Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848: Migration - kultureller Austausch - frühe Globalisierung [1. Aufl.] 9783839409664

Handbücher, illustrierte Broschüren von Werbeagenturen, Briefe und Reiseberichte von Auswanderern, Reportagen in Zeitung

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Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848: Migration - kultureller Austausch - frühe Globalisierung [1. Aufl.]
 9783839409664

Table of contents :
INHALT
Einleitung
I. Amerika jenseits des Kanons
Der ›Onkel aus Amerika‹. Import von Amerikawissen oder Re-Import alter Stereotype?
Der Landvermesser. Balduin Möllhausen in Amerika
»Wie ein Mensch sich selbst bilden kann.« Zur Funktion von Amerika in Auerbachs Landhaus am Rhein
Von der Familie zur Kolonialmacht. Die USA und Deutschland in Familienzeitschriften vor der Reichsgründung
Eine amerikanische Baumwollprinzessin in Thüringen. Transnationale Liebe, Familie und die deutsche Nation in E. Marlitts Im Schillingshof
»So mag dem schweifenden Indianer zu Mute sein« - die symbolische Position Amerikas bei Friedrich Spielhagen
»Das Herz zwiefach geteilt«: Deutsche literarische Amerikabilder und die Amerikanistik
II. Amerika im Kanon
Die Darstellung Amerikas unbesehen: vergleichende Betrachtungen zu Spielhagen, Raabe und Fontane
Einmal deutscher »Steinhof« - »Wisconsin« hin und zurück. Die »Schulmeisterin« USA und »old German-text-writing« als patriotische Selbstfindung in Wilhelm Raabes Alte Nester
Patriotismus und Kosmopolitismus in den Werken Gottfried Kellers
Irritationen von Identitäten. Deutsch-amerikanische Migrationsbewegungen in Gottfried Kellers Novelle Regine
»es brach eine jener grimmigen Krisen von jenseits des Oceans [...] herein.« Gottfried Keller und die Neue Welt
»Lieber Leser, weißt du, was das Wort Greenhorn bedeutet?« Phantasien der Migration und Remigration: Die Romananfänge von Karl Mays Winnetou I und Winnetou IV
Bibliografie
Index
Zu den Autorinnen und Autoren

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Christof Hamann, Ute Gerhard, Walter Grünzweig (Hg.) Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848

2008-11-07 13-18-35 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 028f193962592920|(S.

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Christof Hamann, Ute Gerhard, Walter Grünzweig (Hg.) Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848. Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung

2008-11-07 13-18-35 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 028f193962592920|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Kathrin Heyer, 2008 Lektorat: Christof Hamann Satz: Sehra Karakus, Dortmund Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-966-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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INHALT Einleitung CHRISTOF HAMANN, UTE GERHARD, WALTER GRÜNZWEIG 9

I. Amerika jenseits des Kanons Der ›Onkel aus Amerika‹. Import von Amerikawissen oder Re-Import alter Stereotype? ROLF PARR 21

Der Landvermesser. Balduin Möllhausen in Amerika ALEXANDER HONOLD 39

»Wie ein Mensch sich selbst bilden kann.« Zur Funktion von Amerika in Auerbachs Landhaus am Rhein KIT BELGUM 59

Von der Familie zur Kolonialmacht. Die USA und Deutschland in Familienzeitschriften vor der Reichsgründung CHRISTOF HAMANN 83

Eine amerikanische Baumwollprinzessin in Thüringen. Transnationale Liebe, Familie und die deutsche Nation in E. Marlitts Im Schillingshof LYNNE TATLOCK 105

»So mag dem schweifenden Indianer zu Mute sein« die symbolische Position Amerikas bei Friedrich Spielhagen UTE GERHARD 127

»Das Herz zwiefach geteilt«: Deutsche literarische Amerikabilder und die Amerikanistik WALTER GRÜNZWEIG 139

II. Amerika im Kanon Die Darstellung Amerikas unbesehen: vergleichende Betrachtungen zu Spielhagen, Raabe und Fontane JEFFREY L. SAMMONS 153

Einmal deutscher »Steinhof« - »Wisconsin« hin und zurück. Die »Schulmeisterin« USA und »old German-text-writing« als patriotische Selbstfindung in Wilhelm Raabes Alte Nester ALEXANDER RITTER 171

Patriotismus und Kosmopolitismus in den Werken Gottfried Kellers TODD KONTJE 191

Irritationen von Identitäten. Deutsch-amerikanische Migrationsbewegungen in Gottfried Kellers Novelle Regine TOBIAS LACHMANN 211

»es brach eine jener grimmigen Krisen von jenseits des Oceans [...] herein.« Gottfried Keller und die Neue Welt MARTIN STINGELIN 225

»Lieber Leser, weißt du, was das Wort Greenhorn bedeutet?« Phantasien der Migration und Remigration: Die Romananfänge von Karl Mays Winnetou I und Winnetou IV UWE SCHWAGMEIER 237

Bibliografie 265

Index 285

Zu den Autorinnen und Autoren 289

Danksagung Die Publikation dieses Bandes wurde ermöglicht durch eine finanzielle Zuwendung des Ehepaares Barbara Blümel und Dietrich Groh, die die kulturwissenschaftliche Arbeit an der Universität Dortmund kontinuierlich unterstützen. Die innovative Gestaltung der Umschlaggrafik wurde von Kathrin Heyer ausgeführt. Für die Erstellung des Manuskripts konnten wir uns auf die kompetente Arbeit von Sehra Karakus verlassen; gründliche Korrektur- und Lektoratsarbeiten wurden von Florian Birkenhauer und Verena Hepperle geleistet. Die Herausgeber

EINLEITUNG CHRISTOF HAMANN, UTE GERHARD, WALTER GRÜNZWEIG Ein anonymer Verfasser, der für die Auswanderung nach ›Neuschottland‹ wirbt, leitet 1869 einen Artikel in der Gartenlaube mit folgenden Worten ein: In den Vereinigten Staaten von Nordamerika macht das deutsche Element nicht blos einen numerisch sehr bedeutenden Bruchtheil der Bevölkerung aus, sondern hat sich auch staatlich allmählich zu einem solchen Einflusse aufgeschwungen, daß es wohl als keine illusorische Hoffnung erscheint, wenn man den Deutschen die Zukunft der großen transatlantischen Republik vindicirt.1

Westermann’s Illustrirte Deutsche Monatshefte drucken wenig später Auszüge aus einem ethnologischen Vortrag ab, in dem die USAmerikaner als »Product der Zukunft« bezeichnet werden; aufgrund der »frühen Betheiligung der deutschen Emigration« wird der Einfluss der »Factoren« dieses Volks für die zukünftigen Vereinigten Staaten besonders hervorgehoben.2 In der Familienzeitschrift Daheim wird der »Menschenstrom nach Amerika sonst und jetzt« thematisiert; der Artikel informiert über die wachsende Zahl von Migranten, über Fortschritte im Transportwesen und über unterschiedliche Siedlungsgebiete.3 Ebenfalls erwähnt wird Friedrich Kapp, der 1868 eine Geschichte der Deutschen Einwanderung in Amerika publiziert. Wie unterschiedlich der »Romane« und der »Germane« sind, zeigt sich Kapp zufolge im Umgang mit den Indianern: Während der erste »sich überhaupt leicht mit dem Indianer« vermischt, es ihm also gleichgültig ist, ob er in den »Armen einer Squaw« oder einer »weißen Frau« liegt, tritt letzterer »stolz und bewußt« dem »Indianer als Herr und Gebieter« gegenüber: »in der ganzen Chro1 2 3

[Anonym]: Eine deutsche Colonie in Neuschottland, in: Die Gartenlaube 1869, S. 809-812, hier S. 809. [Anonym]: Die Zukunft Nordamerika’s, in: Westermann’s Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte XXXVI (April – October 1874), S. 448f. Carl Winter: Der Menschenstrom nach Amerika sonst und jetzt, in: Daheim. Ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen VI (1870), S. 679-683. 9

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nik der deutschen Ansiedlungen sind nur zwei Fälle verzeichnet, daß Deutsche Indianerinnen geheirathet haben.«4 Das sind nur vier von zahlreichen Beispielen, die belegen, welch immens wichtige Rolle die Beziehung zu den Vereinigten Staaten für das deutsche Selbstverständnis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielt. In das Land jenseits des Atlantiks migriert der Großteil der Millionen von ›Deutschlandmüden‹, um dort ein neues Leben zu beginnen. Abgesehen von Monografien und Reportagen in Journalen bilden Anzeigen, Handbücher und zum Teil illustrierte Broschüren von Werbeagenturen, von denen manche den sprechenden Titel »Wegweiser« besitzen und die Auswanderung als wohl organisierte und im Glück endende Reise propagieren,5 Briefe und Reiseberichte von Auswanderern,6 öffentliche Debatten und nicht zuletzt eine Vielzahl von literarischen Texten7 Bestandteile eines komplexen Diskurses, der mit diesen Wanderungsbewegungen in der zweiten Hälfte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts einhergeht. Zu den Bestandteilen der privat und öffentlich geführten Debatten gehören unter anderem Werturteile über das fremde Land, Meinungen über Auswirkungen der Migrationsbewegung auf Deutschland, Diskussionen über Ziele der Auswanderung und die erforderlichen materiellen, körperlichen aber auch mentalen Voraussetzungen von denjenigen, die sich auf den Weg in die Neue Welt machen wollen. Literatur- und Kulturwissenschaften setzen sich seit Jahrzehnten mit den diskursiven Beziehungen sowie mit den Aus- und Rückwanderungsbewegungen zwischen Amerika und Deutschland auseinander. Als auffallend erweist sich bei der Beschäftigung mit diesen Diskurskomplexen zweierlei. Die erste Auffälligkeit betrifft den Zeitraum der Betrachtung.

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Friedrich Kapp: Geschichte der Deutschen Einwanderung in Amerika, Bd. 1: Die Deutschen im Staate New York bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1868, S. 149f. Ingrid Schöberl: Einwandererwerbung in Deutschland 1845-1914, Stuttgart 1990, S. 56. »Gedruckte Informationen aber erreichten Auswanderer aus der Unterschicht nur selten. Anders stand es mit Briefen von ausgewanderten Verwandten und Bekannten. Diese ›Amerikabriefe‹ und ihre von Mund zu Mund weitergetragenen Botschaften fanden große Verbreitung, genossen höchstes Vertrauen und prägten entscheidend das Amerikabild der Masse der Auswanderungswilligen.« Horst Rößler: Massenexodus: die Neue Welt des 19. Jahrhunderts, in: Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Klaus J. Bade, München 1992, S. 151f. Siehe Juliane Mikoletzky: Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, Tübingen 1988. 10

EINLEITUNG

In der Regel gehen Studien der Beziehung von Amerika-Diskurs und deutschsprachiger Literatur vor und nach dem hier zur Diskussion stehenden Zeitraum sehr viel intensiver nach.8 Goethes Amerika-Konzept im Wilhelm Meister oder Romane von Charles Sealsfield auf der einen Seite,9 Franz Kafkas Der Verschollene oder literarische Texte aus der Weimarer Republik (teilweise im Gefolge der »Amerikanismus«-Debatte der 1920er Jahre, siehe etwa bei Bertolt Brecht) auf der anderen wurden und werden ausführlich diskutiert.10 Dass die (›hohe‹) Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dabei eher am Rande steht, überrascht angesichts der zunehmenden, von der geschichtswissenschaftlichen Forschung breit besprochenen,11 kultur-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Bedeutung der USA. Immerhin taucht der Begriff der »Amerikanisirung« nachweislich erstmals bereits 1877 in der Rede Culturgeschichte und Naturwissenschaft von Emil Du Bois-Reymond auf, mit dem er »die gefürchtete Ueberwucherung und Durchdringung der europäischen Cultur mit Realismus [!] und das reissend wachsende Uebergewicht der Technik«12 auf den Punkt zu bringen versucht. Die zweite Beobachtung bezieht sich auf die diskutierte Literatur selbst. Wenn sich literatur- und kulturwissenschaftliche Studien aus dem deutschsprachigen Raum überhaupt dem Zeitraum von 1848 bis 1900 widmen, konzentrieren sie sich – von Ausnahmen abgesehen13 – auf Rei8

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Unseres Erachtens lässt sich die Aussage von Harold Jantz aus dem Jahr 1957, dass der Amerikadiskurs des späten 19. Jahrhundert nur wenig Aufmerksamkeit in der Literaturwissenschaft gefunden hat, auf die Gegenwart übertragen (siehe Harold Jantz: Amerika im deutschen Dichten und Denken, in: Deutsche Philologie im Aufriss 3 [1957], Sp. 309-372, hier Sp. 370). Siehe z.B. Walter Grünzweig: Das demokratische Kanaan. Charles Sealsfields Amerika im Kontext amerikanischer Literatur und Ideologie, München 1987; Wynfrid Kriegleder: Vorwärts in die Vergangenheit. Das Bild der USA im deutschsprachigen Roman von 1776 bis 1855, Tübingen 1999. Siehe zuletzt Alexander Stephan / Jochen Vogt (Hg.): Das Amerika der Autoren. Von Kafka bis 09/11, München 2005. Siehe etwa die Publikationen von Klaus J. Bade. Emil Du Bois-Reymond: Reden. 1. Folge. Literatur – Philosophie – Zeitgeschichte, Leipzig 1886, S. 240-306, hier S. 280. Z.B. Fritz Martini: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer. Amerikaspiegelungen im Erzählwerk von Keller, Raabe, Fontane, in: Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt – Nordamerika – USA, hg. v. Sigrid Bauschinger, Horst Denkler u. Wilfried Malsch, Stuttgart 1975; Jeffrey Sammons: Land of Limited Possibilities: Amerika in the Nineteenth-Century Novel, in: Imagination and History. Selected Papers on Nineteenth-Century German Literature, New York u.a. 1988, S. 217-236; Christof Hamann: 11

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seberichte14 bzw. so genannte Abenteuerliteratur, in der Regel von Friedrich Gerstäcker, Karl May oder Balduin Möllhausen.15 Diese Ein- und Ausschlussverfahren haben nicht nur dazu geführt, die Interferenzen zwischen ›hoher‹ und ›populärer‹ Literatur zu ignorieren, sondern auch dazu, die Texte auf bestimmte Untersuchungsschwerpunkte festzulegen. Überspitzt formuliert: Bei Karl May kann Migration und Kolonialismus untersucht werden, bei Raabe hingegen die Entwicklung und Etablierung des Individuums. Deutlich zeigt sich dieser Befund in Studien über die Epoche des Bürgerlichen Realismus, etwa in dem von Edward McInnes und Gerhard Plumpe herausgegebenen Sammelband16 oder in den Arbeiten von Sabina Becker,17 Bernd Balzer18 und Hugo Aust.19 Sowohl Wanderungsbewegungen im Allgemeinen als auch Amerikamigration im Besonderen sind diesen Untersuchungen zufolge kein Thema für Autoren wie Raabe, Keller oder Fontane. In Hugo Austs Realismus ist ein Abschnitt mit »Sonderwege des Abenteuerromans« überschrieben; darin kommt Aust anhand von Gerstäcker und Möllhausen auch auf das »verbreitete Amerikabild« zu sprechen, und erwähnt, dass »alle Realisten […] an der Abenteuerliteratur partizipiert bzw. in irgendeiner Form mitgewirkt«20 haben. Doch ansonsten schweigt auch er sich aus über die Beziehungen von Bürgerlichem Realismus und Abenteuerliteratur und damit über den Bürgerlichen Realismus als eine Literatur, in der das Fremde (Amerika) und die Wanderungen dorthin vielfach konstitutiv für das Erzählen sind.

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Bildungsreisende und Gespenster. Wilhelm Raabes Migranten, in: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband: Literatur und Migration IX (2006), S. 7-18. Vgl. Alexander Schmidt: Reisen in die Moderne. Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich, Berlin 1997; Peter J. Brenner: Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1991. Vgl. etwa Harald Eggebrecht: Sinnlichkeit und Abenteuer. Die Entstehung des Abenteuerromans im 19. Jahrhundert, Berlin, Marburg 1985; Bernd Steinbrink: Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Studien zu einer vernachlässigten Gattung, Tübingen 1983. Edward McInnes / Gerhard Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890, München, Wien 1996. Sabina Becker: Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter, Tübingen, Basel 2003. Bernd Balzer: Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus, Darmstadt 2006. Hugo Aust: Realismus. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart, Weimar 2006. Ebd., S. 197. 12

EINLEITUNG

In der US-amerikanischen Forschung sieht das etwas anders aus, und das liegt nicht zuletzt an den zu diesem Sammelband beitragenden Germanistinnen und Germanisten. In A Companion to German Realism von 2003 etwa wird herausgestellt, dass die Texte von Raabe, Fontane u.a. im Kontext von »mass emigration and imperial expansion«21 gelesen werden müssen. Diese wichtige Erkenntnis wird in den letzten Jahren zumindest von einigen Wenigen in der deutschen Germanistik ebenfalls verbreitet, etwa von Rolf Parr in seinen Aufsätzen über Fontanes bzw. Raabes Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus, oder von Alexander Honold. Der von Letzterem mit herausgegebene Band Mit Deutschland um die Welt geht für die Zeit zwischen 1871 und 1914 den Verflechtungen zwischen Kultur und deutscher Migration resp. kolonialer Expansion nach und bezieht dabei auch die Literatur des Bürgerlichen Realismus ein. Der vorliegende Sammelband unternimmt einen ersten Versuch, die noch weitgehend unbekannten symbolischen Konstrukte ›Amerikas‹ in der deutschsprachigen Literatur dieser Periode jenseits traditioneller Dichotomien wie ›hoch‹ und ›populär‹ zu erschließen und sie stärker mit unterschiedlichen diskursiven Kontexten zu vernetzen. Eine besondere Gewichtung erfahren dabei die Auseinandersetzungen um die Aus- und Rückwanderungsbewegungen. Im Gefolge der Reichsgründung und europäischer Entwicklungen scheint Deutschland zunächst stärker mit sich selbst befasst zu sein. Aber gerade durch seinen neuen politischen Status und seine neue Rolle im internationalen, inzwischen globalen politischen und wirtschaftlichen System erlangt ›Amerikas‹ Bedeutung eine neue Qualität. Vom ›fremden‹, zu ›entdeckenden‹ Amerika der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt es jetzt zur vielfältigen Thematisierung der Beziehung und des Austauschs. Diesen Wechsel an konkreten Texten zu demonstrieren ist ein wichtiges Anliegen des vorliegenden Bands. Die Figur des in den USA zu Reichtum gelangten Onkels, der stets dann zurückkehrt, wenn in der Heimat Verwandte in Geldnöten stecken, bildete bereits im frühen 19. Jahrhundert Bestandteil einer populären, auf deutschen Boulevard-, Volks- und Laienbühnen realisierten Konfiguration. ROLF PARR zeigt die erstaunliche Bandbreite des recht einfachen Genres anhand unterschiedlicher Strukturebenen auf, die auf jeweils spezifischen semantischen Oppositionen zwischen aus den USA eingereistem Gast und Gastgebern, allgemeiner: zwischen Fremdem und Eigenem basieren. Dabei nimmt er einerseits die für das CharakterInteraktionsdrama typischen Proben auf menschliche Qualitäten (z.B. 21 Todd Kontje: Introduction: Reawakening German Realism, in: A Companion to German Realism 1848-1900, hg. v. Todd Kontje, Woodbridge 2002, S. 1-28, hier S. 12. 13

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›gut‹ vs. ›böse‹) in den Blick. Andererseits erkennt er in den Stücken u.a. von Ernst Wichert Tests auf den Verlust oder die letztendliche Emergenz eines präsupponierten deutschen Nationalcharakters, der als Kontrastfolie einer nicht minder imaginierten Vorstellung typisch amerikanischen Handelns bedarf. Eine andere populäre Figur ist die des Pfadfinders, die über die Romane James Fenimore Coopers Eingang in die deutschsprachigen Länder gefunden hat. Cooper, so ALEXANDER HONOLD, modelliert über diese Figur auf exemplarische Weise den Zusammenhang von als leer konstruiertem Prärieraum und unaufhörlicher zivilisatorischer Westexpansion. Als Chiffre dieser rastlosen Vorwärtsbewegung fungiert der Horizont, auf den die Pfadfinder zugehen und den sie doch nie erreichen. Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viel gelesene Schriftsteller Balduin Möllhausen aktualisiert die Coopersche Pfadfinderfigur als für die Eisenbahn arbeitenden Vermesser des entleerten Raums. Damit erweisen sich Möllhausens Reiseberichte Honold zufolge nicht nur als zentrale Prätexte für die Karl May’schen Reiseerzählungen, sondern auch, allgemeiner gesprochen, als zentraler Knotenpunkt zwischen romantischem Exotismus und industriellem Kolonialismus. Mit einem heute weniger gelesenen, im 19. Jahrhundert aber sehr erfolgreichen Schriftsteller, Berthold Auerbach, setzt sich KIT BELGUM auseinander. Beschäftigte dieser sich bereits in seinen Schwarzwälder Dorfgeschichten (1843-1854) oder in Barfüßele (1865) mit Fragen der Auswanderung, so avancieren die USA im späteren Roman Das Landhaus am Rhein (1869) zum neben Deutschland zentralen Raum, der auf ambivalente Weise semantisiert wird: Die Vereinigten Staaten erscheinen ebenso als Land moralischer und finanzieller Korruption wie als Ort individueller Katharsis. Insbesondere anhand von zwei Mitgliedern einer aus den USA remigrierten Familie, die während des Bürgerkriegs erneut dorthin zurückkehren, wird diese Ambivalenz konkretisiert: Während der Vater, ein ehemaliger brutaler Sklavenhalter, aufseiten des Südens kämpft, entwickelt sich der für den Norden Partei ergreifende Sohn, dem sein Lehrer bereits am Rhein die Ideale der amerikanischen Aufklärung, manifestiert insbesondere in den Schriften Benjamin Franklins, nahegebracht hat, zu einem humanistischen Demokraten. CHRISTOF HAMANN lenkt den Blick auf das für Amerika-Konstruktionen zentrale Medium der Familienzeitschriften. Darin haben zum einen nicht nur Autoren wie Möllhausen oder Auerbach ihre Texte vorab oder auszugsweise publiziert; hier erschienen auch amerikabezogene Romane und Novellen von kanonisierten Schriftstellern wie Theodor Fontane, Gottfried Keller und Wilhelm Raabe. Zum anderen wurden in der Gartenlaube oder Über Land und Meer unzählige Reiseberichte, Por-

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EINLEITUNG

träts und Glossen gedruckt, die den Diskurs über die Vereinigten Staaten mit formierten. So haben die literarischen und journalistischen Texte in Zeitschriftenjahrgängen vor der Reichsgründung entscheidend zur Konstituierung eines Symbolkomplexes beigetragen, demzufolge die heterogenen Massenkulturen der USA als Folie für den Entwurf einer zukünftigen homogenen, auf der Basis der Kleinfamilie sich generierenden, deutschen Kulturmasse dienen, die sich nach innen als nationale, nach außen aber als koloniale Macht zu begreifen versucht. In der auflagenstärksten Familienzeitschrift, der Gartenlaube, hat E. Marlitt alle ihre Romane publiziert, und nicht zuletzt diese Allianz hat dazu geführt, dass sie zur erfolgreichsten Autorin des 19. Jahrhunderts wurde. Im Schillingshof von 1879 lohnt deswegen eine eingehende Analyse, weil darin, wie LYNNE TATLOCK darlegt, das Amerikanische der Konstruktion deutscher Identität dient. Eine nach Thüringen migrierte amerikanische »Baumwollprinzessin«, die von einem deutschen Vater und einer spanischen Mutter abstammt, versöhnt zwei Familien, die untereinander und miteinander zerstritten sind, indem sie unliebsame Mitglieder – katholische und französische – daraus zu entfernen hilft. Das Besondere dieses Projekts familiärer Homogenisierung, welches auffallende Parallelen zu Bismarcks Politik in den 1870er Jahren aufweist, besteht also darin, dass es sich nur durch die Akzeptanz und die Intervention einer fremden, hybriden Figur verwirklichen lässt. Eine Sonderrolle hinsichtlich seiner Kanonisierung nimmt der heute hauptsächlich als Theoretiker wahrgenommene Schriftsteller Friedrich Spielhagen ein, dessen literarische Texte von Ute Gerhard, Walter Grünzweig und auch Jeffrey Sammons untersucht werden. Für die notwendige Kontextualisierung der literarischen Entwürfe ›Amerikas‹ verweist UTE GERHARD auf die politischen Debatten um die deutsche Auswanderung, die sich vor allem um die Frage nach den Folgen für die deutsche Identität drehen. Spielhagens Texte scheinen mit sehr unterschiedlich gestalteten deutsch-amerikanischen Beziehungen auf diese Problematik zu reagieren. In Die schönen Amerikanerinnen (1867) kommt es zu einem interessanten Austausch. Die üblicherweise als typisch amerikanisch geltenden Merkmale ›praktisch‹, ›nüchtern‹, ›realistisch‹ werden zu Kennzeichen des deutschen Protagonisten und IchErzählers des Romans. Gegenüber dem traditionellen Konzept deutscher Identität stellen diese Versuche eine Modernisierung dar, die bei Spielhagen auch das literarische Projekt selbst umfasst. Die damit einhergehende Öffnung oder auch ›Amerikanisierung‹ des Deutschen erscheint in seinem späteren Roman Deutsche Pioniere (1870) wieder zurückgenommen.

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CHRISTOF HAMANN, UTE GERHARD, WALTER GRÜNZWEIG

Aus amerikanistischer Sicht plädiert WALTER GRÜNZWEIG dafür, die die Vereinigten Staaten betreffenden Diskurse in der deutschsprachigen Literatur ernst zu nehmen – und zwar nicht nur als deutschlandzentrierte Idiosynkrasien. Anhand von Spielhagens Deutsche Pioniere zeigt er nicht nur auf, dass deutsche Romane des 19. Jahrhunderts enormes, teilweise vergessenes Wissen über die Vereinigten Staaten enthalten, sondern er weist auch auf die Existenz von amerikanischen kulturellen Narrativen in diesem Text hin, die ihn in beiden transatlantischen Kontexten situieren. Schlussendlich, so Grünzweig, der seine Untersuchung auch als Modell für einen amerikanistischen Beitrag für die Einschätzung deutschsprachiger Amerikabilder verstanden wissen möchte, demonstriert der Roman die sich intensivierende transatlantische Kommunikation im Prozess der frühen Globalisierung. Gerade was Spielhagen betrifft, widerspricht JEFFREY SAMMONS dieser These. Mit seiner Analyse von drei Texten deutscher Realisten, Friedrich Spielhagens Deutsche Pioniere, Wilhelm Raabes Alte Nester (1879) und Quitt von Theodor Fontane (1890), leitet er den zweiten Teil des Bandes ein, der den bis heute kanonisierten Autoren gewidmet ist. Sammons kommt zu dem Ergebnis, dass praktisch in keinem dieser Texte Amerikaner auftauchen. Das Land erscheint als von Deutschen geprägter Ort, an dem diese das ihnen innewohnende deutsche Selbst zur Entfaltung bringen können. Hat sich ein solches entwickelt, wird über eine Rückkehr nachgedacht (Deutsche Pioniere) oder diese in die Tat umgesetzt (Alte Nester). Unentschlossen bleibt in dieser Hinsicht allenfalls Lehnert Menz, der Protagonist von Quitt. Sein Tod verhindert die Remigration, die allerdings bereits durch den quer zu seiner Heimatliebe stehenden Hass auf den preußischen Polizeistaat unwahrscheinlich geworden ist. Sammons zufolge zeigen diese Texte weniger Interesse am fremden Land als am eigenen: Amerika interessiert vor allem als Raum, in dem Deutsche und Deutschland unter Umständen geistig und politisch gesunden können. ALEXANDER RITTER unterstreicht Sammons’ These in seiner ausführlichen Analyse von Alte Nester. Darin hat Wilhelm Raabes kritische Haltung gegenüber dem Deutschen Reich der Gründerzeit erhebliche Konsequenzen für die Darstellung der USA: Die Neue Welt wird reduziert auf die deutschamerikanische Kultur der städtischen little Germanies resp. die ländlichen deutschamerikanischen Siedlungsgebiete des nördlichen Mittelwestens und erweist sich dadurch als Regenerationsraum deutscher Kultur von den aktuellen deutschnationalen Tendenzen und industriegesellschaftlichen Veränderungen im Deutschen Reich. Justus Everstein, diejenige Hauptfigur des Romans, die sich dort zu einem ebenso pragmatischen wie ethisch gefestigten Mann entwickelt, erfüllt,

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EINLEITUNG

wie Ritter zeigt, nicht nur eine Vorbildfunktion für die in Deutschland gebliebenen Figuren, sondern auch für die deutschen Bürger schlechthin: Er ist die personifizierte moralisierende Mahnung, sich derjenigen Tugenden zu erinnern, die durch das gründerzeitliche Fortschrittsdenken verloren zu gehen drohen. Im Mittelpunkt der drei folgenden Beiträge des Bandes steht Gottfried Keller. Dass die USA bei ihm in erster Linie als Land demokratischer Ideale und ohne hemmende Traditionen erscheinen, betont TODD KONTJE. Insbesondere Figuren mit negativen semantischen Merkmalen (›träge‹, ›schurkisch‹) werden dorthin zum Zwecke der Läuterung geschickt. Der Aspekt der Demokratie dient Keller auch vielfach zur Abgrenzung der Schweiz vom Nachbarn: Während das zeitgenössische, reaktionäre und monarchistische Deutschland auf der einen Seite steht, befindet sich die fortschrittliche, demokratische Schweiz zusammen mit England und Amerika auf der anderen. Kontje verortet die USADarstellungen im Kontext von Kellers Kosmopolitismus, der Eigenes und Fremdes durchaus produktiv miteinander ins Spiel bringt. Kontje räumt ein, dass der Amerikaaufenthalt in Regine, einer Novelle aus Das Sinngedicht (1881), keine kathartischen Effekte zeitigt; stattdessen stirbt die titelgebende Protagonistin. Schuld an ihrem Tod ist ein aus Boston stammender Deutsch-Amerikaner, der nach der Heirat mit Regine dieser sein altmodisches »Bild verklärten deutschen Volkstumes« aufzwingen will. Diesen Befund nimmt TOBIAS LACHMANN zum Anlass für eine Lektüre des Texts, die die aus den deutsch-amerikanischen Migrationsbewegungen resultierenden Irritationen traditioneller Vorstellungen von Identität in den Blick nimmt. Aus diskurstheoretischer Perspektive macht er plausibel, weshalb dem Identitäts-Dispositiv im Novellenzyklus eine zentrale Bedeutung zukommt. Der Amerikadiskurs spiele dabei insofern eine wichtige Rolle, so Lachmann, als im Bild der amerikanischen Gesellschaft einerseits bereits zu einem frühen Zeitpunkt die in ihrer Gesamtheit nicht mehr zu überschauende, sich funktional zunehmend ausdifferenzierende und von einer Vielzahl konkurrierender Sinnsysteme charakterisierte Moderne konnotiert ist, andererseits aber immer auch Konzepte der Freiheit, Emanzipation und Einebnung von Differenzen, die einen demokratischen Gegenpol zur europäischen Despotie profilieren. MARTIN STINGELIN schließlich liest Texte Kellers ausgehend von der Semiotik von Charles S. Peirce, eines Vertreters der amerikanischen Pragmatik, derzufolge jedes Verstehen zeichenvermittelt ist. Kellers Literatur ist für eine solche Lesart deshalb besonders geeignet, weil sämtliche Protagonisten in einer globalisierten Welt trügerischer Zeichen angekommen sind, zu der es kein Jenseits mehr gibt. Als Beispiel dafür dient

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ihm immer wieder das ›Börsenspiel‹, dessen Konjunkturen von der Neuen Welt abhängig sind. Letztendlich zielt Keller auf ein semiotisches Gleichgewicht zwischen dem richtigen Verstehen von Zeichen und ihrem aufrichtigen Gebrauch ab, doch auf dem Weg dorthin kommt es immer wieder zu Täuschungen. So gerät etwa der Protagonist des AmerikaTextes Die Berlocken (1881) auf der Jagd nach Liebeszeichen im buchstäblichen und im übertragenen Sinn auf die falsche Fährte und wird dann durch Spott zur Reflexion der semiotischen Umstände seiner Täuschung angehalten. Last but not least zeigt UWE SCHWAGMEIER in seiner Lektüre der Romananfänge von Winnetou I und Winnetou IV, dass das Nordamerika Karl Mays Züge eines Fantasmas trägt. Dementsprechend gilt, den scheinbaren Tendenzen zur Migration des alles beherrschenden IchErzählers mit Vorsicht zu begegnen. Der Beitrag verfolgt dabei den (möglicherweise für May typischen) Topos der ›je schon beschlossenen Remigration‹ und dessen Zwecke. Angesichts solcher Zusammenhänge fragt Schwagmeier auch danach, welche Differenzen es hier zwischen den Reiseerzählungen von Mays mittlerer Schaffensperiode und dem Spätwerk geben könnte. Insgesamt gehen die Beiträge dieses Bands in Richtung eines Paradigmenwechsels in der Beschäftigung mit dem Amerika-Thema in der deutschsprachigen Literatur. Stand früher die imagologische Analyse eines ›Amerikabildes‹ als von der ›realen‹ Zielkultur weitgehend unabhängiges Konstrukt im Vordergrund, also ein isoliertes ›deutsches Amerika‹, so zeigen die vorliegenden Untersuchungen vielfältige Beziehungen zwischen den transatlantischen Systemen. Dabei geht es weniger um die Behauptung einer ›realistischen‹ oder authentischen Repräsentation der Vereinigten Staaten, auch wenn diese Texte durchaus interessantes konkretes Wissen enthalten, das seit ihrer Publikation teilweise verloren gegangen ist. Vielmehr werden diese Romane als Entwürfe der transatlantischen Kommunikation verstanden, als Teil und Ausdruck eines bereits seit längerem existierenden globalen Beziehungsgeflechts zwischen den Vereinigten Staaten und Europa. Vermutlich ist es unsere eigene verbesserte Einsicht in die Bedeutung und die unerhörte Dynamik der ›Globalisierung‹, die es uns ermöglicht, auf der Grundlage dieser veränderten Perspektive auch Texte des 19. Jahrhunderts ›neu‹ zu lesen. Dieser Prozess hat gerade erst begonnen.

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I. A MERIKA JENSEITS DES K ANONS

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D E R ›O N K E L A U S A M E R I K A ‹. V O N A M E R I K A W I S S E N O D E R R E -I M P O R T ALTER STEREOTYPE? ROLF PARR

Seit den 1830er Jahren finden sich auf den deutschen Boulevard-, Volksund Laienbühnen Stücke, in deren Mittelpunkt die Figur des in Amerika reich gewordenen Onkels steht, der just immer dann zurückkehrt, wenn sich die um eine Generation jüngeren Verwandten in irgendeiner pekuniären Notlage befinden. Dass deren Beseitigung nicht ohne vorhergehende Verwicklungen abgeht, liegt zum einen im Genre des volksnahen Familienstücks selbst begründet, zum anderen bietet gerade das Szenario des aus Amerika heimkehrenden Onkels Möglichkeiten, Eigenes und Fremdes regelrecht gegeneinander auszutesten. Dabei geht es zum einen um jene Proben auf menschliche Qualitäten, wie man sie seit Lessing und Schiller aus dem Charakter-Interaktionsdrama kennt, also ›gut‹ vs. ›böse‹, ›mildtätig‹ vs. ›habgierig‹, ›treu‹ vs. ›nicht treu‹, wobei sich in den Rückkehrerstücken die menschlichen Qualitäten stets gegen die Versuchungen durch materielle Werte durchsetzen müssen. Zum anderen geht es über die Individuen hinaus aber nahezu durchgängig auch um Tests auf den Verlust oder das letztendliche sich Durchsetzen eines präsupponierten deutschen Nationalcharakters, der als Kontrastfolie einer nicht minder imaginierten Vorstellung typisch amerikanischen Handelns bedarf. An die Stelle von »Amerikasentimentalismus und Amerikakarikatur«, von denen Fritz Martini für die Auswanderer, Rückkehrer und Heimkehrer in den Erzähltexten des bürgerlichen Realismus sprach,1 treten in den Bühnenstücken daher tendenziell Deutschtumskarikatur und 1

Fritz Martini: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer. Amerikaspiegelungen im Erzählwerk von Keller, Raabe und Fontane, in: Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt – Nordamerika – USA, hg. v. Sigrid Bauschinger, Horst Denkler u. Wilfried Malsch, Stuttgart 1975, S. 178-204, hier S. 179. Martini spricht für die Zeit des Realismus davon, dass sich der »Blick wendet«, und zwar vom »›Drüben‹ zu dem Interesse daran, wie dies ›Drüben‹ für das ›Hüben‹ wirksam wird« (ebd., S. 180). 21

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Deutschlandsentimentalismus, sodass der Vorstellungskomplex ›Amerika‹ lediglich den Resonanzrahmen für eigentlich Innerdeutsches bildet. Die Handlungsabläufe sind damit weitgehend vorgezeichnet, sodass man die in der Regel eher einfach aufgebauten Stücke mit diesem Befund fast schon wieder beiseitelegen könnte. Allerdings wird das Motiv des reichen Onkels aus Amerika im Kino der 1930er2 und 1950er Jahre3 und dann noch einmal in der Kinder- und Jugendliteratur4 aufgenommen und in teils neuer Form weiterverarbeitet. Und ebenso stellen diese populären Bühnenstücke die Basis für weitere kunstliterarische und -filmische Verarbeitungen des Themas dar. Solche findet man in der Figur des einmal im Jahr in seine osteuropäische Geburtsstadt reisenden und Geschenke machenden Henry Bloomfield in Joseph Roths Roman Hotel Savoy;5 in Stefan Zweigs Roman Rausch der Verwandlung in Form des die ärmliche deutsche Nichte temporär zum im Nobelhotel lebenden Flapper-Girl ausstattenden reichen amerikanischen Paars;6 mit Claire Zaranassian, geborene Wäscher, in ihre Heimat zurückgekehrte Multimillionärin und Ex-Prostituierte, in Friedrich Dürrenmatts Besuch der alten Dame.7 Hinzu kommt aber noch ein weiterer Aspekt, der das Genre interessant macht. Wir haben es bei einigen dieser Stücke nämlich insofern mit durchaus typischen Texten aus der Zeit des Realismus zu tun, als sie die Situation des in der alten Heimat zunächst als Gast fungierenden Onkels in einer für realistisches Erzählen typischen Weise durchspielen. Denn im Realismus – so Renate Bürner-Kotzam in ihrer Untersuchung zur 2

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Man braucht kein Geld. BRD 1931. Regie: Carl Boese. Drehbuch: Kurt Flatow, Peter Paulsen nach dem Theaterstück Man braucht kein Geld von Ferdinand Altenkirch. Produktion: Allianz. – Fünf Millionen suchen einen Erben. Deutschland 1938. Regie: Carl Boese. Drehbuch: Georg Hurdalek, Jacob Geis. Produktion: Majestic (nach dem gleichnamigen Roman von Harald Baumgarten, Berlin 1932). Der Onkel aus Amerika. BRD 1952/53. Regie: Carl Boese. Drehbuch: Kurt Flatow, Peter Paulsen nach dem Theaterstück Man braucht kein Geld von Ferdinand Altenkirch. Produktion: CCC-Film. Ilso-Dore Tanner: Der Onkel aus Amerika, Leipzig o.J., Max Elliesen: Eilerts Onkel aus Amerika. Eine Erzählung für die Jugend. Mit Bildern von Hans Koch, 2. Aufl., Leipzig [1934]. Christa König: Gretchen Asmussen und der Onkel aus Amerika, Bindlach 1987. – Jochen Senf / Peter Tiefenbrunner: Der reiche Onkel aus Amerika. Illustriert von Silvia Christoph, Frankfurt/M. 1998. Joseph Roth: Hotel Savoy. Roman, München 2003 (zuerst1924). Stefan Zweig: Rausch der Verwandlung. Roman aus dem Nachlaß, hg. v. Knut Beck, Frankfurt/M. 1995. Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie. Neufassung 1980, Zürich 1980 (zuerst 1956). 22

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Gastlichkeit als dort durchgängig anzutreffendem »Subtext«8 – hat sich die Darstellung der Gastsituation signifikant verändert. Schützte die Gastrolle ursprünglich davor, als Fremder ausgegrenzt und zugleich davor, unzulässigerweise als Eigener vereinnahmt zu werden, so ist der Fremde in den Erzähltexten des bürgerlichen Realismus häufig nicht der gänzlich Unbekannte, sondern »der lang nicht gesehene Freund, der Reisebekannte oder Jugendgefährte«, mit dem »an eine gemeinsame Vergangenheit« angeknüpft werden kann. Das aber ist ein Szenario, das auch auf die zurückgekehrten, amerikanischen Onkel zutrifft, wobei die Koinzidenz von ›gemeinsame Vergangenheit‹ und ›Gast sein‹ eine hochgradige Ambivalenz von ›vertraut sein‹ vs. ›fremd sein‹ konstituiert, durch die störanfällige Szenarien von Gastlichkeit entstehen,9 in denen die »Einschränkung auf vertraute Gäste den Bürger« keinesfalls »vor Verunsicherung« schützt. Denn gerade solche ›altbekannten Gäste‹ wie die Onkel konfrontieren ihn »mit einer in bedrohliche Nähe gerückten Fremdheitserfahrung«,10 zwingen ihn zur »Auseinandersetzung mit dem Fremden als dem fremdgewordenen Vertrauten« und dadurch wiederum ein Stück weit auch mit sich selbst. Der Gast dient in den Texten des bürgerlichen Realismus von daher »der Erkundung einer Fremdheit, die sich in die eigene Person verschoben hat und zur Begegnung mit der eigenen Widersprüchlichkeit führt«.11 Daher bleiben die Folgen gastlicher Begegnungen »selbst im scheinbar vertrauten Kreis unvorhersehbar«.12 Ist der Gast auf der einen Seite also auslösender Faktor für Verunsicherungen, so übernimmt er für den Gastgeber auf der anderen Seite jedoch auch Katalysator- bzw. Vermittlerfunktionen »bei der Erforschung des befremdenden Vertrauten«13 in dessen unmittelbarer Umgebung und bei ihm selbst. Über seine eigentliche Gastrolle hinaus ist der Gast in den Erzähltexten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für Bürner-Kotzam daher häufig auch noch in einem zweiten Funktionszusammenhang zu sehen, bei dem er als vermittelnde dritte Person zwischen zwei andere tritt.14 Strukturell betrachtet ergeben sich damit insgesamt vier in der realistischen Erzählliteratur wiederkehrende Teilkomponenten des ›Zu-GastSeins‹, die sich auch auf die Situation des nach langer Zeit – häufig sind

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Renate Bürner-Kotzam: Vertraute Gäste. Befremdende Begegnungen in Texten des bürgerlichen Realismus, Heidelberg 2001, S. 53. Ebd., S. 41. Ebd., S. 53. Ebd., S. 53f. Ebd., S. 41. Ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 11. 23

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es 30 Jahre, also eine Generation15 – aus Amerika zurückgekehrten Onkels beziehen lassen: Erstens kann der Onkel als Gast mit der unvorhergesehenen Fremdheit des eigentlich bekannten Gastgebers konfrontiert werden. Entsprechend erscheinen dem Zurückgekehrten die deutsche Welt und die Charaktere der dort agierenden Figuren befremdlich, jedoch nicht auf der Folie seines inzwischen Amerikanisiert-Seins, sondern weil er die alten deutschen Werte und Eigenschaften erwartet, aber andere antrifft, die er dann zurechtrücken muss. Während dessen hat er die für Gäste typische Position eines inkludierten Exkludierten inne. Zweitens können umgekehrt die Gastgeber durch die Fremdheit der ihnen eigentlich vertrauten Gäste irritiert sein. So erscheinen die aus Amerika zurückgekehrten Verwandten als fremd, und zwar mal auf der Folie des erwarteten Amerikastereotyps, das die Onkel nicht so ganz wie erwartet erfüllen, mal dadurch, dass sie den deutschen Werten und Idealen aus der Zeit ihrer Auswanderung treu geblieben sind und dadurch mit denen der jeweiligen Spielzeit kollidieren. Indikatoren dieser Befremdung sind die für die Amerika-Onkel immer wieder konstatierten Merkmale ›skurril‹, ›schwierig‹, ›eigensinnig‹ und ›verschroben‹. Drittens kann der Gastgeber durch die Anwesenheit des Gastes eine gewisse Fremdheit gegenüber sich selbst wahrnehmen, dem deutschen Gastgeber also durch die bloße Anwesenheit des Amerika-Onkels die unmittelbare eigene Umgebung fremd werden, die frisch angetraute Ehefrau ebenso wie Tochter oder Sohn. Viertens schließlich kann der Gast die zwischen Gastgeber und dritten Personen vermittelnde Funktion ausüben, die diese in neue Relationen zueinander bringt. So vermitteln die Onkel aus Amerika als Gäste gegenüber Dritten häufig in finanziellen Konflikten, schlichten und entschärfen diese oder sorgen für Differenzen aufhebende Überraschungen, ehe sie wieder zur Gänze Mitglieder der heimischen Familiengemeinschaft werden. Welche erstaunliche Variationsbreite das eigentlich recht triviale Genre ›Onkel aus Amerika‹ auf Basis dieser vier Strukturebenen gewinnt, soll im Folgenden in einem Durchgang einiger Bühnenstücke aus 15 Vgl. beispielsweise Elisabeth Malbranc: Der reiche Onkel aus Amerika. Lustspiel in einem Aufzug, Leipzig 1913 (Die Jugendbühne. Schauspiele für Mädchen, Bd. 18), S. 12: »Er ist ein geborener Stettiner, glaube ich, und ging schon als Knabe gegen den Willen seiner Angehörigen zur See. Jetzt nach dreißigjähriger Anwesenheit, in der er nichts hat von sich hören lassen, kehrt er plötzlich als reicher angesehener Mann zurück«, und S. 14: »Dreißig Jahre? – nun, man rechnet so in Pausch und Bogen, wenn es auch etwas kürzere Zeit ist«. 24

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der Zeit von 1837 bis 1904 aufgezeigt werden.16 Da diese Stücke größtenteils völlig unbekannt sind, ist es unumgänglich auch die Inhalte jeweils zu referieren.

