerhalb der französischen Aufklärung.«

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wovon grenzt sie sich konzeptionell ab? Die Physiokratie wurde in der Mitte der 1750er Jahre von Francois Quesnay erdacht, dessen wohl stärkster Einfluss die ökonomischen Ansätze des zu Beginn des 18. Jahrhunderts nach Frankreich eingewanderten Iren Richard Cantillon4 waren. Unter dem Finanzminister Jacques Turgot fand zwischen 1774 und 1776 der Versuch statt, die neue Wirtschaftstheorie in die Praxis umzusetzen.5 Die Physiokratie war als Analyse und Korrektiv ihres wirtschaftspolitischen Vorgängers, des Merkantilismus, konzipiert. Im Frankreich Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. hatte der Merkantilismus gleichsam den Status einer Staatsdoktrin erhalten. Seine Grundsätze waren, dass a) wachsender Reichtum dem Staatswesen nötig sei, b) dieser Reichtum durch Exportüberschüsse erzielt werden müsse und c) sich in Gold und Silber messen ließe.6 Der Merkantilismus, der vom französischen Finanzminister Jean-Baptiste Colbert begründet worden war, verstand wirtschaftliches Handeln prinzipiell als Nullsummenspiel. Wenn sich Reichtum an der Menge des dem Staat verfügbaren Goldes bemisst, dies Geldmittel nur in begrenzter Menge weltweit vorhanden ist und im internationalen Handel für Waren eingetauscht wird, so folgt daraus, dass der Staat mehr Gold einnehmen, mehr Waren exportieren muss, als er an Gold ausgibt, d. h. an Waren importiert: Die Überlegungen der Merkantilisten kreisen um die Erhöhung der im Inland verfügbaren Geldmenge, die über Außenhandelsüberschüsse oder über die Gründung von Banken herbeigeführt werden soll. Die Steigerung des Geldumlaufs soll den Handel anregen und damit die Expansion der gewerblichen Wirtschaft begünstigen. […] Zur Sicherung eines möglichst hohen Außenhandelsüberschusses sehen die Merkantilisten es als notwendig an, durch tarifäre und nichttarifäre Handelshemmnisse den Import ausländischer Waren zu verhindern und den Export der inländischen Manufakturwaren zu fördern. […] Die Steuerreformpläne Vaubans oder Laws sind so ausgerichtet, daß das bestehende Steuersystem systematisiert wird, um den fiskalischen Ertrag zu erhöhen.7

|| 4 Hayek hält es für eine »verhältnismäßig unwichtige Frage, ob Cantillon noch vorwiegend als Merkantilist oder als der erste Physiokrat anzusehen sei« (Friedrich August Hayek: Richard Cantillon. In: Richard Cantillon: Abhandlung über die Natur des Handels im allgemeinen. Hg. von Friedrich August Hayek. Jena 1931, S. V–LXIX, hier S. XXXIV). Entscheidend sei vielmehr Cantillons Mittlerstellung, die eine Voraussetzung der physiokratischen Schulbildung konstituiert. Vgl. Cantillons Schrift in Hayeks Edition: Richard Cantillon: Abhandlung über die Natur des Handels im allgemeinen. Hg. von Friedrich August Hayek. Jena 1931. 5 Es ist die marxistische Geschichtsschreibung, welche die Physiokratie insbesondere entlang der Denk- und Lebenslinien Quesnays und Turgots ausgiebig erforscht hat. Vgl. hierzu Hermann Ley: Geschichte der Aufklärung und des Atheismus. Berlin 1986, Bd. 5/1, S. 483–636. Doch wenngleich dies monumentale Geschichtswerk einige Anhänger der Physiokratie in Deutschland behandelt, findet Mauvillon darin keinerlei Erwähnung. 6 Vgl. Rainer Gömmel: Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Merkantilismus 1620–1800. München 1998, S. 41–56. 7 Rainer Gömmel, Rainer Klump: Merkantilisten und Physiokraten in Frankreich. Darmstadt 1994, S. 141ff.

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Einfuhrzölle und Exportüberschüsse zeichneten die merkantilistische Politik aus – und diese zeitigte die Konsequenz, dass immer mehr sogenannte Luxusgüter aus Frankreich exportiert wurden, die Landwirtschaft aber unter einer hohen Abgabenlast und der Abwanderung der Arbeitskraft in die Städte zu leiden hatte. Diesen Niedergang der Landwirtschaft suchte Francois Quesnay, der Begründer der Physiokratie,8 zu analysieren und anhand der eigenen neu entwickelten Theorie umzukehren: »So gewann die Physiokratie in der Blütezeit der Aufklärung an Bedeutung, während die Epoche des Merkantilismus bereits ihren Ausklang fand.«9 Kurz gesagt, versuchte die Physiokratie der Landwirtschaft den ökonomischen Primat einzuräumen und den Handel von Schutzzöllen und praktisch sämtlichen anderen Kontrollen zu befreien. Wie gestaltete sich dieser Gedanke? Im berühmten Tableau economique von 1758 versucht de Quesnay die bestmögliche Wirtschaft als in sich geschlossenen Produktions- und Handelskreislauf darzustellen, der steigende Erträge bei stabil bleibender Arbeit verspricht. Wie genau de Quesnay sich jenes komplexe System vorgestellt hat, bleibt bis heute umstritten. Generell jedoch lässt sich die Konzeption folgendermaßen fassen: De Quesnay stellt die reale Existenz von lediglich drei ökonomisch relevanten Gruppen fest, die in neue Interaktion treten müssen: Die Landwirte, die Gewerbetreibenden und die Gutseigentümer.10 (Ungleichheit und Klassenunterschiede sind, »wie die Physiokraten annehmen, aufgrund der unterschiedlichen physischen Beschaffenheit des Menschen bereits im Naturzustand angelegt«.11) Mit Landwirtschaft ist hier nicht allein der Bauernstand gemeint, sondern all das, was heute dem Primärsektor zugeteilt wird, also auch Bergbauarbeiter, Fischer oder Holzfäller. »Die classe productive der Pächter, Landarbeiter und Bauern erzeugt die Reichtümer der Nation«,12 und dieser Teil der Bevölkerung ist nach physiokratischem Konzept der einzig produktive, während Gewerbetreibende und Gutseigentümer (insofern diese nicht selbst Landwirte sind) als ›steril‹ bezeichnet werden.13 Die Be-

|| 8 Zu Quesnays physiokratischen Anfängen vgl.: Pierre Le Masne, Gabriel Sabbagh: The ›Bellial des vertus‹ enigma and the beginnings of physiocracy. In: Contributions to Political Economy 37 (2018), S. 105–131. 9 Gömmel, Klump: Merkantilisten und Physiokraten in Frankreich (s. Anm. 7), S. 39. 10 »La Nation es réduite à trois classes de citoyens: la classe productive, la classe des propriétaires et la classe stérile« (François de Quesnay: Tableau économique des Physiocrates. Préface de Michel Lutfalla. Paris 1969, S. 45). 11 Hans-Ulrich Thamer: Physiokraten und Anti-Physiokraten. Ökonomie, Staat und Gesellschaft im politischen Diskurs der französischen Spätaufklärung. In: Der moderne Staat und ›le doux commerce‹. Politik, Ökonomie und internationale Beziehungen im politischen Denken der Aufklärung. Hg. von Olaf Asbach. Baden-Baden 2014, S. 139–156, hier S. 152. 12 Birger P. Priddat: Le concert universel. Die Physiokratie: Eine Transformationsphilosophie des 18. Jahrhunderts. Marburg 2001, S. 18. 13 »La classe stérile est formée de tous les citoyens occupés à d’autres services et à d’autres travaux que ceux de l’agriculture, et dont les dépenses sont payées par la classe productive et par la classe

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gründung für diesen »Primat der Landwirtschaft«14 lautet, dass aller ökonomische Wert allein aus der Natur stammen könne, der Mensch die Werte, die Ressourcen, die er aus der Natur bezogen hat, hingegen nicht hervorzubringen, sondern nur umzuformen imstande sei: »Die Handwerker, Industriellen und Händler modifizieren nurmehr die Formen der von den Primärproduzenten erzeugten ›echten‹ Reichtümer«.15 Wenn ein Förster einen Tannensetzling pflanzt, vor äsenden Rehen schützt und den Baum irgendwann fällt, so hat er der Natur geholfen, ein Produkt zu erzeugen. Der Schreiner hingegen, der die Tanne zu einem Stuhl verarbeitet, erhält bereits das ganze Material, das er nicht hervorbringt, sondern nur umgestaltet, weshalb der Wert, der ja dem Material inhärieren muss, sich durch den Gewerbetreibenden (der freilich den Preis erhöht) nie steigern kann. Zwar gilt die sterile Klasse keineswegs als überflüssig; aber die Implikation ist sehr wohl, dass die Landwirtschaft den Vorzug und die erste Beachtung bei jeder ökonomischen Analyse genießen sollte.16 Dies führt an die Gründe heran, wieso de Quesnay vom ökonomistischen System als der ›natürlichen Ordnung‹17 und du Pont de Nemours von einer ›Naturherrschaft‹18 spricht: Der naturgemäße Primat der

|| des propriétaires, qui eux-mêmes tirent leurs revenus de la classe productive« (Quesnay: Tableau économique des Physiocrates [s. Anm. 10], S. 46). Ferner erklärt de Quesnay: »Comparez le gain des ouvriers qui fabriquent les ouvrages d’industrie à celui des ouvriers que le laboureur emploie à la culture de la terre, vous trouverez que le gain de part et d’autre se borne à la subsistance de ces ouvriers; que ce gain n’est pas une augmentation de richesses, et que la valeur des ouvrages d’industrie est proportionnée à la valeur même de la subsistance que les ouvriers et les marchands consomment. Ainsi l’artisan détruit autant en subsistance qu’il produit par son travail« (ebd., S. 201). 14 Ley: Geschichte der Aufklärung und des Atheismus (s. Anm. 5), S. 503. 15 Priddat: Le concert universel (s. Anm. 12), S. 18. 16 Die Signifikanz des Landbaus ist insofern das fundamentale Distinktionsmerkmal des Physiokratismus gegenüber dem merkantilistischen Gegner. Vgl. hierzu Gömmel, Klump: Merkantilisten und Physiokraten in Frankreich (s. Anm. 7), S. 86: »Anders als es spätere Kritiker aus den Reihen der physiokratischen Schule erscheinen lassen, erkennen auch die Merkantilisten den landwirtschaftlichen Boden als einen wichtigen Produktionsfaktor an. Da die Landwirtschaft im merkantilistischen Denken aber nicht der strategische Sektor zur Erhöhung des nationalen Wohlstandes ist, steht der Boden im allgemeinen nicht im Zentrum wirtschaftspolitischer Überlegungen.« 17 »[…] il est à remarquer à cet égard que les frais du commerce peuvent augmenter au désavantage ou diminuer au profit de la nation, selon que cette partie est ou n’est pas dirigée contradictoirement à l’ordre naturel« (Quesnay: Tableau économique des Physiocrates [s. Anm. 10], S. 65). 18 Du Pont de Nemours bestimmt seine Wirtschaftstheorie in Anlehnung an de Quesnay als »la science de la Physiocratie ou de l’ordre naturel essentiellement constitutif du Gouvernement le plus parfait« (Pierre Samuel du Pont de Nemours: Physiocratie, ou Constitution naturelle du gouvernement le plus avantageux au genre humain. Yverdon 1768, S. XVIf.). Die Naturherrschaft ist hierbei als doppelte Anbindung an Normen konzipiert, die in der physischen Welt sowie in der Menschennatur als Naturgesetz und dessen derivatives Naturrecht zu identifizieren sind: »L’ordre naturel est la constitution physique que Dieu même a donnée à l’univers, & par laquelle tout s’opére dans la Nature. En ce sens géneral & vaste, l’ordre naturel précéde de beaucoup le droit naturel de l’homme;

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Landwirtschaft als Quelle alles gemeinschaftlichen Wohlstands kann nur auf Kosten aller Beteiligten ignoriert werden. Wo die Grundlage fehlt, bricht letzten Endes das industrielle Gebäude selbst ein, was wiederum Einbußen im Staatshaushalt und verminderte Regierungsstabilität zur Folge hat. In der Tat lässt sich mit Hensmann darum bezüglich Quesnays Stoßrichtung konstatieren: »Die physiokratische Lehre muß in erster Linie als Reformtheorie für den Absolutismus verstanden werden.«19 Der Zustand des Jägers und Sammlers sowie die bloße Subsistenzwirtschaft wird empirisch als unhaltbar ausgewiesen, da die Anzahl der Menschen, die hiervon dauerhaft leben könnten, zu gering wäre20 – mit anderen Worten eine deutliche Bevölkerungsreduktion und Machteinbuße der Nation nach sich zöge.21 De Quesnay räsoniert nun folgendermaßen weiter: Der Landwirt kann sein Dasein nicht auf bloßem Subsistenzniveau fristen, sondern muss auch in den nächsten Jahreskreislauf investieren: Er braucht neues Saatgut, Werkzeug usw. Diese avances,22 wie es in der Physiokratie heißt, sind daher zusammen mit den unmittelbar verbrauchten Produkten von dem Rest des Werts der Gesamtproduktion zu subtrahieren. Was übrig bleibt, ist der Reinertrag (produit net), der von den Eigentümern eingezogen wird.23 Die Gutseigentümer wiederum bringen diesen Reinertrag teilweise wieder in den Wirtschaftskreislauf ein, indem sie Nahrung und andere Gegenstände erstehen. Wie weiter zu verfahren sei, wie der Reinertrag genau zu bestimmen ist und wie das Verhältnis von Landeigentümern und Pächtern auszusehen habe, war unter den

|| il s’étend bien au-delà de l’homme & de ce qui l’intéresse; il embrasse la totalité des êtres. Mais quand on envisage cet ordre suprême relativement à l’espece humaine, on voit qu’il doit renfermer, & qu’il renferme en effet dans le plus grand détail, tous les biens physiques auxquels nous pouvons prétendre, & l’institution sociale qui nous est propre« (ebd., S. VIII). Beiden metaphysischen Ordnungsstrukturen sucht das Wirtschaftssystem Rechnung zu tragen. 19 Folkert Hensmann: Staat und Absolutismus im Denken der Physiokraten. Ein Beitrag zur physiokratischen Staatsauffassung von Quesnay bis Turgot. Frankfurt a. M. 1976, S. 310. 20 Was die Relevanz des Bevölkerungswachstums für die Wirtschaft angeht, bestehen abweichende Meinungen bereits zwischen Honoré-Gabriels Vater Victor de Mirabeau und de Quesnay. Vgl. hierzu Justus Franz Wittkop: Graf Mirabeau. Biographie. Esslingen 1982, S. 20ff. 21 Vgl. Punkt 3 in Dupont de Nemours’ Table raisonnée. Wiedergegeben in: Priddat: Le concert universel (s. Anm. 12), S. 34–37. Derselben Meinung ist noch Mauvillon, wenn er über voragrarische Gesellschaften urteilt: »Allein die Anzahl des menschlichen Geschlechts würde sehr eingeschränkt seyn, wenn man sich daran begnügen müßte, was auf diese Art, ohne Zuthun des Menschen, erzeugt wird« (Mauvillon: Von der öffentlichen und privaten Ueppigkeit [s. Anm. 1], S. 2). 22 Quesnays primäre Formulierung lautet »avances annuelles« (Quesnay: Tableau économique des Physiocrates [s. Anm. 10], S. 46), da der Wirtschaftskreislauf auf der Grundlage der jährlich zu erneuernden Bodenbebauung seine Regelmäßigkeit und Berechenbarkeit entwickelt. 23 »La classe des propriétaires […] subsiste par le revenu ou produit net de la culture, qui lui es payé annuellement par la classe productive, après celle-ci a prélevé, sur la reproduction qu’elle a fait renaître annuellement, les richesses nécessaires pour se rembourser de ses avances annuelles et pour entretenir ses richesses d’exploitation« (ebd., S. 46).

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Physiokraten umstritten, denn »[d]as Tableau économique ist von Quesnay in verschiedener Form dargestellt worden«,24 und bereits Quesnays Tableau von 1758 eignen etliche Inkonsistenzen.25 Um den Reinertrag zügig unter die anderen beiden Klassen (sowie die Staatsdiener) zu verteilen, wird vom Staat eine Einsteuer (»l‘impôt unique«26) eingeführt, die allein von den Grundeigentümern erhoben wird: Ein Drittel des Pachtzinses und ein Drittel der Reinerträge werden besteuert. Dies soll Anreiz für Investitionen in die Landwirtschaft sein, so dass bei jeder avance trotz der zusätzlichen Steuerbelastung das Doppelte an Arbeitsleistung und verfügbarem Kapital geschöpft wird. Ansonsten muss der Staat allen ökonomischen Dirigismus unterlassen – insbesondere im Bereich des internationalen Handels, der (erneut als Reaktion auf den Merkantilismus) völlig frei zu sein hat; die Physiokraten übernahmen gerne Vincent de Gournays Wort vom ›Laissez-faire‹ (das eine längere Vorgeschichte hat, die hier nicht entfaltet werden kann).27 Und auch das ist unter Physiokratie zu verstehen: Der Kapitalfluss zwischen den Klassen als naturwüchsiger Prozess, der zu einem stationären Gleichgewicht der Wohlstandsverteilung bei langfristigem Wachstum führt, das festen Gesetzen folgt und das man – nach seiner Implementierung – geschehen lassen muss, anstatt es künstlich zu behindern.

3 Dass die Physiokraten auf ihre Ideen kamen, geschah daher nicht grundlos. Doch auch der Anlass, die Probleme des Merkantilismus, erklären an sich noch nicht das gleichsam dogmatische Beharren der Physiokraten auf der Alleinproduktivität der Natur. Hierzu sind vorerst die metaphysischen Fundamente der Physiokratie und weiter unten deren im Rahmen naturrechtlich orientierter Argumentationen sich ändernde Konzeption zu erhellen. Sowohl die metaphysischen als auch die ökonomischen Grundlagen der Physiokratie lassen sich, wie Priddat zeigen konnte,28 auf Aristoteles zurückführen, || 24 Irene Oswalt: Das Laissez-faire der Physiokraten. Freiburg 1961, S. 54. 25 Vgl. hierzu Gömmel, Klump: Merkantilisten und Physiokraten in Frankreich (s. Anm. 7), S. 120– 129. 26 Quesnay: Tableau économique des Physiocrates (s. Anm. 10), S. 115. 27 Vgl. zu diesem Kontext die noch immer maßgebliche Studie von August Oncken: Die Maxime Laissez faire et laissez passer, ihr Ursprung, ihr Werden. Ein Beitrag zur Geschichte der Freihandelslehre. Bern 1886. Vgl. zum speziell physiokratischen Kontext außerdem den aktuelleren Aufsatz von Tim J. Hochstrasser: Physiocracy and the politics of laissez-faire. In: The Cambridge History of Eighteenth-Century Political Thought. Hg. von Mark Goldie und Robert Wokler. Cambridge 2006, S. 419–442. 28 Vgl. Priddat: Le concert universel (s. Anm. 12), S. 12–16.

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nach dessen Theorie die ontologischen Prinzipien des Stoffs und der Form alles Werden und daher auch jedwede ökonomischen Prozesse bestimmen. Diese Zusammenhänge sollen hier etwas genauer erläutert werden. Nach Aristoteles bringt die Natur (φῠ́σῐς) stets die dem jeweiligen Stoff (ὕλη) immanente Form (εἶδος) hervor und treibt sie auf ihr reales Optimalmaß, ihre Entelechie (ἐντελέχεια).29 Die Form aber ist metaphysisch gegeben und nie künstlich hergestellt. Mithin schließt der arbeitende Mensch bestenfalls mit einem bestimmten Stoff eine bestimmte Form zusammen, wodurch diese in einem Gegenstand zum Ausdruck kommt. Die Form verleiht dem Gegenstand seine Wirklichkeit; da die Form der Arbeit chronologisch vorausgeht, wäre es ein Irrtum zu meinen, der Mensch habe jenen neuen Gegenstand realisiert. Der mit der Natur technisch korrekt verfahrende Mensch produziert keineswegs die Materien oder aus essenziell eigener Kraft die Form, die der Materie inhäriert, sondern ist vielmehr bloßer Agent der φῠ́σῐς.30 Pointiert hält Blumenberg dazu fest: Der Kern der aristotelischen Lehre von der τέχνη ist, daß dem werksetzenden Menschen keine wesentliche Funktion zugeschrieben werden kann. Was man die ›Welt des Menschen‹ nennen wird, gibt es hier im Grunde nicht. Der werksetzende und handelnde Mensch stellt sich in die Konsequenz der physischen Teleologie: er vollbringt, was die Natur vollbringen würde, ihr – nicht sein – immanentes Sollen.31

|| 29 Vgl. zum Veränderlichen der Natur Aristoteles: Metaphysik. Hg. von Héctor Carvallo. Hamburg 1966, S. 98: »Nach dem Gesagten ist also Natur im ersten und eigentlichen Sinne die Wesenheit der Dinge, welche das Prinzip der Bewegung in sich selbst haben, insofern sie das sind, was sie sind; denn der Stoff wird Natur genannt, weil er diese aufzunehmen fähig ist, das Werden und Wachsen darum, weil es Bewegungen sind, die von dieser ausgehn. Und Natur ist auch das Prinzip der Bewegung der natürlichen Dinge, den Dingen inwohnend entweder dem Vermögen (dynamei) oder der wirklichen Tätigkeit nach (entelecheia)« (Metaphysik 5, 4, 6). 30 Aristoteles führt dies in Metaphysik 7, 9 anhand des Beispiels der Herstellung einer Metallkugel vor: »Indem nun das Werdende durch etwas wird […] und aus etwas […] und etwas wird […], so macht der Werktätige sowenig den Stoff, das Erz, ebensowenig auch die Kugel, ausgenommen im akzidentellen Sinne, weil die eherne Kugel eine Kugel ist und er jene macht. […] Ich meine, das Erz rund machen heißt nicht das Runde oder die Kugel machen, sondern etwas anderes, nämlich diese Form, in einem anderen hervorbringen. […] Es ist also offenbar, daß die Form, oder wie man sonst die Gestaltung (morphé) des Sinnlichen nennen soll, nicht wird, und daß es keine Entstehung (génesis) derselben gibt, und daß ebensowenig das Wesenswas entsteht […]. Wohl aber macht der Werktätige, daß die eherne Kugel ist, er macht sie nämlich aus Erz und Kugel; denn in dies einzelne bringt er die Form hinein, und das daraus Hervorgehende ist eherne Kugel. […] Aus dem Gesagten erhellt also, daß dasjenige, was wir als Form oder Wesenheit bezeichnen, nicht wird, wohl aber die nach ihr benannte Vereinigung (sýnholos), und daß in jedem Werdenden ein Stoff vorhanden ist, und das eine dies, das andere das ist« (Aristoteles: Metaphysik [s. Anm. 29], S. 154f.). 31 Hans Blumenberg: ›Nachahmung der Natur‹. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Hg. von Anselm Haverkamp.

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Was für die Form gilt, gilt ebenso für den Stoff. Hierin liegt die physiokratische These von der Produktivität der Natur und der Sterilität der Industrie begründet: Quesnay’s [sic] Unterscheidungen wiederholen alte metaphysische Argumente. […] In Nachfolge einer thomasischen [d. h. thomistischen] Interpretation Aristoteles‘ sind die Gebilde menschlicher Arbeit für den Physiokraten nicht einheitliche Substanzen […]. Die prima materia oder Substanz der Natur, die in allen Transmutationen dieselbe bleibt, kann durch akzidentielle Veränderung […] keine Erzeugung […] sein.32

Die Physiokraten lösen zwar das Gewerbe, die Industrie vom Naturprozess ab, nicht aber die Wertschöpfung. Erst die klassische britische Wirtschaftstheorie entschließt sich zu diesem Schritt. Und mehr noch verdanken die Physiokraten (und nicht nur sie) Aristoteles: nämlich die Anwendung der obigen Metaphysik auf den naturgemäßen Erwerb und Austausch von Waren. Nach dem griechischen Denker erfüllt der Mensch das Telos der ihm eigenen Natur nur als vergesellschaftetes Individuum. Dieses soziale Leben gelingt am ehesten innerhalb des οἶκος, d. h. des als größeren Haushalt gedachten wirtschaftlichen Gemeinwesens, das unter einer politischen Verwaltung steht. Dabei ist für Aristoteles ›Ökonomie‹ (οἰκονομική) im strengen Sinne lediglich der haushälterische Umgang mit bereits existenten Gütern (also deren Lagerung, Verteilung und Verbrauch). Was in der Moderne als Lehre von Produktions- und Handelsvorgängen vornehmlich in den Bereich der Wirtschaftstheorie fällt, gilt dagegen als χρηματιστική (Erwerbskunst).33 Innerhalb dieser Erwerbskunst trifft Aristoteles eine weitere, für das Verständnis der Physiokratie höchst aufschlussreiche Unterscheidung. Er differenziert zwischen natürlichen (begrenzbaren) Bedürfnissen und unnatürlichen (sich unbegrenzt steigernden) Bedürfnissen, wobei letztere ein Verfehlen der menschlichen Entelechie mit sich bringen bzw. verursachen. Die wirtschaftstheoretische Konsequenz dieser anthropologischen Leitdifferenz liegt in der Dichotomie von entsprechender κτητική χρηματιστική (natürlichem Erwerb) und καπηλική χρηματιστική (unnatürlichem Erwerb). Die natürlichen Bedürfnisse würden prinzipiell innerhalb der Familie oder der Gemeinde befriedigt; wie später noch in der Physiokratie passt und dient der Staat sich der produktiven, vornehmlich agrarisch zu modifizierenden Natur an: Denn wie die praktische Politik die Menschen nicht hervorbringt, sondern von der Natur übernimmt und sich dann ihnen widmet, so muß auch die Natur für die Nahrung Ackerland oder

|| Frankfurt a. M. 2001, S. 9–46, hier S. 27. Vgl. zu Blumenbergs Deutung auch zustimmend Priddat: Le concert universel (s. Anm. 12), S. 15. 32 Ebd., S. 19. 33 Aristoteles betont, »daß die Kunst der Haushaltsführung nicht mit der Beschaffungskunst identisch ist; denn diese hat die Aufgabe, die Mittel bereitzustellen, jene andere dagegen, sie zu gebrauchen« (Aristoteles: Politik. Buch 1. Hg. von Hellmut Flashar. Berlin 1991, S. 21) (Politik 1, 8).

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das Meer oder etwas anderes zur Verfügung stellen – danach ist es aber die Aufgabe des Leiters des Haushaltes, über (ihre Verwendung) in der erforderlichen Weise Bestimmungen zu treffen.34

Das ökonomische Ziel ist dabei weniger Luststeigerung als Bedürfnisbefriedigung: ein reichlicher Vorrat an Gütern, die für das Leben unerläßlich und für die staatliche und häusliche Gemeinschaft nützlich sind, muß vorhanden sein – oder die Erwerbskunst muß diesen Vorrat bereitstellen, damit er vorhanden ist. In solchen Gütern scheint der wahre Reichtum zu bestehen. Denn der für ein vollkommenes Leben ausreichende Umfang eines solchen Besitzes geht nicht ins Grenzenlose.35

Um es vorwegzunehmen, so scheinen die französischen Physiokraten ebendiese Auffassung zu teilen, während das Verhältnis von Luststeigerung und Bedürfnisbefriedigung in Mauvillons Schriften kippt. Bei allem Eintreten für die Autarkie des Gemeinwesens hat Aristoteles deshalb auch keine prinzipiellen Einwände gegen zwischenstaatliche Handelsbeziehungen, solange dieselben als κτητική χρηματιστική jene Güter herbeischaffen, deren der Mensch zur Erhaltung seines angemessenen Lebenswandels bedarf: Ein solcher Tauschhandel ist weder gegen die Natur, noch ist er eine Art dieser gewinnsüchtigen Erwerbskunst. Denn er diente dazu, die Mittel so zu vervollständigen, daß man naturgemäß mit allen Gütern versorgt war.36

Sieht man davon ab, dass Aristoteles an dieser Stelle explizit den Naturalientausch im Sinn hat, so lässt sich ohne Weiteres die Parallele zu den Physiokraten erkennen. Die Physiokratie bringt sich gegen die exportorientierte Wirtschaftspolitik des absolutistischen Frankreichs in Stellung, um einerseits die Grundversorgung mit landwirtschaftlichen Gütern aus eigener Produktion in den Fokus zu rücken, anderer-

|| 34 Ebd., S. 27 (Politik 1, 10). 35 Ebd., S. 23 (Politik 1, 8). Es ist dabei v. a. das Geld, das den ins Grenzenlose anwachsenden Reichtum ermöglicht und letztlich sogar (scheinbar) konstituiert. Die Hochschätzung von Finanzmitteln über Naturalien ist dabei das zuvörderst eintretende Übel: »Nachdem nun das Münzgeld eingeführt war, entstand aus dem Tauschhandel in lebensnotwendigen Dingen die zweite Art der Erwerbstätigkeit, die in der Form des gewerbsmäßigen Handels […]. Deswegen entsteht auch der Eindruck, die Erwerbskunst habe es hauptsächlich mit Geld zu tun und ihre Aufgabe liege in der Fähigkeit herauszufinden, woher sich möglichst viel Geld gewinnen läßt; denn sie produziert Reichtum und Geld. Deswegen versteht man häufig unter Reichtum die Menge Geld, (das man besitzt,) weil die gewinnsüchtige Erwerbskunst und Handelstätigkeit sich darum drehen« (ebd., S. 25) (Politik 1, 9). Zur Illustration der Folgen eines solchen Irrtums interpretiert Aristoteles an dieser Stelle die Midas-Sage strikt ökonomisch; der König, dem alles zu Gold wird, vermindert und vernichtet den Wert der realen Güter, deren bloße Repräsentation das Tauschmittel des Goldes ursprünglich sein sollte. 36 Ebd., S. 24 (Politik 1, 9).

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seits aber auch dem Handel neue Freiheiten zuzugestehen, um solche Bedürfnisse der Bürger zu befriedigen, welche weder die ›produktive‹ noch die ›sterile‹ Klasse im Inland stillen könnte. Am nächsten Problem der aristotelischen Politik divergieren die Physiokraten jedoch bereits teilweise von der peripatetischen Tradition. In Aristotelesʼ Schrift wird nämlich die Realität des internationalen Handels deutlich kritischer gesehen, als dies bei den Physiokraten mit ihren Freihandelsargumenten der Fall ist. Der geldbedingte Handel gilt dem Stagiriten als Grundproblem der καπηλική χρηματιστική: Naturgemäß ist daher für alle eine Erwerbsweise, (die Güter) gewinnt, die aus Früchten und Tier(produkten) bestehen. Nun gibt es aber zwei Formen von Gütern, wie wir schon sagten: die eine fällt in den Bereich der gewinnsüchtigen Händlertätigkeit, die andere in den der Ökonomik. Aber nur diese (zweite) erfüllt notwendige Bedürfnisse und findet lobende Anerkennung, während die Erwerbskunst nach Art des gewinnsüchtigen Handels mit Recht getadelt wird – denn sie wird nicht entsprechend der Natur ausgeübt, sondern besteht darin, daß Menschen aus (geschäftlichem Verkehr) untereinander Güter gewinnen.37

Im Gegensatz zur angeblich anthropologisch und moralisch definierbaren natürlichen Erwerbskunst kenne die unnatürliche Erwerbskunst »keine Begrenzung.«38 Freilich bleibt der tatsächliche Reichtum stets begrenzt, doch die »gewinnsüchtige Erwerbskunst […] ist verantwortlich für die Auffassung, Reichtum und Besitz sei keine Grenze gesetzt.«39 Dieser falsche Eindruck entstehe, da Geld stets unverbrauchte Waren repräsentiere und gehortet werden könne, wo keine entsprechenden Waren existierten; infolgedessen korrespondieren ›unnatürliche‹ Bedürfnisse und eine Liebe zum Geld, das jene Bedürfnisse befriedigt, in einer vollständigen Verkehrung menschlicher Lebensorientierung, denn Erwerbskunst und Vermögen, die naturgemäß sind, bilden eine eigene Form, sie fallen unter die Kunst der Haushaltsführung, diese andere aber, die nach Art des gewerbsmäßigen Handels ausgeübt wird, bringt Besitz hervor – nicht mit allen Mitteln, sondern durch Handel mit Besitz. Und dieser gewinnsüchtigen Erwerbsweise scheint es um das Geld zu gehen, denn das Geld ist notwendiger Bestandteil und Zweck des Handels.40

Wenngleich sich in der Physiokratie die Trennung zwischen natürlichem und unnatürlichem Wirtschaften sowie der Primat der landwirtschaftlichen Produktion wiederfindet, weicht die Theorie doch darin von Aristoteles ab, dass dem handelsmäßi-

|| 37 Ebd., S. 27 (Politik 1, 10). 38 Ebd., S. 25 (Politik 1, 9). 39 Ebd., S. 23 (Politik 1, 9). 40 Ebd., S. 25 (Politik 1, 9).

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gen Erwerb jeglicher Güter sowie finanzieller Ressourcen Tür und Tor geöffnet werden.41 Ein besonderer Aspekt der aristotelischen Wirtschaftstheorie muss zuletzt noch Erwähnung finden, da er in erstaunlich abgewandelter Weise bei Jakob Mauvillon auftaucht: die Kritik am Luxus. Da die ›gewinnsüchtige Erwerbskunst‹ einen Überschuss an Geld und Waren in die Hände zahlreicher Menschen bringt, verwenden dieselben ihre Kraft auf die Erlangung derartiger Reichtümer. Die Quelle dieser Perversion liegt in dem fehlgeleiteten eudämonistischen Ethos, welches Glückseligkeit auf physischen Genuss reduziert und somit die Vollendungsform des Menschen geradezu verunmöglicht. Das Streben nach Üppigkeit als Ausdruck jenes Irrwegs übersteigt denn auch den Geldhandel und ergreift sämtliche Bereiche menschlicher Tätigkeit. Aristoteles sorgt sich dabei um eine ›Ökonomisierung‹ des Lebens (und gerade diese Sorge können die späteren Physiokraten zumindest implizit nicht mehr teilen): Diese Einstellung ist darin begründet, daß die Menschen mit ihrem ganzen Eifer dem bloßen Leben dienen, aber nicht dem vollkommenen Leben. […] Denn da ausschweifender Genuß in der Übersteigerung besteht, sucht man die Mittel, die die Übersteigerung ausschweifenden Genießens ermöglichen. Und wenn sie sich diese nicht durch die gewinnsüchtige Erwerbskunst beschaffen können, versuchen sie es auf anderem Wege, indem sie dafür jede Fähigkeit nutzen – nicht naturgemäß; denn Aufgabe der Tapferkeit ist es nicht, Geld, sondern Mut zu machen, und ebenso haben Feldherrnkunst und Medizin nicht diese Aufgabe, sondern die eine soll den Sieg erringen, die andere Gesundheit wiederherstellen. Aber jene Leute machen alle diese Künste zu Mitteln, Gewinn zu erzielen, als sei das das Ziel und auf das Ziel müsse alles ausgerichtet sein.42

Wie im nächsten Unterpunkt zu zeigen sein wird, kann Du Pont de Nemours bereits sämtliche Tätigkeiten des Menschen als ökonomisch bedingt und bei alledem naturrechtlich begründet darstellen, was das Gewinnstreben grundsätzlich legitimiert. Was jedoch die Kritik des ausschweifenden Erwerbs und Konsums angeht, so nimmt || 41 Allerdings erklärt Aristoteles die καπηλική χρηματιστική offenbar immerhin zu einem teils notwendigen Übel, wenn er erwähnt, dass es für Staaten häufig unvermeidlich sei, ihren Finanzhaushalt aufzubessern, indem sie Gewinne ausschöpften, deren Warenmenge die Bedürfnisse des Gemeinwesens schlichtweg überstiegen: »Auch für leitende Staatsmänner ist es von Bedeutung, solche Kenntnisse [über das Erringen von Handelsmonopolen] zu haben, denn viele Staaten sind auf Gewinnmöglichkeiten und solche Einnahmen angewiesen, genau wie ein Haushalt, nur in größerem Umfang. Deswegen machen auch einige der leitenden Staatsmänner dies zum einzigen Inhalt ihrer Politik« (ebd., S. 30) (Politik 1, 11). Dies halbherzige Eintreten für eine ›unnatürliche‹ Ökonomie steht im scheinbaren Widerspruch mit den Ausführungen im selben Buch, dass Organisationen, die sich auf natürlichem Wege gegen ihre Widersacher nicht behaupten könnten, natürlicherweise diesen überlegenen Gegnern unterworfen würden, doch ist zu bedenken, dass auch Aristoteles nicht jegliche gegebene Herrschaft eo ipso für rechtens hält (vgl. ebd., S. 16–20) (vgl. Politik 1, 5–6). 42 Ebd., S. 26 (Politik 1, 9).

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sich Mauvillon dieser Materie an, um sämtliche Vorstellungen, wie sie bereits bei Aristoteles aufscheinen, in ihr Gegenteil zu verkehren und einem der steten Steigerung fähigen Genuss seitens des Staatsbürgers das Wort zu reden. Zusammenfassend darf also konstatiert werden: Die ›unnatürlichen‹ Wirtschaftsweisen sind einem Übergewicht des Handels über die Landwirtschaft zuzuschreiben und auf Geldeinnahmen jenseits des zur Erfüllung der standesgemäßen Lebensaufgabe Erforderlichen ausgerichtet, was vorzugsweise im Handel mit Luxusgütern zum Ausdruck kommt. Dies ist zum einen die Diagnose, welche die Physiokraten dem Merkantilismus stellte, und es ist zum anderen ihr metaphysisch gestütztes Argument, das sie in der Tradition des Aristotelismus vorfinden konnten. Wie Aristoteles die wahre Ökonomie Naturgesetzen analog auffasst, so konstruiert auch die Physiokratie eine metaphysische Grundlegung ihrer Theorie in einer göttlich-teleologisch konzipierten Natur. Diese Naturteleologie ist dabei jedoch deistisch zu verstehen: Die Gesetze, nach denen Natur und Mensch produzieren, sind von Gott seit jeher festgelegt, nicht aber durch dessen historisches Eingreifen gültig. Es ist dem systematischen Anspruch der Physiokraten zuzuschreiben, dass sie in dieser Hinsicht die Metaphysik für ökonomisch gewichtiger halten als die vergleichsweise staatspragmatisch orientierten Merkantilisten: Für die merkantilistischen Autoren bedeutete der fehlende ökonomische Wohlstand in erster Linie eine Schwächung der Staatsmacht; das Ziel einer Erhöhung des Wohlstandes soll über eine Erhöhung der Steuereinnahmen die Finanzmittel des Staates erhöhen und ihm damit die Möglichkeit geben, seine Macht nach innen und nach außen zu steigern. Für die Physiokraten ist der Entwicklungsrückstand dagegen ein Indiz für das deutliche Abweichen der tatsächlichen von der natürlichen Weltordnung; überragendes Ziel ist daher die Wiederannäherung an die natürliche Ordnung der Wirtschaft und Gesellschaft, in der auch der Allmacht des Staates ›natürliche‹ Grenzen gesetzt sind.43

Man sieht, was das ökonomische Denken bis in die Neuzeit Aristoteles zu verdanken hat, und was davon sie allmählich abstreifte. War es bis hin zum Merkantilismus im Gefolge des Aristoteles oder wenigstens der gängigen Aristoteles-Deutung üblich gewesen, Wertsteigerung als Resultat von Handelsbeziehungen zu betrachten, so beginnt sich mit der Physiokratie in dieser Hinsicht eine Wende abzuzeichnen. Die Physiokratie ist nicht nur der erste Versuch zur Beschreibung wirtschaftlicher Kreisläufe und deren Eigenleben, sondern auch ein Blickwechsel vom Handel als Quelle ökonomischer Wertsteigerung hin zur Produktion. Dass dabei der Natur, nicht dem Menschen und schon gar nicht dessen handwerklicher oder in Dienstleistungen bestehender Tätigkeit der Primat der Wertschöpfung zugeordnet wird, ist ein letztlich antikes Erbe, das markiert, bis wohin die Innovativität zu jenem bestimmten historischen Zeitpunkt reicht. Es geht der Physiokratie als erster Wirtschaftstheorie

|| 43 Gömmel, Klump: Merkantilisten und Physiokraten in Frankreich (s. Anm. 7), S. 140.

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überhaupt darum, durch Arbeit und Kapitalanlage systematisch ökonomischen Wert zu schöpfen, der, wenn nicht potenziell unendlich, so doch weitaus größer ist, als es die bisherigen Nullsummenspiele der Wirtschaftspolitik, die ein statisches Ist an Reichtum (Gold) annahmen, behaupten konnten. Darum darf der Mensch nach physiokratischer Denkweise, wie sich zeigt, keineswegs inaktiv bleiben. Die Herrschaft der Natur verlangt vom Menschen vielmehr eine Einhaltung der Naturgesetze, die eben dahingehend interpretiert werden, dass sozialer Zusammenhalt gestärkt werden muss, die Böden Frucht tragen sollen oder die Viehbestände zuzunehmen haben. Es ist insofern auch falsch, die Physiokratie für moderne ökologische Theorien in Anspruch zu nehmen,44 wie Immler es versucht hat.45 Es geht den Physiokraten nicht um die Bewahrung natürlicher Ökosysteme jenseits menschlicher Eingriffe, sondern vielmehr um die Abwehr ›unproduktiver‹, für den Menschen nicht nutzbarer Verödungen, Versumpfungen oder Urwälder. Zu Recht hält Ley bereits hinsichtlich Quesnays Grundgedanken fest, es »bleib[e] von neuerer Position zu konstatieren, daß er [Quesnay] die Lebenstätigkeit des Menschen nicht als schädlichen Eingriff in die Umwelt auffaßte.«46 Die menschliche Unterstützung der ›Naturproduktivität‹ repräsentiert eine Abwehr der Brache, die während der merkantilistischen Phase besonders unter Ludwig XV. in der Landwirtschaft immer eklatanter hervortrat, und der die Physiokraten wenigstens implizit die Möglichkeit stetigen Wirtschaftswachstums entgegensetzten. Ebenso darf der Gang der Manufaktur und des Handels aufgrund der naturgemäßen Investitionen in die Landwirtschaft seinen natürlichen Verlauf nehmen. Wenn die avances getätigt werden, können auf dieser Basis Handwerk und Handel florieren, da die Grundversorgung der Bevölkerung mit wertvollen Materialien gesichert ist. So wird zusätzlicher Reichtum erworben, ohne die Landbevölkerung zur Abwanderung in die Städte zu bewegen. Hierdurch gerät die Physiokratie zu einem Reformmodell für den Absolutismus, das einer Relativierung desselben gleichkommt, wie Thamers Studie zum ökonomischen Diskurs Frankreichs im 18. Jahrhundert festhält: Nur eine ausschließlich nach ökonomischen Kriterien gegliederte Sozialordnung sei zulässig. Dadurch bleibe die Sozialstruktur des Ancien Régime zwar erhalten, doch wären die Rechte der besitzenden Klassen nicht mehr durch ihre Standeszugehörigkeit, sondern durch ihre ökonomische Funktion begründet.47

|| 44 Vgl. Priddat: Le concert universel (s. Anm. 12), S. 20 zur Unangemessenheit ökologischer Kriterien für die Interpretation der Physiokratie. 45 Vgl. Hans Immler: Natur in der ökonomischen Theorie. Teil 1: Vorklassik – Klassik – Marx, Teil 2: Naturherrschaft als ökonomische Theorie – Die Physiokraten. Wiesbaden 1985, S. 295–426. 46 Ley: Geschichte der Aufklärung und des Atheismus (s. Anm. 5), S. 519. 47 Thamer: Physiokraten und Anti-Physiokraten (s. Anm. 11), S. 143.

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Obgleich die Berufung auf eine Produktivität der Natur in aktuellen Debatten fast inexistent ist, wartet die Physiokratie also doch mit einer wirkmächtigen Innovation auf; sie legt nämlich die »Fundamente für eine allgemeine Kapitaltheorie«.48 Die physiokratische Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit gesteht dem Kapitalreproduktionsprozess den Vorrang in jeglicher menschlichen Praxis zu. Dies hilft der Ökonomik, sich von der aristotelischen Tugendlehre zu verabschieden und die Wirtschaft als separat von der Moral zu betrachten.49 Die völlige Ignoranz der Eigendynamik von Geldmärkten, das feudalistische Gerüst,50 und der inzwischen längst eingeengt wirkende Blick auf eine agrarische, vorindustrielle Gesellschaft sollen dies nicht verdunkeln. Nicht zufällig war es Adam Smiths Kontakt mit den Physiokraten in Paris, der seinen Entwurf eines bahnbrechenden, als autonom konzipierten Wirtschaftsmodells beeinflusste.51 Allerdings ändert dies nichts daran, dass die Viabilität der Physiokratie gering bleiben musste. Unter dem Finanzminister Anne Robert Jacques de Turgot waren in Frankreich sukzessive physiokratische Deregulierungen anstelle der merkantilistischen Kontrollen verabschiedet worden. Bereits in Frankreich aber stießen die tatsächlichen oder vermeintlichen Missgeschicke der marktwirtschaftlichen Neuerungen nicht nur unter den Eliten auf wenig Geduld und Verständnis: Denn die neue Politik, die von Bertin und später in den 1770er Jahren von Turgot praktiziert wurde, bedeutete einen tiefen Bruch mit traditionellen Vorstellungen der Untertanen der Monarchie, die in der Sicherung der ›Nahrung‹ eine Hauptaufgabe der königlichen Verwaltung sahen. Sie erwarteten vom König und seinen Beamten eine staatliche Intervention, wann immer es um die Subsistenz der Bevölkerung ging.52

Nach der Französischen Revolution wurden nicht selten die physiokratischen Experimente für die Lage der Landbevölkerung verantwortlich gemacht – eine wohl falsche Bezichtigung. Die Physiokratie konnte die Probleme erben, obschon nicht beheben, die aus der merkantilistischen Epoche stammten. Die physiokratische Ansicht, dass das Wohlergehen des Staates (mithin die Legitimität der Regierung) von der wirtschaftlichen Ausrichtung an der ›natürlichen Ordnung‹ abhänge, darf

|| 48 Priddat: Le concert universel (s. Anm. 12), S. 21. 49 Ebd., S. 26f. 50 Vgl. ebd., S. 70f. Du Pont de Nemours gibt bereits die Anwendbarkeit des physiokratischen Modells auf andere als absolutistische Regierungsformen zu. Mauvillon teilt diese Ansicht, wie sich in dessen Physiokratischen Briefen zeigen wird. 51 Knapp, aber präzise zusammengefasst werden Smiths Differenzen zu den Physiokraten in: Gerhard Streminger: Adam Smith: Wohlstand und Moral. Eine Biographie. München 2017, S. 169– 171. 52 Thamer: Physiokraten und Anti-Physiokraten (s. Anm. 11), S. 146.

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sogar als Lizenz zur möglichen Einführung nicht-absolutistischer Herrschaftsformen beurteilt werden.53 Im 19. Jahrhundert fand die Physiokratie keine neuen Befürworter. Allerdings bot sie noch um 1900 Impulse für »agrarromantische Konstruktionen (so z. B. bei Werner Sombart).«54 Sogar, wenn Adam Smiths Wealth of Nations nicht schon teils gleichzeitig mit der Physiokratie das Bild von Produktion, Handel und ökonomischem Wert grundlegend modernisiert hätte, so hätte die fast vor der Türe stehende industrielle Revolution die Physiokratie als impraktikabel erwiesen. Bis es so weit kam, machte die Theorie jedoch einige Wandlungen durch, die nun beleuchtet werden sollen, um schließlich die Eigentümlichkeiten ihrer Rezeption durch Jakob Mauvillon einordnen zu können.

4 Auf Quesnay bauten weitere Physiokraten auf, um das anfangs fast ausschließlich ökonomisch ausgerichtete Modell zu einem naturrechtlich begründeten philosophischen System fortzubilden.55 Du Pont de Nemours legte eine Systematik physiokratischer Doktrin an, die aus dem Eigentumsrecht die Notwendigkeit physiokratischer Ökonomie zu deduzieren suchte. Diese Table raisonnée von 1775 als »naturrechtlich begründete politische Systemtheorie«56 liefert nicht nur eine detaillierte Beschreibung angemessener Steuerpolitik, sondern bietet auch eine ausgedehnte Pflichtenlehre, die nationalen und internationalen Frieden durch Handel gewährleisten will. Hier versucht die Physiokratie also, Ethik, Politik und Wirtschaft in eine umfassen-

|| 53 Vgl. zur Kopräsenz absolutistischer Herrschaftsvorstellungen und revolutionären Potenzials in den Schriften der Physiokraten Ulrich Muhlack: Physiokratie und Absolutismus in Frankreich und Deutschland. In: Zeitschrift für Historische Forschung 9 (1982), S. 15–46, insb. S. 18–21. 54 Birger P. Priddat: [Art.] Physiokratie. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Naturhaushalt – Physiokratie. Hg. von Friedrich Jaeger. Stuttgart, Weimar 2009, Bd. 9, S. 1188–1190, hier S. 1190. 55 Die entgegengesetzte Meinung vertritt Jessica Riskin: The ›Spirit of System‹ and the Fortunes of Physiocracy. In: History of Political Economy 35 (2003), S. 42–73, hier S. 43: »A natural philosopher’s business, they believed, was not to build ambitious rational systems, but to maintain a certain sensibility, an emotional sensitivity to nature’s purposeful behavior. It was this sentimental view of nature and natural knowledge that informed physiocracy.« Riskin leitet die Physiokratie aus dem Empirismus sowie der Empfindsamkeit der Aufklärung her, deren angebliche Verquickung sie als eigenständiges epistemologisches Modell des »sentimental empiricism« (ebd., S. 43) beschreibt. Wenngleich beide Tendenzen in die physiokratische Theoriebildung hineinspielen mögen (wie man an dem ethischen Akzent, den Mauvillon auf die empfindsam-sensuelle Seite des Menschen legt, bemerken wird), erscheint die Ansicht überzogen, dass eine derartige Episteme die Denkschule wesentlich strukturierte, zumal der Hang zur ›rationalen‹ Systembildung unter den Physiokraten keineswegs gering war. 56 Priddat: Le concert universel (s. Anm. 12), S. 59.

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de praktische Philosophie zu verflechten. Die Table raisonnée gilt damit zurecht »als Programmschrift der späteren physiokratischen Schule.«57 Es ist auffällig, dass die Physiokratie in den 1770er Jahren immer deutlicher von einem Instrumentarium zur Identifizierung und Behebung ökonomischer Missstände in deskriptiver Form zu einem anthropologisch und ethisch basierten Lebensmodell anwächst, das die physiokratischen Maßnahmen als Pflicht und die daraus resultierende Glückseligkeit im wachsenden Wohlstand als Fluchtpunkt menschlichen Handelns in Aussicht stellt. Allerdings ist zu konstatieren, dass offenbar die Wirtschaftstheorie nicht zur Vervollkommnung der Philosophie dient, sondern vielmehr philosophische Gemeinplätze der Epoche zur Vervollkommnung der Wirtschaftstheorie herangezogen werden – auch dies wird sich bei Mauvillon umkehren. Dabei tritt angesichts der Systematisierungstendenzen, die die Physiokratie zusätzlich mit dem Ziel ihrer praktischen Umsetzung in die Pflicht nahmen, sogar der Versuch auf, das Laissezfaire durch staatswirtschaftliche Kompetenzen auszubalancieren. So nimmt Du Pont de Nemours den Staat in die Pflicht, als Nutznießer der Produktion in die Landwirtschaft zu investieren.58 Derartigen theoretischen Expansionen, denen sich auch Mauvillon anschließen wird, geht es jedoch nie um eine Infragestellung von Quesnays Grundpositionen, sondern stets darum, für die Physiokratie »eine kritische Neufassung zu erstellen.«59 Eine Reduktion situationsbedingten staatlichen Eingreifens in die Wirtschaft bleibt dabei eine Konstante der Ökonomisten. Es ist bedeutsam, dass dem Wettbewerb somit indirekt wieder mehr Gewicht zukommt, indem für die späten Physiokraten die Schöpfung und Reinvestition des Kapitals als angemessene Nutzung der Naturproduktion (und natürlich verbrämt als Extension der Naturgesetze selbst) firmiert, während die Eigentätigkeit der Natur in den Hintergrund gedrängt wird. Du Pont de Nemours nämlich schlägt vor, den ›natürlich produzierten‹ Reinertrag in seiner Kodependenz mit der Kapitalinvestition seitens der Grundeigentümer zu betrachten. Diese Akzentverschiebung verlegt den Diskurs also zwar nicht auf die Wertschöpfungsprozesse des Handwerks oder Handels, doch gilt der Allokation des produit net nun das Hauptaugenmerk: Du Ponts Neuerung ist von erstaunlicher Tragweite; die natürliche Ökonomie Quesnays wird in eine Kapitalwirtschaft transformiert. Der produit net erscheint nicht mehr als freiwillige Gabe der Natur beziehungsweise als Überschuß der natürlichen Fruchtbarkeit über die avances der Pächter, sondern als Profit des investierten Kapitals (der avances foncières) der Bodenkultivierung.60

|| 57 Ebd., S. 61. 58 Vgl. ebd., S. 70–73. Eine solche Investitionspflicht ist aber gewiss umstritten. Mauvillon scheint dergleichen Ansichten nicht zu teilen und stattdessen eine minimale Einbindung des Staats in die Wirtschaftskreisläufe zu bevorzugen. 59 Ebd., S. 60. 60 Ebd., S. 81.

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Insofern hält Peukert korrekterweise den bemerkenswerten Vermittlungsstatus zwischen vormoderner und moderner Wirtschaftstheorie fest, den die Physiokraten einnehmen: Maybe one of the most surprising aspects of physiocracy is the intermingling of the old and the new, the feudal heritage and agricultural supremacy and ascendant capitalism, a liberal exchange economy and a natural rights philosophy with inalienable personal rights.61

Damit nähert sich die Physiokratie immerhin bereits, in Priddats Worten, einer Anerkennung der speziell menschlichen und mithin nicht mehr an ein Naturmaß gebundenen Wertschöpfung, von der die späteren Wirtschaftstheorien größtenteils ausgehen: Innerhalb gerade derjenigen Ökonomie, die die Ordination der Natur noch einmal systematisch entfalten wollte, sind die theoretischen Voraussetzungen für die Ekstasis der Industrie geschaffen worden.62

Im Rahmen dieser Entwicklung vermag sich die Physiokratie schließlich auch von der antimerkantilistischen Opposition zu den gewerblich hergestellten ›Luxuswaren‹ loszusagen. Und damit ist ein Punkt erreicht, an dem für Jakob Mauvillon, wie zu zeigen sein wird, ein ganz delikater Grund zur Aufnahme physiokratischer Konzeptionen in sein eigenes Denken bestanden haben mag. In deutschen Landen gab es indes nur wenige Intellektuelle, die sich der Verfechtung und Realisierung physiokratischer Prinzipien annahmen. Isaak Iselin in Basel und Johann August Schlettwein, der ein recht rastloses Leben führte, vertraten unter den deutschsprachigen Aufklärern prominent den physiokratischen Standpunkt. Diesen beiden gesellt der Physiokratie-Kritiker Wilhelm Dohm noch seinen Freund Jakob Mauvillon bei: In Deutschland hat der jezige hessendarmstädtische Regierungsrath, Herr Schlettwein, zuerst diese neue Wissenschaft in dem ächten Tone der Begeisterung der französischen Erfinder bekannt gemacht, und nach ihm hat sie besonders Hr. Rathschreiber Iselin in Basel, und noch neuerlich an dem hessenkasselischen Herrn Hauptmann Mauvillon eifrige und sehr merkwürdige Vertheidiger gefunden.63

Dohm nennt Mauvillon zwar zuletzt, hebt dessen Namen jedoch zumindest grafisch hervor. Was die Praxis angeht, so war es allerdings Schlettwein, dem der nahezu einzige Versuch konsistenter physiokratischer Realpolitik mitzuverdanken ist.

|| 61 Helge Peukert: Johann August Schlettwein (1731–1802): The German Physiocrat. In: Physiocracy, Antiphysiocracy and Pfeiffer. Hg. von Jürgen Georg Backhaus. New York u. a. 2011, S. 71–96, hier S. 92. 62 Priddat: Le concert universel (s. Anm. 12), S. 86. 63 Christian Conrad Wilhelm von Dohm: Ueber das phisiokratische Sistem. Wien 1782, S. 13f.

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Schlettwein wurde 1763 vom Markgrafen Karl-Friedrich von Baden-Durlach nach Karlsruhe berufen, dort in drei benachbarten Dörfern die physiokratische Wirtschaftsweise zu erproben, um die landwirtschaftlichen Erträge zu erhöhen. Der Markgraf selbst war bereits mit physiokratischen Ideen in Berührung gekommen und stand mit den französischen Physiokraten Gabriel de Riqueti (dem jüngeren Grafen de Mirabeau und Sohn Viktors, des namhaften Physiokraten), und v. a. mit Pierre Samuel du Pont de Nemours in Kontakt. Überhaupt war es die spätere Generation französischer Ökonomisten, die in direktem Austausch mit Intellektuellen des deutschsprachigen Raums stand, wie Tribe konstatiert: Die deutschen Adepten, bald ›Physiokraten‹ genannt, zogen erst in der Phase der ›philosophischen‹ Physiokratie allgemeinere Aufmerksamkeit auf sich, bauten aber nicht weiter darauf auf.64

Tribes Ansicht, die deutschen Physiokraten verträten eine späte Version der Physiokratie, die jene umfassende Sozialethik konstruierte, in welcher der Wirtschaft die Rolle eines unabdingbaren Triebwerks zur Vervollkommnung des Menschen zugesprochen werde, ist zuzustimmen. Allerdings darf bezweifelt werden, ob in Deutschland tatsächlich keine Modifikation der physiokratischen Systembildung stattfand. Rechnet man die nicht direkt wirtschaftstheoretischen, aber physiokratisch orientierten Überlegungen Mauvillons im unten zu erörternden Üppigkeits-Aufsatz zu jener späten Physiokratie, so darf man immerhin konstatieren, dass die Rechtfertigung und Auratisierung des physischen Bedürfnisses oder Genusses eine auffällige und originelle Blüte der Physiokratie im deutschsprachigen Raum darstellt. Es scheinen die kultursoziologischen Implikationen der physiokratischen Theorie zu sein, die solche Weiterentwicklungen erlaubten, zumal die streng ökonomische Seite des Systems bereits früh eine Art der Abrundung erfahren hatte, der wenig (wenngleich Entscheidendes) hinzuzufügen war, und deren zeitweilige Realisierung sich zu keinem Vorzeigeprojekt entwickelte. Der Versuch in der Karlsruher Umgegend scheiterte nach einigen Jahren bzw. Jahrzehnten. Ein grundlegendes Problem der Umsetzung jener französischen Lehre auf deutschem Boden bestand in dem Fehlen eines ausgeprägten Pachtsystems, wie es in Frankreich existierte. Der Gutseigentümer war in Deutschland üblicherweise der Bauer selbst, der mithin nicht etwa von jeglicher Steuerlast befreit wurde, sondern dem vielmehr sämtliche Steuern aufgehalst wurden – die drohende Verarmung und Abwanderung der Landwirte war die Folge, die schon im sich urbanisierenden Frankreich nicht aufgehalten werden konnte, obwohl der mit dem Pachtsystem parallel instituierte Merkantilismus dort viel eher Anlass zur Hoffnung auf physiokratische Lösungen gegeben hätte. Die Freihandelsargumente der Physiokraten scheinen jedoch der || 64 Keith Tribe: [Art.] Physiokratie. In: Lexikon der Aufklärung. Hg. von Werner Schneiders. München 1995, S. 314f., hier S. 315.

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Akzeptanz des klassischen Liberalismus teilweise den Weg geebnet zu haben.65 Die Rezeption des Physiokratismus zog sich dennoch über einige Jahrzehnte hin.66 Unter den prominenten Kritikern befand sich neben Christian Konrad Wilhelm Dohm und Johann Friedrich von Pfeiffer67 auch als ehemaliger Anhänger der Physiokratie Johann Georg Schlosser, der in seiner Schrift Xenokrates aus dem Jahre 1784 die Physiokratie ablehnt,68 ohne sich bereits auf die Seite der ›klassischen‹ Ökonomie zu schlagen.69 Indessen finden sich auch affirmative Verarbeitungen physiokratischer Theoreme in Deutschland, und dies nicht zuletzt auf dem Feld der schönen Literatur.70 Die Debatten für und wider die Physiokratie fanden mithin in einem relativ kurzen Zeitraum und mit einer offenbar überschaubaren Anzahl an Kontrahenten statt. Inmitten jener Debatten entstehen Jakob Mauvillons physiokratische Schriften, was deren Eigenheiten teilweise erklären mag. Schon vor Mauvillon hatten Iselin und Schlettwein das Publikum mit den Auffassungen der Ökonomisten vertraut gemacht, sodass neue Ideen in die Darstellung der Theorie einfließen konnten, die der Physiokratie zum Durchbruch verhelfen sollten. Noch waren die Physiokraten nicht in Rückzugsgefechten absorbiert, sondern durften sich als aufgeklärte, rationale und erfolgsverheißende Alternative zum deutschen Kameralismus präsentieren, die politische Stabilität und menschliche Bedürfnisbefriedigung gleichermaßen zu garantieren imstande war. Wie sich Mauvillon innerhalb dieser Diskussion positioniert, soll im Folgenden erarbeitet werden.

|| 65 Zu den Ursachen für das Scheitern der real existierenden Physiokratie in Deutschland sowie zum gleichzeitig auftretenden, aber außerhalb der ökonomischen Praxis liegenden Einfluss derselben auf die theoretische Akzeptanz des Liberalismus in späteren Jahrzehnten vgl. Priddat: Le concert universel (s. Anm. 12), S. 135f. 66 Vgl. eine Synopse dieser Prozesse bei Keith Tribe: The Reception of Physiocratic Argument in the German States. In: La diffusion internationale de la Physiocratie (XVIIIe–XIXe). Hg. von Bernard Delmas, Thierry Demals und Philippe Steiner. Grenoble 1995, S. 331–344. 67 Vgl. Johann Friedrich von Pfeiffer: Der Antiphysiocrat, oder, Umständliche Untersuchung des sogenannten physiocratischen Systems: vermöge welchem eine allgemeine Freiheit, und einzige Auflage, auf den reinen Ertrag der Grundstücke, die Glückseligkeit aller Staaten ausmachen soll. Frankfurt a. M. 1780. 68 Johann Georg Schlosser: Xenokrates oder Ueber die Abgaben. An Goethe. Basel 1784. 69 Vgl. hierzu Hans Christoph Binswanger: J. G. Schlossers Theorie der imaginären Bedürfnisse. Ein Beitrag zur deutschen Nationalökonomie jenseits von Physiokratie und Klassik. In: Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie V. Hg. von Harald Scherf. Berlin 1986, S. 9–28. 70 Vgl. hierzu den äußerst luziden Aufsatz von Christopher Meid: Physiokratische Fiktionen. Landwirtschaft und Literatur in der deutschsprachigen Aufklärung (Tscharner, Wieland, Klinger). In: Sciencia Poetica 24 (2020), S. 57–87.

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5 »Je mehr ich den geringen Werth meiner Schriften fühle, je mehr liegt mir daran, daß man mir wenigstens meine Absichten unangetastet lasse, und dem Leser nicht falsch vorstelle.«71 So äußert sich Jakob Mauvillon in seinen Physiokratischen Briefen an Wilhelm Dohm über die eigenen Versuche, die Physiokratie dem deutschen Publikum nahezubringen. Diesem Wunsch zu entsprechen, ist für den heutigen Historiker ebenso wenig ein Leichtes wie für die Zeitgenossen um 1780. Teilweise laufen Mauvillons Überlegungen auf Ideen hinaus, die in der Sozialethik der französischen Ökonomisten nicht enthalten sind und in ihren Konsequenzen mehr über Menschenbild und Moralvorstellungen des Verfassers als über dessen wirtschaftstheoretische Ansichten aussagen. Dass jegliche Interpretation bestimmte Vermutungen über die ›Absichten‹ des Verfassers impliziert, ist hierbei unvermeidlich. Gerade in solchen idiosynkratischen Zügen liegt jedoch der Wert der entsprechenden Textanalysen, denn sie vervollständigen das Bild, welches man sich von Mauvillons Denken und Trachten machen kann, mindestens so sehr wie die überkommenen physiokratischen Vorstellungen. Im Folgenden soll deswegen einerseits Mauvillons Übereinstimmung mit den physiokratischen Grundlagen nicht übergangen, allerdings der Fokus auf die ideellen Rahmenbedingungen und Funktionen der Schriften gelegt werden. Mauvillon überzeugte sich wahrscheinlich während seines Jurastudiums in der zweiten Hälfte der 1760er Jahre von der »Wahrheit, Richtigkeit und Nüzlichkeit dieses Systems nicht nur durch die Schlußfolge desselben, sondern durch alle Erfahrungen, die ich untersucht habe«.72 Gegenüber Dohm hebt er hervor, dass er »zu dieser Untersuchung alle mögliche Unpartheylichkeit gebracht«73 habe. Der wohl wichtigste Kontakt bis in seine späten Jahre war Mirabeau: »Mauvillon, den er [Mirabeau] durch die Vermittlung Dohms auf der Rückreise von Berlin nach Paris bei einem mehrtägigen Aufenthalt in Braunschweig kennengelernt hatte«,74 bleibt mit Mirabeau in freundlichem Briefkontakt, sodass noch zur Revolutionszeit Mauvillon von sich behaupten kann, unter den Gelehrten

|| 71 Jakob Mauvillon: Physiokratische Briefe an den Herrn Professor Dohm. Oder Vertheidigung und Erläuterungen der wahren Staatswirthschaftlichen Gesetze die unter dem Nahmen des Physiokratischen Systems bekannt sind. Braunschweig 1780, S. 290. 72 Jakob Mauvillon: Vorrede. In: ders.: J. Mauvillon’s Professors der Kriegskunst am Carolino zu Kassel Sammlung von Aufsätzen über Gegenstände aus der Staatskunst, Staatswirthschaft und neuesten Staaten Geschichte. Theil 2. Leipzig 1777, S. 1–14, hier S. 5 (unpag.). 73 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 71), S. 3. 74 Johannes Willms: Mirabeau oder Die Morgenröte der Revolution. Eine Biographie. München 2017, S. 127.

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befand sich vielleicht in Deutschland nicht ein einziger, der eine so vollkommene Uebereinstimmung in allen Grundsätzen der Staatswirthschaft nach allen ihren Folgerungen mit dem Grafen besessen hätte, als dieser [Mauvillon].75

In den 1770er Jahren verfasste er die Schriften, die die Physiokratie nicht nur verteidigen, sondern ihr sogar zum Durchbruch verhelfen sollten: Mit Betrübniß hatte ich gesehn, daß eines Iselins, eines Schlettweins Auseinandersetzungen eines allemahl merkwürdigen Regierungssystems so wenig Gegner, und vermuthlich also, so wenig Aufmerksamkeit erweckt hatte.76

Doch »wenn viele Arme sich zum Umhauen eines Baumes vereinigen, so kann es dem schwächern glücken, den entscheidenden Hieb, von welchem der Baum fällt, zu thun«.77 Diese Hiebe gipfelten in der Auseinandersetzung mit Wilhelm Dohm, auf die unten zurückzukommen ist. Mauvillon stellt die physiokratische Theorie grundsätzlich nach den Maßgaben der Quesnay-Nachfolger dar, rückt die ökonomische Debatte allerdings in ein noch grelleres moralisches Licht – und hier, in einer eigenartigen Vermittlung objektiver Norm und subjektiver Empfindung, sucht er die Physiokratie als Katalysator nicht nur zwischenmenschlichen Friedens, sondern v. a. als Medium der individuellen Selbstentfaltung zu nutzen, wobei der Aufsatz Von der öffentlichen und privaten Ueppigkeit von 1777 besonders aussagekräftig ist. Mauvillon nutzt nämlich die nach eigener Aussage rational und empirisch überzeugende Theorie der Physiokraten in seinem Aufsatz dazu, die kulturpolitische und rechtstheoretische Frage zu klären, inwiefern Üppigkeit (luxe) schädlich oder nützlich sei, und ob bzw. bis wohin der Staat – die Prinzipien der Physiokratie beachtend – einschreiten dürfe, um das menschliche Wohl (oder wenigstens die Möglichkeit desselben) zu gewährleisten. Zum Zwecke der Kontextualisierung Mauvillons darf die chronologische Betrachtung seiner Schriften umgekehrt werden. Denn es ist gerade im früheren Üppigkeits-Aufsatz, in dem Mauvillon einige der Schlussfolgerungen aus der physiokratischen Lehre zieht, die ihm eine gewisse Distinktion im Rahmen der späten (und dabei ›radikalen‹) Aufklärung verleihen könnten. Das zweite Hauptzeugnis für Mauvillons wirtschaftstheoretische Ansichten, die späteren Briefe an Dohm, legt dagegen eher die Grundlagen physiokratischer Ökonomie dar und erlaubt relativ wenige (wenngleich informative) Einblicke in Mauvillons originelle Ideen, die auch ohne Kenntnis des Üppigkeits-Aufsatzes nachvollziehbar sind. Da die Briefe den Aufsatz in keiner Weise widerrufen, ist es gerechtfertigt, beide Schriften als Teile || 75 Jakob Mauvillon: Vorbericht. In: Honoré-Gabriel de Riquetti de Mirabeau: Briefe des Grafen von Mirabeau an einen Freund in Deutschland. Geschrieben in den Jahren 1786, 1787, 1788, 1789, 1790. Hg. von Jakob Mauvillon. s.l. 1792, S. I–XL, hier S. XXII. 76 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 71), S. 2. 77 Mauvillon: Vorrede (s. Anm. 72), S. 6 (unpag.).

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eines theoretischen Komplexes aufzufassen, der nach seinen systematischen Gesichtspunkten analysiert werden muss.78 Zuerst sind daher vornehmlich die Briefe mit den ihnen innewohnenden Aporien zu betrachten, woraufhin eine Erörterung des Aufsatzes erfolgen soll. Als Mauvillon seine Briefe an Dohm, mit dem ihn eine langjährige »Freundschaft«79 verbindet, verfasst, meint er eine Hochkonjunktur physiokratischer Argumente prognostizieren zu können: Es »ist das geschehen, was ich so sehnlich gewünscht habe.«80 Dohm nämlich hatte »angefangen das physiokratische System zu untersuchen und [seine] Gründe dagegen vorzubringen.«81 Mauvillon hält Dohms »Schrift über das System […] worüber so mancher Antiphysiokrat gefrohlockt hat«,82 im Rahmen der gesamten Diskussion um die Physiokratie für »sehr wichtig«,83 denn das »zeitliche Wohl der Menschheit scheint ganz davon abzuhängen, und Sie wissen, daß ich für dasselbige nicht gleichgültig bin.«84 Dohm habe allerdings »nur eine Seite des Systems beleuchtet.«85 Die Besteuerungsart und die Gewerbefreiheit findet Mauvillon nicht ausreichend behandelt, die daher den Großteil der eigenen Argumentation beanspruchen. Mauvillon sagt über die Gliederung seiner Briefe, er habe »es für besser gehalten, die kontrovertierten und kontrovertiblen Punkte an dem ökonomistischen Systeme auszuheben, nach meiner eignen Ordnung zu stellen;«86 aber der Aufbau gleicht im Grunde der Darstellung bei Quesnay. Einer Erklärung der Klassentheorie folgen mehrere Briefe über den generellen Wirtschaftskreislauf, dem sich das bekannte Eintreten für Handels- und Gewerbefreiheit anschließt, woraufhin breit angelegte Rechtfertigungen des physiokratischen Steuersystems die Ausführungen schließen. All das bleibt in den Bahnen der oben vorgestellten physiokratischen Theoriebildung. Eine ›eigene Ordnung‹ lassen die Briefe eher in materialer Hinsicht durchscheinen, indem Mauvillon seine ökonomischen Positionen philosophisch zu verankern sucht; auf diese Zusammenhänge ist nun zu achten. Bemerkenswert ist zuallererst, dass die metaphysische Begründung der Physiokratie Mauvillon keineswegs entgeht. Ebenso zu bemerken ist jedoch, dass ihm die || 78 Zwar bestehen in jedem der zwei Texte gewisse Unklarheiten oder Widersprüche, die aber weniger mit der jeweils anderen Schrift als mit den eigenen, textinternen Gehalten kollidieren. Einige dieser Stellen sollen im Folgenden betrachtet werden. 79 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 71), S. 5. 80 Ebd., S. 1. 81 Ebd. Vgl. Dohm: Ueber das phisiokratische Sistem (s. Anm. 63). Mauvillon muss unmittelbar auf Dohms Schrift reagiert haben, da seine Antwort 1780 erscheint, er aber im ersten Brief vom »gegenwärtigen Jahre (1778)« (Mauvillon: Physiokratische Briefe [s. Anm. 71], S. 4) spricht. 82 Ebd., S. 4. 83 Ebd., S. 1. 84 Ebd., S. 1f. 85 Ebd., S. 4. 86 Ebd., S. 6.

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metaphysische Diskussion Schwierigkeiten bereitet. So stellt er klar, er möchte, anders als seine Kontrahenten, das Publikum nicht »bis in die tieffsten Finsternissen [sic] der Metaphysik hinein führen«.87 Mauvillon versucht daher die These von der alleinigen Naturproduktivität ohne scholastische Terminologie zu entfalten. Ein anonymer Kritiker Mauvillons hatte im Hannoverischen Magazin von 1778 genau jenes aristotelisch-scholastische Geschütz aufgefahren (auf dessen Prämissen auch die Physiokratie beruht), um die Alleinproduktivität der Natur zu bestreiten.88 Erstaunlicherweise fegt Mauvillon diese an den Kern der Physiokratie rührenden Überlegungen als argumentativ oberflächliche »Sächelchen«89 vom Tisch, um eine eigene Erklärung zu liefern. Der versuchte Verzicht auf die aristotelische Metaphysik wird sich jedoch als nicht unproblematisch erweisen. Die erste Definition des Produktivitätsbegriffs ruft noch die vertraute physiokratische Ansicht auf: Wenn man den Verstand des Worts, Hervorbringen, nach seinem eigentlichen Sinn bestimmt; daß es nämlich sey; eine Sache, einen Körper, eine Materie, einen Stoff erzeugen, der vorher nicht da war; so ist es ganz offenbar, daß die Arbeit desjenigen alleine etwas hervorbringt, der die Erde bearbeitet.90

Trotzdem liefert er keine weitere Aufschlüsselung der Begriffe Sache, Körper, Materie, Stoff, die kaum alle dasselbe bedeuten können; vielmehr geht es dem Verfasser darum, jenen Begriffen subjektive Bestimmungen beizulegen, die ihre Validität von der empirischen Verifizierbarkeit (für uns) abhängig machen: Wenn aus einem Korne zwanzig entspringen, so sind neunzehn Körner da, die vorher für uns gar nicht da waren und dies nennen wir Hervorbringung. Wenn aber ein Bildhauer keinen [sic] Block zu einer Bildsäule umbildet, so ist nichts hervorgebracht worden, das vorher, auch für

|| 87 Ebd., S. 15. 88 »Nach einem bekannten Axiom, noch aus den Zeiten der Scholastik her, giebt die Form der Sache das Daseyn […]. […] Forma dat esse rei« (Anonymus: Etwas über das Steuerwesen und die physiokratischen Grundsätze die Einrichtung desselben betreffend. In: Hannoverisches Magazin 48–51 [1778], S. 753–816, hier S. 766). Der Verfasser meint mittels der Form-Stoff-Unterscheidung gerade aufgrund der Umformung der landwirtschaftlichen in handwerkliche Erzeugnisse sämtlichen Klassen Produktivität zuschreiben zu dürfen. Diese Ansicht ist allerdings auf die τέχνη bezogen dem ursprünglichen aristotelischen Gedanken näher als der thomistischen Interpretation, welche die Physiokraten rezipieren. Für Aristoteles ist, wie angedeutet, jeglicher Stoff in der Tat nur durch die Form entelechisch bestimmbar, und deren metaphysische Gegebenheit nivelliert die Differenz zwischen natürlicher und menschlicher Hervorbringung, bzw. flicht letztere in erstere ein. Die Physiokraten dagegen setzen den Akzent nicht auf die Form, sondern auf die Stofflichkeit des Produkts, die durch die ›sterile‹ Arbeit daran nicht vermehrt wird. Dass Mauvillon jenes nur geringe Missverständnis des Autors nicht auf ›scholastischer‹ Ebene bereinigt, sondern dessen ganzen metaphysischen Ansatz ablehnt, zeigt bereits, dass er die Alleinproduktivität der Natur begründungstheoretisch anders fassen möchte, als seine Vorgänger dies tun. 89 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 71), S. 13. 90 Ebd., S. 13f.

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uns, nicht da gewesen wäre, sondern es ist für unsre Sinne selbst eine blosse Umformung. Also sind alle Erzeugungen der Natur, wenn es schon blosse Umformungen sind, für uns Hervorbringung, Schöpfung neuer Dinge, und die Natur allein bringt hervor; jedoch befördert und vermehrt die Arbeit der Menschen ihre hervorbringende Kraft; und in so fern giebt es eine hervorbringende menschliche Arbeit.91

Diese Ansicht, produzierter Stoff sei dasjenige, was für uns neu entstehe – und insofern eine bloße Angelegenheit sinnlicher Wahrnehmung – ist offenbar Mauvillons individuelle Begründung. Man findet sie nicht in den großen physiokratischen Schriften. Und sie verleiht der gesamten Argumentation eine subjektive Unwucht. Mauvillon fährt fort: Hingegen ist alles was die Natur nicht mit oder ohne Menschenarbeit erzeugt, sichtbarlich und in unsre Sinnen fallende Umformung; es wird dadurch keinem neuen Dinge oder Wesen, oder vielleicht richtiger keinem uns neuscheinenden Wesen, das Daseyn gegeben. Dies also kann man keine Hervorbingung nennen, und alle darauf verwendete Arbeit ist in diesem Sinne keine hervorbringende Arbeit. Wenn man die Sache auseinander setzt, so hat sie nicht die geringste Schwierigkeit.92

Es scheint jedoch eher, als verunklarte dieser Zusatz den vorigen Gang der Überlegung. Soeben hieß es, die Natur bringe Dinge auch ohne Menschenarbeit hervor. Wenngleich diese vermeintlichen ›Produktionen‹ objektiv nur Umformungen seien, so seien sie für uns stets Hervorbringungen. Jetzt jedoch wird der Widerspruch eingeführt, dergleichen Erzeugungen seien augenfällige Umformungen; nur menschliche Arbeit mache sie zu Hervorbringungen. Wie um die Argumentation noch verwirrender zu gestalten, setzt Mauvillon im obigen Zitat hinzu, dass alle auf solche Naturerzeugungen verwendete Arbeit keine hervorbringende Arbeit sei. Die Arbeit, die hier erwähnt ist, ist wohl nicht die ›Arbeit der Natur‹, sondern Menschenarbeit. War aber nicht soeben die Rede von Erzeugungen, die der Mensch ohnehin nicht zu produzieren hilft? Handelt es sich mithin um Dinge, die zwar die Natur erzeugt, bei denen der Mensch aber keine Hilfe ist? Dann ließe sich wenigstens die Aussage verstehen, es fände in solchen Fällen keine produktive Menschenarbeit statt – wenngleich diese Bemerkung ohnehin trivial und insbesondere im physiokratischen Begründungsrahmen belanglos wäre. Und trotzdem stünde dies noch immer im Gegensatz zu der vorigen Behauptung, dass die Natur gerade auch unabhängig von menschlicher Arbeit uns neu erscheinende Gegenstände erzeugt. Es ist unklar, was Mauvillon hier eigentlich mitteilen möchte; man kann kaum davon ausgehen, dass ihm seine eigene Position unklar sei. Eher ist anzunehmen, er habe an dieser Stelle || 91 Ebd., S. 15. Möglicherweise ist Mauvillons Missfallen an dieser metaphysischen Thematik bereits an einem offenbaren Leichtsinnsfehler wie dem zu bemerken, der am Beginn des Zitats steht. Wenn aus einem Korn zwanzig neue Körner entstehen, sind für uns natürlich auch zwanzig und nicht nur neunzehn neue Körner vorhanden. 92 Ebd.

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unglückliche Formulierungen gewählt, die auf das Gegenteil der ursprünglichen Aussageintention hindeuten. Dennoch ist zu vermuten, dass die metaphysische Auseinandersetzung, in die zu vertiefen sich der Verfasser der Briefe an dieser Stelle gezwungen sieht, ihm Unbehagen bereitet oder ihn stellenweise gar überfordert, denn anders sind die terminologischen und logischen Unschärfen kaum zu erklären. Wie eingangs erwähnt, sind Natur- und Produktivitätsbegriff im Physiokratismus aufs Engste gekoppelt; alle Wertschöpfung beginnt und endet mit der Erzeugung des Naturstoffs. Nachdem Mauvillon den Begriff der Produktivität begründungstheoretisch subjektiviert hat, vollzieht er eine ähnliche Modifikation am Begriff des Werts, wenn er zu den ›sterilen‹ Umformungsprozessen anmerkt: »Es ist nicht zu läugnen, daß ein also umformter Stoff mehr kostet, das heißt, mehr Werth hat, als wenn er roh ist.«93 Die Produktivität der Landwirtschaft bezieht sich demnach auf die Materialschöpfung, nicht auf die Wertschöpfung. Dies steht erneut im Widerspruch zur Lehre des produit net der Physiokraten, die tatsächlich allein der Landwirtschaft den Reinertrag zuschreibt. Vereinbar wäre Mauvillons Aussage mit der Physiokratie nur, falls er die subjektive Wertschätzung, die ein verarbeitetes Erzeugnis auf dem Markt erlangt, von dem im produzierten Material selbst objektivierten Wertbestand differenzierte. Es wird allerdings nicht geklärt, ob jener ökonomische Wert, der von der sterilen Klasse hinzugefügt und in Preiserhöhungen für das Material bestimmbar wird, als subjektiver oder objektiver Wert zu verstehen ist. Auch diese Stelle legt einerseits nahe, dass Mauvillon das physiokratische System keineswegs als feststehende Größe übernimmt; andererseits zeigt sich, dass er an einer neutralen Darstellung nicht so sehr interessiert ist, wie er vorgibt, sondern offenbar dem sensualistisch Subjektiven (wozu hier insbesondere menschliche Werturteile und Bedürfnisse zählen) einen systematisch neuartig hohen Status verleiht. Dieser Spur ist im Folgenden nachzugehen. Zusammenfassen lassen sich diese metaphysischen Überlegungen dahingehend, dass Mauvillon die physiokratische Ansicht von der alleinigen Produktivität der Natur und des sie befördernden Landbaues grundsätzlich teilt. Seine Argumentation ist jedoch stellenweise ebenso originell wie unklar. Erstens möchte er die ›Finsternisse der Metaphysik‹ vermeiden, spricht aber davon, dass Produktivität in der Hervorbringung neuer Körper bestehe. Was Körper, Materie, Stoff, etc. sei, definiert er nirgendwo. Eine creatio ex nihilo ist freilich nicht gemeint, denn wie am Beispiel des Bergbaus gezeigt wird, sind es nicht so sehr die Stoffe an sich (deren Einheiten im Gegensatz zu Tieren oder Pflanzen sich nicht vermehren), sondern die für unsere Sinne neuartige Erscheinung der Gegenstände, welcher die Eigenschaft

|| 93 Ebd., S. 16.

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des Produktiven zukommt.94 Es ist schwer einzusehen, wieso diese Argumentation dem physiokratischen System eine Stütze sein sollte. Definierte man Produktion als Bildung und Pflege von Rohstoffen, die aller anderen Arbeit zur Grundlage dienen, wäre eine klare metaphysische Differenz zwischen den vom Menschen selbst entwickelten und den vom Menschen lediglich beförderten Formationen eingeführt, die zugleich die Perspektive auf die Nutzbarkeit der Rohstoffe durch den Menschen einschlösse und damit demonstrierte, weshalb bestimmte ›Umformungen‹ in der Natur, wenngleich sie metaphysisch denselben Status innehätten wie die Umformung des Steins durch den Bildhauer, in Bezug auf die unterschiedlichen Arbeitstätigkeiten des Menschen als Hervorbringungen zu klassifizieren wären. Diese Rekonstruktion des physiokratischen Produktionsbegriffs ist allerdings, wie zu sehen ist, Mauvillons Erläuterungen nicht direkt zu entnehmen. Wollte man dem ersten Brief an Dohm einen möglichst konsistenten Sinngehalt zuschreiben, hätte man eine derartige Interpolation vorzunehmen. Wie an den metaphysischen Grundlagen bereits zu erahnen ist, sind Mauvillons Überlegungen im weitesten Sinne als sensualistisch zu bezeichnen. So sind es nicht nur die Weisen der Sinneswahrnehmung, von der die Einteilung in produktive und unproduktive Arbeit abhängt, sondern die Ökonomie wird insgesamt auf Sinnlichkeit und ›Empfindsamkeit‹ des Menschen bezogen, wie umgekehrt die Sensualität des Menschen ökonomisiert wird. Ersterer Aspekt ist in seinen anthropologischmoralischen Konsequenzen jetzt zu beleuchten. Das Naturprodukt gilt schon im Üppigkeits-Aufsatz als solches nicht nur dann, wenn seine Erzeugung nicht unmittelbar anschaulich ist, sondern besonders auch dann, wenn es die Empfindung des Menschen zum Genuss zu steigern imstande ist: Alles was die Erde hervorbringt, was die Natur erzeugt, und was im Stande ist, dem Menschen irgend zur Befriedigung eines Bedürfnisses, zur Erhaltung einer angenehmen Empfindung zu

|| 94 Man kann sich Mauvillons Gedankengang an einigen Beispielen veranschaulichen: Betrachtet man einen Berg von außen, sieht man nicht die Goldadern in ihm; das Metall, das dort entstanden ist, muss durch die menschlich veranlasste Produktion für die Sinne wahrnehmbar gemacht werden – und der Stoff erweckt den Anschein eines neuen Erzeugnisses, weil die Arbeit dasselbe nur als ›fertigen‹ Gegenstand offenbart, nicht aber dessen Entstehung verfolgen lässt. Demselben Prinzip entspricht Mauvillons Beispiel mit lebender Materie: Wächst aus einem Korn eine Ähre mit zwanzig neuen Körnern, so sind diese Körner zwar aus dem ersten Korn sowie den dasselbe umgebenden und in den entsprechenden Wachstumsprozess aufgenommenen Stoffen entstanden (sind also keine Schöpfung aus dem Nichts), doch für unsere Perzeption ist etwas Neues erzeugt worden. Wenn hingegen ein Bildhauer aus einem einzigen Steinblock zwei Statuen meißelt, so gilt dies deshalb als keine Hervorbringung, weil die Entstehung der beiden Körper für uns sinnlich nachvollziehbar ist. Anders verhält es sich, wie vorhin gesagt, mit der Entstehung des Goldes im Berginneren oder der Körner in der Ähre: Deren Erzeugungsvorgänge sind für uns nicht direkt sinnlich wahrnehmbar, sodass beides auf uns nicht wie Umformung, sondern wie Produktion wirkt.

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dienen, gehört unter der Klasse der Produkte, die einen reinen Ertrag abwerfen, und muß unter dem Wort Produkte verstanden werden.95

Es handelt sich bei diesem Gedanken erneut um eine unmerkliche, aber signifikante Verschiebung physiokratischer Theorie von der objektiven Natur- und Lebensnotwendigkeit hin zum Subjektiven. Um die ökonomistische Lehre zu begründen und zu akzeptieren, ist neben der Einsicht in die Gesetze der äußeren Natur auch das Verständnis der »wahren Triebfedern der menschlichen Natur«96 zu gewinnen. Festzuhalten ist dabei an erster Stelle, dass Mauvillons Anthropologie äußerst simpel erscheint: Der Mensch ist zunächst als sinnliches, d. h. nach Lust strebendes Wesen konzipiert: Warum arbeitet der Mensch? warum bemüht er sich etwas hervorzubringen; etwas hervorgebrachtes auszubilden; oder sonst etwas zu verrichten, das andern nüzlich oder angenehm ist? Ohnstreitig, um zu genießen, um sich süße Empfindungen zu verschaffen: dieß ist der allgemeine Sporn zur Arbeit.97

Gleichzeitig ist bei aller individuell-zufälligen Empfindung der Mensch vernunftbegabt und vorausschauend, sodass er seine persönliche Glückseligkeit als »ein vorsichtiges Geschöpf, das gern zurücklegt, wenn er kann«,98 damit übereinkommen sieht, dass er langfristig zu planen und mithin auch dem Gemeinwohl zu dienen imstande ist. Nichts davon erscheint außergewöhnlich für eine aufklärerische Moral. Bemerkenswert ist jedoch, wie eng diese Vorstellungen an die physiokratische Lehre angeschlossen werden, und dass der Teilnehmer an einem solchen Wirtschaftssystem tatsächlich eine Art homo oeconomicus sein muss: Der Mensch hat andre und mächtigere allgemeine Triebe als Leckerey. Der Wohlstand und ein bequemes Leben befördert bey Unverheyratheten den Stand der Ehe, bei Verehlichten das Kinderzeugen. Die reichsten Länder, das heißt, die Länder wo die Menschen verhältnißmäßig die besten Dinge geniessen, sind die bevölkersten.99

Einerseits sollten die Fürsten, da sie bevölkerungsreiche Länder regieren möchten, die Physiokratie einführen. Denn dieses System vermehre den Wohlstand, der wie-

|| 95 Mauvillon: Von der öffentlichen und privaten Ueppigkeit (s. Anm. 1), S. 11. Freilich ist auch dies keine exakte Beschreibung im Sinne der Physiokraten. Nicht alles, was der Mensch zur Bedürfnisbefriedigung an ›Naturprodukten‹ konsumieren kann, wirft schon deshalb produit net ab. Mauvillon meint wohl tatsächlich eher umgekehrt: jene direkt aus der Natur bezogenen Gegenstände, die teils kapitalbildend, teils bedürfnisbefriedigend in Erscheinung treten, sind Produkte im eigentlichen Sinne zu nennen. 96 Ebd., S. 71. 97 Ebd., S. 32. 98 Ebd., S. 86. 99 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 71), S. 148.

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derum den Fortpflanzungstrieb anrege, d. h. zu größeren Populationen führe. Andererseits beruhen diese Wirkungen des Systems auf dem ökonomischen Handeln der Bürger, dem lediglich Entfaltungsmöglichkeiten gegeben werden müssen.100 Dieses Handeln gehe über die grobe Sinnlichkeit (›Leckerei‹) hinaus, oder veredle zumindest Bedürfnisse wie diejenigen der Sexualität zu einem dem Gemeinwohl förderlichen Institutionsgewebe. Bei allem Streben nach Genuss behält der Mensch – so scheint es zumindest stellenweise – einen hohen Grad an Besonnenheit: »Und eben so verhält sichs in der That mit dem Gelde. Kein Mensch giebt welches weg bis er einen Ueberfluß davon hat, um es gegen andre Sachen zu vertauschen die er nöthiger braucht.«101 Die anthropologischen ›Fakten‹ gehen beinahe nahtlos in die Wirtschaftstheorie über (zu der unten noch mehr gesagt werden soll): Ein Händler, so Mauvillon an derselben Stelle, erziele im Inland stets größere Profite als im Ausland, sodass die Versorgung der Landsleute immer schon gesichert wäre, bevor Waren exportiert würden. Kurz gesagt: »Der Trieb des eignen Vortheils führt die Menschen in Sachen die Handel und Wandel betreffen viel zu sicher, als daß der Staat das geringste dabey zu künsteln brauche. Er darf da nur gehen lassen, und es geht gewiß alles gut.«102 Das physiokratische Laissez-faire hat in Mauvillons Physiokratie eine ganz ähnliche Begründung wie bei Adam Smith; das Eigeninteresse zeichnet den Menschen aus und kann im geeigneten System zu konstruktiven Zwecken eingesetzt werden. Dieser Ansicht des homo oeconomicus sind jedoch Grenzen vorgezeichnet, da Mauvillon immer wieder den vermeintlich irrationalen Widerwillen zahlreicher Personen gegen die Physiokratie anerkennt und die Uneinsichtigkeit der Bürger beklagt. So ist es mit der ökonomischen Zweckrationalität des Volks nicht weit her, wenn Mauvillon Gegenargumente zur Physiokratie Sorgen bereiten, insofern sie die Bevölkerung der ›natürlichen‹ Wirtschaftsordnung abspenstig machen. Auch das Eigeninteresse führt hier in die Irre: Antiphysiokratische Argumente sind dem Verfasser stellenweise denn auch nichts als jene »betrüglichen Einwürfe, die das persönliche Interesse der Erpresser an die Hand giebt, denen übelgesinnte Menschen Beyfall zurufen, und die die Menge der Dummköpfe, welche sich zu den Echos der Feinde der Nation gebrauchen lassen, annehmen.«103 Was sagt das über ›die wahren Triebfedern der menschlichen Natur‹ aus? Es scheint, als käme dem physiokratischen System die Funktion zu, die besten Triebfedern zu verstärken; zunächst jedoch sind dieselben zu identifizieren und zu aktivieren. Hierfür ist die Ethik zuständig, und tatsächlich enthalten Mauvillons Schriften auch einige ethische Gesichtspunkte, die hier Erwähnung finden müssen, da sie die vorgetragenen || 100 Der Schluss daraus ist, dass es falsch sei, bestimmte Waren zu verbieten, Importe zu reduzieren oder anderweitig den freien Handel einzuschränken. Denn dies führe zu Armut und somit zu Bevölkerungsschwund. 101 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 71), S. 155. 102 Mauvillon: Von der öffentlichen und privaten Ueppigkeit (s. Anm. 1), S. 127. 103 Ebd., S. 107.

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ökonomischen Argumente teilweise stützen, deren Schlagkraft teilweise aber auch indirekt schwächen. Der Physiokratismus ist deistisch geprägt – seine Normen beziehen sich auf das diesseitige Leben des Menschen. Mauvillons moralische Vorstellungen decken sich damit. Er lehnt eine auf das Jenseits perspektivierte Sittlichkeit nicht geradewegs ab, behandelt die Moral aber so, als wäre sie ganz unabhängig von jeglichem ›Leben nach dem Tode‹ einzurichten. Erneut ist hierbei die sensualistische Tendenz zu bemerken, welche einen auf materielles Wohlergehen konzentrierten Eudämonismus nach sich zieht: Wenn wir aber nachdenken wollen, was die zeitliche Glückseligkeit des Menschen ausmacht, so kann man nichts anders erfinden, als die Erweiterung ihres Genußkreises; und es ist augenscheinlich, daß, wenn der sich verenget; wenn sie sich weniger angenehme Empfindungen verschaffen können, so nimmt ihre Glückseligkeit ab […]. Wenn ein Mensch krank wird, ein Glied, einen Sinn verliehrt, so verengt sich sein Genußkreis physisch. Wenn er aber alle Fähigkeiten der Natur zum Genießen hat, und es gehen ihm Gegenstände des Genusses ab, die er nicht mehr die Kraft hat, sich zu verschaffen, so ist die Verengung moralisch.104

Die Erweiterung des Genusskreises als Kriterium der Eudämonie, d. h. des SittlichGuten ist nicht nur ohne Beispiel in den Schriften der Physiokraten;105 es handelt sich dabei bereits um das genaue Gegenteil der moralischen Grundlegung ökonomischer Vorschriften von Aristoteles bis zur Üppigkeitskritik des 18. Jahrhunderts, deren Gegenkritik durch Mauvillon weiter unten zu betrachten ist. An bestimmten Punkten verwendet der Verfasser offenbar den epistemologischen und moralischen Sensualismus nicht als Stütze des physiokratischen Systems, sondern kehrt das Verhältnis zwischen beiden um, sodass die Ökonomie zu einer Lizenz für eine geradezu materialistisch anmutende Genussmoral wird. Die Aussage, dass der Mangel eines körpereigenen – materiellen – Organs als physische Einbuße des Genusses zu verstehen sei, der Mangel eines äußeren – ebenso materiellen – Genussobjekts dagegen einer moralischen Einbuße des Genusses gleichkomme, impliziert, dass konsistente Moralität nur im materiell genussreichsten – physiokratischen – System möglich sei, womit Ökonomie und Moral idealerweise im Lebensvollzug des Menschen koinzidieren. Eine derartige Ansicht liegt nicht in der Konsequenz des physiokratischen Denkens, und man muss daraus schließen, dass sie deshalb für Mauvillon eine Wunschvorstellung ausmacht. Es ist Braunreuther zuzustimmen

|| 104 Ebd., S. 42. 105 Vgl. Du Pont de Nemours‘ Table raisonnée (Punkt 3), die zwar eudämonistisch orientiert ist, aber weder ökonomischen Erfolg in der Luststeigerung statt in der Bedürfnisbefriedigung sieht, noch eine Funktionalisierung der Wirtschaftstheorie zugunsten moralischer und politischer Aufklärung der Bevölkerung anstrebt, wie Mauvillon dies bezweckt (abgedruckt in: Priddat: Le concert universel [s. Anm. 12], S. 30–34).

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(solange man von der marxistischen Fortschrittsperspektive abstrahiert, aus der dieser Mauvillons Idionsynkrasien beurteilt), wenn er festhält: MAUVILLON kam es weniger darauf an, Schüler der Physiokraten bis auf Punkt und Komma zu sein, als vielmehr das physiokratische System auf die fortschrittlichste Art auszunutzen und dabei nach praktischen Wegen für seine Anwendbarkeit zu suchen.106

Bei der Anwendbarkeit ergeben sich aus der veränderten Begründungsstruktur des Systems zwei Grundprobleme. Eines davon ist die Übertragbarkeit moralischer Normen auf wirtschaftliche Kreisläufe, das andere ist die Relation von moralischem Willen und systemischem Zwang bei der Implementierung des Systems. Zum ersten Problem (dem eigentlich moralischen) führt Mauvillon aus: Es ist mit diesem System wie mit der Tugend. Die Tugend kann mich weder zum König von Frankreich, noch zum Pabst machen; sie kann mich nicht vor Pest und ansteckenden Seuchen hüten, kann kein Schild abgeben, der meinen Kopf vor einem vom Dache herabfallenden Ziegel und dessen Folgen decke. Aber sie kann mich bey meinen natürlichen Umständen, zum glücklichsten Manne zu machen, der ich vermöge dieser Umstände zu werden fähig bin. Und so kann das physiokratische System ein Land zum mächtigsten und glückseeligsten machen, das es vermöge seiner Grösse, Lage, Klima, Produkten u. s. w. zu werden fähig ist.107

Neben dem Wert, den Mauvillon auf den materiellen Wohlstand legt, welcher der sinnlichen Natur des Menschen geschuldet ist (und geschuldet wird), hebt er somit die Notwendigkeit langfristiger rationaler Systemplanung hervor. Insofern jedoch die Tugend dem Individuum anvertraut ist, während ökonomischer Erfolg kollektives – letztlich tugendhaftes – Handeln erfordert, liegt darin ein guter Grund, das Bewusstsein für die ethischen Voraussetzungen der Ökonomie – welche dann ihre moralunabhängigen Produktionskreisläufe von selbst in Schwung hält – zu schärfen. Mauvillon steht hier (wie die Physiokratie generell) auf der Schwelle zwischen einer moralischen Grundlegung der Ökonomie auf der einen und deren amoralischer Eigengesetzlichkeit auf der anderen Seite. Mit der sensualistischen Argumentation jedoch hat sich Mauvillon in die Situation begeben, den Zwiespalt von Moral und Ökonomie so überbrücken zu wollen, dass die höchsten Ansprüche auf Glückseligkeit mittels der Physiokratie eingelöst werden. Dies führt zu der Sonderbarkeit, dass eine transzendente Gottesinstanz aufgerufen werden muss, um eine rein immanente, hedonistisch wirkende Moral mit dem ökonomistischen System zu verklammern: Es [das physiokratische System] ist aber das einzige wahre, und muß, wie gesagt, mit der Tugend gleiche Beschaffenheit haben; muß in allen Umständen das allervortheilhafteste seyn

|| 106 Kurt Braunreuther: Studien zur Geschichte der politischen Ökonomie und der Soziologie. Berlin 1978, S. 62. 107 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 71), S. 106.

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was man annehmen kann, so wie die Tugend auch ohne Rücksicht auf Belohnungen im andern Leben, das allerbeste ist, wonach jeder Mensch seine Handlungen einrichten kann. Wäre die Tugend das nicht, so wollte ich mich schämen zu sagen, daß sie ein göttlich Gesetz wäre. Die Gottheit kann den Menschen nichts vorschreiben, als was ihnen unter allen und jeden Umständen, immer das vortheilhafteste seyn kann. Was ist aber das physiokratische System anders als die Tugend in der Staatsverwaltung; das Gesetz Gottes und der Natur, wie ers für die Staaten schuf.108

Dass hiermit nebenbei nicht nur Moral und Ökonomie, sondern auch Moral und Politik deckungsgleich gemacht werden, ist eine der Aporien in Mauvillons Denken, das neben liberalen Merkmalen ebenso viele autoritär wirkende Züge trägt. Der moralisch-radikale Aspekt der Sittenlehre, der hier aufscheint, lässt sich wenigstens nicht leugnen. Die Betrachtung der Tugend ohne Rücksicht auf die Vorteile eines jenseitigen Lebens geht hier nicht auf ›sittlich-gutes Handeln um seiner selbst willen‹ aus, sondern impliziert vielmehr den Blick auf die Vorteile des irdischen Lebens. Solche Vorteile bezeichnet Mauvillon als Wirkung einer Tugend, die als Gesetz Gottes nachvollziehbar sei. Damit ist die Aufgabe der ökonomischen Theorie vorgezeichnet: Sie muss die Bedingungen identifizieren, unter denen jene materiellen Werte zugänglich werden, die der so definierte moralische Mensch erstrebt. Wie äußert sich vor einer solche Kulisse also ›das Gesetz Gottes und der Natur‹ in wirtschaftstheoretischer Hinsicht? Welche konkreten Eigenheiten weist Mauvillons Konzeption auf? Bezeichnenderweise unternimmt Mauvillon gerade auf diesem Feld die wenigsten Abweichungen von dem sozialethisch-ökonomischen System der Physiokraten. Zunächst referiert Mauvillon die Klassen- und Eigentumstheorie der Physiokraten. Die Natur bringt mithilfe der Menschen Produkte hervor, die weiterverarbeitet werden müssen: Hieraus entstehen zwey Klassen von Menschen, die Hervorbringende und die Arbeitende. [Wobei letztere …] die zur Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen nöthige Form giebt. Eine dritte Klasse bringt keine Materien hervor, bearbeitet auch keine, sondern thut andre Dinge, die entweder zur Sicherheit, Ordnung und Vertheidigung der menschlichen Gesellschaft nöthig sind, oder die auch blos zur Belustigung der Menschen dienen, die wir Besoldete nennen wollen.109

Das einzig Auffällige an dieser Stelle ist die Tatsache, dass die dritte Klasse nicht die der Landeigentümer ist, sondern den Dienstleistungssektor konstituiert, der in der Physiokratie (und noch bei Smith) ein Schattendasein führt. Dass diejenigen, deren Werk in der ›Belustigung‹ der Menschen besteht, eigens erwähnt werden, fügt sich in der Tat der oben abgehandelten moralischen Konzeption Mauvillons vollends

|| 108 Ebd., S. 219. 109 Mauvillon: Von der öffentlichen und privaten Ueppigkeit (s. Anm. 1), S. 9.

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ein. Braunreuther sagt hierzu: »Die Landeigentümer haben bei MAUVILLON eine weit geringere gesellschaftliche Bedeutung als beispielsweise die Komödianten, denen im Sinne der fortgeschrittenen Aufklärung auch gar kein niederer Rang zukommt.«110 Allerdings missdeutet er die Klassen- und Eigentumstheorie aufgrund folgender Stelle bei Mauvillon: Da nur ein Theil der hervorbringenden Klasse, das Land das sie bearbeitet selbst besizt, so entsteht noch eine neue Gattung von Menschen, welche Land besizen, aber es nicht bearbeiten; die man die Landeigenthümer nennt. Allein wir nehmen hier obige Eintheilung als richtig an, theils weil es die Eintheilung der Natur ist, der zu Folge man blos durch die Arbeit die man darauf verwendet, ein Eigenthumsrecht auf das Land und auf die Erndte die es hervorbringt erlangt; theils weil hier von der Zeit die Rede ist, wo noch kein Geld vorhanden war.111

Dies kommentiert Braunreuther so: Das Klassenbild MAUVILLONS weicht also wesentlich von dem des klassischen Physiokratismus ab. Der landwirtschaftliche Produzent ist der selbstwirtschaftende Bauer, nicht der Pächter. Der Grundeigentümer ist demzufolge nicht Verpächter.112

Tatsächlich sagt Mauvillon, nur durch die Arbeit, die man auf das Land verwende, habe man ein Eigentumsrecht darauf. Abgesehen davon, dass die Personalunion von Landeigentümer und Bauer in deutschen Staaten nicht nur üblich, sondern der Hauptgrund für das Scheitern des physiokratischen Steuermodells unter Schlettwein war, muss jedoch die Phrase ›Arbeit auf das Land verwenden‹ keineswegs heißen, selbst am Pflug zu stehen. Ebenso gut mag der Landeigentümer indirekt Arbeit darauf verwenden, indem er andere das Land zu bestellen unterhält. Dies ist bereits die Position Du Pont de Nemoursʼ.113 Und in der Tat bestätigt Mauvillon auch eine Seite weiter unten, dass der Grundeigentümer durchaus Verpächter sein kann, »weil wir nur diejenigen die hervorbringende Klasse nennen, die ein eigenthümliches Recht auf die Erndte haben; das sind nämlich die Landeigenthümer, sie mögen das Land selbst bauen oder nicht«;114 somit erweist sich Mauvillon in diesem Punkt als nicht sonderlich revolutionär oder anderweitig bemerkenswert. Anders sieht es mit der Untersuchung der Begriffe Wohlstand und Reichtum aus. Hier entscheidet sich Mauvillon für eine neue Definition des ökonomischen Wohl-

|| 110 Braunreuther: Studien zur Geschichte der politischen Ökonomie und der Soziologie (s. Anm. 106), S. 57. 111 Mauvillon: Von der öffentlichen und privaten Ueppigkeit (s. Anm. 1), S. 9f. 112 Braunreuther: Studien zur Geschichte der politischen Ökonomie und der Soziologie (s. Anm. 106), S. 57. 113 Vgl. Priddat zum Eigentumsbegriff bei Du Pont, der sich bei Mauvillon wiederfindet. Es ist klar, dass beide dem Verpächter sein Eigentum zugestehen, solange er nur Pächter darauf arbeiten lässt: Priddat: Le concert universel (s. Anm. 12), S. 65f. 114 Mauvillon: Von der öffentlichen und privaten Ueppigkeit (s. Anm. 1), S. 10.

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standsbegriffs und schlägt dabei die subjektivistische Schneise weiter in die Wirtschaftstheorie: »Was ist aber Reichthum, Wohlstand anders, als die Mittel mehr und beßre und bequemere Dinge zu gebrauchen und zu geniessen, als die nicht im Wohlstande sind?«115 Wohlstand und Reichtum sind für Mauvillon einerlei. Für die Physiokraten bemisst sich Wohlstand eigentlich objektiv am produit net der Nation, während Handelsgüter keinen entsprechenden Standard darstellen. Adam Smith erweitert den Begriff des Wohlstands um diejenige Arbeit, welche die Physiokraten ›steril‹ nennen, indem er sagt, »real wealth«116 sei »the annual produce of the land and labour of the Society.«117 Auch dies ist eine objektive Definition. Mauvillon ist daran offenbar nicht interessiert. Zwar behauptet er: »Kein Mensch bewundert diesen Mann [Adam Smith] und seine Werke mehr als ich«,118 und er dürfe sich »auf das beziehen, was Smith in seinem herrlichen Werke sagt, um zu beweisen«.119 Tatsächlich kann Smith höchstens als Beiwerk und Stütze einzelner Argumente herhalten; im Ganzen muss Mauvillon das ›herrliche Werk‹ ablehnen. Nirgendwo wird dies deutlicher als in der Diskussion des Wohlstandsbegriffs. Abgesehen von der quasi tautologischen Definition (in etwa: Wohlstand ist die Möglichkeit, mehr zu genießen als die Wohlstandslosen) fallen daran zwei Dinge auf: Erstens ist Wohlstand ein vornehmlich subjektiv validierbares Konzept, da der höhere Genuss sich kaum an der Quantität (oder sogar Qualität) der Produkte ablesen lässt. Zweitens scheint ein geringerer objektiver Aspekt hinzugezogen zu werden, insofern Wohlstand eine quantitative Steigerung von Gütern ist, doch erweist sich daran lediglich die Relativität des Wohlstands: Der aristotelische ›wahre Reichtum‹, der darin besteht, nicht mehr und nicht weniger zur Verfügung zu haben, als für ein sittlich-gutes (und dabei beglückendes) Leben nötig ist, erfährt eine schroffe Ablehnung; Wohlstand ist nicht anhand eines externen – bei Aristoteles anthropologischen – Maßstabs zu bestimmen, sondern ist nur im Abgleich mit einer geringeren Verfügbarkeit von Gebrauchsgegenständen und Genussmitteln bei anderen Eigentümern, Besitzern oder Konsumenten zu identifizieren. Die definierende, subjektive Dimension des Wohlstands liegt hingegen in den Möglichkeiten, höheren Genuss zu erlangen (welcher wiederum in nichts anderem als ›angenehmen Empfindungen‹ besteht, solange dieselben nicht langfristig dem Wohlbefinden abträglich sind). Wenn aber Wohlstand sowie der damit einhergehende wohltuende Genuss sittlich gut sind, dann

|| 115 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 71), S. 147. 116 Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of The Wealth of Nations. Hg. von Edwin Cannan. Chicago 1977, S. 15. 117 Ebd., S. 15. Vgl. die Stelle in der deutschen Übersetzung von 1776: »des wirklichen Vermögens, des jährlichen Produkts des Landes und der Arbeit der Gesellschaft« (Adam Smith: Untersuchung der Natur und Ursachen von Nationalreichthümern. Leipzig 1776, S. 5). 118 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 71), S. 16. 119 Ebd., S. 211.

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besteht kein Grund, die unten zu diskutierende vermeintliche ›Privatüppigkeit‹ in moralischer – geschweige denn gesetzlicher – Hinsicht einzuschränken. Aus diesem Grund verwundert es nicht, dass Mauvillon einen Großteil seiner Briefe an Dohm auf eine langwierige Erklärung der physiokratischen Steuer- und Freihandelslehre verwendet. Diese Diskussion kann aus Platzgründen hier nicht eingehend analysiert werden. Generell übernimmt Mauvillon hier wieder die typischen physiokratischen Positionen. So befürwortet er die Einsteuer auf den Mehrwert der landwirtschaftlichen Produktion: »Dadurch wird nämlich so viel als möglich allem [sic] Eingriff in die zur Wiederhervorbringung nöthigen Produkte verhütet.«120 Wie sich nämlich später zeigen wird, sind unnötige Staatsausgaben für Mauvillon das Musterbeispiel falscher Üppigkeit: »Ich weiß es aus mir bekannten Ländern, daß die Erhebungskosten der Steuern wahre Kleinigkeiten gegen das sind, was die Accise und zumahl die Zölle zu heben kosten.«121 Verwaltungsaufwand und -kosten verringern sich mit der Einsteuer. Des Weiteren tritt Mauvillon im Einklang mit allen Physiokraten für »eine gänzliche Handlungsfreyheit«122 ein, die das Gegenmittel für die merkantilistisch-kameralistische Zoll- und Auflagenpolitik konstituieren soll. Überdies stärkt das »Verzehren ausländischer Waren«,123 das mit dem Freihandel zunimmt, nicht nur die Staatsfinanzen, sondern auch den moralischen Status der Nation, die sich dadurch ›angenehmere Empfindungen‹ bereitet als durch die Reduktion auf vornehmlich inländische Produkte. Die Nachfrage, ob der Zugang zu jeglichen Genussmitteln ausländischer Herkunft nicht zu einer Verschwendungssucht führe, durch die Investitionen in inländische Produkte vernachlässigt würden, kann Mauvillon mit dem Verweis auf den homo oeconomicus beantworten, der sich jene Luxusimporte erst leistet, wenn er durch heimische Waren versorgt ist. Aus diesem Grund ist eine etwaige Verminderung des nationalen Wohlstands durch den Freihandel unmöglich: »Das supponirt eine Nation von Narren die nicht existirt; […] die nicht existiren kann.«124 (An anderen Stellen meldet Mauvillon, wie schon gezeigt, Zweifel an der Verständigkeit der Bevölkerung an.) Eine Konsequenz der physiokratischen Voreingenommenheit bezüglich der alleinigen Naturproduktivität besteht darin, zwar die Signifikanz der Kapitalbildung für die Landwirtschaft erkannt zu haben, deren monetäre Repräsentation jedoch nicht als selbständigen Wirtschaftsfaktor aus ihrem System herauszulösen. Dies führt auch bei Mauvillon zu einer schon damals unzeitgemäß wirkenden Abstraktion von Finanzmärkten und jeglichem Geld zugunsten eines Modells, das eine hypo-

|| 120 Mauvillon: Von der öffentlichen und privaten Ueppigkeit (s. Anm. 1), S. 125. 121 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 71), S. 107. 122 Ebd., S. 71. 123 Mauvillon: Von der öffentlichen und privaten Ueppigkeit (s. Anm. 1), S. 38. 124 Ebd., S. 71.

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thetische Tauschwirtschaft für ebenso hinreichend wie notwendig hält, um Wirtschaftskreisläufe ein für alle Mal zu begreifen: Das Geld ist eine Quelle von tausend Irrthümern, in der Staatswirthschaft, und so wenig einer das Spiel der Muskeln im menschlichen Körper samt dessen innern Beschaffenheit sehen kann, wenn man nicht die Haut die alles bedeckt, abnimmt, so wenig kann man die wahre Beschaffenheit des politischen Bandes in der menschlichen Gesellschaft sehen, wenn man nicht dabey anfängt, ganz von dem darinn umlaufenden Gelde zu abstrahiren.125

Wenn Wirtschaftskreisläufe ebenso präzise anhand einer Tauschwirtschaft wie anhand einer Geldwirtschaft studiert werden können, so verändert das Geld an jenen Mechanismen nichts Wesentliches – es ist ein Schleier über dem Inneren der Wirtschaftspolitik, der mit den nicht-finanziellen Kernstrukturen in sekundärer und dabei konformer Beziehungsdynamik steht. Somit müssen schlichtweg die Erkenntnisse, die man aus dem Studium einer hypothetischen Tauschwirtschaft gewinnt, auf die Geldwirtschaft angewandt werden, um die ›natürliche Ordnung‹ der Ökonomie zu realisieren und zu steuern. Trotz der langen Freihandelsargumente, die den Großteil der Abhandlung Mauvillons ausmachen, nimmt sich der Verfasser denn auch genau jenen Grundgedanken zum Leitfaden, dass der Finanzmarkt sich stets dem Gütermarkt füge. Auch in diesem letzten Punkt geht er mit seinen physiokratischen Vorläufern konform. Die originellste Entfaltung seiner eigenen physiokratischen Positionen vollbringt Mauvillon jedoch in seinem Aufsatz Über öffentliche und private Üppigkeit. Dohm urteilt über Mauvillon, dieser habe nur einige, mit der Luxuskritik verknüpfte Aspekte der Physiokratie abgebildet: Ich glaube nicht, aus Freundschaft partheyisch zu seyn, wenn ich sage, daß, meiner Einsicht nach, die neue Lehre von Herrn Mauvillon in der angezeigten Abhandlung kurz, und mit leichtvoller Deutlichkeit, aber nur nicht nach ihrem ganzem [sic] Umfange, dargestellt sey.126

Dohm spezifiziert diese Behauptung zwar nicht, doch könnte damit z. B. die metaphysische Basis der Physiokratie gemeint sein, die Mauvillon erst in den Briefen an Dohm (mit den oben besprochenen Schwierigkeiten) nachreicht. Es ist allerdings anzunehmen, dass Mauvillon die Physiokratie tatsächlich selektiv funktionalisiert, um ein weiter gespanntes Aufklärungsprojekt zu kommunizieren. In dem Aufsatz gelingt es ihm nämlich nicht nur, die Freihandelsargumente der Ökonomisten gegen das kameralistische Establishment ins Feld zu führen, sondern v. a. die Physiokratie in die Vision eines gesamtgesellschaftlichen Paradigmenwechsels münden zu lassen. Diesem Gedankengang soll hier nachgefragt werden.

|| 125 Ebd., S. 23f. 126 Dohm: Ueber das phisiokratische Sistem (s. Anm. 63), S. 17.

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Der luxuria-Diskurs hat eine lange moralphilosophische und wirtschaftstheoretische Geschichte und wurde im 18. Jahrhundert kontrovers geführt.127 Mauvillons Frage nach der Definition des Luxusbegriffs und dessen ambivalenter terminologischer Gebrauch sind daher keineswegs eine bloße Extravaganz. Neu daran ist jedoch die Radikalität, mit der Mauvillon Luxus aus der physiokratischen Lehre entwickelt, um dieselbe zugunsten seiner eigenen politischen Auffassungen zu utilisieren. Die Kontroversen um den Luxusbegriff sind ihm bewusst: »Ueppigkeit (Luxe) ist ein Wort, das gleich so vielen andern unaufhörlich gebraucht wird, ohne daß man recht bestimmen kann, was man eigentlich für einen Begriff damit verknüpft.«128 Üppigkeit wird einerseits als »Quelle des äußersten Verderbens«,129 andererseits als »dem Wohle der Menschheit nothwendig geschildert.«130 Darum ist es Mauvillon vorerst darum zu tun, Üppigkeit von verwandten Begriffen oder solchen, mit denen Verwechslungsgefahr besteht, abzugrenzen. Erstens ist Üppigkeit von Überfluss zu unterscheiden, denn letzterer ist nichts anderes als das produit net qua Verkaufspreis; was jener [Produzent bei einer materiellen Transaktion] für die bloße Abtretung des Eigenthumsrechts erhalten würde, macht den Ueberfluß, den sogenannten reinen Ertrag aus.131

Zweitens bestreitet Mauvillon die Ansicht, Üppigkeit sei mit ökonomischer Verschuldung gleichzusetzen: »Einige verstehen unter Ueppigkeit eine Gemüthsbeschaffenheit des Menschen, nach der er mehr verthut als er besizt«.132 Diese Auffassung kann Mauvillon weder begrifflich noch terminologisch akzeptieren. Üppig könne auch der leben, dessen Ressourcen sich nicht verringern. Umgekehrt ist

|| 127 Vgl. zusammenfassend: Sandro Guzzi-Heeb: [Art.] Luxus. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 25.02.2010, übersetzt aus dem Italienischen. Einsehbar unter: https://hls-dhsdss.ch/de/articles/016220/2010-02-25/ (zuletzt eingesehen am 15.02.2021). Zur luxuria in der Antike vgl. Hans Kloft: Luxuria. Begriff und Sache in der römischen Kaiserzeit. In: Luxus und Dekadenz: römisches Leben am Golf von Neapel. Hg. von Rudolf Aßkamp. Mainz 2007, S. 64–77. Zur modernen Rezeption des antiken luxuria-Begriffs: Hans-Wolf Jäger: Antiker Luxus und antike Dekadenz in neuzeitlicher Literatur. In: Luxus und Dekadenz: römisches Leben am Golf von Neapel. Hg. von Rudolf Aßkamp. Mainz 2007, S. 196–208. Die Ambivalenz des Luxusbegriffs beschreibt Alexander Honold: Luxuria. Eine Tugend unter den Lastern. In: Luxus: Die Ambivalenz des Überflüssigen in der Moderne. Hg. von Christine Weder und Maximilian Bergengruen. Göttingen 2011, S. 35–57. Im selben Band zum für Mauvillon relevanten kontroversen Luxusdiskurs der Aufklärung vgl. Günter Oesterle: Der kleine Luxus. Die poetologischen Folgen der aufklärungsspezifischen Unterscheidung von kommodem Luxus und Exzessen des Luxuriösen. In: Luxus: Die Ambivalenz des Überflüssigen in der Moderne. Hg. von Christine Weder und Maximilian Bergengruen. Göttingen 2011, S. 109–124. 128 Mauvillon: Von der öffentlichen und privaten Ueppigkeit (s. Anm. 1), S. 31. 129 Ebd. 130 Ebd. 131 Ebd., S. 12. 132 Ebd., S. 34.

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durchaus auch derjenige imstande, mehr zu verbrauchen, als er besitzt, welcher nicht üppig (im Sinne eines Konsums teurer Waren) lebt. Darum wählt Mauvillon hierfür einen anderen Terminus: »Endlich aber ist das Verschwendung, und nicht Ueppigkeit.«133 Verschwendung ist überdies kein schwerwiegendes politisches Problem. Ohnehin ist sie nicht gesetzlich zu verbieten, verlangte das doch eine unverhältnismäßige bzw. unmögliche Überwachung der Bürger, die Mauvillon an derselben Stelle für weder pragmatisch noch moralisch vertretbar erklärt. Auch teilt die Verschwendung mit der Üppigkeit nicht die ambivalenten moralischen Dimensionen, über die sich wirtschaftstheoretisch nachzudenken lohnt. Wer unvernünftig luxuriös lebt, oder genauer gesagt: verschwendet, den werden »die natürlichen Strafen dieser moralischen Vergehen treffen.«134 Den auf das Laissez-faire bedachten physiokratischen Staat hat der Verschwender nicht zu interessieren, weil er sich selbst aus dem Weg schafft und seinen Reichtum lediglich an potenziell verantwortlichere Bürger weitergibt; der Staat wird dadurch eher gestärkt oder bleibt wenigstens ungeschwächt, besonders im Verhältnis zu all jenen vernünftigen Liebhabern von Luxusgütern, die (wie bald deutlich wird) den Staat stärken. Während die Verwechslung von Verschwendung und Üppigkeit ein grober Irrtum ist, hält Mauvillon eine davon unterschiedene Bestimmung für wahrheitsnäher: »Andre sezen die Ueppigkeit im Genusse rafinirter Vergnügungen«.135 Mauvillon antwortet zwar nicht, dass solcher Genuss nie einen Fall von Üppigkeit darstellen könne, doch teilt er ebensowenig die kategorische Verurteilung derartiger Genüsse als unmoralisch. Nur »die gemeine Meynung […] ist diejenige, nach der die Ueppigkeit ein Uebel ist.«136 Eine solche Einschätzung sollte angesichts der oben dargelegten Genussmoral im Rahmen des umfassenden Sensualismus nicht überraschen. Der Genuss feinerer Vergnügungen darf daher generell als moralisch vertretbar gelten (wobei Mauvillon es bevorzugt, diese Genüsse nicht als Üppigkeit zu bezeichnen). Es ist für den Staat sogar von Vorteil, seinen Bürgern eine beständige Erweiterung ihrer angenehmen Empfindungen zu erlauben. Tatsächlich sei es die Aussicht auf sinnliche Freuden, die den Fleiß der Menschen befördere. Ein spartanisches Leben »würde gewiß einen schlechten Sporn zum Arbeitstriebe abgeben«.137 Also müssen alle Annehmlichkeiten gutgeheißen werden, solange sie nicht zur Verschwendung führen. Auffälligerweise passt sich Mauvillon jedoch zuletzt trotz einiger Hinweise auf eine unschädliche Üppigkeit dem pejorativen Gebrauch des Worts an, um Üppigkeit als etwas Schädliches neu zu definieren. Worin die Schädlichkeit besteht, entbehrt dann aber nicht einer gewissen Originalität. || 133 Ebd., S. 35. 134 Ebd., S. 37. Mit den Strafen meint Mauvillon Armut, gesundheitliche Schäden und psychische Labilität. 135 Ebd., S. 36. 136 Ebd., S. 31. 137 Ebd., S. 36.

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Mauvillon geht davon aus, »[d]aß die Ueppigkeit in der Art besteht, wie das, was man besizt, verzehrt wird«.138 Die tatsächlich schädliche Üppigkeit wird also nicht anhand der Herstellung oder des Verbrauchs bestimmter Güter greifbar, sondern ist ein strukturales Phänomen innerhalb des Wirtschaftskreislaufs, welches staatsschädigend wirkt und deshalb unabhängig von der Debatte um Luxusgüter untersucht werden darf: »Es kann Ueppigkeit statt finden, ohne daß die geringste verbothne Waare verzehrt wird«.139 Die Arten von Üppigkeit sind zu identifizieren und zu bewerten, während den Fehlkonzeptionen von Üppigkeit ein Riegel vorgeschoben werden soll. So muß man recht genau wissen, was die dem Staate schadende Ueppigkeit sey, um diese zu hemmen; und sie genau von dem unterscheiden, was fälschlich so genannt wird, damit man nicht durch Geseze, die dasjenige untersagen, was doch mit Recht genossen werden könnte, dem Arbeitstriebe schade.140

Halbwegs gibt Mauvillon zu, dass man mit bestimmten Gütern gesellschafts- und damit staatsgefährdend wirtschaften könnte, wie er mittels einer etwas kuriosen Analogie zu zeigen versucht: Tatsache ist, dass Genüsse dem Nebenmenschen im Staate und der sittlichen Ordnung nicht schaden müssen. Es könnte Leute geben, deren Arbeitstrieb nur dadurch angefeuert werden könnte, daß sie die Mittel erhielten, andrer Menschen Weiber zu verführen. Denen zu gefallen, […] kann man die Geseze wider den Ehebruch nicht aufheben.141

Dieser eher moralisch als wirtschaftlich bedenkliche Fall ist generalisierbar, denn auch beim ökonomischen Handeln darf der Genuß eines einzelnen Menschen dem Staatskörper keinen Eintrag thun […]. In so fern dieß also die Ueppigkeit bewerkstelligt, müssen Geseze gemacht werden, die ihr Einhalt thun, so wohl, als wenn sie diesem oder jenem einzelnen Menschen schadete.142

Ein konkretes Beispiel dafür bringt Mauvillon bezeichnenderweise nicht. Es wirkt fast so, als möchte er mit alledem die Auffassung, der Genuss feinerer Produkte sei schädlich, ins Lächerliche ziehen. Viel besorgniserregender ist für ihn die Gefahr, die der Mangel sogenannter Luxuswaren birgt: »Wenn man also gewisse Arten von Genuß untersagt, so wird man gemeiniglich bey einer Menge Menschen, die eben nach diesem Genusse verlangen, den Arbeitstrieb hemmen, oder schwächen«,143

|| 138 Ebd., S. 34. 139 Ebd., S. 65. 140 Ebd., S. 33f. 141 Ebd., S. 33. 142 Ebd. 143 Ebd., S. 32.

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wenn sie nicht gleich das Land »fliehen«.144 Diese Hemmung der Arbeitskraft durch Verbot von Luxuswaren ist dem Staat »nachtheilig«145 und ein Beispiel für jene »Nationalverschwendung, die leicht zur wahren Ueppigkeit leiten kann«.146 Das Problem mit Genussmitteln liegt also praktisch doch auf Seiten des regulierenden Staates: »Und hier haben die Vertheidiger der Ueppigkeit Recht. Ein vernünftiger Gebrauch aller solcher Dinge ist so weit entfernt, dem Staate schädlich zu seyn, daß er vielmehr einen Grund zum Flor desselben abgiebt.«147 Durch den zu erwartenden vernünftigen Erwerb und Konsum der Waren wird sich »die Zahl der Menschen im Staate, und mithin dessen Stärke vermehren.«148 Erst jetzt wird klar, dass »die eigentliche und wahre Ueppigkeit«149 jegliche Fehlallokation von Ressourcen ist, welche auf diversen Wegen zu verminderten Investitionen in die Naturproduktion führt, und die von Privatleuten wie auch von Regierungen ausgehen kann: »Ist nun die Ueppigkeit eine Art, mit seinem Vermögen zu walten, die dem Staate schadet, so haben wir gleich vor Augen was Ueppigkeit sey.«150 Alles Wirtschaften, welches nach physiokratischer Lehre das Einkommen und die Macht des Staates – letzten Endes der Bürger – mindert, wird damit zur Üppigkeit erklärt: »es mögen nun Privatpersonen oder der Staat Schuld an dieser Verringerung seyn; so ist Ueppigkeit vorhanden.«151 Dementsprechend unterscheidet Mauvillon zwei Arten wahrer Üppigkeit: Ökonomisch schädliches Verhalten von Privatpersonen ist »Privatueppigkeit, verursacht sie aber der Staat, so nennen wirs öffentliche Ueppigkeit.«152 Was die Privatüppigkeit angeht, so gilt: Nur die Landbesizende, und die Landbauende Klasse ist der Ueppigkeit fähig; denn nur diese kann einen Theil der zur Wiederhervorbringung nöthigen Früchte von ihrer Bestimmung ab, und zu einem andern Gebrauche verwenden.153

Weniger der Kauf irgendwelcher Produkte als vielmehr das Versäumnis, die avances zu erhalten und zu steigern, konstituiert die Üppigkeit. Wenn ein Pächter oder Gutseigentümer so sparsam in den Ackerbau investiert, dass »viel weniger Früchte darauf erzielt werden, so ist er ein schlechter Haushälter, er begeht Ueppigkeit, denn er verthut das Seinige auf eine Art, die das Nationaleinkommen des Staats vermin-

|| 144 Ebd., S. 33. 145 Ebd. 146 Ebd., S. 35f. 147 Ebd., S. 37. 148 Ebd., S. 37. 149 Ebd., S. 39. 150 Ebd., S. 44. 151 Ebd., S. 44f. 152 Ebd., S. 45. 153 Ebd., S. 50.

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dert.«154 Der Unterschied zum verschwenderischen Konsumenten ist physiokratisch begründet: Da der konsumierende Verschwender nur sein Geld, seinen Reichtum auf andere überträgt, ohne die Produktion einzuschränken, schadet er dem Staat nicht; da aber der Landwirt/Gutseigentümer mit einer unangebrachten Ressourcenallokation die Produktion einschränkt, schadet er dem Staat, denn der Landbau allein ist schließlich intrinsisch auf Produktionssteigerung angelegt. Eine scheinbar ähnliche Luxuskritik als Kritik der Kapitalvergeudung findet sich bei Quesnay, doch schlägt Mauvillons Argumentation einen anderen Weg ein: Nicht gegen die Industrie wendet er [Quesnay] sich, wohl aber gegen eine unproportionierte Entwicklung des industriellen oder sterilen Sektors, was einem Luxus an Übernutzung der produktiven Kräfte einer Nation gleichkäme. Der Luxus wird nicht moralisch, sondern ökonomisch kritisiert – als Überkonsumtion im Verhältnis zu mangelnden Investitionsleistungen im Agrarsektor.155

Dem schließt sich Mauvillon zwar an, zumal private Misswirtschaft ohnehin auf falsche staatliche Inzentive oder Zwänge zurückzuführen ist: »Der Staat kann auf keine direktere Art Ueppigkeit treiben, als wenn er dem Landbau die nöthigen Hände entzieht.«156 Dennoch vermittelt diese Argumentation letztlich kein ökonomisches, sondern ein moralisch-soziales Wunschbild: Die Landwirte sollen mittels der physiokratischen Gesetzgebung daran gehindert werden, ›Üppigkeit‹ zu betreiben, und stattdessen gemeinsam mit sämtlichen Bürgern den Kreis ihrer ›angenehmen Empfindungen‹ erweitern. Was nämlich »die besoldete und die arbeitende Klassen [sic] betrift, die können nie üppig seyn, laß sie verzehren was und wie sies wollen.«157 Die Begründung hierfür ist klar: Da die Landwirtschaft allein produktiv ist, kann nur sie avances tätigen und die Wohlstandssteigerung bedingen oder hintertreiben. Die sterilen Klassen produzieren hingegen nichts, weshalb ihnen überhaupt keine Investition in zukünftige Produktionen möglich ist und mithin keine Fehlinvestition/Üppigkeit stattfinden kann. Die legislative Einsicht in die öffentliche Üppigkeit staatlicher Besteuerung (oder Verbote) ausländischer Importe soll somit zu guter Letzt die gegnerischen Luxuskritiker mit deren eigenen Waffen (d. h. deren Terminologie) schlagen: »Aus allem diesen folgt ganz natürlich, daß die bishero gegen die Ueppigkeit gemachten Geseze unzulänglich gewesen sind, denn sie haben alle auf die Dinge abgezwecket, worinn sie eigentlich nicht besteht.«158 Angesichts dieser ungewöhnlichen luxuria-Kritik erscheint Braunreuthers Urteil etwas zu kurz zu greifen:

|| 154 Ebd., S. 48. 155 Priddat: Le concert universel (s. Anm. 12), S. 20. 156 Mauvillon: Von der öffentlichen und privaten Ueppigkeit (s. Anm. 1), S. 126. 157 Ebd., S. 50f. 158 Ebd., S. 62.