Carl von Holtei: Der dumme Peter (1837) Das Geschehen: Bankier Glanz gibt ein rauschendes Fest zu Ehren der Hochzeit seiner Tochter Agathe mit dem Baron Joseph von Leichthall. Zugegen sind als Gäste der Freund des Bräutigams, Rath Ersten und sämtliche Gläubiger des Bankiers, die mit dem extrem üppig ausgestatteten Fest in Sicherheit gewogen werden sollen, und der alte Bediente Peter, eine Rolle, hinter der sich Josephs reicher Onkel aus New York verbirgt. Dieser Onkel war gegen die Heirat und will die Frau des Neffen nun gleichermaßen auf ihre Treue hin testen als auch daraufhin, ob sie im Zweifel zu Gunsten eines Lebens mit ihrem Manne auf den gewohnten Reichtum verzichten würde. Als ihr Vater während des Festes heimlich vor seinen Gläubigern flieht und die Situation zu eskalieren droht, verkündet Joseph öffentlich, für alle Verbindlichkeiten des Schwiegervaters selbstschuldnerisch einstehen zu wollen. Dabei rechnet er auf das ihm bereits avisierte Testament des angeblich verstorbenen Verwandten. Ihre dramatische Zuspitzung findet die Situation in Josephs prägnanter Lagebeschreibung: »Wir müssen auf Newyork hoffen.«17 Allerdings wird diese Hoffnung umgehend enttäuscht, denn der Onkel hat ihn wegen der missbilligten Heirat mit Agathe inzwischen enterbt und sein Geld der Kirche vermacht. So wenigstens sagt es ein von Peter in Umlauf gebrachtes ›Testament‹, der damit jedoch nur Zeit und Gelegenheit gewinnen will, um den Neffen und seine Frau auf ihren rechtschaffenen Cha-

16 Parallel zu den hier untersuchten Stücken ließe sich der Topos vom ›reichen Onkel aus Amerika‹ auch in Erzähltexten verfolgen, von Franz Seraph Kifinger im Stile des Campeschen Robinson geschriebener Erzählung Der Onkel aus Amerika oder der getäuschte Erbe. Eine Erzählung für Eltern und die reifere Jugend (in: Lehrreiche Erzählungen. Verfaßt von Franz Seraph Kifinger, Pfarrer. Bd. 3. Neuburg a.d. Donau 1840) über Berthold Auerbachs Das Landhaus am Rhein. Roman in drei Bänden (1869), Ludvig Hevesis Erzählung Der Onkel aus Amerika (1889), Friedrich Spielhagens Roman Opfer (1900), Joachim von Dürows Novelle Vom Onkel aus Amerika (1911) bis hin zu Franz Kafkas Amerika-Roman (1912/13). – Für die Hinweise auf Auerbach und Spielhagen danke ich Kit Belgum und Jeffrey Sammons. 17 Carl von Holtei: Der dumme Peter. Original-Schauspiel in 2 Aufzügen, Berlin 1837, S. 106. 25

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rakter hin zu prüfen. Joseph wird bereits in dem Augenblick getestet, als er die fingierte Todesnachricht bekommt und Agathe darauf eher kalt und unbeteiligt reagiert: Agathe. Bin ich doch erschrocken! – Nun, Gott gönn’ ihm die ewige Ruhe! – Joseph. Agathe, Du thust mir wehe! – Der Bruder meiner lieben Mutter. Ruhe sanft du alter, wunderbarer, braver Mann, du letzter meiner Verwandten. – Jetzt steh ich ganz allein auf der Welt. Agathe. Das sagst Du in meiner Gegenwart? Joseph. O, das ist ja ganz ein andres, Agathe. – Doch sprich, wär’ es nicht schön, wenn der Alte hier stände, unsern Bund zu segnen?

Damit hat Joseph seinen Charaktertest bestanden, was der dumme Peter, alias Onkel aus Amerika, auch gleich entsprechend quittiert: »Ein guter Junge ist’s bei all’ dem doch.«18 Dass Agathe im weiteren Verlauf auch den Onkel von ihrem guten (konnotiert: deutschen) Charakter überzeugen kann, deutet sich an, als sie Rath Ersten gegenüber äußert: »Ich habe meine Hand nicht dem reichen, ich habe sie dem geliebten Manne gegeben [...].« Perfekt bestanden hat sie aber erst, als sie nach einigen Wirren und auch Versuchungen wider Erwarten doch zu ihrem Mann hält und so den anfangs demonstrativ zur Schau gestellten Verschwendungssinn in »frohe Häuslichkeit« verwandelt.19 Selbst ein bescheidenes Landleben in einfachem Haus bei eigener Hände Arbeit will sie mit ihm teilen. Zum Ende des Stücks hin ist die Testsituation für die meisten Figuren bereits transparent und selbst der zuletzt wissend werdende Joseph kann mutmaßen: »Lebte der Oheim noch? – Wär Alles nur ein Probespiel?? – (sieht ihn lange an.).«20 An diesem Punkt kann sich der Onkel den beiden entdecken und erbitten, ein solch einfaches (wiederum konnotiert: gut deutsches) Leben mit ihnen zusammen führen zu dürfen, und nebenbei befriedigt er auch noch die Forderungen der Gläubiger. Mit seiner danach mit Emphase erfolgenden Aufnahme in die Familie der jüngeren Generation verliert er zugleich seinen temporären Gaststatus und wird vom tendenziell Fremden wieder zum Familienmitglied. Mit dieser um eine Generation versetzen Wiedervereinigung der ›ganzen Familie‹21 ist zugleich auch ein der Situation vor der Auswanderung des Onkels äquivalenter Zustand wieder hergestellt.

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Ebd., S. 107. Ebd., S. 105. Ebd., S. 130. Vgl. zur Bedeutung der Opposition von ›kompaktem deutschem Familienverband‹ vs. ›verstreuter amerikanischer Masse‹ den Beitrag von Christof Hamann in diesem Band. 26

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In den Charakteristiken durch die anderen Figuren erscheint Holteis Onkel aus Amerika nicht untypischerweise als »närrischer Kauz«,22 »wunderlicher amerikanischer Onkel«,23 »Hagestolz«,24 allerdings einer, der »durch Fleiß, Umsicht und selt’nes Glück große Summen«25 gewonnen hat, »ein Bürger, ein wack’rer Kaufmann von altem Schlage«.26 Er ist kein Börsenspekulant und »Müßiggänger«27 wie der Schwiegervater des Neffen, sodass die eigentliche Opposition die von ›jüdischer (auch jüdisch-amerikanischer) Börsenspekulation ohne langfristige Interessen‹ versus ›deutscher Kaufmannschaft mit Nachhaltigkeit‹ ist. Auch sein Kalkül gegenüber den anderen Figuren kann der Onkel nicht durch die Überlegenheit seiner mitgebrachten amerikanischen Eigenschaften spinnen, sondern nur auf Grund seiner »Umsicht«, die er schon aus Deutschland mit nach Amerika hinübergenommen hat. Der Erfolg seiner Vermittlung beruht also auf dem Re-Import deutscher Tugenden wie umgekehrt sein geschäftlicher Erfolg in Amerika auf ihrem Export. Damit wird aber auch sein dortiges Reüssieren eher den mitgebrachten deutschen Tugenden als den amerikanischen Verhältnissen zugeschrieben. Seine in der alten Heimat gezeigte Freigiebigkeit wird bei Holtei als ein 1837 bereits gängiges Komödienstereotyp dargestellt,28 worauf Johann, der zweite Bediente, hinweist: Ich wollt ich hätte das amerikanische Seekalb hier, den Büffel, das Elendthier, den Fuchs; siehst Du, Peterchen, wie ich Dich jetzt habe. So würd’ ich ihn packen und sagen: Onkel, alter schäbiger Filz, Millionair! Willst Du ein Onkel seyn, und weißt nicht was ein Onkel ist; besonders einer über’n Wasser drüben? Hast Du noch keine Kommödie gesehen, und weißt Du nicht, was ein Onkel für eine Rolle hat, bei uns in Europa?29 22 23 24 25 26 27 28

Holtei: Der dumme Peter (s. Anm. 17), S. 101. Ebd., S. 103. Ebd., S. 105. Ebd. Ebd., S. 109. Ebd., S. 126. Die sozialhistorische Basis dafür bildete die erste Auswanderungswelle deutscher Bürger nach Amerika um 1800. Vgl. Jerry Schuchalter / Gerhard Schildberg-Schroth: Januskopf Amerika. Die neue Welt im Spiegel deutscher Amerikaliteratur des 19. Jahrhunderts, Münster 2006, S. 10: »Nach einem Vorspiel zu Beginn des Jahrhunderts mit ca. 20.000 folgten 18461857 und 1864-1873 zwei Hochphasen mit je einer Million Emigranten. Eine dritte Welle brachte im Zeitraum von 1880-1893 dann noch einmal eine Steigerung mit gar 1.8 Millionen.« 29 Holtei: Der dumme Peter (s. Anm. 17), S. 125f. – Bisher konnten jedoch noch keine einschlägigen Stücke vor 1837 verifiziert werden. Felix Men27

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Dabei könnte es sich allerdings auch lediglich um eine Form von Autoreferentialität handeln, denn bisher ließen sich keine entsprechenden Bühnenstücke für die Zeit vor 1837 verifizieren.

Ernst Wichert: Die Realisten (1874) Verschärft findet sich das Austesten von menschlichen Qualitäten und deutschen Tugenden durch den heimgekehrten Onkel 1874 in Ernst Wicherts Boulevardstück Die Realisten,30 denn den Plot bildet hier ein gleichsam unter Laborbedingungen durchgeführtes soziologisches Experiment auf das deutsche Nationalstereotyp.31 Roderich Werwein, der als Kämpfer für die Ideale von 1848 nach Amerika fliehen musste, kehrt nach der Reichsgründung als immer noch idealistischer Deutscher in die Familie seines Bruders, des Fabrikanten Franz Werwein, zurück, um dort in einer Zeit als Idealist zu fungieren, in der die ideal-nationale Begeisterung bereits deutlich abgeflaut ist. Was er jedoch statt des erwarteten rodelssohn Bartholdy hatte zwar schon 1822/23 die komische Oper in drei Aufzügen »Der Onkel aus Boston« geschrieben (Libretto von Johann Ludwig Casper nach einer nicht bekannten literarischen Vorlage), doch wurde die erst 2004 welturaufgeführt (vgl. das Programmheft der Philharmonie Essen: Felix Mendelssohn Bartholdy. Welturaufführung »Der Onkel aus Boston«, Sonntag, 3. Oktober 2004). Auch der »Onkel aus Boston« findet bei seiner Rückkehr nach Deutschland »alles anders vor, als er es verlassen hatte« (ebd., S. 27). 30 Ernst Wichert: Die Realisten. Lustspiel in vier Aufzügen, Leipzig 1874. – Die Darstellung folgt der ausführlicheren Analyse in Rolf Parr: RealIdealismus. Zur Diskursposition des deutschen Nationalstereotyps um 1870 am Beispiel von Ernst Wichert und Theodor Fontane, in: Literatur und Nation. Die Gründung des Deutschen Reiches in der deutschsprachigen Literatur. Mit einer Auswahlbibliografie, hg. v. Klaus Amann u. Karl Wagner, Wien, Köln, Weimar 1996, S. 107-126. 31 Ähnlich sah auch Wichert sein Stück: »Es wollte die deutsche gut bürgerliche Gesellschaft unter dem Einfluss der mächtigen Begebenheiten von 1870/71 zeigen, aber schon in der Zeit, in welcher der ideale Enthusiasmus stark verraucht war und man immer mehr das Bedürfnis fühlte, sich zu Ehren des neuen Reiches von Grund aus umzugestalten, die Dinge möglichst nüchtern von ihrer praktischen Seite zu nehmen und auch im Privatleben Realpolitik zu treiben. So führt das Lustspiel nun mancherlei Typen von Leuten ursprünglich gutdeutscher Gesinnungs- und Empfindungsweise vor, die im Rausch der Zeit taumelig geworden sind und sich die wunderlichsten Umwandlungen zumuten« (Ernst Wichert: Richter und Dichter. Ein Lebensausweis von E.W., Berlin, Leipzig 1899, S. 168f.). 28

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mantisch-idealen Deutschlands vorfindet, ist ein realpolitisch-realistisches: Sohn Robert strebt eine preußische Beamtenkarriere an, ist aber finanziell nicht in der Lage, den nötigen gesellschaftlichen Aufwand zu treiben. Er löst daher das bestehende Verlöbnis mit der Tochter eines Gymnasiallehrers, um eine gewinnbringendere Liaison eingehen zu können: »Ich will nun einmal nicht«, ruft er ganz ›realistisch‹ aus, »der deutsche Philister sein, den die Liebe aus mir formen soll«.32 Sein Vater Franz ist unter dem Einfluss des jüdischen Bankiers Löwenberg kurz davor, die bisher in Familienbesitz befindliche Fabrik in eine maßlos überbewertete Aktiengesellschaft umzuwandeln und so die Aktionäre gleich mit der Neuemission zu betrügen. Seine Tochter Julie schließlich gibt dem sie verehrenden, aber mittellosen Maler Edmund Wastl unmissverständlich zu verstehen, dass sie ihre ›modernen‹ Ansprüche auf Kleidung, Reisen und Gesellschaft unter keinen Umständen einzuschränken gewillt ist: »Wissen Sie noch immer nicht, daß ich eine realistische Natur bin und mir etwas darauf einbilde? [...] mir ist alles deutsch-sentimentale Wesen verhaßt.«33 Der amerikanische Onkel unterwirft nun alle Figuren des Stücks einer Charakterprobe, indem er sie zunächst regelrecht dazu verführt, sich auf eine noch sehr viel extremere ›Realismus‹-Position einzulassen; dies aber nur, um die gesamte Familie auf diese Weise letztlich wieder für den alten deutschen Idealismus zurückzugewinnen. Bei meinen lieben Deutschen finde ich Herz und Kopf nicht mehr ganz auf der richtigen Stelle; sie haben ihrer Natur einmal einen Stoß gegeben, um große Dinge zu erreichen, und sind darüber ein wenig aus dem Gleichgewicht gekommen. Was sie sich sonst als Tugend anrechneten und was sie so liebenswürdig machte, das meinen sie nun verstecken zu müssen, damit man sie für ächte Realisten halte, denen die Welt gehört. Pah! Noch fühlen sie sich sehr unbehaglich in dem neuen Rock, der ihnen gar nicht auf den Leib passen will – aber wer weiß, was mit der Zeit ...? Gut denn! Versuchen wir’s erst einmal in nächster Nähe, den bösen Geist mit Beelzebub auszutreiben. Meine Realisten sollen zeigen, ob sie wirklich die Leute sind, für die sie gelten wollen. Und wenn sie die Probe bestehen, dann – ade Deutschland! Mit dem nächsten Dampfer kehre ich zurück nach Amerika!34

In der einen oder anderen Form wird im Folgenden jede Figur des Stücks durch die »kluge Berechnung«,35 also das kalkülhaft-realistische Handeln

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Wichert: Die Realisten (s. Anm. 30), S. 9. Ebd., S. 6. Ebd., S. 25. Ebd., S. 91 (Hervorhebung von mir, R.P.). 29

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des Onkels auf eine extrem realistische Position hin verschoben (siehe Schema 1), wie sie sonst nur vom stets mit kalter Berechnung handelnden Bankier Löwenberg36 behauptet wird. Dieses Verschieben der Charaktere zu ›Realisten‹ beginnt damit, dass Onkel Roderich seinem Neffen Robert die Vermittlung einer nicht mehr ganz jungen, aber finanziell potenten Witwe in Aussicht stellt. An Robert ist es nun, sich als echter ›Realist‹ zu erweisen, indem er einwilligt und dem Onkel bekräftigend versichert: »Du sollst die Deutschen nicht mehr Schwärmer und Träumer nennen –!«37 Dem Maler Wastl bietet Roderich im Auftrage eines amerikanischen Museums an, gegen eine Summe von »zehn- bis zwölftausend Thaler jährlich«38 italienische Meister zu kopieren, allerdings mit der Auflage, »in aller Form zwanzig Jahre lang auf jede eigene Kunstthätigkeit zu verzichten«;39 Charlottes Vater, dem Gymnasialprofessor und Altphilologen Emanuel Knorr kauft er für 1 Mark pro Band die in Jahrzehnten zusammengetragene Bibliothek ab; seinem Bruder Franz schließlich vertraut Roderich das Geheimnis einer im Garten vergrabenen Volkskasse aus der 48er Zeit an, die so viel Geld enthalten soll, dass Franz damit seine angeschlagene Firma sanieren könnte. Was dann folgt, ist eine Reihe von Charakterproben auf die Ernsthaftigkeit der eingenommenen Positionen. Denn kaum sind sämtliche Figuren im Feld des Hyper-Realismus platziert, so werden sie in Situationen versetzt, die sie zwingen, ihre Entscheidung gegen die aufgegebenen ›idealen‹ Werte noch einmal zu überdenken und Szene für Szene von ihrem vermeintlichen ›Realismus‹ wieder abzurücken.

36 »Ja – ich sage mit meinem Schiller: am Golde hängt, nach Golde drängt und so weiter. Ist doch eine solide Basis. Wenn ich einmal heirathen sollte, müßte ich überzeugt sein, daß meine Frau mich meines Geldes wegen nähme« (ebd., S. 12). – In ihrem Kalkül unterscheiden sich Roderich und Löwenberg durch ›kluge‹ vs. ›kalte‹ Berechnung. 37 Ebd., S. 33. 38 Ebd., S. 42. 39 Ebd., S. 43. 30

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Schema 1 Sind also am Schluss wieder alle Idealisten und fungiert der Onkel damit als jenes »bessere[] Ich«,40 das Ferdinand Kürnbergers Auswanderer dem Idealbild Amerika bei ihrer Ankunft noch in toto zusprachen? Keineswegs! Schaut man genauer hin, so entpuppt sich die Positivfigur des Onkel Roderich als die eines ›real-idealistischen‹ Mischcharakters. Denn gerade er bedient sich ja ausgesprochen realistischer Kalküle zur Durchsetzung seiner Ziele. Mit seinem Charakterbild favorisiert das Stück also eigentlich eine Position des Real-Idealismus. Strukturell kommt dies dadurch zustande, dass das dominante Oppositionspaar von ›Verstand‹ versus ›Gefühl‹ zwar auch die Bereiche ›Realismus‹ und ›Idealismus‹ voneinander trennt. Doch sind beide jeweils noch einmal in einen positiven und einen negativen Bereich unterschieden, sodass sich in der Mitte der Matrix eine integrale Zone von ›positivem Realismus‹ und ebenso ›positivem Idealismus‹ ergibt, in der am Ende des Stücks die gesamte Familie Werwein/Knorr – bei nur geringen Abstufungen untereinander – platziert ist. Sie nimmt damit jene ›real-idealistischdeutsche‹ Diskursposition ein, die sich ab 1866 verfestigt hatte und dann in der Gründerzeit dominierte. Allein Löwenberg steht als ›harter‹, ›kalter‹, ›praktischer‹, ›rücksichtsloser‹ Kalkül-Charakter weiterhin für ein jüdisches Stereotyp, das auch hier mit einem allerdings nur an wenigen Stellen und dann eher indirekt thematisierten amerikanischen

40 Ferdinand Kürnberger: Der Amerikamüde. Roman, Wien u.a. 1985, S. 7. 31

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zusammenfällt. Unbesetzt bleibt die alte, romantisch-deutsche Diskursposition, auch wenn seine philologische Schwärmerei den Professor Knorr bedenklich nah an sie heranrücken lässt. In der Projektion von 1848 auf die Situation von 1874 heißt das aber auch, den ›alten deutschen Idealismus‹ ein Stück weit ›amerikanischrealistisch‹ zu machen, was einer partiellen »Synthese von Deutschem und Amerikanischem«41 gleich käme, auch wenn immer noch eine Opposition von ›realistisch-deutsch‹ vs. ›pragmatisch-amerikanisch‹ denkbar wäre, auf die Schuchalter/Schildberg-Schroth im Abschnitt »Deutsche Idealisten – pragmatische Amerikaner« in ihrer Untersuchung zum deutschen Amerikabild des 19. Jahrhunderts hingewiesen haben.42 Der Schluss des Stücks bringt auch bei Wichert die emphatische Wiedervereinigung der deutschen Familie, die hier zugleich zum Modell für das 1871 neu gegründete Deutsche Reich wird. Nachdem Roderich sich nämlich mit der Frage: »Sind wir nun endlich Alle wieder bei uns zu Hause?« vergewissert hat, dass jede Figur ihren Endplatz in der Matrix auch wirklich eingenommen hat, meldet sich noch einmal Gymnasialprofessor Knorr zu Wort: »Kinder – in diesem erhabenen Moment – können wir denn nicht etwas Außerordentliches thun? Was meint Ihr: Telegrafische Depesche an Fürst Bismarck – ›Fünf deutsche Männer und drei deutsche Jungfrauen reichen sich so eben die Hand ...‹«. Darauf Roderich: »Laßt nur! er glaubt’s uns auch ohne das. – Hüte Jeder für sich das deutsche Haus und das deutsche Reich wird uns nicht verloren gehen.«43

Elisabeth von Grotthuß: Zwei Onkel aus Amerika (1875) Das ein Jahr später veröffentlichte Lustspiel Zwei Onkel aus Amerika greift das bei Holtei und Wichert zu findende Modell auf, allerdings wird es nicht mehr in so elaborierter Weise durchgespielt, sondern lediglich vereinfacht fortgeschrieben. Diesmal ist es der junge Schriftsteller Franz, der den fälligen Mietzins bis zum Erscheinen seines ersten Romans in vierzehn Tagen nicht mehr bezahlen kann und von seiner Zimmerwirtin auf die Straße gesetzt werden soll. Das ist umso misslicher, als er zudem auch noch in deren Tochter Susanne verliebt ist. Die für ein Lustspiel nötigen Verwirrungen und Irritationen kommen in diesem Stück dadurch ins Spiel, dass Karl als Freund von Franz Abhilfe schaffen will, indem er 41 Martini: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer (s. Anm. 1), S. 183. 42 Schuchalter / Schildberg-Schroth: Januskopf Amerika (s. Anm. 28), S. 2631. 43 Wichert: Die Realisten (s. Anm. 30), S. 93. 32

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den Besuch des Onkels simuliert, der richtige Onkel aber auch noch eintrifft, sodass am Ende zwei Onkel aus Amerika auf der Bühne stehen, beide mit der für Gäste im Realismus typischen Vermittlungsfunktion. Den Part, den bei Holtei und auch Wichert die jüdischen Bankiers inne hatten, nimmt diesmal Frau Busch ein, Susannes Mutter: Sie ist Opportunistin des Geldes und misst die möglichen Partien für ihre Tochter ausschließlich an ökonomischen Kriterien (übrigens ebenso wie der sie nach dem Vorbild der Commedia dell’ Arte in ihrem Charakter auf sozial niedriger stehender Stufe verdoppelnde Hausdiener). Für den Typus des ›reichen Onkels aus Amerika‹ ist an diesem Szenario bemerkenswert, dass er aus kursierenden und nur daher wirksamen Stereotypen des Amerikanischen gleichsam synthetisch erzeugt werden kann, ja der simulierte Onkel in weit größerem Maße über die Einzelbestandteile des Stereotyps verfügt als der echte. So hat Karl in der Rolle des Onkels ein Diamantenkästchen und Wertpapiere sowie den eingefärbten Hausdiener als seinen »Neger« bei sich, denn – das bestätigt auch Frau Busch – »ein so vornehmer Herr wird doch nicht aus Amerika ohne Neger kommen«.44 Der muss seinen Gebieter daher auch stets mit »Massa« und in gebrochenem Deutsch ansprechen. Auch bei Grotthuß werden nahezu alle Personen auf ihre Charaktereigenschaften getestet: Susanne auf ihre Treue und darauf, ob sie Reichtum über das Leben des Onkels aus Amerika stellen würde; ihr Freund Franz darauf, ob er sein Dichten dem Geld vorziehen würde. In menschlicher Hinsicht wird zugleich auch für ihn geprüft, ob er den Onkel lieber lebendig und unbeerbt oder tot und beerbt sähe.45 Schließlich muss der vermittelnde Freund Karl seine Loyalität gegenüber Franz dadurch dokumentieren, dass er deutlich macht, sich nicht auch für Susanne zu interessieren. Selbst der Onkel hat en passant seinen guten deutschen Charakter unter Beweis zu stellen. Allerdings bleiben alle Figuren in ihrem Charakter konstant, machen keine Entwicklung auf Grund plötzlicher Einsicht oder Bekehrung durch. Um den Konflikt zu lösen, müssen die Figuren in diesem Stück nicht mehr erst ›zu sich selbst kommen‹, also in ihren Charakterpositionen zurechtgerückt werden.

44 Elisabeth von Grotthuß: Zwei Onkel aus Amerika. Lustspiel in 5 Aufzügen, Leipzig 1875, S. 43. 45 Ebd., S. 11: »Ja, so arm ich auch bin, kann der Verlust der Reichtümer meines Onkels doch nicht in die Wage [sic!] fallen mit dem Verluste seines Lebens und seines echten Interesses für mich.« 33

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Franz Grundmann: Der Onkel aus Amerika (1900) Um 1900 wechselt das ›Onkel‹-Genre von den Boulevard- auf die Volksund Laienbühnen, wobei es weiter an Komplexität verliert. Ein erstes Beispiel ist hier Franz Grundmanns Schwank in einem Akt Der Onkel aus Amerika. Das Stück spielt in einer Schreinerfamilie, die ihr Auskommen hat, aber auch nicht mehr als das. Der fleißige, aber besitzlose Geselle Hugo möchte die Tochter Liese heiraten, während der Vater sie wegen Hugos Mitgliedschaft im sozialdemokratischen Verein lieber mit dem reichen, aber geizigen und zudem viel zu alten Spindel verheiraten möchte, der mit dem Brautvater auch schon handelseinig ist. Der Onkel aus Amerika erscheint in dieser zunächst ausweglosen Situation als Deus ex Machina, der die Konfliktachsen von ›arm‹ vs. ›reich‹, ›jung‹ vs. ›alt‹ und ›geizig‹ vs. ›bürgerlich-sparsam‹ wieder ins Lot bringt. So berichtet Hugo, dass sein Onkel William in der Werkstatt aufgetaucht sei und versprochen habe »daß er uns aufhelfen wolle, Reichthümer, so meinte er, habe er nicht mitgebracht aus Amerika, auf einige tausend Thaler komme es ihm aber nicht an. Denk nur, Liese, einige tausend Thaler, was wir da anfangen können. Wird Dein Vater nun auch noch dagegen sein?«46 Zusätzliche Dynamik kommt dadurch ins Spiel, dass der Vater die Verheiratung mit Spindel perfekt machen will, während Hugo seinen bereits am Ort eingetroffenen Onkel holt, um »dann ebenfalls« bei Lieses »Vater in aller Form um« ihre »Hand anzuhalten«.47 Auf diese Weise kommt es in der Stube der Familie Hobel zu einer Art Bieterkampf um Liese, der aber zugleich dazu dient, die Figuren auf ihre Charaktereigenschaften hin auszutesten, denn geboten wird zunächst mit menschlichen gegen ökonomische Qualitäten, von denen die menschlichen in dem Moment als Differenzkriterium übrig bleiben, in dem der Onkel für ökonomischen Ausgleich der ›Waffen‹, ja sogar ökonomisches Übertrumpfen von Spindel sorgt. Spindel (ganz verblüfft). [...] Willst Dein Kind einem jungen Grünspecht geben, der nichts ist und nichts hat als – Hugo. Gesunde Arme (Er streckt die Arme von sich.) Spindel. Ich habe eine Bauernwirthschaft – Liese (zupft Hugo am Barte). Und er einen hübschen Schnurrbart – Spindel. Ich habe Zwanzigtausend baar. Hobel. Und der hat einen amerikanischen Onkel – 46 Franz Grundmann: Der Onkel aus Amerika. Schwank in 1 Akt. Den Bühnen gegenüber als Manuskript gedruckt, 2. Aufl., Berlin 1900, S. 9. 47 Ebd., S. 10. 34

DER ›ONKEL AUS AMERIKA‹

Spindel. Und zwei Häuser hab’ ich auch noch. Hobel (etwas leise zu Spindel). Und er hat drei Koffer mit Goldklumpen auf dem Bahnhofe.48

Für das Publikum fällt Spindel aber bereits zuvor durch, weil es ihm nicht darum geht, eine Frau, sondern eine unbezahlte Haushälterin zu gewinnen. Das ist auch der Punkt, an dem Vater Hobels Meinung kippt. Hugo dagegen besteht die Testreihe in Sachen ›Menschliches‹, weil er Liese im entscheidenden Moment über jeglichen Besitz stellt. Frau Hobel ändert genau an dieser Stelle ihre Meinung und wechselt ebenfalls auf Hugos Seite.

Arnold Spanke: Der Onkel aus Amerika (1904) Leben die Stücke von Holtei, Wichert, Grotthuß und Grundmann von sozialen Polarisierungen und Charaktertests, so ist die soziale Spannbreite des Figurenarsenals in Arnold Spankes Weihnachtsspiel in drei Teilen von 1904, dessen Handlungsort mit »Stadt in der Industriegegend« angegeben und das dem »Probsteikirchenchor in Dortmund« gewidmet ist, sehr viel homogener und wird auch durch das Vermögen des Onkels nicht wesentlich irritiert. Der tritt darin zunächst als ein ›verlorener Onkel‹, dann ›verlorener Bruder‹ und aus der Perspektive des Großvaters schließlich ›verlorener Sohn‹ in Erscheinung, wobei sich der Charaktertypus leicht verschiebt, denn der Onkel wird diesmal als »ein reichbegabter Junge« eingeführt, der »ein gutes Herz« hatte, aber auch »leichtsinnig« war.49 Das bringt eine latente Ambivalenz in den Charakter hinein, wie sie so vor 1900 noch nicht anzutreffen ist. Getestet wird in diesem Rührstück niemand mehr, denn man hat es ausnahmslos mit regelrechten Gutmenschen zu tun: überaus braven und gelehrigen Kindern, die im Haushalt helfen, kaum etwas haben, davon aber noch den Armen geben,

48 Ebd., S. 17. 49 Arnold Spanke: Der Onkel aus Amerika. Weihnachtsspiel in drei Teilen, Paderborn, S. 8. – Ähnlich bei Elliesen: Eilerts Onkel aus Amerika (s. Anm. 4), S. 13. Dort heißt es vom Onkel, dass »er als Kriegsfreiwilliger mit dem Notabitur ins Feld gegangen und als Leutnant wiedergekommen« ist. »Dann hatte er die technische Hochschule besucht und die Prüfungen mit Glanz bestanden. Trotzdem meinte der Vater, daß er zu leichtsinnig und zu abenteuerlustig wäre. [...] Der Vater hatte den Bruder zwar sehr gern, aber er meinte, daß der Jüngere seine glänzenden Fähigkeiten hätte besser nützen müssen.« 35

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mit einem Vater, der »in saurer Arbeit ehrlich sein tägliches Brod«50 verdient, einem Onkel aus Amerika, der am Weihnachtsabend als zurückkehrender verlorener Sohn seinen alten Vater beglückt und obendrein auch noch seine beiden schwarzen Adoptivkinder mitbringt, die von den Knaben als neue Vettern sofort herzlich aufgenommen werden (also nicht mehr »Neger« in der Funktion von Dienern). Selbst die Nebenfigur des Ruhrgebietspolen Woitek hat ihre einzige Funktion darin, das Geschehen mit Tränen der Rührung zu begleiten, dem Publikum also den beabsichtigten Rezeptionseffekt regelrecht vorzuführen. Fast schon als Anhängsel wirkt da die ganz am Schluss gemachte Mitteilung, dass der Onkel auch noch reich sei und damit »alle Not ein Ende« habe.51 Da Konflikte nicht vorkommen, ist in einem solchen Szenario auch keinerlei Charaktertest mehr nötig, mit dem die Figuren zurechtgerückt würden. Das Genre ›Onkel-aus-Amerika‹ wird damit auf eine bloße Illustration der biblischen Geschichte vom verlorenen Sohn reduziert.52

Ausblick ins 20. Jahrhundert Varianten findet das Genre, was abschließend nur noch in einem kleinen Ausblick angedeutet werden kann, 1932 mit Harald Baumgartens Roman Fünf Millionen suchen einen Erben, der die Reiserichtung umkehrt und die Erben zur Testamentseröffnung unter allerlei abenteuerlichen Umständen nach New York fahren lässt, womit gegenüber den Stücken aus der Zeit des Realismus die Positionen von Gast und Gastgeber getauscht werden (was ähnlich auch in Erika Manns Kinderbuch Stoffel fliegt übers Meer der Fall ist).53 Zugleich wird der Re-Import deutscher Nationalstereotype aufgegeben, denn die Reise dient eher dazu, ein zwischen Faszination und Angst vor Gaunerei, Betrug und undurchsichtigen »Niggern« schwankendes Amerikabild zu entwerfen, auch wenn auf dessen Rückseite Elemente des tradierten Sets an ›deutschen Tugenden‹ zugleich positiv erscheinen müssen. Was bleibt, ist die Testsituation auf die Charaktere der Liebenden, denn das auseinandergerissene junge deutsche Paar würde für die Zweisamkeit im Zweifel auch die aus der Erbschaft win50 Ebd., S. 16. 51 Ebd., S. 22. 52 Jede Spezifik verliert der ›Onkel aus Amerika‹ dann 1907 in Rudolf Dorns Stück Der Onkel aus Amerika. Posse mit Gesang (Wien: Verlag der Kongregation der frommen Arbeiter vom hl. Josef Calasanz 1907), in dem er nur noch als Aufhänger für eine simple Verwechslungskomödie dient. 53 Erika Mann: Stoffel fliegt übers Meer. Bilder und Ausstattung von Richard Hallgarten, Stuttgart 1932. 36

DER ›ONKEL AUS AMERIKA‹

kenden Millionen aufgeben. Der schon bei Holtei und Wichert anzutreffende Topos von der Wiedervereinigung der (deutschen) Familie kehrt also auch hier wieder, bildet sogar den eigentlichen Spannungsbogen des Films. Eine zweite Variante bringt Ferdinand Altenkirchs Komödie Man braucht kein Geld 54 von 1929, zwei Jahre später von Carl Boese unter gleichem Titel verfilmt. Diesmal kommt der Onkel aus Amerika arm wie eine Kirchenmaus in seiner Heimatstadt an, wo man eigentlich von ihm erwartet, die angeschlagene Öl-AG seines Neffen zu retten. Vorgeführt wird dann, wie das kollektiv verbreitete Stereotyp vom eben ›reichen‹ Onkel aus Amerika selbst ohne Geld noch funktioniert: Der Onkel wird im ersten Haus am Platze einquartiert und zum Präsidenten der Öl-AG gemacht, was die Aktien wieder steigen und die Firma prosperieren lässt. Entdeckt wird die Maskerade erst, als die Stadtväter seine Biografie schreiben wollen und dazu Kontakt mit Amerika aufnehmen. Ist also das Stereotyp vom rettenden Geld aus Amerika am Ende der Entwicklung des Genres am Ende? Nicht ganz, denn eine plötzlich wieder sprudelnde Ölquelle springt ein. Rettung kommt also weiterhin aus Richtung Westen, was zugleich erklärt, warum der Film in der Nachkriegszeit unter dem neuen Titel Der Onkel aus Amerika ein Remake erleben konnte. 1952/53 sang man darin als vielleicht letztmögliche Schwundstufe der Charaktertests (siehe Abb. 1): »Man braucht kein Geld um glücklich und verliebt zu sein man braucht kein Geld dazu./ Man braucht ein Herz voll Liebe und voll Sonnenschein, dann kommt das Glück im Nu.«55 Bleibt nachzutragen Alain Resnais Film Mon oncle d’amérique von 1980,56 der die Vorstellung des amerikanischen Onkels nur noch als im Titel auftauchende Chiffre für jenes bisschen menschliche Glück benutzt, »das wir wie die Erbschaft eines reichen Onkels erwarten«.57

54 Ferdinand Altenkirch: Man braucht kein Geld. Eine Komödie des Geldes in 4 Akten. Als Ms. vervielfältigt, Berlin 1929. 55 Der Onkel aus Amerika. Illustrierte Film-Bühne, Nr. 1851, S. 4. 56 MON ONCLE D’AMERIQUE. Frankreich 1980. Regie: Alain Resnais. Drehbuch: Jean Gruault. Produktion: TF 1. – Der Akzent wäre dementsprechend auf »mon« zu setzen. 57 Mein Onkel aus Amerika. Ein Spiel/Film von Alain Resnais. München: Concorde Film. [Broschüre o.J., ohne Seitenzählung]. – Aktuell dient der Topos eher der Parodie auf George W. Buch, wie im Gedicht Der Onkel aus Amerika des Luxemburger Autors Francis X. Kirps (in: Das Hanebüchlein. Geschichten mit Hängen und Würgen, http://hanebuechlein.de/ literatur/lyrik/kirps-4.htm, Zugriff vom 12.10.2007), in dessen letzter Strophe es heißt: »Der Onkel aus Amerika/ beschirmt die ganze Nachbarschaft/ 37

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Abb. 1: Illustrierte Film-Bühne, Nr. 1851, S. 4.

Er macht kaputt was uns kaputt macht/ und nimmt schon mal den Rest der Welt in Schutzhaft./ Danke-danke-danke-schön für alles/ guter Onkel aus Amerika!« 38

DER LANDVERMESSER. BALDUIN MÖLLHAUSEN IN AMERIKA ALEXANDER HONOLD Der Topos »Amerika« hat in der Moderne zwei auf den ersten Blick gegensätzliche Gesichter.1 Amerika, das ist einerseits Weite des Landes und unerschöpflicher Raum sich stets hinausschiebender Horizonte; andererseits aber weist der Name auf den Inkubationsprozess städtischindustrieller Agglomerationsbildung und die rasch unkontrollierbar wachsende Dynamik kapitalistischer Akkumulation. Dem HorizontalTopos der unermesslichen Flächenreserven korrespondiert, epochal leicht verschoben, jener des maßlosen Höhenwachstums der Wolkenkratzer in den Metropolen New York und Chicago. Stadt und Land sind eine Basisopposition in der kulturellen Raumordnung vor allem des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts. Die vielfältigsten narrativen Arrangements loten die gegensätzliche Kombinatorik dieser Handlungsräume aus, erzählen von Landflucht und dann auch von Stadtflucht, vom irritierenden Ineinandergreifen beider Wertordnungen und von den Versuchen ihrer säuberlichen Scheidung. Im städtischen Milieu prägen sich indes bald auch Genres aus wie der Kriminalroman oder die Kolportageliteratur, in welchen das abenteuerliche Raumgefühl unwegsamer Gebiete als Effekt zivilisatorischer Verdichtung wiederkehrt. Gerade die Verfolgungsdramaturgie der Kriminalliteratur nährt die Erfahrung, dass im urbanen Raum, im topografischen Zusammenspiel der Häuserzeilen, Straßen und Plätze, eine Art Natur zweiten Grades schlummert, durch die man sich Spuren suchend und Fährten lesend bewegen kann wie ein Indianer durch die Wälder und Steppen Nordamerikas. Wenn sich Wildwest- und Großstadt-Topos überlagern, so wird daraus das »Dickicht der Städte«. Die ästhetische Überformung des Stadtraums durch Indianerspiele und Verfolgungsjagden hat Walter Benjamin im bekannten Flaneur-Kapitel seiner ersten Baudelaire-

1

Zur literarischen Ausgestaltung des Topos bei deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts vgl. Das Amerika der Autoren. Von Kafka bis 09/11, hg. v. Jochen Vogt u. Alexander Stephan, München 2006. 39

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studie nachgezeichnet, indem er das Phänomen auf die Amerika-Mythen James Fenimore Coopers zurückführte. Dumas, Balzac, Baudelaire und Edgar Allan Poe, sie alle folgen Coopers indianischen Choreografien des Versteckspielens und Spurensuchens und übertragen sie auf den denkbar andersartigen, aber letztlich eben doch strukturhomologen Raum der urbanen Moderne. Der Flaneur, eine Großstadtexistenz par excellence, ist zugleich ein »Detektiv wider Willen«, den konspirativen Plot gibt der Zufall vor.2 Für das Bild Amerikas in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts haben die Romane Coopers eine enorme Wirkung gehabt. Diese Wirkung lag nicht nur in der Bereitstellung von landeskundlichen Realien, von charakteristischen Motiven und atmosphärischen Details, sondern sie ist vor allem auch auf strukturaler, erzähltechnischer Ebene zu suchen. Coopers Romane, insbesondere seine mit Deerslayer beginnende Leatherstocking-Serie, gaben mit ihren prominenten Figuren des Pioniers, des Jägers und Spurensuchers einen Typus von Protagonisten vor, der an die überlieferten Handlungsschemata antiker und mittelalterlicher Heldenausfahrten und Bewährungsproben erinnerte, an die quester heros, die Suchenden und Wandernden, die in die Welt hinausziehen, um Gefahren durchzustehen und sich im Kampf zu bewähren; sie verfolgen hierbei ein Ziel, das zwar jenseits ihrer bekannten kulturellen Ausgangsordnung liegt, aber gleichwohl durch Reisen und Anstrengungen erreicht werden kann. Dieses plot-Modell konstituiert einen Erzähltyp, dem, struktural gesprochen, eine Isomorphie von Handlungsgang und zurückgelegtem Erzählweg zugrunde liegt. Die vorwärts weisende, raumdurchquerende Suche des Protagonisten wird dann in ihrem Prozess jene lineare Konsekution entstehen lassen, die Musil spöttisch als den »Faden des Erzählens« bezeichnete. Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten ›Faden der Erzählung‹, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht.

2

Diese Zufallslenkung der urbanen Bewährungsproben arbeitet Walter Benjamin insbesondere an Dumas’ Mohicans de Paris heraus: »Ihr Held entschließt sich, auf Abenteuer auszuziehen, indem er einem Fetzen Papier nachgeht, den er den Winden zum Spiel überlassen hat.« (Walter Benjamin: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, in: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. I/2, Frankfurt/M. 1991, S. 511-604, hier S. 543.) 40

DER LANDVERMESSER BALDUIN MÖLLHAUSEN

Diese romankritische Reflexion hat Musil ironischerweise dem Protagonisten seines Hauptwerks, dem »Mann ohne Eigenschaften«, in den Mund gelegt. Wenn das Leben in eine Sinnkrise gerät, dann ist in diesem Falle das Narrationsbewusstsein des Helden daran schuld, der um die literarische Fabriziertheit perspektivischer Kohärenzeffekte weiß. Das ist es, was sich der Roman künstlich zunutze gemacht hat: der Wanderer mag bei strömendem Regen die Landstraße reiten oder bei zwanzig Grad Kälte mit den Füßen im Schnee knirschen, dem Leser wird behaglich zumute, und das wäre schwer zu begreifen, wenn dieser ewige Kunstgriff der Epik, […] diese bewährteste ›perspektivische Verkürzung des Verstandes‹ nicht schon zum Leben selbst gehörte.3

Das erzählte Abenteuer, so Musils Kritik, ist gar keines mehr, weil es vorgespurten Wegen folgt und vor allem immer schon einer erzählenden Konsekution unterworfen ist, die den Helden und seine Handlung am Ende sicher nach Hause bringt. Der für unseren Zusammenhang bedeutsame Aspekt ist die Engführung von erzählerischer Ordnung einerseits und einem bestimmten Handlungsschema andererseits, demjenigen der linearen Progression, wie sie dem Weg eines Wanderers entspricht, in früheren Epochen auch den Routen von Pilgern oder Entdeckungsreisenden. Die betonte, weil durch Widerstände, Hemmnisse und aufzuwendende Kräfte erschwerte Fortbewegung im Raum ist – der Möglichkeit nach – je auch eine Thematisierungsform der Zeitqualität des Epischen selbst als einer konsekutiv geordneten Abfolge von Handlungsschritten. Die Figuren Coopers, vor allem die Protagonisten der Landnahme und des großen Zugs westwärts, treten besonders prägnant als Akteure raumgreifender Bewegungen auf; sie durchmessen ein Terrain, das sie mit ihrem Vordringen überhaupt erst erschließen und kulturell erfahrbar machen. Die Weise ihres Raumerlebens ist Spuren suchend und wegbahnend, die Figur des pathfinder ist ihr programmatischer Ausdruck. In den literarischen Darstellungsmustern für die Konzeptualisierung des Fremden lassen sich grundsätzlich und idealtypisch zwei Modelle unterscheiden. Zum einen solche Narrationsformen, die eine situative Konfrontation zwischen eigener und fremder Kultur entwerfen und hierbei gleichsam statische Gegensätze konfigurieren – und dieser Typus tendiert eher zum sozialen Breitbild als zur individuellen Heldenfigur. Auf der anderen Seite aber gibt es eben den Narrationstyp von der Art des Cooperschen Pfadfinders, des Reisenden und Abenteurers, welcher sich seinen Weg durch unbekanntes oder gar feindliches Gelände bahnt. Typ 3

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 650. 41

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eins wäre das Szenario der ethnografischen Konfrontation zweier distinkter, aber annähernd äquivalent ausbalancierter Kulturen oder Gesellschaftsbereiche, Typ zwei die handlungsdynamische Vorwärtsbewegung eines Einzelnen oder einer kleinen Exkursionsgruppe.4 Wie sich nun, innerhalb der englischsprachigen Literaturtradition, aber auch darüber hinaus, Cooper als paradigmatische Ausprägung des Pfadfinder-Modells beschreiben lässt, so ließe sich das Vorbild für die Erzählmuster der ethnografischen Konstellation in den historischen Romanen Walter Scotts finden. Genau genommen hat sich der Coopersche Typus aus dem Scottschen Modell entwickelt, aber aufgrund der anderen Gegebenheiten an der amerikanischen Frontier eine Art territorialer Dynamisierung und Elementarisierung erfahren. In Scotts Waverley etwa stellt der Autor einen jungen Engländer am Vorabend der schottischen Revolution 1745 zwischen die Fronten, um in seinem Sozialpanorama vor den Lesern zwei gegensätzliche gesellschaftliche Formationen entfalten zu können. Ein direkter Nachfahre dieser Darstellungsform ist dann E. M. Forster in A Passage to India. Bei Scott freilich ist die Ordnungsachse nicht so sehr durch den Kontrast zwischen eigener und fremder Kultur vorbestimmt als durch denjenigen zwischen ancient und new, zwischen Tradition und Fortschritt. Wenn Cooper dieses Modell auf Amerika zu übertragen versucht, ist das Ergebnis allerdings die Kontrastierung zweier stark asymmetrischer Bereiche. Auf der einen Seite stehen die Gesellschaftsordnung des weißen Mannes, seine Machtansprüche und seine technische und wissenschaftliche Überlegenheit, auf der anderen befinden sich die unerforschte, abweisende Natur und die ebenfalls undurchdringlichen, als feindlich eingeschätzten Kulturen der Indianer. Coopers erster Roman, The Spy, lässt schon durch seinen Untertitel, »A Tale of the Neutral Ground«, eine gewisse Abhängigkeit von Scott erkennen; bei jenem trat »der Ausdruck ›neutral ground‹ […] in den Scotch Novels immer wieder« hervor.5 Anders als Scott kann sich Cooper indes nicht auf ein stabiles Sozialgefüge und dessen kulturelle Wertmuster beziehen. Die im Historienroman gezielt aufgesuchten, extrem polarisierten Krisen- und Umbruchzeiten gewinnen ihren literarischen Reiz aus der Ausnahmesituation. Im sozial unterdefinierten amerikanischen Kontext sind solche Krisen und Ausnahmesituationen dagegen der Normalfall, sodass vordergründig alle Handlungsmacht und alles Orientierungswissen auf die exponierten Protagonisten abgestellt sind. Der ethnografische Reise- und Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts wird 4

5

Ich folge hierin der anregenden typologischen Unterscheidung von Gunter G. Sehm: Der ethnographische Reise- und Abenteuerroman des neunzehnten Jahrhunderts. Eine Gattungsbestimmung, Wien 1972. Ebd., S. 18. 42

DER LANDVERMESSER BALDUIN MÖLLHAUSEN

demnach, so fasst Gunter Sehm diesen Befund zusammen, durch zwei gegensätzliche, wenngleich aufeinander bezogene Narrationsmuster bestimmt. Autoren, die sich an Scott orientieren, werden ein exotisches Panorama zu entwerfen trachten, in dem geographische und ethnologische Faktoren, soziale, ökonomische und politische Konditionen die Handlungen der Personen determinieren. Diejenigen Autoren, die sich Cooper zum Vorbild wählen, werden stattdessen die Helden in den Vordergrund stellen, die zur Heroisierung einladenden Passagen breit ausmalen und dabei das objektive Faktenmaterial nur zur pittoresken Ausmalung der Szene verwenden.6

Zur dominanten Herausforderung in Coopers Romanen werden primär denn auch nicht etwa die Indianer, es ist vielmehr der Raum selbst, seine Unerforschtheit, seine gigantischen Ressourcen und allerdings auch sein diffuses Bedrohungspotenzial, von dem die Handlungsdynamik der Cooperschen Leatherstocking-Narrationen ihren Ausgang nimmt. Im handlungschronologisch gesehen fünften und letzten Band dieser leatherstocking tales, der unter dem Titel The Prairie schon 1827 (und damit als drittes Buch der Serie) erschienen war, bezieht Cooper diese Herausforderung der kulturellen Landnahme auf ein für die Geschichte der Vereinigten Staaten besonders einschneidendes Datum. Am Anfang der Prairie-Erzählung steht die realhistorische Referenz auf die im Jahr 1803 erfolgte Übernahme des riesigen bis dahin französisch besetzten Territoriums, das unter dem Namen Louisiana figurierte und weit mehr Landgebiet umfasste als der heute so genannte amerikanische Bundesstaat. Cooper preist diesen durch Kauf erlangten Landgewinn als ein strategisch hochbedeutsames, im Wortsinne bahnbrechendes Ereignis für die weiße Besiedlung und infrastrukturelle Eroberung des nordamerikanischen Kontinents in seiner gesamten Breite. Die »Einverleibung« der ehemals französischen Gebiete bis zum Missouri und Mississippi habe, erklärt der Erzähler nicht ohne Stolz, uns zu Herren der großen Straße durch das Innere des Landes gemacht, sie gab uns Gewalt und Aufsicht über die zahllosen, längs unserer Grenzen liegenden Indianerstämme, sie glich streitige Rechte aus und beschwichtigte nationales Mißtrauen. Ebenso wurden dadurch tausend Zugänge zum inländischen Verkehr und zu den Gewässern des Stillen Meeres geöffnet.7

6 7

Ebd., S. 20. J. F. Cooper: Die Prärie, in der Bearbeitung der Übersetzung von E. Kolb u.a. durch Rudolf Drescher, Frankfurt/M. 1977, S. 9. 43

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Das große Thema, das Coopers Romaneröffnung anschlägt, ist die treibende Kraft des Raumes und vor allem der Raumerschließung. Gefeiert werden die Mobilmachung Amerikas durch den entscheidenden Zugewinn des Mississippi-Flusssystems und die hierdurch sich eröffnenden Exkursionswege und Siedlungsgebiete. Der Kauf Louisianas zog als Initialzündung dieses Prozesses schon im darauffolgenden Jahr »Schwärme des rastlosen Volkes, das immer an den Grenzen des kultivierten Amerika lagert« an, schreibt Cooper. Diese Abenteurer stürzten sich nun mit demselben sorglosen Mute in die Dickichte am rechten Ufer des Mississippi […], welcher schon so manchen unter ihnen auf ihrem mühsamen Vordringen von den atlantischen Staaten nach den östlichen Ufern dieses ›Vaters der Flüsse‹ begleitet hatte.8

Der Menschenschlag an dieser inneren Grenze Amerikas ist ein solcher, der die Herausforderung und das Abenteuer allemal höher achtet als die erlangten Besitzstände.9 Enorme Menschenmengen sind es, die sich am großen Strom niederlassen und dort auf ehemals nackter Erde »das Aufblühen eines volkreichen und unabhängigen Staates« erleben.10 Deutlich weniger wagen sich weiter ins Unbekannte vor. Diesen, die vom neuen Weg westwärts magisch angezogen und in Bewegung versetzt worden sind, gilt das Augenmerk des Erzählers. Ihr Weg führt sie durch jene endlos weiten eintönigen Landschaften, die auch im Titel des Cooperschen Romans als dessen eigentliches Sujet11 angesprochen sind: die Steppenlandschaften der amerikanischen Prärie. Die Ernte des ersten Jahres seit unserer Besitznahme war schon lange vorüber, und das Laub an den Bäumen färbte sich herbstlich, als ein Zug von Wagen sich aus dem ausgetrockneten Bett eines Baches herausbewegte, um seinen 8 9

Ebd., S. 9f. »Tausende von Familienvätern […] schätzten ihre schwererworbenen Rechte und Bequemlichkeiten gering, brachen auf und führten lange Reihen von Abkömmlingen, geboren und auferzogen in den Wäldern von Ohio und Kentucky, tiefer in jenes Land, welches ohne Beihilfe der Poesie füglich ihr natürlicher und ihnen verwandter Himmelstrich genannt werden konnte.« (Ebd., S. 10) 10 Ebd., S. 11; das folgende Zitat ebd. 11 Im Sinne Jurij Lotmans kann »Sujet« die auf einem bipolar bzw. dichotomisch organisierten semantischen Feld thematisierte Grenzüberschreitung genannt werden. Aus der Beobachtung, dass bei Cooper nicht der bereits binär codierte, sondern der noch leere, seiner Eroberung ›harrende‹ Raum narrationsbildend wirkt, ergibt sich demzufolge auch eine Revision des strukturalen Narrations- bzw. Handlungskonzeptes. 44

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Weg über diese wellenartige Oberfläche einer – wie sie in der Sprache des Landes, von dem wir schreiben, heißt – ›wallenden Prärie‹ fortzusetzen.

Es ist eine »Gruppe von Emigranten«, welche sich zu diesem Treck verbindet, und sie alle sind auf der Suche nach dem »Dorado des Westens«, so Cooper. Gegen die gewöhnliche Praxis von Leuten der Gattung hatte diese Gesellschaft den fruchtbaren Boden des niedern Landes verlassen und ihre Wanderung auf Wegen, wie sie nur solchen Abenteurern bekannt sind, durch Schluchten und Bergströme, über tiefe Moräste und öde Steppen, nach einem Orte gerichtet, der weit über die Grenzen der Zivilisation hinauslag. Vor ihnen lagen jene breiten Ebenen, die sich mit so wenig Abwechslung im Charakter bis zum Fuße der Rocky Mountains ausdehnen.12

Cooper modelliert hier auf exemplarische Weise den Zusammenhang von Landschaftsraum und zivilisatorischer Expansion.13 Jener Zug, der sich da im Aufbruch nach Westen formiert, wird gleichsam wie angezogen durch die Sogkraft der landschaftlichen Ausdehnung, der bis zum Horizont reichenden Weite des Blicks. Die Grenzen dieses Blicks zu überschreiten, die Horizontlinie immer wieder hinauszuschieben, das ist es, worauf die perspektivische mise en scène dieser Westwanderung abzielt, was sie schon durch ihre ästhetische Logik einzufordern scheint. Die Bewegung zum Horizont hin entspringt der Einsicht in eine grundlegende Mangelstruktur der Diesseitigkeit. Es muss, wenn die vertikale Erlösung suspendiert ist, immer so fortgehen, das Leben, die Reise, die Schrift. Sinnbild dieser perpetuierten Bewegung ist die Horizontlinie selbst, als eine Grenzlinie, die zwar jederzeit angepeilt, aber niemals überschritten, ja auch nur erreicht werden kann. Mit dem Horizont etabliert die Neuzeit eine neue Art von geografischer Ferne, die nun nicht mehr als Schwelle zum Anderen fungiert, etwa zu den sagenhaften Monstra des Erdrandes, sondern auf die endlose Prozessualität des Reisens selbst verweist.14 Die Horizontlinie verbindet zwei geografische Phäno12 Cooper: Die Prärie (s. Anm. 7), S. 11. 13 Vgl. hierzu auch meine Studie: Flüsse, Berge, Eisenbahnen: Szenarien geographischer Bemächtigung, in: Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Beiheft 2 der Zeitschrift für Germanistik. N.F. (2000), hg. v. Alexander Honold u. Klaus R. Scherpe, S. 149-174. 14 »Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Nation der Raumgrenze in einer von Nikolaus von Kues ausgehenden und bis zu Newton führenden Tradition eine Art logischen und bildlichen Transgressionszwang auslöst, in dessen Folge jede Umkehrung des Blicks, in der Form jenes mythischen Vermögens, die Welt von außen zu betrachten, unmöglich wird.« (Albrecht 45

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mene, die wir üblicherweise für kontradiktorisch halten, Grenze und Transgression.15 Als medialer Effekt korrespondiert der Horizont mit der neuzeitlichen Errungenschaft der Zentralperspektive, denn in ihr fungiert das Tafelbild nicht mehr als greifbarer Raum, sondern als ein Fenster, das sich in der Mitte zwischen Sehstrahl und Fluchtpunkt öffnet und dadurch zur puren Sogwirkung wird.16 Der auf diese Weise kalibrierte Landschaftsraum wird zu einem zwischen zwei- und dreidimensionaler Extension merkwürdig unentschiedenen Bild-Gegenstand, er ist, um es paradox zu sagen, ein horizontal in die Tiefe hingebreiteter Flächenraum, der durch diese Perspektivierung auf eigentümliche Weise entleert wirkt, zur Gleichförmigkeit nivelliert. Die primäre und quasi-spontane Assoziation Coopers und seiner Nachfolger für die Beschreibung der Steppen- und Prärielandschaften westlich des Mississippibeckens ist denn auch die Impression eines gräsernen Meeres, dessen Feinstruktur von dem windbewegten Wellenspiel gebildet wird, das über die weite Fläche hin aber ein Bild höchster Einförmigkeit und Leere erzeugt. Die phänomenale Evidenz dieses (kulturell produzierten) leeren Raumes ist ein wichtiger Bestandteil in den modernen Kolonialisierungs- und Landnahmeprozessen des späten 18. und dann vor allem des 19. Jahrhunderts.17 Am Zeitalter der geografischen und kolonialen Expansion sind wissenschaftliche, aber auch literar-ästhetische Darstellungsmuster beteiligt, deren Zusammenspiel auf dem nordamerikanischen Schauplatz sich an Coopers Pfadfinder-Modell und seiner Fortwirkung bei deutschsprachiger Reise- und Abenteuerliteratur besonders gut nachzeichnen lässt, insbesondere aber im Werk Balduin Möllhausens.18 Möllhausen ist heute,

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Koschorke: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt/M. 1990, S. 40.) Auch im Kolonialen ist dieser Widerspruch als Ambivalenz wirksam. »The increasingly rigid organization of space in colonization is constantly threatening to fragment the totality of space it seeks to create. To counter this, colonial discourse develops a mythic function – it creates an unlimited mobility across boundaries, and in doing so, it reconfirms these boundaries within a totalized experience of space.« (John Noyes: Colonial space. Spatiality in the Discourse of German South West Africa 1884-1915, Chur 1992, S. 20.) Vgl. Koschorke: Die Geschichte des Horizonts (s. Anm. 14), S. 70. Vgl. Robert D. Sack: Conceptions of space in social thought. A geographic perspective, London 1980. Balduin Möllhausen: Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee, Leipzig 1858 (reich illustrierter Prachtband mit 13 Abbildungen in Ölfarben- und Tondruck, 10 Holzschnitten und 1 Karte). Titel 46

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wenn überhaupt, im kulturellen Gedächtnis nur mehr in einer Eigenschaft präsent: als Lieferant landeskundlicher Informationen für die WinnetouRomane Karl Mays. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber genoss Balduin Möllhausen den Ruhm eines erfolgreichen, viel gelesenen Autors von Abenteuer- und Reisegeschichten, die mit detaillierten Informationen über Geografie und Kultur fremder Erdteile, insbesondere aber Nordamerikas, aufwarten konnten. Das Werk Möllhausens ist wohl außerhalb der deutschen Kolonialliteratur im engeren Sinne der wirkungsvollste und reichhaltigste Textbestand an Reiseerzählungen, Landschaftsbeschreibungen und ethnografischen Materialien, der im deutschen Kolonialzeitalter (und schon im Proto-Kolonialzeitalter) das kulturelle Wissen über fremde Welten prägte. Einzelne Schilderungen Möllhausens wurden als Realien in Nachschlagewerke und in populärwissenschaftliche Abhandlungen übernommen; seit Alexander von Humboldt den amerikanischen Reiseberichten Möllhausens einen hohen kulturgeografischen Informationswert zugesprochen hatte, galten diese Exkursionsberichte und selbst noch die auf ihnen basierenden Romane Möllhausens als achtbare und zitierfähige Referenzquelle landes- und naturkundlichen Wissens. Diese bemerkenswert enge Verschränkung von Abenteuerliteratur und popularisierten Wissensbeständen ist in der zweiten Jahrhunderthälfte nicht nur am Beispiel Nordamerikas beobachtbar, sie ließe sich in ähnlicher Weise – und teils schon erheblich früher – auf dem Gebiet der Afrikareisen, des mittleren und fernen Ostens oder der Pazifik-Erkundungen aufweisen; Nordamerika ist hier insofern fast schon ein Nachzügler, als eben der große Schub an Exkursionsreisen, wie es Cooper in seiner Prärie-Erzählung markiert, nach der Landnahme am Mississippi einsetzt und dann nochmals potenziert wird mit den Eisenbahnprojekten der 1850er und -60er Jahre. Reise- und Landschaftsbeschreibungen gewinnen unter den Rahmenbedingungen des Industrialismus und der systematischen Besiedlungskonzepte eine neue Dynamik. Diese kann aber zuder zweiten Auflage: Wanderungen durch die Prärien und Wüsten des westlichen Nordamerika vom Mississippi nach den Küsten der Südsee im Gefolge der von der Regierung der Vereinigten Staaten unter Lieutenant Whipple ausgesandten Expedition, Leipzig 1860 (kleineres Format ohne Illustrationen); Balduin Möllhausen: Reisen in die Felsengebirge NordAmerikas bis zum Hoch-Plateau von Neu-Mexico, unternommen als Mitglied der im Auftrage der Regierung der Vereinigten Staaten ausgesandten Colorado-Expedition, 2 Bde., Leipzig 1860. (Mit 12 vom Verfasser nach der Natur aufgenommenen Landschaften und Abbildungen von IndianerStämmen, Thier- und Pflanzen-Bildern in Farbendruck, nebst 1 Karte. Eingeführt durch zwei Briefe Alexander von Humboldts in Faksimile.) 47

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rückgreifen auf einige epistemische Veränderungen im Weltbild und Naturwissen, die sich schon im Gefolge des Aufklärungszeitalters abgezeichnet hatten. In diesem Zusammenhang ist nochmals auf die perspektivische Bedeutung des Horizonts zu verweisen, der zu einer intramundanen Chiffre des Transzendierens als einer rastlosen Vorwärtsbewegung mutiert. In Alexis de Tocquevilles großer Abhandlung Über die Demokratie in Amerika findet sich die Bemerkung, dass die Entvölkerung des Himmels den Blick auf Flüsse und Berge gelenkt habe, woraus »im letzten Jahrhundert die Dichtung« entstand, »die man im eigentlichen Sinne die beschreibende genannt hat«.19 Den Zusammenhang, den Tocqueville damit nahelegt, kann man nun so auffassen, dass erst mit der säkularen Aufwertung des Diesseitigen und Irdischen auch die Landschaftsbeschreibung als ein literarischer Gegenstand denkbar und akzeptabel wurde. Doch liegt in dieser neuen Dignität des Bodens, der Landschaft und des Horizontalen auch ein unbestreitbares Moment von Zwang und von territorialer Machtpolitik. ›Unschuldig‹ sind auch die reizendsten Naturschilderungen nicht; indem sie die Wahrnehmung von Landschaft in einen Modus aneignender Raumerschließung überführen, haben sie Teil am kolonialen Expansionismus. Und gerade auch die Binnen-Expansion europäischer Siedler auf dem nordamerikanischen Kontinent ist ein Schauplatz kolonialer Landnahme und ihrer Narrative. Als Balduin Möllhausen erstmals den nordamerikanischen Kontinent bereiste, war dieser Prozess der Westwärts-Ausdehnung, der sich im 19. Jahrhundert zum großen Mythos der nordamerikanischen Kulturnation schlechthin auswächst, bereits in vollem Gange. Heinrich Balduin Möllhausen, 1825 in Bonn geboren, war der Sohn eines Offiziers der preußischen Artillerie. Seine Herkunft spiegelt insofern gleichfalls einen Vorgang binnennationaler Kolonialisierungstendenzen, da die preußische Präsenz im Rheinland im Gefolge der Napoleonischen Kriege und des Wiener Kongresses ein ehemals dezentrales, dominant katholisches Ensemble von Kurfürstentümern in eine von Berlin zentral geführte, sogenannte »Rheinprovinz« verwandelte. Schon in der Generation von Möllhausens Vater ist der militärische Zugriff dem ingenieurstechnischen eng verbunden; als Baukondukteur war dieser für den Aufbau einer leistungsfähigen Infrastruktur zuständig, er ging in späteren Jahren als EisenbahnIngenieur nach Griechenland. Balduin Möllhausen selbst wurde an wechselnden Orten im Kreise der Verwandtschaft aufgezogen, wechselte mehrfach die Schule und ließ sein unstetes Jugendleben schließlich 1849 in eine erste Reise nach Nordamerika münden, getrieben von der »Sehn-

19 Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, 2 Bde., mit einem Nachw. von Theodor Eschenburg, Bd. II, Zürich 1987, 108f. 48

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sucht nach fremden Ländern«.20 Zunächst hielt er sich in den größeren Städten auf, um sich Englisch beizubringen. Dann aber, im Jahre 1851, eröffnet sich ihm die Möglichkeit, »ein Wanderleben in der Wildnis und den westlichen Prärien« zu führen, wie es schon Cooper und auch der deutsche Friedrich Gerstäcker beschrieben hatten.21 Möllhausen beteiligt sich an einer Expedition unter Leitung des Herzogs Paul Wilhelm von Württemberg in die weiten Grassteppen jenseits des Missouri in Richtung Nebraska;22 die unzureichend ausgerüstete kleine Expedition scheiterte freilich alsbald an der Unwegsamkeit des Geländes und der Härte des Winters. Im Schneesturm am Sandy Creek ließ der Herzog seinen Gehilfen Möllhausen alleine zurück, um Hilfe zu holen. Möllhausen schlug sich monatelang alleine durch, wurde schließlich von Indianern gefunden, verpflegt und aufgenommen. Er nimmt deren Kleidungsweise an, lernt ihre Sitten und Gebräuche kennen, lässt sich auf ein episodisches »going native« ein. Endlich gelingt es, den Kontakt zum Expeditionsleiter wieder herzustellen. Möllhausen schließt diese erste Amerikareise mit einer Reise auf dem Mississippi bis nach New Orleans ab, der junge Mann kehrt als bekannter und gefeierter Amerikareisender nach Europa zurück und wird in Berlin als Zelebrität empfangen. Noch wichtiger als die Audienz bei König Friedrich Wilhelm IV. erweist sich jene bei Alexander von Humboldt, der ihm wissenschaftliches Renommee verschafft und in dessen Haushalt Möllhausen seine spätere Frau kennenlernt. Humboldts Empfehlungen sind es auch, die Möllhausen kurz darauf den Auftrag zu einer weiteren inneramerikanischen Expeditionsreise verschaffen. Mitte der 1850er Jahre initiierte die amerikanische Regierung drei große Erkundungsprojekte, um den Eisenbahnbau vom Mittleren Westen bis zum Pazifik voranzutreiben. Man plante, eine oder mehrere Schienentrassen von St. Louis aus über die Steppen und durch die Rocky Mountains bis zur Westküste zu führen, und war nun bestrebt, mithilfe von wissenschaftlich ausgerüsteten Erkundungstrupps die bestmögliche Trassenführung auszukundschaften. Dabei waren Schwierigkeiten des Geländes, etwa die Schneise durch den Gebirgszug, ebenso ins Kalkül zu ziehen wie die Unbilden der Witterung. Nicht zuletzt aber war die indianische Bevölkerung, durch deren Siedlungsgebiete die geplanten Trassen führten, für die Planer ein großer Unsicherheitsfaktor und ein potenziel20 Balduin Möllhausen: Handschriftlicher Lebensbericht, zit. in: Bernd Steinbrink: Abenteuerliteratur in Deutschland. Studien zu einer vernachlässigten Gattung, Tübingen 1983, S. 159. 21 Ebd., S. 160. 22 Hierzu Andreas Graf: Abenteuer und Geheimnis. Die Romane Balduin Möllhausens, Freiburg 1993, S. 32-34. 49

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les Risiko. Wenn man sich von offizieller Seite in der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend mit der Indianerfrage beschäftigte und nun auch an ethnografischem Wissen stärker interessiert war, so geschah es im Kontext dieser annektierenden Landerschließungsprojekte. Balduin Möllhausen wurde dem südlichsten dieser drei parallel unternommenen Exkursionszüge zugeteilt, dessen Route von Fort Smith am Arkansas entlang dem 35. Breitengrad geradewegs nach Westen vordringen sollte. Offiziell stand Möllhausen der Exkursion unter dem Kommando eines gewissen Leutnant Whipple als Topograf, Zeichner und Naturaliensammler zur Verfügung; inoffiziell aber fertigte er nebenbei auch eigene, tagebuchartige Aufzeichnungen an, in denen das Leben im Exkursionstrupp, die Kontakte mit den Indianervölkern und das oft mühsame Vorwärtskommen des Zuges Richtung Westen ausführlich beschrieben wurden. Sowohl Konzeption und Leitung der Expedition wie auch ihre Ausrüstung unterstanden militärischem Kommando. Längs ihrer Strecke wurden Militärposten errichtet, die sich auch um die Verproviantierung der Exkursion zu kümmern hatten. Ob auch die Schreibtätigkeit Möllhausens im Hinblick auf die militärische Sicherung der Trasse und das Verhältnis zu den berührten Indianergebieten erfolgte, ist nicht eindeutig zu klären. Doch entsprach sie mit ihren detaillierten Notizen durchaus der allgemeinen Ordre, sämtliche Beobachtungen hinsichtlich der Art, Verteilung und Verhaltensweisen der beobachteten Indianerstämme ausführlich zu erfassen und zugleich auch die geografischen Besonderheiten der durchquerten Territorien möglichst vollständig aufzunehmen; hierzu gehörten nicht nur laufende und lückenlose geodätische Vermessungen, sondern eben auch die beschreibende Inventarisierung von Vegetationsbestand, Bedingungen für die Viehwirtschaft, Bodenbeschaffenheit, Gesteinsformationen und weiteren Faktoren. Im Oktober 1853 erreichte der Trupp Albuquerque am Rio Grande, wo die gesammelten Aufzeichnungen und Daten verglichen und kartografische Blätter des durchreisten Gebietes angefertigt wurden. Der Durchgang durch die Rockys und die Trassenfindung zum Pazifik, an der unser Autor als Mitwirkender und Zeitzeuge beteiligt ist, bilden den Kern jenes inneramerikanischen Aufbruchs nach Westen, der dem kulturellen Selbstverständnis der Nation zu einer Art nachholender Gründungslegende verhelfen wird. Möllhausen erinnert in seinem Exkursions-Tagebuch gegen Ende des Unternehmens an die nur ein Jahrzehnt zurückliegenden Erkundungsreisen Fremonts am Kansasfluss und zu den Quellen des Arkansas, die mit der Entdeckung jener Route über den South-Pass durch die Rocky Mountains nach Kalifornien endete, durch die seitdem schon »Tausende und aber Tausende von Emigranten nach dem fruchtbaren Oregon und dem Gold bergenden Californien gezogen«

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seien, wie Möllhausen respektvoll bemerkt, um dann ganz im Sinne des amerikanischen Selbstbildes zu bilanzieren: So strebt der Geist der amerikanischen Bevölkerung immer weiter vorwärts. Kein Project scheint in ihren Augen unausführbar, und kaum ist eine Aufgabe […] gelöst, so bildet sie schon neue Pläne […]. Im Jahre 1853 schickte das amerikanische Gouvernement Expeditionen aus, um durch dieselben geeignete Wege zu einer Eisenbahn-Verbindung zwischen dem Mississippi und der Südsee aufsuchen zu lassen. Zehn Jahre früher dachte es nur daran, eine einfache Landstrasse zwischen diesen beiden Punkten herzustellen, auf welcher Karawanen eine sichere Verbindung würden aufrecht erhalten können. Selbst der Amerikaner, der die Geschichte seines Heimathlandes vom Jahre 1842 bis jetzt genau verfolgt, muss staunen über das, was in dem Zeitraum von 10 Jahren geleistet worden ist. In dem grossen Bassin, dem jetzigen Utah-Territorium, welches Frémont unter Gefahren und Entbehrungen durchforschte, erheben sich jetzt die blühenden Ansiedelungen der Mormonen, die fruchtbaren Thäler der Flüsse bevölkernd. Durch den South Pass, den Frémont in den Rocky Mountains entdeckte und bestimmte, sind Hunderttausende von Menschen gezogen, unter deren Händen dann in den paradiesischen Küstenstrichen der Südsee Städte, Kanäle und Eisenbahnen entstanden, und gewiss wird es nicht lange dauern, dass mittelst der Eisenbahn ein Weg durch die Wüste in wenigen Tagen zurückgelegt werden kann, auf welchem man jetzt noch Monate zubringen muss.23

Der Erfolg des Unternehmens verhilft auch Möllhausen zu neuerlich wachsender Anerkennung. Wiederum wird Möllhausen nach Beendigung der Exkursion in Berlin mit höchsten Ehren empfangen; er heiratet und wird vom König zum Kustos der Potsdamer Bibliotheken und Schlösser bestellt. Ein letztes Mal wird er 1858 nach Amerika aufbrechen, um den Flusslauf des Colorado zu erkunden. Im selben Jahr erscheint sein Reisebericht Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee, das von Humboldt mit einer Einführung gewürdigt wird. Schon zwei Jahre darauf kann eine zweite Auflage erscheinen unter dem veränderten Titel: Wanderungen durch die Prairien und Wüsten des westlichen Nordamerika von Mississippi nach den Küsten der Südsee. Der neue Titel macht deutlich, worin Möllhausens Reiseschilderung besonders hervorsticht: nämlich in der ästhetischen Erfassung des ausgedehnten Steppen- und Präriecharakters der durchreisten Landschaft. Ebenfalls 1860 folgt auch schon der Bericht über die Colorado-Reise, dem Möllhausen den Titel gibt: Reisen in die Felsengebirge Nord-Amerikas bis zum Hoch-Plateau von Neu-Mexiko. In beiden Werken ist es das Abenteuer 23 Möllhausen: Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee (s. Anm. 18), S. 251. 51

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des Zuges westwärts, der Weg durch ein ungebahntes Gelände, welches der Narration den entscheidenden Antrieb gibt. Möllhausen ist damit ganz wörtlich in die Fußstapfen der Cooperschen Pfadfinder getreten. Er hat es mit seinen Schilderungen vermocht, die eher wissenschaftlich spröden Vorgänge der Landvermessung und Trassenfindung in das seit Cooper bereitliegende Narrativ des abenteuerlichen Spurensuchens und des Wildwest-Geländespiels einzuschreiben. Schon die Reiseberichte Möllhausens changieren zwischen sachlicher Dokumentation von Realien und der Nachinszenierung persönlicher Impressionen. Auch Humboldts Vorwort nennt diesen doppelten, Wissensvermittlung mit Stimmungswiedergabe verbindenden Charakter der Möllhausenschen Berichte. Über das Tagebuch der Eisenbahn-Exkursion schreibt Humboldt: Die Schrift […] macht keine Ansprüche auf physikalische Wissenschaftlichkeit, obgleich sie über die äußere Bodengestalt und die geographischen Verhältnisse so wenig durchforschter Gegenden viel Interessantes, Selbstbeobachtetes oder bisweilen den mitreisenden Fachgelehrten Entlehntes darbietet. Herr Möllhausen veröffentlicht ein Tagebuch, in dem er, gleichsam als Kommentar zu seinen landschaftlichen Aufnahmen und historischen Skizzen, empfangene lebensfrische Natureindrücke wiedergibt.24

Es zeigt sich, mit anderen Worten, im Chronisten schon der Erzähler Möllhausen, dessen Wiedergabe »lebensfrischer« Eindrücke Humboldt als besondere Qualität ausdrücklich würdigte. Was als ein zwiegesichtiges Schreibprojekt aus subjektivem Diarium und pflichtschuldigem Exkursions-Rapport unternommen worden war, gewinnt eine genuin ästhetische Dynamik, die sich, so die These, vor allem dem intrinsischen Spannungsvermögen und Abenteuer-Potenzial des Cooperschen Pfadfinder-Paradigmas verdankt. Möllhausens weitere literarische Entwicklung zeigt, dass er den mit seinen drei großen Amerikareisen erschriebenen Fundus an Eindrücken und Geschichten nun mehr nur auszufalten und nachzuerzählen brauchte. Schon 1860 bringt der Autor eine Reihe von Skizzen im Familienblatt Die Gartenlaube heraus; u.a. die Episode eines circensischen Schaukampfes zwischen einem Stier und einem Bären, die Möllhausen unter die Überschrift Scenen aus dem Volksleben von New-Orleans rückte, somit das Spektakulär-Sensationelle dieser Kuriosität gleichsam zum ethnografischen Dokument erhebend. Weitere Prosastücke aus der Gartenlaube setzen sich mit dem Phänomen der Fata Morgana auseinander (auch hierbei wird lehrhaftes Wissen in 24 Alexander von Humboldt: Vorwort zu: Wanderungen durch die Prärien (s. Anm. 18), S. 5. 52

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eine Erzählung eingepackt) oder schildern die für die Reisenden rasant bedrohlich werdende Entstehung eines Präriebrandes. Eigentümlich ist diesen Miniaturen die ausbalancierte Kombination aus deskriptiv, ja fast dokumentarisch anmutenden Passagen (Möllhausen selbst spricht auch von »Schilderungen«)25 und dramatisch zugespitzter Erzählhandlung. Die Entfaltung einer landschaftlich typischen Situation bedarf, soll sie Interesse wecken, des in sie hinein versetzten Menschen, der als erzählte Heldenfigur Gefährdungen durchlebt und Bewährungsproben meistert. Damit sind die Ingredienzien der Möllhausenschen Reiseschriftstellerei in ihren wesentlichen Bestandteilen bereits fertig ausgebildet. In immer neuen Konstellationen und Kulissen durchqueren und durchleben Möllhausens Figuren in den mehreren Dutzenden von Romanen und Erzählungen, welche diesem literarischen Debüt in der Gartenlaube folgten, die landschaftlichen und ethnografischen Aufzeichnungen aus den frühen Reisejahren des Autors. Es mag darum ergiebiger sein, abschließend einige Besonderheiten in Motivwahl und Darstellungsweise nicht an der späteren Dutzendware seiner erfolgreichen Romanschriftstellerei vorzustellen, sondern anhand des großen Reiseberichts über die Eisenbahn-Exkursion und den journalistischen Ablegern dieses Hauptwerks. Möllhausens großes Thema, wohl auch das wirkungsvollste seiner Motive, ist in den Landschaftsschilderungen die Beschreibung der weiten Prärien des Westens. Hier vor allem erweist er sich als ein begeisterter Adept Coopers und der Cooperschen Ästhetik. Von Cooper, aus dessen 1832 in Paris verfasster Vorrede zum Prärie-Band der Leatherstocking-Erzählungen, entnimmt Möllhausen das Wahrnehmungsmuster der Gleichsetzung von Prärie und Meereswogen. Die Deutung der Prärie als eines wallenden Meeres bzw. einer Wellenfläche aus Grassteppe wird von Cooper mit einer geologischen These untermauert. Es ist nichts weniger als unwahrscheinlich, daß das Ländergebiet, welches jetzt die Staaten Ohio, Illinois, Indiana und Michigan umfaßt, dazu ein großer Teil der Strecke westlich vom Mississippi – früher mit Wasser bedeckt war. Das Erdreich in allen jenen Staaten hat ganz das Aussehen angeschwemmter Ablagerungen, und es finden sich dort einzeln stehende Felsen von einer Beschaffenheit und Lage, die der Meinung das größte Gewicht geben, daß nur Treibeis sie an ihre jetzige Stelle geworfen.26

Elementare Verfremdung – das Steppengrasland als ehemaliger Meeresraum – verbindet sich bei Cooper mit jener historisch-kulturellen Ver25 Die Gartenlaube 1860, S. 475. 26 Cooper: Die Prärie (s. Anm. 7), S. 495. 53

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fremdung, die das nun von den neuenglischen Siedlern kontrollierte Land unter seiner ehemals französischen Herrschaft erfahren hatte und deren Spurenelemente sich eben noch in sprachlichen Sedimenten zeigen, so wie die geologische Vorgeschichte in landschaftlichen Indizien abzulesen war. Man wird sich erinnern, daß die Franzosen, solange sie die beiden Kanadas und Louisiana besaßen, auch auf das ganze eben bezeichnete Gebiet Anspruch machten. Ihre Jäger und einzelne vorgeschobene Posten knüpften an den ersten Verkehr mit den wilden Bewohnern desselben an, und die frühesten schriftlichen Berichte, die wir über jene weiten Länderräume besitzen, kamen aus der Feder ihrer Missionare. Daher sind gar viele französische Benennungen in diesem Teile von Amerika heimisch geworden, und viele derselben sind auch eingebürgert geblieben. Als die Abenteurer, die zuerst in jene Wildnisse drangen, mitten in den Wäldern auf Ebenen trafen, bedeckt mit üppigem Grün oder wuchernden Schlingpflanzen, gaben sie denselben den leicht zu erklärenden Namen von Wiesen, Prärien. Als die Engländer den Franzosen folgten und ein Gebilde der Natur, von allem, was der Kontinent Ähnliches aufzuweisen hat, verschieden, schon mit einem Namen bezeichnet fanden, der in ihrer Sprache gar keinem Begriff entspricht, ließen sie dessenungeachtet diese natürlichen Wiesengründe im Besitz ihres auf solche Art erworbenen Titels. So kam es, daß das Wort »Prärie« auch in den Mund der Engländer überging.27

Die Prärie ist auch in der Optik Möllhausens eine annähernd zeichenlose, nivellierte Fläche, die an das Wellenspiel einer Meeresoberfläche erinnert. »Wenn am Tage schon die spiegelglatte, unabsehbar hingestreckte Prairie an den weiten Ozean erinnerte, so gehörte bei Nacht nur wenig Einbildungskraft dazu, sich am Meeresstrand oder auf einer kleinen Insel in der großen Wasserwüste des Oceans zu wähnen.«28 Und in der »Fata Morgana« aus der Gartenlaube bringt Möllhausen das dieser WasserMetaphorik korrespondierende Motiv der entleerten Landschaft besonders deutlich zum Ausdruck: In den fernen, fernen westlichen Regionen, wo der wolkenlose Himmel sich in selten getrübter Klarheit über endlose Grasfluren und unabsehbare, dürre Sandwüsten wölbt, wo der einsame Wanderer die Richtung seines Weges nach der getreuen Magnetnadel oder nach den leitenden Gestirnen wählt, und vergeblich nach einer Unterbrechung der weitgeschweiften Linie des Horizonts späht, wo kein Baum oder Strauch, kein Hügel oder Berg das müde, irrende Auge grüßt

27 Ebd. 28 Möllhausen: Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee (s. Anm. 18), S. 167. 54

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– in dieser leeren, unbeschrifteten, zeichenlosen Landschaft, so der Erzähler, da bringe das optische Täuschungsphänomen der Fata Morgana desto wirkungsvoller seine »trügerischen Bilder« hervor.29 Ebenso eindrücklich schildert Möllhausen, ebenfalls für die Gartenlaube, das höchst bedrohliche Geschehnis eines rasch um sich greifenden Präriebrandes, der nicht nur durch Flammen und Rauch Gefahr bringt, sondern auch ganze Bisonherden in eine verzweifelte, sich blindlings voranwälzende Masse verwandelt. Gerade die Bisons sind in Möllhausens Reiseaufzeichnungen das besondere Signum der Prärielandschaft; mit sicherem Gespür lässt er diesem in Europa nicht bekannten Weidetier ausführliche und detailgenaue Beschreibungen zukommen, so anschaulich und faktengesättigt, dass Brehms Thierleben von den Schilderungen Möllhausens für seinen einschlägigen Eintrag reichlichen Gebrauch macht.30 Diese kleine intertextuelle Verwertungskette gewinnt ein weiteres Anschlussglied dadurch, dass Karl May wiederum die Bison-Beschreibung aus Brehms Thierleben nahezu wörtlich abschreibt, um dem Präriebüffel eine gewisse Anschaulichkeit zu geben. Mays notorische Wildwest-Szenerien profitierten nicht nur auf solchen indirekten Wegen vom Repertoire Balduin Möllhausens, sie wandeln auch ganz unmittelbar auf dessen Spuren. Denn wie Möllhausen in der Realgeschichte, so übt auch Karl Mays Old Shatterhand in der Fiktion den Beruf des Landvermessers aus. Karl Mays weißer Westmann, diese zwar durchaus moderne, in ihrem charismatischen Außenseitertum jedoch auch unzeitgemäße Inkarnation des Abenteurers, übernimmt zentrale Elemente der Möllhausenschen Vermessungsreise. Shatterhand arbeitet als »Surveyor« für die »Atlantic and Pacific Company«, um, wie einst Möllhausen, die topografischen Koordinaten der geplanten Bahnroute aufzunehmen. Die Bahn sollte von St. Louis aus durch das Indian Territory, Texas, New Mexico, Arizona und Kalifornien zur Pacific-Küste gehen, und man hatte den Plan gefaßt, die weite Strecke in einzelnen Abteilungen erforschen und ausmessen zu lassen.31

Wie einst bei Cooper ist St Louis und die Überschreitung des Mississippi-Tales nach Westen der Schlüssel zum gesamten Westteil des Kontinents. Hier endeten zu Shatterhands Zeiten die Eisenbahnlinien von der 29 Die Gartenlaube 1860, S. 475. 30 Vgl. Sehm: Der ethnographische Reise- und Abenteuerroman (s. Anm. 4), S. 108-113. 31 Karl May: Winnetou I, Bamberg 1962 (zuerst 1892), S. 26; das folgende Zitat ebd., S. 5. 55

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Ostküste. Am jenseitigen Ufer des Mississippi begannen die trails der Auswanderertrecks, auch die Overland Mail Routes der Postkutschen setzten hier ein; auf dem Fluss selbst verkehrten die Raddampfer gen Süden. Auch für die telegrafische Verbindung mit Kalifornien wird St. Louis zum Ausgangspunkt. Soweit also sind die geografischen Rahmenbedingungen Karl Mays durch die historische Situation, wie er sie bei Möllhausen beschrieben fand, vorgegeben. Das Erzählprogramm selbst bewegt sich ebenfalls recht genau auf der Route Möllhausens bis nach Neu-Mexiko, wobei auch dessen zweiter Reisebericht Karl May zur Vorlage dient. Der Erfolg, den die Winnetou-Romane einheimsten, ist die phasenverschobene Ernte des von Mölllhausen aufgebrachten Sujets, wobei der Eisenbahn-Vermessungsingenieur seinerseits als aktualisierter Pfadfinder aus dem Geiste Coopers agiert. In der Jahrhundertmitte hatte die Geschichte des Landvermessers ihren Sitz im Leben, während ihre literarische Konjunktur hierzu gleichsam ein Vor- und ein Nachbild entwarf. Der Eisenbahn eine Trasse zu schlagen, das war die auf industriellen Maßstab gebrachte Version des einst von J. F. Cooper gefeierten Pfadfindertums. Gleichsam nebenbei beantwortet Karl Mays Roman die Frage, in welchen Regionen der Welt das Deutsche Reich gegen Jahrhundertende ein Abenteuer der kolonialen Landerschließung zu erwarten hatte, das jenem der amerikanischen Pazifikbahn an Pioniergeist halbwegs vergleichbar war. Der erste Satz des ersten Winnetou-Romans, seit den 90erJahren des 19. Jahrhunderts millionenfach in die Herzen junger Leser gepflanzt, lautet: »Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke, der Türke ein.« Wer vom Bahnbau durch den Wilden Westen las, hatte allen Grund, den Nahen Osten darüber nicht zu vergessen. Die neuen Ufer, zu denen deutsche Eisenbahningenieure und Vermessungstrupps um 1890 aufbrachen, lagen in Richtung Konstantinopel und jenseits davon. Ebenfalls im Jahre 1892 reisen die Helden Karl Mays Von Bagdad nach Stambul, die Wege der alten Kreuzritter in umgekehrter Abfolge beschreitend. Erneut und in richtiger Richtung gelesen, ergab sich aus den Abenteuern dieses Reiseweges die prospektive Route des bedeutendsten exterritorialen Eisenbahnprojektes, das unter deutscher Beteiligung unternommen wurde: der verwegene Plan einer deutschen Bahnverbindung von Istanbul nach Bagdad, die sogenannte »Bagdadbahn«. Von Karl May aus rückwärts gelesen, erweist sich Möllhausens Beteiligung an der Eisenbahn-Trassenfindung als ein Unternehmen, in dem romantischer Exotismus und industrieller Kolonialismus einander als historische Entwicklungslinien kreuzen. Die Reiseberichte Möllhausens wiederum halten in ihrer Darstellungsform die Mitte zwischen den faktengesättigten Berichten Alexander von Humboldts und dem Abenteuer-

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narrativ der von Cooper gestalteten Pfadfinder-Figur. Auf der Landkarte jener intertextuellen Verbindungslinien, die zusammen das Streckennetz der deutschen Literaturgeschichte bilden, sind Möllhausens Amerikareisen einen Eintrag als besonderer Knotenpunkt wert. Das Umland des zu dieser Kreuzung führenden, von heutigen Lesern freilich kaum mehr befahrenen Streckenabschnitts, es wäre kaum anders zu denken denn in der paradoxen Form einer deutschen Prärie. Sie müsste ohne Bisons und flammendes Gras auskommen, diese deutsche Prärie aus dem Geiste Möllhausens, aber auf dürrster Erde würde weithin eine erquickliche, vor Einfällen nur so sprudelnde Fata Morgana leuchten.