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MAUVILLON räumt mit der feudal-apologetischen Verwirrung des Luxusbegriffes auf. Er unterscheidet die staatsgefährdende ›Üppigkeit‹ von derjenigen, die dem Staate ungefährlich ist, d. h. die den gesellschaftlichen Reichtum gar nicht berührt. ›Üppigkeit‹ im zu verurteilenden Sinne ist nur die erstere.159

Die mehr oder minder raffinierte Umkehrung des Üppigkeitsbegriffs bezweckt wohl noch mehr: Es geht Mauvillon letztlich um eine Umkehrung konventioneller Moralvorstellungen und Gesellschaftsverhältnisse. Die ganze Motivation der physiokratischen Schriften scheint neben dem ökonomischen Interesse mindestens ebenso sehr auf die Einschränkung der Staatsmacht und die Emanzipation des Bürgers zum sinnlich genießenden Menschen abzuzielen. So leidet der Staat v. a. aufgrund der ›Klasse der Besoldeten‹ unter dem Übel der Üppigkeit. Die Staatsdiener können schließlich im Gegensatz zur profitablen Arbeit des Landwirtes oder des Gewerbetreibenden kein Vermögen anhäufen, sondern verzehren es nur. Mauvillon argumentiert daher recht ungeniert für die Massenentlassung von Staatsbeamten oder -angestellten: »Denn das Heer der Beamten und Bedienten die dies System überflüßig machen würde, nebst so vielen andern Leuten die auf Kosten ihrer Mitunterthanen Vortheile von dem jetzigen Systeme ziehen«,160 verwehrt sich aus niederen Motiven gegen die Physiokratie und wäre in der Landwirtschaft besser aufgehoben. Die bisher von Zöllen und Steuern geplagten Bürger hingegen müssen Zugang zu den ihnen aktuell versagten Luxusgütern erhalten, um der moralischen Fluchtlinie, sich immer angenehmere Empfindungen zu verschaffen, Genüge zu tun. In der Tat handelt es sich dabei um eine gleichermaßen ökonomische wie sittliche Verbesserung, denn »wissen die Menschen nichts von feinern Lüsten und Freuden, so ergeben sie sich gemeiniglich den schändlichsten«.161 Die Physiokratie dient Mauvillon bereits nicht mehr nur zur Behebung wirtschaftlicher Missstände, sondern zur Rechtfertigung liberaler Gesellschaftsentwürfe einer durchaus radikalen politischen Aufklärung. Dazu passt, dass Mauvillon die verwerfliche Staatsüppigkeit auf sämtliche traditionelle Institutionen ausdehnt, denen er oberflächlich Misswirtschaft bescheinigt, im Grunde jedoch einen moralischen Vorwurf macht. In diesem Rahmen werden »Leibeigenschaft«,162 »Gilden«,163 die »Unterhaltung einer übermäßigen Dienerschaft«,164 eine »Menge Soldaten zu verderblichen Kriegen«165 sowie »Religionsverfolgungen«166 zur Üppigkeit erklärt. Es || 159 Braunreuther: Studien zur Geschichte der politischen Ökonomie und der Soziologie (s. Anm. 106), S. 58. 160 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 71), S. 10. 161 Mauvillon: Von der öffentlichen und privaten Ueppigkeit (s. Anm. 71), S. 38. 162 Ebd., S. 127. 163 Ebd. 164 Ebd. 165 Ebd., S. 126. 166 Ebd.

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zeigt sich: Mauvillon markiert luxe als Verschwendung eines andernfalls lustbringenden Reinertrags, der als vornehmlich staatliche Verschwendung menschlicher Kraft und Lebendigkeit, mit anderen Worten als Unterdrückung gilt. Den Machthabern in dem Staat, dessen Stärkung mittels Vermeidung von ›Üppigkeit‹ Mauvillon zu verfechten vorgibt, wird damit in Wirklichkeit die Existenzgrundlage und berechtigung entzogen. Ganz zutreffend sagt er über seine eigene physiokratische Systematik: ich habe mir ihr [der Physiokraten] System mehr aus einigen ihrer Schriften abstrahirt und in meine eigne Form gegossen, als daß ich ein sehr fleißiger Leser alles dessen was sie geschrieben haben gewesen wäre. Es kann daher auch wohl manches in meinen Aufsätzen seyn, das nicht ganz physiokratisch ist, oder das von den französischen Oekonomisten nicht oder anders ist gesagt worden. Ich würde mich darüber sehr trösten, wenn nur das was ich sagte, bewährt gefunden würde. Wer aber dem Dinge durchaus einen Namen in isch [sic] geben wollte, möchte es Mauvillonisch nennen.167

6 Wie aber möchte der Intellektuelle seine ›mauvillonischen‹ Ideen realisieren? Die Theorie des homo oeconomicus konfligiert, wie oben bereits erwähnt, mit der empirischen Beobachtung eines allgemeinen Widerwillens gegen das angeblich wirtschaftlich effizienteste System aller Zeiten. An dieser Stelle soll den diesbezüglichen Überlegungen Mauvillons mitsamt deren inhärenter Problematik Rechnung getragen werden. Mauvillon meint, die Physiokratie sei prinzipiell argumentativ stark aufgestellt, sodass sie bisher v. a. deshalb kaum Akzeptanz gefunden habe, »weil noch so wenig dagegen geschrieben worden ist.«168 Der Meinungsaustausch zwischen Anhängern und Gegnern erscheint daher als erster Schritt zur Durchsetzung des Systems im öffentlichen Bewusstsein (wenngleich nur Mauvillons Freund Dohm genuin respektvolle, unpolemische Repliken erhält). Diesen Schritt schuldet das physiokratische System der menschlichen Vernunft sogar: »Es wäre ganz rasend wenn man es sogleich ohne weitere Untersuchung einführen wollte.«169 Anfangs, berichtet Mauvillon, glaubte er in dem Vorbild französischer Politik zusätzliche Anreize zu diesem Ziel zu erkennen: Aus der Bewundrung und Liebe, die in unsern mehresten Ländern für alles herrscht was französisch heißt, schöpfte ich die Hofnung, als Turgot in diesem Lande Minister ward, das System

|| 167 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 71), S. 202. 168 Ebd., S. 2. 169 Ebd., S. 8.

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der Oekonomisten in mancher Provinz Deutschlands einführen zu sehen. Diese Hoffnung ist nun aber durch seinen Fall vereitelt worden.170

Einerseits ist dies zu bedauern, zumal Turgots Pionierleistung nicht den gesamten Ruhm der Physiokratie vor Augen führen konnte, denn »erstlich hat Turgot nur einen geringen Theil des ökonomistischen Systems während seiner Ministerschaft eingeführt […]; zweytens haben alle diese Versuche eine viel zu kurze Dauer gehabt«.171 Andererseits ist fraglich, wie wirkmächtig solche realen Erfahrungen auf ausländische Fürsten und Völker überhaupt ausstrahlen können, hat Turgot doch immerhin zuvor in Limoges das System »mit dem herrlichsten Erfolge versucht.«172 Die hauptsächliche Überzeugungsarbeit bleibt deshalb dem Intellektuellen überlassen, »wenns drauf ankömmt eingewurzelte Vorurtheile auszurotten, wie denn das immer das Haupthinderniß bey Einführung des Physiokratischen Systems bleiben wird.«173 Stellenweise entsteht sogar der Eindruck, vornehmlich das Volk sei zu überzeugen; vor dem Hintergrund der unpopulären Karlsruher Experimente unter Schlettwein gesteht Mauvillon in den Briefen: Der allgemeine Widerwille gegen die Sache, durch den aufgelegten Zwang verstärkt, hätte ihr solche Schwierigkeiten im Wege gestellt, daß der ganze Versuch hätte mißlingen müssen. Und folgendes müssen Regierungen und Regenten wohl bedenken; Ihre Macht reicht nicht so weit das Volk zu zwingen. Dieses kann allen ihren Maasregeln eine solche vim inertiae entgegenstellen, daß die vortrefflichen, die am augenscheinlichsten das Wohl der Unterthanen befördernden, umschlagen, ganz verderblich ausfallen, und am Ende nach vielem Verlust von Zeit, Vermögen und Mühe wieder aufgehoben werden müssen.174

Derartiges scheint erneut dem zuvor gezeichneten Bild des homo oeconomicus zu widersprechen, der (insofern er kein Verwaltungsbeamter ist) gleichsam nur auf die Etablierung der Physiokratie wartet. Außerdem steht dies Zitat oberflächlich der ganz zuletzt noch anzusprechenden Idee aus dem Üppigkeits-Aufsatz entgegen, dass es bloß auf den ›göttlich inspirierten‹ Fürsten ankomme, sein Volk mittels des ökonomistischen Systems zu beglücken. Dies ist der einzige Punkt, an dem Mauvillon eine Aussage aus der älteren Schrift zu revidieren scheint. Allerdings hebt er zwar die Widersprüche nicht explizit auf, doch ist es denkbar, dass er sie implizit löst. Diese Problematik soll hier kurz behandelt werden. Generell insistiert Mauvillon auf der realen Möglichkeit, die Physiokratie erfolgreich zu errichten; es sei dabei angebracht, angesichts der bisher misslungenen Bemühungen

|| 170 Ebd., S. 7. 171 Ebd., S. 8. 172 Ebd., S. 9. 173 Ebd., S. 216. 174 Ebd., S. 217.

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einen ganz nothwendigen Unterschied zu bemerken; nämlich zwischen innrer Unmöglichkeit, und zwischen zufälliger, in jetzt bestehenden Umständen liegender Unmöglichkeit, die von dem Willen und der Denkungsart der Menschen abhängt.175

Es gebe nur eine momentane, zufällige Unmöglichkeit, das System einzuführen. Die Frage, wodurch diese situative Unmöglichkeit behoben werden könne, hat sich bereits in den vorigen Zitaten angekündigt, wo Mauvillon anstelle staatlicher Zwänge zunächst eine geistige Empfänglichkeit für physiokratische Ideen in weiten Kreisen der Bevölkerung kultivieren möchte. Diese Aufgabe bleibt dem Schriftsteller überlassen: In so fern ein Schriftsteller sich schmeicheln kann, daß er einen Einfluß auf die Denkungsart und den Willen der Menschen hat, arbeite ich, so würksam ich kann, durch diese Briefe, diesen Einwurf, dies Hinderniß aus dem Wege zu räumen.176

Es bedarf also rationaler Aufklärung sowie emotionssteuernder »Beredsamkeit«,177 um in den Menschen eine gewisse Aufnahmebereitschaft zu erwecken. Damit wird letztlich eine moralische Aufklärung nicht nur erwogen, sondern unvermeidbar. Wie erwähnt, kommt gegen Ende der Briefe und anders als im Üppigkeits-Aufsatz mancher Zweifel nicht am System, wohl aber an der eigenen Kommunikationskompetenz auf. Wenngleich es Mauvillons Wunsch ist, mit seinen Schriften eine Breitenwirkung zu entfalten, rechnet er zuletzt nicht mehr damit, den schwächsten und letzten Hieb zu tun, um den Baum des alten Systems zu fällen, wie er noch im Aufsatz gehofft hatte. Dennoch muss er seine Versuche an den großen Staatsmännern und Rhetoren orientieren: Dann hätte ich dem Vaterlande und der Menschheit, meine ich, so wichtige Dienste geleistet als dieser größte der Römer [Cicero], und ich könnte mit der süssen Empfindung sterben, daß mein Leben für die Menschheit nicht unnütz verflossen wäre. Doch weg mit dem süssen Traume, der nur für die größten Schriftsteller einige Würklichkeit hat, und bey denen von meinem Gelichter Donquixotismus ist.178

Aber sogar, falls dieser finale Bescheidenheitsgestus Mauvillons wahrer Einstellung entspräche, bedeutet dies doch, dass die physiokratischen Intellektuellen sich in die Rolle des Cicero zu begeben haben, der nicht nur Schriften verfasste, sondern durch aktive Anteilnahme am politischen Leben dank seiner Beredsamkeit entscheidenden Einfluss auf die Gesellschaft ausübte. Der Schriftsteller als Aktivist, der sowohl die Mächtigen als auch das Volk überzeugt (oder, wie man noch sehen wird, gar

|| 175 Ebd., S. 287. 176 Ebd. 177 Ebd. 178 Ebd., S. 288.

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manipuliert), wirft ein klärendes Licht auf die Schlusspassage des ÜppigkeitsAufsatzes, deren Betrachtung den vorliegenden Beitrag beschließen soll. Vorausgeschickt und zusammengefasst werden muss hier jedoch, dass Mauvillons Akzeptanz und simultane Instrumentalisierung der Physiokratie durch ebenjene am ehesten als Sensualismus zu bezeichnende Disposition sowohl möglich als auch problematisch wird, die als eigentliches Ziel der physiokratischen Parteinahme Mauvillons gelten muss. Seine säkular zu nennende Wirkintention kollidiert dabei mit den metaphysischen Voraussetzungen der Physiokratie, die zu Beginn dieses Beitrags thematisiert wurden. Ein Beispiel soll dies noch einmal konzentriert verdeutlichen: Ganz zuletzt kommt Mauvillon in den Briefen anlässlich der angeblich schädlichen Steuerpolitik in Deutschland auf das Verhältnis zwischen der Üppigkeit und der Natur menschlicher Bedürfnisse zu sprechen. Luxussteuern werfen wenig für den Staat ab, [w]eil das, was man von dieser Ueppigkeit sagt nicht wahr ist; weil der Mensch, überhaupt genommen, zuerst auf Befriedigung der wahren natürlichen Bedürfnisse denkt, und nicht eher üppig wird, bis er volle Sicherheit hat, diese in allem erforderlichen Maasse zu geniessen.179

Und noch einmal wählt Mauvillon ein konkretisierendes Beispiel, das nicht ganz der Ökonomie, sondern gleichermaßen der Reflexion auf die metaphysisch gegebene Menschennatur zuzugehören scheint: »Weil eine Frau, und das damit unzertrennlich verknüpfte Kinderzeugen ganz andre Bedürfnisse sind, als Tressen oder seidene Kleider, und man sich diese nicht anschaft, als bis man jene in vollem Maasse befriedigt hat.«180 Gewiss ist dies ökonomisch relevant, da man für eine Familie zuerst das Grundbedürfnis »nach Brodt, nach Salz«181 stillen muss, bevor man bessere Kleidung ersteht. Wenn jedoch in der Theorie diese natürlichen Bedürfnisse von der Physiokratie regelhaft gefördert und befriedigt werden, steht dies mit der praktischen Erfahrung im Widerspruch, dass die Menschen ebendiesen Anreizen eine vim inertiae entgegenstellen und damit nicht nur von dem System, sondern von Mauvillons anthropologischer Bedürfnis- und Genusslehre abweichen. Diese Aporie scheint dem physiokratischen System wenigstens bei Mauvillon wesentlich zu sein. Die Bedürfnisse seien, so wird behauptet, natürlich und mit Notwendigkeit hierarchisch geordnet; sie fänden daher eine entsprechende Erfüllung, die sich die Physiokratie bloß zu Nutze machen müsse. Dass eine solche Annahme sich empirisch nur schwach demonstrieren lässt, geht aus Mauvillons Schriften zwar hervor, wird aber nicht eigens reflektiert. Mauvillon scheint hier ein rein rationalistisches Räsonnement zu verfolgen. Kann der empirische Gegensatz zu den Vernunftgrün|| 179 Ebd., S. 294. 180 Ebd. 181 Ebd.

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den dann aber noch ein kontingenter sein (wie Mauvillon in der oben zitierten Unterscheidung zwischen zufälliger und notwendiger Unmöglichkeit festlegt)? Die Frage nach den Bedürfnissen ist schließlich eine anthropologische. Entweder ist dem Menschen eine bestimmte Hierarchie der Bedürfniserfüllung eigen oder nicht. Ist sie ihm nicht eigen – im Gegensatz zur bei Mauvillon explizit geäußerten Ansicht – dann ist es freilich denkbar, solche Wertungsnormen dem Menschen anzuerziehen. Das hieße dann aber, künstliche Anstalten zu treffen, um den Menschen zur Einlebung in das physiokratische System zu verhelfen. Eine solche Erziehung durchkreuzt dann allerdings die ursprüngliche Vorstellung, die Physiokratie solle gleichsam automatisch die natürlichen Anlagen des Menschen zur ökonomischen Entfaltung bringen. Schon das physiokratische System an sich schwankt zwischen einer moralischen Begründung der Ökonomie als metaphysisch vorgezeichnetem Gesetzeszusammenhang und deren schlichter Eigengesetzlichkeit. Dem gesellt sich bei Mauvillon die Dualität von naturbestimmt-ökonomischen Handlungsmustern und zufällig-›moralischen‹ Vorstellungen innerhalb der Bevölkerung bei. Mauvillon tut zwar das anti-physiokratische Ethos als verbreitetes Vorurteil, als ›zufällige‹, behebbare Verfehlung ab. Gibt man jedoch zu, dass moralische, d. h. aus Freiheit veränderliche Bedingungen über den Erfolg der Physiokratie entscheiden, so wäre es notwendig, die moralisch-›zufälligen‹, d. h. empirisch beschreibbaren Zustände der Menschen von der Darstellung jener idealen Normen, deren sittliche Einhaltung dem Systemdenken vorschwebt, sachlich zu unterscheiden. Bei Mauvillon geschieht dies nicht; letztlich bleibt meist unklar, ob bzw. weshalb es sich bei einer gegebenen Charakterisierung menschlichen Verhaltens um eine moralisch-freie (kontingente) oder systematisch normierte (rational-notwendige) Zuschreibung handelt. Man kann vermuten, dass die Undeutlichkeit solcher anthropologisch gestützter Argumentationen keine direkte Unzulänglichkeit in Mauvillons Denken offenbart, sondern vielmehr der oben angesprochenen ambivalenten Positionierung der Physiokratie zwischen moralbasierter und autonomieökonomischer Wirtschaftstheorie inhärent ist. Mauvillons ›progressive‹ Impulse und sozialreformerische Wirkabsichten verschärfen und verdeutlichen den Zwiespalt nur. Insofern illustrieren Mauvillons Schriften auch in diesem Bereich – parallel zur Scharnierfunktion der Physiokratie – die nicht widerspruchsfreie Haltung dieses Aufklärers, die zwischen ›konservativer‹ Tradition und aufbruchsfreudiger ›Radikalität‹ oszilliert.

7 Die ›mauvillonische‹ Physiokratie konfrontieren bei der Durchsetzung des Systems die Dilemmata von Theorie und Faktizität sowie von sozialreformerischen Zielen und obrigkeitlicher Abhängigkeit des Physiokraten. Im Hinblick auf letztere Schwierigkeit findet in Mauvillons Texten eine verdeckte Reflexion statt, die hierzu womög-

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lich einen Lösungsweg anbieten soll. Der ›mauvillonische‹ Physiokrat will die Physiokratie nutzen, um Menschen nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch sozialen Veränderungen zu unterwerfen, die weniger einer Monarchie als einer Republik bedürften. Doch zeigt sich an den Widerständen und ›Vorurteilen‹ der Bevölkerung, dass der Intellektuelle auf die physiokratische Einsicht des Fürsten setzen muss: »Wenn die Güte des ökonomistischen Systems durch vernünftige, und nicht vernünftig zu widerlegende Gründe erwiesen ist, so muß und darf jeder rechtschafne Mächtige keinen Augenblick anstehen es einzuführen.«182 Der oben zitierte Verweis auf Cicero erhält dadurch erst seine ganze Aussagekraft. Als Physiokrat wünscht Mauvillon einerseits nicht nur zum Volk zu sprechen, sondern – wie Cicero – direkten Einfluss auf die ›Mächtigen‹ auszuüben, und er kämpft dabei – gleichfalls wie Cicero – letztlich für ein republikanisches System. Diese Absichten bleiben freilich meist unter feudalistischer Terminologie verborgen und müssen es im Verkehr mit der Regierung auch bleiben – eine Kommunikationsstrategie, die er nicht ganz zu Unrecht schon den französischen Physiokraten unterstellt und als Strategie gutheißt: Um dieses zu verhüten [dass die Physiokratie als verkappter Republikanismus von den Monarchisten abgelehnt würde], war wohl nichts anders zu thun, als sich ganz auf die entgegen gesetzte Seite zu neigen. Sie sind ein wenig zu weit gegangen; das ist alles was man ihnen vorwerfen kann: oder vielmehr sie haben ihren Satz nur sonderbar ausgedruckt.183

Darin besteht nebenbei auch Mauvillons Antwort auf Dohms Einwand, dass die Physiokratie eine despotische Staatsmacht stütze. Mauvillon legt dar, dass die Physiokraten gleichsam verschlüsselt sprechen müssten, da in der Tat die Physiokratie besser zu einer republikanischen Regierungsform passe. Im Gewande der vorherrschenden Regierungsform wird damit ein neues System in die Politik geschmuggelt. (Potenzielle) Befürworter der Physiokratie sind nämlich »immer gewissermaassen der Freyheit geneigt, und hassen die Despotie.«184 Folglich bekräftigt Mauvillon die Notwendigkeit verdeckter, kodierter Sprache, die äußerlich konventionell, dem Gehalt nach aber revolutionär oder wenigstens reformorientiert aufgebaut ist. Die explizite Inanspruchnahme derart verdeckter Kommunikation und Schreibweisen stützt die hier vorgestellte These, dass Mauvillons Wirtschaftstheorie einen inkonsistenten Versuch, die Physiokratie zum Behuf moralischer und || 182 Ebd., S. 12. 183 Ebd., S. 325f. 184 Ebd., S. 326. Mauvillon sorgt sich an dieser Stelle, dass Dohms Despotismus-Vorwurf liberal gesinnte Menschen zur Ablehnung der freiheitsfördernden Physiokratie verleiten könnte. Dabei kann man sich der Bemerkung nicht enthalten, dass, wenn schon die Physiokraten sich offiziell auf die Seite des absolutistischen Herrschers stellten, Dohms Bestätigung dieser beobachteten Haltung nicht den negativen Ausschlag in freiheitlichen Gemütern gegeben haben dürfte, den Mauvillon befürchtet.

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gesellschaftlicher ›Aufklärung‹ zu funktionalisieren, darstellt. Dies bestätigen im Hinblick auf seine physiokratische Position die Konsequenzen, die er für die Beurteilung angeblicher Üppigkeit zieht. Die Tatsache, dass Mauvillon ›arkane‹ Schreibweisen bzw. Kommunikationsformen gutheißt oder gar teils praktiziert, dürfte schließlich auch v. a. im Hinblick auf seine Religionstheorie des Christentums eine Deutung plausibilisieren,185 die ihn in die Nähe der ›Radikalaufklärung‹ rückt (wenn man denn dieses teils historisch, teils systematisch konturierte Hybridkonzept übernehmen und anwenden will).186 Die Implikation dessen, was Mauvillons Wunschbild und Norm des ›physiokratischen Cicero‹ ausmacht, erhellt somit nicht nur Mauvillons Konzeptionszusammenhang von Menschheit, Wirtschaft und gesellschaftlich-emanzipatorischer Aufklärung, sondern auch dessen inhärente Problematik, die sich in dem misslingenden Spagat zwischen supranaturalistischer Metaphysik und säkularem, quasi-liberalem Eudämonismus manifestiert: Da nur ein Wort des Regenten dazu nöthig ist, so bleibt nichts übrig, als daß Gott den mehrsten derselben zum Besten der armen Menschheit, die wenn sie wollten so glücklich seyn könnte, eingebe, dies heilsame göttliche Wort zu sagen.187

Prägnanter als in diesem Zitat aus dem Üppigkeits-Aufsatz könnte die Physiokratie als Brücke zwischen wirtschaftstheoretischer Vergangenheit und Zukunft nicht in Worte gefasst werden. Gott offenbart dem Fürsten, ein ›Wort‹ zu sprechen. Da es sich um ein göttliches Wort handelt, wäre es ein Leichtes, zu schließen, dass jenes Wort vom Segen und Implementierungsbefehl der Physiokratie selbst eine direkte Offenbarung Gottes sei. Doch freilich wird dies so nicht gesagt. Das Zitat ist vielmehr dahingehend zu verstehen, dass das göttliche Wort das Wort des Physiokraten (gewissermaßen das Wort Mauvillons) ist, aber dennoch signalartiger Ausdruck eines göttlichen Waltens bleibt, das sich, deistisch konzipiert, in den Naturgesetzen ausdrückt. Bis zuletzt kann Mauvillon die metaphysischen Fundamente seiner Konzeption nicht verhehlen, aber bis zuletzt werden sie auch in ihrer argumentativen Geringfügigkeit sichtbar. Die Physiokratie scheiterte als Umsetzung einer kapitalwirtschaftlich orientierten Theorie, war allerdings erfolgreich bei der Vorbereitung einer wirtschafts- und sozialliberalen Gesinnung, die einen Gutteil der politischen Tendenzen des 19. Jahrhunderts konstituieren sollte. Analoges darf für Mauvillon behauptet werden: Die Physiokratie in erfolgreicher Umsetzung zu sehen, konnte ihm nicht vergönnt sein, doch die Funktionalisierung physiokratischer Theoreme zugunsten einer aufkläreri-

|| 185 Vgl. den entsprechenden Beitrag in diesem Band. 186 Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Radikalaufklärung findet sich bei Frank Grunert (Hg.): Concepts of (radical) Enlightenment: Jonathan Israel in discussion. Halle 2014. 187 Mauvillon: Von der öffentlichen und privaten Ueppigkeit (s. Anm. 1), S. 128.

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schen Lebenseinstellung war ihm durchaus möglich. Jakob Mauvillons Los war es, der Vorfahre einer liberalen Radikalität zu sein, deren stärkste Argumente er teils nie wertschätzen, teils nicht mehr kennenlernen sollte.

Till Kinzel

Aufklärung und ökonomische Analyse Jakob Mauvillon und Christian Wilhelm Dohm im Streit um die Physiokratie Das 18. Jahrhundert bedeutete für die ökonomischen Wissenschaften eine erste große Blütezeit. Im Zentrum der Auseinandersetzungen standen dabei einerseits französische Ökonomen, wie sie vor allem von den sogenannten Physiokraten, etwa Quesnay oder Turgot repräsentiert wurden, andererseits britische Denker von Adam Smith bis Ricardo und Malthus.1 Sowohl die Physiokraten, die auch als Ökonomisten bezeichnet wurden, als auch Adam Smith waren entschiedene Gegner des Merkantilismus, vor dessen Hintergrund die Entstehung ihrer Theorien betrachtet werden muss.2 Während die deutsche Rezeption von Adam Smith anfangs vor allem mit Namen wie dem Übersetzer Christian Garve und dem Publizisten Friedrich Gentz verbunden ist, gehört die Physiokratie in ihren verschiedenen Varianten zu den wichtigen Referenzen ökonomischer Analyse in einer verhältnismäßig kurzen Phase des ökonomischen Denkens zwischen der alten Kameralistik und einem neuen Begriff der Ökonomie, der schließlich zur Nationalökonomie führte.3 Bei Autoren wie dem Kasseler (und dann ab 1785 Braunschweiger) Radikalaufklärer Jakob Mauvillon, dem auch das Werk von Adam Smith früh bekannt war,4 bei

|| 1 Siehe Joseph A. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse. Erster Teilband. Göttingen 2009, S. 290–320. Siehe den knappen Hinweis auf Mauvillon S. 294, wo es kontrastierend zu Johann August Schlettwein heißt, er sei »in vieler Hinsicht noch bedeutender [»was a still more excellent man in many respects«, heißt es im Original, T.K.], aber noch schwächer auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaft.« Der erste Essay Mauvillons über den Luxus wird von Schumpeter als unbedeutend (»negligible«) angesehen. 2 Siehe etwa Gerhard Streminger: Adam Smith. Wohlstand und Moral. Eine Biographie. München 2017, S. 134f. und S. 169–171. 3 Hans Maier: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre. München 1986, S. 196. Maier hält irrtümlich noch Garve für den ersten Smith-Übersetzer. 4 Es handelt sich keineswegs nur um eine »Hypothese«, dass Mauvillon bereits von Smith Kenntnis hatte. In seinen Physiokratischen Briefen schreibt er S. 6 ausdrücklich von seiner Bewunderung für »diesen Mann und seine Werke« und von dessen Hauptwerk als »einem herrlichen Buche«. Vgl. Diethelm Klippel: Der Einfluß der Physiokraten auf die Entwicklung der liberalen politischen Theorie in Deutschland. In: Der Staat 23.2 (1984), S. 205–226, hier S. 207–208 sowie Jochen Hoffmann: Jakob Mauvillon. Ein Offizier und Schriftsteller im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipationsbewegung. Berlin 1981, S. 185–188. Laut dem »Verzeichniß einer Sammlung von Büchern, einiger Kleidungsstücke u.s.w. welche den 19ten Mai d. J. in dem Hause Nro. 2442. auf der Kuhstraße meistbietend verkauft werden sollen« (Braunschweig 1794), Nr. 144–146 der unter Octavo aufgelisteten Bücher besaß Mauvillon zumindest eine spätere Ausgabe von Smiths Werk: »An inquiry into the causes of the wealth of nations; by A. Smith. The fourth ed., in 3 vol. London 1786.« https://doi.org/10.1515/9783110793611-008

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Friedrich Heinrich Jacobi5 sowie dessen Freund Christian Wilhelm (von) Dohm, mit dem auch Mauvillon in Göttingen bekannt geworden war,6 spielte die Rezeption der französischen Physiokratie eine bedeutende Rolle. Physiokratische Theorien wurden seit 1770 in die Diskussion eingespeist, wie sich exemplarisch am Briefwechsel Isaak Iselins mit Friedrich Nicolai zeigt. Iselin hatte sich intensiv mit einschlägigen Fragen befaßt und für die Allgemeine Deutsche Bibliothek z. B. Schriften des Physiokraten Johann August Schlettwein, verschiedene Texte zum Problem des Getreidehandels sowie auch die erste deutsche Übersetzung von Adam Smiths Untersuchung der Natur und Ursachen von Nationalreichthümern rezensiert.7 Er hatte auch Nicolai nachdrücklich auf physiokratische Schriften wie die Zeitschrift Ephémérides du citoyen hingewiesen. Der Verleger der ADB antwortet darauf am 6. November 1770: »Die Schrifften der Pariser Oekonomisten sind in der That hier nicht sehr bekannt.«8 Iselins eigene Auseinandersetzung mit dem physiokratischen Denken spiegelt sich auch in den folgenden Jahren in seinen vergleichsweise zahlreichen ökonomischen Schriften.9 Das ganze Netz der Diskussionen zu diesem Problemkreis kann ich hier nicht in extenso ausbreiten, obwohl es zweifellos eine genauere Analyse verdiente, die auch stärker auf entsprechende Zeitschriftenbeiträge eingehen müsste.10 Ein anderer || 5 Siehe Ralf Hillemacher: Die wirtschaftstheoretischen Anschauungen Friedrich Heinrich Jacobis. Frankfurt a. M. 1993. 6 Siehe Ilsegret Dambacher: Christian Wilhelm von Dohm. Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen aufgeklärten Beamtentums und seiner Reformbestrebungen am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Bern, Frankfurt a. M. 1974, S. 13f. 7 Die breitere Rezeption Smiths setzte allerdings erst später um das Jahr 1795 ein, was auch damit erklärt wird, die erste Übersetzung von 1776/78 habe »an Präzision und Lesbarkeit zu wünschen« übriggelassen. Siehe Karl Graf Ballestrem: Adam Smith. München 2001, S. 185. Wichtiger als die Frage der Lesbarkeit dürfte aber der Unterschied der Verhältnisse in England und Deutschland gewesen sein, so dass selbst »ein Gegner des Polizeistaates und Anhänger der englischen Selbstverwaltung wie Justus Möser« wesentliche Punkte der Lehre Smiths bekämpfte. Siehe Ricarda Huch: Untergang des Römischen Reiches Deutscher Nation. Deutsche Geschichte Band 3. Mit einem Nachwort von Gordon A. Craig. Zürich 1988, S. 233. 8 Holger Jacob-Friesen: Profile der Aufklärung. Friedrich Nicolai – Isaak Iselin. Briefwechsel (1767– 1782). Edition, Analyse, Kommentar. Bern 1997, S. 244. Zur Debatte über die Physiokratie zwischen Nicolai und Iselin siehe dort auch die Einleitung S. 101–112 sowie die Bibliographie der Rezensionen Iselins in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, S. 587–595. 9 Eine kommentierte Auswahl bietet jetzt Isaak Iselin: Ökonomische Schriften. Hg. von Lina Weber in Zusammenarbeit mit Carmen Götz. Basel 2016, wo allerdings die zahlreichen Artikel und Rezensionen zum Thema keine Berücksichtigung fanden (S. XII), die für die Rekonstruktion der »Diskussionsnetzwerke« besonders aufschlussreich sind. 10 Siehe zur Physiokratie-Debatte in Deutschland auch Richard T. Gray: Money Matters. Economics and the German Cultural Imagination, 1770–1850. Seattle, London 2008, S. 109–169 sowie schon früher aus marxistischer Perspektive Kurt Braunreuther: Über die Bedeutung der physiokratischen Bewegung in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein geschichtlich-politökonomischer Beitrag zur »Sturm-und-Drang«-Zeit. In: ders.: Studien zur Geschichte der politischen

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Aspekt, der hier außen vor bleiben muss, ist die Einbeziehung physiokratischen Gedankenguts in die Analyse der preußischen Monarchie, die Mauvillon gemeinsam mit dem Grafen Mirabeau erarbeitete, nachdem sie sich 1786 kennengelernt hatten;11 ihre Kritik am fridericianischen Staat habe, so Oscar Gsedl in seiner Frankfurter Dissertation über Mauvillon von 1926, naturgemäß auf ihren physiokratischen Anschauungen gefußt, wofür sie damals auch heftig kritisiert worden waren.12 Ich werde mich vor allem auf eine Rekonstruktion einer Auswahl von Mauvillons Auffassungen im ständigen Bezug auf Dohm sowie weitere, anonym gebliebene Kritiker konzentrieren und diese vor allem auch im Hinblick auf ihre philosophische Relevanz für den Zusammenhang von Aufklärung und ökonomischer Analyse befragen. Das kann nur in groben Zügen geschehen, zumal Mauvillon selbst, wie auch schon in der Sekundärliteratur konstatiert, keine im eigentlichen Sinne philosophische Darstellung einer natürlichen Ordnung als Grundlage des Physiokratismus liefert. Seine Argumentation konzentriert sich auf die ökonomischen Fragen im engeren Sinne. Diese ökonomischen Fragen haben auch politische Implikationen, worauf vor allem im Zusammenhang mit Mauvillons Ausführungen zum Despotismus zurückzukommen sein wird. Dabei soll aber auch nicht das vergessen werden, was bestimmte Rahmenannahmen aufklärerischer Auseinandersetzungen betrifft, die sich vielleicht als Vorschein von Ideen einer ›offenen Gesellschaft‹ (Popper) oder des freien Marktes der Ideen interpretieren lassen. Denn Mauvillon ist, unabhängig davon, was jeweils der Gegenstand der Verhandlung ist, ein Apologet der unbehinderten, freien Diskussion, die einen nicht bloß rhetorischen, sondern wesentlichen Teil seines Aufklärungsverständnisses ausmacht. So jedenfalls meine These, die ich im Folgenden zu erläutern versuchen möchte. Zunächst aber kurz zum Diskussionszusammenhang, der für das Weitere relevant ist. Jakob Mauvillon kommt erstens eine historische Bedeutung zu als Übersetzer wesentlicher Texte der Physiokratie aus dem Französischen ins Deutsche – nämlich Turgots Réflexion sur la Formation et la Distribution des Richesses von 1766.13 Mauvillon hatte zweitens aber auch unter einem Titel, den man in Frankreich be-

|| Ökonomie und der Soziologie. Berlin 1978, S. 1–104; zu Mauvillon siehe S. 53–67. Dieser Text entspricht der Inauguraldissertation Braunreuthers von 1954. 11 Auch in der Auswahlausgabe im Insel-Taschenbuch sind Kapitel zu Manufakturen und zum Handel abgedruckt. Siehe Mirabeau: Preußische Monarchie und Französische Revolution. Briefe nach Deutschland und Kapitel aus der »Preußischen Monarchie« in der Übersetzung von Jakob Mauvillon. Hg. von Horst Günther. Frankfurt a. M. 1989, S. 340–372. Vgl. auch Braunreuther: Über die Bedeutung der physiokratischen Bewegung (s. Anm. 10), S. 64–66. 12 Oscar Heinz Gsedl: Mauvillon und seine volkswirtschaftlichen Anschauungen. InauguralDissertation an der Universität zu Frankfurt. Köln 1926, S. 6 und S. 23–26. 13 Vgl. Anne Robert Jacques Turgot: Formation et Distribution des Richesses. Hg. von Joel-Thomas Ravix und Paul-Marie Romani. Paris 1997.

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reits anderweitig benutzt hatte, einen Aufsatz publiziert, für den er seinerseits Eigenständigkeit beanspruchte und bereits bei der Publikation präventiv etwaige Plagiatsvorwürfe zu entkräften suchte.14 Bereits der Sammelband, in dem der Beitrag »Von der öffentlichen und privat Ueppigkeit (Luxe) und den wahren Mitteln ihr zu steuern: nach den Grundsätzen der neuern französischen Physiokraten« abgedruckt ist, enthält ein Widmungsschreiben an Dohm, mit dem hier also offensiv die Auseinandersetzung gesucht wird.15 Dohm selbst antwortet dann auf Mauvillon in einem Essay im Deutschen Museum, der Einwände gegen Mauvillons Thesen formuliert. Und eben dieser Text, der einige Jahre später auch noch einmal separat gedruckt werden sollte, ist wiederum der Aufhänger für Mauvillons ausführlichste Publikation zum Thema überhaupt, die Physiokratischen Briefe an den Herrn Professor Dohm oder Vertheidigung und Erläuterungen der wahren Staatswirthschaftlichen Gesetze die unter dem Namen des Physiokratischen Systems bekannt sind. Dieses Buch erscheint 1780 in der Buchhandlung des Fürstlichen Waisenhauses Braunschweig,16 wurde also von dem damaligen Leiter Julius August Remer in Verlag genommen, der auf Friedrich Wilhelm Zachariä gefolgt war und den Versuch unternahm, das Unternehmen profitabler zu machen.17 Der Text wird in Johann Christoph Adelungs Allgemeines Verzeichniß neuer Bücher [a]uf das Jahr 1779 folgendermaßen vorgestellt:

|| 14 Zur französischen Physiokratie siehe Hans-Ulrich Thamer: Physiokraten und Anti-Physiokraten. Ökonomie, Staat und Gesellschaft im politischen Diskurs der französischen Spätaufklärung. In: Der moderne Staat und ›le doux commerce‹. Politik, Ökonomie und internationale Beziehungen im politischen Denken der Aufklärung. Hg. von Olaf Asbach. Baden-Baden 2014, S. 129–156. Siehe auch inklusive ihrer Rezeption durch Mauvillon den Überblick bei Ulrich Muhlack: Physiokratie und Absolutismus in Frankreich und Deutschland. In: Staatensystem und Geschichtsschreibung. Ausgewählte Aufsätze zu Humanismus und Historismus, Absolutismus und Aufklärung. Hg. von Notker Hammerstein und Gerrit Walther. Berlin 2006, S. 95–123 sowie zuvor schon Gsedl: Mauvillon und seine volkswirtschaftlichen Anschauungen (s. Anm. 12); Rubin Herz: Jakob Mauvillon und seine Stellung in der Geschichte der Nationalökonomie. Frankfurt a. M. 1908. 15 Siehe dazu Mordché Wolf Rappaport: Chr. W. Dohm. Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie. Inaugural-Dissertation Bern. Borna-Leipzig 1907 sowie Dambacher: Christian Wilhelm von Dohm (s. Anm. 6). 16 Im Folgenden parenthetisch zitiert nach dem Reprint Königstein/Ts. 1979. 17 Zu Remer fehlt bisher eine Monographie. Siehe sehr knapp Johann Joachim Eschenburg: Entwurf einer Geschichte des Collegii Carolini in Braunschweig. Berlin, Stettin 1812, S. 83; Martina Graf: Buch- und Lesekultur in der Residenzstadt Braunschweig zur Zeit der Spätaufklärung unter Herzog Karl Wilhelm Ferdinand (1770–1806). Frankfurt a. M. 1994, S. 35–36, S. 57–59; sowie Hans-Christof Kraus: Englische Verfassung und politisches Denken im Ancien Régime. 1689 bis 1789. München 2006, S. 420–423. Remer führte demnach die Verlagspolitik weiter durch ein »gemäßigtes, buntgemischtes Programm von Werken der schönen Literatur, von Sachbüchern und Ratgebern, von wissenschaftlichen, insbesondere naturwissenschaftlichen und philologischen Abhandlungen, von Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen« (S. 58).

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Man muß dem Hrn. Verf. dieser Briefe nachrühmen, daß er diese wichtige Materie mit vieler Geschicklichkeit bearbeitet hat. Man erkennet hier einen Mann, der mit der Staatswirthschaft genau bekannt ist und über alle dahin gehorige Geschäfte Bemerkungen und Betrachtungen angestellet hat. Der Herr Hauptmann hat in seiner Abhandlung von der Ueppigkeit das physiokratische Steuersystem vorgetragen; es hat sich aber nicht nur der Herr Kriegsrath Dohm in einer besondern Schrift gegen dieses System erklärt, sondern es sind auch Widerlegungen des Aufsatzes des Hrn. Mauvillon im Hannoverischem Magazin von 1778. und in den gelehrten Beyträgen zu den Braunschweigischen Zeitungen von 1779 erschienen. Daher vertheidigt er sich in dem gegenwärtigen mit vieler Gelehrsamkeit und Scharfsinnigkeit, und läßt sich durch Veranlassung der gegen ihn geschriebenen Aufsätze, auch in Nebenuntersuchungen über die Domainen und Regalien und andere erhebliche Materien ein. Weil die Grundsäule des physiokratischen Systems diese ist; daß die Landanbauer mit Recht allein die Hervorbringenden genannt werden können; so sucht er dieselbe gleich anfänglich zu verstärken; und da die Vortheile des physiokratischen Systems diese sein sollen, daß dem Volk die Last erleichtert und eine völlige Handels- und Gewerbefreyheit verschaft wird; so bestrebt er sich, dieselben deutlich und überzeugend zu beweisen.18

Eine weitere Besprechung des Buches, die etwas ausführlicher ausfiel und aus der Feder Isaak Iselins stammte, erschien in den Ephemeriden der Menschheit oder Bibliothek der Sittenlehre, der Politik und der Gesetzgebung und sei hier wenigstens aus bibliographischen Gründen erwähnt.19 Mauvillons Auseinandersetzung mit Dohm ist von Respekt getragen und der Bereitschaft, aus Einwänden zu lernen, auch wenn er nicht ohne Weiteres bereit ist, sich rasch geschlagen zu geben. Die Wahrheit einer Sache könne nur gewinnen, wenn sie Einwänden ausgesetzt sei: Ich bin weit von der Denkungsart entfernt, zu wünschen, daß man selbst gegen das, was ich für unbezweifelte und höchstnützliche Wahrheit halte, nicht schreiben möge; oder die Bekanntmachung solcher Einwendungen verhüten zu wollen oder nur nicht gerne zu sehen. Nein, ich bin überzeugt, daß keine erwiesene Wahrheiten (die wenigen geometrischen ausgenommen) es für alle Menschen sind, oder seyn können, daß aber ächte Wahrheiten immer mehreren Menschen erwiesen werden, je mehr pro und contra darüber geschrieben wird. (S. 2)

Die Wahrheit des physiokratischen Systems, von der Mauvillon über jeden Zweifel überzeugt ist, könne nicht allen anderen Menschen schon deshalb ebenso zweifellos wahr erscheinen, »weil noch so wenig dagegen geschrieben worden ist« (S. 2f.). Gerade dieser Punkt ist wichtig, weil die Rolle des Zweifels gerade in Dohms Gegenschrift stark gemacht worden war, wo dieser nämlich einerseits zugesteht, er könne aufgrund seiner Fähigkeiten keineswegs eine Gesamtwürdigung und Kritik der Physiokratie schreiben, schon gar nicht in einem beschränkten Zeitschriftenaufsatz, andererseits aber verkündet, ihm blieben trotz der unbestreitbar reinen Absichten

|| 18 Johann Christoph Adelungs Allgemeines Verzeichniß neuer Bücher, mit kurzen Anmerkungen. Nebst einem gelehrten Anzeiger. Auf das Jahr 1779. Leipzig 1779, S. 587f. 19 Siehe 2. Bd. 1780, S. 285–302.

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der Physiokraten sowohl in Frankreich als auch in Deutschland »immer noch Zweifel«, von denen er »einige der wichtigsten« vorlege. Und im Sinne einer Rhetorik der freundschaftlichen Auseinandersetzung betont auch Dohm, er schreibe nicht, um zu lehren, sondern um belehrt zu werden; »ich streite nicht gegen Personen, sondern gegen Säze, wenn anders lehrbegierige Mittheilung einiger Zweifel Streit genannt werden könnte.«20 Zugleich ist die Schrift zwar an Dohm als urteilsfähigen Adressaten gerichtet, polemisiert aber auch gegen einen ungenannten bzw. (zumindest bisher) unbekannten hannoveranischen Rezensenten, der sich vor allem gegen die von Mauvillon dargestellte physiokratische Steuerpolitik wandte (S. 4). Mauvillons Entscheidung für die Form des Briefes als Einkleidung seiner Schrift zielt darauf ab, Dohm als »unpartheyischen, einsichtsvollen Forscher der Wahrheit« in Szene zu setzen, dessen Urteil er unterworfen werden möchte. Zudem stelle die Freundschaft zwischen ihnen sicher, dass die Auseinandersetzung eine um die Sache sein wird und ohne Bitterkeit ablaufen werde (S. 5). Die Schlüsselbegriffe einer solchen Auseinandersetzung werden mehrfach erwähnt: Billigkeit, Schonung und Mäßigung, auch wenn dies keineswegs den Gebrauch harter Wendungen ausschließen muss, was freilich immer ein Ausdruck menschlicher Schwachheiten bleibt (S. 6). Die Grundintention Mauvillons scheint eindeutig eine sokratische zu sein, insofern er bestrebt ist, »die Wahrheit über so wichtige Materien an den Tag bringen zu helfen«, weshalb es ihm angeblich einerlei sei, »ob Sie mich oder ich Sie bekehre. Eins von beyden aber wünsche ich sehnlich und mein größtes Verlangen ist Anlass zu bekommen recht genau zu untersuchen, wo die Wahrheit ist, und sie zu finden« (S. 6f.). Mauvillon hatte nun ursprünglich gehofft, das physiokratische System würde unter dem Minister Turgot zu grundlegenden ökonomischen Reformen führen, und zwar auch in Deutschland, denn angesichts der Bewunderung und Liebe für alles Französische wäre dies im Bereich des Möglichen gewesen, hätte man Turgot nicht zu früh abgesetzt (S. 7–9).21 Diese Absetzung lässt er allerdings nicht als Einwand gegen die Physiokratie gelten, denn sie habe damit letztlich nichts zu tun. Die Erörterungen führen an dieser Stelle bereits zu einer grundlegenden Reflexion auf das bekannte Theorie-Praxis-Problem, das zugleich auch das Problem der Politikberatung in sich schließt und damit die Frage, inwiefern politische Probleme überhaupt einer solchen Anwendung zugänglich sind. Mauvillon muss sich nämlich erstens mit dem Einwand befassen, dass das System der Physiokraten erst genau untersucht werden müsse, »ehe man es zur Wirklichkeit bringt«, also umsetzt. Dem

|| 20 Christian Wilhelm Dohm: Ueber das physiokratische System. In: Deutsches Museum, 10. St., Oktober 1778, S. 306. 21 Siehe dazu Eberhard Weis: Der Durchbruch des Bürgertums. 1776–1847. Frankfurt a. M. 1983, S. 99f.

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stimmt er selbstredend zu, weil es »rasend«, also verrückt, wäre, »wenn man es sogleich ohne weitere Untersuchung einführen wollte« (S. 8). Der Terminus Untersuchung ist hier wiederum grundlegend, und Turgot wird als Beispiel angeführt, gerade weil dieser eine solche Untersuchung vorgenommen hatte. Andere können aber diese Untersuchung nicht einfach an ihn delegieren, sondern es bedarf der eigenen inneren Erkenntnis und Überzeugung vom Nutzen der Physiokratie (S. 10). Diese müsse daher »genau geprüft und untersucht werden« (S. 11). Mauvillon akzeptiert nun aber keine bloß theoretisch bleibende Einsicht, denn wenn nach einer Prüfung das System – es fragt sich natürlich wiederum: von wem? – als »das wahre und einzige vortheilhafte« erkannt sei, so fährt er fort, »dann muß man auch zu dessen Einführung würklich schreiten«, ohne sich von gleichsam methodologischen und prinzipiellen Einwänden abhalten zu lassen, wie sie paradigmatisch der Braunschweiger Rezensent formuliert hatte (S. 11), den Mauvillon, auch das ist im übrigen typisch für seinen Argumentationsstil (die zentrale Einwände formulierende Braunschweigische Besprechung ist im Anhang seines Buches vollständig wiedergegeben), ausführlich zitiert: In der Staatswissenschaft und höhern Policey ist es nur gar zu oft der Fall, daß, wenn man am klärsten zu sehen glaubt, man oft am meisten im finstern tappt. Denn die Gegenstände haben gar zu viele Seiten, von welchen sie angesehen werden können. Die Erfahrung von so vielen fruchtlos abgelaufenen Projekten beweiset diesen Satz zu Genüge, und kann also ein Regent nicht vorsichtig genug seyn, ehe er zur Umänderung einer einmal mit der Regierungsform alt gewordenen Einrichtung die Hand biethet. Alles hängt in einer fehlerhaften Einrichtung gleichwohl oft so genau an einander, daß man nicht selten mit der kleinsten Veränderung in der ganzen Maschine eine Stockung veranlasset. Ursach und Würkung stehen in diesem weitläuftigen Gebäude oft so sehr weit von einander ab, daß der Einfluß der einen auf die andere gar leicht dem geübtesten Auge entwischt. (S. 397f.)

Das Theorie-Praxis-Problem wird also von Mauvillon in einer möglicherweise etwas reduktiven Form gelöst, weil er meint, es liege im Bereich des Möglichen, das »einzige vorteilhafte« System zu erkennen, während die entgegengesetzte Politikkonzeption eher auf Pragmatik und Klugheit in Bezug auf konkrete Situationen setzen dürfte. (Paradigmatisch z. B. verkörpert in der skeptischen Politikphilosophie Michael Oakeshotts.) Zweifellos liegt hier, wie schon die ironischen Zweifel Dohms gezeigt haben, ein grundlegender Dissens hinsichtlich des Status einer politischen Philosophie oder Theorie mit Blick auf deren Praxisrelevanz vor, auch wenn dies von diesen Autoren nicht systematisch entfaltet wird. Im Allgemeinen gelten die Physiokraten insofern als spezielle Untergruppe der Aufklärer, als sie »gegenüber einem politischen Individualismus und den Forderungen einer politischen Repräsentation der ›bürgerlichen‹ Eigentümer skeptisch blieben und darum […] alle Erwartungen auf einen absoluten Staat setzten.« Ein absoluter Staat in diesem Sinne war aber, wie Hans-Ulrich Thamer bemerkt, »mehr

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zum Schutz der natürlichen Ordnung und der Marktwirtschaft aufgerufen als zur Regulierung und Kontrolle aller gesellschaftlichen Beziehungen und Vorgänge.«22 Die Neigung zum Absolutismus des Staates kann so gleichsam naturrechtlich legitimiert werden. Wenn auch die Menge von Mauvillons eigenen politischen Äußerungen Hoffmann zufolge begrenzt ist, war jener doch ein entschiedener Befürworter einer Entstaatlichung des Wirtschaftslebens, was Hoffmann so interpretiert, dass sich mit diesem »Bekenntnis zum Physiokratismus auch eine entschiedene Wendung gegen das absolutistische Herrschaftssystem« verbinde. Die Botschaft an die Fürsten, die Anwendung der Physiokratie würde ihrer Machtstellung zugutekommen, hält Hoffmann für ein »rein taktisches Manöver zur realpolitischen Durchsetzung des von ihm vertretenen Systems«, doch sei zugleich klar, dass Mauvillons physiokratisches System prinzipiell mit verschiedenen politischen Systemen vereinbar ist.23 Mauvillon sagt von sich selbst, er sei kein »erstaunlicher«, d. h. sehr großer, »Anhänger des Despotismus«, bemüht sich aber um eine differenzierte Betrachtungsweise, insofern er auch den Despoten als menschlicher darstellt, als es seine Kritiker glauben. Seiner Auffassung nach würden die Despoten, richtig beraten, Anordnungen mit verderblichen Folgen aufheben (S. 117). Erst viel später, im 19. Brief an Dohm, kommt Mauvillon auf das Problem des Despotismus, den er wohl als identisch mit der Monarchie ansieht,24 zurück, indem er fragt, wieso jener den Physiokraten (Ökonomisten) den harten Vorwurf einer »sonderbaren Vorliebe für den alles ebnenden erblichen Despotismus« mache (S. 324). Hier wendet sich Mauvillon entschieden dagegen, die Physiokratie mit dem Despotismus in Verbindung zu bringen, da dies mit der »Natur des Systems« nichts zu tun habe, sondern nur zufällig durch die Erfinder eine solche Verbindung konstruiert werden könne. Es liegt im Interesse der Physiokraten, ihr System als unabhängig von bestimmten Vorlieben für eine politische Ordnung darzustellen: »Das System paßt auf Monarchien so wohl als auf Freystaaten, und von der Seite muß es allein betrachtet werden« (S. 324). Denn es besteht unter den herrschenden Bedingungen die Gefahr, das physiokratische System als rein ökonomisches könnte von seinen Gegnern denunziert werden, als »sey damit auf bürgerliche Freyheit und auf Veränderung der unumschränkten monarchischen Regierungsform in eine republikanische abgezielt« (S. 325). Mauvillon hat hier offenkundig vor allem die Verwirklichungsmöglichkeiten im Sinn, die sich stark vermindern, wenn sich gerade bei den für neue Gedanken offenen Menschen das Vorurteil festsetzte, die Physiokratie sei mit dem Despotismus verbunden. Denn gerade diese Menschen seien »immer gewissermaaßen der || 22 Thamer: Physiokraten und Anti-Physiokraten (s. Anm. 14), S. 139–156, hier S. 142. 23 Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 4), S. 222f.; Gsedl: Mauvillon und seine volkswirtschaftlichen Anschauungen (s. Anm. 12), S. 20f. 24 Das ergibt sich z. B. aus seiner rhetorischen Frage, ob »nicht ⅞ von Europa unter einer Regierungsform [lebe], die, wenn man sie schon nicht erblicher Despotismus heißt, doch nichts anders als erblicher Despotismus ist« (S. 325).

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Freyheit geneigt, und [sie] hassen die Despotie«, so Mauvillon, weshalb der Vorwurf der Vorliebe für den Despotismus besonders wirksam ist: »Es ist blos ein Mittel die Sache und ihre Vertheidiger in ein gehäßiges Licht zu setzen, aber auch das untrüglichste, so verhaßt zu machen als möglich und hat mit den Mitteln die das Odium theologicum erwecken können, sehr viel ähnliches« (S. 326). Andererseits kann aber auch, will man konkret auf eine Verbesserung der bestehenden Gesellschaft durch Aufklärung der Herrscher hinwirken, nicht einfach propagiert werden, wie gut sich das physiokratische System »mit der politischen Freyheit verbindet« (S. 326f.). Diese in praktischer Hinsicht relative Gleichgültigkeit gegenüber der konkreten Form der Staatsverfassung kann durchaus als Gemeingut von Ökonomen wie Quesnay und Turgot sowie Smith, aber z. B. auch von Dohm, angesehen werden.25 Man mag hier auch ein grundlegendes Problem der physiokratischen Gesellschaftsauffassung erblicken, da es sehr wohl eine praktische Konsequenz ihrer Theorie sein konnte, sich für eine Verbindung von Aufklärung und Despotismus auszusprechen oder sie zumindest für möglich zu halten. Bei Mauvillon selbst ist diese Verbindung ebenfalls nachweisbar, auch wenn er die noch unzureichende Aufgeklärtheit des Despotismus moniert, der noch nicht gelernt habe, »das Wohl seiner Knechte als das Seinige zu betrachten«.26 Mauvillon glaubt, in der Ruhmsüchtigkeit der Monarchen einen Hebel zu sehen, um aufgeklärte Reformen in ökonomischer Hinsicht zu ermöglichen. Denn der »Despotismus« ist nach seiner Meinung auch von etwas beeinflusst, was man mit einem modernen Ausdruck die öffentliche Meinung nennen kann. Es ist daher kein Zufall, dass Mauvillon in seiner Erörterung des Despotismus auf die sogenannte »Preßfreyheit« zu sprechen kommt.27 Diese ›Preßfreiheit‹ widerspricht nämlich Mauvillon zufolge eigentlich dem Despotismus: »Unter allen Dingen in der Welt ist vielleicht keine dem Despotismus im Grunde verderblicher als die Preßfreyheit.« Die Pointe besteht für Mauvillon aber darin, dass diese Freiheit dennoch »heut zu Tage immer mehr empor kömmt«. Der Despotismus mache sich gar »eine Ehre daraus sie zu begünstigen; weil er sieht, daß Schimpf und Hohn von Seiten aller Ausspender des Ruhms, auf die ruht, die die Freyheit zu

|| 25 Peter Minowitz: Profits, Priests, and Princes. Adam Smith’s Emancipation of Economics from Politics and Religion. Stanford 1993, S. 28f.; Franz Dumont: Dohm, Christian Wilhelm von. In: Lexikon zum Aufgeklärten Absolutismus in Europa. Herrscher – Denker – Sachbegriffe. Hg. von Helmut Reinalter. Wien 2005, S. 199f. 26 Siehe Kraus: Englische Verfassung und politisches Denken (s. Anm. 17), S. 492, Anm. 3, mit Bezug auf Jakob Mauvillon: Sammlung von Aufsätzen über Gegenstände aus der Staatskunst, Staatswirthschaft und neuesten Staaten Geschichte. Bd. 1. Leipzig 1776, S. 141; bei Kraus S. 492–497 auch Weiteres zur Begrifflichkeit von Despotismus und Absolutismus. 27 Zum zeitgenössischen Kontext dieses Konzepts siehe Lothar Jordan: »Preßfreyheit ist ein mächtiges Wort« – das durch Bodes Übersetzungen 1772/74 in den öffentlichen Diskurs eingeführt wird. In: Johann Joachim Christoph Bode. Studien zu Leben und Werk. Hg. von Cord-Friedrich Berghahn, Gerd Biegel und Till Kinzel. Heidelberg 2017, S. 301–312.

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denken und zu schreiben unterdrücken« (S. 112). Dies Abhängigkeit auch des Despotismus von der öffentlichen Meinung dürfte auch bewirken, dass er im 18. Jahrhundert, dies könnten Mauvillon zufolge »ihm seine ärgsten Feinde nicht absprechen, erleuchtet und menschlich und gütig gesinnt« sei (ebd.). Mauvillon nennt die öffentliche Meinung den »allgemeine(n) Geist des Jahrhunderts, den Volksgeist«, die als »unsichtbare und unwiderstehliche Ströme« fungieren, »die mit allmächtiger Gewalt den Despotismus fortreissen«, das physiokratische System einzuführen. Dieses entspräche zudem dem eigentlichen Selbstinteresse bzw. Eigennutzen des Despotismus, weshalb die Lösung der Schwierigkeiten sich für Mauvillon recht einfach darstellt: Es käme als blos darauf an, daß menschenliebende Schriftsteller sich vereinigten, die grossen Vorzüge des physiokratischen Systems in ihr hellstes Licht zu setzen, alle Schwierigkeiten dagegen zu heben, und die Vortheile desselben so einleuchtend zu machen, daß diese Ueberzeugung die allgemeine Denkart der Menschen ausmachte; so würde der Despotismus, seiner Einführung nirgends widerstehn. (S. 113)

Der Despotismus ließe sich demzufolge also politisch beraten, weil er, gewönne er erst einmal die Erkenntnis von den »verderblichen Folgen« seiner Anordnungen, diese Letzteren »selbst mit Aufopferung einiger ihrer Vortheile« aufhübe (S. 117). Mauvillon setzt für die Verwirklichung seiner physiokratischen Reformen auf das aufgeklärte Eigeninteresse der Despoten, die in seiner Vorstellungswelt eigentlich keine widerstreitenden Interessen haben können. Mauvillon folgt in seiner Auslegung der Physiokratie nicht einfach blindlings als Popularisator den Thesen der französischen Autoren, sondern setzt auch eigene Akzente (S. 320). So macht er im Zusammenhang mit der Kritik des hannoveranischen Rezensenten deutlich, dass er mitnichten alles von den Franzosen übernimmt, denn, so sagt er, »ich habe mir ihr System mehr aus einigen ihrer Schriften abstrahirt und in meine eigne Form gegossen, als daß ich ein sehr fleißiger Leser alles dessen sie geschrieben haben gewesen wäre.« Das aber heißt: »Es kann daher auch wohl manches in meinen Aufsätzen seyn, das nicht ganz physiokratisch ist, oder das von den französischen Oekonomisten nicht oder anders gesagt worden. Ich würde mich darüber sehr trösten wenn nur das was ich sage, bewährt gefunden würde. Wer aber dem Dinge durchaus einen Namen in [sich] geben wollte, möchte es Mauvillonisch nennen« (S.202). So erhebt er durchaus den Anspruch, einen eigenständigen Beitrag zur Lösung bestimmter Probleme der Besteuerung zu entwickeln, der nicht identisch mit den Vorschlägen der französischen Gründervätern des Physiokratismus ist. Mauvillon ist ein entschiedener Vertreter der Handels- und Gewerbefreiheit, und er geht davon aus, dass er sich in diesem Punkt mit Dohm einig sein wird (S. 235). Diese Handels- und Gewerbefreiheit betrifft sowohl den Außen- als auch den Binnenhandel. Mauvillons Stoßrichtung ist auf Erhöhung bzw. Freisetzung des Wettbewerbs gerichtet, denn die bestehenden Gilden oder Zünfte stellen Monopole

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dar, die somit zu einer Verminderung des möglichen Wohlstandes beitragen. Die Existenz der Gilden »unterdrückt offenbar allen Arbeitstrieb, und ist gerade der Natur zuwider, die dem der größre Fähigkeiten und Fleiß gebraucht nothwendig mehr Güter bestimmt hat« (S. 236). Das naturrechtliche Prinzip, dass der Einzelne das Recht auf den Ertrag seiner freien Arbeit hat, bedeutet auch die Zurückweisung der Regulierung von Konsum. Mauvillon plädiert zwar für staatlich kontrollierte Prüfungen, aber gegen eine festgesetzte Lehrzeit, gegen die Wanderpflicht der Gesellen, weil sie oft gar nicht nötig sei für das, was er tun möchte (S. 235).28 Die Freisetzung des in der merkantilistischen und zunftgemäß geordneten Wirtschaft29 gehemmten Arbeitstriebes werde wohltätige Folgen zeitigen, weil so mehr Gesellen als Meister arbeiten und entsprechend eigene Familien gründen könnten. Dabei schwingen für Mauvillon immer auch moralische Argumente mit, denn ein Geselle, der keine eigene Familie zu unterhalten hat, verprasse sein verdientes Geld. Da ein ausgesprochenes Ziel der physiokratischen Politik darauf geht, den Wohlstand durch Bevölkerungsvermehrung zu heben, ist jede Aufhebung von Beschränkungen, die das Gründen eines eigenen Hausstandes verhindern, zu begrüßen (S. 244). Was die Manufakturen betrifft, so plädiert Mauvillon, was mir etwas seltsam erscheint, dafür, die Tätigkeiten dezentral bei den Arbeitern zu Hause erledigen zu lassen, statt in einem Gebäude, wo dann 30 oder 40 zugleich arbeiten. Er hält es sogar für denkbar, dass man auf diesem Wege die Porzellanproduktion betreiben könnte, scheint mir aber doch hier massiv die Produktivitätseffekte einer stärker arbeitsteiligen und komplexen Arbeitsorganisation zu unterschätzen. Mauvillons Wirtschaftspolitik zielt also keineswegs auf eine offensive Industrialisierung, weil er deren wohlstandsmaximierende Dynamik nicht zu erkennen vermag. Die Steuerreform Mauvillons, die physiokratisch auf eine starke Vereinfachung zielt, soll als weiteren Effekt auch die Verminderung der Staatsbesoldeten mit sich bringen – darin sieht er einen massiven Vorteil für die Gesamtwirtschaft. Mauvillon unterscheidet, etwas abweichend von Quesnays Einteilung, die Hervorbringenden, die Arbeitenden und die besoldete Klasse. Auch versucht er, insbesondere den Einwand seiner Kritiker, darunter auch Dohm, zu entkräften, nicht nur die landbauende Klasse könne als hervorbringende bezeichnet werden (S. 13). Dohm war mit den ökonomischen Denkern seiner Zeit wie Joseph von Sonnenfels und Johann Georg Büsch gut vertraut und teilte zumindest partiell deren Auffassungen; auch Adam Smith kennt er schon im Jahre 1778, doch scheint dessen nationalökonomisches Denken keinen nachhaltigen Einfluss auf ihn ausgeübt zu

|| 28 Siehe auch Gsedl: Mauvillon und seine volkswirtschaftlichen Anschauungen (s. Anm. 12), S. 21. 29 Siehe zu diesen ökonomischen Bedingungen exemplarisch die umfassende Darstellung von Peter Albrecht: Die Förderung des Landesausbaues im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel im Spiegel der Verwaltungsakten des 18. Jahrhunderts (1671–1806). Braunschweig 1980.

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haben.30 Dohm teilt mit den Physiokraten 1. die Wertschätzung der Landwirtschaft, 2. die Ablehnung der einseitigen Förderung von Manufakturen und des Handels.31 Gegen die Vorstellungen der Physiokraten hielt er eine »fortschreitende Aufteilung des Bodens in kleinere Güter« für »das beste Mittel zur Intensivierung der Landwirtschaft«. Dohm glaubte aber nicht wie die Physiokraten, »daß nur auf den Landbau der Wohlstand eines Volkes mit Sicherheit gegründet werden könne«.32 An diesem Punkt lohnt es sich, weniger auf die ökonomischen Ausführungen im eigentlichen Sinne einzugehen, als vielmehr die anfangs bereits angesprochene aufklärerische Form der Auseinandersetzung Mauvillons herausstellen. Denn er führt an eben dieser Stelle in der Auseinandersetzung mit seinem hannoveranischen Rezensenten aus, was man seine philosophischen Prinzipien des Wahrsprechens, der sogenannten Parrhesie, nennen könnte.33 Mauvillon greift diese Rezension auf, indem er ausführt: Er [der Rezensent] führt mir recht scharf zu Gemüthe, daß ich mich ja selbst schmähe, indem ich auch zum Stande der Besoldeten gehöre: und weil er nicht begreift wie ein Mensch, das was er für Wahrheit hält sagen könne, wenn es schon seinen persönlichen Verhältnissen nachtheilig ist, so sucht er sich die Sache dadurch begreiflicher zu machen, daß ich wohl nicht die Besoldeten des Civilstands, sondern jene in rothen, blauen, weissen, grünen Röcken, mit gelben, grünen, rothen, schwarzen, Aufschlägen gemeint haben möchte. Weiß der Hannoveraner nicht wie unschicklich es ist, die Privatverhältnisse eines Schriftstellers ins Spiel zu bringen, wenn man sein Buch widerlegt. (S. 249f.)

Mauvillon fährt hier noch länger fort, die für ihn grundlegende Auffassung zum Besten zu geben, es komme nicht darauf an, was ein Mensch sei, sondern auf das, was er sagt. Wenn man ihn widerlegen wolle, müsse man dessen Argumente zurückweisen, nicht aber irgendwelche anderen Dinge anführen, die mit der Sache selbst nichts zu tun haben. || 30 So Dambacher: Dohm (s. Anm. 6), S. 99. Zu Dohms ökonomischen Vorstellungen siehe auch seine Vorträge von 1785/86, an denen auch Alexander und Wilhelm von Humboldt teilnahmen, und in denen Mauvillon im Kontext der Physiokratie erwähnt und seine Kritik an ihr wiederholt wird. Siehe die handschriftliche Nachschrift der Vorlesung in Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften. Siebenter Band, zweite Hälfte: Paralipomena. Hg. von Albert Leitzmann. Berlin 1908, S. 519– 539, hier S. 521 und S. 531. Dohm betont als Quintessenz der Physiokratie gegenüber dem Merkantilismus (den er »Handlungssystem« nennt) die »völligste Handelsfreiheit« (ebd., S. 538). Wilhelm von Humboldts Eintreten für eine »Marktwirtschaft in Reinkultur« verdankte sich sicherlich auch diesem Diskussionszusammenhang. Vgl. Jens Petersen: Wilhelm von Humboldts Rechtsphilosophie. Berlin, Boston 32016, S. 184. 31 Dambacher: Christian Wilhelm von Dohm (s. Anm. 6), S. 100. 32 Ebd., S. 133. 33 Diese Formulierung im Anschluss an die vom späten Foucault in die Diskussion eingebrachten Überlegungen. Siehe Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83. Frankfurt a. M. 2009; ders.: Der Mut der Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983/84. Berlin 2010.

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So entwickelt Mauvillon denn auch, obwohl zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Physiokratischen Briefe selbst als Professor am Kasseler Collegium Carolinum tätig, in seiner an einen anderen Kasseler Professor gerichteten Schrift34 eine weitreichende und seinen eigenen Worten nach allerdings ernst gemeinte Konzeption einer vollständigen Privatisierung des Bildungswesens einschließlich der Universitäten.35 Hier läuft Mauvillons Polemik rasch zur Hochform auf, stellt er sich hier doch, was die Darstellungsform betrifft, in eine Tradition der Gelehrtensatire, die im 19. Jahrhundert in Schopenhauers polemischen Tiraden gegen die Universitätsphilosophie einen Höhepunkt erreichen sollte.36 Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass Mauvillon selbst seine Charakterisierung des negativen Zusammenhangs von Philosophie und Universitätsprofessuren zweifellos nicht als bloße Satire gemeint hat. Denn indem er die Professoren in einen Gegensatz zu den wirklichen Geistesgrößen zu setzen sucht, zielt er auf eine allgemeine Einsicht über die Auswirkung von Universitäten auf die Geistesbildung. Mauvillon möchte die staatlichen Bildungsinstitutionen abschaffen, was unter anderem auch den Zweck haben soll, die Gelehrten, die »sich anjetzt so schändlich durch Speichelleckerey gegen die Grossen« erniedrigten, unabhängig zu machen, wie es auch sein sollte, damit sie ihre ursprüngliche Würde wiedererlangen könnten (S. 271). Er zielt also zum einen auf die Unabhängigkeit der Gelehrten von den »Großen«. Zum anderen will er aber auch den von einer Universität seiner Meinung nach geförderten einheitlichen Geist bekämpfen, der noch durch die große Wirkung eines einzelnen Lehrers auf unzulässige Weise befördert wird, statt dass sich durch eine auch geographische Streuung der Gelehrten die Einseitigkeiten ihrer Systeme abschwächten. Es gebe »eine gewisse allgemeine Denkungsart«, die an einer Universität herrsche; und der Gelehrte müsse diese Denkungsart übernehmen, »er mag wollen oder nicht, wenn er nicht lebenslang der schrecklichsten Verfolgung ausgesetzt seyn soll.« Weil aber der Gelehrte es meistens sogar wolle, kämpfe er nicht einmal anonym gegen dieses Übel, das darin besteht, dass sich ein einheitlicher Geist über Tausende ausbreite: »Ist ein berühmter Lehrer da, der viele Dinge mit einem gefärbten Glase sieht, so lernen unter tausend seiner Zuhörer 999 durch eben das gefärbte Glas sehen« (S. 273).

|| 34 Siehe Dambacher: Christian Wilhelm von Dohm (s. Anm. 6), S. 13–17. 35 »Viele Leser«, so Mauvillon (S. 269), »werden dies Projekt was ich hier angebe, fast für rasend und wenigstens in der Ausübung als ganz unmöglich betrachten.« 36 Vgl. Alexander Košenina: Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung. Göttingen 2003. Siehe vor allem Arthur Schopenhauer: Ueber Gelehrsamkeit und Gelehrte. In: Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften. Zweiter Band. Zweiter Teilband. Hg. von Arthur Hübscher. Zürich 1977, S. 524–536; ders.: Ueber die Universitätsphilosophie. In: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Erster Band. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich 1991, S. 139–199.

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Mauvillon veranschaulicht diese These in hyperbolischer Weise durch einen aufschlussreichen Verweis auf den damals offensichtlich sehr populären und hochgeschätzten sowie erst 1775 verstorbenen Philosophieprofessor und pietistischen Theologen Christian August Crusius. Er reflektiert damit zugleich das Problem philosophischer Schulbildung im universitären Kontext:37 Der selige Professor Crusius hat vermuthlich 30000 Crusianer in die Welt geschickt. Hätte er ihrer in andern Verhältnissen nur 1000 gezogen, und diese 1000 die übrigen 29000 gebildet, so wären sie gewiß nicht so krude Crusianer geworden, die Meinungen des seligen Mannes hätten sich nach den Köpfen mehr modificirt, geläutert: das gefärbte Glas hätte von Hand zu Hand seine Farbe verlohren, statt daß es auf die Art in voller Blendkraft aus Crusiussens Munde in Kopf und Gehirne seiner Schüler übergieng. (S. 273)

Mauvillon plädiert also offenkundig für eine Pluralisierung der Wissensvermittlung, bei der eine einseitige Betrachtungsweise im Bilde eines gefärbten Glases vorgestellt wird. Würde sich der direkte Einfluss eines Professors wie Crusius durch eine kleinere Studentenzahl reduzieren, hätte dies eine weniger »krude« Auslegung zur Folge gehabt.38 Mauvillon geht auf diesen Aspekt zwar nicht genauer ein, erörtert jedenfalls keine doktrinalen Beispiele zu dieser Lehrtätigkeit von Crusius. Auch überschätzt er zu polemischen Zwecken wohl die Nachhaltigkeit der Wirksamkeit von Crusius. Denn wenn man einer brieflichen Aussage Jean Pauls aus dem darauffolgenden Jahre 1781 Glauben schenken will, hatte sich diese modische Beliebtheit von Crusius bereits erledigt: »Die Krusianer sind fast mit ihrem Stifter verloschen; man ist im Jar

|| 37 Zeitgenössisch bestätigt Carl Friedrich Bahrdt den philosophischen (ausdrücklich jedoch nicht den theologischen!) Rang von Crusius: »[U]nleugbar war Crusius der größte Philosoph seiner Zeit, der als systematischer Kopf und tiefer Denker, an Gründlichkeit, Scharfsin, und besonders in Analysirung und genauer Bestimmung der Begriffe wenig seines gleichen hatte, bei dem also ein fleißiger Zuhörer wirklich sich zum Denker bilden konte.« Siehe Dr. Carl Friedrich Bahrdts Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale. Von ihm selbst geschrieben. Erster Theil. Berlin 1790, S. 118 und vgl. S. 119. Zu Crusiusʼ Stellung innerhalb der zeitgenössischen Philosophie Heinz Heimsoeth: Metaphysik und Kritik bei Chr. A. Crusius. Ein Beitrag zur ontologischen Vorgeschichte der Kritik der reinen Vernunft im 18. Jahrhundert. Berlin 1926; Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 1945, S. 254–264; sowie Desmond Hogan: Crusius, Christian August (1715–1775). In: The Bloomsbury Dictionary of Eighteenth-Century German Philosophers. Hg. von Heiner F. Klemme und Manfred Kuehn. London 2016, S. 149–154 sowie Christian August Crusius (1715–1775). Philosophy between Reason and Revelation. Hg. von Frank Grunert, Andree Hahmann und Gideon Stiening. Berlin 2021. 38 Zu Crusiusʼ Wirksamkeit siehe auch Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart, Leipzig 1999, S. 111–121 sowie Detlef Döring: Der Leipziger Philosoph und Theologe Christian August Crusius in seinen letzten Lebensjahren. In: Das Daedalus-Prinzip. Ein Diskurs zur Montage und Demontage von Ideologien. Steffen Dietzsch zum 65. Geburtstag. Hg. von Leila Kais. Berlin 2009, S. 409–436.

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1781 zu auf[geklärt], um ganz Krusianer zu sein, wenigstens zu klug, um es zu sagen.«39 Mauvillon diskutiert in der Folge die Auswahl der Professoren bzw. das Verhältnis der Professoren zu den großen Gelehrten. So seien »diese Männer nicht grosse Gelehrte weil sie Professoren sind; sondern sie sind Professoren weil sie grosse Gelehrte sind«. Auch stifteten sie auf den Universitäten keineswegs den Nutzen (»Vortheil«), den man glaube. Mauvillon will nun empirisch zeigen, dass der Professorenstand keineswegs die größten Gelehrten anzieht und heranbildet. Denn wäre dies der Fall, »so müßte man auch zeigen können daß alle oder nur die mehrsten grosse Gelehrten Professoren gewesen sind«. Doch davon kann keine Rede sein, wie ein Blick auf die Realität zeigt, wonach »diejenigen deren Ruhm über die ganze Welt als Wohlthäter als Erleuchter der Menschheit erschallt, keine Professoren waren« (S. 275). Mauvillon belegt dies mit einer eindrucksvollen Liste: Neuton [Newton] und Copernikus waren keine Professoren; Locke war kein Professor; Leibnitz war kein Professor; Bayle war es nur kurze Zeit an seinem Gymnasium; Hume war es nicht; Rousseau war es nicht. (S. 275)

Voltaire führt er nur an, um ihn nicht als Beleg anzuführen, weil er ahnt, dass die von ihm ironisch als große Männer bezeichneten Professoren, die niemand kennt, auf diesen weltbekannten Autor herabsehen würden. Mit einer fast schon sarkastischen Spitze zeigt Mauvillon zugleich auch seine Vertrautheit mit den Debatten um Voltaire in Deutschland, der auch in seinem eigenen Umfeld nicht unumstritten war und in manchen aufklärerischen Kreisen als Ikone galt.40 Mauvillon fährt fort: Unter uns ist Lessing nicht Universitätsprofessor, der Dichter Gesner nicht Universitätsprofessor so wenig als manche andre Gelehrte und Genies. (S. 275)

Mauvillon verweist anlässlich des Buches von Pauw über die Amerikaner, »das gewiß nicht auf einer Universität von einem Professor geschrieben« wurde,41 auf den

|| 39 So Jean Paul an Erhard Friedrich Vogel. Leipzig, November 1781. In: Jean Paul – Sämtliche Briefe digital. In der Fassung der von Eduard Berend herausgegebenen 3. Abteilung der Historischkritischen Ausgabe (1952–1964), im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften überarbeitet und herausgegeben von Markus Bernauer, Norbert Miller und Frederike Neuber (2018); http://jeanpaul-edition.de/brief.html?num=I_17 (Zugriff 13.05.2020). 40 Siehe z. B. Till Kinzel: Shakespeare, Voltaire und Eschenburg. Zur Theorie- und Praxisgeschichte der Literaturkritik im ›Frontsystem Aufklärung‹. In: Johann Joachim Eschenburg und die Künste und Wissenschaften zwischen Aufklärung und Romantik. Netzwerke und Kulturen des Wissens. Hg. von Cord-Friedrich Berghahn und Till Kinzel. Heidelberg 2013, S. 297–309. 41 Nur wenig später, nämlich schon 1781, erschien das Buch eines Universitätsprofessors, das in ungekannter Weise nachhaltig Furore machen sollte und damit Mauvillons Argument zumindest schwächer erscheinen lässt, auch wenn ihn dieses große Gegenbeispiel sicher nicht von seinem zugrundeliegenden Argument abgebracht hätte: Immanuel Kants Critik der reinen Vernunft.

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Umstand, »daß grosse Einsichten und Kenntnisse vom Professorstand wenigstens nicht unzertrennlich sind«, und das sei alles, was er sagen wolle, um sogleich auch gegen eine absolute Verwerfung des Professorenstandes zu argumentieren: Denn von diesem Stande verkleinerlich zu denken oder zu reden, kann mir im Traume nicht einfallen, theils weil ich schreibe; theils weil ich an Sie schreibe; theils weil jeder Stand immer was zufälliges ist, und der jeder der hoch oder verkleinerlich von irgend einem Stande denkt, einem sehr lächerlichen Vorurtheil unterworfen ist. (S. 275)

Mauvillon will durch die Unterscheidung von Professoren und gelehrten Personen plausibel machen, dass durch eine Abschaffung des Professorenstandes nicht auch die Gelehrsamkeit verschwinden würde. Wenn man ihn abschaffte, so seine Schlussfolgerung, würde es »doch noch sehr große Gelehrte geben« (S. 275). Auch wenn die radikale Universitätsreform, die Mauvillon vorschwebte, m. W. in den Reformideen der französischen Physiokraten keine Entsprechung findet, steht sie doch insofern in Übereinstimmung mit deren grundsätzlichen Ideen, als sie vor dem Hintergrund einer »Theorie der optimalen Staatsverfassung« verstanden werden kann.42 Eine »optimale« Staatsverfassung setzt aber eine vorgängige Orientierung an einem Guten voraus, in Bezug auf das alles in der besten Weise geordnet werden kann. Damit erweist sich auch die physiokratische Theorie Mauvillons letztlich als Ausdruck einer auf dem Naturrecht basierenden Theorie, vor deren Hintergrund »ein kaum zu erschütternder Glaube an die Segnungen eines völlig freien Wettbewerbs«, wie Jochen Hoffmann sagt, erst Sinn ergibt.43 Insofern könnte man meinen, es fehle dieser Staatstheorie an dem wesentlichen Moment der Selbstrelativierung, die sich in den pragmatischen Erkundungen des Zweitbesten zeigt, ohne welche politisches Handeln nicht der Gefahr der Einseitigkeit entgeht. Adam Smith hatte in seinem Wealth of Nations die physiokratische Theorie im Vergleich zum Merkantilismus nur deshalb relativ kurz abgehandelt, da sie eben deshalb, weil sie noch in keinem Land der Erde eingeführt worden war, auch nirgends einen Schaden

|| 42 Vgl. Rainer Gömmel, Rainer Klump: Merkantilisten und Physiokraten in Frankreich. Darmstadt 1994, S. 133. 43 Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 4), S. 193. Vgl. Gregor Bloch: Calvinismus und Aufklärung. Die calvinistischen Wurzeln der praktischen Philosophie der schottischen Aufklärung nach Francis Hutcheson, David Hume und Adam Smith. Tübingen 2019, S. 131f. und S. 374f. Zur Verbindung eines sowohl ökonomischen als auch politischen Liberalismus in der auf ökonomischer Basis entwickelten Naturrechtslehre der Physiokraten, die in der weiteren Forschung zu überprüfen wäre, siehe Reinhard Bach: Rousseau und die Physiokraten. Politische Ideengeschichte im begrifflichen Wandeln zwischen Aufklärung und Revolution. Wien 2018. Bach zufolge trägt die physiokratische Theorie sehr moderne Züge, weil Quesnay und seine Anhänger die politische Philosophie aus dem »Denkhorizont der traditionellen Moralphilosophie« herauslösten. Das schloss auch eine »Neufassung des traditionellen Naturrechts« ein sowie »dessen Zurückführung auf eine Soziologie wirtschaftlicher Interessen« (S. 18).

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angerichtet hatte.44 Gleichwohl gehört Mauvillon mit seinen physiokratischen Ideen in die Entwicklungsgeschichte der modernen Ökonomie in der Phase des Umbruchs vom Merkantilismus, dem zufolge »der wirtschaftliche Reichtum der Welt nicht wirklich vermehrt« werden konnte, hin zur Idee des Wirtschaftswachstums.45 Dies zeigt seine häufige Betonung der Produktivitätseffekte, die er sich von einer Anwendung der physiokratischen Grundsätze versprach. Zugleich war ihm aber auch klar, dass die Grundsätze der Physiokratie, wie sie von den Erfindern des Systems entwickelt wurden, eine Art Idealbild, »das Bild der höchsten Vollkommenheit in Regierungsanstalten« darstellen, das als Richtlinie dienen kann, auch wenn es nicht, was übrigens ohnehin nicht zu erwarten wäre, in toto umgesetzt werden kann. Mauvillon vergleicht das Verhältnis von Ideal und praktischer Anwendung bei der Physiokratie daher mit dem Erziehungskonzept in Rousseaus Émile: »Er entwirft das Muster der allervollkommensten Erziehung, wohl wissend daß es nie ein lebendiger Mensch würde ausführen können. Allein es verstand sich, daß jeder es nach Vermögen zu erreichen suchen sollte« (S. 321). Daraus folgt das Postulat einer genauen Beachtung der Umstände, unter denen Reformen stattfinden könnten. So gibt Mauvillon zu bedenken, dass ein Fürst die Gilden nicht allein abschaffen könne, wohl aber könne er neu hinzuziehende Handwerker von den Anforderungen der Gilden dispensieren und so schrittweise eine Annäherung an das Ideal erreichen (S. 322). Mauvillon selbst hatte, wie die Entwicklung seiner politischen Vorstellungen zeigt, entschieden radikale Intentionen, die unter den damaligen Bedingungen aber keine Aussicht auf unmittelbare Verwirklichung hatten. Daraus folgte eine Akkomodation an den »Despotismus« als faktische Macht. Doch sein Sohn Friedrich Wilhelm bezeugte den Republikanismus des Vaters.46 Und der mit Mauvillon in seinen Braunschweiger Jahren seit ca. 1788 befreundete Benjamin Constant empfand eine weitgehende Übereinstimmung in den politischen und religiösen Überzeugungen im Sinne eines demokratischen oder republikanischen Liberalismus.47 Aber auch || 44 Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Hg. von R. H. Campbell und A. S. Skinner. Bd. 2. Indianapolis 1981, S. 663 (IV 9). 45 Diesen Wandel des Weltbildes im Kontext der ideengeschichtlichen Voraussetzungen des Kapitalismus skizziert konzise Werner Plumpe: Das kalte Herz. Kapitalismus: die Geschichte einer andauernden Revolution. Berlin 2019, S. 74f. 46 Siehe Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzogl[ich]. Braunschweigschen Diensten verstorbenen Obristlieutnant Mauvillon. Gesammelt und herausgegeben von F[riedrich Wilhelm]. Mauvillon. Deutschland [d. i. Braunschweig] 1801, S. 7f. 47 Siehe Gustave Rudler: La Jeunesse de Benjamin Constant. 1767–1794. Paris 1909, S. 413–416. Leider hat Constant, der jahrelange Umgang mit Mauvillon hatte und auch dessen Witwe ausführlich befragte, eine geplante Biographie Mauvillons nicht geschrieben, und es haben sich auch keine Fragmente davon erhalten. Siehe Benjamin Constant: Écrits de jeunesse (1774–1794). Hg. von Lucia Omacini und Jean-Daniel Candaux. Tübingen 1998, S. 263f. sowie Kurt Kloocke: Benjamin Constant. Une biographie intellectuelle. Genf 1984, S. 53–57, S. 304. Ein Hinweis auf Mauvillons Bedeutung

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diejenigen, die dieser Radikalität mit einiger Skepsis gegenüberstanden, wie der mit Mauvillon befreundete Braunschweiger Gelehrte Johann Joachim Eschenburg, standen nicht an, die Originalität seiner Denkweise zu würdigen. Eschenburg schreibt am 24. Januar 1794 aus Anlass von Mauvillons Tod an den Halberstädter Kanonikus Johann Wilhelm Ludwig Gleim: »Mauvillon’s Absterben geht mir doch nahe; wir verlieren an ihm einen Originalkopf, wenn er gleich oft, und besonders zuletzt, Queerkopf war. Zwar nicht der einzige Originalkopf, den die leidige Politik zum Queerkopfe gemacht hat!«48

|| für die Herausbildung seiner politischen Überzeugungen fehlt in Oliver W. Lembcke, Florian Weber (Hg.): Republikanischer Liberalismus. Benjamin Constants Staatsverständnis. Stuttgart 2013 (vgl. S. 274). 48 Brief von Johann Joachim Eschenburg an Johann Wilhelm Ludwig Gleim vom 24. Januar 1794, Gleimhaus Halberstadt, Signatur Hs. A 657.

| 4 Religion und Politik

Hans-Peter Nowitzki

»Ich halte es für sehr gut, gegen die Religion zu schreiben« Mauvillons Briefwechsel mit Unzer, Diez, von Schmettau und von Knoblauch im Kontext der Radikalaufklärung der 1770er und 1780er Jahre

1 Mauvillons Briefwechsel – eine Bestandsaufnahme Im 73. Band der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek von 1802 wartet Johann Joachim Eschenburg, der verdienstvolle und umtriebige Übersetzer, Kritiker, Literarhistoriker und Professor am Collegium Carolinum in Braunschweig, mit einer Besprechung1 der ein Jahr zuvor im Braunschweiger Verlag Reichard(t) erschienenen Sammlung Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten auf. Sein Urteil fällt alles andere als günstig aus: Einlässlich referiert Eschenburg den im Vorbericht der Briefsammlung erklärten Beweggrund des Herausgebers Friedrich Wilhelm von Mauvillon (1774–1851), seinen 1794 verstorbenen Vater Jakob Eléazar Mauvillon zu rehabilitieren. Diesem werde zu Unrecht nachgesagt, er sei ein Jacobiner, ein Revolutionsfreund, ein heimlicher Mitarbeiter der sogenannten Propaganda, ein Mann, der geneigt sei, in Deutschland, und wo möglich, in der ganzen Welt, die Französische Revolution zu verbreiten, der nichts eifriger wünschte, als die Vertilgung aller Fürsten und Großen auf Erden u. s. w.2

So wie er als überzeugter Republikaner die beginnende Französische Revolution begrüßt habe, so sehr sei ihm das »revolutionäre Schreckensystem und die robespierranischen Greuel«3 verhasst gewesen. Mithilfe der Briefzeugnisse möchte der Sohn den untadeligen Charakter des Vaters belegen. Dabei habe er darauf geachtet, nur Briefe bereits Verstorbener zu publizieren, habe aber übersehen, dass

|| 1 Go [Antiqua; Johann Joachim Eschenburg]: Rez. In: Neue allgemeine deutsche Bibliothek 73 (1802), S. 530–536. 2 Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzogl. Braunschweigschen Diensten verstorbnen Obristlieutenant Mauvillon. Gesammelt und herausgegeben von seinem Sohn F[riedrich Wilhelm]. Mauvillon. Deutschland [i. e. Braunschweig] 1801, S. 4. 3 Ebd., S. 6 Anm. **). https://doi.org/10.1515/9783110793611-009

222 | Hans-Peter Nowitzki

Diez zu diesem Zeitpunkt noch lebte.4 Die Entscheidung des Sohnes brachte es zugleich mit sich, dass vor allem jene Briefzeugnisse dokumentiert wurden, die Jakob Mauvillon mit Freunden in seiner Jugend gewechselt hat. Die überwiegende Mehrzahl der Briefe, insgesamt 57 (+1), sind an Mauvillon gerichtet. Aus Mauvillons Feder stammen nur drei Briefe (ein Brief nennt Mauvillon weder als Verfasser noch als Empfänger). Auf die ersten zwei Drittel der 70er Jahre entfallen etwa 52 % der Briefe, auf das zweite Drittel der 80er Jahre etwa 11 % und auf das erste Drittel der 90er Jahre etwa 37 % des Briefkorpus. 77 % der Briefe stammen von vier Briefpartnern. Die Ausgabe rubriziert die Briefe unter den jeweiligen Briefpartnern, diese Teilbriefsammlungen folgen nach dem Jahr des jeweiligen Erstbriefs aufeinander: Ludwig August Unzer (1748–1774) mit acht Briefen aus den Jahren 1771 bis 1773, Heinrich Friedrich Diez (1751–1817) mit ebenfalls acht Briefen, nunmehr aber aus den Jahren 1773 bis 1775, Johann Joachim Christoph Bode (1731–1793) mit 13 Briefen aus den Jahren 1776 bis 1787 und Karl von Knoblauch zu Hatzbach (1756–1794) mit 15 Briefen aus den Jahren 1791 bis 1793. Tatsächliche Briefwechsel sind nur fragmentarisch dokumentiert, so der Briefwechsel Mauvillons mit dem Historiker Guillaume Thomas François Raynal (1713–1796) mit je einem Brief im Jahre 1775, der Briefwechsel mit Johann Jakob Bodmer (1698–1783), der drei gewechselte Briefe 1776/77 zählt, und der Briefwechsel mit dem Girondisten und französischen Innenminister JeanMarie Roland de La Platière (1734–1793) aus dem Jahre 1792. In der Epistelsammlung findet sich zudem eine 40seitige Abhandlung mit dem Titel Zufällige Gedanken eines patriotisch gesinnten Denkers über den wahren Werth des physiocratischen Systems, und über die Bedenklichkeiten der Güter-Besitzer gegen dessen unbedingte Einführung, die aus dem Jahre 1788 stammt und einen Ps.Colbert zum Verfasser hat. Dem nachgesetzt sind drei, ebenfalls Ps.Colbert zugewiesene Briefe, welche under dem Nahmen Colbert geschrieben sind, nebst den darin erwähnten Bemerkungen über das physiokratische System, aus dem Jahre 1792. Zusammen mit den Zufälligen Gedanken zählen die beiden physiokratischen Abhandlungen ungefähr 70 Seiten. Den Abschluss der Briefsammlung markieren zwei von Frauen verfasste Zuschriften an Mauvillon: ein Brief von der Autorin Dorothea Friderika Baldinger, geb. Gutbier, (1739–1786), und eine Briefepistel der Dichterin Anna Louisa Karsch, geb. Dürbach, (1722–1791). Eine Inhaltsübersicht oder ein texterschließendes Register sucht man vergebens. Der Rezensent Eschenbach hangelt sich in seiner Besprechung an den Korrespondenzpartnern entlang. Er beginnt mit Unzer und weist darauf hin, dass er gemeinsam mit Mauvillon die vieldiskutierten Briefe über den Werth einiger deutschen Dichter herausgegeben und sich als Rezensent an der Auserlesenen Bibliothek engagiert hatte. All das jedoch sei jetzt, 30 Jahre danach, altbacken, antiquiert, »ohne

|| 4 Mauvillon versichert in dem Vorbericht, er habe sich erkundigt und erfahren, Diez sei bereits verstorben (vgl. Mauvillons Briefwechsel [s. Anm. 2], S. 17 Anm. *) und S. 18).

»Ich halte es für sehr gut, gegen die Religion zu schreiben« | 223

sonderliches Interesse«.5 Den Unzer’schen Briefen folgen die von Diez, den der Herausgeber wohl verstorben glaubte und daher sicher nicht dessen Genehmigung für die Publikation der Briefe eingeholt haben dürfte. »Denn schwerlich hätte dieser darin gewilligt, die vielen in diesen Briefen vorkommenden Paradoxieen und unreifen Ideen ins Publikum bringen zu lassen.« Das bedeutet nicht, dass sich in Diez’ Briefen nicht auch Interessantes finde, manche Spur eines nicht gemeinen philosophischen Kopfs; der sich aber zu früh und fahrlässig zur Zweifelsucht und zum Materialismus neigte, und, statt ruhig zu prüfen, schnurstracks auf die Gründung einer neuen psychologischen Theorie ausgieng.6

Bodes Briefe widmen sich überwiegend den Freimaurern und den Illuminaten und könnten daher zumeist auf wenig Interesse hoffen. Von Knoblauchs Briefe hingegen verdienten Aufmerksamkeit, geben sie doch Einblicke in dessen Bildungsgeschichte, zeigen aber auch seinen »Hang zur Paradoxie und zu einer oft irre geleiteten Vernünfteley«.7 Auf das Ganze gesehen wäre die Publikation, so Eschenburg, wohl besser unterblieben. Mauvillon senior jedenfalls hätte dieser Rechtfertigung nicht bedurft; auch sei ihm »lange kein Buch vorgekommen, das so durchaus durch die abentheuerlichsten Druckfehler entstellt« war.8 Zumindest darin ist Eschenburg unbedingt zuzustimmen: Der Druck ist überaus nachlässig, unsauber und inkorrekt. Ein bleibendes Denkmal für seinen Vater hat ihm der Sohn damit nicht gestiftet. Und dennoch darf die Briefsammlung auch heute noch einige Aufmerksamkeit für sich reklamieren. Denn sie porträtiert ein intellektuelles Milieu, in dem die Beteiligten versuchten, überkommenes philosophisches, theologisches und religiöses Terrain neu zu vermessen und mehr oder weniger radikal umzugestalten. Ohne diese Sammlung, so Gervinus auf ihre Clandestinität abhebend, »wüßten [wir] kaum etwas von dem heimlichen Antichrist, der hier [in Mauvillons Kreis] sein Wesen trieb«.9 Das zentrale Anliegen aller kommt in der antimetaphysischen, antitheologischen und antiklerikalen Tendenz ihres Erneuerungswillens ebenso zum Ausdruck wie in ihrem republikanischen Impetus.

|| 5 Eschenburg: Rez. (s. Anm. 1), S. 533. Vgl. auch ebd., S. 534: »Für den jetzigen Standpunkt der Philosophie ist die Bekanntmachung dieser vor dreyßig Jahren geschriebenen Briefe vollends gar nicht berechnet.« 6 Ebd., S. 534. 7 Ebd., S. 535. 8 Ebd., S. 536. 9 Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der Deutschen Dichtung. Leipzig 41853, Bd. 5, S. 242.

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2 Unzer und die Unsterblichkeitsprobe Ludwig August Unzer, am 22. November 1748 in der pietistischen Hochburg Wernigerode10 geboren und mit nur 25 Jahren am 13. Januar 1774 zu Ilsenburg verstorben, entstammt einer aus Halle an der Saale gebürtigen, alteingesessenen Arztfamilie. Sein Vater Johann Christoph war seit 1742 Leibarzt des Grafen Christian Ernst zu Stolberg, sein Onkel der Altonaer philosophische Arzt und Mediziner Johann August Unzer. Er wuchs in einem pietistischen Umfeld auf,11 von dem er sich mithilfe seines

|| 10 Vgl. Uwe Lagatz: Zwischen Ancien Régime und Modernisierung. Graf Henrich zu StolbergWernigerode (1772–1854). Halle 2003, S. 33–38 (Studien zur Landesgeschichte 10); Johann Christian Meier: Ein Leben zwischen Schule und Pfarre. Die Memoiren des Schneverdinger Pastoren Johann Christian Meier von 1811. Hg. von Manfred Heinecker und Heiner Wajemann. Schneverdingen 2011, S. 55–59; Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttingen 22019, S. 93; Mareike Fingerhut-Säck: Das Gottesreich auf Erden erweitern. Einführung und Festigung des Pietismus durch das Grafenpaar Sophie Charlotte und Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode in seiner Grafschaft (1710–1771). Halle 2019 (Studien zur Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands 5) und Thomas Grunewald: Politik für das Reich Gottes? Der Reichsgraf Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode zwischen Pietismus, adligem Selbstverständnis und europäischer Politik. Halle 2020 (Hallesche Forschungen 58). Meier war die Bigotterie vieler Pietisten zuwider und stattdessen auf der Suche nach dem wahren Gottesglauben, die ihn schließlich zu den Herrnhutern führen sollte. Ende der 70er Jahre dann fand er das Gesuchte: »Aus vielen Schriften nun, den Lavaterianischen und denen unseres lieben Jung-Stilling [...] lernte ich das erste Mal in meinem Leben das wahre und einzige Heil in Christo so übereinstimmend mit der Heiligen Schrift kennen, dass meine Vernunft und mein ganzer innerer Mensch nichts dagegen einwenden konnte« (Meier: Ein Leben zwischen Schule und Pfarre [s. o.], S. 102–104, S. 168). Die Wernigeröder Pietisten (Meier in dieser Zeit noch inbegriffen) machten vor allem gegen die Herrnhuter bzw. Mährischen Brüder, die Katholiken und auch insbesondere die Reformierten Front (ebd., S. 55f., S. 104, S. 127). 11 Die Unzer’sche Familie war mit dem Stolberger Grafen Christian Ernst verschwägert. Unzers Mutter Charlotte Eleonore, aus einem streng pietistischen Elternhaus gebürtig und einst eine Stiftsdame des Jungfrauenklosters Drübeck, vermählte sich 1743 in zweiter Ehe mit Johann Christoph Unzer, verstarb aber schon 1751. Daraufhin ehelichte der Witwer 1752 ihre jüngere Schwester Sophie Charlotte, die von 1736 bis 1752 als Äbtissin dem Jungfrauenkloster zu Drübeck vorgestanden hatte. Ihr folgte als Äbtissin die Gräfin Christine Eleonore zu Stolberg nach. Vgl. Heinrich Blume: Jakob Mauvillons und Ludwig August Unzers: »Über den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel.« 2 Stücke. Frankfurt a. M., Leipzig, 1771/72 als Vorläufer der Sturm- und Drangperiode. In: XXXVIII. Jahresbericht des Kaiser Franz Josef-Staatsgymnasiums zu Freistadt in Oberösterreich für das Schuljahr 1908. Freistadt 1908, S. 3–36, hier S. 5–8: Unzers Eltern gehörten dem pietistischen Hofkreis um Charlotte und Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode an und schickten ihren Sohn Ludwig August von 1762 bis 1767 auf die von Heinrich Karl Schütze (1700–1781) in pietistischem Geiste geleitete Wernigeröder Lateinschule. Vgl. auch die wenn auch christlich-denunziatorische biographische Skizze von Eduard Jacobs: Ludwig August Unzer, Dichter und Kunstrichter, geb. zu Wernigerode am 22. Nov. 1748, gest. zu Ilsenburg am 13. Januar 1774, der Verkündiger des Prinzips der Geniezeit. In: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 28 (1895), S. 117–252, hier S. 120– 123.

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Lateinschullehrers12 emanzipierte. Es handelte sich um den charismatischen, von den Kollegen seiner Beliebtheit wegen angefeindeten Subkonrektor Johann Christian Meier (1732–1815), der durch die Lektüre der separatistischen Werke Johann Christian Edelmanns und neologischer Schriften zum Skeptiker avancierte.13 Als Lehrer war er allerorten »Peripateticus, d. i. im Spazierengehen und auf kleinen Reisen« unterrichtete er vornehmlich die lebendigen Sprachen: Am 14. August 1765 begleiteten mich erwachsene und unerwachsene Schüler, aber immer zu Fuß, um sie an Strapazen, an Hunger und Durst, Hitze und Kälte, an raue und angenehme Witterung, an ebene und raue und bergige Wege zu gewöhnen. Auf diese Wanderung begleiteten mich liebe Freunde,

u. a. Ludwig August Unzer.14 Vorbereitet durch seinen älteren, die Ilfelder Schule besuchenden Bruder Johann Christoph, der vollkommen von dem dort als Lektor des Französischen angestellten Mauvillon eingenommen war, lernte Ludwig August Unzer schließlich Mauvillon kennen, als dieser 1767 dem elterlichen Hause einen Besuch abstattete. Während seines Studiums der Rechte in Halle in den Jahren 1768 bis 1771 fand Unzer Aufnahme im Amicistenbund der Unzertrennlichen; später schloss er sich den Freimaurern an. Danach war er 1771/72 ein Jahr als Hofmeister in Zorge tätig, währenddessen er einen intensiven Briefwechsel mit Göckingk, Lorenz Benzler, Klamer Schmidt, Rautenberg, Diez und Mauvillon pflegte. Danach bekleidete er kurzzeitig eine Hofmeisterstelle in Halberstadt im Hause des Regierungspräsidenten Christian Ludwig von Cornberg (1716–1791). Seine sich verschlimmernde Krankheit bewog Unzer, ins Wernigeröder Vaterhaus zurückzukehren. Der wohl an

|| 12 Obgleich die Wernigeröder Lateinschule einen guten Ruf genoss, war das Bildungsniveau in den 60er und 70er Jahren des 18. Jahrhunderts eher dürftig: »Alte Sprachen – Lateinisch, Griechisch und Hebräisch – wurden höchst oberflächlich getrieben. Mit den unentbehrlichen vorbereitenden Schulwissenschaften gings noch schlechter. Ein paar Experimente mit einer Luftpumpe und ein paar Übungen im Feldmessen mit dem Feldmessgerät, ohne dass vorher ein gründlicher Unterricht in der Physik und Mathematik vorangegangen wäre, war alles [...]. Mathematik, mathematische Geographie usw. und die neueren Sprachen waren den Schülern ganz unbekannte Dinge« (Meier: Ein Leben zwischen Schule und Pfarre [s. Anm. 10], S. 63). 13 Vgl. ebd., S. 62, S. 111, S. 125, S. 202f. Meier verstand sich als Separatist, d. h. als radikaler bzw. konsequenter außerkirchlicher Pietist, der dem äußeren Kirchenregiment gegenüber kritisch eingestellt war und im Stillen und Verborgenen die reine biblisch-apostolische Lehre zu leben suchte, den Kirchenbesuch ebenso ausschlug wie das Abendmahl (ebd., S. 112–114, S. 135, S. 143, S. 145f.). Sein Skeptizismus rührte aus seiner Hallenser Studienzeit der Jahre 1754 bis 1758 her; im Jahre 1766 wandte er sich deswegen mit einem ein Alphabet umfänglichen Manuskript seiner »Bedenklichkeiten und Zweifel« an einen geistlichen Rat, ohne je eine Antwort darauf erhalten zu haben (ebd., S. 202f.). 14 Ebd., S. 109f. und S. 166.

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einer Geschlechtskrankheit15 laborierende und ihr schließlich erliegende Unzer (die Zeitgenossen sprechen von ›Schwindsucht‹ bzw. ›Auszehrung‹) hatte mit den Freunden vereinbart, dass derjenige, der als erster stirbt, sich den anderen zu erkennen gibt, um auf diese Weise endlich durch einen empirischen Beleg die postmortale Existenz zu verifizieren oder zu falsifizieren. Unzer, der »jeden unzeitigen Wunsch nach einer längern Existenz« unterdrückte, »um so ruhiger [s]einer allmäligen Zerstörung zusehen« zu können, versprach: »Ist es möglich; so erscheine ich Ihnen [Mauvillon] und [Christian Günther] Rautenberg nach meinem Tode.«16 Würde er sich aber – der Schüler und Kombattant Mauvillons – als Erstverstorbener nicht zu erkennen geben, könnte dies dann zweierlei bedeuten: Entweder sei der Verkehr eines Geistes mit Lebenden unmöglich oder es gebe schlechthin keine postmortale Existenz.17 Mauvillon, der zeitlebens an einer postmortalen Existenz festhielt, habe, wie sein Sohn versichert, noch eine geraume Zeit auf Unzers Erscheinung gewartet.18 Unzer hingegen sei der Auffassung gewesen, dass es keine jenseitige Existenz gebe: »er werde bald Staub sein, bald da wohnen, wo es kein Leben mehr giebt«.19 Diese und andere ins Theologische fallende Überzeugungen hatte Unzer kurz vor seinem Ableben einem kleinen Heftchen von gerademal zwei Oktavbogen anvertraut. Als Vermächtnisse für Zweifler20 betitelt, testiert er darin grundlegende lebensphilosophische Grundanschauungen. Danach sei es nicht opportun, Jesus Christus als Schlüssel zum ewigen Leben aufzufassen. Mit dieser Absage fällt das zentrale christliche Dogma von Tod und Auferstehung Christi und damit zugleich die Verheißung der Auferstehungsreligion schlechthin.21 Vielmehr sei die Gewissheit des Jenseits, wie sie die Offenbarungsreligionen behaupten, irrig und der Primat des Glaubens vor dem Wissen eine Schimäre. Man müsse gerade »in der ungewissen Erkenntniß der Natur die Meisterhand ihres Beherrschers« erkennen und ihr nachzuforschen streben.22 Die von Gläubigen versicherte Evidenz und die aus ihr zu schöpfende Seelenruhe hinsichtlich des Jenseitigen könne ein ›Weiser‹ nicht teilen. Allenfalls zu einer »erwartenden Gelassenheit im Tode« könne er es bringen.23 An-

|| 15 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 134. Vgl. auch ebd., Unzer an Mauvillon, S. 61: »Ich bin krank, krank durch Geburt und eigne Schuld.« 16 Ebd., S. 56, S. 64. 17 Ebd., S. 26, S. 105f. 18 Ebd., S. 22. 19 Ebd., S. 98. 20 Anonymus [Ludwig August Unzer]: Vermächtnisse für Zweifler. Erstes Bändchen. 1773. 8° 32 SS. (A8 – B8). Exemplar der Kongelige Bibliothek Kopenhagen. Sign.: 94, 70. Wiederabdruck in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 13 (2019), 2, S. 313–335. Hier zit. nach dem Kopenhagener Exemplar. 21 Unzer: Vermächtnisse (s. Anm. 20), S. 3, vgl. auch S. 13–15. 22 Ebd., S. 3f. 23 Ebd., S. 4.

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gesichts dessen sei es auch nicht hinnehmbar, sich den Tod ›nehmen‹ zu lassen, indem man dem Menschen die selbstbestimmte Tötung seiner selbst verbiete.24 Stattdessen beanspruchte er die Freiheit des schon bejahrten Zenon von Kition, der, als er beim Verlassen der Schule stolperte und sich einen Finger brach, dies als ein Zeichen nahm, dass es an der Zeit sei, dem irdischen Dasein zu entsagen. Mit der Hand auf die Erde schlagend rief dieser einst aus: »Ich komm ja schon, was rufst du denn?« und nahm sich das Leben, indem er die Luft anhielt.25 Unzer verabschiedet keineswegs die Offenbarung, weder die der Heiligen Schrift noch die des Schöpfungswerkes,26 und hält weiterhin an der theopneustischen Dignität der biblischen Schriften fest: Unter ihnen ist ihm »der Prediger Salomo die vornehmste theopnevstische Schrift.«27 Nicht nur wird damit das Alte dem Neuen Testament vorgezogen. Bezeichnend ist darüber hinaus, dass Unzer mit dem Prediger Salomo (Kohelet) zugleich einen Text der Weisheitsliteratur ins Zentrum der biblischen Texte stellt, der gemeinhin seiner widersprüchlichen, ganz offensichtlich interpolierten Aussagen wegen unterschiedlichen Herausgebern zugeschrieben wird. Das hat Unzer aber nicht davon abgehalten, gerade diesen Text hervorzuheben. Das mag in verschiedenen Charakteristika des Kohelet begründet sein: So ist diesem eine universalistische Tendenz eingeschrieben, die eine Auserwähltheit nicht kennt,28 zudem wird darin eine eminente Ausrichtung auf das Diesseits propagiert.29 Nicht der rächende und errettende, sondern der Schöpfergott steht im Zentrum. Daseinsfreude, Daseinsglück im Genießen des Irdischen werden dem Menschen wiederholt nahegelegt. Da ist kein Platz für Jenseitsspekulationen.30 Auferweckung, Unsterblichkeit und jüngstes Gericht haben hier keinen Ort. Die Ungewissheit des Künftigen mahnt den Lebenden, sein Dasein als Gabe Gottes zu genießen.31 Das machte sich Unzer zur Lebensmaxime:

|| 24 Ebd., S. 28f. 25 Ebd., S. 29; vgl. Diog. Laert. 7, 2. 26 Unzer: Vermächtnisse (s. Anm. 20), S. 3f. 27 Ebd., S. 16. 28 Mt 22,14. 29 Vgl. Unzer an Klamer Schmidt: »[H]üten Sie sich vor Youngs Manier. Bleiben Sie ganz dem Petrarch getreu, und schildern Sie sanft, aber nicht fürchterlich den Triumph des Todes! doch warum eben des Todes? O über die jämmerliche Philosophie, die uns lehrt, beständig an den Tod zu denken! Unsäglich ist der Schaden, den die Todesscribenten aller Zeiten angestiftet haben!« (Klamer Eberhard Karl Schmidt’s Leben und auserlesene Werke, herausgegeben von dessen Sohne Wilhelm Werner Johann Schmidt [...] und Schwiegersohne Friedrich Lautsch. Dritter Band. Stuttgart, Tübingen 1828, S. 239). 30 Pred 3,22. 31 Pred 2,24f., 3,12f., 5,17–19, 6, 9, 8, 15, 9, 7–9, 11, 9.

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Bis auf die Hefen will ich den Becher des Lebens trinken! Blumen, Blumen will ich um mein Sterbelager streuen! Leise Flötenstimmen sollen den entscheidenden Schritt begleiten! Fern sey mir die Stimme des Wehklagens beym Ausgang aus der sichtbaren Welt!32

Nicht weniger charakteristisch für den Prediger Salomo ist sein skeptischer Grundzug33, ein Aspekt, der Unzers Hochschätzung des Weisheitstextes zusätzlich begünstigte. Auf den oftmals bemühten Tun-Ergehens-Zusammenhang, der seine Erfüllung schließlich im Jenseitigen finde, wird programmatisch verzichtet.34 Das hindert Unzer nicht, in den Vermächtnissen für Zweifler der katholischen Werk- den Vorzug vor der lutherischen Glaubensgerechtigkeit einzuräumen. Die katholische Lehre sei »die vortreflichste und gemeinnützigste«; habe sie, die von protestantischer Seite als ›Selbstgerechtigkeit‹ Verfemte, doch »noch stets den wahren Geist des Christenthums am lautersten aufbewahrt.« Dagegen sei Luthers Lehre von der Rechtfertigung im Glauben zwar schriftgemäß, »zur werkthätigen Sittlichkeit« indes trage sie nur wenig bei, komme doch alles auf Handlungen an.35 Wahre Moralität kann nur diesseitig begründet sein, ohne Rückgriff auf Jenseitiges. Der Mensch muß sich auf seine Sphäre begrenzen: »Nur der kann frey genannt werden, der nicht mehr will, als er vermag, und das Ziel nie aus den Augen verliert, das ihm die Natur selbst gesetzt hat.«36 Das heißt, dass die Legitimität der ›Möglichkeit‹ und der ›Erwartung‹ des Jenseitigen obsolet sind, ihre ›Gewißheit‹ Ergebnis eines bloßen Trugschlusses. Daraus wird man indes nicht schließen dürfen, das Jenseitige werde schlechthin geleugnet. Nein, es wird nur als ›ungewiß‹ behauptet. Und diese ›Ungewißheit‹ des Eschaton, so Unzer weiter, sei viel tauglicher, zu moralischem Handeln anzuhalten, als die theologisch vielbeschworene ›Gewißheit‹.37 Der aus dem Skeptizismus erwachsenen Ungewissheit folgt konsequent die Ablehnung aller theologischen Behauptungen, auch solcher der Neologie und der historischkritischen Bibelwissenschaft.38 Vor allem aber wendet sich Unzer in seinen Vermächtnissen für Zweifler wie bereits erwähnt gegen die mit dem Eschaton verknüpfte Christologie und Soteriologie.39 Jesus Christus ist ihm ein bloßer Schwärmer, dessen Gottessohnschaft bestritten werden muss. Daraus folgt die Aufgabe des Trinitätsdogmas. Christus ist keine göttliche Teilhabe zuzusprechen.40 Deshalb lehnt Unzer

|| 32 Unzer: Vermächtnisse (s. Anm. 20), S. 32. 33 Pred 1,13, 2,3, 7,25, 8,17, 10,14. 34 Pred 8,14. 35 Unzer: Vermächtnisse (s. Anm. 20), S. 16. 36 Ebd., S. 5. 37 Ebd., S. 6. 38 Ebd., S. 11f. Vgl. auch Unzer an Mauvillon (22. November 1772). In: Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 58. 39 Unzer: Vermächtnisse (s. Anm. 20), S. 7. 40 Nicht von ungefähr kommen dann Unzers Einlassungen zu Klopstock mit seiner »erhabenwimmernde[n] Epopee« (ebd., S. 21), dem christozentrischen Epos Der Messias.

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für sich die Charakterisierung als ›Christ‹ brüsk ab, ohne sich damit zugleich die ›Rechtschaffenheit‹ bzw. Moralität benehmen zu lassen.41 Die Gesinnungsgenossen waren sich einig: Unzer sollte – als sein Ableben bereits absehbar war – als Vorbild und Märtyrer der Freigeisterei sein Leben lassen. Die Vorgänge seines Sterbens wurden daher genau beobachtet. Die Praxis ist zwar der reformatorischen Sterbestundenberichte bzw. Letzte-Worte-Tradition nicht unähnlich, markiert dabei aber durch ihre quasi-naturwissenschaftliche Verifikationsbzw. Falsifikationsabsicht eine der Basis der christlichen Offenbarungsreligion diametral zuwiderlaufende Position. Während es dort darum ging, die während des Lebens als eines Unterwegsseins, die am irdischen Pilgerstand (peregrinatio) bewährte Frömmigkeit resp. stufenweise Heiligung in der Phase des Ablebens als Vorschein des Künftigen zu dokumentieren, war es hier die Aufgabe, unbeeindruckt und unbeeinflusst von äußeren Beeinflussungen wie ›priesterlichem Beistand‹ qua Abendmahl, Beichte und Ölung, den unbeschwerten Abschied vom Irdischen zu verzeichnen.42 Unzer schickte sich gleichsam an, das experimentum crucis, den Freitod und die Auferstehung Jesu Christi in eigener Person zu wiederholen. Wie Christus behauptete auch er die Verfügungsgewalt über seinen Tod: [i]ch lasse mein leben für die schafe. [...] Darum liebet mich mein Vater, daß Ich mein leben lasse, auf daß ichs wieder nehme. Niemand nimt es von mir, sondern ich lasse es von mir selber.43

Hatte Jesus mit seinem Freitod das Christentum allererst begründet, macht sich Unzer jetzt anheischig, ihm nachzufolgen und die Auferstehung einer experimentellen Prüfung zu unterziehen. Nur fehlt ihm im Gegensatz zu Jesus die Glaubensgewissheit. Man richtete ein minutiöses Kontrollsystem ein, um sicherzustellen, dass der Sterbende möglichst lückenlos beobachtet werden konnte.44 Von alledem ließ sich der Gesinnungsfreund Diez in Magdeburg genauestens berichten. Als Unzer, von großen Schmerzen geplagt, sich mithilfe seiner Freunde durch Selbsttötung ein Ende bereiten wollte, wurde das durch einen Mitwisser, den das Gewissen ob des

|| 41 Vgl. Unzer an Heinrich August Ottokar Reichard (20. November 1773). In: Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 72. 42 Vgl. Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Göttingen 2005, S. 195–208. Vgl. auch Irmgard Wilhelm Schaffer: Gottes Beamter und Spielmann des Teufels. Der Tod in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 1999, S. 168– 190. 43 Joh 10,15, 17–18. 44 Beteiligt waren daran der Regierungsadvokat Heinrich Christian Blum (1748–1818) und der Mediziner Christian Friedrich Ziegler (geb. 1750), Sohn des Superintendenten Werner Nikolaus Ziegler. Vgl. Christian Friedrich Kesslin: Nachrichten von Schriftstellern und Künstlern der Grafschaft Wernigerode vom Jahre 1074 bis 1855. Magdeburg 1856, S. 141, S. 147.

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unchristlichen Ansinnens plagte, der Mutter angezeigt und vereitelt.45 Der Arzt Heinrich Karl Hardege (1742–1818)46, ebenfalls darüber beunruhigt, fragte den Sterbenden, ob er außer mit körperlichen etwa noch mit anderen Leiden zu kämpfen habe. Unzer, bereits zu sehr geschwächt, um sprechen zu können, legte die Hand auf die Brust, schüttelte das Haupt und lächelte. In seinem Brief fragt Diez Mauvillon: »Ist das die Sprache einer bangen Brust, eines beunruhigten Gewissens?« Auch der Wernigeröder Konsistorialrat und seit 1770 Hofprediger Johann Friedrich Balthasar Schmid (1729–1811), vormals Hauslehrer des späteren Grafen Christian Friedrich zu Stolberg-Wernigerode,47 versuchte Unzer in den Sterbestunden ein christliches Bekenntnis abzutrotzen. Diez hatte Unzer kurz zuvor einen Besuch abgestattet und diesen wiederholt ermahnt und bestärkt, nicht etwa wankelmütig zu werden und sich den kirchlichen Zeremonien nicht doch noch zu unterwerfen.48 Der Sterbende quittierte dann auch die verzweifelten, um sein Seelenheil bemühten Anstrengungen des Pfarrers, indem er diesem bekannte, er sei längst von der Falschheit der Religion überzeugt gewesen, jetzt sei er zu schwach sich auf Widerlegungen einzulassen, indeß mögte er zu seiner Unterhaltung von der Religion philosophisch reden, aber nicht vor ihm, wie vor einem Kinde, Sprüche auskramen.49

Die eucharistischen Gestalten Brot und Wein, durch die dem Gläubigen Vergebung seiner Sünden, Leben und Seligkeit versichert werden,50 schlug er aus. Nichts von

|| 45 Die Selbsttötung (Suizid; von lat. sui caedere), moralistisch als ›Selbstmord‹ diskreditiert, galt ursprünglich durchaus nicht als verwerflich. Im Gegenteil, das Frühchristentum kannte und schätzte den Märtyrertod. Erst Augustinus verurteilte ihn mit Blick auf das fünfte Gebot (2 Mo 20,13. 5 Mo 5,17), indem er das Tötungsverbot auch als Selbsttötungsverbot interpretierte. (Aug. Civ. Dei 1, 17–27. Vgl. Georges Minois: Geschichte des Selbstmords. Düsseldorf, Zürich 1996, S. 48f.). 348 v. Chr. verurteilte das Konzil von Karthago den Freitod, 381 v. Chr. verbot der Bischof von Alexandrien Bittgebete für Selbstmörder. Seit dem Konzil von Orleans (533 n. Chr.) galt die Selbsttötung als Selbstmord und Todsünde, die instantan ewige Verdammnis nach sich ziehe. Das Konzil von Arles (452 n. Chr.) sah im Selbstmord eine Teufelseinflüsterung, das Konzil von Braga (563 v. Chr.) legte Sanktionen fest, das Konzil von Toledo (693 v. Chr.) auferlegte dem Suizidanten die Exkommunikation. Thomas von Aquin erklärte den Selbstmord ebenfalls zur Todsünde (Thomas von Aquin S. th. II/II, q. 64 a 5). Und die Synode von Nîmes (1284) bestimmte, dass Suizidanten das kirchliche Begräbnis zu verweigern ist. Vgl. auch Gerit Langenberg-Pelzer: Das Motiv des Selbstmords in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende. Diss. phil. Aachen 1995; Minois: Geschichte des Selbstmords (s. Anm. 26), S. 43–47, S. 56f.; Héctor Wittwer: Selbsttötung als philosophisches Problem. Über die Rationalität und Moralität des Suizids. Paderborn 2003, S. 312–330 sowie Jürgen C. Jacobs: Cato und Werther: Zum Problem des Selbstmords im 18. Jahrhundert. Paderborn u. a. 2010. 46 Vgl. Kesslin: Nachrichten (s. Anm. 25), S. 119. 47 Vgl. ebd., S. 92. 48 Ebd., S. 104. 49 Ebd., S. 101. 50 Luther: Kleiner Katechismus. Fünftes Hauptstück.

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erhoffter Reue, Glaubensfestigkeit, Hinordnung auf Jesu Christi, nichts von Demut und Gerichtsangst. Eine halbe Stunde vor Mitternacht, am 13. Januar 1774, verschied der 25jährige Unzer friedvoll. In Wernigerode wurde, obgleich Unzer im benachbarten Ilsenburg ruhig entschlafen war, das Gerücht gestreut, er »sei im Anfall von Gewissensbissen gestorben«.51 Der streng pietistische Graf Henrich Ernst, ein bekennender Zionswächter, notierte am folgenden Tag in seinem Diarium: »Der elende Ludwig August Unzer ist diese Nacht um zwölf Uhr auf dem Leininger Hof gestorben. Gott, mein Erretter, ich halte mich an dich! daß ich bereit sei, wenn du kommst. Amen.«52 Die Freunde indes, in Kenntnis der tatsächlichen Umstände, zeigten sich zufrieden und verliehen ihrer Hoffnung Ausdruck: »Mögten nur dergleichen Beispiele häufiger werden, und mögten überhaupt die Freidenker sich den Gebräuchen der Kirchen gar nicht unterziehen«, ließen sich doch nur so die Vorurteile mildern.53 Diez mutmaßt, auch Mauvillon werde »ohnfehlbar die Unsterblichkeit des Menschen [verwerfen]: denn was sollte nach dem Tode fortdauren, da alles Körper ist.« Zugleich erkundigt er sich neugierig, ob er ein »höchstes Wesen« verehre.54 Mauvillon muss ihn brieflich beschieden haben, dass er ein künftiges Leben erhoffe, was jenen schließlich bewog, nachdem er auf philosophische Probleme der Annahme einer jenseitigen Existenz hinwies, sein nihilistisches Glaubensbekenntnis abzulegen: Was wollen wir unmögliche Dinge wünschen? Und denn da eine künftige Fortdauer gleichfalls ein vermischtes Leben sein müßte, und sich nicht bloß auf die guten und unangenehmen Empfindungen, die uns hier zu Theil wurden, zusammenschränken könnte, so wird es eben dadurch etwas, was ich noch einmal zu besitzen nicht verlange. Mir ist,

|| 51 Kesslin: Nachrichten (s. Anm. 25), S. 101, vgl. auch S. 118, S. 120, S. 133f. 52 Zitiert nach Jacobs: Unzer (s. Anm. 11), S. 152. 53 Kesslin: Nachrichten (s. Anm. 25), S. 101. Woldemar Hermann Reichsgraf von Schmettau (auch Schmettow; 1719–1785), studierter Jurist, erfolgreich agierender Kavalleriegeneral, Militärschriftsteller und Freidenker, zeigte sich »über Unzers standhaften Tod sehr erfreut« und gelobte, »das Ende seines Lebens [ebenfalls] nach diesem Muster bilden« zu wollen (Mauvillons Briefwechsel [s. Anm. 2], S. 137). Schmettau ist für Unzer mit den Blättern, aus Liebe zur Wahrheit geschrieben [1772] (vgl. Anm. 39) und mit dem an Semler gesandten Schreiben eines Naturalisten (1772/73?) der »einzige Freigeist, der die Courage aufbrachte, der christlichen Religion ins Gesicht zu widersprechen« (ebd., S. 59, S. 66). Seit 1768, als er sich vom Kriegsdienst zurückgezogen hatte, »lebte er [i. e. Schmettau] in der Stille und widmete sich ganz der Theologie. Er schrieb die Blätter aus Liebe zur Wahrheit, den Catechelling und die Auch Fragmente. [...] Er brachte sein Alter auf 67 Jahr, und starb ruhig ohne ein Haar breit von seiner Heterodoxie nachzugeben« (Woldemar Friedrich Graf von Schmettau [1749–1794] an Friedrich Nicolai [Plön, 10. November 1785], Staatsbibliothek zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz. Nachl. Friedrich Nicolai/I/67/Mappe 9/fol. 239r‒v). Vgl. Gerhard Kay Birkner: ›Blätter, aus Liebe zur Wahrheit geschrieben.‹ Der Zensurskandal »Schmettow« 1772. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 31 (2006), S. 47–78. 54 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 97.

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schreibt der gerade einmal 23 Jahre zählende Diez, das Leben keine Wohlthat. Ich wünschte überhaupt nie geboren zu sein. Das eitle, unnütze und unerhebliche aller menschlichen Dinge ist mir gar zu tief eingeprägt. Und in der That scheint es mir etwas außerordentlich hartes, sich ein Dasein zu denken, welches durch den Tod nicht geendigt würde, sondern bis in Ewigkeit sonder Ziel fortdauren sollte.55

Bemerkenswert ist, dass Diez hier mit einer Lebenshaltung kokettiert, die nicht etwa Folge der Auf- oder Abwertung des Irdischen zugunsten oder zu ungunsten des Jenseitigen ist, sondern ihren Ausgang vom Nichtigen des Irdischen nimmt, um zu behaupten, es sei »etwas außerordentlich hartes«, sich ein solches Dasein auch noch in Ewigkeit verlängert vorstellen zu wollen, eine perennierende Banalität. In einem späteren Brief äußert er sich noch ausführlicher. Danach resultiere der Wunsch nach Erhaltung und Fortdauer der Existenz allein aus der liebgewordenen Gewohnheit, die Mauvillon ein »Gesetz der Natur« zu nennen beliebt. Die Gewohnheit erwachse aus der »Kraft eines mechanischen Zusammenhangs«, der den Menschen das Gewohnte lieben, das Unbekannte meiden lasse. Der Lebensliebe, dem Wunsch nach fortdauernder Erhaltung, stünde der Tod als das Fremde, vollkommen Ungewohnte gegenüber. Das Gewohnte lasse die Begierden und Interessen wachsen, je mehr der Mensch Kunst und Wissenschaft kenne und schätze, umso kultivierter er also sei, desto mehr hänge er am Dasein. Ihre Grenze finde die Lebensliebe jedoch im Überdruss des Genossenen. Alsdann könne er den gewöhnlichen Vergnügungen keinen Genuss mehr abgewinnen und nur noch den Tod als »Befreier von Ungemach« suchen.56 Nimmt man nun noch hinzu, so Diez radikalskeptisch und nihilistisch, dass die Welt »keine Stufenfolge«, weder Absicht noch Zweck, weder Güter noch Übel erkennen lasse, menschliche Kenntnis keinen Wert habe, alles Tun und Trachten eitel ist,57 so wird begreiflich, weshalb er weder der irdischen noch der jenseitigen Existenz etwas Positives abzugewinnen weiß: »Ich bin gewissermaßen gegen alles gleichgültig, und in dieser Absicht habe ich mir die Denkungsart der sogenannten Wilden zugeeignet, die alles nehmen, wie es kömmt, ohne sich weiter darum zu bekümmern.«58 Die grundstürzende Radikalität seiner fatalistischen, Gewohntes verkehrenden Überzeugungen ist dem frühen Diez durchaus bewusst:

|| 55 Ebd., S. 103f. 56 Ebd., S. 114f. 57 Pred 1,2 u. ö. 58 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 116.