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»W I E E I N M E N S C H S I C H S E L B S T B I L D E N K A N N .« ZUR FUNKTION VON AMERIKA IN AUERBACHS LANDHAUS AM RHEIN KIT BELGUM In einem Band zu den Themen Migration, kulturellem Austausch und früher Globalisierung in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts darf Berthold Auerbach nicht fehlen. Schon in seinen beliebten Schwarzwälder Dorfgeschichten aus den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts spielt das Phänomen der Auswanderung eine erhebliche Rolle. Auch in seinen späteren Werken gibt es immer wieder Hauptfiguren, in manchen Fällen auch Nebenfiguren, die über die Möglichkeit des Auswanderns nachdenken oder tatsächlich die Entscheidung auszuwandern treffen. Daher gibt es zum Thema Migration in Form der Auswanderung und der Wiedereinwanderung bei Auerbach viel zu sagen. Auerbach selbst war aber auch engagierter Liberaler sowohl vor als auch nach der Revolution von 1848. Dazu kommt noch, dass er an vielen Aspekten der industriellen und technologischen Modernisierung interessiert war. Da er zu seinen Lebzeiten sowohl anerkannt als auch sehr populär war und viel gelesen wurde, zeigen uns seine Werke nicht nur, was für ihn persönlich von Interesse war, sondern auch, was viele bürgerliche Leser in den Jahren vor der Gründung des Deutschen Reiches bewegte. Bei Auerbach finden wir also in faszinierender Weise Demokratie und frühe Globalisierung mit dem Phänomen der deutschen Migration eng verknüpft. Dies trifft besonders auf eines der späteren Werke zu, den Roman Das Landhaus am Rhein (1869). Es geht hier nicht darum  wie in vielen Amerikaromanen und -erzählungen des 19. Jahrhunderts  die Vorteile des einen oder anderen Landes hervorzuheben und somit eine Art Kulturspiegel für den deutschen Leser aufzustellen. In diesem späten Roman von Auerbach geht es vielmehr um individuelle Entscheidungen einzelner Deutscher, die weniger mit Deutschland und Amerika als politischen Gebilden oder Gesellschaften im Allgemeinen zu tun haben, als mit der Entwicklung des Einzelnen, mit der Bildung des Bürgers. Aber welche Rolle spielen die ausgesprochen sozialen Phänomene der Migration und der ökonomischen und technologischen Modernisierung in einer Ge59

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schichte des individuellen Bildungswegs? Und welche Rolle spielt Amerika für den deutschen Bürger in diesem Selbstfindungsprozess? Wie sich zeigen wird, ist bei Auerbach der Entwicklungsweg ein höchst zwiespältiger, in dem Amerika sowohl eine Vorbild- als auch eine Abschreckungsfunktion für Deutschland innehat.

Auerbach und die deutsche Heimat Im Gegensatz zu manchen zeitgenössischen Schriftstellern (wie Gerstäcker oder Sealsfield) hatte Berthold Auerbach keine direkten, persönlichen Erfahrungen in Amerika gesammelt. Auerbach wurde 1812 in Nordstetten im Schwarzwald geboren, besuchte in Karlsruhe das Gymnasium, nahm Unterricht bei einem Talmudgelehrten, um sich auf das Rabbinat vorzubereiten,1 und studierte in Tübingen, München und Heidelberg.2 Nach seinen ersten literarischen Werken, die sich mit jüdischen Lebensläufen beschäftigten (Spinoza und Dichter und Kaufmann), wurde Auerbach mit dem Erscheinen seiner Schwarzwälder Dorfgeschichten im Alter von 32 Jahren »über Nacht berühmt«.3 Diese Geschichten wurden bald als bahnbrechende Werke anerkannt, die einem neuen Genre der deutschen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts zur vollen Blüte verholfen haben.4 Sie sind in der regionalen Landschaft seiner Heimat situiert and stellen urwüchsige, kernige Bauern und Dorfbewohner des Schwarzwaldes dar, in denen manche Bekannte aus Nordstetten glaubten, sich wiedererkannt zu haben. Die Dorfgeschichten wurden schon bald in viele europäische Sprachen übersetzt und auch in den Vereinigten Staaten veröffentlicht. Auerbach gewann also auch au-

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Regine Kress-Fricke: »Wer mich einen Fremden heißt.« Berthold Auerbachs Jahre in Karlsruhe, Eggingen 1996, S. 8-10. Berthold Auerbach 1812-1882, Marbacher Magazin 36 (1985), bearb. v. Thomas Scheuffelen, S. 32-39. Ebd., S. 43. Auerbachs Zeitgenossen haben seinen Beitrag wohl erkannt; in einem Artikel von 1843 in der Zeitung für die elegante Welt nannte Varnhagen von Ense Auerbachs Dorfgeschichte eine »eigenthümlich neue Gattung«. Uwe Baur: Dorfgeschichte. Zur Entstehung und gesellschaftlichen Funktion einer literarischen Gattung im Vormärz, München 1978, S. 15. Jürgen Hein behauptet, dass der Stoff der Dorfgeschichte von Auerbachs unmittelbaren Vorgängern entdeckt wurde, gibt aber zu, dass Auerbach wohl als Erster die Gattungsbezeichung »Dorfgeschichte« verwendete und damit »einen neuen inhaltlich-stofflich und formal bestimmten Erzähltyp« bestimmte. Jürgen Hein: Dorfgeschichte, Stuttgart 1976, S. 50. 60

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ßerhalb Deutschlands mit diesen ländlichen deutsch-regionalen Erzählungen ein großes Publikum. Trotz seines internationalen Rufs blieb Auerbach sein Leben lang seiner deutschen Heimat eng verbunden. Er hat nach dem Studium Süddeutschland verlassen, um zeitweilig in Dresden, Bonn und Berlin zu wohnen und lebte übergangsweise an anderen deutschen Orten, manchmal um Ruhe für sein Schreiben zu finden.5 Er machte einige Reisen nach Wien, Prag und in die Schweiz und starb schließlich während einer Kur in Cannes in Südfrankreich. Aber der Schwarzwälder Auerbach hatte schon vorbestimmt, dass er in seiner Heimatstadt Nordstetten neben seinen Familienangehörigen beerdigt werden sollte. Er verstand sich also als Deutscher und pflegte auch geografisch eine enge Verbindung zu seiner deutschen Heimat. Auch als Autor beschäftigte sich Auerbach vor allem mit deutschen Themen und Figuren.6 Die Schwarzwälder Charaktere seiner frühen Geschichten tauchen auch in späteren Jahren wieder auf. In einem Brief an seinen engen Freund und Cousin, Jakob, schreibt er im Mai 1865: »Ich bin verpflichtet, der Schriftstellerei für das Volk treu zu bleiben.«7 Für diese Leistung wurde er auch allgemein und öffentlich anerkannt und als deutscher »Volksdichter« gefeiert.8 Auerbach war, wie viele Kritiker nach seinem Hinscheiden in Nachrufen auf ihn betonten, ein Dichter, dessen Herz seinem Volk sein Leben lang geneigt war.9 In ähnlicher 5 6 7 8

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In der Zeit zum Beispiel, als er Das Landhaus am Rhein schreibt, wohnt Auerbach unweit von Bingen am Rhein. Sein frühes Buch über Spinoza ist hier die einzige Ausnahme. Berthold Auerbach: Briefe an seinen Freund Jakob Auerbach, Bd. 1, Frankfurt/M. 1884, S. 286. Auerbach wird oft vom Großherzog Friedrich von Baden eingeladen und 1876 von Ludwig II. zum »Ritter des Maximiliansordens« ernannt. KressFricke: »Wer mich einen Fremden heißt.« (s. Anm. 1), S. 35. Einige Nachrufe, die im Druck erschienen, stammen von den Rabbinern Dr. M. Silberstein und Ludwig Stein, von Prof. Dr. M. Lazarus, Eugen Zabel und Friedrich Spielhagen. Typisch dafür ist dieser Auszug aus der Rede, die Eduard Lasker auf Auerbach hielt: »Er war ausschließlich deutsch; zum Ausland hatte er keine innere Beziehung. In keiner fremden lebenden Sprache hatte er, wie er von sich selbst aussagt, es zu einer Fertigkeit gebracht, und selbst die Literatur des Auslandes, soweit dieselbe ihn interessirte, scheint er meist aus Übersetzungen sich angeeignet zu haben. Um so inniger waren seine Beziehungen zu Allem, was deutsch war; die erstreckten sich auf das ganze deutsche Sprachgebiet, mit Einschluß der Vereinigten Staaten von Amerika, welche von Jugend auf ihm wie eine deutsche Colonie vorschwebten, gewissermaßen wie eine Ergänzung der deutschen Heimath, wo der Eine Nahrung, der Andere die ersehnte Freiheit findet. 61

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Weise war auch seine literarische Arbeit seiner deutschen Heimat gewidmet.10

Amerika als Auswanderungsziel Dennoch spielt Amerika, das weit entfernte Land, eine große Rolle in Auerbachs Werken.11 Obwohl Auerbach selber nie nach Amerika gereist ist, hatte er intensive und mehrfach direkte Erfahrungen mit dem Phänomen Auswanderung nach Amerika.12 Diese Erfahrung beruhte zunächst einmal auf der Bedeutung des Auswanderns für seine Heimatstadt. Nordstetten im Schwarzwald, das Anfang des 19. Jahrhunderts zu einem Drittel aus jüdischen Einwohnern bestand, hatte schon in den 30er Jahren eine große Anzahl von Bewohnern nach Übersee verloren. Das Phänomen traf auch Auerbachs näheren Familienkreis. Ausgewandert waren unter anderem 1843 der jüngere Bruder von Auerbach, Julius, danach ein Cousin und ein Neffe. Jahrzehnte später, im Jahre 1873, wanderte Auerbachs Sohn August auch nach New York aus. Diese Erfahrungen hinterließen schmerzhafte Spuren bei Auerbach. In Briefen sowie in seinen Dorfgeschichten kritisiert Auerbach die Spaltungen im persönlichen, familiären und dörflichen Leben, welche durch die Auswanderung verursacht wurden. Schon 1842 lässt er die Ti-

Doch sein eigenstes Wesen gehörte dem Vaterland, dessen Herzschlag und treibende Bewegungen er unmittelbar empfand.« Eduard Lasker: Berthold Auerbach. Eine Gedenkrede gehalten im Großen Berliner Handwerkerverein am 4. März 1882, Berlin 1882, S. 37. Auerbach muss des Englischen aber mächtiger sein als sein Zeitgenosse Lasker glaubte, denn Auerbach selber übersetzte 1875 (anscheinend allein) Benjamin Franklins Autobiographie. 10 Es ist behauptet worden, dass Auerbach die Idee für seine Dorfgeschichte als Versuch entwickelte, seinem verstorbenen Vater ein geistiges Denkmal zu setzen und über seine Trauer hinwegzukommen. Arnold Koeppen: Auerbach als Erzieher, Pyritz 1912, S. 15. 11 »Amerika spielt geradezu die Rolle eines Leitmotivs.« Eugen Zabel: Berthold Auerbach. Eine Skizze, in: Berthold Auerbach. Ein Gedenkblatt zum 28. Februar 1882, Berlin 1882, S. 77. Vgl. auch M. I. Zwick: Berthold Auerbachs sozialpolitischer und ethischer Liberalismus, Stuttgart 1933, S. 113. 12 Zwick erwähnt, dass Auerbach in den 50er Jahren für einen geplanten Auswandererroman sogar »eine Studienreise nach Amerika ins Auge gefaßt hatte,« die aber unausgeführt blieb. Zwick: Auerbachs Liberalismus (s. Anm. 11), S. 119. 62

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telfigur in seiner Erzählung Der Tolpatsch zum Schluss nach einer aus materieller Sicht erfolgreichen Emigration von den USA aus beklagen: [E]s druckt mir oft schier das Herz ab, daß ich all das viele Gut so allein genießen soll. Ich wünsch’ mir oft ganz Nordstetten herbei; den alten Zahn, das blinde Konradle, das Schackerle von der Steingrub, den Soges, den Sauderbrunnenbasche und das Mauerizele vom Hungerbrunnen, die sollten sich alle bei mir satt essen, bis sie nimmer weiter können. Was hab’ ich davon, wenn ich so allein da bin?13

Fast fünfzehn Jahre später spricht Auerbach das Thema in Barfüßele (1865) an, einer Geschichte, die sich großer Beliebtheit bei seinen deutschen Lesern erfreute.14 Dort lässt er den Erzähler die emotionalen Kosten der Auswanderung bei der bevorstehenden Abreise des Bruders der Titelfigur so kommentieren: »O, diese Abschiedsstunden! Wie pressen sie das Herz, wie preßt sich alle Vergangenheit und Zukunft in einen Augenblick zusammen, und man weiß nirgends anzufassen, und nur ein Blick, eine Berührung muß Alles sagen!«15 Auerbach betrachtet die Entwicklung dieses Phänomens aber nicht ausschließlich aus emotionaler Perspektive. Seine Beschreibungen sind sehr detailliert und entspringen einer soziologischen Sichtweise. In den 50er Jahren kommentiert Auerbach durch einen Erzähler eine gesellschaftliche Veränderung in der deutschen Auswanderung, nämlich diejenige, dass weniger Familien als einzelne junge Frauen und Männer zu diesem Zeitpunkt auswandern und dass diese Entwicklung eine nachhaltigere Wirkung auf deutsche Gemeinden und Dörfer ausübt als der Verlust von Kleinfamilien.16 In den 60er Jahren bedauert er den gesellschaftlichen Effekt der Auswanderung auf jüdische Gemeinden im Schwarzwald. Nach einem Besuch in Nordstetten schreibt er seinem Freund Jakob: Gestorben! Ausgewandert! Hört man hier ständig, wenn man nach dem und jenem fragt. Zu der Amerikasucht ist nun die Freizügigkeit im Lande gekommen,

13 Berthold Auerbach: Der Tolpatsch und Der Tolpatsch aus Amerika, Stuttgart 1911, S. 23. 14 Die Ausgabe von 1927 bemerkt, dass die Auflagenhöhe 49.000 umfaßt, eine beeindruckende Zahl. Siehe Berthold Auerbach: Barfüßele, Stuttgart 1927. 15 Berthold Auerbach: Barfüßele, Stuttgart 1870, S. 83. 16 Juliane Mikoletzky: Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, Tübingen 1988, S. 120f. 63

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und es ist wie in einer Gesellschaft […] Drüben in Schwandorf steht die Synagoge verödet und der jüdische Kirchhof verlassen, es sind keine Juden mehr da. Ich sehe es kommen, vielleicht schon in einem Jahrzehnt, daß es auch in Nordstetten so ist.17

Aufgrund solcher Erfahrungen ist es nicht verwunderlich, dass viele seiner Texte eine ausgesprochen skeptische Einstellung zum Phänomen Auswanderung aufweisen. Laut Kristina Sazaki war Auerbach der Meinung, dass Emigration nach Amerika wenn möglich gar nicht stattfinden sollte, da es die deutsche Heimat der vaterlandstreuen Menschen beraubt, die in Deutschland für politische Veränderung und Einheit hätten kämpfen können.18 Also konzentrierte sich Auerbachs Amerikainteresse auf die Bedeutung der USA nicht nur für die Deutschen, die Deutschland schon verlassen hatten oder bald verlassen würden, sondern auch für die, die in Deutschland bleiben würden. Auerbach hatte Zugang zu ausgesprochen guten Quellen über das Geschehen in den USA und legte auch großes Interesse an den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen dort an den Tag. Um die Jahrhundertmitte hatte er nicht nur zu seinem Bruder Julius in New York Kontakt, sondern auch zu dem 48er Friedrich Kapp, der zwischen 1850 und 1870 in den USA lebte und höchstwahrscheinlich als Vorbild für den ehrenhaften Deutsch-Amerikaner Doktor Fritz im Landhaus am Rhein diente. Darüber hinaus verkehrte Auerbach mit Amerikanern wie George Bancroft, dem amerikanischen Gesandten am preußischen Hof, und Bayard Taylor, einem amerikanischen Schriftsteller, Reisenden und Deutschlandkenner. Taylor war so sehr von Auerbachs Werken begeistert, dass er seinen Roman Auf der Höhe sofort übersetzen und in den USA veröffentlichen wollte (er kam mit diesem Anliegen aber zu spät, da eine Übersetzung bereits in Vorbereitung war). George Bancroft versicherte Auerbach Ende 1867, dass seine Bedeutung in der Neuen Welt groß sei: »your works are read all over the globe.«19 Auerbach bemerkte dazu, dass der Kontakt »zu diesem bedeutendem Manne bedeutender Stellung

17 Zitiert nach Scheuffelen: Auerbach (s. Anm. 2), S. 88. 18 Kristina Sazaki schreibt bezüglich des Volkskalenders, den Auerbach in den 60er Jahren herausgegeben hatte: »All of the American articles in the Volks-Kalender argue in favour of simply staying in Germany.« Damit meint Sazaki Beiträge von Friedrich Gerstäcker, Reinhold Solger, Karl Andree, und Wilhelm Löwe-Colb sowie auch die, die von Auerbach selbst verfasst worden sind. Kristina R. Sazaki: Berthold Auerbach’s Deutscher Volks-Kalender. Editing as Political Agenda, in: German Life and Letters 55.1 (2002), S. 41-60, hier S. 60. 19 Auerbach: Briefe (s. Anm. 7), S. 352. 64

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[…] der Arbeit neben dem neuen Schwunge auch neue Schwergewichte« gäbe.20 Es ist vielleicht unter anderem dieser Kontakt zu Vertretern der amerikanischen Politik und Kultur, der eine grundsätzliche Verschiebung in Auerbachs Darstellung der Amerika-Thematik in seinem Roman von 1869 verursacht. Seine skeptische Einstellung zum Phänomen Auswanderung hält wohl auch bis zum Landhaus am Rhein und darüber hinaus an. In einem Brief aus dem Jahre 1867 an Jakob bemerkt er: Ich fuhr gestern früh von Tübingen ab. Am Bahnhofe sah ich bei dem abwärts gehenden Zuge eine rührende Abschiedsscene nach Amerika Auswandernder. Einem Handwerksburschen, der davon zog, geben Kameraden das Geleite, und als er schon eingestiegen war, sangen sie ihm ein wohlgeübtes vierstimmiges Abschiedslied auf dem Perron nach. Der Lokomotivenpfiff schrillte drein.21

Dieses Bild findet den Weg in seinen Roman, wo der Erzähler eine ähnliche Auswanderungsszene beschreibt: Ein Zug war in den Bahnhof eingefahren und hielt still. Der Major hörte schönen Männergesang; er fragte Umstehende und erfuhr, daß viele aus dem Stationsdorfe, die bereits im Zuge saßen, nach Amerika auswanderten. Er sah Mütter weinen, Väter still nicken und in die Lippen beißen. Während die still stehende Locomotive Dampf auszischte, standen viele Burschen auf dem Bahngelände in einem Trupp beisammen und sangen den davonziehenden Kameraden Abschiedslieder nach. Sie sangen mit bewegter Stimme, hielten sich aber im Tacte. Er ging zu den Auswanderern und ermahnte sie, gute Deutsche zu bleiben in Amerika. Unter Weinen rief ein alter Mann: »Was wartet Ihr denn noch? Machts, daß es fortgeht!« Die anderen schalten über den grausamen Menschen, aber der Major sagte: »Nehmt’s ihm nicht übel, er kann nicht anders, es thut ihm zu weh.« Der alte Mann nickte dem Major zu und alle Anderen sahen ihn staunend an. (IV: 14, S. 250).22

Als Genrebild zum Thema Auswanderung wirkt diese Stelle wie ein Echo aus Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten. Im Rahmen des 20 Ebd., S. 351. 21 Ebd., S. 297. 22 Zitate sind der folgenden mir zugänglichen Ausgabe entnommen: Berthold Auerbach: Das Landhaus am Rhein. Roman in zwei Bänden, Stuttgart, Berlin 1900. Um das Auffinden der Textstellen in anderen Ausgaben zu erleichtern, werden unmittelbar nach jedem Zitat die Nummern des jeweiligen Buchs und Kapitels vor der Seitenzahl angegeben. 65

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gesamten Romans aber stellt diese Szene eher eine Ausnahme dar. Ein anderer Aspekt Amerikas kommt hier stattdessen häufiger zum Vorschein, der die Auswanderung an sich in ein viel komplexeres Licht stellt. Es ist bezeichnend, dass in diesem Werk die meisten Figuren, die in die neue Welt reisen, dies aus ideologischer Überzeugung tun. Die traditionellen Gründe der deutschen Amerikaauswanderung, also persönliche Bedrängnis oder wirtschaftliche Nöte, spielen in diesem Roman höchstens bei den Randfiguren (wie oben den am Bahnhof Stehenden, die nicht mal Namen bekommen) eine Rolle. Für die Hauptfiguren, wie Erich und Roland, und wichtige Nebenfiguren, wie Dr. Fritz, geht es in der Frage des Auswanderns vor allem um ideologische Einstellungen und politische Prinzipien. Wie wir sehen werden, ist das kein Zufall. Denn im Landhaus am Rhein gilt Amerika vor allem als Hintergrund für die Konstruktion eines neuen Heimatbegriffs.

Die deutsche Heimat Wie der Titel des Romans, Das Landhaus am Rhein (1869), andeutet, geht es in dem Werk vorwiegend um Fragen zur deutschen Kultur und Geschichte. Der Roman erzählt die Geschichte eines Lehrers, Erich Dournay, der nach Erhalt seines Doktortitels (und des Ranges eines Hauptmanns bei der Armee) eine Stelle sucht. Er findet eine solche als Hauslehrer für den Sohn (Roland) eines Millionärs, Sonnenkamp, der eine prächtige Villa am Rhein erworben hat. Die Villa ist zunächst Schauplatz einer deutschen Familienkrise. Aber die Lage am Mittelrhein ist auch im Kontext der Periode der deutschen Uneinigkeit von Bedeutung und den damaligen Lesern sicher vielversprechend gewesen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielt der Rhein eine immer größere Rolle als Wahrzeichen der deutschen Geografie sowie als bedeutendes Symbol der deutschen Identität. In Gedichten und patriotischen Liedern von Theodor Körner oder zur Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon wird der Rhein als deutscher Strom, durch den ein neues Deutschland gestaltet werden kann, verherrlicht und gefeiert. Noch aggressiver wird der Ton in den vielen Gedichten, die im Kontext der Rheinkrise von 1840 geschrieben und in der Presse weit verbreitet werden. In Gedichten von Nikolaus Becker und Max Schneckenburger erscheint der Rhein als militärische Verteidigungslinie der deutschen Nation, als Bollwerk gegen französische Angriffe. In anderen Werken des 19. Jahrhunderts gilt der Rhein nicht nur als Symbol der deutschen Identität, sondern auch als Lebensader, durch den das Herzblut der Nation und des

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Volkes pulsiert.23 Heines Kritik in Deutschland. Ein Wintermärchen gegen eine solche politische Inanspruchnahme des Flusses ist ein Indiz dafür, wie weitverbreitet eine emotionale Funktionalisierung des Rheins war. Ähnliche Bilder tauchen im Landhaus am Rhein auch auf. Zu Beginn eines Kapitels herrschen häufig verherrlichende Beschreibungen der Rheinlandschaft vor. Der Rhein glänzt in der Abendsonne. Versatzstücke wie der Strom, die Reben, und der Gesang von treuen Jünglingen, die Jahrzehnte früher in den Gedichten von nationalistischen (und antifranzösisch orientierten) Dichtern wie Becker und Schneckenburger vorherrschten, fungieren hier als Lokalkolorit. Bei Auerbach ist dieses Register wie in seinen Dorfgeschichten eher ein Beispiel für eine liebevolle, leicht romantisch angehauchte Verherrlichung einer heimatlichen Landschaft. Der politische Konflikt mit Frankreich spielt hierbei keine Rolle. Statt dessen verrät der Grundton des Romans eine ausgesprochen liberale Gesinnung. Die Tatsache, dass die Hauptfigur, der Lehrer Erich Dournay, aus einer Familie von französischen Hugenotten stammt, ist ein weiteres Indiz dafür. An der Stelle einer nationalen Funktionalisierung des Rheins steht eine sanfte Romantisierung der Flußlandschaft. In allen Werken Auerbachs (von den bäuerlichen, ländlichen Dorfgeschichten bis hin zu den späten Romanen) dominiert die ausgeprägte Naturbegeisterung. Immer wieder weisen verschiedene Baumsorten und Vogelarten auf ein stimmiges und geordnetes Verhältnis der Figuren zur geografischen Heimat hin. In Das Landhaus am Rhein beginnt diese erzählerische Tendenz fast auszuarten: »Die Luft war voll tauiger Frische und hoch über den Rebengeländen im Laubwalde sangen die Nachtigallen, es war wie eine endlose Kette von Gesang« (I/4, S. 21); »Die ganze Welt war voll Blütenduft und Vogelsang, alles wie erlöst, befreit, gesegnet« (IV/3, S. 199). Immer wieder tauchen ähnliche Beispiele einer tiefen Naturbetrachtung (manchmal literarisch unbeholfen) im Zusammenhang mit dem Helden auf: »Erich versenkte sich in das Wallen und Wogen der Natur, wo es auf- und niederrieselt in den Baumstämmen, in den Zweigen sich regt und jede Knospe getränkt ist.« (I/10, S. 47) Durch solche Register von Vögeln, Bäumen, und Landschaften stellt der Roman sowohl eine emotionale als auch eine geographische Verbindung zur Heimat her.

23 Lorie Vanchena untersucht die Funktion der Zeitschriften in der Verbreitung dieser politischen Lyrik um 1840. Lorie Vanchena: Political Poetry in Periodicals and the Shaping of German National Consciousness in the Nineteenth Century, New York 2000. 67

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Die Funktion Amerikas Aber neben dieser deutschen Heimatbegeisterung nimmt in Auerbachs Roman Amerika eine zentrale Erzählfunktion ein. In den Lehrplan seines Schülers integriert Erich amerikanische Intellektuelle wie Benjamin Franklin, Theodore Parker, den Kämpfer gegen die Sklaverei, und den Dichter Longfellow. Mit der Zeit stellt sich heraus, dass der Vater Sonnenkamp seinen Reichtum in den USA als Sklavenhändler verdient hat, und dass er sogar an einem Sklavenmord schuldig ist. Zum Schluss des Romans (also als letzter Schritt in der erfolgreichen Bildung und Ausbildung Rolands) ziehen Erich und Roland pflichtbewusst und ethisch gerüstet in den US-amerikanischen Bürgerkrieg (aufseiten des Nordens), während Sonnenkamp, der mit der schönen jungen Witwe eines Adligen nach Amerika durchgebrannt ist, aufseiten der Südstaaten kämpft. Und schon zu Beginn des Romans verbindet Erich einen Sturm am Rhein mit den politischen Ereignissen in den USA. Nach der Lektüre eines Zeitungsberichts über den amerikanischen Bürgerkrieg »erschien ihm die Luftspannung überm Ozean auch als ein Gewitter, das vielleicht die beklemmende Atmosphäre der alten Welt reinige« (I/6, S. 31). Obwohl der Hauptteil der Romanhandlung am Rhein stattfindet, endet sie mit einer Reihe von Briefen aus und nach Amerika, die auf das weitere Leben der Hauptfiguren Roland und Erich hindeuten. Die Politik und das kulturelle Erbe der Vereinigten Staaten nehmen zwar in diesem Roman eine wesentliche Stellung ein, aber es bleibt die Frage, welches Bild von Amerika hier vorherrscht. Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Paradoxerweise fungieren die Vereinigten Staaten als Ort der Brutalität, Gewalt und Rohheit und gleichzeitig als hoffnungsstiftendes Vorbild. Auf der einen Seite ermöglicht Amerika die schlimmste Form der finanziellen, moralischen und seelischen Korruption. Am Anfang des Romangeschehens droht unrechtmäßiger Reichtum, der in Amerika erworben wurde, die ganze Familie Sonnenkamp in den Untergang zu reißen. Auf der anderen Seite gilt Amerika als gesellschaftlicher Schmelztiegel, von dem aus eine generationenübergreifende Erneuerung beginnt. Im Laufe des Romans fördern immer wieder philosophische, pädagogische und moralische Vorbilder aus Amerika die Tilgung einer Familienschande und ermöglichen gleichzeitig eine Beantwortung der deutschen Nationalfrage sowie eine Reflexion über die Vorstellung der Heimat in der modernen Ära. Auf den ersten Blick scheint es, als ob Auerbach der jüngsten amerikanischen Geschichte wichtige Lehren für die deutsche Situation entnehmen möchte. Im Jahre 1866, also vor dem Hintergrund des sogenannten »deutschen Bruderkriegs«, beginnt Auerbach einen Roman zu

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schreiben, der einiges über den amerikanischen Bürgerkrieg aussagt. Der Roman ist mit einer ganzen Reihe von didaktischen Schlüssen gespickt, die für Deutsche und deren mögliche nationale Einheit von Bedeutung sein könnten und sollten. Der Krieg zwischen Union und Konföderierten dient den Hauptfiguren des Romans schließlich als bildliches und ethisches Schlachtfeld. In diesem Sinne kommt Amerika eine konstitutive Erzählfunktion zu. Dennoch kann und soll dieses Land aber eine grundsätzliche Bindung an Deutschland nicht ersetzen. Nach dem Krieg kehrt der Held Amerika den Rücken und reist in seine deutsche Heimat zurück. Sein Schüler und Zögling Roland aber entscheidet sich für ein Leben in der Neuen Welt. Was bleibt, ist eine Spannung zwischen der moralischen Katharsis durch amerikanische Impulse und einem dauerhaften Bekenntnis zur deutschen Heimat.

Auswanderertypologie Um die eigentliche Einstellung des Romans zum Thema Auswanderung zu verstehen, ist es zunächst wichtig festzustellen, welche Auswanderertypen Auerbach in den Roman aufnahm. Fast alle Varianten kommen darin vor: Abenteurer, Betrüger, sogar Kriminelle, aber auch Reichtumssuchende, politische Kämpfer, und Gerechtigkeitssuchende.24 Die meisten negativen Figuren sind relativ harmlos, weil ihr Einfluss beschränkt bleibt. Sie verursachen dennoch auf persönlicher, familiärer Ebene großen Schaden. Genau wie in Kellers Martin Salander gibt es bei Auerbach z.B. einen Neffen, der vom ehrenhaften, soliden Onkel Geld stiehlt und dann nach Amerika durchbrennt. Wie in Freytags Soll und Haben gibt es einen Aristokraten, der vor allem auf Abenteuer und Nervenkitzel aus ist (bei Auerbach ist das eine Frau, die junge, schöne Witwe des alten Barons). Diese sind in der Tat negative Bilder der amerikanischen Auswanderung, eine Andeutung auf die fehlende gesellschaftliche Kontrolle, die die Auswanderung in sich birgt. Das richtige Schreckensbild der amerikanischen Auswanderung (sprich in diesem Fall auch der Rückwanderung!) ist aber der Millionär Sonnenkamp. Er ist der nouveau riche, Sohn wohlhabender Eltern, der 24 Mikoletzky erstellt eine Typologie, die den gesellschaftlichen Stand, die Motivation und ursprünglichen Ort der Auswanderung wie auch Geschlecht, Beruf, und das endgültige Ziel der Auswanderung aller fiktionalen Auswanderer enthält. Letztendlich kommt sie zu dem Schluss, dass wir von der fiktionalen Literatur bedeutende Aufschlüsse über die psychische Bewältigung der Massenauswanderung erhalten können. Mikoletzky: Amerika-Auswanderung (s. Anm. 16), S. 324. 69

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auf Abenteuer und vor allem Riesengewinn aus ist, der sich in der ganzen Welt herumtreibt, sein Erbe verspielt, schließlich den Weg nach Amerika findet und es dort zu ernormem Reichtum bringt. Obwohl am Anfang des Romans unklar bleibt, wie Sonnenkamp seine Millionen verdient hat, wird angedeutet, dass dieser »Amerikaner« eigennützig ist. Er hat den Weg zurück nach Deutschland vor allem deswegen eingeschlagen, weil es sich finanziell rentierte und er gut mit seinem Gewinn prahlen konnte (er kauft sich eine Burg am Rhein). Bald aber stellt sich heraus, dass Sonnenkamp in den Adelsstand erhoben werden möchte, um seine eigentliche Identität hinter dem angekauften Titel zu verstecken. Der früh angedeutete Verdacht, dass Sonnenkamp eine falsche Identität in Amerika angenommen hatte – und dass er in Wirklichkeit ein berüchtigter, gewalttätiger Sklavenhändler war –, wird bestätigt.25 Für den deutschen Auerbach aber, der vordergründig für eine deutsche Leserschaft schreibt, ist es von Bedeutung, dass Sonnenkamp kein reiner Amerikaner ist. Eigentlich ist er Deutscher. Obwohl Sonnenkamp ursprünglich als »Amerikaner« auftritt, ist er in der Tat ein deutscher Auswanderer (der dann wieder nach Deutschland zurückkehrt), und zwar ein höchst abschreckendes Beispiel: Er hat auf brutalste Art und Weise unschuldige, gefangene Menschen getötet (und muss einen großen Ring tragen, um die Narbe zu verdecken, wo ihn der Sklave, den er erdrosselte, gebissen hatte). Sonnenkamp ist so negativ gezeichnet, dass sein Charakter kaum realistisch gelesen werden kann. Er wird als überlebensgroßer Kraftmensch dargestellt, der hinkt und also als Repräsentant des teuflischen, inhumanen, pervertierten (wohlgemerkt deutschen) Menschen fungiert. Dieser Teufel reist in der ganzen Welt herum und ist nirgends zu Hause.

25 Diese Andeutung kommt von dem jungen Adligen Otto von Prancken, der bei dem ersten Gespräch mit Erich den Millionär Sonnenkamp den »Massa Sonnenkamp« nennt. Für eine amerikanische Leserschaft wäre diese Andeutung klar, und bis 1869, also nach den vielen Berichten über den amerikanischen Bürgerkrieg ist es in Deutschland wahrscheinlich auch verständlich. Zudem nennt von Prancken Sonnenkamp einen »mysteriösen Mann«, und Erich bemerkt bedeutungsschwanger: »mir ist, als hätte ich den Namen schon einmal gehört.« (I/3, S. 20) 70

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Auswanderer zwischen Heimat und Heimatlosigkeit Sonnenkamps Sohn Roland tritt allerdings nicht in die Fußstapfen seines heimatlosen und ungebundenen Vaters, sondern in die der ehrenhaften deutschen Auswanderer. Diese sind eben nicht aus finanziellen Gründen, sondern aus politischer Überzeugung bzw. aus gehobenen moralischen Grundsätzen nach Amerika gereist. Auch die Charaktere, die nur übergangsweise in die USA reisen, tun dies nicht aus Geld- oder Berufsgründen, was wohl in Nordstetten und an anderen Orten Deutschlands doch die Hauptbeweggründe der Auswanderung waren. In diese moralische Kategorie gehören nicht nur der Held Erich Dournay und sein Schüler Roland, sondern auch Manna (die Schwester von Roland und die Braut Erichs), und der fortschrittliche Knopf (der erste Hauslehrer Rolands). In diesem Kontext gelten vor allem Roland und Manna als Beweis dafür, dass Auerbach gegen eine genetische oder familiäre Determinierung der politischen oder moralischen Einstellung des Einzelnen eintritt. Diese jüngeren Auswanderer halten Kontakt zu einem älteren deutschen Auswanderer, dem Doktor Fritz. Dieser 48er, »der als Vertreter deutscher Humanität in der Neuen Welt emsig an der Vertilgung des Schandflecks arbeitete, der durch den Bestand der Sklaverei noch auf der Menschheit ruht« (V/8, S. 34), ist somit der deutsche Beitrag zum idealen transatlantischen Austausch bei Auerbach. Denn die moralische Überzeugung, die Erich und Roland in die USA und in den amerikanischen Bürgerkrieg tragen, kommt (zumindest nach der Logik des Romans) vom edlen amerikanischen Gedankengut. In Das Landhaus am Rhein geht es vor allem darum, eine echte Verbindung zur Heimat herzustellen. Der selbstsüchtige Bösewicht Sonnenkamp fungiert als der heimatlose Mensch schlechthin. Er ist Weltreisender im schlechten Sinn, eben weil er keine dauerhafte Bindung sucht. Er will nicht einmal Erinnerungen an die Heimat haben (siehe XIII/9, S. 109). Sein Hass auf die Heimat überträgt sich auf seine Humanität und gipfelt in einer langen Rede über seine Weltverachtung (siehe XIII/9, S. 116). Da ihm der Begriff Heimat verhasst ist und alles, was damit zusammenhängt  Respektabilität und Tugend  nur Maske und Heuchelei bedeuten (siehe XIII/9, S. 112-114), ist er bestrebt, diese Gefühle an seinen Sohn weiter zu geben. Fast gelingt ihm das auch. Wenn Roland im XII. Buch nach einer kurzen Abwesenheit in die Villa seines Vaters zurückkehrt, muss er von Neuem den Spott seines Vaters ertragen: »Roland empfand aufs neue das Gefühl der Heimatlosigkeit.« (XII/7, S. 34) Inzwischen aber ist seine intensive amerikanische Ausbildung durch Erich so weit fortgeschritten, dass er gegen solche Anfechtungen ge-

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wappnet ist. Ihm gibt die Begegnung mit dem amerikanischen Gedankengut und der amerikanischen Literatur ein festes Heimatgefühl. Benjamin Franklin erscheint ihm im Traum und die Worte von Longfellows Hiawatha umtönen ihn: »[S]tark kann ich dich hauchen, Bruder!« (XII/7, S. 39) Im Gegensatz zu Auerbachs Dorfgeschichten, wo das Hauptthema bezüglich Amerika die Auswanderung deutscher Bürger und der Verlust für das regionale und nationale Vaterland war, geht es hier nur am Rande um die Auswanderung als gesellschaftliches Thema. Viel wichtiger ist in Das Landhaus am Rhein die Frage der Erziehung und die, welcher Gewinn aus einer amerikanischen Kulturtradition für die Erziehung eines modernen, pflichtbewussten Weltbürgers zu ziehen sei. Es geht also hauptsächlich darum, sich als Mensch möglichst breit gefächert und human zu bilden.

Demokratie und die amerikanische Idee der Freiheit Das Interesse Auerbachs an dem Phänomen Auswanderung und an Amerika überhaupt ist von seinen Hoffnungen für Deutschland nicht zu trennen. Sein Leben lang hat er sich für die deutsche Einheit und für die Etablierung einer liberalen Politik in Deutschland eingesetzt.26 Amerika gilt ihm als Prüfstein für diese Träume in zwei Hinsichten. Erstens stellen die Vereinigten Staaten das größte Experiment in Sachen Demokratie dar. Deren Freiheiten und Bürgerrechte sind ein großes Vorbild für Deutsche sowohl vor als auch nach der Revolution von 1848. Auerbach weiß aber in gleichem Maße über die Missstände in den USA Bescheid. Mehrere werden in seinem Roman auch angesprochen, wie z.B. die bigotte Religiosität (der Doktor Fritz schickt seine Tochter nach Deutschland in die Schule, weil sie nach ihrer amerikanischen Schulerfahrung den freisinnigen Eltern Gottesleugnung vorwirft).27 An anderer Stelle bemerkt Erich 26 Für eine Analyse von Auerbachs politischen Einstellungen siehe Zwick: Auerbachs Liberalismus (s. Anm. 11), S. 113-124, Nancy A. Kaiser: Berthold Auerbach. The Dilemma of the Jewish Humanist from Vormärz to Empire, in: German Studies Review 6.3 (1983), S. 399-419, und Anita Bunyan: ›Volksliteratur‹ und nationale Identität. Zu kritischen Schriften Berthold Auerbachs, in: Deutschland und der europäische Zeitgeist. Kosmopolitische Dimensionen in der Literatur des Vormärz, hg. v. Martina Lauster, Bielefeld 1994, S. 63-89. 27 Kapp, der 1850 ausgewandert und 1870 wieder nach Deutschland zurückgekehrt war, behauptet vom deutschen Auswanderer: Gleichgültig, wie er72

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(auch ohne bis dahin in den USA gewesen zu sein): »das amerikanische Leben bei allem Kirchengehen ist ein sonntagsloses Dasein« (III/5, S. 157), denn dort komme es vor allem auf Arbeiten und Geldverdienen an. Im IV. Buch werden auch ein Fall von Bestechung im US-Congress und der Betrug an unschuldigen Einwanderern erwähnt. (siehe IV/14, S. 251) Die Hauptsünde der USA aber ist die inhumane Sklaverei. Ihre Bekämpfung war für Auerbach ein zweiter großer und notwendiger Schritt zur Freiheit. Noch hinzu kommt, dass in den 1860er Jahren dem amerikanischen Staat eine Teilung drohte. Also war die deutsche Problematik der fehlenden nationalen Einigkeit für Auerbach auch an dem Ausgang des amerikanischen Bürgerkriegs abzulesen. Darüber hinaus spiegeln sich für ihn in den USA die deutschen Klassenunterschiede wider. Das deutsche Junkertum ist nicht nur unproduktiv, sondern beruht auch auf Ausbeutung und Unfreiheit. Eine ehrenhafte Figur im Roman behauptet, dass der Begriff Junker »der vollkommen deckende Ausdruck [für die Sklavenhalter der Südstaaten, K.B.] sei«. (XIV/8, S. 169) Demgegenüber nennt er die bürgerliche Tugend der Arbeitsamkeit den richtigen »Adel des Menschen«. (ebenda) Dies gilt sowohl diesseits als auch jenseits des Atlantiks. Der beispielhafte Kampf um die amerikanische Einheit war für Auerbach ein wichtiges Element Amerikas, aber noch bedeutender für den Roman ist das Thema der Freiheit. Benjamin Franklin und Theodore Parker, der ›Abolitionist‹-Prediger, die sich für die Freiheit einsetzen, bieten die eigentlichen Lehren, die Europäer aus Amerika ziehen können und sollten. In dem Roman, den Auerbach ursprünglich als Erziehungsgeschichte konzipierte,28 entwirft er ein neues Bildungsmodell, das auf

folgreich er sein wird, »so wird er in den Augen seiner neuen Mitbürger doch nicht aufhören, Fremder zu sein, so wird er mit wenigen Ausnahmen, selbst beim besten Willen seiner Seits im Auslande keine zweite Heimath finden.« Friedrich Kapp: Über Auswanderung: ein Vortrag, gehalten am 2. Februar 1871 im Berliner Handwerker-Verein, Berlin 1871, S. 36. Von seinem Sohn, der später den berüchtigten Kapp-Lüttwitz-Putsch leitete, wird berichtet: »oft genug kehrte er mit blutigem Kopf aus der Schule oder von der Straße heim, wenn er sein Deutschtum betont, und der väterlichen Mahnung folgend, jeden Unglimpf mit der Faust abgewehrt hatte.« Zitiert nach: http://www.mdr.de/Drucken/133348-9616.html (Zugriff vom 14.12. 07). 28 Am 6. Januar 1867 schreibt Auerbach an seinen Freund Jakob: »Ich habe in wenigen Tagen eine Erzählung in erster Niederschrift fertig gebracht. Ich bin jetzt, da sich mir das Thema von selbst sehr erweitert, in einer grundmäßig neuen Gestaltung desselben. Ich will dir nichts Näheres sagen 73

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den Schriften von Franklin und Parker und auf der Geschichte der amerikanischen Nationalwerdung basiert. Die Bildung des einzelnen Bürgers ist sogar bedeutender als die großen politischen Fragen. Im V. Buch führt Erich Roland in das Leben Franklins ein, denn »Roland sollte einen ganzen Mann sehen« (V/11, S. 42). Es geht hier weniger um das Politische oder Staatsmännische an Franklin. Wie Erichs Vater vor seinem Tod Erich vermittelt hatte (siehe V/2, S. 7), ist Franklin sogar Washington als dem General der Befreiung und Jefferson als dem ›Autor‹ der Nation vorzuziehen. Warum? [E]s gibt in der neuen Geschichte keinen zweiten Menschen, an dessen Leben und Denken sich ein Mensch unserer Tage so heranbilden ließe, wie an Benjamin Franklin. Warum nicht Washington, der so groß und rein ist? Washington war Soldat und Staatsmann, aber er hat die Welt nicht in sich entstehen lassen und nicht aus sich gefunden. Er hat durch Beherrschung und Lenkung Anderer gewirkt, Franklin durch Lenkung und Beherrschung seiner selbst. (V/2, S. 8)

Also ist Franklins Verdienst, dass er der »erste selfmade man« war (siehe V/2, S. 9), und somit der echte Vater der Nation. Wenn alle Menschen wie er für Rechtschaffenheit, Wahrhaftigkeit, Arbeit und gegenseitige Hilfeleistung einstehen würden, erzielte man die beste Weltordnung. Was genau also sollte Deutschland von Amerika lernen? Erichs Vater fährt in seiner nachgelassenen Schrift an seinen Sohn fort: »Wir haben in der Welt nicht Genies zu erziehen. Jedes Genie erzieht sich selbst und kann keinen andern Erzieher haben. Wir haben gediegene, thatkräftige Bürger zu bilden.« (V/2, S. 9) Durch seinen Helden Erich Dournay macht Auerbach diese Devise zum Fundament einer neuen deutschen Pädagogik. Als Antwort auf die soziale Ungerechtigkeit diesseits und jenseits des Atlantiks plädiert Auerbach auch für ein »neues Moralprinzip«, das aus Amerika kommt: »Help yourself.« Dieses Prinzip affirmiert Erich: »Bei uns in Europa wird der Mensch zu etwas gemacht durch ein Erbe oder durch die Gunst eines Fürsten; der Amerikaner will nichts werden durch andre, sondern nur das, wozu er sich selbst ohne Hilfe eines anderen machen kann.« (VI/7, S. 115) Erst wenn diese Pädagogik eine neue

und nur dir eine Aufgabe stellen. Schreibe mir deine Gedanken auf: Wie ein Privaterzieher von umfassender Bildung einen zum Jüngling werdenden Knaben, der Millionen erben soll, zu erziehen hat.« Auerbach: Briefe (s. Anm. 7), S. 323. 74

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Schicht selbstsicherer Bürger herangebildet hat, kann die deutsche Gesellschaft sich vollständig emanzipieren. Bei Auerbach geht es nicht um die Signifikanz der Auswanderung per se, sondern um die dank ihr sich ergebende Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen. Diese Möglichkeit soll Roland in den USA in die Tat umsetzen. Es geht also darum, die alten, klassischen Werte der Bildung (der Antike und der Aufklärung) sich neu einzuprägen, sich wieder vor Augen zu führen. Der Lehrer Knopf klärt Erich darüber auf: Die Griechen hatten einen andern Weg, den der Kraft, der Heiterkeit, des Selbstvertrauens, das macht stark. […] Der eigentlich schöne Mensch oder der eigentliche Mensch ist der unexaminierte Mensch, eine Spezies, die sich in Europa gar nicht mehr findet. Wir werden alle zum Examen geboren. Das war das Große an den Griechen, daß sie keine Examinationskommission hatten; Plato hat nirgends promoviert, und das ist das Große, das Griechentum Erneuernde in Amerika, da gibt’s eigentlich auch kein Examen. (V/8, S. 33)