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Mein System ist arg, und kehrt die Gestalten meist aller Dinge um. Ich stehe weit unter den [i. e. inmitten der] Naturalisten. Ich glaube gar nichts und leugne alles. Nichts achten. Der Skeptizismus ist meine Lehre. Geringfügigkeit aller Dinge, die Summe meiner Sätze.59

Auch Karl von Knoblauch, der in Gießen (1775) und Göttingen (1776–1778) Jura studierte und in dieser Zeit bei Dohm und Lichtenberg, vermutlich auch bei Meiners und Hißmann, Vorlesungen hörte,60 beschäftigt die Annahme einer jenseitigen Existenz intensiv: Weder aus vergangenen Erfahrungen noch aus analogischen Schlüssen lasse sich die Auferstehung eines Toten herleiten.61 Deshalb habe er sich vorgesetzt, die Lehre von der künftigen Auferstehung der Toten kritisch zu behandeln und nachzuweisen, dass sie erstens heidnischer, nicht erst jüdischer oder christlicher Provenienz ist, und dass sie zweitens sehr ungereimt sey, wenn man voraussetzt, daß jeder Mensch eben denselben Leib – der Materie und Form nach – wieder bekommen wird, den seine Seele vor dem Tode belebt hat, [...] und [daß] der Mensch aufhört Mensch zu seyn, wenn es wahr wäre, daß seine Seele dereinst mit einem Körper von ganz anderm Stoffe, andern Organen und anderer Form – der also mit einem Menschenkörper nicht mehr Ähnlichkeit hat als ein Meteor mit einem Kehrbesen – vereinigt wird.

|| 59 Ebd., S. 77. Zu dem sich darin bekundenden radikalaufklärerischen psychologischen Naturalismus bzw. Materialismus vgl. Dieter Hüning: »Ich will keine Wahrheiten lehren. Ich schreibe nur, was ich denke«. Diez’ Abgesang auf die Konzeption des Naturzustandes. In: Heinrich Friedrich von Diez (1751–1818). Freidenker – Diplomat – Orientkenner. Hg. von Christoph Rauch und Gideon Stiening. Berlin, Boston 2020, S. 41–59. Vgl. auch die Textausgaben Heinrich Friedrich Diez: Frühe Schriften (1772–1784). Hg. von Manfred Voigts. Würzburg 2010 und ders.: Philosophische Abhandlungen, Rezensionen und unveröffentlichte Briefe (1773–1784). Hg. von Arne Klawitter. Würzburg 2018. Nach 1784 vollzog Diez eine grundlegende weltanschauliche Wandlung; nach und nach distanzierte er sich von seinen freigeistigen Positionen, bis er schließlich hyperorthodoxes Gedankengut vertrat (vgl. Manfred Voigts: Heinrich Friedrich Diez. Kanzleydirektor, Freygeist und Freund der Juden. In: Diez: Frühe Schriften, S. 457–540, hier S. 460). 60 Jean Mondot: Wilhelm Ludwig Wekhrlin. Un publiciste des lumières. 2 Bde. Bordeaux 1986, S. 724–728 (Bibliographie der Werke von Knoblauchs); ders.: Carl von Knoblauch zu Hatzbach (1756–1794) ou les audaces religieuses et politiques d’un ›esprit fort‹. In: Recherches nouvelles sur l’Aufklärung. Actes du 18e Congrès des Germanistes de l’Enseignement Supérieur. Reims 27–28 avril 1985. Hg. von Roland Krebs. Reims 1987, S. 43–59; Rolf Haaser: Spätaufklärung und Gegenaufklärung. Bedingungen und Auswirkungen der religiösen, politischen und ästhetischen Streitkultur in Gießen zwischen 1770 und 1830. Darmstadt 1997, S. 52; Martin Mulsow: Karl von Knoblauch und Georg Friedrich Werner als Materialisten. Eine Gießen-Dillenburger Konstellation. In: Radikale Spätaufklärung in Deutschland. Einzelschicksale – Konstellationen – Netzwerke. Hg. von Martin Mulsow und Guido Naschert. Hamburg 2012, S. 93; ders.: Deismus. Radikale Religionskritik. In: Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Band 5: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nord- und Osteuropa. Hg. von Helmut Holzhey und Vilem Mudroch. Basel 2014, S. 345–369, hier S. 349f. und S. 368f. 61 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 192.

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Unabdingbar sei es, dass die irdische Art der Sinnlichkeit, welche die irdische Person mit konstituiere, nicht verloren gehen dürfe, soll man sich im jenseitigen Zustand noch als dieselbe Person wahrnehmen können.62 Mit Mauvillon teilt Knoblauch zwar den Glauben an die Unsterblichkeit: »Eine Fortdauer nach dem Tode ist mir wahrscheinlich, aber«, fügt er einschränkend hinzu, »weder nach homerisch dichterischen, noch nach orthodox-christlichen, noch nach alkoranischen, und lavaterischen Bestimmungen.«63 Die Möglichkeit der Fortdauer des Gedächtnisses und des Erinnerungsvermögens hingegen hält er unter Bezugnahme auf Georg Friedrich Werners Ersten Versuch einer allgemeinen Aetiologie (1792) für nicht gegeben.64 Man erhalte, veranlasst durch aktuale Bewegungen der inneren Organe, welche vergangenen, durch äußere Sinne evozierten Bewegungen ähneln und daher auch ähnliche Folgen zeitigen, also solche Vorstellungen von Dingen, wie sie die Sinne vormals erzeugten. ›Man nennt‹, sagt die Aetiologie, §. 225. ›dieses Vermögen der Hirnsubstanzen Gedächtniß, und das Gedächtniß hat seinen Grund ganz außer dem Ich. – – – ‹65 – Dieses ist mein Erster, und Hauptbeweis gegen die Fortdauer des Gedächtnisses nach dem Tode.66

Den hier anhand des Briefwechsels skizzierten annihilationistischen Standpunkt hinsichtlich des Seelenmortalismus vertritt der spinozistisch geschulte Materialist Knoblauch auch in seinen Publikationen, etwa in den Beiträgen zu Wielands Teutschem Merkur oder zu Wekhrlins Grauem Ungeheur.67 Ausschlaggebend für die enge, unauflösliche Bindung von Körper und Seele in der Personalität ist für Knob-

|| 62 Ebd., S. 196f. 63 Ebd., S. 197. 64 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 218. Vgl. Nachricht von dem merkwürdigen Proceß des Professor Werners der Universität Gießen, wegen seiner herausgegebenen Aetiologie. In: Minerva 8 (1793), S. 477–511 sowie Georg Friedrich Werner: Erklärung über einen Aufsatz in der Minerva, (December-Stück 1793) meinen Proceß wegen der Aetiologie betreffend. In: Minerva 9 (1794), S. 335– 339. Werners Aetiologie war auch für von Knoblauch von nicht zu unterschätzender Bedeutung; vgl. dazu Mulsow: Karl von Knoblauch (s. Anm. 33), S. 91–112 sowie Maximilian Lässig: Radikale Aufklärung in Deutschland. Karl von Knoblauch, Andreas Riem und Johann Christian Schmohl. Berlin, Boston 2020, S. 55–58, S. 65f., S. 185f., S. 88–190, S. 211f. Zum Verhältnis Knoblauchs und Werners vgl. auch Haaser: Spätaufklärung (s. Anm. 33), S. 51–57. 65 Erster Versuch einer allgemeinen Aetiologie von Georg Friedrich Werner, Fürstl. Hessischem Ingenieurhauptmann und Professor. Erstes Buch. Gießen 1792, S. 314. 66 Anonymus [Karl von Knoblauch zu Hatzbach]: Über einige Grundbegriffe der Ontologie, Kosmologie und Größenlehre. Ein philosophischer Kommentar von einem Eklektiker. Weißenfels, Leipzig 1794, S. 107–128: Über das Erinnerungsvermögen nach dem Tode. Ein philosophischer Versuch, hier S. 115. 67 Vgl. Falk Wunderlich: Mortalismus und Materialismus in der deutschen Aufklärung. In: Aufklärung 29 (2017), S. 193–211, hier S. 201–203.

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lauch der spinozistische Substanzenmonismus, der das Körperliche und das Seelische nur als Attribute einer Substanz begreift.

3 Unzers und Mauvillons geplanter Feldzug gegen die christliche Religion Unzer und Mauvillon hatten sich zu einem Bund ›ewiger Feindschaft gegen Torheit, Irrtum und Aberglauben‹ vereint.68 Und mit Diez hatte Unzer versucht, sich in einem ›philosophischen Briefwechsel‹ über die christliche Religion zu verständigen, sei er doch überzeugt davon, dass es »sehr gut [ist], gegen die Religion zu schreiben«.69 Unter allen Religionen sei ihm zwar die Zoroasters am liebsten; aber als Weiser dürfe er selbst keiner Religion huldigen.70 Auch trug er sich mit der Absicht, eine Bibliothek der Freigeister oder Freigeister-Annalen herauszugeben, um mit Gleichgesinnten in- und ausländische theologische und philosophische Werke, »LibertinBücher« eingeschlossen, zu besprechen. Jedem Bande vorangestellt sollten in ihnen Aufsätze erscheinen, die die Theorien erläuterten und die dafür beigebrachten Beweise der christlichen Religion einer Überprüfung unterzögen. Auf diese Weise würden die theologischen »Absurditäten« zutage gefördert und der ›gesunden Vernunft‹ vorgearbeitet.71 Das sei umso nötiger als gegenwärtig die Theologie in Deutschland das Sagen habe. Sie folgte der Philosophie, die es im gegenwärtigen Jahrhundert vermocht hatte, die Menschen aufzuklären, und versuche nun, ihre Dogmen mit der Vernunft abzugleichen. Deshalb moniert Unzer, dass die Freidenker den weltanschaulichen »Antagonisten« in ihren theologischen, die aufklärerische Programmatik unterminierenden Bestrebungen unbeteiligt zusehen und diese gewähren lassen.72 Gleichermaßen kritisch sieht er das Verhalten der ›Neologen‹ genannten Aufklärungstheologen wie Johann Joachim Spalding (1714–1804), Wilhelm Abraham Teller (1734–1804), Johann Gottlieb Töllner (1724–1774) und Johann Salomo Semler (1725– 1791), die sich zwar den Orthodoxen wie Johann Melchior Goeze und Pietisten wie August Hermann Francke entgegenstellten, sich aber darauf beschränkten, »bloß die merklichsten Absurditäten in der Bibel« zu beseitigen. Dadurch besserten sie nur wenig, ließen das Irrtümliche weitgehend unangetastet. Die »ächte natürliche Religion« leide unter diesem Vorgehen ebenso wie unter dem der Orthodoxen und

|| 68 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 55. 69 Ebd., S. 51. 70 Ebd., S. 53. 71 Ebd., S. 57f. 72 Ebd., S. 58.

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Pietisten.73 – Mauvillon habe sich für Unzers Unternehmung wohl nicht engagieren wollen, sodass Unzer nun Schmettaus74 Interesse zu wecken suchte.75 Selbst die »allgemeinen Werke« Humes und Cherburys seien wenig geeignet, der ›echten natürlichen Religion‹ zu ihrem Recht zu verhelfen, da sie sich »zu wenig ins Detail« einließen.76 Die Bezugnahme gibt zumindest einen Fingerzeig auf Unzers religionsphilosophische Orientierung, wonach es den deistischen Standpunkt zu radikalisieren gelte. Leider blieb Unzers geplante, sicher überaus aufschlussreiche Abhandlung »über den Character Christi« wie so vieles aufgrund seiner kurzen Lebensspanne unausgeführt.77 Es steht aber zu vermuten, dass sich darin von der herkömmlichen, die Göttlichkeit Christi betonenden Christologie nichts mehr gefunden hätte. Stattdessen hätte er Christi Menschentum herausgestellt und damit das Trinitäts- und Auferstehungsdogma endgültig verabschiedet. Darin wäre er mit Woldemar Hermann von Schmettau übereingekommen, der in seinen 1771/72 in der Nachzensur inkriminierten Blättern, aus Liebe zur Wahrheit geschrieben78 genau diese sozinianischen Auffassungen propagierte. Im ersten der fünf Blätter kommt Schmettau auf Lavaters 1769/70 Mendelssohn gemachten ›Vorschlag‹ zu sprechen, die Juden sollten zum Christentum konvertieren.79 Dabei brandmarkt er das Entgegenkommen der Christen, die Bücher des Alten Testaments als ›göttliche Offenbarungen‹ anzusehen, bestärke es doch auf diese Weise das jüdische Volk in dem irrigen Glauben, »in der abscheulichsten von allen Meinungen, daß es das auserwählte Volk Gottes sey«. Es ist nicht einzusehen, wes-

|| 73 Ebd. 74 Zu Woldemar Hermann Reichsgraf von Schmettau vgl. Jena Glebe-Møller: I kamp mod dumhed og hykleri. Om oplysningsmanden general W. H. von Schmettau (1719–85). Kopenhagen 2011. 75 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 66. 76 Ebd., S. 58f. 77 Ebd., S. 61. 78 Anonymus [Woldemar Hermann Reichsgraf von Schmettau]: Blätter, aus Liebe zur Wahrheit geschrieben. Le devoir du soldat est la subordination & la bravoure, Celui du philosophe est Lamour de la Verité. Le Diogene décent par Mr. de Prémontval. S. LVIII. Vgl. Birkner: Blätter (s. Anm. 31), S. 56. Rezensionen im Anhang zu dem 13.–24. Bande der allgemeinen deutschen Bibliothek. Zweyte Abt. 150 (1777), S. 1016–1020: Anonymus [Johann August Eberhard]: Rez. des 1. bis 3. Stücks, und Anhang zu dem 13.–24. Band der allgemeinen deutschen Bibliothek. Dritte Abt. 151 (1777), S. 1468– 1470; Anonymus [Johann August Eberhard]: Rez. des 4. und 5. Stücks; Anonymus: Rez.: In: Beytrag zum Reichs-Postreuter. 92. Stück (28. November 1771), ebd., 93. Stück (2. Dezember 1771), Bl. 2b. 2a.b. Von den Blättern, aus Liebe zur Wahrheit geschrieben hat der Plöner Hofbuchdrucker Johann Konrad Wehrt die Bogen A bis D gedruckt; die übrigen Bogen E bis H sind anschließend vermutlich in Lübeck weitergedruckt worden. 79 Antwort an den Herrn Moses Mendelssohn zu Berlin, von Johann Caspar Lavater. Nebst einer Nacherinnerung von Moses Mendelssohn. Berlin, Stettin 1770, S. 25f. Vgl. Anna-Ruth Löwenbrück: Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung. Eine Studie zur Vorgeschichte des modernen Antisemitismus am Beispiel des Göttinger Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis (1717– 1791). Frankfurt a. M. u. a. 1995, S. 132–143.

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halb Gott ein Volk den anderen Völkern hätte vorziehen wollen. Diese Idee zeitigte der Stolz, eine Leidenschaft, der sich auch die Idee des ›blinden Rechtes des Blutes‹, des Blutadels, verdankt. Der Stolz ist es, der alle die falsche Begriffe von der Gottheit erzeuget; Er ist es, der Juden, Christen, Türken und Heyden verleitet, sich stolze, eyfernde, eyfersüchtige, rächende Gottheiten zu bilden, die zu nichts dienen, als die Menschen mehr oder weniger unter dem schimpflichen Joche der stoltzen Hierarchien, schmachten und verderben zu lassen.

All jene Vorurteile hinderten die moralische Vervollkommnung der Menschen anstatt sie, so das Vorgeben der Dogmatiker der unterschiedlichen Konfessionen, zu ermöglichen und zu unterstützen.80 Dem sei gegenzusteuern: »Man lehre [...] aus der gesunden Vernunft«, so das liberale Credo Schmettaus, »daß alle Menschen Brüder sind«.81 Mit Lavater sei er in der Zielstellung, die Juden von ihren Irrtümern zu befreien, einig, nicht aber in der Wahl des Weges, diese zu erreichen: Während Lavater die jüdischen Gläubigen zur Konversion ins Christentum bewegen möchte, will Schmettau sie stattdessen von jeglichem »Aberglauben« befreit sehen. Nicht nur, dass die Christen mit der Ansicht, das Alte Testament präsentiere Offenbarungsschriften, die jeden im Glauben noch bestärkten,82 sie böten ihnen für ihren Aberglauben nur einen anderen Aberglauben, den christlichen: »O möchte man doch alle, der Menschen-Liebe mögliche Mittel anwenden, wodurch diese unsere unglückliche Brüder, zu helfen stünden; Ihren Aberglauben, begegne man nicht mit einem andern Aberglauben, sondern mit Anpreisung der wahren Offenbahrung, die Gott allen Menschen gegeben hat, gesunde Vernunft und Erfahrung.«83 Er plädiert daher für einen »Mittelweg [...] zwischen der Annehmung einer Tauffe [...] oder der Heucheley im Judenthum zu beharren, ohne Juden zu seyn«.84 Man solle solch ›ungläubigen Juden‹, die sich von ihrer Gemeinde trennen wollen, »alle bürgerliche Rechte und Vorzüge« zugestehen, ohne von ihnen das christliche Bekenntnis abzufordern: »Es würde hinreichend seyn müssen, daß ein Jude [...] sich bey der christlichen Obrigkeit meldete, und eine schriftliche Erklährung«, in der er versichert, dem Judentum entsagt und seinen Kindern den Rückweg ins Judentum verweigert zu haben. Fortan wäre er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft mit allen ›Vorrechten eines Christen‹. Er behielte aber, so Schmettau weiter, »die Freyheit [...], seine und seiner Kinder Taufe so lange auszusetzen, als es ihm belieben würde«.85 Diesen ihm

|| 80 Von Schmettau: Blätter (s. Anm. 39), S. 13–16. 81 Ebd., S. 18. 82 Ebd., S. 13. 83 Ebd., S. 17. 84 Ebd., S. 20. 85 Ebd., S. 21.

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neuerscheinenden Gedanken einer »Freystadt abfallender Juden, die doch keine Christen werden wollten«, also die freimütige ›Aufnahme ungetaufter jüdischer Apostaten‹ in die bürgerliche Gesellschaft des Alten Reichs möchte er damit der öffentlichen Diskussion und Prüfung überantworten. Die Reaktion auf solche grundstürzenden Gedanken war vorauszusehen. Die als Pax Christiana im Westfälischen Friedensschluss von 1648 ‒ dem bis 1806 geltenden Reichsgrundgesetz ‒ weitgehend bestätigten Vereinbarungen des Augsburger Religionsfriedens von 1555 kannten nur eine bikonfessionelle Verfassung des Reichs86; fortan gab es zwar nicht mehr nur eine Religion, aber eine Entkonfessionalisierung bzw. Säkularisierung war selbstredend grundgesetzwidrig und galt als unstatthaft, da es den gesellschaftlichen Zusammenhalt untergrabe. Eberhard, der Rezensent der Blätter in der Allgemeinen deutschen Bibliothek, weist auf das utopische Moment dieses Vorschlags explizit hin, wenn er betont, dass »man das öffentliche Bekenntniß der natürlichen Religion ausser dem Schoose einer gebilligten öffentlichen Religionsparthey« wohl auch in Zukunft nicht werde erwarten können. »In Europa hat man hievon noch kein Beyspiel.«87 Sicher hat er dabei die englische Debatte um den JewishNaturalisation Act der Jahre 1753/54 im Blick, die, selbst nur ein zaghafter Versuch, Teile der jüdischen Oberschicht zu ›nationalisieren‹, heftigen Widerstands wegen im Eklat endete. Das über tausendjährige Selbstverständnis des ständisch geprägten europäischen Abendlandes als christliches sah neben dem Katholizismus und den sog. protestantischen Konfessionsverwandten keine weiteren Konfessionen vor.88 Die Angehörigen jüdischen Bekenntnisses hatten Augustinus und seines christologischen Standpunkts zufolge zwar einen heilsgeschichtlichen Platz, aber es war der ihrer ›Verworfenheit‹ wegen angemessene Platz eines Sklaven. Denn sie seien ihrer Rolle als eines von Gott auserwählten Volkes nicht gerecht geworden, als sie – die bisherigen Träger der göttlichen Offenbarungen – Jesus als Messias verkannten.89

|| 86 Vgl. Trutz Rendtorff: Religion und Konfession. Zur Bedeutung des Westfälischen Friedens von 1648 für den politischen Rechtsfrieden. In: Leviathan 27.2 (1999), 6, S. 238–249. 87 Anonymus [Eberhard]: Rez. Blätter (s. Anm. 39), S. 1018. 88 Vgl. Michael Stolleis: Von den Rechtsnormen zur Rechtspraxis. Zur Rechtsgeschichte der Juden im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. In: Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich. Hg. von Andreas Gotzmann und Stephan Wendehorst. Berlin 2007, S. 11–24 (Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft 39). 89 Die Juden verkennten die heilsvermittelnde Funktion Christi und träten ohne Mittler vor Gott (Wilhelm Maurer: Historischer Kommentar zur Confessio Augustana. Bd. 2: Theologische Probleme. Gütersloh 1978, S. 94f.). Vgl. Martin Heckel: Martin Luthers Reformation und das Recht. Die Entwicklung der Theologie Luthers und ihre Auswirkung auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der Reichsreform und der Territorialstaatsbildung im Kampf mit Rom und den »Schwärmern«. Tübingen 2016, S. 699. Daselbst (S. 699–719) wird auch Luthers Haltung zu den Juden nachgezeichnet, beginnend mit seiner anfänglichen judenfreundlichen bis hin zur radikalen Wende 1543 mit seiner Befürwortung einer brutalen, hasserfüllten judenfeindlichen Politik, die auf deren Unterdrückung, Entrechtung, Enteignung und Vertreibung abzweckte. Philipp Jakob Spener, die Gründungs-

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Ihre christliche Ausgrenzung hatte spätestens das IV. Laterankonzil (1215), das eine strikte Trennung von Christentum und Judentum forderte, befestigt. Letzterem hatte Papst Innozenz III. bereits in einem Schreiben vom 15. Juli 1205 als Strafe für den Tod Christi den Sklavenstand zugewiesen. Schmettaus Forderung, die religiösen Barrieren zu überwinden, indem man sich stattdessen die ›Verbürgerlichung‹ der ungläubigen Juden zum Ziel setzt, unterläuft in fundamentaler und radikaler Weise die bisherige Grundverfassung des christlichen Abendlandes und präludiert die zehn Jahre später durch Dohm 1781 in Deutschland forcierte Diskussion über die ›bürgerliche Verbesserung der Juden‹ und das in Frankreich im Jahre 1791 proklamierte Emanzipationsgesetz.90 Das Neue an Schmettaus Argumentationsweise ist, dass er den Mut hatte, die religiöse Diskussionsebene zu verlassen und auf die politische hinüberzuwechseln und eine der Aufklärung allein gemäße entkonfessionalisierte, staatsbürgerliche Egalität zu fordern. Es müsse demnach nicht darum gerungen werden, auf welche Weise vormalige Juden als Christen zu assimilieren sind, sondern darum, wie ihre gleichberechtigte Aufnahme in die bürgerliche Gemeinschaft bewerkstelligt werden kann. Auf dieser Grundlage allein bot sich historisch erstmals die Möglichkeit, die Parallelgesellschaften der Juden und der Christen in ersten zaghaften Ansätzen in- und miteinander zu verschmelzen. Schmettau weist die Zumutung christlich-orthodoxer Dogmatiker, man dürfe die biblischen Schriften nicht wie historische Zeugnisse untersuchen, als mit der menschlichen Vernunft unvereinbar zurück und unterzieht vor allem die im Neuen Testament als gewiss behaupteten Wunder- und Heilungsgeschichten, insbesondere die Auferstehung Christi, einer Überprüfung. Er widerspricht vehement der biblizistischen Forderung, bei der Beurteilung der sog. Heiligen Schriften91 müsse »die gesunde Vernunft[] Ehrfurchts-voll schweigen«92. Die biblischen Schriften böten »die Lügen der heiligen Schriftsteller«, der »jüdischen Legenden-Verfertiger«, was nicht bedeute, daß sie nicht mitunter gute, aus den antiken Philosophien stammende Lehren enthalten.93 Gott offenbare sich den Menschen allein durch die gesunde Vernunft und die der Erfahrung zugängliche Natur.94 Insofern sie beides negierten, sei das Christentum, hierin der Stoa verwandt, ebenso wider die Vernunft, Empfindung und Freiheit, nützlich, blinden Glauben auszustreuen, um »in

|| figur der pietistischen Erneuerungsbewegung, machte eine Alternative zum überkommenen lutherisch-orthodoxen Verhältnis zu den Juden geltend: Er setzte sich für eine geduldige, verständnisvolle Haltung gegenüber den Juden ein, lehnte Zwangsbekehrungen ab und warb für ihre Missionierung. 90 Vgl. Löwenbrück: Judenfeindschaft (s. Anm. 40), S. 149–178. 91 Schmettau: Blätter (s. Anm. 39), S. 65. 92 Ebd., S. 27. 93 Ebd., S. 65, S. 68. Vgl. auch S. 104. 94 Ebd., S. 97f.

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solcher Verfassung die Fesseln der schändlichsten Sklaverey unter dem Joche der Hierarchien und des sie unterstützenden Aberglaubens zu tragen.«95 Schmettau wandte sich vornehmlich gegen die seinerzeit grassierende Theologia prophetica à la Bengel und Crusius mit ihren suprarationalen hermeneutischen Methoden und Prämissen96 und machte vor allem Theodor Christoph Lilienthals (1717–1781) Die gute Sache der in der heiligen Schrift alten und neuen Testaments enthaltenen Göttlichen Offenbarung, wider die Feinde derselben erwiesen und gerettet (16 Bände; 1750–1780) zur Zielscheibe seiner Kritik.97 Lilienthals Die gute Sache bot eine in bislang ungekanntem Maße Widerlegung und Zurechtweisung aller gegen die Echtheit und Wahrheit der biblischen Schriften vorgebrachten Einwände und Zweifel. Die nur unter großer Mühsal und Verdrehung zustande gebrachten Evangelienharmonien sind Schmettau nicht nur Anlass genug, das Markus- und das Matthäus-Evangelium zu Apokrypha zu machen,98 sondern alle Evangelisten »Lügner« und ihre »so genannten Evangelia« nichts als »abgeschmackte[,] mit jüdischer Dumdreistigkeit verfertigte Legenden« zu nennen.99 Den unstreitigen Höhepunkt seiner Religionskritik bildet die Besprechung des zentralen Auferstehungswunders, »eine[r] Sammlung unauflöslicher Widersprüche«100. Theologische Wunder können der menschlichen Vernunft keine Offenbarung geben, sondern allenfalls ihre Wahrheit beweisen oder widerlegen:

|| 95 Ebd., S. 70. Vgl. ebd., S. 100. 96 Ebd., S. 42. 97 Lilienthal hatte im ersten Theil seiner Guten Sache, im Paragraphen 75 (»Einige Weissagungen sind nicht sowol nach dem buchstäblichen, als nach dem geistlichen Verstande erfüllet.«) als hermeneutisches Prinzip bestimmt, dass, sollte »der Erfolg einer vorher verkündigten Sache mit den Ausdrücken der Weissagung nicht überein[stimmen]«, dies ein Zeichen sei, diese Ausdrücke »uneigentlich« aufzufassen (ebd., S. 455). Eberhard schließt sich Schmettaus Kritik an: »Um diese unsichere Regel in noch größerer Blöße zu zeigen, wollen wir auch das Beyspiel anführen, worauf sie Herr Lilienthal anwendet. In dem [22.] Psalm sind die Hunde römische Soldaten. Warum? weil sonst die Weissagung keine Erfüllung hätte. Der Schluß geht also folgendergestalt fort: der [22]te Psalm ist eine Weissagung, weil er eine Erfüllung hat. Die Erfüllung aber muß eine solche seyn, weil man sonst keine andere finden könnte, und der Psalm also keine Weissagung enthielte. Diese petitio principii ist bey den prophetischen Erbaulichkeiten ganz gewöhnlich« (Anonymus [Eberhard]: Rez. Blätter [s. Anm. 39], S. 1019). 98 Schmettau: Blätter (s. Anm. 39), S. 81ff. Vgl. ebd., S. 104f. 99 Ebd., S. 60. 100 Ebd., S. 88. »Wäre JEsus wirklich auferstanden, so hätte er dem ganzen Volke und den Römern erscheinen müssen, in so fern der Menschen Heil davon abhinge, ein solches Mährchen zu glauben« (ebd., S. 93). Vgl. auch ebd., S. 107–128, wo er die paulinische Auferstehungslegende (1 Ko 15,3ff., Apg 9,1ff.), das zentrale Dogma des Christentums schlechthin (1 Ko 15,13f. 16f.), einer naturalistischen Interpretation und historischen Kritik unterzieht und als »ein lebhaftes GespensterHistörgen« charakterisiert. Paulus habe sich daher des Betruges, des Stolzes und der Schwärmerei schuldig gemacht (Schmettau: Blätter [s. Anm. 39], S. 52).

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zwischen dem allergröß[e]sten Wunder und einem Satze, der für wahr oder falsch erkannt werden soll, ist keine Verbindung, das Wunder könnte wahr und der Satz doch falsch seyn, den man damit beweisen wollte; Wenn Tausende Todte in meiner Gegenwart auferstünden; so würde ich dennoch, ohne den Verstand verlohren zu haben, nimmer glauben, daß zwey mal zwey fünfe ist [...]; Es kann mithin unmöglich der göttlichen Weisheit angemessen seyn, durch Wunderthaten den Menschen eine Offenbarung zu bestätigen; Eine ausserordentliche göttliche Offenbarung müßte vielmehr dem Verstande neue Wahrheiten so einleuchtend darstellen, daß kein Wunder ihm das Gegentheil glauben zu machen fähig sey, und zwar Wunder, die man selbst sehen würde, denn so bald ich von einem Wunder keine andere als eine historische Gewißheit habe, so ist das Wunder ein stärkerer Beweis gegen sich selbst, als die Erzählung ein Zeugniß für die Wahrheit des Wunders seyn kann.101

Sein freigeistig-deistisches Bekenntnis lässt Schmettau schließlich im Anschluss an die Moralphilosophie von Helvétius in einem naturalistischen Selbstliebe-Konzept kulminieren.102

4 Knoblauch ‒ ein Kombattant Mauvillons? Nur wenig später, im Jahre 1777 – Unzer war nun schon bereits drei Jahre tot und blieb es auch für seine auf ein Zeichen wartenden Gesinnungsgenossen –, erhält Mauvillon an Schmettau erinnernde Stellungnahmen Knoblauchs,103 der sonntags, um ungestört arbeiten zu können, fast immer der Kirche fernbleibt.104 Auch dieser spricht sich für eine »auf wenige Sätze reduzirte Naturreligion« aus, ohne »das ganze Revelationssystem, mit und ohne seine neuere Akkommodationen und Umbildungen«.105 Immerhin bedienen Unzer und Schmettau noch so etwas wie einen deistischen Grundkonsens. Für sie gibt es einen Schöpfergott, der der Welt ihre Gesetze gegeben hat; er greift seitdem aber nicht mehr in den Weltenlauf ein, sodass es auch keine Wunder mehr gibt. Knoblauch hingegen begreift sich als Atheist bzw., »wie ich lieber sagen mögte, [...] [als] Gegner des theologischen Anthropomorphismus«, in dezidierter Frontstellung zum Deismus. Seinem Atheismus sei theologisch nicht beizukommen, »ohne in einen lächerlichen Dogmatismus zu fallen, dessen

|| 101 Ebd., S. 95f. 102 Ebd., S. 100. 103 Zu von Knoblauch vgl. u. a. Mondot: Carl von Knoblauch zu Hatzbach (s. Anm. 33), S. 43–59, ders.: Wilhelm Ludwig Wekhrlin (s. Anm. 33), S. 273–279, S. 604–628, Daniel Minary: Le problème de l’athéisme en Allemagne à la fin du ›Siècle des Lumières‹. Paris 1994, pp. 483–520 (chap. L’émergence de l’athéisme suscitée par la conjonction du rationalisme, du matérialisme et de l’agnosticisme: Karl von Knoblauch [1756–1794]) und Lässig: Radikale Aufklärung (s. Anm. 34), insb. S. 43–67, S. 548–552 (Bibliographie). 104 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 202f. 105 Ebd., S. 191.

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gewagte Behauptungen er mit leichter Mühe als beweislos zurücktreiben kann.«106 Seinem Brief vom 10. März 1792 an den 13 Jahre älteren Mauvillon legt der 36jährige Knoblauch den Aufsatz Axiome und Theoreme [s]einer esoterischen Philosophie. Erstes Bündel bei. In acht Paragraphen skizziert er darin seinen Phänomenalismus und wendet ihn gegen den metaphysischen Essentialismus. Der Versuch, das den Erscheinungen zugrundeliegende »reale Etwas« a priori aus dem »unbestimmten Begriffe« extrahieren zu wollen, sei von vornherein zum Scheitern verurteilt. A posteriori ließen sich die Bestimmungen des ›realen Etwas‹ ebenfalls nicht gewinnen, weil es nur sinnlich als Erscheinung wahrgenommen werden kann. Den zureichenden Grund der Erscheinungen enthalte das ›reale Etwas‹. Dieses selbst habe seinen zureichenden Grund in sich und nicht wiederum in einem anderen. Denn in einem zureichenden Grund zu gründen, sei allein ein Charakteristikum der Erscheinungen, nicht eines des realen Etwas. Der Versuch, das reale Etwas wiederum in einem zureichenden Grund gründen zu lassen und das reale Etwas als Grund, nicht aber als zureichenden der Erscheinungen aufzufassen, sei ›theologischen Metaphysikern‹ eigentümlich. Darin gründe ihr Bestreben, der »unendlichen Welt« einen extramundanen Gott als eigentlichen zureichenden Grund zu geben: Sie möchten das den Erscheinungen, den Formen, zum Grunde liegende Reale, welches sich von seiner Folge – der Sinnenwelt, oder dem Inbegriff der Erscheinungen – nicht trennen läßt, und wovon er nie beweisen kann, daß es – zwar der Grund, aber nicht der zureichende – der Erscheinungen sey, noch aus einem andern noch unbekanntern Realen herleiten, und erst dieses Reale soll in sich selbst gegründet, also unabhängig, Gott seyn.107

Knoblauch steht derartigem transzendenten Bestreben theologischer Metaphysiker ablehnend gegenüber und widmet sich stattdessen der ›unendlichen Welt‹, der Natur. Sie sei »unsre Mutter, unsre Gesetzgeberinn, unser Grab, unsere Wiedergebährerinn.«108 Sie ist unendlich und aufgrund einer »Anfangslosen Sukcession« ewig,109 womit er den göttlichen Schöpfungsakt verabschiedet, gleichsam die letzte Bastion des Deismus. Er nimmt hier die bereits thematisierte definitorische Festlegung des ›Atheisten‹ als ›Gegner des Anthropomorphismus‹ auf, die nicht nur kein ›höheres Wesen‹ mehr anerkennt, sondern auch dessen Anthropomorphisierung als persönlichen Gott qua Vernunft und Willen ablehnt, was allein schon der deistischen Ansicht genügt hatte, eine (jenseitige) Bestrafung resp. Belohnung abgesichert zu sehen. Und er begründet seine Ablehnung der theistischen Annahme eines mit Vernunft und Willen begabten extramundanen Gottes argumentativ mit dem

|| 106 Ebd., S. 212. 107 Ebd., S. 209f. 108 Ebd., S. 210. 109 Ebd., S. 227.

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Hinweis, dass die Theisten dann auch als erste Ursache der Bewegung einen ersten Beweger zulassen müssten, was diese jedoch mit dem Hinweis auf die Unbewegtheit Gottes rigoros ablehnten. Knoblauch geht indes noch weiter, wenn er fragt, wieso »die letzte Ursache des Denkens, selbst ein Denken seyn« müsse. Auch sei es uneinsichtig, dass unter diesen Voraussetzungen Denken und Bewegung nichts miteinander gemeinsam hätten. Denn gilt dies, dürften die Theisten auch nicht Gott als erste Ursache der Bewegung und Materie ausgeben: »Denn beyde haben nichts, gar nichts mit einander gemein.« Ein Atheist werde sich über die Entstehungsart nicht auslassen, sondern deren Unerkennbarbeit unumwunden zugeben. Die unbekannte Ursache der Bewegung und des Denkens selbst wird keine Bewegung und kein Denken sein, »weil sie ja gerade das ist, wodurch Denken und Bewegung zuerst möglich wird.«110 Dem Brief ist noch eine zweite Abhandlung beigefügt, die sich in antithaumaturgischer Absicht einer Wundererzählung des Neuen Testamentes widmet, nämlich Jesu Speisung von 5000 Menschen mit fünf Broten.111 Diese Aussage, so Knoblauch, unterstelle einen völlig unverhältnismäßigen Sachverhalt von Nährwert und Brotmasse: Wollte also Jesus dieses Verhältnis aufheben, und die Wirkung der kleinen Quantität = 1, der Wirkung der größern = 2, gleich machen, so stieß er eo ipso das neunte Axiom des Euklides um, welches besagt, daß ein Theil (z. B. 2 oder 4) nie dem Ganzen (z. B. 8 od. 16.) gleich seyn kann.112

Aber nicht nur an der Unverhältnismäßigkeit gebreche es dem Wunderbericht, sondern auch an der arithmetischen Inkongruenz, dass 12 Körbe Brot von anfänglich fünf Broten übriggeblieben sein sollten. Denn, nimmt von Knoblauch an, wenn ein Brot in einem Korb transportiert worden ist, dann bedeutet die Aussage der Evangelisten, dass nach der Speisung mehr ›übriggeblieben‹ ist als zuvor zur Verfügung gestanden hat, was ebenfalls gegen das neunte Euklidische Axiom verstoße. Wollte man derlei, den Euklidischen Axiomen widersprechende Schlussverfahren zulassen, verabschiede man zugleich auch deren Allgemeinheit und beraube sich damit »alle[r] Möglichkeit, einen Gott zu beweisen, und die Kriterien einer Offenbarung sicher zu bestimmen«. Selbst wenn man die Unverhältnismäßigkeit beiseite setze, bleibe das Problem des Wunders der Hervorbringung der Brote. Denn würde man ein solches Wunder zulassen, d. h. eine creatio ex nihilo in der schon geordneten Welt annehmen, müsste man einen leeren Raum annehmen, was dem angenommenen Weltbegriff widerstreite, der »ein komplettes, lückenfreyes, überall verbunde-

|| 110 Ebd., S. 212. 111 Mt 14,13–21. Mk 6,35–44. Lk 9,11–17. Joh 6,5–14. 112 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 214.

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nes System von Dingen ist.«113 Mit dieser deductio ad absurdum-Beweisführung wendet sich von Knoblauch mit Mitteln des Deismus gegen den Theismus: »Die Summe der Einheiten dieses Systems ist in dem ewigen göttlichen Verstande ein für allemal entschieden, und nimmt, als Erfolg von einem Akt der unendlichen Urkraft weder ab noch zu.« Das bedeute, dass Vernunft und Glaube in biblicis nicht vereinbar sind. Wollte man das verlangen, wollte man die Erzählung der Evangelisten für wahr ausgeben, so Knoblauch, so sei von diesem Zeitpunkt an »jedes Feenmärchen« für ihn ein »Evangelium«.114 Nimmt man zu dem eben Ausgeführten noch die erste Abhandlung hinzu, wonach der Streit von Deisten und Atheisten ein bloßer Wortstreit und letztere die konsequenten Philosophen seien, wird einsichtig, dass Knoblauch sich als eine Art radikaler, spinozistischer Deist versteht.115 Denn das ›reale Etwas‹ sei »die einzige erweisliche Gottheit der Philosophen«.116 Von deterministischen Überzeugungen ist Knoblauch nicht frei, was ihn aber auch nicht anficht. Das ›Schicksal‹ sei durch die ewigen und notwendigen Gesetze vorherbestimmt. Es komme darauf an, das Schicksal zu erkennen und anzunehmen. Dies seinen Zeitgenossen als ›Prophet‹ zu ›offenbaren‹, sei seine Berufung. Von den theologischen Weissagungen unterscheide sich seine Prophetie vor allem dadurch, dass sie ihre Gründe »aus der Natur der Dinge« nehme.117 Knoblauch kündigt Mauvillon auch ein Werk Über den Selbstmord an, in dem er

|| 113 Vgl. Mauvillons Brief an Knoblauch vom 13. Mai 1791, wo dieser zu Knoblauchs deductio ad absurdum bemerkt: »Allein ich muß gestehen, daß es mir ein viel treffenderes Mittel die ganze Wunderlehre zu zerstören scheint, wenn man die Glaubwürdigkeit der Zeugen über den Haufen stößt« – womit er den vormals von Schmettau gewählten argumentativen Kunstgriff in den Blättern favorisierte – »als wenn man sich auf die Beschaffenheit und den Modum der Wunder einläßt. Denn da lassen sich tausend Arten entdecken, wie das Wunder hat geschehen können, die man durch einen euklidischen Satz nicht über den Haufen stoßen kann. Z. B. Mit dem Wunder der 7 Brodte und der zwölf Körbe. Es braucht weder Brodt ex nihilo geschaffen worden zu seyn, noch Pars größer als Totum gewesen zu seyn. Christus könnte ja nur Brodte von Orten, wo welche waren, haben kommen lassen oder die Sättigung durch Einwürkung im Magen ohne Nahrung haben geschehen lassen; jenes durch eine Kraft, die wie die anziehende magnetische, dieses durch eine, die wie die elektrische gewirkt hätte. [...] Wenn ich aber zeige, die Kerls [i. e. die Evangelisten!], die das erzählt haben, die kennt kein Mensch, das sind Lügensäcke [...], denn scheint mir das tiefer auf die Wurzel gehend« (in: Eudämonia, oder deutsches Volksglük, ein Journal für Freunde von Wahrheit und Recht 2 [1796], 4, S. 295f.). 114 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 215f. 115 Ebd., S. 211. 116 Ebd., S. 221. Vgl. Manfred Lauermann, Maria-Brigitta Schröder: Textgrundlagen der deutschen Spinoza-Rezeption im 18. Jahrhundert. In: Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts. Zur Erinnerung an Hans-Christian Lucas. Hg. von Eva Schürmann, Norbert Waszek und Frank Weinreich. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 39–83, hier S. 81f. und Winfried Schröder: Spinoza in der deutschen Frühaufklärung. Würzburg 1987, S. 176–179. 117 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 2), S. 227.

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die kindische Idee einiger Philosophen, und der – ans Deräsonniren ohnehin gewohnten Theologen, ›daß der Selbstmord eine Verletzung der Pflicht des Gehorsams gegen Gott, den höchsten Oberherrn, und mit der Handlung des meineidigen Soldaten zu parallelisiren sey, welcher ohne Vorwissen und Consens seines Chefs seinen Posten verläßt‹,

zu widerlegen sich anschickt.118 Knoblauchs Briefe, das sollte deutlich geworden sein, sind Ausdruck seines Naturalismus. Er führt vom Standpunkt der natürlichen Religion aus einen unermüdlichen und unerbittlichen Kampf gegen kirchliche Dogmen in der Überzeugung, dass Theologie »keine wahre Wissenschaft« sei, »da ihr Gegenstand uns in keiner möglichen Erfahrung je gegeben, oder dargestellt werden kann. Er [i. e. der Gegenstand der Theologie] ist und bleibt für uns eine bloße Idee, deren objective Realität n i e erwiesen werden kann.«119 Der wichtigste, nicht zu überschätzende ›Dienst an der Menschheit‹, dem man sich widmen kann und muss, sei, folgt man Mauvillon und Schmettau, die »Untergrabung des Christenthums«. Sie bestehe darin, der von der christlichen Religion propagierten Furcht vor Tod, Schwäche und Kleinmut im Leben selbstbewusst zu begegnen. Danach gelte es die Hoheit des Geistes, den ›Seelenadel‹, des Menschen zu betonen, ihm Mut im Angesicht des Todes einzuflößen und ihn zu bestärken, selbstbewusste Widerständigkeit gegen Gefahren und Unterdrückung im Leben zu entwickeln.120 Noch 1791, in einem Brief an Knoblauch vom 13. Mai, beteuert Mauvillon: Jede Bemühung scheint mir auch theuer und werth, die darauf geht zu beweisen, daß das Christenthum falsch ist. Denn es hat keine Religion in der Welt meines Erachtens so entsetzlich vielen Schaden der ganzen Menschheit angethan, als diese. Dadurch ist ganz Europa 1500 Jahre lang in eine Pusillanimität [Kleinmütigkeit] versunken, aus der es sich noch nicht loswinden kann. O! ohne diese Superstition wäre der Despotismus bey uns nie so unerschütterlich mächtig geworden: so viele Menschen hätten sich nie wie das Vieh zu Sclaven machen lassen, und wären so lange in der Sclaverey der Leibeigenschaft erhalten worden. Indessen gilt das nur von dem Christenthum als öffentliche Religion; reducirt man es blos auf den unmittelbaren Einfluß des göttlichen Geistes auf jede menschliche Seele, so habe ich nichts dagegen.121

Im Fokus der Kritik steht unverkennbar die als ›Aberglauben‹ charakterisierte christliche Anthropologie des sündigen, gnaden- und erlösungsbedürftigen, in De|| 118 Ebd., S. 227f. 119 Ebd., Anm. 120 Vgl. auch Mauvillon an Hißmann (23. Juni 1777): »Denn unter uns u. als Freund gesagt, bin ich überzeugt, daß man der Menschheit keinen wichtigern Dienst erzeigen kann als an der Untergrabung des Christenthums zu arbeiten. Diese Religion macht die Menschen schwach, furchtsam, kleinmüthig; sie erstickt jede Hoheit des Geistes, allen Adel der Seelen. Muth im Tode, Widerstand gegen Gefahren u. Unterdrückung sind ihr ein Greuel« (Michael Hißmann: Briefwechsel. Hg. von Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening und Falk Wunderlich. Berlin, Boston 2016, S. 40). 121 In: Eudämonia, oder deutsches Volksglük, ein Journal für Freunde von Wahrheit und Recht 2 (1796), 4, S. 296f.

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mut ausharrenden, hoffenden Menschen, die christliche Rechtfertigungslehre und die christliche Eschatologie. ›Unsterblichkeit‹ als ›Leben nach dem Tod‹, die ›Auferstehung des Leibes‹ und die ›Unsterblichkeit der Seele‹,122 all jene zentralen Verheißungen des Christentums, werden von den Korrespondenzpartnern Mauvillons einer empirischen und rationalen Prüfung unterzogen und kritisch beurteilt. Letztlich wird dann die Möglichkeit von Offenbarungen (und Wundern) bestritten.123 Unzer, Mauvillon, Hißmann, Knoblauch u. a. sahen sich in eine Zeit allgemeiner Gärung hineingeboren. Sie war nicht nur von erbitterten philosophisch-theologischen Auseinandersetzungen gekennzeichnet, sondern zugleich auch von tiefgreifenden Krisensymptomen des Ancien Régime. Gerade in den 70er und 80er Jahren des 18. Jahrhunderts schienen sich die klerikal-antiaufklärerischen Mächte erneut anzuschicken, aufklärerische Errungenschaften zurückzudrängen und dafür noch einmal alle Kräfte zu mobilisieren. Dieser Gefährdung begegneten die Aufklärer um Mauvillon mit einer radikalen, das Übel an der Wurzel anpackenden Weise und riefen dafür wie ihre Gegner die Bildlichkeit des eschatologischen Endkampfes auf: Eine Fülle ›orthodox verlarvter‹ Schriften würden derzeit erscheinen, die belegen, »daß der Aberglauben, diese Pest des menschlichen Geschlechts, seine lezten Kräfte jezt mit verdoppeltem Effort anwendet, sich wieder auf den Thron emporzuarbeiten, von welchem ihn Kritik, Philosophie, und gesunde Physik zu verdrängen angefangen hatte.«124 Aufmerksam beobachtete man den im Nachgang des Siebenjährigen Krieges ausbrechenden Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der am 4. Juli 1776 in der ›Einstimmigen Erklärung der dreizehn vereinigten Staaten von Amerika‹, der sog. ›Unabhängigkeitserklärung‹, kulminierte, mit der man couragiert und programmatisch die aufklärerischen Ideen der Unabhängigkeit und der Menschenrechte in eine liberale Staatspraxis umzusetzen suchte. Für die Diskussion solch weitreichender aufklärerischer, humanitärer und freiheitlicher Ideen boten sich verschiedene, neu entstehende Organisationsformen wie die Freimaurerlogen und der Illuminatenorden als Foren an. Letzteren, der im Mai 1776 von Adam Weishaupt gegründet, aber || 122 Vgl. Martin Luther: »[W]o dieser Artikel hinweg ist, da sind auch alle ander hinweg und der Heubtartikel und gantze Christus verloren odder ja vergeblich gepredigt etc.« (WA 36, S. 483). Vgl. auch ebd., S. 530: »Nam quando hunc articulum negavi, omnia negavi.«) Christi Auferstehung »ist das heubtstück Christlicher lere, das niemand leugnen kan, wer anders ein Christ odder ein prediger des Euangelij sein wil [...]. [...] Denn dencke du selbs, was fur eine sünde sey von dem Artikel [1 Kor 15,12–15] zweiveln [...]. O das were ein schrecklich, grewlich ding und die schwereste Gottes lesterung« (ebd., S. 524, S. 530). 123 Vgl. dazu Arne Klawitter: Der sokratische Dämon als »Würgeengel der christlichen Religion«? Ein bislang nicht ausgewerteter Brief Jakob Mauvillons an Michael Hißmann zum »Genius des Sokrates«. In: Das achtzehnte Jahrhundert 41.1 (2017), S. 28–45. 124 Anonymus [Karl von Knoblauch zu Hatzbach]: Über die Kunst in der Geschichte zu muthmassen. Aus dem Französischen des Herrn von Alembert. Mit einigen Zusäzen. In: Das graue Ungeheur 9 (1786), S. 168–180, hier S. 179f.

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schon 1784/85 in Bayern verboten wurde, versuchte der in Gotha tätige Bode am Leben zu erhalten, sah sich aber im Zuge der Französischen Revolution einer militant-feindseligen antiilluminatischen Front gegenüber, die den weiteren Betrieb des Ordens unmöglich machte. Mit Bodes Tod im Jahre 1793 hörte auch der Illuminatenorden auf zu existieren. Die reaktionäre Propaganda warf den Illuminaten, namentlich Mauvillon, Knigge und Campe, vor, an einem, ja dem Ordensprojekt schlechthin zu arbeiten, durch eine vorzunehmende Weltreformation der bisherigen Religions- und Staats-Verfassung eine andere Gestalt zu geben, Fürsten und Pfaffen, als die eigentlichen Bösen entbehrlich zu machen und abzuschaffen, die natürliche und allgemeine Gleichheit unter den Menschen herzustellen, und statt des Christenthums eine philosophische Religion einzuführen.125

Es sei dies das ewige Lied der Jakobiner von allgemeiner Freyheit und Gleichheit, von Abschaffung der Könige und Fürsten als der kleinen Tyrannen, und ihre gewaltsame Unterdrückung der Priesterschaft, und alle Schritte zur Vertilgung des Christenthums und Einführung einer philosophischen Religion, wobey einem jeden Mauvillons, eines bekannten Illuminaten Äusserungen über das Christenthum, und diejenigen die Knigge, Campe, und andere über Staat und Religion vorgetragen, einfallen.126

Die öffentliche Diffamierung und Denunziation durch die antifranzösische Reaktion ging Hand in Hand mit Überwachung und Nachstellung: Knoblauch, der seit 1791 mit Mauvillon in brieflichem Austausch stand, und der Bibliothekar Ernst Wilhelm Cuhn (1756–1809)127 in Kassel mussten erfahren, dass jeweils ein Brief Mauvillons an Sie behördlich abgefangen worden war. Die öffentliche Entrüstung bei Bekanntwerden der Unterschlagung war groß. Während die einen das Abfangen von Briefen, noch dazu von Untertanen fremder Herrschaften, auf das Schärfste verurteilten und geißelten, gab es andere, die die Vorgehensweise guthießen und rechtfertigten. Der Wiener Leopold Alois Hoffmann (1760–1806) etwa hielt in dem seiner Wiener Zeitschrift eingerückten Aufsatz Über das Recht und Nichtrecht, Briefe zu erbrechen und

|| 125 Anonymus [Ludwig Adolf Christian von Grolmann]: Vorrede. In: Anonymus [ders.]: Die neuesten Arbeiten des Spartacus und Philo in dem Illuminaten-Orden jetzt zum erstenmal gedruckt, und zur Beherzigung bey gegenwärtigen Zeitläuften herausgegeben. 1794, S. III–XII, hier S. VII. Zur Paris-Reise zu den Ordensmitgliedern der Philalethen vgl. Claus Werner: Die französische und deutsche Freimaurerei des 18. Jahrhunderts und ihr Verhältnis zur Aufklärung. Berlin 1966, S. 174– 182. 126 Grolmann: Vorrede (s. Anm. 69), S. Xff. 127 Zu Cuhn vgl. Wolfgang Neugebauer: Preußische Geschichte als gesellschaftliche Veranstaltung. Historiographie vom Mittelalter bis zum Jahr 2000. Paderborn 2018, S. 125–131.

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zu unterschlagen128 das Verfahren für legitim. Mauvillon replizierte und verurteilte das Vorgehen im Schleswigen Journal.129 Die Strategie der »Unterminirung«130 (Mauvillon an Hißmann) der theologischen Grundlagen der Gesellschaft bot der Gegenaufklärung die gesuchte Gelegenheit, Freimaurer und Illuminaten auf denunziatorische Weise mit jakobinischen Anschauungen in Verbindung zu bringen. Die Publikation der Briefe der frühen 70er bis beginnenden 90er Jahre zielte daher dezidiert auf den Nachweis, dass Mauvillon keine gewaltsamen, umstürzlerischen Vorsätze gehegt und sich keine jakobinischen Anschauungen zu eigen gemacht habe,131 wenngleich er, was sein Sohn ungescheut zugibt, bekennender Republikaner und Philanthrop gewesen war. Trotzig und renitent äußert sich der jüngere Mauvillon angesichts der Vorwürfe und Verdächtigungen, sein Vater sei ein Revolutionsfreund, Freiheitseiferer, Franzosenfreund gewesen: Beliebt man, ihn so zu nennen, so sei das nichts weniger als ehrenhaft für ihn. Denn [j]eder, der das Glück der Menschheit mehr liebt als sein eigenes, wird die Französische Revolution segnen, denn alle Greuel, die sie nach sich gezogen hat, sind nichts in Vergleich der unnennbaren Tyranneien, die Fürsten, Edelleute und Geistliche aller Art seit Jahrhunderten ausübten, und die heilsamen Folgen dieser Revolution vergüten tausendfältig den vorüber-

|| 128 In: Wiener Zeitschrift 1 (1792), S. 97–100. Hoffmanns Aufsatz ist eine Replik auf von Knoblauchs Beitrag im Septemberstück von Wielands Neuem teutschen Merkur (Etwas über das Recht eines Staats, Briefe, die an ihn nicht geschrieben sind, zu erbrechen und zu unterschlagen [1 (1790), S. 139–142]). Vgl. Anonymus [Leopold Alois Hoffmann]: Eine wichtige Obscuranten-Entdeckung über die Zwecke und das Wirken des Licht-Reichs; aus einigen Original-Briefen von Mauvillon. Mitgetheilt aus dem Herzoglich-Braunschweigschen Archiv. In: Eudämonia, oder deutsches Volksglük, ein Journal für Freunde von Wahrheit und Recht 2 (1796), 4, S. 289–308, S. 431–448 (Mauvillons Brief an von Knoblauch [Braunschweig, 13. Mai 1791]. In: ebd., S. 295–297 und Mauvillons Brief an Cuhn [13. Mai 1791] in: ebd., S. 431–434). »Neulich ist hier ein Pastor, gewesener Preussischer Staabs-Prediger, bey mir gewesen [...]; er war auch wirklich kein ganz unerleuchteter Mann, ohngeachtet der neologisch theologische Stempel seinem Geiste unverkennbar aufgedrückt war. Kantische Philosophie, neuere Exegese mit Pfaffengeist vermischt, macht in meinen Augen das allerpossirlichste Amalgama was sich denken läßt« (ebd., S. 433). – Es war der Hannoveraner Leibarzt Johann Georg Zimmermann, der sich im März 1792 an den Landgraf von Hessen-Kassel gewandt hatte und sich von ihm in denunziatorischer Absicht Kopien der abgefangenen Briefe für seinen Freund Hoffmann in Wien ausgebeten hatte. 129 Schreiben des Obristlieutenants Mauvillon an den Herrn Professor Aloysius Hoffmann zu Wien über dessen Aufsatz. In: Schleswigsches Journal 1 (1792), S. 336–383. Vgl. dazu Rafael ArtoHaumacher: Gellerts Briefpraxis und Brieflehre. Der Anfang einer neuen Briefkultur. Wiesbaden 1995, S. 303–311. 130 Hißmann: Briefwechsel (s. Anm. 120), S. 40. 131 »Nie aber nannte er sich einen Jacobiner, denn er haßte und verabscheuete das revolutionäre Schreckensystem und die robespierranischen Greuel« (Mauvillons Briefwechsel [s. Anm. 2], S. 6 Anm. **).

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gehenden Schaden, den sie stiftet, und der meist immer seine Quelle von den unzähligen Maschinerien der Großen und Geistlichen herleitet.132

5 Zusammenfassung Die intellektuell-weltanschaulichen Signaturen der in Mauvillons Briefwechsel versammelten Korrespondenzen erweisen sich als relativ homogen. Die Korrespondenten, die in ihren Grundüberzeugungen häufig übereinstimmten, vermittelten sich oft gegenseitig den Kontakt zu Mauvillon, der von allen als Vaterfigur und Mentor anerkannt worden ist. Das hinderte sie aber nicht, mit Theoriekonstrukten aufzuwarten, die mit Mauvillons Überlegungen konkurrierten. Man gewinnt den Eindruck, dass sie sich an grundstürzender Radikalität ihrer Anschauungen gegenseitig überbieten wollten. Einigendes Band der Entwürfe ist ihr Antiklerikalismus, Antiidealismus, Antispiritualismus und Antimonarchismus. Der Briefwechsel präsentiert in dieser Hinsicht ein einzigartiges Tableau einer bislang nur marginal wahrgenommenen spätaufklärerisch-materialistischen Denkbewegung, die in dieser geschlossenen, relativen Konstellation eine noch weiter zu erforschende Ausnahme bildet.

|| 132 Ebd., S. 7.

Stefan Klingner

Das Christentum als vernünftige Religion bei Jakob Mauvillon Dass das Christentum eine vernünftige Religion sei oder wenigstens als eine solche verstanden werden könne, ist eine in der deutschen Aufklärungsphilosophie geläufige Einschätzung. Abgesehen von einigen wenigen Mysterien komme sein Gehalt im Wesentlichen mit demjenigen der durch bloße Vernunft und Erfahrung einsehbaren natürlichen Religion überein.1 Zudem sind sich Wolffianismus, Neologie, Popularphilosophie oder auch Kant darin einig, dass einem aufgeklärten christlichen Glauben ein nicht zu unterschätzender Nutzen für die moralische Bildung des Menschen oder die Stabilität des Staates zukomme.2 Kurzum: Als aufgeklärt – und damit vernünftig – kann das Christentum gelten, wenn seine heilige Schrift historisch-kritisch ausgelegt, kirchliche Dogmen relativiert und die Relevanz seiner Lehre vorrangig ethisch verstanden werden. Vor diesem Hintergrund stellt Mauvillons Einschätzung des Christentums eine gewisse Herausforderung dar. Denn seine Religionsphilosophie, wie er sie in dem 1787 erschienen Buch Das einzige wahre System der christlichen Religion3 vorgelegt hat, ist wesentlich durch folgende drei Merkmale gekennzeichnet: Erstens enthält sie eindeutig aufklärerische Elemente, wie ein grundsätzliches Vertrauen in die ›natürliche‹ Vernunft, die Kritik an kirchlicher Autorität oder auch die Leugnung der Universalität der (christlichen) Offenbarung. Zugleich formiert sie sich aber zweitens mittels einer scharfen Kritik an der Aufklärungstheologie (›Neologie‹), besonders an deren historischer Bibelauslegung und ihrer Betonung der ethischen Relevanz des Christentums.4 Und schließlich ist Mauvillons Religionsphilosophie

|| 1 Vgl. – bei allen Differenzen mit Blick auf die Eigenart der Einsicht in ›natürliche‹ Religionswahrheiten – z. B. Christian Wolff: Anmerckungen über die vernünfftige Gedancken von GOTT, der Welt, und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Frankfurt a. M. 1724, § 45, bes. S. 83f.; Johann Joachim Spalding: Betrachtung über die Bestimmung des Menschen. Berlin 31749, S. 26–32; Christian August Crusius: Kurzer Begriff der Moraltheologie. Erster Theil. Leipzig 1772, §§ 3f.; Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Halle 71779, § 996; Johann Georg Heinrich Feder: Grundsätze der Logik und Metaphysik. Göttingen 1794, S. 372–375. 2 Vgl. – bei allen Differenzen im Detail – z. B. Spalding: Betrachtung (s. Anm. 1), S. 28f.; Christian Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts. Halle 1754, § 1024; Alexander Gottlieb Baumgarten: Ethica philosophica. Halle 31763, § 27, § 367; Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Hamburg 31766, S. 746 und S. 756f.; Feder: Grundsätze (s. Anm. 1), S. 337; Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Königsberg 21794, S. 161. 3 Vgl. Jakob Mauvillon: Das einzige wahre System der christlichen Religion. Berlin 1787. 4 Vgl. zur Kennzeichnung der Neologie etwa Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium. Göttingen 2009, § 20. https://doi.org/10.1515/9783110793611-010

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drittens calvinistischen Zuschnitts, indem sie von der praedestinatio gemina ausgeht und den ›wahren‹ Glauben als übernatürliche Wirkung des Heiligen Geistes versteht.5 Das erste Merkmal erscheint als vergleichsweise unproblematisch vor dem genannten Hintergrund der in der deutschen Aufklärung geläufigen Einschätzung der Vernünftigkeit des Christentums. Mauvillons Kritik an der Rationalität resp. Verständlichkeit der Wahrheit der christlichen Offenbarung und der in ihrem Kontext bezeugten Wunder und Weissagungen, die er in der »Ersten Abteilung« seines Buchs vorlegt,6 richtet sich zwar direkt gegen Überlegungen der zeitgenössischen protestantischen Theologie, steht aber in vielen ihren Argumenten prominenten Kritiken an ›Offenbarungen‹ und ›Wundern‹ aus der zeitgenössischen Philosophie sehr nahe.7 Nimmt man allerdings die beiden anderen Merkmale hinzu, also Mauvillons scharfe Kritik an der Aufklärungstheologie und seinen expliziten Calvinismus, dann wird schnell einsichtig, dass auch seine Offenbarungs- und Wunderkritik nicht auf eine Ablehnung oder Leugnung der Wahrheit der christlichen Offenbarung hinauslaufen. Nicht deren Wahrheit, sondern deren Erkennbarkeit durch die menschliche Vernunft leugnet Mauvillon und stellt seinem Buch dann auch folgendes Programm in dessen »Einleitung« voran: Was ich hier aber darthun will, daß nämlich die christliche Religion der menschlichen Vernunft nicht solche Beweißgründe für ihren göttlichen Ursprung darbiete, die als wirklich hinreichend angesehn werden könnten: das kann auf keine andere Art geschehen, als indem ich die Beweise für ihre Wahrheit, die man bisher als die stärksten angeführt hat, untersuche, und ihre Unzulänglichkeit darthue.8

Im Folgenden werde ich auf Mauvillons Offenbarungs- und Wunderkritik nicht weiter eingehen, sondern mich auf seine Kritik an der Behauptung einer ethischen bzw. moralischen Relevanz des Christentums konzentrieren. Diese stellt den zweiten Teil seiner Kritik an der Aufklärungstheologie dar und steht in einem engen Zusammenhang einerseits mit dem aufklärerischen Ziel des Werks, andererseits aber auch mit Mauvillons eigener theologischer Position.9 Allerdings muss ich auf || 5 Vgl. Johann Wilhelm Baum, August Eduard Cunitz, Eduard Reuss (Hg.): Joannis Calvini opera quae supersunt omnia. 59 Bde. Braunschweig, Berlin 1863–1900, Bd. 2: Institutio christianae religionis (1559). Braunschweig 1864, III, 21, 5 (zur Lehre von der doppelten und absoluten Prädestination) sowie I, 7, 4f. und III, 2, 7 (zur Lehre vom ›echten‹ Glauben). 6 Vgl. Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 3), S. 7–109. 7 Für den deutschsprachigen Raum sind hier vor allem Christian Wolff sowie der »Fragmentist«, also Hermann Samuel Reimarus, zu nennen. Vgl. dazu den Beitrag von Sebastian Abel im vorliegenden Band. 8 Vgl. Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 3), S. 4f. (Hvhg. S.K.). 9 Seine Kritik an der moralischen Qualifizierung des Christentums durch die zeitgenössische Aufklärungstheologie (und auch -philosophie) legt Mauvillon in der zweiten »Abteilung« (ebd., S. 110– 430) und seine eigene theologische Position in der dritten »Abteilung« (ebd., S. 431–617) vor.

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eine genauere Einordnung dessen, was hier Mauvillons Calvinismus genannt wird, in den zeitgenössischen Diskurs der reformierten Theologie verzichten. Immerhin sollen aber seine wesentlichen Kernaussagen herausgestellt und deren orthodoxer Charakter anhand entsprechender Verweise auf Calvins Institutio christianae religionis angezeigt werden.10 Die These, die den folgenden Überlegungen zugrunde liegt und Mauvillons religionsphilosophisches ›Profil‹ auf den Punkt bringen soll, kann dann so formuliert werden: Mauvillon grenzt sich zwar scharf gegen die zeitgenössischen Versuche der Aufklärungsphilosophie und -theologie ab, Gehalt und Relevanz des ›wahren‹ Christentums als durch menschliche Vernunft erkennbar auszugeben. Vielmehr seien diese in der besonderen Übernatürlichkeit – und damit auch Irrationalität – des christlichen Glaubens anzusetzen. Allerdings ist es wiederum diese streng supranaturalistische und fideistische Position, die Mauvillon zufolge als einzige vernünftige Bestimmung des ›wahren‹ Christentums gelten darf. Denn die vernünftige Aufklärung über Religion führe nicht nur zu deren Läuterung vom Aberglauben, sondern auch zu einem Anerkennen der Grenzen menschlicher Erkenntnis in religiösen Sachen. Entsprechend seien einerseits der ›wahre‹ Glaube und die aus ihm resultierende Seligkeit nur wenigen ›Auserwählten‹ vorbehalten; andererseits werde damit Religion gänzlich dem Handlungsspielraum der Menschen entzogen und verliere auch ihre – in Mauvillons Augen problematische – politische Bedeutung als Mittel zur moralischen Besserung. Mit dieser Kombination von Supranaturalismus und irrationalem Fideismus einerseits mit politischer Aufklärung und Säkularismus andererseits gibt Mauvillon der Wendung vernünftige Religion eine ganz eigenartige Bedeutung, die im philosophischen und theologischen Diskurs um die christliche Religion in der deutschen Spätaufklärung durchaus eine Ausnahmeerscheinung darstellt. Diese These impliziert, dass Mauvillons Wahres System im Folgenden nicht als atheistisches Pamphlet eines ›Radikalaufklärers‹, sondern als ernst gemeinter Beitrag zum religionsphilosophischen Diskurs der deutschen Spätaufklärung gelesen

|| 10 Mauvillon nennt Calvin mehrfach und in durchweg affirmativem Ton (vgl. z. B. ebd., S. 465, S. 474–479 und S. 508). Er selbst behauptet, dass die »Kalvinische[] Lehre« »keinen besondern Einfluß auf das was hier meine Absicht ist [hat]« (ebd., S. 479). Besonders die bereits angesprochene strikte Prädestinationslehre und der von ihm vertretene »irrationale« Fideismus in religiösen Sachen sind aber hinreichend, um ihm eine orthodoxe calvinistische Position zuzuschreiben. Es mag hier daher auch ausreichen, an den entsprechenden Stellen auf Calvins Institutio (s. Anm. 5) zu verweisen. – Zudem fällt auf, dass Mauvillons Religionsphilosophie in einigen wesentlichen Punkten der »maskierten Theologie« von Pierre Bayle nahesteht. Vgl. zu dieser (wie auch zur Wendung irrationaler Fideismus) Nicola Stricker: Die maskierte Theologie von Pierre Bayle. Berlin, New York 2003, hier S. 25–45. Auch darauf wird an entsprechender Stelle noch hingewiesen.

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wird.11 Sein vermeintlicher Atheismus ist vielmehr als Säkularismus zu verstehen, so dass er sich ausschließlich auf diesseitige Fragen der Moral und Politik bezieht und vor allem auf religiöse Toleranz abzielt. Denn die Forderung nach Toleranz in religiösen Fragen kann im Rahmen von Mauvillons ›wahrem System des Christentums‹ als in zweifacher Hinsicht nützlich eingeschätzt werden: In moralischer Hinsicht führt sie – so zumindest die Hoffnung – zu weniger Konflikten zwischen Menschen verschiedener Glaubensbekenntnisse; und in theologischer Hinsicht garantiert sie eine von äußeren Faktoren ungestörte Stabilität des ›wahren‹ Glaubens der ›Auserwählten‹.12 Mit der strikten Unterscheidung von rationalistisch-säkularer Welterkenntnis und fideistischem Vertrauen aufs Übersinnliche, verbunden mit der Forderung nach religiöser Toleranz ähnelt Mauvillons Position in Grundzügen vor allem derjenigen Bayles.13 Ihren genauen Quellen werde ich hier allerdings nicht weiter nachgehen – ebenso wenig wie einigen zeitgenössischen Rezeptionen, die ihr eine ironische oder persiflierende Attitüde zuschreiben.14 Im Vordergrund wird vielmehr schlichtweg diejenige religionsphilosophische Position stehen, die eben in dem Buch Das einzige wahre System der christlichen Religion expliziert wird. Um die genannte These auszuführen und zu bestätigen, ist meine Interpretation in drei Teile gegliedert: Da Mauvillons Wahres System nicht sonderlich bekannt ist, werde ich zuerst einen skizzenhaften Überblick über den Text selbst, genauer über das ihm zugrundeliegende Programm sowie seinen Aufbau und Argumentationsgang geben (1). Darauf wird Mauvillons Kritik an der Aufklärungstheologie nach

|| 11 Vgl. zur Debatte um eine ›Radikalaufklärung‹ etwa Jonathan I. Israel, Martin Mulsow (Hg.): Radikalaufklärung. Berlin 2014. 12 Vgl. z. B. Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 3), S. 537f., S. 547f. und S. 562–564. 13 Vgl. zu Bayle Stricker: Die maskierte Theologie (s. Anm. 10), hier bes. S. 60. 14 Dass sich Mauvillon zum evangelisch-reformierten Glauben bekannte, darf als sicher gelten. Dies legt bereits sein Elternhaus nahe, sein Vater Éléazar de Mauvillon arbeitete u. a. als reformierter Prediger. Zudem zitiert Mauvillon z. B. affirmativ aus Bénédict Pictet: Theologia Christiana. Genève 1696, und merkt dabei ausdrücklich an, einen »Theologen von meinem Glaubenbekenntnisse« (Mauvillon: Das einzige wahre System [s. Anm. 3], S. 522) anzuführen. – Dass Mauvillons Wahres System bei den zeitgenössischen Aufklärungstheologen auf Unverständnis stieß, bezeugen etwa die Äußerungen Johann Joachim Spaldings in Briefen an Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (vgl. Johann Joachim Spalding: Briefe. Hg. von Albrecht Beutel und Olga Söntgerath. Tübingen 2018, S. 321–323 und S. 337; ich danke Kevin Hilliard für den Hinweis auf die Briefe Spaldings). Spalding bezeichnet dort Mauvillons Wahres System als ›Nachbeterei‹ von Henry Dodwells 1741 erschienenem Christianity Not Founded on Argument und bezeichnet es als »schändlich, daß […] so etwas mit der unwürdigsten Persiflage unter der spöttischen Gestalt der Rechtgläubigkeit gesagt wird« (ebd., S. 323). Dass wiederum nicht alle Rezipienten trotz der geteilten Ablehnung der theologischen Position Mauvillons in ihr bloße Ironie erkennen wollten, zeigen etwa die bierernste »Widerlegung« des Wahren Systems in August Christian Bartels: Über den Werth und die Wirkungen der Sittenlehre Jesu. Eine Apologie derselben gegen das sogenannte einzige wahre System der christlichen Religion. Hamburg 1788/89 und deren durchweg nüchterne Besprechung in: Allgemeine Literatur-Zeitung, Jg. 1789, Bd. 4, Nr. 325, Sp. 161–164.

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ihren philosophischen Hintergrundannahmen befragt, wobei ich mich auf zwei Punkte beschränken werde: seine Einschätzung der natürlichen Theologie und Moral sowie seine Kritik an der moralischen Instrumentalisierung des Christentums (2). Im letzten Teil werden die zentralen Elemente von Mauvillons eigener »Darlegung des wahren christlichen Religionssystems«15 zusammenfassend vorgestellt, wobei besonders seine Behauptung von dessen ›Vernünftigkeit‹ im Vordergrund steht und abschließend im Kontext der Religionsphilosophie der deutschen Spätaufklärung kritisch gewürdigt wird (3).

1 Mauvillons Das einzige wahre System der christlichen Religion Um einen Überblick über Mauvillons Wahres System zu geben, werde ich zuerst das ihm zugrundeliegende Programm skizzieren, wie er es in der kurzen Vorrede und der etwas ausführlicheren »Einleitung« vorstellt (1.1). Darauf werden der Aufbau des immerhin mehr als 600 Seiten umfassenden Texts und die wichtigsten Schritte des in ihm entwickelten Argumentationsgangs angegeben (1.2).

1.1 Programm In der Vorrede weist Mauvillon zuerst darauf hin, dass er sich bereits eine ganze Weile vor der Veröffentlichung seines Wahren Systems der »Erforschung« der »Natur des Wesens des Menschen« und der »Kunst zu leben« gewidmet habe und der nunmehr vorliegende Text die »Frucht seines vor langen Jahren darauf angewandten Fleißes« sei.16 Zusammen mit der im nächsten Absatz formulierten Zielsetzung, das »Unsinnige des Pfaffengeistes« darlegen zu wollen, und der folgenden Bitte, »das Buch zu nehmen wie es ist«,17 deutet sich hier schon das Programm des gesamten Textes an: eine polemisch-kritische Auseinandersetzung mit Theologie und Kirchenverständnis der Zeit – die sich allerdings »auf die reinsten, und am allgemeinsten anerkannten Gründe des Christentums stützet«.18 Gemeint sein dürfte damit ein gewisses protestantisches Grundverständnis in religiösen Fragen, das

|| 15 Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 3), S. 431 (Titel der dritten »Abteilung«). 16 Ebd., S. I (im Original nicht nummeriert). 17 Ebd., S. II (im Original nicht nummeriert). 18 Ebd.

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Mauvillon selbst zuerst in seinem Elternhaus, dann an der Thomasschule in Leipzig und schließlich am Collegium Carolinum in Braunschweig erworben hat.19 In der »Einleitung« spezifiziert Mauvillon dann sein Ziel, um dessen willen er sich mit der Theologie und dem Kirchenverständnis der Zeit kritisch-polemisch auseinandersetzen will: Meine Absicht geht dahin, wahres Christenthum zu lehren; zu zeigen, daß wahres Christenthum sich mit wahrer Vernunft, angewendet auf Regierungskunst, vollkommen vertrage; und allen Grund, zu dem seit mehr als anderthalbtausend Jahren herrschenden Streite, zwischen Priesterthum und Staat, über den Haufen zu werfen.20

Sein Ziel ist demnach nicht weniger als eine Darstellung der ›Lehre des wahren Christentums‹, wodurch zugleich das traditionelle Problem eines Arrangements staatlicher und kirchlicher Gewalt gelöst werde. Dass das Theologie- und Kirchenverständnis, mit dem sich Mauvillon dafür kritisch-polemisch auseinandersetzen will, ausgerechnet dasjenige der »neuen«,21 also aufgeklärt-protestantischen Theologen ist, mag zuerst verwundern. Schließlich weist Mauvillon im dritten Absatz der »Einleitung« selbst darauf hin, dass mit dem ›Dämmern der gesunden Vernunft in der protestantischen Welt‹ und deren sich daraufhin weiter »ausbereitendem Lichte« der Staat nicht mehr als für das »geistliche Wohl« der Menschen zuständig angesehen werde.22 Allerdings sieht Mauvillon auch in den neueren, vermeintlich aufgeklärten Zeiten den »wahren Geist« jedes »geistlichen Standes« am Werk – nämlich »sich so bald er die Mittel dazu hat, über alle andere empor [zu schwingen] um sie zu beherrschen«.23 Der neuere (protestantische) geistliche Stand wende dafür Mauvillon zufolge ein Mittel an, das Altes in einem neuen Gewand präsentiere: Er nehme entscheidenden Einfluss auf die staatliche Obrigkeit und geriere sich dabei zugleich als aufklärerisch-zeitgemäß, indem er den ›vernünftigen‹ Gehalt des Christentums aufs ›Moralische‹ reduziere und dadurch die christliche Religion als probates Mittel für die Stabilität des Staates hinstelle: Die Religion, sagen sie anjetzt, ist wo nicht die einzige, doch die festeste Stütze der menschlichen Gesellschaft. Ohne sie würde alles in Unordnung verfallen, und kein Zügel mehr für die || 19 Vgl. zur Biografie Emanuel Leser: [Art.] Mauvillon, Jakob. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 20 (1884), S. 715f. und Jochen Hoffmann: [Art.] Mauvillon, Jacob. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 16 (1990), S. 455–457. Vgl. ausführlich zu Mauvillons Selbstverständnis und zur Entstehungsgeschichte des Einzigen wahren Systems die detailreiche Studie von Gisela Winkler: Die Religionsphilosophie von Jakob Mauvillon in seinem Hauptwerk Das einzige wahre System der christlichen Religion. Bochum 2000, hier bes. Kap. II und VI. 20 Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 3), S. 1. 21 Ebd., S. 3f. 22 Ebd., S. 2. 23 Ebd., S. 1.

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Unbändigkeit vorhanden seyn. Alles, was sie also erschüttert und die Menschen von ihr abwendig machen kann, schadet dem Staate und stört dessen Sicherheit. Dies ist aber ein Verbrechen, daß eine Regierung allerdings berechtigt ist, zu bestrafen. Ist das Christenthum über den Haufen geworfen, so hört alle Hoffnung von Belohnung, alle Furcht vor Strafen nach dem Tode auf, und folglich auch alle Sicherheit im Handel und Wandel, im ganzen gemeinen Leben, gegen mächtige oder verborgene Laster und Verbrechen.24

Und weiter schreibt Mauvillon im übernächsten Absatz: Um aber den Weg, den sie die Welt führen wollen, feiner zu verbergen, bequemen sie sich nach den jetzigen Begriffen derselben; schaffen ein sogenanntes vernünftiges und geläutertes Christenthum; verwerfen und verändern nach Gutdünken diesen oder jenen Satz, um ihrem neuen System diejenige Gestalt zu geben, die sie für nöthig halten, damit erleuchtete Staaten bewogen werden, obigen Sätzen ihren Beifall zu geben. Moral! ist anjetzt die Losung im Christenthum. Auf diese soll alles hinausgehen.25

In der Reduktion aufs ›Moralische‹ durch die Aufklärungstheologie sieht Mauvillon den ›neuen‹ Missbrauch der christlichen Religion, dem entgegenzuwirken dann auch das Programm seines Wahren Systems abgibt. Er spitzt dieses Programm schließlich – wie eingangs zitiert – auf die Frage zu, ob sich ›Beweisgründe‹ für den ›göttlichen Ursprung des Christentums‹ angeben ließen,26 so dass die Qualifikation desselben als brauchbares politisches Mittel durch die Aufklärungstheologie entweder tatsächlich bestätigt – oder aber als dem ›Wesen‹ des Christentums entgegen beurteilt werden müsse. Vier ›Hauptpunkte‹, ›worauf es ankommt‹, nennt er am Ende der »Einleitung«: Erstens: »[W]as ist eine göttliche Offenbarung überhaupt, was soll die christliche insbesondere seyn, und was hat man also von ihr zu erwarten?«; zweitens: »[K]önnen Wunderwerke und Prophezeiungen einen Beweis für eine Offenbarung abgeben; unter welchen Bedingungen können sie es; und erfüllen die fürs Christenthum angeführten Weissagungen und Wunderwerke diese Bedingungen?«; drittens: »[G]iebt die Geschichte der Ausbreitung des Christenthums einen gewissen Beweis für dessen Göttlichkeit ab?«; und viertens: »[I]st die Beschaffenheit der Lehre, besonders aber die Vortrefflichkeit der Moral so, daß sie als ein befriedigender Beweis für den göttlichen Ursprung der christlichen Religion gelten könne?«27

Mit der Beantwortung dieser Fragen würde nicht nur das genannte Programm erreicht, sondern zugleich der »wahre[] Grund und das Wesen des Christenthums ein[ge]sehen werden«.28

|| 24 Ebd., S. 2. 25 Ebd., S. 3. 26 Vgl. nochmals ebd., S. 4f. 27 Ebd., S. 5 (alle Zitate). 28 Ebd.

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1.2 Aufbau und Argumentationsgang Der Aufbau von Mauvillons Buch entspricht dann allerdings nur teilweise diesem Programm.29 Es ist in drei »Abteilungen« gegliedert, deren erste die drei zuerst genannten Punkte in acht Kapiteln auf ca. 100 Seiten abhandelt, während der vierte Punkt Gegenstand der zweiten, immerhin 24 Kapitel auf reichlich 300 Seiten umfassenden »Abteilung« ist. Die letzte, ca. 200 Seiten lange »Abteilung« in sieben Kapiteln ist dagegen vorrangig konstruktiven Inhalts: Während sich die ersten beiden »Abteilungen« fast ausschließlich an geläufigen Argumenten für die ›Vernünftigkeit‹ des Christentums abarbeiten, gibt Mauvillon hier seine Darstellung des »wahren christlichen Religionssystems«. Der Inhalt der drei »Abteilungen« lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:30 Die ersten acht Kapitel sind allein der Behauptung gewidmet, dass für den göttlichen Offenbarungscharakter des Christentums rationale oder empirische Beweise angeführt werden könnten. Als solche Beweise werden etwa die Mangelhaftigkeit der menschlichen Natur, die Notwendigkeit göttlicher Offenbarung für intelligible Erkenntnis, die Umstände der Entstehung der heiligen Schrift, das biblische Zeugnis von Wundern, die Bestätigung von Weissagungen oder die globale Ausbreitung der christlichen Religion angeführt. Mauvillon weist sie in einer Reihe von Gegenargumenten zurück, indem er etwa auf die Mehrdeutigkeit der biblischen Erzählungen und Sprachen, den zweifelhaften moralischen Charakter ihrer Verfasser, die Unwahrscheinlichkeit der in der Bibel berichteten Wunder oder die besonderen historischen Konstellationen zur Zeit des frühen Christentums verweist. Die folgenden 24 Kapitel der zweiten »Abteilung« nehmen dagegen dasjenige »Kennzeichen« der mutmaßlichen Göttlichkeit des Christentums in den Blick, auf das »die meisten und klügsten Apologeten des Christenthums vorzüglich, und manche darunter fast allein bestehen«31 – nämlich seinen besonderen moralischen Gehalt. Folgende Kritikpunkte führt Mauvillon an: Erstens sei die christliche Moral dunkel und unbestimmt, indem sie Vorschriften enthält, die vonseiten der Vernunft nicht als ein Teil der ›natürlichen‹ Moral nachvollzogen werden können (Kapitel 1 und 2); zweitens sei die christliche Moral auch mangelhaft, insofern sie bestimmte Pflichten – etwa die der Untertanen gegenüber der Regierung – gar nicht enthält (Kapitel 3 und 4); und drittens widerspreche sie sogar in einigen wichtigen Punkten der vernünftigen ›natürlichen‹ Moral, wenn sie etwa weitgehende Armut oder ein zölibatäres Leben gebietet (Kapitel 5 bis 7). || 29 Diese Inkongruenz kann vor allem durch die Entstehungsgeschichte des Einzig wahren Systems erklärt werden. Vgl. deren entsprechende Rekonstruktion in Winkler: Religionsphilosophie von Mauvillon (s. Anm. 19), Kap. II, hier bes. S. 132–138. Sie wird im Folgenden nicht weiter thematisiert. 30 Da die erste »Abteilung« im Beitrag von Sebastian Abel ausführlich thematisiert wird, gehe ich hier nur ganz kurz auf sie ein und konzentriere mich eher auf die zweite und dritte »Abteilung«. 31 Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 3), S. 109.

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Diese drei Punkte reichen Mauvillon zufolge aus, vom Standpunkt bloßer Vernunft die Behauptung zurückweisen zu müssen, bereits der spezifische Gehalt der christlichen Moral belege deren göttlichen Ursprung.32 Nichtsdestotrotz fährt er in fast zwanzig weiteren Kapiteln mit seiner Kritik an der Aufklärungstheologie und ihrem Missbrauch der christlichen Religion als politisches Mittel fort. Denn in neuerer Zeit werde eine Beweisstrategie für die Göttlichkeit des Christentums vertreten, die zuvor unbekannt gewesen sei und auf dessen »herrliche« politische Wirkungen abziele.33 Zwei Argumente lassen sich hier grob unterscheiden: ein (a) historisches (Kapitel 9 bis 13) und ein (b) gesellschaftlich-institutionelles (Kapitel 14 bis 24). (a) Das historische Argument geht davon aus, dass in der Menschheitsgeschichte ein Fortschritt stattgefunden habe und identifiziert dessen Ursache mit dem Christentum und seiner Ausbreitung.34 Mauvillon weist es in zwei Schritten zurück: Erstens sei ein tatsächlicher Fortschritt – vor allem in moralischer Hinsicht – erst in der neueren Zeit erkennbar;35 zweitens gehe dieser ausschließlich auf das Konto der Wissenschaften und nicht auf das des Christentums.36 Vielmehr seien christliche Religion und Kirche eher Hindernisse für den Erkenntnisfortschritt der Wissenschaften gewesen.37 (b) Neben diesem historischen nimmt Mauvillon noch ausführlich solche Argumente in den Blick, die bestimmte konkrete zeitgenössische Umstände und Institutionen als ›Vorteile‹ eines aufgeklärten Christentums ausgeben – ihm zufolge aber lediglich der Geistlichkeit als politische Mittel zur Einflussnahme auf den Staat dienen. Bei der Auswahl dieser Umstände und Institutionen orientiert sich Mauvillon nicht nur, aber zu weiten Teilen an dem Handbuch der Christlichen Religionstheorie für Aufgeklärte des Göttinger Theologen und Direktors des dortigen Predigerkollegiums Gottfried Less.38 Die Umstände und Institutionen, die er anführt – und teilweise

|| 32 Vgl. ebd., S. 210. 33 Vgl. ebd., S. 210f. 34 Vgl. bes. ebd., S. 212f. 35 Vgl. ebd., S. 213ff. und S. 218ff. 36 Vgl. ebd., S. 225ff. 37 Vgl. ebd., S. 238ff. 38 Vgl. Gottfried Less: Handbuch der Christlichen Religionstheorie für Aufgeklärte. Versuch einer Praktischen Dogmatik. Göttingen 1777 (3. Auflage 1789). Vgl. zur Biografie Less’ Carl Bertheau: [Art.] Less, Gottfried. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 18 (1883), S. 444–446 und Ernst Berneburg: [Art.] Less, Gottfried. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 14 (1985), S. 334f. – Mauvillon bezieht sich mehrfach explizit auf Less (vgl. Mauvillon: Das einzige wahre System [s. Anm. 3], S. 261, S. 266ff., S. 273ff., S. 329ff., S. 407f. und S. 421). Gisela Winkler bezeichnet Less als einen »in seiner Zeit führenden protestantischen Theologen« (Winkler: Religionsphilosophie von Mauvillon [s. Anm. 19], S. 213) und geht ausführlich Mauvillons Vorwurf einer mangelhaften Bibelexegese an Less nach (vgl. ebd., Kap. V). Less trat vor allem auch als »Vermittlungstheologe zwischen Orthodoxie und Aufklärung« in Erscheinung (vgl. Valentin Wendebourg: Debatten um die Bibel. Analysen zu gelehrten Zeitschriften der Aufklärungszeit. Tübingen 2020, S. 229ff.).

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weitläufig – prüft, sind: die wesentlich verbesserte Gotteskenntnis (auch für weite Teile der Bevölkerung),39 die ›Befreiung‹ vom Aberglauben an Hexen und Gespenster,40 die Einsetzung von Pastoren und Schulmeistern zur moralischen Stärkung und Besserung,41 die Lehre von den postmortalen Belohnungen und Strafen,42 das Almosenwesen,43 die Befriedung menschlichen Zusammenlebens,44 die Monogamie45 und schließlich die Zähmung sexuellen Verlangens durch das Etablieren der Keuschheit als besonderer Tugend.46 Bei allen diesen Umständen und Institutionen fragt Mauvillon jeweils zuerst danach, ob sie tatsächlich durch die christliche Religion und ihre Verbreitung verursacht oder maßgeblich beeinflusst wurden. Die herausgestellten mutmaßlichen ›Vorteile‹ relativiert Mauvillon dann in einem zweiten Schritt mittels verschiedenster Gegenargumente – von historischen über bibelexegetische und dogmatische bis hin zu moralanthropologischen. Bei dieser ausführlichen, immerhin über 200 Seiten umfassenden Kritik an der Apologie des Christentums durch die Aufklärungstheologie werden auch bereits einige Theoreme und Lehrstücke angeführt, die Mauvillon dann in der letzten »Abteilung« ausführlich entwickelt. Sie können aber leicht überlesen werden und zusammen mit der Offenbarungs- und Wunderkritik der ersten »Abteilung« mag der Eindruck entstehen, Mauvillon sei nicht nur ein Kirchen-, sondern ein strikter Religionskritiker und überzeugter Atheist. Im letzten Absatz der zweiten »Abteilung« schreibt er allerdings unmissverständlich: Nun kommen wir zum dritten Theile und wollen nun das wahre System des Christenthums, so wie es sich mit der Bibel und der Vernunft zugleich zusammen vereinigen läßt; so wie es von allen bösen Folgen, die es sonst geäussert hat, und noch äussert, so bald man es anders betrachtet, gereinigt erscheint, und keine menschliche Kraft es erschüttern kann; vorstellen. Wir freuen uns darüber, daß wir den Schein eines Religionswidersachers, den wir zur Ausführung unsers Zweckes haben mußten ablegen können, und keinen Christen fernern Anstoß zu geben brauchen.47

Erst mit der dritten »Abteilung« erreicht Mauvillon also sein Ziel: die Darstellung des ›einzigen wahren Systems des Christentums‹.48 Sie ist in sieben Kapitel gegliedert, deren erstes direkt klarstellt, dass das Christentum keine universale Religion, || 39 Vgl. Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 3), S. 259ff. 40 Vgl. ebd., S. 265ff. 41 Vgl. ebd., S. 285ff. 42 Vgl. ebd., S. 319ff. 43 Vgl. ebd., S. 358ff. 44 Vgl. ebd., S. 375ff. 45 Vgl. ebd., S. 381ff. 46 Vgl. ebd., S. 389ff. 47 Ebd., S. 430. 48 Vgl. auch Winkler: Religionsphilosophie von Mauvillon (s. Anm. 19), S. 135: »Die Dritte Abteilung enthält die eigentliche Lehre Mauvillons und stellt gleichsam die Krönung des Werkes dar.«

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sondern nur einigen wenigen auserwählten Menschen vorbehalten sei.49 Diese sind dann auch nicht bloß Teil des ›Reichs der Natur‹ – wie alle Menschen –, sondern auch des ›Reichs der Gnade‹.50 In den folgenden drei Kapiteln kennzeichnet Mauvillon den ›wahren‹ Glauben, der die auserwählten, ›wahren‹ Christen auszeichne, sowie deren Gemeinschaft in einer ›wahren‹, ›unsichtbaren‹ Kirche näher.51 Entscheidend ist dabei für ihn, dass sowohl der ›wahre‹ Glaube als auch die ›wahre‹ Kirche ausschließlich Wirkungen des übernatürlichen Handelns Gottes resp. des Heiligen Geistes sind. Die Vorteile, die aus einer solchen Auffassung resultieren, stellt Mauvillon in den beiden darauf folgenden Kapiteln vor: Einerseits werde durch sie die christliche Religion gegen kritische Nachfragen und Einwände, die vonseiten der ›natürlichen‹ Vernunft hervorgebracht werden können, geschützt – der ›wahre‹ Gläubige sei völlig immun gegenüber jedem noch so vernünftigen Zweifel.52 Andererseits werde auch der nicht-auserwählte, also bloß ›natürliche‹ Teil der Menschheit vor möglichem Schaden durch falsch verstandene Religion geschützt. Denn insofern ›wahrer‹ Glaube und ›wahre‹ Kirche allein Teil des ›Reichs der Gnade‹ sind und durch ›natürliche‹ Vernunft nicht erkannt werden können, stünden sie auch nicht im Konflikt mit dieser und damit auch nicht mit ›natürlichen‹ Herrschaftsverhältnissen, mithin dem Staat.53 Im letzten Kapitel versucht sich Mauvillon schließlich noch an einigen teleologischen Spekulationen über die göttlichen Absichten bei der ›Stiftung‹ eines solchen Christentums, das eine strenge, für den ›natürlichen‹ Menschen nicht durchführbare Moral abverlangt und deren universelle Einhaltung wahrscheinlich zum Aussterben der Menschheit führen würde.54 Er sieht im ›wahren‹ Christentum das beste Mittel, um ein möglichst hohes Maß an Glückseligkeit für möglichst viele Menschen zu erlangen,55 und umreißt auf den letzten Seiten ›Gottes Plan‹, das ›wahre‹ Christentum mittels europäischer Hegemonie weltweit zu verbreiten – schließlich sei Europa nicht nur wissenschaftlich-technisch am weitesten entwickelt, sondern Heimat der meisten ›wahren Christen‹.56

|| 49 Vgl. Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 3), S. 432ff. 50 Vgl. etwa ebd., S. 457. 51 Vgl. ebd., S. 465ff. und S. 512ff. Vgl. zur ›Unsichtbarkeit‹ der ›wahren‹ Kirche auch Calvin: Institutio (s. Anm. 5), IV, 1, 3. 52 Vgl. bes. Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 3), S. 531f. Vgl. auch Calvin: Institutio (s. Anm. 5), III, 2, 14: »Et sane certo sciunt; sed divinae veritatis persuasiono confirmati magis, quam rationali demonstratione edocti«. Vgl. zur ähnlichen Position Bayles Stricker: Die maskierte Theologie (s. Anm. 10), S. 40–45. 53 Vgl. Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 3), S. 542ff. Auch für Bayle impliziert die Konzeption einer ›wahren‹, ›unsichtbaren‹ Kirche eine Schutzfunktion gegenüber staatlicher Repression (vgl. Stricker: Die maskierte Theologie [s. Anm. 10], S. 184–187). In diesem Punkt weichen Bayle wie Mauvillon von Calvin ab (vgl. zu Bayle ebd., S. 198–200). 54 Vgl. Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 3), S. 581ff. und S. 596–598. 55 Vgl. ebd., S. 598. 56 Vgl. bes. ebd., S. 614–617.

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2 Zur Kritik an der Aufklärungstheologie Der gegebene Überblick dürfte deutlich gemacht haben, dass Mauvillon nicht gerade wenige philosophische und theologische Themen anspricht und teilweise sehr ausführlich abhandelt. Um seine Kritik an der Aufklärungstheologie, die ja wesentlich für den gesamten Argumentationsgang des Wahren Systems ist, und um die Eigentümlichkeiten von Mauvillons Religionsphilosophie besser einschätzen zu können, möchte ich im nächsten Schritt auf zwei Punkte etwas näher eingehen: das Verhältnis von Mauvillons Religionsphilosophie zur natürlichen Theologie sowie ihre Kernthese einer moralischen Instrumentalisierung des Christentums durch die Aufklärungstheologie. Anhand beider Punkte lassen sich gut einige theoretische Hintergrundannahmen explizieren, die Mauvillon selbst zwar durchaus nennt, aber nicht weiter problematisiert. Damit wird dann auch sein philosophisches Profil etwas schärfer gezeichnet werden können.

2.1 Natürliche Theologie Der gesamte Duktus der ersten beiden »Abteilungen« kann schnell den Eindruck erwecken, dass Mauvillon der ›natürlichen‹ Vernunft gar keine konstruktive, sondern lediglich eine kritische Kompetenz in puncto theologischer Erkenntnis zugesteht. Schließlich müssen seinen dort gegebenen Ausführungen zufolge sowohl die christliche Offenbarung als auch der spezifische Gehalt der christlichen Lehre für einen nicht durch den Heiligen Geist erleuchteten Menschen und für dessen bloß ›natürliche‹ Vernunft als schlichtweg unbegreiflich gelten. Ohne Unterstützung durch den Heiligen Geist – oder wenigstens durch religiöse Erziehung und theologische Doktrin – scheint die ›natürliche‹, allein auf sich gestellte Vernunft ausschließlich zu Naturalismus und Atheismus, also einer schnöden Diesseitigkeit zu neigen. Allerdings weist dann Mauvillon etwa im 14. Kapitel der zweiten »Abteilung«, das den vermeintlichen, allein durch das Christentum bewirkten Vorteil einer ›besseren Kenntnis von Gott‹ diskutiert, darauf hin, dass zwar erst durch Reformation und Aufklärung »anständigere« Ideen von Gott und seinen Eigenschaften gebildet worden seien als diejenigen der antiken Heiden und der katholischen und orthodoxen Kirchen.57 Jedoch sei es dabei allein die (menschliche) Vernunft gewesen, die »den Begriff von Gott, den das Christenthum gab, besser bestimmt, erläutert, gereinigt hat«.58 Und nicht nur in diesem Kapitel, sondern über alle Teile seines Buches

|| 57 Vgl. ebd., S. 263f. 58 Ebd., S. 264. Auch Calvin zufolge kommt dem menschlichen Geist von Natur aus ein ›Gefühl für das Göttliche‹ (sensus divinitatis) zu, das allerdings noch richtig entwickelt werden muss (vgl. Calvin: Insitutio [s. Anm. 5], I, 3).

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hinweg verwendet Mauvillon einen Gottesbegriff, der grosso modo demjenigen der natürlichen Theologie des 18. Jahrhunderts entspricht: Gott ist ein ›höchst vollkommenes Wesen‹,59 ›immateriell‹ und ›extramundan‹,60 ›heilig‹ und ›unveränderlich‹,61 ›weise‹ und ›gerecht‹,62 ›allwissend‹63 usw. – Dass damit das spezifisch christliche einer theologischen Gotteslehre (noch) nicht erfasst wird, ist offenkundig. Eben dieses ist vielmehr – gerade in Mauvillons Augen – ein wesentlicher Streitpunkt zwischen Theologen verschiedener Konfessionen und Bekenntnisse.64 Zugleich zeigt diese weitgehende Übereinstimmung mit der natürlichen Theologie der Zeit aber auch, dass Mauvillons in den ersten beiden »Abteilungen« entwickelte Religions- und Theologiekritik so atheistisch nicht ist, wie es scheinen mag – und wie Mauvillon selbst gelegentlich suggeriert.65 Besonders deutlich wird diese Nähe zu dem besonderen, zeitgenössischen Monotheismus der Philosophie auch in seiner Darstellung einer ›natürlichen‹ Moral, die Mauvillon im 20. Kapitel der zweiten »Abteilung« als eine »Abschweifung« einfügt.66 Er fügt sie dort einerseits ein, um einen Bezugspunkt für seine Kritik an der christlichen Moral bereitzustellen, andererseits, um klar zu machen, dass die moralische Erziehung möglichst unabhängig von der religiösen, mithin von kirchlichen Institutionen erfolgen solle.67 Inhaltlich skizziert er vor allem eine stoizistische Glückseligkeitslehre, die im zeitgenössischen Kontext nicht sonderlich originell erscheint, hier aber auch nicht weiter von Interesse ist. Unmittelbar relevant ist dagegen das Fundament dieser »wahren, vernunftmäßigen Moral«, das Mauvillon gleich zu Beginn seines »Abrisses« nennt: Es ist keine Sache gewisser, als daß Tugend und Rechtschaffenheit die einzigen Mittel sind, um in dieser Welt glücklich zu leben. Nichts, Nein! Nichts von allem, was wir von der ganzen Schöpfung erblicken, kann uns deutlicher von der Weisheit des Urhebers der Natur überfüh-

|| 59 Vgl. z. B. Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 3), S. 113 (dort explizit: »sagt Vernunft«). 60 Vgl. z. B. ebd., S. 260. 61 Vgl. z. B. ebd., S. 175 (dort explizit: »das lehren Bibel und Vernunft«). 62 Vgl. z. B. ebd., S. 335. 63 Vgl. z. B. ebd., S. 319. 64 Vgl. ebd., S. 260–262. 65 Vgl. nochmals besonders seine entsprechenden Bemerkungen in der »Vorrede« und am Ende der »Einleitung« sowie am Ende der zweiten »Abteilung« (ebd., S. 430). 66 Vgl. ebd., S. 335ff. – Auch im folgenden Punkt, also der ›Natürlichkeit‹ der moralischen Gesetze, stimmt Mauvillons Ansicht mit dem orthodoxen Calvinismus überein (vgl. etwa Calvin: Institutio [s. Anm. 5], II, 2, 22 sowie die Dordrechter Canones von 1619, in: Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche in authentischen Texten mit geschichtlicher Einleitung und Register. Hg. von Ernst Friedrich Karl Müller. Leipzig 1903, S. 843–861, hier S. 852 [Tertium et quartum doctrinae caput, IV.]). 67 Vgl. bes. Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 3), S. 357f.

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ren, als eben diese herrliche Einrichtung; wonach hienieden keine Tugend unbelohnt und kein Laster unbestraft bleibt.68

Dass mit diesen beiden Sätzen ein Fall rationaltheologischer Fundierung der Moralphilosophie vorliegt, muss nicht erst ausführlich erläutert werden. Nimmt man hinzu, dass gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die besondere Relevanz der natürlichen Theologie in ihrem moralischen Teil gesehen wurde – prominent etwa bei Crusius und Kant69 –, dann erscheint Mauvillons Moralbegründung als wenig originell und eher dem Mainstream verpflichtet – oder eben als schlichtweg calvinistisch.70 Seiner Kritik an der Aufklärungstheologie liegen demnach rationaltheologische Hintergrundannahmen zugrunde, die Mauvillon selbst nicht problematisiert – dies aber auch gar nicht muss, da sie in weiten Teilen der deutschen Philosophie der Zeit gebräuchlich waren.

2.2 Instrumentalisierung des Christentums Die Kernthese, die der gesamten zweiten »Abteilung« zugrunde liegt, stellt die der protestantischen Aufklärungstheologie durchaus eigentümliche Moralisierung der christlichen Religion als gezielte Instrumentalisierung zu politischen Zwecken heraus. Bei der Skizze des Argumentationsgangs habe ich bereits darauf hingewiesen, dass Mauvillon ganz unterschiedliche historische, bibelexegetische, dogmatische und moralanthropologische Argumente anführt, um diese These zu belegen und vor allem die Argumente der Aufklärungstheologen zu entkräften. Dazu gehören auch seine Einwände gegen das aufklärerische Programm einer moralischen Besserung der Menschen durch Religion, von denen hier einer herausgegriffen werden soll: der Einwand, dass der menschliche Wille gar nicht frei, sondern vollständig determiniert sei.71 Ausführlich erst im zweiten Kapitel der dritten »Abteilung«, aber andeutungsweise bereits in einigen Passagen der zweiten »Abteilung«72 gibt Mauvillon einen sowohl äußere wie innere Ereignisse umfassenden Determinismus als einzige vernunftgemäße philosophische Position aus. So heißt es dort unmissverständlich:

|| 68 Ebd., S. 335. 69 Vgl. z. B. Crusius: Kurzer Begriff (s. Anm. 1), § 4 und Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft. Riga 1781, S. 799f. 70 Vgl. etwa Calvin: Institutio (s. Anm. 5), IV, 20, 16: »Iam quum Dei legem, quam moralem vocamus, constet non aliud esse quam naturalis legis testimonium, et eius conscientiae quae hominum animis a Deo insculpta est, tota huius, de qua nunc loquimur, aequitatis ratio, in ipsa praescripta est. Proinde sola quoque ipsa legum omnium et scopus et regula et terminus sit oportet«. 71 Vgl. bes. Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 3), S. 468f. 72 Vgl. etwa ebd., S. 356f.

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Eine gesunde Philosophie lehrt uns den unzerstörbaren Zusammenhang der Ursachen und Würkungen, welcher macht, daß nichts in der Welt vorgehet, das nicht seinen zureichenden Grund, seine hinreichende, gänzliche Bestimmung in irgend etwas von dem, was vorher vorgegangen ist, hätte: und daß es mit den menschlichen Handlungen, und dem sie hervorbringenden menschlichen Willen nicht anders beschaffen seyn kann. Aus diesem allein erlernen wir, daß Gott einen höchst weisen Plan gehabt haben muß, nach dem er die Welt geschaffen hat. Dies allein versichert uns von seiner Allvorherwissenheit, von seiner Vorsehung, die sonst ein Hirngespinst seyn würde. Denn es ist der höchste Grad des absurdesten Widerspruchs, man mag die Sache drehen und wenden, und darüber schätzen soviel man will; wenn man Gott die Vorerkänntniß aller Begebenheiten in der Welt, und zugleich dem Menschen eine Willensfreyheit zuschreibet. Das lehrt die Philosophie oder das Räsonnement.73

Dass Mauvillon mit dieser Position einen in der zeitgenössischen Philosophie stark diskutierten philosophischen Naturalismus vertritt und auch entsprechend viel Vertrauen in die Psychologie und (physiologische) Anthropologie als neuen, vielversprechenden Wissenschaften seiner Zeit setzt, sei hier nur beiläufig erwähnt.74 Wichtiger ist mit Blick auf eine Einschätzung der Eigenart seiner Religionsphilosophie der besonders enge Zusammenhang, den er zwischen dieser philosophischen Position und der theologischen Prädestinationslehre ausdrücklich herstellt. Deren Zuspitzung im orthodoxen Calvinismus ist dann auch für Mauvillon nichts Geringeres als die philosophisch konsequenteste Religionslehre.75 Wenn aber das Wollen der Menschen seinen ersten Grund im Wollen Gottes hat,76 dann kann das Projekt einer moralischen Besserung durch Religion kaum noch als ein sinnvolles Unternehmen gelten. Denn es hängt schlicht nichts, auch nicht ihre moralische Besserung, von einem eigenständigen Wollen der Menschen ab. Wie im Fall des verwendeten Gottesbegriffs und der Fundierung der Moralphilosophie greift Mauvillon auch bei der Erklärung menschlichen Handelns auf bestimmte philosophische Theorien zurück, die im Kontext der Zeit durchaus geläufig sind. Allerdings ist er im Fall des ›philosophischen Determinismus‹ dann doch etwas ausführlicher bei dessen Verteidigung.77 Der Grund dafür liegt auf der Hand: Da Mauvillon zufolge gerade auch aus der Perspektive bloßer Vernunft an einem strikten Begriff von Gottes Vorsehung festzuhalten ist, bietet sich der strikte Determi-

|| 73 Ebd., S. 469. 74 Vgl. ebd., S. 469ff. – An dieser Stelle kann beispielsweise ebenso auf Jacobis einflussreiche Stilisierung der Philosophie Spinozas als konsequenter Rationalismus, der einen strikten Determinismus impliziere, wie auf die zahlreichen materialistisch grundierten Ansätze in der Naturphilosophie und Anthropologie verwiesen werden. 75 Vgl. ebd., S. 508 sowie bereits S. 478f. Interessanterweise zeichnet auch Bayle ausdrücklich den orthodoxen Calvinismus in ganz ähnlicher Weise aus (vgl. Stricker: Die maskierte Theologie [s. Anm. 10], S. 175). 76 Vgl. bes. Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 3), S. 473. 77 Vgl. ebd., S. 508ff.

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nismus geradezu an. Er ist dann auch ein wesentliches Element für seine Darstellung des »wahren christlichen Religionssystems«.

3 Das Christentum als vernünftige Religion Abschließend sind pointiert die zentralen Aspekte des von Mauvillon in der dritten »Abteilung« vorgestellten ›einzigen wahren Systems des Christentums‹ hervorzuheben, um seine Kombination von Fideismus und Aufklärung besser verstehen und in ihrer Eigenart angemessen einschätzen zu können. Die wesentlichen Elemente seiner Darstellung des ›wahren christlichen Religionssystems‹ wurden – wenigstens beiläufig – bereits erwähnt. Sie lassen sich unter die Schlagworte Partikularismus, Supranaturalismus und Säkularismus bringen und folgendermaßen zusammenfassen: (a) Partikularismus. Mauvillon wird nicht müde herauszustellen, dass der spezifische Gehalt der christlichen Religion, wie er in der heiligen Schrift überliefert ist, gar nicht alle Menschen betrifft, die christliche Lehre mithin keinen universalen, sondern ausschließlich einen partikularen Geltungsanspruch hat. Dadurch fallen offenkundig zahlreiche Streitfragen hinsichtlich des postmortalen Zustands von Nichtchristen oder Nicht-Rechtgläubigen weg. Denn die biblische Verheißung »überschwengliche[r] Seeligkeit« richtet sich ausschließlich an die wenigen ›wahren‹ Gläubigen78 – alle anderen Menschen, die nicht Teil des göttlichen ›Reichs der Gnade‹ sind, können dabei trotzdem glücklich werden, nämlich in den Grenzen des ›Reichs der Natur‹ – und sofern es Gottes Wille ist. (b) Supranaturalismus. Entscheidend für Mauvillons gesamte Argumentation ist das Ernstnehmen der christlichen Offenbarung und ihres Gehalts als etwas, das übernatürlichen, eben göttlichen Ursprungs ist – und damit auch nicht erfassbar mittels bloßer Vernunft.79 Daraus resultiert auch seine Konzeption des ›wahren‹ Glaubens, der zufolge nur diejenigen Menschen zur geringen Zahl der ›wahren‹ Christen gehören, bei denen Gott qua Heiliger Geist das Anerkennen und – zumindest implizite – Verstehen80 des spezifischen Gehalts der christlichen Religion direkt bewirkt hat. Einmal durch den Heiligen Geist erleuchtet, ist der ›wahre‹ Christ dann auch über jeden Zweifel erhaben,81 weiß um die Nichtigkeit des Irdischen und vermag es, die ›christliche Moral‹ bereitwillig zu befolgen. Moralische Besserung im Sinne der christlichen Lehre ist damit kein Verdienst des jeweiligen betroffenen Menschen, sondern schlichtweg gottgewollt und gottbewirkt. || 78 Vgl. ebd., S. 587f. 79 Vgl. u. a. ebd., S. 567f. 80 Vgl. Mauvillons Lehre vom ›religiösen Gefühl‹ ebd., S. 500ff. 81 Vgl. ebd., S. 531f.

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(c) Säkularismus. Aus den genannten beiden Elementen folgt schließlich eine Forderung, die bis heute zum ausgezeichneten Kern aufgeklärten Denkens gehört und der Mauvillon selbst die größte Bedeutung zuspricht: die Trennung von Religion und Staat,82 mithin ›Toleranz‹ im Sinne der Meinungs- und Gewissensfreiheit.83 Bereits am Anfang des Vorworts hatte er in Aussicht gestellt, mit seinem Wahren System »zu zeigen, daß wahres Christenthum sich mit wahrer Vernunft, […] vollkommen vertrage«, und den »Streit[], zwischen Priesterthum und Staat, über den Haufen zu werfen«.84 Und tatsächlich: Wenn der ›wahre‹ Glaube ohnehin dem menschlichen Handeln entzogen und allein eine Wirkung Gottes ist, dann kann bloß noch die ›natürliche‹ Vernunft Maßstab für die Beurteilung menschlicher qua irdischer Verhältnisse abgeben. Aus deren Perspektive gilt dann aber die eine historische Religion so viel wie die andere – solange die ›Grundsätze der natürlichen Moral‹ nicht verletzt werden.85 Mit dieser Darstellung des ›wahren christlichen Religionssystems‹ avanciert der orthodoxe Calvinismus mit seiner strikten Trennung zwischen privater Religiosität und öffentlicher Vernunft zum ›einzigen wahren System des Christentums‹. Und nicht nur das: Angesichts der gelegentlichen Bezüge Mauvillons auf nicht-christliche Religionsauffassungen wird die reformierte christliche Lehre sogar zum ›einzig wahren Religionssystem‹ schlechthin – denn von der Wahrheit der christlichen Offenbarung zeigt sich der Verfasser des Wahren Systems durchgehend überzeugt. Dieser Umstand erlaubt abschließend auch eine zweifache Einschätzung von Mauvillons Religionsphilosophie: einerseits in Hinsicht auf ihren historischen Kontext und andererseits in Hinsicht auf ihren sachlichen Gehalt. Während in England, Schottland und Frankreich der Calvinismus bereits wesentlich eher eine treibende Kraft in Sachen ›Aufklärung und Religion‹ darstellte,86 darf Mauvillons im Wahren System vorgelegte Position im Kontext der deutschen Spätaufklärung durchaus als ein Novum angesehen werden. Der aufklärerische Zweck, den er mit der Verteidigung dieser Position verfolgt, ist dann auch hoch zu

|| 82 Vgl. ebd., S. 542 u. ö. 83 Vgl. ebd., S. 547f. u. ö. 84 Ebd., S. 1 (beide Zitate). 85 Damit dürften bei Mauvillon aber vor allem christliche Religionsgemeinschaften gemeint sein. Zudem hält er es sogar für möglich, dass es in allen (christlichen) »Sekten« – wenigstens vereinzelt – auch ›wahre‹ Gläubige geben könnte (vgl. ebd., S. 525f.). Zu »Juden« und »Orientalen« äußert er sich dagegen vor allem herablassend (vgl. z. B. ebd., S. 167). Allerdings betont er auch, dass für die Eignung als »moralischer Lehrer« (der ›natürlichen‹ Moral) ein christliches Bekenntnis nicht notwendig sei (vgl. ebd., S. 357f.). Dieses Zugeständnis dürfte aber eher auf Atheisten gemünzt sein. 86 Vgl. Luise Schorn-Schütte: Die Reformation. Vorgeschichte, Verlauf, Wirkung. München 72017, S. 94f. (mit Verweis auf Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. München, Berlin 1911); siehe detaillierter S. J. Barnett: The Enlightenment and Religion. The myths of modernity. Manchester 2003, Kap. 3 und 4.

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schätzen. Immerhin erlaubt es seine Position, theologische Dogmen als nicht relevant für die vernünftige Organisation des diesseitigen Lebens beiseite zu stellen. Dieser Vorteil ist aber aus rationaler – und das heißt hier schlicht: aus einer sich ›innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft‹ haltenden Perspektive – teuer erkauft: Denn der mit der orthodox-calvinistischen Konzeption eines ›wahren‹ Glaubens verbundene Fideismus mochte vielleicht reformierte Theologen überzeugen. Den lediglich auf ihre ›natürliche‹ Vernunft gestellten Menschen muss er dagegen per definitionem verschlossen bleiben. Bereits insofern kann Mauvillons religionsphilosophische Position auch nicht als aufgeklärt gelten. Sie beinhaltet ausdrücklich eine spezifische Theologie, die zwar mit dem verfolgten aufklärerischen Zweck kongruiert, selbst aber vor dem Hintergrund einer Aufklärung auch in religiösen Dingen als bloß dogmatisch auftritt. Sachlich entscheidender ist, dass die von Mauvillon skizzierte Theologie auch eine Begründungsfunktion für seinen Säkularismus einnimmt. Denn nur dadurch, dass sie den Geltungsanspruch von Religion jeder rationalen Begründungsmöglichkeit entzieht, wird in Mauvillons Religionsphilosophie die Forderung nach bloß vernünftiger Organisation des diesseitigen Lebens legitimiert. Mauvillon selbst stößt sich daran nicht. Dass damals ›aufgeklärt‹ genannte Theologen und Philosophen dennoch versuchten, nicht-fideistische Optionen zu wählen und genuin religiöse Sachen auch zu verstehen, erklärt er vielmehr so: Als wenn Menschen die Wirkungen der göttlichen Macht widerstehn könnten! Das kömmt von den schwachen Begriffen über die göttlichen Rathschlüsse, die Freyheit des Menschen, Gottes Gerechtigkeit, her; die das jetzige Zeitalter schwach nervichter Menschen so geneigt ist, sich zu bilden. Sie haben nicht das Herz, nicht Kraft den Gedanken zu fassen: »was Gott will, das geschieht, und es geschieht nur das was er will«.87

Sieht man einmal von dem kraftmeierischen Ton ab, heißt das wohl nur so viel als: Wer als ›nichtauserwählter‹ Mensch versucht, religiösen Aussagen einen vernünftigen Sinn abzugewinnen, redet seltsames Zeug. Das mag sein – aber mit ›Aufklärung‹ im Sinne eines nüchternen Abwägens und Verfolgens von Gründen sowie eines reflektierten Umgangs auch mit religiösen Dogmen und Traditionen hat das sicher nichts zu tun.

|| 87 Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 3), S. 504f.

Sebastian Abel

Das Problem der Offenbarung in Mauvillons ›System der christlichen Religion‹ Will man den göttlichen Ursprung einer Schrift nicht einfach dogmatisch setzen, sondern beweisen, so ist man eines Maßstabes bedürftig, mit dem die Schrift zusammengehalten werden muss, damit beurteilt werden kann, ob es sich bei dieser um eine veritable Offenbarung handelt. Für die deutschsprachige Aufklärung fungiert mehrheitlich die Vernunft als Maßstab, was sich auch gut aus der zu vergleichenden Schrift heraus begründen lässt: Aus der darin beschriebenen Gottesebenbildlichkeit1 lässt sich schließen, dass der Mensch eine Vernunft besitzt, die von der göttlichen bloß graduell2 unterschieden ist. Kann nun unter Voraussetzung der Ähnlichkeit zwischen Mensch und Gott eine Vergleichung von Vernunft und Offenbarung zeigen, dass zwischen den beiden letzteren ein Verhältnis der Kongruenz besteht, so ist gleichsam auch der göttliche Ursprung der Offenbarung erwiesen. Mustergültig durchgeführt ist dieses Verfahren in Christian Wolffs Natürlicher Gottesgelahrtheit, in der zu lesen ist: Daß es eine geoffenbarte Religion gebe, wird damit bewiesen, woferne man zeigt, daß denjenigen Büchern, von welchen man saget, daß die göttliche Offenbarung darinnen enthalten seye, die Kennzeichen einer göttlichen Offenbarung zukommen.3

Die »Kennzeichen einer göttlichen Offenbarung« sind dabei wie folgt zu charakterisieren: Die göttliche Offenbarung kan nichts in sich enthalten, was der Vernunft oder der Erfahrung widerspricht, oder solches eben so viel ist, es kan in derselbigen nichts enthalten seyn, was den aus der Vernunft erwiesenen Säzen, oder solchen Geschichten, welche durch ein untrieglich Zeugniß der Erfahrung bekannt sind, zuwider läufft.4

|| 1 Vgl. Gen 1,27. 2 Vgl. hierzu exemplarisch Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee. Übers. von Arthur Buchenau. Hamburg 1968, S. 36. 3 Christian Wolff: Natürliche Gottesgelahrtheit nach beweisender Lehrart abgefasset. Übers. von Gottlieb Friedrich Hagen. In: ders.: Gesammelte Werke. 1. Abt. Bd. 23/II.2. Hildesheim 1995, § 522. 4 Wolff: Gottesgelahrtheit (s. Anm. 3), WGW 23/I.2, § 464. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass sich die gesamte Offenbarung auch ohne Mitwirkung des heiligen Geistes aus bloßer Vernunft deduzieren ließe: »Die göttliche Offenbarung muß Wahrheiten in sich enthalten, welche dem Menschen zu wissen höchst nötig sind, und welche er unmöglich auf eine andere Weise erkennen kan« (ebd., § 451). Denn wäre eine Erkenntnis der Offenbarung aus bloßer Vernunft möglich, wäre eine Inspiration überflüssig und Gott würde ohne zureichenden Grund handeln. Doch dass die geoffenhttps://doi.org/10.1515/9783110793611-011

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An der Vernunft als Maßstab wird auch in der Nachfolge Wolffs gerne festgehalten, doch es setzt sich im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts die Erkenntnis durch, dass – um eine Wendung Kants zu bemühen – das Verhältnis zwischen Vernunft und Offenbarung eben gerade keines von kongruenten, sondern eines von »konzentrische[n] Kreise[n]« ist.5 Die erwartbare Schlussfolgerung bestand – etwa bei Kant oder Reimarus – letztlich darin, dass man die auf einer eben nur partiell vernünftigen Offenbarung beruhende christliche Religion durch eine vollständig vernünftige, eben eine Vernunftreligion ersetzen müsse. Und auch Mauvillon scheint zunächst in diese Kerbe zu schlagen, wenn er über die Bibel schreibt: [...] was soll man zu einem Buche sagen; das die Wörter bald so, bald so braucht; so das Menschen wie im Glückstopfe greifen müssen, um zu rathen, welchhen Sinn sie hier und welchen sie da haben?6

Was Mauvillons ›System der christlichen Religion‹ jedoch interessant macht, ist, dass es in gewissem Sinne quer zu der oben beschriebenen Entwicklung steht, weil darin die Offenbarungskritik zeitgenössischer Autoren – neben Reimarus, der freilich nur als ›Fragmentist‹ auftaucht, z. B. auch Hume und Tindal – rezipiert und auch geteilt, aber zu Argumenten für einen eigenen, modifizierten Offenbarungsbegriff umgeschmiedet wird. Ausgehend von der oben genannten, wolffschen Unterscheidung zwischen Vernunft und Erfahrung – die noch weitere Differenzierungen erfahren wird – enthält die erste Hälfte von Mauvillons Werk eine systematisierte Darstellung zeitgenössischer Offenbarungskritik. In der zweiten Hälfte wird schließlich der modifizierte Offenbarungsbegriff eingeführt, dessen Evidenz in subjektiver Gewissheit gründet und der insofern zu seiner Bestätigung eines externen Maßstabes – wie etwa der Vernunft – nicht mehr bedarf. Eine genauere Betrachtung insbesondere des letzten Teils der Schrift wird aber auch zeigen, dass Mauvillon die bereits angerissene Trennung von Vernunft und Offenbarung nicht konsequent durchhält und dadurch mit seinen eigenen Prinzipien in Konflikt gerät. Um die dem Werk zugrundeliegende Beweisstrategie besser verstehen zu können, dürfte es zunächst hilfreich sein, sich die Gliederung des ›Systems‹ zu vergegenwärtigen. Fundamental ist die Unterscheidung zwischen dem theologischen und dem wahren System des Christentums. Das theologische System lehrt, dass Gott der gesamten Menschheit eine allgemeine Offenbarung gab, die von durch den heiligen Geist inspirierten Menschen ‒ gemeint sind die biblischen Autoren von Moses über

|| barten Wahrheiten nur durch göttliche Eingebung erkannt werden können, heißt nicht, dass sie unvernünftig wären: »Was über die Vernunft ist, das ist nicht wider dieselbige« (ebd., § 461). 5 Immanuel Kant: Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In: AA VI, S. 1212; Hervorhebung von mir. 6 Jakob Mauvillon: Das einzige wahre System der christlichen Religion. Berlin 1787, S. 282; der Text wird im Folgenden unter Angabe der Seitenzahlen im Haupttext zitiert.

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die Propheten bis hin zu den Aposteln – niedergeschrieben wurde und die sich im Kanon der biblischen Schriften findet. Das wahre System dagegen lehrt, dass die Offenbarung gerade nicht allgemein ist, sondern sich lediglich an einige wenige Erwählte richtet. Initiativ in den Kreis der Erwählten zu treten, ist dem Menschen nicht möglich – nicht durch die Lektüre der Bibel, aber auch nicht durch Andachtsübungen oder andere Formen religiöser Praxis. Die Notwendigkeit der Einsetzung eines wahren Systems wird sich dabei in erster Linie aus dem Nachweis der Defizite des theologischen Systems ergeben. Die geläufige Trennung von Erfahrung und Vernunft aufgreifend, vergleicht Mauvillon dieses zuerst mit der Vernunft – und zwar nach formalen und nach materialen Gesichtspunkten;7 formal hinsichtlich der Kriterien Allgemeinheit und Widerspruchsfreiheit, material hinsichtlich der Übereinstimmung mit der natürlichen Religion einerseits und der natürlichen Sittenlehre andererseits. Was die Erfahrung angeht, so wird hier die Bibel selbst untersucht, genauer wird unter noch zu beschreibenden Gesichtspunkten nach der Authentizität der Verfasser und der Authentizität der Schriften selbst gefragt. Dass das theologische System eine allgemeine Offenbarung notwendig voraussetzt, folgt schon aus den Prämissen dieses Systems. Wenn Gott, so wie er durch das natürliche Licht erkannt wird, gütig und vollkommen ist, wenn darüber hinaus die Kenntnis der Offenbarung notwendige Voraussetzung für den Eingang in das Himmelreich ist, und wenn umgekehrt diejenigen, »die vom Christenthum nichts wissen« (S. 34), »ewige Qualen« (ebd., S. 32) erleiden müssen, dann muss Gott die Welt so einrichten, dass jeder Mensch zu jeder Zeit Kenntnis von der Offenbarung besitzt. Menschen in die Hölle zu schicken, die vom Christentum nichts wussten, weil sie beispielsweise in den »4000 Jahre[n]« vor der Offenbarung lebten, widerspräche der Güte und Vollkommenheit Gottes. Gleiches gilt für die »ehrliche[n] Heiden und Türken« (S. 33), d. h. all diejenigen, die keiner oder eben anderen Offenbarungen anhängen. Die Vernunft, die Gott als gütig und vollkommen vorstellt, widersetzt sich aber der Annahme, dass dieser an sich tugendhafte Menschen in die Hölle schickt: »Was können Menschen denen das Christenthum nicht gepredigt worden ist, dafür, daß sie nicht Christen sind?« (S. 446). Man habe daher, so Mauvillon, nach »dem Geiste des jetzigen Jahrhunderts« (S. 33) angefangen, »die Seligkeit tugendhafter Heiden anzunehmen« (ebd.), womit auf eine im 17. Jahrhundert von Spinoza und Bayle8 angestoßene Debatte verwiesen wird, die einige Zeit später

|| 7 Mauvillon selbst verwendet die Termini ›formal‹ und ›material‹ nicht, doch der Sache nach ist, wie hoffentlich noch deutlich werden wird, diese Unterscheidung auch bei ihm vollzogen. 8 Vgl. hierzu den Beitrag von Nicola Stricker: Die Theologie Bayles im ›Dictionnaire historique et critique‹. In: Aufklärung 16 (2004), S. 111–135, hier S. 129. Zu Bayles Prädestinationslehre, die derjenigen Mauvillons nicht unähnlich ist, vgl. ebd., S. 132 sowie den Beitrag von Stefan Klingner in diesem Band.

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durch Wolff und dessen Rektoratsrede Über die praktische Philosophie der Chinesen9 frischen Wind erhielt. Damit ist das Problem jedoch nur verschoben: Wenn auch Heiden selig werden können, »so ist die Offenbarung nicht notwendig« (S. 33) – um nicht zu sagen: obsolet. Kurzum: Wer die Begriffe von Gott und dessen Offenbarung, so wie sie durch bloße Vernunft gedacht werden, mit der vorfindbaren Wirklichkeit, in der ein großer Teil niemals mit der christlichen Offenbarung in Berührung gekommen ist, zusammenhält, stellt fest, dass hier kein Verhältnis der Übereinstimmung besteht. Mauvillon folgert daher, dass sich dieses Problem vor dem Gerichtshof der Vernunft nicht nur nicht lösen lässt, sondern dass sich die zugrundeliegende Frage nicht einmal sinnvoll stellen lässt: Dies wäre, wie wenn nach Röm 9,20f. der Ton den Töpfer fragen würde: »Warum machest du mich also?« (S. 447). Wenn daher zu lesen ist, dass die fehlende Allgemeinheit – »dieser nicht zu läugnende Umstand der christlichen Religion« (S. 35)10 – der Offenbarung »in den Augen der Vernunft« (S. 35) »ein deutliches Kennzeichen ihrer Göttlichkeit« (ebd.) raubt, so spricht er dem Christentum nicht seine göttliche Herkunft ab. Ein nicht allgemeines Christentum ist nur in den Augen der Vernunft nicht göttlich – die aber, wenn es um das wahre Christentum geht, gar kein adäquater Maßstab der Beurteilung ist. Denn erst wenn die Übereinstimmung mit Vernunftbegriffen als Kriterium eliminiert ist, kann an der Annahme festgehalten werden, dass es einzig und allein das Christentum ist, das zur Seligkeit führt: »So viel bleibt allemal gewiß; ohne wahres Christenthum ist keine Seeligkeit; und dieses Christenthum ist partiell und keine allgemeine Offenbarung« (S. 465). In Bezug auf das zweite der formalen Kriterien, nämlich das der Widerspruchsfreiheit, sei auf eine Bemerkung Mauvillons aufmerksam gemacht, die sich bereits am Anfang seiner Ausführungen findet:

|| 9 Auch wenn Wolff an der Auffassung festhielt, dass nur der Christ Gnadenwirkungen empfangen kann, versuchte er darzulegen, dass die Moral der Heiden (hier: der Chinesen) der christlichen Moral nicht entgegengesetzt ist, sondern dass ein bloß gradueller Unterschied besteht. Und auch wenn die Chinesen nach Wolffs Auffassung nicht nur keine geoffenbarte (Christian Wolff: Oratio de Sinarum philosophia practica. Rede über die praktische Philosophie der Chinesen. Übers. und hg. von Michael Albrecht. Hamburg 1985, S. 139, Anm. 53), sondern nicht einmal eine natürliche Theologie besaßen (ebd., S. 151, Anm. 54), bezeichnet er sie dennoch nicht als Atheisten, weil sie das Dasein Gottes nicht explizit leugneten (ebd., S. 153, Anm. 54) – sie besaßen, so Wolff, eben bloß keinen klaren Begriff von Gott. Da sie keinen klaren Begriff von Gott besaßen, besaßen sie auch keine natürliche Religion und daher war ihre Tugend eben eine bloß philosophische. Wer hingegen über eine natürliche Religion, nicht aber über eine Offenbarung verfügt, kennzeichnet sich durch philosophische Frömmigkeit. Wer letztlich über eine natürliche Religion und über eine Offenbarung verfügt, der verfügt über eine theologische Tugend (vgl. hierzu ebd., S. 139, Anm. 51ff.). Mauvillon dagegen ist der Auffassung, dass es »in allen Religionspartheyen« (Mauvillon: Das einzige wahre System [s. Anm. 5], S. 522) von Gott begnadigte gibt. 10 Vgl. ebd., S. 446 und S. 465.

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Noch neuerlich hat Hr. Lessing Fragmente herausgegeben, worin der Geschichte der Auferstehung Christi die deutlichsten Widersprüche unter den Zeugen dargethan worden sind, die man auf keine Art hat retten können. (S. 26)

Gemeint ist damit natürlich das Fünfte der Fragmente eines Ungenannten, deren Verfasser Hermann Samuel Reimarus erst 181411 namentlich bekannt wurde. Diese ›Fragmente‹ hat Mauvillon, wie die zahlreichen Bezugnahmen zeigen, intensiv studiert und es ist daher auch kein Wunder, dass Mauvillon das fundamentale Problem der Bibel – hierin Reimarus folgend – in ihrer fehlenden Konsistenz sieht. Er schreibt: Siebenzehnhundert Jahre lang hat man behauptet, daß alle und jede Worte in der Bibel von Gott eingegeben waren. Alsdenn müßte natürlicher Weise kein einziger Irrthum, kein einziger Fehler, kein einziger Widerspruch darinn seyn. (S. 24)

Reimarus schreibt in dem Fragment, auf das Mauvillon Bezug nimmt: Sie [sc. die Evangelisten] wollen und sollen ja in allen Stücken, in allen Worten, von dem Heiligen Geist, der sie in alle Wahrheit leitet, getrieben sein. Wie kann denn ein solcher Widerspruch unter ihnen entstehen, der auch menschlicher Weise bei der sorglosesten Beobachtung der Umstände nicht leicht würde begangen werden?12

Die hier angewandte Methodik, die einfacher nicht sein könnte, beruht letztlich auf der ins Destruktive gewendeten Theologie Wolffs. Wolff schrieb dazu: Weil Gott allwissend ist […] so ist es wider seine Allwissenheit, daß er einander widersprechende Dinge behaupten sollte. Derowegen können in einer göttlichen Offenbahrung Widersprüche nicht statt finden.13

Reimarus wurde klar, dass sich die affirmative Lesart Wolffs nicht halten lässt, also folgert er: In der Bibel werden einander widersprechende Dinge behauptet, also ist die Bibel keine göttliche Offenbarung. Mauvillon ergänzt, dass sich aus dem Umstand, dass eine göttliche Schrift widerspruchsfrei sein muss, nicht schließen lässt, dass jede widerspruchsfreie Schrift göttlichen Ursprungs wäre – formale Widerspruchsfreiheit ist also nur ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium. Doch wie die oben genannten Zitate bereits nahelegen, erfüllt die Bibel auch in Mauvillons Augen dieses Kriterium nicht: Die Bibel sei »auf die unzusammenhängendste Weise die man denken kann« (S. 19) abgefasst, d. h. unsystematisch14 und

|| 11 Vgl. hierzu die Einleitung in: Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. 2 Bde. Hg. von Gerhard Alexander. Frankfurt a. M. 1972. 12 Ebd., Bd. 2, S. 481. 13 Wolff: Gottesgelahrtheit (s. Anm. 3), WGW 23/I.2, § 453. 14 Vgl. hierzu auch Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 5), S. 220.

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darüber hinaus derart inkonsistent, »daß die vernünftigsten das Daseyn dieser Widersprüche nicht haben läugnen können« (S. 65).15 Doch wenn sich die Widersprüche schon nicht heben lassen, so besteht doch immer noch die Möglichkeit, gleichsam über sie ›hinwegzulesen‹: Nicht zu Unrecht macht Lessing daher in den Antifragmenten gegen Reimarus geltend, dass, kurz gesagt, voneinander abweichende und widersprüchliche Schilderungen einer Begebenheit nicht zu dem Schluss berechtigen, dass diese Begebenheit gar nicht stattgefunden hat.16 Bemerkenswerterweise ergreift Mauvillon hier für den ›Fragmentisten‹, also für Reimarus, Partei und verteidigt ihn gegen Lessing, indem er darlegt, dass dieses Argument insbesondere dann, wenn es um übernatürliche Begebenheiten geht, nichts weiter als eine »große Sophisterey« (S. 65) ist, da es gerade bei solchen höchst unwahrscheinlichen Vorkommnissen auf die »genaueste Prüfung« (ebd.) ankommt. Doch auch wenn man dieses Problem beiseite setzt und den göttlichen Ursprung der Bibel probeweise zugesteht, bleibt die Frage, warum sich Gott auf eine völlig unsystematische und inkonsistente Art und Weise offenbaren musste. Aufgrund nämlich ebenjener »Unbestimmtheit, Zweydeutigkeit, Dunkelheit und des Unzusammenhängenden in diesem Buche« (S. 245) entstanden »Sekten ohne Zahl« (ebd.), deren Krieg untereinander eine beständige Begleiterscheinung aller Offenbarungsreligionen ist. Nun war es Gott sicher ein Leichtes, diese Entwicklungen zu antizipieren, daher stellt sich die Frage: Will Gott den Zustand einander bekämpfender Glaubensströmungen? Denn wenn er diesen Zustand nicht hätte herbeiführen wollen, hätte er sich auf eine Art und Weise offenbart, die keiner Interpretation mehr bedürftig ist und die damit auch keinen Anlass zu Streitigkeiten darstellt.17 Eine Erklärung hierfür, die allerdings weder originell noch wirklich überzeugend ist, findet man in den Verteidigungsschriften Goezes, von denen Mauvillon, der, wie gesehen, Reimarusʼ Fragmente und auch Lessings Antifragmente aufmerksam studiert hat, sicherlich Notiz genommen haben dürfte: »Da aber Gott diesen Weg nicht erwählt hat, die Nachrichten von den Lehren und Thaten Jesu fortzupflanzen und unverfälscht zu erhalten; so schliessen wir daraus mit Recht, daß solches seiner Weisheit nicht gemäs gewesen.«18 Dass dieser Schluss eine klassische petititio principii ist, der das, was er beweisen soll – nämlich dass Gott eine bestimmte Art der Offenbarung gewählt hat und eine andere nicht – bereits implizit voraussetzt, sei hier nur am Rande erwähnt. Entscheidend ist, dass das bloße Vorhandensein dieser Widersprüche ein Problem für die Vernunft und damit für das theologische System des Christen|| 15 Mauvillon beschreibt hier die Rezeption des bereits oben erwähnten fünften Fragments von Reimarus. 16 Vgl. hierzu Gotthold Ephraim Lessing: Werke in zehn Bänden. Hg. von Arno Stenzel. Berlin 1954, Bd. 8, S. 29. 17 Es wird sich auch hier zeigen, dass das wahre Christentum als eine bloß innerliche Religion tatsächlich keinen Quell von Konflikten darstellt. 18 Johann Melchior Goeze: Leßings Schwächen. Hamburg 1778, S. 141.

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tums darstellt, das auf deren Bestätigung angewiesen ist: Nicht nur widerspricht das Alte Testament dem Neuen Testament, sondern auch im Neuen Testament widersprechen sich Evangelisten und Apostel gegenseitig.19 Dazu kommt, dass die Bibel als Ganzes im Widerspruch zu anderen Offenbarungen steht, deren jede für sich exklusive Gültigkeit beansprucht: Es ist »bey der ganz ungeheuern Menge von Offenbarungen die einander geradezu widersprechen, und von verschiednen Meynungen in einer jeden derselben, unmöglich […], nur die Gründe des Tausendsten Theiles derselben zu prüfen« (S. 553). Auch hier ließe sich also die Wendung bemühen, dass der Bibel durch die fehlende Konsistenz – zumindest in den Augen der Vernunft – ein weiteres Kennzeichen der Göttlichkeit geraubt wird. Wie im Zusammenhang mit Mauvillons Inspirationslehre und der Beschreibung der zumindest in Umrissen vorliegenden Hermeneutik noch deutlicher werden wird, soll aber überhaupt nicht bewiesen werden, dass die Bibel nicht göttlich ist, sondern dass lediglich ihre Bedeutung für das Christentum relativiert werden muss. Denn die Offenbarung, so wie Mauvillon sie versteht, ist nicht auf die Bibel oder irgendein anderes Medium der Vermittlung angewiesen und den Verfassern der Bibel kommt daher keine Sonderstellung innerhalb des Kreises der Inspirierten zu. Nachdem gezeigt wurde, dass die christliche Offenbarung weder allgemein ist, noch in einer widerspruchsfreien Darstellung vorliegt, bleibt zu fragen, ob sie zumindest mit der natürlichen Religion und Sittenlehre übereinstimmt. Wenig überraschend, liegen auch hier Verhältnisse des Widerspruchs vor. So lehrt beispielsweise die natürliche Religion – auch hier kann Wolff als Gewährsmann dienen – dass Gott einfach ist, denn »das selbstständige Wesen kann nichts zusammengesetztes seyn«.20 Wenn dagegen im Christentum die Dreifaltigkeit gelehrt wird, so geht dies natürlich zunächst auf eine neuplatonische Modifikation der christlichen Lehre zurück.21 Doch es lässt sich andererseits auch nicht von der Hand weisen, dass insbesondere im Johannesevangelium derartigen Interpretationen Vorschub geleistet wird.22 Daher können, so Mauvillon, »die Herren Theologen nicht unter sich ausma|| 19 Ohne diese im Einzelnen zu nennen, verweist Mauvillon auf die zehn Widersprüche, die im 5. Fragment aufgelistet werden. 20 WGW 23/I.1, § 49; vgl. ebd. auch die §§ 47 und 100. 21 Siehe hierzu bspw. Arthur Drews: Plotin und der Untergang der antiken Weltanschauung. Aalen 1964, S. 136: »Bedenkt man nun, daß schon Plotin die drei intelligiblen Prinzipien personifiziert und für Götter ausgegeben, daß er ferner das Verhältnis des Einen zum Intellekt als dasjenige von Vater und Sohn und in diesem Sinne als ein solches der wechselseitigen Liebe aufgefaßt und auch der Weltseele, die bei ihm an die Stelle der Ideenwelt tritt, mit der Ordnung und Leitung der Weltgeschicke genau diejenige Funktion zugeschrieben hat, die im Dogma der heilige Geist ausüben soll, so kann höchstens nur die Voreingenommenheit gegen die Übereinstimmung der plotinischen und christlichen Trinität verschließen, und der historische Zusammenhang zwischen beiden ist nicht abzuleugnen.« 22 Etwa, wenn Jesus dort fragt: »Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und dass der Vater in mir ist?« (Joh 14,10) oder wenn er verkündet: »Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in

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chen, ob Gott einig oder dreyeinig ist. Für beyde Meynungen werden Gründe aus der Bibel hervorgebracht« (S. 260). Mit der Frage nach »dem Ursprunge des Uebels« (S. 261), wie sie etwa in der »Geschichte mit dem Paradiese und dem Apfel« (ebd.) geschildert wird, verhält es sich nicht anders. Schon Leibniz fragte: Si deus, unde malum? Und, so Mauvillon, insbesondere der »Teufel […] scheint der Vernunft nunmehr ein ganz unverdauliches Ding« (ebd.) zu sein, da nicht ohne Weiteres einsichtig zu machen ist, warum eine von einem vollkommenen Gott erschaffene vollkommene Welt einen Versucher benötigt, der die Moral des Menschen unterminiert. Aber die »Geschichte mit dem Paradiese« ist auch deswegen problematisch, weil Gott dort Adam und Eva, die noch keine Begriffe von Gut und Böse besitzen, eine Regel auferlegt und sie für den Verstoß gegen diese Regel bestraft, obwohl sie überhaupt nicht wissen können, dass der Verstoß gegen eine Regel etwas Böses ist. Schließlich verweist Mauvillon auch auf die anhaltende Diskussion um die Lehre von der Erbsünde, der stellvertretenden Genugtuung oder der Höllenstrafen,23 die insbesondere von offenbarungskritischer Seite – auch hier ließe sich wieder auf Lessing und Reimarus verweisen – als nicht mit der Vernunft und den Eigenschaften eines weisen, gütigen und gerechten Gottes vereinbar zurückgewiesen wurden. Kurz: Mit dem Gottesbegriff der natürlichen Religion stimmt die Bibel, die streng genommen gar keinen konsistenten Gottesbegriff enthält, nicht überein, also konstatiert Mauvillon: Zur Behauptung ihrer verschiedenen Meynungen finden die Herren [sc. Theologen] immer ihre Gründe in der Bibel. Was hat also diese sichres und bestimmtes von Gott gelehrt? Kann man wohl behaupten, daß man seine Natur genauer und sichrer durch sie kennt, als ehmals die größten Philosophen?24

Um schließlich über Einstimmung und Widerspruch zwischen natürlicher und geoffenbarter Moral urteilen zu können, ist zunächst Mauvillons Konzeption der natürlichen Moral kurz zu beschreiben. Diese setzt als Endzweck des Menschen die Glückseligkeit voraus. Jeder Mensch besitzt einen »Grundtrieb«, der ihn nach Glückseligkeit streben lässt.25 Klugheit und Tugendhaftigkeit sind »einerley« (S. 592). Böse Handlungen begeht nur derjenige, der sich »in der irrigen Meynung [befindet] diesen Trieb dadurch zu sättigen« (S. 599). Das Böse ist also Resultat eines Mangels an Klugheit. Aufgrund ihrer Vernunftursprünglichkeit ist die natürliche Moral zeitlich ungebunden, daher wurden auf diesem Gebiet bereits in vorchristlicher Zeit bedeu-

|| meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe« (Joh 14,26). 23 Vgl. Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 5), S. 261f. 24 Ebd., S. 262. 25 Vgl. ebd., S. 308.

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tende Fortschritte erzielt.26 Die Moral der ›Alten‹ – hier gibt Mauvillon einen noch bei Kant wiederholten27 Gemeinplatz aufklärerischer Moralphilosophie wieder – sei sogar vollkommener gewesen als die zeitgenössischen Theorien es sind.28 Da nun ebenjene natürliche Moral – und mit ihr die Vernunft – den einzigen Maßstab abgeben, so wird hier die Frage sein: »Was sagt mir die Vernunft, wie göttliche moralische Vorschriften beschaffen sein müssen?« (S. 113). Es sei jedoch erneut darauf hingewiesen, dass die Vernunftkonformität wie auch bei der Frage nach der Konsistenz nur ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für die Göttlichkeit einer Moral darstellt, denn andernfalls wäre auch schon die natürliche Moral für sich göttlich. In jedem Fall aber müssen, da das notwendige Kriterium schon seinem Namen nach unverzichtbar ist, die göttlichen Gesetze nach dem Maßstab der Vernunft beurteilt werden, denn andernfalls »hat damit die ganze Untersuchung über die Vortrefflichkeit der christlichen Moral ein Ende« (S. 117). Die anzustellende Beurteilung wird dabei zu zwei Problemen führen: Erstens sind natürliche und die geoffenbarte Moral nicht kongruent, da diese jener bisweilen widerspricht, bisweilen über sie hinausgeht. Zweitens aber – und dieses Problem ist nicht weniger gewichtig – ist die geoffenbarte Moral aufgrund ihrer Unbestimmtheit oft gar nicht applikabel. Doch bevor überhaupt irgendetwas beurteilt werden kann, ist zu erfragen, was eigentlich zu beurteilen ist: Stehen die Gesetze Salomons gleichberechtigt neben denen des Neuen Testaments? Ist das Buch ›Jesus Syrach‹ ganz zu verwerfen, weil es eine Apokryphe ist, obwohl es »in menschlichen Augen leicht das beste und lehrreichste Buch in der ganzen heiligen Schrift sein dürfte« (S. 119)? Dahinter steht die Frage nach dem Kanon der Bibel, d. h. die Frage, aufgrund welchen Maßstabes Bücher in die Kategorien kanonisch bzw. apokryph eingeteilt wurden. Dass es nicht die Vernunft sein kann, die hier als Maßstab fungierte, macht Mauvillon daran fest, dass sich beispielsweise eine der Erzählungen, die die natürliche Moral am vorzüglichsten versinnbildlicht – gemeint ist die Erzählung von Hamam29 – unter den Apokryphen findet, wohingegen aller Moral klar widersprechende Geschichten – man denke an die Erzählungen von Jakob und Isaak30 oder der von Lot und seinen Töchtern31 – im biblischen Kanon zu finden sind. Und wenn, um ein weiteres Beispiel zu nennen, »das Christenthum den Krieg durchaus verbietet, [...] so muß man gestehn, daß sie [sc. die christliche Moral] nicht nur hierinn viel weiter geht als die Vernunft, sondern auch viel weiter als ihr die Vernunft folgen kann« (S. 143). Dass die christliche Moral hier »viel weiter« geht, »als ihr die Vernunft folgen kann« heißt nicht zwangsläufig, dass ein Widerspruch vorliegt: In dem gegebenen Fall verbietet || 26 Vgl. ebd., S. 112. 27 Vgl. AA VI, S. 24Anm. 28 Vgl. Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 5), S. 336 und S. 356. 29 Vgl. ebd., S. 349. 30 Vgl. Gen 22. 31 Vgl. Gen 19,30ff.

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die Vernunft lediglich ungerechte Kriege, namentlich Angriffskriege, wohingegen die christliche Moral den Krieg überhaupt verbietet.32 Ein veritabler Widerspruch liegt aber vor, wenn z. B. »schöne Möbeln, schöne Zimmer, schöne Kleider« (S. 578), die nach der auf irdische Glückseligkeit zielenden »philosophischen Moral« (ebd.) erlaubt sind, durch die Bibel verboten werden, wie die prominenteste und gleichzeitig unmissverständlichste Belegstelle aus dem Neuen Testament klar macht: »Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt«.33 Letztlich sind auch einige der Stellen über das Kinderzeugen,34 die Polygamie35 oder die gewaltsame Missionierung von Heiden36 so beschaffen, dass Mauvillon auch hier zu dem Schluss kommt, »daß es mit der Moral des Christenthums in den Augen der blossen menschlichen Vernunft äusserst schlecht beschaffen sey« (S. 204). Auch hier rekurriert er erneut auf die ›Augen der Vernunft‹ und auch hier bleibt die angewandte Strategie dieselbe: Zunächst wird ein Theorieelement des theologischen Systems als nicht mit der Vernunft kompatibel zurückgewiesen, anschließend wird die Vernunft selbst zurückgewiesen, da sie als Maßstab zur Beurteilung des wahren Christentums nicht geeignet ist. Der Vernunft nicht direkt widersprechend, aber den Erfordernissen einer geoffenbarten (und also göttlichen) Moral nicht genügend ist der bereits erwähnte Umstand, dass die biblischen Verhaltensvorschriften oftmals nicht applikabel sind: »Das macht eben die Unbequemlichkeit des Ausdrucks aus, die der Geist, der die heilige Schrift diktierte, wie es der Vernunft scheint, leicht hätte vermeiden können, wenn er ein minder zweydeutiges Wort […] gebraucht […] hätte« (S. 191). Anders jedoch als diese süffisante Bemerkung zunächst glauben lassen mag, verbirgt sich unter den ›Unbequemlichkeiten des Ausdrucks‹ ein ganzes Nest von Problemen, die schon aus der Art und Weise der Darstellung der Vorschriften in »Parabeln oder Gleichnisse« (S. 122) resultieren. Um einen Satz nämlich adäquat deuten zu können, »muß man ihn genauer und richtiger bestimmen, einschränken, ausdehnen, mildern, drehen und wenden, bis er einen erträglichen Sinn annimmt« (S. 123). Dies ist notwendig, weil die Gesetze Gottes verständlich sein müssen, um eingehalten werden zu können, denn »[w]elcher Mensch kann gewiß sein, er habe die Sünde nicht begangen, von der er nicht weiß, worinn sie besteht« (S. 206)? Erließe ein Fürst strafbewehrte Gesetze, die, weil sie unverständlich sind, unmöglich eingehalten werden können,

|| 32 Vgl. Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 5), S. 141. 33 Mk 10,25. 34 Vgl. Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 5), S. 179f. 35 Vgl. ebd., S. 383. 36 »Also hat der Geist des Christentums, sowohl als die ausdrücklichen Lehren desselben einen Irrthum, in Ansehung der durch die Vernunft und natürliche Moral gebotenen Pflicht, der Religion wegen niemanden zu verfolgen, oder niemanden seiner Meynungen wegen zu kränken, verbreitet« (ebd., S. 204) Als Beispiele für Stellen, in denen die Verfolgung von Heiden geboten wird, nennt Mauvillon Luk 14,23 und Luk 12,51ff.

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würde man ihn »den ärgsten Tyrannen, der jemals auf der Welt gewesen wäre, nennen« (S. 207). Es bleibt also nichts anderes übrig, als die Bibel und die darin enthaltenen Vorschriften nach Maßgabe der Vernunft und der natürlichen Moral zu deuten, doch auch dieses Vorgehen erweist sich bei Lichte besehen als fragwürdig: »Wie seltsam ist es überhaupt, daß die Vernunft; das heißt, die natürliche Moral zu Bestimmung und Berichtigung der göttlichen Moral gebraucht werden muß, dahingegen letztere diesen Dienst vielmehr thun sollte?« (S. 124). Und wenn man, wie hier geschehen, »die Vernunft zur Gebieterinn über die Offenbarung Gottes, über seine positiven Gesetze« (S. 182) macht, dann stellt sich die Frage: Wozu ist uns überhaupt eine Offenbarung gegeben? Wenn sich die Gesetze klar und deutlich aus der Vernunft deduzieren lassen, benötigt man überhaupt keine Offenbarung, die diesen Gesetzen auch noch oftmals widerspricht – oder, in Mauvillons Worten: »Denn konnte uns Gott eben sowohl die Vernunft ganz allein lassen« (S. 182). Hier scheint er »den neuern Theologen« zu folgen, die lehren, Gott habe »die heiligen Schriftsteller nicht besonders inspirirt, sondern sie bey Niederschreibung der Thatsachen, die sie vorbringen, ihren eignen Geisteskräften, ihrem eignen Besinnungsvermögen überlassen« (S. 167). Es wird dabei im Zusammenhang mit Mauvillons eigener Inspirationslehre aber noch deutlicher werden, dass »nicht besonders inspirirt« hier im Sinne von: Nicht mehr oder weniger inspiriert als andere Erwählte zu verstehen ist. Nachdem sich die Bibel in den ›Augen der Vernunft‹ unter allen Gesichtspunkten als defizitär erwies, bleibt noch zu fragen, ob sie wenigstens als Geschichtsdokument authentisch ist. Es ist also zu untersuchen, ob die Erzählungen tatsächlich von den jeweils angegebenen Verfassern stammen und ob diese Verfasser als glaubhafte Geschichtsschreiber betrachtet werden können. Doch schon bei der erstgenannten Frage erheben sich »tausend Zweifel […] gegen die Aechtheit dieser Schriften« (S. 49). Bezüglich des Matthäusevangeliums weist Mauvillon etwa darauf hin, dass dieses ursprünglich in hebräischer Sprache verfasst wurde und nur in Übersetzungen überliefert ist: »Wenn wir aber das Original nicht haben, sondern nur die Uebersetzung; wer kann behaupten, daß sie treu ist? Hat der Uebersetzer das Original verstanden? Hat er es nicht nach den übrigen griechisch geschriebenen Evangelien, die er verstand, gemodelt und umgeformt?« (S. 52). Auch in Bezug auf Johannes erheben sich Zweifel, namentlich bei der Frage nach der »Authentie der sogenannten Offenbarung Johannis« (S. 53). »Ist diese Schrift, die dem Apostel zugeschrieben worden ist, untergeschoben; warum sollte es nicht die andre auch seyn?« (ebd.). »Denn fände man nur eine einzige Stelle in einem Buche, […] die man für interpolirt zu erklären gezwungen wäre […] wer könnte alsdenn wissen, ob nicht hundert und tausend andere Stellen interpoliert sind?« (S. 56). Darüber hinaus ist auch in Bezug auf den übrigen Text fraglich, ob keine nachträglichen Veränderungen vorgenommen wurden. Mauvillon verweist diesbezüglich auf die Erzählung

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über die Ehebrecherin,37 deren Herkunft strittig ist oder auf die Erwähnung des Sees Bethesda in Jerusalem, »von dessen Existenz sonst niemand auf der Welt etwas wissen will« (S. 54). Ohne nun aber die Schriften im Einzelnen zu prüfen,38 entschließt sich Mauvillon »trotz aller entgegenstehenden Gründe[], es als ausgemacht an[zu]sehen; daß die Bücher des N.T. im Ganzen von denen herstammen, welchen sie gemeiniglich zugeschrieben werden« (S. 49).39 Doch auch wenn man dies tut und das allein übrig bleibende Kriterium der Glaubwürdigkeit in den Blick nimmt, so scheiden Matthäus, Markus, Lukas und Paulus als glaubwürdige Geschichtsschreiber aus, weil sie keine Zeitgenossen Jesu waren. Übrig bleibt allein Johannes, der zwar »in Ansehung der Autoptie [sc. in seiner Rolle als Augenzeuge] einen tauglichen Zeugen abgeben könnte« (S. 52), dessen Schrift jedoch, wie gesehen, korrupt und daher ebenfalls unbrauchbar ist. Letztlich sind die Apostel auch deswegen unglaubwürdig, weil in ihren Schriften eine spekulative Umdeutung des Kreuztodes Jesu vorgenommen wird. Auch dies ist ein Einwand, der sich schon bei Reimarus findet, allerdings nicht in den Fragmenten, sondern in der Apologie, die die längste Zeit nur in Abschriften vorlag und auf die nur ein sehr kleiner Personenkreis Zugriff hatte. Mauvillon moniert, dass man so lange irrdisch gedacht hat, bis endlich die immer ausbleibende Erfüllung der Prophezeyung von der Wiederkunft Christi, in den Wolken, und der dadurch bewürkten Erneuerung und Verschönerung der Erde, über die seine Anhänger alsdenn herrschen sollten, die Menschen zwang, ein Reich in einer andern Welt, von einer ganz andern Art daraus zu machen.40

Interessanterweise begründet Reimarus die Umdeutung des Kreuztodes ganz ähnlich: das letzte, was noch in aller Leute Gedächtnis und Vorstellung schwebte, war, daß er als ein von Gott verlassener am Kreutze gestorben, und daß seine bey Lebzeiten damaliger Generation und Umherstehenden versprochene Wiederkunft vom Himmel bisher ausgeblieben sei.41

Doch auch unbesehen solcher Detailfragen bleibt festzuhalten, dass die Bibel unter historisch-kritischen Gesichtspunkten keine glaubwürdige Quelle darstellt, sodass

|| 37 Vgl. Joh 7,53–8,11. 38 In Bezug auf das Alte Testament lässt sich hier auf Reimarus und Spinoza verweisen, die ähnliche Untersuchungen anhand der Bücher Mose durchführen und dabei zu dem Ergebnis gelangen, dass Moses nicht als Verfasser des Pentateuch gelten kann. Vgl. hierzu Reimarus: Apologie (s. Anm. 10), Bd. 1, S. 915. Eine gute Zusammenfassung der Ergebnisse aus Spinozas Tractatus findet sich bei Bernhard Pick: Spinoza and the Old Testament. In: The Biblical World 2.2 (1893), S. 115ff. 39 Völlig konsequent verfährt Mauvillon hierbei jedoch nicht, da er bei Johannes (vgl. Mauvillon: Das einzige wahre System [s. Anm. 5], S. 53) die Authentizität der Schrift angreifen wird. 40 Ebd., S. 99. 41 Reimarus: Apologie (s. Anm. 10), Bd. 2, S. 432.

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sich folgendes Fazit ziehen lässt: Die Bibel, die bekanntlich das Fundament des ›theologischen Systems‹ darstellt, enthält 1) keine allgemeine Offenbarung, sie ist 2) nicht widerspruchsfrei, sie ist 3) nicht mit der natürlichen Religion und 4) nicht mit der natürlich Sittenlehre kompatibel und sie stellt 5) kein authentisches Geschichtsdokument dar. Nachdem sich nun Vernunft und Erfahrung gleichermaßen als inadäquate Zugänge zu Gott erwiesen haben, wird zu zeigen sein, dass Mauvillons Religionsphilosophie nur vor dem Hintergrund der darin enthaltenen Inspirationslehre zu verstehen ist, der zufolge »der wahre Glaube eine übernatürliche Würkung des heiligen Geistes in dem Menschen ist« (S. 499). Diese Wirkung lässt sich präzisierend auch als »Gnadenwirkung[]« (S. 507) verstehen, also als eine Wirkung »der göttlichen Gnade auf unser Herz und Gemüth« (S. 456). Bewirkt wird dabei zu allererst »das erste Wollen zum Glauben« (S. 472), verbunden mit einem »innere[n], unnennbare[n] Gefühl von der Wahrheit des Christentums« (S. 501). Daraus, dass dieses »Wollen zum Glauben« nicht vom Menschen ausgeht, sondern auf einem göttlichen Ratschluss beruht, folgt, dass der Glaube nichts ist, was »unserm Verdienste« (S. 473) zuzuschreiben wäre. Und da niemand den Glauben durch einen freien Willensentschluss wählt, kann man den Ketzer auch nicht strafen42 – Gott hat die Verdammten »zur Verdammniß geschaffen, so wie andre zur Seeligkeit« (S. 505). Fragt man nun nach der näheren Beschaffenheit dieser Gnadenwirkung, so stellt sich heraus, dass sie mehr auf die Besserung der moralischen Verfasstheit des Menschen zielt als auf die Vermittlung klarer und deutlicher Begriffe: »Der Christ soll ein ganz andrer Mensch seyn, und ganz anders handeln als der natürliche, höchsttugendhafte Mensch« (S. 583). Während der ›höchsttugendhafte Mensch‹ der natürlichen Moral folgt und so zeitliche Glückseligkeit erlangt, erreicht der Christ die Glückseligkeit im Paradies,43 obschon er bereits im Diesseits einen »Vorgeschmack« (S. 589) des Paradieses besitzt und demnach gar kein Bedürfnis hat, nach zeitlicher Glückseligkeit zu streben. Dass eine zeitliches Glück vermeidende Lebensweise44 zunächst asketisch scheint, darf nicht zu dem Schluss verleiten, dass sich der Erwählte irgendwelcher Genüsse versage: Wen Gott erwählt, dem gibt er einen »mächtigen unwiderstehlichen Trieb so zu leben« (S. 584) ein und wer mit dieser Lebensweise hadert, der muss sich »damit beruhigen, daß er nicht zu den Auserwählten gehört habe« (S. 584). Eine derart beschaffene Religion ist privat und gibt insofern keinen Anlass zu Glaubensstreitigkeiten.45 Sie ist, anders als die sichtbare Kirche, unsichtbar.46 Und sie ist, anders als die Lehrmeinungen der Theologen, unveränderlich.47 Eine || 42 Vgl. Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 5), S. 456. 43 Vgl. ebd., S. 588. 44 Eine Zusammenfassung der Eigenschaften des wahren Christen findet sich ebd., S. 583f. 45 Vgl. ebd., S. 553. 46 Vgl. ebd., S. 520. 47 Vgl. ebd., S. 534.

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derartige, auf Hingabe und Innerlichkeit beruhende Religion scheint auf den ersten Blick kein weiteres Medium der Vermittlung mehr zu bedürfen, doch für Mauvillon ist die Bibel auch im wahren Christentum nicht obsolet: Die »Aussprüche des heil. Geistes, die wir jetzt die Bibel nennen« (S. 492) sind das »Vehikulum« (S. 492) der »Wahrheiten des Christentums« (S. 492). Doch nur »derjenige, der durch eine übernatürliche, d. h. nicht durch den Menschen verursachte Wirkung den heiligen Geist empfangen hat, kann von »der biblischen Gotteslehre« (S. 499) einen »rechten Gebrauch« (ebd.) machen. »[...] dieser rechte Gebrauch ist selbst eine übernatürliche Würkung eben dieser uns zur ewigen Seeligkeit bildenden Kraft« (ebd.). Eine ähnliche Auffassung findet sich bereits bei Luther, der, stark vereinfacht gesprochen, ebenfalls davon ausging, dass sich ein adäquates Verständnis der Bibel nur durch den Beistand des heiligen Geistes gewinnen lässt: Ist sie [sc. die heilige Schrift] ein Werk des Geistes, so kann sie auch nur von dem wirklich verstanden werden, der diesen selben Geist wenigstens ›zu einem Teil in sich fühlet‹. Der Geist schafft die ihm und der Schrift entsprechende Stimmung, indem er (durch das Wort) das Herz erschüttert und erhebt und damit die mächtige innere Bewegung, die Wärme, den Affekt hervorbringt, der die Höhen und Tiefen der Sache zu empfinden vermag.48

Mit dem Unterschied freilich, dass Mauvillon mit seiner Inspirationslehre sowohl die Bedeutung der Bibel als auch die ihrer Urheber ganz erheblich relativiert. Zwar wurden den Verfassern – eben als Erwählten – »göttliche Aussprüche und Wahrheiten« (S. 476) zuteil, die ihrer Natur nach unveränderlich sind, doch wurden diese Wahrheiten im Prozess des Niederschreibens durch die Gemütsbeschaffenheit der Schreibenden verfälscht. Die Schriften haben auf diese Weise, »eine Tinktur von den Beschaffenheit der Werkzeuge, von denen sie uns überliefert worden sind, bekommen; woraus die scheinbaren Widersprüche darinn entspringen; weil der heilige Geist ihnen nicht alles von Wort zu Wort eingegeben hat« (S. 476). Zuletzt stellt sich hier jedoch eine Frage, die zumindest für das theologische System bereits beantwortet wurde, erneut: Warum konnte Gott nicht einfach jeden erwählen, sondern teilt manchen das Paradies, manchen die Hölle und manchen die irdische Glückseligkeit zu? Hier muss Mauvillon auf ein Argument zurückgreifen, das von einem Autoren stammt, dessen System er eigentlich ablehnt, nämlich Leibniz: Wenn wir uns vorstellen, daß sich Gott alle mögliche Kombinationen des Weltsystems vorstellt; so sehen wir, daß er wissen muß, was geschehen würde, wenn dieser oder jener Fall ein-

|| 48 Karl Holl: Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Tübingen 1921, Bd. 1, S. 425.

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träte, der hernach, weil er nicht die Vollkommenheit seines Systems passen kann, nicht eintritt, indem er ihn selbst ausmerzt.49

Man kann Mauvillons Leistung darin sehen, die Theorie einer in subjektiver Gewissheit gründenden Offenbarung vorgelegt zu haben, die die Vernunft nicht zu ihrer Bestätigung bedarf. Doch es zeigte sich auch, dass die Vernunft auch zum »wahrem Christentum« nicht schweigt – insofern ist sein Rückgriff auf Leibnizʼ Theodizee auch nichts anderes als der Versuch, seine Theorie einer bloß partikularen Offenbarung nachträglich zu rationalisieren.

|| 49 Mauvillon: Das einzige wahre System (s. Anm. 5), S. 602.

Gideon Stiening

Naturrecht und Politik bei Mauvillon Glauben Sie mir, weder Ihrer, noch des gesamten Ritterstandes in der Welt, samt aller Prälaten Bemühungen zusammen genommen, können die unaufhaltsame Gewalt des sich über die Natur des Menschen und ihre Rechte, immer mehr verbreitenden Lichts hemmen; viel weniger es zurückdrängen. Jakob Mauvillon: Physiokratische Briefe

1 Zur Einführung: Mauvillons ›fehlendes Naturrecht‹ Es ist nicht ganz leicht, naturrechtliche Argumente bei Mauvillon zu entdecken; als Militärtechniker und Historiker, als Literaturkritiker und früher Soziologe sowie als Wirtschaftstheoretiker, vor allem aber als epistologischer und methodischer Empirist hält der Aufklärer ostentativ Abstand zu rationalistischen Begründungstheorien auch auf dem von ihm bearbeiteten Felde der praktischen, näherhin der politischen Philosophie. Von den »tiefsten Finsternissen der Metaphysik« sieht er sich grundsätzlich befreit.1 Doch trotz des ausdrücklichen Lobes des »großem Hume«2 und der selbstverständlichen Referenz auf Adam Smith3 hält er durchaus Abstand zu deren grundlegender Zurückweisung naturrechtlicher Theorien, insbesondere zu Humes und Benthams Kritik am Theorem des Naturzustandes;4 vielmehr bezieht er sich affirmativ auf Jean-Jacques Rousseaus Discour sur l’Inêgalité.5 Für Mauvillon gibt es nämlich empirisch und rational so etwas wie einen »ursprünglichen Zustand« der menschlichen Vergemeinschaftung, der selbst wiederum wie auch weitere Bestimmungen – etwa die iura connata6 – auf der praktischen Natur des Menschen basie-

|| 1 Jakob Mauvillon: Physiokratische Briefe an den Herrn Professor Dohm. Oder Vertheidigung und Erläuterungen der wahren Staatswirthschaftlichen Gesetze die unter dem Nahmen des Physiokratischen Systems bekannt sind. Braunschweig 1780, S. 15 oder auch ders.: Vom Genius des Sokrates, eine philosophische Untersuchung. In: Deutsches Museum 1777, 1. Bd., 6. St., S. 481–510, hier S. 481. 2 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 264. 3 Ebd., S. 16ff. 4 Vgl. David Hume: Of the Original Contract. In: ders.: Essays. Moral, Political, and Literary. Hg. von T. H. Green und T. H. Grose. London 1882, S. 443–459 sowie Anon. [Jeremy Bentham]: Fragment on Government. London 1776. 5 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 321ff. 6 Ebd., S. 310. https://doi.org/10.1515/9783110793611-012

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ren; dieser ursprüngliche Zustand wird zudem durch einen Vertrag verlassen. Unverkennbar arbeitet Mauvillon – neben seinem grundlegenden Utilitarismus7 – mit Prämissen einer praktischen Anthropologie, von denen zwar immer wieder behauptet wird, sie entstammten der Erfahrungserkenntnis,8 die aber ihrem theoretischen Status nach rationalen Charakter haben. Diese naturrechtlichen Prämissen entwickelt Mauvillon allerdings nicht in einer eigenen Schrift, einem eigenen »System«, sondern er bedient sich ihrer wie selbstverständlich in seinen politischen Schriften, die ganz zu Recht als Erörterungen zur Staatsklugheit bzw. zur Staatskunst bezeichnet werden, welche das 18. Jahrhundert präzise vom Staatrecht bzw. der Staatstheorie unterscheidet.9 So schreiben etwa Nicolaus Hieronymus Grundling oder Gottfried Achenwall sowohl Naturrechtslehren als auch Staatsklugheitslehren bzw. ›Politiken‹, die in ihren Gründen und Zwecken deutlich unterschieden werden.10 Geht es in den Naturrechtslehren um Fragen der Geltung, Verbindlichkeit und Legitimation von Recht, Staat und Herrschaft,11 so in den Staatsklugheits- bzw. Staatskunstlehren um Fragen der angemessenen Mittel für den Staatszweck des individuellen und gemeinschaftlichen Glückes, des Gemeinwohls.12 Diese Unterscheidung wird uns im Folgenden noch beschäftigen. || 7 Ebd., S. 31. 8 Vgl. hierzu Jakob Mauvillon: Auflösung der großen Frage: Ob ein reiches Land die Mitwerbung mit einem armen Lande, bey gleichen natürlichen Vortheilen, in Hervorbringung von Produkten und Manufakturarbeiten, um einen geringern Preiß aushalten kann? In: ders.: Sammlung von Aufsätzen über Gegenstände aus der Staatskunst, Staatswirthschaft und neuesten Staaten-Geschichte. 2 Bde. Leipzig 1776/77, Bd. 1, S. 33, S. 43, S. 56 u. ö. 9 Siehe hierzu u. a. Gideon Stiening: Empirische oder wahre Politik? Kants kritische Überlegungen zur Staatsklugheit. In: Kants Entwurf Zum ewigen Frieden. Hg. von Dieter Hüning und Stefan Klingner. Baden-Baden 2018, S. 259–276; ders.: Politik als »ausübende Staatsklugheit«. Machiavelli und die Aufklärung. In: David Nelting, Linda Simonis (Hg.): 550 Jahre Machiavelli. Heidelberg 2022, [i. D.]. 10 Siehe hierzu Nicolaus Hieronymus Gundling: Einleitung zur wahren Staatsklugheit. Frankfurt a. M., Leipzig 1751 sowie Gottfried Achenwall: Die Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen entworfen. Göttingen 1761. 11 Vgl. hierzu u. a. Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. Freiburg, München 21999; Diethelm Klippel: Ideen zu einer Revision des Naturrechts. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), S. 73–90; Frank Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 2000; Daniel Eggers: Die Naturzustandstheorie des Thomas Hobbes. Berlin 2008; Das Naturrecht der Geselligkeit. Anthropologie, Recht und Politik im 18. Jahrhundert. Hg. von Vanda Fiorillo und Frank Grunert. Berlin 2009; Die Naturrechtslehre des Francisco Suárez. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn und Gideon Stiening. Berlin, Boston 2017 sowie Auf dem Weg zur kritischen Rechtslehre? Naturrecht, Moralphilosophie und Eigentumstheorie in Kants »Naturrecht-Feyerabend«. Hg. von Dieter Hüning und Stefan Klingner. Leiden, Boston 2021. 12 Zur ungleich geringer erforschten Staastklugheitslehre des 18. Jahrhunderts vgl. u. a. Merio Scattola: Von der prudentia politica zur Staatsklugheitslehre. Die Verwandlungen der Klugheit in der praktischen Philosophie der Frühen Neuzeit. In: Phronêsis – Prudentia – Klugheit: Das Wissen

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Diese Unterscheidungen beider Theorieformen und ihrer bei Thomasius, Grundling und Achenwall notwendigen Verbindung sind nicht immer stabil,13 auch nicht immer überzeugend ausgefallen, gleichwohl gelten sie den unterschiedlichen Fraktionen – Pufendorfianern, Lockeanern, Thomasianern oder Wolffianern – als selbstverständlich. Allerdings erodiert diese Unterscheidung zwischen einer normativen und einer pragmatischen Theorie der Politik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, was man an den Konzeptionen des von Diethelm Klippel so genannten Jüngeren Naturrechts ab 1780 ablesen kann.14 Noch Heinrich von Kleist wird im Michael Kohlhaas das Verdrängen des moralisch-praktischen Naturrechts durch die uneingeschränkte Herrschaft einer technisch-praktischen, also normfreien ratio status kritisch reflektieren.15 Man kann diese komplexen Prozesse einer DeDeontologisierung der Politik und ihrer gleichzeitigen Bindung an die normative Ordnung des Naturrechts16 auch an bestimmten Elementen von Mauvillons politischer Theorie ablesen, die er seit den späten 1770er Jahren entwickelte und bis in die 1790er Jahre fortführte, und zwar insbesondere in den Physiokratischen Briefen aber auch einer Fülle weiterer Aufsätze. Die meisten dieser Studien sind zwar ausdrücklich zu Themen der – explizit prudentiellen – Staatskunst, der Staatswirtschaft und ihrer beider Geschichten oder auch zum rechtlichen und politischen Problem des Briefgeheimnisses17 verfasst, gleichwohl sind sie keineswegs frei von naturrechtlicher Theoriebildung.18 Denn trotz seiner Konzentration auf die Felder der »Staatskunst« arbeitet Mauvillon an zentralen Schaltstellen seiner Argumentation mit nicht nur prudentiellen, sondern mit tatsächlich normativen Prämissen. Diesen in den Texten weit || des Klugen in Mittelalter, Renaissance und Neuzeit – Il sapere del saggio nel Medioevo, nel Rinascimento e nell'età moderna. Hg. von Alexander Fidora, Andreas Niederberger und Merio Scattola. Porto 2013, S. 227–259. 13 Vgl. hierzu die Darstellung erster Erosionsprozesse des Naturrechts als stabiler Theorie schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert durch Merio Scattola: Das Naturrecht der Triebe von Jakob Schmauß und Johann Christian Claproth oder das Ende des naturrechtlichen Prinzips und die Entstehung der Sozialwissenschaften. In: ders.: Prinzip und Prinzipienfragen in der Entwicklung des modernen Naturrechts. Hg. von Andreas Wagner. Stuttgart-Bad Cannstatt 2017, S. 161–182. 14 Vgl. hierzu Diethelm Klippel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976, S. 178ff.; Klippel: Ideen (s. Anm. 11), S. 73–89. 15 Siehe hierzu u. a. Gideon Stiening: Zwischen gerechtem Krieg und kluger Politik. Naturrecht, positives Recht und Staatsraison in Kleists Michael Kohlhaas. In: Literatur und praktische Vernunft. Festschrift für Friedrich Vollhardt zum 60. Geburtstag. Hg. von Frieder von Ammon, Cornelia Rémi und Gideon Stiening. Berlin, Boston 2016, S. 485–522. 16 Vgl. hierzu auch Gideon Stiening: »Politische Metaphysik«. Zum Verhältnis von Politik und Moral bei Isaak Iselin. In: xviii.ch Jahrbuch der Schweizer Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts 5 (2014), S. 136–162. 17 Siehe hierzu u. a. Schreiben des Obristlieutenants Mauvillon an den Hrn. Professor Aloysius Hoffmann zu Wien über dessen Aufsatz. In: Schleswigisches Journal 1792, 1. Bd., 3. St., S. 336–383. 18 Vgl. Mauvillon: Sammlung von Aufsätzen (s. Anm. 8).

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verstreuten naturrechtlichen Theoremen und deren anthropologischen Grundlegungen soll im Folgenden Beachtung geschenkt werden.

2 Naturrechtliche Momente der physiokratischen ›Politik‹ Mauvillons 2.1 Pflichten- und Vertragslehre Im letzten, dem 19. seiner Physiokratischen Briefe holt Mauvillon noch einmal groß aus: Er bietet nämlich dem Leser und der Leserin einige grundlagentheoretische Überlegungen seiner physiokratischen Staatswirtschaftslehre. Zu diesem Zweck wechselt er die Gattung, d. h. er imputiert dem als Brief gerahmten Text eine fiktive Rede, die er auf Einladung eines Ministers vor dem Landtag eines der deutschen Lande hielte, wenn er denn dazu aufgefordert würde, sein physiokratisches Modell von Wirtschaftspolitik zu verteidigen. Der Grund für diesen Gattungswechsel liegt auf der Hand: Auf den Vorwurf Christian Wilhelm Dohms, an den die gesamten Briefe gerichtet sind, seine Physiokratie sei eben Theorie und nicht in die Praxis zu überführen, reagiert Mauvillon mit der Anmutung, diese seine Theorie auch vor politischen Praktikern vortragen zu können, und zwar mit Erfolg. Bemerkenswerter Weise beginnt diese Rede über die Superiorität des physiokratischen Wirtschaftsmodells jedoch mit einer staatstheoretischen Prämisse und ist auch weiterhin mit grundlagentheoretischen Einwürfen zumeist naturrechtlicher Couleur durchwirkt. Dabei beschäftigt sich die erste Prämisse mit den Pflichten des Untertans gegenüber dem staatlichen Allgemeinen, die zwar nicht darin bestehen könnten, »[s]ein eigenes Wohl dem allgemeinen Besten aufzuopfern«; wohl aber wird das Verhältnis von besonderem und allgemeinem Wohl wie folgt korreliert: Daß hingegen das allgemeime Wohl das Beste der andern befördert, so bald es dem unsrigen keinen Eintrag tut; das ist eine so billige Anfoderung, daß niemand sich ihr entziehen kann, ohne boshafte menschenfeindliche Gesinnungen zu verrathen.19

Mauvillon entwickelt hier gleich zu Beginn seiner ›Rede‹ die politische Variante eines Teils jener allgemeinen Pflichtenlehre, die der Naturrechtstheorie seit Samuel Pufendorf zur Selbstverständlichkeit geworden war:20 Danach gab es dreierlei Pflichten: die Pflicht gegen Gott, die Pflicht gegen sich und die Pflicht gegen andere.

|| 19 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 308. 20 Siehe hierzu die präzisen Ausführungen bei Hartung: Naturrechtsdebatte (Anm. 11), S. 69–81.

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Wie schon für Pufendorf oder Wolff21 so galt noch für Mauvillons Zeitgenossen Moses Mendelssohn ein strenges Ableitungsverhältnis der beiden letzteren aus der ersten Pflicht: Im Grund machen in dem System der menschlichen Pflichten, die gegen Gott keine besondere Abtheilung; sondern alle Pflichten des Menschen sind Obliegenheiten gegen Gott. Einige derselben gehen uns selbst, andere unsere Nebenmenschen an. Wir sollen, aus Liebe zu Gott, uns selbst vernünftig lieben, seine Geschöpfe lieben, so wie wir aus vernünftiger Liebe zu uns selbst verbunden sind, unsere Nebenmenschen zu lieben.22

Damit ist das Problem des Verhältnisses von Selbstliebe und Geselligkeit,23 von natürlicher Freiheit und sittlicher Notwendigkeit handstreichartig, und zwar mit den Mitteln der natürlichen Theologie gelöst. Von einer theonomen Systematisierung der Pflichten ist bei Mauvillon zwar prima vista nichts zu erkennen, gleichwohl wird der zentrale Status der naturrechtlichen Pflichtenlehre erkennbar sowie die Politisierung der Pflichten gegen andere, die nach Mauvillon vor allem dadurch erfüllt werden können, dass man sich um das Gemeinwohl bekümmere. Die unmittelbare Verknüpfung von Pflichten gegen andere mit den Pflichten gegen das bonum commune führt allerdings zu einer Moralisierung der politischen Pflicht, weil man nach Mauvillon nur durch eine grundlegend misanthropische Gesinnung veranlasst werden könne, gegen sie zu verstoßen.24 Mauvillon beginnt seine oratorischen Ausführungen zur Leistungsfähigkeit des physiokratischen Wirtschaftsmodells also mit einer spezifischen Anbindung an die naturrechtliche Pflichtenlehre, die mithin seiner ökonomischen Theorie zugrundeliegt: Die Verfolgung des Gemeinwohl wird als Realisation der Pflichten gegen andere zu einer Grundlegung || 21 Vgl. Samuel von Pufendorf: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Hg. und übersetzt von Klaus Luig. Frankfurt a. M. 1994, S. 51–77; Christian Thomasius: Grundlagen des Natur- und Völkerrechts. Hg. von Frank Grunert. Hildesheim, Zürich, New York 2003, S. 137ff.; Christian Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, worinnen alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigem Zusammenhange hergeleitet werden. Halle 1754, S. 65–115. 22 Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. In: ders.: Ausgewählte Werke. Studienausgabe. 2 Bde. Hg. von Christoph Schulte, Andreas Kennecke und Grażyna Jurewicz. Darmstadt 2009, S. 129–206, hier S. 150. 23 Siehe hierzu u. a. Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001. 24 Dass die Moralisierung politischen Handelns im Trend der 1780er Jahre lag, lässt sich auch an Christian Garves berühmt werdender Schrift Abhandlung über die Verbindung der Moral mit der Politik, oder einige Betrachtungen über die Frage, in wiefern es möglich sey, die Moral des Privatlebens bey der Regiereung der Staaten zu beobachten (Breslau 1788) nachvollziehen; siehe hierzu auch Gideon Stiening: Der Souverän als »Werkzeug der Vorsehung«. Christian Grave über Politik zwischen Naturrecht und Moral. In: Christian Grave (1742–1798). Philosoph und Philologe der Aufklärung. Hg. von Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin, Boston 2021, S. 182–205.

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auch staatsökonomischen Handelns interpretiert, das damit ebenfalls auf das bonum commune und damit auf eine naturrechtliche Pflicht ausgerichtet wird.25 Auch eine weitere naturrechtliche Pflicht wird schon in den ersten Zeilen dieser ›Rede‹ aufgerufen: Dass nämlich Soldaten ihr Leben für das Gemeinwohl einzusetzen haben oder dass Richter, »um billig zu richten«, Geschenke ausschlagen müssen, habe damit zu tun, dass sie Verträge mit dem Staat abgeschlossen hätten, und in diesem Zusammenhang heißt es: »Zur Haltung eines Vertrags ist jedermann verpflichtet.«26 Erkennbar referiert Mauvillon mit diesem Diktum auf das ursprünglich römischrechtliche, hernach kanonische Prinzip des Pacta sunt servanda,27 das schon seit Thomas von Aquin und der Naturrechtslehre der Frühen Neuzeit zu einer ursprünglichen Pflicht der lex naturalis gerechnet wurde.28 Pflichten- und Vertragstheorie zählen zu den Grundlagen der frühneuzeitlichen Naturrechtstheorie;29 Mauvillon beginnt seine Rede zur Wirtschaftspolitik mit eben diesen Prämissen und zeigt damit an, dass für ihn staatliche Ökonomik ohne naturrechtliche Grundlage nicht möglich ist.30 Daher gibt es noch eine Reihe weiterer Naturrechtstheoreme, auf die Mauvillon in verschiedenen Texten, so auch in der genannten fiktiven Rede der Physiokratischen Briefe, zu sprechen kommt. Dazu gehören auch die Rechte auf Eigentum und Freiheit:

2.2 Eigentum und Freiheit Reichlich zu Beginn seiner Abhandlung Von der Öffentlichen und Privat-Ueppigkeit, die als erste Fassung der Physiokratischen Briefe gelten darf31 und die – wie bekannt – heftige Reaktionen auslöste,32 stellt Mauvillon fest:

|| 25 Schon zu Beginn dieser Grundsatzrede zeigt sich mithin, dass Mauvillon durchaus bewusst ist, dass eine normative Bindung staatswirtschaftlichen Handelns an das Gemeinwohl als dessen telos nicht mit den Mitteln der Ökonomie zu leisten ist, weil diese keine normativen, sondern lediglich prudentielle Kriterien generiert. 26 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 308. 27 Siehe hierzu u. a. Peter Landau: Pacta sunt servanda. Zu den kanonistischen Grundlagen der Privatautonomie. In: »Ins Wasser geworfen und Ozeane durchquert«. Festschrift für Knut Wolfgang Nörr. Hg. von Mario Ascheri und Martin Heckel. Köln, Weimar, Wien 2003, S. 457–474. 28 Siehe hierzu u. a. Pufendorf: Über die Pflicht (s. Anm. 21), S. 87 (I.9.2.); Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts (s. Anm. 21), S. 267ff. (§ 434ff.). 29 Siehe hierzu u. a. Gerald Hartung: Vertragstheorie und Konstruktion der Souveränität bei Samuel Pufendorf. In: Naturrecht und Staatstheorie bei Samuel Pufendorf. Hg. von Dieter Hüning. Baden-Baden 2009, S. 36–50. 30 Dieser Korrelation von Naturrecht und Ökonomie wird in der Forschung vor allem im angloamerikanischen Raum nachgegangen, vgl. u. a. Arild Sæter: Natural Law and Origin of Political Economy. London, New York 2017. 31 Vgl. hierzu u. a. die Beiträge von Till Kinzel und Michael Schwingenschlögl in diesem Band.

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Allein wir nehmen hier obige Eintheilung als richtig an, theils weil es die Eintheilung der Natur ist, der zu Folge man blos durch die Arbeit die man darauf verwendet, ein Eigenthumsrecht auf das Land und auf die Erndte die es hervorbringt erlangt; theils weil hier von der Zeit die Rede ist, wo noch kein Geld vorhanden war, wo also noch alles dem ursprünglichen Zustande hierinn weit näher kam, und gewiß der allergrößte Theil der hervorbringenden Klasse aus Landeigenthümern bestand, theils endlich weil wir nur diejenigen die hervorbringende Klasse nennen, die ein eigenthümliches Recht auf die Erndte haben.33

An dieser in eigentümlicher Weise an John Locke angebundenen Eigentumstheorie34 wird ersichtlich, dass Mauvillon mit den Begriffen eines »ursprünglichen Zustandes« und des »eigentümlichen Rechts«, das – vor der Einführung von Geld und damit eines status civilis – den arbeitenden Landbewohnern zustünde, erneut auf naturrechtstheoretische Kategorien zurückgreift. Arbeit generiert nach Mauvillon folglich Eigentum, dessen Geltung allerdings zunächst nur durch überpositive Rechtsnormen garantiert werden kann; ausdrücklich spricht der Autor von einem »eigenthümlichen«, also auf Eigentum gerichteten Recht. Bei allem universalisierten Utilitarismus – der individuelle, vor allem aber der gesellschaftliche Nutzen ist das Losungswort der Physiokraten35 – basiert die Ausrichtung auf dieses Telos doch auf rechtlichen Grundlagen, die nur durch die Natur oder die Vernunft, immerhin aber durch die Natur des Menschen und durch die in ihr enthaltenen Rechte gelegt werden können. Entscheidend ist dabei, dass der letztlich normativ ungebundene Nutzenkalkül durch die naturrechtliche Kategorisierung in einen normativen Rahmen eingebunden wird bzw. werden soll. Diese Grundlegung der natürlichen Rechte in der Natur des Menschen entsprechen aber weitgehend der Naturrechtslehre des ansonsten als ›finsteren Metaphysiker‹ distanzierten Christian Wolff; dieser hatte in seinen Grundsätzen des Natur- und Völkerrechts eine anthropologische Grundlegung des Naturrechts entwickelt:

|| 32 Siehe hierzu Jochen Hoffmann: Jakob Mauvillon. Ein Offizier und Schriftsteller im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipationsbewegung. Berlin 1981. 33 Jakob Mauvillon: Von der öffentlichen und privat Ueppigkeit (Luxe) und den wahren Mitteln sie zu steuern: nach den Grundsätzen der neuern französischen Physiokraten. In: ders.: Sammlung von Aufsätzen (s. Anm. 8), Bd. 2, S. 1–128, hier S. 10; Hervorhebung von mir; siehe hierzu auch Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 20f. 34 Vgl. hierzu John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Hg. und eingeleitet von Walter Euchner. Frankfurt a. M. 1977, S. 215–231, siehe dazu auch Bernd Ludwig: »Regierungen entstehen wieder auf die althergebrachte Art, nämlich durch Erfindung und Übereinkunft der Menschen.« John Lockes Eigentumstheorie. In: Was ist Eigentum? Philosophische Positionen von Platon bis Habermas. Hg. von Andreas Eckl und Bernd Ludwig. München 2005, S. 88–102. 35 Siehe hierzu u. a. Reinhard Bach: Rousseau und die Physiokraten. Politische Ideengeschichte im begrifflichen Wandel zwischen Aufklärung und Revolution. Köln, Weimar, Wien 2018, S. 15ff., S. 210 u. ö. sowie Lars Behrisch: Die Berechnung der Glückseligkeit. Statistik und Politik in Deutschland und Frankreich im späten Ancien Régime. Stuttgart 2016, S. 75ff.

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Aus dem, was nur kürzlich gesagt worden, kann, wie ich meyne, nicht undeutlich erhellen, daß alle Rechte, als welche unter einander in beständigem Zusammenhange sind, aus der menschlichen Natur selbst hergeleitet werden, und daß hiermit klar sey, was die Alten gesagt haben, daß das Recht selbst durch die Natur aufgerichtet worden sey.36

Allerdings ist die Ableitung der lex naturalis aus der Natur des Menschen eine communis opinio der gesamten neuzeitlichen Naturrechtsdebatte.37 Zugleich hatte auch Wolff eine naturrechtliche Genealogie des Eigentums vorgelegt, dessen Legitimation gleichwohl nicht – wie bei Locke und Mauvillon – auf Arbeit basierte.38 Wenngleich die legitime Entstehung von Eigentum aus der Natur des Menschen und seiner Arbeit begründet wird, so bleibt Mauvillon doch gegen Wolff und mit Locke39 davon überzeugt, dass es vor allem der Staat sei, der die Sicherheit und Dauer des Eigentums garantieren könne und dass darin einer seiner zentralen Zwecke zu finden sei: Warum bilden die Menschen einen Staat? Ohnstreitig um Schutz und Sicherheit für ihre Leben und für ihre Vermögen zu haben.40

Mauvillons Rückgriff auf eine mehr lockesche als wolffsche Naturrechtstheorie steht aber nicht nur im Zusammenhang mit dem allgemeinen Versuch, der prudentiellen Staatswirtschaftslehre eine rechtsnormative Fundierung zu verschaffen, sondern lässt sich auch mit den besonderen Inhalten des Physiokratischen Modells verbinden: Denn Mauvillons wirtschaftspolitische Privilegierung der wertschöpfenden Landbearbeiter hinsichtlich ihrer Rolle für das Glück des Staates ist ohne deren Recht auf Eigentum durch Arbeit nicht hinreichend zu begründen. Und dieses Recht hat einen naturrechtlichen Status. Mauvillons Physiokratismus ist mithin trotz des Anspruchs auf eine rein empirische Staatswirtschaftstheorie auf die rationale Konzeption des Naturrechts angewiesen. Diese naturrechtliche Grundlegung gilt neben der Eigentumstheorie auch für die zumeist emphatisch vorgetragene Freiheitstheorie des Physiokraten, die keineswegs ausschließlich auf einen möglichst freien Markt abzielt. In der schon mehrfach zitierten fiktiven Landtagsrede im letzten der Physiokratischen Briefe heißt es dazu:

|| 36 Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts (s. Anm. 21), Vorrede [unpag.]. 37 Vgl. hierzu u. a. Gideon Stiening: Von der »Natur des Menschen« zur »Metaphysik der Sitten«. Zum Verhältnis von Anthropologie und Sittenlehre bei Kant und in den Rechtslehren des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Das Verhältnis von Recht und Moral in Kants praktischer Philosophie. Hg. von Günter Kruck, Bernd Dörflinger und Dieter Hüning. Hildesheim 2017, S. 13–44. 38 Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts (s. Anm. 21), S. 133ff. 39 Siehe hierzu Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung (s. Anm. 34), S. 254. 40 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 291.

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Glauben Sie mir, weder Ihrer, noch des gesamten Ritterstandes in der Welt, samt aller Prälaten Bemühungen zusammen genommen, können die unaufhaltsame Gewalt des sich über die Natur des Menschen und ihre Rechte, immer mehr verbreitenden Lichts hemmen; viel weniger es zurücktreiben. Dieses Licht wird ohnfehlbar eine Veränderung in diesem Punkte nach sich ziehen, sie geschehe wie sie wolle. Sie werden die Kraft aller Menschen, wenn sie ihre angebohrnen Rechte erst recht erblicken, und wieder darinn werden treten wollen, wahrlich nicht aufhalten. Es geht anjetzt in Amerika eine Flamme auf, die ihr Licht schnell, und zumal über ganz Deutschland verbreiten wird.41

Ohne jeden Zweifel bedient Mauvillon im letzten Satz eine politische Hoffnung, die von den revolutionären Ereignissen in Übersee ausgeht und als politisches Argument die Zukunft auch der deutschen Lande, ja Europas beherrschen werde. Gleichwohl ist die Grundlegung dieser politischen Argumentation eine naturrechtliche, weil hier auf die äußere politische Freiheit als einem in der Natur des Menschen gegründeten, »angebohrenen« Menschenrecht referiert wird.42 An dieser Passage ist zweierlei von aussagekräftiger Bedeutung: Mauvillon bezieht sich einerseits überhaupt auf angeborene Rechte des Menschen und bedient sich ihrer andererseits für ein politisches Argument, das darauf abzielt, die Monarchie, die von dem Autor stets als Despotie beurteilt wird, durch eine Republik bzw. einen Freistaat zu ersetzen. Es gibt bei Mauvillon also überhaupt rational zu begründende iura connata als »Rechte der Menschheit«43 und diese werden für eine unmittelbar politische Argumentation eingesetzt.44 Dabei gilt für Mauvillon als eines der wichtigsten iura connata neben dem Recht auf Eigentumserwerb und -erhalt das Recht auf äußere Freiheit, die hier als Freiheit von den Übergriffen eines despotischen Staates erklärt wird. Wie schon für Rousseau so zählen auch für Mauvillon Bedingungen, unter denen die Möglichkeit des Menschen, sich freie äußere Zwecke zu setzen, realisiert werden können, zu seinen angeborenen Rechten. Diese Freiheit gilt u. a. für die République des Lettres, die Mauvillon noch 1792 emphatisch gegen Übergriffe verteidigt:

|| 41 Ebd., S. 313. 42 Zur Stellung und Funktion der iura connata in den frühneuzeitlichen Naturrechtsdebatten vgl. u. a. Martin Reulecke: Gleichheit und Strafrecht in deutschen Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts. Tübingen 2007, S. 29ff.; Nele Schneidereit: Christian Wolffs Lehre von den iura connata. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 22 (2014), S. 159–178 sowie Frank Grunert: The »Iura connata« in the Natural Law of Christian Wolff. In: Philosophy, Rights and Natural Law. Essays in Honour of Knud Haakonssen. Hg. von Ian Hunter und Richard Whatmore. Edinburgh 2019, S. 196–215. 43 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 310. 44 Zum Verhältnis von naturrechtlicher Grundlagentheorie und ihrer politischen Funktionalisierung vgl. Diethelm Klippel: Naturrecht als politische Theorie. Zur politischen Bedeutung des deutschen Naturrechts im 18. und 19. Jahrhundert. In: Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung. Hg. von Hans Erich Bödeker und Ulrich Herrmann. Hamburg 1987, S. 267–293.

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Alles andre steht in den Händen der Regenten, nur nicht das Departement des vernünftigen Denkens. Da gilt keine Autorität; da ist und bleibt ewig eine freie Republik, wo allein die unbestechliche Mehrheit der Stimmen gilt, und wo Verdienst und Nutzbarkeit allein ihren Mann am Ende emporbringen.45

Ohne jeden Zweifel bemüht sich Mauvillon darum, aus diesem angeborenen Recht auf äußerer Freiheit, das er politisch in den 1770er Jahren in der amerikanischen, ab 1789 in der französischen Revolution realisiert, d. h. wiedereingesetzt sieht, sein physiokratisches Postulat auf einen von staatlichen Regulierungen möglichst unabhängigen Warenaustausch abzuleiten.46 Allerdings ist er zugleich darum bemüht – und muss dies sein –, dieses ökonomische Postulat rein wirtschaftslogisch mit einer Fülle von Berechnungen und somit als rein prudentielle Forderung einer systematisch eigenständigen und eigengesetzlichen Wirtschaftspolitik zu begründen. Und so bleibt es bei einer unvermittelten Gleichzeitigkeit bzw. -ursprünglichkeit von dem Interesse einer Ableitung des Physiokratismus aus naturrechtlichen Prämissen, um der ökonomistischen Prudentialität ein normatives Fundament zu verschaffen, und der zugleich notwendigen Absicht an der relativen Eigenständigkeit einer wirtschaftspolitischen Klugheitslehre. Dass normatives Recht und politische Klugheit systematisch zu unterscheiden sind, ist Mauvillon durchaus bewusst; im Rahmen seiner eben schon zitierten Auseinandersetzung mit Aloysius Hoffmann über das Briefgeheimnis heißt es denn auch: Ich bitte Sie um Gottes Willen, was soll aus Deutschland werden, wenn jeder Reichsfürst die blos durchgehenden Briefe öffnen, sich auf diese Art zum Vormund der andern aufwerfen, und nicht jedem derselben für die allgemeine Sicherheit innerhalb seinem Gebiete sorgen lassen will? War man indes nicht berechtigt, vorher meine Briefe zu eröfnen, so entsteht hier die Frage: ob sich in denselben etwas gefunden hat, das, wo nicht das Recht, doch wenigstens die Klugheit dieser Maaßregel ex post facto darthäte.47

Und natürlich wird beides verneint; wichtig ist lediglich, dass Mauvillon präzise zwischen Rechtsansprüchen und Klugheitsidealen zu unterscheiden vermag, was ihm aber im Hinblick auf eine Vermittlung von normativem Naturrecht mit prudentiellem Physiokratismus nicht vollständig gelingt. Schlimmer noch: Seine aus dem Naturrecht auf äußere Freiheit abgeleitete und tatsächlich ableitbare politische Forderung nach einem Freistaat bzw. einer freien Republik bleibt gegenüber seinem physiokratischen Modell indifferent; ausdrücklich heißt es dazu:

|| 45 Schreiben des Obristlieutenants Mauvillon (s. Anm. 16), S. 370. 46 Siehe hierzu u. a. Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 118ff. (11. Brief). 47 Schreiben des Obristlieutenants Mauvillon (s. Anm. 16), S. 349; Hervorhebung im Text.

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Das System [d. i. das physiokratische Modell] paßt auf Monarchien so wohl als auf Freystaaten, und von der Seite muß es allein betrachtet werden.48

Für seine zugleich erhobenen Forderungen nach einem politischen Freistaat ist dieser Befund natürlich desaströs, bleiben sie doch gegenüber seinem ökonomischen Wohlstandskonzept gleichgültig. Gleichwohl lassen sich weitere, gewichtige naturrechtliche Prämissen in den herrschafts- und wirtschaftpolitischen Argumentationsbewegungen Mauvillons isolieren, die es im Folgenden noch zu betrachten gilt. Dazu zählt zunächst und zumeist das spätestens seit Hobbes zentrale Recht auf Selbsterhaltung:

2.3 Selbsterhaltung Es gibt nämlich nach Mauvillon ein Recht auf Selbsterhaltung, und zwar des Einzelnen im Naturzustand wie des Staates im interstaatlichen Verhältnis. Bekanntermaßen bilden der zum Anthropologicum erhobene ›Trieb zur Selbsterhaltung‹49 ebenso wie ein aus diesem anthropologischen Datum abgeleitetes ›Recht auf Selbsterhaltung‹50 zentrale Einsichten der neuzeitlichen Theoriebildung. Für Mauvillon gilt dieses Recht aber vor allem für den Staat, so dass es im Hinblick auf die Notwendigkeit der staatlichen Finanzierung eines Heeres ausdrücklich heißt: Freylich wer ein Mittel zeigt wie alle Menschen billig vernünftig und tugendhaft gemacht werden könnten, der macht dadurch alle Soldaten unnütz und tut der Menschheit einen grossen Dienst. [...] Allein dies Mittel und die Quadratur des Zirkels möchten wohl zugleich erfunden werden; denn die Quelle von Hader und Zweitracht, die den Krieg gebiehrt, liegt in der menschlichen Natur, und diese umzuformen ist so leicht nicht.51

Diese anthropologische Begründung für die Notwendigkeit des Soldatenstandes und dessen Finanzierung durch den Staat, d. h. für die Unhintergehbarkeit der Gewalt als Mittel der Selbsterhaltung im interstaatlichen Gefüge macht erneut deutlich, dass es Prämissen praktisch-anthropologischer Couleur sind, die in der ökonomischen Theorie ihre Geltung und Wirkung behalten; aus ihr aber nicht abgeleitet werden können. Es käme der »Quadratur des Zirkels« gleich, die Menschen so vernünftig und tugendhaft zu machen, dass solcherart Mittel der gewalt|| 48 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S 324. 49 Siehe hierzu u. a. Martin Mulsow: Frühneuzeitliche Selbsterhaltung. Telesio und die Naturphilosophie der Renaissance. Tübingen 1998. 50 Zu diesem Ableitungsvorgang bei Hobbes vgl. Manfred Baum: Diskussionsbeitrag zur Rationalität im Naturzustand bei Hobbes. In: Der lange Schatten des Leviathan. Hobbes politische Philosophie nach 350 Jahren. Vorträge des internationalen Arbeitsgesprächs am 11. und 12. Oktober 2001 an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Hg. von Dieter Hüning. Berlin 2005, S. 143–152. 51 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 259.

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samen Selbsterhaltung durch Vernunft und Tugend überflüssig würden. Klarer kann eine naturrechtlich-anthropologische Prämisse nicht ausfallen. Diese Annahme unterscheidet den Physiokraten und Naturrechtler Mauvillon von einem Teil seiner deutschsprachigen Zeitgenossen, die darauf abzielten, den Menschen durch Pädagogik oder Kunst so zu erziehen, dass er je schon will, was er soll, auf die Verwirklichung einer moralischen Vergemeinschaftung mithin, die jedes Recht und jeden Staat überflüssig machte.52 Diesem Traum einer moderaten Aufklärung hängt Mauvillon offenbar nicht an; es fragt sich aber schon an dieser Stelle: Macht ihn das radikalaufklärerisch?53 Unabhängig von dieser noch zu beantwortenden Frage ist jedoch unstrittig, dass Mauvillon der Fraktion anthropologisch argumentierender Staatsklugheitslehrer deutlicher entsprach als einer auf einen ewigen Frieden abzielenden Radikalaufklärung. So heißt es in dem 1761 publizierten Essay Von der Kriegszucht des preußischen Regierungspräsidenten und Geheimen Rates Johann Michael von Loën (1694–1776): Der Krieg ist vor die Ruhe der Familien, vor das Aufnehmen des Staates, und vor die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts überhaupt so schädlich und verderblich, daß eine geläuterte Vernunft und eine wahre Menschenliebe nichts so sehr wünschen können, als daß es möglich wäre, Mittel ausfindig zu machen, daß dieses höchste Uebel des menschlichen Geschlechtes ganz und gar vermieden werden könnte. Allein, da dieses nach denen menschlichen Leidenschaften und Gesinnungen, und kurz, nach der Natur des Menschen nicht gehoffet werden kann; so müßten wir zufrieden seyn, wenn wir es in vernünftigen und erleuchteten Zeiten dahin bringen, daß die schädlichen Folgen des Kriegs so viel als möglich gemildert, und daß wenigstens die Kriege auf keine grausame und barbarische Art geführet werden.54

Von Loën weist also, wie es auch der Praktiker Mauvillon festgestellt hatte, die Hoffnungen auf einen ewigen Frieden durch Verweis auf die menschliche Natur zurück und gibt sich in der scheinbar bescheideneren Absicht, wenigstens die Ausführungsart sowie die Folgen des Krieges zu mildern, pragmatisch oder eben ›staatsklug‹. Ausdrücklich bedient sich von Loën, der mit seinem Der Redliche Mann am Hofe von 1740 einen der erfolgreichste politischen Romane des frühen 18. Jahr-

|| 52 Siehe hierzu u. a. Gideon Stiening: Glück statt Freiheit – Sitten statt Gesetze. Wielands Auseinandersetzung mit Rousseaus politischer Theorie. In: Wieland-Studien 9 (2016), S. 61–103. 53 So u. a. Martin Mulsow: Deismus. Radikale Religionskritik. In: Grundriß der Geschichte der Philosophie: Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Hg. von Helmut Holzhey und Vilem Mudroch. 2 Bde. Basel 2004ff., Bd. V: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, Schweiz, Nord- und Osteuropa (2014), S. 366f. 54 Johann Michael von Loën: Von der Kriegszucht. In: Des Herrn Geheimen Rath von Loën Freye Gedanken von dem Hof, der Policey, gelehrten, bürgerlichen und Bauren-Stand, von der Religion und einem beständigen Frieden in Europa. Frankfurt a. M., Leipzig 1761, S. 83–120, hier S. 83; Hervorhebung von mir.

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hunderts schrieb,55 für ein angemessenes Handeln der militärisch und politischen Verantwortlichen des Begriffs der »wahren Staatsklugheit«.56 Es ist diese Tradition einer sich als pragmatisch begreifenden anthropologisierenden Staatsklugheitslehre, in der Mauvillon schreibt. Und es ist Immanuel Kant, der die Widersprüche dieser Position minutiös herausarbeitete.57 Im Hinblick auf seine Anwendung des Rechts auf Selbsterhaltung des Staates ist Mauvillon daher sicher nicht als Radikalaufklärer zu bezeichnen. In einem anderen Zusammenhang führt Mauvillons Ausgang von der Selbsterhaltung als anthropologisch gegründeten Trieb, der bei ihm auch als »Trieb zum eignen Vortheile«58 oder auch als »Trieb der Selbstliebe«59 firmiert, und dem daraus erwachenden Recht auf Selbsterhaltung allerdings zu einer nicht nur gegenüber Kant deutlich aufgeklärteren Haltung: Im Rahmen der Frage, ob man Arbeiter, also abhängig Beschäftigte gesetzlich daran hindern sollte, den reinen Lohn ihrer Arbeit, also jenen Anteil, der ihnen über die schlichten Reproduktionskosten hinaus, gezahlt würde, unmittelbar zu verausgaben, heißt es: Wollte man aber Gesetze machen um das zu verhüten, das wäre, meine ich, eben so überflüßig als Gesetze gegen den Selbstmord zu machen. Daß man dies aber vollends durch Impostirungsverordnungen hemmen will, deucht mir, unter uns gesagt, fast so, als wenn man Menschen hängen wollte, um sie zu verhindern, einen Selbstmord zu begehen.60

Um zu erkennen, welch polemische Wucht hinter diesen Ausführungen steht, muss man nicht nur auf den klassischen Selbstwiderspruch achten, sondern vielmehr erkennen, dass der Selbstmord im 18. Jahrhundert zwar unter zunehmend geringeren Strafen stand61 – wobei Strafen hier solche am Leichnam oder für die Familie des ›Täters‹ implizierten –, sondern vor allem Theoretiker der Aufklärung vom ursprünglich christlichen Selbsttötungsverbot nicht vollends lassen konnten oder wollten.62 Mauvillon hingegen, der hier in der Bahnen Werthers argumentiert,63

|| 55 Johann Michael von Loën: Der Redliche Mann am Hofe. Oder die Begebenheiten des Grafen von Rivera. Frankfurt a. M. 1742; siehe hierzu u. a. Christopher Meid: Der politische Roman im 18. Jahrhundert. Systementwurf und Aufklärungserzählung. Berlin, Boston 2021, S. 151–197. 56 von Loën: Von der Kriegszucht (s. Anm. 54), S. 118f. 57 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. In: AA VIII, S. 370–380. 58 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 232. 59 Ebd., S. 137. 60 Ebd., S. 30. 61 Vgl. hierzu u. a. Vera Lind: Selbstmord in der frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel. Göttingen 1999 sowie Ursula Baumann: Vom Recht auf den eigenen Tod. Geschichte des Suizids vom 18. bis 20. Jahrhundert. Würzburg 2001, S. 43–142. 62 Siehe hierzu u. a. Gideon Stiening: »Chi teme il dolore ubbidisce alle leggi«. Suizid und attische Liebe in den Strafrechtstheorien Christian Wolffs, Cesare Beccarias und Johann Adam Bergks. In: Chiara Conterno, Astrid Dröse (Hg.): Deutsch-italienischer Kulturtransfer im 18. Jahrhundert: Konstellationen, Medien, Kontexte. Bologna 2020, S. 81–110.

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erklärt den Selbstmord für nicht rechtsförmig, womit er – bei aller Anbindung an eine »wahre christliche Religion«64 – eine noch für die Zeit des späten 18. Jahrhundert tatsächlich aufgeklärte Position vertritt. Es sind solche Ausführungen, wie auch die zur Abschaffung des Adels oder zur Befürwortung der amerikanischen oder französischen Revolution, die den Eindruck vermitteln können, Mauvillon sei nicht allein ein Theoretiker im ›Zeitalter der Aufklärung‹, sondern eines schon tatsächlich ›aufgeklärten Zeitalters‹.65 Dieses Urteil gilt aber gerade nicht für die grundlagentheoretischen Überlegungen, d. h. seine anthropologisch-naturrechtlichen Prämissen, so u. a. für den von ihm vertretenen Eudämonismus.

2.4 Eudämonismus Bei allem Pathos für eine äußere politische Freiheit, die – wie zitiert – nach Mauvillon in »der Natur des Menschen und ihrer Rechte«66 begründet liegt, ist der Physiokrat zugleich davon überzeugt, dass eben diese Natur des Menschen ihm einen »Trieb nach Glückseligkeit« imputiert habe: Da zu dem jeder Mensch nach mehrerm verlangt als er besitzt; (denn das ist eben worin der Trieb nach Glückseligkeit besteht,) so hat er der Genußmittel, das ist, des Geldes nie genug, und klagt immer über Mangel desselben.67

Erkennbar stellt sich Mauvillon mit dem ersten allgemeinen Argument in die Tradition einer eudämonistischen Aufklärung, die das Handeln des Menschen zunächst und zumeist als ein solches des Strebens nach Glück interpretierte;68 darüber hinaus aber ist dieser Trieb nach Glückseligkeit nach Mauvillon noch präziser bestimmbar, nämlich durch das Streben nach Akkumulation, nach einer steten Zunahme der Mittel zum Genuss.

|| 63 Sehe hierzu Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich Trunz u. a. 14 Bde. Hamburg 1988, Bd. 6, S. 45–51. 64 Vgl. hierzu die Beiträge von Stefan Klingner und Sebastian Abel in diesem Band. 65 Zu dieser berühmten Distinktion vgl. Immanuel Kant: Was ist Aufklärung? In: AA VIII, S. 40. 66 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 313. 67 Ebd., S. 157. 68 Siehe hierzu u. a. Massimo Mori: Glück und Autonomie. Die deutsche Debatte über den Eudämonismus zwischen Aufklärung und Idealismus. In: Studia Leibniziana 25.1 (1993), S. 27–42 sowie Ji Young Kang: Die allgemeine Glückseligkeit. Zur systematischen Stellung und Funktion der Glückseligkeit bei Kant. Berlin, Boston 2015; konkreter zur Bedeutung eudämonistischer Prämissen in der Wirtschaftstheorie des 18. Jahrhunderts siehe Ulrich Engelhardt: Zum Begriff der Glückseligkeit in der kameralistischen Staatslehre des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Historische Forschung 8 (1981), S. 37–79 sowie Behrisch: Die Berechnung (s. Anm. 35), S. 75ff.

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Dabei ist ohne Zweifel die primar sensualistische Interpretation des Glücksbegriffs als Streben nach Genuss bemerkenswert, weil sich Mauvillon mit dieser Ausrichtung seines Eudämonismus gegen das Gros der Aufklärungsethik stellte. Denn die unmittelbare Verbindung von Glücksstreben, moralischer Gesinnung und daher einer jenseitigen Glückseligkeit zählte zu den fundamenta inconcussa einer vorkritischen Aufklärungsanthropologie.69 Der Mensch ist nämlich beispielsweise bei Johann Georg Heinrich Feder ebenso wie bei Ernst Platner oder Georg Sulzer dadurch bestimmt, dass er erstens aus Leib und Seele und deren Einheit besteht und zweitens nach Glück strebt und nur in diesem Streben gut werden kann. So bestimmt Platner in seiner frühen Anthropologie für Aerzte und Weltweise die Glückseligkeit des Menschen als die »ganze Absicht seines Daseyns«,70 und Sulzer setzt wie selbstverständlich voraus, dass »alle vernünftigen Wesen nach einer vollkommenen Glückseligkeit trachten«.71 Auch Feder stellt im dritten Teil seiner Untersuchungen über den menschlichen Willen fest: »Nach Glückseligkeit strebt jeder Mensch vermöge des unabänderlichen Grundgesetzes seiner Natur.«72 Feders, aber auch Wielands oder Lessings Anstrengungen bestehen gerade darin, die seit den 1750er Jahren zunehmende Einsicht in die körperlichen Bedingungen und Realisationen der menschlichen Glückseligkeit in einer »Physik des menschlichen Herzens«73 so zu berücksichtigen, dass sowohl der materialistische Hedonismus eines La Mettrie oder eben eines Mauvillon als auch der moralische Egoismus eines Helvétius74 verhindert werden konnten. Feders ausführliche Reflexionen zu einer auf dem Trieb zu Geselligkeit75 basierenden Sympathie mit anderen Menschen, die mit der Selbstliebe gleichursprünglich in der Natur des Menschen angelegt sei,76 hatten hierin ihren Grund und Zweck. Zugleich ging es darum, die legitime Sinnlichkeit der »ursprünglichen Bestimmungen des menschlichen Herzens«77 mit der Übersinnlichkeit des höchsten Gutes und der Aussicht auf eine ewige Glückseligkeit zu verknüpfen, die einzig in der Glückseligkeit des Tugendhaften und der Hoffnung auf die Gnade Gottes mög-

|| 69 Vgl. hierzu Frank Grunert: Die Objektivität des Glücks. Aspekte der Eudämonismusdiskussion in der deutschen Aufklärung. In: ders., Friedrich Vollhardt (Hg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Tübingen 1998, S. 351–368. 70 Ernst Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Leipzig 1772, S. 12 (§ 43). 71 Johann Georg Sulzer: Versuch über die Glückseligkeit verständiger Wesen. In: ders.: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. 2 Bde. Leipzig 1773‒1781, hier Bd. 1, S. 323. 72 Johann Georg Heinrich Feder: Untersuchungen über den menschlichen Willen. 4 Theile. Göttingen, Lemgo 1779–1793, Thl. 3, S. 1. 73 Johann Georg Heinrich Feder: Lehrbuch der praktischen Philosophie. Hanau, Leipzig 31775, S. 4. 74 Ebd., S. 90. 75 Feder: Untersuchungen über den menschlichen Willen (s. Anm. 72), Thl. 1, S. 349ff. 76 Ebd., S. 88ff. 77 Ebd., S. 58.

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lich sind.78 Nur wenn sich das natürliche Streben des Menschen nach Glückseligkeit normieren ließ, konnten die volkserzieherischen Programme der Popularphilosophie und die Legitimationstheorien einer Literatur der Aufklärung aufrecht erhalten und ausgebaut werden. Mauvillon ist von solchen Programmen politischer Moralisierung eines anthropologischen Eudämonismus durchaus entfernt, und das nicht allein, weil er den Inhalt des individuell zu erstrebenden Glücks mit sinnlichem Genuss gleichsetzt – und nicht etwa unmittelbar mit der Tugend. Gleichwohl ist er ebenso von den Konzepten der zeitgenössischen materialistischen Ethik zu unterscheiden,79 weil er das Streben nach sinnlichem Genuss nicht als einzig denkbares Handlungsziel ausgibt. Vielmehr – das hatte die Referenz auf die naturrechtliche Pflichtenlehre gezeigt – geht Mauvillon davon aus, das der Mensch in verschiedene normative Ordnungen eingebunden ist, die nicht seiner körperlichen Organisation entstammen und seinem Streben nach sinnlichem Glück wenigstens korrespondieren, mehr noch: es auch begrenzen. So heißt es im dem oben schon zitierten Aufsatz gegen Aloysius Hoffmann: Ich glaube behaupten zu können, daß mir Jedermann bezeugen wird, ich führe hier ein sehr stilles und ruhiges Leben, und ich sey bloß bedacht, nach meines besten Vermögen, die mir als Offizier, als Gatte, als Vater, als Mensch obliegenden Pflichten zu erfüllen.80

Es gibt nach Mauvillon folglich unterschiedliche Pflichten, nämlich die durch Vertrag mit dem Staat verbindenden Pflichten des Offiziers (als Staatbürger), die naturrechtlich verbindlichen Pflichten des Gatten und Vaters sowie die ebenfalls durch das Naturrecht geltenden Pflichten als Mensch, d. h. – wie oben ausgeführt – gegen sich, gegen andere und gegen Gott. Dabei ist sich Mauvillon vollkommen darüber bewusst, dass das Verhältnis von Glückstreben und Pflichtenerfüllung kein konfliktfreies ist, vielmehr geht er davon aus, dass Selbsterhaltungstrieb und Glücksstreben stärker auf den Willen des Menschen einwirken als die Pflicht, »denn der eigne Vortheil wirkt doch ganz anders, als das Gefühl der Pflicht, auch bey den rechtschaffensten Menschen«.81 Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der »rechtschaffene Mann« im zeitgenössischen Naturrecht dadurch definiert wird, dass er sich freiwillig in ein Herrschaftsgefüge einpasst, indem er Gesetze befolgt, weil sie vom zuständigen Herrscher erlassen wurden – unabhängig von ihrem Inhalt.82 Dass || 78 Ebd., S. 298ff. 79 Siehe hierzu u. a. Gideon Stiening: »Die Natur macht den Menschen glücklich«. Modelle materialistischer Ethik im 18. Jahrhundert. In: Lothar van Laak, Kristin Eichhorn (Hg.): Kulturen der Moral / Moral Cultures. Hamburg 2021, S. 17–38. 80 Schreiben des Obristlieutenants Mauvillon (s. Anm. 16), S. 348. 81 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 63. 82 Siehe hierzu u. a. Ludwig Gottfried Madihn: Grundsätze des Naturrechts. Erster Theil: Absolutes Naturrecht. Frankfurt/O. 1787, S. 7 (§ 6): »Man sagt, Spinoza sei ein wirklicher Atheist, und doch ein

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es für die Verbindlichkeit des Naturrechts einen ›Herrscher‹ geben muss und auch für Mauvillon gibt, wird sich noch zeigen. Wichtiger ist nächst festzuhalten, dass es für Mauvillon zwei verschiedenen Instanzen gibt, die auf den Willen des Menschen einwirken: Glückstreben und Pflichtbewusstsein, und dass es gleichwohl zur anthropologischen Grundausstattung gehört, dass von einem deutlichen Wirkungsübergewicht des Glücks vor der Pflicht auszugehen ist. Gleichwohl hat Mauvillon der Tugend- und Pflichtenethik noch einen anderen als anthropologisch-naturrechtlichen Status eingeräumt, der allerdings im Rahmen seiner Staatsklugheitslehre zu betrachten ist. Bevor diese ratio-status-Theorie in den Blick zu nehmen ist, muss noch ein letztes Naturrecht, das Mauvillon voraussetzt, berücksichtigt werden.

2.5 Widerstandsrecht Ein weiteres wichtiges Naturrecht, das Mauvillon ausdrücklich verwendet, ist das Recht der Staatsbürger auf Widerstand gegen eine Tyrannei, die als rechts- bzw. gesetzesinkonforme Herrschaft bezeichnet wird. An der ausführlich und mehrfach behandelten amerikanischen Revolution, führt er aus: Erstlich ist Unterdrückung und Verlezung der Rechte immer Unterdrückung und Verlezung der Rechte, und bleibt es in alle Ewigkeit, sie sey groß oder klein. Ist jemand berechtigt, jener, so ist er es auch, dieser zu widerstehn; ist er es aber nicht in einem Falle, so ist ers nicht in allen Fällen. Zu dem, wer sagt einem wo die Verlezungen der Rechte aufhören werden? Ferner wird man aus den hier eingerückten Schriften ersehn, daß die Klaggründe der Amerikaner so gering nicht waren, als man meynt, und daß diejenigen die alles blos auf die Theeakte reduciren wollen, die Sachen sehr sophistisch vorstellen. Endlich aber muß man den Fortgang der Erleuchtung unter den Menschen wohl beobachten. Durch diese Erleuchtung hat sich das Gefühl des Unrechts, die Einsichten in die Folgen der Dinge vermehrt, und mithin ist das, was ehemals Kleinigkeit gewesen wäre, anjezt wichtig geworden.83

»Und bleibt es in alle Ewigkeit«: Staatliche Rechtsunterdrückungen und Rechtsbrüche sind nach Mauvillon – unabhängig von der Größe des Vergehens – Fehlverhalten, die durch die Geltung der überpositiven Rechte einen überzeitlichen Status erhalten. Gegen den Bruch und die Unterdrückung des Rechts von Staats wegen gibt es also ein überzeitliches, ewiges Recht auf gewaltsamen Widerstand. Dass dieser Widerstand vor allem deshalb nicht allein wahrscheinlich, sondern auch rechtens || rechtschaffener Mann gewesen. Beydes wird von andern geleugnet. Ist Spinoza wirklich ein Atheist gewesen, hat er also keinen Oberherrn und Gesetze angenommen, so kann er kein rechtschaffener Mann in dem Sinn gewesen seyn, wo man darunter einen Mann versteht, welcher die Pflicht oder Verbindlichkeit und zwar bloß darum erfüllt, weil sie ihm ein Oberherr vorgeschrieben hat« (Hervorhebung von mir). 83 Mauvillon: Sammlung von Aufsätzen (s. Anm. 8), Bd. 2, Vorrede [unpag.].

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ist, weil nämlich die Rechte der Menschheit in solcherart Tyrannei verletzt werden, hat Mauvillon ausdrücklich behauptet; in der eben schon genannten fiktiven Rede heißt es nämlich: Wollen Sie indes der warnenden Stimme menschenfreundlicher Menschen nicht Gehör geben, so bleiben Sie auf Ihrem Sinn; halten Sie auf Ihre herrlichen Rechte; drucken Sie mit aller Kraft, stampfen Sie fest auf die unter Ihren Füssen ächtzende Menschheit. Wissen Sie, was der Erfolg davon seyn wird? Eine gewaltsame Entreißung aller Ihrer Rechte ohne alle Entschädigung, wenigstens Empörung dagegen, die manchen Glück, Vermögen, und Leben kosten werden.84

Ohne jeden Zweifel führt Mauvillon hier vor allem ein politpragmatisches Argument, das eine Wahrscheinlichkeit der politischen Revolution aus der Unterdrückung abzuleiten versucht; die Referenz auf die Menschheit und deren Rechte aber macht die legitimative Dimension der Ausführungen deutlich, die das Recht auf Widerstand aus der Beschädigung der Rechte der Menschheit durch die Fürsten ableitet. Ein solch überpositives Recht ist jedoch – wie auch die anderen iura connata, so die Rechte auf Eigentum, Freiheit, Selbsterhaltung u. v. a. – seit jeher mit vielerlei Prämissen eingekauft. Dazu zählt insbesondere die Existenz einer Instanz zur Verbindlichkeitsgarantie, die dafür Sorge zu tragen hat, dass jene überpositiven Rechte und Pflichten auch eingehalten werden.85 Sollte die Geltung der natürlichen Gesetze noch ganz innerweltlich der recta ratio zu überantworten sein, so bedurfte es für eine wirksame Verbindlichkeit einer gebietenden, verbietenden und auch strafenden Autorität, die selbst überpositiven Charakter haben musste, und das konnte nur die Gottesinstanz sein.86 Naturrechtliches Widerstands-, Eigentums-, oder Selbsterhaltungsrecht ohne Gott funktioniert nicht.87 Ein sogenanntes ›Naturrecht der Atheisten‹ ist nur unter der strengen Unterordnung des Willens unter die Verstandsleistungen des Menschen möglich, wie dies beispielsweise für bestimmte Natur-

|| 84 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 312; vgl. auch Schreiben des Obristlieutenants Mauvillon (s. Anm. 16), S. 360ff. 85 Siehe hierzu u. a. Hartung: Die Naturrechtsdebatte (s. Anm. 11), S. 69ff. sowie Bénédict Werner: Das rationale Pflichtenrecht Christian Wolffs. Berlin 1992, S. 48ff. 86 Siehe hierzu auch Gideon Stiening: Urheber oder Gesetzgeber? Zur Funktion der Gottesinstanz im Naturrecht des Francisco Suárez (DL II. 6.). In: Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening (Hg.): Die Naturrechtslehre des Francisco Suárez. Berlin, Boston 2017, S. 91–112. 87 Zur These eines angeblichen ›Naturrechts von und für Atheisten‹ vgl. Dieter Hüning: Das Naturrecht der Atheisten. Zur Debatte um die Begründung eines säkularen Naturrechts in der deutschen Aufklärungsphilosophie. In: Religion und Aufklärung. Akten des Ersten internationalen Kongresses zur Erforschung der Aufklärungstheologie (Münster, 30. März bis 2. April 2014). Hg. von Albrecht Beutel und Martha Nooke. Tübingen 2016, S. 409–424; zur Kritik hieran vgl. Gideon Stiening: Gott und der gerechte Krieg. Kants kritische Auseinandersetzung mit Achenwalls Ius naturae. In: Stefan Klingner, Dieter Hüning (Hg.): Auf dem Weg zur kritischen Rechtslehre? Naturrecht, Moralphilosophie und Eigentumstheorie in Kants »Naturrecht-Feyerabend«. Leiden, Boston 2021, S. 19–47.

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rechtskonzeptionen des Wolffianismus gilt.88 Mauvillon aber, das zeigten seine Überlegungen zum Eudämonismus, setzt einen gegenüber den rationalen Vermögen des Menschen unabhängigen Willen voraus; und so ist seine Referenz auf eine Gottesinstanz als Verbindlichkeitsgarantin überpositiven Rechts auch wenig überraschend; im Rahmen der Begründung für die Identität von physiokratischem Wirtschaftssystem und der Tugendethik heißt es in den Physiokratischen Briefen: Es [d. i. das physiokratische System] ist aber das einzige wahre, und muß, wie gesagt, mit der Tugend gleiche Beschaffenheit haben; muß in allen Umständen das allervortheilhafteste seyn was man annehmen kann, so wie die Tugend auch ohne Rücksicht auf Belohnungen im andern Leben, das allerbeste ist, wonach jeder Mensch seine Handlungen einrichten kann. Wäre die Tugend das nicht, so wollte ich mich schämen zu sagen, daß sie ein göttlich Gesetz wäre. Die Gottheit kann den Menschen nichts vorschreiben, als was ihnen unter allen und jeden Umständen, immer das vortheilhafteste seyn kann. Was ist aber das physiokratische System anders als die Tugend in der Staatsverwaltung; das Gesetz Gottes und der Natur, wie ers für die Staaten schuf.89

Eine physiokratische Wirtschaftsordnung hat folglich deshalb besondere Wirksamkeit, weil sie den Bestimmungen der Tugendethik vollkommen entspricht und eben daraus ihre normative Kraft schöpft. Tugenden aber sind zwar um ihrer selbst Willen zu realisieren, sie erhalten aber ihren Geltungs- und Verbindlichkeitsstatus ausschließlich als göttliche Gesetze. Daher ist der Physiokratismus die Inkarnation politischer Tugend, die identisch ist mit den göttlichen Gesetzen und dem Naturrecht, das nur als Schöpfung Gottes seine Geltung und Verbindlichkeit erhält. Noch in seiner wuchtigen Polemik gegen Aloysius Hoffman aus dem Jahre 1792 hält Mauvillon nachgerade bekenntnishaft fest: Ich muß Sie aber dabei auch von einer Gattung Menschen unterhalten, von welcher Sie sich, mein Herr, gewiß keinen Begriff machen können, die aber doch wirklich existirt. Das sind solche, die wenn sie sich gleich satt gegessen und getrunken haben, deshalb nicht glauben, daß allen Menschen wohl ist; und die doch wünschen daß allen Menschen so wohl sein mögte, als es nach Gottes Willen und Einrichtung möglich wäre. Diese lieben die Menschheit; und suchen ihr Wohl nach allen Kräften zu befördern. Wahrheit ist ihnen heilig, denn sie glauben, daß darin die Quelle aller menschlichen Glückseligkeit liegt. […] [A]llein ich muß […] Ihnen rund herausgestehn, daß ich zu dieser Art von Menschen gehöre.90

Auch an dieser Stelle ist die Referenz auf den Willen und die Schöpfung Gottes nicht äußerlich, denn allein diese Instanzen sind in der Lage, das Verfolgen der je eige|| 88 Siehe hierzu u. a. Dieter Hüning: Das Recht zu »allen Tugenden, zu allen rechtmäßigen Handlungen, und zu allen Sünden«. Naturrecht und Naturzustand in Georg Friedrich Meiers Recht der Natur. In: Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als »wahre Weltweisheit«. Hg. von Frank Grunert und Gideon Stiening. Berlin, Boston 2015, S. 259–283. 89 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 219. 90 Schreiben des Obristlieutenants Mauvillon (s. Anm. 16), S. 359f.

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nen Glückseligkeit mit der Glückseligkeit aller anderen konfliktfrei zu vermitteln. Mauvillons Bezug auf Theologumena ist aber weder zufällig noch nur rhetorisch: Durch sein Interesse an einer Bindung seiner – im Selbstverständnis vor allem politprudentiellen – Staatswirtschaftskonzeption an die normativen Ordnungen des Naturrechts und der Tugendethik ist Mauvillon nämlich gezwungen, bzw. es wird ihm ermöglicht, solcherart theonome Grundlegungen zu entwickeln. Radikalaufklärung – wie immer genau sie zu bestimmen sei – sieht aber anders aus. Das zeigt sich auch bei einem abschließenden Blick auf einige Kernbestände seiner ökonomischen Theorie.

3 Mauvillons ökonomische Staatsklugheitslehre Zunächst ist festzuhalten, dass Mauvillon die ›Staatskunst‹ als eine Lehre vom Nutzen für den Staat, d. h. als eine Kunst bzw. techné bezeichnet, die rechten Mittel zur Beförderung des Gemeinwohls zu finden und einzusetzen.91 Diese Bestimmung entspricht der im 18. Jahrhundert entwickelten klassischen Staatsklugheitslehre oder Politik, so heißt es bei Gottfried Achenwall: Die Staatswissenschaft, so ferne selbige die Mittel untersucht, wodurch der Zweck des Staates erreichet werden kann, ist ein Theil der practischen Weltweisheit. Denn sie beschäfftiget sich, die Regeln festzustellen, nach welchen die Mitglieder eines Staats ihre freye Handlungen überhaupt einzurichten haben, um ihre allgemeine Glückseligkeit zu befördern.92

Dabei sind für Achenwall wie für Mauvillon alle Mittel einsetzbar, so Militär, Polizei oder Gesetze, allerdings – und hier zeigt sich, dass die normative Dimension dieser Lehre nicht kontingent, mithin ersetzbar ist – innerhalb der Grenzen des Naturrechts und der göttlichen Gesetze, die als mit den Tugenden identisch gesetzt den normativen Rahmen der Staatsklugheitslehre abgeben. In dieser normativen Rahmung der prudentia politica liegt auch der Grund für die Annahme Mauvillons, dass politische Tugend und politische Klugheit letztlich identisch seien: Tugend ist immer die höchste Klugheit im gemeinen Leben und so auch die höchste Politik in der Staatsverwaltung.93

Diese Auffassung ist allerdings zum einen nicht wirklich neu. So macht schon Nicolaus Hieronymus Gundling im ersten Satz seiner 1751 posthum veröffentlichten,

|| 91 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 254. 92 Gottfried Achenwall: Die Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen entworfen. Göttingen 1761, S. 2 (§ 3). 93 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 313.

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über 1000seitigen Einleitung zur wahren Staatsklugheit deutlich, dass seine Theorie der Politik nichts, aber auch gar nichts mit Machiavellis Konzept bzw. dem, was damit verbunden wurde, zu tun hat: Die allermehresten auch unter den Gelehrten haben einen Begriff von der Politic, welcher der Sache nicht gemäß ist. Das macht, weil dieses Wort in so vielerley Verstand genommen wird. Viele halten raffinement, intrigues, oder geheime Künste und Betrügerey vor die wahre Politic, weil sie sehen, daß viele Leute eine Zeitlang ihr Glück damit gemacht und grosses Aufsehen verursachet haben. Allein Betrug und Arglistigkeit ist keine Klugheit. Wer sich darauf legt, der zeiget vielmehr an, daß er keinen grossen Verstand besitze.94

Wer Politik als Kunst, als Techné des Raffinements oder der Intrige versteht, ist nach Gundling ein schlechter Politiker ebenso wie ein schlechter Theoretiker der Politik, weil er nämlich letztlich töricht ist, eben unklug, denn: Einem Menschen, der intrigues liebt, ist iedermann feind. Niemand trauet ihm, weil man weiß, daß er betrüglich handelt. Vielmehr gehet man ihm mit List entgegen, suchet seine Künste zu entdecken, und wenn sie entdecket sind, auf einmahl unnützlich zu machen und der erbarn Welt vor Augen zu legen. Intrigues taugen weder im Staat noch im gemeinen Leben und Umgang der Menschen. Aus der Erfahrung in allen Zeiten hat man wahrgenommen, daß ein solcher politischer Schwarzkünstler, wenn er auch seine rôle lang gespielet hat, doch endlich zu Grunde gegangen und ein Ende mit Schrecken genommen.95

Der Intrigant – man darf hier an Lessings Marinelli aus Emilia Galotti oder die Marquise de Merteuil in Coderlos De Laclos Liaisons dangereuses denken – ist also ein schlechter Politiker, weil er nicht hinreichend bedenkt, dass alles Betrügen am Ende doch an die Öffentlichkeit gelangt, und der politische Akteur seinem Anliegen damit schadet. Zwar spricht Gundling auch von derartig bösen Künsten, aber sein Argument ist vor allem ein pragmatisches, mithin zweckrationales: Solche Politik ist unklug, also insuffizient, nicht vor allem unmoralisch bzw. böse. Diese Identifizierung von Ethik und politischer Klugheit ist aber zum anderen nur deshalb möglich, weil auch Mauvillon den Utilitarismus seines Physiokratismus in enge Schranken einspannt, die von den zumeist in ihrem Status ungenannten normativen Ordnungen gezogen werden. Mauvillons physiokratisches Konzept spielt im Rahmen seiner Staatsklugheitslehre allerdings eine gewichtige, wenn auch nicht die einzige Rolle. Der Politiker kann seine Funktion für die Beförderung des Gemeinwohls nur hinreichend erfüllen, wenn er erkennt, dass die Natur die einzig wertschöpfende Instanz ist und daher alle Politik auf diese Grundlage auszurichten ist. Auch für Mauvillon – wie für

|| 94 Nicolaus Hieronymus Gundling: Einleitung zur wahren Staatsklugheit. Frankfurt a. M., Leipzig 1751, S. 1; Hervorhebung von mir. 95 Ebd., S. 5.

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Thomasius, Wolff oder Heineccius96 – ist der Staat kein Zweck als Realisation der äußern Freiheit, sondern ein, wenngleich gewichtiges Mittel zur Glücksmaximierung, und zwar vor allem durch Eigentums- und Existenzsicherung. Bei allem eigentümlichen ‚Liberalismus‘97 in der Kultivierung der Grenzen des staatlichen Handlungsumfanges: Auch Mauvillons Politik tendiert durch seine Instrumentalisierung des Staates für die Glücksmaximierung der Gemeinschaft zu jenem Despotismus, den Kant im Gemeinspruch zu Recht jedem Staatseudämonismus zum Vorwurf machte, weil der Einsatz der Mittel – hier die weitgehende Zurücknahme staatlichen Handelns – tendenziell unbegrenzt und unbegrenzbar ist: Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaft nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatoberhauptes, und, dass dieser es auch wolle, bloß von seiner Gültigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus.98

Es mag schwierig sein nachzuvollziehen, eine weitgehende Zurücknahme der Staates als Despotismus zu qualifizieren; es geht jedoch darum, dass jede Instrumentalisierung des Staates – und damit auch die Mauvillons – für empirische Zwecke in der Wahl der Mittel unbegrenzt ist. Das zeigt sich insbesondere an den Überlegungen zum Einsatz bestimmter staatlicher Institutionen für den Zweck der auf das Gemeinwohl ausgerichteten physiokratischen Politik. Nicht nur werden Militär und Justiz zu Instrumenten für dieses politisches Ziel gleichsam parallelisiert; das hatte schon Machiavelli getan, der Soldaten und Gesetze als je nach Lage einzusetzende oder aufzuhebende Mittel der staatlichen Stabilität bezeichnet hatte.99 Auch betont Mauvillon mit Nachdruck,

|| 96 Vgl. hierzu u. a. Gideon Stiening: Ursprüngliche Räuberbanden. Zur Staatslehre in Johann Gottlieb Heinecciusʼ Elementa iuris naturae et gentium. In: Frank Grunert, Knud Haakonssen (Hg.): Love as the Principle of Natural Law. The Natural Law Theory of Johann Gottlieb Heineccius (1681–1741) and its Contexts. Boston, Leiden 2022 [i.D.]. 97 Zur Kritik an der Interpretation der Physiokratie als Proto-Liberalismus vgl. Behrisch: Die Berechnung (s. Anm. 35), S. 75ff. 98 Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch. In: AA VIII, S. 290f. 99 Niccolo Machiavelli: Il Principe/Der Fürst. Italienisch/Deutsch. Hg. und übersetzt von Philipp Rippel. Stuttgart 2009, S. 64: »Noi abbiamo detto di sopra come a uno principe è necessario avere e sua fondamenti buoni; altrimenti di necessità conviene che rovini. E principali fondamenti che abbino tutti li stati, così nuovi come vecchi o misti, sono le buone legge e le buone arme. E perché non può essere buone legge dove non sono buone arme, e dove sono buone arme conviene sieno buone legge, io lascerò indrieto el ragionare delle legge e parlerò delle arme. / Wir haben bereits gesagt, dass eine Herrschaft gute Grundlagen haben müsse; sonst bricht sie zusammen. Die Hauptstütze aller Staaten, der neuen wie der alten und der vermischten, sind gute Gesetze und gute Streitkräfte, und da gute Gesetze nicht ohne gute Streitkräfte bestehen können und da wo gute

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dass für diese beiden Säulen des Staates als Garanten der äußeren und inneren Sicherheit hinreichend finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen seien; im berühmten 17. Brief der Physiokratischen Briefe über »den Stand der Besoldeten«, in dem eine deutliche Reduzierung der Staatsbeamten zum »Wohle der Menschheit« gefordert wird, heißt es denn auch: Also wäre die Unterhaltung des Militars dasjenige was bey einer Menge von europäischen Staaten am stärksten gerechtfertigt werden könnte, und die wenigste Verminderung litt. […] Denn da die Justiz nie ein Gegentand der Privatindustrie seyn kann, und also durch Staatsbesoldete immer verwaltet werden muß; da die Haupteigenschaft der Richter seyn muß, daß sie unabhängig sind; da der Richter mit den Angelegenheiten, die sein Gegenstand sind, nichts zu schaffen hat; sondern nur spricht, was geschehen soll, ohne daß dieser Ausspruch den geringsten Einfluß auf ihn hätte, so sind hohe Besoldungen das Mittel, sich gegen seinen bösen Willen zu sichern, […].100

Auch wenn die höhere Bildung privatisiert und das staatliche Steuerwesen gleich ganz abgeschafft werden sollen: Militär und Justiz können nach Mauvillons Auffassung kaum überfinanziert werden, weil der Mensch eben – wie zitiert ‒ nicht vollauf vernünftig und tugendhaft zu machen sei. Auf beiden Feldern täten die zeitgenössischen Staaten noch viel zu wenig. Friedrich II., der staatskluge Despot auf dem preußischen Thron, hätte vor dem Hintergrund seiner Ideal-Vorstellungen eines militarisierten Polizeistaates jubiliert, wenn er denn deutsche Texte gelesen hätte. Eine besondere Bedeutung misst Mauvillon der Frage des Verhältnisses von Staat und Religionsausübung bei. Zwar ist für ihn evident, dass der »Zweck des Staates nicht die Glückseligkeit der Menschen in einem andern Leben, sondern in diesem gegenwärtigen« sei.101 Und so könnte man annehmen, dass Mauvillon die Religion wie die Bildung zu privatisieren empfehlen würde. Aber weit gefehlt: Allein weil es sehr leichte die Folge haben könnte, die Zahl der Religionsdiener auf eine schädliche Art unter tausenderley Gestalten zu vervielfältigen, (denn wenn man den Unterhalt der Menschen ihrer eigenen Industrie überläßt, so darf man billig kein Maaß setzen), und weil vielleicht alsdenn eine Klerisey sehr ansehnliche Güter nach und nach an sich reißen, und dadurch dem Staate erst recht gefährlich werden könnte, so ist es besser, der Staat übernimmt den Unterhalt der Religionsbedienten selbst, und setzt ihm dann ein gehöriges Maas, und wo diese Einrichtung getroffen wird, läßt sich nichts dagegen sagen.102

Die Staatskirche als Einhegung ihrer nicht allein ideologischen, sondern gesellschaftlichen und finanziellen Macht – das ist natürlich zunächst und zumeist anti-

|| Streitkräfte sind, auch gute Gesetze sein müssen, so übergehe ich die Gesetze und rede von den Streitkräften.« 100 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 262f. 101 Ebd., S. 264. 102 Ebd., S. 264f.

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katholisch abgezweckt, führt aber keineswegs zu einem ›Staat von Atheisten‹, sondern vielmehr zur staatlichen Institutionalisierung von Glauben und Kirche. Dass Mauvillon die Bildung streng privatisieren, „das ganze Lehrgeschäft der Privatindustrie überlassen“ will,103 scheint bei aller intendierten Gelehrtensatire einem eher vormodernen Konzept zu entsprechen, das von den Erfordernissen der hochqualifizierten Bildung der Diener eines modernen, womöglich aufgeklärten Staates absieht.104 Es ist zudem selbstwidersprüchlich: Denn wo sollen die ganzen Juristen und Offiziere herkommen, wer soll denn deren Ausbildung garantieren? Die Natur? Die Privatwirtschaft? Auch diese Überlegungen zur Privatisierung der höheren Bildung erscheinen wenig radikalaufklärerisch. Bemerkenswerter Weise meint Mauvillon letztlich, dass der größte Teil der Polizeianstalten, also der Rechtspflege, entfallen könnte, und zwar deshalb und genau dann, weil und wenn strenge Gesetze und eine wohl bestellte Justiz als den »besten Vormauern gegen jene Bosheit« im Staate vorhanden seien.105 Recht und Gesetz werden in diesem Zusammenhang auf ihre Abschreckungsfunktion reduziert, von einer Freiheitsgarantie oder Marktregulierung ist nichts mehr zu entdecken.

4 Mauvillon – Radikalaufklärer? Vor dem Hintergrund der obigen Skizze zu Mauvillons Konzeption von Naturrecht und Staats- und Wirtschaftspolitik stellt sich abschließend erneut und dringlicher die Frage: War Mauvillon Radikalaufklärer?106 Mauvillon ist aufgrund seines physiokratischen Vergemeinschaftungseudämonismus genötigt, die – wir würden heute sagen – Staatsquote so weit als möglich zurückzufahren.107 Ausgenommen von seinen Träumereien von Massenentlassungen verachteter Professoren sind dabei der Soldatenstand und die Justiz, die kaum genug ausgebaut werden können. Alle Versuche, diese Vorstellungen mit einem liberalen Nachtwächterstaat zu verbinden, scheinen mir unangemessen. Sie sind aber auch weder radikal- noch überhaupt aufklärerisch, sondern wohl eher Teil einer aufklärungskritischen oder gar

|| 103 Ebd., S. 281. 104 Siehe hierzu u. a. Diethelm Klippel: »Staatsamt und bürgerliche Gesellschaft. Die Theorie des Staatsdienstes im aufgeklärten Absolutismus und im Vormärz.« In: Zeitwende? Preußen um 1800. Hg. von Eckhart Hellmuth, Immo Meenken und Michael Trauth. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, S. 77– 96. 105 Mauvillon: Physiokratische Briefe (s. Anm. 1), S. 282. 106 Vgl. hierzu jetzt auch Kevin Hilliard: Neology vs. Radical Enlightenment: Gotthilf Samuel Steinbart, Jakob Mauvillon, and Frederick the Great’s Essai sur l’Amour-propre envisagé comme Principe de Morale (1770). In: Publication of the English Goethe-Society 90 (2021), S. 109–128. 107 Siehe hierzu beispielsweise Horst Siebert: Einführung in die Volkswirtschaftlehre. Stuttgart 15 2007, S. 321ff.

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gegenaufklärerischen Haltung, weil sie das Recht zum Instrument einer eudämonistischen Despotie und einer militarisierten Gesellschaft herabwürdigen. Mauvillons Naturrecht und allgemeine Politik sind einem Aufklärungsverständnis mithin nur schwer zuzurechnen. Das gilt verstärkt für seinen kaum je gezügelten Anti-Katholizismus, den er gerne in seine häufig kultivierte Polemik einflicht. So heißt es im Hinblick auf seine positive Wertung der Französischen Revolution: Ich bin Gott sey Dank ein Protestant, und zwar ein wahrer Protestant; d. h. ein solcher, der in Religions-Sachen keinen andern Schiedrichter erkennt als Gott selbst. Auch bin ich nicht nur ein Protestant, sondern ein Reformirter, und stamme noch obendrein von väterlicher und mütterlicher Seite von französischen Religionsflüchtlingen her. Wie süß ist mirs folglich nicht, Gottes Gerechtigkeit und Güte darin zu erblicken, daß er nun auf einmal meinen Glaubensgenossen zur völlig freien Religions-übung verholfen hat; daß er jene stolze, jene herrsch- und habsüchtige, jene grausame Klerisei, […] von ihrer stolzen Höhe herabgestürzt hat. […] Ich bin entzückt von der Hofnung, daß der Papismus in Frankreich seinem völligen Umsturz zueilt, dessen Vertilgung auf Erden ich herzlich wünsche. Die Männer, die dieses bewirkt haben, besitzen auf ewig meine ganze Bewunderung, Liebe und Verehrung, und ich wünsche ihnen alles mögliche Glück, Heil und Segen, jeden Lohn, den Gott und Menschen geben können.108

Die Passage ist erheblich länger; Mauvillon zeigt sich darin auch befriedig darüber, dass die katholische Monarchen Frankreichs grausam behandelt worden seien. Dieser geifernde Anti-Papismus ist aber – gerade als Befürwortung der französischen Revolution – erneut nicht als aufklärerische Position zu werten. Ohne jeden Zweifel steht Mauvillon mit dieser, jede Toleranz in Religionssachen verunmöglichenden antikatholischen Ressentiment nicht alleine: Von Lockes expliziter Katholiken-Verbannung109 über Wolff110 und Reimarus111 bis hin zu Nicolai112 und Kant113 sind die zumeist in der Erziehung eingeübten oder bewusst kontroverstheologi-

|| 108 Schreiben des Obristlieutenants Mauvillon (s. Anm. 16), S. 354f. 109 Vgl. hierzu auch Dirk Brantl: John Locke über die Gründe und Grenzen der Toleranz. In: Philosophie, Politik und Religion. Klassische Modelle von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Dirk Brantl, Rolf Geiger und Stephan Herzberg. Berlin 2013, S. 145–162. 110 Siehe hierzu Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen. »Deutsche Politik«. Bearbeitet, eingeleitet und hg. von Hasso Hofmann. München 2004, S. 77 (§ 25). 111 Siehe hierzu Gideon Stiening: »Die besonderen Absichten Gottes im Thierreiche«. Theologie und Metaphysik in Reimarusʼ Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere. In: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Natürliche Religion und Popularphilosophie. Hg. von Stefan Klingner und Dieter Hüning. Berlin, Boston 2022, S. 243–267. 112 Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Bd. 5. Berlin, Stettin 1785, S. 101. 113 Siehe hierzu u. a. Frank Bader: Untergräbt die Transzendentalphilosophie Kants Grundpositionen der katholischen Glaubenslehre? In: Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte. Hg. von Norbert Fischer. Freiburg 2005, S. 160–187.

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schen Vorurteile gegen den Katholizismus festzustellen. Gleichwohl ist diese Form von Intoleranz, die gar das staatspolitische Ereignis der Zeit durch die Brille des konfessionellen Fanatismus zu betrachten vermag, nicht als Haltung eines Aufklärers zu bezeichnen. Mauvillon ist weder Radikalaufklärer noch in allen seinen Ausführungen überhaupt als Aufklärer zu bezeichnen.

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Jakob Mauvillons kriegsgeschichtliche Schriften 1 Hintergrund: Mauvillons kriegswissenschaftliche Tätigkeit Jakob Mauvillon ist in den letzten Jahren als einer der führenden Vertreter der radikalen deutschen Aufklärung entdeckt worden. Vor allem seine naturrechtlichen, staatswissenschaftlichen und volkswirtschaftlichen Schriften deuten darauf hin, dass man ihn als Verfechter einer demokratischen Aufklärung betrachten kann. Besonders deutlich wird seine radikale Haltung in seiner Kritik des Absolutismus und des Despotismus.1 In den Worten von Benjamin Constant (1767–1830) war Mauvillon »ein Freund von Freiheit und Aufklärung«.2 Nichtdestotrotz war Mauvillon unter den lesenden Zeitgenossen weniger als radikaler Denker bekannt, sondern als Militärschriftsteller und -historiker.3 Er war insgesamt 23 Jahre lang als Lehrer auf dem Gebiet der Militärwissenschaften tätig, veröffentlichte nicht nur zehn militärwissenschaftliche Schriften, sondern wirkte als Rezensent an verschiedenen Zeitschriften mit. Darunter sind die Allgemeine Deutsche Bibliothek von Friedrich Nicolai (1733–1811) und das Neue Militärische Journal zu erwähnen. Für diese Zeitungen war Mauvillon als Fachrezensent für die militärwissenschaftlichen und geschichtlichen Werke zuständig. Überdies wirkte Mauvillon als Übersetzer kriegsgeschichtlicher Arbeiten. Mauvillons Tätigkeit im militärischen Fach hängt eng mit seiner Karriere als Offizier zusammen. Schon als junger Mann hatte sich Mauvillon für eine Karriere beim || 1 Jonathan Israel: Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights, 1750– 1790. Oxford 2011, S. 743. Siehe auch Jonathan Israel: The Expanding Blaze. How the American Revolution Ignited the World, 1775–1848. Princeton 2017, S. 45. Für eine treffende Kritik Israels siehe Anthony J. La Vopa: A New Intellectual History: Jonathan Israel’s Enlightenment. In: The Historical Journal 52 (2009), S. 717–738. Ich habe auch selbst die Dichotomie zwischen moderaten und radikalen Aufklärern kritisiert, siehe meine Rezension von Democratic Enlightenment in: Arbitrium 32 (2014), S. 88–92. Zu Jakob Mauvillon im Allgemeinen siehe Jochen Hoffmann: Jakob Mauvillon. Ein Offizier und Schriftsteller im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipationsbewegung. Berlin 1981 und Gisela Winkler: Die Religionsphilosophie von Jakob Mauvillon in seinem Hauptwerk »Das einzige wahre System der christlichen Religion«. Bochum 2000. 2 Dennis Wood: Benjamin Constant. A Biography. London, New York 1993, S. 112. 3 Für die Vereinbarkeit der radikalen Aufklärung mit dem Soldatenleben siehe Guido Naschert (Hg.): Friedrich Christian Laukhard (1757–1822). Schriftsteller, Radikalaufklärer und gelehrter Soldat. Paderborn 2017. https://doi.org/10.1515/9783110793611-013

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Militär entschieden. Diese Entscheidung war für ihn nicht einfach. Er war kleingewachsen und litt unter einer Rückgratverkrümmung. Eigentlich war er untauglich für die Armee. Das Ingenieurswesen bot Mauvillon die Möglichkeit, als Außenseiter eine militärische Laufbahn einzuschlagen. Wie schon Ursula Waetzoldt gezeigt hat, machten etliche Autodidakten ähnliche Karrieren in den Ingenieurskorps der preußischen und sächsischen Armee. Nach einem Selbststudium zum Straßen- und Brückenbauingenieur wurde Mauvillon in die hannoversche Armee übernommen.4 Mauvillon selbst berichtet später: Stolz, daß [ich] es ohne Geburt, als Sohn eines Sprachmeisters, als ein kleiner ganz unansehnlicher Mensch, ja was noch mehr ist, ohne alles Vermögen oder andere Protektion, als die ich mir durch gute Aufführung verschafft habe, in dem militärischen Stande, der immer einzige Passion gewesen ist, im sieben und vierzigsten Jahre bis zum Oberstlieutnant gebracht […] habe.5

Im Kriegsbauingenieurskorps nahm Mauvillon an drei Feldzügen des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) teil. Im Jahr 1765, als seine militärische Karriere in eine Sackgasse geraten schien, entschied er, sich von der Armee als Fähnrich zu verabschieden. Nach einem Zwischenhalt in Ilfeld als Sprachlehrer (1766–1771)6, kehrte er zur militärischen Laufbahn als Militärtheoretiker und -lehrer zurück. Dank der Bemühungen Rudolph Erich Raspes wurde Mauvillon im Jahr 1771 Professor für Kriegsbaukunst am Kasseler Collegium Carolinum. Sieben Jahre später, im Jahr 1778, wurde er zum stellvertretenden Leiter des Kadettenkorps ernannt und zum Hauptmann befördert. Mauvillon war zuständig für die Ausbildung der Offiziere. Aus dieser Zeit ist sein Lehrbuch Einleitung in die sämtlichen militärischen Wissenschaften für junge Leute (1784) besonders nennenswert.7 Es handelt sich um eines der ersten umfassenden Lehrbücher zum Militärwesen. Zweifelsohne hat Mauvillon das Buch zur Ausbildung der Offiziere an seinem Institut geschrieben. Das gleiche gilt für seine militärgeschichtlichen Arbeiten. Sie waren zur Lektüre der zukünftigen Offiziere bestimmt. Mauvillons militärische Karriere kulminierte im Jahr 1785, als er zum Professor für Kriegswissenschaften und Kriegsbaukunst am Collegium Carolinum in Braunschweig berufen wurde. Die Beförderung zum Oberstleutnant folgte im Jahr 1790.

|| 4 Ursula Waetzoldt: Preußische Offiziere im geistigen Leben des 18. Jahrhunderts. Halle 1937; Dietmar Stutzer: Das preußische Heer und seine Finanzierung in zeitgenössischer Darstellung 1740– 1790. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen 24.2 (1978), S. 23–47. 5 Jakob Mauvillon: Des Herzoglich Braunschweigischen Ingenieur-Obristlieutenants Mauvillon gerichtliche Verhöre und Aussagen den Verfasser der Schrift Bahrdt mit der eisernen Stirn betreffend. Braunschweig 1791, S. 47. Siehe auch Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 1), S. 60. 6 Zu Mauvillon in Ilfeld siehe Kevin Hilliards Beitrag in diesem Sammelband. 7 Jakob Mauvillon: Einleitung in die sämtlichen militärischen Wissenschaften für junge Leute, die bestimmt sind, als Offiziers bey Infanterie und Kavallerie zu dienen. Braunschweig 1784.

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Mauvillons institutionelle Umstände betrachtend, ist es nicht überraschend, dass er die Mehrheit seiner Werke besonders seit Anfang der 1780er Jahre auf dem Gebiet des Militärischen verfasste. Folgerichtig hat er mehrere militärgeschichtliche und -theoretische Werke veröffentlicht. Die 1780er Jahre waren publizistisch gesehen die besten Jahre Mauvillons. Aus dieser Zeit stammt unter anderem sein Hauptwerk De la Monarchie Prussienne sous Frédéric le Grand (1788).8

2 Institutionalisierung der Militärwissenschaften: Flut des Fachschrifttums Die Gründe für Mauvillons literarischen Erfolg in den 1780er Jahren sind nicht rein wissenschaftlicher Natur. Zu dieser Zeit lebte Mauvillon unter ausnehmend guten Verhältnissen für eine wissenschaftliche und publizistische Tätigkeit, vor allem in Braunschweig. In Braunschweig herrschte relative Meinungsfreiheit, was Mauvillon publizistische Möglichkeiten eröffnete. Mauvillon schrieb insgesamt drei längere militärgeschichtliche Werke in den 1780er und 1790er Jahren. Als erstes erschien der Essai sur l'influence de la poudre à canon dans l'art de la guerre moderne (1782 [zweite Auflage Leipzig 1788])9 und direkt danach der Essai historique sue l’art de la guerre pendant le guerre de trente ans (1784).10 Das letzte umfangreichere militärgeschichtliche Werk Mauvillons ist Abriß der Begebenheiten des allgemeinen Krieges der spanischen Erbfolge (1794).11 Es lohnt sich zu fragen, woher Mauvillons besonderes Interesse gerade für die Geschichte des Militärwesens kam. Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten: Wie schon erwähnt, wurde die Wahl von Themen durch Mauvillons Karriere als Lehrer von Kadetten mitbestimmt. Immerhin war Militärgeschichte der älteste Bereich der militärischen Disziplin. Die Orientierung der Militärwissenschaften eröffnete breite Möglichkeiten für historische Behandlungen der Disziplin. Überdies kannte Mauvillon die historische Disziplin seit seiner Kindheit. Mauvillons Vater, Eleazar Mauvillon (1712–1779), war als Geschichtsschreiber des Prinzen Eugen und des Preußenköniges Friedrich Wilhelm I. unter anderem Autor zahlreicher historischer Werke. Unter den Werken Eleazar Mauvillons befinden sich auch kriegsgeschichtlich orientierte Arbeiten. Darüber hinaus beschäftigte sich der jüngere Mauvillon seit den 1770er Jahren mit der Übersetzung französischer Werke, || 8 [Jakob Mauvillon:] De la Monarchie Prussienne sous Frédéric la Grand. Tomes I–IV. Londres 1788. 9 Jakob Mauvillon: Essai sur l’influence de la poudre àcanon dans l’art de la guerre moderne. Dessau 1782, 2. Aufl. Leipzig 1788. 10 Jakob Mauvillon: Essai historique sue l’art de la guerre pendant le guerre de trente ans. Kassel 1784, 2. Aufl. Braunschweig 1789. 11 [Jakob Mauvillon:] Abriß der Begebenheiten des allgemeinen Krieges der spanischen Erbfolge. In: Historischer Kalender auf das Jahr 1794. Abschnitt II. Leipzig 1794.

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was sein Engagement für die Geschichte weiter motivierte. Zwei von diesen französischen Werken, die Mauvillon ins Deutsche übersetzte, sind Meilensteine in der Geschichtsschreibung: Abbé de Raynals zehnbändige Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans lex deux Indes12 und Turgots Réflexions sur la formation et la distribution des richesses13 gehören zu den Klassikern der Historiographie und haben Mauvillons Geschichtsauffassung mitbestimmt. Mauvillon war besonders angetan von Turgots Glauben an den Fortschritt der Zivilisation. Ein weiterer Grund für Mauvillons Beschäftigung mit der Kriegsgeschichte liegt in den wissenschaftlichen Praktiken der Zeit. Das Florieren der Militärpublizistik seit den 1770er Jahren ermöglichte weiteres Einkommen für Mauvillon. Die Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland von 1756 bis 1763 von Johann Wilhelm von Archenholtz (1741–1812) war sehr erfolgreich und zugänglich auch für das breitere Lesepublikum.14 Von Archenholtzʼ Erfolg inspiriert, folgten mehrere Monografien einzelner Feldzüge. Mauvillons Geschichte Ferdinands Herzogs von Braunschweig-Lüneburg ist in diesem Zusammenhang zu sehen.15 Es handelt sich im Wesentlichen um eine Behandlung des Siebenjährigen Krieges. Trotz des kommerziellen Potenzials war der hauptsächliche Grund des Anstiegs des Volumens an Militärliteratur ab 1750 die Begründung von Militärakademien in verschiedenen Staaten Europas. Die Ausbreitung der Militärakademien und der damit verbundene Aufstieg der militärwissenschaftlichen und -geschichtlichen Literatur begannen in Frankreich und verbreitete sich auf dem europäischen Kontinent.16 Auch in Deutschland gab es einen Mangel an Informationen in den Militärwissenschaften. Ab 1770 wurden die militärwissenschaftlichen und kriegsgeschichtlichen Schriften als Teil der Fachliteratur auf die Lehrbedürfnisse der Militärakademien – die ab 1765 überall ausgebaut wurden – ausgerichtet. Das umfangreiche militärwissenschaftliche Schrifttum der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts resultierte aus den Lehrbedürfnissen der Militärakademien, besonders aus der zunehmenden fachlichen Differenzierung an diesen Akademien, was auch in den Titeln der Schriften zu erkennen

|| 12 Mauvillons Übersetzung: Philosophische und politische Geschichte der Besitzungen und des Handels der Europäer in beyden Indien. Aus dem Franz. mit einigen Verbesserungen und Anmerkungen. 7 Theile. Hannover 1774–1778. 13 Mauvillons Übersetzung: Untersuchung über die Natur und den Ursprung der Reichtümer und ihrer Vertheilung unter den verschiedenen Gliedern der bürgerlichen Gesellschaft. Aus dem Französischen Hrn. Turgot übersetzt. Lemgo 1775. 14 Johann Wilhelm von Archenholtz: Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland von 1756 bis 1763. Mannheim 1788. 15 Jakob Mauvillon: Geschichte Ferdinands Herzogs von Braunschweig-Lüneburg. 2 Theile. Leipzig 1794. Siehe auch Stutzer: Das preußische Heer (s. Anm. 4), S. 26. 16 Azar Gat: A History of Military Thought: From the Enlightenment to Cold War. Oxford 2001, S. 27.

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ist.17 Von den 582 militärwissenschaftlichen Schriften, veröffentlicht im 18. Jahrhundert, sind die meisten zwischen 1765 und 1795 publiziert.18 Von den 168 Militärautoren waren zehn verantwortlich für die meisten Publikationen: Archenholtz, Blankenburg, Brenkenhoff, Ewald, Krebs, Scharnhorst, Tempelhoff, Tielcke, Warnery und Mauvillon. Dietmar Stutzer behauptet: Geht es um die Wirkung von J. v. Mauvillon auf seine Zeit, nimmt er unter diesen zehn Autoren eine Spitzenstellung ein, und zwar nicht nur, weil er als einziger Offizier von der Position des Volkswirtes und des Soziologen aus schrieb, sondern auch, weil er als leidenschaftlicher Republikaner und schließlich durch die enge Verbindung mit Mirabeau auch als Jacobiner galt.19

Tatsache ist, dass Mauvillon eine Sonderstellung unter den publizierenden Offizieren einnahm. Die meisten Militärautoren verfassten deskriptive Monografien über einzelne Feldzüge und konzentrierten sich dabei auf taktische und strategische Aspekte der Kriegsführung. Mauvillon verfügte auch über breite volkswirtschaftliche und politische Kenntnisse und konnte deswegen in seinen kriegswissenschaftlichen Schriften volkswirtschaftliche, demographische und »soziologische« Zusammenhänge erörtern.20 Die Verwissenschaftlichung and Differenzierung der militärischen Disziplin, wozu Mauvillon selbst wesentlich beitrug, führte auch zu einer Fülle von Fachzeitschriften. Mit den neuen Lehransprüchen entwickelten sich neue Fachmedien, wie etwa Fachjournale. Die Aktualität der Themen und die Forschung gewannen einen neuen Stellenwert, was einen Zusammenhang mit der Differenzierung des universitären Lehraufkommens hatte. Man betrachtete es als notwendig, neue Gebiete, Fragen und Ausbildungsbedürfnisse abzudecken. Dadurch entstanden neue Textformate und sogar neue Fachsprachen sowie Argumentationsstandards. Neue Organe und Arten, sich wissenschaftlich zu äußern, haben sich so ausgebildet. Historische Untersuchungen wurden im 18. Jahrhundert zunehmend zur Legitimierung der verschiedenen Fuß fassenden Disziplinen verwendet. Zum Beispiel wurden zahlreiche Geschichten des Naturrechts veröffentlicht, um die universitäre Stellung des Naturrechts als Disziplin dauerhaft zu festigen. Entsprechend wurde die Militärgeschichte untersucht und behandelt, um die Stellung der Militärwissenschaften zu

|| 17 Eine umfangreiche, aber unvollständige Bibliografie des Offiziersschrifttums des 18. Jahrhunderts (preußischer und nicht preußischer Autoren) stammt von Ursula Waetzold. Siehe Anhang von Waetzoldt: Preußische Offiziere (s. Anm. 4). Siehe auch Uta Krottentheler: Eine militärische Elite zwischen Stagnation und Wandel. Die bayrische Generalität im Übergang von der Frühen Neuzeit zur Moderne am Beispiel ihres Karriereverlaufs. In: Zeitschrift des Arbeitskreises Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit 14 (2010), S. 85–126, hier S. 103, Anm. 58. 18 Stutzer: Das preußische Heer (s. Anm. 4), S. 26. Siehe auch Waetzoldt: Preußische Offiziere (s. Anm. 4). 19 Stutzer: Das preußische Heer (s. Anm. 4), S. 27. 20 Ebd.

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fördern. Außerdem wurde die Beschäftigung mit der Geschichte eines erforschten Phänomens zu einer Selbstverständlichkeit der aufgeklärten Wissenschaftspraxis. Deswegen war es nicht überraschend, dass auch Mauvillon so viel Zeit und Mühe in die Kriegsgeschichte investierte.