Amerika ist also das neue Athen, und das amerikanische Gedankengut ist die Weisheit für das neue Zeitalter. Im direkten Gegensatz zu diesem Freiheits-Impuls steht die pervertierte Vorstellung von Sonnenkamp. Für ihn bedeutet Freiheit eine höchst eigennützige Sache – eben nicht politisch aktiv sein zu müssen: »Für den freien Menschen ist und bleibt Deutschland das einzige Land. Da zahlt man seine Steuer und ist fertig. Ich kehrte nach Deutschland zurück, weil ich ein Leben gesellschaftlichen Glanzes für mich und meinen Sohn erobern wollte.« (XIII/9, S.115) Auerbachs Erzähler geht noch einen Schritt weiter. Amerika könnte auch ein Faktor in der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands werden. »Weidmann sprach es geradezu aus, daß jetzt ein Gewitter über der Welt heraufziehe, und er hoffe, daß das in Amerika losbrechende auch die Luft in Europa reinige.« (XIV/7, S. 167) Diese Vorstellung eines von Menschen erzeugten Gewitters, das von den USA aus über den Ozean hinweg »die Luft« in Europa beeinflussen könnte, zeugt von einer Vorstellung der globalen Verbindungen zwischen sonst weit entfernten Erdteilen. Das heißt, dass die Übernahme amerikanischer Ideen und Prinzipien eine positive Art der Globalisierung auf intellektueller und politischer Ebene darstellt.29

29 Auerbach ist nicht der einzige deutsche Schriftsteller, der Amerika in einen »Erziehungsroman« hineinbringt. Mitten in seiner Arbeit am Roman liest Auerbach Unüberwindliche Mächte von Herman Grimm und bemerkt dazu: »Da ist ähnliche Wechselbeziehung zwischen Amerika und Deutschland und groß gefaßt, da ist Werkthätigkeit auch vielfach Thema, und ein Erzieher scheint eine große Rolle zu spielen, und ich sehe schon, auch der 75

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Technologie und Globalisierung Das politische Globalisierungsbewusstsein ist aber auch mit anderen Elementen des gesellschaftlichen Fortschritts und Optimismus eng verbunden. In Das Landhaus am Rhein und in anderen Texten von Auerbach erscheint die Diskussion der Auswanderung im Kontext der technologischen Erneuerungen. Das Paradebeispiel für die beginnende Globalisierung im 19. Jahrhundert ist für Auerbach die Eisenbahn. Schon in seinen frühen Werken beschreibt Auerbach ausführlich und fasziniert die neue Technologie der Eisenbahn und ihre Bedeutung für das Leben des Einzelnen und die Gesellschaft als Ganzes.30 In Das Landhaus am Rhein wird die Heimat genauso gepriesen wie in Auerbachs früheren Werken, aber in direkter Verbindung dazu taucht eine eindeutige Faszination für die Errungenschaften des technologischen Zeitalters auf. Trotz der dramatischen Veränderungen, die die Eisenbahn mit sich bringt, loben sowohl der Erzähler als auch der Held des Romans immer wieder das Wunder der Eisenbahn. Erichs Erwiderung auf die Ansichten Graf Chlodwigs, der als philosophischer Mensch, aber auch als Vertreter des sich im Aussterben befindlichen Adels auftritt,31 ist ein repräsentatives Beispiel: Chlodwig hielt in seiner Rede inne. Aus dem Thal herauf hörte man den schrillen Pfiff der Lokomotive und das dumpfe Rollen des Bahnzuges. »Damals freilich,« setzte er nach einer Pause hinzu, und sein Antlitz wurde von einem raschen Blitz erleuchtet, »damals störte die stille Betrachtung noch kein Pfiff der Lokomotive.« Schauplatz verlegt sich später nach Amerika, Alles ganz nahe oder parallel mit meinem Plane. Ich werde mich aber doch nicht abschrecken und verdrängen lassen. Aber wunderbar ist doch dies Zusammentreffen und ich sehe schon, wie viel Mißlichkeit es mir bereiten wird.« Auerbach: Briefe (s. Anm. 7), S. 330. 30 Paul A. Youngman hat das starke Interesse Auerbachs für die neuesten Technologien, in diesem Fall die Eisenbahn, behandelt. Obwohl Youngmann sich auf zwei Werke von Auerbach beschränkt, Die Sträflinge und Nest an der Bahn, gilt eine seiner Thesen wohl auch für Das Landhaus am Rhein: dass die Funktion von dieser Technologie auf »a more comfortable unity or reconciliation of the present with the past« hindeutet. Paul A. Youngman: Black Devil and Iron Angel. The Railway in NineteenthCentury German Realism, Washington D.C. 2005, S. 53. 31 Am Anfang vom XIV. Buch sagt der Erzähler vom Grafen, der kinderlos gestorben ist und dessen Frau sofort nach seinem Tod mit Sonnenkamp verschwindet: »Chlodwig hatte keine Spur seines Wirkens hinterlassen.« (XIV/1, S. 143) 76

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»Und doch«, entgegnete Erich, »ist dieser schrille Ton eigentlich keine Dissonanz. Die Menschen führen ihr gesetztes Leben fort mitten im Aufruhr der Natur. In unsrer Zeit zieht sich ein unabänderliches System von Bewegungen unaufhaltsam über unsre Erde. Man könnte sagen, all unser Schaffen und Wirken ist ein Bereiten von Wegen, ein Offenhalten der Bahn, daß sich die ewigen Naturkräfte frei bewegen. Bahndienst hat der neue Mensch auf Erden.« (I/6, S. 32)

Gleichzeitig scheinen für Auerbachs Sprachrohr Dournay diese Veränderungen nicht im direkten Kontrast zu seiner Naturbegeisterung zu stehen. Noch eindeutiger wird diese positive Einstellung zur Modernisierung, wenn der Erzähler sie vertritt: »Auf dem Strome schwimmen Schiffe auf und nieder, Bahnzüge rollen hüben und drüben und Menschen aller Lande und Lebensverhältnisse erquicken sich des Anblicks.« (II/1, S. 62) Eindeutig und wiederholt kommt diese Begeisterung für die neueste technologische Entwicklung zum Ausdruck. »Die Ufer erscheinen als wonnige Ruhstatt und bieten doch Bewegtheit genug. Vor der Schwelle des Hauses liegt die große Straße des Weltverkehrs; aus der Einsamkeit läßt sich jede Stunde die Verbindung mit dem weltweiten Treiben gewinnen.« (II/1, S. 62) Ähnliche Stellen findet man auch in Auerbachs späteren nicht-fiktionalen Texten. In einem kurzen Beitrag, Ein Tag in der Heimat (1879),32 behauptet Auerbach, dass man durch die Eisenbahn gelernt hat, bessere Straßen in dem Städtchen Horb zu bauen (16) und die Produkte der Besenbinder und Wachholderverkäufer in Vieringen in der ganzen Welt bekannt zu machen (12). Obwohl die Eisenbahn den Lauf des Neckars sehr verändert hat (14), macht sie es möglich, die Annehmlichkeiten und Schönheiten aller Kulturen in die ganze Welt zu tragen (4). Also sind die Veränderungen durch die neue Technologie in der Tat Fortschritte, die Auerbach befürwortet: Welche Gebilde werden sich in den Kinderseelen gestalten, die in dieser neuen Welt träumen und erwachen? Der Pfiff der Lokomotive kann ihnen werden, was uns der Posthornklang war. [...] Es gibt noch immer Menschen, die da glauben, die Eisenbahn sei die Zerstörerin aller Poesie, ohne zu bedenken – abgesehen davon, daß der Mensch wilde Dampfkraft schafft und bändigt –, daß von jener Stunde an, da ein Fußweg durch den Wald getreten wird, die Reihenfolge begonnen hat, die zur Legung der Eisenbahn führt. (23)

32 Berthold Auerbach, Ein Tag in der Heimat in Zur Erinnerung an Berthold Auerbach, hg. v. Kilian von Steiner, Niedernau 1882, S. 1-24. Die anschließenden in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf diesen Beitrag. 77

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Natürlich ist sich Auerbach bewusst, was für Gefahren die schnelle und technologisch bedingte Verbindung einer Region mit anderen Erdteilen in sich birgt. Er beschreibt zum Beispiel die radikalen Veränderungen in der Gesellschaft, welche die Veränderungen in der natürlichen Welt verursachen können, betont aber, dass der moderne Mensch diese Gefahren in Kauf nehmen muss. Die bemerkenswertesten Veränderungen aber sind die biologischen, die Auerbach technologischen Ursachen zuschreibt. In der Sommererinnerung von 1879 schreibt er, dass die Eisenbahn die Akazie in seine Heimat gebracht hat (12), er zitiert den Schullehrer von Nordstetten, der behauptet, dass die stechenden Schnaken sich überall im Schwarzwald eingenistet haben, weil sie als blinde Passagiere auf den Eisenbahnwaggons vom Rhein dorthingebracht wurden (22). Und er notiert: »Wie mögen die Schwarzwaldbienen sich verwundern, wenn sie hier am Berghang den Honig der japanischen Lilie einschlürfen?« (6)33 Schon zehn Jahre früher, nämlich im Landhaus am Rhein, kommen ähnliche Kommentare über die naturbezogene Veränderung vor, die die Verbindung zwischen der Alten und der Neuen Welt hervorgebracht haben. Dieser Kontakt hat nicht nur biologische Implikationen. Die Aussage des Romans zum Thema Globalisierung verbindet solche technologischen und biologischen Veränderungen, die auf den intensivierten Kontakt zwischen verschiedenen Gesellschaften beruhen, mit politischen Auswirkungen. An einer Stelle, die die Hauptideen des Romans (Befreiung der Sklaven und Demokratisierung) in den Vordergrund stellt, kommt einer der Hauptvertreter dieser Ansichten auf ein komplexes Globalisierungsphänomen zu sprechen. Erichs Freund Weidmann schreibt über die Sklaverei an Erich, der in den USA ist:

33 Dieses positive Urteil gilt auch für die geistige Auswirkung der neuen Technologien. In einem Aufsatz in der Deutschen Rundschau von 1880 kontert Auerbach die Klage anderer, dass die Eisenbahn die Zerstörerin aller Poesie sei, mit folgender Argumentation: »Finden sich nicht immer wieder Orte, wo man mit sich selber allein sein kann? Und sind solche Orte jetzt nicht öfter und leichter zu erreichen und daneben begleitet von dem Wohlgefühl, nicht von den Städten der Cultur abgeschnitten zu sein? Das Gesetz von Erhaltung der Kraft gilt auch im Reiche der Phantasie, der Umsatz in andere Erscheinungsformen ist nicht Zerstörung.« Zitiert nach Johannes Mahr: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung. Der Wandel eines literarischen Motivs im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert, München 1982, S. 50. 78

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Es ist höchste Zeit, daß diese Schmach aus dem Bewußstein unserer Zeit getilgt wurde, denn es zeigt sich, daß sie durch lange Gewohnheit gar nicht mehr so bitter und scharf als Sünde und Schmach empfunden wurde. Ich mache nach dieser Seite hin überraschende Erfahrungen. Herr Sonnenkamp war mehr als er wußte ein Verderber unserer Landschaft; man spricht jetzt gut von ihm. Ach, nur ein Sklavenhändler? Kann man aller Orten hören. Der Heroismus hat immer etwas Bewältigendes, der kühne Bösewicht wird anziehender als der einfach tugendhafte Mensch. Ganz ernste Männer finden es übertrieben, daß der Fürst Herrn Sonnenkamp nicht geadelt hat. Es hat sich nach Europa eine Pflanze verbreitet, die das Volk die Wasserpest nennt, Sie werden davon gelesen haben, sie kam aus Canada und hat die Themse durch ihr Wurzel- und Stengelgewirre fast verstopft, hat sich tief in den Continent hinein geschlungen und ist nun schon bei uns. Solch eine Art Wasserpest verbreitet sich auch in geistigen Dingen. (XV, S. 203f.)34

Es geht hier nicht hauptsächlich um die biologische Verpestung eines englischen Flusses durch eine amerikanische Schlingpflanze, sondern um die Verpflanzung von Ideen. Wie Auerbach im Roman versucht, das Ideengut von Franklin und Parker von Amerika nach Deutschland zu verpflanzen, so erkennt er auch die Gefahr, dass andere Ideen übers Meer sich zum Nachteil der Menschheit quasi organisch verbreiten könnten. Hier scheint die technologische und biologische Globalisierung mit der politischen verbunden zu sein. Die Hauptsache ist die Lehre, die aus solchen Globalisierungsphänomenen gezogen werden sollte: Wenn die politischen Impulse eines Landes auf ein anderes übertragen werden können, dann ist man verpflichtet, politische Missstände nicht nur im eigenen Land, sondern auch sonst wo in der Welt zu bekämpfen.

Heimat durch Bildung Letztendlich geht es Auerbach in Das Landhaus am Rhein um das gleiche Thema wie in seinen berühmten Schwarzwälder Dorfgeschichten: um die Heimat. Aber obwohl die deutsche Heimat Auerbach nach wie vor sehr wichtig ist, haben sich ihre Grenzen beachtlich erweitert. Erich zieht es zum Schluss des Romans wieder nach Deutschland und seine Frau Manna beteuert, dass ihre Heimat dort ist, wo ihre Mutter begraben liegt. Aber das ist keine Absage an Amerika. Denn Erichs Schüler Roland, der sich die wichtigsten Ideale und Prinzipien seines Lehrers zu ei-

34 Das XV. Buch des Romans, das aus «Briefen von und nach der neuen Welt« besteht, hat keine Unterteilung in Kapiteln. 79

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gen gemacht hat, entscheidet sich für ein Leben in den USA. Also steht die deutsche Heimat hier nicht mit dem Einwanderungsland Amerika in Konkurrenz, sondern sie ist mit der weiten Welt so eng wie nie zuvor verknüpft. In Auerbachs Roman von 1869 spricht keine Tollpatschfigur eine wehleidige Sehnsucht nach der fernen Heimat aus. Wenn seine Schwarzwälder Dorfgeschichten aus einem persönlichen Impuls stammten und im direkten Bezug zu Auerbachs Erfahrungen mit der Auswanderung in Nordstetten standen, so nimmt der Roman, der im Zwielicht des amerikanischen und deutschen Brüderkriegs geschrieben wurde, eine andere Stellung ein. Der Rhein bildet zwar einen schönen Hintergrund für die Geschichte und Figuren, aber die Lehre, die Erich Dournay seinem Schüler Roland beibringen will, ist die Bedeutung der Heimat: »Die Heimathlosigkeit schädigt die Seele Ihres Sohnes«, behauptet Erich dem Vater gegenüber (XIII/10, S. 117). »Wenn ich sagte, daß der Mensch ein Ziel haben müsse, so muß er auch einen festen Ausgangspunkt haben, und das ist die Heimat.« (XIII/10, S. 117) Trotz seines Interesses für die Errungenschaften und die hoffnungsstiftenden Freiheiten der USA bleibt das Fremde Auerbach fremd. Er und seine älteren Charaktere können ihr Leben nicht ›amerikanisch‹ fortsetzen, aber die jüngeren Figuren können es. In einem früheren Werk lässt Auerbach eine Figur behaupten: »Deutschland ist unser Vaterland, Amerika unser Kinderland. Die aufgewachsen sind in Deutschland, finden selten ihr volles Gedeihen in der neuen Welt; es sind Wurzeln der Erinnerung ausgerissen und abgehackt, an denen man alle Zeit krankt. Die Kinder aber gedeihen in der neuen Heimath.«35 Auerbach schließt seinen Bildungsroman mit dem Mord an Lincoln, noch vor dem eigentlichen Ende des amerikanischen Bürgerkriegs. Roland, der in Amerika geboren wurde und mit Erich Dournay wieder auf der Seite der Union dorthin zog, entschließt sich, in der Neuen Welt zu bleiben. Erich aber, obwohl er starke Sympathien für das Ideengut der Amerikaner hegt, ist und bleibt Deutscher und kehrt zurück. Der Roman ist also kein Plädoyer für oder gegen Auswanderung, für oder gegen Amerika. Er ist vielmehr ein Plädoyer für die Freiheit und die Heimat. Die zwei Hauptfiguren schließen einen Pakt: »Ich habe Roland versprochen«, schreibt Erich in einem Brief, »zum Jahre 1876, zur Jahrhundert35 Zabel: Berthold Auerbach (s. Anm. 11), S. 77. Zabel liest diese Aussage als Ergebnis von Auerbachs fehlenden Erfahrungen mit Amerika bzw. seiner Unfähigkeit, die Meinungen der Amerika-Erfahrenen zu verinnerlichen. Ich bestreite diese Sichtweise und lese diese Aussage einfach als Beispiel von Auerbachs Bindung an die Vorstellung von Heimat, und dass man die Heimat nie ganz hinter sich lassen kann. 80

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feier der amerikanischen Republik, hierherzukommen. In dem großen Erinnerungsfeste der modernen freien Welt wollen wir beide dann auch still vergleichen, was jeder in seinem Vaterland gewirkt.« (XV, S. 222) Der technische und soziale Fortschritt, der liberale Staat und der self-made Mann der USA sind genau die Vorbilder, die Auerbach seinen Mitbürgern im noch ungeeinigten Deutschland präsentierten wollte.

Schluss Schon vor 20 Jahren hatte Jeffrey Sammons festgestellt, dass Berthold Auerbach unter den Deutschen kaum bekannt ist.36 Dies scheint noch zu stimmen. Auerbach wird nicht in den Schulen gelesen, steht nicht im Kanon der Germanistik, und wird überhaupt kaum noch verlegt. Sogar unter promovierten Germanisten stößt man mit dem Namen Auerbach auf Unwissen und leere Blicke. Woher rührt das Desinteresse? Nancy Kaiser hat angemessen resümiert, dass Auerbachs »pedagogical intent is tediously apparent, and the narrative tone often fluctuates between the naïve and the saccharine.«37 Diese Aspekte seines Schreibens, die im 19. Jahrhundert vielleicht eher toleriert wurden, lassen manche seiner Werke heute entweder provinziell und begrenzt relevant oder allzu offensichtlich didaktisch erscheinen. Auerbach selber verteidigt seinen Roman mit einer Rechtfertigung seiner Schreibweise: »Man findet noch zu viel Didaktisches. Als ob ich einen Zeitvertreib-Roman hätte schreiben wollen!«38 Auerbachs literarisches Ziel war es, sich mit Kernproblemen seines Jahrhunderts direkt und offen auseinanderzusetzen. Viel bedeutender ist, was wir durch Auerbach über das deutsche Amerikabild im 19. Jahrhundert lernen. Erstens, dass das Interesse an Amerika mit deutschen Themen eng verbunden war. Zweitens, dass die

36 Jeffrey Sammons: Observations on Berthold Auerbach’s Jewish Novels, in: Imagination and History. Selected Papers on Nineteenth-Century German Literature, New York 1988, S. 177-191. 37 Kaiser: Berthold Auerbach (s. Anm. 26), S. 399. 38 In einem Brief von 6. Okt. 1869 (Auerbach: Briefe [s. Anm. 7], S. 404). Als Antwort auf eine ähnliche Kritik von seinem Freund Jakob über den Stil von Das Landhaus am Rhein schreibt Auerbach am 16. Okt. 1868: »ich [habe] den Haken gefunden, der in meiner ganzen neuen Arbeit steckt. Es ist einfach das: Ich setze ein intellektuales (sic) Interesse (Erziehung, Erkentniß) statt des Empfindungs-Interesses, statt einer Leidenschaft, einer Liebegeschichte, einer Action und Reaction, in Summa eines Conflictes, der Jedem nahe geht und Jeden mit fortreißt. Das ist der Unterschied, den die philosophisch-didaktische Tendenz in sich schließt.« (Ebd., S. 379) 81

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deutsche politische Lage und deutsche Vorstellungen von Heimat viel von Amerika und dem amerikanischen Beispiel profitieren konnten. Amerika diente nicht nur als Schreckensbild in Form eines Zufluchtsortes von ausgebrannten Dieben, oder als nicht-europäische Alternative, als Utopie für Europamüde oder als Wilder Westen für Abenteuerlustige. Drittens, dass Deutschland durch die gedankliche Begegnung mit Amerika in Hinsicht auf Zukunft und Fortschritt in politischen und technologischen Bereichen inspiriert werden konnte, ohne Amerika zu verherrlichen oder zu dämonisieren. Bei Auerbach sehen wir, dass das globale Denken neue Antworten auf zentrale Fragen für die Menschen und Gesellschaften auf beiden Seiten des Atlantiks aufgeworfen hatte. Seine Texte vermitteln uns vieles über die spezifisch deutschen Interessen bezüglich Migration, kulturellem Austausch und Globalisierung im Vorfeld der Reichsgründung. Für Auerbach vor 150 Jahren waren diese Probleme und ihre Lösungen eng mit Amerika verbunden. Zu der gleichen Ansicht kann man auch in Bezug auf die heutige globale Lage kommen.

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VON IN

FAMILIE ZUR KOLONIALMACHT. D I E USA U N D D E U T S C H L A N D FAMILIENZEITSCHRIFTEN VOR DER REICHSGRÜNDUNG DER

CHRISTOF HAMANN In einer der ersten Ausgaben der 1853 von Ernst Keil gegründeten Zeitschrift Die Gartenlaube findet sich ein kurzer Artikel, der mit Amerika und Deutschland überschrieben ist. »Mehr und mehr«, heißt es darin, »nehmen die amerikanischen Zustände das Interesse Deutschlands in Anspruch und der deutsche Buchhandel läßt es sich angelegen sein, der Wißbegierde nach jeder Richtung Befriedigung zu verschaffen.«1 An der Befriedigung dieses Interesses tragen Die Gartenlaube und andere nach 1848 gegründete Journale aus zweierlei Gründen bei: zum einen, weil sie eine Vielzahl von politischen, ökonomischen, historischen, geographischen, geologischen, literarischen u.a. Texten vor allem über die USA, zum Teil auch über mittel- und südamerikanische Staaten abdrucken,2 zum anderen, weil die Journale – neben Die Gartenlaube etwa Die illustrirte Welt, Westermann’s Illustrirte Monatshefte, Über Land und Meer und Daheim. Ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum ersten Massenmedium avancieren, ihre Artikel also – und nicht Passagen aus der Bibel oder dem Hauskalender – erstmals für das Alltags- und Orientierungswissen einer breiten Leserschaft verantwortlich sind.3

1 2

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[Anonym]: Amerika und Deutschland, in: Die Gartenlaube 1853, S. 54. Einen guten Überblick liefert Karl Jürgen Roth: Die außereuropäische Welt in deutschsprachigen Familienzeitschriften vor der Reichsgründung, St. Katharinen 1996, S. 89-190. Im Folgenden werde ich mich auf Texte über die USA beschränken. Siehe ausführlich Günter Butzer: Von der Popularisierung zum Pop. Literarische Massenkommunikation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Popularisierung und Popularität, hg. v. Gereon Blaseio, Hedwig Pompe u. Jens Ruchatz, Köln 2005, S. 115-135. 83

CHRISTOF HAMANN

Der erste Jahrgang von Die Gartenlaube enthält insgesamt 13 Texte von unterschiedlicher Länge über die Vereinigten Staaten. Ein kursorischer Blick auf die Beiträge zeigt die Aktualisierung einer Reihe traditioneller Kollektivsymbole über die USA, aber auch Neuakzentuierungen; so finden sich in den Artikeln Bilder vom edlen resp. tierischen Wilden,4 vom Abenteurer, der sich in der Natur zu behaupten sucht,5 von den Vereinigten Staaten als einem demokratischen Land6 und vom geschäftemachenden Yankee;7 Symbolstrukturen also, wie sie in der deutschsprachigen Literatur davor ebenfalls realisiert sind.8 Neu oder zumindest anders akzentuiert dagegen ist der Komplex der Symbolik einer bedrohlichen, zerstreuten Masse, dem die kompakte, geordnete Gemeinschaft einer deutschen, bürgerlichen Kleinfamilie entgegengesetzt wird.9 Mir scheint, dass gerade der letzte Aspekt in der Zeit nach 1848 eine besondere Virulenz gewinnt. Kurz und erklärungsbedürftig gesagt: Die heterogenen Massenkulturen der USA dienen in den Jahrzehnten vor der Reichsgründung als Folie für den Entwurf einer zukünftigen homogenen, auf der Basis der Kleinfamilie sich generierenden, deutschen Kulturmasse, die sich – nach innen – als nationale und – nach außen – als koloniale Macht zu begreifen versucht.10 Oder, etwas allgemeiner formu4

Siehe [Anonym]: Poesie und Wirklichkeit, in: Die Gartenlaube 1853, S. 43-44. 5 Siehe [Anonym]: Eine Nacht unter Alligatoren. Aus den Sümpfen Louisiana’s in Amerika, in: Die Gartenlaube 1853, S. 309-313. 6 Siehe [Anonym]: Die Amerikaner im Kapitol. Am Vorabend der Eröffnung des Congresses, in: Die Gartenlaube 1853, S. 549-551. 7 Siehe [Anonym]: Wie amüsirt sich der Amerikaner?, in: Die Gartenlaube 1853, S. 555. 8 Siehe hierzu Walter Grünzweig: Das demokratische Kanaan. Charles Sealsfields Amerika im Kontext amerikanischer Literatur und Ideologie, München 1987; Wynfried Kriegleder: Vorwärts in die Vergangenheit. Das Bild der USA im deutschsprachigen Roman von 1776 bis 1855, Tübingen 1999; Jeffrey Sammons: Land of Limited Possibilities: America in the Nineteenth-Century Novel, in: Ders.: Imagination and History. Selected Papers on Nineteenth-Century German Literature, New York u.a. 1988, S. 217-236. 9 Vor allem in Das glückliche Thal (in: Die Gartenlaube 1853, S. 180-182), ansatzweise auch in Der Deutsche in Amerika (in: Die Gartenlaube 1853, S. 5-7) und in Locomotiv-Dörfer in Amerika (in: Die Gartenlaube 1853, S. 440). 10 Zum Zusammenhang von nationaler Identität und kolonialen Fantasien in Deutschland vor der Reichsgründung siehe auch Frank Lorenz Müller: Imperialist Ambitions in Vormärz and Revolutionary Germany: the Agitation for German Settlement Colonies Overseas, 1840-1849, in: German History 84

DIE USA UND DEUTSCHLAND IN FAMILIENZEITSCHRIFTEN

liert: Die Kollektivsymbolik, die unterschiedliche Modelle von Masse integriert, zielt über die Verkopplung kultureller Reinheits- mit nationalen Einheits- und kolonialen Eroberungsideen darauf ab, spezifische deutsche Masse-Körper und deutsche Masse-Seelen zu formieren.11 Ich werde dieser These im Folgenden anhand ausgewählter Artikel und literarischer Texte in Zeitschriften vor der Reichsgründung nachgehen.

Hotel und Heimat »Californien, das zweite große Goldgefilde, das nach der Entdeckung Amerikas entdeckt worden ist«, so beginnt Das glückliche Thal, »ist ein Land des Wunders und des Fortschritts.« Anschließend wird mit Hilfe des für diese Zeit typischen Kollektivsymbols einer Eisenbahn Raum und Zeit verknüpft.12 Durch die Dampfkraft im Allgemeinen, die Dampflok im Besonderen, schrumpft der Raum zusammen und die Zeit beschleunigt sich: »Jahrhunderte [werden, C.H.] zu Jahren, Jahre zu Tagen.« Aus dem Fortschritt ist ein Fortrennen, in Californien durch die Entdeckung des Goldes sogar ein »fieberhafte[s] Rasen und Raufen«, geworden. Schrumpfung und Beschleunigung haben in diesem Teil der USamerikanischen Westküste und insbesondere in deren Hauptstadt, San Francisco, nicht nur das Land, sondern auch die Menschen verändert: Während die zwei Illustrationen des Artikels vor allem das erste demonstrieren, wird letzteres im Medium der Schrift präsentiert: »Wo einst der Indianer in wilden Bergen und Thälern jagte […], wimmelt jetzt in hin-

17.3 (1999), S. 346-368; Bradley D. Naranch: Inventing the Auslandsdeutsche. Emigration, Colonial Fantasy and German National Identity, 184871, in: Germany’s Colonial Pasts, hg. v. Eric Ames, Marcia Klotz u. Lora Wildenthal, Lincoln, London 2005, S. 20-40. 11 Wichtige Anregungen verdankt der Beitrag der Studie Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderungsbewegungen in der Weimarer Republik von Ute Gerhard (Opladen 1998). Zur Geschichte der Masse insgesamt siehe Michael Gamper: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge, München 2007. 12 Zur Geschichte der Eisenbahn generell siehe Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit, Frankfurt/M. 1989; zur Eisenbahn als Kollektivsymbol siehe Jürgen Link / Ulla Link-Heer: Kollektivsymbolik und Orientierungswissen. Das Beispiel des »Technisch-Medizinischen Vehikel-Körpers«. Symbol und Kollektivsymbolik. Definitorische Klärungen (am Beispiel des Eisenbahn-Symbols), in: Der Deutschunterricht 4 (1994), S. 44-55. 85

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gezauberten Städten eine rastlos, heißblutige Masse, ein furchtbares Gemisch aller Völker und Stände«. Das Klassem ›krankhaft‹, das im vorherigen Zitat im Semem ›fieberhaft‹ realisiert wurde, taucht hier im Attribut ›heißblutig‹ auf; es rekurriert erneut am Ende des Artikels, wenn in einer Aufzählung noch einmal das Gemisch unterschiedlicher Kulturen betont wird und dabei auch von »grünen« und »blauangelaufenen« Menschen die Rede ist.13 Diese Aufzählung ist Teil des langen letzten Satzes, der das zuvor Gesagte zusammenfasst und zugleich darüber hinausgeht: Da liegt nun San Francisco – eine ungeheure Stadt in kahler Ebene, eine Mischung von weißen, schwarzen, braunen, rothen, grünen, gelben und blauangelaufenen Menschen, ein unendliches Gewirr von Straßen, Läden, Warenschuppen, Wohnhäusern und namentlich amerikanischen Hotels, diesen Zerstörern der ›Heimath‹ und aller ihrer Reihe von fröhlichen Kindern, gemüthlichen Frauen, traulichem Kaminfeuer und dem lebenswarmen Feuer, das Liebe und Freude in die Augen der Angehörigen treibt, wenn der liebe Papa vom Geschäfte zurückkommt und dann ohne weiteres gegessen und geplaudert werden kann.

Die Wendung, mit der der Artikel schließt, mag heutigen Leser rätselhaft erscheinen, zeitgenössischen jedoch erschien sie plausibel, da sie das ›amerikanische Hotel‹ auch unausgesprochen an die zuvor erwähnten Subscriptio-Elemente wie z.B. Masse oder Krankheit anschließen konnten. Bevor ich auf die Dichotomie zwischen der Institution, auf die die obige Aufzählung hinausläuft, und der Heimat bzw. der Familie zurückkomme, möchte ich der Spur dieses Kollektivsymbols durch einige weitere Artikel und literarische Texte folgen, in denen die genannten und weitere Konnotationen ausgeführt werden. Das amerikanische Hotel wird zunächst durch seine Größe charakterisiert. Es handelt sich dabei um »Monstre-Anstalten«,14 die »400-800 13 Auf ähnliche Weise wird San Francisco vielfach in dieser Zeit gestaltet: Ida Pfeiffer nennt diese Stadt in einem Brief an August Petermann, der in Die Gartenlaube (1854, S. 12) abgedruckt ist, ein »Wunderwerk« – »da wird gefahren, geritten, gelaufen, als gäbe es kein Morgen mehr«. Und in Eine Nacht in einem Spielhause in Californien (in: Die Illustrirte Welt 6 [1858], S. 182-183, 188-191, hier S. 183) wird das »Leben in den ungeheuren Gebäuden« geschildert, das sich durch Lärm (»berauschende Musik«) und extremes Licht (»Verblendung«) auszeichnet. Bei diesem Artikel handelt es sich um ein stark gekürztes Plagiat aus Friedrich Gerstäckers Eine Nacht in einer Californischen Spielhölle (in: Ders.: Californische Skizzen, Leipzig 1856, S. 196-248). 14 [Anonym]: Das amerikanische Hôtel, in: Die Gartenlaube 1870, S. 169171, hier S. 169; siehe auch: Ein Monstre-Hotel, in: Deutsche RomanZeitung 1/1871, Sp. 239f. 86

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Reisende aufnehmen können«.15 Das »größte Hotel in San Francisco« besitzt ein Restaurant, das »viertausend Mahlzeiten täglich« serviert; dazu braucht es durchschnittlich hundert Dutzend Eier, ein Faß Zucker, hundert Pfund Butter, drei Tonnen Mehl, fünfhundert Pfund Kartoffeln, siebenhundert Pfund Fleisch und Fisch, zwei Kisten Rosinen, hundertfünfzig Pasteten, vierhundert Pfund Truthühner und Hennen, und vierhundert Quart Milch.16

Der Größe korrespondiert die Reduktion des zwischenmenschlichen Verkehrs auf ein Geldgeschäft. »Alles wird nur gegen baar geliefert. Dein Bett muß bezahlt sein, ehe Du hineinsteigst.«17 Beides zusammen lässt das Hotel zu einem Ort der Konformität und Anonymität werden; so ist einerseits die »Einrichtung der großen Hotels […] fast überall dieselbe«, andererseits wird der Gast »mehr als gleichgültig[ ]« behandelt: »Man zahlt seine Rechnung unten im Bureau, wenn man das Hotel verlässt, und reist eben so unbeachtet fort, als man ankam.«18 Dass gerade in den USA die Hotels solche ungeheuren Ausmaße besitzen, liegt den Artikeln zufolge am Wesen des Amerikaners: Der Amerikaner ist ein vorzugsweise geselliges Thier: er liebt den Haufen und lebt am liebsten in einem solchen. Selbst geboren wird er gleichsam in Gesellschaft, denn die Aerzte versichern uns, daß in den Vereinigten Staaten Zwillingsgeburten häufiger sind als anderwärts. In Haufen besucht er die öffentlichen Schulen und wohnt haufenweise in den höheren Bildungsinstituten zusammen. In Haufen fährt er auf Eisenbahnen und Dampfschiffen, welche stets bis zum Uebermaße mit Menschen vollgepfropft sind, und findet an nichts größere Freude als an Monstre-Versammlungen.19

Abgesehen von dieser Vorliebe für den ›Haufen‹ zeichnen sich die Amerikaner durch ihre ungebändigte Reisetätigkeit aus. Weil »auf dem Boden der Vereinigten Staaten […] die sich Tag ein Tag aus auf der Reise befindende Menschheit augenblicklich wohl die höchsten Ziffern erreicht«,20 weil in diesem Land »nicht bloß der Wohlhabende« jeden Sommer dazu nutzt, »um einige Monate mit Frau und Kindern von einem 15 [Anonym]: Vergnügungsreisen der Amerikaner, in: Über Land und Meer 46 (1866), S. 735. 16 [Anonym]: Das größte Hotel in San Francisco, in: Die Illustrirte Welt 16 (1868), S. 523. 17 Ebd. 18 [Anonym]: Vergnügungsreisen der Amerikaner (s. Anm. 15), S. 735. 19 [Anonym]: Das amerikanische Hôtel (s. Anm. 14), S. 169. 20 Ebd. 87

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Hotel zum anderen zu nomadisieren«,21 bedarf es der Eisenbahnen und dieser riesigen Gasthöfe, um die Massen für ein oder zwei Nächte zu beherbergen. Fahrzeug und Unterkunft gehören zusammen – »oft sind die großen prachtvollen Hotels die ersten und einzigen Gebäude, die an der Eisenbahn errichtet sind«:22 Sie repräsentieren das Nomadische der Amerikaner und darüber hinaus die Abwesenheit eines Hauses, einer Heimat. Das permanente Unterwegssein zum einen, das massenhafte Beisammensein dieser »Nomade[n] der Civilisation« zum anderen, machen das Hotel (ebenso wie die Eisenbahn) zu einem gefährlichen Ort: Welchen verderblichen Einfluß auf die Entwicklung eines gesunden Familienlebens dieses Nomadisieren im Gasthofe hat, darüber bedarf es, namentlich für unsere deutschen Frauen und Mütter, keines Wortes und namentlich geschieht mit dieser amerikanischen Unsitte den Kindern, die dadurch der Heimath, des Elternhauses beraubt werden, das grausamste Unrecht.23

Ähnlich wie in dem Artikel Das glückliche Thal, in dem das Hotel als »Zerstörer[ ] der ›Heimath‹« gilt, steht es auch hier der »Heimath« entgegen. Symbolisiert wird es durch das bürgerliche »Elternhaus[ ]«, in dem sich vor allem die Mütter und die Kinder, abends auch die Väter aufhalten. Hier herrscht keine unmäßige Hitze, sondern Wärme, die der Kamin spendet.24 Repräsentiert das amerikanische Hotel einen fremden 21 22 23 24

[Anonym]: Vergnügungsreisen der Amerikaner (s. Anm. 15), S. 735. Ebd. [Anonym]: Das amerikanische Hôtel (s. Anm. 14), S. 171. Immer wieder haben literarische Texte dieser Zeit herausgestellt, dass der Versöhnung von Natur und Kultur der häusliche Kamin oder Herd entspricht; darin ist das Element ›Feuer‹ gebändigt und kann seine wohltuende Wärme verbreiten. Am Kamin und am Herd, die sich zwischen Heiß und Kalt, oder topologisch gesprochen: in der Mitte ansiedeln, können das harte Außen (die ›Wirklichkeit‹) und das zarte Innen (der ›Geist‹) zum Ausgleich kommen. Die Literatur des Bürgerlichen Realismus hat diesen »wahren Mittelpunkt« (Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, Band 6, hg. v. R. Vischer, München 1923, S. 187f.) immer wieder in ihren fiktiven Haus-Welten als Raum-Symbol plaziert. In besonderem Maße rekurrent erweist sich das Leitmotiv ›Herd‹ in Friedrich Spielhagens Amerika-Novelle, Deutsche Pioniere (zuerst abgedruckt in: Deutsche Roman-Zeitung 1 [1871]), in der sich die mittellos in den amerikanischen Kolonien gestrandete Protagonistin Katherine, nachdem sie von ihrem Beschützer in dessen Heim in der Wildnis geführt wurde, sogleich um das Feuer im Herd kümmert. Nach vielen überstandenen Abenteuern und dem Tod des brüderlichen Rivalen erfolgt jedoch nicht nur die Hochzeit, sondern auch die ›mittel-mäßige‹ Zusammenkunft am häuslichen 88

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Raum, zu dessen semantischen Merkmalen Gleichgültigkeit, Unordnung, Krankheit und Sittenlosigkeit gehören, so das Bürger- oder FamilienHaus den geordneten, gesunden, sittlich korrekten Heimat-Raum. All diese Elemente sind in Berthold Auerbachs Das Landhaus am Rhein, einer der wenigen Romane dieser Zeit, die nicht in einer Zeitschrift vorabgedruckt wurden, versammelt. In einem Gespräch mit dem aus den US-amerikanischen Südstaaten stammenden Millionär Sonnenkamp bedauert der Protagonist Erich Dournay, dass dessen Sohn an nichts eine Freude habe: Kommt das nicht davon, weil der Knabe heimatlos, ein Kind der Gasthöfe, nirgends eine Einwurzelung, noch mehr, keine festen Anschauungen, keine Bilder hat, in die er sich eingelebt, wohin seine Phantasie immer wieder zurückkehrt?25

Der Vater des Jungen, der Millionär Sonnenkamp, sieht dagegen darin die Stärke des Amerikanertums; in seiner Entgegnung auf Dournay bringt er zudem ein zweites für den Amerika-Diskurs zentrales Kollektivsymbol ein, die bereits erwähnte Eisenbahn: Der Pfiff der Lokomotive verscheucht all das frühere, so gehätschelte Heimweh. Wir sind in der Tat Weltbürger, und gerade das ist das Große, noch nie dagewesene des Amerikanismus, daß keine nationale Beschränkung oder gar ein Pfahlbürgertum die Seele beengt. Das Heimatsgefühl ist ein altes Übel und ein Vorurteil. Roland soll ein freier Mensch werden.26

Heimatlosigkeit resp. ›Weltbürgertum‹ können über die gegeneinander ersetzbaren Bilder des ›Gasthauses‹ oder der ›Eisenbahn‹ aufgerufen werden, wobei diese Subscriptio-Elemente zugleich auch dahingehend gelesen werden können, keiner staatlichen Macht untergeordnet zu sein. Von diesem Kosmopolitismus sind auch viele Deutsche infiziert, die in die USA migrieren und nach ihrer Rückkehr »mit einem gewissen Herd. Zum Topos des Herds siehe auch Ute Gerhard / Jürgen Link: Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen, in: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, hg. v. Jürgen Link u. Wulf Wülfing, Stuttgart 1991, S. 16-52, hier S. 22. 25 Berthold Auerbach: Das Landhaus am Rhein. Roman (Erster Teil), in: Ders.: Ausgewählte Werke, mit einem Vorwort von Thomas Schäfer, Berlin o.J. (zuerst 1869), S. 132. Siehe ausführlich zur Amerika-Konstruktion in Das Landhaus am Rhein den Beitrag von Kirsten Belgum in diesem Band. 26 Ebd.; siehe auch S. 283. 89

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selbstgefälligen Stolze [sagen, C.H.]: uns geht Gemeinde und Staat hier nichts an«.27 Doch nicht nur die Institution des Staates, sondern ebenso die der Familie ist vom Amerikanismus in Mitleidenschaft gezogen. Selbst der überzeugte amerikanische Millionär muss sich dies eingestehen: »Und wieder kam ihm jetzt jenes scharfe Wort [Erichs, C.H.]: Ihr [Amerikaner, C.H.] habt in euren Mitmenschen das Gefühl von Vater und Mutter und Kind getötet. Nun trifft’s euch!«28 Der diesem Amerikanertum ausgesetzte Roland ist denn auch ein für Vergnügungen und Zerstreuungen empfänglicher junger Mann, der von seinem Lehrer Erich immer wieder zur Ordnung gerufen werden muss.29 Anhand der Lektüre von Das Landhaus am Rhein, Das glückliche Thal, Das amerikanische Hotel oder Vergnügungsreisen der Amerikaner, aber auch von anderen, hier unerwähnt bleibenden Texten, lässt sich zeigen, dass bereits zum Amerika-Diskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die negative Charakterisierung der Vereinigten Staaten als Massenkultur gehört, wobei Masse hier als ungeordnete, nomadische, heterogene Menge definiert werden kann. Man fühlt sich bei der Lektüre dieser Artikel an kulturkritische Diskurse aus der Weimarer Republik erinnert, denen etwa Adolf Halfelds Amerika und der Amerikanismus oder Hermann Hesses Der Steppenwolf hinzuzurechnen sind. Eine »Zivilisation des Massenmenschen« seien die USA, heißt es bei Halfeld,30 und Hesses Harry Haller grenzt sich ab von der Menge, die amerikanischen »Massenvergnügungen« huldigt.31 Deutlich sollte geworden sein, dass ich dabei nicht, wie Peter J. Brenner in seiner Studie Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererbe-

27 28 29 30

Ebd., S. 190. Ebd., S. 264. Siehe ebd., S. 302, 331, 333, 420. Adolf Halfeld: Amerika und der Amerikanismus. Jena 1928, S. 26; siehe auch Dieter Heimböckel: Die USA als neusachliches Schreckgespenst. Adolf Halfelds Amerika und der Amerikanismus, in: Das Amerika der Autoren. Von Kafka bis 09/11, hg. v. Jochen Vogt u. Alexander Stephan, München 2005, S. 87-98. 31 Hermann Hesse: Der Steppenwolf, in: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 7. Frankfurt/M. 1970, S. 181-413, hier S. 210. Zum Amerikanismus der 1920er Jahre siehe auch meinen Aufsatz Born to be not wild. Maßnahmen gegen den Amerikanismus in Hermann Hesses Roman ›Der Steppenwolf‹ (in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 9 [2004], S. 33-62). 90

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richten des 19. Jahrhunderts, Großstadt- und Massenkultur gleichsetze.32 Die ›zerstreute Masse‹ ist nicht in New York oder San Francisco beheimatet, sondern kennzeichnet das Land schlechthin; nicht der New Yorker, sondern jeder Amerikaner ist ein ›Nomade der Zivilisation‹.33 Nun bleibt aber die Konstruktion der USA als ›zerstreute Masse‹ nicht auf die kulturkritische Dimension beschränkt. Sie dient darüber hinaus der Realisierung einer anderen, spezifisch deutschen Form der ›Masse‹. Um diese aufeinander bezogenen ›Massen‹ in ihrer wechselseitigen Bedingtheit zu analysieren, bedarf es einer Lektüre, die das Medium, sprich die spezifische Publikationsform in den Zeitschriften und ihre Rezeption, mit bedenkt. Es geht um eine Erschließung der synchronen und diachronen Verkettungen von Romanen, Novellen, Reiseberichten, Illustrationen, Rezensionen und Kurznachrichten, mit anderen Worten, um eine Erschließung des fortlaufenden Textes, den das Medium der periodischen Presse unentwegt generiert. Die literarischen Arbeiten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gleichgültig ob von Balduin Möllhausen, E. Marlitt, Otto Ruppius und Sophie Wörishöffer verfasst oder von kanonisch gewordenen Autoren wie Wilhelm Raabe und Theodor Fontane, wären dann von diesem Blickwinkel aus ein Teil dieses Gefüges aus Texten unterschiedlicher Disziplinen, die interferieren, sich miteinander verketten. Ein solcher Ansatz hätte Konsequenzen für eine Untersuchung von Romanen, Novellen etc. dieser Zeit, die quer stünden zu nach wie vor verbreiteten Regulierungs- und Ausschließungsstrategien der Literaturwissenschaft oder zu Konzepten von literarischer Autonomie und Autorschaft. Darüber hinaus könnte ein solcher Ansatz zu einer stärker kontextorientierten Lektüre von Texten Raabes oder Fontanes beitragen und diese damit stärker in den zeitgenössischen, nationalen und vor allem kolonialen Diskursen verorten. Dieser Aufgaben kann ich hier nur sehr bedingt gerecht werden. Ich hoffe aber, zum einen darauf aufmerksam machen zu können, wie sich das Konzept der Masse fortschreibt; zum anderen zumindest im Ansatz zu zeigen, dass ausgehend von einer solchen Herangehensweise deutschsprachige Texte aus der zweiten Hälf-

32 Peter J. Brenner: Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1991, S. 276-280. 33 Der Zusammenhang von zerstreuter Masse und ›wilder‹ Natur bzw. der von ›Yankees‹ und Indianer, die in »Banden« oder »Horden« auftreten – eine »umfangreiche schwarze Masse«, heißt es z.B. in Balduin Möllhausens Die Mandanenwaise. Erzählung aus den Rheinlanden und dem Stromgebiet des Missouri (Deutsche Roman-Zeitung 3 [1865], S. 172) –, müsste gesondert untersucht werden. 91

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te des 19. Jahrhunderts nicht nur lokal, sondern auch global ausgerichtet sind.