3 Neue Art der Kriegsführung: Die Eigenheiten historischer Zeiten Die zwei ersten kriegsgeschichtlichen Arbeiten Mauvillons, Essai sur l’influence de la poudre à canon dans l’art de la guerre moderne und Essai historique sue l’art de la guerre pendant le guerre de trente ans, haben eine gemeinsame Botschaft. Beide sind im Kontext der zeitgenössischen militärtheoretischen Debatten zu interpretieren. Zur Zeit der Veröffentlichung dieser Werke hatten einige französische Militärtheoretiker gegen die Lineartaktik behauptet, dass man für eine effektive Kriegsführung eher eine tiefe Schlachtordnung anwenden sollte. François-Jean de Mesnil-Durand (1729–1799) löste eine große Kontroverse zwischen ordre profond und ordre mince in den 1770er Jahren aus.21 Schon Mesnil-Durands Mentor Chevalier de Folard (1699–1752) hatte die Idee der Kolumne in einer Attacke verfochten. Folard und Mesnil-Durand wurden rezipiert von Joly de Maizeroi (1719–1780) in seinem Cours de tactique théorique, pratique et historique (1766). Mauvillon bezieht sich direkt auf Maizeroi. Mesnil-Durnand, Folard und Maizeroi hatten wenig Vertrauen in die Effektivität der Feuerwaffen und meinten, dass der Schockeffekt von Kolonnenangriffen eine überlegene Taktik war.22 Typisch für diese Verfechter der tiefen Schlachtordnung war, dass sie sich auf antike Modelle und Autoren bezogen. Das war nicht außergewöhnlich: Wie Gat Azar erörtert: »Es gab fast keinen militärischen Denker in der Aufklärung, der sich in gewissem Maße nicht auf die Antike bezog.«23 Trotzdem zeigte sich bei keinem Autor so viel Einfluss von klassischer Geschichte wie bei Maizeroi. Maizeroi trug zu den französischen Militärdebatten bei. Besonders altgriechische und römische Militärformen übten den größten Einfluss auf sein Denken aus. Er war ein Bewunderer der römischen Legionenkolonnen und deren Organisation. Es ging grundsätzlich darum, ob Feuerkraft oder Schock-Effekt in der Schlacht entscheidend war. Die Verfechter der Lineartaktik betonten die Feuerkraft, während Verteidiger der tiefen Ordnung den Schock-Effekt von einem Kolonnenstoß betonten. Das geringe Vertrauen in die Feuerkraft war typisch für Maizeroi, was spätesten

|| 21 Gat: A History of Military Thought (s. Anm. 16), S. 10. 22 Janis Langins: French Military Engineering from Vauban to the Revolution. Cambridge, Mass. 2004, S. 200f. 23 Gat: A History of Military Thought (s. Anm. 16), S. 10.

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am Ende der napoleonischen Kriege seine Theorien unzeitgemäß machte.24 Die Entwicklung von Feuerwaffen machte die Ausübung der Kolonnenstrategie unmöglich. Verteidiger der Lineartaktik (ordre mince) und folgerichtig der Feuerkraft gab es vor allem unter den Bewunderern Friedrichs II. Die preußische Armee war in ganz Europa bekannt für die schnellste Feuerrate und den starken Einsatz von Musketieren, obwohl es erwähnenswert ist, dass auch die Musketen der Preußen äußerst unwirksam waren. Der französische Offizier Rostaing berichtete 1742 von 250 Toten durch 500.000 Schüsse in der Schlacht bei Chotusitz.25 Mauvillon war ein eher konservativer Verfechter der Lineartaktik, die auf der Verwendung von gut organisierten, großen Truppen und auf Feuerkraft basierte. Mauvillons Gegner in dieser Debatte, in erster Linie Maizeroi, forderten die Wiedereinführung der taktischen Grundsätze der Römer. Der Essai sur lʼinfluence ist Mauvillons Versuch, den zeitgenössischen französischen und deutschen Militärtheoretikern zu zeigen, dass die Grundsätze der Griechen und Römer nicht mehr in der neuen Kriegsführung nutzbar waren. Nach Mauvillon hat die Verbesserung der Waffen und insbesondere die Erfindung des Schießpulvers die taktischen und moralischen Grundsätze der Kriegsführung verändert, was gegen die Rückkehr zu antiken Prinzipien sprach. Die neuzeitlichen Innovationen haben die Kriegsführung grundsätzlich verändert. Mauvillon zeigt in seinem Werk, dass die tiefe Schlachtordnung nicht mit dem modernen, mit Feuerwaffen geführten Krieg vereinbar ist. In seiner Betonung von Innovationen und technischen Durchbrüchen als hauptsächliche Faktoren der Geschichte ähnelt Mauvillon seinem Zeitgenossen August von Schlözer (1735–1809).26 Mauvillon zeigt, dass die Folgen der Innovationen nicht auf Taktik und Strategie begrenzt sind: Feuerwaffen haben Kriege durchaus gefährlicher gemacht, was einen erheblichen Einfluss auf die psychologischen Aspekte des Krieges hatte. Mauvillon betont, dass Soldatenehre im modernen gefährlichen Krieg neu erfunden werden müsse, und die Soldaten sehr gut bezahlt werden müssten. Er kritisierte die Offiziers-Privilegien

|| 24 Langins: French Military Engineering (s. Anm. 22), S. 200. 25 Ebd., S. 201. 26 Zu Schlözer siehe Martin Peters: Altes Reich und Europa. Der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (v.) Schlözer (1735–1809). Münster 2003. In einer Debatte um die amerikanische Unabhängigkeit argumentierte Mauvillon gegen Schlözer und Isaac de Pinto (1717–1787). Während de Pinto und Schlözer die Argumentation der englischen Regierung übernahmen und die Rechtmäßigkeit der Steuererhebung in den Kolonien betonte, übernahm Mauvillon die Argumentation der Kolonisten und forderte Freiheit und Unabhängigkeit der Kolonien. Freiheit und Unabhängigkeit der Staaten ist ein wiederkehrendes Thema bei Mauvillon. Siehe zur Kontroverse zwischen Schlözer und Mauvillon: Peters: Altes Reich, S. 286. Siehe auch Jakob Mauvillon: Anmerkungen über der Herren Pinto und Schlözer sophistische Vertheidigung des englischen Ministeriums gegen die Kolonien, im ersten Heft des neuen Schlözerschen Briefwechsel. In: Jakob Mauvillon: Sammlung von Aufsätzen über Gegenstände aus der Staatskunst, Staatswirthschaft und neuesten Geschichte. Erster Theil. Leipzig 1776, S. 141–188.

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und ihre »Besoldung durch Ehre«.27 Mauvillon erkennt offensichtlich, dass die Innovationen seiner Zeit die Kriegsführung weiter verändern können. Dabei ist klar, dass er die neuesten militärischen Nachrichten intensiv rezipierte. In der zweiten französischen Auflage des Essais (1788) spekuliert Mauvillon mit der Möglichkeit, Heißluftballons taktisch zu verwenden.28 Die im Jahr 1783 erfundene »Montgolfière« könnte eine Erfindung sein, die die Kriegsführung neu definiert. Während sich Mauvillons erstes Buch auf die Erfindung des Schießpulvers und auf die Folgen dieser Erfindung konzentriert, recherchiert er in seinem zweiten kriegsgeschichtlichen Werk Essai historique sue l’art de la guerre pendant le guerre de trente ans die Kriegskunst im Kontext des Dreißigjährigen Krieges. Obwohl der Titel seines Buches sich wesentlich von dem Titel des ersten Buches unterscheidet, sind die behandelten Themen in beiden Büchern die gleichen. Wie Jochen Hoffman gezeigt hat, ist der Essai historique eine Art Kurzfassung des Essai. Auch in seinem Essai historique verteidigt Mauvillon in eher konservativer Weise die Lineartaktik und die Forderung, dass die Soldaten in modernen Kriegen gut bezahlt werden müssten. Getreu seiner Ausbildung als Militäringenieur betont er die Bedeutung von Verschanzungen und Befestigungen für den modernen Krieg. Die zwei ersten kriegsgeschichtlichen Werke Mauvillons hatten ein klares Ziel. In der Debatte um die richtige Kriegsführung wollte Mauvillon seinen Studenten zeigen, dass Lineartaktik trotz der in letzter Zeit geäußerten Kritik die richtige Taktik war. Disziplinierte Armeen könnten die Lineartaktik erfolgreich ausüben. Immerhin steckte hinter Mauvillons Meinung eine besondere Geschichtsauffassung. Mauvillon betonte die Bedeutsamkeit, historische Kontexte ernst zu nehmen. Die vergangenen Zeiten hatten ihre Eigenheiten, und deswegen könnten Taktiken, die zum Beispiel unter den Römern erfolgreich gewesen waren, nicht mehr als solche angewendet werden. Die Schlussfolgerung von Mauvillon war deutlich: Il résulte de tout ce que nous avons dit dans ce chapitre, que leurs [des Anciens] exemples, et ce que leurs généraux ont pu éxécuter dans ce genre-là, ne peut nous servir de règle ni de modèle.29

Mauvillons Essais beweisen seine Distanz zu denjenigen Denkern, die Geschichte als Ressource des richtigen und falschen Handelns betrachteten. Mauvillon betonte die Eigenheiten historischer Zeiten. Diese Idee von fundamentalen historischen Veränderungen – eng verknüpft mit einer neuen Haltung zu Gegenwart und Zukunft als irgendetwas völlig Neuem – ist im Zeitalter der Aufklärung entstanden. Nach Gat

|| 27 Stutzer: Das preußische Heer (s. Anm. 4), S. 44, Endnote 8. 28 Mauvillon: Essai sur l’influence (s. Anm. 9), 2. Aufl. Leipzig 1788, S. 31. 29 Mauvillon: Essai sur l’influence (s. Anm. 9), 1. Aufl. Dessau 1782, S. 111 und S. 399: »Aus all dem, was wir in diesem Kapitel gesagt haben, folgt, daß ihre [der Alten] Beispiele und das, was ihre Generäle in dieser Art ausführen konnten, uns nicht als Regel oder Vorbild dienen können.«

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Azar war es erst nach der Französischen Revolution, dass man in den militärgeschichtlichen Schriften von einer neuen, »modernen« Erfahrung der Geschichte sprechen könnte. Gat Azar stützt sich dabei auf die englische Auflage von Georg Friedrich von Tempelhoffs Geschichte des Siebenjährigen Krieges: History of the Seven Years War. Tempelhoff schrieb, dass die militärische Theorie eher auf zeitgenössischen Erfahrungen als auf den Griechen und Römern beruhen müsse.30 Nichtdestotrotz ist die Anerkennung der Mannigfaltigkeit von historischen Erfahrungen und die Anerkennung der Eigenheiten der historischen Zeiten schon in Mauvillons ersten kriegsgeschichtlichen Schriften aus den 1780er Jahren nachvollziehbar. Die Aussage Tempelhoffs hätte genauso gut aus Mauvillons Feder stammen können. Das Thema der Eigenheiten vergangener Epochen bedeutet für Mauvillon nicht nur, dass die Theorien seiner Zeit auf zeitgenössischen Erfahrungen beruhen müssen. Darüber hinaus schreibt er in seinem Werk Mann und Weib nach ihren gegenseitigen Verhältnissen geschildert: »Denn man darf nicht unsre Begriffe von Laster und Schandthaten auf die damaligen Sitten anwenden.«31 Mauvillon war der Überzeugung, dass die vergangenen Zeiten nicht nach unseren Werten und Begriffen bewertet werden können. Seine Haltung war ein Protest gegen die Regelgläubigkeit, die die Individualität der Epochen vernachlässigte.32

4 Kriegsgeschichte im Lichte des Internationalen Denkens: Geschichte Ferdinands und Österreich als Zerstörer der Freiheit Mauvillons letzte rein kriegsgeschichtliche Arbeit heißt Abriß der Begebenheiten des allgemeinen Krieges der spanischen Erbfolge. Wie in seinen zwei ersten Werke in diesem Feld geht es in dieser Schrift um eine intensive Erörterung taktischer und strategischer Fragen. Mauvillon war der Meinung, dass Kriegsgeschichte viele Details haben müsse, und diese Ansicht ist durchaus sichtbar im Abriß. Obwohl die Schrift wie eine Kompilation von Schlachtbeschreibungen aussieht, zielt Mauvillon dabei auf die Erklärung geschichtlicher Entwicklungsstrukturen und Regeln der Kriegsführung. Aus dieser Schrift bekommt man den Eindruck, dass sie als Pflichtlektüre für Kadetten als zukünftige Offiziere konzipiert ist. Die historischen Beispiele zielen auf taktische und strategische Entscheidungen, die Offiziere treffen müs-

|| 30 Gat: A History of Military Thought (s. Anm. 16), S. 11; Tempelhoff: History of the Seven Years War. London 1793, Bd. 1, S. 84. 31 Jakob Mauvillon: Mann und Weib nach ihren gegenseitigen Verhältnissen geschildert. Leipzig 1791, S. 108. 32 Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 1), S. 219.

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sen. Trotz seiner deskriptiven Natur dient der Abriß in klarer Weise einem anderen Zweck, was Mauvillons Interpretation der deutschen und europäischen politischen Situation widerspiegelt. Denn der Abriß hat eine äußerst kritische Grundhaltung gegenüber der Politik Österreichs.33 Um Mauvillons Kritik an Österreich zu verstehen, ist es notwendig seine umfangsreichste historische Darstellung zu analysieren. Die Geschichte Ferdinands Herzogs von Braunschweig-Lüneburg wurde im Auftrag des Buchhändlers Cotta geschrieben. Seit 1792 arbeitete Mauvillon an diesem Buch. Wie Mauvillons letzte historische Darstellung Abriß wurde Geschichte Ferdinands erst nach seinem Tode im Jahr 1794 veröffentlicht. Obwohl es sich auf den ersten Blick nicht um eine militärgeschichtliche Arbeit handelt, bestehen zwei Drittel des Buches aus der Betrachtung zweier Kriege, des Schlesischen und des Siebenjährigen. Deutlich stellt sich Mauvillon auf die Seite Preußens. Die Wahl dieser Seite ist nicht unbedingt überraschend, wenn man Mauvillons Biografie berücksichtigt. Wie schon erwähnt, kämpfte Mauvillon im Siebenjährigen Krieg auf der preußischen Seite. Mauvillon war noch in den 1790er Jahren von der Gerechtigkeit der Sache Preußens im Siebenjährigen Krieg überzeugt. Aus der Sicht Mauvillons war und blieb Österreich der Zerstörer des innerdeutschen Gleichgewichts, was die deutsche Freiheit grundsätzlich bedrohte. Österreich war nicht nur Zerstörer der Machtbalance, sondern auch des Gleichgewichts der Religionen, zwei Faktoren, die für Mauvillon eng zusammenhingen. Die zwei Schlesischen Kriege und der Siebenjährige Krieg waren für Mauvillon in erster Linie konfessionelle Auseinandersetzungen. Mauvillon war französischer und vor allem hugenottischer Abstammung. Diese Abstammung wurde deutlich spürbar in seinem Antikatholizismus. Die Gefahr Österreichs hatte die territorialen Ansprüche Preußens im Siebenjährigen Krieg gerechtfertigt. Sonst hätte Preußen nicht als Garant der deutschen Freiheit fungieren können. Mauvillon betrachtete Preußens Angriff auf Sachsen als gerechtfertigte Präventivmaßnahme, und zwar einerseits, um die Freiheit Deutschlands zu bewahren, und andererseits, um die religiöse Intoleranz Österreichs im Griff zu behalten. Einen reinen Verteidigungskrieg – was er im Allgemeinen bevorzugte – hielt Mauvillon im Falle Preußens wegen der geographischen Lage für unmöglich. Immerhin war Preußen nicht als Zerstörer des europäischen Gleichgewichts zu betrachten, wie manche französische und österreichische Flugblätter zu verstehen gegeben hatten. Ganz im Gegenteil: Ein mächtiges Preußen war für das Gleichgewicht notwendig, besonders im Hinblick auf das Gleichgewicht der Konfessionen im Reich. Deswegen war Preußens Einmarsch in Sachsen für Mauvillon der Auftakt eines notwendigen Religionskrieges. Mauvillon geht so weit, dass er die Aktionen Österreichs als den wesentlichen Grund der Französischen Revolution ansieht. Die Allianz zwischen Österreich und

|| 33 Ebd., S. 212.

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Frankreich (1756), bekannt als diplomatische Revolution, habe ganz Europa verwirrt.34 In seinen Schriften Geschichte Ferdinands und Abriß nimmt Mauvillon an einer zweiten großen militärtheoretischen Debatte seiner Zeit teil. Das Thema des kleinen Krieges (petite guerre) hatte die Militärtheoretiker seit dem Ende der Österreichischen Erbfolgekriege (1740–1748) beschäftigt. Es ging darum, ob andauernde Operationen von kleinen Truppen um die Hauptarmeen im Krieg entscheidend waren.35 Besonders nach dem Siebenjährigen Krieg wurde die Frage der kleinen Truppen aktuell. Der Hauptvertreter einer militärischen Bedeutung der kleinen Truppen im deutschen Sprachraum war Johann Ewald (1744–1813). Ewald war ein ehemaliger Kadett von Mauvillon am Carolinum in Kassel gewesen. Unter Anleitung von Mauvillon schrieb Ewald im Jahr 1774 Gedanken eines hessischen Officiers, was man bey Führung eines Detaschements zu thun hat.36 Nach seiner Teilnahme am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775–1783) wurde Ewald ein noch weitaus überzeugterer Verfechter des petite guerre, was in seiner Abhandlung um den kleinen Krieg aus dem Jahr 1785 nachzuvollziehen ist.37 Trotz seiner Nähe zu Ewald war Mauvillon insgesamt nicht von der entscheidenden Rolle der kleinen Truppen überzeugt. Nach Mauvillon spielten sie schon eine Rolle für die Ablenkung und zur Auskundschaftung des Feindes, aber zu Schlachtentscheidungen trügen sie nur geringfügig bei.38 Anders als man vermuten könnte, geht es in Geschichte Ferdinands vielmehr um Friedrich II. als um Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel (1721–1792). Abgesehen von den 50 Seiten, die eine Biographie von Ferdinand enthalten, ist Geschichte Ferdinands eigentlich eine allgemeine politische und militärgeschichtliche Darstellung, die die taktischen, strategischen und politischen Überlegungen und Entscheidungen Friedrichs des Großen im Siebenjährigen Krieg analysiert. Erneut zeigt Mauvillon seinem Publikum die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Organisation und Effektivität des Militärwesens und den politischen und moralischen Institutionen.39 Die Beschreibungen von historischen Ereignissen stehen im Dienst der Erklärung von militärischen und politischen Akteuren und Aktionen in gewissen historischen und geographischen Kontexten. Darin bestand Mauvillons Aus-

|| 34 Ebd., S. 212f. 35 Johannes Kunisch: Der Kleine Krieg. Studien zum Heerwesen des Absolutismus. Wiesbaden 1973. Siehe auch Martin Rink: Vom »Partheygänger« zum Partisanen. Die Konzeption des kleinen Krieges in Preußen 1740–1813. Frankfurt a. M. 1999. 36 Johann Ewald: Gedanken eines hessischen Officiers, was man bey Führung eines Detaschements zu thun hat. Kassel 1774. 37 Johann Ewald: Abhandlung um den kleinen Krieg. Kassel 1785. 38 Mauvillon: Geschichte Ferdinands (s. Anm. 15), 1. Theil, S. 89, 2. Theil, S. 24, S, 37f., S. 283f. Siehe auch Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 1), S. 211. 39 Ebd., S. 207.

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gangspunkt schon in seiner Schrift Abriß. Er beendet den ersten Teil vom Abriß mit dem Versprechen, die Folgen des Spanischen Erbfolgekrieges zu erörtern: Der Schluß, der bey welchem sich eine Schilderung des Einflußes finden wird, den dieser Krieg in politischer, militärischer und moralischer Rücksicht auf unser Jahrhundert gehabt hat, folgt im nächsten Almanach.40

Leider gehört der zweite Teil dieses Werkes zu den von Mauvillon zwar versprochenen, aber nie veröffentlichten Werken. In seiner Geschichtsschreibung bemühte sich Mauvillon, die historische Methode weiterzuentwickeln und kompilatorische Methoden zu überwinden.41 In diesem Sinne ging er unter anderem über Raynal hinaus. Es ist bekannt, dass Raynals Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans lex deux Indes eine Kompilation von vielen Werken ist, was die Gesamtinterpretation dieses Werkes schwierig macht.42 Mauvillons Selbstreflexion als Historiker ist auch in seinem Werk Geschichte Ferdinands zu finden: Dass ich aber eine Geschichte und keine Lobrede schreibe, daß der Geschichtsschreiber eines großen Mannes ihn schildern muß wie er war, und nicht wie ein Ideal, das man sich selbst schafft.43

Geschichte muss so geschrieben werden, wie sie war. Mauvillons Mittel zur Wahrheitsfindung war die Quellenkritik im Sinne der Untersuchung von Echtheit, Absicht und Glaubwürdigkeit seiner Materialien, inklusive ausführlicher Quellenangaben. Hier distanzierte sich Mauvillon erkennbar von seinem Vater, der Materialien eher willkürlich verwendete.44 Im Fall des jüngeren Mauvillons kann man gar von einer Annäherung an die Vorläufer des Historismus sprechen. Das und seine starke Heranziehung der Hilfswissenschaften, vor allem Statistik, ähnelt der ›Göttinger Schule‹ der Geschichtsschreibung. 45

5 Schluss Mauvillons kriegsgeschichtliche Schriften wurden geschrieben, um die Lehrbedürfnisse der Militärakademien zu befriedigen. Sein Ziel bestand darin, strategische und || 40 [Mauvillon:] Abriß der Begebenheiten (s. Anm. 11), S. 144. 41 Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 1), S. 209f. 42 Zu Raynal siehe Cecil P. Courtney, Jenny Mander (Hg.): Raynal’s »Histoire des deux indes«. Colonialism, Networks and Global Exchange. Oxford 2015. 43 Mauvillon: Geschichte Ferdinands (s. Anm. 15), 1. Theil, S. 270. 44 Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 1), S. 209. 45 Ebd., S. 210 und S. 220.

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politische Punkte zu erörtern, ohne dabei universale Regeln der Kriegsführung aufzustellen. Nach Mauvillon brauchte jede Zeit ihre eigenen militärischen Ansätze. In diesem Sinne waren Mauvillons Schriften ein Protest gegen die Regelgläubigkeit vieler seiner zeitgenössischen Schriftsteller. Stattdessen betonte Mauvillon die Eigenheiten vergangener Zeiten und verbündete sich mit der physiokratischen Geschichtsphilosophie, die als mutmaßlich, hypothetisch und skeptisch gegenüber der Möglichkeit der Verallgemeinerung empirischen Wissens charakterisiert werden kann.46 Mauvillon glaubte nicht, dass man überzeitliche allgemeine Gesetze oder Maximen des Handelns ableiten könnte. Immerhin könnte Kriegsgeschichte nützlich sein, wenn man die zusammenhängenden Faktoren von Politik, Moral, Geographie und Militärwesen ausführlich betrachtete. Mit seinen kriegsgeschichtlichen Schriften nahm Mauvillon an den größten militärtheoretischen Debatten seiner Zeit teil. Hierbei hatte er keine besonders radikale, ambitionierte oder avancierte Position. Er verteidigte die Lineartaktik gegen die tiefe Schlachtordnung. Seine Haltung wurde von seinem Glauben an den Fortschritt und die Eigenheiten verschiedener Zeiten dirigiert. Obwohl seine Position zur tiefen Schlachtordnung altmodisch erschien, wurde sie nach der weiteren Entwicklung der Feuerwaffen als Kritik der tiefen Schlachtordnung revidiert. Obwohl sie nicht den gängigen Meinungen entsprach, war seine Kritik gleichwohl auf eigentümliche Weise der zeitgenössischen militärtheoretischen Diskussion voraus.

|| 46 Vgl. hierzu den Beitrag von Michael Schwingenschlögl in diesem Band.

Martin Mulsow

Ordenskonkurrenz Mauvillon als Freimaurer in Kassel und als Gründer der Braunschweiger Illuminatenfiliale

1 Knigge und die Kasseler Logen Die Szenerie der Geheimbünde in den 1780er Jahren in Deutschland ist ein vermintes Gelände.1 Die Konkurrenz ist groß, die wechselseitigen Bespitzelungen, Abwerbungen und Denunziationen sind in ihrer Komplexität kaum zu überblicken. Wer Hochgradfreimaurer war wie Mauvillon und nicht nur Mitläufer, sondern aktiver Gestalter sein wollte, benötigte eine gute Orientierungsgabe, um sich nicht im Labyrinth der Intrigen zu verirren. Die Geheimbünde sind die prononciertesten Vergesellschaftungsformen der Aufklärungsepoche, sie bilden, wie Reinhart Koselleck das genannt hat, den »gesellschaftlichen Innenraum« des späten 18. Jahrhunderts.2 Daher ist Mauvillons Weg durch die Geheimbünde keineswegs nur eine Fußnote zu seiner übrigen Tätigkeit.3 Sie führt ins Zentrum seiner gesellschaftlichen Existenz. Dass Mauvillon ein Freimaurer und auch Illuminat gewesen ist, ist nicht nur uns heute bekannt, es war auch schon um 1790 bekannt, ja Mauvillons Name ist einer der ersten, die sich schon in den frühen Verschwörungstheorien finden.4 Man wusste, dass er mit Mirabeau zusammengearbeitet hatte, man wusste aus abgefangenen und veröffentlichten Briefen, dass er anfänglich die Französische Revolution begrüßte, man vermutete, dass er den »Illuminatismus«, wie es damals pauschalisierend hieß, über Mirabeau nach Frankreich verpflanzt hatte, wo er dann die Revo|| 1 Ich danke Reinhard Markner herzlich für seine gründliche Lektüre des Textes und zahleiche Korrekturen und Vorschläge. – Ich zitiere im Folgenden die Briefe aus der sogennatten »Schwedenkiste«, dem illuminatischen Nachlass Bodes und Ernsts II. (GStA Preußischer Kulturbesitz, Freimaurer 5.2. G 39 JL Ernst zum Kompaß, Nr. 100–119) mit dem Kürzel SK, der Bandangabe und der Dokumentennummer (z. B. SK05-233). 2 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Freiburg 1959. Vgl. zu Anwesenheit und Abwesenheit in der spezifischen Vergesellschaftung von Geheimbünden Rudolf Schlögl: Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. In: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155–224; Martin Mulsow (Hg.): Kriminelle – Freidenker – Alchemisten. Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit. Köln 2014, Einleitung, S. 9–14; vgl. auch meinen methodischen Beitrag zur Radikalaufklärung in diesem Band. 3 Ich spiele hier an auf den Titel von Gerhard Steiner: Freimaurer und Rosenkreuzer. Georg Forsters Weg durch Geheimbünde. Berlin 1985. 4 Vgl. Jochen Hoffmann: Jakob Mauvillon. Ein Offizier und Schriftsteller im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipationsbewegung. Berlin 1981. https://doi.org/10.1515/9783110793611-014

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lution auslöste, und dass Mauvillon nun dabei war, die Revolution von Frankreich nach Deutschland zu übertragen.5 In zehn Jahren, hatte Mauvillon im abgefangenen Brief an den Kasseler Bibliothekar Ernst Wilhelm Cuhn gesagt, werde die Revolution bestimmt auch in Deutschland angekommen sein.6 Das entsprach den Ängsten und Vermutungen der Konservativen und in gewisser Weise auch den Hoffnungen und Vermutungen der deutschen Radikalen. Wie Mauvillon aber tatsächlich als Freimaurer und Illuminat gewirkt hat, wie er sich vergesellschaftet und Resonanzräume geschaffen hat, davon ist weit weniger bekannt.7 Zwar hat Jochen Hoffmann ein kleines Kapitel darüber in seiner Mauvillon-Monographie, aber Hoffmann kannte die »Schwedenkiste« noch nicht, hatte keine umfassenden Mitgliederlisten und wusste daher viele der Anspielungen in den Briefen, die ihm vorlagen, nicht zu entschlüsseln.8 Daher möchte ich diesen Aspekt der Agency eines Radikalen anhand der konkreten Frage behandeln, wie jemand wie Mauvillon eine Freimaurerloge an einem Ort wie Kassel und eine Illuminatenfiliale (genannt: Minervalkirche) an einem Ort wie Braunschweig aufmachen konnte.9

|| 5 Vgl. Hanns Günther Reissner: Mirabeau und seine Monarchie Prussienne. Berlin 1926. Zur anfänglichen Begrüßung der Revolution vgl. Friedrich Schlichtegroll: Nekrolog auf das Jahr 1794. 5. Jahrgang, 1. Band. Gotha 1796, S. 163–245, hier S. 232. 6 Mauvillon an Ernst Wilhelm Cuhn, 13. Mai 1791. In: Eine wichtige Obscuranten-Entdeckung über die Zwecke und das Wirken des Licht-Reichs; aus einigen Original-Briefen von Mauvillon, Teil II. In: Eudämonia oder deutsches Volksglük. Zweyten Bandes Fünftes Stück. Frankfurt a. M. 1796, S. 431– 434, hier S. 433f.: »Gott erhalte die Französische Revolution, denn hat’s mit allen den Dingen nichts zu sagen. Dann ich weiß Particularia, die mich überzeugen, daß es keine zehen Jahre währen wird, so lodert die Revolutionsflamme in ganz Deutschland.« 7 Zum Begriff des Resonanzraumes und der Agency vgl. nochmals meinen Beitrag »Wie schreibt man die Geschichte der radikalen Spätaufklärung?« in diesem Band. 8 Ein Verzeichnis der Mitglieder wurde erstmals erarbeitet von Hermann Schüttler: Die Mitglieder des Illuminatenordens 1776–1787/93. München 1991. Schüttler hat danach, in Zusammenarbeit mit Reinhard Markner, die Liste ständig weiter ergänzt. Die ergänzte Fassung ist online publiziert in der »Illuminati Research Base«, die von Olaf Simons und der Arbeitsstelle Illuminatenforschung am Forschungszentrum Gotha unterhalten wird: https://database.factgrid.de/wiki/FactGrid:The_ Gotha_Illuminati_Research_Base (Zugriff 21.05.2020). 9 Zu den Illuminaten nenne ich hier nur Leopold Engel: Geschichte des Illuminaten-Ordens. Ein Beitrag zur Geschichte Bayerns. Berlin 1906; René Le Forestier: Les Illuminés de Bavière et la francmaçonnerie allemande. Paris 1914; Richard van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten. Stuttgart 1977; Jan Rachold (Hg.): Die Illuminaten. Quellen und Texte zur Aufklärungsideologie des Illuminatenordens (1776–1785). Berlin 1984; Manfred Agethen: Geheimbund und Utopie. Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung. München 1987; Monika Neugebauer-Wölk: Esoterische Bünde und Bürgerliche Gesellschaft. Entwicklungslinien zur modernen Welt im Geheimbundwesen des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1995; Ludwig Hammermeyer: Entwicklungslinien, Ergebnisse und Perspektiven neuerer Illuminatenforschung. In: Staat und Verwaltung in Bayern. Festschrift für Wilhelm Volckert zum 75. Geburtstag. Hg von Alois Schmid und Konrad Ackermann. München

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Freimaurer war Mauvillon seit etwa 1775; schon der Vater war Freimaurer in Braunschweig gewesen, hatte sich aber von der Freimaurerei wieder abgewandt, weil er mit den Hochgradsystemen der Strikten Observanz nichts anfangen konnte. Illuminat war Mauvillon seit 1781, also in seiner Kasseler Zeit. In Kassel gab es zwar Illuminaten unter den Freimaurern, aber es ist unklar, ob sie in einer Minervalkirche organisiert waren.10 Auch in Göttingen gab es beispielsweise Illuminaten, sogar hochrangige, ohne dass man diesen formalen Schritt machte.11 Wenn wir auf die heute bekannten Mitgliederlisten schauen, sehen wir neben Mauvillon zehn Illuminaten, alle zwischen 1781 und 1783 aufgenommen wurden, wohl allesamt von Adolph von Knigge, der Mitglied der Kasseler Loge Zum gekrönten Löwen war.12 Knigge hatte als ganz junger Mann zwischen 1771 und 1776 in Kassel gelebt und war 1772 in die Loge aufgenommen worden, daher pflegte er – inzwischen in Frankfurt – immer noch enge Beziehungen dorthin. Die Loge war nicht die erste in Kassel, aber die etablierteste und angesehenste.13 Seit Knigge 1780 zum Illuminaten geworden war, war er aktiv dabei, neue Mitglieder für diesen Geheimbund anzuwerben, ja erst durch ihn verbreitete sich der Bund auch in West-, Nord- und Mitteldeutschland.14 Die Mitglieder15, die Knigge als Illuminaten aufnahm, sind die drei Mitglieder der Adelslinie von Baumbach, Verwandte seiner Frau und alle am Hof angestellt als || 2003, S. 421–463; Stephan Gregory: Wissen und Geheimnis: Das Experiment des Illuminatenordens. Frankfurt a. M. 2009. 10 Zur Situation in Kassel vgl. Jörg Meidenbauer: Aufklärung und Öffentlichkeit. Studien zu den Anfängen der Vereins- und Meinungsbildung in Hessen-Kassel 1770 bis 1806. Darmstadt, Marburg 1991. Dort zu den Freimaurern, Illuminaten und Rosenkreuzern S. 309–380. Weiter Heide Wunder, Christina Vanja, Karl-Hermann Wegner (Hg.): Kassel im 18. Jahrhundert: Residenz und Stadt. Kassel 2000. Zum Milieu des benachbarten Hessen-Darmstadt vgl. Robert Seidel: Literarische Kommunikation im Territorialstaat – Funktionszusammenhänge des Literaturbetriebs in Hessen-Darmstadt zur Zeit der Spätaufklärung. Tübingen 2003; Rolf Haaser: Spätaufklärung und Gegenaufklärung: Bedingungen und Auswirkungen der religiösen, politischen und ästhetischen Streitkultur in Gießen zwischen 1770 und 1830. Darmstadt 1997. 11 Zu Göttingen vgl. Christian Wirkner: Logenleben. Göttinger Freimaurerei im 18. Jahrhundert. Berlin 2018. 12 Zu Knigge und Kassel vgl. Birgit Nübel (Hg.): Adolph Freiherr von Knigge in Kassel. Kassel 1996. Vgl. allg. auch Karl-Heinz Göttert: Knigge oder: Von den Illusionen des anständigen Lebens. München 1995. 13 Eine Mitgliederliste von 1778 befindet sich in GStAPK Berlin, Freimaurer 5.2. K 11 Nr. 27. 14 Knigge hatte Procura bekommen, nach eigenem Belieben Mitglieder in den Illuminatenbund aufzunehmen. Später – 1783 – wurde diese Befugnis eingeschränkt. Vgl. aber Knigges Aufzeichnung vom 8. März 1783, nachdem er viele Befugnisse zum Anwerben an Bode abgegeben hatte: »Hingegen steht mir diese Freyheit in Ober-Sachsen und Hessen noch itzt zu.« Die offizielle Aufsicht der Provinz Hessen (»Lydia minor«) mit seiner Residenz Kassel (»Gordium«) war der Präfektur in Wetzlar, also Ditfurth anvertraut. 15 Ich verwende hier die auf den neuesten Stand gebrachte Mitgliederliste in der ›Illuminati Research Base‹ (s. Anm. 7). Vgl. auch Wilhelm Maurer: Aufklärung, Idealismus und Restauration. Studien zur Kirchen- und Geistesgeschichte in besonderer Beziehung auf Kurhessen 1780–1850.

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Oberforstmeister, Obereinnehmer und Oberappellationsrat,16 der Pastor Johann Jacob Wilhelm Otto, der Forstmeister Wilhelm Ludwig Carl von Eschwege, sein Bruder Johann Christian von Eschwege, Assessor bei der Rentkammer, und ansonsten vier Militärs, die sicherlich auch Mauvillon nahestanden: Major Friedrich Wilhelm Freiherr von Canitz und Dallwitz, Gardemajor Heinrich Wilhelm Luitprand von Eschwege – der ältere Bruder des Forstmeisters und des Assessors –, Lieutenant Carl Wilhelm Otto von Hagen und Rittmeister Johann Ludwig Hanstein. Canitz war erster Oberaufseher der Loge »Zum gekrönten Löwen« (als Eques a templo aperto), auch die Baumbach-Brüder (oder Vettern) waren dort in hoher Stellung vertreten.17 Mindestens einer der Baumbachs war sogar Knigges Schwager.18 Wilhelm von Eschwege hingegen war von dort in die Loge »Friedrich von der Freundschaft« übergewechselt, der anderen Kasseler Freimaurervereinigung. Der Name »Friedrich« im Logennamen bezieht sich auf Landgraf Friedrich II., der dieser Loge, zu der er enge Beziehungen hielt, erlaubte, seinen Namen zu führen. Während in der Loge »zum gekrönten Löwen« vor allem Hofbeamten, Adelige und angesehene Bürger verkehrten, gehörten der 1773 gegründeten Loge »Friedrich von der Freundschaft«, einer Tochterloge der Berliner Loge Royal York,19 italienische und französische Hofkünstler (die meist Katholiken waren), aber auch reformierte Theologen und viele andere Bürgerliche an.

|| 2 Bde. Gießen 1930, Bd. 1, S. 115 sowie vor allem Adolf Kallweit: Die Freimaurerei in Hessen-Kassel. Königliche Kunst durch zwei Jahrhunderte von 1743 bis 1965. Baden-Baden 1966, S. 64. Maurer nennt auch Johann Christoph Martin, Kallweit nennt auch die Namen der Kasseler Professoren Forster, Soemmerring, Dohm, Stein, Runde und Casparson. Diese Angaben sind aber unzutreffend. Zu diesem Milieu vgl. auch Steiner: Freimaurer und Rosenkreuzer (s. Anm. 2). 16 Es handelt sich um Ernst Christian Friedrich von Baumbach (1745–1795) aus der Kopperhausener Linie der Familie, Mitglied der Kasseler Loge »Zum gekrönten Löwen«, Friedrich Wilhelm II. Otto von Baumbach (1753–1838) aus der Nentershausener Linie der Familie, Mitglied er Kasseler Loge »Zum gekrönten Löwen«, und sein Bruder Ludwig Wilhelm von Baumbach (1755–1811), Mitglied der Rotenburger Freimaurerloge. Die beiden letzteren waren Brüder von Knigges Frau Henriette. Zu dieser weitverzweigten hessischen Adelsfamilie vgl. August von Baumbach: Geschichte der zur althessischen Ritterschaft gehörenden Familie von Baumbach. Marburg 1886, bes. S. 43 und S. 70. 17 Vgl. Meidenbauer: Aufklärung (s. Anm. 10), S. 328 mit Ämter-Listen von 1774, 1775 und 1784. 18 Knigge hatte die Kasseler Hofdame Henriette von Baumbach geheiratet. Vgl. auch den Brief von Weishaupt an Bode, 7. November 1783, SK07-238: »Hier haben nun Ew Hochwurden meine aufrichtige Erklärung. ich Hatte noch ungleich mehr sagen können. ich kann jede Zeile mit 10 Brieffen und Documenten, wenn es nothig ist belegen. Eines mus ich noch anfuhren. Sein eigener Schwager Baumbach hat in seinem Lebenslauff angefuhrt, das der alte L[and]gr[af] von [Hessen-Kassel] mit ihm hatte Sodomie treiben wollen. Glauben Sie wohl das er dises wurde geschrieben haben, wenn er seinen Sohn im O[rden] nur vermuthet hätte?« 19 Vgl. Florian Maurice: Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius Feßler und die Reform der Großloge Royal York in Berlin. Tübingen 1997.

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Knigge, der in seinen Kasseler Jahren Assessor an der Kriegs- und Domänenkammer gewesen war und daher vor allem Kontakte zu Militärs und Hofbeamten besaß, gelang es auch, den am Collegium Carolinum unterrichtenden Historiker Johannes (von) Müller anzuwerben.20 Dessen Kollegen Mauvillon sah er aber als seine wichtigste Eroberung an. An Weishaupt meldete er 1781 stolz: Nun habe ich in Cassel den besten Mann gefunden, zu dem ich uns nicht genug Glück wünschen kann: es ist Mauvillon Meister vom Stuhl einer von Royal York aus constituierten [Loge]. Also haben wir mit ihm auch gewiß die ganze [Loge] in unsern Händen. Er hat auch von dort aus alle ihre elenden Grade.21

Mauvillons Loge war die Loge »Friedrich von der Freundschaft«.22

2 Das Problem mit den Anwerbungen Wie sah die Praxis des Anwerbens aus? Wenn Knigge schreibt: »Also haben wir mit ihm auch gewiß die ganze [Loge] in unsern Händen«, heißt das dann: Mauvillon suchte die interessantesten Köpfe aus seiner Freimaurerloge heraus und ließ sie von Knigge in den Illuminatenorden aufnehmen? Nein, die Sache war komplizierter. Denn zum einen gab es ja zwei Logen in Kassel, und Mauvillon hatte durchaus vor, sich in beiden nach Kandidaten umzuschauen. Zum anderen hatte er möglicherweise schon frühzeitig im Kopf, entweder seine eigene Loge zu reformieren (um von den »elenden Graden« wegzukommen), oder, wenn ihm dies nicht gelänge, eine eigene, dritte Loge zu gründen. Daher müssen seine Aktivitäten zunächst auf Freimaurer-Ebene gesehen werden und erst in zweiter Linie im Hinblick auf die Illuminaten. In den frühen Jahren der Ausbreitung des Illuminatenbundes in Nord- und Mitteldeutschland waren diese Ebenen oft kaum voneinander geschieden, und den Akteuren war selbst nicht immer klar, wohin die Reise ging. Konnte man denn so einfach Brüder von einer Vereinigung in die andere hinüberziehen? Schon als nach 1771 die »Loge zum gekrönten Löwen« in Konkurrenz zur ursprünglichen Kasseler Logengründung »Zum Thale Josaphat« trat, die 1766 || 20 Vgl. den Brief von Müller an Knigge vom 2. Juli 1782, Leveste, Privatbesitz Freiherr von Knigge. Erwähnt wird hier auch der Freiherr von Canitz. Dass Müller Illuminat wurde, ist an seinem Brief an Knigge vom 28. September 1782 zu ersehen; Korrespondenz des Illuminatenordens. Hg. von Reinhard Markner, Monika Neugebauer-Wölk und Hermann Schüttler. Berlin 2013, Bd. 2, S. 207f. Vgl. aber auch andererseits Steiner: Freimaurer (s. Anm. 3), S. 157, der einen Brief von Georg Forster an Müller vom 20.11783 zitiert, wo es heißt: »Bleiben Sie bei Ihrem Entschluß, geheime Gesellschaften und Wissenschaften nicht zu suchen.« 21 Adam Weishaupt an die Münchner Areopagiten (?), aus einem Brief Knigges an ihn zitierend, in: van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten (s. Anm. 9), S. 243. 22 Das Mitgliederverzeichnis befindet sich in GStAPK Berlin, Freimaurer 5.2. K 11 Nr. 29.

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von einer Marburger Mutterloge aus ins Leben gerufen worden war, ging es um heimliche Abwerbungen. Durch konspirative Methoden sollten die Arbeiten in dieser Loge behindert und die »würdigste[n] Mitglieder« nach und nach ausgespannt und herübergezogen werden.23 So wuchs der »gekrönte Löwe« unaufhaltsam an und band zahlreiche Persönlichkeiten der Residenzstadt – Militär, Adel, Professoren und bürgerliche Beamte – an sich. Es waren Männer, die auch außerhalb der Loge in engen Netzwerken miteinander zu tun hatten. Mauvillons Loge war dagegen weniger staatstragend. Ein Problem für Mauvillon bestand darin, dass die Loge »Zum gekrönten Löwen« zur Strikten Observanz gehörte und also Hochgradfreimaurerei praktizierte; sie war der entsprechenden Loge in Braunschweig unterstellt (»Carl zur gekrönten Säule«), daher gab es enge persönliche Kontakte zwischen den Mitgliederkreisen in Braunschweig und Kassel. Die Hochgradfreimaurerei dieses Typs war aber inzwischen in die Krise geraten, unter anderem deshalb, weil die Legende, man stamme von den Templern und der alten Weisheit des Orients ab, in Frage gestellt wurde.24 Eine entscheidende Phase war dabei der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent, der vom 15. Juli bis zum 1. September 1782 in der Nähe von Hanau abgehalten wurde.25 Im Schatten dieser Zusammenkunft wurde die Krise der Strikten Observanz benutzt, um viele Hochgradfreimaurer zu den Illuminaten herüberzuziehen, als einer Art reformierter Hochgradfreimaurerei.

3 Knigge und Bode in Kassel Die beiden wichtigsten Akteure im Anwerbeprozess der Illuminaten nach Wilhelmsbad – Knigge und Bode – sollten Kassel ein halbes Jahr nach dem Konvent für kurze Zeit zu einem entscheidenden Schauplatz für die weitere Entwicklung des

|| 23 Bericht der Kasseler Logenbeamten vom 12. Dezember 1771, GStAPK Berlin, Freimaurer 5.2. B 113 Nr. 695, fol. 34. Zitiert nach Meidenbauer: Aufklärung (s. Anm. 10), S. 331f. 24 Zur Strikten Observanz vgl. René Le Forestier: La Franc-Maçonnerie templière et occultiste aux XVIIIe et XIXe siècles. Hg. von Antoine Faivre. Paris 1970; dt.: Die templerische und okkultistische Freimaurerei im 18. und 19. Jahrhundert. 4 Bde. Leimen 1987–1992; Kurt Müller: Die Strikte Observanz. In: Quatuor Coronati-Hefte 11 (1974), S. 21–40; Hermann Schüttler: Zum Verhältnis von Ideologie, Organisation und Auswanderungsplänen im System der Strikten Observanz. In: Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Vom utopischen Systementwurf zum Zeitalter der Revolution. Hg. von Monika Neugebauer-Wölk und Richard Saage. Tübingen 1996, S. 143–168; ders.: Geschichte, Organisation und Ideologie der Strikten Observanz. In: Quatuor Coronati Jahrbuch 25 (1988), S. 159–175. 25 Ludwig Hammermayer: Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782. Ein Höhe- und Wendepunkt in der Geschichte der deutschen und europäischen Geheimgesellschaften. Heidelberg 1980.

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Illuminatenordens machen. Es ging darum, dass beide sich austauschen sollten, sodass Knigge – der bis dahin der alleinige große Anwerber des Ordens im protestantischen Deutschland war – seine Befugnisse teilweise an Bode abgäbe. Außerdem bestand die Gelegenheit, Prinz Karl von Hessen-Kassel (den dritten Sohn des regierenden Landgrafen), eine der maßgeblichen Führungspersonen der Strikten Observanz, die sich interessiert am Illuminatenbund gezeigt hatte, davon zu überzeugen, sich in den Orden aufnehmen zu lassen.26 »Fr[ater] a leone resurgente [Prinz Karl von Hessen-Kassel] ist in Cassell«, hatte Knigge Bode aufgeregt am 29. Januar 1783 gemeldet.27 Knigge selbst ging in Kassel und Nentershausen im Kreise seiner Logenbrüder um, sicherlich mit seinem Schwagern Baumbach, aber auch mit dem Meister vom Stuhl Casparson28 und mit Wilhelm Ludwig Carl von Eschwege, den er bereits zum Illuminaten gemacht hatte.29 Von Mauvillon ist in den Dokumenten nicht die Rede. Jetzt war es Ende Februar, es regnete in Strömen, die Flüsse hatten aufgrund der Schneeschmelze hohen Wasserstand, sodass es für Bode nicht leicht war, wie vereinbart nach Kassel oder Nentershausen zu kommen, wo Knigge schon auf ihn wartete. Bode muss kurz hinter Eisenach die Werra überqueren, doch es gelingt ihm nicht. Knigge schickt mehrmals Reitknechte aus an die Werra, die Bode abholen sollen, doch die kehren unverrichteter Dinge zurück.30 Am 1. März muss || 26 Zu Karl vgl. Friedrich Kneisner: Landgraf Carl zu Hessen und seine Wirksamkeit in der deutschen Freimaurerei. Berlin 1917; Hammermayer: Der Wilhelmsbader (s. Anm. 25), passim. 27 SK05-64. Abgeschickt ist der Brief von Nentershausen, der Burg des Zweiges der Familie Baumbach, aus der Knigges Ehefrau stammt. Nentershausen ist gut 60 Kilometer von Kassel entfernt, in Richtung Südosten, also Richtung Werra und Eisenach. Ich benutze hier und im Folgenden einige unveröffentlichte Transkriptionen, die von Wolfgang Fenner erstellt wurden. 28 Augustin Franz Wachs, Regierungssekretär in Hanau, an Knigge, 25. Februar 1783: »Ihre beyde sehr freundschaftl. Briefe habe ich richtig und wohl erhalten. Sie meldeten mir in ersterem, daß Sie zu Ende dießes Monats in Cassel seyn und alsdann auch meinen dasigen annoch bey Hn Casperson Sohn sprechen wolten. Damit Sie, mein herzens Freund, nun dies mein Antwortschreiben nicht fehlen möchte: bey welchem ich Ihnen nicht nur das comunicatum danckbarlich rücksende und bemercke: daß die quæstionirte Irrung gütlich beygelegt worden, sondern Ihnen auch den, von dem hiesigen Jude Samuel Michel Meyer über die von Ihnen ihm durch ein Casseler Juden bezalte 200 ƒ mir zugestelt und Ihnen annoch abgegangenen Schein mit anfüge: So glaubte ich am besten zu thun diesen Brief nebst seinen Beylagen meinem Sohn zur Besorgung zu schicken, das dann hiermit beschiehet.« 29 Knigge an Bode, 23. Februar 1783, SK05-19: »Ihre Betten waren bereitet; die Arme der Freundschaft und Gastfreundschaft Ihnen ausgebreiten[!]; zwey Tage nacheinander Ihnen ein Reitknecht entgegengeschickt – Sie kamen nicht. Der redliche Arphaxad (der H. Forstmeister und Hauptmann [Wilhelm Ludwig Carl] von Eschwege) wird Ihnen dies alles bestätigen. Nun verzweifle ich daran, Sie, theuerster Bruder! hier zu sehen. Aber ich komme ohnfehlbar d 27st Abends nach Cassell – Ist es möglich; so halten Sie das bewusste Geschäft doch so lang auf, nemlich die völlige Entwicklung davon – mündlich ein Mehreres.« 30 Knigge an Bode, Mitte/Ende Februar 1783, SK05-16: »Herzlichen Dank, daß Sie mich aus der Unruhe setzen – Wir hatten Sie beyderseits sehnlichst erwartet, und Ihnen gestern und vorgestern einen Reitknecht entgegen geschickt – Wir wussten wie hoch das Wasser ist – Jetzt, bester Bruder!

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Knigge erst einmal wieder abreisen, lässt aber Jacob Georg von Berg als Vertreter zurück.31 Eine Woche später ist er wieder in Kassel und trifft nun tatsächlich auf Bode, der das Werra-Hochwasser hinter sich gelassen hat. Die beiden Männer ziehen sich zurück und teilen den Illuminatenorden – wie wir aus Knigges Aufzeichnungen wissen – gewissermaßen untereinander auf. »Wir wurden uns über folgende Puncte einig«, notiert sich Knigge.32 1) Der Br[uder] Bode kennt die ganze Einrichtung des O[rdens], 2) Er wünscht auch einige Häupter der Gesellschaft und etwas von der Geschichte zu wissen. Ich habe es gewagt, diesem Verlangen eigenmächtig zu willfahren, mit der Einschränkung, daß […] er dieses vorerst allein für sich behalte […].33 3) Ich übernehme es zu verantworten, daß der Br[uder] Bode in OberSachsen, wenn er will, ausserdem auch noch des Prinzen Carls von Hessen Durchl[aucht], den H[er]r[n] v[on] Köppern und Hein, des Herzogs Ferdinand Durchl[aucht] und den Bruder Schwartz blos gegen Ausst[ellung] des Verschwiegenheits-Reverses so viel unterrichte, als er es

|| so viel, um den Bothen nicht aufzuhalten! Sie müssen, um nach Cassell zu reisen durchaus über Riechelsdorf und vorher durch das Wasser [der Werra]. Riechelsdorf ist 2 Stunden von hier. Kann ich ein Pferd auftreiben (denn unsre Reitpferde gehen heute nach Cassell) so erwarte ich Sie in Richelsdorf; aber halten Sie Sich deswegen nicht auf, wenn ich nicht gleich da bin. Ohnfehlbar bin ich Donnerstag d 27st Abends in Cassell. Es wird Sie ein Freund in Cassell fragen, wie lange Sie bleiben, und wird hierherschreiben. Sollten Sie Sich nicht so lange aufhalten können; so komme ich noch früher – Mein Herz ist zwischen dem sehnlichen Verlangen Sie zu sehen und der traurigen Betrachtung des bösen Wetters getheilt – Aber Richelsdorf ist so nahe. Kann ich irgend ein Pferd auftreiben; so bin ich eher dort als Sie, oder bis Blankenbach, woselbst ich schon bey einer ähnlichen Gelegenheit den a leone resurg[ente] [Prinz Karl] gesprochen – Auf jeden Fall aber drücke ich Sie in Cassell an mein Herz, das Ihnen so lange es schlägt, hochachtungsvoll und zärtlichst gewidmet seyn wird.« 31 SK05-021. Vgl. auch SK05-063: Knigge an Bode, Kassel, 28.[2.1783]: »Ich bin, um Wort zu halten, zu Fuße an den bestimmten Ort gegangen, bin durch und durch (nebst unserm lieben Br[uder] v[on] Berg [Jacob Georg von Berg, Jurastudent aus Estland]) naß geworden, und habe Sie nicht gefunden – Der Gr[af] Coll.[owrath] hat auf seine Ehre schriftlich versprochen keine Copien zu nehmen, und schreibt mir heute, er habe alles abgeschrieben – Mein FreyM[aure]r. Ritual (es gehört nicht einmal mir) um dessen Rückgabe ich so sehnlichst gebethen habe, bekomme ich noch nicht – Die Tabellen, die ich zu meiner Legitimation einschicken muß, fehlen mir noch – Ich muß morgen in die Pfalz; Die Hofnung noch mit Ihnen weiter zu kommen hat mich 10 Tage hier aufgehalten, indeß meine Familie vorausgereiset war – Jetzt kann ich nicht gut länger bleiben, zumal ich gegen d [...] wieder hier seyn muß. Der Br. v. Berg ist also bereit meinen Platz zu erfüllen. Er hat Papiere für Sie, und ist ohnfehlbar Sonnabends Mittags im römischen Kaiser anzutreffen. Um alles in der Welt bitte ich doch den Grafen zu ersuchen, daß er dem Br. v. Berg das Ritual wiedergebe.« 32 Knigge, Aufzeichnung, 8. März 1773, enthalten in einem Brief von Mieg an Weishaupt, Heidelberg, 5. März 1783, StA Hamburg 614-1/72, Gr. Loge, Nr. 1264. 33 Ebd.: »[…] folglich diejenigen hochl. BBr., welche er aufnehmen wird, nur die Sache, nicht die Personen kennen lernen, daß gegen keine dieser wieder ihr Wissen von mir entdeckten Personen, weder mündlich noch schriftlich etwas von ihrer O. Verbindung erwähnt werde; es sey denn mit meiner Beystimmung, weil ohne diese Leute sich sonst zurückziehen würden, theils es höchst unbillig wäre, mich (der ich aus gutem Herzen die Papiere hergebe) dafür Vorwürfen derer auszusetzen, von denen ich diese Schriften erhalten habe.«

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gut finden wird, nemlich von der Sache, nicht von den Personen, vorerst. 4) Diese hochw[ürdigen] B[rüde]r lassen sich indessen von den erhaltenen Kenntnissen vorerst gegen niemand nichts merken. 5) Ihre Papiere bleiben in des Br. Bode Händen, 6) Soll ausser ihnen noch jemand aufgenommen werden; so muß auf dem gesetzmäßigen Wege, und mit Beystimmung derjenigen B[rüde]r geschehen, welchen unsre Obern die Aufsicht über die verschiedenen Gegenden gegeben haben.

Knigge hat Bode also in die Strukturen des Illuminatenordens eingeweiht und ihm die Befugnis erteilt, insbesondere die hochadelige Führungsriege der Strikten Observanz, Karl, Ferdinand von Braunschweig und auch Johann Friedrich Schwartz für den Illuminatenorden anzuwerben. Immerhin war Bode, im Unterschied zu Knigge, einer der Delegierten in Wilhelmsbad gewesen. Die Aufgabe war freilich heikel, weil alle drei Personen hochkonservativ waren und den Okkultismus der Strikten Observanz durchaus befürwortet hatten. Mit Knigges Protokoll übereinstimmend meldet Bode kurze Zeit später an die Ordensleitung: Nachdem der verehrungswerthe Bruder Philo [= Knigge] mich theils mündlich, theils schriftlich und durch Einsichten der O[rden]s Papiere in den Stand gesetz[t] hatte, an der Beförderung der guten Sache wirksamen Antheil nehmen zu können, wird es nach gewissenhafter Ueberlegung unter uns beyden für zuträglich erachtet, wenn man den Prinz von Hessencassel, als Provinzial Großmeister der vereinigten [Logen] in Deutschland, an die Gesellschaft attachiren könnte. Der Bruder Philo ertheilte mir also den Auftrag, dieses Geschäft, bey der Anwesenheit des Prinzen in Cassel, zu übernehmen. Zu Folge meiner mir eben so liben, als heiligen Pflicht habe ich diesen Auftrag nach meinen besten Kräften gesucht ins Werk zu setzen.34

Bode setzt sich etliche Tage mit dem Prinzen zusammen und überzeugt ihn Schritt für Schritt, dass der Illuminatenorden die bessere und zukunftsträchtigere Alternative zur Strikten Observanz sei. Karl von Hessen-Kassel willigt schließlich ein. Allerdings waren die Probleme damit nicht beseitigt, sondern neue Schwierigkeiten ergaben sich schnell. Schon bald hört man Knigge klagen, Karl handele eigenmächtig, daher komme man zunächst nicht viel weiter mit den Neuaufnahmen. Zudem hatte Karl Zweifel und wollte mehr über die Führung der Illuminaten wissen, ja den Ordensoberen kennenlernen. Daher versuchten sowohl Knigge als auch Bode Weishaupt im Juni und Juli 1783 zu überreden, nach Kassel zu reisen und sich Karl erkennen zu geben.35 Immerhin schien Mauvillon ein Lichtblick in Kassel zu sein. So

|| 34 Bode an die Ordensleitung, Braunschweig, 17. März 1783, SK04-122. 35 Bode an Weishaupt, 21. Juni 1783, StA Hamburg 614-1/72, Gr. Loge, Nr. 1262: »Dieses aber, wenn es von dem erleuchteten Congress für diensam erachtet werden sollte, würde sich, wie viele andre Punkte, am leichtesten bewirken lassen, wenn dem durchl. Aaron sein Wunsch gewähret würde, der darin besteht, mit einem oder etlichen der höchsten Obern des Ill. Systems sich persönlich zu unterreden. Ich habe Ursache mir von einer solchen Entrevüe alles Heilsame zu versprechen, besonders wenn Ew Hochwürden es selbst möglich und gefällig wäre, etwan im August oder

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schreibt Stolberg-Roßla an Weishaupt im Juli über Knigge: »Mit Mauvillon in Cassel ist er ausnehmend zufrieden – Überhaupt hoft er diese Praefectur in guten Stand sezen zu können.«36 Mauvillon ist auch tätig. Er hat schon im Mai seine Kontakte in Richtung Illuminaten weitergetrieben, um die Reform in seiner Loge voranzubringen und durchzusetzen. So schreibt er federführend für die Loge »Friedrich zur Freundschaft« an die Münchner Loge »St. Theodor vom Guten Rath im Aufgange«, die von den dortigen Illuminaten bestimmt wurde.37 Die Münchner Loge sei auf vernünftigen und für die Menschheit nützlichen Prinzipien gegründet, daher möge sie helfen, auch der Kasseler zur wahrhaftigen Freimaurerei zu verhelfen. Deren Sekretär Graf Savioli gegenüber gesteht Mauvillon einige Tage später, dass seine Loge innerlich zerstritten sei und er einen Bruch vermeiden wolle. Daher sei die Hilfe der Münchner erwünscht.38

4 Bespitzelung? Man sieht an der letzten Bemerkung, dass Mauvillon es nicht einfach hatte. Als er sich in diesem Jahr 1783 daraufhin umschaute, wer unter den Kasseler FreimaurerBrüdern als Illuminat oder auch nur als ein reformierter Freimaurer nach den aufgeklärten Prinzipien, die er im Kopf hatte, in Frage käme, galt es umsichtig vorzugehen, da die Konkurrenz – die Strikte Observanz – misstrauisch solche Aktivitäten beäugte. Hier gibt uns ein Brief tiefen Einblick, den Friedrich Nicolai im Oktober 1783 an Mauvillon gerichtet hat.39 Es lohnt sich, diesen Brief Satz für Satz zu lesen

|| Septembre eine Reise zu ihm nach Cassel zu thun. Dieser Prinz verdient es, seines wirklich sehr edlen Charakters wegen, daß seine Ordenseinsichten berichtigt werden. Wie würde ich mich freuen, wenn Sie sich dazu entschließen könnten« (Korrespondenz des Illuminatenordens [s. Anm. 20], Bd. 2, S. 666f.). Knigge an Weishaupt, 1. Juli 1783, StA Hamburg 614-1/72, Gr. Loge, Nr. 1260: »Könnten Sie, nachdem Sie uns hier in Utica die Freude gemacht hätten uns Ihre Gegenwart zu schenken, zu dem Prinzen Carl nach Cassell reisen; so würde das gewiß großen sehr großen Nutzen stiften.« 36 Stolberg-Roßla an Weishaupt, 10. Juli 1783, StA Hamburg 614-1/72, Gr. Loge, Nr. 1256. 37 Schreiben der Loge »Friedrich zur Freundschaft« an die Loge »St. Theodor« vom 14. Mai 1783, nach Le Forestier: Les Illuminés (s. Anm. 9), S. 385. 38 Mauvillon an Savioli Corbelli, 20. Mai 1783, nach Le Forestier: Les Illuminés (s. Anm. 9), S. 379. 39 [Friedrich Nicolai] an Mauvillon, 27. Oktober 1783. In: Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzoglich Braunschweigschen Diensten verstorbenen Obristlieutenant Mauvillon. Herausgegeben von seinem Sohn F[riedrich Wilhelm]. Mauvillon. Deutschland [Braunschweig] 1801, S. 176–181. Ich bin Reinhard Markner zu tiefem Dank verpflichtet, weil er mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass dieser Brief nicht, wie der Editor des Briefes, Mauvillons Sohn Friedrich, annimmt, von Bode stammt, sondern von Nicolai, und nach inhaltlichen Indizien (etwa die Erwähnung des Oberpolizei-Inspektors, vgl. Anm. 67) auch nicht 1782 (wie in der Edition vermerkt), sondern 1783 verfasst worden ist. Markner hat mir auch einige Entschlüs-

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und zu analysieren. Der Brief war das Resultat einer peinlichen Panne. Mauvillon und Nicolai hatten sich kennengelernt, als der Berliner Verleger und Aufklärer auf seiner großen Reise durch Deutschland und die Schweiz im Oktober 1781 in Kassel vorbeigekommen war.40 Beide waren Freimaurer und wussten davon. Seit April 1782 war Nicolai nun auch Mitglied des Illuminatenordens; Knigge mag Mauvillon davon berichtet haben.41 Doch bei der Korrespondenz spielt das, wie wir sehen werden, nur eine nachgeordnete Rolle. Mauvillon hatte Nicolai offenbar von seinen Plänen erzählt, die Freimaurerei zu reformieren und seine eigene Loge (oder eventuell eine neue Loge) entsprechend zu gestalten. Vielleicht ging es auch bereits um einen möglichen Wechsel Mauvillons nach Braunschweig.42 Auch Nicolai war ein entschiedener Gegner von jeglichem Mystizismus und speziell der Legenden von der Abkunft von den Tempelherren. So hatte Mauvillon Nicolai geschrieben und ihn um Ratschläge gebeten. Nicolais Antwort war aber beim falschen Adressaten angekommen. Möglicherweise war auf seinem Brief nur vermerkt »An den Meister vom Stuhl der Kasseler Loge« – jedenfalls war der Brief nicht der Loge »Friedrich von der Freundschaft«, sondern der Loge »Zum gekrönten Löwen« und ihrem Meister zugestellt worden. Dummerweise hatte Nicolai aber Mauvillon darin vor den Umtrieben der Strikten Observanz gewarnt. Johann Wilhelm Christian Gustav Casparson, der Meister vom Stuhl des »gekrönten Löwen«,43 war natürlich entrüstet und hatte den Brief sofort an die Zentrale in Braunschweig weitergeleitet. Dort saß Johann Friedrich von Schwartz, der seit 1772 Geheimer Kämmerer und Sekretär von Herzog Ferdinand von Braunschweig war, außerdem Meister vom Stuhl der Braunschweiger Loge »Zur gekrönten Säule«.44 Schwartz war unter dem Decknamen »ab Urna« hochrangiges Mitglied der Strikten Observanz, zeitweilig sogar deren Generalsekretär.

|| selungen von Abkürzungen nahegelegt, die ich zum Teil übernehme. Mauvillon hatte den Brief unter den Briefen Bodes an ihn abgelegt, möglicherweise weil er ihn Bode geschickt und dann wieder zurückbekommen hatte. 40 Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten. 12 Bde. Berlin 1783–1796. Vgl. Ingeborg Stolzenberg: Friedrich Nicolais Reise durch Deutschland und die Schweiz 1781. Eine Dokumentation nach den Stammbüchern seines Sohnes Samuel in der Staatsbibliothek zu Berlin. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 49 (1998), S. 171–219. 41 Reinhard Markner: »Ihr Name war auch darauf.« Friedrich Nicolai, Johann Joachim Christoph Bode und die Illuminaten. In: Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. Hg. von Rainer Falk und Alexander Košenina. Hannover 2008, S. 199–226. 42 Der Weggang hing wohl auch mit dem schon absehbaren Ende Landgraf Friedrichs II. und der Aversion seines Nachfolgers, Erbprinz Wilhelm, sowohl gegenüber den Freimaurern als auch dem Collegium Carolinum zusammen. 43 Zu ihm vgl. ADB, Bd. 4, Leipzig 1876, S. 57. 44 Zu Schwartz und zur Freimaurerloge vgl. Wilhelm Dahl: Abriss der Geschichte der Carl zur Gekrönten Säule von 1744 bis 1894. Braunschweig 1894; Klaus-Michael von Swiontek: 250 Jahre

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Was tat Schwartz? Er griff zur Feder und schrieb direkt und unumwunden an Mauvillon. Keine einfache Situation. Mauvillon war etwas ratlos und schickte eine Abschrift dieses Briefes an Nicolai, mit der Bitte, ihn zu kommentieren und seine Einschätzung zu geben. Immerhin war Nicolai Mitglied der National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln« in Berlin, die sich zwar seit 1779 nicht mehr an die Strikte Observanz gebunden fühlte, ohne sich aber vom Logenverband Ferdinands von Braunschweig zu trennen. Daher kannte er die Persönlichkeiten dieses Ordens und ihre Decknamen.45 Es ist dieser Antwortbrief Nicolais, der uns (in einer leider sehr fehlerhaften Edition) überliefert ist. Nicolai beginnt:46 Ich kenne den ab Urna als einen sehr feinen47 Mann, und der die Sup[eriores] Inc[ogniti] [die unbekannten Oberen des Ordens48] sehr genau kennt, und so unbefangen er sich auch anstellt, doch gewiss eine von den Hauptpersonen ist, um in de[r] M[aurere]y allen ihren Triebfedern Spielraum zu verschaffen.

Schwartz, das will Nicolai damit sagen, ist kein unbeschriebenes Blatt, er ist eine erfahrene, subtil vorgehende Führungsfigur in der Strikten Observanz.49 »In dem verirrten Briefe hatte ich Sie gewarnt«, so Nicolai, »gegen B. und auch gegen Ihren Collegen mistrauisch zu seyn. Diese Warnung gieng hauptsächlich gegen diesen ab Urna.50 Er wird sie sehr wohl verstanden haben, und sie mir gewiss nicht vergeben, ob er gleich weislich in seinem Briefe nichts davon sagt.« Da Nicolai so sehr auf Schwartz eingeht, mag es sein, dass die beiden bereits das Feld für einen mögliche Anstellung Mauvillons in Braunschweig sondieren und über Möglichkeiten nachdenken, freimaurerische Reformaktivitäten dort durchzuführen. Mit »B« wäre dann ein Braunschweiger Akteur gemeint, und mit dem »Collegen« ein künftiger Kollege Mauvillons am Braunschweiger Collegium Carolinum.51

|| Freimaurerloge Carl zur gekrönten Säule 1744–1994 – gestiftet am 12. Februar 1744 im Orient Braunschweig. Matrikel Nr. 15. Niedersachsens älteste Loge. Braunschweig 1994. 45 Vgl. Markner: »Ihr Name« (s. Anm. 41), S. 211; Steiner: Freimaurer (s. Anm. 3), S. 51. 46 Der eigentliche Beginn des Briefes fehlt offenbar. 47 Im Sinne von: raffiniert, verschlagen. 48 Aus Nicolais Sicht letztlich die Jesuiten. 49 Nicolai sieht Schwartz sogar als Werkzeug der Jesuiten. 50 Nicolai hatte sich durch Johann Christian Samuel Gohl an Schwartz empfehlen lassen, aber es kam laut Ingeborg Stolzenberg nicht zu einer Begegnung. Vgl. Schwartz an Herzog Ferdinand, 17. Oktober 1781, Archiv des Dänischen Freimaurerordens Kopenhagen. 51 Falls sich die Warnung aber doch auf Kassel bezieht, so könnte mit »B« Ernst Gottfried Baldinger gemeint sein, ein berühmter Arzt, der kurz davor stand, Leibarzt am Kasseler Hof zu werden und sich in der Folgezeit als Marburger Professor auch in Geheimgesellschaften stark engagierte. Vgl. Haaser: Spätaufklärung (s. Anm. 10); Christine Haug: Die Bedeutung der radikal-demokratischen Korrespondenzgesellschaft »Deutsche Union« für die Entstehung von Lesegesellschaften in Oberhessen im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 2: Frühmoderne. Hg. von Erich Donnert. Köln 1997, S. 299–321. Baldinger wurde

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Wovor hatte Nicolai Mauvillon warnen wollen? Offenbar vor der Loyalität dieser Männer in der Strikten Observanz. Ob es sich nun um Kasseler oder um Braunschweiger Personen handelte – Nicolai schien evident, dass sie jegliche Versuche, sie für eine andere Form von Freimaurerei abzuwerben, an die Führung melden würden. Daher sagt Nicolai auch: »Diese Warnung gieng hauptsächlich gegen diesen ab Urna«, war also auf Schwartz bezogen, der als rechte Hand Ferdinands die Fäden der Strikten Observanz zusammenhielt. Schwartz hatte in seinem Brief an Mauvillon nicht direkt gegen Nicolais Worte gewettert, aber es war klar, dass er dessen konspirative Ratschläge zutiefst missbilligt hatte. Nicolai wird jetzt grundsätzlicher: Diese Herren sind sehr aufmerksam auf alle Personen, die ihnen auf irgend eine Art einmal nützlich oder schädlich seyn können. Mein Buch von T. H. hat ihnen genug gezeigt, daß wenn es mir einmal einfiele aktiv zu werden, das was ich thäte, ihnen nicht gleichgültig seyn würde.

Nicolai hatte nämlich – im Februar 1782, zum Anlass des Wilhelmsbader Konvents – eine ausführliche Schrift publiziert, Versuch über die Beschuldigungen welche dem Tempelherrenorden gemacht worden, und über dessen Geheimniß: Nebst einem Anhange über das Entstehen der Freymaurergesellschaft.52 Darin betrachtete er mit historischen Argumenten die Geheimnisse der Templer und zerstörte im Anhang die von der Strikten Observanz favorisierte Genealogie, zu den Templern der Kreuzzüge zurückzureichen, denn er sah die Freimaurerei als Spross der Rosenkreuzerei des frühen 17. Jahrhunderts.53 Zwar war Nicolai als Maurer eher passiv, aber das Buch zeigte die antiokkultistische Richtung an, die er nehmen würde, wenn er wie Mauvillon aktiv organisatorisch tätig würde. Schwartz und seine Gesinnungsgenossen hatten das registriert, wie Nicolai zu bemerken meint: »Ich habe dies genugsam an dem feinen a fonte irriguo gemerkt, der bey seinem Durchreisen keinen Menschen als mich besuchte, ob ich ihn gleich || Mitglied der Loge »Friedrich von der Freundschaft« in Kassel. Mit dem Kollegen am Collegium Carolinum wäre dann hingegen wohl Casparson gemeint. Er war dort seit 1760 Professor für Geschichte und schöne Literatur und wirkte maßgeblich als Hochschulreformer und Geheimbündler. Im »Gekrönten Löwen« war er seit 1775 der Meister vom Stuhl. Zu ihm vgl. ADB, Bd. 4, Leipzig 1876, S. 57. 52 Berlin und Stettin 1782. Das Buch richtet sich unter anderem gegen Karl Gottlob Anton: Versuch einer Geschichte des Tempelherrenordens. Leipzig 1779, das die Schuld für den Untergang des Ordens beim französischen König und den Bischöfen sah. Nicolai hingegen sah auch eine gewisse Eigenschuld des Ordens gegeben. 53 Zu den Kontexten von Nicolai als Streiter für die Aufklärung und gegen Obskurantismus und »Jesuitismus« vgl. Ralf Klausnitzer: Poesie und Konspiration. Beziehungssinn und Zeichenökonomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur und Wissenschaft 1750–1850. Berlin 2006; weiter Horst Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai. Berlin 1974; Rainer Falk: »Sie hören nicht auf, sich um unsre Litteratur, und ihre Freunde, verdient zu machen« – Friedrich Nicolai (1733–1811). Halle 2012.

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sonst gar nicht kannte, auch mit Lobeserhebungen überhäufte, die ich für das nahm was sie würklich sind.« A fonte irriguo war der Ordensname von Ernst Traugott von Kortum in der Strikten Observanz, damals geheimer Sekretär des polnischen Königs.54 Pikanterweise ist Schwartz im Jahr 1783 auch Illuminat geworden, und Kortum war nahe daran, doch noch waren sie führend in der Strikten Observanz.55 Vielleicht näherten sie sich auch nur den Illuminaten, um den so expandierenden Konkurrenzorden auszuspionieren.56 Kortum jedenfalls hatte bei seinem Aufenthalt in Berlin in der Durchreise von Braunschweig nach Warschau im Januar 1783 Nicolai offenbar sehr umworben, vielleicht weil er ahnte, dass dieser ein unsicherer Kantonist im Blick auf die Strikte Observanz sei. Nicolai fährt fort in seinem Schreiben an Mauvillon und beurteilt den Brief, den Schwartz an diesen geschickt hatte: Sein Brief an Sie ist auch höchst fein57 und [j]es[uiti]sch. Daß er ihn sollte zurückgehalten haben, dazu war er viel zu klug. Durch das freywillige Wiedersehen hoffte er Ihr Zutrauen zu erhalten, weiter zu erfahren, was Sie und ich vorhaben, und sich indirecte darin zu mischen.

Offenbar hatte Schwartz Mauvillon ein Treffen vorgeschlagen, da er nun von dessen Absichten erfahren hatte, Brüder für eine reformierte Freimaurerei anzuwerben. Das Treffen, so mutmaßt Nicolai, würde ihm dazu dienen, Mauvillon auszuhorchen. »Er sagt zwar [de]r a lil. conv. habe an manchen Orten fehlgeschossen, und beruf[t] sich dabey auf den a fonte irr.« Wieder Decknamen aus der Strikten Observanz. A lilio convallium war Johann Joachim Christoph Bode, der auf dem Wilhelmsbader Konvent vor der Verstrickung des Ordens mit den Jesuiten gewarnt hatte, während Knigge am Rande der Veranstaltung für den Illuminatenbund Mitglieder warb, zunächst Bode selbst.58 Bode habe, hatte Schwartz Mauvillon gegenüber insinuiert,

|| 54 Zu Kortum vgl. Constant von Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich. Wien 1864, Bd. 12, S. 471f.; Christoph Mecking: Ernst Traugott von Kortum. In: Aufklärung 7 (1994), S. 101f. 55 Kortum ist zwar von Ditfurth zur Aufnahme vorgeschlagen worden, diese ist aber offenbar nie erfolgt. 56 Für solche Strukturen und Absichten vgl. W. Daniel Wilson: Geheimräte gegen Geheimbünde: Ein unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte Weimars. Stuttgart 1991. 57 Im Sinne von: verschlagen. 58 Vgl. Bodes auf dem Konvent verteilte Broschüre: Anbefohlenes Pflichtmäßiges Bedenken über das höchstverehrliche provisorische Circulaire S.M.S.O. à Victoria, sub dato 19 Sept. 1780, einen allgemeinen [Ordens-] C[on]v[en]t betreffend. Arbeiten Fr. Christoph Eques a Lilio Convallium. [Braunschweig] 1781 (jetzt vollständig in Helmut Reinalter [Hg.]: Aktenedition über den Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent. Basel 2018, Bd. 1, und 2021, Bd. 2, S. 184–203). Zu Bode vgl. CordFriedrich Berghahn, Gerd Biegel, Till Kinzel (Hg.): Johann Joachim Christoph Bode. Studien zu Leben und Werk. Heidelberg 2017. Zu Bodes Wirken in der Strikten Observanz vgl. Reinhard Markner: Bode und Schubart. Kreuz- und Querzüge zweier Ritter der Strikten Observanz (in Vorbereitung).

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mit seinen Thesen teilweise danebengelegen, was A fonte irriguo, also Kortum, bestätigen könne. »Dieser ist aber selbst«, beeilt sich Nicolai hinzuzusetzen, »eine gänzliche Kreatur der J[esuiten] und hat auf dem Convent zu Wilhelmsb[ad] den guten a Lil. conv. [also Bode] unter dem Schein der Freundschaft, und als ob er mit ihm gegen die [J]es[uiten] arbeiten wollte, weidlich bey der Nase herum geführt.« Man sieht hier die Untiefen der wechselseitigen Dissimulationen unter den Freimaurern in Wilhelmsbad. Niemand konnte – so zumindest sah Nicolai es – sicher sein, ob die Person, die er heimlich ansprach, um sie abzuwerben, auch ehrlich war, wenn sie Freundschaft und Interesse signalisierte – auch Bode nicht.59 »Ab Urna«, fügt Nicolai in Klammern hinzu, »trug ja auf dem Convent durch die Connexion mit den Leuten qu[aestionis]60 eine Pension von 400 R[eichs]th[a]l[e]r als Secr[etarius] perp[etuus] Ord[inis] davon.« Nicolai war nicht selbst dagewesen, war aber augenscheinlich durch seine Informanten bestens im Bilde.61 »Auch ist er sehr schlau dessen insinuirt daß sich die Katholiken aufklären, und die Protestanten verfinstern. Das ist so ein schielender Blick, die Idee zu erregen, als ob uns doch wohl von Seiten der Kathol[iken] Aufklärung bevorstünde.« Das war ein zentrales Thema für Nicolai, und seine große Besorgnis. Nicolai sah die Katholiken ganz und gar nicht auf dem Weg in die Aufklärung, sondern seit der Aufhebung des Jesuitenordens im Jahr 1773 im Geheimen dabei, den Protestantismus mit allen Mitteln zu bekämpfen und zu unterminieren. Wenige Jahre später sollte er eine der großen publizistischen Schlachten der Spätaufklärung ausfechten, die diesem Thema gewidmet war.62 So konnte ihm eine Aussage wie die von Schwartz nur hochverdächtig erscheinen. »Ein wichtiges Zeichen, daß er nicht de bonne foi ist, dass er leugnen will, daß H. gegen den a Vict[oria] die Katholische Religion gepriesen habe, wovon er doch das Gegentheil wissen muss.« A Victoria war niemand anderes als Herzog Ferdinand von Braunschweig, der gewesene Feldmarschall und Großmeister der Strikten Observanz, Präsident beim Wilhelmsbader Konvent – später ebenfalls

|| 59 Ein gutes Beispiel für diese scheinheilige Art von Freundlichkeit ist der Umgang von Karl von Hessen mit Franz Dietrich von Ditfurth auf dem Wilhelmsbader Konvent, den dieser freimütig in wörtlicher Rede schildert; abgedruckt in Hammermayer: Wilhelmsbader (s. Anm. 25), S. 114–133, bes. S. 115–117. 60 Den fraglichen, also betreffenden Leuten. 61 Knigge hatte ihm ausführlich berichtet. Vgl. Knigge an Nicolai, 30. Juli 1782: »Ich bitte Sie, theuerster Freund! Nur heute in Eil um eilige gewogene Besorgung der Einlage – In meinem nächsten Briefe werde ich über den Innhalt desselben reden, Ihnen wiederum neue Papiere schicken, allerley vom Convente erzählen, und Ihnen weitläufiger die Versicherungen meiner unbegränzten Hochachtung wiederholen« (Adolph Freiherr Knigge – Friedrich Nicolai. Briefwechsel 1779–1795. Hg. von Mechthild und Paul Raabe. Göttingen 2004, S. 48). 62 Vgl. Jean Blum: J.-A. Starck et la querelle du Crypto-Catholicisme en Allemagne 1785‒1789. Paris 1912; Klausnitzer: Poesie und Konspiration (s. Anm. 53).

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Illuminat unsicherer Provenienz.63 Falls mit H. der schlesische Graf Christian August von Haugwitz gemeint ist, mag die Anspielung stimmen, denn Haugwitz hatte 1780 sein eigenes mystisch-spirituelles Hochgradsystem errichtet und damit im Vorfeld des Wilhelmsbader Konvents beträchtliches Aufsehen erregt64; katholisierende Tendenzen lagen solchem Mystizismus nicht fern.65 H. hat sich dessen gegen vertraute Fr[eimaurer] selbst gerühmt und ich kenne jemand der den Aufsatz gelesen hat. Aber freylich ist Leuten wie ab Urna sehr daran gelegen, daß eine so offenbar verfängliche Schrift, nicht könne verificirt werden, und allezeit widersprochen bleibe.66

Aufgrund des Dienstverhältnisses zwischen Schwartz und Ferdinand stellte sich für Nicolai natürlich die Frage, ob sein fehlgegangener Brief sogar bei Ferdinand von Braunschweig gelandet war. Daß ab Urna meinen Brief dem a V[ictoria] [Ferdinand] vorgelesen hätte, würde noch das wenigste seyn. Aber ich glaube nicht einmal daß dieses geschehen sey. Alle Umstände zeigen daß der redliche a V[ictoria] nicht ins Innerste des Geheimnisses ist. Er ist in den Händen dieser Leute, die die Standart zu der der T[empel] H[erren] schwenken. Sie war in Ansehen so lange sie erhalten ward, und wenn man sie nicht brauchte, ward sie in den Winkel gesetzt. Aber doch bin ich gewiß, daß mein Brief copirt und studirt, und sogleich Auszüge an verschiednen Orten zu den Sup[eriores] Inc[ogniti] sind geschickt worden.

|| 63 Zu ihm vgl. Jakob Mauvillon: Geschichte Ferdinands Herzogs von Braunschweig-Lüneburg. 2 Bde. Leipzig 1794; Hammermayer: Der Wilhelmsbader (s. Anm. 25), passim; Kneisner: Karl (s. Anm. 26), S. 147–166 (Briefwechsel Karls von Hessen mit Ferdinand von Braunschweig aus dem Archiv der Loge »Carl zur gekrönten Säule«). 64 Zu Haugwitz vgl. Hammermayer: Der Wilhelmsbader (s. Anm. 25), passim; biographisch S. 162f; Friedrich Fuchs: Graf von Haugwitz und die Kreuzfrommen. Leipzig 1895; Joachim Kühn: Freimaurerische Briefe des Landgrafen Karl von Hessen an den Grafen von Haugwitz. In: Hessenland 29 (1915), S. 17–19, S. 35–37; Tilman Hannemann: Religiöser Wandel in der Spätaufklärung am Beispiel der Lavaterschule 1770–1805. Göttingen 2017, S. 164f. 65 Zum Einfluss von Haugwitz auf Ferdinand vgl. den Bericht von Franz Dietrich von Ditfurth (damals als Abgeordneter für die Präfektur Wetzlar unter dem Ordensnamen der Strikten Observanz »Franciscus E. ab Orno« Teilnehmer) über den Wilhelmsbader Konvent, in: Hammermayer: Der Wilhelmsbader (s. Anm. 25), S. 115: »Kluge Brüder, denen es zugleich bekannt war, wie schwach der an sich gute Fürst a Victoria an Geistes-Gaben ist, und daß Schwärmer und Phantasten bei ihm einen weiten Wirkungskreis haben, daß ein Pietist, oder Schwärmer, Namens Hauchwitz, der ein neues Maurer-System, zu dem sich alte Spitalweiber am Besten schicken würden, ausgeheckt hat, bei demselben Eingang finde […] stellten sich nichts Gutes von der Sache vor, dachten im Voraus auf neue Verbindungen oder waren Willens, die Maurerey ganz aufzugeben.« Vgl. ebd. S. 122: »Von Anderen habe ich gehört, der Herzog Ferdinand habe gesagt, die einzig ächte christliche Religion sei die römisch-katholische; wie er nun dazu als sonst eifriger Protestant ohne alle Aufklärung durch den Pietismus [des von Haugwitz] kommt, mag Gott wissen.« 66 Während des Konvents wurden diverse Aufsätze entweder vorgetragen oder zirkulierten unter den Delegierten, um diskutiert zu werden. Vgl. Reinalter: Aktenedition über den Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent (s. Anm. 58).

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Ferdinand in den Händen von Männern wie Schwartz und Kortum, und die in den Händen der Jesuiten – das ist die Lage, wie Nicolai sie sich vorstellt. Und da er schon bei dunklen Machenschaften ist, setzt Nicolai seine Analyse mit der Prognose von Bespitzelung fort – als Konsequenz der Aufdeckung durch den fehlgegangenen Brief: Darauf machen Sie sich nur gefasst, daß Sie und ich mit Emissarien werden umgeben werden, und daß alles was nun wohl geschehen soll, viel grössre Schwierigkeiten haben wird. Trauen Sie niemand als den Sie ganz kennen, auch nicht dem Sohne des Mannes, wenn er gleich vorgiebt, er traue seinem Vater nicht. Für das freundschaftliche Wesen dieser Leute ist sich mehr zu hüten als für ihre Feindseligkeiten, Sie wählen um Ihre Absichten zu erreichen den sanften Weg immer, und nie den feindseligen als wenn sie gewiß sind, daß sie ihren Schlag nicht verfehlen können. Auch unsre Correspondenz muß sehr vorsichtig seyn. Besichtigen Sie jeden Brief sehr genau, ob er nicht geöffnet worden.

Das Öffnen von Briefen war in Postämtern eine allzu gängige Praxis; Mauvillon ist später ja selbst mehrmals ihr Opfer geworden.67 Nicolai gibt sogar konkrete Einblicke in das von Gold- und Rosenkreuzern durchsetzte Postwesen in Berlin: Hier ist kürzlich ein F[rey] M[aurer] der ziemlich tief im Innersten des Geheimnisses ist, OberPolizey-Inspector geworden.68 Dieser muß sich also Amtswegen um alle Fremde bekümmern. Die P[os]t und R[osen] C[reuzer] sind sehr freundschaftlich, sie geben gewiß auf meine Schritte Achtung.

War Nicolai paranoid? Fühlte er sich ohne Grund verfolgt und bespitzelt? Nun, in gewisser Weise hatte er weit übertriebene Befürchtungen über die Machenschaften der Jesuiten. Auf der anderen Seite aber gewann in dieser Spätphase der Regierungszeit Friedrichs des Großen, als der Kronprinz für die Rosenkreuzer gewonnen werden konnte, das konservative Hochgradfreimaurertum tatsächlich mehr und mehr Einfluss auf die Institutionen des Staates.69 Und auch in Kassel gab es seit 1781 konservative Rosenkreuzer.70

|| 67 Sowohl bei Knoblauchs abgefangenen Brief an ihn als auch bei seinem abgefangenen Brief an Cuhn. Knoblauch hat die Praxis öffentlich angeprangert: Etwas über das Recht eines Staats, Briefe, die an ihn nicht geschrieben sind, zu erbrechen und zu unterschlagen. In: Neuer Teutscher Merkur 1791, Stück 9, S. 139–142. Zur Spionagepraxis allg. vgl. Anne-Simone Rous: Geheimdiplomatie in der Frühen Neuzeit. Spione – Chiffren – abgefangene Briefe, erscheint Stuttgart 2022. 68 Nicolai meint Franz Wilhelm Marchand. Vgl. Karlheinz Gerlach: Die Freimaurer im Alten Preußen. Die Logen in Berlin. Innsbruck 2014, S. 166. Allerdings zeigt die Aktenlage – über die mir AnneSimone Rous Auskunft gibt – eher wenig Evidenz über Bespitzelungen. Die meisten Informationen in dieser Sache versiegen nach 1763. Zudem lag der Fokus eher auf der Außenpolitik als auf der Überwachung der Bevölkerung. Vgl. aber GStA PK in Berlin, I. HA Rep. 103 Generalpostmeister bzw. Generalpostamt, Nr. 865: Acta betr. das Briefgeheimniß verdächtiger Briefwechsel. 69 Zu den Berliner Gold- und Rosenkreuzern vgl. Horst Möller: Die Bruderschaft der Gold- und Rosenkreuzer. Struktur, Zielsetzung und Wirkung einer anti-aufklärerischen Geheimgesellschaft.

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Wie also sollten sich Nicolai und Mauvillon angesichts dieser Lage verhalten? Nicolai schlägt vor: Meine Idee wäre: wenn Sie meine Aufklärungen der ganzen Fr[ey] M[aurerei] gründlich finden, so sollte[n] in [der Loge] als Receptionsrede die Hauptideen gegeben und hernach als Instructions[-Loge] […]71 die weitere Ausführung ganz offenherzig gegeben, und die M[aure]r für [=vor] all i[hre] Unbekannten Obern – Geheime Wissenschafts- und Verstandes-Lähmungen gewarnet werden. Auch müßte man so viel möglich ihnen von der Beschaffenheit aller Freymaurer Systeme auch der Innern, und der Jes[uitischen] Beschaffenheit eines jeden Auskunft geben.

Gefordert war also eine ähnliche Rede, wie sie Bode in Wilhelmsbad gehalten hatte. Nicolai gibt hier sehr konkrete Hinweise für eine programmatische Reform der Kasseler Logen – Hinweise, die Mauvillon auch befolgt hat, als er im Jahr darauf seine neue Loge »Zum Tempel der wahren Eintracht« gründete und mit einer wegweisenden Rede eröffnete. Er orientierte sich dabei, wie von Nicolai empfohlen, an dessen Anhang zum Tempelherrenbuch: Über das Entstehen der Freymaurergesellschaft. »Zu dem Behufe«, fährt Nicolai fort, müßten die Rituale so viel möglich gesammelt werden, und künftig jeder Bruder noch mehr dazu beytragen. Um dieses zu bewirken wünsche ich, daß Sie die 3 Grade die Sie geändert haben noch nicht einführten, bis Sie meine Ideen erhalten hätten. Vielleicht ließe sich etwas conformes einrichten. Br[uder] M.72 könnte mir vielleicht die 3 Grade mitbringen. Wenigstens den 4ten Grad könnte ich hier mit ihm entwerfen, und ihrem Ermessen das übrige überlassen. Besser wäre es freylich, wenn die 3 ersten Grade so eingerichtet würden, daß nichts dem widerspräche, was man am Ende sagen wollte.

|| In: Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa. Hg. von Helmut Reinalter. Frankfurt a. M. 1983, S. 199–239; Karlheinz Gerlach: Die Gold- und Rosenkreuzer in Berlin und Potsdam (1779–1789). Zur Sozialgeschichte des Gold- und Rosenkreuzerordens in BrandenburgPreußen. In: Quatuor Coronati Jahrbuch 32 (1995), S. 87–147; Dirk Kemper: Obskurantismus als Mittel der Politik. Johann Christoph von Wöllners Politik der Gegenaufklärung am Vorabend der Französischen Revolution. In: Von »Obscuranten« und »Eudämonisten«. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert. Hg. von Christoph Weiß in Zusammenarbeit mit Wolfgang Albrecht. St. Ingbert 1997, S. 193–220; Reinhard Markner: Imakoromazypziloniakus. Mirabeau und der Niedergang der Berliner Rosenkreuzerei. In: Sozietäten – Netzwerke – Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung. Hg. von Markus Meumann und Holger Zaunstöck. Tübingen 2003, S. 215–230; Renko Geffarth: Religion und arkane Hierarchie: Der Orden der Gold- und Rosenkreuzer als Geheime Kirche im 18. Jahrhundert. Leiden 2007. Zu den Kasseler Rosenkreuzern vgl. ausführlich Steiner: Freimaurer (s. Anm. 3), S. 61–131. 70 Meidenbauer: Aufklärung (s. Anm. 10), S. 366–372. 71 Hier ist der gedruckte Text offensichtlich korrupt. 72 Nicht identifiziert.

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Das Bild, das sich hier ergibt, ist erstaunlich. Man hatte von Nicolai bisher den Eindruck, dass er sich als Freimaurer eher zurückgehalten habe, doch in dieser Situation ein Jahr nach dem Wilhelmsbader Konvent sieht man ihn zusammen mit Mauvillon in höchster Aktivität am Entwerfen von Reformgraden und neuen Instruktionen. An seinem Berliner Schreibtisch macht er sich zudem laufend weiter Notizen in sein Buch von den Tempelherren, um die Nachforschungen auf dem neuesten Stand zu halten.73

Abb. 1: Friedrich Nicolai: Versuch über die Beschuldigungen welche dem Tempelherrenorden gemacht worden, und über dessen Geheimniß. Nebst einem Anhange über das Entstehen der Freymaurergesellschaft. 2 Bde. Berlin, Stettin 1782; Handexemplar Nicolais, FB Gotha P 8° 12900.

Nicolai liefert die Ideen, Mauvillon ist dabei, sie in Kassel exemplarisch umzusetzen.74 || 73 Handexemplar Nicolais, FB Gotha P 8° 12900. Nicolai bereitete eine zweite Auflage vor. 74 Nicolai fährt fort mit einer Reflexion über die zu erwartenden Schwierigkeiten: »Aber freylich ich befürchte sehr dass sie grosse Schwierigkeiten finden werden, die Instruktion in Ihre [Logen] einzuführen, Die Emissarien werden die besten Absichten zu vereiteln wissen. Die Jes[uiten] sind so schlau, dass es sehr schwer, ja beynahe unmöglich seyn wird, sie zu überlisten. Sie verstehen das Temporisiren sehr gut, lassen den ersten Eifer verrauchen, bleiben immer beysammen, vereinigen die besten Menschen, (geschiehts nicht schon?) bemächtigen sich entweder ihrer einzeln, oder ermüden sie, dass sie aufhören, und denn haben Sie gewonnenes Spiel. Nicht zu gedenken, wie tref[f]l[ich] sie sich der Autorität der Fürsten bedienen.« – » Hofr. Leutschering [Leuchsenring] ist mein sehr guter Freund. Es ist ein wackrer Mann, aber er ist höchst zurückhaltend, und ohnerachtet

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Es scheint mir bezeichnend, dass bis hierhin von den Illuminaten überhaupt nicht die Rede ist. Nicolai und Mauvillon sind zu diesem Zeitpunkt mit einer Reform der Freimaurerei beschäftigt; zumindest Nicolai ist eher noch skeptisch gegenüber der neuen Alternative zur Strikten Observanz, für die sich Knigge und Bode so sehr einsetzen. So schreibt er: Wegen den Jll[uminaten] bin ich noch sehr ungewiss was ich dazu denken soll. Daß Spartacus [i. e. Weishaupt] der ostensible Obere war, wußte ich schon. Er hat eine Frau aus Eichstädt wo die [S]up[eriores] Inc[ogniti] grosse Macht haben. Das ganze Innere ist Jesuitisch.

Wegen seines extremen Argwohns gegenüber den vermeintlich kryptojesuitischen Aktivitäten von »Unbekannten Oberen« im Hintergrund ist Nicolai auch der aus Bayern stammende Illuminatenbund verdächtig; selbst die Herkunft von Weishaupts Frau muss dabei als Indiz herhalten.75 Auf der anderen Seite sieht Nicolai allerdings, wie sehr die »Jesuiten« den Orden verfolgen: »Von der anderen Seite arbeiten die Jes[uiten] mit Macht um die Ill[uminaten] zu vertilgen. Hier [in Preußen], in Sachsen, in Bayern sind alle [Logen] vor den Ill[uminaten] gewarnet worden.« Die Einschätzung ist also schwierig. Dem scheint zu entsprechen, dass auch Mauvillon gegenüber Knigge einige Vorbehalte geäußert hat. Das kann Nicolai nicht nachvollziehen: »Apropos warum halten Sie Philo für zweydeutig? Ich habe ihn immer für einen ehrlichen aber etwas scheinheiligen Mann gehalten.«76

|| er grosse Ideen zu haben scheint, doch nicht thätig wenn es aufs ausführen ankömmt. Sie sagen mein Th[eurer] die Jes[uiten] werden sich mit den T[empel] H[erren] [= der Strikten Observanz] vereinigen. Glauben sie mir die Jes[uiten] sind T[empel] H[erren]. J[gnatius] wollte wie es scheint diesen ausgeloschenen, und in der Stelle unterhaltenen O[rden] wieder herstellen, darum fieng er mit 9 Sociis zuerst an. Die T[empel] H[erren] in allen 9 Provinzen, so wie alle innern Systeme der Fr[ei] M[aure]r sind würklich Jes[uitisch], die 6 Grade sind affilirte, der 7te ist der Clericat weil die Priesterweihe die 7te Weihe ist. A Lil[io] Conv[allium] [= Bode] hat dies in seinem Manuscripte sehr wohl aus einander gesetzt. Er führt eine Stelle aus Harenb[ergs] Gesch[ichte] der Jes[uiten] an woraus erhellet, dass die jesuitische Generale in Parag[u]ay das Präfecten Kleid öffentlich getragen haben. Dieses Manuscript habe ich gelesen, besitze es aber nicht. B[ode] kann es auch nicht mittheilen, weil er nie sein Brouillon abschreibt. Sehen sie zu ob es Ihnen ab Urna communiciren will. Aber er wirds nicht thun, oder einen zu hohen Preis darauf setzen. Schreiben Sie ihm nur, Sie wüssten es wäre in der O[rdens] Druckerey als eine von den Beantwortungen auf die 1ste Frage a V[ictorias] gedruckt. Er möchte Ihnen doch ein Exemplar schicken.« Zu Leuchsenring vgl. Reinhard Markner: Franz Michael Leuchsenring, »Philosoph ambulant« in Berlin und Zürich. In: Aufklärung 24 (2012), S. 173–205. Zu Bodes Theorie von der Parallelität jesuitischer Grade und der Grade der Strikten Observanz vgl. Klausnitzer: Poesie und Konspiration (s. Anm. 53), S. 187–215. Nicolai spricht von Bodes Schrift: Anbefohlenes Pflichtmäßiges Bedenken (s. Anm. 58). Die Jesuitengeschichte, die Bode benutzte: Johann Christoph Harenberg: Pragmatische Geschichte des Ordens der Jesuiten, seit ihrem Ursprunge bis auf gegenwärtige Zeit. Halle, Helmstedt 1760. 75 Die Ironie liegt darin, dass Weishaupt selbst ein eingefleischter Gegner der Jesuiten war. 76 Nicolais langer Brief endet mit dem Austausch einiger weiterer Gerüchte und Mutmaßungen. »Der Landgraf von Hessen Homburg soll ja an einer Vereinigung aller Systeme der M[aure]r arbeiten

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5 Mauvillon als Werber Damit kennen wir jetzt den Hintergrund, vor dem Mauvillon stand, als er 1783 seinen Brieffreund Leopold Friedrich von Göckingk, Schriftsteller, Publizist und Beamter in Ellrich bei Nordhausen, gut 100 Kilometer von Kassel entfernt, für den Illuminatenorden zu begeistern suchte.77 Er hatte dabei auch einen Hintergedanken. Göckingk war dabei, eine neue Zeitschrift zu gründen, das Journal von und für Deutschland, und Mauvillon bot ihm seine Mitarbeit an und auch, das Journal über sein Netzwerk zu verbreiten.78 Aus Bayern, aus der Pfalz, aus der Wetterau erhalte ich Nachrichten, daß alle meine Freunde nicht nur Ihr Journal mit Unterzeichnungen, sondern auch mit zweckmäßigen Beyträgen kräftig unterstützen werden. Von Wetzlar aus habe ich den Auftrag Ihnen zu melden, daß der Practicant Buff, den Sie kennen, für diese Stadt und die dortige Gegend sorgen werde.79

Wenn man die Illuminatenverbindungen kennt, kann man schnell erkennen, wen in Bayern (Weishaupt in Ingolstadt), wen in der Pfalz (Mieg in Heidelberg) und wen in der Wetterau (Stolberg-Roßla in Neuwied80) Mauvillon wohl meint; und wenn er sagt, er habe von Wetzlar einen Auftrag erhalten, dann ist es natürlich Franz Dietrich Freiherr von Ditfurth, im Orden »Minos«, der als Illuminaten-Vorsteher der

|| wollen. Wissen Sie etwas davon?« Gemeint ist Friedrich V. von Hessen-Homburg, der von Carl von Hessen am Rande des Wilhelmsbader Konvents in den Bund der Freimaurer aufgenommen worden war. Und weiter: »Daß die Protestanten Katholisch werden ist möglich. Aber daß die Katholiken Protestanten werden, daran ist nicht zu denken. Am wenigsten durch J[oseph] II. Der Kayser hat nichts als Politik und große Entwürfe im Sinne, dazu kann die Katholische Religion wohl helfen und hilft selbst schon.« Joseph II. war seit zwei Jahren in Wien Alleinregent und setzte in der Tat auf einen erneuerten Katholizismus. Vgl. Derek Beales: Joseph II. 2 Bde. Cambridge 1987/2009; Humbert Fink: Joseph II. Kaiser, König und Reformer. Düsseldorf 1990; Helmut Reinalter: Joseph II.: Reformer auf dem Kaiserthron. München 2011. 77 Zu Göckingk vgl. ADB, Bd. 9, Leipzig 1879, S. 306–308; NDB, Bd. 6, Berlin 1964, S. 510f.; Leopold Friedrich Günther Goeckingk in Ellrich: 1770–1786. Zu seinem 250. Geburtstag hg. vom Wissenschaftlichen Verein zu Nordhausen. Nordhausen 1855. 78 Mauvillon an Göckingk, 18. Juni 1783, LB Kassel, 4o Ms Hist. litt. 37, Nr. 10: »[…] erbiethe ich mich durch eine gewiße Verbindung, das Beste Ihres Journals hoffentlich auf eine werkthätige Art, in der Wetterau, in der Pfalz, u. in Baÿern, auch eine, hoffe ich, nicht unnütze Art zu befördern: theils dadurch daß man Ihnen dort Subskribenten, noch mehr aber Beÿträge verschaffte. Schreiben Sie mir wenn Sie so gut seÿn wollen, ob Ihnen dieß Anerbieten angenehm seÿn kann, oder welchen Sie von meinem Vorschlägen überhaupt genehmigen; an der treusten Ausführung soll es von meiner Seite nicht ermangeln.« 79 Mauvillon an Göckingk, 28. Juli 1783, LB Kassel, 4° Ms Hist. litt. 37, Nr. 12. 80 Zwar ist Neuwied nicht direkt in der Wetterau, dennoch kann Stolberg-Roßla gemeint sein, sofern er sich gerade in Ortenberg aufhielt.

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»Provinz Dacien« für Kassel zuständig war.81 Mauvillon sagt es ganz offen: »Ihr Journal selbst, das ganz in dem Geiste deßelben [des Illuminatenordens] projektirt ist, hat bey uns den Wunsch erregt Sie zum Mitgliede zu haben, u[nd] könnte also den Zwecken des O[rdens] sehr beförderl[ich] seyn.«82 Aber er will Göckingk nicht mit seiner Anfrage überrumpeln. Erst fragt er ganz vorsichtig an, wie Göckingk überhaupt zur Maurerei stehe. »Verzeÿhen Sie mir eine Frage, liebster Freund? Und ertheilen Sie mir einige Antwort darauf.« Mauvillon will als erstes dem Vorurteil zuvorkommen, Freimaurerei stünde für Mystizismus und Aberglaube. Denn das würde Göckingk, da war sich Mauvillon sicher, ebensowenig goutieren wie er selbst. Ehe ich sie [die Frage] aber thue finde ich für gut Sie zu bevorworten, daß ich von allem Enthusiasmus, der sich nicht auf gerade u[nd] gesunde Vernunft, u[nd] auf ächte Menschenliebe gründet, ein abgesagter Feind bin: daß alles Uebernatürliche, Wunderbare oder auf Schimären sich gründende, an mich den stärksten unabläßligsten Widersacher findet. Nach dieser beÿ jetzigen Umständen sehr nöthige Vorerinnerung, will ich Sie fragen, Liebster Freund, ob Sie ein Freÿmaurer sein? Und mir falls Sie keiner sind, oder auch in gegenseitigem Falle, ausbitten, daß Sie mir Ihre Gedanken über den Orden freundschaftl[ich] u[nd] offenherzig schreiben. Ich habe Ursachen dazu, die wenn Sie anders kein decidirter Feind von dieser, oder jeder andern ähnlichen Verbindung sind, Ihnen gewiß nicht unangenehm seÿn werden.83

In einem zweiten Schritt redet er von sich selbst, ohne weiter in den Freund zu dringen. Er schildert Göckingk, wie sehr ihm, Mauvillon, die Augen aufgegangen waren, als die Aufnahme in den Orden durch Knigge ihn in den elitären Kreis brachte, der sehr viel mehr das verkörperte, was er wollte, als seine bisherigen eher mittelmäßigen Freimaurer-Erfahrungen erbracht hatten: »So fand ich auch einmal was ich lange umsonst suchte, eine Anzahl Männer von großen Kopf und Herz die auf denselben Zwecken losarbeiteten als ich. O wie segnete ich die Stunde da ich den Entschluß gefaßt hatte, Maurer geworden, und in meinem Vorsatz fest geblieben war.«84 Das war Resonanz, das hatte Mauvillon lange vermisst.85

|| 81 Zu Ditfurth vgl. Monika Neugebauer-Wölk: Reichsjustiz und Aufklärung. Das Reichskammergericht im Netzwerk der Illuminaten. Wetzlar 1993. 82 Mauvillon an Göckingk, 18. Juni 1783, LB Kassel, 4o Ms Hist. litt. 37, Nr. 10. 83 Mauvillon an Göckingk, 28. Juli 1783, LB Kassel, 4° Ms Hist. litt. 37, Nr. 12. 84 Mauvillon an Göckingk, 20. August 1783, LB Kassel, 4O Ms Hist. litt. 37, Nr. 13. 85 Mauvillon weiter an Göckingk, ebd.: »Wenn das ist, so will ich Sie an einen Ihnen wohl bekannten Mann weisen, der Ihnen mehr sagen, u. Sie darinn initiiren soll. sie sollen gewiß herrliche Menschen kennenlernen, u. über das Gebäude[,] das sich Ihnen eröfnen wird[,] erstaunen. Diese Männer haben gleich das Vortreffliche Ihres Journals zum Besten der Menschheit erkannt, und unterstützen es schon aus allen Kräften, auch werden sie es noch werkthätiger durch ihre Beyträge unterstützen, an denen Sie den Stempel der Freunde der Menschheit gewiß erkennen sollen; u. zwar wird dieß geschehn Sie mögen nun der Verbindung beytreten wollen oder nicht. Allein auf alle Fälle bitte ich Sie höflich über alles was ich Ihnen hier sage, das tiefste Stillschweigen zu beobachten.«

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Aber er berichtet nicht nur von seinen eigenen Erfahrungen, er greift auch Einwände auf, die Göckingk angedeutet hatte. Als ich meinem Vater meine Absicht mich [in den Freimaurerorden] aufnehmen zu laßen sagte, so rieth er mich davon ab, mit allen Gründen die Sie vorgebracht haben u[nd] mit andern die noch tiefer aus der Sache selbst hergenommen waren. Allein ich bestand noch auf meinem Sinn, u[nd] räsonnirte also: Eine Gesellschaft, deren Wesen das Geheimniß ist, die schon einmahl besteht, die allgemein, mit diesem Geheimnißvollen wesen geduldet wird, kann nichts seÿn, kann eine Thorheit seÿn, kann größtentheils aus unwürdigen Mitgliedern bestehn; u[nd] doch ist sie eine herrliche Sache, eine Sache die man aus allen Kräften versuchen muß, zu ihrem möglichen Zwecke zu nutzen, oder wenigstens, wenn dieß nicht angeht, aufrecht zu erhalten, damit die gescheutere Nachwelt sie einst dazu nutzen könne. So war mein Räsonnement beschaffen.86

Wir sehen hier, wie Mauvillon vorgeht, wenn er neue Mitglieder anwirbt. Er setzt auf Offenheit und Authentizität, und erst wenn sein Gegenüber den Idealismus, den er bei Mauvillon wahrnahm, teilt, geht er dazu über, direkt zu fragen: Da Sie mir vor tausenden als mit Kopf u[nd] Herz begabt, bekannt sind, da Liebe zur Menschheit gewiß in Ihrem Herzen glüht, u[nd] nicht der erbärmliche Egoïsmus der heutigen schwachnervichten, u[nd] eben darum hÿpochondrischen u[nd] gallsüchtigen Menschen, so frug ich an beÿ Ihnen, u[nd] frage noch an, ob eine solche Gesellschaft sie reitzen kann, hineintreten zu wollen? Wenn das ist, so will ich Sie an einen Ihnen wohl bekannten Mann weisen, der Ihnen mehr sagen, u[nd] Sie darinn initiiren soll.87

Das wäre dann Knigge, der zuständige Illuminat, der die Aufnahmen vollzog.

6 Zwischen Illuminaten und Rosenkreuzern Resonanz und Authentizität waren für Mauvillon wichtig. Wir wissen allerdings nicht, wieviel sich von dieser Resonanz und Begeisterung auf Mauvillons damit möglich gewordene Fernbeziehungen bezieht – Knigge, Bode, Weishaupt, Ditfurth und andere – und wieviel auf die Nahbeziehungen zu den Kasseler Illuminaten. Denn dass da nicht alles rund lief, zeigt ein erboster Brief, den Franz Dietrich Freiherr von Ditfurth in Wetzlar, der als Illuminaten-Vorsteher der Region für Kassel zuständig war, an Weishaupt sendet.88 Anlass ist die Aufnahme etlicher Logen in

|| 86 Ebd. 87 Ebd. 88 Ditfurth an Weishaupt, 12. Juli 1783, in StA Hamburg 614-1/72, Gr. Loge, Nr. 1254: »Die Casselische [Loge] latae observantiae, die uns beÿgetreten ist [die Loge »Friedrich zur Freundschaft«], wird aber schwerlich aufkommen, wann nicht die von Philone aufgenommenen illuminaten in dieße [Loge] gehen, und die Stricte Observ[anz] verlaßen, ich habe es Ihnen aufgegeben allein

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den Eklektischen Bund, eine Freimaurervereinigung, die auf Betreiben Ditfurths die Rituale wieder vereinfacht und alle Mystizismen und obskurante Anlehnungen an das Tempelrittertum preisgibt.89 Es ist die gleiche antiokkultistische Richtung, für die auch Nicolai, Bode und Mauvillon stehen – ja bei manchen anzuwerbenden Personen besteht sogar Verwirrung, was den Eklektischen Bund und die Illuminaten überhaupt voneinander unterscheidet.90 Die Aufnahme in diesen Bund macht im Fall der Kasseler Loge »Zum gekrönten Löwen« Schwierigkeiten, da die Loge sehr in Richtung Rosenkreuzertum abgedriftet ist. Die »blaue« Loge hingegen, die 1773 gegründete Konkurrenz »Friedrich zur Freundschaft«, steht dem Eklektischen Bund offener gegenüber; daher sollen, so Ditfurth, die Kasseler Illuminaten in diese Loge gehen, damit Fortschritte erzielt werden könnten. Doch Johann Christian von Eschwege mache Schwierigkeiten, denn man fürchte die Prinzen.91 Das ist eine interessante Aussage. Offenbar hatten die Mitglieder der Herrscherfamilie mehr Interesse an der Hochgradfreimaurei und dem Mystizismus, und die vom Hof abhängigen Ordensmitglieder mussten befürchten, bei einem Wechsel in eine andere Loge ihre Protektion zu verlieren. Ditfurth aber veranlasst das zu einem Zornesausbruch: Alles was Philo [also Knigge] aufgenommen hat, tauget in regula nichts, [vor] Leüthe[n] von Hertz und Verstand, fürchtete er sich, er suchte also mit Fleiß die schwachen Köpfe auf, um das Ruder zu behalten, und den O[rden] zu seinen eigenen Vortheilen zu nüzen, nur per errorem ist er an einige sehr guthe Leüthe gerathen.92

|| Cimon [Johann Christian Ludwig von Eschwege] macht allerleÿ Schwürigkeiten, die Leüthe fürchten sich für die Printzen, und haben beständig egoistische Gründe in petto, denen sie andern ihr Betragen colorirende substituiren, solche Leüthe hätten nicht aufgenommen werden sollen, sie machen nur unnütze Mühe, und Vereÿteln am Ende alle Zwecke. Aber alles was Philo aufgenommen hat, tauget in regula nichts, für Leüthe von Hertz und Verstand, fürchtete er sich, er suchte also mit Fleiß die schwachen Köpfe aus, um das Ruder zu behalten, und den [Orden] zu seinen eigenen Vortheilen zu nützen, nur per errorem ist er an einige sehr guthe Leüthe gerathen.« Vgl. auch Ditfurth an Weishaupt, 29.7.1783: »In meiner Provintz sind nun alle dieße Grade wieder in meinen Händen, außer epictet der seine exemplare noch besitzt. Von Cassel habe ich sie Gestern erhalten. Nun müßen neüe Grade, und kleine und große Mysterien gemacht werden, worin man die Printzen, Boden und dergleichen durchführet und in der Meÿnung läßet, das seÿe alles […].« 89 Zum eklektischen Bund vgl. Wilhelm Keller: Geschichte des eklektischen Freimaurerbundes mit einer Einleitung in die Allgemeingeschichte der Freimaurerei. Gießen 1857. 90 Vgl. Mauvillon an Savioli, 20. Mai 1783, zitiert nach Le Forestier: Les Illuminés (s. Anm. 9), S. 385: Der Illuminatenbund habe offenbar »le même objet en vue« wie der Eklektische Bund, »puisque les principes […] étaient si parfaitement les mêmes.« Vgl. Meidenbauer: Aufklärung (s. Anm. 10), S. 363f. 91 Ditfurth an an Weishaupt, 12. Juli 1783, in StA Hamburg 614-1/72, Gr. Loge, Nr. 1254. 92 Vgl. Anm. 87.

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Ditfurth geht sogar so weit zu fordern, Knigge müsse »mit seinen Priestern unschädlich gemacht werden«, dazu müsse man alle Grade als ungültig erklären, Knigges Machwerk (vor allem den »Priestergrad«) zurückfordern und neue Grade ausarbeiten.93 Das war eine unangenehme Lage. Knigge, der von Ditfurths Zorn erfuhr, rechtfertigt sich etwas kleinlaut ihm gegenüber: Den Prinzen Carl habe nicht ich, Bode hat ihn aufgenommen. Jedermann weis, daß in Cassel, wo er aufgenommen worden, ich ihn nicht einmal gesprochen habe, obgleich ich dort war. Hernach habe ich ihn des Nachts auf der Heerstraße beÿ Nordheim, außerdem gar nicht gesprochen, und stehe seit 5 Jahren so wenig mit ihm als seinen Leuten in Briefwechsel.94

Auch Mauvillon war enttäuscht über seine Loge, und man versteht jetzt, warum es nach 1783 in Kassel keine Neuaufnahmen mehr gab, und auch, warum Mauvillon nicht auf die Karte Illuminaten setzte, sondern am 16. November 1784 eine neue Loge gründete, die sich »Zum Tempel der wahren Eintracht« nannte und sofort dem eklektischen Bund anschloss.95 Hier konnte er endlich seine mit Nicolai diskutierten

|| 93 Zum Absetzungsprozess des Ordens gegenüber Knigge vgl. van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten (s. Anm. 9), S. 70–72. 94 Knigge an Ditfurth, 7. Oktober 1783, StA Hamburg 614-1/72, Gr. Loge, Nr. 1254. Was war in Nordheim geschehen? Knigge hat es am 27. März 1783 an Bode berichtet (SK05-21): »Als ich nach Nordheim kam, erwartete man den a leone resurgente, welcher die Nacht dort bleiben wollte. Ich hoffte ihn aber noch in Göttingen zu finden, ließ also gleich wieder vorspannen und fuhr weiter. Als ich zwischen Nordheim und Nörten kam und sein Wage[n] dem Meinigen begegnete, lief ein Rad von seiner Kutsche und es zerbrach etwas daran, welches ihn nöthigte 1½ Stunde auf der Chaussee zu verweilen. Er ließ seine Begleiter im Wagen bleiben und redete die ganze Zeit durch mit mir allein. Seine Phantasie war sehr hoch gespannt. Ich schweige über das, was er mir da sagte; Es lässt sich nicht gut schriftlich sagen. Nur so viel bemerke ich: a) Sein System ist von der Art, daß ich fürchte, so wie er jetzt unsre Obern für die Männer hält, welche er sucht; so wird es einem listigen R[osenkreuzer] wenig Mühe kosten, ihn für ihre Parthey eben davon zu überzeugen, b) Er täuscht sich darinn selbst, daß er glaubt, wer höherer Weisheit nachstrebt dürfe gar keine weltliche Plane machen, müsse Gott und seinem geheimen Führer alles überlassen, nichts thun. Das ist doch ein gefährlicher Grundsatz. […].« Dieser Bericht sagt viel aus zum ins Okkultistische tendierenden Charakter Karls von Hessen. 95 Das Mitgliederverzeichnis befindet sich in GStAPK Berlin, Freimaurer 5.2. K 11/28. Vgl. auch Hofmann: Mauvillon (s. Anm. 4), S. 145. Als Meister vom Stuhl in der Loge »Friedrich zur Freundschaft« folgte Mauvillon später Jean-Louis Barbot de Luchet. Einige Informationen zur Loge finden sich im Brief von Mauvillon an Bode vom 27. Januar 1787: »Sie ist so nähmlich die [Loge], wie wir sie uns wünschen können. Sie brauchten ein wenig Unterstützung u. Zusammenhang von außen. Der Sekretär ist der Cammer Sekretär Rieß, ein gescheuter Mann, in unserer Verbindung Laban genannt. Ich will auch an ihn schreiben, u[nd] ihn instruiren, nach dem was Sie mir theils gesagt haben, theils noch wißen lassen werden. Diese [Loge] ist genau mit der Rothenburger verbunden, die klein aber mit sehr klugen Männern besetzt ist. Minerva herrscht im Grunde in beÿden. Wenn Sie also etwas für beÿde thun können, [...] daß Sie sie mit auswärtigen [Logen] in Verbindung setzten, oder mir sagten was sie deshalb zu thun haben[,] besonders machten, daß die Gött[inger] [Loge] das an

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Ideale umsetzen.96 Auf diese Weise versuchte Mauvillon das Kasseler Dilemma zu überwinden und die Mitglieder, meist jüngere Offiziere und Beamte, die sich geziert hatten zur Freundschafts-Loge zu wechseln, nun aus dem »Gekrönten Löwen« direkt hierhin zu bugsieren. Stolberg-Roßla schreibt schon vor Gründung dieser Loge am 5. Mai 1784 an Weißhaupt: »Mauvillon (Arcesilaus) in Cassel hat mit den dortigen Rosenkreuzern Händel bekommen.« Rosenkreuzer gab es in Kassel, wie wir gesehen haben. Unter ihren Gründern waren auch Freimaurer, die Knigge als Illuminaten aufgenommen hat, wie Friedrich Wilhelm von Canitz und Dallwitz sowie Hans Wilhelm Alexander von Baumbach, ein weiterer Spross der BaumbachFamilie.97 Das zeigt, wie sehr die Sozietätenlandschaft im Fluss war und manche Männer sich sowohl hier als auch dort anwerben ließen. Kein Wunder, dass Nicolai vor Personen dieser Art gewarnt hatte. Stolberg-Roßla fährt fort: »Jetzt will er [Mauvillon] eine eigene, aus lauter Illuminaten bestehende, [Loge] errichten, weil dies in Gordium [Kassel] eine unentbehrliche Hülle ist.« Die neue Loge war also, zumindest in Stolberg-Roßlas Sicht, eigentlich die Kasseler Minervalkirche98 – zumindest als solche gedacht –, nur konnte sie es nach außen hin nicht zugeben. »Um aber auch die Neugierde seiner B[rüde]r zu sättigen«, erläutert Stolberg-Roßla weiter, »welche hinter der Rosenkreuzerei manchmahl Wunder suchen, wünscht er von einigen Freres Rosecroix eine geschriebene Erlaubnis, B[rüde]r, so er tüchtig findet, die Grade, die er besizt, zuertheilen, damit aller Schein von Verrätherei von ihm entfernt werde. Haben wir in Ew Hochwürden Gegend unter den unsrigen Rosenkreuzer; so bitte ich, deren Consens zuverschaffen – 4–5 B[rüde]r. sind hinrei-

|| sie gerichtete Schreiben, von der Caßler beantwortete; denn Feder versprach mirs daß sie es thun würden. Wie auf Federn sein Wort ermunterte ich sie daß sie schreiben möchte, so thäten Sie, wie ich meÿne, ein der gemeinschaftlichen Sache erspriesliches Werk.« Hieronymus Rieß, Sekretär und Rat am Kasseler Hof, Mitglied der Freimaurerloge »Zum gekrönten Löwen«, war im Juli 1783 in den Illuminatenbund aufgenommen worden. Zur Illuminaten- Loge in Rotenburg an der Fulda vgl. das Mitgliederverzeichnis der Illuminati Research Base (s. Anm. 15), das zehn Mitglieder ausweist: Carl Friedrich Wilhelm von Verschuer, Christian Erich Hüpeden, Friedrich Heinrich Hüpeden, Martin Häde, Bernhard Christoph Faust, Christoph Philipp König, Otto Friedrich König, Justus Hermann Seedorf, Justus Johann Dehnhard und Georg Matthäus Frankenberg. Sie wurden im Allgemeinen im Winter 1782/83 bzw. im Frühjahr 1783 aufgenommen. Mauvillon schreibt an Bode zu seiner Kasseler Gründung »Zum Tempel der wahren Eintracht« am 23. Januar 1787, (SK06-23): »Diese [Loge] ist genau mit der Rothenburger verbunden, die klein aber mit sehr klugen Männern besetzt ist. Minerva herrscht im Grunde in beÿden«, d. h. die Illuminaten haben in beiden Logen die Oberhand und das Sagen. 96 Allerdings war Mauvillon, wie Reinhard Markner mir mitteilt, nie Mitglied seiner Loge, sondern ist 1776 in Göttingen bei den Zinnendorfern Freimaurer geworden. 97 Meidenbauer: Aufklärung (s. Anm. 10), S. 367. Hans Wilhelm von Baumbach war Bruder von Ernst Christian Friedrich aus der Kopperhausener Linie (vgl. Anm. 16). Vgl. Baumbach: Geschichte der zur althessischen Ritterschaft gehörenden Familie von Baumbach (s. Anm. 16), S. 70. 98 Man muss dabei berücksichtigen, dass die drei Freimaurer-Grade in das Illuminatensystem integriert worden waren.

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chend.«99 Mauvillon wollte sich also das Vertrauen von Rosenkreuzern erwerben, indem er sich als legitimiert ausgab, Grade zu erteilen, die als mit dem Rosenkreuzertum kompatibel angesehen wurden. Waren es seine eigenen reformierten Grade? Nein, es waren wohl eher modifizierte Grade der Rosenkreuzer. Texte von diesen hatte wohl er in seinen Besitz gebracht, vielleicht auch mit Hilfe von Nicolai.100 Allerdings flog dieser Versuch schon bald auf. Die Kasseler Rosenkreuzer reagierten, indem sie die Losungsworte und Geheimschrift der drei unteren Grade (das waren wohl die, die Mauvillon kannte) umwandelten, um »zu verhindern, daß zu den Illuminaten abgewanderte Rosenkreuzer den Zutritt zu den Rosenkreuzern erhielten.«101 Es ging zweifellos um Männer wie Canitz in ihrer ambivalenten Stellung zwischen den diversen Vereinigungen. Schon zuvor – als Mauvillon Kontakt mit der Münchner Loge aufgenommen hatte – waren die Kasseler Freimaurer alarmiert gewesen und hatten einen internen Erlass gegen den Illuminatenbund ausgegeben.102 Als nun die neue Loge »Zum Tempel der wahren Eintracht« gegründet war, wurde sie von den anderen Kasseler Logen geschnitten, weil man ahnte, welche Strategie dahinterstand.103 Mauvillon hatte also mit seiner Gründung keinen wirklichen Erfolg.104

7 Der Wechsel nach Braunschweig Doch dann kam Mauvillons Wechsel nach Braunschweig, im Februar 1785, keine drei Monate nach seiner Logengründung, und die Lage war auf einmal eine ganz neue. Hier waren andere Verhältnisse, hier musste er seine Aufbauarbeit von neuem || 99 Stolberg-Roßla an Weishaupt, 5.5.1784, StA Hamburg 614-1/72, Gr. Loge, Nr. 1256. 100 Vgl. die Praxis des heimlichen Abschreibens der Gradtexte von anderen Logen auch im Umkreis von Bode, der den Sekretär von Ernst II., Rudorff, Gradtexte der Rosenkreuzer abschreiben läßt. Rudorff antwortet ihm am 20. April 1786 (SK06-259): »Eur. Hochw. erhalten anbey die bewußten Cahiers wieder zurück, wovon die Abschrift völlig besorgt ist.« 101 Steiner: Freimaurer und Rosenkreuzer (s. Anm. 2), S. 110. 102 Meidenbauer: Aufklärung (s. Anm. 10), S. 370. 103 Ebd. S. 350. 104 Es gab später sogar Überlegungen, noch eine weitere Loge aufzumachen, um den Streitigkeiten zu entgehen. Vgl. Georg Kloß: Annalen der Loge zur Einigkeit, der englischen Provincial- und Directoral-Loge des eklektischen Bundes zu Frankfurt am Main 1742–1811. Frankfurt a. M. 1842, S. 265: »In der Loge Friedrich zur Freundschaft zu Cassel waren Mißhelligkeiten entstanden, welche mehrere Mitglieder bewog unter Beybringung eines empfehlenden Antrags von Seiten der eclectischen Loge […] zum Tempel der wahren Eintracht daselbst, die Constitution zu einer zweiten eclectischen Loge: Tempel zur Freundschaft, zu Frankfurt nachzusuchen, was aber mehrerer noch folgenden dringenden Gesuchen unerachtet, abgelehnt wurde, zumal da bereits 3 Logen zu Cassel arbeiteten.«

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beginnen.105 Mauvillon ist möglicherweise nicht zuletzt wegen seiner freimaurerischen Kontakte in den Umkreis des Braunschweiger Hofes gezogen worden, und er empfing von dort zahlreiche Gunstbeweise. Es dauert nicht lange, bis er auch in Braunschweig freimaurerisch und illuminatisch tätig wird. An Bode – den er privat schon seit einem Jahrzehnt kennt, mit dem er aber jetzt in dessen Funktion als zentraler Organisator der Illuminaten korrespondiert106 – meldet er seine Bereitschaft, und der schickt ihm im Dezember die Gradhefte, mit denen Mauvillon Mitglieder aufnehmen und befördern kann.107 Der Deckname für Braunschweig sei »Capua«, unter ihm habe man sich jetzt zu verständigen. Er, Bode, sei jetzt zuständig für ihn: Nachdem mir der Provinzial Ihrer Provinz übertragen hat mit Ihnen zu arbeiten; so werden Sie die Güte haben mit mir über [Ordens-] Sachen ganz frey und ohne allen Rückhalt zu correspondiren, mir die quibus licet einzusenden, und wenigstens fürs Erste durch meine Hand die Zettel zu empfangen.108

Bode ist zuversichtlich, dass die Zusammenarbeit fruchtbar wird. Ueberhaupt mein theuerster Bruder habe ich keine Ursach Sie zu bitten daß wir mit einander decouvert [= frei heraus] gehen mögen, denn 1) damit alles in einem Geiste in Eintracht auf einen gemeinsamen höhern Zweck zielen und 2) sowohl meine, als unsrer ältern Brüder längere Erfahrungen auch Ihnen Ihres Orts aufs beste zu Statten kommen möge.

Bode stammte aus Braunschweig und hatte bis 1752 dort gelebt; er und andere Braunschweiger Freimaurer würden Mauvillon an seinem neuen Ort unterstützen. Und eine kleine Mahnung: »Eigendünkel, Eigennutz, Eigensinn, und überhaupt aller Egoismus muß bey uns niemals Raum finden, oder unsre Verbindung könnte gewiß nicht lange bestehen.«109 Bode weist Mauvillon aber auch gleich darauf hin, dass er einige Braunschweiger Illuminaten nicht in den Gründungsprozess der Minervalkirche (»unser stilles

|| 105 Zur Freimaurerei in Braunschweig vgl. Franz Heinrich August Lachmann: Geschichte der Freimaurerei in Braunschweig von 1744 bis Neujahr 1844. Braunschweig 1844. 106 Vgl. die Briefe von Mauvillon in: Mauvillon’s Briefwechsel (s. Anm. 39), S. 150–181. Sie beginnen mit dem Brief vom 28. Januar 1776. Ende Mai, Anfang Juni dieses Jahres haben sie sich dann in Kassel kennengelernt, Bode kam vorbei. Vgl. ebd. S. 158 (Brief von 15. Mai 1777), wo Bode darauf reagiert, dass Mauvillon Gutes über den Herzog von Gotha gesagt hat, der den Soldatenhandel verwerfe. 107 Bode an Mauvillon, 18. Dezember 1786. In: Mauvillon’s Briefwechsel (s. Anm. 39), S. 164–167. 108 Ebd. S. 166. Zu Bode als Empfänger von Quibus Licet und Verfasser von Reprochen vgl. Olaf Simons, Markus Meumann: »Mein Amt ist geheime gewissens Correspondenz«. Bode als ›Unbekannter Oberer‹ des Illuminatenordens. In: Johann Joachim Christoph Bode (s. Anm. 58), S. 435– 503. 109 Ebd. S. 167.

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Geschäft«) einbeziehen solle – sei es, um sie nicht mit Alltagsdingen zu belasten, sei es, dass man bei ihnen nicht völlig sicher sein könne, ob sie wirklich loyal seien. Auf jeden Fall scheint es besser, die Gründung der Minervalkirche an ihnen vorbei zu betreiben.110 Das sind – wir wundern uns nicht – jener Johann Friedrich Schwartz (im Orden »Agesilaus«), vor dem drei Jahre zuvor schon Nicolai gewarnt hatte. Dass Schwartz, der maßgebliche Mann in der Strikten Observanz, seit März 1783 Illuminat geworden war, hatte nicht unbedingt etwas zu sagen.111 Das zeigt auch der Umstand, dass er just 1786, als Bode schrieb, unter dem Namen »Eliakim« heimlich Mitglied der Asiatischen Brüder geworden war.112 Immerhin: Um diesen hohen und fürstennahen Geheimbündler kommt man nicht herum, aber man muss – das will Bode ausdrücken – auf der Hut sein, denn er ist vielleicht nur Illuminat, um die Aktivitäten des Ordens zu überwachen.113 Auch Karl Landgraf von Hessen, ebenfalls inzwischen Illuminat – unter dem Decknamen »Aaron« –, der ja schon für die Kasseler Illuminaten ein Problem war, solle man erst einmal lieber nicht einbeziehen, meint Bode. Karl war ein General in dänischen Diensten, der bei der Strikten Observanz eine führende Rolle spielte, und auch er ist in diesem Jahr heimlich als »Ben Oni Ben Miriam« bei den Asiatischen Brüdern eingetreten. Das ist eine konservative, immer noch den alten Ritter-Mythen verhaftete paramasonische Gruppierung mit Vorstellungen, von denen Bode, Nicolai, Ditfurth und auch Mauvillon sich verabschiedet haben. Bei Carl August von Hardenberg-Reventlow (»Carolus V. Imperator«) ist sich Bode nicht sicher, wie es mit ihm steht, wohl weniger aus Misstrauen heraus, sondern eher, weil Hardenberg ein vielbeschäftigter Mann ist und oft in Hannover zu tun hat.114 Hardenberg ist königlich großbritannischer Kammerauditor und Minister in Braunschweig, also ein maßgeblicher Politiker; später wird er der berühmte Reformer des preußischen Staates werden. Er gehörte ebenfalls ehemals zur Strikten

|| 110 Ebd. S. 166: »Nach unsrer Abrede soll fürs erste Aaron und A[g]esilaus nicht mit Nachrichten von unserm stillen Geschäfte benachrichtigt werden.« 111 Vgl. den Brief von Herzog Ferdinand an Bode vom 15. März 1783 (SK01-244), der ihm sagt, er habe die zugeschickten Papiere (Grade) gelesen, denen er zum Teil zustimme, auf der anderen Seite aber auch Änderungen wünsche; auch nach den Listen für die Ordensgeographie mit ihren Decknamen fragt er. Er habe die Papiere an Schwartz weitergegeben. Vgl. weiterhin den Brief von Schwartz an Bode vom 13. November 1783 (SK07-064.2), worin er Bode versichert, die Strikte Observanz ruhe nun und er arbeite ab jetzt für die Illuminaten. 112 Vgl. Jacob Katz: Der Orden der Asiatischen Brüder. In: Freimaurer und Geheimbünde (s. Anm. 69), S. 240–283. 113 Ähnlich wie einige Illuminaten in Weimar; vgl. Wilson: Geheimräte (s. Anm. 37). 114 Zu ihm vgl. Peter G. Thielen: Karl August von Hardenberg, 1750–1822 – Eine Biographie. Köln 1967; Otto Merker: Karl August Freiherr von Hardenbergs Reformdenken in seiner hannoverschen Zeit 1771–1781. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 48 (1976), S. 325–344; Ingo Herrmann: Hardenberg: Der Reformkanzler. Berlin 2003; Lothar Gall: Hardenberg: Der Reformer und Staatsmann. München, Berlin 2016.

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Observanz und ist jetzt Meister vom Stuhl der hannoverschen Loge. Bode will ihm erst einmal schreiben und erkunden, ob er »Theil nehmen kann.«115 Schon Ditfurth hatte Ende 1782 an Knigge geschrieben, er freue sich, dass Hardenberg nun Mitglied bei den Illuminaten sei.116 Da Bode so viel Vorsicht und Zurückhaltung empfiehlt, gerade was die großen Namen angeht, kann er zunächst nur ein paar weitere Personen nennen, Illuminatenmitglieder aus Braunschweig oder solche, die gerade angeworben wurden: zunächst ein Bittoeas – wohl von Mauvillons Sohn falsch transkribiert oder vom Drucker verballhornt –, es muss wohl »Pittacus« heißen, der Deckname für Johann Nicolaus Bischoff (»wie weit er ist, werden Sie erfahren«).117 Bischoff hat in Jena und Göttingen Jura studiert und ist von Benjamin Koppe an Hardenberg als dessen Privatsekretär vermittelt worden, ein Karriereweg, der bereits illuminatisch vorimprägniert war. Schon in Göttingen war er möglicherweise Mitglied der Freimaurerloge.118 Das Vorzimmer der Großen also, wenn man denn schon Hardenberg in Ruhe lässt. Dann nennt Bode einige weitere Namen, aber vorsichtshalber nur mit Kürzeln, um niemanden zu kompromittieren, falls der Brief abgefangen wird, denn nun muss er auf den echten Namen anspielen, ein Ordensname liegt ja bei den Anwärtern noch nicht vor. Da ist einmal ein »E—g«, wohl Johann Joachim Eschenburg, der Professor der schönen Literatur und der Philosophie am Collegium Carolinum, einer der neuen Kollegen Mauvillons.119 Mit ihm sollte sich Mauvillon später anfreunden, jetzt aber weiß Bode nur zu sagen, dass er, Eschenburg, »noch nicht gelesen« habe, dass er also die Hefte, die Bode an Mauvillon schickt, sich erst noch zu Gemüte führen muss, um ein echter Illuminat zu werden. Außerdem nennt Bode einen »N.« und einen »St.«, die als Mitglieder vorgeschlagen seien.120 Mit »N.« ist wohl Peter Joseph Neyron gemeint, ein Professor für Privat- und Staatsrecht am Collegium Carolinum in Braunschweig,121 bei »St.« handelt es sich wahrscheinlich um Heinrich Wilhelm Stamford, einen Militärschriftsteller, wie auch Mauvillon einer war. Stamford war || 115 Bode an Mauvillon, 18. Dezember 1786. In: Mauvillon’s Briefwechsel (s. Anm. 39), S. 166. 116 Ditfurth an Knigge, 24. Dezember1782: »Ich habe mich herzlich gefreuet, daß dießer [Hardenberg] im [Orden] ist, könten sie nicht machen, daß ich mit ihm in Briefwechsel käme, ich habe meine Ursachen.« 117 Bode an Mauvillon, 18. Dezember 1786. In: Mauvillon’s Briefwechsel (s. Anm. 39), S. 166. Ich danke hier und bei den folgenden Identifizierungen Reinhard Markner. 118 Er ist allerdings nicht verzeichnet in Wirkner: Logenleben (s. Anm. 11). Vgl. auch den Brief von Bischoff an Bode vom 8. Ferbruar 1788 in SK03-114. 119 Bode an Mauvillon, 18. Dezember 1786. In: Mauvillon’s Briefwechsel (s. Anm. 39), S. 166. Zu Eschenburg vgl. Cord-Friedrich Berghahn, Till Kinzel (Hg.): Johann Joachim Eschenburg und die Künste und Wissenschaften zwischen Aufklärung und Romantik. Netzwerke und Kulturen des Wissens. Heidelberg 2013. 120 Ebd. 121 Zu Neyron vgl. ADB, Bd. 23, Leipzig 1886, S. 566f.

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etwa gleichalt mit Mauvillon, kannte dessen Vater noch aus Kassel, wurde Nachfolger Mauvillons in Ilfeld und hatte auch sonst viele Parallelen zu Mauvillons Leben und seien Kreisen; auch Stamford war frankophon, auch er war mit Göckingk befreundet, und jetzt lebte er vornehmlich in Berlin.122 Mauvillon macht sich an die Arbeit und versucht, die genannten Kontakte herzustellen. Am 23. Januar 1787 berichtet er an Bode, er habe Eschenburg noch nicht sprechen können, habe aber den Eindruck, dass es diesem ein wenig an »public spirit« fehle, also an Sinn für das Gemeinwohl und für Gemeinschaften.123 Er ist nicht so sehr der Freimaurer- und Vereins-Typ. Mit Bischoff hingegen wolle Mauvillon auf jeden Fall zusammenarbeiten, hinderlich sei nur das Fortbestehen der Freimaurerloge. Bischoff war ja auch Meister in der Braunschweiger Loge »Zur gekrönten Säule«, und Mauvillon musste sehen, dass seine Neugründung nicht als Konkurrenz zu dieser Loge aufgefasst wurde. Da gab es noch einiges zu tun, sonst käme es wieder zu ähnlichen Schwierigkeiten wie in Kassel. Aber Mauvillon hat noch einen weiteren Kandidaten im Blick, und das ist Ernst Christian Trapp, der Pädagoge, der am Philanthropinum in Dessau ausgebildet worden war, dann einige Zeit in Halle und bei Campe in Hamburg verbracht hatte, bevor er seit letztem Jahr Professor am Collegium Carolinum in Braunschweig und Mitglied des Schuldirektoriums geworden war.124 Progressive Männer wie Trapp waren genau das, was die Illuminaten brauchten und wollten, denn Erziehung war für sie eine zentrale Angelegenheit.125 Noch allerdings kann Mauvillon nicht vermelden, dass Trapp die ver-

|| 122 Zu Stamford vgl. Heinrich Pröhle: Art. »Stamford« in ADB, Bd. 35, Leipzig 1893, S. 424–426. In der G. W. Leibniz-Bibliothek Hannover gibt es einige Briefe und Billets von Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg an Stamford: Signatur: Ms XLII, 1933, A, II, 88, Bll. 96–97 und Ms XLII, 1933, A, II, 88, Bll. 45, 84, 90, allerdings aus dem Jahr 1794. 123 Mauvillon an Bode, 23. Januar 1787, SK06-23: »Unser Freund Eschenburg hat mir immer gesagt, er wolle zu mir kommen u. deshalb mit mir sprechen[,] was Sie ihm geschrieben hätten. Ich bin auch beÿ ihm gewesen ohne ihn zu treffen. Seit jetzt habe ich ihn auch nicht darüber gesprochen. Allzu hitzig gegen ihn zu thun, halte ich darum für bedenklich weil er ein wenig soupçonneux ist u[nd] leicht denken könnte ich hätte dabeÿ Privatabsichten. Ueberhaupt V. O. Br. Esch[enburg] so ein guter rechtschafener Mann er auch gewiß ist, hat doch einen Zug in seinem Charakter, der ihn zu dieser Verbindung minder tauglich macht. Nähmlich er hat wenig public Spirit. Er ist zu sehr auf sich u[nd] sein Haus eingeschränkt; etwas schüchtern gegen Menschen. Il est toujour boutonné würde Mirabeau sagen.« 124 Zu Trapp vgl. Max Fuchs: Das Scheitern des Philanthropen Ernst Christian Trapp. Weinheim 1985; Gernot Scholz: 250. Geburtstag von Ernst Christian Trapp, dem ersten Pädagogik-Professor Deutschlands. In: Kölner Zeitschrift für Wirtschaft und Pädagogik 19 (1995), S. 127–148. Allg. vgl. Heikki Lempa: Die Bildung der Triebe: Der deutsche Philanthropismus (1768–1788). Turku 1993; Christa Kersting: Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes »Allgemeine Revision« im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft. Weinheim 1992. Zu Trapp als Illuminat vgl. auch Adolf Roßberg: Freimaurerei und Politik im Zeitalter der Französischen Revolution. Berlin 1942, S. 60. 125 Vgl. Peggy Pawlowski: »... sich begnügen, im Geheimen für das Gute zu wirken«. Der Beitrag Johann Adam Weishaupts zur Pädagogik des Illuminatismus. Diss. Jena 2004.

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sprochene Verpflichtungserklärung gegeben hätte.126 Er scheint noch zu zögern; immerhin sind die Illuminaten bereits stark im Gerede und öffentlich hochumstritten – es ist das Jahr 1787, in Bayern sind die kompromittierenden Originalschriften erschienen und der Geheimbund wird verfolgt.127

8 Mauvillons Programmatik Mauvillon legt Bode seine Rede zur Eröffnung der Loge des Eklektischen Bundes in Kassel bei, der Loge »Zum Tempel der wahren Eintracht«.128 Diese Loge sei ganz nach Bodes Geschmack eingerichtet. Für Mauvillon war das sozusagen eine Referenz dafür, wie er die Dinge anging. Auch Bode hatte ihm einen Text von sich geschickt, neben den Gradheften, nämlich sein Examen impartial du livre intitulé: Des erreurs et de la verité.129 Das war eine kritische Auseinandersetzung mit dem Buch von Louis Claude de Saint-Martin, Des erreurs et de la verité, einem Werk der gegenaufklärerischen, magisch-mystischen Richtung der Maurerei, das in den Kreisen der Hochgradsysteme eifrig rezipiert wurde.130 Bode hatte dort einen Chiffrenschlüssel beigefügt, der handschriftlich gehalten ist und mit dem Mauvillon die nur angedeuteten Fachbegriffe, von denen Bode sprach, identifizieren konnte.131

|| 126 Mauvillon an Bode, 23. Januar 1787, SK06-23: »Trapp ist noch der beste den ich gefunden habe. Er wollte mir seine Verpflichtung schicken, denn er wohnt in Wolfenbüttel, allein bis jetzt hat er es noch nicht gethan.« 127 Zu den Illuminatenverfolgungen vgl. Le Forestier: Les Illuminés (s. Anm. 9); van Dülmen: Geheimbund (s. Anm. 9). 128 Mauvillon an Bode, 23. Januar 1787, SK06-23: »Sie ist so nähmlich die [Loge], wie wir sie uns wünschen können.« Es wird nachzuforschen sein, ob diese Rede entweder in der Schwedenkiste oder im Bestand des Kasseler Logenarchivs überliefert ist. 129 Bode an Mauvillon, 12. Dezember 1786. In: Mauvillon’s Briefwechsel (s. Anm. 39), S. 165. [Johann Joachim Christoph Bode:] Examen impartial du livre intitulée des erreurs et de la verité. s.l. 1782. Vgl. dazu Dominique Clairembault: Saint-Martin et le complot jésuite. In: https://www. philosophe-inconnu.com/saint-martin-et-le-complot-jesuite/ (Zugriff 24.06.2020); Antoine Faivre: Johann J. Chr. Bode: Examen impartial du livre intitulé des Erreurs et de la Vérité. In: Secrets, Complots, Conspirations. Actes du colloque de Cerisy-La-Salle. Hg. von Christian Chelebourg und Antoine Faivre (i. D.). 130 Vgl. David Bates: The Mystery of Truth: Louis-Claude de Saint-Martin’s Enlightened Mysticism. In: Journal of the History of Ideas 61 (2000), S. 635–655; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Politische Theologie der Gegenaufklärung. De Maistre, Saint-Martin, Kleuker, Baader. Berlin 2004. 131 Bode an Mauvillon, 12. Dezember 1786. In: Mauvillon’s Briefwechsel (s. Anm. 39), S. 165f.: »2) Den Schlüssel der Chiffre hinten auszuschneiden und zum Gebrauch so aufzuheben, daß er nicht zu dem Buche zu gehören scheinen könne. Denn die ganze Sache ist zur Enthüllung fürs Publikum noch nicht reif.«

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Abb. 2: Examen impartial, mit einem Chiffrenschlüssel von der Hand Bodes; Exemplar der Privatbibliothek Goethes, Klassik Stiftung Weimar, Signatur Ruppert 3025.

Das Buch hilft Mauvillon, seine eigenen Ansichten über die Freimaurerei zu formulieren, denn in diesem Jahr 1787 schreibt er – falls die anonyme Schrift von ihm stammt, was umstritten ist132 ‒ selbst an einem Buch über die »richtige« Freimaure|| 132 Georg Kloß: Bibliographie der Freimaurerei. Frankfurt a. M. 1844, z. B. hat die Zuschreibung nicht vorgenommen.

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rei, der Aufklärung über wichtige Gegenstände der Freymaurerei, besonders über die Entstehung derselben (das war auch das, was Bode so interessierte) ohne alle Schwärmerey (also auch gegen jegliche mystische Auslegungen und Wunschvorstellungen von einer Abkunft von den alten Tempelrittern oder gar den ägyptischen Mysterien).133 Das Buch ist in zwei Teilen verfasst: der erste enthält elf Briefe eines Freimaurer-Vaters an seinen Sohn (angelehnt wohl, falls Mauvillon der Autor ist, an die Briefe seines eigenen Vaters an ihn134), der zweite Kommentare zu Knigges anonym verfasstem Beytrag zur neuesten Geschichte des Freymaurer-Ordens.135 Das Buch steht ganz im Zeichen einer Verteidigung der Freimaurerei und der Illuminaten gegen Angriffe von den konservativ-mystischen Gold- und Rosenkreuzern. Diese bedrohliche Lage hatte Mauvillon ja schon in Kassel erlebt, und er erlebt sie auch jetzt in Braunschweig. Sie zeigt sich nämlich schon im Antwortbrief Bodes vom 11. April 1787. Bode bremst ihn dort, nachdem ihm Mauvillon von Gegentendenzen berichtet hat, und von Anfeindungen gegen den Illuminatismus. Er bittet, in Seemannssprache, »bis das Meer ruhiger wird, die großen Segel beizulegen, und beständig den Bleywurf in der Hand zu haben.«136 Mauvillon solle erst einmal keine Minervalkirchen-Versammlung in Braunschweig abhalten, denn es gebe dort sicherlich Rosenkreuzer, die dann auf die Aktivitäten aufmerksam würden. Bode hatte im Deutschen Zuschauer einen Artikel über die Machenschaften der Rosenkreuzer gelesen. »Es wird hierin des Baron von Scheit in Braunschweig gedacht«, notiert er in sein Tagebuch, und daß dessen noch in Braunschweig lebenden Erben, seine Rosenkreuzerischen Papiere entweder wirklich noch haben, oder doch sollten nachweisen können. Auch der Gebrüder Grabenhorst wird gedacht.137 ‒ Es wäre fast unnatürlich, wenn der Herzog Ferdinand nicht sollte gestrebt haben, diese Papiere an sich zu bringen! Schwartz ist dazu zu neugierig!138

Also, meint Bode wohl, wäre in Braunschweig ein Arsenal an Rosenkreuzerdokumenten, die sich Ferdinand und sein Privatsekretär zunutze machen würden. Es käme jetzt nur darauf an, so Bode an Mauvillon, »ganz in der Stille die Streiter zu || 133 Aufklärung über wichtige Gegenstände der Freymaurerei, besonders über die Entstehung derselben ohne alle Schwärmerey, eigentlich nur für Freymaurer, doch wird auch der, der Menschenkenntnis schätzt, viel Interessantes darinnen finden. Aus der Loge Puritas, 1787. 134 Vgl. aber Hofmann: Mauvillon (s. Anm. 4), S. 139ff. 135 [Adolph von Knigge:] Beytrag zur neuesten Geschichte des Freymaurer-Ordens in neun Gesprächen. Berlin 1786. 136 Bode an Mauvillon, 11. April 1787. In: Mauvillon’s Briefwechsel (s. Anm. 39), S. 168. 137 Die Gebrüder Gravenhorst waren chemisch-alchemisch experimentierende Männer, die in den 1760/70er Jahren eine grüne, aus kohlensaurem Kupferoxyd und Kreide bestehende Farbe in den Handel brachten. 138 Bode, Tagebuch anfangend am 2. Januar 1787 bis 6. December 1788, fortgesetzt vom 28. März 1793 bis 12. Juni 1793. Im Nachlass von Georg Burckhard Kloss in der Bibliothek des Groot-Oostens der Nederlande. Den Haag (Erschließung: Hermann Schüttler), Eintrag vom 3. April 1787.

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sammeln«, ihnen die Grad-Hefte zu Lesen zu geben, sich gelegentlich informell zu treffen und Abhandlungen zu verlesen.139 Das klingt wiederum, wie schon in den Zeiten nach dem Wilhelmsbader Konvent, als wäre man im Krieg: links gegen rechts, Illuminaten gegen Rosenkreuzer, KGB gegen CIA. So sah Bode tatsächlich die Lage, und auch wenn seine Befürchtungen manchmal etwas übertrieben waren, überall könnten verkappte Jesuiten sitzen, so war doch etwas Wahres darin, dass die Geheimgesellschaften sich gegenseitig ausspionierten. Keine gute Voraussetzung für den Aufbau eines Resonanzraumes von gelebter Authentizität, wenn man nicht weiß, wem man trauen kann und wem nicht. Mauvillon hatte in seinem Januar-Brief die Situation so beschrieben: Auch ist die Lage in der That mißlich solange zweÿ so mächtige Augen offen stehn u[nd] die hiesige [Loge] subsistirt. Die Leute die dazu gehören werden dazu abgeschreckt, u[nd] die Leute die nicht dazugehören, sind, wenn sie die Jahre u[nd] den Verstand haben, daß man sie zu Mitarbeitern wünschen möchte, gemeiniglich von jener entweder selbstsüchtigen od[er] gleichgültigen Gemüthsart die ihnen wenig Lust zu einem solchen Unternehmen einflößt.140

Wer wollte sich schon gegen Schwartz oder sogar Herzog Ferdinand stellen? Wenn diese Personen einen für zu radikal hielten, konnte die eigene Karriere schnell zu Ende sein. Bode rät daher zur völligen Zurückhaltung, und er kündigt eine Reform des Illuminatentums an, die alle Makel, die auch Mauvillon beunruhigt haben mögen, austilgt: So bitte ich nur für Sich selbst vorauszusetzen, und es auch den übrigen Mitgliedern zu sagen, daß alle Hefte nächstens eine Veränderung, Reinigung und Verbesserung erhalten werden, und besonders bitte ich Sie den M[aurer-] Eid nicht ablegen zu lassen. Man kann diesen an ei-

|| 139 Bode an Mauvillon, 11. April 1787. In: Mauvillon’s Briefwechsel (s. Anm. 39), S. 169. 140 Mauvillon an Bode, 27. Januar 1787, SK06-23. Ansonsten gingen die Vorbereitungen langsam vorwärts: Mauvillon an Bode, Braunschweig, 15. Mai 1787 (SK06-22): »Eschenburgen habe ich die beÿden ersten Hefte gegeben, sobald ich sie wieder habe, bekömmt sie Trapp nach Ueberlieferung der Tabellen. Ich hoffe es soll alles gut gehen. Es freut mich sehr, daß Sie in soweit meine Gedanken billigen; an meinem Eÿfer zweifeln Sie ja nicht, er soll thätig u[nd] anhaltend seÿn; aber behutsam muß freÿlich verfahren werden. Indeß hat Ihr letzter Brief an Bischof herrliche Würkung gethan. Er hat neues Leben bekommen; u[nd] das ist ein wichtiger Punkt, viel wichtiger als Sie selbst vielleicht glauben. Bi[schoff] ist beÿm Geheimrath, u[nd] gilt viel beÿ ihm, da er würklich ein braver u[nd] rechtschaffner Mensch ist. Er ist Sekretär der Erziehungs Commißion: er ist kein Soldat. Sie glauben nicht welch Hinderniß [...] legt, um so das rechte Vertrauen von Leuten die nicht Soldaten sind gewinnen.«

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nigen Orten für nöthig erachten, aber in unsern Gegenden finde ich daß er durchaus anstößig sey.141

Zugleich bereitet Bode in diesem Frühjahr 1787 seine Paris-Reise vor, auf die er einige Hoffnungen setzt, um mit der Reformation des Illuminatenbundes voranzukommen.142 Er bittet Mauvillon dafür um die Korrektur seiner französisch verfassten Schrift zu diesem Anlass.143 Doch als er aus Paris zurückkommt, ist der Nachtrag von weiteren Originalschriften erschienen, mit dem die pfalz-bayerische Regierung konfiszierte Illuminatenbriefe veröffentlicht, die das Ansehen des Ordens vollends ruinieren.144 Von da an wird der Orden nicht mehr weitergeführt, und die Quellen, die wir über Mauvillons geheimbündlerische Aktivitäten in Braunschweig besitzen, verstummen.

9 Ein Fazit Die Jahre zwischen 1782 und 1787, um die es hier geht, waren bewegte Jahre. Zinnendorfer Freimaurer, Strikte Observanz, Rosenkreuzer, Illuminaten – die Orden

|| 141 Bode an Mauvillon, 11. April 87. In: Mauvillon’s Briefwechsel (s. Anm. 39), S. 169. Zur Reform im Illuminatenorden vgl. Martin Mulsow: Bode, Weishaupt, Ernst II.: Wer war der »Chef« der Illuminaten? Die Jahre 1784–1793. In: Johann Joachim Christoph Bode (s. Anm. 58), S. 403–434. 142 Vgl. Hermann Schüttler (Hg.): Johann Joachim Christoph Bode: Journal von meiner Reise von Weimar nach Frankreich im Jahr 1787. München 1994. 143 Bode an Mauvillon, 11. April 1787. In: Mauvillon’s Briefwechsel (s. Anm. 39), S. 170f.: »Ich glaube Ihnen schon gesagt zu haben, daß diesen Winter in Paris ein Convent von Fr[ei] M[au]r[er]n gehalten würde, wozu ich eingeladen sey, um über verschiedene Propositionen mündlich oder schriftlich meine Meinung von mir zu geben. Ich habe aus guten Gründen das letzte gewählt, und das hat einen Aufsatz von ungefähr 40 Bogen veranlaßt, worin ich Ihnen meine Ueberzeugung vom Ursprung und Endzweck der Fr[ei] M[aurerei] ausserordentlichen Wissenschaften zu heilen gesucht habe. An Franzosen mußte ich so gut ich konnte französ[isch] schreiben. Sie kennen aber schon meine Schwäche in dieser Sprache noch besser als ich. – Indessen weil die Zeit drängte habe ich den Essay bereits nach Paris senden müssen, und wenn die B[rü]d[e]r dort die Sachen entschuldigen, so mögen sie einem Fremden leicht die Sprachfehler verzeihen, deren er sich Ihnen zu Liebe ausgesetzt hat. Allein es k[ö]nnte der Fall sein, da[ß] ein oder der andre deutsch französische Bruder den Essay lesen wollte oder sollte. Für die h[ä]tte ich gerne die Germanism[en] heraus, und wer kann solche besser tilgen als Mauvillon. Ich würde Sie dreist um diese freundschaftliche Mühewaltung bitten, wenn ich Ihnen versprechen könnte, viel neues darin zu finden. Aber das meiste wissen Sie schon aus meiner Antwort auf das Cirkular des H. Fr. d. d. 1781.« 144 Nachtrag von weiteren Originalschriften welche die Illuminatensekte überhaupt, sonderbar aber den Stifter, derselben Adam Weishaupt betreffen. München 1787. Zur Wirkung dieser Publikation auf Intellektuelle, die ansonsten dem Illuminatenidealen nahestanden, vgl. Hans Jürgen Schings: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten. Tübingen 1996.

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bildeten Angebote auf dem Markt der Weltanschauungen und des gesellschaftlichen Engagements, und nicht wenige Geheimbündler schwankten, traten hier ein und dort aus, hatten Mehrfachmitgliedschaften oder taten sich schwer zu durchschauen, welcher Orden für welche Richtung stand. Selbst wenn man wie Mauvillon, Nicolai, Bode und Ditfurth dezidiert gegen jeden Okkultismus eingestellt war, war es nicht immer eindeutig – wie wir gesehen haben – ob man sich mehr für einen »Eklektischen Bund« der Logen oder für das Illuminatentum einsetzen sollte – wenn man zwischen beiden überhaupt einen wirklichen Unterschied sah. Auf jeden Fall war das Agieren nicht einfach, denn es gab wechselseitige Bespitzelungen zwischen den Geheimbünden, Abwerbungen, scheinbare Beitritte – die aber nur dissimulativ erfolgten –, Diebstahl der Gradtexte der anderen Bünde und ihre Modifikation, sowie massive wechselseitige Behinderungen. Das alles ist sichtbar geworden, als wir Mauvillon auf seinem Weg durch die Sozietätenlandschaften in Kassel und dann in Braunschweig verfolgt haben. Uns ist nur ein kleiner Ausschnitt aus seiner sicherlich extensiven Illuminaten-Korrespondenz erhalten geblieben – einige Briefe von oder an Nicolai, Bode, Göckingk und die Münchner Loge – doch reicht dieser Rest dafür, die Schwierigkeiten nachzuvollziehen, sich sich Mauvillon in seinen Aktivitäten auftaten. Er galt dank seiner Persönlichkeit und seiner intellektuellen Fähigkeiten vielen schnell als Hoffnungsträger und potentielle Führungsfigur. Er hatte eine klare aufklärerische Position, musste sich aber mit Realitäten arrangieren, die etwa durch die Illuminaten-Anwerbungen von Knigge in Kassel vorgegeben waren. Sosehr er sich bemühte, interessante Köpfe aus der Region in seine Loge zu bugsieren, und als das nicht funktionierte, eine neue Loge zu gründen, so hatte er doch damit zu kämpfen, dass bereits ausgeprägte Loyalitäten bestanden – zur etablierten Loge »Zum gekrönten Löwen«, zur Führung der Strikten Observanz in Braunschweig oder zur höfischen Macht von Karl von Hessen-Kassel; alles Loyalitäten, die den Bewegungsspielraum der Mitglieder einengten. Wenn Nicolai mit seinen Befürchtungen Recht hat, ist Mauvillon auch bespitzelt und überwacht worden, nicht zuletzt von den Kasseler Rosenkreuzern, die nicht ohne Grund illuminatische Übergriffe in ihre Loge befürchteten. Wir haben gesehen, dass der Stil von Mauvillons Anwerbungen auf Authentizität und einem Darstellen der eigenen Erfahrungen beruhte. Ich habe von Resonanz gesprochen und vom Geheimbund als einem Resonanzraum. Das half Mauvillon insbesondere in Kreisen von gleichgesinnten Intellektuellen, nicht nur bei Göckingk – wo es uns die auf Zufall beruhende Überlieferung deutlich gemacht hat –, sondern sicher auch bei anderen Kollegen, etwa den Professoren am Collegium Carolinum. In Braunschweig genoss Mauvillon, wie Jochen Hofmann vermutet, Protektion durch Hardenberg und Ferdinand von Braunschweig, möglicherweise über die Freimaurerkontakte, die er aufgebaut hatte.145 Auch die engen Beziehungen zwi|| 145 Hofmann: Mauvillon (s. Anm. 4), S. 146.

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schen Mauvillon und dem stark freimaurerisch engagierten Prinzen Friedrich deuten auf die gesellschaftlichen Möglichkeiten hin, die die Geheimbund-Empfehlungen mit sich brachten.146 Doch die Kehrseite blieb nicht aus. Bode gegenüber erzählt Mauvillon von dem Neid und Misstrauen, das ihm in Braunschweig entgegenschlug: […] indem mir es hier geht wie an mehrern Orten, daß Leute mich für sehr listig ansehen, weil der Zufall mir Glück zuwendet in manchen Dingen, daß sie immer meiner List zuschreiben. Und hier ist es darum noch ärger, weil ich als Fremder hieher gekommen u[nd] vom Herzog sehr vortheilhaft placirt worden bin, welches ohne Neid nicht abgehn konnte.147

War Mauvillon so listig? Wohl kaum im Sinne von Kabalen und Niederträchtigkeiten. Aber die Zeitgenossen mögen wahrgenommen haben, dass es für diesen Mann jenseits seiner offiziellen Beziehungen noch eine tieferliegende Ebene gab, auf der er operierte. Das war die Ebene der Geheimbünde. Auch in Braunschweig war Mauvillon den Mehrfachloyalitäten der hochrangigen freimaurerischen Akteure ausgesetzt, die in ihrer Bedeutung für den Illuminatenorden schwer einzuschätzen waren. Daher riet Bode dazu, eher auf Personen auf mittlerer Ebene zu setzen. Doch auch diese Bemühungen kamen zum Erliegen, als der Illuminatenbund 1787 seine Aktivitäten einstellte. Am Ende scheint Mauvillon für sich den Schluss aus diesen Erlebnissen von Konkurrenz, Misstrauen und Ambivalenzen gezogen zu haben, die Praktiken der Heimlichkeit hätten den Orden letztlich zerstört. Er passe nicht mehr in eine Zeit, die sich der Öffentlichkeit verschrieben habe.148

|| 146 Vgl. Phlipp F. H. Klencke: Der Parnass zu Braunschweig. Köthen 1854, S. 125–130; Hofmann: Mauvillon (s. Anm. 4), S. 113f. 147 Mauvillon an Bode, 23. Januar 1787, SK06-23. 148 Hofmann: Mauvillon (s. Anm. 4), S. 148.

| 5 Sprache und Literatur

Hans-Jürgen Lüsebrink

Mauvillon als Übersetzer literarischer und enzyklopädischer Werke Selbstverständnis und kulturelle Dynamik

1 Jakob Mauvillon als Übersetzer – lebensweltliche Erfahrungen und wissenschaftlichschriftstellerische Praxis Jakob Eleazar von Mauvillon ist zweisprachig aufgewachsen und in seinem familiären und sozialen Umfeld spielten Zweisprachigkeit, Bi-Kulturalität und damit auch Übersetzungsprozesse eine zentrale Rolle. Im Hause Mauvillon war die dominierende Sprache das Französische, mit seinem Vater kommunizierte er auf Französisch, auch in seinen Briefen. In seinem schulischen, außerschulischen und später universitären Umfeld hingegen herrschte das Deutsche vor, wenn auch das Französische im Bildungskontext der Epoche und als Kommunikationssprache der sozialen Eliten einen wichtigen Stellenwert einnahm. In seinem Bewerbungsschreiben um eine Professur für Kriegsbaukunst in Kassel beschrieb Mauvillon seine Sprachkenntnisse wie folgt: »Zu diesem setze ich noch hinzu, daß ich fertig Englisch und Italiänisch kann, und in der Literatur beyder Völker nicht unbewandert bin; das Französische nicht zu rechnen, welches so zu sagen meine Muttersprache ist, da meine Eltern Religionsflüchtlinge sind.«1 Seine erste schriftstellerisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Phänomenen und den Problembereichen des Übersetzens erfolgte bereits 1761, als er ‒ damals 18-jährig – gemeinsam mit seinem Vater eine grundlegende Überarbeitung des Nouveau Dictionnaire des Passagers François-Allemand et Allemand-François / Neues Frantzösisch-Teutsches und Teutsch-Frantzösisches Wörterbuch von Johann Leonhard Frisch vornahm. Das in Johann Friedrich Gleditschens Buchhandlung in Leipzig erschienene und bis zum Ende des Jahrhunderts kontinuierlich neuaufgelegte zweisprachige Wörterbuch verfolgte die Zielsetzung, im Auftrag des Verlegers2 eine »grosse Verbesserung« und zugleich Erweiterung (»Vermehrung«) des || 1 Jakob Mauvillon: Brief an Canngießer vom 11. August 1771. Zitiert nach: Jochen Hoffmann: Jakob Mauvillon. Ein Offizier und Schriftsteller im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipationsbewegung. Berlin 1980, S. 30. 2 Eleazar und Jakob Mauvillon (Hg.): Nouveau Dictionnaire des Passagers François-Allemand et Allemand-François / Neues Frantzösisch-Teutsches und Teutsch-Frantzösisches Wörterbuch. Wohttps://doi.org/10.1515/9783110793611-015

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Wörterbuchs von Frisch vorzulegen, so dass – wie es auf dem Titelblatt heißt – »die Liebhaber beyder Sprachen dieses Buch mit grossem Nutzen gebrauchen können.«3 In Mauvillons Vorwort wird zwar Frischs in vielen Auflagen vorliegendes Wörterbuch zunächst mit rhetorischer Reverenz gelobt,4 danach aber einer scharfen und an sich niederschmetternden Kritik unterzogen: Es weise zahlreiche Irrtümer hinsichtlich des Sprachgebrauchs auf und kennzeichne zahlreiche Wörter mit dem lateinischen Wort »olim« als ›altmodisch‹, obsolet und überholt (»vieillots«), obwohl sie in Wirklichkeit noch häufig verwendet würden;5 es umfasse zahlreiche Lücken, auch bezüglich von Wörtern, die sich an sich unbedingt im Lexikon finden müssten;6 und es enthalte »unzählige Fehler« hinsichtlich der Angaben zur Betonung der angegebenen Wörter.7 Zudem seien deutsche Definitionen französischer Termini, die häufig in Frischs Wörterbuch zu unpräzise seien, nunmehr durch präzisere französischsprachige Definitionen ersetzt worden.8 Und schließlich, so Eleazar Mauvillon und sein Sohn, sei der Neubearbeitung nunmehr für das Französische eine einheitliche Orthographie verwendet worden, die dem 1747 in Poitiers erschienenen Traite de lʼorthographie folge.9 Die Neubearbeitung von Frischs Wörterbuch durch Eleazar Mauvillon und seinen Sohn Jakob ist durchaus bemerkenswert, vor allem in zweierlei Hinsicht: zum einen bezüglich der systematischen Einbeziehung von Idiomatismen, die häufig auf die Unmöglichkeit einer wörtlichen Übersetzung verweisen und dem Übersetzer eine sprachliche Kreativität abverlangen. So wird beispielsweise das französische

|| rinnen alle Frantzösische Wörter, auch der Künste und Wissenschaften, aus den vollkommensten und neuesten Dictionariis, nebst den nöthigsten Constructionen und Redens-Arten, durch kürtzlich gezeigte Etymologie, und durch das gebräuchlichste, auch reineste Teutsche erkläret worden; Im Teutschen Theile ist aber eine so große Verbesserung und Vermehrung geschehen, daß die Liebhaber beyder Sprachen dieses Buch mit großem Nutzen gebrauchen können. Hg. von Johann Leonhard Frisch [...]. Aufs neue vermehret und verbessert von Mr. Mauvillon [...]. Leipzig 1761, [28 S.], 372 S. hier [S. 3]: »Nous nous bornerons à rendre compte de cette édition, que nous avons entreprise à la sollicitation du Libraire, attentif à perfectionner un ouvrage, dont le mérite est si connu.« 3 Ebd., Titelblatt. 4 Ebd., [S. 3]: »Le Dictionnaire de Frisch est d’une utilité si reconnue, qu’il seroit superflu d’en fare ici l’éloge. Les fréquentes éditions, qu’on en a faites, font assez voir, en quelle estime il est dans le public.« 5 Ebd., [S. 3]: »Avis de Mr. Mauvillon sur cette nouvelle édition«, ebd., [S. 4]: »On a redressé les faux jugemens de l’Auteur sur quantité d’autres termes, qu’il qualifie de vieillis par le mot latin olim, ou obsol. & qui rééllement son très-usités en différens styles.« 6 Ebd., [S. 3]: »On a ajouté une infinite de termes nécessaires, que l’Auteur avoit ômis.« 7 Ebd., [S. 4]: »On a tâché de remédier aux fautes sans nombre contre l’accentuation.« 8 Ebd.: »Enfin a donné de petites definitions de divers termes, que l’Auteur rendoit par des mors Allemands qui n’en exprimoient pas bien le sens & qu’il est peut-être impossible de bien exprimer en un seul mot.« 9 Ebd.: »A l’égard de l’orthographe on a suivi le Traite de l’orthographe françoise dédié au Cardinal de Rohan & imprimé à Poitiers chez Faulcon en 1747.«

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Wort »Bande« in dem entsprechenden Wörterbucheintrag zunächst mit dem deutschen Wort »Band« übersetzt, wobei anschließend eine Reihe von deutschen Entsprechungen des französischen Wortes mit präzisen Verwendungskontexten genannt wird, die bestimmten Verwendungsweisen und Konnotationen des französischen Wortes entsprechen, wie »Binde« (der Barbierer), »Haufen«, »Fähnlein« und »Trupp« beim Militär, »in der Druckerey eine Schiene an der Presse« oder im Bauwesen, wo »Bande« »eine Leiste oder ein Streif zwischen den anderen Zierarten der Säulen« bezeichne.10 Es folgt dann, gleichfalls unter dem Eintrag »Bande«, eine Reihe von idiomatischen Wendungen in Verbindung mit dem französischen Wort »Bande«, die im Deutschen meistens lediglich umschrieben und nicht unter Verwendung der unmittelbaren deutschen Äquivalente übersetzt werden könnten, wie beispielsweise »faire bande à part«, das die Mauvillons mit »sich einsam halten, nicht unter andere Leute kommen« übersetzen; oder »bandes de selle«, das sie wie folgt umschreibend, aber zugleich sehr präzise übersetzen: »bey den Sattelmachern, zwey Stück Eisen drey Finger breit, die man an den Sattelbogen nagelt, dass sie krumm und in der Form bleiben.«11 Zum anderen enthält die mauvillonsche Neubearbeitung des Wörterbuchs von Frisch eine Reihe von Fachbegriffen aus den verschiedensten Wissensgebieten, die ein breites, geradezu enzyklopädisches Wissen der beiden Herausgeber unter Beweis stellen und zugleich die Zielsetzung verfolgen, durch die Übersetzung im Wörterbuch normativ neue Wortbedeutungen festzuschreiben, wie etwa »Encyclopédie«, das unter Bezug auf die im Erscheinen begriffene Encyclopédie Diderots und d’Alemberts definiert wird als »eine Wissenschaft aller anderen Künste und Wissenschaften überhaupt, ein Begriff davon«12 Andere Begriffsübersetzungen spiegeln deutlich die von strenger protestantischer Moral geprägte Einstellung der Mauvillons, etwa wenn sie »Libertin« übersetzen mit »der an keine Religion will gebunden seyn«, aber dann deutlich wertend hinzufügen: »ruchlos; der sich gottlose Freyheiten nimmt; Freyheit liebend, der ungezwungen seyn will; muthwillig; eine Art irrgläubiger Leute oder Ketzer; liederlich.«13 Jakob Mauvillon hat im Laufe seiner Karriere insgesamt zehn Übersetzungen in Buchform vorgelegt. Seine erste Übersetzung, die Übertragung der Lettres der Madame de Sévigné ins Deutsche, bereits im Titel vorsichtig Versuch einer Übersetzung der Briefe der Marquisin von Sevigné überschrieben und 1765 in Braunschweig erschienen, belegt seine differenzierte sprachliche Sensibilität und verweist zugleich auf sein Übersetzungsverständnis, das unmittelbar an das Vorwort zu dem gemein|| 10 Ebd., Spalte 204, Eintrag »Bande«. 11 Ebd., Spalte 204. 12 Ebd., Spalte 805, Eintrag »Encyclopédie«. 13 Ebd., Spalte 1236, Eintrag »Libertin«. Vgl. auch entsprechend die Übersetzung des Begriffs »Libertinage«, ebd., Spalte 1236: »Ungezogene, strafbare Freyheits-Liebe; Ruchlosigkeit; aller Religionen Verachtung; Muthwille.«

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sam mit seinem Vater neu bearbeiteten Neuen Frantzösisch-Teutschen und TeutschFrantzösischen Wörterbuch anknüpft. In seiner umfangreichen »Vorrede« zu seiner Übersetzung der Sévigné-Briefe begründet Mauvillon zunächst seine eigene Übersetzung mit Unzulänglichkeiten und Fehlern der einzigen bisher auf Deutsch vorliegenden Teil-Übersetzung der Lettres, die 1759–1764 in der Sammlung der Frauenzimmerbriefe von Johann Gottfried Gellius erschienen war.14 Seine Kritik an der vorliegenden Übersetzung von Gellius ist ebenso differenziert wie vernichtend und führt Mauvillon dazu, seine eigene Übersetzungskonzeption in Grundzügen darzulegen. So schreibt Mauvillon zu Beginn seiner Vorrede: Der Versuch, den der Uebersetzer der Frauenzimmer-Briefe gemacht hat, bezeuget, wie schwer dieselben sind. Ohne zu rechnen, daß er sich nur an einige wenige gemacht hat, die zwar die leichtesten, aber nicht die schönsten sind, daß er sie verstümmelt und mit grosser Sorgfalt die feinen und schweren Stellen ausgelassen hat; ohne di[e]s zu rechnen, sage ich, so bezeugen die häufigen Irrthümer, die er dabey begangen, daß er sie nur sehr obenhin verstanden hat. Es wäre verdrüßlich, alle die Beyspiele davon, die ich bey Durchblätterung derselben gefunden habe, anzuführen.15

Mauvillons Übersetzung der Briefe der Madame de Sévigné, ein durchaus beachtliches Frühwerk, das er im Alter von 22 Jahren vorlegte, war die erste von insgesamt zehn Übersetzungen, die Mauvillon zwischen 1765 und 1793 anfertigte und die ihn zu einer wichtigen Übersetzerfigur im deutschen Sprach- und Kulturraum des ausgehenden 18. Jahrhunderts machten. Themen und Sprachen der Übersetzungen belegen die Sprachkompetenzen Mauvillons und seine vielseitigen Interessengebiete: zwei der acht Übersetzungen betreffen literarische Werke,16 eine Übersetzung die Naturgeschichte,17 die Mehrzahl – insgesamt fünf – jedoch politisch-philosophische Gegenstände, die von Guillaume-Thomas Raynals Philosophische und politische Geschichte beider Indien über Turgots Untersuchung über die Natur und den Ursprung der Reichtümer bis zu Pierre-Victor Malouets Briefe[n] über die Revolution reichen.18 Mauvillon übersetzte überwiegend aus dem Französischen ins Deutsche – dies betrifft sechs der zehn Übersetzungen –, aber auch aus dem Italienischen und Engli-

|| 14 Johann Gottfried Gellius: Gesammelte Frauenzimmer-Briefe zum Nutzen und Vergnügen aus verschiedenen Sprachen. 12 Theile. Leipzig 1759–1764. 15 Jakob Mauvillon: Vorrede. In: Versuch einer Uebersetzung der Briefe der Marquisin von Sévigné, mit historischen und critischen Erläuterungen von dem Hrn. Mauvillon dem Sohn. Braunschweig, Hildesheim 1765, S. 5–24, hier S. 7f. 16 Neben der bereits erwähnten Übersetzung der Lettres von Madame de Sévigné handelt es sich um: Ariosts wütender Roland, aus dem Italienischen übersetzt. 4 Theile. Lemgo 1777/78. 17 Zoologique géographique, Premier Article, l’Homme, par E. A. G. Zimmerman, Professeur d’histoire naturelle à Brunsvic. Kassel 1784. Das Werk von Zimmermann erschien zunächst 1777 auf Lateinisch und dann 1783 auf Deutsch. 18 Des Herrn Malouet Briefe über die Revolution. Aus dem Französischen übersetzt von J. Mauvillon. Leipzig 1793.

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schen ins Deutsche (jeweils eine Übersetzung) sowie aus dem Deutschen ins Französische (zwei Übersetzungen). Als eine komplexe Mischung von Übersetzung und eigenständiger Schrift stellt sich Mauvillons Sammlung von Aufsätzen über Gegenstände aus der Staatskunst, Staatswirthschaft und neuesten Staaten Geschichte aus dem Jahre 177619 dar, die auf dem Werk Four Tracts together with two Sermons on Political and commercial Subjects von Josiah Tucker beruhte.20 Der erste Teil, so erläutert Mauvillon in seiner Vorrede, sei eine Übersetzung des englischen Werkes;21 den zweiten Teil habe er »auch aus der Tuckerschen Sammlung genommen«, jedoch »nicht übersetzt, sondern meinem Zwecke gemäß, in einem räsonierenden Auszuge geliefert«;22 der dritte Aufsatz schließlich stammt aus der Feder von Mauvillon selbst.23 Er betrifft die Kolonialpolitik Großbritanniens in Nordamerika und trägt den Titel »Anmerkungen über der Herren Pinto und Schlözer sophistische Vertheidigung des englischen Ministeriums gegen die Kolonien, im ersten Heft des neuen Schlözerschen Briefwechsels.«24 Seine Übersetzung der Briefe des Grafen von Mirabeau an einen Freund in Deutschland stellt ihrerseits eine sehr komplexe Mischung aus Übersetzung, Bearbeitung und ›Schreiben in zwei Sprachen‹ dar, da Mauvillon die Ausgabe der Briefe Mirabeaus letztlich 1792 in Braunschweig in einer von ihm selbst besorgten, aber ausschließlich unter dem Autornamen Mirabeaus publizierten Ausgabe in deutscher und französischer Sprache veröffentlichte.25 Dies gilt gleichfalls für die Übersetzung von Mirabeaus Schrift über die preußische Monarchie,26 die 1793–1794 mit dem Zusatz »unter der Leitung des Grafen Mirabeau ver-

|| 19 2 Bde. Leipzig 1776/77. 20 Gloucester, London 1774. 21 Jakob Mauvillon: Sammlung von Aufsätzen über Gegenstände aus der Staatskunst, Staatswirthschaft und neuesten Staaten Geschichte. Leipzig 1776, hier »Vorrede«, S. 13–26, hier S. 14: »Der erste ist von mir blos übersetzt worden.« Dieser Teil trägt den Titel »Auflösung der großen Frage: Ob ein reiches Land die Mitwerbung mit einem armen Lande, bey gleichen natürlichen Vortheilen, in Hervorbringung von Produkten und Manufakturarbeiten, um einen geringen Preiß aushalten kann? Nebst dahin gehöriger Folgerung« (S. 27–138). 22 Ebd., S. 16. Der zweite Teil trägt den Titel »Das wahre Beste Großbritanniens, in Rücksicht auf seine Kolonien, und die einzigen Mittel, mit denselben in Friede und Einigkeit zu leben« (S. 75–138). 23 Ebd., S. 21: »Der dritte Aufsatz ist von mir. Die Streitigkeiten Englands mit seinen Kolonien sind eine spekulative Materie für das lesende Publikum in Deutschland, so wie die Streitigkeiten Athens mit den Seinigen.« 24 Ebd., S. 139–188. 25 Jakob Mauvillon: Briefe des Grafen von Mirabeau an einen Freund in Deutschland. Geschrieben in den Jahren 1786, 1787, 1788, 1789, 1790. s.l. 1792. 26 Honoré-Gabriel Riqueti de Mirabeau: De la Monarchie prussienne sous Frédéric le Grand, avec un appendice contenant des recherches sur la situation actuelle des principales contrées de l’Allemagne. 4 Bde. Londres 1788.

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fasst« in Braunschweig und Leipzig erschien.27 Obwohl Mauvillon selbst in enger Zusammenarbeit mit Mirabeau einen Teil des Werkes verfasst hatte,28 hatte Mirabeau die französische Fassung des Werks 1788 in Paris veröffentlicht, ohne eine KoAutorschaft oder engere Beteiligung Mauvillons, mit dem er über mehrere Jahre hinweg eng zusammengearbeitet hatte, an dem Werk zu erwähnen. Mauvillon hatte – zweifellos gegen Bezahlung – Mirabeau umfangreiche Materialien für seine Veröffentlichung zusammengestellt, diese für ihn vom Deutschen ins Französische übersetzt und auf Französisch eine erste Fassung des Manuskripts erstellt, so dass er von einem Biographien Mirabeaus als ›Ghostwriter‹ (»nègre«) bezeichnet wurde.29 Mirabeau scheint jedoch, so Hoffmann, die Beiträge Mauvillons aufgrund ihrer Nüchternheit und stilistischen Mängel allesamt überarbeitet zu haben.«30 Die nach dem Tode Mirabeaus erschienene und von Mauvillon angefertigte Übersetzung des Werkes lässt sich somit auch als Beanspruchung einer gewissen Ko-Autorenschaft begreifen.31

2 Die Geschichte beider Indien von Raynal – eine neue Dimension der Übersetzungstätigkeit Mauvillons Mauvillons Übersetzung der siebenbändigen Histoire philosophique et politique des établissemens et du commerce des Européens dans les deux Indes, die zwischen 1774 und 1778 in Hannover in der Hofbuchhandlung der Gebrüder Hellwig erschien, repräsentiert in mehrfacher Hinsicht neue Dimensionen der Übersetzungstätigkeit Mauvillons. Zunächst stellt die Übersetzung der über 2.000 Seiten des raynalschen Werkes die umfangreichste Übersetzung dar, die Mauvillon anfertigte. Durch einen Verdienst von über 300 Talern nahm hierdurch seine schriftstellerische Nebentätigkeit ein durchaus lukratives Ausmaß an,32 das es ihm erlaubte, nicht nur seine zwei-

|| 27 Von der Preußischen Monarchie unter Friedrich dem Großen. Unter der Leitung des Grafen von Mirabeau abgefaßt und nun in einer verbesserten und vermehrten deutschen Uebersetzung herausgegeben von J. Mauvillon. 4 Bde. Braunschweig, Leipzig 1793–1795. 28 Siehe hierzu auch Hoffmann: Mauvillon (s. Anm. 1), S. 246f. 29 René Verrier: Mirabeau Franc-Maçon. 1749–1791. Marseille 1951, S. 1. 30 Hoffmann: Mauvillon (s. Anm. 1), S. 247. 31 Vgl. hierzu auch Friedrich Schlichtegroll: Jacob Mauvillon. In: Nekrolog auf das Jahr 1794, 5. Jg., Bd. 1. Gotha 1796, S. 163–245, hier S. 190: »Nun liegt es offen da, und Mauvillon hat es durch die deutsche Ueberarbeitung desselben unter seinem Namen gezeigt, daß, um es kurz zu sagen, dem Grafen die Idee des Werks, manche Unterstützung dabey, und die Einkleidung gehöre; ihm dem deutschen, aber die Ausführung des Einzelnen.« 32 Hoffmann: Mauvillon (s. Anm. 1), S. 93.

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te Kasseler Berufstätigkeit als Weg- und Brücken-Ingenieur, die für ihn zunehmend eine Last bedeutete, 1775 aufzugeben,33 sondern auch sukzessive ein gewisses Vermögen und einen nicht nur bescheidenen Wohlstand zu erlangen. »Zur Quelle eines regulären Nebeneinkommens aber wurde die Schriftstellerei erst mit der Veröffentlichung der Geschichte [...] beyder Indien«, so schreibt Jochen Hoffmann hierzu in seiner Studie zu Mauvillon.34 Sodann widmete sich Mauvillon durch seine Arbeit an der Übersetzung der raynalschen Kolonial-Enzyklopädie erstmals einem unmittelbar politisch-philosophischen Werk. Die Histoire des deux Indes, die 1770 in einer ersten, sechsbändigen Ausgabe, 1773 in einer erweiterten Ausgabe (die zunächst Mauvillons Übersetzung zugrunde lag),35 1774 in einer erweiterten und verbesserten Ausgabe, an der Diderot erstmals maßgeblich beteiligt war (die Mauvillon ab dem zweiten Band seiner Übersetzung als Vorlage diente36) und schließlich 1780 in einer zehnbändigen Ausgabe erschien, stellte eines der zentralen Werke des philosophisch-politischen Diskurses im Europa der beiden Jahrzehnte vor der Französischen Revolution dar. Es hatte – ebenso wie vor allem das Werk Rousseaus – einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die Zeitgenossen und die Revolutionäre von 1789, wie zahlreiche Studien

|| 33 Vgl. hierzu Schlichtegroll: Mauvillon (s. Anm. 31), hier S. 173. 34 Hoffmann: Mauvillon (s. Anm. 1), S. 93. 35 Vgl. Hallische Gelehrte Zeitungen 9 (1774), S. 268f.: »Es ist vielen unserer Leser schon bekannt, daß von diesem Werke zwey, wo nicht drey Uebersetzungen in dieser Ostermesse haben erscheinen sollen. Man hatte Avertissements und Gegenavertissements davon gelesen, als man hörte, daß der Verfasser die bisherige Ausgabe für unächt und ohne seine Bewilligung gedruckt erkläret, und eine neue mit vielen Verehrungen und Verbesserungen in Holland herauskommen sollte. [...]. Herr Mauvillon, der schon die Uebersetzung des zweyten Theils angefangen hatte, ließ sich dadurch nicht irren, den ersten Theil nach der Ausgabe von 1773 zu beendigen, welche also hier erscheint. Er verspricht, daß wenn in der neuen Ausgabe wichtige Zusätze, Verbesserungen oder dergleichen wirklich vorhanden seyn sollten, so würde er solche als einen bequem eingerichteten Nachtrag bey dem zweyten Theile nachliefern, welche auf Johannis fertig seyn soll.« Die Ausgabe von 1773 trägt den Verlagsort »Amsterdam« und wurde als »Nouvelle édition corrigée & augmentée d’une Table des Matières« in Lyon bei Faucheux et Vialon verlegt. Die siebenbändige, zweite Version des Werks erschien 1774 bei Gosse Fils in La Haye. 36 Mauvillon fügte relevante Zusätze, die in der 1774 publizierten erweiterten Neuauflage von Raynals Histoire des deux Indes erschienen waren, in die von ihm verfassten Zusätze zum ersten Band ein. Vgl. auch hierzu die Rezension in: Hallische Gelehrte Zeitungen 10 (1775), S. 510f.: »Nun ist bekannt, daß von diesem Buche, da schon der erste Theil der Uebersetzung abgedruckt worden, eine neue Ausgabe ans Licht trat, welche von der ersten in sehr vielen Puncten unterschieden, auch in der That verbessert ist. [...]. Um nun die Käufer des ersten Theils der Übersetzung schadlos zu halten, so hat Hr. M. auf acht Bogen diese Zusätze und Verbesserungen besonders drucken lassen.« Nicolai unterstreicht in seiner Rezension in der Allgemeinen deutschen Bibliothek 39 (1779), S. 277– 281, hier S. 277f., dass diese sorgfältige und quellenkritische Herangehensweise Mauvillons Übersetzung einen weiteren Vorteil gegenüber der parallel in Kopenhagen und Leipzig erschienenen Übersetzung von Raynals Werk gebe.

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belegen.37 Von dem ehemaligen Priester und späteren Literaten und Publizisten Guillaume-Thomas Raynal unter Mitarbeit einer Gruppe von französischen Schriftstellern, Philosophen und Historikern ‒ u. a. Alexandre Deleyre, Jacques-André Naigeon, Jean de Pémeja, dem Baron dʼHolbach und vor allem Denis Diderot – verfasst, stellte die Histoire des deux Indes die erste umfassende Geschichte der europäischen Expansion nach Übersee, vom Beginn des sogenannten ›Zeitalters der Entdeckungen‹ im 15. Jahrhundert bis zur Amerikanischen Revolution (1775–1783) dar, in der zugleich zentrale Themen des politischen Aufklärungsdiskurses zur Sprache gebracht wurden: die Legitimität und zunehmende Infragestellung von Negersklaverei, Sklavenhandel und Kolonialismus; die Alternative von Reform und Revolution; die Diskussion um soziale Ungleichheiten und Luxus; die Entwicklung von Welthandel und Handelspolitik; und die Debatte um die bestmöglichen Herrschaftsformen, in der die politischen Modelle des aufgeklärten Despotismus und der demokratischen Republik in den philosophischen Passagen in Raynals Werk, die überwiegend aus der Feder Diderots stammten, eine herausragende Rolle spielten. Raynals Werk stellte einen der großen Bestseller der Aufklärungsbewegung dar und vermochte hierdurch die genannten Themen an eine relativ breite Öffentlichkeit in ganz Europa zu vermitteln. Es erlebte zwischen 1770 und 1793 über 50 Editionen in französischer Sprache, eine etwa ebenso große Anzahl von Übersetzungen in insgesamt zehn Sprachen in Form von Ganz- oder Teilübersetzungen und eine kaum absehbare Verbreitung durch Auszüge, die in französischer Sprache, aber auch in anderen Sprachen unter verschiedensten thematischen Gesichtspunkten angefertigt wurden.38 Drittens schließlich – und hierin liegt die eigentliche Originalität seiner RaynalÜbersetzung – beschränkte sich Mauvillon – wie bereits ansatzweise in seiner Übersetzung der Sévigné-Briefe – nicht auf eine rein sprachliche Übertragung, sondern er erweiterte seine Rolle als Übersetzer, indem er zahlreiche kritische Kommentare und umfangreiche Ergänzungen und Anmerkungen hinzufügte. Diese betreffen auch die Umrechnung aller auswärtigen Münzsorten, die Mauvillon »sehr mühsam und ziemlich genau auf den deutschen Münzfuß reducirt hat«, was »deutschen

|| 37 Vgl. hierzu u. a. Hans-Jürgen Lüsebrink, Manfred Tietz (Hg.): Lectures de Raynal – L’Histoire des deux Indes en Europe et en Amérique au XVIIIe siècle. Oxford 1991; Anthony Strugnell, Andrew Brown, Cecil Courtney, Georges Dulac, Gianluigi Goggi (Hg.): Guillaume-Thomas Raynal: Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes. Edition critique. Ferney-Voltaire, Centre International d’étude du XVIIIe siècle, 2010, Bd. 1, »Introduction générale«, S. XXVIII–LII, hier S. XLVIII–LII (»la réception de l’Histoire des deux Indes«). Vgl. zur Editionsgeschichte des Werkes ebd., S. LIII–LXXX (»Bibliographie sommaire des éditions de l’Histoire des deux Indes«). 38 Hans-Jürgen Lüsebrink: L’»Histoire des Deux Indes« et ses »Extraits«: un mode de dispersion textuelle au XVIIIe siècle. In: Littérature 69 (1988), thématique: »Intertextualité et Révolution«. Hg. von Michel Delon, S. 28–41.

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Lesern allerdings angenehm sein muß«,39 wie ein Rezensent sehr lobend vermerkte, sowie ein »vollständiges Register«, welches »nothwendig das Nachschlagen sehr erleichtern muß.«40 Anton Friedrich Büsching, der in seiner 1777 erschienenen Rezension betonte, Mauvillons Übersetzertätigkeit habe zur »größern Vollkommenheit und Brauchbarkeit«41 von Raynals Werk entscheidend beigetragen, charakterisierte sie wie folgt: Herr Professor Mauvillon hielt es für seine Pflicht, nicht blos richtig und fließend zu übersetzen, sondern auch den Quellen der Nachrichten des Verfassers, so viel ihm möglich war, nachzuforschen, zu untersuchen, ob er sie mit Klugheit gewählet, und mit Sorgfalt gebraucht habe? Dem Verfasser nachzuarbeiten, und wo er seine Erzählung und Vorstellung mangel- und fehlerhaft entweder gewiß gefunden, oder doch zu finden geglaubt, dieselbige zu verbeßern und zu ergänzen.42

Diese Ergänzung der Rolle des Übersetzers durch die des kritisch-wissenschaftlichen Kommentators mag auch finanzielle Gründe gehabt haben, wurden doch eigenständige Texte von Verlegern etwa doppelt so hoch bezahlt wie reine Übersetzungen. Nach Angaben Hoffmanns erhielt Mauvillon für seine Übersetzungstexte etwa zwei Taler pro Bogen, für seine eigenständigen schriftstellerischen Texte jedoch mindestens vier Taler, zum Teil, je nach Verleger, Verhandlungsposition und geschätztem Marktwert des zu übersetzenden Werkes, auch mehr.43 Entscheidend dürften jedoch für Mauvillons Entscheidung, seine Übersetzung des raynalschen Werkes mit einem umfangreichen kritischen Kommentar zu verbinden, seine eigenen schriftstellerischen und wissenschaftlichen Ambitionen gewesen sein. In seiner Raynal-Übersetzung trat in der Tat erstmals deutlich sein Interesse für die Verbindungen von Ökonomie, Politik und Philosophie zutage und sein Talent zum kritischen Kommentieren, das er in den 1780er Jahren in seine – gleichfalls lukrative – Tätigkeit als regelmäßiger Rezensent in der Allgemeinen Literaturzeitung in Jena in den Jahren 1788–1790 und vor allem ab 1783 in der Allgemeinen deutschen Bibliothek weiterentwickeln sollte. Mauvillons kritisch-kreativer Umgang mit Raynals Werk, das schon 1774 ein europaweites Renommee erlangt hatte, äußerte sich bereits in seinen Stellungnahmen im Vorwort zu seiner Übersetzung. So schreibt er in der Einleitung zum ersten Band seiner Übersetzung zu seiner Konzeption einer gleichermaßen sprachlich adäquaten wie kritisch weiterführenden Übersetzung:

|| 39 Allgemeine deutsche Bibliothek 39 (1779), S. 277–281, hier S. 280f. 40 Ebd., S. 281. 41 Wöchentliche Nachrichten von neuen Landcharten, geographischen, statistischen und historischen Büchern und Sachen 4 (1777), S. 171–174, hier S. 172. 42 Ebd. 43 Hoffmann: Mauvillon (s. Anm. 1), S. 93.

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Je deutlicher wir uns über diese Uebersetzung gegen das Publikum erklärt haben, ja zum Theil haben erklären müssen, je weniger brauchen wir anjetzt hievon zu sagen. Wir übergeben hiermit den ersten Theil derselben dem Leser, und wenn sich einige die Mühe geben wollen, sie mit dem Original zusammen zu halten, so werden sie bald sehen, was wir in Verbesserung der Druckfehler und andrer Irrthümer, wie auch in den übrigen zu einer guten Uebersetzung gehörigen Dingen geleistet haben, daß wir also nicht viel davon zu sagen brauchen. Wir haben unser Wort gehalten, und allen Quellen, aus welchen der Verfasser geschöpft hat, und die wir auftreiben konnten, nachgespührt, und seine Erzählungen geprüft.44

Aus den Vorreden Mauvillons, die er nicht nur dem ersten Band, sondern auch den weiteren Bänden der Übersetzung beifügte, geht deutlich hervor, dass er die Aufgabe des Übersetzers nicht auf eine sprachliche Transposition beschränkt sah, sondern sie mit der Rolle des kritischen und in diesem Fall auch wissenschaftlichen Kommentators verknüpfte. Dessen Aufgabe müsse darin bestehen, den aktuellen Forschungsstand aufzuarbeiten und zu ergänzen und auf Lücken und Defizite des Originalwerks aufmerksam zu machen. So schreibt Mauvillon in seiner Vorrede zum sechsten Teil des Werkes, der den englischen und französischen Kolonien in Nordamerika gewidmet ist: Raynal, so schätzenswerth, so genau, so richtig sein Werk im Ganzen ist, hat manches gesagt, besonders in diesem Theile, das einige Berichtigung oder wenigstens Erweiterung verdiente, theils weil er nicht an alle Quellen hat kommen können, theils weil einige Dinge erst nach der Zeit, da er geschrieben hat, bekannt geworden. Ich meyne hiebey besonders alles, was er von den englischen Kolonien sagt, wo er bey Ermangelung einer genauen Kenntniß des Englischen manche Quelle, woraus wir schöpfen können, hat entbehren müssen. Nicht an Materie konnte es uns fehlen, weil wir seit einiger Zeit ein Lieblingsstudium aus den Angelegenheiten der englischen Besitzungen in Amerika gemacht haben, und einige der besten Bücher hierüber theils selbst besitzen, theils durch den gütigen Vorschub von Gönnern und Freunden frey gebrauchen können.45

Gelegentlich finden sich in der Übersetzung des Werkes von Raynal Erläuterungen zu den Übersetzungsmöglichkeiten oder auch zur Nicht-Übersetzung von Termini aus anderen Sprachen, so etwa, wenn Mauvillon darlegt, das englische Wort »Peers« im deutschsprachigen Text der Übersetzung nicht übersetzt, sondern beibehalten zu haben. »Da wir in Deutschland nirgends so glücklich sind, die Sache zu haben«, schreibt Mauvillon in einer Fußnote im sechsten Teil der Übersetzung, »so fehlt uns auch, wie natürlich das Wort, und ich habe also das englische beybehalten.«46 Es folgt danach, gleichfalls in einer Fußnote, eine präzise Erklärung || 44 Jakob Mauvillon: Vorrede. In: Philosophische und Politische Geschichte der Besitzungen und des Handels der Europäer in beiden Indien. Aus dem Französischen übersetzt, und mit einigen Verbesserungen und Anmerkungen versehen von J. Mauvillon, Professor der Kriegsbaukunst am Collegio Carolino zu Cassel. Hannover 1774, Erster Theil, unpag., hier [S. 1f.]. 45 Ebd., Sechster Theil, unpag., hier [S. 2f.]. 46 Ebd., 16. Buch, S. 215, Fußnote.

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des Wortes »Peers«,47 eine »göttliche Einrichtung«, wie Mauvillon wertend und mit einem Verweis auf weiterführende, einschlägige Literatur hinzufügt, in diesem Fall auf Lolmes »Werk über die Staatsverfassung von England«, die Mauvillon zur näheren Information herangezogen hatte.48 Mauvillons umfangreiche Anmerkungen, die der Übersetzung beigefügt sind, finden sich zum einen in den Fußnoten und zum anderen in einem Anhang, der zunächst in den ersten Bänden »Zusätze und Veränderungen« und dann »Nachtrag des Uebersetzers« genannt wird. Die Anmerkungen Mauvillons betreffen in erster Linie drei Kategorien. Erstens handelt es sich um Worterklärungen, d. h. um die Erläuterung von Begriffen und Wörtern, die nach Ansicht des Übersetzers dem deutschen Lesepublikum nicht geläufig sind und einer Erklärung bedürfen. So übersetzt er das aus dem Arabischen kommende und im Französischen eingebürgerte Wort »Aldée« durch »Vorstädte« und berichtigt damit Raynals Worterklärung, der, so Mauvillon, das Wort »immer für das um eine Faktorey liegende und dazu gehörige Terrain« gebrauche, was nicht korrekt sei.49 Oder er erläutert das französische Wort »Linomple«, das er im Zusammenhang mit anderen Text-Handelswaren nennt, aber nicht übersetzt, in einer Fußnote wie folgt: »Das sind eine Art gestreifter oder gefleckter leinenen Zeuge, die in Flandern verfertigt, und auf Französisch Linons oder Linomples genannt werden.«50 Zweitens zielen Mauvillons Anmerkungen darauf ab, Zusatzinformationen zu liefern, die unterschiedliche Funktionen haben konnten: so etwa Faktenkorrekturen vorzunehmen; orthographische Fehler zu berichtigen; sowie ergänzende und vor allem auch aktualisierende Informationen zu vermitteln, die für das deutschsprachige Publikum von besonderem Interesse sein konnten. So enthält Mauvillons Übersetzung zahlreiche Angaben zu Währungen und Wechselkursen sowie zu biographischen, historischen, kulturellen und geographischen Details, die nach Ansicht des Übersetzers zum Verständnis des Werkes notwendig, aber bei dem anvisierten deutschen Lesepublikum, zweifellos einer gehobenen Bildungsschicht, nicht unbedingt vorausgesetzt werden könnten. Mauvillon liefert beispielsweise zusätzli-

|| 47 Ebd., S. 215f., Fußnote: »Wenn in England jemand etwas begangen hat, so werden zwölf Menschen seines Standes, und aus seinem Orte oder Gegend ernannt, vor denen ihm der Proceß gemacht wird, und die ihm das Lossprechungs- oder Verdammungsurtheil sprechen, und diese heißen die Peers.« 48 Ebd., S. 216, Fußnote: »Das mehrere und genauere von dieser göttlichen Einrichtung findet der Leser in de l’Olme’s Werk über die Staatsverfassung von England.« Es handelt sich hier um das folgende Werk von Jean-Louis de Lolme: The Constitution of England: Or, An Account of the English Government; in which it is Compared, both with the Republican Form of Government, and Occasionally with the Other Monarchies in Europe. London 1775. 49 Mauvillon: Philosophische und Politische Geschichte (s. Anm. 44), Erster Theil, 3. Buch, S. 488, Fußnote. 50 Ebd., S. 542, Fußnote.

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che Informationen zu den Perlenfischern in Kalifornien, den Kakaopflanzen in den Tropen, zur geographischen Lage und historischen Entwicklung der zum holländischen Kolonialreich gehörigen Celebes-Inseln in Südostasien, zur Biographie von Amerigo Vespucci oder zum Teekonsum der Engländer. Letzteren gibt Raynal mit durchschnittlich vier Pfund pro Jahr an, was Mauvillon mit der Bemerkung kommentiert: »Das ist keineswegs übertrieben, da die Engländer sehr starke Teetrinker sind.«51 Zu den Ergänzungen zählen auch aktualisierende Informationen, die auf den neuesten Forschungs- und Informationsstand zu verweisen suchen. So findet sich in der Übersetzung von Raynals Kapitel zur indischen Provinz Hindustan in einer Fußnote die folgende Anmerkung Mauvillons: Die neuesten Nachrichten, die der Herr Abbé Raynal von dem Zustande Hindostans und der englischen ostindischen Gesellschaft genutzt hat, gehen nicht weiter als das Jahr 1767 bis 1768. Es macht aber ein sehr gut Vorurtheil für ihn, daß er die Zukunft so gut vorhergesehen hat, wie es der missliche Zustand, worin(n) anjetzt sich die englische Gesellschaft befindet, und die Ursachen desselben es beweisen.52

Die dritte Kategorie von Fußnoten, die Mauvillon in seiner Raynal-Übersetzung verwendet, betrifft kritische Übersetzerkommentare, die in ihrem Duktus dem Stil von Rezensionen ähneln, einer Textgattung, die Mauvillon im Rahmen seiner Tätigkeit für zahlreiche Zeitschriften, u. a. für die Allgemeine Literaturzeitung in Jena und die Allgemeine deutsche Bibliothek, mit Vorliebe praktizierte. So konfrontiert Mauvillon Raynals idealisierendes China-Bild im dritten Buch des ersten Teils der Histoire des deux Indes mit den Aussagen anderer Quellen, u. a. der englischen Universal History und den Jesuitenberichten über das Reich der Mitte. Mauvillon unterzieht hier in einer sehr langen, fast vier Seiten einnehmenden Fußnote Raynals Chinadarstellung einer präzisen, quellenbasierten Kritik, die mit folgenden Bemerkungen beginnt: Diese Nachricht von China, ja sie geht weiter als das, was du Halde und die Jesuiten davon erzehlen, oder als der Auszug, den man davon in der allgemeinen Weltgeschichte findet, aus dem sie übrigens hauptsächlich entlehnt ist. Und diese Erzählungen sind doch auch schon sehr übertrieben. Denn wenn wir nicht irren, so folgt hier der Verfasser seinem Hange, das Bild eines höchst weisen und glücklichen Volks zu schildern, und sich dazu des Vorurtheils zu bedienen, das uns schon für die Chinesen eingenommen hat.53

Ähnlich kritische Bemerkungen finden sich in der Übersetzung von Raynals Kapitel zu Arabien, die Mauvillon mit der Darstellung des dänischen Reisenden und Wissenschaftlers Carsten Niebuhr konfrontiert, die ihm als Quelle ungleich zutreffender

|| 51 Ebd., S. 541, Fußnote. 52 Ebd., Dritter Theil, 3. Buch, S. 562f., Fußnote. 53 Ebd., Erster Theil, 1. Buch, S. 123, Fußnote.

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und zuverlässiger erscheint, die Raynal aber offensichtlich nicht kannte, wohl auch aus sprachlichen Gründen, da Niebuhrs 1772 erstmals auf Deutsch erschienene Beschreibung von Arabien erst 1774 in französischer Übersetzung erschien.54 In einer langen Fußnote zu Raynals Kapitel über die Eroberungen der Portugiesen in Ostindien bemängelt Mauvillon, dass dieser sich zu sehr und ohne die vorgenommenen Übernahmen kenntlich gemacht zu haben, auf Lafiteaus Histoire des Conquêtes des Portugais (1733) gestützt habe, die Raynal offensichtlich nach der in Prévosts Histoire générale des voyages (1746–1759) erschienenen Ausgabe konsultiert habe. An dieser Stelle geht Mauvillon über eine Detailkritik an dem von ihm übersetzten Werk deutlich hinaus, bezieht Distanz zu Raynals Selbstverständnis als Historiker sowie zu seiner historiographischen Praxis und bemängelt bei ihm den fehlenden kritischen Umgang mit Quellen und historiographischen Vorlagen: Die in diesem Buche enthaltenen Erzählungen von den Thathen der Portugiesen sind aus des Lafiteau Histoire des Conquêtes des Portugais genommen. Ein großer Theil davon, bis zum Verfall der portugiesischen Macht, steht im 1ten Theil der allgemeinen Reisegeschichte, wie auch in der allgemeinen Weltgeschichte. Aus beiden stammen die von dem Zustande verschiedener asiatisch[r] Völker eingeschalteten Erzählungen. Unser Verfasser hat zwar hie und da verschönert und verändert, welches eben nicht mit der historischen Pflicht gut übereinkommt; allein hier sind die Fehler nicht sehr wichtig. Indeß wird der Leser immer finden, daß wir sie genau anzeigen und verbessern werden, wo die Sache nur den geringsten Einfluß haben kann.55

Besonders kritisch-distanzierend sind Mauvillons Anmerkungen zu den Kapiteln zur deutschen Geschichte in der Histoire des deux Indes, die sich in Raynals Kolonialenzyklopädie im Zusammenhang mit den brandenburgischen Kolonialbesitzungen in Afrika finden. So schreibt er u. a. in einer Fußnote: »Der, dem die deutsche Geschichte nur ein wenig bekannt ist, wird in dem hier entworfenen Bilde der Nation Fehler genug finden.«56 Neben den Fußnoten mit ihren unterschiedlichen Funktionen hat Mauvillon seiner Raynal-Übersetzung umfangreiche Anhänge beigefügt, die, losgelöst vom eigentlichen Text der Übersetzung, als Supplemente am Ende der jeweiligen Teile (oder »Bücher«) des übersetzten Werks eingefügt sind. Trugen Sie im ersten Buch noch den Titel »Zusätze und Veränderungen« und schlossen sie hier auch die Fußnoten des Übersetzers ein, so trennte Mauvillon in der Folge die beiden paratextuel|| 54 Carsten Niebuhr: Beschreibung von Arabien. Aus eigenen Beobachtungen und im Lande selbst gesammelten Nachrichten abgefasset. Kopenhagen 1772; ders.: Reisebeschreibung nach Arabien und andern umliegenden Ländern. 2 Bde. Kopenhagen 1774–1778. Die Beschreibung Arabiens erschien erst 1774 unter dem Titel Description de l'Arabie (Amsterdam 1774) in französischer Sprache und wurde von Raynal und seinen Mitarbeitern, die des Deutschen nicht mächtig waren, hierdurch erst bei der dritten Ausgabe der Histoire des deux Indes, die 1780 erschien, berücksichtigt. 55 Raynal, Guillaume: Philosophische und Politische Geschichte. Übersetzt von Mauvillon, Bd. 1, Erster Theil, 1. Buch, S. 181, Fußnote. 56 Ebd., S. 182f.

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len Elemente und nannte die Supplemente »Nachtrag des Übersetzers.« Zudem führt Mauvillon nach den substantiellen Nachträgen nach jedem Band eine Liste der Druckfehler und kleineren Berichtigungen an, die beispielsweise sich widersprechende Angaben im Text Raynals betreffen, die er »Veränderungen von geringerem Belange« nennt. Diese Supplemente sind vor allem in den ersten Bänden der Übersetzung sehr umfangreich und umfassen etwa ein Fünftel des Gesamttextes, im ersten Band beispielsweise 65 von knapp 300 Seiten. Sie enthalten Berichtigungen und Ergänzungen vor allem bezüglich Quellen englischer und deutscher Provenienz, die Raynal und seine Mitarbeiter aus Nachlässigkeit, insbesondere jedoch aufgrund fehlender Sprachkenntnisse, nicht herangezogen hatten, wie etwa John Campbells Political Survey of Great Britain, being a series of reflections on the situation, lands, inhabitants, revenues, colonies and commerce of the island57 von 1774. Das Werk stellt eine der Grundlagen von Mauvillons Nachtrag zum fünften Teil seiner Raynal-Übersetzung dar, die die Darstellung der englischen Kolonien in Amerika betrifft. In zeitgenössischen Rezensionen wurden die kritisch-ergänzenden Kommentare Mauvillons ausdrücklich gelobt und als ein wesentlicher Mehrwert der Übersetzung gegenüber dem Original angesehen. So war 1774 in der Zeitschrift Hallische Gelehrte Anzeigen zur Übersetzung des erwähnten 5. Bandes zu lesen: Wir haben in diesem Band wenige Anmerkungen von Hrn. M., wohl aber hat derselbe einen Nachtrag über den gegenwärtigen Zustand der englischen Kolonien auf den amerikanischen Inseln geliefert. [...]. Wir müssen daher für diese Bemühungen, wodurch die Üebersetzung einen ansehnlichen Vortheil vor dem Original bekommt, dem Herrn M. Dank sagen, da nicht wenige Dinge ergänzt, berichtigt und erklärt sind.58

Ähnliches vermerkten 1776 die Erlangischen gelehrten Anmerkungen und Nachrichten: Unstreitig gewinnt die Uebersetzung durch Hrn. Mauvillons unermüdlichen Eifer, Berichtigungen und Ergänzungen aus gedruckten Hilfsmitteln beyzubringen, einen sehr erheblichen Vortheil vor dem Original. Er ist noch auf mehrere Quellen des nicht citi[e]renden Franzosen gekommen, und hat dessen starke und schwache Seite besser kennen gelernt, als bey dem ersten Band.59

Anton Friedrich Büsching wiederum unterstrich in seinen Wöchentlichen Nachrichten 1777, Mauvillons Verständnis des kritischen Übersetzens, wie er es in seiner Raynal-Übersetzung unter Beweis stellte, sei »nun freylich nicht die leichteste und bequemste, aber gewiß die nützlichste und rühmlichste Bemühung eines Ueberset-

|| 57 2 Bde. London 1774. 58 Hallische Neue Gelehrte Zeitungen, 13. 2. 1777, S. 105f., hier S. 106. 59 Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten (1776), S. 270f., hier S. 270.

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zers, und Herr Mauvillon hat sich durch die seinige bisher wahre Ehre erworben.«60 Die von Friedrich Nicolai herausgegebene Allgemeine deutsche Bibliothek würdigte in ihrer Besprechung der Raynal-Übersetzung Mauvillons Verdienste, indem er seine im Allgemeinen61 sehr sorgfältigen quellenkritischen Kommentare hervorhebt, seinen Übersetzerstil aber zugleich von dem einer parallel in Kopenhagen erschienenen Übersetzung des raynalschen Werkes abhebt.62 Kennzeichnenderweise verweist der Rezensent hier explizit nicht nur auf zwei unterschiedliche Diskursformen – Geschichte versus Philosophie –, sondern auch auf zwei unterschiedliche Stile des Übersetzens und seiner sprachlichen Ausformung, die mit ihnen verbunden seien: Will man nicht auf das Harte und Unbiegsame der Sprache sehen, sondern verlangt der Leser bloß Geschichte, Berichtigung […] und genaue Nachrichten, so können wir nicht umhin der Mauvillonschen den Vorzug zu geben. Allein einen leichteren Stil, feines, gründlich durchgedachtes und reines philosophisches Raisonnement findet er in der Kopenhagener.63

Andere Rezensionen, wie auch Mauvillon selbst, sahen den Mehrwert der Übersetzung nicht nur in der für viele Leser im Vergleich zum französischen Original leichteren sprachlichen Zugänglichkeit und in nützlichen, auf das deutsche Lesepublikum zugeschnittenen Informationen (wie Worterklärungen und Umrechnungen von Münzangaben), sondern auch in der Weiterentwicklung des Wissensstandes, der in Mauvillons umfangreichen kritischen Anmerkungen und Ergänzungen zum Ausdruck kam. So war in der Rezension der Erlangischen gelehrten Anmerkungen und Nachrichten in diesem Zusammenhang ausdrücklich von Mauvillons »forschende[m] Geist« und seinen »scharfsinnigen Reflexionen«64 die Rede.

3 Funktionen des Übersetzens bei Mauvillon – Nebenverdienst, Passion, kulturelle Dynamik Übersetzen stellte neben eigenständigen wissenschaftlichen und literarischen Arbeiten einen – wie bereits betont – im Laufe der Jahre für Mauvillon zunehmend

|| 60 Wöchentliche Nachrichten von neuen Landcharten, geographischen, statistischen und historischen Büchern und Sachen 4 (1777), S. 171–174, hier S. 172. 61 Allgemeine deutsche Bibliothek 39 (1779), S. 276–281, hier S. 281: »Endlich noch einige Berichtigungen. Rec. wünscht, daß Mauvillon etwas sorgfältiger in Berichtigung der Namen gewesen wäre«. 62 Die parallel entstandene Übersetzung trug den Titel: Philosophische und politische Geschichte der europäischen Handlung und Pflanzörter in beyden Indien. Aus dem Französischen, mit Anmerkungen. 7 Bde. Kopenhagen, Leipzig 1774–1778. Sie war deutlich weniger erfolgreich als die Übersetzung Mauvillons. 63 Allgemeine deutsche Bibliothek 39 (1779), S. 276–281, hier S. 281. 64 Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten, 27. April 1776, S. 270f., hier S. 270.

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lukrativer gewordenen Nebenverdienst dar, durch den er sein akademisches Salär in den 1770er, 1780er und beginnenden 1790er Jahren nahezu zu verdoppeln vermochte. Neben dieser zweifellos für Mauvillon wichtigen pekuniären Dimension spielen jedoch drei weitere Funktionen bei seiner Übersetzungstätigkeit eine herausragende Rolle. Zunächst nahmen persönliche Netzwerke und Beziehungen einen wichtigen Stellenwert ein. So beruhte Mauvillons Raynal-Übersetzung auf seinen engen persönlichen Beziehungen zu dem Hannoveraner Verleger Helwing, dem er durch das Werk zu einem in der deutschen Öffentlichkeit – wie zahlreiche, sehr positive Rezensionen belegen65 ‒ viel beachteten Bucherfolg verhalf. Als 1783 im Verlag der Typographischen Gesellschaft in Kempten die Übersetzung der 1780 im Französischen erschienenen zehnbändigen Ausgabe von Raynals Werk publiziert wurde, die großenteils (was die aus der vorherigen Ausgabe übernommenen Teile anging) auf Mauvillons Übersetzung – und nicht auf der konkurrierenden Übersetzung, die in Kopenhagen und Leipzig erschien – basierte, bedauerten Rezensenten, dass hier die Ergänzungen, Kommentare und Korrekturen viel zu knapp ausgefallen waren. »Ganz gewiß würde Hr. Mauvillon«, so war etwa in einer Rezension in der Allgemeinen deutschen Bibliothek zu lesen, »noch viele beträchtliche Zusätze und Verbesserungen zu dieser neuen raynalschen Ausgabe aus neuern Schriften und Nachrichten liefern, und dadurch seiner Uebersetzung große Vorzüge vor dem französischen Originale verschaffen können.«66 Die Übersetzung von Werken und Briefen Mirabeaus durch Mauvillon wiederum waren Bestandteil einer sehr engen Zusammenarbeit zwischen Mirabeau und Mauvillon, über eine Reihe von Jahren hinweg, die unterschiedliche Bereiche betraf. Auch Mauvillons Übersetzung von Eberhard August Wilhelm Zimmermanns Geographischer Geschichte des Menschen, die ein Jahr nach dem Erscheinen des Originals 1784 in Kassel in einer Teilübersetzung in französischer Sprache erschien, beruhte in erster Linie auf persönlichen Beziehungen und Interesselagen. Der Braunschweiger Hofrat Zimmermann spielte bei der von Mauvillon sehnlich erhofften Berufung nach Braunschweig in der Tat eine wichtige und vielleicht sogar zentrale Rolle. Dass sich Zimmermann (1743–1815), der als Professor für Mathematik, Physik und Naturgeschichte am Collegio Carolinum in Braunschweig lehrte, für Mauvillon beim Braunschweiger Herzog einsetzte, erklärt sich, so Jochen Hoffmann in seiner Mauvillon-Biographie, »vor allem aus der Tatsache, daß dieser dessen || 65 Vgl. die Rezensionen in: Hallische Gelehrte Anzeigen, 29. April 1774, S. 268f.; 10. August 1775, S. 510f.; 26.Februar 1776, S. 132f.; Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten, 27. April 1776, S. 270f.; 14. März 1778, S. 156f.; Gothaische Zeitungen, Bd. 1, 28. Mai 1774, S. 307f.; Zugabe zu den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen, 1. Bd., 27. Dezember 1777, S. 830f.; Wöchentliche Nachrichten von neuen Landcharten, geographischen, statistischen und historischen Büchern und Sachen 4 (1777), S. 171–174 (A. F. Büsching); Allgemeine deutsche Bibliothek, 39. Bd., S. 276–281. 66 Allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 85, 2. Stück, 1789, S. 508‒531, hier S. 598f.

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zoologisches Werk im selben Jahr in französischer Übersetzung veröffentlicht hatte.«67 Mit der Übersetzung des Werkes von Zimmermann, dem zweiten enzyklopädischen Werk nach Raynals Kolonialenzyklopädie, das er übersetzte, beschritt der vielseitig interessierte Mauvillon wissenschaftlich weitgehend Neuland, handelte es sich doch hierbei um den ersten Teil einer letztlich unvollendet gebliebenen »zoologischen Geographie«, die Zimmermann in Angriff genommen hatte. Es ging dem – wie Mauvillon selbst – enzyklopädisch gebildeten und interessierten Zimmermann, wie er in seiner Vorrede detailliert und mit Blick auf einen ganzheitlichen Ansatz erläutert, darum, überall weise Ordnung in der Vertheilung der Thiere aufzusuchen; überall eine dem Menschen vortheilhafte Einrichtung zu finden; aus der Zoologie auf die Temperatur der Länder zu schließen, auf den ehemaligen Zusammenhang derselben zurück zu gehen, endlich zu untersuchen, was die Zoologie für Beyträge zu der Geschichte selbst liefern könne.68

Das umfangreiche Vorwort Mauvillons zu seiner Übersetzung von Zimmermanns Zoologie ebenso wir seine – im Verhältnis zum Anmerkungsapparat seiner RaynalÜbersetzung hier nur sehr begrenzten – Anmerkungen verweisen auf eine zweite grundlegende Funktion, die Mauvillon mit seiner Übersetzungstätigkeit verband. Sie lässt sich mit dem Begriff ›Kulturelle Dynamik‹ beschreiben. Dieser betrifft zum einen die Dynamik des schriftstellerischen und wissenschaftlichen Schaffensprozesses bei Mauvillon selbst und zum anderen seine Reflexionen über den Zusammenhang von Mehrsprachigkeit, Übersetzung und kultureller Kreativität. Die Aneignung fremdsprachlicher Werke durch den Prozess der Übersetzung, ihre sprachliche und gedankliche Durchdringung und zugleich kreative Vereinnahmung lassen mit Blick auf die Übersetzungen der Werke Raynals und Zimmermanns eine spezifische Entwicklungsdynamik im Werk Mauvillons erkennen. Er setzte sich erstmals im Rahmen seiner Raynal-Übersetzung intensiv mit den globalen Zusammenhängen von Natur, Wirtschaft und Politik auseinander, die in Raynals Werk in starkem Maße von physiokratischen Gedanken geprägt waren; und in Raynals Geschichte beider Indien sah sich Mauvillon mit der Diskussion um unterschiedliche Gesellschaftsformen und die zukünftige Entwicklung europäischer Gesellschaften in der Alternative zwischen Reform und Revolution, sowie mit den Fragen aufgeklärter Fürstenherrschaft und revolutionärem Republikanismus konfrontiert. Die Übersetzungstätigkeit stellt sich bei Mauvillon somit auch als ein ebenso spezifischer wie intensiver und kreativer Lernprozess dar, wie – mit anderen Worten – auch der Rezensent des sechsten und vorletzten Bandes der Raynal-Übersetzung in den Erlangischen gelehr-

|| 67 Hoffmann: Mauvillon (s. Anm. 1), S. 52. 68 E[berhard]. A[ugust]. W[ilhelm]. Zimmermann: Vorrede. In: ders.: Versuch einer Anwendung der Zoologischen Geographie auf die Geschichte der Erde, nebst einer zoologischen Weltcharte. Leipzig 1783, unpag., hier [S. 2].

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ten Anmerkungen und Nachrichten 1785 unterstrich. Mauvillon habe nicht nur durch die Übersetzung die »Verbreitung und den Umlauf gewisser historischer Kenntnisse und Begriffe dadurch rühmlich befördert«, sondern zugleich sein eigenes politisches Denken weiterentwickelt: »Man bemerkt«, so schreibt der Rezensent, »wie mit jedem Bande die Fertigkeit im Ausdrucke für politische und raisonni[e]rende Dissertation, und zugleich die politische Kenntniß des belesenen Hrn. Uebersetzers selbst gewachsen ist.«69 Ähnliches stellt Mauvillon selbst in der Vorrede zu seiner Übersetzung der Geographischen Geschichte des Menschen von Eberhard August Wilhelm Zimmermann fest. Die Übersetzung habe ihm die Gelegenheit gegeben, sich wieder intensiv mit der Geschichte des Menschen zu befassen, die ihn vor über zwölf Jahren im Zusammenhang mit einem unveröffentlichten Buchprojekt beschäftigt habe.70 Seine Reflexionen hätten Eingang in ›Zusätze‹ (»Additions«) gefunden, die er als Fußnoten seiner Übersetzung beigefügt habe. Sie betreffen u. a. die Frage der biologisch-anthropologischen Verbindung oder Verwandtschaft zwischen Menschen und Affen, die Mauvillon in einer ausführlichen Fußnote diskutiert und in diesem Zusammenhang weitere experimentelle Forschungen anregt, über die jedoch »die Moralisten entscheiden müssten.«71 Sodann erfolgte Übersetzen für den nicht nur bilingualen und bikulturellen, sondern vielsprachigen Mauvillon, der sich als Übersetzer dezidiert von den »Uebersetzungsfabricanten« seiner Zeit distanzierte,72 zweifellos auch aus Passion, aus Leidenschaft, die eng sowohl mit Ästhetik wie mit Emotionen verbunden war. Kennzeichnenderweise geht Mauvillon in seiner Werbeanzeige für seine RaynalÜbersetzung, die 1773 in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht wurde, zunächst auf rationale Gründe ein, die das Publikum zum Kauf und zum Lesen seiner Übersetzung bewegen sollten; um danach jedoch auch emotionale und ästhetische Faktoren anzusprechen: »Dem Philosophen aber, dem denkenden Kopfe«, so schreibt Mauvillon, »versprechen wir ein ungemeines Vergnügen, wenn er lieset. Welch ein herrlich Schauspiel wird ihm der Anblick von den Veränderungen geben, die die || 69 Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten (1778), S. 156f., hier S. 157; dieselbe Rezension erschien in: Zugabe zu den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen 1 (1777), S. 830f. 70 Mauvillon: Préface. In: E. A. G. Zimmermann: Zoologie géographique. Premier article: l’Homme. Cassel 1784, S. I–XX, hier S. XIX: »Le Traducteur ayant autrefois, dans un tems heureux de loisir fortement étudié l’histoire de l’homme, il a osé y faire quelques additions. Ce sont les idées, qui lui sont restées, après douze ans de distraction sur de tout autres objets, d’un ouvrage qu’il avait composé sut la Nature humaine, & qu’il a perdu.« 71 Zimmermann: Zoologie (s. Anm. 70), S. 194–196, Fußnote »Note du traducteur«, hier S. 196: »C’est là un point que je laisse à décider aux Moralistes.« 72 Vgl. hierzu die Ankündigung seiner Raynal-Übersetzung: Jakob Mauvillon: Nachricht an das Publikum wegen einer Uebersetzung der Histoire philosophique et politique du Commerce et des Établissemens des Européens aux [sic!] deux Indes. In: Fortgesetzte Betrachtungen über die neuesten historischen Schriften (1774), S. 186–189, hier S. 188: »Aber es wäre doch schade für die vetref[f]liche Werk, wenn es einem Uebersetzungsfabrikanten in die Hände fiele.«

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Entdeckungen der Portugiesen und Spanier nach und nach in die Welt gebracht haben!«73 Noch deutlicher spielt die ästhetisch-emotionale Dimension bei den im Werk Mauvillons eher seltenen literarischen Übersetzungen eine Rolle. Im Vorwort zu seiner Übersetzung von Ariosts Versepos Orlando Furioso aus dem Jahre 1516, das Mauvillon zu den herausragenden Werken der europäischen Literaturen zählte,74 spielen die Begriffe »bewundern«, »Enthusiasmus«, »Verehrung«, »Schönheit«, »Bildung des Geschmacks« und »bewunderungswürdig«75 eine herausragende Rolle, die seine eigene, emotionale Beziehung zur italienischen Sprache sowie zu Ariost und seinem Werk kennzeichnen. Schließlich verweist die spezifische Funktion, die Mauvillon der Rolle des Übersetzers zuweist, auf die Dynamik einer transnationalen Verflechtung und zugleich Konkurrenz zwischen national geprägten, differenten Literatur- und Wissenschaftskulturen. Deutschland habe, so Mauvillon 1784, im Bereich der Schönen Literatur den anderen großen europäischen Kulturen, Frankreich und England, derzeit noch nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen, so daß sich Übersetzungen vom Deutschen in andere Sprachen von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht lohnen würden. Anders verhalte es sich jedoch mit dem Bereich der Wissenschaften, in dem, so Mauvillon, aufgrund der Qualität der deutschen akademischen Bildungsinstitutionen, der protestantischen Kultur Norddeutschlands76 und der Mehrsprachigkeit ihrer Gelehrten Deutschland Werke von »einem gewissen universellem Interesse«77 hervorgebracht habe, die es verdienen würden, auch ins Französische78 sowie in andere Sprachen übersetzt zu werden. Neben der Anthropologie und der Naturkunde nennt Mauvillon im Vorwort zu seiner Übersetzung der Geographischen Geschichte des Menschen79 von E. A. W. Zimmermann die Staatskunde und die Pädagogik, in denen im deutschsprachigen Raum führende akademische Werke entstanden sei-

|| 73 Ebd., S. 187. 74 [Jakob Mauvillon:] Vorrede. In: Ludwig Ariosto’s von den Italiänern der Göttliche genannt wüthender Roland. Ein Heldengedicht in sechs und vierzig Gesängen. Ins Deutsche übersetzt [von Jakob Mauvillon]. Lemgo 1777, S. III–XXXVIII, hier S. IV: »Ich gestehe auch gern, daß ich den Italiänern völlig beystimme, wenn sie den Ariost den Göttlichen nennen, und daß ich ihn unmittelbar nach dem Homer, sonst allen übrigen Dichtern in der Welt vorsetze.« 75 Vgl. nacheinander ebd., S. IV (»lieben und bewundern«), S. V, S. VI (»Enthusiasmus«), S. XVI (»Schönheit«), S. XXI (»Gefühl der Schönheiten«, »Bildung des Geschmacks«, »Schönheiten«), S. XXIV (»bewunderungswürdig«), S. XXXIV (»große Schönheit«). 76 Mauvillon: Préface (s. Anm. 70), hier S. XII: »Il ne faut pas oublier que la lumière des connoissances réside surtout dans l’Allemagne protestante«. 77 Ebd., S. XII (»choses d’un intérêt un peu universel«). 78 Ebd., S. XI: »Il faut choisir des Ouvrages capables d’intéresser la Nation Françoise.« 79 E[berhard]. A[ugust]. W[ilhelm]. Zimmermann: Geographische Geschichte des Menschen, und der allgemein verbreiteten vierfüßigen Thiere, nebst einer hieher gehörigen zoologischen Weltcharte. 3 Bde. Leipzig 1780–1783. Mauvillon übersetzte lediglich den ersten Band des Werkes.

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en.80 Mauvillon sieht in der Mehrsprachigkeit ein Zeichen von Exzellenz – er verwendet hierfür den Begriff der »Perfection«81 ‒, die im deutschen Sprachraum weit stärker als in anderen europäischen Kulturen, vor allem der französischen Kultur, verbreitet sei. Übersetzungen wiederum, die Mehrsprachigkeit voraussetzt, sieht er als ein Ferment der wissenschaftlichen und kulturellen Dynamik,82 wobei seine eigene Übersetzungspraxis zeigt, dass hiermit nicht nur die rein sprachliche Übertragung, sondern grundlegend ein Streben nach kritischer Aneignung, Verbesserung und Übertreffen des Originals verbunden ist.

|| 80 Mauvillon: Préface (s. Anm. 70), S. XIX. 81 Ebd., S. V: »[...] la connaissance de plusieurs langues est toujours une perfection, & que la perte d’un ressort qui nous force à nous procurer une perfection, doit toujours être regardée comme un malheur.« Mauvillon bedauert in diesem Zusammenhang den deutlichen Rückgang der Fremdsprachenkenntnisse, vor allem der Kenntnis des Deutschen, aufgrund der europaweiten Verbreitung der französischen Sprache. 82 Hierauf weist Mauvillon explizit ebd., S. I hin: »Il [un peuple] étendra beaucoup plus rapidement la Sphère de des connaissances, s’il admet en son sein le fruit des travaux des autres Nations. Cela ne souffre plus aucun doute.«

Arne Klawitter

Gegen jede »Art von litterärschen Cromwellismus« Jakob Mauvillon als Literaturkritiker

1 Zwei »Freygeister in Sachen des Genies« Als zur Michaelismesse 1771 im Verlag der Meyerschen Hofbuchhandlung in Lemgo das erste Stück des Briefwechsels Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend erschien, sorgte die vornehmlich gegen die deutsche »Gellertomanie«1 gerichtete Streitschrift für großes Aufsehen und löste einen Sturm der Entrüstung aus. Der 1769 verstorbene Publikumsliebling Gellert wird dort von den anonymen Verfassern als Romanautor, Dichter geistlicher Gesänge sowie als Fabel- und Lehrdichter regelrecht zerpflückt und sein Werk als »matt, schaal, wässerig«2 charakterisiert, was viele Kunstrichter aufbrachte. Gellert, heißt es dort weiter, sei nur ein »mittelmäßige[r] Schriftsteller«, ein »Dichter ohne einen Funken von Genie«.3 Klopstock, Wieland und Lessing seien längst über ihn hinausgewachsen. Die Verehrer Gellerts fuhren sogleich ihre Geschütze auf und feuerten erbarmungslos zurück: Noch im Dezember war in den Hallischen Neuen Gelehrten Zeitungen zu lesen: Dem Schreiber dieses Büchleins mögen die Hände sehr gejuckt haben. In seinem Kopfe mag es auch ziemlich übel aussehen. Wie hätte er es sonst wagen können, uns Deutschen dieses unverdauete, kühne und seichte Geschwätz vorzulegen? Denn, was glaubt man wohl, daß der Mensch, der den Werth unserer Dichter ex tripode entscheiden will, in dieser Schrift vorgebracht?4

Nicht nur, dass Gellert von den beiden Briefschreibern als einer der schlechtesten deutschen Schriftsteller bloßgestellt wird, sie bringen ihren Beweis »mit einer Bitterkeit und einer Galle« vor, die schier »unbegreiflich« sei. Der Verfasser, so mutmaßt der Hallische Rezensent, »scheint einer von den muthwilligen Buben zu seyn,

|| 1 [Ludwig August Unzer, Jakob Mauvillon:] Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel. 2 Stücke. Frankfurt a. M., Leipzig [d. i. Lemgo] 1771/72, I, S. 311. 2 Ebd., I, S. 43. 3 Ebd., I, S. 82. 4 Hallische Neue Gelehrte Zeitungen, 100. Stück, 12. Dezember 1771, S. 794. https://doi.org/10.1515/9783110793611-016

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die am Fusse des deutschen Parnasses herumschwärmen, und gerne verdiente Männer mit Koth besprützen möchten«, und er fügt hinzu: »Es sollte uns wehe thun, wenn sich es jemand einfallen liesse, dieses unverschämte Gewäsche, an welchem die elende Schreibart immer noch der geringste Fehler ist, einer Widerlegung zu würdigen.«5 Im Magazin der deutschen Critik wetterte ein anonymer Rezensent, dass kaum jemand »ohne den gerechtesten Unwillen, die Schrift eines verwegenen Jünglings zur Hand nehmen [könne], der den Geschmack des teutschen Publikums über den Haufen werfen, und allen öffentlichen und stillen Beyfall, die einzige Belohnung der Genies unsers Jahrhunderts, den größten, und selbst von den Ausländern bewunderten Männern mit einer so muthwilligen Dreistigkeit rauben, und da allein ein entscheidender Richter seyn will, wo nur wenige, wahre Kunstrichter die Wage der Kritik führen sollten!« Man müsse den Verfasser wohl eher bedauern, so der aufgebrachte Rezensent weiter, als mit Galle tadeln, der selbst in dem Augenblicke, da er die Hochachtung und den künftigen Beyfall seiner Nation von sich stößt, so vieles Talent verräth! Schade! daß der V. dem man nur mit entschiedener Ungerechtigkeit Talente absprechen kan, nicht die Bahn hat gehen wollen, die der edle Theil unsrer Kunstrichter und unsrer Nation, in welche er kaum aufgenommen ist (so sehr ist uns der V. bekannt) gegangen sind, sondern daß er sich zu dem verachteten Haufen unsrer heutigen jungen Schmäher drängt.6

Ebenso verärgert reagierte Christian Heinrich Schmid in dem von ihm herausgegebenen Almanach der deutschen Musen:7 Nicht genug, daß Gellerts Andenken von so manchem Stümper verunehrt worden, hier treten ein paar Wäscher auf, die dumm und dreist der ganzen Nation ins Gesicht beweisen wollen, daß sie keine Ursache gehabt, Gellerten zu lieben und zu bewundern. Ich bin überzeugt, daß jedermann diese kritischen Briefe mit dem größten Unwillen und Verachtung aus der Hand werfen wird [...].8

Die Fußtruppe des deutschen Parnasses überstürzte sich geradezu darin, die Anonyma zu lüften und die Namen der Grabschänder öffentlich zu machen. Die als

|| 5 Ebd., S. 795f. 6 Magazin der deutschen Critik, 1. Bd., 2. Thl. (1772), S. 198–201, hier S. 198f. 7 Dass die Kritik, obgleich nicht unterzeichnet, von Schmid selbst stammt, legt die damit übereinstimmende Beurteilung in seiner Anweisung der vornehmsten Bücher in allen Theilen der Dichtkunst nahe, wo es heißt: »Die Begierde den Urtheilen des Publikums über einige Dichter, vornemlich Gellert, zu widersprechen, riß die Verfasser zu Uebertreibungen und einseitigen Deklamationen hin. Sie zeigten Anlage zu Raisonneurs, die sich aber nur in geschwätzigen Vertheidigungen von Paradoxen äußerte. Die Schreibart ist äußerst nachläßig« (Christian Heinrich Schmid: Anweisung der vornehmsten Bücher in allen Theilen der Dichtkunst. Leipzig 1781, S. 18). 8 Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1772. Leipzig 1771, S. 62f.

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vorgeblicher Briefwechsel konzipierte Schrift war nicht nur anonym, sondern auch mit einer den Druckort betreffenden irreführenden Angabe erschienen (genannt werden nur die beiden Messeorte Frankfurt a. M. und Leipzig), und so setzten die einschlägigen Rezensionsorgane angesichts des brisanten Themas alles daran, die Verfasser dieser Skandalschrift möglichst schnell namhaft zu machen, allen voran der Helmstädter Professor Gottlob Benedikt Schirach, der im fast zeitgleich publizierten ersten Band seines Magazins der deutschen Critik das Geheimnis der anonymen Verfasserschaft mit dem Hinweis auf einen gewissen M. ***, »welcher vor kurzem die Ehre Gellerts geschändet hat«,9 insoweit zu lüften suchte, als er dem zeitgenössischen Leser suggerierte, wer dahinter verborgen sein könnte. Auf den Umstand, dass zu einem Briefwechsel, fingiert oder auch nicht, wenigstens zwei Personen gehören, geht ein weiterer Rezensent des Magazins in einem anderen Zusammenhang ein, wenn er den Namen eines »geheimen« Freundes von Jakob Mauvillon mit der unmissverständlichen Buchstabenkombination U – r offen legt.10 Gemeint war damit der damals 23-jährige Ludwig August Unzer (1748–1774), der aus einer angesehenen pietistischen Ärztefamilie in der Grafschaft Stolberg stammte und Mauvillon als Fremdsprachenlehrer seines älteren Bruders Johann Christoph am Pädagogium in Ilfeld (Südharz) kennengelernt hatte. Rasch entwickelte sich eine enge Freundschaft zwischen ihnen, und die begonnenen Gespräche über die Dichtkunst wurden in einem ausgiebigen Briefwechsel fortgeführt. Das besondere Verhältnis zwischen beiden spiegelt sich in der Konstellation der Briefpartner wider: Der um einige Jahre jüngere Unzer befragt den erfahrenen Lehrer und Literaturkenner, der beharrlich seine geistige Unabhängigkeit zu bewahren suchte, nach dem einzuschlagenden Weg, um mit »Freymüthigkeit« gegen die »tief eingewurzelten Vorurtheile«11 des deutschen Publikums vorzugehen. Zweck dieses Briefwechsels sei es gewesen, so wird in der Vorrede erklärt, »richtigere Begriffe und gegründetere Urtheile an die Stelle der gewöhnlichen zu setzen«.12 Auch wenn Mauvillons Briefe die fundierteren sind und zudem viel ausführlicher als diejenigen seines Korrespondenten, so lag doch die Gesamtkonzeption und Fertigstellung der ›Dichterbriefe‹, wie sie von den Autoren in Anlehnung an Lessings ›Literaturbriefe‹ genannt wurden, bei Unzer, wie aus dem tatsächlich geführten Briefwechsel der beiden Freunde hervorgeht,13 wobei er als Initiator des gemeinsamen Unternehmens geschickt die Fähigkeiten des Älteren zu nutzen wusste.

|| 9 Magazin der deutschen Critik, 1. Bd., 1. Thl. (1772), S. 297. 10 Ebd., 2. Thl. (1772), S. 219f. 11 Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter (s. Anm. 1), I, S. 22. 12 Ebd., I, S. 19. 13 Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzogl[ichen]. Braunschweigischen Diensten verstorbenen Obristlieutenant Mauvillon. Gesammelt und herausgegeben von seinem Sohn F[riedrich Wilhelm]. Mauvillon. Deutschland [d. i. Braunschweig] 1801, S. 23f. (Brief vom 18. September 1771).

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Obgleich die Streitschrift überwiegend auf Ablehnung stieß, so war mancherorts doch auch vorsichtig formulierte Zustimmung zu vernehmen. »Es ist eine undankbare Arbeit«, heißt es in den Frankfurter gelehrten Anzeigen, »wenn man Ketzer retten soll, wie es diese Verf. in Ansehung der allgemeinen Orthodoxie des Geschmacks sind, gegen die sie sich auflehnen.«14 Als solche verstanden sich nämlich die beiden Briefsteller. »An Gellert, die Tugend, und die Religion glauben«, fährt der Frankfurter Rezensent fort, »ist bey unserm Publiko beynahe Eins«: Die sogenannten Freygeister in Sachen des Genies, worunter leyder! alle unsre jetztlebende große Dichter und Kunstrichter gehören, hegen eben die Grundsätze dieser Briefsteller, nur sie sind so klug, um der lieben Ruhe willen, eine esoterische Lehre daraus zu bilden. Es thut uns leid, dass diese Verfasser die Regeln einer Erbauungsschrift verkannt, und nicht mehr erlaubte Charlanterie bey ihren Patienten angewendet haben. Sie wollten den lallenden, schlafenden und blinzenden Theil des Publikums curiren, und sie fangen dabey an, daß sie ihm seine Puppe nehmen – – Bilderstürmer wollen einen neuen Glauben predigen!15

Dass Goethe der Verfasser dieser Rezension sei, auch wenn Merck sie zu Papier gebracht haben mag,16 finde – so war man in der Forschung zunächst der Ansicht – darin eine Bestätigung, dass der Rezensent, wie er sagt, selbst Zeuge gewesen sei, »daß der selige Mann [Gellert] von der Dichtkunst, die aus vollem Herzen und wahrer Empfindung strömt, welche die einzige ist, keinen Begriff hatte. Denn in allen Vorlesungen über den Geschmack hat er ihn nie die Namen Klopstock, Kleist, Wieland, Geßner, Gleim, Lessing, Gerstenberg, weder im Guten noch im Bösen nennen hören.«17 Diese Aussage, so der Germanist Max Morris, könne sich nur auf Goethe beziehen, nicht aber auf Merck, der niemals Gellerts Vorlesungen gehört habe. Dem widerspricht jedoch Hermann Bräuning-Oktavio, der Merck für den Verfasser hält und meint, dass dieser Leipzig sehr wohl gut kannte. Zudem verweist BräuningOktavio auf einen Brief Mercks an den Rechtsgelehrten Ludwig Julius Friedrich Höpfner (1743–1797), der auf die Rezension anspielt und sie als die seine ausgibt.18

|| 14 Frankfurter gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772, Nr. XV, 21. Februar 1772, S. 117. 15 Ebd. 16 Vgl. Max Morris: Goethes und Herders Anteil an dem Jahrgang 1772 der Frankfurter Gelehrten Anzeigen. Stuttgart, Berlin 1909, S. 488. 17 Frankfurter gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772 (s. Anm. 14), S. 118. 18 Vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Beiträge zur Geschichte und Frage nach den Mitarbeitern der »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« vom Jahre 1772. Darmstadt 1912, S. 102. Der besagte Brief ist abgedruckt in: Briefe aus dem Freundeskreise von Goethe, Herder, Höpfner und Merck. Aus den Handschriften hg. von Karl Wagner. Leipzig 1847, S. 53–55. Die entsprechende Textstelle findet sich S. 54. Bräuning-Oktavio wiederholt seine These später in: ders.: Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen 1772. Tübingen 1966, S. 416f. Schon 1908 äußerte Trieloff, dass »immer noch viele dunkle Stellen bleiben [werden], über die sich wegen Mangels an Beweismitteln streiten ließe, auch wenn wir nie solche Resultate gewinnen, die alle Einwürfe entkräften, alle Zweifel ausschließen; wir können nicht immer den Wahrheitsbeweis antreten, sondern müssen uns

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Eduard Jacobs wiederum vermutet, dass Goethe wahrscheinlich Merck seine Gedanken über die ›Dichterbriefe‹ »mitgeteilt und dieser sie niedergeschrieben« habe.19 Genauso gut möglich wäre eine gemeinsame Verfasserschaft. Ganz gleich, wer von beiden die Rezension zu Papier gebracht hat, der Verfasser war durchaus im Bilde und kannte die Verwünschungen und Ächtungen der aufgebrachten Kunstrichter. Er versäumt es nicht, direkt auf die Vorwürfe einzugehen: Indessen ist diese Schrift kein Gewäsche, wie man sie unter diesem Titel dem Publiko hat aus den Händen raisonniren wollen. Unter der nachlässigen Weitschweifigkeit dieser Briefe verkennt man nie die denkenden Köpfe. [...] Vorsatz zu schaden sieht man aus dem Detail der Kritiken; allein deswegen sind sie nicht unrichtig. [...] Wir sind aber doch versichert, daß diese Produktion mit allen ihren sauren Theilen ein nützliches Ferment abgiebt, um das erzeugen zu helfen, was wir dann deutschen Geschmack, deutsches Gefühl nennen würden.20

Im Dezember 1772 kommt der Frankfurter Rezensent noch einmal auf die ›Dichterbriefe‹ zu sprechen und nimmt die beiden »Freygeister in Sachen des Genies« gegenüber dem Schirach’schen Magazin der deutschen Critik in Schutz, wenn er die dort abgedruckten Ausfälle wie folgt kommentiert: Wenn doch einmal die Herren sich nicht so ganz an die Manier stoßen, und den Geist nicht verkennen wollten, der diese oft ungeschickte Hand belebt. Ungezogenheit, Impertinenz, weitschweifige verwaschene Schreibart fällt allerdings dem Verfasser [der ›Dichterbriefe‹; A.K.] zur Last; Allein, er bleibt allezeit ein Kopf, der wahre Stärke hat. Besonders haben uns die letztern Briefe gefallen, wo er gegen das Kränkelnde, und Ohnmächtige des Compositeurs zu Felde liegt. Daß er aber einige liebe Grabsteine und Monumentchen beschädigt hat – Was thut das? Ist der Mann, der unterm Steine liegt, wahrhaftig groß, so brauchts entweder keinen Stein, oder der Schaden, der dran geschieht, ist des Aufhebens nicht werth.21

Unzer, der Gefallen an der Rolle des »Secundanten bei dem Angriffe gegen Gellert«22 findet und sich freut, wenn die Dichterbriefe »geschimpft werden«,23 reagiert euphorisch: »Haben Sie die vortrefflich launigte Critik unserer Briefe in den Frankfurter

|| oft darauf beschränken, die größte Wahrscheinlichkeit anzustreben« (Otto P. Trieloff: Die Entstehung der Rezensionen in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen vom Jahre 1772. Diss. Münster 1908, S. 10). 19 Vgl. Eduard Jacobs: Ludwig August Unzer. Dichter und Kunstrichter. In: Zeitschrift des HarzVereins für Geschichte und Altertumskunde 28 (1895), S. 117–252, hier S. 176. 20 Frankfurter gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772 (s. Anm. 14), S. 119. 21 Ebd., Nr. XCVIII, 8. Dezember 1772, S. 781f.; vgl. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hg. von Friedmar Apel u. a. Frankfurt a. M. 1985–2013. I. Abt., Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hg. von Friedmar Apel. Frankfurt a. M. 1998, S. 93. (Im Folgenden als FA I, 18 nachgewiesen.) 22 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 13), S. 54 (Brief vom 22. November 1772). 23 Ebd., S. 63 (ohne Datum).

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gelehrten Anzeigen gelesen?«, schreibt er an Mauvillon. »Sie ist höchst vorteilhaft für uns, und verräth einen denkenden Kopf. Forschen Sie doch den Verfasser aus.«24 Unzer stirbt zu früh, um den Namen erfahren zu können. Mauvillon wiederum wird in den darauf folgenden Jahren, sicherlich ohne sich bewusst gewesen zu sein, von wem die Frankfurter Rezension stammen könnte, gleich mehrere Werke Goethes und des ›Sturm und Drang‹ in der Auserlesenen Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur durchaus wohlwollend, aber keineswegs unkritisch rezensieren.

2 Eine Rangordnung der deutschen Dichter Im zweiten Stück gehen die beiden Briefschreiber weit über Gellert hinaus und versuchen, eine Rangordnung unter den deutschen Dichtern aufzustellen. Als maßgebliches Kriterium für ihre Bewertung wird der Begriff des Genies eingeführt: »Ich schätze den Dichter bloß nach dem Genie«, notiert Unzer, »und das Genie besteht hauptsächlich in der Kraft zu schaffen; hievon heißt er ein Poet,« um noch hinzuzufügen: »Es versteht sich, daß mir sein schöpferischer Geist lauter Dinge vorstellen muß, die mich interessiren.«25 Das Vorbild zu solch einer Rangordnung lieferte Friedrich Nicolai, der bereits 1760 im dritten Band seiner Sammlung vermischter Schriften einen Text abdrucken ließ, in dem nach englischem Vorbild ein Maßstab der Dichter vorgestellt wurde,26 auf dessen letzter Seite sich eine Balance in Gestalt einer Tabelle findet, in der antike, italienische, französische und englische Dichter nach neun verschiedenen Kategorien beurteilt werden27 – deutsche Dichter fehlen bezeichnenderweise. Anders als Nicolai konzentrieren sich Unzer und Mauvillon ihrerseits ausschließlich auf den || 24 Ebd., S. 36 (Brief vom 19. Juli 1772). 25 Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter (s. Anm. 1), II, S. 89. 26 Friedrich Nicolai: Der Maaßstab der Dichter, aus dem Engelländischen übersetzt. In: ders.: Sammlung vermischter Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. 3. Bd., 1. Stück. Berlin 1760, S. 70–78. Vgl. dazu den Aufsatz von Carlos Spoerhase: Das Maß der Potsdamer Garde. Die ästhetische Vorgeschichte des Rankings in der europäischen Literaturund Kunstkritik des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 58 (2014), S. 90–126 und Arne Klawitter: Eine bislang übersehene, erste »Balanz der deutschen Dichter«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 90.2 (2016), S. 211–228. 27 Diese sind: Kritische Anordnung, Pathetische Anordnung, Dramatischer Ausdruck, Zufälliger Ausdruck, Geschmack, Kolorit, Versifikation, Sitten und Werth überhaupt. Christian Heinrich Schmid kommentierte diesen Entwurf scharfzüngig mit den Worten: »Es ist schon oft gesagt, daß die Kunstrichter weit mehr gutes stiften würden, wenn sie unter sich einiger wären, und [...] wenn sie die Verdienste der Poeten nicht nach mathematischen Maaßstäben abmessen wollten, wie der witzige Erfinder der Ballance of Poets« (Christian Heinrich Schmid: Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen und Nachricht von den besten Dichtern nach den angenommenen Urtheilen. Leipzig 1767, S. 7).

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Aspekt des Genies: »Wer nur die interessirendste Erfindungskraft besitzt, der ist der Dichter, den ich in die erste Classe setze.«28 Im weiteren Verlauf führt Unzer dann explizit aus, was einen ›Dichter vom ersten Range‹ auszeichnet: »der schöpferische Geist, welcher alle seine Gegenstände durch Handlung belebt«, »die Erfindung und vollkommen dichterische Bearbeitung ganzer Plane und einzelner Theile« sowie »ein durchgehends poetischer, edler und angemessener Ausdruck«.29 Wirklich feiern wollen die Verfasser – getreu ihrer Devise nil admirari – niemanden. Klopstock, Wieland, Ramler, Geßner und Gleim lassen sie gelten: Diese Dichter bilden die oberste Kategorie, wobei allerdings Klopstock im Verhältnis zu den übrigen eine Klasse für sich ausmache; Uz und Hagedorn werden immerhin gelobt.30 Neben Gellert werden dann auch der ›fade‹ Rabener sowie der ›phantasieund genielose‹ Lessing verworfen. Das nüchterne Fazit der ›Dichterbriefe‹ läuft schließlich darauf hinaus, dass der großen deutschen Dichter so wenige seien, dass sie kaum eine »klein[e] Gartenlaube«31 füllen würden. Nach seiner Berufung ans Kasseler Collegium Carolinum im Herbst 1771 hatte Mauvillon die Mitarbeit an den ›Dichterbriefen‹ eigentlich beenden wollen, doch überlegte er es sich dann offenbar anders, denn Unzer schreibt ihm: »Wie ich höre, so wollen Sie sich auf ein drittes Stück einlassen. Ich war es anfänglich auch Willens, habe aber meinen Entschluss geändert.«32 Den eigentlichen Grund erfahren wir nicht, aber der sich rasch verschlechternde Gesundheitszustand Unzers wird wohl der Anlass für diese Entscheidung gewesen sein. »Indessen freue ich mich ausnehmend auf Ihre Fortsetzung«,33 fügt er hinzu und bittet darum, im Vorbericht zu erklären, dass er selbst keinen Anteil mehr an der Schrift habe. Mauvillon wird die ›Dichterbriefe‹ dann aber doch nicht fortsetzen. Er ist bereits mit neuen Projekten beschäftigt. In Kassel gibt er 1772 zusammen mit Rudolf Erich Raspe den Casseler Zuschauer heraus, und mit Karl Renatus Hausen, der zu dieser Zeit als Professor für Geschichte in Frankfurt an der Oder tätig war, und dem Verleger Christian Friedrich Helwing ruft er im selben Jahr die Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur ins Leben, die programmatisch mit Bedacht dem Konzept der Allgemeinen deutschen Bibliothek entgegengesetzt wurde, um mit ihr in Konkurrenz zu treten.

|| 28 Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter (s. Anm. 1), II, S. 92. 29 Ebd., II, S. 251. 30 Im weiteren Verlauf des Briefwechsels werden dann für die zweite Klasse, ohne dass sie endgültig bestimmt würde, Uz, Gerstenberg, die Karschin und Denis vorgeschlagen (vgl. ebd., II, S. 252). 31 Ebd., II, S. 80. 32 Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 13), S. 28. 33 Ebd.

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3 Mauvillon als Mitbegründer der Auserlesenen Bibliothek Die Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, die von 1772 bis 1781 in insgesamt zwanzig Bänden im Verlag der Meyerschen Buchhandlung in Lemgo erschien und aufgrund ihres Publikationsortes auch ›Lemgoer Bibliothek‹ genannt wurde, zählt heute zu den zu Unrecht weitgehend vergessenen Rezensionsorganen der Spätaufklärung,34 was seinen Grund wohl auch in der schützenden Anonymität hat, die es den Rezensenten zu ihrer Zeit einerseits ermöglichte, offen und ohne Angst vor Zensur oder Verfolgung ihre Meinung zu äußern, andererseits aber im Nachhinein verhinderte, deren Äußerungen als ein mit bestimmten Personen oder einem Personenkreis verbundenes Programm wahrzunehmen, was die literaturhistorische Einordnung und Wertung wesentlich befördert hätte. Zu ihren Mitarbeitern gehörten neben den bereits genannten Initiatoren Mauvillon und Hausen der aus Lemgo stammende Jurist und spätere Diplomat Christian Konrad Wilhelm Dohm, der 1775 die Funktion des Mitherausgebers übernahm, die beiden Juristen Heinrich Friedrich Diez und Justus Möser, weiterhin die Historiker August Ludwig Schlözer, Verfasser einer Universal-Historie (1772/73) und Herausgeber der Zeitschrift StaatsAnzeigen, und Christoph Schmidt-Phiseldeck, der ab 1779 als zweiter Archivar am herzoglichen Landeshauptarchiv zu Wolfenbüttel tätig war, schließlich die Theologen Johann Friedrich Kleuker, Johann Gottfried Eichhorn und Johann Gottlieb Töllner sowie der Göttinger Philosoph Michael Hißmann, der nach Mauvillons Ausscheiden 1778 die Bereiche der Weltweisheit, Philosophie und zum Teil auch der Schönen Wissenschaften übernahm und unter der Verwendung verschiedener Siglen insgesamt mehr als 150 Rezensionen verfasste. An den beiden Halbjahresbänden von 1776 war auch Johann Gottfried Herder beteiligt, der unter anderem eine längere Besprechung von Lavaters Physiognomischen Fragmenten beisteuerte. Der Verleger Christian Friedrich Helwing hatte bereits 1771 ins Auge gefasst, ein »gelehrte[s] Tagebuch«,35 wie er es anfangs nannte, ins Leben zu rufen, weshalb er

|| 34 Vgl. Thomas Habel: Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung. Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts. Bremen 2007, S. 436; zum Konkurrenzdruck, dem Buchhändler und Verleger gleichermaßen unterlagen vgl. Peter Schmidt: Buchmarkt, Verlagswesen und Zeitschriften. In: Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 4: Zwischen Absolutismus und Aufklärung. Rationalismus, Empfindsamkeit und Sturm und Drang 1740–1786. Hg. von Ralph-Rainer Wuthenow. Reinbek 1980, S. 55–71. 35 Das einzige mir bekannte Exemplar der Ankündigung befindet sich im Archiv der Universitätsbibliothek Kassel (Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel) unter der Signatur 4° Ms. hist. litt. 2|Helwing 9. Die Bezeichnung »gelehrtes Tagebuch« ist allerdings etwas irrefüh-

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im September desselben Jahres eine entsprechende »Nachricht an das deutsche Publikum« drucken ließ und in Umlauf brachte, um gezielt Mitarbeiter anzuwerben, aber auch um sein Journal der gelehrten Welt anzukündigen. Welche Rolle genau Mauvillon bei der Gründung der ›Lemgoer Bibliothek‹ gespielt hat, lässt sich nicht mehr ermitteln. Aus den zeitgenössischen Quellen und Referenzwerken geht lediglich hervor, dass der Plan dazu von Karl Renatus Hausen stammte,36 wobei er die Anregung dazu vermutlich durch Herders Fragmente über die neuere deutsche Litteratur (1766/67) sowie durch eine im 24. Stück der von Christian Adolph Klotz (1738–1771) herausgegebenen Deutschen Bibliothek der schönen Wissenschaften publizierte Nachricht an das Publikum erhalten hatte. Gottlob Benedikt Schirach machte in einer gesondert gedruckten Beylage zu dem zweyten Stücke des Magazins der deutschen Critik die Beteiligung Mauvillons an der Gründung der Auserlesenen Bibliothek und seine Rolle als Herausgeber publik.37 Auch wenn der als Projektemacher bekannte Hausen – so begründete er z. B. kurze Zeit später in direkter Konkurrenz zu Deinets Frankfurter gelehrten Anzeigen die Neuen Frankfurter gelehrten Anzeigen mit dem Verlagsort Frankfurt an der Oder – der Ideengeber gewesen sein mag, war Mauvillon definitiv die treibende Kraft hinter dem ganzen Unternehmen: Er verfasste nicht nur mit Abstand die meisten Rezensionen, sondern war darüber hinaus offenbar für eine Reihe weiterer Texte, wie z. B. das Vorwort und Teile des »Ersten Anhangs« verantwortlich. Neben den stilistischen Eigenheiten (vgl. dazu die Vorreden der ersten beiden Bände) spricht auch die Tatsache dafür, dass die ausführlichen Vorworte, nachdem er 1778 seine Mitarbeit an der Zeitschrift aufgekündigt hatte, wegfallen bzw. eine nur noch informative Form annehmen – eine Ausnahme bildet das Vorwort des letzten Bandes, in dem das ganze Unternehmen noch einmal rückblickend bewertet wird und das höchstwahrscheinlich vom Verleger Christian Friedrich Helwing selbst stammt. Mauvillons Beiträge, die sich insbesondere durch Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit auszeichnen, umfassen das breite Spektrum der ›neuesten deutschen Literatur‹ in vielfacher Hinsicht, denn über die Schönen Wissenschaften hinaus behandelte er neben philosophischen und historischen auch ökonomische und kriegswissenschaftliche Themenbereiche. Für den sechsten Band (1774) lieferte er allein für die Rubriken ›Weltweisheit‹ und ›Schöne Wissenschaften‹ dreizehn Rezensionen, für den siebten Band siebzehn, für den achten Band sogar vierunddreißig; insgesamt waren es über 150 Beiträge. Besondere Beachtung fand dabei seine || rend. Ein solches Tagebuch im eigentlichen Sinne erscheint erstmals für die Stadt Leipzig 1780 beim dortigen Verleger Breitkopf, vgl. Leipziger gelehrtes Tagebuch auf das Jahr 1780. Bd. 1. Leipzig 1780. 36 Vgl. Christian Heinrich Schmid: Litteratur der Poesie. 1. Bd. Leipzig 1775, S. 75 und Christoph Weidlich: Biographische Nachrichten von den jetztlebenden Rechts-Gelehrten in Teutschland. 3. Bd. Halle 1783, S. 130–132. 37 Beylage zu dem zweyten Stücke des Magazins der deutschen Critik. Helmstädt. Wolfenbüttel 1772, S. 22.

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Besprechung von Lessings Emilia Galotti, die im zweiten Band der Auserlesenen Bibliothek (1772) erschienen war und wegen ihrer grundsätzlichen Kritik eine Entgegnung von Johann Joachim Eschenburg provozierte. Der Forschung war schon lange bekannt, dass diese Rezension aus der Feder Mauvillons stammte, doch da sie nicht mit einer Sigle unterzeichnet war, konnten keine Rückschlüsse auf andere seiner Beiträge gezogen werden, obgleich so bekannte Dichter wie Goethe, Wieland, Jacobi und Klopstock zu den von ihm besprochenen Autoren gehörten,38 aber auch Anakreontiker wie Gleim und, gewissermaßen als Gegenpol, Stürmer und Dränger wie Lenz, Klinger und Hahn. Mit dem fünften Band (1774) wurde dann ein numerisches Siglen-System eingeführt, d. h. jeder Beiträger erhielt eine bestimmte Ziffer zugeordnet, die nur in den seltenen Fällen (zwecks Irreführung der Rezensentenjäger) variierte, und später vereinzelt durch Rezensentenkürzel ergänzt wurde. Die Ziffer, mit der Mauvillon seine Beiträge unterzeichnete, war schon Zeitgenossen bekannt. Ein erster Hinweis findet sich im ersten Teil der 1775 erschienenen Litteratur der Poesie von Christian Heinrich Schmid, der über die Auserlesene Bibliothek bemerkt, dass das »meiste dessen, was unter die Rubrik schöne Wissenschaften gehört«, dort ebenso »frech, so paradox, so raisonnirsüchtig und nachläßig« beurteilt werde, wie zuvor »in den Briefen über den Werth der deutschen Dichter«,39 womit Schmid auf die oben erwähnten ›Dichterbriefe‹ anspielte. Da die meisten dieser Rezensionen die Ziffer 4 trugen, war Mauvillons Verfasserschaft also kein Geheimnis mehr. Einen eindeutigen Beleg lieferte dann die Auserlesene Bibliothek selbst. In einer »Nachricht an das Publikum«, die über Mauvillons Übersetzung von Ariosts Wütenden Roland informiert, wird gleichzeitig auf zwei im neunten und zehnten Band abgedruckte Rezensionen aus der Feder Mauvillons verwiesen, die mit derselben Ziffer gekennzeichnet waren.40 Trotzdem sorgte diese Chiffre noch eine Zeit lang für Verwirrung, denn gerade der sonst so korrekte Johann Georg Meusel schrieb sie in seinem Lexikon der teutschen Schriftsteller statt Mauvillon dem Philosophen Michael Hißmann zu.41 Angesichts solcher unklaren Verhältnisse bezüglich der Zuordnung hat man sich in der Forschung nicht weiter bemüht, der Frage nachzugehen, welche Rezensionen aus der Feder Mauvillons stammen. Selbst seinem Biographen Jochen Hoffmann blieben die schriftstellerischen Aktivitäten in der Auserlesenen Bibliothek verbor-

|| 38 Mit Ausnahme von Wilhelm Kurrelmeyers Aufsatz Wieland und die Lemgoer. In: Modern Language Notes 53/2 (1938), S. 79–92. 39 Schmid: Litteratur der Poesie (s. Anm. 36), S. 75. 40 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutsche Litteratur 10 (1776), S. 703. 41 Johann Georg Meusel: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller. 5. Bd. Leipzig 1805, S. 549.

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gen.42 Weder von Julius W. Braun, der in seinem umfassenden Handbuch Schiller und Goethe im Urtheile ihrer Zeitgenossen sämtliche ihm verfügbaren gedruckten Kritiken, Berichte und Notizen von Zeitgenossen zusammengetragen hatte,43 noch von Peter Müller in Bezug auf die Lenz-Rezensionen wurde Mauvillons Verfasserschaft namhaft gemacht.44 Dabei hat Mauvillon insgesamt fünf Werke des jungen Goethe zum Teil detailliert besprochen, und zwar Clavigo, Götz von Berlichingen, Die Leiden des jungen Werthers, Claudine von Villabella sowie Stella,45 und fünf weitere Rezensionen befassen sich mit zeitgenössischen Publikationen zum Götz bzw. Werther.46 Auch Lenzens Dramen und Prosaschriften werden eingehend von ihm beurteilt, nicht nur Der Hofmeister und Der neue Menoza, sondern ebenso die Anmerkungen übers Theater und in lakonischer Schärfe die Flüchtigen Aufsätze. In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob Mauvillons Beiträge über die neuere deutsche Literatur tatsächlich als wegweisend in Bezug auf den ›Sturm und Drang‹ anzusehen sind, wie Heinrich Blume geäußert hat,47 und inwiefern ihnen aus heutiger Sicht eine literaturgeschichtliche Bedeutung zukommt.