Deutsche Familie und deutscher Staat Wenn nun Deutsche in die USA einwandern, dann müssten sie eigentlich die Grenze zwischen dem ›Elternhaus‹ und dem ›Hotel‹ überschreiten. Jurij M. Lotman würde in diesem Fall von einem »Ereignis« sprechen,34 da die Wanderer die an und für sich unüberwindliche Grenze zwischen zwei semantisch unterschiedlich besetzten Räumen überwunden hätten. Im Artikel Der Deutsche in Amerika. Nr. 235 unterscheidet der Verfasser – es handelt es sich um einen in die USA migrierten Briefschreiber, der seinem Bruder Auskunft über die fremden Verhältnisse gibt – zwischen zwei Lebensformen: »Wo die Deutschen zerstreut wohnen, nehmen sie äußerlich wohl englisch-amerikanische Sitten an, bleiben sonst aber deutsch. Wo ihrer mehrere zusammenwohnen, wie es gewöhnlich ist, da halten sie daran fest, sich in deutscher Weise fortzubilden.« Das Attribut ›zerstreut‹ bezieht sich auf die den äußeren Umständen geschuldete Lebensweise; durch diese Art des Wohnens kann sich der Einwanderer dem Amerikanischen annähern. Gewöhnlich aber leben die Deutschen beieinander und bleiben daher deutsch. Gegen Ende des Artikels wird nochmals betont, dass die Einwanderer zwar die Grenze zwischen zwei Ländern überschritten haben, aber noch kein Ereignis (im Lotmanschen Sinn) stattgefunden hat: »Weil sie aber in ihren Häusern deutsches Familienleben und deutsche Geselligkeit rein und gemüthlich erhalten und mit dem Yankee nur in Geschäften zu thun haben wollen, so geben sie dem Deutschgesinnten die sicherste Hoffnung.«36 Die Grenze zwischen dem

34 »Ein Ereignis in einem Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze des semantischen Feldes hinaus.« Jurij M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt/M. 1973, S. 350. 35 [Anonym]: Der Deutsche in Amerika, Nr. 2, in: Die Gartenlaube 1853, S. 41f. 36 Die deutsche Geselligkeit wird auch in Beiträgen von populärwissenschaftlichen Beiträgen betont: »Wohin der Deutsche, dieses wandernde Kulturvolk, seinen flüchtigen Fuß auch setzte, dort führte er den Sinn für Geselligkeit, seine Volksfeste, das Turnen und namentlich seine Liebe zum Gesange mit sich. Wo auch nur wenige Deutsche vorhanden sind, bildet sich ein Gesangverein. […] Die Feste [der Gesangvereine, C.H.] sind Verbrüderungsfeste für die Deutschen aus allen Theilen der weiten Union, bestimmt alle strebsamen Elemente ohne Unterschied der Partei zu vereinigen, denen Pflege und Wahrung jener Grundzüge am Herzen liegt, die das Deutsch92

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Familienhaus und dem ›Hotel‹, zwischen einem homogenen (›reinen‹) und einem heterogenen (›unreinen‹) Raum wird nicht überschritten und dadurch keine Norm verletzt, durch die ein Ereignis erst zustande käme. Dieser Topos von der Auswanderung als Nicht-Ereignis wiederholt sich in allen von mir rezipierten Zeitschriftentexten: eine Ortsveränderung findet statt, aber nicht der Übertritt in einen anderen Raum, allenfalls wird eine Ausdehnung der Grenze anvisiert. Udo Brachvogel wünscht dem deutschen Einwanderer, dass sein Heerd hier von wohlgenährtem Feuer flammen [möge, C.H.], und möge ihm die ganze wohlhäbige Fülle dieses schönen Landes zu Theil werden. – Eines aber vergesse er nie: die beiden schönsten Güter der verlassenen Heimath, ihre Sprache und Denkweise. Das Deutschtum hat hier grade als solches seine eigne großartige Zukunft.37

Die Aufgabe von Herd / Haus / Kleinfamilie für das Deutschtum wird auch in anderen Artikeln der Familienzeitschriften thematisiert.38 Allerdings steht ihrer Erfüllung das deutsche Volk, besser: der deutsche Staat entgegen. Das Semem ›zerstreut‹ findet sich bereits im ersten Brief, den der ›Deutsche in Amerika‹ an seinen Bruder schreibt;39 darin jedoch ist der Kontext ein anderer: Es geht u.a. um die Bewertung des einzelnen Deutschen und der Deutschen als Volk: Während der Einzelne resp. die einzelne Familie hoch geachtet wird, wird das Volk, da sie doch nur »zerstreute Massen ohne innere Gestaltung und Zusammenhalt bilden«, »bespöttelt«, ja sogar »verachtet«. Die Schuld für diese Zerstreutheit trägt, wie andere Verfasser argumentieren, der deutsche Staat. Karl v. Scherzer spricht in einem Artikel aus Westermann’s Illustrirte Deutsche Monatshefte Anfang 1864 von einer »traurige[n] Zerfahrenheit im Vaterlande«, für die die »gleichgiltigen […] deutschen Regierungen« verantthum überall auszeichnen, die mit den Deutschen wandern über Berg und Thal und das weite Meer.« Th. Spiller: Ueber die Einwanderung der Deutschen in die nordamerikanischen Freistaaten und ihre geographische Verbreitung, in: Zeitschrift für allgemeine Erdkunde 14 (1863), S. 47-59, hier S. 57f. 37 Udo Brachvogel: Die Bay von New-York, in: Westermann’s Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte XXI (October 1866 – März 1867), S. 218-222, hier S. 219. 38 Hier ist Matthew Fitzpatrick zuzustimmen, der anhand Die Gartenlaube zeigt, wie sich die populäre Kultur für das »Deutschtum abroad« stark machte (M.F.: Narrating Empire: Die Gartenlaube and Germany’s Nineteenth-Century Liberal Expansion, in: German studies review 30.1 [2007], S. 97-120, hier S. 101). 39 [Anonym]: Der Deutsche in Amerika (s. Anm. 9). 93

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wortlich sind.40 Scherzer referiert nach dieser Feststellung, beginnend mit der Zeit nach dem 30-jährigen Krieg, verschiedene »bedeutende Wanderung[en] der Deutschen nach Nordamerika« und betont dabei, wie die Migranten zunächst »Gehöften, dann ganzen Dörfern und Städten ein völlig deutsches Gepräge« gaben. Scherzer interessiert sich allerdings nur am Rande für die amerikanischen Räume; vielmehr sucht er den Grund dafür, weshalb aus dem »deutsche[n] Element« noch kein »neues Deutschland« entstanden ist, und findet ihn in der eingangs erwähnten ›Zerfahrenheit‹: »Um gleich den Engländern oder Franzosen auf den wenigen, noch herrenlosen Inseln in fernen Welttheilen, eigene Colonien zu gründen und sie mit Erfolg zu behaupten, dazu fehlt es Deutschland an einheitlicher Kraft und an politischer Macht.« Scherzer hofft nun auf baldige Reformen im »Mutterland« und auf die Bildung einer einheitlichen deutschen Kriegsflotte. Auf dieser Basis entwirft er die Vision einer organisierten, massenhaften Auswanderung, nun allerdings nicht mehr in die USA, wohin bis dahin fast alle Deutschen »gewissermaßen instinktmäßig« gezogen sind, sondern nach »Centralamerika«, in die »La Platastaaten« oder nach »Australien[ ]«. Von der »Nothwendigkeit einer Concentrierung der deutschen Emigration« handelt auch ein Artikel eines anonym bleibenden Autors, der Anfang 1862 in Westermann’s Illustrirte Deutsche Monatshefte zwei Schriften eines ›Generalconsuls‹ zur Auswanderungsfrage zusammenfasst.41 Im Unterschied zu Scherzer glaubt er allerdings (noch) nicht an Reformen, die die deutschen Familien im Ausland in eine homogene Staatsfamilie transformieren; stattdessen solle der »Strom« deutscher Migranten mit Hilfe eines ökonomischen Unternehmens, einer »Colonialgesellschaft«, auf »ein bestimmtes Ziel« hingelenkt werden, »damit das deutsche Element, damit deutsche Sitten und Gebräuche nach allen Richtungen erhalten bleiben und erstarken mögen«.42 Liest man die Texte aus den Zeitschriften demnach nicht für sich, sondern als Gefüge, erweist sich die Erfindung Amerikas in Zeitschriftenartikeln zwischen 1848 und 1870 als Bestandteil einer umfassenden, nationale und koloniale Strategien integrierenden, Kollektivsymbolik. Insbesondere die Picturae von einer zerstreuten und einer kompakten 40 Dr. Karl v. Scherzer: Die deutsche Arbeit in außereuropäischen Ländern, in: Westermann’s Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte XV (October 1863 – März 1864), S. 545-557. 41 [Anonym]: Neu-Deutschland. Ein Beitrag zur Frage der deutschen Auswanderung, in: Westermann’s Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte XIII (Oktober 1862 – März 1863), S. 626-630. 42 Ähnlich argumentieren u.a. auch ein anonymer Autor in seinem Artikel Deutsche im Auslande (in: Gartenlaube 1861, S. 815f.) und Friedrich Gerstäcker in Unsere Vertretung im Ausland (in: Gartenlaube 1861, S. 590f.). 94

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Masse tragen bei zur Formierung ›deutscher‹ Subjekte. Amerika als ›zerstreute Masse‹ fungiert als bedrohlicher Gegner kleiner Familienverbände, die sich jedoch zu behaupten wissen. Diese Inseln deutscher Kompaktheit bilden die Grundlage des Entwurfs einer homogenen, vereinten Familienmasse in Deutschland, die dann auch neue Deutschländer im massiveren Umfang zu gründen vermag.

Vom Auswanderer zum Hausvater Im selben Heft, in dem über »Neudeutschland« berichtet wird, können sich die Leserinnen und Leser von Westermann’s Illustrirte Deutsche Monatshefte auch der letzten Folge eines literarischen Textes widmen. Wilhelm Raabes Roman Die Leute aus dem Walde, ihre Sterne, Wege und Schicksale erscheint, bevor er in Buchform publiziert wird, im Band XIII der Monatshefte, in insgesamt sechs Fortsetzungen, die in den Heften Nummer 73 (Oktober 1862) bis 78 (März 1863) zu finden sind. Wichtige Episoden des Romans spielen in den USA der 1840er Jahre, vor allem an der Westküste. Der Protagonist, Robert Wolf, geht nach einer Reise auf dem Schiff ›Teutonia‹ in San Francisco an Land: Die Beschreibung der Stadt ähnelt derjenigen aus Das glückliche Thal; auch bei Raabe muss sich der Neuankömmling im »Gewühl« und »Menschengewirr« der »tolle[n] Zeltstadt« zurechtfinden.43 Die erste »böse, wirre Nacht« verbringt er schlaflos: In seinen Mantel gehüllt, lag er […] und horchte […] dem fremdartigen Lärm der wunderlichen Stadt draußen, welcher die ganze Nacht nicht zu Ende kam. Gegenüber in einer Theebude krächzte bis späthin eine chinesische Sängerbande ihre mißtönigen Weisen ab. Ein malaiisches Gong sandte von Zeit zu Zeit seine dumpfen dröhnenden Klänge herüber. Einmal entstand Feuerlärm in der Ferne, und dann wieder blutiger Streit in einem Spielhause in der Nähe. Betrunkene Menschenhaufen wälzten sich vor der Baracke vorüber, Revolver wurden abgefeuert; Hunde heulten den amerikanischen Mond an, Pferd und

43 Wilhelm Raabe: Die Leute aus dem Walde, ihre Sterne, Wege und Schicksale, in: Westermann’s Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte XIII (Oktober 1862 – März 1863), S. 542. Dieses Ankunftsszenario – die deutschen Einwanderer geraten in ein »Gewühl der Menschen« (Otto Ruppius: Ein Deutscher. Roman aus der amerikanischen Gesellschaft, in: Die Gartenlaube 1861, S. 146), in ein »niegesehene[s] Treiben von Fuhrwerken und Menschen« (ebd., S. 148) – wiederholt sich in vielen literarischen und journalistischen Texten, egal ob die Reisenden zuerst in New York oder San Francisco landen. 95

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Maulesel wieherten, rissen sich im plötzlichen Schrecken los und wurden von den Eigenthümern mit wildem Geschrei durch die Gassen der Stadt verfolgt.44

Anders aber als in dem Artikel aus Die Gartenlaube hat sich das ›deutsche Element‹ in der Hauptstadt Kaliforniens einen kleinen Platz erobert, eine Baracke nur, doch lebt in ihr bereits eine drei Generationen umfassende deutsche Familie, unter ihnen ein »kleine[s] Wesen«, das »seine klare Stimme lustig erklingen ließ im Brausen des Völkerdurcheinanders«.45 Darüber hinaus, so offenbart sich dem Leser in einer Prolepse, wird bald an der Stelle der Hütte ein »stattliches, steinernes Gebäude«,46 d.h. ein Familien-Haus stehen. Eine solche Zukunft ist in St. Louis, einer »blühenden Stadt«, in der Wolf während seiner Reise durch die USA Station macht, bereits Realität geworden: das »eindringende deutsche Element […] ließ sich weder durch Blicke, noch durch andere Mittel vertreiben«. Nirgends im ganzen Gebiet der Union schien das ›Vaterland‹ so festen Fuß fassen zu wollen, wie an dieser Stelle. Man sah fast mehr deutsche, als amerikanische Firmen an den Häusern. Jedes Schiff, welches von New-Orleans heraufkam, brachte neue Einwanderer aus dem alten Lande zwischen den Vogesen und der Weichsel mit, und jeden Dialekt aus der dialektreichen Heimat konnte man in den Gassen der jungen Stadt Saint Louis hören.47

Robert Wolf unterscheidet sich von der kleinen, kompakten Familie in San Francisco und von der größeren deutschen Gemeinschaft in ›Saint Louis‹ insofern, als er sich erst auf dem Weg zu einem ›Hausvater‹ befindet. Die USA bilden eine wichtige Station auf dem Weg dorthin; denn obwohl er in San Francisco bereits »fest« und »klar in das Wirbeln und Wogen« blickt,48 muss er sich doch erst noch im Kampf gegen die wilde Natur und die eigene Wildheit bewähren, um am Ende wieder in der Heimat zu landen; allerdings nicht im ärmlichen Geburtshaus, sondern auf einem Gutshof, wo denn auch Hochzeit gefeiert und zugleich eine 44 45 46 47

Raabe: Die Leute aus dem Walde (s. Anm. 43), S. 547. Ebd., S. 545. Ebd., S. 546. Ebd., S. 580. Das ›deutsche Element‹ in St. Louis spielt nicht nur bei Raabe, sondern auch in anderen Romanen, etwa von May, Möllhausen und Ruppius, eine wichtige Rolle. Auch journalistische Beiträge in populären und populärwissenschaftlichen Zeitschriften thematisieren diese Stadt; siehe z.B. Otto Ruppius: Ein Bild aus den jetzigen amerikanischen Zuständen,in: Die Gartenlaube 1861, S. 398f.; Rehbock: Die Stadt St. Louis in Missouri, in: Zeitschrift für allgemeine Erdkunde 3 (1854), S. 433-445. 48 Wilhelm Raabe: Die Leute aus dem Walde (s. Anm. 43), S. 542. 96

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Zukunft eingeläutet wird, in der Bürger Wolf als Oberhaupt einer geordneten Familiengemeinschaft fungiert: »Trefflich gedeiht Robert mit seiner Frau und seinen Kindern […]«,49 ist einer der letzten Sätze des Romans. In der individuellen Karriere des Protagonisten finden sich nicht allein deutliche Spuren des Darwinschen Evolutionsdiskurses,50 sondern sie erweist sich auch als anschlussfähig an den Komplex von zerstreuter und kompakter Masse. In Die Leute aus dem Walde wird gleichsam die Vorgeschichte, die Ausbildung des männlichen Jugendlichen zum ›geschäftigen‹ Pater familias erzählt, welcher dann, im Verbund mit den ›lustigen Kindern‹ und der ›gemütlichen Ehefrau‹, den Grundstock bildet für die kommende Nationalmasse. Diese Anschlussfähigkeit übersieht, wer, wie ein Großteil der RaabeForscher, die medialen Produktionsbedingungen von Die Leute aus dem Walde ignoriert. Der Text wird in der Regel als Entwicklungsroman analysiert: Rolf-Dieter Koll etwa benennt die Spezifika diverser Räume des Romans nur, um Robert Wolfs ›Reifung‹ zum Mann zu belegen.51 Eine Kontextualisierung erfolgt allenfalls im Rahmen dieser Gattung: Hubert Ohl etwa arbeitet die Bezüge zwischen Goethes Wilhelm Meister und Raabes Roman heraus.52 Werner Fuld zeigt in seiner Raabe-Biographie zwar intertextuelle Bezüge zwischen Die Leute aus dem Walde und sogenannter populärer Literatur auf (so führt er u.a. Friedrich Gerstäckers Roman Gold von 1856 an), aber nur, um zu belegen, dass Raabes Geschichte »Erfahrung aus zweiter Hand« bezieht.53 Mich dagegen interessiert weder ein Urteil über Raabes Text auf der Grundlage eines Referenzobjekts ›Amerika‹ noch eines, das sich von gattungstypologischen Gesichtspunkten herleitet. Mich interessiert Die Leute aus dem Walde als Baustein, als Kettenglied einer umfangreichen diskursiven Formation deutscher Subjekte, die nach 1848 vor allem durch die Familienzeitschriften in Alltagswissen umgesetzt wird.

49 Ebd., S. 601. 50 Vgl. Christof Hamann: Bildungsreisende und Gespenster. Wilhelm Raabes Migranten, in: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband: Literatur und Migration IX (2006), S. 7-18, hier S. 10-13. 51 Rolf-Dieter Koll: Raumgestaltung bei Wilhelm Raabe, Bonn 1977, S. 18. 52 Hubert Ohl: Bild und Wirklichkeit. Studien zur Romankunst Raabes und Fontanes, Heidelberg 1968, S. 44-65. 53 Werner Fuld: Wilhelm Raabe. Eine Biographie, München, Wien 1993, S. 167. 97

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Deutscher Mob Dass die Dichotomie von Deutschland und USA, von kompakter Familienmasse und zerstreutem Nomadentum keine mit festen Grenzen ist, sondern eine umstrittene und sich verschiebende, hat bereits der Abschnitt gezeigt, demzufolge die deutsche Kleinfamilie eine Vorreiterfunktion für die (noch) ungeeinte, ›zerfahrene‹ deutsche Nation übernimmt. Für den Amerika-Diskurs in den Familienzeitschriften lassen sich dominante Dichotomien extrapolieren, die in einer Vielzahl von Fällen realisiert werden, was jedoch nicht heißt, dass sie nicht auch variiert, gegebenenfalls um andere Diskurselemente erweitert oder sogar von solchen überlappt werden, die deren Dominanz in Frage stellen. Dieses Austesten und teilweise Übertreten von Grenzen zwischen dem Amerikanischen und Deutschen, dem Fremden und dem Eigenen, geschieht in Berichten, wenn einzelne Elemente der Komplexe die Seite wechseln oder eine Auf- bzw. Abwertung erfahren. Das amerikanische Hotel wird nicht ausschließlich als ›Zerstörerin der Heimat‹ abgeurteilt, sondern im einen oder anderen Fall auch der die europäischen Gasthäuser übertreffende Komfort gewürdigt,54 und die Bewohner der USA nicht stets als Nomaden dargestellt.55 In der erzählenden Literatur finden sich durchaus ebenfalls Texte, in denen die Grenze zum Amerikanischen hin überschritten wird, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Konsequenzen. In Balduin Möllhausens 1865 zunächst in der Deutschen Roman-Zeitung publizierten Erzählung Die Mandanenwaise heiratet eine der Hauptfiguren, Gustav Wandel, die Halbindianerin Schanhatta – ein Ereignis, das weder in Raabes Die Leute aus dem Walde noch etwa in Karl Mays Winnetou-Romanen vorstellbar ist; diese, bereits von einem deutschen Vater abstammend, entwickelt sich allerdings nach der Heirat mit Wandel zu einer »deutsche[n] Hausfrau« (namens Jeanette) par excellence. Der IchErzähler ist bei einem Besuch der Familie Wandel zunächst überrascht: denn nicht eine Deutsche war es, die vor mir stand, sondern eine Halbindianerin, welche […] von ganz ungewöhnlichem Liebreiz umflossen war. Nur ihre braun angehauchte Haut, die tiefe Schwärze der nachlässig aufgesteckten lockigen Haare, und die großen dunkeln melancholischen Augen erinnerten an ihre

54 Siehe L.H.: In einem amerikanischen Hotel. Aus dem Briefe einer Dame, in: Daheim 1866, S. 532. Die Verfasserin hebt hervor, dass es an »keiner Bequemlichkeit für die Reisenden« fehlt. 55 In dem von A. Donai verfassten Artikel Die amerikanische Hausfrau (in: Die Gartenlaube 1866, S. 120-122, hier S. 120) wird die besondere Bedeutung eines »eigene[n] Haus[es]« für die US-amerikanische Familie hervorgehoben. 98

DIE USA UND DEUTSCHLAND IN FAMILIENZEITSCHRIFTEN

Verwandtschaft mit den eingeborenen des Landes. Im Uebrigen, in der Kleidung sowohl, als auch in ihrem Wesen, zeigte sie das Muster einer gebildeten Frau, welche in der getreuen Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten ihr größtes Glück, ihre größte Befriedigung findet.56

Die Grenze zum fremden semantischen Raum hin wird überschritten, allerdings nur, um die sich dort befindliche Schanhatta dann dem Bereich des Eigenen einzugliedern. So können Hausvater Wandel, Hausfrau Jeanette und ihre Tochter dem Ich-Erzähler ein »heimathliche[s] Gefühl«57 vermitteln: die Missouri-Gegend nahe St. Louis mit seinen »kleine[n] Gehöfte[n]«58 und von Wein umrankten Lauben59 verwandelt sich unter der Hand in rheinische Gefilde. Entschiedener werden die Dichotomie von Deutschland und USA in der Erzählung Mary Kreuzer von Otto Ruppius in Frage gestellt. 1860 in Die Gartenlaube publiziert, schildert sie den Werdegang der deutschen Migrantin Mary, die es von New York auf die Farm des Deutschen Michael Kreuzer in Iowa verschlägt. Der Mann wird als »rechtschaffen[ ]« und »treuherzig[ ]«60 geschildert, seine »kalt[e]«61 Frau jedoch und einer der Söhne, der in der »zu voller Jungfräulichkeit aufblühenden Gestalt«62 mehr als nur die ›Schwester‹ sehen will, machen dem neuen Familienmitglied das Leben schwer. Während eines Fests kommt es in Anwesenheit von Mary zum Streit zwischen diesem Sohn und einem Amerikaner, der für den Deutschen tödlich endet. Obwohl sich der Täter freiwillig stellt und Mary bezeugt, dass er in Notwehr gehandelt habe, eskaliert die Situation, weil die Deutschen den Amerikaner ohne Gerichtsurteil hängen wollen. Die sich vor dem »Courthause«63 versammelte Menge wird nun mit Attributen belegt, die unter dem Klassem der Unordnung zusammengefasst werden können, ein Klassem, das herkömmlicherweise dem Amerikanischen vorbehalten ist: Vom »Durcheinandertreiben der erregten Masse« ist die Rede, von Menschen-»Haufen« und vom »wir-

56 57 58 59 60

Möllhausen: Die Mandanenwaise (s. Anm. 33), S. 190. Ebd., S. 189. Ebd., S. 187. Siehe ebd., S. 190. Otto Ruppius: Mary Kreuzer. Aus dem deutsch-amerikanischen Leben, in: Die Gartenlaube 1860, S. 626. 61 Ebd., S. 641. 62 Ebd., S. 657. 63 Ebd., S. 676. 99

CHRISTOF HAMANN

re[n] hunderfältige[n] Geschrei« der Menge.64 Erst dem rechtschaffenen Kreuzer gelingt es, den »Mob«65 zu beruhigen: Mit einem kräftigen Kopfnicken trat er zurück und verschwand; die erhitzte Menge aber erschien wie plötzlich mit kaltem Wasser übergossen. Wohl wurden an verschiedenen Orten die frühern aufreizenden Rufe laut, aber die Antwort blieb aus, und die Menschen in ihren Bewegungen wandten sich nicht mehr dem Gefängnisse zu, sondern begannen durcheinander zu wogen; die Masse schob sich auseinander, bald trennten sich hier und dort einzelne Haufen ab, denen andere nachfolgten, und in einer Zeit, so kurz wie es nach dem erregten Zustande der Menge kaum für glaublich gehalten worden wäre, hatte sich diese in zahlreiche, eifrig sprechende Gruppen zertheilt.66

Das Agieren der Deutschen in Mary Kreuzer weicht von den herkömmlichen Strukturen der für Deutschland und Amerika verwendeten Kollektivsymbolik ab. Die Deutschen agieren nicht als kompakte Gruppe, sondern als unterschiedliche Haufen, die sich zudem mit einer »Menge verdächtige[n] Gesindels«67 vermischen und keinen Zusammenhalt besitzen. Selbst dem einzelnen Deutschen, dem rechtschaffenen Familienvater Kreuzer, wird ein böses Ende nicht erspart. Während seine Stieftochter den aus dem Gefängnis entlassenen Amerikaner heiratet, verlässt er sein Haus: »Von Kreuzer’s wurde nichts wieder gehört, so oft sich auch Mary später Mühe gab, wenigstens den Aufenthaltsort des Alten zu erkunden.«68 Der Zerfall der Familie Kreuzer und der Wechsel der ›Mob‹-Masse auf die deutsche Seite irritieren die gängigerweise in den AmerikaTexten der Familienzeitschriften vertretene Raumordnung. Die zuvor extrapolierten Diskurselemente sind also nicht immer eindeutig Amerika bzw. Deutschland zugeordnet, sondern auf unterschiedliche Weise kombinierbar. Dabei erweisen sich durchaus auch die nicht-kanonisierten Texte als solche, die die Ordnung des Diskurses in Frage stellen. Auch (aber nicht nur) aus diesem Grund ist es wichtig, die Diskussion über die Konstruktion Amerikas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf populäre Literatur auszudehnen, etwa auf den »Volksschriftsteller«69 Ot-

64 65 66 67 68 69

Ebd. Ebd., S. 690. Ebd., S. 691. Ebd., S. 690. Ebd., S. 695. Christoph Hering: Otto Ruppius, der Amerikafahrer. Flüchtling, Exilschriftsteller, Rückwanderer, in: Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt – Amerika – USA, hg. v. Sigrid Bauschinger, Horst Denkler u. Wil100

DIE USA UND DEUTSCHLAND IN FAMILIENZEITSCHRIFTEN

to Ruppius oder die Erfolgsautorin Marlitt.70 Insgesamt aber dominiert diejenige Verteilung der Elemente, die die kleine, kompakte Familienmasse in seiner Vorreiterfunktion für die große Nationenmasse entwirft und dafür Amerika als Gegenbild konstruiert. Dieser Dominanz entzieht sich auch Ruppius nicht, obwohl er sich diesem als ›Amerikafahrer‹ vielleicht, wie man meinen könnte, eher hätte entgegenstellen können. In anderen Erzählungen von ihm finden sich aber auch Bilder von gut organisierten deutschen Mengen – in einem »anständigen deutschen Gasthause«71 westlich von New York z.B. findet eine geordnete »Massenversammlung«72 statt, die erfolgreich gegen verbrecherische amerikanische Geschäftspraktiken aufbegehrt – und von amerikanischen ›Haufen‹: In einem New-Yorker Lokal, in dem zwei Deutsche aus Geldnot aufspielen möchten, befinden sich die ›verschiedenartigsten Menschengruppen‹, die in einem »wirre[n] Durcheinander« »roh und unbändig« lärmen, »wie es die niederste Kneipe in Deutschland […] kaum geboten hätte«.73

Masse, Medium und Nation »Die deutschsprachige Literatur des Realismus«, schreibt Hugo Aust in seiner 2006 erschienen Monographie zum Bürgerlichen Realismus, »hat sich im Schatten der gescheiterten Revolution von 1848 entwickelt.«74 Ihr Scheitern sei verantwortlich für das Entstehen einer deutschen Literatur, die sich auf das Lokale, auf die Familie besinnt.75 Diese Studien

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fried Marsch, Stuttgart 1975, S. 124-134, hier S. 125. Auch Manuela Günter plädiert entschieden dafür, »›realistische‹ Literatur […] nicht länger als Konkurrenz und Alternative zur erfolgreichen ›Unterhaltungsliteratur‹« zu begreifen (M.G.: Die Medien des Realismus, in: Realismus. Epoche – Autoren – Werke, hg. v. Christian Begemann, Darmstadt 2007, S. 45-61, hier S. 60). Der Band, in dem ihr Plädoyer abgedruckt ist – der aktuellste derzeit zur Literatur des Realismus – behandelt allerdings doch nur wieder die kanonisch gewordenen Autorinnen und Autoren. Zu Marlitt siehe den Beitrag von Lynne Tatlock in diesem Band. Otto Ruppius: Zwei Welten, in: Die Gartenlaube 1862, S. 429. Ebd., S. 467. Ruppius: Ein Deutscher (s. Anm. 43), S. 190. Hugo Aust: Realismus. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart 2006, S. 12. Siehe u.a. Sabina Becker: Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter, Tübingen-Basel 2003, S. 20; Todd Kontje: Introduction: Reawakening German Realism, in: A Companion to German Realism 1848-1900, hg. v. Todd Kontje, Woodbridge 2002, S. 1-28, hier S. 2; Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848-1898, Stuttgart 1962. 101

CHRISTOF HAMANN

konnten sich auf Literaturtheoretiker dieser Zeit berufen, etwa auf Friedrich Theodor Vischer: »der Roman sucht die poetische Lebendigkeit da, wohin sie sich bei wachsender Vertrocknung des Öffentlichen geflüchtet hat: im engeren Kreise, der Familie, dem Privatleben, in der Individualität, im Innern.«76 Angesichts der Menge an Familiengründungstexten in der Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist diese These nicht zu widerlegen; der Erweiterung aber bedarf sie insofern, als die Kleinfamilie anzuschließen ist an Konzepte von zerstreuter (die vor allem in den Vereinigten Staaten verortet wird) und von kompakter Masse. Analog zu Albrecht Koschorkes Ausführungen zur Entwicklung von Familie und Staat im 19. Jahrhundert lässt sich auch anhand der Lektüre in Familienzeitschriften vor der Reichsgründung zeigen, dass die Familie als »Keimzelle des Staates«77 fungiert, dass sie als ideales Modell eines künftigen einheitlichen Deutschlands, ja sogar einer Kolonialmacht gilt. Insofern erweist sich der Diskurs um Amerika und Deutschland, wie er in Die Gartenlaube und anderen Journalen geführt wird, durchaus nicht nur als restriktiv, sondern vor allem als produktiv: Er ist wichtiger Bestandteil der Bildung einer modernen Großmacht. Für eine solche Erweiterung müssen die »weit reichenden Veränderungen literarischer Kommunikation« nach 1848, der Medienwechsel vom Buch zur Zeitschrift, ernst genommen werden. Dieser Wechsel ist schon lange kein Geheimnis mehr, wie etwa Untersuchungen von Eva D. Becker aus den 1960er belegen.78 Allerdings, so schreibt Manuela Günter, »statt konsequent nach der Existenzweise von Literatur in Medien zu fragen und mithin die offensichtliche Abhängigkeit Literatur vom System der Massenmedien zu untersuchen, konzentriert man sich auf die kanonisierten Autoren, die überhaupt erst durch die mediale Verschiebung ihrer Texte […] als solche figurieren können.«79 Nur dann aber, wenn eine Analyse von literarischen Texten dieser Zeit, kanonischen wie

76 Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen (s. Anm. 24), S. 178. 77 Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch, Frankfurt/M. 2000, S. 166. 78 Eva D. Becker: »Zeitungen sind doch das Beste«. Bürgerliche Realisten und der Vorabdruck ihrer Werke in der periodischen Presse, in: Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Literatur-, kunst- und musikwissenschaftliche Studien. Festschrift für Fritz Martini, hg. v. Helmut Kreuzer in Zusammenarbeit mit Käte Hamburger, Stuttgart 1969, S. 382408. 79 Manuela Günter: »Ermanne dich, oder vielmehr, erweibe dich einmal!« Gender Trouble in der Literatur nach der Kunstperiode, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30.2 (2005), S. 38-61, hier S. 40. 102

DIE USA UND DEUTSCHLAND IN FAMILIENZEITSCHRIFTEN

nicht-kanonischen, das Medium einbezieht, rücken die Interferenzen zwischen Familie und Masse, zwischen individueller Karriere und nationaler Vereinigung resp. kolonialer Expansion in den Blick. Nur dann entpuppt sich die Besinnung auf das Private als globaler Akt und die Literatur von Raabe&Co insgesamt trotz oder vielmehr wegen ihrer Bemühungen, eine »›Mitte‹, die sich als Familie auffasst«80 zu wahren und zu fördern, als eine, in der Kultur und Nationalismus bzw. Imperialismus aufs engste miteinander verwoben sind.

80 Aust: Realismus (s. Anm. 74), S. 45. 103

EINE

BAUMWOLLPRINZESSIN IN THÜRINGEN. TRANSNATIONALE LIEBE, FAMILIE UND DIE DEUTSCHE NATION IN E. M A R L I T T S I M S C H I L L I N G S H O F 1 AMERIKANISCHE

LYNNE TATLOCK 1879 taucht in der Gartenlaube, Deutschlands führendem Familienblatt, eine Baumwollprinzessin auf, die aus den USA nach Thüringen migriert. Mercedes de Valmaseda, so lautet ihr Name, zählt zu den Protagonisten von Im Schillingshof, dem siebten Fortsetzungsroman der allseits beliebten Eugenie Marlitt.2 Die verwitwete Mercedes, die von einem deutschen Vater und einer spanischen Mutter abstammt, muss den Lesern der Gartenlaube sowohl vertraut als auch fremd gewesen sein; vertraut, weil sie viele der Eigenschaften besitzt, die sie an den mutigen Heldinnen der Autorin zu schätzen gelernt haben, aber fremd ihrer exotischen Erscheinung und ihres hybriden Hintergrundes wegen. Diese Amerikanerin in der deutschen Provinz lohnt eine genauere Untersuchung, denn sie spielt eine bedeutende Rolle im Hinblick auf Familie und Nation in einem Roman, der von Anfang an auf Trennung, Dislokation und Fremdsein fixiert ist. Bereits Todd Kontje sind die amerikanische Prinzessin und ihre Gefolgschaft aufgefallen. Seine Untersuchung zu Emigrations- und Kolonialdiskursen in Marlitts Familien- und Liebesgeschichten schließt eine besonders nützliche, wenn auch kurze Diskussion von Im Schillingshof mit ein.3 Kontje stellt die Tatsache heraus, dass Marlitts Werke widersprüch-

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Ich bin Katrin Voelkner sehr zu Dank verpflichtet, die diesen Essay aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt hat. Der Roman erschien 1879 in 26 Folgen in der Gartenlaube (Nr. 14-39) und 1880 zum ersten Mal als Buch im Verlag von Ernst Keil. Todd Kontje: Marlitt’s World: Domestic Fiction in an Age of Empire, in: Germany Quarterly 77.4 (2004), S. 408-426, hier S. 416f. 105

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liche Botschaften enthalten: Selbst wenn die Romane Aspekte der imperialistischen und nationalistischen Diskurse der Zeit widerspiegeln, unterwandern sie diese auch durch die kritische Darstellung einiger ideologischer Requisiten.4 Sein hilfreicher Überblick kann aber nicht en detail auf die Funktion der Amerikaner in Im Schillingshof eingehen. Im Folgenden begebe ich mich auf das Gebiet, das Kontje bereits abzustecken begonnen hat, hoffe allerdings, ein detaillierteres Bild davon liefern zu können, welche Rolle eine amerikanische Baumwollprinzessin in Marlitts Portrait zweier unglücklicher Thüringer Familien spielt.

Ein entzweites Haus Im Schillingshof entstand acht Jahre nach der deutschen Reichsgründung und während der amerikanischen postreconstruction Ära, spielt also in einem Jahrzehnt, in dem sowohl die USA als auch Deutschland ihre Nationen re/konstruierten. Die Haupthandlung des Romans beginnt 1860 und endet 1871. Oder anders gesagt: Der Roman setzt ein Jahr vor dem Ausbruch des amerikanischen Bürgerkrieges mit einer Emigration ein und endet im Jahre der deutschen Reichsgründung. Obwohl es im Text kaum Beschreibungen der Kriege gibt, die in diesem Jahrzehnt auf beiden Seiten des Atlantiks ihren Lauf nehmen, bilden sie den Kontext für die Liebesgeschichte. Ähnlich wie eine von Marlitts frühesten Veröffentlichungen, Blaubart (Gartenlaube 1866), handelt Im Schillingshof von zwei Nachbarsfamilien, deren Beziehungen gespannt sind, obwohl sie einst jahrelang miteinander auf gutem Fuß standen: den Wolframs, einer reichen Familie, die von Webern abstammt, und den Schillings, einer adligen Familie. Das Heim der Schillings, der Schillingshof, der dem Roman seinen Titel gibt und in der allerersten Zeile genannt wird, steht im Mittelpunkt dieser Geschichte von Trennung und Versöhnung. Einst erbaut von Bruder Ambrosius, einem benediktinischen Mönch, Architekten und Bildhauer, der »schönheitstrunken« aus Italien in den Norden kam, gehörte der Schillingshof ursprünglich zu einem klösterlichen Anwesen, das nach der Reformation geteilt wurde. Durch seinen eleganten italienischen Stil wird der Hof zu einem »Fremdling auf deutschem Boden«,5 besonders im Vergleich zum nachbarlichen Kloster. 4 5

Ebd., S. 423. E. Marlitt: Im Schillingshof. E. Marlitt’s Gesammelte Romane und Novellen, Bd. 4, 2. Aufl., Stuttgart, Berlin, Leipzig o.J., S. 6. Die Angabe der Seitenzahl erfolgt ohne Angabe von Fußnoten unmittelbar im Anschluss an das Zitat. 106

LIEBE, FAMILIE UND DEUTSCHE NATION IN MARLITTS IM SCHILLINGSHOF

Während die bürgerlichen Wolframs das Kloster in seiner ursprünglichen Form erhalten haben,6 haben die adligen Schillings ihr Herrenhaus wiederholt renoviert und modernisiert und unter anderem einen Künstler aus Nürnberg beauftragt, die Mauer zur Straße hin durch einen schmiedeeisernen Zaun zu ersetzen, der Passanten einen Blick in den wunderschön gepflegten Garten gewährt. Der Roman konzentriert sich auf die Rettung und Wiederherstellung des Schillingshofes als Ausdruck von fortschrittlichem Geist, Kunstliebe und Familienharmonie. Nicht nur der erste Satz und der Titel unterstreichen die tatsächliche und symbolische Wichtigkeit eines Besitztums, das auf deutschem Boden steht, aber durch ausländische Architektur geprägt ist, sondern auch das letzte Wort des Romans – Schillingshof. Wie kommt es dann zum Happy End, das durch den renovierten Schillingshof symbolisiert wird, und was haben Amerikaner damit zu tun? Der Roman beginnt mit einer kurzen Geschichte der Familien, die beide mit Problemen zu kämpfen haben. Während die bürgerlichen Wolframs jeden Pfennig sparten und so ein Vermögen anhäuften, lebten die adligen Schillings über ihre Verhältnisse. Die letzteren waren so verschwenderisch, dass der Familienvorstand 1860 seinen einzigen Sohn Arnold zu einer Vernunftehe drängt, um den Hof nicht zu verlieren. Der Schillingshof ist nämlich an einen kürzlich verstorbenen rheinischen Cousin verpfändet, dessen Tochter Klementine sich in Arnold verliebt hat. Klementine, in einem Kloster erzogen und hin und her gerissen zwischen Frömmigkeit und Sinnlichkeit, täuscht Vater und Sohn über ihre herrische und eifersüchtige Natur mit sanften, tugendhaften Briefen, während ihr Vormund den Schillings einen sehr ungünstigen Heiratsvertrag aufzwingt. Arnold leidet von Anfang an unter dieser fragwürdigen Verbindung und auf der letzten Seite des Romans tadelt der Erzähler den Vater, der seinen Sohn wie »einen zweiten Isaak« (S. 432) geopfert habe, nicht auf Gottes Geheiß wie der biblische Abraham, sondern im Interesse des Besitztums. Im Nachbarhause kommt unterdessen endlich ein männlicher Erbe zur Welt, was zur Aberkennung der Erbrechte von Franz Wolframs Neffen Felix führt, der bis dahin das Klostergut übernehmen sollte. Aber Felix riskiert durch seine Verlobung mit Lucile Fournier, der Tochter einer notorischen Berliner Tänzerin, noch weitaus mehr, da seine 6

»Die Tuchweber nebenan aber waren viel konservativer, als die Ritterlichen im Schillingshof. Sie rissen nicht nieder und bauten nicht; […] deshalb zeigte das ›Klostergut‹ […] nach fast drei Jahrhunderten noch vollkommen die Physiognomie, die ihm die Mönche gegeben. Altersdunkel zwar, in der gewaltigen Balkenlage ein wenig verschoben, und scheinbar tiefer in die Erde eingesunken, hob sich der Giebelbau ungeschlacht und finster wie immer hinter der Straßenmauer.« (S. 7f.) 107

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Mutter, Wolframs Schwester, diese Ehe aus Angst um den guten Namen der Familie ablehnt. Felix’ Mutter selbst hat nach ihrer Scheidung von dem attraktiven Major Lucian ihre Enttäuschung dadurch kompensiert, dass sie ihre Kräfte in den Haushalt ihres habgierigen und ehrgeizigen Bruders investiert. Geblendet von Familienstolz handelt sie gegen ihr eigenes Interesse, indem sie ihrem Sohn nicht nur ihre Liebe entzieht, sondern ihm auch die mütterliche Erbschaft verweigert. Als die Majorin sich in Bezug auf seine Heiratspläne unnachgiebig zeigt, helfen die Schillings Felix, mit seiner Braut nach Amerika zu flüchten, um sich dort in South Carolina mit seinem Vater zu vereinen, den er seit Jahren nicht gesehen hat. Major Lucian besitzt eine Baumwollplantage in dem Sklaverei praktizierenden Bundesstaat, hat eine reiche spanische Frau aus Florida geheiratet, mit der er eine Tochter – Mercedes – hat. South Carolina bietet zunächst eine sichere Bleibe, aber es ist 1860, und Lucians Tage als wohlhabender Plantagenbesitzer sind gezählt. Geldangelegenheiten, Habgier, mangelndes Urteilsvermögen, Vorurteile und unkontrollierte Leidenschaften bedrohen die Zukunft sowohl der Wolframs als auch der Schillings. Nachdem Franz Wolfram ein benachbartes Grundstück mit einem Steinkohlenlager angekauft hat, das die Schillings, die vermeintlich allein von diesem Lager wussten, hatten kaufen wollen, um damit die Familienfinanzen zu retten, und nachdem die Schillings Felix und Lucile geholfen haben, existiert »nicht der geringste Verkehr zwischen Schillingshof und Klostergut« (S. 109). Der Selbstmord eines treuen Bediensteten der Schillings, der sich umbringt, als er vom Familienvorstand fälschlicherweise der Spionage für Wolfram in der Steinkohlenlagergeschichte angeklagt wird, fungiert als aussagekräftiges Symptom des Zustandes beider Familien. Auf der europäischen Seite des Atlantiks findet in den folgenden Jahren Arnold Schilling Anerkennung für seine Malerei, während er eine unglückliche Ehe mit einer eifersüchtigen und neurotischen Frau führt. Als 1866 der deutsch-österreichische Krieg ausbricht, folgt er der Pflicht ebenso wie vier Jahre später im deutsch-französischen Krieg. Felix’ Schicksal wird unterdessen ebenfalls von den Zeitläuften bestimmt. Ein Jahr nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten bricht in seiner neuen Heimat South Carolina der amerikanische Bürgerkrieg aus. Major Lucian stirbt, nachdem sein Besitz zerstört worden ist. Felix erliegt den Verletzungen, die er sich zuzog, als er Besitz und Familie verteidigte. Kurz vor seinem Tod fleht er seine wohlhabende Halbschwester Mercedes an, seine Frau Lucile und ihre zwei Kinder José und Paula nach Deutschland zu begleiten, um sie mit seiner Mutter zu versöhnen. Im Jahr 1868 erwarten die Bewohner des Schillingshofs die Ankunft der Gäste aus Amerika. Marlitt hat 8 von insgesamt 26 Romanfolgen ge-

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braucht, um die komplexe Vorgeschichte zu skizzieren, aus der heraus sich der zentrale Erzählstrang von Familientrennung und Versöhnung entfaltet. Im Hintergrund dieser Ereignisse stehen eine kürzlich entzweite Nation und ein auf dem Weg zur Nation befindliches Land. Der Schillingshof soll – in der militaristischen Sprache Klementines – das »Terrain dieser Manöver« (S. 123) sein, um die Majorin mit ihren Enkeln zu versöhnen. Der Hof wird auch der Schauplatz von Konflikt und sexueller Anziehung zwischen der verwitweten spanisch-deutsch-amerikanischen Mercedes de Valmaseda und Arnold sein sowie der Austragungsort von Kämpfen zwischen Kunst und Großherzigkeit auf der einen Seite und religiösem Fanatismus auf der anderen.

Die Gattungsgrenzen des bürgerlichen Liebesromans Die Haupthandlung in Im Schillingshof dreht sich um die wohlbekannten erotischen Spannungen und Missverständnisse zwischen einem Helden und einer Heldin, die schließlich trotzdem in einem unausweichlichen Happy End zueinander finden. In einer zeitgenössischen amerikanischen Rezension wird das beliebte Rezept wie folgt zusammengefasst: »[T]he grave and stern hero maintains an agreeable and lively game of fencing with the haughty heroine till it is finished on the last page by a happy marriage.«7 Im Fall von Im Schillingshof baut Marlitt jedoch einige beachtliche Hindernisse auf dem Weg zu solch glücklicher Ehe ein, denn hier erfordert ein Happy End sowohl die Auflösung einer langjährigen Vernunftehe als auch die Überwindung ethnischer Unterschiede; zudem hängt die Geschichte mit großen politischen Ereignissen zusammen. Obwohl Marlitt den Konventionen des Liebesromans treu bleibt, strapaziert sie die Genregrenzen mit einer komplizierten Handlung, die die Geduld und den guten Willen heutiger Leser/-innen herausfordern kann. Mercedes, Arnold und die anderen Figuren bewegen sich also teilweise innerhalb der Konventionen des Liebesromans, sprengen sie aber auch, und zwar deshalb, weil, so meine These, der Roman auch der Konstruktion deutscher Identität dient. In einigen amerikanischen Rezensionen aus dem 19. Jahrhundert bemängeln Literaturkritiker, die offensichtlich an der Frage der deutschen Identität wenig interessiert sind, eben dass sich die Autorin nicht an die Konventionen des Liebesromans halte. Eine Rezension im Milwaukee Sentinel beklagt u.a. eine unnatürliche Konstruiertheit des Ro-

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Rez. von Im Schillingshof, in: The Nation 29, 25. Dezember 1879, S. 443f. 109

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mans: »Simplicity has given place to conscious effort, and, also, distinction to confusion. There is consequently a lack of compactness, looseness in the weaving of the thread of incidents.«8 Der hier als schwerfällig identifizierte Aufbau des Romans, verbunden mit »looseness in the weaving of the thread of incidents«, deutet m.E. jedoch auf eine Handlung hin, die verschiedenen Zwecken dienen soll. Der gleiche Rezensent drückt auch sein Unbehagen mit Marlitts Darstellung der Liebesbeziehung aus, besonders damit, Konventionen, denen zufolge Held und Heldin jung und unvermählt sein sollen, zu missachten. Der Rezensent bemerkt, dass alle Figuren »exclusively married people« seien und dass die Handlung sich skandalöserweise auf die Liebe eines verheirateten Mannes für eine schöne Frau, die Gast in seinem Haus sei, konzentriere. »A divorce is obtained with less concern than a pair of gloves,« wendet der Rezensent ein und führt fort: »Undoubtedly the innocent girlish heroine of old-time romances is insipid to mature minds, but it is possible to represent a woman of character, possessed of a heart well worth the winning, without placing her in an atmosphere of lax marriage ties, easilyobtained divorces, and slightly-reverenced betrothal vows.«9 Eine Rezension in The Nation beklagt auch die Kontaminierung der Liebesgeschichte mit sozialen Fragen: »It is noticeable that discussion of all sorts, from Socialism to decorative art is beginning to push its way into the regions of such pure romance as Marlitt’s stories, with the effect of making them more unreal and far less agreeable.«10 Der Rezensent bringt damit zum Ausdruck, dass sich soziale oder politische Diskussionen nicht mit der Gattung des Familien- und Liebesromans vereinbaren lassen. Das Unbehagen der amerikanischen Rezensenten verweist darauf, dass Im Schillingshof einen breiter angelegten Gesellschaftsentwurf präsentiert, der den Roman als wichtiges Zeitdokument auszeichnet. In der Tat sorgen besonders Marlitts sozialkritische Kommentare dafür, dass sie in der Literaturwissenschaft überhaupt Beachtung findet.11 In Im Schil-

»Romance«, Rez. von In the Schillingscourt, in: The Milwaukee Sentinel, 11. November 1879, S. 7. 9 Ebd., S. 7. 10 The Nation (s. Anm. 7), S. 444. 11 Siehe Erika Dingeldey: Luftzug hinter Samtportieren. Versuch über E. Marlitt, Bielefeld 2007. Auch Dingeldey hält Marlitts Umgang »mit so fest gefügten bürgerlichen Konventionen wie Verlöbnis, Eheversprechen und Ehe« für »kritisch, keineswegs affirmativ« (S. 81, 83). »Lüge«, wie sie richtig bemerkt, »bedeutet das Festhalten an Norm und Konvention um ihrer selbst willen« (S. 82). Siehe auch Ruth-Ellen Boetcher Joeres: Respec-

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lingshof verstößt Marlitt nicht nur gegen das Tabu, von Scheidungen in Familienzeitschriften zu erzählen, sondern zeigt, dass manche Ehen selbst unmoralisch sein können. Sie verknüpft eine Liebesgeschichte mit einer Vision, derzufolge Werte und Tugenden über nationaler Homogenität rangieren: Eine Ehe zwischen einer Amerikanerin und einem Deutschen tritt an die Stelle einer unmoralischen Ehe zwischen zwei Deutschen.12

Die Amerikaner marschieren ein Die amerikanische »Menschenkarawane« (S. 127), »diese spanische Bettlerfamilie« (S. 129), wie Klementine sie abfällig nennt, kommt in der neunten Folge (Kapitel 13 im Buch) auf dem Schillingshof an. Klementine spricht später von der »amerikanischen Einquartierung« (S. 394), als ob feindliche Truppen, die in Thüringen einmarschiert sind, auf dem Hof untergebracht wären. Die Eindringlinge aus dem amerikanischen Süden lebten einst in der Manier von »Feudalherren« (S. 92) in dem PflanzerStaat South Carolina, erreichen deutschen Boden jedoch besiegt und bis auf Mercedes ohne Besitz. Der amerikanische Süden nimmt mehrere Funktionen in Marlitts Handlung ein. Zum einen stützt sich der Roman auf die Vorstellung von Amerika als ethnisch gemischtes Land, weshalb die Hautfarbe eine wichtige Rolle bei der Beschreibung der Amerikaner spielt. Wer könnte besser eine Mischung von Hautfarben und Ethnien repräsentieren als eine amerikanische Südstaatlerin spanisch-deutscher Herkunft mit zwei schwarzen, ehemaligen Sklaven? Der Text beschreibt mit einigen ironischen Untertönen, wie die »weißen Steingesichter« der Karyatiden am Plafond des Schillingshofes mit Erstaunen auf Deborah, die »Negerin«, blicken, die die Ankunft der Amerikaner ankündigt (S. 138).13 Die physischen Details, mit denen Marlitt Deborah beschreibt – sie ist fett, ihr Gesicht hat »feiste[ ] Wangen«, dicke rote Lippen und sie lächelt »gutmütig« (S. 139) –, sind ebenso Bestandteile stereotyper Dartability and Deviance: Nineteenth-Century German Women Writers and the Ambiguity of Representation, Chicago 1998, S. 31, 225f. 12 Zur Ehescheidung in Familienblättern siehe Rosa Mayreder: Familienliteratur, in: Das literarische Echo 8 (1905-1906), Sp. 411-417, bes. Sp. 413 und ferner Ernst von Wolzogen: Das Familienblatt und die Literatur, in: Das literarische Echo 9 (1906-1907), Sp. 177-185. 13 Auch Kontje (Marlitt’s World [s. Anm. 3], S. 414f.) und Dingeldey (Luftzug hinter Samtportieren [s. Anm. 11], S. 80) verweisen auf Marlitts stereotype Darstellung von Afroamerikanern. 111

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stellungen afroamerikanischer Frauen wie auch die »Müllhaube mit grellbunten Schleifen auf dem Wollhaar«, die Deborah später trägt (S. 157). Marlitt evoziert hier die »Mammy«, ein Stereotyp, das an Beliebtheit in amerikanischen anti-Uncle-Tom-Romanen in den 1850er und 1860er Jahren gewann und das dann in den Dienst von der Postbellum Apologetik für den alten Süden trat.14 Deborah hält in dieser lebhaften Szene außerdem Luciles und Felix’ Tochter Paula, die weiße Kleidung trägt, auf dem Arm: »es sah aus, als schmiege sich ein großer, weißer Falter an das dunkle Negerweib« (S. 139). Marlitt arbeitet hier – im Jahre 1879 – mit Stereotypen, die in den USA fast 60 Jahre später noch Gültigkeit haben, wie man an dem sentimentalen amerikanischen Film The Little Colonel (1935) sehen kann, in dem die schwarze Schauspielerin Hattie McDaniel Mammy-Züge hat und die blonde, weiß gekleidete Shirley Temple auf dem Arm hält.15 In Marlitts Roman stellt aber zudem Deborahs Schwarzsein eine Verbindung zu ihrer Herrin her. Der Satz, in dem die kleine Paula ihre Wange gegen Deborahs schwarze Wange drückt, endet mit drei Punkten; ihm folgt ein Absatz, der mit den Worten beginnt: »Und dort, hart an der ersten Marmorstatue, stand eine Dame« (S. 139). Die »Dame« ist die spanisch-deutschamerikanische Mercedes de Valmeseda. Sie trägt schwarze Trauerkleidung und erscheint »wie eine Statue der Nacht«. Mercedes’ Augen sind schwarz und auch ihr Haar ist »nachtdunkel« (S. 147). Ähnlich wie bei Deborah wird im Text der Kontrast ihrer Dunkelheit zu den hellen Karyatiden hervorgehoben, und Mercedes wird darauf wiederholt als »die schwarzgekleidete Dame« bezeichnet. Einige Seiten später sieht man, wie Jack – der zweite ehemalige Sklave und die dritte schwarze Figur – sich gegen die gleichen weißen Säulen lehnt und das Gruppenbild der Südstaatler als Schwarze vervollständigt: »Jack, ein starkgebauter Mann von der schönen, glänzend schwarzen Negerrasse, wie sie an den Ufern des Senegal lebt, schien die Säulenhalle zu lieben; er konnte stundenlang an einem der schlanken, weißen, acanthus-gekrönten Schäfte lehnen und vergnüglich den mächtigen Fontänenstrahlen zusehen [...]« (S. 157). Jacks Stärke und Trägheit 14 Joy Jordan-Lake: Whitewashing Uncle Tom’s Cabin. Nineteenth-Century Women Novelists Respond to Stowe, Nashville 2005, siehe Kap. 3 Justified by Mother’s Milk. Mammy and Mistress Figures in Proslavery Fiction’s Plantation South, S. 63-96; Cheryl Thurber: The Development of the Mammy Image and Mythology, in: Southern Women. Histories and Identities, hg. v. Virginia Bernhard, Betty Brandeon, Elizabeth Fox-Genovese u. Theda Perdue, Columbia, Missouri 1992, S. 87-108. 15 Der Film basiert auf dem gleichnamigen Kinderbuch von Anne Fellows (1895). 112

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erinnern ebenfalls an amerikanische Stereotypen von Schwarzen, doch der Text ist weniger an seinem Verhalten als an seinem Schwarzsein im Kontrast zu den weißen Säulen des Schillingschen Stammsitzes interessiert. Da sich der Schillingshof, abgesehen von seinen weißen Säulen, alles andere als in einem moralisch makellosen Zustand befindet, muss man Marlitts schwarz-weiß-Kontraste ironisch verstehen. Im weiteren Verlauf des Romans wird Mercedes’ Schwarzsein durch häufige Hinweise auf ihre gelbe Haut abgemildert – »das seltsame Kolorit, das an die leuchtende hellste Nüance des Bernsteins erinnerte [...]« (S. 147). Die hellere Farbe ändert aber nichts an der Tatsache, dass die fremdländische »Erscheinung in keiner Linie, keiner Farbennüance an germanischen Ursprung denken ließ« (S. 154). Ihre gelbe Haut sowie das Schwarze ihrer Augen, Haare und Kleidung und ihre Nähe zu Afroamerikanern betont vielmehr ihren Status als Außenseiterin und Eindringling auf dem Schillingshof. Als ob das Schwarze bzw. Gelbe der Hautfarbe nicht genug wäre, um die Südstaatler als eindringende Andere zu charakterisieren, besiegelt ein Hund namens Pirat, der die Gruppe aus Amerika begleitet, den exotischen Status der ausländischen Gäste. Das Piratenmotiv deutet sich auch bei Mercedes’ Vater, Major Lucian, an, der, »nachdem er im Leben schon halb und halb Schiffbruch gelitten, [diese zweite Frau, L.T.] noch zu erobern gewußt hatte« (S. 219). Des Weiteren erzählt Lucile, wie Mercedes ihren Bruder Felix »sonnenverbrannt und so verwahrlost im Anzug, [...] den Sarras am Gürtel und den Revolver in der Hand« (S. 172) gerettet habe, was ihr die Aura einer Piratenkönigin verleiht. Luciles abwertende Kette von Beleidigungen – »gelbe Zigeunerin, hochmütige Pflanzerprinzessin« (S. 237) – belegt, wie entschieden der Text Mercedes als Andere positioniert. Und als ob solche Bezeichnungen nicht genügten, hebt der Text auch Mercedes’ kulturelle Heterogenität hervor. Teilweise wird ihre deutsche und spanische Herkunft auch vereindeutigt: Sie wird dann zur »Spanierin«, deren »spanische[r] Dünkel« einen negativen Eindruck auf den für seine Bescheidenheit bekannten Arnold macht (siehe S. 149). Doch die Wertung dieser Positionierung durchläuft einen Wandel, der sich bereits im Namen eines der Kinder von Felix und Lucile andeutet: Der Junge, der später Stammhalter der wiedervereinten Familie werden wird, heißt José, obwohl er das Kind zweier Deutscher ist und kein ›spanisches Blut‹ in seinen Adern fließt.16 Anderssein, wie es sich im Laufe des Romans herausstellt, ist hier sowohl Respekt einflößend als auch heilsam: Die herrische Art und Weise 16 Marlitt wird sich wohl über die verschiedenen ethnischen Siedlungen in den Vereinigten Staaten informiert haben, denn es ist durchaus plausibel, dass Mercedes’ spanische Mutter aus Florida stammt. 113

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der deutsch-spanisch-amerikanischen Baumwollprinzessin rüsten sie für den erotisch geladenen Kampf mit dem männlichen Protagonisten, in dem es um Prinzipien und Tugend geht, gut aus.

Herrin und Diener Die Entscheidung, eine besiegte Südstaatlerin kulturell gemischter Herkunft, die zudem eine ehemalige Sklavenhalterin ist, zur Heldin des Romans zu machen, erforderte einiges Geschick. Die ambivalente (und für heutige Verhältnisse inakzeptable) Behandlung des Sklavereithemas macht deutlich, dass Marlitt bemüht ist, Mercedes trotz ihrer Vergangenheit tugendhaft darzustellen, und dass sie ein besonderes Interesse daran hat, das Band zwischen Mercedes und ihren Dienern positiv darzustellen.17 Das Vokabular der Südstaaten-Apologeten dient im Roman der Erforschung und schließlich der Valorisierung dieser Beziehung auf eine bemerkenswerte Art und Weise. Wie wird Sklaverei also von Marlitt dargestellt? Die bürgerlich-liberale deutsche Haltung zu Sklaverei ist natürlich gut bekannt und der Text geht implizit davon aus, dass die Leser/innen der Gartenlaube diese moralisch überlegene Position teilen. Wiederholte Anspielungen auf Mercedes’ Herrschsucht kritisieren sowohl explizit als auch implizit das System der Sklaverei, das als Grundstein der Südstaaten-Aristokratie fungierte. »Es war die herrische, kurzbefehlende Handbewegung einer echten Plantagenfürstin, die vom ersten Lallen an gewohnt ist, ein Heer von Sklaven zu kommandieren« (S. 141), stellt der Erzähler bald nach der Ankunft der Amerikaner kritisch fest. Der Roman liefert aber wenige Details über das Leben im alten Süden und hinterfragt das Plantagensystem und die es unterstützende Sklaverei kaum. Zu bemerken ist auch, dass die Schillings Sklaverei nicht verurteilen, als Felix und Lucile Unterschlupf bei Major Lucian in South Carolina finden können. Erst mit der Ankunft der exotischen und besiegten Südstaaten-Frau wird sie zum Diskussionspunkt. Mercedes ihrerseits setzt sich für ein großzügigeres Verständnis des Südens ein, indem sie die Selbstgerechtigkeit der Deutschen verurteilt: »Für den deutschen Rechtsbegriff«, empört sie sich, »ist ja das nur die notwendige Sühne alten Unrechts!« (S. 201) Ihr Stolz und ihr Widerstand der charmanten thüringischen Umgebung gegenüber stammen teilweise von ihrem Gefühl, dass sie die Zielscheibe deutscher Missbilligung ist, was wiederum mit Vor17 Dingeldey macht auch auf Marlitts widersprüchliche Behandlung der Sklavenfrage in Im Schillingshof aufmerksam (siehe Luftzug hinter Samtportieren [s. Anm. 11], S. 80). 114

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eingenommenheit und einem Mangel an Verständnis für ihre Lebensweise und einer Bevorzugung des Nordens zu tun hat. In einer konfliktgeladenen Szene erwidert Mercedes auf die Kritik Arnolds, die Südstaatler hätten nicht für ihre Ideale, sondern für ihre Hegemonieansprüche gekämpft, dass Deutsche die Situation in den Südstaaten nicht verstehen könnten und dass sie »vor dem Götzen ›Humanität‹« erblindet seien (S. 173). Diese ›Humanität‹ sei vom Norden heuchlerisch ausgebeutet worden, um die Macht des Südens zu brechen. Während solche Äußerungen die Haltung der Apologetiker des Südens widerspiegeln, wird das Thema der Sklaverei an anderen Stellen im Roman auf Probleme reduziert, die die Liebesbeziehung zwischen Mercedes und Arnold betreffen. »[I]ch habe«, behauptet Arnold, »wenig Neigung zur sklavischen Unterwürfigkeit in mir« (S. 231). Er spricht hier nicht mehr davon, wie Mercedes ihre früheren Sklaven behandelt, sondern davon, wie sie Männer behandelt oder vielmehr von seiner eigenen Angst, dass er ihrer Schönheit erliegen wird. Der willensstarke Mann, der nicht in der Lage ist, sein Verlangen nach einer Frau zu kontrollieren, die er ungerechterweise als unangemessene Partnerin betrachtet, kommt häufig in Marlitts Liebesgeschichten vor.18 Außer Arnold konfrontiert nur Klementine Mercedes mit ihrer ehemaligen Existenz als Sklavenhalterin. Aber zwischen Klementines Verurteilung der Sklaverei und ihrer Eifersucht auf Mercedes kann nur schwer unterschieden werden. Ihre Kritik geht in einer Reihe von hasserfüllten Äußerungen unter, die Klementines eigene Bigotterie belegen. Kein Leser wird ohne weiteres ihre Haltung gegen Mercedes einnehmen. Überwiegend wird die Beziehung zwischen Mercedes, Deborah und Jack als würdig und wertvoll entworfen; das grausame System, aus dem die Beziehung hervorging, wird indessen kaum hinterfragt. Trotzdem macht der Erzähler an einigen Stellen klar, dass Mercedes’ Verhalten ihren Dienern gegenüber nicht immer vorbildhaft ist. Sie behandelt Jack und Deborah manchmal auf eine dominierende und entwürdigende Art und Weise, an einer Stelle scheint sie sogar deren Menschsein in Frage zu stellen (siehe S. 172f.). Aber jegliche Kritik an Mercedes als ehemaliger Sklavenhalterin wird durch ihre Freundlichkeit ihren Dienern gegenüber und deren Treue zu ihr abgeschwächt; Deborah und Jack kennen sie seit ihrer Geburt und haben ihr immer zur Seite gestanden. In der Tat entschieden sich die beiden, bei Mercedes zu bleiben, als sie ihnen die Freiheit anbot, und gehen davon aus, bei ihr bis an ihr Lebensende in guten Händen zu sein (siehe S. 244). Mercedes pflegt Deborah, als diese 18 So zum Beispiel das Verhältnis zwischen Dorn und Lilli in Blaubart oder zwischen Johannes und Felicitas in Das Geheimnis der alten Mamsell (zuerst 1867 erschienen in Die Gartenlaube). 115

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nach Josés Misshandlung durch Wolframs unausstehlichen Sohn Veit krank wird und besteht darauf, dass Deborah Medikamente einnimmt, die diese »in kindischer Furcht« abgelehnt hatte. Es rührt Arnold, als er hört, »wie ihr Donna Mercedes besorgt, in unerschöpflicher Geduld und Langmut zuredete – sie litt es nicht, daß eine andere Hand als die ihre ›der alten, treuen Dienerin‹ die Labung reiche, ihr das Lager aufschüttele« (S. 219). Die geschilderten Ereignisse sowie die Betonung von Jacks und Deborahs Hingabe zeugen von einer intimen, von Harmonie und Solidarität geprägten Beziehung. Die treuen Diener Deborah und Jack stehen in starkem Kontrast zu den lästernden, von Vorurteil behafteten und widerspenstigen deutschen Dienern des Schillingshofes.19 Während ein treues Band zwischen Mercedes und ihren Dienern besteht und diese sie loyal in ihrem noblen Vorsatz unterstützen, Felix Lucians Kinder mit ihrer Großmutter zu versöhnen, sind die Bediensteten des Schillingshofes unhöflich und illoyal. Dieses Verhalten wird als Folge des gespannten EheVerhältnisses zwischen Arnold und Klementine gedeutet. Da der Roman sich um Zerwürfnisse in und zwischen zwei Familien dreht, können Mercedes und ihre Diener daher nur als positiver Kontrast gesehen werden. Die Amerikaner Mercedes, Jack und Deborah bilden einen soliden Block gegen die Machenschaften, denen sie auf deutschem Boden begegnen. Und am Ende ist es für den glücklichen Ausgang des Romans nötig, dass diese Amerikaner tugendhaft sind.

Südstaaten-Apologetik, Einheit und das deutsche »Happy End« Um die Beziehung zwischen Mercedes und ihren schwarzen Dienern positiv zu charakterisieren, greift Marlitt zu einem Vokabular, das auffallend an die Apologetik des »Old South« erinnert; eine Apologetik, die im postreconstruction Amerika an Bedeutung gewann und sich hartnäckig bis weit ins 20. Jahrhundert hielt. Ein zentraler Aspekt einer solchen re19 Mercedes bezeichnet dieses Verhalten als »Domestikenfrechheit in diesem deutschen Hause« (S. 160). Auf ähnliche Weise vergleicht Marlitt engstirnige und vorurteilsvolle deutsche Bedienstete mit einem schwarzen Diener von unbestimmter Herkunft in Blaubart, einer Erzählung, die Fehl- und Vorurteile thematisiert. Die letzte Zeile der Erzählung betrifft den schwarzen Diener, den die deutschen Bediensteten einen »Sohn der Hölle« nannten. Wie der Erzähler bemerkt, besitzt jener trotz seiner äußeren Erscheinung »das treueste und ehrlichste Herz unter der Sonne« (Marlitt: Blaubart, in: Die Gartenlaube 1866, S. 487). 116

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visionistischen Auffassung des Südens ist der Mythos vom ›Lost Cause‹, ein Mythos, der im Schillingshof anzuklingen scheint.20 »Lost Causers« waren der Überzeugung »that the South had been on the verge of creating a civilization far superior to the one that existed in the North.« Kenneth W. Goings erklärt: »Lost causers […] equated themselves with the knights of medieval England. They had supposedly lived according to their own unique and unbreakable code of honor; had administered their plantations in an enlightened and progressive manner, in the process producing happy, smiling darkies who knew their place in society and were content with their servitude.«21 In dieser Version des Südens, der so nie existierte, wollen die Sklaven lieber bei ihren wohltätigen Herren bleiben als sich der rauen Realität der Freiheit aussetzen. Gegenseitige, unerschütterliche Treue kennzeichnet Beziehungen in einem System, das angeblich auf der Liebe zwischen Master und Sklave beruht. Während im Süden die ›Lost Causers‹ die südstaatliche Vergangenheit als eine symbiotische Beziehung zwischen Weißen und Schwarzen im Namen einer noblen Zivilisation neu erfanden, diente das gleiche Stereotyp von Liebe und Anerkennung zwischen Master und Sklave im Norden dazu, eine vielfach herbeigesehnte Erlösungsfantasie von Einheit zu schaffen. Goings weist darauf hin, dass der amerikanische Norden glauben wollte und musste, dass sich die Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen im Süden verbessern würden, so dass die Vereinigten Staaten »could all be one big, happy national family at last.«22 Anders gesagt: Der Norden musste sich mit dem Süden wieder versöhnen und war trotz des Bürgerkrieges, der die Sklaverei beendete, im Nachhinein

20 Dingeldey verweist auch auf die Treue der schwarzen Diener und versteht die beiden also als »dem Typus des guten ›Uncle Tom‹ [entsprechend]« (Luftzug hinter Samtportieren [s. Anm. 11], S. 80). Wichtig ist es aber zu erkennen, dass im 19. Jahrhundert dieser Typus bei der Abolitionistin Harriet Beecher Stowe eine andere Bedeutung hatte als bei den Apologeten für den amerikanischen Süden oder bei Anti-Abolitionisten. Diese sahen im Onkel-Tom-Typus eine Bestätigung des Alten Südens, jene versuchte, wenn auch ungeschickt, ein positives Image von Afroamerikanern zu vermitteln. Siehe Jordan-Lake: Whitewashing Uncle Tom’s Cabin (s. Anm. 14) und Goings: Mammy and Uncle Mose Black Collectibles and American Stereotyping, Bloomington, Indiana 1994. 21 Goings: Mammy and Uncle Mose (s. Anm. 20), S. 9. Zum Ursprung des Mythos der »Lost Cause« in Literatur und Populärkultur siehe Rollin G. Osterweis: The Myth of the Lost Cause 1865-1900, Hamdon 1973. Zu den Mythen des »New South«, siehe Paul M. Gaston: The New South Creed. A Study in Southern Mythmaking, New York 1970. 22 Goings: Mammy and Uncle Mose (s. Anm. 20), S. 10. 117

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nur zu bereit, die Unmenschlichkeit dieses Systems zu übersehen. Eine Nation, die noch vor Kurzem entzweit war, konnte durch die ›Fiktion der Einheit‹ den Süden wieder aufnehmen.23 Im Schillingshof schenkt den politischen und sozialen Verhältnissen in den USA kein besonderes Interesse. Trotz der Ambivalenz, mit der der Roman das Thema Sklaverei behandelt, wäre es daher etwas weit hergeholt zu behaupten, dass Marlitt den Verlust des ›alten Südens‹ bedauerte (oder gar ein besonderes Interesse für das Thema an sich hätte). Trotzdem geistern Vorstellungen von der Überlegenheit der SüdstaatenZivilisation und von Ganzheit und Vollkommenheit, die sich auf die Gefühlsbindungen zwischen Herr und Sklave gründen, durch den Roman. Im deutschen Kontext haben diese Ideen und das Vokabular des ›Lost Cause‹ aber einen anderen Klang und dienen anderen Zwecken als in den amerikanischen Nord- und Südstaaten. Indem der Text Mercedes, die Baumwollprinzessin, als Mitglied der Südstaaten-Aristokratie konfiguriert, kann ein für sie vorteilhafter Vergleich zwischen ihrer Vornehmheit und der Boshaftigkeit der bürgerlichen Wolframs auf der einen Seite und Klementines engstirniger Frömmigkeit auf der anderen Seite gezogen werden. Zugleich stellt sich die Frage, wie diese negativen Eigenschaften überwunden werden können. Da aber Mercedes im deutschen Kontext nicht als ›weiß‹ angesehen wird – Klementine und Lucile sehen in ihr ja die »gelbe Zigeunerin« – und da sie durch ihr ›Schwarzsein‹ symbolisch mit ihren Dienern verbunden wird, kann ihre Beziehung zu ihren ehemaligen Sklaven dem rassisch polarisierten Mythos vom »Gothic ›Old South/New South‹« eigentlich nicht gleichgesetzt werden, in dem alle Weißen schwarze Bedienstete hatten und »where all the servants or slaves were ›happy‹ to be working for the [white] master«.24 Insofern die Herrin im deutschen Kontext auch als ›schwarz‹ kodiert ist, werden die Unterschiede zwischen Mercedes und ihren ehemaligen Sklaven teilweise aufgelöst, die Beziehung zwischen ihnen repräsentiert demzufolge eine Einheit und Ganzheit, die im Kontrast zur Zerrissenheit auf deutschem Boden steht. Indem Marlitt eine exotische Amerikanerin erfindet, die einer solchen harmonischen Beziehung zu ihren Bedientesten fähig ist, und diese Figur auf deutschen 23 Ebd., S. 9. Auch Thurber behauptet, dass die liebevolle und treue »Mammy« ein Produkt des »New South« gewesen sei, das die Vorstellung des Antebellum Südens verkörpert habe, wie dieser niemals gewesen sei. Die Mammy habe nach dieser Vorstellung bewiesen, »that the South was capable of harmonious and loving relations […] the ideal mammy was presented as someone who loved unconditionally with forgiveness for the past [...]« (The Development of the Mammy Image [s. Anm. 14], S. 108). 24 Goings: Mammy and Uncle Mose (s. Anm. 20), S. 8. 118

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Boden verpflanzt, macht sie die versöhnende Kraft tugendhafter Liebe geltend.25 Am Ende wird die schwarze und gelbe Mercedes zur Seele der neuen Gemeinschaft in der deutschen Provinz und die Figuren, die sie nicht lieben und stattdessen beleidigende Äußerungen über ihre Hautfarbe machen, werden von der emotionalen Gemeinschaft des Schillingshofes entfernt. Die vergnügungssüchtige Lucile, die Mercedes von dem Moment, seit sie deren Miniaturportrait als dreizähnjähriges Mädchen zu Gesicht bekam, verunglimpfte und die kein Herz für Thüringen hat, stellt sich als unverantwortliche Mutter und ebenso egozentrische wie vulgäre Frau heraus. Am Ende des Romans stirbt sie an Tuberkulose und stellt damit keine Bedrohung mehr für die Wiederherstellung der Harmonie in und zwischen beiden Familien dar. Niemand wird sie nach ihrem Tod vermissen, denn die Majorin ist inzwischen dank Mercedes’ Unterstützung und ihrer eigenen Taten rehabilitiert und hat die Pflege ihrer Enkelkinder übernommen. Wie Lucile neigt auch Klementine zu rassistischen Äußerungen; sie zeigt die Menschlichkeit und Toleranz nicht, die mit ihrer Ablehnung der Sklaverei einhergehen sollten. Indem Marlitt Klementine als auffallend weiß beschreibt, liefert sie eine indirekte und ironische Kritik der Bigotterie dieser Figur. Klementines volles blondes Haar tritt wiederholt als das einzige Schönheitsmerkmal einer Frau hervor, die sonst wiederholt als eine lange, hagere, graue Gestalt, als »Skelett« (S. 89), beschrieben wird. Von Anfang an als unattraktiv charakterisiert wird diese ausgesprochen weiße Frau in einer sonderbaren Wende selbst schließlich mit Schwarzsein assoziiert, aber mit einem, das sich vom amerikanischen unterscheidet. Sie erliegt dem Einfluss der »schwarzen Dame«, ihrer engsten Verbündeten, Adelheid von Riedt, einer Stiftsdame in B (Bonn?), die versucht, Klementine wieder ganz für die Kirche zu gewinnen. Adelheids schwarze Haare und Kleidung machen aus ihr äußerlich eine »schwarze Dame«, aber das Schwarze kennzeichnet auch ihre Verbindung zur katholischen Kirche. Adelheid will, dass Klementine ihren Mann verlässt und ins Kloster geht, wodurch ihr Vermögen inklusive Schillingshof der katholischen Kirche anheim fallen würde. Deshalb hat sie Klementine in Rom die Erlaubnis beschafft, sich scheiden zu lassen, sobald diese bereit ist, ihrer Ehe den Rücken zu kehren. Als Klementine den Hof verlässt, um gemeinsam mit Adelheid Nonne zu werden, wird sie ebenso wie Lucile von niemandem vermisst. 25 Kirsten Belgums schreibt ähnlich von der Macht von »virtuous desire« bei Marlitt in Kirsten Belgum: E. Marlitt: Narratives of Virtuous Desire, in: A Companion to German Realism. 1848-1900, hg. v. Todd Kontje, Rochester, New York 2002, S. 259-282, bes. S. 272-275. 119

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1879, wenige Jahre nach Preußens Sieg über Frankreich und dem darauf folgenden Kulturkampf, kann man die fanatische Katholikin Klementine und Lucile, die Tochter der Tänzerin Manon Fournier und Nachfahre des französischen Adels (»alle die Henrys und Gastons« [S. 56]), als unerwünschte Elemente einer Gemeinschaft betrachten, die sich unter dem eisernen Kanzler und Wilhelm I formierte. Während diese beiden Figuren am Ende entfernt werden, werden die treuen Amerikaner in ihrem Anderssein (der Art des ›Schwarz- und Gelbseins‹) nicht nur von der wiedervereinten Familie akzeptiert, sondern sind zuvor notwendiges Element für ihre Zusammenführung. Mercedes ist nicht aus sentimentalen Gründen auf der Suche nach ihren Wurzeln nach Deutschland gereist, sondern aus einer moralischen Verpflichtung heraus. Dort muss diese »Tochter der Tropen« jedoch zunächst ihren »Widerwillen vor der Berührung des Deutschtums« (S. 162) überwinden. Ihr missfallen das kalte Klima und die Kälte der Leute, und besonders missfällt ihr Arnold, der in ihren Augen »ein fischblütiger Germane« (S. 155) ist. Kontje hat daher zurecht darauf hingewiesen, dass der glückliche Ausgang des Romans von Mercedes’ Fähigkeit sich zu assimilieren abhängt, das heißt, sie lernt trotz ihrer ursprünglichen Ablehnung, Deutsche zu sein und die Deutschen zu lieben.26 Für diesen Wandel gibt es genügend Hinweise. Am Ende hat sich Mercedes in Thüringen eingelebt. Sie spielt Bach und Beethoven, mag das frische deutsche Klima und hat den bescheidenen Charme deutscher Natur zu schätzen gelernt. Sie ist insgesamt weicher und weiblicher geworden, passt sich besser an die bürgerlichen deutschen Normen an und wendet sich von ihrer ›bunten‹ Vergangenheit als spanisch-amerikanische Baumwollprinzessin ab. Sogar ihr Gesicht hat durch die frische deutsche Luft einen rosigeren Teint bekommen (S. 425f.). Auf der letzten Seite des Romans führt Arnold sie vor das Portrait des alten Schillings und stellt sie dort als »Lucians Tochter« vor, also als die Tochter eines Deutschen, der einst Nachbar und Freund der Schillings war. Aber der Text vergisst auch nicht darauf hinzuweisen, dass sie die Frau ist, die Arnold für »die Opferung des armen Isaak« (S. 432) entschädigt, die sein Vater um des Besitzes willen vollzogen hatte. Indem der Erzähler somit am Ende an mehrere Schwächen des verstorbenen Patriarchen erinnert, kann dieser Liebesroman nicht als einfache Assimilationsgeschichte gelesen werden, in der die ausländische Frau sich dem überlegenen deutschen Mann beugt. Die amerikanische Baumwollprinzessin und ihr Gefolge waren, wenn auch auf unvollkommene Art und Weise, von Anfang an tugendhaft und haben in verschie-

26 Kontje: Marlitt’s World (s. Anm. 3), S. 416f. 120

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dener Hinsicht eine transformative Wirkung auf die in Thüringen lebenden Figuren: 1) Mercedes erkennt als erste den wirklichen Wert der Majorin, der ungeliebten und geschiedenen Frau, und sie hilft ihr, sich zu rehabilitieren, indem sie sie in ihr eigenes Haus aufnimmt. 2) Sie führt die Vereinigung zwischen der Majorin und ihrer Enkelkinder herbei, was von Anfang an das Ziel ihrer Reise gewesen war. 3) Eine Folge dieses glücklichen Ausgangs ist, dass das Wolframsche Anwesen, ein Hort bürgerlicher Habgier und Engstirnigkeit, abgerissen wird und damit nur der im italienischen Stil gebaute Schillingshof erhalten bleibt. 4) Die Anwesenheit der Amerikaner führt zur Entdeckung eines geheimen Gangs zwischen dem Hof und dem Kloster, der aufklärt, warum der alte Diener Adam fälschlicherweise vom alten Schilling angeklagt wurde; Arnold kann somit das begangene Unrecht an Adams Tochter gutmachen. 5) Vor allem hilft Mercedes Arnold zu realisieren, was es bedeutet seine finanzielle Unabhängigkeit von Klementine zu gewinnen und somit seine männliche Autonomie und Autorität wiederherzustellen. Das Wiedererlangen seiner Unabhängigkeit fällt außerdem mit der Rettung des Schillingshofes zusammen, der in Klementines Händen in den Besitz der katholischen Kirche hätte fallen können. Berücksichtigt man solche positiven Ergebnisse lässt sich der Beiname Baumwollprinzessin als Kennzeichnung einer echten geistigen Vornehmheit erkennen.

Kunst, Tugend und die Gemeinschaft der Liebenden Ebenso wie in Das Geheimnis der alten Mamsell das Bach-Manuskript der Mamsell wichtig ist, so spielt auch in Im Schillingshof ein Kunstwerk eine entscheidende Rolle. Die Figuren werden außerdem nach ihrer Beziehung zu dem Kunstwerk eingeschätzt. In Im Schillingshof ist es ein Gemälde, das von Arnold stammt und gegen Ende des Romans an einen reichen »New Yorker Nabob« (S. 416) verkauft wird. Der Erlös, der von amerikanischer Kunstwertschätzung und amerikanischem Kapital abhängig ist, befreit Arnold und den Schillingshof von der reichen Klementine. Arnolds Gemälde stellt eine Verfolgungsszene der Hugenotten im Frankreich des 16. Jahrhunderts dar.27 Auf dem Bild fliehen vier Frauen 27 Der Erzähler spricht hier von der Verfolgung der Königin und meint wohl Katharina de Medici. Wenn auch die Bartholomäusnacht, das Massaker an den Hugenotten in Frankreich im Jahre 1572, nicht ausdrücklich genannt wird, bezieht sich Arnolds Gemälde höchst wahrscheinlich darauf. Das Schicksal der Hugenotten bietet zusätzlich die Gelegenheit, Frankreich im Roman in einem wenig positiven Licht darzustellen. 121

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aus dem Familienpalast vor der Verfolgung durch Soldaten der katholischen Königin. In die Enge gedrängt, steht die weißhaarige Herrin des Palastes, die vom roten Fackelschein überschüttet ist, ihren Angreifern mutig gegenüber und schützt ihre jüngere, spärlich bekleidete Tochter vor den lüsternen Blicken der Männer. Die unterschiedlichen Reaktionen von Klementine und Mercedes auf das Bild sind aufschlussreich. Klementine hat von Anfang an keinerlei ästhetisches Empfinden. Gemälde sind bloße »Farbenkleckse« für ihre schwachen Augen und Zeichnungen langweilen sie (siehe S. 88). Angestachelt von Adelheid verabscheut sie aber besonders das Bild der verfolgten Hugenotten, denn sie empfindet seine anti-katholische Botschaft als gotteslästerlich. Während Klementine das Gemälde abscheulich findet, erkennt Mercedes in ihm sofort das Genie des Künstlers, und eine bittere Bemerkung erstirbt auf ihren Lippen angesichts der großen Leistung. Genau diese feine und großmütige Fähigkeit, Arnolds Kunst zu schätzen, unterscheidet sie nicht nur von Klementine, sondern auch von der Tänzerin Lucile, für die Kunst lediglich eine narzisstische Selbstdarstellung ist. Das Bild erinnert außerdem an Mercedes’ Vergangenheit, in der sie Sezessionisten vor der Entdeckung durch Truppen aus dem Norden in ihrem Haus versteckte. Der Erzähler betont die Ähnlichkeit zwischen den beiden Episoden, als Mercedes das Bild zum ersten Mal anblickt und die Grenzen zwischen ihr und dem Gemälde verschwimmen: »vielleicht wähnte sie auch in der ersten Ueberraschung, der herbeiströmende Fackelschein überflute ihr das eigene Haupt […]« (S. 167). Die Verzahnung der Bürgerkriege zwischen Katholiken und Protestanten in Frankreich im 16. Jahrhundert mit dem amerikanischen Bürgerkrieg evoziert noch einmal die angebliche aristokratische Überlegenheit des amerikanischen Südens. Sowohl Arnold als auch Mercedes teilen die im Gemälde zum Ausdruck kommende edle Gesinnung. Klementine hingegen macht an dem Tag, an dem sie das Bild zu zerstören versucht, klar, wer zu wem gehört. Als sie sich mit einem Messer auf das Gemälde stürzt, reißt ihr Mercedes – zum letzten Mal in der Rolle der wilden Piratenkönigin – das Messer aus der Hand und wird dabei selbst verletzt. Schon am Anfang des Romans spricht Mercedes Arnolds ästhetisches Empfinden an, in gewissem Sinne ist auch er – wie der Benediktinermönch – »schönheitstrunken« angesichts der südlichen Schönheit. Als er 1860 zum ersten Mal ihr Miniaturportrait sieht, das ihr stolzer Vater den Schillings geschickt hat, proklamiert er es zum »Meisterstück« (S. 93) und behält es, denn für ihn »wäre das ein Studienkopf von unschätzbarem Werte« (S. 94). Dennoch ist Mercedes nicht nur ein ästhetisches Objekt, sondern zugleich eine Vermittlerin von Tugend. Ihre Reak-

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tion auf Klementines Zerstörungsversuch macht deutlich, dass sie ästhetische und tugendhafte Qualitäten in sich vereint. Als Arnold die schöne Amerikanerin erblickt, die durch ihre heldenhafte Verteidigung des Bildes voller Blut ist, kann er sich endlich seine Liebe für sie eingestehen; und erst in diesem Moment erwacht er aus der Erstarrung und erkennt die moralische Verderbtheit seiner Vernunftehe. »Ich habe das niederbeugende Gefühl, als sei meine Seele verwildert im langjährigen Kampfe mit bösen Eindrücken […]« (S. 411). Nachdem er Mercedes um Vergebung bittet, fährt er ins Ausland und ist entschlossen, nicht eher in das Haus seines Vaters zurückzukehren, bis alles seine rechte Ordnung hat. Der Erzähler bemerkt dazu: »[E]s hatte den Anschein gehabt, als wolle er nicht einen Atemzug deutscher Luft schöpfen, solange noch lösend an der Kette gefeilt wurde, welche zwei Menschen in unglückseliger Ehe aneinander gefesselt hatte.« (S. 415). In den acht Jahren seiner Vernunftehe, in denen er oft von zu Hause abwesend war, ließ Arnold zu, dass Kunst im Schillingshof auf den engen Raum seines Ateliers beschränkt blieb. Während Klementine den Schillingshof nach ihrem Geschmack und mit ihrem Geld neu einrichtete und so entstellte, waren schöne ausländische Objekte und Arnolds eigene Kunst in dem Atelier, das Arnold sich als eine Art Refugium gebaut hatte, ausgestellt. Während Kontje behauptet, dass in Marlitts Romanen die häuslichen Innenräume das Projekt des europäischen Imperialismus oft durch die in ihnen versammelten Objekte widerspiegeln und das auch für Arnolds Atelier gelten mag, dienen sie hier in erster Linie der Aufgabe, das Innere des Hauses als ästhetisierten Ort darzustellen. Die Wiederherstellung von Arnolds moralischer Integrität und dadurch auch seiner männlichen Selbständigkeit und Autorität als Herr des Schillingshofs durch Mercedes’ Hilfe wird deshalb symbolisch nochmals in Szene gesetzt, als diese in Arnolds Abwesenheit eine komplette Renovierung des Schillingshofes vornimmt. Der Erzähler betont, dass bei den Renovierungsarbeiten der ursprüngliche italienische Stil wieder besser zur Geltung kommt: »Das herrliche italienische Haus reckte sich, nun auf allen Seiten von Luft und Licht umspielt, noch einmal so imposant in den blaßblauen deutschen Himmel« (S. 424). Die Tatsache, dass der ausländische Stil auf deutschem Boden schließlich erneut zu seinem Recht kommt, während nebenan das hässliche alte deutsche Kloster abgerissen wird, ist indirekt auch ein Kommentar über das Happy End – die Ehe zwischen Arnold und Mercedes –, über Marlitts Vorstellung der deutschen Familie und damit auch darüber, was für ein Deutschland sie gerne sehen würde. Während katholische und französische Elemente von der glücklichen

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LYNNE TATLOCK

Familie ausgeschlossen sind, sorgen begehrenswertere und noblere Ausländer – Amerikaner – allererst dafür, dass sie glücklich werden können. Im letzten Kapitel hebt Marlitt die Verbindung zwischen der Liebesgeschichte und einer günstigen Entwicklung der deutschen Nation und des deutschen Nationalgefühls hervor. Arnold verbringt zwei Jahre in Skandinavien und klärt seine Angelegenheiten von dort aus. Er möchte gerade nach Deutschland zurückkehren, als der preussisch-französische Krieg ausbricht und »der germanische Zorn« (S. 416) ihn auf das Schlachtfeld treibt. Der Krieg dient hier der letzten Reinigung und komplettiert die Transformation Arnolds zum Herrn des Schillingshofs. Der Erzähler skizziert seine Rückkehr nach Hause in überschwänglichen und erotischen Bildern: »die Friedensbotschaft und der junge Lenz, innig umschlungen, jubelnd über die deutsche Erde hin« (S. 417).28 Erika Dingeldey mag vielleicht Recht haben, wenn sie argumentiert: »Im Roman ist auch wenig zu spüren von dem hochfliegenden nationalistischen Taumel, der die deutsche Öffentlichkeit in jener Zeit ergriffen hatte.«29 Aber es wäre ein Fehler zu denken, dass Marlitt vom Nationalgefühl der Zeit unberührt blieb. Eben ihre Entscheidung, Mercedes und Arnold zum Liebespaar zu machen, wirft die Frage auf, was deutsch ist und implizit auch, was diese neue Nation sein kann. Die Antwort, die Marlitt in diesem Roman auf die Frage gibt, nämlich den Ausschluss katholischer und französischer Elemente, reflektiert bis zu einem gewissen Grad die nationalistischen Gefühle der Ära. Aber Marlitt geht auch ihren eigenen 28 Eine eher spielerische Analogisierung von Nationalpolitik und Privatleben kommt z.B. in Marlitts Blaubart vor. Hier spricht eine Figur geringschätzig von der Sanierung des Nachbarhauses, die ihr Eigentum bedroht: »Der junge Herr denkt vermutlich, weil er den Krieg in Schleswig-Holstein mitgemacht hat, da darf er nun auch Annexionsgelüste haben« (Marlitt: Blaubart [s. Anm. 19], S. 433). 29 Dingeldey: Luftzug hinter Samtportieren (s. Anm. 11), S. 80. Wenn Marlitt sich bezüglich des deutschen Siegs über Frankreich 1870/71 nicht, wie Dingeldey zurecht feststellt, übertrieben patriotisch äußert und eher den Frieden betont, so heißt das nicht, dass Marlitt nicht begeistert von der Reichsgründung war. Die Betonung des Friedens nach dem deutschen Sieg entspricht dem damaligen Begriff der weiblichen Sphäre und der Werte, die im Raum dieser Sphäre gepflegt werden sollten. Eine ähnliche Betonung des Friedens nach dem Sieg weist z.B. ein Theaterstück zur Sedanfeier in Mädchenschulen auf, das ein Jahr nach Marlitts Roman erschien. Hier wird der »Friede« gelobt, direkt nachdem die Ausrufung des Kaiserreichs gefeiert worden ist. Der Friede »senkt sich auf Schloß und Hütte«, aber wohlgemerkt erst wenn Elsaß und Lothringen fest in deutscher Hand sind (Johanna Siedler: Festspiel zur Sedanfeier in Mädchenschulen, Berlin 1880, S. 29). 124

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Weg, wenn sie ihr Deutschland entwirft; sie favorisiert Familie und die Provinz, wo Tugend, Kunst und Großherzigkeit gepflegt werden, gegenüber der Hauptstadt, wo Realpolitik herrscht. Ihre Familie entsteht nicht, indem Ihresgleichen untereinander heiraten – solch eine Familie ist ausdrücklich weder für Mercedes noch für Arnold die richtige Lösung – sondern eine, in der Nord und Süd und die alte und neue Welt sich mischen und die Werte von Tugend und Kunst teilen. Was macht eine Baumwollprinzessin in Thüringen? Sie ist notwendig, um die ersehnte Harmonie durch eine glückliche Ehe im neuen deutschen Reich herzustellen. Der Schillingshof brauchte sozusagen eine gründliche Reinigung und die deutsch-domestizierte amerikanische Baumwollprinzessin, die einstige Herrin einer Plantage, übernimmt diese Aufgabe. Insofern fungiert Mercedes sowohl als Objekt als auch Agens der Erlösung.