4 Wieland: Auf der Suche nach dem Originalgenie Der erste Dichter von Rang, dem sich Mauvillon nach Gellert zuwendet, ist Christoph Martin Wieland, zu dem er für die Auserlesene Bibliothek fünf Rezensionen verfasst, zuzüglich mehrerer Besprechungen des Teutschen Merkurs und einer zur

|| 42 Hoffmann verweist darauf, dass Mauvillons Beiträge in der Lemgoer Auserlesenen Bibliothek »nicht eindeutig ausgemacht werden konnten«; Jochen Hoffmann: Jakob Mauvillon. Ein Offizier und Schriftsteller im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipationsbewegung. Berlin 1981, S. 70. 43 Schiller und Goethe im Urtheile ihrer Zeitgenossen. Zeitungskritiken, Berichte und Notizen Schiller und Goethe und deren Werke betreffend aus den Jahren 1773–1812. 6 Bde. Ges. und hg. von Julius W. Braun. Leipzig 1882–1885. Relevant ist in diesem Zusammenhang besonders Band II.1: Goethe. 1773–1786. 44 Vgl. Peter Müller: Jakob Michael Reinhold Lenz im Urteil dreier Jahrhunderte. 4 Bde. Bern u. a. 2005. Zu Mauvillons Goethe-Rezensionen vgl. Arne Klawitter: Rezensionen über Rezensionen. Die Besprechungen von Goethes Theaterstücken in der Lemgoer »Auserlesenen Bibliothek« und im »Magazin der deutschen Critik«. In: Goethe Jahrbuch 132 (2015), S. 141–150. 45 Rez. zu Clavigo. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 7 (1775), S. 539f., zum Götz in 8 (1775), S. 482f., zum Werther ebd., S. 500–509, zu Claudine von Villabella in 10 (1776), S. 492–498, zu Stella ebd., S. 570–575. 46 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 8 (1775), S. 483–500 und S. 509–520. 47 Vgl. Heinrich Blume: Jakob Mauvillons und Ludwig August Unzers »Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel.« 2 Stücke. Frankfurt a. M., Leipzig 1771/72 als Vorläufer der Sturm- und Drangperiode. In: XXXVIII. Jahresbericht des Kaiser Franz Josef-Staatsgymnasiums zu Freistadt in Oberösterreich für das Schuljahr 1908. Freistadt 1908, S. 3–36, hier S. 10.

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Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Auf letztere bezog sich Christian Gottlob Heyne, als er den ersten Band der ›Lemgoer Bibliothek‹ für die Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen rezensierte und bemerkte, dass ihm einige der Kritiken vorgekommen seien, als wollten sie »den Strom der öffentlichen Urtheile und Meynungen, der in andern Blättern falsch geleitet war, in seinen rechten Lauf zurück bringen«, nur werde »der Kanal fast mehr in einen Sumpf abgeführet«:48 So viel ist wenigstens gewiß, daß der Kunstrichter der Fräulein die Wahrheit auf das derbste und gar nicht in dem Tone der feinen Welt, in welchem sie selbst schreibt, sagt, und fast fürchten wir, daß die rauhe und kunstrichterliche Härte die sanfte Sternheim in Gedanken wieder unter die Bleyminenarbeiter in dem Schottischen Hochlande versetzen werde. Edle Freymüthigkeit, welche sich auf eine rühmliche Weise die Verf. zu ihrem Gesetze machen, kan, deucht uns, bey einer wohlanständigen, klugen und vorsichtigen, Schonung immer noch bestehen; und diese Schonung liegt meistentheils oft blos in der Wahl des Ausdrucks; sonst ist auch der zuversichtliche, zudringliche Lehrton und die steife einförmige Präceptormanier schwer zu vermeiden.49

Dass es sich bei dem Rezensenten tatsächlich um Jakob Mauvillon handelt, ist einem seiner Briefe an Goeckingk zu entnehmen, in dem er – fast schon seine ›Jugendsünde‹ bedauernd – gesteht: »Weiß aber die Frau von La Roche, daß ich der Recensent der Sternheim in der Lemgoer Bibl[iothek]. bin, so wehe mir.«50 Man könnte die überaus kritischen Rezensionen Mauvillons Eigensinn zuschreiben, Tatsache aber ist, dass sie weit über die sonst allgemein verbreitete inhaltliche Zusammenfassung und kurze Beurteilung der besprochenen Werke hinaus gehen, wie es bei den gelehrten Zeitungen und größtenteils auch in der Allgemeinen deutschen Bibliothek üblich war. Dass Mauvillon seine Mitarbeit an der Auserlesenen Bibliothek im Fach der ›Schönen Wissenschaften‹ in gewisser Weise als Fortsetzung der ›Dichterbriefe‹ angesehen haben mag, wird dadurch bestärkt, dass er im ersten Band des Lemgoer Journals sofort auf Wielands Σωκράτης μαινόμενος oder die Dialogen des Diogenes von Sinope zu sprechen kommt, den Unzer bereits im zweiten Stück der ›Dichterbriefe‹ einer genauen Prüfung unterzogen und die für ihn unklare staatspolitische Apologie der Freude als »übereilt« und »schief [...] vorgetragen«51 getadelt hatte. Doch anders als Unzer geht Mauvillon weniger auf die politischen Implikationen von Wielands Schrift ein als vielmehr auf die literarischen Bezüge und äußert gleich zu Beginn die Ansicht, dass der Σωκράτης μαινόμενος »ganz im Geschmacke des Ster-

|| 48 Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 89. Stück, 25. Juli 1772, S. 755–758, hier S. 756. 49 Ebd., S. 756f. 50 Brief an Leopold Friedrich Günther Goeckingk, Kassel, September 1784, Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek, Signatur: 4° Ms. hist. litt. 37 [Mauvillon:35. 51 Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter (s. Anm. 1), II, S. 221.

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ne, und besonders der Yorickschen Reisen geschrieben«52 sei. Wieland, so führt Mauvillon weiter aus, habe sich an der großen europäischen Dichtung, namentlich an Cervantes, Fielding und Crébillon gebildet und insbesondere die Manier Sternes »nachgeahmt«,53 doch niemand könne ihm deswegen »das Lob der Originalität versagen«: Allein, wenn unsre besten Schriftsteller sich über das, was Neues bei Ausländern heraus kömt, mit so großer Begierde herwerfen, daß sie sich ganz darin verwandeln; so rechtfertigen und vermehren sie das Uebertriebne der uns so oft vorgeworfenen Nachahmungssucht. Es ist zwar wahr, gegenwärtige Nachahmung ist vortreflich, und wegen des Besondern der Erfindung hat sie allezeit viel Originelles. Aber Hr. Wieland hat in seinen comischen Erzählungen, im Agathon, in der Musarion, so sehr gezeigt, daß alles in seinen Händen Gold wird, wenn er es mit Fleis bearbeiten wil, und daß er dies Gold lediglich aus sich selbst ziehen kan, daß man es ihm nothwendig etwas verdenken mus, ihn seine Talente dazu verwenden zu sehen, Schriftsteller, die allezeit unter ihm sind [...] nachzuahmen.54

Das gespaltene Verhältnis zu Wieland erklärt sich zum Teil aus Mauvillons Suche nach dem Originalgenie: Einerseits sieht er in Wieland einen Nachahmer, andererseits – und das zeugt von besonderer Anerkennung – stellt er Wielands Nachahmung weit über Sternes Original. Während Sternes Werke »vergehen werden«, so glaubt er, werden »Wielands Meisterstücke noch das Vergnügen der spätesten Nachkommenschaft«55 sein. In den Frankfurter gelehrten Anzeigen zeigte man allerdings wenig Verständnis für Mauvillons Vergleich: »Wenn doch die Herrn bedächten, wie viel schiefes und beleidigendes in diesem Complimente liegt, und wenn sie nur jemals Wielanden von Sterne hätten reden hören!«,56 worauf Mauvillon als federführender Redakteur der Auserlesenen Bibliothek kontert: »Wenn dagegen doch die Hrn. Frankfurter bedächten, daß ein wahrheitsliebender Rec[ensent]. sich nicht darum bekümmern sol, ob das, was er von Werken und Schriftstellern sagt, ein Compliment für sie sey oder nicht, sondern ob es seiner Einsicht nach wahr ist.«57 Gleichzeitig dreht er den Spieß um und macht der Konkurrenz den Vorwurf der Parteilichkeit: »Ein solch Urtheil verräth der Herren Denkungsart selbst. Denn sie sind so gewohnt gegen Schriftsteller, als Hr. Wieland, Complimente zu machen, und Lob oder Tadel nicht dem Werke sondern dem Manne zu geben, daß sie gar nicht sehen, wie die Sache anders seyn könte.«58

|| 52 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 1 (1772), S. 102. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 103. 55 Ebd., 1 (1772), S. 103. 56 Frankfurter gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772, Nr. LIV, 7. Juli 1772, S. 430–432, hier S. 432. 57 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 2 (1772), S. XIVf. 58 Ebd., S. XV.

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Der zweite Teil von Mauvillons Rezension des Σωκράτης μαινόμενος konzentriert sich auf die bei Wieland dargestellte Begegnung des historischen Diogenes von Sinope (um 410–323 v. Chr.) mit Alexander dem Großen (356–323 v. Chr.) in Korinth, wie sie von Cicero und Plutarch berichtet wird, wobei Wieland der Überlieferung noch eine zweite Unterredung hinzugefügt hatte, und auch das 38. Kapitel mit den Ausführungen über die »Republik des Diogenes« wird von Mauvillon genaustens betrachtet, um seine inhaltliche Kritik an Wielands philosophischem Roman zu entwickeln. »Wozu dieses unnütze Stück Politik und moralischer Naturkunde des Menschen?«,59 fragt er und zieht die Zweckdienlichkeit der dichterischen Ausgestaltung eines auf die Natur des Menschen gründenden Staates prinzipiell in Zweifel. Wielands staatspolitische Ausführungen im Diogenes hält Mauvillon für »eine Chimäre«, und zwar »nicht nur in Ansehung der Unmöglichkeit, die die äußern Umstände verursachen, sondern in Betracht der menschlichen Natur selbst, nach deren Beschaffenheit nichts von alle dem, was da gesagt ist, geschehen kan.« Vom Menschen gebe es in diesem Roman »durch und durch falsche Begriffe«, und von der Zeichnung seiner Natur sei »kein einziger wahrer Zug«60 zu finden. Damit gleiche der Roman, sofern er denn Anspruch auf einen politischen Nutzen erhebe, jenen »chimärischen Phantasien, die nicht die geringste Wahrheit«61 besäßen. Auch in seiner Besprechung des 1772 erschienenen Romans Der goldne Spiegel oder die Könige von Scheschian bilden Wielands staatspolitische Vorstellungen62 den Angriffspunkt von Mauvillons Kritik. Er ist verwundert über den von Wieland angestrebten Wandel von einem philosophischen Dichter zu einem Weltweisen, der für sich beansprucht, in seinen Romanen relevante Wahrheiten für die Staatspolitik zu vermitteln, und führt diese Metamorphose auf das unbedingte Verlangen des Dichters nach »ausgebreitetern Ruhme«63 zurück. Er habe als solcher Anerkennung gefunden, wolle nun aber »mit aller Gewalt ein Weltweiser seyn« und werfe sich deshalb »zum Staatsmanne auf«. Zwar wisse Wieland als Dichter, die Natur des Menschen eindrücklich zu beschreiben (Mauvillon denkt hier an den Agathon), doch sei er auf der anderen Seite »ein sehr jämmerlicher Politiker«, der von der gesetzgebenden Staatsführung und der Ökonomie nichts verstehe und sich dem Publikum trotzdem als »statistischer Philosoph«64 zeige. Er traktiere die Leser mit

|| 59 Ebd., 1 (1772), S. 104. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 105. Vgl. zu dieser Thematik ferner Hans-Joachim Mähl: Die Republik des Diogenes. Utopische Fiktion und Fiktionsironie am Beispiel Wielands. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Hg. von Wilhelm Voßkamp. 3 Bde. Stuttgart 1982, Bd. 3, S. 50–85. 62 Vgl. dazu Oskar Vogt: Der goldene Spiegel und Wielands politische Ansichten. Berlin 1904 und Jürgen C. Jacobs: Der Fürstenspiegel im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. Zu Wielands Goldenem Spiegel. Wiesbaden 2001. 63 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 3 (1773), S. 134. 64 Ebd., S. 135.

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seinen »idealischen Republiken«,65 die er in eine fantastische Einkleidung zu bringen verstehe. Obgleich Wieland der festen Überzeugung sei, dass er wichtige Wahrheiten zu verkünden habe, denen bei den politischen Entscheidungen der Fürsten großes Gewicht zufalle und von deren Gebrauch das Wohl des Volkes abhänge, bezweifelt Mauvillon den praktischen Nutzen dieser poetischen Staatsentwürfe, bei denen lediglich staatsphilosophische Gedanken in erdichtete Geschichten gefällig eingekleidet und die moralischen Weisheiten den eingeführten Personen in den Mund gelegt würden. Wieland selbst hatte die Zweckdienlichkeit seines Romans damit begründet, dass die ›großen Politiker‹ und Fürsten einen »Spiegel« brauchten, »in welchem sie, in unbelauschter Einsamkeit, nicht nur [an] ihre Vorzüge und rühmlichen Eigenschaften [...] sondern auch an ihre Schwachheiten und Fehler erinnert werden«,66 weshalb er ihnen eben diesen »goldnen Spiegel« vorzuhalten gedenke. Er sehe sich bei seinem Unterfangen gleichzeitig als Aufklärer und Fürstenerzieher, offensichtlich mit dem Hintergedanken, sich mit Hilfe dieses Romans einem Hofe zu empfehlen. Noch vor dem Erscheinen des Romans beginnen 1771 erste Anstellungsverhandlungen mit dem damaligen Erfurter Philosophieprofessor und ein Jahr später wird er von Anna Amalia als Erzieher ihres Sohnes Karl August nach Weimar berufen.67 Als radikaler Aufklärer stellt Mauvillon das realitätsferne Konzept der Fürstenerziehung per se in Frage: »Politische Romane sind aber überhaupt von gar keinem Nutzen«, schreibt er: Bei politischen Begebenheiten oder Einrichtungen kömt es gar zu sehr auf individuelle Umstände an, weil der Triebfedern, der wirkenden und gegenwirkenden Theile der Maschine gar zu viel sind, so daß die geringste Aenderung der Umstände nicht nur das Bild ganz ändert, daß also der Spiegel dem regierenden Leser, wenn er auch das Buch vor sich nähme, ganz etwas anders vorstellen würde, als sein Bild, sondern daß auch alle darin angebrachte Weisheit nichts hilft, weil durch die Schilderung andrer Zeiten, Sitten, vorhergehender und gegenwärtiger Umstände, man gar nicht einsieht, wie das alles auf diejenigen, worinnen man sich wirklich befindet, anzuwenden ist.68

Und weiter heißt es, auf den praktischen Wert der literarischen Staatsentwürfe überhaupt abzielend:

|| 65 Ebd. 66 Wielands Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma. Bd. 10.1. Berlin, New York 2009, S. 167. 67 Vgl. Guido Koch: Wieland als Fürstenerzieher. In: Weimar als politische Kulturstadt. Ein historisch-politischer Stadtführer. Hg. von Klaus Dicke und Michael Dreyer. Berlin 2006, S. 84–93; Emanuel Peter: Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 243–254. 68 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 3 (1773), S. 141.

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Politische Romane müsten, wenn sie Nutzen hervorbringen solten, von Fürsten gelesen werden. Was hilft es einem Volk, das unter dem Scepter eines Despoten steht, daß die Glieder desselben von den Rechten und dem Wohl des Volks und des Fürsten rechte Begriffe haben? Wie viel Regenten, meint aber Hr. W[ieland] wohl, werden seinen Roman lesen? Wie viele, wenn sie ihn aber auch alle lesen, werden sich in einem Gemählde erkennen, wo der Verfasser sich so viele Mühe gegeben hat, jeden Zug zu entstellen? Das würde fast keiner thun, und wenn es tausendmal treffender gezeichnet wäre, als es ist.69

In Bezug auf die Position und den Einfluss der Fürstenerzieher bemerkt er, dass die »unerhörte Schmeichelei«, die den jungen Fürsten entgegengebracht werde, letztlich bewirke, dass »fast alle Fürsten moralisch unempfindlich«70 würden. Eben jene kriechende Schmeichelei sei zum »schuldige[n] Respect«71 geworden, den jeder Untertan seinem Regenten entgegenbringen müsse – eine Umkehrung der antiken Praktik, als der Erzieher noch Respekt genoss, wenn er es wagte, dem Regenten die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.72 Mauvillon berührt damit ein wesentliches Element der antiken parrhesia, den Mut zum Wahrsprechen, der für Foucault eine konstitutive Verbindung zur Demokratie besitzt. Der Erzieher, der dem Regenten die Wahrheit ins Gesicht sagt, geht ein Risiko ein und läuft Gefahr, bestraft zu werden. Dieses Risiko ist gleichzeitig der Garant für das Wahrhaftige seiner Rede. Der fiktionale Staatsroman erfüllt für Mauvillon weder die Bedingungen des Wahrsprechens, noch bietet er inhaltlich genügend relevante Fakten, die einem Staatsmann bei politischen Entscheidungen behilflich sein könnten. Den praktischen Wert von Dichtung hält er deshalb für gering. Politische Schriften sind für ihn erst dann wirklich von Nutzen, wenn sie »lauter wahre, und auf die Zeiten, für welche man schreibt, passende Fälle enthalten«.73 Man müsste den Regenten einen »getreuen« Spiegel in die Hände geben, keinen dichterisch vergoldeten, sondern einen Spiegel, »der ihnen ihr eigen Bild vorstelte«,74 und dazu bedürfe es eines politischen Philosophen und keines Dichters. Ein Roman leiste in diesem Fall keine Dienste, »denn da man andre Umstände, andre Menschen, andre Sitten annimt, als die gegenwärtigen, so passen alle Vorschläge gar nicht mehr, wegen der vorerwähnten Menge und Weitläuftigkeit der Triebräder in der politischen Maschine«.75 Mauvillon geht in seinen Reflexionen weit über die ästhetische Beurteilung hinaus, erfüllt aber dennoch die Erwartungen der Leserschaft, wenn er schließlich

|| 69 Ebd. 70 Ebd. 71 Ebd., S. 142. 72 Vgl. dazu Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der Anderen. II. Vorlesungen am Collège de France 1983/84. Aus dem Franz. von Jürgen Schröder. Berlin 2010, S. 29. 73 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 3 (1773), S. 143. 74 Ebd. 75 Ebd., S. 142.

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noch auf den Roman als ein literarisches Produkt eingeht und eine nach herkömmlichen Maßstäben ausgewogene Rezension des Werkes liefert, knapp den Inhalt referiert, die Grundsätze der wielandschen Philosophie erörtert und seine Besprechung mit der Hoffnung beschließt, dass der Dichter wieder zur »Poesie zurücke kehr[e], die ihm so vielen wahren Ruhm verspr[e]ch[e]«.76 In ihrer Tendenz ganz unterschiedlich orientierte Rezensionsorgane der Zeit reagierten auf Mauvillons kritisches Urteil über Wielands Goldnen Spiegel überraschend positiv. In den Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen heißt es: Diese Recension macht ihrem denkenden Verf. wahre Ehre: die Bemerkung, von dem wenigen Nutzen politischer Romane, wird gewiß durch die Erfahrung bestätigt. Diese Schriften beruhen gemeiniglich auf einem solchen Zusammenfluße von allen möglichen Umständen, die sich zwar wohl in der Phantasie des Dichters, aber nie in der wirklichen Welt begegnen, so daß der Weltmann über den platonischen Politiker lacht, und auch manche gute Ideen des leztern nicht achtet, weil sie auf dem schlüpfrigen Boden eines dichterischen Ideals hervorgewachsen sind. Wir sind mit dem Recensenten vollkommens eins, daß gute politische Schriften, wenn sie nützen sollen, uns nicht Träume vormalen, sondern mit wirklichen Begebenheiten unterhalten müßen. Nur ein Mann, der selbst in Geschäften gearbeitet hat, der unsere itzigen Verfaßungen kennet, und seinen Geist durch philosophisches Studium der Geschichte genährt hat, könnte uns politische Schriften liefern wie wir sie noch gar nicht haben.77

Der Rezensent der Neuen Frankfurter gelehrten Anzeigen bekennt seinerseits, dass er »nie anders von diesem Roman geurtheilet habe, als der Verf[asser]. der Litteratur Bibliotheck«: Man kann von der Regierung der Staaten recht süße angenehme Träume haben; aber es sind auch nichts weiter als Träume, und dafür wird sie jeder erkennen müssen, welcher die wahre Geschichte, und die Handlungen der Großen studieret hat. Auch der Rec. muste lächeln, als Herr W. mit vielem Ceremoniel versicherte: er werde sehr bittere Wahrheiten der Welt bekannt machen? und am Ende waren es Wahrheiten, die man in unsern Tagen zur Noth, auf öffentlicher Straße ablesen kann.78

5 Lessing: Die Grenzen der Wirkungsdramaturgie In den ›Dichterbriefen‹ wurde Gotthold Ephraim Lessing als der »gröste und vollkommenste Prosator in Deutschland« sowie als der führende Kunstrichter gewürdigt, dem jedoch in seinen poetischen Werken das »ächte Dichtergenie«79 versagt

|| 76 Ebd., S. 160. 77 Neue Zeitungen von gelehrten Sachen, 38. Stück, Leipzig, 13. Mai 1773, S. 299f. 78 Neue Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom Jahr 1773, 40. Stück, Frankfurt an der Oder, 18. Mai 1773, S. 313f. 79 Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter (s. Anm. 1), II, S. 248.

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geblieben sei. Minna von Barnhelm, »sein schönstes Drama«, sei »allezeit mehr ein Werk des Witzes als des Genies«, während Miß Sara Sampson aus verschiedenen Gründen »nicht unter die Werke gerechnet werden k[önne], welche ihm vorzügliche Ehre machen«.80 Anlässlich der 1772 veröffentlichten Ausgabe der Trauerspiele erhält Mauvillon Gelegenheit, Lessings Emilia Galotti in der Auserlesenen Bibliothek ausführlich zu besprechen. Seine Kritik gewährt nicht nur Einblick in die von ihm vertretenen wirkungsästhetischen Positionen, sondern verrät auch Grundlegendes über seine Auffassung von der Organisation der dramatischen Handlung und der sprachlichen Ausprägung des Dialogs. Ganz klassisch argumentiert Mauvillon: Der Grund- und Hauptfehler dieses Stückes liegt im Plan, in der allerersten Grundlage. Ein theatralisches Stück mus seine Ordonnanz haben wie ein Gemälde. Es mus in demselben die Hauptfigur oder wenigstens die Hauptgruppe seyn, die gleich in die Augen fält, und sich vor allen andern hebt. Die übrigen müssen nach dem verschiednen Antheil, den sie an der Sache haben, in ihr gehöriges Licht gesetzt seyn, und dennoch alle sämtlich zur Hebung der Hauptperson oder Gruppe concurriren.81

Dem Titel nach würde man Emilia als Hauptperson erwarten, tatsächlich aber stehe der Prinz im Mittelpunkt der Handlung, der jedoch, »wegen des gehässigen Lichtes, in welchem sich seine Leidenschaft zeig[e]«,82 nicht das Interesse auf sich ziehen könne, allein schon deshalb, weil man mit den Mitteln, mit denen er versucht, seiner Geliebten habhaft zu werden, nicht zu sympathisieren vermag. Damit werde eine »falsche Figur zur einzigen Hauptfigur«83 gemacht, und da sie in einem »gehässigen Licht« stehe, behindere sie eine auf Rührung abgestimmte Wirkungsdramaturgie. Ein weiterer Fehler, der gleichermaßen das Interesse für die Hauptpersonen störe, sei, »daß der Gegenstand dessen, was man zu fürchten hat, nicht bestimt ist«.84 Man könne die möglichen Konsequenzen der vom Prinzen gesponnenen Intrige weder erkennen, noch vermöge man sie abzuschätzen. Das Stück zerfalle in zwei Teile, und das Interesse müsse sich nach dem Mord an Appiani einen neuen Gegenstand suchen. Mit dieser Ungewissheit könne der Leser, der nun nicht mehr weiß, »von woher er eine Catastrophe erwarten sol«,85 schwer umgehen. Ungeachtet der Schönheiten würde der Leser bzw. Zuschauer des Stücks »doch nicht sehr gerühret«.86

|| 80 Ebd., S. 248f. 81 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 2 (1772), S. 163–187, hier S. 165. 82 Ebd., S. 165. 83 Ebd., S. 166. 84 Ebd., S. 167f. 85 Ebd., S. 168. 86 Ebd., S. 172.

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Mit Blick auf die sprachliche Ausprägung des Dialogs kritisiert Mauvillon die Zerstückelung und Abgebrochenheit der Reden. Enthielt Miß Sara Sampson noch »viel zuviel Declamation, zu viel Tiraden« in der »Manier der Franzosen«, sei Lessing bei der Emilia Galotti ins andere Extrem gefallen: Er wollte den Bühnendialog der natürlichen Sprache, die von sich aus kurz und abgebrochen sei, angleichen, doch habe er dabei übersehen, dass das Theater »zuweilen eine zusammenhangende, nicht kurze Rede« nötig mache. Denn in diesen längeren »Tiraden« äußerten und entwickelten sich die »geheimen Gesinnungen, die Empfindungen, die Züge des Characters einer Person«.87 Es müsse daher ein Kompromiss zwischen natürlicher Kürze und künstlicher Redseligkeit gefunden werden, was Lessing in der Emilia Galotti nicht gelungen sei: Wir sagen auch dies für den angehenden Dichter, der leicht aus Nachahmungssucht den Fehler noch vermehren könte. Zwischen diesen beiden Klippen des abgekrumten (man verzeihe mir dieses Beiwort, es drückt, was ich sagen wil, gar zu gut aus) und des deklamatorischen Dialogs, mus man die Mitte treffen, welches Hr. Lessing, wie wir meinen, in seiner Minna volkommen zu thun gewußt hat. In diesem Stück aber nähert er sich zu sehr der ersten dieser Klippen.88

Mauvillons kleinschrittige Dramenanalyse orientiert sich an der von Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgie selbst praktizierten Textanalyse der Theaterstücke von Voltaire, Pierre Corneille und Christian Felix Weiße. Doch liest sie sich gleichsam als Kritik an seinem Vorbild in Sachen Ästhetik, während Lessing in einem anderen Gelehrten einen Fürsprecher findet: Johann Joachim Eschenburg verteidigt in der Neuen Braunschweigischen Zeitung Lessings Trauerspiel und versucht den Nachweis zu führen, dass es durchaus im Einklang mit den Regeln des Aristoteles stehe.89 Um Mauvillons Argumente zu entkräften, betont er die Verschiedenheit von Malerei und Poesie sowie deren koexistierende bzw. sukzessive Vorstellung der Gegenstände. Was also Mauvillon über das Erfordernis sagt, sich auf eine oder wenige Hauptfiguren zu konzentrieren, denen die Nebenfiguren unterzuordnen seien, beziehe sich ausschließlich auf die Malerei. Im Drama aber, »wo die Begebenheit nach und nach in ihren Veranlassungen, Umständen und Folgen sichtbar w[erde], wo man oft die erstern aus den letztern errathen kan, wo die Worte der That zu Hülfe kommen«, hier fordere man lediglich »Haupthandlung und Unterordnung der Nebenhandlungen«,90 was sich nicht notwendig auf einen oder zwei Protagonisten beschränken müsse. Das Schicksal des jungen, liebenswürdigen Mädchens Emilia, das ein Opfer der ungestümen Leidenschaft eines skrupellosen Prinzen wird, bleibe || 87 Ebd., S. 182. 88 Ebd., S. 183. 89 Vgl. Neue Braunschweigische Zeitung, Nr. 188–191, 3., 4., 7. und 8. Dezember 1772, unpag. [S. 3f.]. 90 Neue Braunschweigische Zeitung, Nr. 188, 3. Dezember 1772, [S. 4].

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allemal der Gegenstand des Interesses und vermöge es durchaus, das Publikum zu rühren. Was Eschenburg dabei allerdings übersieht, ist die unmotivierte Entwicklung Emilias von einem schüchternen frommen Mädchen zu einer römischen Heroin wie Virginia.91 Die Ermordung Appianis wiederum setze den Leser bzw. Zuschauer noch mehr in Erwartung der Katastrophe, so Eschenburg. In der Zusammenfassung kritisiert er Mauvillon dahingehend, dass dieser fälschlich die Zeichnung der Charaktere für das Wesen des Trauerspiels halte, statt die Handlung mit ihren Wendungen und Überraschungen eingehender zu betrachten.92 Eschenburgs Reaktion lässt – als Kontrastfolie eingesetzt – Mauvillons Fixierung auf die Darstellung der menschlichen Natur sichtbar werden, wenn er eine auf ungestörte Rührung abgestimmte Wirkungsdramaturgie einfordert, die aber seiner Ansicht nach in der Emilia Galotti nicht mit der gewünschten Effektsicherheit umgesetzt wird.93 Überlegungen zu einem ›neuen Theater‹ sind bei Mauvillon zu dieser Zeit (1772) – abgesehen von seinen Empfehlungen für ›angehende Dichter‹ – noch nicht erkennbar.

6 Klopstock und die ›Büchse der Pandora‹ Während in den folgenden zwei Jahren vornehmlich weniger bedeutende Gedichtbände von Klamer Eberhard Karl Schmidt, Johann Wilhelm Ludwig Gleim und Johann Georg Jacobi besprochen werden, beurteilt Mauvillon im 7. Band der Auserlesenen Bibliothek Friedrich Gottlieb Klopstocks Utopieentwurf Die deutsche Gelehrtenrepublik, der eine gebildete Elite an die Spitze der Republik setzt. Schon die Zielsetzung des Buches sei ihm völlig unklar: Handelt es sich um »Vorschläge dessen, was zu thun wäre, um die Gelehrsamkeit und Litteratur bei den Deutschen auf den besten Weg zur Volkommenheit zu bringen?« Oder ist es »eine Beschreibung der Sachen, wie sie sind?« Offenbar seien die dargestellten »Gesetze und Einrichtungen« als »Vorschläge« des Verfassers zu verstehen, mit Gedanken darüber, »was unsre Republik seyn sollte«. Wozu aber habe Klopstock dann die »Einkleidung einer Allegorie gewählt«, fragt sich Mauvillon, wenn nicht zum eigenen Schutz, um hinter der »Maske der Allegorie weg[zu]schlupfen, und vor[zu]wenden, es sey ein Scherz, ein Einfal, der zu Aufstutzung der Allegorie hingesezt wäre, und von dem sichs leicht einsehen lasse, daß es blos ein Scherz sey«.94 Zwar sei die Rede von den deut-

|| 91 Vgl. Brief von Ludwig August Unzer (undatiert, vermutlich Dezember 1772). In: Mauvillons Briefwechsel (s. Anm. 13), S. 49. 92 Neue Braunschweigische Zeitung, Nr. 191, 8. Dezember 1772, [S. 4]. 93 Zur Rührung als wirkungsästhetisches Mittel bei Lessing vgl. Wilfried Barner u. a.: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. München 61998, S. 353f. 94 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 7 (1775), S. 282–311, hier S. 283.

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schen Gelehrten und ihrer Republik, doch in Wirklichkeit gebe es keine ›Republik der Gelehrten‹, sondern nur »einzelne Männer, wovon jeder seine Wissenschaft treibt, so wie er es nach seiner Denkungsart, seinen Neigungen und seinen Umständen für gut hält.«95 Träten sie aber in Verbindung und vereinigten sich in einer Gesellschaft, dann »würden sich Häupter aufwerfen, die den Ton angäben, und deren Gedanken man durchaus annehmen müste, bey Strafe von allem Rufe von Gelehrsamkeit und allen dessen Vortheilen ausgeschlossen zu seyn, kurz die Gelehrten würden eine wahre Jesuitische Geselschaft, ein Aegyptischer Priesterorden werden, davon einige Männer die Häupter wären.«96 Besonders die Gelehrtesten unter den Gelehrten hätten – und Mauvillon sieht Klopstock als ein beredtes Beispiel dafür an – gewaltige Leidenschaften und Ambitionen, die Führungsrolle zu übernehmen und damit die Idee der Republik zunichte zu machen. Unter dem blendenden Titel verberge sich nichts anderes als »die Büchse der Pandora für die Gelehrsamkeit«.97 Klopstocks wahres Interesse sei es, so der Demokrat Mauvillon, die Gelehrtenrepublik zur Aristokratie zu machen und sich dabei »zum Gesezgeber der Gelehrten auf[zu]werfen«.98 Nach außen hin mag Klopstock »ein warmes Herz für die Freiheit haben«, doch in Wahrheit will er »uns in der einzigen Sache, worin wir noch Freiheit besitzen, Fesseln anlegen«. Über die Intention kann Mauvillon nur spekulieren. Entweder habe Klopstock nicht bedacht, was er tat, als er die Gelehrtenrepublik niederschrieb, oder aber sein Eifer für die Freiheit sei nichts als »Gleisnerei, verdeckter Ehrgeiz, Begierde nach Gewalt und Ansehn, die er zu erhaschen sucht, indem er der jezt freier denkenden Welt einen Dunst von seiner Liebe zur Freiheit vormacht, kurz eine Art von litterärschen Cromwellismus«.99 Mauvillon tritt uns hier als Seismograph gewisser politischer Tendenzen und einer Verflechtung von Literatur und Kunst mit der Politik entgegen, wie sie Anfang des 20. Jahrhunderts virulent werden sollte. Max Kommerells Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik (1928) heroisiert nicht nur die einschlägigen deutschen Klassiker und lässt sie gleichsam als »wirkende Personen« auftreten; sie werden darüber hinaus zu Vorbildern einer Gemeinschaft stilisiert, die sich vom ungebildeten Volk abhebt, und sollen dem neuen »deutschen Kräftestrom« die Augen öffnen.100 Mauvillon besaß ein waches Gespür für die Konsequenzen eines derartigen Personenkults, der um Dichtergrößen wie Gellert oder Klopstock errichtet wurde. Den wahren Demokraten unter den Gelehrten bleibe keine andere Wahl, als solche Fürsten aus ihrer Republik zu verjagen. || 95 Ebd., S. 284f. 96 Ebd., S. 285. 97 Ebd., S. 286. 98 Ebd.. S. 286. 99 Ebd., S. 288. 100 Vgl. Max Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Frankfurt a. M. 31982 [EA 1928], S. 7.

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Sowohl dem Mäzenatentum als auch der Fürstenerziehung erteilt Mauvillon eine klare Absage, was gleichermaßen auf Wielands Goldnen Spiegel gemünzt ist wie auf Goethe, den die Auserlesene Bibliothek in den Personalnachrichten als neuen Liebling des Weimarer Herzogs bezeichnet.101 »Große Herren brauchen keine Leute zu füttern, unter dem Vorwande, daß sie die Welt durch Schriften erleuchten«,102 bekräftigt er. Nur selten fielen die Wohltaten eines Fürsten auf den Würdigen; zu oft bestimmten Kabale, Privatinteressen und Empfehlungen dessen Wahl. Zudem hätten Belohnungen und ein reichliches Auskommen für Gelehrte zur Folge, dass diese in Trägheit verfallen würden und sich opportunistisch verhielten. Wer hingegen einen »rechten Trieb zu den Wissenschaften« besitze, der finde immer »Mittel, ihn zu befriedigen,« weshalb anderweitige Belohnungen seitens des Fürsten völlig unnötig seien, »als die, die man sich durch seine Dienste erwirbt«.103 Nur auf diese Weise könne der Gelehrte seine Freiheit behaupten. Von dieser aber habe Klopstock keinen rechten Begriff: Er führe ihn »mehr im Munde« als er ihn »im Herzen« hätte, was Mauvillon daran zu erkennen meint, daß sein ganzes Republiken Projekt auf eine Aristokratie hinaus läuft, und zumal, daß er sich gar zu sehr mit Journalisten und gelehrten Zeitungsschreibern, die er unter den Namen Ausrufer und Ankündiger bezeichnet, beschäftigt: alle Augenblicke hat er ein Auge auf sie, ein großer Theil seiner Gesetze handelt von ihnen, hie und da schreibt er ihnen Regeln und Einschränkungen vor.104

Das Buhlen um »Journalistenurtheile«,105 zumal wenn er sie insgeheim verachte und am liebsten alle Kritiker, die ihn nicht bewunderten, ausrotten würde, vertrage sich nicht mit gelehrter Toleranz. Hinter der »Mode über den Journalisten Unfug zu klagen« entlarvt Mauvillon eine Strategie, die das Ziel verfolgt, die Freiheit der Gelehrten einschließlich dessen, was wir gemeinhin unter ›Pressefreiheit‹ verstehen, einzuschränken: Wenn also nur ein Journal ist, so bekomt das Publikum von gar vielen Büchern nur irrige Urtheile zu hören, und die haben dann einen großen Einflus, da ein Theil des Publikums sich aus Mangel eigner Beurtheilungskraft, durch Journale regieren läst, und ein jeder, wegen der Unmöglichkeit alle Bücher zu lesen, sich in Ansehung verschiedner, und zumal der Wahl derer, die er sich anschaffen sol oder nicht, darauf verlassen mus. Es mus alsdenn jeder Gelehrte sichs gefallen lassen, nach der Pfeife der Herrn Journalisten zu tanzen, oder ohne Hofnung von dem grösten Theil des Publikums verachtet zu seyn. Dann ist die gelehrte Republik eine rechte

|| 101 Vgl. Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 9 (1776), S. 690. 102 Ebd., 7 (1775), S. 289. 103 Ebd., S. 290. 104 Ebd., S. 294. 105 Ebd.

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Aristokratie, und das ist das gröste Elend, das die Wissenschaften befallen könne, weil die Gelehrten sehr böse Aristokraten sind.106

Mauvillon zieht eine Parallele zu der Zeit, als in der gelehrten Welt allein Lessings Litteraturbriefe und Nicolais Allgemeine deutsche Bibliothek den Ton angaben. Als Klotz dann seine Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften ins Leben rief, entstanden zwei Parteien, die sich unerbittlich bekämpften. Aber seitdem sich mehrere Stimmen, u. a. die Auserlesene Bibliothek, erhoben hätten, sei vielmehr Freiheit im Urtheilen, das Werk des berühmtesten Mannes findet seinen Tadler, der Journalisten Unfug hat gröstentheils aufgehört, weil jeder ein scharfes Auge auf den andern hat, und immer bereit ist, der Welt die Blöße, die ein andrer giebt, zu entdecken, die Journale werden im Ganzen besser, denn sie müssen mit einander weteifern, und endlich durch Anhörung der verschiednen Urtheile hat das Publikum selbst urtheilen lernen: es hat einsehen lernen, daß auf jedes Journalisten Urtheile nicht zu bauen wäre; und daher haben sie auch ihren schädlichen Einflus verlohren, und man schäzt sie nicht mehr wie ehedem für Richter, sondern für das, was sie sind, für einzelne Stimmen im Publikum.107

Nur die Vielfalt der Meinungen vermag es, Irrtum und Intrige abzuwenden, das Einseitige zum Schweigen zu bringen, Toleranz und Freiheit zu befördern. Nicht weit ist es von hier bis zu Lessings Idee eines Wettstreits der Meinungen auf dem Weg zum moralisch Guten, wie er ihn im Nathan, der Weise (1779) entworfen hat. Auch den Patriotismus Klopstocks hält Mauvillon für nicht ›echt‹, denn er habe »Schriftstellereitelkeit für Patriotismus gehalten«.108 Da Deutschland in viele kleine Staaten zerteilt sei, die jeder für sich ein Privatinteresse hätten, verbinde sie zwar ein »gemeinschaftliches Band«, doch wenn die Vorzüge der gemeinsamen Verfassung erhalten bleiben sollen, dann müsse dieses Band so »lose bleiben, als wie es ist, und wir dürfen uns ja nicht näher unter ein Oberhaupt zu einem Nationalkörper vereinigen, welches nothwendig erforderlich wäre, wenn ein algemeiner deutscher Nationalgeist und Patriotismus entstehen solte«. Zweifellos hat Mauvillon die Idee eines Föderalstaats im Auge, wenn er schreibt, dass man besser Sachse, Hannoveraner, Braunschweiger, Hesse bleibe. Sollte aber ein Feind von außen das Land oder die Verfassung bedrohen, würden alle zusammenstehen und »als Deutsche zusammen handeln« – so denke Mauvillon zufolge ein »wahrer Patriot«.109 Der Patriotismus, den Klopstock den Deutschen einflößen wolle, gründe in der heroischen Geschichte der Germanen, die Mauvillon als unheilvolle Chimäre entlarvt:

|| 106 Ebd., S. 295. 107 Ebd., S. 295f. 108 Ebd., S. 298; vgl. dazu [Jakob Mauvillon:] Vom Patriotismus der Deutschen. s.l. [Leipzig] 1776. 109 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 7 (1775), S. 299.

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Wenn er Herman und seine Zeitgenossen in Gedichten uns gros und edel vorgestelt hat, so hat man das schön gefunden, denn man hat geglaubt, er folge hier der Freiheit der Dichter, die die Dinge nur nach einem wahrscheinlichen Ideal schildern. Aber er wil sie im Ernst uns als Muster anpreisen; er hat unter dem Titel, Denkmale der Deutschen alle Histörchen, von den Zeiten da Deutschland der Wohnsiz roher, Raub und Blutdürstender Barbaren war, gesamlet. Alles, was Tacitus in seiner B e s c h r e i b u n g von Germanien erzählt, sind ihm Evangelia.110

Die These vom zukunftsschwangeren Aufstieg des Germanentums kann dem Aufklärer Mauvillon nur suspekt erscheinen, und »jeder, der die alte Geschichte Deutschlands mit ein wenig philosophischen Augen betrachtet hat«, werde »das Lächerliche dieser Vorstellungen leicht einsehen«.111 Die Funktion des Kritikers sieht Mauvillon in erster Linie darin, vor Meinungsmache und Machtmissbrauch zu warnen: »[W]ir glauben, ein Kritiker müsse sich gegen nichts so laut erheben als gegen falsche Urtheile und Meinungen berühmter Männer, eben weil sie berühmt sind.«112 Als Klopstocks Gelehrtenrepublik 1773 erschien, fand das Buch nach Angaben Mauvillons 3597 Subskribenten.113 Für Klopstock und seine Selbstverlagsidee, die auf eine nationale Selbstorganisation von Autoren, Subskribenten und Lesern abzielte, bedeutete diese überraschend hohe Zahl einen phänomenalen Erfolg. Nach der Lektüre des ersten Teils der Gelehrtenrepublik war das anfangs große Vertrauen in den »erhabenen Verfasser der Messiade und der Hermanns Schlacht« jedoch so sehr geschwunden, »daß sich weder für eine zweite Auflage des ersten Teils noch für einen zweiten Teil genügend Interessenten fanden«.114

|| 110 Ebd., S. 299f. 111 Ebd., S. 300. 112 Ebd., S. 309. 113 Ebd., S. 282. Helmut Pape und später Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur geben die Zahl mit 3480 etwas niedriger an, wobei die Subskribenten dann 3655 Exemplare erworben hätten; vgl. Helmut Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne. Frankfurt a. M. 1969, Sp. 124; Wolfgang von Ungern-Sternberg: Schriftsteller und literarischer Markt. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. von R. Grimminger. Bd. 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789. München 1980, S. 133–185, hier S. 183. Mauvillon selbst hat auch subskribiert, vgl. die Liste der Subskribenten in: Friedrich Gottlieb Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Hamburg 21774, S. 18. 114 Friedrich Gottlieb Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik. In: ders.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. VII/2: Text/Apparat. Hg. von Klaus Hurlebusch. Berlin, New York 2003, S. 292.

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7 Goethe: Der neue Stern am Dichterhimmel Die erste von Mauvillons Goethe-Rezensionen betrifft nicht, wie man es hätte vermuten können, den Götz von Berlichingen, sondern das Trauerspiel Clavigo, jedoch in Kenntnis des Götz, und sie beginnt mit einer Entschuldigung: Da in verschiedenen anderen Literaturjournalen wie dem Teutschen Merkur bereits alles Wichtige über dieses Stück gesagt worden sei, lasse sich im Grunde nichts Wesentliches hinzufügen.115 Mauvillon sieht sich gezwungen, zugeben zu müssen, den rechten Moment für eine zeitnahe Besprechung verpasst zu haben, und charakterisiert seinerseits den Clavigo als eine nur »nachlässig hingeworfene Skitze [...], des Verf. von dem Götz von Berlichingen ganz unwerth, ohnerachtet man etliche Züge von seiner Meisterschaft darin erkent«.116 Aber mit dem Zugeständnis, dass am Ende trotz der Nachlässigkeiten im Plan, des »an vielen Stellen zu deklamatorisch[en] und leer[en]« Dialogs und der übertriebenen Wutdarstellungen am Ende dennoch ein »große[r] Effekt«117 spürbar sei, nimmt er die geäußerte Kritik quasi im gleichen Atemzug in Teilen wieder zurück. Auch in seiner zweiten Goethe-Rezension fühlt sich Mauvillon zum Eingeständnis gezwungen, den rechten Zeitpunkt versäumt zu haben. »Es giebt Werke«, bemerkt er, »die das ganze Publikum schon gelesen hat, ehe es möglich ist, daß ein kritisches Journal sie ankündige.« Genau das sei das Schicksal der meisten von Goethes Theaterstücken, was den Rezensenten dann auch davon abgehalten habe, sofort nach Erscheinen des Götz von Berlichingen über das Schauspiel zu sprechen, zumal die deutschen Kunstrichter überall damit beschäftigt waren, »das Stük zu zergliedern, und dem Publikum dessen Schönheiten vor Augen zu legen«.118 Goethe stellt sich für Mauvillon als ein Phänomen dar, dessen plötzlicher Erfolg und ungeheure Breitenwirkung die kritische Beurteilung in einem Rezensionsorgan, das nur zweimal jährlich erscheint, obsolet werden lässt. Dieser geradezu überwältigenden Resonanz auf Goethes Dichtungen begegnet der Rezensent mit einem geschickten Kunstgriff, denn nach der knapp zweiseitigen Besprechung des Götz geht Mauvillon dazu über, eine »Recension der Recensionen«119 zu schreiben, indem er sich auf

|| 115 Vgl. Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 7 (1775), S. 539. 116 Ebd., S. 540. Aus dem Text geht hervor, dass Mauvillon die Götz-Rezension bereits vor der Besprechung des Clavigo verfasst hatte. 117 Ebd. 118 Ebd., 8 (1775), S. 482. Vgl. dazu die Rezension zur Stella, wo es heißt: »Herr Göthe ist ein viel zu beliebter Dichter, als daß alle Leser dieser Biblioth., die sich um Gedichte bekümmern, dies Stük nicht schon sollten gelesen haben« (ebd., 10 [1776], S. 570). 119 Diese Formulierung stammt von Gotthilf Sebastian Rötger, der in seiner Besprechung des Stücks im Magazin der deutschen Critik vor demselben Problem wie Mauvillon stand und genauso reagierte wie dieser; vgl. Magazin der deutschen Critik 3.2 (1774), S. 265. Bereits im frühen 18. Jahrhundert gab es Zeitschriften, die sich darauf spezialisiert hatten, andere Rezensionen zu rezensie-

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siebzehn Seiten mit der von Christian Heinrich Schmid verfassten Abhandlung über Götz von Berlichingen auseinandersetzt und damit seine eigenen Ausführungen auf eine theoretische Ebene und zugleich auf einen neuen Gegenstand lenkt. Bei der Lektüre von Goethes Dramen scheint Mauvillon ein gewisses Unbehagen verspürt zu haben, denn seine Besprechungen kommen immer wieder auf die Planlosigkeit in deren Anlage zurück. So heißt es mit Blick auf den Götz: »Der Plan kan bei diesem Stücke gar nicht in Betracht kommen.«120 Die gleiche Kritik wird er auch gegen Claudine von Villabella vorbringen. Was er hingegen an beiden Stücken lobt, ist die »Schönheit des Details« und insbesondere am Götz die geschickte Entfaltung »witziger Einfälle«,121 aber auch den »[v]ortrefliche[n] Dialog« und die »mit vieler Wahrheit gezeichnete[n] Charaktere«, was er als die positiven »Eigenschaften aller Göthischen Stücke«122 rühmt. Doch bleibt der grundsätzliche Einwand, dass es sich mit »dem Plane, worin überhaupt dieses Dichters Stärke nicht besteh[e]«,123 keineswegs so verhalte. Zwar ist sich Mauvillon durchaus bewusst, dass seine Beurteilungskriterien bei den Goethe’schen Dramen nicht mehr greifen, doch sträubt er sich dagegen, von der Forderung nach einem vernünftigen Plan Abschied zu nehmen. Für Goethe hingegen gibt es, wie wir aus seiner Rede »Zum Shakespears Tag« wissen,124 keine überzeitlichen Regeln für das Drama mehr: Weder könne man an den Prinzipien der antiken Tragödie festhalten, noch an den Regeln des französischen Theaters, und so verwirft er das Planvolle, indem er das Dichterische über die Regeln des Theaters und die Ausdruckskraft über den Gehalt stellt. Auch bei der Beurteilung von Goethes Dramen ist für Mauvillon das Vermögen, sowohl Interesse als auch Rührung zu wecken, von größter Relevanz. Alle Kunstrichter seien sich darin einig, bemerkt er mit Blick auf den Götz, dass störende Unterbrechungen und Dissonanzen »nur in den Intervallen zwischen den Akten mit der Rührung bestehen könn[ten]«, denn am Ende eines Stücks müsse das Interesse immer mehr gesteigert werden: »[N]ichts wäre wol unausstehlicher als mitten in der starken Rührung auf die Art gestöhrt zu werden«.125 Je natürlicher und individueller die Hauptperson gezeichnet ist, desto mehr kann sich der Leser bzw. Zuschauer für sie interessieren. Aber auch die Umstände, in denen sich die Person befindet, spielen für die Steuerung des Interesses eine wichtige Rolle: »In Götzen den Verfechter der Freiheit und Unabhängigkeit der freien Reichsritterschaft aufzustellen, gegen die Fürsten, welche sie theils mit Gewalt, theils durch Anlockung in ihre Dienste

|| ren, vor allem Christian Gottfried Hoffmann mit seinen Auffrichtigen und unpartheyischen Gedancken (1714ff.). 120 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 8 (1775), S. 482. 121 Ebd. 122 Ebd., 10 (1776), S. 492. 123 Ebd. 124 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Zum Shakespears Tag. In: FA I, 18 (s. Anm. 21), S. 9–12. 125 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 8 (1775), S. 497.

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unter das Joch bringen wolten«, hält Mauvillon für einen »Ministerkunstgrif«, durch den »Götz und das ganze Schauspiel sich zu einem solchen Interesse und einer solchen Würde erheb[en], deren beide sonst gar nicht fähig wären«. Voraussetzung für die Effektsicherheit bleibt für Mauvillon der innere Zusammenhalt des Geschehens und die innere Bindung der handelnden und leidenden Personen. Die dargestellten Begebenheiten haben sich dem »auf eine große Wirkung«126 zielenden Gesamtplan unterzuordnen. Das ausgewogene Verhältnis zwischen Rührung und Interesse ist für Mauvillon eine unbedingte Notwendigkeit, damit ein Stück die intendierte Wirkung beim Zuschauer erzielen kann. Doch müssen sich die als solche bezeichneten Theaterstücke zugleich als spielbar erweisen. Sie dürfen sich nicht allein darauf beschränken, ein literarisches Vergnügen für Kenner zu sein, sondern haben weit darüber hinaus eine wesentliche Funktion für die Weiterentwicklung und Verbesserung der deutschen Bühne zu erfüllen. Über den Götz fällt er, dies eingerechnet, summa summarum folgendes Urteil: Wenn man auf die Wahl des Gegenstandes, auf die Auswahl und die Anordnung der Charaktere, auf die Ausmalung derselben durch die kräftigsten und feinsten Züge, auf die Wahrheit und Kraft des Dialogs sieht, so kan man sich nicht leicht etwas vollkomneres denken, als dies Stük. Es ist ein Pfand dessen, was der Verf., wenn er will, für unsre Bühne thun kan. Noch aber ist dadurch nichts für dieselbe geschehen, die doch wirklich der Gegenstand der Bemühungen unsrer Dichter, welche Fähigkeiten dazu haben, seyn solte, da sie noch so arm an guten Stücken ist, und gewis die wichtigste unter den menschlichen Belustigungen genant zu werden verdient. Denn in der That, Götz ist auf keine Art ein Werk für die Bühne.127

Das Vorurteil, dass der Götz auf der Bühne nicht spielbar sei, deckt sich mit der weit verbreiteten Skepsis der zeitgenössischen Kunstkritik gegenüber dem ›neuen Drama‹. Mauvillons Vorbehalte sind grundsätzlich und erstrecken sich nicht nur auf die Aufführbarkeit des Stücks, sondern auf die gesamte Theorie des neuen Theaters, wie sie von Christian Heinrich Schmid in seiner Abhandlung Ueber den Götz von Berlichingen (1774) vorgetragen wurde. Den Dichtern sei abzuraten, aus dem Götz »eine neue Theorie des Drama zu lernen, wenn ihre Werke noch den Zwek eines Dramas erfüllen sollten«,128 denn diesen, so glaubt Mauvillon, erfülle Götz gewiss nicht: Er bewirke »Bewunderung, Vergnügen, beides im hohen Grade, aber nur die flachste Rührung«.129 Für Mauvillon bewegt sich Götz von Berlichingen bereits jenseits der lessingschen Wirkungsästhetik, doch vermag er es nicht, ein neues Muster in dem Stück zu erkennen, das der deutschen Bühne zuträglich wäre. Trotz seiner Einwände steht || 126 Ebd., S. 485. 127 Ebd., S. 483. 128 Ebd., S. 499. 129 Ebd.

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Mauvillon dem revolutionären Gestus der Sturm und Drang-Dichter durchaus aufgeschlossen gegenüber, wie den folgenden Sätzen zu entnehmen ist: Wenn wir also auf die Verf. des Götz von Berlichingen, des Hofmeisters und neuen Menozas etwas vermöchten; so würden wir ihnen zurufen: recht so! denen Deutschen gezeigt, sie müssen sich eine neue Bahn brechen; gezeigt, was Natur, was Kraft, was Wahrheit in den Charakteren, im Dialog, in der Bearbeitung der Situationen sey. Vielleicht war es nöthig, um sie von dem zum Ekel betretnen Pfade loszureißen, daß man selbst über alle Gränzen hinaus davon abwich.130

Andererseits hält er an dem von der Tradition vorgegebenen Endzweck der Kunst fest, wenn er Goethe und Lenz ermahnt: Nun ist es aber gut. Kehret nun, ihr großen Künstler! in das Gleis zurük, das euch der Zwek der Kunst vorschreibt. Bedenkt, daß unsere Bühne arm, daß das Leben kurz ist; gebraucht das eurige dazu, der Nation den wichtigen Dienst zu thun, ihre Bühne zu bereichern. Das habt ihr noch nicht gethan. Eure Stücke können nicht aufgeführt werden. Sie werden zwar immer das Vergnügen der Kenner seyn; und wenn ihr, wenn andere, durch euer Beispiel angefeuert, uns regelmäßigere Trauerspiele von gleicher Kraft liefern werden, so werden sie als die Stücke, die Epoche für die deutsche Bühne gemacht haben, auch bei der Nachwelt in Andenken bleiben.131

Es wäre problematisch, Mauvillon als Parteigänger oder Anhänger des ›Sturm und Drang‹ zu bezeichnen. Noch wichtiger als alles Drängerische war ihm, wie seiner Kritik zu entnehmen ist, die Zweckmäßigkeit der Kunst, die er mit den Maßstäben einer lessingschen Ästhetik verbindet. Wenn also der Literaturhistoriker Karl Schiller in Mauvillon recht überschwänglich einen »Blutsverwandte[n] der Kraftgenies aus der Sturm- und Drangperiode im Fache der literarhistorischen Kritik«132 zu erkennen meinte, so muss vor dem Hintergrund der Rezensionen einschränkend konstatiert werden, dass Mauvillon, der Tradition verpflichtet, an dem festhält, was er als die »theatralischen Regeln«133 verzeichnet, die den Plan ebenso wie den Gehalt betreffen und die Harmonie und Ausgewogenheit in der Form ebenso wie den wohl kalkulierten Effekt der Rührung.

|| 130 Ebd. 131 Ebd., S. 499f. 132 Karl Georg Wilhelm Schiller: Braunschweigs schöne Literatur in den Jahren 1745 bis 1800, die Epoche des Morgenrothes der deutschen schönen Literatur. Wolfenbüttel 1845, S. 132. 133 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 8 (1775), S. 500.

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8 Lenz und die menschliche Natur Das Beharren auf dem Kanon vorgegebener Regeln hinderte Mauvillon nicht daran, neben dem Genie Goethes auch das von Lenz zu würdigen, was vor allem an den Besprechungen des Hofmeisters und des Neuen Menoza deutlich wird. Obgleich er der Ansicht war, dass der Hofmeister allein schon wegen der Kastrationsszene auf der Bühne nicht darstellbar sei, werden dennoch Dialog und Charakterisierung der Personen in höchsten Tönen gelobt. Selten findet sich das Attribut ›vortrefflich‹ bei Mauvillon so oft wie in der Besprechung zum Hofmeister. Weder Lessings Emilia Galotti noch Goethes Götz von Berlichingen erhalten in Hinblick auf die Charakterdarstellung dermaßen viel Beifall. Die »volkommenste Kenntnis der Menschen«,134 die in diesem Theaterstück zum Ausdruck komme, hält Mauvillon für einen »Meisterzug«135 des Verfassers. Wenn man sich allerdings allein aus der Handlung einen Begriff von dem Stücke bilden wolle, so würde man es zweifellos »sehr seltsam« finden. Sobald man aber auf die Natur, die Schilderung der Charaktere und den Dialog schaue, erweise es sich als »über alles Lob erhoben«. In der Tat könne man sich »in dem Punkt nichts vortreflicheres gedenken«.136 Trotz seiner lobenden Worte hält Mauvillon den Hofmeister keineswegs für völlig gelungen. Mängel sieht er, wie nicht anders zu erwarten, insbesondere im Plan: Er rügt die Unordnung in der Chronologie, wobei er eine penible Berechnung von Gustchens Schwangerschaft anstellt und auch sonst die Nachlässigkeit und Flüchtigkeit der Ausführung kritisiert. 137 Dabei ist Mauvillon einem Rätsel auf der Spur, das erst zweihundert Jahre später in der germanistischen Forschung diskutiert werden sollte, nämlich dass Läuffer rein rechnerisch überhaupt nicht der Vater von Gustchens Kind sein kann, wie der Germanist Claus O. Lappe 1980 durch eine Analyse der zeitlichen Struktur des Textes nachzuweisen suchte.138 Denn zu dem Zeitpunkt, in dem Gustchen in der wäldlichen Bettlerhütte niederkommt, ist sie, so wird sowohl vom Major, als auch vom Schulmeister Wenzeslaus und von Gustchen selbst beteuert, seit einem Jahr von ihrer Familie und dem Hofmeister getrennt, was die Möglichkeit ausschließt, dass Läuffer der Vater sein könnte und stattdessen Pätus

|| 134 Ebd., 7 (1775), S. 386. 135 Ebd., S. 385. 136 Ebd., S. 389. 137 Bezeichnend dafür ist z. B. folgende Stelle: »Daß die Bettlerin das Kind erst Suschen nent, und es sich dann ergiebt, daß es ein Söhnchen ist, kan nicht anders als auf die übergroße Nachläßigkeit gerechnet werden, so leicht es sich auch ändern läst« (ebd., S. 398). 138 Vgl. Claus O. Lappe: Wer hat Gustchens Kind gezeugt? Zeitstruktur und Rollenspiel in Lenz’ Hofmeister. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54.1 (1980), S. 14–46; zum Einspruch gegen die These von Pätus’ Vaterschaft vgl. Jan Knopf: Noch einmal: Pätus. Zur Vaterschaft in Lenz’ Hofmeister. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54.3 (1980), S. 517–519.

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ins Blickfeld rückt. Allein dieser »Irrtum Lenzens«139 bildet den Ausgangspunkt zu der Frage, wie mit den handlungslogischen Unstimmigkeiten in dem Drama umzugehen sei.140 Die Lenz-Rezensionen sind in der Chronologie von Mauvillons literaturkritischen Beiträgen insofern bedeutsam, als Mauvillon hier in seiner Bewertung der Stücke über die lessingsche Wirkungsdramaturgie hinausgeht. Denn abweichend von seiner Beurteilung des Trauerspiels Emilia Galotti141 und der frühen GoetheDramen sieht Mauvillon das Ziel und den Hauptzweck des Hofmeisters nicht in der Rührung, sondern im Unterricht – eine Unterscheidung, die auch gattungsspezifisch zu verstehen ist, denn sowohl Der Hofmeister als auch Der neue Menoza tragen im Untertitel die Bezeichnung ›Komödie‹, was Mauvillon veranlasst, in Bezug auf das zweite Stück den Begriff der »komische[n] Belehrung«142 einzuführen. Rührung werde im Hofmeister allein schon dadurch unmöglich gemacht, dass bei »so viel[en] Personen, bei der Menge von Begebenheiten, und dem beständigen Hüpfen von einem Gegenstande zum andern«143 ein starker Affekt wie Ergriffenheit sich überhaupt nicht einstellen könne. Seine Besprechung beschließt Mauvillon mit »einer Bitte an den Verfasser«, dass dieser »sein großes Genie zur Bühne«, das der Rezensent als das »gröste« ansieht, »das sich bisher in Deutschland hervorgethan ha[be]«, dazu anwenden möge, dem Publikum noch weitere solcher Stücke zu geben: Wir verlangen zwar nicht, daß er sich ganz an die alten Regeln binden möge, aber das wünschen wir doch, daß er sich denselben in Zukunft ein wenig näher hielte. Wenn er für unsere Bühne patriotisch gesint ist, so ist das nöthig, sonst werden seine Stücke nicht können vorgestelt [d. h. aufgeführt; A.K.] werden. Wil er aber nicht so gefällig seyn, sondern immer seinen Lauf so ganz excentrisch fortsetzen, so werden uns seine Stücke doch immer angenehme Geschenke seyn, denn die großen Schönheiten derselben werden sie immer zur herlichsten Lektüre machen.144

Trotz dieses scheinbar höchst positiven Fazits unterscheidet sich Mauvillons Beurteilung in wesentlichen Punkten von heutigen Interpretationen des Hofmeisters,

|| 139 Lappe: Wer hat Gustchens Kind gezeugt? (s. Anm. 138), S. 17. 140 Vgl. dazu Albrecht Koschorke: Der prägnante Moment fand nicht statt. Vaterlosigkeit und Heilige Familie in Lenz’ Hofmeister. In: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings. Hg. von Peter-André Alt u. a. Würzburg 2002, S. 91–103. 141 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 2 (1772), S. 163–187. 142 Ebd., 7 (1775), S. 537. Auch in seiner Besprechung der Anmerkungen übers Theater nimmt Mauvillon die Unterscheidung zwischen der auf Rührung abzielenden Tragödie und der Komödie vor, deren Ziel es sei, zu unterrichten (vgl. Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 8 [1775], S. 576). 143 Ebd., 7 (1775), S. 390. 144 Ebd., S. 398.

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was vor allem daran liegt, dass für uns die Bewegung des Sturm und Drang mit ihren radikalen Anschauungen über das Theater, die Außerkraftsetzung der Einheit von Ort und Zeit sowie die Regellosigkeit der dramatischen Handlung und der zum Teil eigenwilligen Charakterzeichnung keineswegs eine Modeerscheinung darstellt, sondern einen festen Platz in der Literatur- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts hat. Gleichwohl gebührt Mauvillon Anerkennung, insbesondere dafür, dass er das Genie des Dichters Lenz sofort erkannt und eben deshalb bereitwillig die Übertretung der Einheiten von Ort und Zeit akzeptiert hat. Über den Neuen Menoza heißt es, dass nur Johann Georg Schlosser das Stück gelobt habe,145 doch auch Mauvillons Rezension fällt überraschend positiv aus. Obgleich er den Namen des Verfassers nicht kennt, vermutet Mauvillon aufgrund der »Manier« sofort denselben Urheber wie beim Hofmeister. »Die ganze Fiktion«, schreibt er, sei »seltsam und wild angelegt, mit ausdrüklicher Vernachläßigung aller Wahrscheinlichkeit.«146 Dennoch habe das Stück gleichwohl eine rührende Wirkung, und auch die Handlung sei im Wesentlichen problemlos nachvollziehbar. Die »Einrichtung im Plane« hält Mauvillon für gelungener als im Hofmeister, denn der Leser könne sich »in die Begebenheiten und ihre Ordnung viel besser finden [...].«147 Als »vortreflich« charakterisiert er die Ausgestaltung der Situationen sowie die Dialoge. Anerkennung verdiene auch die »herliche Schilderung einiger [Personen] vom Lande« mit ihren »eigenthümlichen Thorheiten«, was Mauvillon dazu veranlasst, sich ausladend über seine Geburtsstadt zu äußern: »Wer Leipzig kent,« eröffnet er seinen Lesern, »den werden viele Züge, und besonders der ganze Charakter des Hrn. Baccalaureus außerordentlich ergötzen,« und wundert sich, »wie das Stük dort hat können gedruckt werden, da unter allen Eigenschaften der Einwohner dieser berühmten Stadt die Liebe und Bewunderung derselben eine der algemeinsten ist.«148 Ein wesentlicher Aspekt der »komischen Belehrung« wird von Mauvillon unmittelbar auf die Universitätsstadt Leipzig bezogen: Wissenschaften blühen gar sehr in Sachsen, und besonders in Leipzig, es ist mit einer großen Menge geschikter und witziger Leute angefült, aber dabei ist es unter allen protestantischen deutschen Ländern dasjenige, wo man, im Reiche der gesunden Philosophie, am allerweitesten und noch um ein halb Jahrhundert zurük ist. Da Sachsen und alle Länder Deutschlands eine Menge seltsamer Charaktere darstellen, so bitten wir den Verfasser sehr, sie uns auf der Bühne zu zeigen. Er ist gewis am besten im Stande, sie ins gehörige komische Licht zu setzen, und un-

|| 145 Vgl. Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke. Hg. von Friedrich Voit. Stuttgart 1992, S. 536, Anm. 415. 146 Ebd., S. 534. 147 Ebd., S. 536. 148 Ebd., S. 537.

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ser Aristophanes zu werden. Die Gabe des Spottes hat er ganz in seiner Gewalt, und er ist manchmal beißender, als er vielleicht im Grunde seyn wil.149

Kurz darauf kommt Mauvillon auf den Erfolgsautor und Publikumsliebling Gellert zu sprechen, um ihn erneut zum Gegenstand seines Spottes zu machen: Gellert war ein frommer Man und unfähig aus Eigennuz so zu urtheilen [...]. Aber er hatte die Schwachheit, daß er sich von den jungen Leuten, die ihm ergeben waren, gewaltig konte veneriren lassen, und diejenigen, die ihn so venerirten, besonders die Reichen und Vornehmen, waren in seinen Augen immer Muster, da hingegen er andern gar keine Gerechtigkeit wiederfahren lies, zumal wenn sie etwa Zuhörer von einigen ihm misfälligen Lehrern waren, die unglüklicher Weise die gelehrtesten und tiefdenkendsten in ihrem Fache waren. Daß er die Reichen und Vornehmen immer lobte und pries, daran war hauptsächlich eine, oder ein paar Personen Schuld, die von diesen Vornehmern Vortheile zogen, und weil sich Gellert, welcher freilich ein sehr schwacher Kopf war, ganz von ihnen lenken lies, so brachten sie es dahin, daß er von diesen Reichen ihren Unvolkommenheiten nie was erfuhr, und sie immer für vortrefliche junge Leute hielt und ausposaunte. Hiedurch haben wir diesen Spot, vor den sich halb Deutschland gekreuzigt haben mag, nach der Wahrheit erklärt, wie ihn auch der Verf. gewis verstanden haben wil [...].150

9 Das ambivalente Verhältnis zum ›Sturm und Drang‹ Auch wenn Mauvillon in der Forschung mitunter als Vordenker des ›Sturm und Drang‹ angesehen wurde (etwa bei Karl Schiller und Heinrich Blume), so lässt sich doch an seinen Beurteilungen der frühen Theaterstücke von Goethe und Lenz deutlich ablesen, dass er dem ›Sturm und Drang‹ weder kritiklos noch unbedingt wohlwollend gegenüberstand. Zwar hatte er sofort das Talent eines Goethe und Lenz erkannt, doch selbst dann, wenn er die vollendeten Details und den Sprachwitz der Dialoge zu schätzen wusste, hielt ihn dies nicht davon ab, die Ausführung des Plans zu bemängeln oder die didaktische Wirkung des Stückes in Frage zu stellen. Sein ambivalentes Verhältnis zum ›Sturm und Drang‹ kommt vor allem in den späteren Rezensionen ab 1776 zum Ausdruck. In der Besprechung von Ludwig Philipp Hahns Theaterstück Der Aufruhr zu Pisa kritisiert er, dass die »schöne[n] Situationen« nicht »gehörig genuzt« worden seien und findet die »gleichgültige[n] und langweilige[n] Auftritte von Soldaten, Bedienten, Kammerweibern, Bürgern am unrechten Orte« zu gedehnt.151 Auch hier verweist er auf die »Regeln des gesunden Geschmaks in Anlegung und Ausführung [der] Plane«, die, wenn sie befolgt würden, den Verfasser || 149 Ebd., S. 537f. 150 Ebd., S. 538f. 151 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 10 (1776), S. 663f.

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davor bewahrten, »mit dem Schwarme der übrigen Modedichterlein bald [zu] verschwinden«.152 Lenzens Komödie Die Freunde machen den Philosophen hält er für einen misslungenen Abklatsch von Goethes Stella.153 Johann Friedrich Schinks Rosalia ist für ihn dann schon »fast unter aller Kritik«.154 Der Verfasser erweise sich als ein Nachahmer Goethes, den er nicht einmal annähernd erreichen könne. Den jungen Dichtern rät er, dass sie sich die neuen Erfolgsautoren auf keinen Fall zum Vorbild nehmen sollten oder sich wenigstens »anständigere Muster als Stella« wählten. Noch besser sei es, »sich selbst in einem kleinen Lichte zu zeigen, als den Schein von einem andern borgen zu wollen, und doch gar nicht leuchten zu können.«155 Friedrich Maximilian Klingers Schauspiel Sturm und Drang schließlich könne man angesichts des chaotischen Durcheinanders nur mittelmäßig finden: Es zeige zwar »einige Spuren von Genie in einzelnen Stellen des Dialogs«, doch habe der Verfasser es versäumt, »über die Verkettung der Begebenheiten nachzudenken«.156 Immer wieder wird vom Rezensenten eine planvoll durchdachte logische Handlungsstruktur eingefordert, so, wenn er z. B. von einem »natürlichen Zusammenhang« der Ereignisse spricht. Die ›Sprünge und Würfe‹, die Nachlässigkeiten in der Ausführung und die verwirrende, mitunter widersprüchliche Chronologie beeinträchtigen seiner Ansicht nach die affektive Wirkung eines Stücks. Belehrung könne man nur erwarten, wenn sich das Drama in seiner Anlage und Durchführung auch verstehen lasse. Originalität wiederum besteht für Mauvillon nicht allein im Übertreten von Regeln. Auch wenn er den Götz und den Hofmeister in vielerlei Aspekten zu würdigen weiß, so erscheinen ihm die Werke der Epigonen lediglich als Produkte sklavischer Nachahmer, was er, die Sentenz Imitatores, servum pecus! des Horaz aufgreifend,157 in Bezug auf Die Freunde machen den Philosophen deutlich macht: Statt Literatur von eigenem Wert zu schreiben, ahmen sie die Fehler der großen Dichter nach.158 Darin sieht er die größte Gefahr jener Modebewegung, wie sie der ›Sturm und Drang‹ in seinen Augen zu werden drohe. Zwar hat Mauvillon zusammen mit Unzer in den ›Dichterbriefen‹ die Prinzipien der Geniezeit vorformuliert. Er bleibt in seinen Ansichten aber dem Denken und den ästhetischen Urteilen der Aufklärung verpflichtet und kann die Regellosigkeit des ›Sturm und Drang‹ nicht akzeptieren. Das mag auch erklären, warum er in seinen Besprechungen gerade solche heute völlig in Vergessenheit geratenen Theaterstücke lobt, die einen historischen Stoff nach den klassischen Regeln des Theaters

|| 152 Ebd., S. 664f. 153 Vgl. ebd., 11 (1777), S. 364. 154 Ebd., 12 (1777), S. 23. 155 Ebd., S. 24. 156 Ebd., 14 (1778), S. 129. 157 »Oh Nachahmer, sklavisches Vieh« (Horaz, Epist. I, 19, 19). 158 Vgl. Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 11 (1777), S. 364.

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bearbeiten, wie es Johann Christian Blum in seinem Schauspiel Das befreite Ratenau (1775) getan hat, das Mauvillon als ein vortreffliches »Meisterstük« rühmt.159

10 In Verteidigung der »Presfreiheit« Bereits in seinen Ausführungen über Klopstocks Gelehrtenrepublik hat sich Mauvillon kritisch gegenüber jeglichen Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit geäußert und sich für die freie Entfaltung der Verstandeskräfte ausgesprochen. Erneut zu spät, um das Werk als literarische Neuerscheinung ankündigen zu können, kommt er in seiner Besprechung von Goethes Die Leiden des jungen Werthers auf dieses für ihn wichtige Thema zurück. Auch hier nimmt Mauvillon die Position eines zweiten Beobachters ein. Kaum ein anderes Werk habe das Urteil der Kunstrichter dermaßen polarisiert: Lob der »kleinen Posauner auf dem deutschen Parnas« auf der einen Seite, während andere »mit dem bittersten Tadel darüber hergefallen«160 seien. Von beiden Positionen wolle der Rezensent dem Leser Proben geben, um dann »den Werth einiger dem Buch gemachter Vorwürfe [zu] erörtern«, jedoch ohne dem Leser »Nachricht von dem kleinen Romane selbst geben [zu] wol[l]en«, denn dieser habe »ihn schon gewis gelesen«.161 Nachdem Mauvillon die »große Geisteskraft«162 gewürdigt hat, mit der Goethe den Charakter der Hauptperson entworfen hat, sowie »die Energie des Ausdrucks, die frappanten Gedanken, die Werthers eigenthümliche Art, die Dinge der Welt zu betrachten«,163 setzt er sich mit den vorgebrachten Vorwürfen gegen das Buch auseinander, nämlich dass es »gefährlich sey, indem es den Selbstmord lehre und dazu anreize«, und dass der Verfasser »Unrecht gethan hat, eine gewisse wahre Geschichte zum Grunde seines Werks zu legen, und dadurch die kaum verharschte Wunde einer achtungswürdigen Familie wieder aufzureißen«.164 Mauvillon ergreift in dieser Frage Partei für den Autor und argumentiert gegen die vermeintliche Gefährlichkeit des Romans, denn eine solche Sichtweise sei »für den Fortgang der Wissenschaften höchst verderblich, gebiert die Büchercensuren, und erstikt dadurch [...] allen Untersuchungsgeist«.165 Was als eine Buchrezension begann, entwickelt sich bald zu einer grundsätzlichen Diskussion über »Presfreiheit«. Wenn das oberste Gebot eines Dichters die

|| 159 Ebd., 10 (1776), S. 231. 160 Ebd., 8 (1775), S. 501. 161 Ebd. 162 Ebd., S. 502. 163 Ebd., S. 503. 164 Ebd. 165 Ebd.

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Wahrheit sei, so könne deren Kenntnis »nicht anders hervorgebracht werden, als durch Betrachtung der Dinge von allen Seiten; wozu die Erlaubnis, sie von allen Seiten vorzustellen, das heist, alles frei zu untersuchen und alle Gründe auf Seiten der Meinung, die man für wahr hält, vorzutragen, nothwendig [sei]«.166 Die »Presfreiheit« ist für Mauvillon die unbedingte Voraussetzung für die Entfaltung jenes ›Untersuchungsgeistes‹, doch gebe es auch hier gewisse Grenzen, was er versucht, in seinen Kritiken von Goethes Claudine und Stella deutlich zu machen, indem er auf die Lasterhaftigkeit und die »nicht erbauliche« Schilderung der männlichen Hauptperson abzielt. Werthers Selbstmord sieht Mauvillon keineswegs als unmoralisch an. Die Darstellung des Todes sei hier äußerst lehrreich, zumal die Szene in Goethes Roman, »auf eine tiefrührende reizende Art geschildert [sei]«167 und einen tiefen Eindruck hinterlasse. Bei Claudine von Villabella liege der Fall anders, denn der lasterhafte Crugantino biete in keiner Weise ein abschreckendes Beispiel: Kerls, wie Fernando und Crugantino, so für ihre Laster ausgehen zu lassen, ja dem einen noch zwei Weiber zu geben, daß er seinen viehischen Trieb noch recht sättigen kan; das sind für ehrliche Leute beleidigende Bilder, und sie müssen den Ungrund derselben darthun, auch die Verachtung, die der Schilderer derselben verdient, recht ausdrücken, um, wo möglich, andre abzuhalten, ihre Talente durch ähnliche Schilderungen zu schänden.168

Doch dessen ungeachtet dürfe die Obrigkeit nicht eingreifen und dergleichen Stücke der Zensur unterwerfen, denn schließlich könne der Leser selbst entscheiden. »Es mag [...] Hr. G[oethe] frei dichten, was er will«, argumentiert Mauvillon, »und wenn er sich bemühte, alle Laster zu verherlichen, und noch so gerne allen Unterschied zwischen Tugend und Laster aufheben möchte«.169 Ein aufgeklärtes Publikum sei sehr wohl imstande, selbst über Moral und Unmoral urteilen zu können: Der »rechtschafne Man, der wahren Geschmak hat, wird nicht nur das Stük als eine ihn beleidigende Scharteke, wenn er es aus Neugier gelesen hat, hinter das Bücherbret werfen, sondern den Verf. selbst von Grunde des Herzens verachten«.170 Für Mauvillon überwiegt die »Presfreiheit« alle Bedenken hinsichtlich der Moral. Das wird besonders in der Besprechung von Goethes Stella deutlich, wenn er schreibt: »Wir könten hier ein gros Geschrei von der Unmoralität desselben anfangen; sagen, durch solche Schriften würden die Menschen verdorben, die gute Ordnung gestöhret, das Laster liebenswürdig gemacht, um so mehr, je größer die Fähigkeiten des Schriftstellers wären; man müsse also dem Drucken solcher Schriften steuern.«171 Doch das würde vollkommen seiner Überzeugung widersprechen. || 166 Ebd., S. 504. 167 Ebd., 10 (1776), S. 497. 168 Ebd., S. 498. 169 Ebd., S. 573. 170 Ebd. 171 Ebd., S. 572.

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»Las[s] schreiben, was da schreiben will«,172 heißt es da im Vertrauen auf die Kritikfähigkeit der Leser: Daß einmal ein Man mit so einer Grille im Kopf aufsteigt, thut der Sache nichts, und es wäre eben so thöricht, eines, in diesem Punkte, so unbedeutenden Geschöpfs wegen, Zwangsmittel in der Litteratur einzuführen, die die Pest derselben wären, als wenn man den freien Gebrauch des Eigenthums untersagen wolte, weil einmal jemand mit dem Seinigen übel gewirthschaftet hätte. Das eine würde allen Arbeitstrieb ersticken, und das andre, welches nur gar zu häufig existirt, tödtet größtentheils den Scharfsinn und den litterarischen Untersuchungsgeist.173

Mauvillon geht es um die bedingungslose Verteidigung des freien, aufgeklärten Geistes. Die Grenzen müsse das Denken selbst bestimmen. Auf keinen Fall dürften sie von außen her festgelegt werden; erst recht nicht von einer staatlichen Zensur. Ganz in diesem Sinne wird der mit Mauvillon zu dieser Zeit eng befreundete Heinrich Friedrich Diez einige Jahre später schreiben: Die Aufhebung aller Censur würde schon ein großer Gewinn für die Geistesfreiheit seyn. Man konnte in der That nichts schlechters erdenken, als indem man die Censur, damit ich mich so ausdrükke, zu einer medicinal Anstalt für den menschlichen Geist machen wollte. Man sah nicht, daß das Pulver, welches einzelne Skribenten temperiren oder niederschlagen sollte, auf die Ermattung des ganzen Volksgeists würke.174

In der von Diez publizierten Apologie der Duldung und Preßfreiheit fanden Mauvillons Gedanken eine Fortführung, was Kritiker wie Georg Gottfried Gervinus dazu bewegte, den Einfluss dieses Skeptikers und »stoische[n] Epikureer[s]«, der »in französischer Schule so freigeistig geworden«, regelrecht zu verteufeln, weil er seine gefährlichen freigeistigen Ansichten an seine ›Schüler‹ Unzer und Diez weitergab, um ihre »deutsche[n] Naturen« zu verderben.175 Doch gibt es auch weniger polemische Stimmen, die es verdienen, gehört zu werden. Der von Friedrich Schlichtegroll herausgegebene Nekrolog vermerkt zu Mauvillon, dass er unstreitig ein Schriftsteller gewesen sei, »der durch Scharfsinn und Muth seinem Zeitalter überaus nützlich geworden ist, und auf dessen Stimme man viel mehr achten sollte, als es geschieht«, denn: Wer ihn mit Prüfung liest, der wird in allen seinen Schriften einen zerstreuten Schatz von Wahrheiten finden, und auch bekannten Dingen eine neue Seite abgewinnen, von der sie ihm wichtig werden; der philosophische Geschichtsschreiber unseres Zeitalters wird ihm einst ei-

|| 172 Ebd. 173 Ebd., S. 572f. 174 Heinrich Friedrich Diez: Apologie der Duldung u[nd] Preßfreiheit. s.l. [Magdeburg, Dessau] 1781, S. 85. 175 Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung. 5. Bd. Leipzig 41853, S. 243.

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nen ehrenvollen Platz unter denjenigen anweisen, die, nach ihrem Gewissen, als Zeugen der Wahrheit und des Rechts mit Unerschrockenheit auftraten.176

Das Urteil über Mauvillon als »philosophische[n] Geschichtsschreiber«, das hier insbesondere vor dem Hintergrund seiner staatsgeschichtlichen und militärwissenschaftlichen Schriften wie Von der Preußischen Monarchie unter Friedrich dem Großen (1793–1795) gefällt wurde, steht allerdings im krassen Gegensatz zu der Meinung, die sich in der Literaturwissenschaft über ihn gebildet hat. Der LessingForschung im 20. Jahrhundert gilt er als einer der »subtilsten Mäkler«177 seiner Zeit. Von den provokanten ›Dichterbriefen‹ glaubte man noch zehn Jahre nach Erscheinen sagen zu müssen, dass die »kecken und schiefen Wäschereyen« der zwei Verfasser, »die Gellerten zum ärmlichsten Reimer heruntersetzten [...] vom ganzen lesenden Publikum verlacht und verachtet worden« seien.178 Auch Karl Heinrich Jördens vertrat in seinem Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten die Ansicht, dass sich die beiden Kunstrichter zu »Uebertreibungen und einseitigen Deklamationen« hätten hinreißen lassen, wobei sich allerdings »auch manches Wahre und Richtige« in diesen literarischen Briefen finde, »das wohl beherzigt zu werden verdien[e]«.179 Bei Karl Schiller ist gut fünfzig Jahre nach Mauvillons Tod zu lesen, dass die ›Dichterbriefe‹ »Wahres und Falsches in leidenschaftlicher Hast durch einander wühlten«, dass sie »in taktloser Ungerechtigkeit alles auf die Spitze trieben, und wo sie Schwierigkeiten fanden, das Kind gleich mit dem Bade ausschütteten«, und dennoch hätten sie »wenigstens aus höherem Gesichtspunkte betrachtet« das Gute gehabt, »daß sie der damals grassierenden sentimentalen Weinerlichkeit einen heilsamen Stoß versetzten, und daß sie, wenn auch nicht durch Anregung, wozu es ihren Verfassern selbst an Schöpferkraft und harmonischer Ausbildung fehlte, doch wenigstens durch Aufregung wohlthätig einwirkten.«180 Für ähnlichen Trubel sorgten Mauvillons Rezensionen in der Auserlesenen Bibliothek, wie die oben erwähnte Beurteilung von Christian Gottlob Heyne in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen bezeugt, während anderenorts die Freimütigkeit und Gründlichkeit seiner Einschätzungen gelobt wird. »Man muß entweder grosse Partheylichkeit oder schwache Einsichten besitzen, wenn man bey den philosophischen, theologischen, juristischen und den Recensionen aus dem Gebiete der schönen Wissenschaften den ächten Kenner und einsichtsvollen Kunst-

|| 176 Nekrolog auf das Jahr 1794. Enthaltend Nachrichten von dem Leben merkwürdiger in diesem Jahre verstorbener Deutschen, ges. von Friedrich Schlichtegroll. 5. Jg., 1. Bd. Gotha 1796, S. 244. 177 Barner: Lessing (s. Anm. 93), S. 380. 178 [Karl August Küttner:] Charaktere teutscher Dichter und Posaisten. Von Kaiser Karl, dem Großen, bis aufs Jahr 1780. 2 Bde. Berlin 1781, Bd. 1, S. 248. 179 Karl Heinrich Jördens: Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten. 5 Bde. Leipzig 1806–1810, Bd. 2 (1807), S. 84. 180 Schiller: Braunschweigs schöne Literatur in den Jahren 1745 bis 1800 (s. Anm. 132), S. 135f.

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richter nicht wahrnehmen wollte,«181 heißt es in den Neuen Frankfurter Gelehrten Anzeigen vom Jahr 1773, und auch in den Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen, in der Neuen Braunschweigischen Zeitung sowie in den Greifswalder Neuen Critischen Nachrichten erhalten Mauvillons Rezensionen regen Beifall.182 Karl Schillers Einschätzung, dass Mauvillons Überzeugungen »wenigstens durch Aufregung wohlthätig einwirkten«, ließe sich schließlich auch auf die zahlreichen literaturkritischen Rezensionen übertragen, in denen er sich durchaus als ein ›Freigeist in Sachen des Genies‹ erweist, besonders dann, wenn er die junge Dichtergeneration vor der um sich greifenden Nachahmungssucht warnt, wenn er sich beharrlich weigert, Autoritäten anzuerkennen und ohne Einschränkung für die Presse- und Meinungsfreiheit eintritt. Die Kriterien seiner Urteile jedoch wurzeln, und daran gibt es angesichts seiner Warnung vor Klopstocks Gelehrtenrepublik als »Büchse der Pandora für die Gelehrsamkeit« und »litterärschen Cromwellismus«, angesichts seines Appells gegen den Opportunismus der Fürstenerziehung und seines uneingeschränkten Plädoyers für die Pressefreiheit keinen Zweifel, im Denken einer radikalen Aufklärung.

|| 181 Neue Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom Jahr 1773, 22. Stück, 16. März 1773, S. 169. 182 Neue Zeitungen von gelehrten Sachen, 84. Stück, 19. Oktober 1772, S. 667–671; 38. Stück, 13. Mai 1773, S. 299–301; 100. Stück, 16. Dezember 1773, S. 812–814; Neue Braunschweigische Zeitung, 28. August 1772 (Nr. 134), 1. September 1772 (Nr. 135), 3. September 1772 (Nr. 136), 4. September 1772 (Nr. 137), 10. November 1772 (Nr. 175), 12. November 1772 (Nr. 176) und Neue Critische Nachrichten, 9. Bd., 51. Stück (1773), S. 403f.

Kevin Hilliard

Jakob Mauvillons radikalaufklärerische Kritik an Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik Herbert Jaumann hat in einem Aufsatz von 1987 die Grundlage für die jüngere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem frühmodernen Diskurs der respublica litteraria (respublica litterarum, respublica eruditorum) geschaffen.1 Besonders die normative Variante dieses Diskurses – daneben konstatiert Jaumann eine satirische und eine deskriptive – hat in der Frühen Neuzeit einen Prozess begleitet, in dem die Welt der Gelehrsamkeit (der Wissenschaft) ihr Selbstverständnis herausgebildet und sich als Teilsystem der Gesamtgesellschaft ausdifferenziert hat.2 Mit der Metapher der respublica litteraria wurde der »Versuch [unternommen,] zu bestimmen, welche generellen Bedingungen der ungehinderten Tätigkeit des intellectus angemessen sind«.3 Der Umweg über die »Erörterung über die ›beste Staatsform‹ in der Republik der Gelehrten« diente der »Normendiskussion über Inhalt, Bedingungen und Grenzen der Wahrheitskommunikation in den Wissenschaften«.4 Welche Tragweite solche Diskussionen hatten, kann man daran ermessen, dass man sich relativ schnell darauf einigte, dass die Gelehrtenrepublik ein herrschaftsfreier Raum sei, in dem man, wie Christian Thomasius es formuliert, »einem ieden Menschen seine Freyheit […] ungekränckt lassen müsse«, sich seine eigene Meinung zu bilden und darüber ohne »Ansehen der Person« »seine Gedancken [zu] eröffne[n] / wie sie an sich selbsten sind«.5 Wie Jaumann anmerkt, hob sich durch diesen Konsens die heuristische Metapher der Republik der Gelehrten von selbst auf.6 Dies

|| 1 Herbert Jaumann: Ratio clausa. Die Trennung von Erkenntnis und Kommunikation in gelehrten Abhandlungen zur Respublica literaria um 1700 und der europäische Kontext. In: Res publica litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Hg. von Sebastian Neumeister und Conrad Wiedemann. Wiesbaden 1987, S. 409–429. Jaumann hat dem Thema eine Reihe von weiteren Arbeiten gewidmet; einige davon sind unten genannt. Zuletzt zum Thema: Gelehrtenrepublik. Hg. von Marian Füssel und Martin Mulsow. Hamburg 2015. Bereits im 18. Jahrhundert lag eine Bibliographie zum Thema vor: Heinrich Wilhelm Lawätz: Handbuch für Bücherfreunde und Bibliothekare. Erster Theil. Dritter Band: Von der Gelehrsamkeit überhaupt. Halle 1789, S. 302f. Der Abschnitt ist »Herrn Legationsrath Klopstock, in Hamburg, gewidmet« (S. 302). 2 Jaumann: Ratio clausa (s. Anm. 1), S. 421f. 3 Ebd., S. 417. 4 Herbert Jaumann: ›Respublica literaria‹ als politische Metapher. Die Bedeutung der ›Res Publica‹ in Europa vom Humanismus zum 18. Jahrhundert. In: Les premiers siècles de la République européenne des Lettres. Hg. von Marc Fumaroli. Paris 2005, S. 73–88, hier S. 77. 5 Christian Thomasius: Beschluß und Abdanckung des Autoris. In: Freymüthige jedoch vernunfftund gesetzmäßige Gedancken über allerhand, fürnemlich aber neue Bücher. Dez. 1689. Halle 1690, S. 1144–1164, hier S. 1148f. 6 Jaumann: Ratio clausa (Anm. 1), S. 417f. https://doi.org/10.1515/9783110793611-017

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war schon Thomasius nicht entgangen: »Die Respublica literaria hat mit denen andern Rebuspublicis wenig Gemeinschafft / sondern sie ist der Societati maximae gentium quà talium nicht ungleich«.7 Diese »größte Gesellschaft aller Völker als solcher« war nichts anderes als das vorstaatliche Weltbürgertum oder der Naturzustand. »Die Republique der Gelehrten«, urteilte Christian Gottfried Hoffmann, »ist bloß in der Phantasie, und lebet man hier in statu naturali, und in einer ungebundenen Freyheit.«8 Innerhalb der gelehrten Welt habe also eine uneingeschränkte libertas sentiendi bzw. philosophandi zu herrschen, wie überhaupt der normative Diskurs über die respublica litteraria eigentlich nur dazu diente, die libertas philosophandi emphatisch zu behaupten.9 Das heißt aber nicht, dass damit der anarchischen Freiheit überhaupt das Wort geredet worden wäre. Was für den gelehrten Meinungsaustausch galt, war das eine. Das andere war, dass der Gelehrte, wie alle anderen Bürger auch, der weltlichen Obrigkeit untertan war. Man meinte zwar zuversichtlich, dass die Freiheit der Forschung durchaus mit den Pflichten des Staatsbürgers zu vereinbaren sei, indem man zwischen den internen und den externen Beziehungen der respublica litteraria unterschied10 oder, anders ausgedrückt, das einzelne Subjekt gleichsam in zwei Rechtspersonen aufteilte, den (freien) Gelehrten und den (unfreien) Bürger.11 Doch wie die möglichst große Freiheit im Denken (»maxima libertas«)12 zugleich nicht unbeschränkt sein sollte (»non tamen illimita«),13 wie es zugleich freies Denken und kontrollierte Kommunikation geben könne, das blieb im Unklaren.14 Nur die Tatsache, dass zumeist die Gelehrten auf Lateinisch schrieben, und untereinander sich auch brieflich-privat verständigten, dass die gelehrte Kommunikation also weitge|| 7 Thomasius: Beschluß (s. Anm. 5), S. 1149. Vgl. Johann Georg Pritius: Dissertatio academica de republica litteraria. Leipzig 1698, S. 20f.; Christoph August Heumann: Conspectus reipublicae literariae sive via ad historiam literariam. 2. verm. Aufl. Hannover 1726, S. 198–200, hier S. 198. 8 [Christian Gottfried Hoffmann:] Aufrichtige und unpartheyische Gedancken über die Journale, Extracte und Monaths-Schrifften […] Nebst einer Vorrede de Libertate sentiendi in Republica Eruditorum. Bd. 1, 4. St. Freyburg 1714, S. 310. Am kompromisslostesten ist die Analogie zum status naturalis formuliert von Pierre Bayle, Catius, Anm. D, in: Bayle: Dictionnaire historique et critique. 4. Aufl. 4 Bde. Amsterdam, Leiden 1730, Bd. 2, S. 102. Vgl. Heinrich Bosse: Die gelehrte Republik. In: ›Öffentlichkeit‹ im 18. Jahrhundert. Hg. von Hans-Wolf Jäger. Göttingen 1997, S. 51–76, hier S. 64. 9 Jaumann: Ratio clausa (s. Anm. 1), S. 421f.; ders.: »Respublica litteraria«. Partei mit einem Programm der Parteilosigkeit. Gegen das anachronistische Mißverständnis eines mehrdeutigen Konzepts der Frühen Neuzeit. In: Gelehrtenrepublik (s. Anm. 1), S. 17–30, hier S. 23. Vgl. Christian Loeber: Dissertatio politica de forma regiminis reipublicae literariae. Jena 1708, S. 15. 10 Ebd., S. 19–21. 11 Johann Heinrich Gottlob von Justi: Die Beschaffenheit und Verfassung der Republik der Gelehrten. In: Ergetzungen der Vernünftigen Seele aus der Sittenlehre und der Gelehrsamkeit überhaupt. Bd. 1. Leipzig 1745, S. 395–412 und 491–507, hier S. 396. 12 Pritius: Dissertatio academica (s. Anm. 7), S. 21. 13 Ebd., S. 23. 14 Jaumann: Ratio clausa (s. Anm. 1), S. 419f.

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hend unter Ausschluss der Laien stattfand, konnte eine Zeitlang verhindern, dass die Widersprüche offen zutage traten. Sobald aber auf einem expandierenden Buchmarkt die Nationalsprachen das Lateinische verdrängten und eine nationalsprachliche periodische Presse den gelehrten Gedankenaustausch auch einem größeren Publikum zugänglich machte, man also nicht mehr recht wusste, wo die interne gelehrte Kommunikation aufhörte und die Diskussion in einer breiteren Öffentlichkeit begann, musste die Frage nach den Grenzen der Gedankenfreiheit neu gestellt werden.15 Bei aller Vorsicht vor Anachronismen16 wird man wird in diesen frühneuzeitlichen Überlegungen zur respublica litteraria unschwer die Umrisse der Ende des 18. Jahrhunderts unter der Leitfrage ›Was ist Aufklärung?‹ ausgelösten Diskussion wiedererkennen. Kants bekannter Versuch, zwischen dem ›öffentlichen‹, freien, und dem ›privaten‹, der Obrigkeit unterworfenen Gebrauch der Vernunft zu unterscheiden, gehört hierher;17 ebenso Mendelssohns Feststellung, die ›Philosophie‹ müsse da, wo die Rechte des ›Menschen‹ mit den Pflichten des ›Bürgers‹ kollidierten, »die Hand auf den Mund« legen.18 Sowohl bei Kant als auch bei Mendelssohn ist erkennbar, dass es Stellungnahmen zur Politik waren, bei denen am ehesten mit Konflikten zu rechnen war, wobei der eine sich optimistisch gab, dass die gelehrte Diskussion über »Gesetzgebung« für den Staat »ohne Gefahr« sei,19 während der andere sich (wenn auch widerstrebend) der »Notwendigkeit« beugte, die, wo die »Staatsverfassung« zur Diskussion stand, der freien Rede »Fesseln« anlegte.20

|| 15 Heinrich Bosse setzt die Wende um 1770 an. Bosse: Die gelehrte Republik (s. Anm. 8), S. 73; ders.: Der Bruch um 1770. Aufklärung, Autorschaft, Sturm und Drang. DVLG 93 (2019), S. 131–156, hier S. 140–144. Zum historischen Wandel des Öffentlichkeits-Begriff s. Lucian Hölscher: Die Öffentlichkeit begegnet sich selbst. Zur Struktur öffentlichen Redens im 18. Jahrhundert zwischen Diskursund Sozialgeschichte. In: ›Öffentlichkeit‹ im 18. Jahrhundert‹ (s. Anm. 8), S. 11–31. Zu diesem Prozess gehört auch die Entwicklung des ›Gelehrten‹ zum ›Gebildeten‹ und schließlich zum modernen ›Intellektuellen‹ (vgl. Bosse: Die gelehrte Republik [s. Anm. 8], S. 61f., S. 65). Die Verschiebung ist in den hier behandelten Schriften von der Sache her schon im Gang. In meiner Darstellung behalte ich jedoch durchgängig den älteren Begriff des ›Gelehrten‹ bei, wie er auch für Klopstock noch maßgeblich war. 16 Jaumann: »Respublica litteraria« (s. Anm. 9). 17 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung (1784). In: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Hg. von Ehrhard Bahr. Stuttgart 1981, S. 9–17. 18 Moses Mendelssohn: Über die Frage: was heißt aufklären? In: Was ist Aufklärung? (s. Anm. 17), S. 3–8, hier S. 7. 19 Kant: Beantwortung der Frage (s. Anm. 17), S. 16. 20 Mendelssohn: Über die Frage (s. Anm. 18), S. 6f. Zur Expansion des politischen Journalismus im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts s. Jürgen Schlumbohm: Freiheit. Die Anfänge der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Deutschland im Spiegel seines Leitwortes (ca. 1760–ca. 1800). Düsseldorf 1975, S. 39–42.

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In der Mehrzahl bekamen es die Aufklärer an dieser Stelle mit der Angst zu tun. Die einen, weil ihnen selbst die Popularisierung der doch eigentlich nur den ›Gelehrten‹ zustehenden Diskussion nicht geheuer war: die machten sich in der Folge Sorgen, wie weit die Volksaufklärung gehen solle.21 Die anderen, weil sie sich ausrechnen konnten, dass die Obrigkeit auf die Ausweitung des Diskursraumes mit Zensur- und Unterdrückungsmaßnahmen reagieren würde, von denen auch sie betroffen wären. So warnte Wieland: Man kann dem grossen Haufen das Schreiben so wenig als das Studieren zu Rechten niederlegen [d. h. gerechterweise verbieten]. Allein wehe unsrer Gelehrten-Republik, wenn sie ihren Pöbel, der von Tag zu Tag zahlreicher und übermüthiger wird, nicht bei Zeiten in Schranken sezt. […] Das nächste und gegenwärtigste Uebel, welches uns von [dem] eben so schimpflichen als verderblichen Uebergewichte [des Schriftstellerpöbels] bevorsteht, ist der Verlust der Freyheit zu denken und zu schreiben. […] Es ist um unsre freye Geistesrepublik geschehen, wenn sie es darauf ankommen läßt, daß ihrem Pöbel endlich von dem weltlichen Arme der Zaum angelegt werden muß. Sie muß es selbst thun, und es ist höchste Zeit, daß unsre guten Schriftsteller und Journalisten gegen das immer weiter um sich greiffende Unwesen gemeine Sache machen, so lange noch von öffentlicher litterarischer Acht und Brandmarkung einiger Erfolg zu erwarten ist.22

So weit ein Überblick über den Diskussionszusammenhang. Wie man sieht, zog die scheinbar abstruse Frage nach der richtigen ›Regierungsform‹ der respublica litteraria weitreichende Erörterungen nach sich, die in den Kern dessen führen, was man sich überhaupt unter ›Aufklärung‹ vorzustellen habe. Unter den Werken nun, die sich im Lauf des 18. Jahrhunderts in Deutschland mit dem Thema der respublica litteraria beschäftigen, ragt eines als wahrer Koloss heraus. Merkwürdigerweise hat man sich jedoch Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik bisher nicht im Kontext der Aufklärungsgeschichte und -problematik genähert. Dabei war gerade dies die Fragestellung, die bei vielen Zeitgenossen die Rezeption lenkte. Daher liegt es nahe, Klopstocks Werk aus der Perspektive der zeitgenössischen Kritik in den Blick zu nehmen. Unter den Kritikern wiederum war es

|| 21 Gerhard Sauder: Verhältnismäßige Aufklärung. Zur bürgerlichen Ideologie am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 9 (1974), S. 102–126; Das Volk im Visier der Aufklärung. Studien zur Popularisierung der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert. Hg. von Anne Conrad, Arno Herzig und Franklin Kopitzsch. Hamburg 1998; Holger Böning, Entgrenzte Aufklärung – Die Entwicklung der Volksaufklärung von der ökonomischen Reform- zur Emanzipationsbewegung. In: Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts. Hg. von Holger Böning, Hanno Schmitt und Reinhart Siegert. Bremen 2007, S. 13–50. 22 Christoph Martin Wieland: Berichtigungen und Anmerkungen über eine Stelle aus der Broschüre Faustin, oder das philosophische Jahrhundert. Zweites Bändchen. S. 83. In: Der Teutsche Merkur (1785). Erstes Vierteljahr, S. 267–277, hier S. 275–277. Konkret reagierte Wieland auf respektlose Anschuldigungen gegen den regierenden Herzog von Gotha in Johann Pezzls Faustin. Vgl. Bosse: Der Bruch um 1770 (s. Anm. 15), S. 144f.

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Jakob Mauvillon, der an erster Stelle stand. Um Klopstock und Mauvillon wird es hier hauptsächlich gehen. Die Gegenüberstellung wird zur schärferen Profilierung ihrer Ansichten und zu ihrer genaueren Verortung in der Aufklärungsdebatte beitragen.23 Dass Mauvillons Bedeutung in diesem Zusammenhang bisher nicht wahrgenommen wurde, liegt an der unzureichenden Erschließung seiner Schriften.24 Für die 1770er Jahren ist es neben versteckten Einzelpublikationen (dazu unten mehr) seine umfangreiche Rezensionstätigkeit in der Auserlesenen Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur (der ›Lemgoer‹ oder ›Lemgoischen‹, wie es nach dem Verlagsort allgemein hieß), die das Bild, das man sich von Mauvillon zu machen hat, entscheidend verändert. Es ist Arne Klawitters Verdienst, erstmals diesen Korpus von Rezensionen ans Licht gebracht zu haben.25 Mauvillon hat viel rezensiert. Manche Besprechungen weiten sich zu kleinen Abhandlungen aus. Alle zeichnen sich durch einen klaren Standpunkt und durch unerschrockene Lust an der Auseinandersetzung aus. Sind die einzelnen Rezensionen in sich schon wertvoll, potenziert sich ihre Bedeutung, wenn man sie als Werk desselben Verfassers nebeneinanderstellen kann. Zum Verständnis von Mauvillons Geisteshaltung leisten sie einen wesentlichen Beitrag.

|| 23 In der Forschung zur Gelehrtenrepublik ist man bisher vor allem an Aufschlüssen über Klopstock als Dichterpersönlichkeit interessiert gewesen. Es ist überhaupt ein zwar verständliches, aber die Optik verzerrendes Defizit in der bisherigen Sekundärliteratur, dass sie vor allem von Germanisten herrührt. Man muss dagegen festhalten, dass Klopstocks Gelehrtenrepublik alle Wissenschaften umfasst und Verhaltensregeln für alle Gelehrten enthält. Das Politische seines Entwurfs liegt also nicht einmal primär darin, dass eine respublica litteraria Modellfunktion für die respublica civilis hätte. Sondern die Gelehrtenrepublik ist selbst Teil des (Stände-)Staats, und agiert in einem politischen Umfeld. Grundlegend dazu Bosse: Die gelehrte Republik (s. Anm. 8). Ältere politische Lektüren bilden eine Ausnahme; aber auch sie haben die Aufklärungsproblematik links liegengelassen, um dafür Klopstocks Bedeutung für die ›antifeudale bürgerliche Emanzipationsbewegung‹ herauszuarbeiten (Ulrich Dzwonek, Claus Ritterhoff, Harro Zimmermann: »Bürgerliche Oppositionsliteratur zwischen Revolution und Reformismus«. F. G. Klopstocks »Deutsche Gelehrtenrepublik« und Bardendichtung als Dokumente der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Deutsches Bürgertum und literarische Intelligenz 1750–1800. Hg. von Bernd Lutz. Stuttgart 1974, S. 277–328; Harro Zimmermann: Gelehrsamkeit und Emanzipation. Marginalien zu Friedrich Gottlieb Klopstocks »Deutsche Gelehrtenrepublik«. In: Friedrich Gottlieb Klopstock. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1981, S. 70–81); ders.: Freiheit und Geschichte. F. G. Klopstock als historischer Dichter und Denker. Heidelberg 1987, S. 270‒282. Einen Überblick sowie einen neuen Versuch der geschichtlichen Einordnung legt der Verf. vor in: Rechtsordnung und Politik in Klopstocks Deutsche Gelehrtenrepublik. In: Friedrich Gottlieb Klopstocks poetische Innovationen und ihre produktive Rezeption. Hg. von Alexander Nebrig. Berlin 2023 (i. Vb.). 24 Das ist ein Manko der ansonsten verdienstlichen Dissertation von Jochen Hoffmann: Jakob Mauvillon. Ein Offizier und Schriftsteller im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipationsbewegung. Berlin 1981. 25 Zuletzt in: Arne Klawitter: Die Lemgoer Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur (1772–1781) und ihre allzu lange übersehenen Mitarbeiter. In: Euphorion 112 (2018), S. 117–137.

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Auch Klopstocks Deutsche Gelehrtenrepublik hat Mauvillon für die Auserlesene Bibliothek rezensiert.26 Vor allem mit dieser Rezension werde ich mich hier beschäftigen. Neben anderen einschlägigen Besprechungen wird aber auch eine weitere Schrift Mauvillons herangezogen werden, auf die hier erstmals seit dem 18. Jahrhundert aufmerksam gemacht werden soll.27 Wie sie in den Zusammenhang passt, wird im weiteren Verlauf deutlich werden; hier vorerst nur die bibliographischen Daten. Neben der Auserlesenen Bibliothek, die bis 1781 ihr Erscheinen fortsetzte, trug Mauvillon auch zum 1776 aus der Taufe gehobenen, von Heinrich Christian Boie und Christian Wilhelm Dohm herausgegebenen Deutschen Museum bei. Mauvillon war ein eifriger Beiträger – nach Ansicht der Herausgeber sogar ein übereifriger. So schreibt Dohm am 20. März 1776 an Boie: Von Mauvillon kriegt ich neulich etwas über den deutschen Patriotismus contre Gelehrte Rep. Wieland etc. aber enthusiastisch für Basedow. So vortrefflich manche Gedanken drin waren, so konte es doch unmöglich gebracht werden, – ob mirs gleich nahe gieng es ihm zu sagen. Ich hoff es ihm aber doch gedruckt zu schaffen.28

Ob nun Dohm für den Druck sorgte, oder Mauvillon das selbst übernahm, lässt sich nicht mehr ermitteln. Das Werk erschien jedoch noch 1776, ohne Verfasser-, Verlagsoder Ortsangabe, unter dem Titel Vom Patriotismus der Deutschen. In den heutigen Bibliothekskatalogen ließ sich nur mehr ein einziges Exemplar nachweisen.29 Rezensiert wurde es, soweit ich erkennen kann, nur ein paarmal, und das nur in kurzen Notizen.30 Und nur an einer Stelle, in einer Liste von Neuerscheinungen, steht

|| 26 Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 7 (1775), S. 282–311. Der Schlüssel für seine Verfasserschaft ist die Sigle »4.«, mit der der Beitrag signiert ist. Vgl. Klawitter: Die Lemgoer Auserlesene Bibliothek (s. Anm. 25), S. 127. Längere Auszüge bringt der Kommentarband zur Gelehrtenrepublik in der Historisch-kritischen Ausgabe (s. Anm. 33) – nur ohne Verfasserangabe. – Auf die Auserlesene Bibliothek wird im weiteren Verlauf unter der Sigle ABL verwiesen. 27 In Jochen Hoffmans Monographie (s. Anm. 24), wie auch sonst in der Literatur zu Mauvillon, ist die Schrift nicht angeführt. 28 Walther Hofstaetter: Das Deutsche Museum (1776–1788) und das Neue Deutsche Museum (1789– 1791). Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Zeitschriften im 18. Jahrhundert. Leipzig 1908, S. 56. Die Stelle »contre Gelehrte Rep. Wieland etc. aber enthusiastisch für Basedow« wird weiter unten erläutert werden. 29 Bayerische Staatsbibliothek, Germ.g.531.1. Ein weiteres Exemplar in der Staatsbibliothek Berlin wird als Kriegsverlust verzeichnet. 30 Allgemeine deutsche Bibliothek. Bd. 36. Berlin, Stettin 1778. Zweytes Stück, S. 619; Allgemeines Verzeichniß neuer Bücher mit kurzen Anmerkungen. Nebst einem gelehrten Anzeiger. Auf das Jahr 1776. Leipzig 1776. V. Stück, S. 273.

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der Vermerk: »Man schreibt [die Schrift] Herrn Prof. Mauvillon zu.«31 Diese Zuschreibung wird durch den Brief Dohms zur Gewissheit gemacht. Das Schicksal, fast unbeachtet geblieben zu sein, war für Mauvillons Werke nicht untypisch, wozu auch seine eigene systematisch betriebene Verheimlichungsstrategie beigetragen hat.32 Schon in diesem klandestinen Verhalten gibt sich der Radikalaufklärer zu erkennen. Diese Orientierung wird auch im Inhalt seiner Stellungnahmen zu den hier zur Diskussion stehenden Fragen deutlich sichtbar werden. Bei der Lektüre von Wielands Mahnung, es sei »höchste Zeit«, dass die deutschen Gelehrten für Ordnung im eigenen Hause sorgten (s. oben), mag sich der eine oder andere Zeitgenosse gedacht haben, dass es längst geschehen wäre, wenn man sich elf Jahre zuvor die Ratschläge von Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik zu Herzen genommen hätte. Klopstock hatte darin dem deutschen Publikum einen bis ins Einzelne ausgearbeiteten Entwurf vorgelegt, wie eine solche Selbstregulierung ins Werk zu setzen sei. Es ist gut möglich, dass in Wielands Aufruf die Erinnerung an Klopstocks Schrift mitgeschwungen hat. Dessen Publikation im Jahre 1774 war ein publizistisches Ereignis erster Ordnung gewesen. Die freilich nicht erst von Klopstock in Umlauf gebrachte, seit dem Erscheinen der Gelehrtenrepublik aber in diesem Zusammenhang mit ihm fest assoziierte Begrifflichkeit war jedenfalls dieselbe, der sich Wieland dann bediente – der ›große Haufen‹, der ›Pöbel‹, natürlich auch die ›GelehrtenRepublik‹ selbst.33 Und vor allem auch waren Diagnose und Rezept gleich, hatte

|| 31 Litterarischer Almanach der Deutschen auf das Jahr 1776. V. Stück. Litteratur der philosophischen und schönen Wissenschaften und Künste. Göttingen 1778, S. 83. Dasselbe Werk erschien auch unter dem Titel: Historisches Journal, von Mitgliedern des Königlichen historischen Instituts zu Göttingen. Hg. von Johann Christoph Gatterer. Eilfter Theil, enthaltend das IV. V. Stück des litterarischen Beytrags vom Jahr 1776. Göttingen 1778. Almanach und Historisches Journal geben als Verlagsorte Frankfurt und Leipzig und das Erscheinungsjahr 1776 an. 32 Mauvillon hat die Verfasserschaft seiner Kontroversschriften nach Möglichkeit verheimlicht. Vgl. dazu seine eigene Aussage in Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten und Schriftsteller Geschichte. Seit der Reformation bis auf gegenwärtige Zeiten. Bd. 8. Kassel 1788, S. 295–303: »Einige Aufsätze von mir stehen im historischen Portefeuille, im Magazin der Landhaushaltung und Regierungskunst, in den Frankfurter Zeitungen. Sie zu spezifizieren ist mir unmöglich auch darum, weil einige darunter sind zu denen ich mich nicht bekennen will, wenn es gleich ganz Deutschland sagt daß sie von mir sind« (S. 301f.). 33 Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Horst Gronemeyer u. a. Abteilung Werke. Bd. VII/1: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Text. Hg. von RoseMarie Hurlebusch. Berlin 1975, S. 5 (»Der große Haufen«, »der Pöbel«). Dass nach 1774 die Begriffe »Gelehrtenrepublik« usw. in Deutschland unweigerlich an Klopstock erinnerten, bestätigt das Vorwort zu Johann Melchior Gottlieb Beseke [vermutl. Verf.]: Vom Patriotismus in der deutschen Gelehrtenrepublik. Dessau, Leipzig 1782, S. A2r (nach der 2. Aufl. Berlin 1794). – Zu Klopstocks Gelehrtenrepublik: Der eben zitierte Band in der genannten Ausgabe enthält den Text des 1774 veröffentlichten »Ersten Teils«: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Ihre Einrichtung. Ihre Geseze. Geschichte

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Klopstock doch die Gefahr der Pöbelherrschaft heraufbeschworen, um sie dann mit der »aristokratischen« Regierungsform seiner Republik (GR1, S. 17) zu bannen. Das wäre nicht erst 1785 in Wielands Sinn gewesen, wenn man der programmatischen Vorrede zum ersten Band des Teutschen Merkurs, 1773, ein Jahr vor Erscheinen von Klopstocks Werk ins Leben gerufen, Glauben schenken will. Der Gründung der Zeitschrift lag nämlich, so heißt es dort, u. a. die Überzeugung zugrunde, dass sie ein Bollwerk gegen die »im Tumult entstandene Demokratie« und den »anmaßliche[n] Demagogen« der gegenwärtigen »gelehrte[n] Republick in Deutschland« zu sein habe. Die Funktion eines »Areopagus«, eines »Litterarische[n] Revisions-Gerichts« solle sie übernehmen. Und so versicherte auch Wieland, dass »die Verfassung [des gelehrten] Staats […] seiner Natur nach Aristokratisch seyn« müsse.34 Die Übereinstimmung, die sich hier zwischen Klopstock und Wieland herzustellen scheint, ist allerdings irreführend. Aus Wieland sprach 1785 eine vorübergehende Verängstigung,35 und die Vorrede von 1773 ist am besten als Versuch zu verstehen, für seine neue Zeitschrift Werbung zu machen und ihr gegenüber der Konkurrenz ein – eben ›aristokratisches‹ – Profil zu geben. Das großspurige Versprechen war in der Praxis kaum einzulösen, was Wieland im Grunde auch wusste (nur »eine Stimme« habe man im Streit der Meinungen, man wolle sich nicht »zum Oberrichter […] auf[]werfen« usw.).36 Auch konnte ein Journal kaum die Meinungsund Pressefreiheit antasten, ohne am eigenen Ast zu sägen.37 Dagegen war für den dezidierten Nicht-Journalisten Klopstock38 der Wille, in der gelehrten Welt und auf dem literarischen Markt Ordnung zu schaffen, feste, ja fana|| des lezten Landtags. Auf Befehl der Aldermänner durch Salogast und Wlemar. Herausgegeben von Klopstock. Der Begleitband (Bd. VII/2: Text/Apparat. Hg. von Klaus Hurlebusch. Berlin 2003) versammelt Entwürfe zum unveröffentlichten zweiten Teil, einen Vorabdruck zum ersten Teil, und andere auf das Thema bezügliche Entwürfe Klopstocks (S. 1–227), sowie Apparat und Kommentar (S. 229–1001). Auf diese Ausgabe wird unter den Siglen: GR1 (Bd. 1), GR2 (Textteile von Bd. 2), GRA (Apparat), auf die Historisch-kritische Ausgabe, Abteilung Werke, unter der Sigle HKAW verwiesen. 34 Der Teutsche Merkur, Bd. 1 (1773), S. XIIIf. 35 Zum Anlass s. Anm. 22. 36 Der Teutsche Merkur, Bd. 1 (1773), S. XIV. 37 »Entweder keinen Merkur, oder Freyheit zu schreiben für alle, die daran Theil haben; non datur tertium« (Christoph Martin Wieland an Karl Ludwig von Knebel, 13. Januar 1775. In: Wielands Briefwechsel. Hg. von Hans Werner Seiffert und Siegfried Scheibe. 20 Bde. Berlin, 1963–2007. Bd. 5 [1983], S. 327). Vgl. auch Wieland: An Herrn von *** zu Br***. In: Der Teutsche Merkur (1788). 4. Vierteljahr, S. 84–89, hier S. 79. Eine Übersicht über Wielands Ansichten zur Gedanken- und Pressefreiheit gibt John A. McCarthy: Enlightenment as Process. How Radical ist That? On Jonathan Israel’s Concept of Radicalism. In: The Radical Enlightenment in Germany. A Cultural Perspective. Hg. von Carl Niekerk. Leiden, Boston 2018, S. 46–79, hier S. 66–79. 38 Wenn man nicht die Beiträge zu Johann Andreas Cramers moralischer Wochenschrift, dem Nordischen Aufseher (1758–1761) zählen will. Schon hier zeigt sich jedoch seine ablehnende Haltung dem literarischen Journalismus gegenüber: s. seinen Beitrag Von dem Publiko (1758) und das ge-

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tische Überzeugung. Seine Gelehrtenrepublik ist bis ins letzte Detail hierarchisch aufgebaut. Der Einzelne hat darin (nach altrömischem Vorbild) eine doppelte Stelle in der Rangordnung.39 Einmal ermisst sie sich politisch nach dem Recht, an den Beratschlagungen und Entscheidungen teilzunehmen (GR1, S. 5–12). Die Skala reicht hier vom rechtlosen »Pöbel« (GR1, S. 5) über das »Volk« und den mit vollen Mitspracherechten ausgestatten »Zünften« bis zu den geschäftsführenden »Aldermännern« herauf (GR1, S. 12).40 Eine zweite Rangordnung unterscheidet gesellschaftlich nach den geistigen Besitzverhältnissen zwischen »Knechten, Freyen, und Edlen« (GR1, S. 13).41 Durch dieses doppelte Gefälle ist die Elite doppelt abgesichert. Die Aldermänner werden »fast immer nur aus den Edlen gewählt«. Die Kategorien von »Knecht« und »Volk« einerseits, von Zünftern und »Freyen« bzw. »Edlen« andererseits sind fast deckungsgleich (GR1, S. 13). Zwar gibt es theoretisch den Weg nach oben, durch »Freylassung« (GR1, S. 12, S. 13f., S. 33, S. 39f.).42 Doch wird (wie ausdrücklich kommentiert wird) auf dem ›Landtag‹ von 1772, von dem der Hauptteil des Werkes berichtet, kein einziger Knecht freigelassen (GR2, S. 56). Im Gegenteil, »einige Freye« sind es »unrechtmäßig« und sollen wieder zu »Knechten [ge]mach[t]« werden.43 Begleitend dazu wird man auf der politischen Ebene »viele […] Mitbürger […] für stimmenlos […] erklären« (GR1, S. 23); schon 1757 hat man das Recht von »gewesene[n] Knechten« beschnitten, »bey der Landgemeine [etwas] in Vorschlag [zu] bringen« (GR1, S. 40).44 Im Verlauf der Handlung werden dann die

|| meinsam mit Cramer verfasste Gespräch ob ein Scribent ungegründeten obgleich scheinbaren Critiken antworten müsse (1760). In: HKAW IX/1: Kleine Prosaschriften. Hg. von Horst Gronemeyer und Klaus Hurlebusch. Berlin 2019, S. 96–99 und S. 122–128. 39 Vgl. ›Status, legal and social‹. In: The Oxford Companion to Classical Civilization. Hg. von Simon Hornblower und Andrew Spawforth. Oxford 1998, S. 688f. 40 Vgl. Großes und vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. 64 Bde. Halle, Leipzig 1732–1750: Plebs, Bd. 28 (1741), Sp. 790, Classes, Bd. 6 (1733), Sp. 236, und Patricii, Bd. 26 (1740), Sp. 1347–1348. Das »Pöbel-Volck« als eine gesonderte »Ordo Plebejus« unterscheidet das Universal-Lexikon vom eigentlichen plebs (Klopstock: das »gute Volk« [GR1, S. 62] als »gemeine Menge niederträchtiger und aller höheren Achtbarkeit beraubter Leute« [Bd. 28 (1741), Sp. 948]). Auf das Zedlersche Universal-Lexicon wird im weiteren Verlauf unter der Sigle UL verwiesen. 41 D. h. zwischen servi, liberti, und nobiles: s. UL, Servus, Bd. 37 (1743), Sp. 570; Knecht, Bd. 15 (1737), Sp. 1065–1092; Sclave, Leibeigener, Knecht, Bd. 36 (1743), Sp. 643–645; Libertus, Bd. 17 (1738), Sp. 795; Nobiles, Bd. 24 (1740), Sp. 1121. 42 Vgl. UL, Manumissio, Bd. 19 (1739), Sp. 1138f. 43 GR1, S. 23. Im alten Rom war es die höchste Staffel des Rechtsverlustes, die »capitis minutio […] Maxima«, »wenn einer zum Knecht gemacht wurde« (Capitis minutio oder deminutio«, UL, Bd. 5 [1733], Sp. 660). Das war – und ist bei Klopstock – gleichsam eine doppelte Strafe: denn »Knecht bey den Römers zu seyn« war an sich »schon Strafe« (Paul Christian Höpfner: Roma Antiqua Oder Kurtze Fragen von den Alten Gebräuchen der Römer. 3. Aufl. Hg. von Christian Ernst Berth. Halle 1740, S. 271). 44 Sie müssen ein Jahr warten, bis sie es tun dürfen. Die durch das neue Gesetz erreichte Abstufung ist vergleichbar mit der des römischen Rechts, wo zwischen den beschränkten Rechten der in erster

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Mitglieder ganzer Zünfte zum Volk oder zum Pöbel degradiert (GR1, S. 119, S. 231).45 Andere werden des Landes verwiesen (GR1, S. 208–211). In allen Fällen sind diese Maßnahmen durch eine geharnischte Gesetzgebung abgesichert, deren einzelne Paragraphen uns im ersten Teil des Werks vorgestellt worden waren (S. 19–64, bes. S. 5, S. 34–44, S. 57f., S. 61f.). In diesen Zusammenhang gehören auch die Strafen, die den Verurteilten zur Verrichtung eines ehrlos machenden Amts nötigen (GR1, S. 23, S. 31, S. 34, S. 41, S. 48). Schließlich sorgen eigene »Policeygerichte« dafür, dass auch nicht das kleinste Vergehen ungeahndet bleibt (GR1, S. 16, S. 48f.). Wie man aus all diesen Einzelheiten erkennen kann, ist Klopstocks Gelehrtenrepublik strukturell alles andere als freiheitlich organisiert. Wenn sie mit der Freiheit ein Problem hat, dann nur, dass es zu viel davon gibt. Der Landtag von 1772 ist auch in der Absicht einberufen worden, die Gesetze endlich strenger anzuwenden (GR1, S. 23, S. 65, S. 94, S. 97f.), nachdem man zu lange darin »lau« gewesen (GR1, S. 24, S. 65; vgl. S. 51) und »gelinde« verfahren war (GR1, S. 93f., S. 96f.). »Ein grosse Säuberung« ist an der Zeit (GR1, S. 58, S. 93, S. 209). Passend dazu wird das Personal der Polizei- und Wachbeamten aufgestockt (GR1, S. 23). So ist man rundum bestens für ein Gericht über die gelehrten Sünder gerüstet.46 Als 1774 Klopstocks Deutsche Gelehrtenrepublik erschien, war das für Wieland, der ein Jahr zuvor selbst noch behauptet hatte, der gelehrte Staat habe eine Aristokratie zu sein, dann doch zu viel. Die leise ironische, Abstand markierende Rezension der Gelehrtenrepublik im Merkur schließt mit der Bemerkung, dass »die Aristokratie, die Hr. Klopstock einführt, nicht eingeschränkt genug zu seyn, und sich

|| Generation freigelassenen liberti, den erweiterten der libertini der nächsten, und den vollen der ingenui der darauf folgenden Generationen unterschieden wird; s. Libertinus, UL, Bd. 17 (1738), Sp. 794f. Vgl. auch die »zwiefachen« Knechte (GR1, S. 39). 45 Derlei ist wie die capitis minutio doppelt schmachvoll. Nikolaus Hieronymus Gundling spottete, dass die Gelehrtenrepublik schon allein deshalb keine »Democratie« sein könne, weil »die Gelehrten nicht Populus heissen wollen« (Gundling: Historie der Gelahrtheit. Bd. 1. Frankfurt a. M., Leipzig 1734, S. 2). 46 Die Parallele zum Weltgericht in den 1773 zum Abschluss gebrachten letzten Gesängen des Messias liegt auf der Hand. Sogar in der Szenerie und dem Zeremoniell zeigen sich Überschneidungen. Tritt im Messias »der Ältesten Einer« aus dem »leuchtenden Kreis« um den »Thron« des Richters hervor, um gegen die von der »Posaune« aufgeforderten Sünder Anklage zu erheben (18. Gesang, Z. 63, Z. 147f.; HKAW, Bd. I/2: Der Messias. Hg. von Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin 2000, S. 214, S. 216), so ist es in der Gelehrtenrepublik ein »Anwald« oder »Älteste[r]« (GR1, S. 8), der vor dem »halben Kreis« (GR1, S. 212), in dem die Aldermänner zu Gericht sitzen, als Staatsanwalt den von der »Trompete« des Herolds herbeigerufenen Angeklagten (GR1, S. 150) gegenübertritt. Die Justiz ist in beiden Fällen summarisch; es gibt keine Verteidiger, und keine Freisprüche. Die »Freygeister« (GR1, S. 174f.) bzw. »Spötter« (Der Messias, 18. Gesang, Z. 253; HKAW, Bd. I/2, S. 219) müssen sich übrigens sowohl vor dem weltlichen als auch dem himmlischen Gericht verantworten; auf Erden droht ihnen als Strafe die Herabstufung zum »Pöbel« (GR1, S. 175), und auch in der Hölle sind die »Gottesleugner […] ein niedriges Volk« [Der Messias, 2. Gesang, Z. 417; HKAW, Bd. I/1, S. 32]).

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zuweilen der venetianischen Verfassung zu nähern«, d. h. in eine Oligarchie auszuarten erscheint.47 Das spiegelt wohl das wahre Verhältnis von Wieland zu Klopstock wider. Ihre momentane Annäherung ist hier indessen dienlich, um den Unterschied beider zu Jakob Mauvillon herauszuarbeiten, das ideologische Gefälle also von dem NichtAufklärer, dem moderaten Aufklärer, und dem Radikalaufklärer sichtbar zu machen.48 Es trifft sich nämlich, dass Mauvillon in der Auserlesenen Bibliothek neben der Gelehrtenrepublik auch den ersten Band des Merkurs, und darin auch die Vorrede des Herausgebers rezensiert hat.49 In seiner Besprechung nimmt er vorweg, was er in der Kritik der Gelehrtenrepublik dann breiter ausführen sollte. Das Vergnügen, dem neuen Konkurrenzunternehmen eins auszuwischen, mag dabei auch eine Rolle gespielt haben: Wer sieht wohl nicht ein, daß man im Ernst von einer gelehrten Republik, und von einem Richteramt darinnen nicht reden kann. Viel weniger kan man sagen, dieser Staat sey seiner Natur nach Aristokratisch. Das ist so ein grotesker Einfal, als man ihn je gehört hat […]. Wir meinen von uns gar nicht, daß wir ein Richteramt in der gelehrten Republik führen; wir erkennen aber auch darin keine Richter. Wir sagen unsre Meinung von Büchern nach unsern Einsichten. […] Bei einer solchen Denkungsart sieht Hr. Wieland nun wohl, daß sein Oberrevisionsgericht (denn er hält uns gewis für tumultuarische Demagogen in der gelehrten Republik) auf uns wenig Würkung gehabt haben würde.50

Hier finden wir die Meinung von Thomasius und anderer Frühaufklärer wieder, nach der die Gelehrtenrepublik begrifflich ein Unding ist, das sich selbst aufhebt, sobald man einen Augenblick über die darin herrschende egalitäre Kommunikationsstruktur nachgedacht hat. Bei Wieland waren das auch nur schöne Floskeln gewesen. Den ganzen Unterschied zu Klopstock kann man aber schon allein darin erkennen, dass dieser, weit davon entfernt, diese Selbstdestruktion des Begriffs anzuerkennen (und seine Gelehrtenrepublik ungeschrieben zu lassen), ihn zum Grundstein eines massiv ausgebauten Gedankengebäudes machte, in dem alles, was die Gelehrten unternahmen, einer umfassenden gesetzlichen und polizeilichen

|| 47 Der Teutsche Merkur, Bd. 7 (1774), S. 346–349, hier S. 349. Die Rezension ist »vermutlich« von Wieland, vgl. Gottfried Günther und Heidi Zeilinger: Wieland-Bibliographie. Berlin, Weimar 1983, Nr. 960. 48 Zu Klopstock als Nicht-Aufklärer s. Verf.: Friedrich Gottlieb Klopstock und die Aufklärung. In: Aufklärung: Epoche, Autoren, Werke. Hg. von Michael Hofmann. Darmstadt 2013, S. 45–60. 49 ABL 4 (1773), S. 204–213. Zwar wurden erst ab dem 5. Bd. Siglen für die Verfasser durchgängig eingeführt. Für die Zuschreibung an Mauvillon spricht, dass er von Anfang an für die Sparte ›schöne Wissenschaften‹ verantwortlich war, und dass die Rezension von späteren Bänden des Merkurs mit Hilfe des obigen Schlüssels (s. Anm. 26) ihm mit Sicherheit zugeschrieben werden können (ABL 5 [1774], S. 545–553; ABL 7 [1775], S. 25–36; ABL 7 [1775], S. 478–480; ABL 8 [1775], S. 399–403). 50 ABL 4 (1773), S. 210f.

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Kontrolle unterworfen war. Selbst wenn das Ganze nur Wunschdenken war, ist ihm unverkennbar das Verlangen eingeschrieben, hierarchische Herrschaftsverhältnisse zu schaffen bzw. wiederherzustellen. Herrschaft wiederum ist zur »abschaffung [der] laster und missethaten« gegeben.51 Auf den Gelehrtenstaat bezogen bedeutete das, allerlei gelehrte Unsitten (Polemik, Vielschreiberei (GR1, S. 26–30), Hofieren adliger Gönner (GR1, S. 33–36), Brotwissenschaft (GR1, S. 47) usw.) unter Strafe zu stellen, vor allem aber dem ›Missbrauch‹ der libertas philosophandi und der damit einhergehenden Anarchie der Meinungen ein Ende zu setzen. Deshalb hatte es Klopstock besonders auf die Rezensenten und die Journale abgesehen (GR1, S. 39–44; vgl. GRA, S. 281f., S. 524–534). Ganz abgesehen von ihren moralischen und intellektuellen Gebrechen (»Dünkel« (GR1, S. 40), »schiefe« Urteile (GR1, S. 41), »beleidigen[der]« Tonfall (GR1, S. 148), »Mangel an Verstand« (GR1, S. 151)) stempelte ihre die wahren hierarchischen Verhältnisse auf den Kopf stellende »Herrschbegierde« (GR1, S. 152) sie zu Rebellen gegen die rechtmäßige Obrigkeit.52 Dabei wollten sie durchaus nicht stillhalten. Dieses aufsässigen »Lerms« in der Gelehrtenrepublik satt (GR1, S. 168f., S. 179), wollte Klopstock den Lärmenden, den »Ausrufern«, wie er die Rezensenten nannte (GR1, S. 40), und dem von ihnen nur in der Lautstärke unterschiedenen »Schreyer« (vgl. GR1, S. 41), dem Vertreter und Inbegriff des gelehrten ›Pöbels‹ (GR1, S. 5), den Mund stopfen, um den Honoratioren der Republik allein das Sagen zu lassen, wie es sich gebührte. Durch all das musste sich Mauvillon erneut provoziert fühlen. Er war zwar nicht blind für die Unarten einzelner Rezensenten.53 Aber auch abgesehen davon, dass er selber einer war, konnte er einer pauschalen Abwertung der Branche nicht beipflichten. Dementsprechend scharf fällt auch seine Kritik in der Auserlesenen Bibliothek aus. Es ist überhaupt die ausführlichste Kritik der Gelehrtenrepublik, und neben der von Moses Mendelssohn die bedeutendste, die in der periodischen Presse erschienen ist.54

|| 51 Veit Ludwig von Seckendorff: Teutscher Fürstenstaat (zuerst 1655). Hg. von Andres Simson Biechlin. Jena 1720, S. 211, unter der Rubrik »Republiquen, deren Ursprung«. Vgl. Cicero: De legibus III.1.2–III.3.6. 52 Vgl. ebd., III.2.5. 53 Jakob Mauvillon, Ludwig August Unzer: Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel. 2 Bde. Lemgo 1771/72, Bd. 1 (1771), S. 23f., S. 49, S. 53f. 54 Mendelssohn ist als Verfasser der in der Allgemeinen deutschen Bibliothek (Bd. 28.1 [1776], S. 102–119) erschienenen Rezension identifiziert in: Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 5.2. Rezensionsartikel in Allgemeine deutsche Bibliothek (1765–1784). Literarische Fragmente. Hg. von Eva Engel. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 234–246. Ein Fall für sich ist die Rezension von Johann Georg Hamann in der Königsbergischen gelehrten und politischen Zeitung (1775) (s. GRA, S. 352–357).

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Mauvillon setzt da an, wo er schon in Wielands Vorrede zum Teutschen Merkur die erste Schwachstelle entdeckt hatte: Gelehrten Republik, deutsche Gelehrten Republik, das sind recht artig klingende Ausdrücke; aber weiter auch nichts. Ich sehe nichts als einzelne Männer, wovon jeder seine Wissenschaft treibt, so wie er es nach seiner Denkungsart, seinen Neigungen und seinen Umständen für gut hält. Davon machen verschiedne ihre Gedanken über diesen oder jenen Punkt öffentlich bekant; Buchhändler befördern nach ihren Umständen den Druk derselben, und alle die schreibenden oder nicht schreibenden Gelehrten machen sich diese bekantgemachten Gedanken zu nutze, so weit und gut sie können. Das ist alles, und so ist es auch aufs beste.55

Dass Klopstock hierbei nicht Halt machen will, sondern der Vorstellung der Gelehrtenrepublik eine wirkliche Substanz geben will, lasse nichts Gutes ahnen. Schlimm genug, dass es intern auf Kontrolle abgesehen sei. Noch schlimmer aber sei es, dass aus der Verbindung der Gelehrtenrepublik mit einem Vorschlag an den Wiener Hof »zur Unterstüzung der Wissenschaften« (GR1, S. 219–226) die Absicht durchscheint, auch dem Staat als Gegenleistung ein Aufsichtsrecht über die Gelehrten zu verstatten (MGR, S. 287).56 Damit hätte alle Freiheit der Forschung ein Ende, und damit auch jede Motivation, geistig tätig zu sein: »Lieber ein Holzhacker« unter solchen Bedingungen, ruft Mauvillon aus, »als ein Gelehrter« (MGR, S. 285). Dass »Hr. Kl. von der Freiheit keine rechte Begriffe hat« zeige sich ganz besonders auch in seinen Attacken auf die »Journalisten und gelehrten Zeitungsschreiber«: »alle Augenblicke hat er ein Auge auf sie, ein großer Theil seiner Gesetze handelt von ihnen, hie und da schreibt er ihnen Regeln und Einschränkungen vor«. Das sei »mit der Liebe zur Freiheit oder gelehrten Toleranz« nicht vereinbar. Mauvillon muss dagegen schon als Rezensent am Prinzip festhalten, dass es »einem jeden mus gestattet seyn, seine Meinung von Büchern frei zu sagen« (MGR, S. 294f.). Nicht weniger Kritik sei gefragt, sondern mehr, denn erst dann würde einem etwaigen Meinungsmonopol vorgebeugt, und dadurch, dass die »Journale […] miteinander weteifern« müssen, und die schlechten »keine Käufer, und sodenn keine Verleger

|| 55 ABL, Bd. 7 (1775), S. 282–311, hier S. 284f. Im Folgenden wird aus der Rezension im laufenden Text unter der Sigle MGR verwiesen. Die in bestimmten Punkten eigenwillige Orthographie der Auserlesenen Bibliothek wird beibehalten. 56 Der sogenannte ›Wiener Plan‹ wurde in Auszügen in der Gelehrtenrepublik bekanntgemacht (s. GR2, S. 132–140; vgl. GRA, S. 250f. und S. 723–767). Dazu: Rose-Maria Hurlebusch, Karl Ludwig Schneider: Die Gelehrten und die Großen. Klopstocks »Wiener Plan«. In: Der Akademiegedanke im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Fritz Hartmann und Rudolf Vierhaus. Bremen 1977, S. 63–96; Helmut Pape: Der halbierte Dichter? »Hohe Poesie« und profane Welt. Wandlungen einer literarischen Konzeption bei Friedrich Gottlieb Klopstock. Frankfurt a. M. 2010, S.119–129. Bei der »Schaubühne«, die im Zuge des Plans zu errichten war, legte Klopstock ausdrücklich fest, dass sie staatlicher Aufsicht zu unterstehen habe (GR1, S. 221f.).

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finden«, »werden sie im Ganzen besser«.57 Aus der Meinungspluralität auf dem freien Markt – einige Jahre später spricht Mauvillon von »tausend Journalen«, die um die Aufmerksamkeit der Leser buhlen58 – entsteht schließlich der Vorteil, dass das »Publikum« im Widerstreit der »verschiedenen Urtheile […] selbst urtheilen« lernt (MGR, S. 295f.) – oder wie es Kant ein Jahrzehnt später formulierte, »[d]aß […] ein Publikum sich selbst aufkläre […] ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich«.59 Vermittler dieser Selbstaufklärung ist aber der »gelehrte Zeitungsschreiber« (MGR, S. 294), und ihre Voraussetzung größtmögliche Pressefreiheit. Zeitlebens hat Mauvillon dieses Prinzip verteidigt: »Denn Preßfreyheit für alle Meynungen ist das herrlichste Ding unter der Sonnen für die Menschheit.«60 Nachdem Mauvillon mit Klopstocks Freiheitsbegriff abgerechnet hat, wendet er sich dem zweiten großen Thema der Gelehrtenrepublik zu: dem ›Patriotismus‹. Denn es ist ja eine deutsche Gelehrtenrepublik, die Klopstock ausrief: »Die Gelehrtenrepubliken Europa’s machen […] Eine grosse lateinische Republik aus. […] [W]ir […] sondern [uns]« (GR1, S. 129). Als Zeichen dessen wird auch gleich die ganze Altertumswissenschaft (in der Sprache der Gelehrtenrepublik: die ›Scholiastenzunft‹) aufgehoben (GR1, S. 116–119). Der Absage an die Latinität und dem Ausschluss aller, die in fremden Sprachen (d. h. auf Französisch) schreiben (GR1, S. 24, S. 100–104, S. 209–211) steht eine Verherrlichung alles dessen gegenüber, was seit Hermanns Zeiten zum Ruhm der Deutschen und der deutschen Dichter und Gelehrten beigetragen hat (vgl. bes. die »Denkmale der Deutschen«, GR1, S. 129–137 und S. 156– 162). »Übertriebne Verehrung der Alten«, »zu weit [getriebene] Verehrung gegen die Ausländer«, werden unter Strafe gestellt (GR1, S. 50f.); ohne Prozess wird der, der »eine ausländische Schrift […] allen deutschen Schriften vorziehe […], über die || 57 Vgl. [Philipp Erasmus Reich:] Zufällige Gedanken eines Buchhändlers über Herrn Klopstocks Anzeige einer gelehrten Republik. s.l. 1773. Reich setzt der dirigistischen »Republik des Herrn Klopstocks« die marktwirtschaftlicher Gesetzlichkeit unterworfene »Republik der Buchhändler« entgegen (S. 15, 28). Reichs Kritik richtete sich insbesondere gegen das Subskriptionsverfahren, das Klopstock für Publikation und Vertrieb der Gelehrtenrepublik entwickelt und zur Nachahmung empfohlen hatte; vgl. Helmut Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne. Frankfurt a. M. 1969, Sp. 218–236. Auch Mauvillon hat subskribiert: s. Friedrich Gottlieb Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik. 2. Aufl. Hamburg 1774, »Nachricht von der Subscription«, S. 18. Seine nachträgliche Kritik am Verfahren: MGR, S. 287f. und [Jakob Mauvillon:] Vom Patriotismus der Deutschen. [Frankfurt a. M., Leipzig 1776], S. 18. 58 [Jakob Mauvillon:] Das einzige wahre System der christlichen Religion. Berlin 1787, S. 554. Zu den tatsächlichen Zahlen nach heutigem Ermessen s. Holger Böning: Aufklärung und Presse im 18. Jahrhundert. In: ›Öffentlichkeit‹ im 18. Jahrhundert (s. Anm. 8), S. 151–163, hier S. 156f. 59 Vgl. Kant: Beantwortung der Frage (s. Anm. 17), S. 10. 60 [Jakob Mauvillon:] Sendschreiben an den Herrn Pastor Bartels, wegen dessen Schrift: Ueber den Werth und die Wirkungen der Sittenlehre Jesu, von dem Verfasser des einzigen wahren Systems der christlichen Religion. Braunschweig 1789, S. 26. Vgl. Arne Klawitter: Ein Freigeist »in Sachen des Genies«. Jakob Mauvillon als Rezensent von Goethe und Lenz. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 43 (2018), S. 255–288, hier S. 284–287.

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Gränzen« geschafft, d. h. aus der Reihe der deutschen Gelehrten ausgestoßen (GR1, S. 44). Es genügt also längst nicht, auf Deutsch zu schreiben; grundsätzlich muss man die deutsche Geistesleistung jeder ausländischen vorziehen.61 Gegen diese Einstellung zieht Mauvillon gleich zweimal zu Felde, einmal in der Rezension der Gelehrtenrepublik, und in einem zweiten Anlauf in der Schrift Vom Patriotismus der Deutschen, wo er neben Klopstock selbst die ganze um ihn gescharte »patriotische Secte« aufs Korn nimmt, womit wohl die Mitglieder des Göttinger Hainbunds gemeint sind.62 Die Bemerkung Dohms, die Patriotismus-Schrift richte sich »contre Gelehrte Rep.« (s. oben), ist damit verständlich gemacht. Was heißt es aber, wenn im selben Atemzug Wieland genannt ist? (»contre Gelehrte Rep. Wieland etc.«). Eine Möglichkeit wäre, dass Dohm sich an die »Vorrede des Herausgebers« im ersten Band des Teutschen Merkurs erinnerte; wir haben gesehen, dass sich dort Wieland zur ›aristokratischen‹ Regierungsform der Gelehrtenrepublik bekannte. Mauvillon hat in seiner Rezension des Merkurs gerade dies kritisiert (s. oben). »Contre Wieland« würde dazu also gut passen. Nun werden aber in der Patriotismus-Schrift Wielands unvorsichtige Bemerkungen in der Herausgeber-Vorrede nicht genannt; auch waren drei Jahre seither vergangen. Von sonstiger Kritik an Wieland ist keine Spur. Wohl aber finden wir gleich zu Anfang Mauvillons Aussage, dass er mit seiner Abhandlung einer Aufforderung im Teutschen Merkur nachkommen wolle. Im Oktober 1775 hatte Wieland in der Rubrik »Fragen und Aufgaben« diese Frage gestellt: »Kann es jemals recht seyn, oder unter welchen besondern Umständen könnte es recht seyn, wenn Schriftsteller Nationalstolz und Verachtung eines benachbarten Volkes unter dem ihrigen zu erwecken oder zu nähren suchen?«63 Mauvillon antwortet nun darauf: »Die Frage ist schön, sie ist zur rechten Zeit aufgeworfen« (MPD, S. 3). Mit der »rechten Zeit« meint Mauvillon sicher das Erscheinen der Deutschen Gelehrtenrepublik ein Jahr zuvor; Wieland wird mit seiner Frage wohl auch Klopstock im Sinn gehabt haben. Das »Contre« Dohms dürfte sich also syntaktisch nicht bis auf »Wieland« erstrecken. »Wieland etc.« weist stattdessen asyntaktisch auf dessen Aufforderung hin, sich

|| 61 In den Unterlagen zum ›Wiener Plan‹ zur »Unterstüzung der Wissenschaften« (s. Anm. 56) wendet sich Klopstock gegen das »Büchergeschwäz« »[u]nsre[r]« »Zeit«, wonach man »Weltbürger […] seyn« solle, wo doch schon die »Vaterlandsliebe« für das »Herz selbst des rechtschaffensten Mannes« zu groß war (GR2, S. 146). Ganz abgesehen davon, wie man allgemein zum Patriotismus steht, ist diese Absage an die für die Wissenschaft konstitutive Weltbürgerlichkeit bedenklich. Klopstock fällt damit hinter dem Stand der Frühaufklärung zurück, die diesen Grundsatz klar erkannt hatte (s. oben). 62 Vom Patriotismus der Deutschen (s. Anm. 57), S. 11, 13, 14; vgl. S. 3, »Secte der deutschen Republicaner«. Im Folgenden wird aus dieser Schrift im laufenden Text mit der Sigle MPD verwiesen. 63 Der Teutsche Merkur (1775). 4. Vierteljahr, S. 84; MPD, S. 3.

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kritisch mit dem in der Gelehrtenrepublik propagierten ›Nationalstolz‹ auseinanderzusetzen. Mauvillon hatte Klopstocks Werk in der Auserlesenen Bibliothek zwar schon einmal rezensiert, er hatte aber zu diesem Thema offenbar noch einiges auf dem Herzen, und ließ sich die Einladung Wielands deshalb nicht entgehen. Für seine Ansichten können wir deshalb wechselweise auf beide Beiträge zurückgreifen. Für Mauvillon ist Klopstocks »Nationaleitelkeit« von wahrem Patriotismus weit entfernt: »Patriotismus ist die Liebe zu seinem Vaterlande, die Lust dasselbe glüklich zu sehen, und wo man kan glüklich zu machen, nicht der Eigendünkel, daß unsre Landsleute in allen Stücken die andern Nationen übertreffen« (MGR, S. 297). Was heißt denn auch ›übertriebene‹ Verehrung der Ausländer? Wer will bestimmen, was ›übertrieben‹ ist? Wolle Klopstock allen Ernstes behaupten, man könne die Schrift eines Ausländers nur unter der Bedingung ›verehren‹, dass man deutsche Werke – in derselben Sparte? oder überhaupt? – noch über sie stelle? (MGR, S. 306) Nach welchem Kriterium würde hier das Bessere bemessen? Nach dem, ob »mehr Verstandskräfte [dazu] gehört« hätten, die Schrift zu verfertigen? Was hätte das aber mit Qualität zu tun? Es kan sehr wohl seyn, daß zur Messiade mehr Verstandeskräfte gehört haben als zu den Gedichten Homers und Virgils, ohngeachtet acht neun Theile von dem vernünftigen Deutschland zum Lande hinaus müsten, wenn man alle die hinaus jagte, die diese jener vorzögen. (MGR, S. 306)64

Dem wahren Interesse der Nation weit zuträglicher sei der Respekt vor den Leistungen anderer Nationen. Die Verachtung des Ausländischen mache blind für die eigenen »Gebrechen« (MPD, S. 11) und unfähig, aus »Beyspiele[n] andrer, die in diesem oder jenem Stücke weiter gekommen sind«, zu lernen (MPD, S. 12). In Frage kommen dabei erstens die Schriften des Altertums, zweitens die der Modernen. Mauvillon hält die Schätze des griechischen und römischen Altertums noch lange nicht für erschöpft. Das »häufige Lesen der Alten« sei »weit« sinnvoller, »als alle Lobreden und Gedichte auf Herman und seine Zeitgenossen« (MGR, S. 304). Freilich habe Klopstock seine Kenntnisse germanischer Altertümer selbst zum größten Teil aus lateinischen Quellen – »[a]lles, was Tacitus in seiner Beschreibung von Germanien erzählt, sind ihm Evangelia« (MGR, S. 300)65 – ausgerechnet aber die Sitten der »Zeiten« sich zum Vorbild zu nehmen, »da Deutschland der Wohnsiz roher, Raub und Blutdürstender Barbaren war« (ebd.; vgl. MPD, S. 15), und dagegen || 64 Zum Messias vgl. auch Mauvillons Bemerkungen in seiner Rezension von Christian Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774), ABL 6 (1774), S. 404–415: Ohne »die vortreffliche Kunst und die hohe Einbildungskraft dieses großen Dichters, den wir nach Verdienst verehren« in Abrede zu stellen, »glauben wir nicht, daß die Dichter, welche Gegenstände aus der Religion gewählt haben, die beste Wahl getroffen hätten; wenigstens ist der Gegenstand und die Behandlungsart der Klopstockschen Epopee außerhalb der Dichtkunst« (S. 406). 65 Zu Klopstocks Quellen s. GRA, S. 649f.

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die weitere Beschäftigung mit Aristoteles oder Cicero für überflüssig zu erklären (MGR, S. 307–309), sei in höchstem Maße töricht. Auch einen praktischen Zweck für die gelehrte Kommunikation habe das Lateinische. Es sei »ein gutes Mittel, freie Gedanken, zu deren Bekantmachung das Publikum noch nicht reif ist, denen, die ihr Licht vertragen können, anfangs zu eröfnen, bis nach und nach sie sich auch zu den schwächsten Augen drängen könten. Sie würden auch viel eher, lateinisch durch Censuren gehen als deutsch« (MGR, S. 305). Das ist zwar nur eine Nebenbemerkung. Die Stelle ist aber inhaltlich so frappant, dass es sich lohnt, sie genauer unter die Lupe zu nehmen. Mauvillon propagiert hier nicht etwa die Wiederherstellung der lateinischen respublica litteraria. Die Norm ist vielmehr die Kommunikation in der Nationalsprache. Wohl aber bot die Übergangssituation zwischen respublica litteraria und nationalsprachlicher Öffentlichkeit und das Fortbestehen eines nicht unbeträchtlichen, vor allem in den Schulen und Universitäten gepflegten lateinischen Schrifttums dem Gelehrten eine zusätzliche Option für die Kommunikation, die unter Umständen nützlich sein konnte.66 Das bliebe recht abstrakt und hypothetisch, wenn nicht mit derselben nationalsprachlichen Öffnung des gelehrten Diskurses die Frage akut geworden wäre, wie weit es ratsam sei, den Nicht-Gelehrten den Zugang zu den dort zur Diskussion gestellten Themen zu geben. Die Ängste, die damit verbunden waren, sind oben schon angesprochen worden. Erst vor diesem Hintergrund erhält Mauvillon Bemerkung ihre eigentliche diagnostische Bedeutung. Mauvillon scheint hier im Sinne derer zu sprechen, die aus Angst vor den Ungelehrten den aufgeklärten Diskurs einer Elite vorbehalten wollen. Da er selber aber in seinen Schriften durchaus bereit war, »freie Gedanken«, z. B. in Religionsdingen, dem Druck zu übergeben, kann das nicht seiner wirklichen Einstellung entsprechen.67 Hier legt er vielmehr die Camouflage des moderaten Aufklärers an, der dem einfachen Volk die Fähigkeit, starke Medizin zu ertragen, noch nicht zutraut. Dass dies tatsächlich ein Täuschungsmanöver ist, zeigt der zweite Teil seiner Aussage. Mendelssohn z. B. hätte an dieser Stelle der ›Philosophie‹ geraten, »die Hand auf den Mund« zu legen (s. oben). Mauvillon gibt stattdessen einen Tipp, wie man trotz allem seine ›freien Gedanken‹ in Umlauf bringen könne. Da, wie er sicher

|| 66 Der Anteil von Büchern in lateinischer Sprache im Messangebot 1770 lag für die Gesamtproduktion bei ca. 14 %, in einzelnen Sparten jedoch erheblich höher, z. B. in der Philosophie bei ca. 27 % (Helmuth Kiesel, Paul Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Markts. München 1977, S. 198). Aus der periodischen Literatur, auch der gelehrten, war allerdings schon in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts das Lateinische durch das Deutsche verdrängt worden (s. Böning: Aufklärung und Presse [Anm. 58], S. 156). 67 Vgl. z. B. seine Schrift: Vom Genius des Sokrates, eine philosophische Untersuchung. In: Deutsches Museum (1777), 6. St., S. 481–510.

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zurecht behauptet, die Bücherzensur bei lateinischen Schriften weniger streng gehandhabt wurde als bei deutschsprachigen, solle der ›Freidenker‹ in dieser Situation überlegen, ob er seinen Zweck nicht eher erreichen könne, wenn er auf Lateinisch schriebe. Schon diese Überlegung, und überhaupt die Rücksicht auf die Zensur als Hindernis, zu dessen Umgehung eine eigene Taktik nötig sei, ist einigermaßen erstaunlich, zumal im Zusammenhang der Rezension der Hinweis darauf nicht zwingend nötig war. Die Reflexion darüber, was an der Schwelle zwischen respublica litteraria und moderner Öffentlichkeit möglich, ratsam, und klug sei, zeugt von einem hoch entwickelten Problembewusstsein bei Mauvillon. Die Anleitung an den ›Freidenker‹, wie er sich durchlavieren könne, ohne zu viel aufs Spiel zu setzen, lässt durchblicken, wie er sich selbst als Radikalaufklärer in dieser Lage positionierte. Einen eigenen Hintersinn bekommt sein Hinweis auf die Nützlichkeit des Lateinischen dadurch, dass er um diese Zeit selber, zwar nicht in seinen Publikationen, wohl aber in Privatbriefen genau auf diese sprachliche Verschlüsselung zurückgegriffen hat.68 Die Bemerkung könnte man ebenso auch, mutatis mutandis, auf seine Wahl des Französischen für eine seiner, gleichwohl für den deutschen Markt konzipierten Schriften in dieser Zeit anwenden.69 Dass man allerdings, um auf eine alte oder moderne Fremdsprache auszuweichen, in einem emphatischen Sinne gelehrt sein musste, und dass man ebenso als selbstverständlich voraussetzte, dass das Zielpublikum mehrere Sprachen beherrschte, zeigt auch, wo die Grenzen der Radikalaufklärung lagen. Die Techniken der Klandestinität schlossen eine aufs Volk berechnete Einflussnahme aus. Mauvillon macht die Beherrschung des Lateinischen oder Französischen zwar nicht zur Bedingung der Teilnahme am öffentlichen Diskurs. Dennoch ist hier erkennbar, dass für ihn dieser Diskurs de facto eine Angelegenheit unter Gelehrten war. Dass er aber nicht gewillt war, ihn unter den von der Zensur festgelegten Regeln zu führen, macht den Unterschied zwischen ihm und Mendelssohn oder auch Kant aus, der,

|| 68 Mauvillon’s Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzogl. Braunschweigschen Diensten verstorbenen Obristlieutenant Mauvillon. Hg. von F[riedrich Wilhelm]. Mauvillon. Deutschland [Braunschweig] 1801, S. 108–112, S. 118f., S. 129–131. Der betreffende, philosophisch und theologisch Heikles berührende Briefwechsel wurde 1774 geführt. Es handelt sich zwar um Briefe von Heinrich Friedrich Diez an Mauvillon (nur diese sind erhalten), es war jedoch Mauvillon, der den Anstoß gab, wie aus der einleitenden Bemerkung von Diez hervorgeht (S. 108). 69 Verf.: Neology vs. radical Enlightenment: Gotthilf Samuel Steinbart, Jakob Mauvillon, and Frederick the Great’s Essai sur l’amour-propre envisagé comme principe de morale (1770). In: Publications of the English Goethe Society 90.2 (2021), S. 109‒128. Zum Vertrieb französischsprachiger Bücher in Deutschland vgl. Jeffrey Freedman: Books Without Borders in Enlightenment Europe. French Cosmopolitanism and German Literary Markets. Philadelphia 2012. Der Anteil am Leipziger Messangebot lag 1775 bei ca. 10 % (Kiesel, Münch: Gesellschaft und Literatur [s. Anm. 66], S. 196).

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wenn auch widerwillig, dem Staat das Recht zuerkannte, seinen Untertanen zu sagen, wann sie zu ›gehorchen‹ hätten.70 Mauvillon hatte im Übrigen auch nichts gegen Popularisierung und Volksaufklärung. Der zweite Teil von Vom Patriotismus der Deutschen ist ein leidenschaftliches Plädoyer für Johann Bernhard Basedows 1774 gegründetes Dessauer ›Philanthropin‹, zu dem Mauvillon 1776 auch selbst eine Summe beisteuerte (daher Dohms »enthusiastisch für Basedow« [s. oben]).71 Und nach 1785, nach seinem Wechsel von Kassel nach Braunschweig, stand ihm von allen dortigen Gelehrten der Reformpädagoge Joachim Heinrich Campe am nächsten.72 So weit zu den Alten und ihrer Sprache, die Mauvillon vor Klopstocks neu erwachtem Sprachnationalismus in Sicherheit zu bringen versucht. Bei aller zur Schau getragenen Hochschätzung für die Alten ist aber Mauvillons Lob der Modernen für das Verständnis seiner Position aufschlussreicher. Erst im Alter hat Klopstock ein einigermaßen ausgewogenes Verhältnis zu den neueren Schriftstellern des In- und Auslandes entwickelt.73 Zur Zeit der Gelehrtenrepublik zählten für ihn nur die eigenen Weggefährten wie Gleim und Gerstenberg und die ihn anbetende Schar des Göttinger Hainbunds. Besonders schlecht aber kamen bei ihm die Ausländer weg. Voltaire war ihm (sicher vor allem seines Unglaubens wegen) ein Greuel (GR1, S. 17, S. 45, S. 180, S. 196f.), ebenso die in seinem Fahrwasser schwimmenden »neuen Sophisten«, wer auch immer damit gemeint sein mag (GR1, S. 45). Auch die Enzyklopädisten bekommen eine Abfuhr (GR1, S. 69f.); nur d’Alembert findet für seine »Schrift ›über die Gelehrten und die Grossen‹« (GR1, S. 97) lobend Erwähnung.74 In den Entwürfen zum unveröffentlicht gebliebenen

|| 70 Kant: Beantwortung der Frage (s. Anm. 17), S. 17. Auch Klopstocks ›Wiener Plan‹ (s. Anm. 56) war auf Koexistenz mit den »Censoren« eingerichtet (GR1, S. 221). 71 Siehe Mauvillons Verpflichtungsschreiben vom 11. März 1776 (Philanthropinum Dessau: Katalog. Nachlass [https://www.haraldfischerverlag.de/hfv/sammlungen/dessau_philanthropinum_ nachlass_katalog.php? (Zugriff 24.06.2020)], II, 11, 4, Bl. 1) und seinen Brief an das Philanthropin vom 28. Februar 1778 (ebd. III, 11, 15, Bll. 1–2). Basedow verstand sein pädagogisches Reformprogamm als ›patriotisches‹ Projekt, vgl. Johann Bernhard Basedow: Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über Schulen, Studien und ihren Einfluß in die öffentliche Wohlfarth. Hamburg 1768, S. 29. 72 Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 24), S. 108. 73 Besonders auffallend ist das positive Urteil ein Vierteljahrhundert später über den zur Zeit der Gelehrtenrepublik in Bausch und Bogen verdammten Wieland, vgl. Aus Klopstock’s letzten Jahren. Aufzeichnungen eines Italieners. In: Deutsche Rundschau 79 (1894), S. 55–73, hier S. 59–60, S. 62f., S. 68; Alexander Gillies: A Hebridean in Goethe’s Weimar. Oxford 1969, S. 77. 74 Essai sur la société des gens de lettres et des grands, sur la réputation, sur les mécènes, et sur les récompenses littéraires. In: Jean le Rond d’Alembert: Mélanges de littérature, d’histoire, et de philosophie. Bd. 1. Amsterdam 1759, S. 321–412. »Dieß ist die Schrift, wegen welcher, auf dem lezten Landtage unsrer Gelehrtenrepublik, ein Aldermann Alemberten, ob er gleich ein Ausländer ist, mitten im Eichenhaine ein Denkmal sezzen wollte« (d’Alembert: Versuch über den Umgang der

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zweiten Teil der Gelehrtenrepublik weitet Klopstock seine Kritik auf die ganze Gattung von Schriften »der Franzosen und Engländer über Staatskunst, Einkünfte, Haushaltung und Handlung« aus (GR2, S. 22f., S. 62). Diametral dem entgegengesetzt ist Mauvillons Lob der Werke der Engländer und Franzosen im »ganze[n] legislatorische[n], politische[n] und Staatswirthschaftliche[n] Fach« (MGR, S. 306). Mauvillon konnte von Klopstocks gegenteiliger Bemerkung natürlich nichts gewusst haben.75 Klopstock hätte aber nicht besser den Punkt treffen können, in dem sie sich unterschieden. Um das »das Maaß der Glückseligkeit unseres Vaterlandes, das heißt, der darinn wohnenden Menschen zu befördern«, worin für Mauvillon der wahre Patriotismus bestand (MPD, S. 8) – und nicht, wie an erster Stelle bei Klopstock, der Stolz auf »eine schöne kultivirte Sprache«, hervorragende, den ausländischen »Troz bietend[e]« »Werke des Witzes« (MGR, S. 298) – bildeten »Staatsverfaßung, Gesetze, Erziehung, Regierungskunst« als »die großen Mittel zur Glückseligkeit« die wichtigsten Aufgabenfelder für die Wissenschaft (MPD, S. 13). In den Staatswissenschaften und dem aufblühenden Fach der ›politischen Ökonomie‹ sollte Mauvillon sich in den folgenden Jahren einen Namen machen, wobei er bewusst versuchte, den Anschluss an die Diskussion, die im westlichen Ausland geführt wurde, herzustellen.76 Klopstocks spezielles Urteil zu dieser Literatur in den Entwürfen zum zweiten Teil der Gelehrtenrepublik musste sich wie gesagt Mauvillons Kenntnis entziehen. Aber auch der erste Teil gibt ausreichend Auskunft über Klopstocks Einstellung. Für die »gelehrten Politiker« hat er nur Spott übrig (GR1, S. 11). Ansonsten fehlen die Sozialwissenschaften (wie wir sie heute nennen würden) in der Reihe seiner gelehrten ›Zünfte‹ ganz. Die angewandten Wissenschaften spielen bei ihm im ersten Teil keine, im zweiten nur eine ganz untergeordnete Rolle (GR2, S. 62). Das »Mode-

|| Gelehrten und Großen; über den Ruhm, die Mäcenen und die Belohnungen der Wissenschaften. Leipzig 1775, S. A2). 75 Umgekehrt ist es nicht unmöglich, dass Klopstocks Urteil eine gezielte Antwort auf Mauvillon war. Wir wissen, dass Klopstock die Rezeption seines Werks aufmerksam verfolgte, wobei er auch Entlegenes dazu wahrnahm (s. GRA, S. 266f. und S. 773f.), und dass für die Fortsetzung Repliken auf kritische Aussagen zum ersten Teil geplant waren (GRA, S. 301–305). 76 Vgl. Jakob Mauvillon: Sammlung von Aufsätzen über Gegenstände aus der Staatskunst, Staatswirthschaft und neuesten Staatengeschichte. 2 Bde. Leipzig 1776/77; ders.: Physiokratische Briefe. Braunschweig 1780. Zu Mauvillon als Physiokrat s. Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 24), S. 171– 193. Mauvillon war von Hause aus zu gesellschaftswissenschaftlichen Studien französischer und britischer Provenienz prädisponiert. Sein Vater Eléazar de Mauvillon (1712–1779), emigrierter Hugenotte, hatte 1754–1757 seine Übersetzung von David Humes politischen Abhandlungen zusammen mit diversen französischen und englischen Schriften zu politischen Fragen herausgegeben (Discours politiques. 5 Bde). Jakob wird als Elfjähriger Adam Ferguson kennengelernt haben, der bei einem Aufenthalt in Leipzig im Hause seines Vaters logierte (Adam Ferguson an Adam Smith, 1. Dezember 1754. In: The Correspondence of Adam Smith. Hg. von Ernest Campbell Mossner und Ian Simpson Ross. Oxford 1977, S. 15).

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geschwäz des Jahrhunderts« zum »Akkerbau« zieht dabei seine besondere Verachtung auf sich (ebd.).77 Die ausländischen Schriftsteller würden aber in Klopstocks Augen nicht besser dastehen, wenn diese Wissenschaftszweige in der Hierarchie der Disziplinen weiter oben rangierten. Allein schon als Ausländer wären die darin maßgeblichen Autoren ihm und den anderen »Herren der patriotischen Secte« (MPD, S. 11) suspekt. Dasselbe gilt flächendeckend für alle, die das Unglück hatten, in anderen Sprachen zu schreiben. Für Mauvillon war diese sich als ›Patriotismus‹ schmückende geistige Borniertheit, die die »Secte der deutschen Republicaner« auch noch ihren anderen Landsleuten aufzwingen wollte, die Höhe des Lächerlichen: »Voltaire, Helvetius, Rousseau und Montesquieu [geben sie] für seichte Köpfe und kleine Geister aus[…], und [wollen] jeden, der diese oder andere Ausländer bewundert, aus der deutschen, gelehrten Republique verjagen« (MPD, S. 3f.).78 Was die Engländer betrifft, steigert sich Mauvillons Lob noch einmal. Was wahrer ›Patriotismus‹ ist, könne man von ihnen lernen, indem man sich an dem »was die Engländer Public Spirit nennen«, ein Beispiel nehme (MGR, S. 297). Und selbst auf die Gefahr hin, ›übertriebener‹ Verehrung der Ausländer bezichtigt zu werden, erklärt er rundweg, dass er »die Britten für das erste Volk auf Erden« hält. Auch beim Vergleich einzelner Schriften fällt das Urteil nicht anders aus: »Von vielen [ihrer] Werke […] müssen [wir gestehen], daß sie bei uns nicht ihres Gleichen haben«. Und dann fügt er parenthetisch hinzu: »(so einen Einflus hat die Freiheit auch auf die Produkte des Verstandes […])« (MGR, S. 307). Hier führt die kritische Auseinandersetzung mit Klopstocks Vorstellung von Patriotismus zurück zum Thema der Freiheit. Von beiden urteilt Mauvillon, dass Klopstock die falschen Begriffe damit verbindet. Er suche die für das Gedeihen ›gelehrter‹ Arbeit wesentliche Freiheit zu beschränken, um stattdessen einer »Chime-

|| 77 Damit stellt sich Klopstock quer zu einem wichtigen Anliegen der Aufklärung: »Der Fortgang der Aufklärung insgesamt erschien vielen Zeitgenossen identisch mit dem der Landwirtschaft« (Böning: Entgrenzte Aufklärung [Anm. 21], S. 16). Vgl. Christian Kohfeldt: Die gemeinnützig-ökonomische Aufklärung als Wegbereiterin für die Volksaufklärung. In: Volksaufklärung (s. Anm. 21), S. 127–139. Klopstocks verächtliches Urteil ist insofern merkwürdig, als er 1769 in Kopenhagen selbst Mitglied der neu gegründeten dänischen Landhaushaltungsgesellschaft geworden war (Klaus Hurlebusch: Dänemark – Klopstocks »zweites Vaterland«? In: ders.: So viel Anfang war selten. KlopstockStudien. Göttingen 2013, S. 207‒237, hier S. 231) und sich schon 1760 positiv zu fortschrittlichen Methoden der Feldbewirtschaftung geäußert hatte (Nachricht von einem Dänischen in dem Ackerbaue sehr erfahrnen Landmanne [1760]. In: Kleine Prosaschriften [s. Anm. 38], S. 144–146). ‒ Mauvillon war in seiner Kasseler Zeit (1771–1785) Mitglied der ›Societät des Ackerbaues und der nüzlichen Künste‹ (Hoffmann: Jakob Mauvillon [s. Anm. 24], S. 124f.). 78 Eine Anspielung auf GR1, S. 50f. und S. 57. Vgl. Mauvillons Rezension von Johann Jakob Brechters Briefe über den Aemil des Herrn Rousseau (1773), ABL 4 (1773), S. 457–479 und die von Ueber das Leben und die Schriften des Hrn. Helvetius (1773), ABL 4 (1773), S. 658–667.

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rischen« Freiheit nachzujagen, »die sich gar auf uns nicht anwenden lässt, und die vielleicht einstens in Deutschland zu einer Zeit existirte, als die Deutschen […] in den Wäldern umher liefen, und einmal das seltne Glück hatten, unter Anführung eines eben so wilden Oberhaupts, einen römischen Befehlshaber, zu überfallen und zu schlagen«. (So demontiert Mauvillon im Vorbeigehen den Mythos der ›Hermannsschlacht‹.79) Diese antiquarisch aufgeputzte Freiheit habe den Vorteil, »daß [man] weiß […], daß man damit keinen [!] wichtigen Mann auf den Fuß tritt, und man kann sich doch dabey so hübsch einen Anschein von Liebe zur Freyheit und zum Vaterlande geben, welcher schwachen Köpfen einen blauen Dunst vormacht« (MPD, S. 15). Das Bramarbasieren der Bewunderer »Herrmanns und der Cherusker«, mit ihrem prahlerischen »Geschrey vom Patriotismus und Freyheit« (MPD, S. 17), müsse man mit dem weniger lauten, dafür aber wirklichen Mut etwa der französischen Schriftsteller vergleichen: In Frankreich ist nicht leicht ein Gelehrter von einigem Ruhm, der es nicht gewagt hätte, seine Meynung über diese oder jene Maasregul der Regierung, oder über mächtige Personen zu sagen, und deswegen redlich ein oder auch mehreremahle auf der Bastille gesessen hätte, oder verwiesen worden wäre, oder hätte flüchten müssen. (MPD, S. 21)

Damit übertreibt Mauvillon sicher die Zivilcourage der Franzosen und tut manchen deutschen Schriftstellern unrecht. Christian Friedrich Daniel Schubart war zwar zum Zeitpunkt der Niederschrift noch nicht auf den Hohenasperg verschleppt worden.80 Aber es gab auch vorher schon Verfolgungen genug; der Fall Johann Christian Edelmanns lag nicht allzu weit zurück und dürfte Mauvillon nicht unbekannt gewesen sein, und in der Patriotismus-Schrift selbst beschreibt er die Anfeindungen seitens der Geistlichkeit, denen Johann Bernhard Basedow ausgesetzt war (MPD, S. 20f.). Man muss aber bedenken, dass Mauvillons Verallgemeinerung an dieser Stelle eigentlich nur an die Adresse Klopstocks und seiner Anhänger gerichtet war. Dass Mauvillon mit diesem Vorwurf nicht falsch lag, zeigt eine Stelle in der Gelehrtenrepublik, die er in seiner Rezension zitiert und kritisch kommentiert. Die Erläuterung der Stelle wird noch einmal zeigen, wie die Fronten verliefen, und welche Rolle dabei insbesondere der Vergleich mit England spielte.81

|| 79 Vgl. Klopstocks ›Bardiet‹ Hermanns Schlacht (1769). Mauvillon unterlässt es nicht, gegen Klopstocks die eigene Freiheitsrhetorik dementierende Dedikation des Werks an den Kaiser zu sticheln (MGR, S. 291), wie er überhaupt der Ansicht ist, dass seine Deklamationen gegen Mäzenentum (GR1, S. 33–36) und für die Unabhängigkeit von den ›Großen‹ (GR1, S. 95) zu seinem eigenen Verhalten in Widerspruch, sein »Thun« und sein »Sagen« in »keine[m] Zusammenhang« stehen (MGR, S. 293; vgl. ebd. S. 288, S. 291f. und MPD, S. 15–17). 80 Mauvillon zu dieser cause célèbre: vgl. Das einzige wahre System der christlichen Religion (s. Anm. 58), S. 167–169. 81 Wertvoll, wenn auch in der Quellenauswertung um die hier herangezogenen Schriften zu ergänzen, ist der Abschnitt zu Mauvillon in Hans-Christof Kraus: Englische Verfassung und politisches

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Es geht darum, wie die Gelehrten sich der Obrigkeit gegenüber in politischen Angelegenheiten äußern sollen. Man müsse sich vornehmen, so Klopstock, Von der Art, wie die Länder jezt beherscht würden, wahr und frey, aber zugleich mit einer solchen Mässigung zu schreiben, daß diese nicht nur etwa gegen Verfolgungen in Sicherheit stelte; sondern auch die freye Wahrheit desto gewisser zu ihrem Zwecke führte, je gewisser zwar manchmal offenherzige, allein noch öfter ausschweifende und lügenhafte Kühnheit, wie sie zum Exempel über dem Meere so sehr gänge und gebe wäre, diesen Zwek verfehlte. (GR1, S. 95f.)

Dazu urteilt Mauvillon: Das ist wohl gesagt, aber [es] ist […] nicht genug, so etwas blos zu sagen, man müste wol auch zeigen, wie das möglich zu machen wäre, denn alle Erinnerungen gegen Maasregeln, wenn sie noch so ehrfurchtsvol abgefast wären, würden, so bald sie den Leidenschaften der Fürsten und noch mehr ihrer Minister entgegen wären, für freventlich und vermessen gehalten werden. Also dürfte wol Hrn. Kl. Saz so blos etwas in die Luft geredetes seyn, bis es ihm gefiele, die Mittel und Wege seinen sonst schönen Vorschlag auszuführen, deutlicher anzuzeigen. (MGR, S. 292f.)82

Das ist vergleichsweise milde formuliert. Um dem Dissens auf den Grund zu gehen, muss man ein bisschen weiter ausholen. Klopstocks seltsam verklausulierter Formulierung ist vor allem zu entnehmen, dass man eine allzu ›kühne‹ politische Kritik zu vermeiden habe. Aufhorchen lässt aber besonders der Zusatz, dass diese Art von Kritik »über dem Meere […] gänge und gebe« sei. Hier muss man sich Gedanken an die nordamerikanischen Kolonien aus dem Sinn schlagen. (Zur Erinnerung: die Gelehrtenrepublik erschien 1774, und gesprochen werden die Worte auf dem ›Landtag‹ des Jahres 1772, was auch der Zeit der Niederschrift entsprechen dürfte [GRA, S. 506].) Mit dem ›Meer‹ ist nämlich nicht das Atlantische, sondern nur die Nordsee bzw. der Ärmelkanal gemeint.83 Nach Großbritannien müssen wir blicken, wenn wir wissen wollen, was es mit der von

|| Denken im Ancien Régime 1689 bis 1789. München 2006, S. 464–471. Siehe auch Roland Ludwig: Die Rezeption der Englischen Revolution im deutschen politischen Denken und in der deutschen Historiographie im 18. und 19. Jahrhundert. Leipzig 2003, S. 99–110. 82 Mauvillon merkt noch an, dass der Rat sich nicht mit der im ›Wiener Plan‹ (s. Anm. 56) bekundeten Absicht vereinbaren lässt, die Wissenschaften unter die Schirmherrschaft des Kaisers zu stellen und sich damit (so Mauvillon) von seiner Gunst abhängig zu machen (MGR, S. 293). 83 Dass Großbritannien im Sprachgebrauch der Zeit ›über dem Meer‹ lag, ist vielfach zu belegen. Eine Auswahl: Johann Anton Niemeyer: Hieronymus Freyers Nähere Einleitung zur Universalhistorie bis auf jetzige Zeit fortgesetzet. 8. Aufl. Halle 1755, S. 795; Georg Andreas Will: Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon. Vierter Theil. Nürnberg, Altorf 1758, S. 188; Franz Dominicus Häberlin: Die allgemeine Welthistorie […] Neue Historie. 2. Band. Halle 1768, S. 652; Briefe der Elisabeth Sophie von Valiere an die Louise Hortense von Canteleu, ihre Freundin, aus dem Französischen der Frau Riccoboni. Erster Theil. Frankfurt a. M. 1772, S. 21.

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Klopstock getadelten »ausschweifende[n] und lügenhafte[n]« Kritik der Mächtigen auf sich hat. Für englische Angelegenheiten bestand überall in Deutschland, besonders aber in Kurhannover, das ja in Personalunion mit dem britischen Königreich verbunden war, ein lebhaftes Interesse. Worauf Klopstock nur anspielt, wird 1771 z. B. in einer Rezension Albrecht von Hallers in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen beim Namen genannt. Dabei kommt die seit 1762 tobende publizistische Auseinandersetzung um den radikalen Politiker John Wilkes zur Sprache, den Georg III. 1763 wegen Majestätsbeleidigung verhaften und vor Gericht hatte stellen lassen. Da Haller kein Wort zur Erklärung hinzusetzt, dürfen wir annehmen, dass er bei seinen Lesern Kenntnis des Sachverhalts voraussetzte.84 Haller kann sich daher auf den Ausdruck seines Zorns über »die aufrührischen und giftigen Schriften« der Parteigänger von Wilkes beschränken.85 Ähnliche Urteile findet man auch bei anderen Beobachtern. Von den »verwegenen Schriften des John Wilkes« ist einmal die Rede;86 ein andermal heißt es, in seiner Zeitung The North Briton sei eine Ansprache des Königs »mit erstaunlicher Frechheit durchgezogen« worden.87 Haller selbst ließ auch später nicht locker; 1773 legte er noch einmal nach, diesmal in fiktiver Einkleidung, in seinem Staatsroman Alfred König der Angelsachsen, wo er den weisen Amund seinem Schüler Alfred als Bedingung geglückter Herrschaft u. a. einschärfen lässt, dass »[d]es Königes Person […] geheiligt, […] vor aller Beschimpfung […] gesichert werden« müsse, dass die »Geseze [ihn] wider die Anfälle der Lästerer« zu »beschirm[en]« und »die Stimme der zaumlosen Verläumdung mit Straffen zu unterdrüken« hätten.88 Worauf Haller anspielte, war den Zeitgenossen sofort klar – unter ihnen auch der in diesen Dingen besonders hellhörige Jakob Mauvillon.89 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, was Klopstock mit der »über dem Meere« eingerissenen, »manchmal offenherzige[n], allein noch öfter ausschweifende[n] und lügenhafte[n] Kühnheit« gemeint hat. Damit erschließt sich auch, warum er später die Republik warnt, vor »über’s Meer gekommen[en]« »politischen Schrei|| 84 Zur Kenntnis im deutschen Sprachraum trug die von Johann Friedrich Seyfart aus dem Englischen übersetzte, im Original anonyme Schrift bei: Geschichte des berühmten Engelländers Johann Wilkes, Esquire. Frankfurt a. M., Leipzig 1765; s. dazu Kraus: Englische Verfassung (s. Anm. 81), S. 439. 85 Rezension des 5. Bandes des Observateur françois (1770) in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen (1771). Bd. 1, S. 138f. Haller ist als Verfasser identifiziert nach dem hss. Eintrag im Göttinger Digitalisat (s. https://gdz.sub.uni-goettingen.de/ [Zugriff 21.05.2020]). 86 Geschichte des gegenwärtigen Kriegs zwischen Rußland, Polen und der Ottomanischen Pforte. Frankfurt a. M., Leipzig 1771, S. 122. 87 Des neueröffneten Historischen Bilder-Saals Vierzehender Theil. Nürnberg [1766], S. 607. 88 Albrecht von Haller: Alfred König der Angelsachsen. Göttingen, Bern 1773, S. 135–138. 89 Jakob Mauvillon: Rezension von Albrecht von Haller: Alfred König der Angelsachsen. In: ABL 6 (1774), S. 93–104: »Man wird leicht einsehen, worauf der V. damit abzielet« (S. 100). Mauvillon nennt Wilkes auf der nächsten Seite.

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bereyen« auf der Hut zu sein (GR1, S. 180; vgl. GRA, S. 538); und warum von England – »überm Meere brent’s, und sprüht’s Funken« (GR1, S. 216) – im allgemeinen akute Brandgefahr ausging. Und so erst wird auch Klopstocks Charakterisierung der englischen Gelehrtenrepublik verständlich: [Sie] ist beynahe demokratisch. Der Pöbel hat da viele Freyheiten, und mehr als Einen Schreyer. Wenn sich die Schreyer alle über eine Sache vereinigen (das beste ist noch, daß dieß selten zu geschehn pflegt) so kann der Pöbel sogar der Republik vortragen. Knecht kann man da nach Herzens Lust seyn; und heist doch ein Freyer. Denn diese Ausländer behaupten, daß sie keine Knechte unter sich haben. (GR1, S. 17)

Hier scheint Klopstock auf den Refrain des 1740 in die Welt gesetzten und sich sogleich größter Beliebtheit erfreuenden Liedes Rule, Britannia anzuspielen: »Rule, Britannia, rule the waves! / Britons never will be slaves.« Wenn es aber keine ›Knechte‹ gibt, gibt es kein Unten und Oben mehr, und jede Ordnung wäre aufgehoben. Kein Wunder aber, dass in der Gelehrtenrepublik ›Britannien‹ genau dadurch für den Abschaum der deutschen Republik attraktiv wird. So erfahren wir, dass eine Rotte vorbestrafter und damit infam gewordener ›Ausrufer‹ »als wahre Meutmacher« beschließt, nach England auszuwandern (GR1, S. 170). Für sie es das Reich der ›Freyheit‹ (ebd.) – für Klopstock aber das der pöbelhaften Zügellosigkeit, in dem sie in der Tat am richtigen Platz wären. Aber auch manche andere, nicht direkt zu England in Bezug gebrachte Eigenheiten von Klopstocks gelehrtem Staat erscheinen so in einem neuen Licht. In der deutschen Gelehrtenrepublik darf der »Schreyer« zwar als Vertreter des Pöbels nach beendeter »Stimmensamlung […] seine Sache recht nach Herzens Lust […] vorbringen«, »doch nur eine Viertelstunde lang«, und »[n]ach geendetem Landtag wird er allezeit Landes verwiesen« (GR1, S. 5) – dahin also, wo er an sich schon hingehört. (Früher habe sich der Pöbel überhaupt nur »an den Gränzen« aufhalten dürfen – eine »recht gut Veranstaltung«, die nur leider in der Folge außer Gebrauch gekommen sei (GR1, S. 63). Auch wird man jetzt verstehen, warum es im Verlauf des Landtags zu keiner einzigen Freilassung eines ›Knechts‹ kommt, und warum die Obrigkeit überhaupt ein strenges Auge auf die stets zu Unruhestiftung aufgelegten Knechte (GR1, S. 53f., S. 61) und das politisch unzuverlässige Volk (GR1, S. 6, S. 178f., S. 231f.) haben muss. Mit ihrer ›guten Policey‹90 konterkariert Klopstocks Gelehrtenrepublik Punkt für Punkt die englischen Zustände; sie ist gleichsam der ins System gebrachte anti-englische Staat. Dass es die ›Ausrufer‹ sind, die Journalisten also, die nach England auswandern wollen (die gleichzeitig ausgewiesenen ›Scholiasten‹ zieht es dagegen naturgemäß in die Hochburg und letzte Zufluchtsstätte der Altphilologie, Holland [GR1, S. 170]), hat eine tiefe innere Berechtigung. Mauvillon hätte das genauso gesehen (natürlich

|| 90 Andrea Iseli: Gute Policey. Öffentliche Ordnung in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2009.

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unter umgekehrten Vorzeichen). Wenn die Briten oder Engländer (wie alle in der Zeit unterscheidet Mauvillon da nicht so genau) »durch ihre Regierungsform und ihre Freiheit die erste Nation des Erdbodens«91 und für ganz Europa eine »große Quelle des Lichts« waren,92 verdankten sie dies vor allem der »gänzliche[n] Presfreiheit«, die »das wahre Palladium der Freiheit eines Volks« sei.93 Dies war ein Segen auch über die eigenen Grenzen hinaus: »Die Preßfreyheit in England […] hat einen großen Theil von Europa erleuchtet. Wer dieses große Volk deshalb nicht verehrt, der kennt den Lauf der Dinge in der Welt seit den [!] Anfange dieses Jahrhunderts nicht«.94 Mauvillon als Journalist und Rezensent wäre sicher einer der ersten gewesen, den Klopstock über die Grenze geschafft hätte. Er blieb aber zuhause und setzte sich auch weiterhin für die volle Gedankenfreiheit ein. Gedankenfreiheit bedeutete aber Pressefreiheit: »Wenn wir sagen: denken, so meinen wir laut öffentlich denken, auch schreiben was man denkt.«95 Und Pressefreiheit wäre nicht frei gewesen, wenn sie nicht jedem zugestanden hätte, mochte er auch, von der hohen Warte des Dichters aus gesehen, in noch so ›pöbelhaftem‹ Kleid daherkommen. John Wilkes z. B., den die obrigkeitstreue deutsche Publizistik als »Lustigmacher oder Bößewicht« verteufelte96 und als Wortführer all derer betrachtete, die unter Freiheit das Recht verstanden, »Pasquille wider die Regierung, Religion und gute Sitten öffentlich [zu] verbreiten […], ungestraft sich zusammen [zu] rotten [und] […] zu thun, was man nur will«,97 verteidigte Mauvillon nachdrücklich, und warb für Verständnis auch für das Rabiate seines Auftretens.98 Wer wäre auch befugt, wie Klopstock es verlangte, zwischen »offenherzige[r]« und »ausschweifende[r] und lügenhafte[r] Kühnheit« zu unterscheiden, und das eine zuzulassen, das andere aber zu verbieten? Da der Un|| 91 Aus Mauvillons Vorwort zu seiner Übersetzung von Guillaume-Thomas Raynal: Philosophische und politische Geschichte der Besitzungen und des Handels der Europäer in beyden Indien. 7 Bde. Hannover 1774–1778, Bd. 3 (1775), S. 2v. 92 Jakob Mauvillon: Vorbericht. In: Briefe des Grafen von Mirabeau an einen Freund in Teutschland. Übers. und hg. von Jakob Mauvillon. Braunschweig 1792, S. III–XL, hier S. XXX. 93 Mauvillon: Rezension von Hallers Alfred König der Angelsachsen (s. Anm. 89), S. 101f. 94 Mauvillon: Das einzige wahre System der christlichen Religion (s. Anm. 58), S. 564. 95 Mauvillon: Rezension von Albrecht von Haller: Briefe über einige Entwürfe noch lebender Freigeister wider die Offenbarung. 1. Th. Bern 1775. In: ABL 8 (1775), S. 423–448, hier S. 447. 96 Heinrich Gottfried Scheidemantel: Das Staatsrecht nach der Vernunft und den Sitten der vornehmsten Völker. 3 Bde. Jena 1770–1773. Bd. 1 (1770), S. 254. Wilkes wird zwar nicht namentlich genannt, jedoch ist er aus dem Zusammenhang ‒ von »Schreiben voll von Freiheit, Unterdrükkung«, die der Betreffende »in den Provinzen […] herumgehen [lasse]« ist die Rede – klar erkennbar. Scheidemantel spielt an auf Ereignisse des Jahres 1769 und 1770 (s. Arthur Cash: John Wilkes. The Scandalous Father of Civil Liberty. New Haven 2006, S. 257f.). 97 Scheidemantel: Das Staatsrecht (s. Anm. 96). Bd. 3 (1773), S. 187 (diesmal mit Namensnennung); s. auch ebd., S. 258. 98 Mauvillon: Rezension von Hallers König der Angelsachsen (s. Anm. 89), S. 101; Mauvillon: Sammlung von Aufsätzen (s. Anm. 76), Bd. 1, S. 97f.

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terschied objektiv nicht festzustellen war, würde er in der Anwendung den Mächtigen nur zum Instrument dienen, alles ihnen Unliebsame zu unterdrücken: »denn alle Erinnerungen gegen Maasregeln, wenn sie noch so ehrfurchtsvol abgefast wären, würden, so bald sie den Leidenschaften der Fürsten und noch mehr ihrer Minister entgegen wären, für freventlich und vermessen gehalten werden« (s. oben). Dagegen hülfe (und hilft) nur die unbedingte Pressefreiheit. Dass die ›Gelehrtenrepublik‹ eine »Chimère und eingebildete Phantasie« und eine Ausgeburt »herrschsüchtiger Gelehrten« sei, eine Konstruktion, die »mit der Vernunft derer Menschen« nicht vereinbar sei, da es in deren Natur liegt, dass sie »sich keine Gesetze vorschreiben [lässet]«, hatte die Frühaufklärung schon behauptet.99 Mauvillon trat in seiner Kritik an Klopstock für diese Position noch einmal ein. In ihr war in embryo die Pressefreiheit schon angelegt.100 Die Frage war daraufhin erstens die mehr soziologische, ob sich die binnengelehrte libertas philosophandi bis zur vollen Pressefreiheit in einer nicht-hierarchischen, ›modernen‹ Öffentlichkeit entfalten würde.101 Die radikalaufklärerische Demokratisierung der Meinungsbildung wäre damit theoretisch begründet gewesen. Mauvillon bejahte diese sich abzeichnende Entwicklung insofern, als er die Diskriminierung unter dem Vorwand, ›pöbelhafte‹ Kritik sei auszuschließen, strikt ablehnte. Die tatsächliche Teilnahme der unteren Volksschichten stand (wie oben beschrieben) auf einem anderen Blatt: Mauvillon hatte wohl im Prinzip nichts dagegen einzuwenden, er selber aber richtete sich immer nur als ›Gelehrter‹ an andere ›Gelehrte‹ (wie es auch, aller Volksaufklärung zum Trotz, auch sonst weitgehend die Norm blieb, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus).102 Die zweite Frage war, ob die Pressefreiheit sich auch gesetzlich durchsetzen ließe. Zu Mauvillons Lebzeiten war das in Deutschland größtenteils nicht möglich. Dagegen half also nur die Strategie der (Semi-)Klandestinität, in der es Mauvillon im Laufe der Jahre zur Meisterschaft brachte. Dass er es dadurch auch der Nachwelt erschwerte, seine Leistung zu würdigen, nahm er wohl in Kauf (falls ihm am Nachruhm überhaupt gelegen war). Für Klopstock bedeutete ›Freiheit‹ etwas anderes. Welche verfassungspolitischen Vorstellungen er damit verband, ist nicht leicht auszumachen. Einmal ist sie ihm mit dem Absolutismus vereinbar, solange das Gesetz auch über den Monarchen

|| 99 Christian Gottfried Hoffmann (s. Anm. 8), S. 299f. Vgl. die Programmschrift von Friedrich Menz: Ad Orationem […] invitat Fridericus Menzius et Rempubl. Litterariam perquirit. Leipzig 1748: »omnis […] vis ingenii cogitando agens, non lege, sed natura, regitur« (S. VI) (alle zum Denken anregende Geisteskraft wird nicht von dem Gesetz, sondern von der Natur geleitet). 100 Es ist kein Zufall, dass Thomasius und Christian Gottfried Hoffmann ihre Meinungen zum status naturalis in der gelehrten Welt in Reflexionen über Periodika und das Rezensionswesen vorbrachten (s. Anm. 5 und Anm. 8). 101 Bosse: Die gelehrte Republik (s. Anm. 8), S. 64f. 102 Vgl. Hölscher: Die Öffentlichkeit begegnet sich selbst (s. Anm. 15), S. 29.

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herrschte.103 Ein andermal, in der Gelehrtenrepublik, beschwor er die germanische Antike herauf, wo es auf den »Landesversamlung[en]« bei den Entscheidungen der Nation und in der Rechtsprechung eine politische Mitbestimmung des Volks gegeben habe, wobei allerdings dessen Teilnahme an der Entscheidungsfindung sich auf ein kollektives placet oder non placet zu den Vorschlägen der Fürsten beschränkte und eine eigentliche Mitsprache ausschloss.104 Dieses Modell würde in etwa der Erweiterung der in der Reichsverfassung verankerten ›deutschen Freiheit‹ entsprechen, wie sie zeitgleich Friedrich Carl von Moser propagierte.105 In erster Linie war für Klopstock ›Freiheit‹ jedoch kein verfassungspolitischer, sondern ein nationalpatriotischer Begriff und gleichbedeutend mit ›nationaler Un-

|| 103 ›Ode auf das Jubelfest der Souveränität in Dänemark‹ (HKAW I/1: Oden. Hg. von Horst Gronemeyer und Klaus Hurlebusch. Berlin 2010, S. 208–214, hier S. 208). Auf dänische Verhältnisse bezogen wollte die Herrschaft des Gesetzes nicht viel heißen: »Gemäß der Lex Regia von 1665 war der dänische König der absolutistischste Monarch der Christenheit. […] [D]ie Lex Regia [band] ihn nur in vier Punkten: er sollte dem Augburger Glaubensbekenntnis angehören und es erhalten; er sollte das Reich ungeteilt bewahren; er durfte seine eigene absolutistische Macht nicht schmälern; und er durfte die Lex Regia nicht ändern. Jeder Untertan stand diesem absolutistischen Monarchen politisch rechtlos gegenüber. Die formalen Befugnisse des Monarchen waren unbegrenzt, und in seiner Person vereinte er die höchste gesetzgebende, ausübende und Recht sprechende Gewalt« (Ole Feldbæk: Dänisch und Deutsch im dänischen Gesamtstaat im Zeitalter der Aufklärung. In: Der dänische Gesamtstaat. Kopenhagen, Kiel, Altona. Hg. von Klaus Bohnen und Sven-Aage Jørgensen. Tübingen 1992, S. 7–22, hier S. 8). Zwei Jahrzehnte lang, bis zum Sturz seiner Gönner Bernstorff und Moltke (s. Klopstock: Friedrich der Fünfte. An Bernstorff, und Moltke. In: Oden, S. 100f.), hat sich Klopstock mit dem dänischen Staat prächtig arrangiert. Erst unter Bernstorffs Nachfolger Struensee wurde die Pressezensur aufgehoben, die gerichtliche Tortur und der Sklavenhandel abgeschafft, wurden die adligen Privilegien beschnitten usw. Unter dem Eindruck der analogen Reformen in Frankreich nach 1789 hat Klopstock diese Leistungen schließlich gefeiert: s. Friederich, Kronprinz von Dännemark (1792). In: Oden, S. 474; Schreiben Klopstocks [vom 19. November 1792] an den französischen Minister Roland. In: Minerva. Bd. 5. Januar‒März 1793, S. 5–18, hier S. 14f. Die einzige Reform, der er in seiner dänischen Zeit öffentlich seinen Zuspruch gegeben hat, war die Aufhebung der Leibeigenschaft: s. Nachricht von einem Dänischen […] Landmanne (s. Anm. 77), S. 145f. Ansonsten galt dem dänischen Staat, so wie er ihn von 1750 bis 1770 kannte, seine »ethische Anerkennung« (so zusammenfassend Hurlebusch: Dänemark [s. Anm. 77], S. 236). 104 ›Unsre verlorene Freyheit‹, GR1, S. 134 (nach Tacitus’ Germania 11f.). 105 Schlumbohm: Freiheit (s. Anm. 20), S. 42–48, 52f., 67–69. Friedrich Carl von Moser: Von dem Deutschen National-Geist. s.l. 1765; ders.: Patriotische Briefe. s.l. 1767. Klopstocks Interesse an reichsstädtischen Verfassungen ist belegt, vgl. Karl August Böttiger: Klopstock, im Sommer 1795. Ein Bruchstück aus meinem Tagebuche. In: Minerva. Taschenbuch für das Jahr 1814. Leipzig 1814, S. 313–352, hier S. 337f. Zum »historisch-ständische[n]« im Gegensatz zum »aufgeklärt-gesetzesstaatlichen[n]« Modell siehe Rudolf Vierhaus: ›Patriotismus‹ – Begriff und Realität einer moralischpolitischen Haltung. In: Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften. Hg. von dems. München 1980, S. 9–29, hier S. 21; s. auch Werner Schneiders: Die Philosophie des aufgeklärten Absolutismus. Zum Verhältnis von Philosophie und Politik, nicht nur im 18. Jahrhundert. In: Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung. Hg. von Hans Erich Bödeker und Ulrich Herrmann. Hamburg 1987, S. 32–52, hier S. 34f.

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abhängigkeit‹. In diesem Sinne hat Hermann seinen Sieg über die römischen Legionen »[f]ür die Freyheit« erfochten, denn dieser war es, der »gemacht [habe], daß wir unerobert geblieben sind«.106 Eine solche Freiheitsliebe richtete sich nicht nach innen, sondern nach außen. Seine Freiheit konnte man nur bewahren, wenn man darüber wachte, dass zum Eigenen von außen nichts hinzukam. Hier war ›Freiheit‹ also ein nationalistisch aufgeladener Begriff. 107 Die Art von Freiheit, die Mauvillon meinte, die individuelle der Meinungsäußerung, war ihm dagegen eher suspekt; vor allem in den Niederungen des belletristischen, aber auch des sonstigen wissenschaftlichen und besonders auch politischen Journalismus, musste man alles unternehmen, sie in Zaum zu halten. Die Deutsche Gelehrtenrepublik ist der Ausdruck sowohl für Klopstocks Patriotismus als auch für diesen (nicht nur wissenschafts-)politischen Ordnungswillen. In beiden Belangen steht er am Anfang einer eher unseligen deutschen Tradition, die freilich in anderen Ländern ihre parallelen und ebenso wenig erfreulichen Entsprechungen hat. Klopstock und Mauvillon stehen Mitte der 1770er Jahre also in entgegengesetzten Lagern. Es muss daher erstaunen, sie 1789 als Parteigänger der Französischen Revolution auf derselben Seite zu sehen. Widerspricht das nicht der obigen Darstellung? Ist sie dadurch vielleicht sogar widerlegt? Die ganze Problematik kann hier nicht entwickelt werden. Ein paar abschließende Bemerkungen müssen genügen, um wenigstens dem zunächst befremdlichen Befund einen anderen Aspekt zu geben. Für die, die in der Deutschen Gelehrtenrepublik ein »antifeudale[s], antiabsolutistische[s], oppositionelle[s]« Werk sehen, ist es natürlich leicht, sich Klopstocks Parteinahme für die Französische Revolution zu erklären.108 Dass diese Charakterisierung der Gelehrtenrepublik unhaltbar ist, habe ich hier und anderswo plausibel zu machen versucht.109 Man muss sich dem Problem also von der anderen Seite nähern: Was konnte ein Beobachter, der so fest in der ständischen Ordnung verwurzelt war wie Klopstock, an Positivem in der Französischen Revolution erkennen? Der Begriff der ›Französischen Revolution‹ selbst ist dabei ein Hindernis. Er bündelt eine Reihe von Ereignissen, die sich dem Zeitgenossen einzeln und in der Serie darstellten. So können wir bei Klopstock bei genauerer Untersuchung verfolgen, dass er wohl die Einberufung der États Géneraux 1788, die Formierung der Assemblée Nationale von 1789, und ihre ersten Dekrete, vor allem den Beschluss, || 106 Zuschrift an den Kaiser in Klopstock: Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne. Hamburg, Bremen 1769, S. *2r. 107 Vgl. Schlumbohm: Freiheit (s. Anm. 20), S 69–73 (»Nationale Relativierung des Begriffs der ›Freiheit‹«). 108 Helmut Pape: Klopstock und die Französische Revolution. In: Euphorion 83 (1989), S. 160–195, hier S. 165. 109 Siehe den in Anm. 23 genannten Aufsatz.

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keine Eroberungskriege zu führen, begrüßte, und dass er sich von einer konstitutionellen Monarchie eine Wiedergeburt Frankreichs mit Vorbildfunktion für Deutschland erhoffte.110 Auch wenn es zu Exzessen kam, waren sie damit zu entschuldigen, dass das Volk »ein wenig […] taumeln« durfte »beym Wollustmale [!] der Freyheit«.111 Doch mit dem Aufstieg der Jakobiner war es mit der Parteinahme vorbei.112 Klopstock verhielt sich also nur so lange zustimmend, als es den Revolutionären darum ging, die Verhältnisse zwischen den Ständen zu justieren113 und die Machtverteilung zwischen Monarchen und Volk konstitutionell neu zu ordnen. Alles Radikalere lehnte er ab. Und Mauvillon?114 In Braunschweig zählte er zusammen mit Campe zu den notorisch »Französisch-gesinnten«, die sich einige ihrer Mitbürger an die »Laterne« wünschten.115 Als es dort ungemütlich wurde, hat er sich im Herbst 1793, kurz vor seinem Tod, zu einem längeren Aufenthalt nach Hamburg und Altona begeben.116 Klopstock hat er, soweit bekannt ist, keinen Besuch abgestattet. Stattdessen hat er mit den dortigen Demokraten verkehrt.117 Elisa von der Recke hat uns einen Bericht hinterlassen: Mauvillon und Reichardt118 besuchten mich gestern. Gespräche über die französische Revolution verschlingen alle andre gesellschaftliche Unterhaltung und bringen gewissermaßen Einseitigkeit des Geistes hervor […]. Sobald man nicht ganz enthusiastisch Demokrat ist, völlige

|| 110 Vgl. die Oden Die Etas Generaux (1788); Ludewig der Sechzehnte (1789); Sie, und nicht wir (1790) in: Klopstock: Oden (s. Anm. 103), S. 455, S. 458, S. 468f. 111 An Cramer, den Franken (1790), ebd., S. 470f., hier S. 470. 112 Die Jakobiner (1792), ebd., S. 475. 113 Träume (1790), ebd., S. 466f., hier S. 467. Vgl. Schlumbohm: Freiheit (s. Anm. 20), S. 136f. 114 Vgl. Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 24), S. 222–239; ders.: Politisches Engagement im Zeichen der Aufklärung – am Beispiel des Schriftstellers Jakob Mauvillon. In: Aufklärung als Politisierung (s. Anm. 105), S. 196–210. 115 Briefe von und an Joachim Heinrich Campe. Hg. von Hanno Schmitt. 2 Bde. Wiesbaden 1996– 2007, Bd. 2 (2007), S. 294f. 116 Christian Friedrich von Blanckenburg an Friedrich Nicolai, 8. Juli 1793. In Sigrid Habersaat: Verteidigung der Aufklärung. Friedrich Nicolai in religiösen und politischen Debatten. 2 Bde. Würzburg 2001. Teil 2: Editionsband. Friedrich Nicolai (1733–1811) in Korrespondenz mit Johann Georg Zimmermann (1728–1795) und Christian Friedrich von Blanckenburg (1744–1796). Edition und Kommentar, S. 247. 117 Siehe den Brief von Luise Mauvillon an unbekannt, 22. [Januar 1794], Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Handschriftensammlung CS 6: Mauvillon. Genannt werden Heinrich Christoph Albrecht (1762–1800) und Johann Christoph Unzer (1747–1809). Vgl. Walter Grab: Leben und Werke norddeutscher Jakobiner. Stuttgart 1973, S. 38, S. 46, S. 70–77. 118 Johann Friedrich Reichardt (1752–1814). Vgl. Karl August Böttiger an Joachim Heinrich Campe, 31. Januar 1794: »Man sagte, [Mauvillon] sey zum Jacobinerklub nach Hamburg gegangen, wo […] Kapellmeister Reichard Soufleur sey« (Briefe von und an Joachim Heinrich Campe [s. Anm. 115], Bd. 2, S. 341).

Jakob Mauvillons radikalaufklärerische Kritik an Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik | 453

Gleichheit des Standes und der Güter eingeführt zu sehen hofft, so wird man von dieser Partie für Aristokrat, das heißt in ihrer Sprache: eigensüchtiger Teufel, gehalten.

Und von Mauvillon glaubte sie sicher zu wissen, dass er eine »Demokratie« nach französischem Zuschnitt errichten wollte.119 Um dieses Ziel zu erreichen, wäre ihm wohl auch ein gewaltsamer Umsturz recht gewesen. 1791 rief er in einem Brief an einen Freund aus: »Gott erhalte die Französische Revolution […] es [wird] keine zehen Jahre währen […], so lodert die Revolutionsflamme in ganz Deutschland«.120 Die Frage wäre nur, welche Vorstellungen und Hoffnungen im einzelnen Mauvillon mit der Französischen Revolution verband, und welche seiner eigenen Bestrebungen er darin wiedererkannte. Nach seinen z. T. oben dargestellten, z. T. anderweitigen Meinungen vor 1789 zu urteilen dürften mit Sicherheit die Trennung von Staat und Kirche, die Trennung von Kirche und Erziehungswesen,121 die Pressefreiheit und damit die Parteienbildung in einer vom Staat unabhängigen politischen Öffentlichkeit, die Handels- und Gewerbefreiheit, und der Abbau der Steuerlasten dazu gehört haben. Die gemeinsam mit Honoré Gabriel Riquetti de Mirabeau erarbeitete Monarchie Prussienne (1788) stellte am Vorabend der Revolution ein entsprechendes, sowohl an die Adresse Preußens als auch Frankreichs gerichtetes Reformpaket vor.122 Der 1789 zum Revolutionsführer avancierte Mirabeau hielt dann bis zu seinem Tod im Jahre 1791 Mauvillon über die Ereignisse in Frankreich auf dem laufenden, und konnte sich dabei des Beifalls seines deutschen Freundes sicher sein.123 Die Konstante in Mauvillons publizistischem Engagement vor und nach 1789 war sein Eintreten für »bürgerliche, […] religiöse, […] litterärische, […] Handlungsund […] Industrie-Freyheit«.124 Seine Gedanken darüber, wie diese am besten zu gewährleisten waren, konnte er in seinen letzten Jahren, auf dem Höhepunkt der Revolution, an den jungen Benjamin Constant weitergeben, der (mit Unterbrechungen) von 1788 bis 1794 in Braunschweig ansässig war. Über Constant, der erkanntermaßen seine Grundsätze im Umgang mit Mauvillon ausbildete, konnte dieser einen

|| 119 Elisa von der Recke: Mein Journal. Elisas neu aufgefundene Tagebücher aus den Jahren 1791 und 1793/95. Hg. von Johannes Werner. Leipzig 1927, S. 137f. 120 Mauvillon an Ernst Wilhelm Cuhn, 13. Mai 1791. In: Eudämonia, Bd. 2 (1796), S. 431–434, hier S. 433f. Vgl. Selma Stern: Ein Kampf um die Pressefreiheit in Braunschweig zur Zeit der französischen Revolution. In: Jahrbuch des Geschichtsvereins für das Herzogtum Braunschweig 14 (1915/16), S. 18–76, hier S. 28; Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 24), S. 231f. 121 Vgl. Verf.: Neology vs. radical Enlightenment (s. Anm. 69). 122 Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 24), S. 80–82 und S. 245–276. 123 Lettres du comte de Mirabeau à un de ses amis en Allemagne. Hg. von Jakob Mauvillon. s.l. 1792. Deutsche Fassung: Briefe des Grafen von Mirabeau (s. Anm. 92). 124 Jakob Mauvillon: Vorbericht. In: Briefe des Grafen von Mirabeau (s. Anm. 92), S. XXX.

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bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung des politischen und wirtschaftlichen Liberalismus in Europa ausüben.125 Die spätere Forschung hat in Mauvillon denn auch einen ›Proto-Liberalen‹ erkannt.126 Danach wird man auch seine Parteinahme für die Französische Revolution einschätzen müssen, und an den Ausfällen der konterrevolutionären Zeitgenossen, die ihn als Drahtzieher einer europaweiten Verschwörung gegen Religion und monarchische Ordnung verteufelten, die entsprechenden Abstriche machen.127 So oder so macht diese kurze Bilanz klar, dass der Unterschied zwischen Klopstock und Mauvillon auch nach 1789 weiterbestand. Klopstocks Begeisterung anlässlich der französischen Begebenheiten verpuffte schnell. Mauvillon dagegen konnte mit der Revolution konkrete Reformpläne verbinden, die er Schritt für Schritt in den Jahren zuvor entwickelt hatte. Die Bedingung aller Reformen aber war eine durch unbeschränkte Pressefreiheit und vorurteilsfreien Gedankenaustausch mit anderen Ländern konstituierte politische Öffentlichkeit. Für diese Belange trat Mauvillon lange vor der Französischen Revolution ein. Alle ständischen Ordnungsprinzipien und alle autarkischen Bestrebungen, wie sie Klopstock in der Deutschen Gelehrtenrepublik propagierte, musste er daher ablehnen. Das eine, die ›gute Policey‹ des Ständestaats, war eine Erblast, die abzuschütteln war. Das andere, den im Entstehen begriffenen Nationalismus, musste man möglichst im Keim ersticken. Mauvillons Kritik an Klopstock macht mit seltener Deutlichkeit sichtbar, wo die radikale Aufklärung Stellung bezog, und wo sie vielleicht auch heute noch eine Aufgabe vor sich hat.

|| 125 Kurt Kloocke: Benjamin Constant. Une biographie intellectuelle. Genf 1984, S. 52–57; Martin Fontius: Constant und die Mauvillons. In: Benjamin Constant devant l’Allemagne et la critique allemande. Hg. von Kurt Kloocke. Lausanne, Paris 1989, S. 9–23, hier S. 11f. Constant wollte sogar Mauvillons Biographie schreiben (Kloocke, S. 55). 126 Ralph Raico: Die Partei der Freiheit. Studien zur Geschichte des deutschen Liberalismus. Übers. und bearb. von Jörg Guido Hülsmann, Gabriele Bartel und Pia Weiß. Stuttgart 1999, S. 18–22; Jürgen Riethmüller: Die Anfänge demokratischen Denkens in Deutschland. Demokratische Staatsphilosophie, Grundlegung einer demokratischen Verfassungstradition und Ausstrahlung auf die Unterschichten im ausgehenden 18. Jahrhundert. Neuried 2001, S. 272–280 (»Demokratie und Protoliberalismus bei J. Mauvillon [1743–1794]«). 127 Hoffmann: Jakob Mauvillon (s. Anm. 24); Augustin Barruel: Mémoires pour servir à l’histoire du jacobinisme. 5 Bde. Hamburg 1803, Bd. 5, S. 18, S. 61f., S. 226, S. 243; John Robison: Proofs of a Conspiracy Against All Religions and Governments of Europe, Carried on in the Secret Meetings of Free Masons, Illuminati, and Reading Societies. 3. Aufl. Philadelphia 1798, S. 204, S. 259, S. 271, S. 305.

| 6 Anhang

Zeittafel 8. März 1743

Jakob Mauvillon wird in Leipzig als Sohn des hugenottischen Schriftstellers, Übersetzers und kurfürstlichen Privatsekretärs Eléazar Mauvillon (geb. am 15. Juli 1712) und seiner Frau Marie geb. Marie Bonne le Jeune von Montant geboren; Besuch der Thomasschule in Leipzig (u. a. Unterricht bei dem evangelischen Theologen Johann August Ernesti)

1758

Umzug der Familie nach Braunschweig, wo sein Vater eine Anstellung als Französischlehrer erhält; Besuch des Collegium Carolinum (immatrikuliert am 7. September 1758); seine wichtigsten Lehrer sind Johann Arnold Ebert und Karl Christian Gärtner

1760

Eintritt in die Kurhannoverische Armee; nach zwei Jahren Beförderung zum Kondukteur

10. Juni 1763

Tod der Mutter

1764

Mitarbeit am Dictionnaire raisonne francois et allemand contenant toutes les expressions du bel usage

1765

Fähnrich im Ingenieurkorps; nach Teilnahme an drei Schlachten des Siebenjährigen Krieges Entlassung aus dem aktiven Militärdienst auf eigenen Wunsch; der Versuch einer Übersetzung der Briefe der Marquisin von Sevigne erscheint

25. Mai 1765

Mauvillon schreibt sich an der Universität Leipzig unter dem Rektorat des Prof. Anton Wilhelm Plaz ein, um Jura zu studieren

25. Juni 1766

Mauvillon verlässt Leipzig und wird Lehrer für Französisch und Italienisch am Pädagogium in Ilfeld, wo er Unzers älteren Bruder Johann Christoph unterrichtet; Freundschaftliche Erinnerung an die Kochische Schauspielergesellschaft in Leipzig erscheint in Hamburg

1767/68

erste Besuche bei der Familie Unzer in Wernigerode

1768

die Paradoxes moraux et littéraires erscheinen in Amsterdam

Sept. 1771

das erste Stück der ›Dichterbriefe‹ erscheint in Lemgo; Mauvillon begründet auf Betreiben des Lemgoer Verlegers Christian Friedrich Helwing (1725–1800) zusammen mit Karl Renatus Hausen (1740–1805) die Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen

https://doi.org/10.1515/9783110793611-018

458 | Zeittafel

Litteratur (20 Bde., 1772–1781), für die er bis 1778 etwa 150 Rezensionen schreibt Okt. 1771

Berufung zum Professor für Kriegsbaukunst am Collegium Carolinum in Kassel (auf Empfehlung von Rudolf Erich Raspe); freundschaftliche Beziehungen zu Christian Konrad Wilhelm Dohm (1751–1820)

Jan.–Juni 1772

Mauvillon gibt zusammen mit Raspe den Casseler Zuschauer heraus; das zweite Stück der ›Dichterbriefe‹ erscheint zur Ostermesse

1773

die Méditations sur la nature humaine sollen in Amsterdam erscheinen, wozu es aber nicht kommt

13. Juni 1773

Heirat mit Marie Luise Scipio (getauft am 7. August 1750, gest. am 23. September 1828) aus Arolsen

30. April 1774

Geburt des Sohnes Friedrich Wilhelm Mauvillon, der später ebenfalls eine militärische und publizistische Karriere ergreift (gest. am 29. Juni 1851); neben seiner Professur am Carolinum erhält er eine Stelle als Ingenieur für Wege- und Brückenbau

1774

Mauvillon betätigt sich als Übersetzer des Raynal’schen Monumentalwerkes Philosophische und politische Geschichte der Besitzungen und des Handels der Europäer in beyden Indien (7 Bde., 1774–1778) sowie von Turgots Untersuchung über die Natur und den Ursprung der Reichthümer (1775); das Examen des motifs à la vertu, tirés du principe de l’amour propre erscheint mit langen Anmerkungen von Mauvillon in Amsterdam

1775

Mitglied der Kasseler Freimaurer-Loge »Zum gekrönten Löwen«

März 1776

die Tochter Aspasie Justine Christiane Friederike, getauft am 27. März 1776, stirbt jung; ebenso eine zweite Tochter gleichen Namens, getauft am 23. Oktober 1778 (gestorben vor 1794)

April 1776

Reise nach Göttingen, wo er am 17. April in die dortige Loge »Zum goldenen Zirkel« aufgenommen wird

1776

die Sammlung von Aufsätzen über Gegenstände aus der Staatskunst, Staatswirthschaft und neuesten Staatengeschichte erscheint in 2 Bdn.; Mauvillon verfasst außerdem die Streitschrift Vom Patriotismus der Deutschen, in der er für das Philanthropin des Reformpädagogen Johann Bernhard Basedow (1724–1790) wirbt, sie erscheint 1777 anonym in Leipzig

Zeittafel | 459

1777/78

Übersetzung von Ariosts Orlando Furioso; Mauvillon veröffentlicht religionskritische und philosophische Aufsätze im Deutschen Museum (»Vom Genius des Sokrates« und »Ueber das Ich«), denen später militärwissenschaftliche Abhandlungen folgen

1778

Karl Friedrich Bahrdt (1740–1792) sucht Mauvillon als Mitarbeiter am 1777 neu gegründeten Philanthropin in Heidesheim zu gewinnen, was Mauvillon jedoch ausschlägt; währenddessen wird er in Kassel zum Hauptmann des Kadettenkorps ernannt und scheidet aus der Redaktion der Auserlesenen Bibliothek aus

30. Nov. 1778

Mauvillon trifft sich im Hause Dohms mit Georg Forster (1754– 1794), der ihnen von seiner Weltumsegelung als wissenschaftlicher Begleiter Captain Cooks berichtet

26. April 1779

Tod des Vaters Eléazar Mauvillon

1779–1793

Mitglied der Loge »Friedrich von der Freundschaft«, deren Redner er 1782 wird

1780

Mauvillon wird in die Gesellschaft der Altertumsforscher in Kassel aufgenommen; die Physiokratischen Briefe an Herrn Prof. Dohm erscheinen

März 1781

Mauvillon wird Novize des Illuminatenordens, bereits im Mai Minerval und im Juni 1781 Illuminatus Minor; er bleibt bis mindestens 1787 unter dem Ordensnamen Arcesilaus aktiv

28. Mai 1781

Geburt und Taufe (4. Juni) der Zwillinge Friedrich Wilhelm Ludwig Decimus, später Offizier in holländischen Diensten (gest. im Dezember 1801 in Naarden, NL), und Wilhelmine Catherina Friedericke Christiane, genannt »Minna« (gest. am 7. September 1862)

August 1782

Mauvillon begibt sich nach Potsdam, sein Gesuch um eine Anstellung im preußischen Heer wird jedoch von Friedrich II. abgewiesen

1783

Mauvillons Einleitung in die sämtlichen militärischen Wissenschaften erscheint; Freundschaft mit Rudolf Wilhelm von Kaltenborn; von Friedrich Nicolai erhält er das Angebot, für die Allgemeine deutsche Bibliothek zu rezensieren, welches er annimmt

6. Nov. 1784

Gründung der Loge »Zum Tempel der wahren Eintracht« in Kassel, bei der Mauvillon eine Einweihungsrede hält

460 | Zeittafel

21. Nov. 1784

Ernennung zum Major im Ingenieurkorps und Berufung zum Professor für Kriegswissenschaft und Kriegsbaukunst am Collegium Carolinum in Braunschweig

2. Febr. 1785

Eintritt in braunschweigische Dienste unter Herzog Karl Wilhelm Ferdinand

1785

die Dramatischen Sprüchwörter erscheinen und werden von Adolph von Knigge (1752–1796) in der Allgemeinen deutschen Bibliothek verrissen

Frühjahr 1786

Graf Mirabeau (1749–1791) reist von Berlin zurück nach Paris und trifft Mauvillon in Braunschweig, um mit ihm den Plan eines gemeinschaftlichen Werkes über den Preußischen Staat zu besprechen

1787

Mauvillons religionsphilosophisches Hauptwerk Das einzige wahre System der christlichen Religion erscheint in Berlin, ebenso seine Aufklärung über wichtige Gegenstände in der Freymaurerey

Juni 1787

Mirabeau besucht Mauvillon für mehrere Monate und erneut im Dezember 1787

18. Juni 1790

Beförderung zum Obristlieutenant

1790

in dem Pamphlet Doctor Bahrdt mit der eisernen Stirn wird die norddeutsche Aufklärungsbewegung denunziert und Mauvillon persönlich angegriffen; er vermutet fälschlich den Arzt und Gegner der Aufklärung Johann Georg Zimmermann (1728–1795) als Verfasser, tatsächlich stammt die Schrift aber von August Friedrich Ferdinand von Kotzebue (1761–1819)

19. Jan. 1791

Verhör von Mauvillon zur mutmaßlichen Verfasserschaft von Doctor Bahrdt mit der eisernen Stirn; am 22. Februar folgt dazu die schriftliche Aussage Mauvillons und am 21. März eine Verfügung des Braunschweigischen Kriegsgerichts gegen Mauvillon nach dem Eid Zimmermanns, er sei nicht der Autor der Schrift

März 1791

Des Herzoglich Braunschweigischen Ingenieur-Obristlieutenants Mauvillon gerichtliche Verhöre und Aussagen erscheinen in Braunschweig, ebenso die Schrift Mann und Weib nach ihren gegenseitigen Verhältnissen geschildert

1793

der erste von vier Bänden Von der Preußischen Monarchie unter Friedrich dem Großen erscheint, die anderen drei Bände folgen bis 1795

Zeittafel | 461

Sommer 1793

Beurlaubung vom Dienst, Reise zum Verleger Dyk nach Leipzig und weiter nach Hamburg, wo Mauvillon sich eine Erkältung zuzieht, von der er sich nie wieder ganz erholt

11. Jan. 1794

Mauvillon stirbt in Braunschweig

1794

die Geschichte Ferdinands, Herzogs von Braunschweig-Lüneburg (2 Bde.) erscheint posthum

1801

Mauvillons Briefwechsel wird von seinem Sohn Friedrich Wilhelm herausgegeben

Siglenverzeichnis AA

Kantʼs gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. (AA Band, Seitenzahl)

CPH

Christian August Crusius: Die philosophischen Hauptwerke. 4 Bde. Hg. von Sonia Carboncini und Reinhard Finster. Hildesheim 1964‒1987. (CPH Band, Seitenzahl)

FA

Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. 40 Bde. Hg. von Hendrik Birus u. a. Frankfurt a. M. 1989‒ 2013. (FA Band, Seitenzahl)

G

Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. 7 Bde. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Berlin 1875‒1890 [ND Hildesheim 1961]. (G Band, Seitenzahl)

GGS

Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe. Hg. von Bernd Witte. 7 Bde. Berlin, New York 1988‒2008. (GGS Band, Seitenzahl)

GGW

Christian Garve: Gesammelte Werke. 17 in 19 Bden. Hg. von Kurt Wölfel. Hildesheim, Zürich, New York 1985–2000. (GGW Band, Seitenzahl)

HT

David Hume: A Treatise of Human Nature. Ed. by David Fate Norton and Mary J. Norton. Oxford University Press 2000.

HW

Johann Gottfried Herder: Werke. 3 Bde. Hg. von Wolfgang Proß. Darmstadt 1984– 2002. (HW Band, Seitenzahl)

JBW

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel – Nachlaß – Dokumente. Hg. von Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen. Stuttgart 1981ff. (JBW Band, Seitenzahl)

JWA

Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke. Hamburg, Stuttgart 1998ff. (JWA Band, Seitenzahl)

LPS

Johann Heinrich Lambert: Philosophische Schriften. 10 Bde. Begonnen von Hans Werner Arndt, fortgeführt von Lothar Kreimendahl. Hildesheim 1965–2008 sowie 2 Suppl.-Bde. Hildesheim 2020 [Johann Heinrich Lamberts Monatsbuch. Neu hg., eingel., komment. und mit Verzeichnissen zu Lamberts Schriften, Briefen und nachgelassenen Manuskripten versehen von Niels W. Bokhove und Armin Emmel]. (LPS, Band, Seitenzahl bzw. LPS Suppl., Band, Seitenzahl)

LW

Gotthold Ephraim Lessing: Werke in 8 Bänden. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. München 1970‒1979 [Darmstadt 1996]. (LW Band, Seitenzahl)

MGS

Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. von Alexander Altmann, Michael Brocke, Eva J. Engel und Daniel Krochmalnik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1972ff. (MGS Band, Seitenzahl)

https://doi.org/10.1515/9783110793611-019

464 | Siglenverzeichnis

SSW

Baruch de Spinoza: Sämtliche Werke Lateinisch-deutsch. Hg. von Wolfgang Bartuschat u. a. Hamburg 1982ff. (SSW Band, Seitenzahl)

TAW

Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Nachdruck der Originalausgaben. Hg. von Werner Schneiders und Frank Grunert. Hildesheim, Zürich, New York 1993ff. (TAW Band, Seitenzahl)

WGW

Christian Wolff: Gesammelte Werke. Nachdruck der Originalausgaben. Hg. von Jean Ecole u. a. Hildesheim, Zürich, New York 1965ff. (WGW Abteilung, Band, Seitenzahl)

WOA

Christoph Martin Wieland: Werke. (Oßmannstedter Ausgabe.) Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma. Berlin, New York 2008ff. (WOA Band, Seitenzahl)

WP

Werkprofile. Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. von Frank Grunert, Stefan Klingner, Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin, New York 2011ff. (WP Band, Seitenzahl)

Bibliographie ABL = Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur. Lemgo. AdB = Allgemeine deutsche Bibliothek. Berlin, Stettin. ALZ = Allgemeine Litteraturzeitung. Jena. NAdB = Neue Allgemeine deutsche Bibliothek. Berlin, Stettin.

Monographien [anonym:] Freundschaftliche Erinnerung an die Kochische Schauspielergesellschaft in Leipzig. Hamburg 1766. [anonym:] Paradoxes moraux et littéraires. Amsterdam 1768. [anonym; mit Ludwig August Unzer:] Ueber den Werth einer Deutschen Dichter und ueber andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel. 2 Stücke. Frankfurt a. M., Leipzig [Lemgo] 1771/72. [anonym:] Vom Patriotismus der Deutschen. s.l. [Leipzig] 1776. Sammlung von Aufsätzen über Gegenstände aus der Staatskunst, Staatswirthschaft und neuesten Staatengeschichte. 2 Thle. Leipzig 1776/77. Physiokratische Briefe an Herrn Prof. Dohm oder die Verteidigung und Erläuterung der wahren staatswissenschaftlichen Gesetze, die unter dem Namen des physiokratischen Systems bekannt sind. Braunschweig 1780 (reprint: Königstein/T. 1979). Essai sur l’influence de la poudre à canon dans l’art de la guerre moderne. Dessau 1782, 2. Aufl. Leipzig 1788. Discours pour la célébration du jour anniversaire de Son Altesse Sérénissime le Landgrave régnant de Hesse, prononcé le 14 août dans la loge Frédéric de l’amitlié par le frère Mauvillon, Orateur de la dite Loge. Kassel 1782. Einleitung in die sämmtlichen militärischen Wissenschaften für junge Leute, die bestimmt sind, als Officiere zu dienen. Braunschweig 1784 [schon 1783 erschienen]. Essai historique sur l’art de la guerre pendant la guerre de trente ans. Kassel 1784, 2. Aufl. Braunschweig 1789. [anonym:] Einweihungs-Rede in der Loge zum Tempel der wahren Eintracht zu Cassel, gehalten den 6. des 11. 5784 [1784], abgefaßt nach dem eclectischen Ritual von Mauvillon. Wetzlar 1784. [anonym:] Dramatische Sprüchwörter. Ein Beitrag zum gesellschaftlichen Vergnügen in Deutschland. Leipzig 1785, 2. Aufl. 1790 (ND Braunschweig 1978). [anonym:] Aufklärung über wichtige Gegenstände in der Freymaurerey, besonders über die Entstehung derselben. Aus der Loge Puritas 1787. [anonym:] Das einzige wahre System der christlichen Religion. Berlin 1787. [anonym:] Der entlarvte Charlatan, oder Abentheuer und Thaten des Grafen von Cagliostro mit einem Briefe des Grafen von Mirabeau [d. i. Jakob Mauvillon]. Frankfurt a. M. [Lübeck] 1787. [anonym:] Principes de la tactique actuelle de l’infanterie des troupes les plus perfectionnées, avec des considérations sur les particuliarités de la tactique de la cavalerie. s.l. 1788 [zugl. in: Comte de Mirabeau: Systême Militaire de La Prusse. Londres 1788, S. 247–424]. [anonym:] Observations d’un vrai Républicain sur la Révolution des Provinces-unies. Londres 1788. [anonym:] Sendschreiben an den Hn. P. Bartels, wegen dessen Schrift: Über den Werth und die Sittenlehre Jesu, von dem Verfasser des einzigen wahren Systems der christlichen Religion. Braunschweig 1789.

https://doi.org/10.1515/9783110793611-020

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Des Herzoglich Braunschweigischen Ingenieur-Obristlieutenants Mauvillon gerichtliche Verhöre und Aussagen, den Verfasser der Schrift: Bahrdt mit der eisernen Stirn, betreffend. Braunschweig 1791. [anonym:] Mann und Weib nach ihren gegenseitigen Verhältnissen geschildert. Leipzig 1791. Geschichte Ferdinands, Herzogs von Braunschweig-Lüneburg. 2 Bde. Leipzig 1794. Geschichte und Darstellung des brandenburgischen und preussischen Soldatenwesens bis zur Regierung Friedrich Wilhelm II. Aus der franz. Handschrift nach dem Tode des Verfassers, übers. von F. von Blankenburg. Leipzig 1796.

Herausgeberschaften Grundsätze der neuern Infanterietaktik der geübtesten Truppen gegenwärtiger Zeiten, nebst einem Anhange über Cavallerietaktik und derselben besondere Eigenheiten. Nach der franz. Originalausgabe des Mirabeauschen Werks: sur la Monarchie Prusienne, bearb. von Jakob Mauvillon, besonders übers. von Isaak Heinrich Malherbe. Meißen 1792. Von der Preußischen Monarchie unter Friedrich dem Großen. 4 Bde. Braunschweig, Leipzig 1793– 1795.

Beiträge in Zeitschriften und anderen Publikationen Nachricht an das Publicum, wegen einer Übersetzung der neuerlich herausgekommenen Historie philosophiere & politiere du Commerce & des Etablissement des Europäers aux deux Indes. In: Wöchentliche Nachrichten von gelehrten Sachen. Regensburg 1774, 1. Stück, S. 2–4. Litterarische Entdeckung. In: Deutsches Museum 1776, 2. Bd., 8. St., S. 811-832. Vom Genius des Sokrates, eine philosophische Untersuchung. In: Deutsches Museum 1777, 1. Bd., 6. St., S. 481–510. Brief an den Herausgeber des Museums über eine militärische Erfindung. In: Deutsches Museum 1777, 2. Bd., 8. St., S. 146–153 (nachgedruckt in: Bellona. Ein militärisches Journal, 4. St., Dresden 1782, S. 83–89). Bemerkungen über die Parallel des Genius Sokratis mit den Wundern Christi, von D. Gottfried Leß. Von dem Verf. der Untersuchung über den Genius des Sokrates. In: Deutsches Museum 1777, 2. Bd., 10. St., S. 310–324. Ueber das Ich. In Briefen an Hrn. Prof. Tiedemann. In: Deutsches Museum 1778, 1. Bd., 2. St., S. 155–161, 3. St., S. 254–261; 2. Bd., 1778, 11. St., S. 395–419. Verhör und Vortrag der Westindischen Pflanzungenbesitzer im Unterhause, ihre Bitschrift wegen der amerikanischen Unruhen betreffend, und Glovers Rede, mitgetheilt aus dem Partliamentary Register for 1775. In: Christian Wilhelm Konrad Dohm: Materialien für die Statistik und neuere Staatengeschichte. 1. Lfg. Lemgo 1777, S. 525–576. Von der Unterhaltung zahlreicher Truppen und den daraus entspringenden Folgen, besonders in Rücksicht auf die Fürsten des deutschen Reichs. In: Magazin der Regierungskunst, der Staatsund Landwirthschaft, 1. St., Leipzig 1775, S. 183–242; 2. St., Leipzig 1778, S. 215–244. Schreiben an den Herausgeber der Frankfurter gelehrten Anzeigen [über den Erfurter Rezensenten der Theorie des Paradoxen]. In: Frankfurter gelehrte Anzeigen 1778, Nr. 84/85, 20./23.10.1778, S. 676–678. Bemerkungen auf einer Reise von St. Petersburg nach der Krim im J. 1771, vom Herrn v. –, der den Feldzug bei der dortigen russischen Armee als Freiwilliger that. Aus den Papieren herausgezo-

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gen durch (Hauptmann) M(Mauvillon). In: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur. Hg. Von G. C. Lichtenberg und G. Forster. 1. Jg., 4. St. Göttingen 1780, S. 92–116 und S. 227–247. Schreiben des Herrn *** an einen Freund in Gotha, über die Grosmannsche Schauspielergesellschaft und ihre Vorstellung in Cassel. In: Literatur- und Theater-Zeitung, Nr. 25, Berlin 1783, S. 385–389 und Nr. 26, S. 401–413. Versuch einer kurzen Geschichte der Kriegskunst im dreyßigjährigen Kriege. In: Historisches Portefeuille, 1. Bd., 4. St., 1783, S. 425–462, 5. St., S. 616–642, 6. St., S. 774–785. Nachrichten von den Heßischen Samt-Hospitalien, besonders dem Kloster Marxhausen. In: Journal von und für Teutschland 1784, 1. St., S. 29–36 [nachgedruckt in: Neue Reisebemerkungen in und über Deutschland. 3. Bd. Halle 1787, S. 61–74]. Schreiben über einen seltsamen Bußprediger. In: Journal von und für Teutschland 1784, 10. St., S. 225–227 [auch unter dem Titel: Nachricht wegen eines predigenden Korbmachers zu Buhlen bey Waldeck]. Betrachtungen über die Regierungsformen bei Gelegenheit der Waserischen Hinrichtung in Zürch, und dessen was Hr. Prof. Meiners in seiner Reisebeschreibung davon sagt. In: Deutsches Museum 1785, 2. Bd., 10. St., S. 338–361. Betrachtungen über die Schlacht bey Wilhelmsthal im Jahre 1762. In: Militärische Monatsschrift, 2. Bd., 1785, S. 444–457. [Stiftungsbrief des Eklektischen Freimaurerbundes. Bearb. von Johann Karl Brönner. Unterzeichnet:] Simon Friedrich Küstner jun., Christian Wilhelm Rotberg. [Dat.] Frankfurt, Wezlar 18. und 21.3.1783. In: Bruchstücke zur Geschichte der deutschen Freymäurerey. Gesammelt von Erich Servati, an seinen Freund in W***. Basel 1787, S. 494–507; Übers. der frz. Fassung in: Ephemeriden der gesammten Freimaurerei Deutschland. Auf das Logenjahr 5785 (1785), S. 82–91. Bemerkungen über eine Recension des Essai historique sur l’art de la guerre pendant la guerre vom Verfasser dieser Schrift. In: Militärische Monatsschrift 1786, 3. Bd., 3. St., S. 299–311. Fragment aus einem größern Werke*, worinnen die wichtigsten Verhältnisse des Menschen betrachtet werden, und welches binnen Jahr und Tag erscheinen dürfte. In: Deutsches Museum 1786, 2. Bd., 9. St., S. 214–240 [* Ueber die Natur und die Grundsäze einer wahren Moral – entspricht mit wenigen Änderungen dem Kapitel 20 von Das einzige wahre System der christlichen Religion, S. 335–357: »Abschweifung über die Natur und die Grundsätze einer wahren, vernunftmäßigen Moral«]. Ueber die Art, Truppen so zu bilden, daß sie sogleich im Felde brauchbar sind. In: Militärische Monatsschrift 1786, 3. Bd., 6. St., S. 517–542. Brief des Verfassers der Militärgeschichte der Feldzüge von 1745, 46 und 47 in den österreichischen Niederlanden, dieses Werk betreffend, an den Verfasser desselben. In: Militärische Monatsschrift 1786, 4. Bd., unpag. [S. 619–626]. Wie denkt Graf Mirabeau über die französischen Parlamente? In: Berlinische Monatsschrift 1788, 12. Bd., 11. St., S. 459–465. Sociétés secrètes. In: Honoré-Gabriel de Riquetti Comte de Mirabeau: De la monarchie prussienne, sous Frédéric le Gand. Tome 3. Londres 1788, S. 464–490 (Quartausgabe); Tome 5. Londres 1788, S. 58–96 (Oktavausgabe). Illuminés en Bavière. In: Honoré-Gabriel de Riquetti Comte de Mirabeau: De la monarchie prussienne, sous Frédéric le Gand. Tome 3. Londres 1788, S. 490–499 (Quartausgabe); Tome 5. Londres 1788, S. 96–110 (Oktavausgabe). [Selbstbiographie.] In: Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten und Schriftsteller Geschichte. Bd. 8. Kassel 1788, S. 295–303. An den Herausgeber der Allg. Lit. Zeitung. In: Intelligenzblatt der ALZ 1788, Nr. 39, Sp. 343f. Berichtigung. In: Intelligenzblatt der ALZ 1788. Nr. 66, Sp. 556.

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Ist Graf Mirabeau Verfasser einer gewissen berüchtigten Schrift? An die Herren Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift. In: Berlinische Monatsschrift 1789, 13. Bd., 2. St., S. 168–170. Brief des Grafen von Mirabeau an den Herrn Grafen von ****. Betreffend die Lobrede des Herrn von Guibert auf Friedrichen und den allgemeinen Versuch über die Taktik desselben Verfassers. In: Neues militärisches Journal 1790, 3. Bd., 5. St., S. 1–48. Erklärung, daß er mit Malherbes Uebersetzung seiner dem Mirabeauschen Werke angehängten Taktik nichts zu schaffen habe. In: Intelligenzblatt der ALZ 1790, Nr. 144, 3.11.1790, Sp. 1191. Schreiben eines jungen Selbstdenkers an seinen ehemaligen Lehrer über Herrn D. Leß Entwurf eines philosophischen Kursus der christlichen Religion. In: Braunschweigisches Journal 4 (1791), 2. St., Februar 1791, S. 113–194. [Erklärung, Braunschweig, den 22. April 1791.] In: Intelligenzblatt der ALZ 1791, Nr. 77, 18.6.1791, Sp. 640f. Ankündigungen neuer Bücher. Die Fortsetzung der Uebersetzung des Werks: de la Monarchie Prussienne sous Frederic le Grand, betreffend. In: Intelligenzblatt der ALZ 1791, Nr. 111, 10.9.1791, Sp. 907–909. Die Fortsetzung der Uebersetzung des Werks de la Monarchie prussienne sous Fréderic le Grand betreffend. In: Gothaische gelehrte Zeitungen auf das Jahr 1791, Beylage zum 78. St., 1.10.1791, S. 747f. Schreiben des jetzigen Thorschreibers zu G. vormahligen Kandidaten der Theologie an den jungen Selbstdenker, über dessen Aufsatz, betreffend des Herrn Doctor Leß’ Entwurf eines philosophischen Kursus der christlichen Religion. In: Braunschweigisches Journal, 4. Bd. (1791), 10. St., S. 129–175. Aergerniß. In: Braunschweigisches Journal, 4. Bd. (1791), S. 465‒471. Kurze Erinnerung gegen eine lange Rezension. In: Litterarische Denkwürdigkeiten. Neue Leipziger gelehrte Anzeigen. 9. Beylage, 1.5.1792, S. 73–78. [Beantwortung des Briefs eines Ungenannten vom 24. Februar 1792, Braunschweig, 12. März 1792.] In: Intelligenzblatt der ALZ 1792, Nr. 40, 28.3.1792, Sp. 328. Schreiben des Obristlieutenants Mauvillon an den Hrn. Professor Aloysius Hoffmann zu Wien über dessen Aufsatz. In: Schleswigisches Journal 1792, 1. Bd., 3. St., S. 336–383. Abriss der Begebenheiten des allgemeinen Krieges der spanischen Erbfolge. In: Historischer Kalender für das Jahr 1794. Abschnitt II. Leipzig 1794. Die Kriegswissenschaften. In: Georg Simon Klügel: Encyclopädie, oder zusammenhängender Vortrag der gemeinnützigsten, insbesondere aus Betrachtung der Natur und des Menschen gesammelten Kenntnisse. 2. Ausg., 4. Thl. Berlin 1794, S. 137–238.

Übersetzungen [gemeinsam mit Eléazar Mauvillon:] Nouveau Dictionnaire des Passagers François-Allemand et Allemand-François / Neues Frantzösisch-Teutsches und Teutsch-Frantzösisches Wörterbuch. Worinnen alle Frantzösische Wörter, auch der Künste und Wissenschaften, aus den vollkommensten und neuesten Dictionariis, nebst den nöthigsten Constructionen und Redens-Arten, durch kürtzlich gezeigte Etymologie, und durch das gebräuchliste, auch reineste Teutsche erkläret worden. Hg. von Johann Leonhard Frisch. Aufs neue vermehret und verbessert von Mr. Mauvillon. Leipzig 1761. Versuch einer Übersetzung der Briefe der Marquisin von Sevigne, mit historischen und critischen Erläuterungen von Mauvillon, dem Sohn. Braunschweig, Hildesheim 1765.

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Examen des motifs à la vertu, tirés du principe de l’amour propre. Amsterdam 1774 [Kommentierte Übersetzung von Gotthilf Samuel Steinbart: Prüfung der Bewegungsgründe zur Tugend, nach dem Grundsatze der Selbstliebe. Berlin, Züllichau 1770]. Philosophische und politische Geschichte der Besitzungen und des Handels der Europäer in beyden Indien. Aus dem Franz. (des Abbé Raynal) mit einigen Verbesserungen und Anmerkungen, 7 Thle. Hannover 1774–1778. Untersuchung über die Natur und den Ursprung der Reichthümer und ihrer Vertheilung unter den verschiedenen Gliedern der bürgerlichen Gesellschaft. Aus dem Franz. des Hrn. Turgot übersetzt. Lemgo 1775. Ariosts wüthender Roland. Aus dem Italienischen übersetzt, 4 Thle. Lemgo 1777/78. Pas plus de six plats. Par Gustav Friedrich Wilhelm Großmann. Paris 1781. Zoolologie géographique. Premier Article, l’Homme, par Mr. Eberhard August Guillaume [Wilhelm] Zimmermann, Prof. d’hist. nat. à Bronsvic. Kassel 1784. Geschichte des Siebenjährigen Krieges. 1. Bd. 1785. Aus dem Engl. übers. i. A. des nominellen Herausgebers Georg Friedrich von Tempelhoff. ABC instruit pour apprendre auy Enfants les Éléments de la Langue Francäoise. Avec une préface par. J. H. Campe. Braunschweig 1789. Lettres du Comte de Mirabeau à un de ses amis en Allemagne, écrites durant les années 1786–1790. Brunsvic 1792; Briefe des Grafen von Mirabeau an einen Freund in Teutschland, geschrieben in den Jahren 1786 bis 1790. Braunschweig, Leipzig 1792. Der militärische Sophron an seine unerfahrne Kameraden; oder: Klugheitslehre für angehende Officiers, von dem alten preußischen Offizier, dem Verf. der Briefe über Friedrich den Großen [von Rudolf Wilhelm von Kaltenborn]. Leipzig 1792. Die Geschichte des Herrn von L***. von dem Verf. des militärischen Sophrons. 2 Thle. Leipzig 1791– 1793. Des Herrn Malouet Briefe über die Revolution. Aus dem Franz. übersetzt von J. Mauvillon. Leipzig 1793. Von der Preußischen Monarchie unter Friedrich dem Großen. Braunschweig, Leipzig 1793–1795. [Hg. und Übers.]

Mitarbeit an Zeitschriften Casseler Zuschauer. Kassel 1772 [unsignierte Beiträge]. Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur. Lemgo 1772–1781 [ab 5. Bd. Sigle 4., Mitarbeit bis 14. Bd. (1778), mit * gekennzeichneten Beiträge ohne Sigle vmtl. von Mauvillon]. Allgemeine deutsche Bibliothek. 117 Bde. Berlin, Stettin 1765–1806. Seit 1793 unter dem Titel Neue Allgemeine deutsche Bibliothek. 104 Bde. [AdB ab 58. Bd. Siglen: Pb. [Fraktur] Wk. [Antiqua] bis Bd. 86; La. [Fraktur], N. und Fpm. [Antiqua] ab Bd. 87; Fu. [Fraktur], V. [Antiqua] NAdB 1.‒14. Bd.]. Allgemeine Litteraturzeitung. Jena 1788–1790 [ab 1789]. Neues Militärisches Journal. Hannover 1788–1805.

Rezensionen * Michaelis, Johann Benjamin: Einige Briefe an die Hrn. Gleim und Jacobi. Halberstadt 1771. In: ABL 1 (1772), S. 98–101.

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Wieland, Christoph Martin: Dialogen des Diogenes von Sinope. Leipzig 1771. In: ABL 1 (1772), S. 101–105. [Garve, Christian:] Anmerkungen über Gellerts Moral, dessen Schriften überhaupt und Character. Leipzig 1772. In: ABL 1 (1772), S. 105–107. [Sophie von la Roche:] Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Hg. von Christoph Martin Wieland. 2 Thle. Leipzig 1771. In: ABL 1 (1772), S. 202–227. * Hausen, Karl Renatus: Versuch einer Geschichte des menschlichen Geschlechts. 1. Thl. Halle 1771. In: ABL 1 (1772), S. 227–274. Struensee, Karl August: Anfangsgründe der Kriegsbaukunst. 1. Thl. Leipzig, Liegnitz 1771. In: ABL 1 (1772), S. 297–299. * Feder, Johann Georg Heinrich: Logik und Metaphysik. 3. verm. Aufl. In: ABL 1 (1772), S. 395–407. * Frömmichen, Karl Heinrich: Briefe philosophischen Inhalts. Göttingen 1771. In: ABL 1 (1772), S. 407–419. * Sulzer, Johann Georg: Algemeine Theorie der schönen Künste. 1. Thl. Leipzig 1771. In: ABL 1 (1772), S. 419–432. Das Parterre. Hg. von Christian Heinrich Schmid. Erfurt 1771. In: ABL 2 (1772), S. 1–12. * Jacobi, Johann Georg: Einige Gedichte. Düsseldorf 1771. In: ABL 2 (1772), S. 12–14. * Gedichte. Bremen, Leipzig 1770. In: ABL 2 (1772), S. 14. * Musenalmanach auf das Jahr 1772. Göttingen. In: ABL 2 (1772), S. 14f. * Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1772. Leipzig. In: ABL 2 (1772), S. 15f. * Supplement zu dem Briefwechsel des verstorbenen Herrn Abbts. Aus dem Franz. übers. 1772. In: ABL 2 (1772), S. 16–18. * Des Herrn Geneté Practische Anweisung zu einer besondern Einrichtung der hölzernen horizontalen Brücke. Aus dem Franz. übers. [von Johann Lorenz Beckmann]. Strasburg 1772. In: ABL 2 (1772), S. 26–28. * Eberhard, Johann Peter: Vorschläge zur bequemen und sichern Anlegung der Pulvermagazine. Halle 1771. In: ABL 2 (1772), S. 39–43. * Rabener, Gottlieb Wilhelm: Briefe, von ihm selbst gesamlet, und nach seinem Tode nebst einer Nachricht von seinem Leben und Schriften hg. von Christian Felix Weiße. Leipzig 1772. In: ABL 2 (1772), S. 137–141. * Briefe von Herrn Boysen an Herrn Gleim. Frankfurt a. M., Leipzig 1772. In: ABL 2 (1772), S. 141–148. * Geßner, Salomon: Schriften. 5. Thl. [Zürich 1772]. In: ABL 2 (1772), S. 153–163. Lessing, Gotthold Ephraim: Trauerspiele [zu Emilia Galotti]. Berlin 1772. In: ABL 2 (1772), S. 163– 187. * Kant, Immanuel: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabnen. Riga 1771. In: ABL 2 (1772), S. 269–274. * Mendelssohn, Moses: Philosophische Schriften. 2 Thle. Berlin 1771. In: ABL 2 (1772), S. 275–281. * Philosophische Bibliothek. Hg. von Johann Tobias Sattler. 1.–3. Stück. Leipzig 1771. In: ABL 2 (1772), S. 284–287. * [Meiners, Christoph:] Revision der Philosophie. 1. Thl. Göttingen, Gotha 1772. In: ABL 2 (1772), S. 289–295. * Aussichten in die Ewigkeit. In Briefen an Herrn Johann George Zimmermann. 2 Thle. 2. Aufl. Zürich 1770. In: ABL 2 (1772), S. 296–298. * Meier, Georg Friedrich: Untersuchung verschiedener Materien aus der Weltweisheit. 4. Thl. Halle 1771. In: ABL 2 (1772), S. 298–300. * Weiße, Christian Felix: Kleine lyrische Gedichte. 3 Bde. Leipzig 1772. In: ABL 2 (1772), S. 463f. Wieland, Christoph Martin: Der goldne Spiegel, oder die Könige von Scheschian. 4 Thle. Leipzig 1772. In: ABL 3 (1773), S. 134–160.

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Zeitgenössische Rezensionen zu Publikationen von Mauvillon Freundschaftliche Erinnerung an die Kochische Schauspielergesellschft. In: Chronologie des deutschen Theaters. Hg. von Christian Heinrich Schmid. Leipzig 1775, S. 249. Paradoxes moreaux et littéraires. In: Neue Zeitungen von gelehrten Sachen, No. 90, Leipzig, 9.11.1769, S. 713f. Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter und ueber andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel. In: Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten, Nr. 188, 23.11.1771; Hallische Neue Gelehrte Zeitungen 6. Bd., 100. St., 12.12.1771, S. 794–796; [vermutl. Christian Heinrich Schmid:] Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1772, Leipzig 1771, S. 62f.; [Johann Georg Peter Möller:] Neue critische Nachrichten 8. Bd., 1. St., Greifswald 1772, S. 5–7; [Christoph Martin Wieland:] Erfurtische gelehrte Zeitung 4. St., 13.1.1772, S. 29–31 und 54. St., 6.7.1772, S. 444–447; Jenaische Zeitungen von Gelehrten Sachen 9. St., 31.1.1772, S. 79; [Christian Günther Rautenberg:] Neue Braunschweigische Zeitung, No. 20–23, 4., 6., 7. und 10.2.1772 [unpag.]; [Johann Wolfgang Goethe oder Johann Heinrich Merck:] Frankfurter gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772, 15. St., 21.2.1772, S. 117–119; Kayserlich-privilegirte Hamburgische Neue Zeitung 6. Jg., 38. St., 6.3.1772; Breslauische Nachrichen von Schriften und Schriftstellern 11. St., 21.3.1772, S. 81f.; Königsbergische gelehrte und politische Zeitungen 31. St., 17.4.1772, S. 121f.; Magazin der deutschen Critik 1. Bd., 1. Thl., Halle 1772, S. 297 und S. 338–341; Magazin der deutschen Critik 1. Bd., 2. Thl., Halle 1772, S. 198–200; Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten Nr. 130, 14.8.1772; Theologische Berichte von neuen Büchern und Schriften 96. St., Danzig 1772, S. 415–420, hier S. 419f.; [vermutl. Johann Wolfgang Goethe:] Frankfurter gelehrten Anzeigen vom Jahr 1772, 98. St., 8.12.1772, S. 781f.; [vermutl. Christian Heinrich Schmid:] Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1773, Leipzig 1772, S. 23f.; [Johann Christoph Unzer:] Neuer gelehrter Mercurius 1. Bd., 11. St., 18.3.1773, S. 86; [Johann Joachim Eschenburg:] AdB 19. Bd., 1. St., 1773, S. 34–56; [vermutl. Albrecht Wittenberg:] Beytrag zum Reichs-Postreuter 18. St., 4.3.1773 [unpag.]; Christian Heinrich Schmid: Litteratur der Poesie. 1. Thl. Leipzig 1775, S. 37f.; Christian Heinrich Schmid: Anweisung der vornehmsten Bücher in allen Theilen der Dichtkunst. Leipzig 1781, S. 18; Karl August Küttner: Charaktere teutscher Dichter und Prosaisten. 1. Bd. Berlin 1781, S. 247f. (Anm.); Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten. Hg. von Karl Heinrich Jördens. 2. Bd. Leipzig 1807, S. 84.

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neuer Bücher mit kurzen Anmerkungen. Nebst einem gelehrten Anzeiger auf das Jahr 1777, 2. Jg., 4. St., 1777, S. 296; Erfurter Gelehrte Zeitung 1777, S. 609; Jenaische Zeitungen von gelehrten Sachen 61. St., 1.8.1777, S. 527–533 und 75. St., 19.9.1777, S. 652–654; [Wilhelm Heinse:] Der Teutsche Merkur 4. Viertelj., 1777, S. 145–173; Königsbergische gelehrte und politische Zeitungen 97. St., 4.12.1777, S. 385–387; Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1778, S. 121f.; Gothaische gelehrte Zeitungen 92. St., 18.11.1778, S. 756f.; Allgemeines Verzeichniß neuer Bücher mit kurzen Anmerkungen 3. Jg. 1778, S. 290; [Johann Erich Biester:] AdB Anh. 25.–36. Bd., 5. Abt., 1780, S. 2990–2992; Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1779, S. 155f.; ABL 17, 1780, S. 83–100; [Nachricht des Verlegers Helwing:] Litteratur- und Theater-Zeitung 4. Jg., 2. Thl., Nr. 21, Berlin, 26.5.1781, S. 336. Vom Genius des Sokrates, eine philosophische Untersuchung (In: Deutsches Museum 1777). [Entgegnung von Gottfried Leß:] Parallel des Genius Sokratis mit den Wundern Christi. In: Deutsches Museum 2. Bd., 10. St., 1777, S. 302–310; Nürnbergische gelehrte Zeitung 62. St., 5.8.1777, S. 541; Litterarisches Correspondenzblatt (Heidesheim) 21. St., 20.6.1777, S. 164f. und [zu Leß] 90. St., 5.12.1777, S. 736; [Johann Georg Schlosser:] Ueber die Streitigkeit vom Genius des Sokrates. In: Deutsches Museum 1. Bd., 1. St., 1778, S. 71–76; [ders.:] Noch etwas über den Genius des Sokrates aus einem Briefe an B. In: ebd., S. 76–85; Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten 26.5.1778; Nürnbergische gelehrte Zeitung auf das Jahr 1778, 3. St., 9.1.1778, S. 17; [Johann August Eberhard:] In: AdB Anh. 25.–36. Bd., 4. Abt., 1780, S. 2307f.; [Johann Georg Schlosser:] AdB Anh. 25.–36. Bd., 5. Abt., 1780, S. 2706f.; [zum weiteren Verlauf der Debatte Michael Hißmann:] ABL 15, 1779, S. 45–61. Über das Ich, in Briefen an Herrn Prof. Tiedemann. In: Nürnbergische gelehrte Zeitung, 38. St., 12.5.1778, S. 319; ebd. 9. St., 29.1.1779, S. 70. Physiokratische Briefe an Herrn Prof. Dohm oder die Verteidigung und Erläuterung der wahren staatswissenschaftlichen Gesetze. Braunschweig 1780. [Anzeige] In: Gothaische gelehrte Zeitungen 34. St., 28.4.1779, S. 280; Hallische Neue gelehrte Zeitungen 14. Bd., 101. St., 20.12.1779, S. 801–803; [vermutl. Johann Georg Heinrich Feder:] Zugabe zu den Göttingischen gelehrten Anzeigen 1. St., 1.1.1780, S. 1–7; Wöchentliche Nachrichten von neuen Landcharten, geographischen, statistischen und historischen Büchern und Sachen 8. Jg., 2. St., 10.1.1780, S. 12–14; Gothaische gelehrte Zeitungen 9. St., 29.1.1780, S. 65–72; [Johann Jakob Griesbach:] AdB 42. Bd., 1. St., 1780, S. 231–234; Braunschweigische Nachrichten von politischen und gelehten Sachen, 9. und 10.3.1780; [Johann Heinrich Merck:] Der Teutsche Merkur 3. Viertelj., 1780, S. 75f.; L’esprit des journaus, français et étrangers 9. Jg., Tome V, Mai 1780, S. 410f.; Jenaische Zeitungen von gelehrten Sachen 25. St., 27.3.1780, S. 203; [Issak Iselin:] Ephemeriden der Menschheit 3. Jg., 2. Bd., 9. St., Sept. 1780, S. 285–302. Pas plus de six plats. Par Gustav Friedrich Wilhelm Großmann. Paris 1781. [Ankündigung von Mauvillons Übersetzung] In: Gothaische gelehrte Zeitungen auf das Jahr 1781, 53. Stück, 4.7.1781, S. 440. Essai sur l’influence de la poudre à canon dans l’art de la guerre moderne. Dessau 1782. In: Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten vom Jahre 1781, 9. St., S. 768–771 (frz.); [Anzeige] Gothaische gelehrte Zeitungen 21. St., 13.3.1782, S. 173; [Anzeige] Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten vom Jahre 1782, 2. St., S. 189 und S. 271; [Anzeige] Hanauisches Magazin 5. Bd., 1782, S. 96; Wöchentliche Nachrichten von neuen Landcharten, geographischen, statistischen und historischen Büchern und Sachen 10. Jg., 41. St., 14.10.1782, S. 325f.; [Albrecht Ludwig Friedrich Meister:] Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 2. Bd., 131. St., 28.10.1782, S. 1059–1064; Militair-Bibliothek. Hg. von Gerhard von Scharnhorst, 1. St., Hannover 1782, S. 108f. und 2. St., 1783, S. 74–89; Beyträge zum gelehrten Artikel des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten 7. St., 11.1.1783; [Heinrich Wil-

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Personenregister Abbt, Thomas 28 Achenwall, Gottfried 286f., 304 Archenholz, Johann Wilhelm von 95 Aristoteles 3, 158–163, 174, 180, 184, 403, 439 Basedow, Johann Bernhard 112, 428, 441, 444 Baumgarten, Alexander Gottlieb 251 Becker, Rudolf Zacharias 95 Berg, Johann Georg von 332 Boie, Heinrich Christian 82f., 428 Bonnet, Charles 119, 121f., 126 Brandes, Ernst 130f., 135–145 Brandes, Georg Friedrich 18, 30 Campe, Johann Heinrich 13, 18f., 41, 247, 355, 441, 452f. Cicero, Marcus Tullius 195, 198f., 398, 434, 439 Cornberg, Christian Ludwig von 225 Corneille, Pierre 403 Crusius, Christian August 214, 240, 251, 264 Damm, Christian Tobias 89, 99f. Diderot, Denis 24–26, 367, 371f. Diez, Heinrich Friedrich 8, 19, 52, 56–59, 62, 65f., 68–77, 79, 98, 107f., 112–114, 119, 221–223, 224, 229–235, 392, 420, 440 Dohm, Christian Konrad Wilhelm 49, 77, 82, 168, 170–173, 177, 185f., 193, 198, 201– 219, 233, 239, 285, 288, 328, 392, 428f., 437, 441 Duvernoy, Friedrich 18f., 24f. Eberhard, Johann August 95, 236, 238, 240 Eichhorn, Johann Gottfried 392 Erhard, Johann Benjamin 96 Eschenburg, Johann Joachim 14, 17f., 20f., 43f., 56, 58, 204, 215, 218, 221, 223, 354f., 359, 394, 403f. Feder, Johann Georg Heinrich 96, 112, 115f., 120, 251, 299

https://doi.org/10.1515/9783110793611-021

Ferguson, Adam 442 Forster, Georg 2, 83, 328f. Gellert, Christian Fürchtegott 5, 24, 61, 385–395, 405, 416, 421 Gellius, Johann Gottfried 368 Gentz, Friedrich 202 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 388, 391, 394, 404, 441 Geßner, Salomon 388, 391 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 61f., 64, 218, 388, 391, 404 Goethe, Johann Wolfgang von 4 Götze, Johann Melchior 235, 274, 410 Gundling, Nicolaus Hieronymus 286f. Hamann, Johann Georg 434 Heeren, Arnold Hermann Ludwig 18, 26f., 30 Heineccius, Johann Gottlieb 306 Helvétius, Claude-Adrien 87, 138, 241, 299, 443 Hennings, August von 95 Herder, Johann Gottfried 4, 71f., 77f., 392f. Heyne, Christian Gottlob 18f., 21–23, 26– 37, 39–42, 44, 51–53, 396, 421 Hißmann, Michael 2, 4, 83, 96, 99, 115f., 233, 245f., 248, 392, 394 Hobbes, Thomas 295 Humboldt, Wilhelm von 212 Hume, David 215, 236, 270, 285, 442 Iselin, Isaak 168, 170, 172, 202, 205 Jacobi, Friedrich Heinrich 202, 394 Jacobi, Johann Georg 60, 404 Jakob, Ludwig, Heinrich von 18 Kant, Immanuel 109, 120, 126, 130, 133, 146, 215, 248, 251, 264, 270, 277, 297f., 306, 309, 425, 436, 440f. Klinger, Friedrich Maximilian 88, 394, 417 Klopstock, Friedrich Gottlieb 9, 62, 228, 385–454

496 | Personenregister

Knigge, Adolph Franz Friedrich Ludwig Freiherr von 23, 97, 247, 325–335, 338f., 340, 346, 350, 354, 358, 361 Knoblauch, Karl von 8, 82, 93–98, 221– 223, 233f., 241–248, 341 Knüppeln, Julius Friedrich 99 La Mettrie, Julien Offray de 87, 99, 299 Lau, Theodor Ludwig 86 Lavater, Caspar 236f., 392 Leibniz, Gottfried Wilhelm 86, 110, 115,121, 276, 282f. Lessing, Gotthold Ephraim 1, 62, 75, 89, 101, 143, 215, 273f., 276, 299, 305, 385, 387f., 391, 394, 401–404, 407, 413f., 421 Leß, Gottfried 67, 89, 259 Lenz, Jakob Michael Reinhold 41, 394f., 412–417 Lichtenberg, Georg Christoph 2, 233 Lilienthal, Theodor Christoph 240 Locke, John 1, 110, 116, 121, 123, 126, 215, 291f., 309 Luther, Martin 228, 238, 246, 282 Meier, Johann Christian 224f. Meiners, Christoph 2, 96f., 115f., 137, 233 Mendelssohn, Moses 89, 236, 289, 425, 434, 439f. Michaelis, Johann David 20, 24, 26, 33, 61, 89, 236 Mirabeau, Honoré Gabriel Victor de Riqueti, comte de 6f., 82, 84, 90, 156, 169, 171f., 203, 315, 325f., 342, 355, 369– 371, 380, 448, 453 Möser, Justus 202, 392 Moser, Friedrich Carl von 450 Nenke, Carl Christoph 99 Nicolai, Friedrich 57, 82, 89, 202, 231, 309, 311, 334–344, 348–351, 353, 361, 371, 379, 390, 407, 452

Ramler, Karl Wilhelm 62, 391 Raynal, Guillaume-Thomas François 5, 28f., 75, 110, 114, 222, 314, 322, 368, 370– 382, 448 Reichard, Heinrich August Ottokar 65, 84, 95, 229 Reimarus, Hermann Samuel 89, 91, 100f., 110, 118, 120, 251f., 270, 273f., 276, 280, 309 Riem, Andreas 1, 88, 93, 99f. Rousseau, Jean-Jacques 71, 78, 129–138, 140, 143, 145–147, 151, 215–217, 285, 293, 371, 443 Schmettau, Woldemar Herrmann von 65– 67, 221, 231, 236f., 239.241, 244f. Schinks, Johann Friedrich 417 Schlözer, August Ludwig 2, 96, 317, 369, 392 Schlettwein, Johann August 168–170, 172, 183, 194, 201f. Schlosser, Johann Georg 170, 415 Semler, Johann Salomo 67, 85, 231, 235 Smith, Adam 152, 165f., 179, 182, 184, 201f., 209, 211, 216f., 285, 442 Spalding, Johann Joachim 67, 235, 251, 254 Stolberg, Christian Ernst zu 224 Struensee, Carl August 450 Soemmerring, Thomas Samuel 2, 328 Sulzer, Johann Georg 81, 299 Teller, Wilhelm Abraham 67, 235 Tetens, Johann Nikolaus 109, 115f. Thomasius, Christian 287, 289, 306, 423f., 433, 449 Tindal, Matthew 270 Tiedemann, Dietrich 71, 73, 107, 109f., 115– 119, 124, 145 Töllner, Johann Gottlieb 235, 392 Turgot, Anne Robert Jacques 5, 7, 153, 165, 193f., 201, 203, 206f., 209, 314, 368

Quesnay, François 5, 7, 153–157, 159, 164, 166, 172f., 191, 201, 209, 211, 216

Unzer, Johann Christoph 22, 34f., 59 Unzer, Ludwig August 5, 7, 15, 45, 51, 56f., 58–71, 75–79, 98f., 107f., 221–246, 385, 387, 389–391, 396, 404, 417, 420

Platner, Ernst 299 Plutarch 398 Pufendorf, Samuel 288–290

Voltaire 24, 87, 99, 215, 403, 441, 443

Personenregister | 497

Weiße, Christian Felix 1, 64, 403 Wekhrlin, Wilhelm Ludwig 90, 95, 234, 241 Wieland, Christoph Martin 1, 62–64, 95, 234, 299, 385, 391, 394–401, 406, 426, 428–430, 432f., 435, 437f., 441 Wolff, Christian 1, 110, 269f., 272f., 275, 287, 289, 291–293, 306, 309 Zedler, Johann Heinrich 34, 36, 431 Zimmermann, Eberhard August Wilhelm 368, 380–383 Zimmermann, Johann Georg 83, 248, 452