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»S O

M A G D E M SC H W E I F E N D E N I N D I A N E R

MUTE SEIN« – SYMBOLISCHE POSITION AMERIKAS F R I E D R I C H S P I EL H A G E N ZU

DIE

BEI

UTE GERHARD In seiner 1890 erscheinenden Autobiographie »Finder und Erfinder« versetzt sich Spielhagen gleich mehrfach nach Amerika. Bezogen auf seine Leipziger Zeit, in der er eine Stelle als Gymnasiallehrer annimmt, sieht er sich etwa als »Indianer«, der wenn er sich auch jetzt zu den Ansiedlern gesellt, das Blockhaus, an dem er jetzt scheinbar so eifrig zimmerte doch nicht fertig bringen, sondern in einer dunklen Nacht wieder in seine Wälder schlüpfen würde.1

Nur wenig später wird über die Hochzeit der jüngsten Schwester, bei der auch die Brüder mit ihren Familien anwesend sind, berichtet. Er habe – so Spielhagen – angesichts dieser »Häuslichkeit« zugleich »Neid« und »Stolz« empfunden: So mag dem schweifenden Indianer zu Mute sein, der vom Rande seines unwirtlichen Waldes nach gärtenumfriedeten, maisfelderumgebenen Blockhäusern der Ansiedler späht. Ich würde in bitterem Hohne aufgelacht haben, hätte mir jemand gesagt, daß nur wenige Jahre vergehen würden, bis auch ich zu den Ansiedlern gehörte.2

Mit Ansiedlern, Blockhäusern und schweifenden Indianern ist das Setting der amerikanischen Frontier genannt, die im Zentrum eines Stereotyps steht, das Amerika als Land der Freiheit und des Abenteuers ausweist. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist dieses imaginäre Amerika bereits literarisch ausformuliert und bekannt. Spielhagens Be-

1 2

Friedrich Spielhagen: Finder und Erfinder. 2. Bd., Leipzig 1890, S. 349. Ebd., S. 372. 127

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zugnahmen darauf sind also nicht besonders spektakulär, werfen aber Fragen auf, die ich im Weiteren genauer diskutieren will. Zum einen könnte Spielhagen tatsächlich ein Beispiel dafür sein, dass die Literatur des deutschen Realismus an der Abenteuerliteratur »partizipiert« oder »mitgewirkt« hat.3 Zum anderen dient die Konfiguration der Frontier Spielhagen als Möglichkeit der Identifikation. Der Künstler bzw. Schriftsteller und Junggeselle setzt sich als schweifender Indianer in Opposition zum bürgerlichen Familienleben, das in der Position der Ansiedler imaginiert wird. Insofern sind Spielhagens Aussagen auch ein Beispiel dafür, dass Phänomene, die etwa als nationale Stereotypen oder als Bilder vom anderen Land gekennzeichnet werden, auch auf ihren performativen Aspekt hin zu befragen sind. Handelt es sich dabei doch um Entwürfe, die der Identifizierung von Individuen oder Kollektiven dienen, und damit einen nationalen »Charakter« überhaupt erst bezeugen bzw. formieren. Das Beispiel verweist ebenfalls darauf, dass es bei diesem Spiel der Selbst- und Fremdbilder zu Verschiebungen und Deplatzierungen kommen kann. Insofern sie damit schließlich die Produktion und Reproduktion von Identität angesichts neuer Mobilitäten unterstützen können, stehen sie in einem bedeutsamen Zusammenhang zu den Wanderungsbewegungen und – konkret bezogen auf das 19. Jahrhundert – zur deutschen Auswanderung nach Amerika.

Auswanderung und nationale Identitätskonzepte Die Konjunktur und die Ausgestaltung nationaler Identitätsvorstellungen in der Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehen auch im Zusammenhang mit einer sich vor allem in Richtung Nord- und Südamerika bewegenden Auswanderung von ca. sechs Millionen Deutscher zwischen 1820 und 1920.4 Während sich vielfach die Aufmerksamkeit auf das soziale Phänomen, auf die Auswanderer und ihre Erfahrungen richtet,5 möchte ich nur kurz auf den politischen Diskurs, die Debatten und die politische Praxis verweisen.

3 4 5

Vgl. die sehr vage bleibende These bei Hugo Aust: Realismus. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart 2006, S. 197. Vgl. etwa Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006, S. 230. Vgl. etwa Peter J. Brenner: Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrungen Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1991. 128

DIE SYMBOLISCHE POSITION AMERIKAS BEI FRIEDRICH SPIELHAGEN

Eine staatliche Auswanderungspolitik beginnt sich erst Mitte des 19. Jahrhunderts zu entwickeln, dokumentiert etwa in der Verankerung eines Rechtes auf Auswanderung im ersten deutschen Parlament 1849. Möglich wurde dieser veränderte Blick auf die Auswanderung erst durch das Ende der traditionell kameralistischen Sichtweise, für die die Bevölkerungszahl zugleich auch Garant des Reichtums eines Staates und die zunehmende Mobilität eher eine Bedrohung war. Noch zu Beginn der ersten großen Auswanderungsperiode verbietet etwa die badische Regierung 1817 die Auswanderung zwischen Mai und November, um so der »Auswanderungsepidemie« und dem bedrohlichen Verlust von Arbeitskräften Herr zu werden.6 Gleichzeitig beginnt sich aber auch eine andere Position zu etablieren, die im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts stärker wird und an Bedeutung gewinnt. Sie propagiert die Auswanderung als Mittel gegen die Übervölkerung und soziale Verelendung. Unter dem symbolischen Stichwort des »Ventils«, das sowohl als soziales wie auch als politisches Sicherungsventil fungieren soll, unterstellt sie die Wanderungsbewegungen einer moderneren Normalisierungs- und Regulierungsperspektive.7 Welche Probleme und möglichen Bedrohungen aus dieser Perspektive hervorgehoben werden, lässt sich an den Auseinandersetzungen um das Recht auf Auswanderung erkennen. Auch hier geht es darum, mögliche Verluste abzuwenden. Bei dem ersten Germanistentag in Frankfurt in den vierziger Jahren, an dem unter Vorsitz von Jacob Grimm Juristen, Historiker und Germanisten zusammenkommen, geht es darum, mit Hilfe der »deutsche[n] Wissenschaft [...] auf die Erhaltung der Nationalität außerhalb der deutschen Bundesstaaten einzuwirken«.8 Auch Heinrich von Gagern, der als Liberaler bereits in den 20er Jahren einen besseren Schutz der Auswanderer gefordert hat, spricht sich zu dieser Zeit für eine »Regelung der Ansiedlung der Deutschen im nationalen Sinne« aus.9 Bei der Debatte um das Auswanderungsrecht wiederholen sich in der Nationalversammlung 1849 die Hinweise auf Probleme, die zu den bedrohlichen Verlusten führen könnten. Als ein mögliches Gegenmittel versteht sich etwa die 6

7 8

9

Zit. n. Christine Hansen: Die deutsche Auswanderung im 19. Jahrhundert – ein Mittel zur Lösung sozialer und sozialpolitischer Probleme, in: Deutsche Amerikaauswanderung im 19. Jahrhundert. Sozialgeschichtliche Beiträge, hg. v. Günter Moltmann, Stuttgart 1976, S. 8-61, hier S. 38. Vgl. Hansen, die die unterschiedlichen Positionen genauer dokumentiert. Zit. n. Michael Kuckhoff: Die Auswanderungsdiskussion während der Revolution von 1848/49, in: Deutsche Amerikaauswanderung im 19. Jahrhundert. Sozialgeschichtliche Beiträge, hg. v. Günter Moltmann, Stuttgart 1976, S.102-145, hier S. 111. Zit. n. Hansen: Die deutsche Auswanderung (s. Anm. 6), S. 30. 129

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Forderung, in Nordamerika Gebiete für die »geschlossene Ansiedlung« deutscher Auswanderer zu schaffen, damit »das deutsche Element zusammengehalten« werde und so »am großen Ozean ein mächtiges Neudeutschland« entstehen könne.10 Das anvisierte Recht auf Auswanderung soll mit einem notwendigen Schutz der Auswandernden einhergehen, der allerdings zwiespältigen Charakter hat. Er stellt gegenüber der früheren Praxis einen humanitären Fortschritt dar, wird jedoch gleichzeitig zum Schutz des Auswanderers als Deutschem und bietet damit Ansatzpunkte für völkische Konzepte, die gerade die Position des Humanum verlassen. Tatsächlich drehen sich die Auswanderungsdebatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – wie auch Sebastian Conrads Untersuchung zu Globalisierung und Kaiserreich feststellt – vor allem um die Bestimmungen des Deutschseins unter den Bedingungen von Migration und Mobilität.11 Innerhalb dieser diskursiven Prozesse erhalten die literarisch ausformulierten Nationalstereotypen oder nationalen Identitätsvorstellungen ihre besondere Funktion, indem sie etwa Positionen der Identifikation des »Deutschen« entwerfen. Dabei stellen die jeweiligen Nationalstereotypen oder -charaktere ein strukturelles Phänomen dar, insofern sie erst in Relation zueinander ihre spezifischen Konturen erhalten. Was deutsch oder amerikanisch ist, wird also in Relation zu den jeweils anderen bzw. zur Konfiguration der Nationalitäten insgesamt bestimmt. Spielhagens Texte nehmen innerhalb dieser Entwicklungen eine interessante Position ein, insofern auffällige Verschiebungen und Deplatzierungen der jeweiligen Identitätskonzepte vorgenommen werden und diese Verfahren gleichzeitig direkt das literarische Projekt mitgestalten. Konkret sind es zwei Romane Spielhagens, die für die deutsch-amerikanischen Wanderungen grundlegend sind, und zwar »Die schönen Amerikanerinnen« von 1867 und »Deutsche Pioniere« von 1870. Da letzterer bereits an anderer Stelle in diesem Band12 ausführlicher diskutiert wird, seien hier nur einige kurze Bemerkungen vorangestellt.

Pioniere an Front und Frontier Wie bereits der Titel des Romans »Deutsche Pioniere« deutlich macht, der ja sowohl die militärische Praxis als auch die Siedlung konnotiert, ist die amerikanische Frontier hier vor allem auch eine deutsch-französische

10 Zit. n. Kuckhoff: Die Auswanderungsdiskussion (s. Anm. 8), S. 129. 11 Vgl. Conrad: Globalisierung und Nation (s. Anm. 4), S. 230. 12 Vgl. die Beiträge von Jeffrey Sammons und Walter Grünzweig. 130

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Front. Aber genauso wie der Text insgesamt eher eine Mischung von Melodram, historischem Roman und Abenteuerroman realisiert, so verbindet er auch die Motive von Front und Frontier. Zumindest sind die Bezüge zur Auswanderungsdebatte offensichtlich. Das gilt für die anfangs beschriebene Verelendung der Auswanderer während der Überfahrt, aber auch gerade für die Frage des Verlusts oder des Erhalts einer deutschen Identität. Letzteres ist jeweils mit zwei unterschiedlichen amerikanischen Orten verbunden. Zu Beginn des Romans ist es der Hafen von New York. Hier wird ein reicher Mann beschrieben, der mit einem »deutschen Accent« die Einwanderer beschimpft: Was sollen wir mit den Hungerleidern und Schuften, von denen die Hälfte keine volle Zahlung hat leisten können und nun nach unsern weisen Gesetzen zum Lohnverkauf öffentlich ausgeboten werden muß.13

Wie aus einem anderen Gespräch klar wird, handelt es sich bei dem Sprecher tatsächlich um den Sohn deutscher Einwanderer, der sich »aus einem deutschen Krug in einen englischen Pitcher umgetauft hat« und nun durch den an Sklaverei erinnernden »Lohnverkauf« der Einwanderer Gewinne macht (409). Das wiederholt hervorgehobene »wüste Durcheinander«, Gedränge, »Wirrwarr« und »Chaos« machen genau wie die beschriebenen Geschäftspraktiken deutlich, dass es sich hier um das Amerika der Modernisierungsdynamik handelt (414, 415, 416). Auch an dem Ort des anderen Amerikas, dem Ort der Wildnis und der Freiheit ergeben sich Verluste aus der Perspektive des »Deutschen«. Hier handelt es sich allerdings um tragische Figuren, die mit ihrem Tod zentrale Widersprüche zu versöhnen wissen. Denn tatsächlich leben die Spielhagenschen »Pioniere« ja auch an der Frontier, und damit in direktem Kontakt mit der Wildnis. Konrad, der Bruder des Protagonisten, ist hier scheinbar zum »Indianer« geworden, denn er schlägt sie in all ihren Künsten; und dann liebt er die Jagd und den Wald und das schweifende Wesen, wie nur eine Rothaut es kann. Aber sein Herz ist treu, wie lauter Gold, und darin ist er keine Rothaut, die alle falsch sind wie das Irrlicht auf dem Sumpf. (453f.)

Ähnlich widersprüchlich mit prekär gewordener Identität zeigt sich auch die Figur der Base Ursel »deren Kleidung das seltsamste Gemisch aus Frauenkleidung und Männeranzug war, und die, eine Büchse jägerartig 13 Friedrich Spielhagen: Deutsche Pioniere, in: Sämmtliche Romane, Bd. 13/2, Leipzig 1901, S. 406-592, hier S. 408. Die Angabe der Seitenzahl erfolgt ohne Angabe von Fußnoten unmittelbar im Anschluss an das Zitat. 131

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auf der Schulter« trug (460). Wie Konrad im ehrlichen Kampf auf der Seite der Deutschen stirbt, so zeigt sich auch in der Base der wahre Kern als Mutter und Frau, wenn sie ihrem Mann und Konrad, dem sie eine Art Ersatzmutter war, schnell in den Tod folgt. Dass der deutsche Einwanderer hier sogar der bessere Indianer ist, sei zumindest erwähnt. Interessanter erscheint mir die Betonung der Jagd, die ja für die Figur der Base noch besonders hervorgehoben wird. Die Jagd ist – wie Peter Brenner anhand von Reiseberichten und Briefen rekonstruiert – ein zentrales Motiv der Vorstellung von Amerika als Land der Freiheit, der Weite und des Abenteuers.14 Für die populäre Abenteuerliteratur gilt dasselbe. Diese Bedeutung der Jagd für das imaginäre Amerika wird dadurch gesteigert, dass sie symbolisch dann auch für das andere Amerika, das Amerika brutaler Modernisierungsdynamik fungieren und insofern ein durchaus ambivalentes Bild präsentieren kann. Exemplarisch spricht etwa Carl Schurz in seinen Erinnerungen von der amerikanischen politischen Parteienpraxis als einem »Beutesystem«.15 Gängig ist in der zweiten Hälfte dann auch die kritische Perspektive auf Amerika als »Land der Dollarjagd«.16 Bei Spielhagen steht der Jagd des Indianers die des Kapitäns und quasi Sklavenhändlers gegenüber. Dessen Blick auf den Protagonisten, der die junge Deutsche vor dem Zugriff des Händlers rettet, wird beschrieben als der »einer Hyäne [...], der ein Leopard die Beute abjagt« (419). An der Frontier ist in Spielhagens Roman der Sieg über die Franzosen und die auf französischer Seite kämpfenden Indianer verbunden mit einer Kultivierung der Wildnis. »Wohlgebahnte Wege« mit »feste[r] Wagenspur« haben – wie es gegen Ende des Romans heißt – den »Wiesenpfad« ersetzt (590). Hinzu kommen »angebaute Felder überall bis zu dem Rande des Waldes, der jetzt an mehr als einer Stelle viel weiter als damals zurücktrat«. Trotz allem noch verbliebene »Waldwiesen« sind zumindest von »großen Hecken eingefaßt« (ebd.) Schließlich ist auch an der Stelle des Blockhauses ein »stattliches steinernes Haus mit Giebelfenstern« entstanden (ebd.). »Wogende Ährenfelder«, die auch auf symbolischer Ebene die wogenden Wälder und Prärien abgelöst haben, sind ein Versuch, angesichts der wiederholten Eingrenzungen noch die Konnotation von Weite und Freiheit zu erhalten. So ist dann literarisch doch ein Stück deutsches Amerika entstanden, wie es in den Debatten anvisiert wurde. Unterstrichen wird das, wenn am 14 Vgl. Brenner: Reisen in die neue Welt (s. Anm. 5), S. 100f. 15 Zit. n. ebd., S. 352. 16 Vgl. Ute Gerhard / Jürgen Link: Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen, in: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Identität, hg. v. Jürgen Link u. Wulf Wülfing, Stuttgart 1991, S. 16-52. 132

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Ende des Romans die Konfiguration der Nationalcharaktere noch einmal Thema ist. Werden schon im Verlaufe der Handlung mit der Symbolik des Theaters die »Falschheit« und die Oberflächlichkeit der Franzosen vorgeführt und die ebenfalls falschen Indianer entsprechend als ihre Verbündeten (564ff.), so nennt der Text am Ende ausdrücklich neben der bereits mehrfach beschworenen Ehrlichkeit noch weitere angeblich typische Merkmale des Deutschen, nämlich »arbeitsam[e], zäh[e], ausdauernd[e]« (591). In Relation dazu ergibt sich wiederum eine Differenz zwischen den Deutschen und einem ebenfalls ehrlichen und auch wohlwollenden Engländer, der sich zu seinem Englischsein bekennt: »Wir sind ein praktisches Volk [...] und thun nichts um Gottes Willen; Geschäft ist eben Geschäft« (585). Und so endet der Roman dann doch mit einer mehr als stereotypen Konfiguration der Nationalcharaktere, wenn wiederum in Opposition zur englisch-amerikanischen Nüchternheit eine auf Ideale, Werte und Transzendenz bezogene deutsche Seele beschworen wird, in der »ein reinerer, tieferer Ton« klinge (592). Denn obwohl Mr. Brown den Deutschen aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten, die mögliche Vorherrschaft über Amerika prognostiziert, bleiben dem Protagonisten Zweifel: »Würden wir Deutsche bleiben?« Und mit Versen aus einem »alte[n] Lied aus der lieben alten Heimath« und dem sehnsuchtsvollen Blick »gen Osten«, nach »heiligen Mutterarmen« und der »Glorie des kommenden Tages« schließt der Text dann auch entsprechend deutsch. Nicht nur aufgrund der forcierten nationalistischen Sicht, sondern auch durch die damit verbundene Stabilisierung der eher traditionellen Vorstellungen eines deutschen Nationalstereotyps bedeuten die »deutschen Pioniere« dann doch einen, möglicherweise der aktuellen Tagespolitik geschuldeten, Rückschritt gegenüber den drei Jahre früher erschienenen »schönen Amerikanerinnen«.

Deutsch-amerikanische Identitätswechsel und ein realistischer deutscher Erzähler In diesem Roman, der ebenfalls deutliche Züge des Populären trägt, dominieren im Gegensatz zum Pathos der »deutschen Pioniere« Witz und Humor. Insofern die Liebeshandlung hier mit einer Kriminalgeschichte verknüpft wird, erhalten die Fragen von Identität und Identifizierung zentrale Bedeutung. Denn bei den »schönen Amerikanerinnen« handelt es sich um die Töchter eines Deutschen, der zwar mit seiner Familie in die USA nach New York ausgewandert ist, aber mit betrügerischen Absichten wieder nach Deutschland zurückgeht und nach Enttarnung schließlich

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wieder alleine in New York Zuflucht sucht. Es handelt sich also um eine Wandererfigur, genauer um eine Rückwandererfigur, wie sie Bestandteil verschiedener Romane der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist. Bei Spielhagens Figur geht die Rückwanderung aus Amerika aber weder mit Wohlhabenheit oder Reichtum noch mit einer Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit einher. Die Wanderungen sind vielmehr Grundlage für die betrügerischen Identitätswechsel, denn der Schneider König alias Jones alias Cunnigsby ist – wie betont wird – häufig und lange gewandert. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland kalkuliert er sozusagen mit dem Stereotyp des Deutschen, mit den angeblich typisch deutschen Merkmalen, so gesteht er: »Ich bin nach Deutschland gekommen, um auf Kosten meiner Landsleute, deren Gutmüthigkeit und Leichtgläubigkeit ich von früher her kannte, zu leben«.17 Das gelingt ihm auch fast, wie der Roman erzählt, aber eben nur fast, weil seine Kalkulation nicht mehr aufgeht. Denn im Gegensatz zu den anderen Kurgästen sind der IchErzähler und sein Freund alles andere als die in traditionellem Sinne typischen Deutschen, und genau wie eigentlich die deutschen Frauen die schöneren Amerikanerinnen, sind der Erzähler und sein Freund die besseren Amerikaner und letztlich scheint das bessere Amerika eigentlich ein deutsches zu sein. Damit sind Verschiebungen und Deplatzierungen angesprochen, die ich an einigen exemplarischen Aspekten konkretisieren möchte. Wie bereits gesagt, bilden Identität und Identifizierung eine grundlegende Isotopie des Romans, ja der Roman selbst stellt sich sozusagen in den Dienst der Identifizierung. Durchgängig wird die genaue Beobachtung empfohlen, werden etwa Augen und die Physiognomie en detail beschrieben. Es scheint also nur konsequent, wenn die Erzählung selbst diskursive Formen polizeilicher Identifizierung annimmt. Deutliche Bezüge zum Steckbrief oder zu Personalpapieren werden hergestellt, wenn der Ich-Erzähler seinem Freund ein »sorgfältiges Signalement« seiner Kinder gibt oder angesichts der Beschreibung einer Figur etwa von der »Rubrik [...] besondere Kennzeichen« die Rede ist (4, 54). Ganz ohne den sich in diesen Beispielen noch ergebenden Witz stellen sich die Erzählung bzw. der Erzähler schließlich tatsächlich in polizeiliche Dienste. Der Deutsch-Amerikaner gibt sich als reicher Südstaaten-Farmer aus, der vor dem Krieg nach Deutschland geflohen ist. Empört über dessen Verhalten schreibt der Ich-Erzähler an einen Freund in Berlin, »der eine län17 Friedrich Spielhagen: Die schönen Amerikanerinnen, in: Sämmtliche Romane, Bd. 13/2, Leipzig 1901, S. 2-212, hier S. 190. Die Angabe der Seitenzahl erfolgt ohne Angabe von Fußnoten unmittelbar im Anschluss an das Zitat. 134

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gere Zeit in dem Süden der Vereinigten Staaten gelebt hatte«. In diesem Brief ergeht er sich »in den heftigsten Schmähreden gegen die rebellischen Baumwolljunker« und indem er ihn mit »einigermaßen lebhaften Farben schilderte«, stellt er seinem Freund die Frage, ob dieser »Jaguar [...] nicht der wahre Typus der Race sei, von deren moralischer Verkommenheit er selbst so haarsträubende Dinge zu erzählen wußte« (64). Im weiteren Verlauf, nachdem der Ich-Erzähler erfahren hat, dass der »Jaguar« in Berlin gewesen ist, folgt ein weiterer Brief. Aufgrund eben dieser Briefe, wird aber der Betrüger schließlich entlarvt und festgehalten. Denn eines der Betrugsopfer aus Berlin erscheint in Begleitung eines Polizisten und erklärt: Seine [des Erzählers, U.G.] Schilderung des Mannes war – wie man das aus solcher Feder nicht anders erwarten kann – so treffend, daß ich, sobald mir unser gemeinschaftlicher Freund und Hausarzt Einsicht in den betreffenden Brief verstattet, nicht einen Augenblick an der Identität des sehr ehrenwerthen Mr. Augustus Lionel Cunnigsby mit dem nicht minder ehrenhaften Mr. Charles Jones [...] zweifeln konnte. (185)

Verbindet sich der literarische Text auf diese Weise mit den Verfahren der Identifizierung und Identitätsbildung, so unterstreicht die »treffende« Schilderung den Gestus des »Realistischen«, der durch die Bezugnahmen auf diskursive Formen wie Signalement und Ausweise, für die die Faktizität im Vordergrund steht, noch verstärkt wird. Der Ich-Erzähler ist – wie die Betonung »aus solcher Feder« hervorhebt – ein realistischer Schriftsteller. Zum Gestus des Realistischen gehört auch, dass der Text immer wieder versucht vergessen zu machen, dass es sich um einen literarischen, einen fingierten – also erfundenen – Text handelt. An einem Beispiel lässt sich das verdeutlichen. Der Erzähler stellt sich vor, wie sein Freund und eine der schönen Amerikanerinnen durch seinen Trick jetzt doch zusammenfinden: Und dann werden sie ja doch auch sprechen. Er wird sagen: ich segne dieses Unwetter, das mir ein Glück verschafft – nein, das wird er nun just nicht sagen; aber etwas der Art. Und dann wird sie sagen – ja, was wird sie denn sagen? Wie lächerlich, daß ich mir darüber den Kopf zerbreche, als ob ich das Alles in einer Novelle zu schreiben hätte! Hop, heissa! Daß ich keine zu schreiben habe, sondern hier im Walde umherlaufen kann, im lieben, nassen Walde, während da ein paar hundert Schritt weiter unter wirklichen Tannen eine wirkliche Novelle spielt! (146)

Die Verschränkung von Faktischem und Literarischem sowie die wiederholte Betonung des angeblich Realen sind in diesem Roman Spielha135

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gens nicht nur für die innerliterarische Diskussion bzw. Konturierung des Realismus als literarischer Richtung oder Schreibweise interessant. Vielmehr geht es hier um die Facetten von Realismus als interdiskursives Konzept, wie es auch zum Alltagswissen gehört, i.S. von realistisch sein: praktisch vs. theoretisch; nüchtern, realistisch vs. idealistisch etc. Und genau diese Merkmale bilden, wie am Beispiel von »deutsche Pioniere« bereits diskutiert, eine zentrale Grundlage für die Identitätsvorstellungen des Deutschen auf der einen und des englisch-amerikanischen auf der anderen Seite. Der Ich-Erzähler ist in diesem Sinne ein Realist. Er steht als Novellendichter einem Lyriker gegenüber, der als philosophischer und somit idealistischer Dichter gekennzeichnet ist. Genauer wird dieser Lyriker durch seine wechselnden Liebeshändel und entsprechende Liebesgedichte charakterisiert. Allerdings weiß er bei aller Romantik und bei allem Idealismus durchaus in seinem Interesse praktisch zu denken, ja zu kalkulieren und wird im Text immer wieder entsprechend entlarvt. So lautet beispielsweise, als eine der Damen ihre Aufmerksamkeit von ihm abwendet und sich einem schwergewichtigen Unternehmer zuwendet, sein eigener Kommentar: »Spiritus flau, Leberthran begehrt« (122). Der IchErzähler hat – wie er betont – »keine Zeit, die weiteren Coursnotierungen des Sängers abzuwarten« (122). Aus der großen Distanz zwischen romantischer Liebeslyrik auf der einen und Sprache der Börse auf der anderen Seite ergibt sich hier der Witz, der die romantisierenden Positionen des »Sängers«, aber auch seiner weiblichen Bewunderinnen entlarvt. Zugleich sind damit aber auch die extremen Positionen beschrieben, innerhalb derer sich die Verortung des deutschen und des amerikanischen Nationalstereotyps vollziehen kann. Dem traditionellen philosophischen Idealisten steht der »brutale Sclavenzüchter« oder »Baumwolljunker« gegenüber, für den etwa ein ordentlicher Kaufmann nichts gilt, der nicht an der Börse verzeichnet ist. Der Erzähler und der Text selber entwickeln diesbezüglich aber eine neue Position der Vermittlung. So wird die romantisierende Bewunderung – sei es des Fremden oder des eigenen Landesfürsten – als typisch deutsch kritisiert und teilweise witzig desillusioniert. Bezogen auf das Stereotyp des Amerikaners werden Nüchternheit und praktische Einstellung etc. von der »transatlantische[n] Sclavenzüchter-Brutalität« getrennt (102). Die Verknüpfung des deutschen Gemüts mit praktischer Nüchternheit ermöglicht mit der Integration amerikanischer Züge auch die Modernisierung des eigenen Identitätskonzepts. Der realistische IchErzähler und sein Text präsentieren genau diese Modernisierung. Der Erzähler kann nicht nur perfekt Englisch, sondern kennt auch amerikanische Volkslieder und die Lyrik Longfellows, dessen Verse dann im Ori-

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DIE SYMBOLISCHE POSITION AMERIKAS BEI FRIEDRICH SPIELHAGEN

ginal zitiert werden (178). Der Text nimmt zahlreiche englische Zitate im Original auf und entwirft auf der Handlungsebene Deutschland als einen Ort, der es durchaus mit dem imaginären Amerika aufnehmen kann. Die ursprüngliche Fülle der Natur, der imaginäre Ort der Freiheit und des Abenteuers beginnt gleich an den Grenzen des Kurorts. Die »schönen Amerikanerinnen« entpuppen sich nicht nur als schöne Deutsche, vielmehr entsteht unter diesem Titel auch teilweise ein deutscher Waldläufer-Abenteuerroman. Sein wichtigster Handlungsraum ist der Wald, der ja tatsächlich ein zentrales Symbol des deutschen Nationalstereotyps darstellt. Bei Spielhagen ist es ein Urwald, in dem sich gleich mehrfach verirrt wird: »Zerklüftetes Urgestein, von nackten knotenreichen Tannenwurzeln, wie von Polypenarmen, umrankt; zwischendurch mächtige Farnkrautfächer« (126). Beschrieben als »Wäldermeer [...], dessen grüne Wellen« rauschen, kann er – was die Konnotation von Weite und Entgrenzung angeht – durchaus ein Äquivalent zur Prärie bilden. Während sich der Ich-Erzähler hier verirrt, mutiert der Freund zu einer Waldläufer-Figur. Erneut befürchtet beispielsweise der Erzähler, dass sie sich bei der Suche nach der entführten Geliebten des Freundes in der Dunkelheit im Wald verirren würden: Aber ich vergaß, daß an unserer Spitze ein Weidmann marschierte, dessen eigentliche Heimath Wald und Feld war, und der sich in dieser seiner Heimath mit einer Leichtigkeit und Sicherheit zurecht fand, wie der Schiffer auf dem Meer. Bergauf, bergab, jetzt rechts, jetzt links, bald auf geebnetem Pfad, bald querwaldein, wo ein Stück Weges abzuschneiden war, ging es, als gälte es das Leben, Egbert immer voran, Felsenstufen hinunterspringend oder erklimmend, durch die Büsche brechend mit der Kraft eines verfolgten Hirsches, wir Anderen hinterdrein, atemlos, keuchend, jeden Augenblick glaubend, die tolle Jagd aufgeben zu müssen. (169)

Schließlich wird Egbert dann tatsächlich noch selbst Teil der Wildnis. Er hat neben der Kraft eines verfolgten Hirsches auch »stählerne Muskeln und falkenscharfe Augen« (171), er ist der »zornige Bär«, so dass seine Gegner und insbesondere sein Konkurrent schließlich von »den Schlägen der Bärentatze niedergeschmettert werden« (173). Schon an anderer Stelle werden Egberts Kräfte beschrieben, die es ihm ermöglichen, einen Angreifer mit »einem Faustschlage zu Boden« zu bringen (138). Aufgrund ihrer besonders hervorgehobenen Fähigkeiten befindet sich diese Figur insgesamt auf halbem Wege – so könnte man sagen – zwischen Lederstrumpf und Old Shatterhand, sein Aktionsraum ist allerdings Deutschland.

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UTE GERHARD

Die Deplatzierungen innerhalb der Konfiguration der Nationalstereotypen und damit die Verschiebungen des traditionell positiven Amerikabildes hin zum Deutschen lassen sich ebenfalls an der Bedeutung der Jagd innerhalb des Romans erkennen. Denn zum einen ist Egbert selbst ein leidenschaftlicher Jäger und zum anderen zeichnet sich der Kurort »Bad Tannenburg« dadurch aus, dass in diesem Ort bzw. in den Wäldern und Wiesen der Gemeinde die Jagd kein Adelsprivileg ist. Sie steht vielmehr – was für deutsche Länder im 19. Jahrhundert ja mehr als ungewöhnlich ist – den Einwohnern frei und ist dem Fürsten verboten. Die Grundlage dafür bildet – wie im Roman erzählt wird – ein altes, noch aus dem Mittelalter bestehendes Recht, das sich aber die Tannenburger wiederum auf juristischem Wege gegen den Herzog erstritten haben. In der freien, ja demokratischen, Jagd, in den Figuren des Tannenburger Waldläufers und des realistischen, nüchternen und praktischen, aber dennoch gemütvollen Erzählers ist das positive Amerikabild der Freiheit nach Deutschland verschoben. Dem »zornigen Bären« mit seinen Tatzen steht der »brutale Jaguar« – übrigens auch mit Tatzen – gegenüber, der »Sclaven-Züchter« und »Baumwolljunker«, der den »freien Amerikaner« nur als Pose herauskehrt, um seinen Betrug zu schützen (179). Schon die Kennzeichnung Junker, verweist ihn auf eine äquivalente Position zu der traditionellen feudalen Tyrannei in den deutschen Ländern. Entsprechende Imaginationen des Lebens am Mississippi, mit Hängematten und »Sclaven« unterstreichen diese Position genau wie die nur an die Betrüger ergehende Einladung seitens des Landesfürsten. Diese Verschiebungen bedeuten trotz der im Roman formulierten Kritik an der bedingungslosen Bewunderung der Amerikaner aus deutscher Perspektive auch eine Annäherung an Amerika. In dem drei Jahre später erschienenen Text wird dies wieder zurückgenommen, obwohl oder gerade weil er von einer gelungenen deutschen Ansiedlung in Amerika erzählt. Der geschlossenen Siedlung scheint eine gefestigte deutsche Identität zu entsprechen. An Spielhagens Verarbeitungen der Amerikabilder und der nationalen Identitätskonzepte in den »schönen Amerikanerinnen«, lässt sich aber auch erkennen, dass sie nicht zuletzt über die Attribute nüchtern, praktisch direkt das literarische Projekt eines Schriftstellers des Realismus betreffen. Dass Spielhagen die Vorstellung vom Deutschen mit amerikanischen Anleihen modernisiert, könnte auch damit zu tun haben, dass es ihm gelingt, in seinen zahlreichen Romanen durchaus moderne Unterhaltungsliteratur zu schaffen.

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»D A S H E R Z DEUTSCHE

Z W I E F A C H G E T E I L T «:

LITERARISCHE

UND DIE

AMERIKABILDER

AMERIKANISTIK

WALTER GRÜNZWEIG Wenn sich ein Amerikanist mit amerikanischen Themen in der deutschsprachigen Literatur beschäftigt, stößt er teils schnell auf Verwunderung oder auch Ablehnung. Daher soll zunächst der disziplinäre Status des vorliegenden Projekts – immerhin ist es hier der einzige Beitrag von einem Amerikanisten – geklärt werden. Bereits in meiner amerikanistischen Dissertation in den 1980er Jahren befasste ich mich mit einem deutsch-amerikanischen – besser austro-amerikanischen – Schriftsteller, nämlich Charles Sealsfield (Karl Postl), der die deutschsprachige Amerikaliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierte.1 Seitens der Amerikanistik, innerhalb derer ich mich zu etablieren hatte, wie auch seitens der Germanistik wurde ich auf die Zuständigkeit der letzteren für diesen Autor hingewiesen. Als Kriterium wurde angegeben, dass Sealsfield vornehmlich in deutscher Sprache schrieb und vor allem in Europa rezipiert wurde. Das war noch bevor sich die US-amerikanische Amerikanistik »transnational«2 gab und noch vor Projekten zur Erforschung der multilingualen Traditionen in der amerikanischen Literatur wie LOWINUS.3

1 2

3

Das demokratische Kanaan. Charles Sealsfields Amerika im Kontext amerikanischer Literatur und Ideologie, München 1987. Vgl. die programmatische Rede der Vorsitzenden der American Studies Association Shelley Fisher Fishkin: Crossroads of Cultures: The Transnational Turn in American Studies – Presidential Address to the American Studies Association, November 12, 2004, abgedruckt in: American Quarterly 57.3 (2005), S. 17-57. 1994 begannen Werner Sollors und Marc Shell im Rahmen des Longfellow Institute an der Harvard University mit »LOWINUS«, einem Projekt um »non-English writings in what is now the United States« zu erfassen und einem amerikanischen Publikum zugänglich zu machen. Vgl. www.fas. harvard.edu/~lowinus/ (Zugriff vom 1.8.2008). 139

WALTER GRÜNZWEIG

Trotz des deutlichen kollegialen Rats, dass ›genuin‹ amerikani(sti)sche Themen adäquater wären, blieb ich jedoch bei der Thematik, unterstützt von aufgeklärten Kollegen wie Alexander Ritter und Jeffrey Sammons, die in diesem Bereich durchaus einen Platz für Amerikanisten sahen. Ich selber legitimierte das mit der These, dass Sealsfield ebenso der amerikanischen wie der deutschen Literatur zuzurechnen sei. Die amerikanische Rezeption dieses Autors, die ich in der Folge entdeckte und dokumentieren konnte, die Anleihen bei amerikanischen Autoren, die Sealsfield vornahm, seine amerikanische Biografie sowie Lebenseinstellung und verschiedene amerikanische Narrative in seinen Romanen erleichterten mir dieses Vorhaben. In Dresden, wohin ich 1992 als amerikanistischer Kulturwissenschaftler berufen wurde, gab es natürlich einen besonderen genius loci. Die Radebeuler Industrie um Karl May war zwar sehr bedeutend, aber amerikanistisch gesehen gab es da noch größere Probleme, denn im Unterschied zu Sealsfield war May ja vor seinen literarisch relevanten Jahren nie in den Vereinigten Staaten gewesen. In seiner literarischen Satire Vom Wunsch, Indianer zu werden. Wie Franz Kafka Karl May traf und trotzdem nicht in Amerika landete (1994) zeichnet der österreichische Autor Peter Henisch gar einen Karl May, der höchst ungern reist, und als er schließlich in Amerika ankommt, »doch nicht mehr so ganz für den Westen disponiert ist.«4 Karl Mays Amerika steht eben für viele, und nicht nur für Amerikanisten, für all das, was Amerika nicht ist, geschrieben von einem Mann, der bestenfalls eine unglaubwürdige Klitterung anderer Amerikawerke des 19. Jahrhunderts produziert hatte, angereichert um Wissen aus Lexika und anderen Nachschlagewerken, aber eben nicht selbst erlebt. May bot sich aus dieser Sicht keinesfalls als Quelle für amerikanistisches Wissen an. Gerade diese conventional wisdom bewog mich, 1994 auf einem Symposium, das der Frage gewidmet war, warum in den USA niemand Karl May rezipiere – eine Frage, die von Jeffrey Sammons ausführlich und mit liebevoller Ironie beantwortet wurde5 – programmatisch zu erklären, dass Karl May fester Bestandteil der Aktivitäten der Dresdner Amerikanistik werden müsse. Die Begründung war einfach, dass Karl May vielleicht wenig Adäquates über Amerika geschrieben hatte, dass aber auch das Inadäquate (so es denn inadäquat wäre) im deutschspra4

5

Peter Henisch: Vom Wunsch, Indianer zu werden. Wie Franz Kafka Karl May traf und trotzdem nicht in Amerika landete, Salzburg, Wien 1994, S. 155. »Zwischen Sachsen und ›Amerika‹: Rezeption und Nicht-Rezeption des Werkes von Karl May«, Dresden, 25.4.1994. Jeffrey Sammons sprach »Zur Abwesenheit des Amerikaschriftstellers Karl May in Amerika«. 140

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chigen und auch nicht-deutschsprachigen Mitteleuropa enorm wirkungsmächtig geworden ist. Niemand, der die Beziehungen Deutschlands, Österreichs und der gesamten Region mit den Vereinigten Staaten verstehen will, kommt an Karl May vorbei und damit wird dieser nolens volens zu einer relevanten Kraft auch für das reale Amerika, das ja mit Deutschland und Mitteleuropa in dynamischer Verbindung steht. Kein U.S.-amerikanischer Gastprofessor, der in deutschsprachigen Ländern lehrt, kehrt in seine Heimat zurück ohne zumindest rudimentäre Kenntnisse über Karl Mays Amerika. Diese Wirkungsmacht konnte und kann man in Radebeul sehr gut beobachten. Für die substanzielle Sammlung von kulturellen Artefakten amerikanischer Ureinwohner in der Villa Bärenfett hatten nach Aussagen der Leitung der Radebeuler Stiftung die Smithsonian Institution, aber auch andere, große Summen geboten.6 Liebhaber des Autors hatten diese Sammlung durch Schenkungen zustande gebracht. Karl Mays literarische Amerikaträume führten also dazu – und darauf will ich hier hinaus – dass ethnografisch höchst relevante, ›authentische‹ (um dieses problematische Wort hier zu verwenden) Artefakte der Kultur der amerikanischen Ureinwohner ihren Weg nach Radebeul fanden und dort, Gipfel der Paradoxie, etwa von indianischen Besuchern in der DDR besichtigt und bewundert wurden. In der DDR interessierten sich nicht nur Hunderte von Hobbyindianerstämmen für die Kultur der U.S.-amerikanischen Ureinwohner; auch die Führung empfing sie gerne.7 Wenn ich einer persönlichen Mitteilung von Archie Fire Lame Deer, einem Lakota-Führer, trauen darf, hegte insbesondere Erich Honecker warme Gefühle gegenüber den amerikanischen Ureinwohnern. Sie waren als offizielle Gäste der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik auch ohne Pass und Visum willkommen und durften angeblich sogar ihr Zelt im Garten eines Gästehauses der Regierung errichten.8 Das literarische deutsche Amerika ist also

6 7

8

Gespräch mit René Wagner vom Karl-May-Museum in Radebeul im Januar 1994. Für Hinweise auf die »Indianer«begeisterung in der Deutschen Demokratischen Republik danke ich Sibylle Klemm, deren in Arbeit befindliche Untersuchung zu Edith Anderson, einer U.S.-amerikanischen expatriate in der DDR, eine Reihe neuer einschlägiger Informationen enthält. Vgl. dazu auch Ulrich van der Heyden: Die Native American Studies in der DDR, in: Amerikanistik in der DDR: Geschichte – Analysen – Zeitzeugenberichte, hg. v. Rainer Schnoor, Berlin 1999, S. 123-151. Gespräch mit Archie Fire Lame Deer anlässlich eines Gastvortrags an der Karl-Franzens-Universität Graz, im Jahr 1983. 141

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nicht bloß ein Rezeptionsphänomen; es produziert und provoziert sehr reale Interaktionen zwischen der Neuen Welt und Deutschland. Solche Interaktionen führten mich zur Frage der amerikanistischen Relevanz der ›Amerikabilder‹ in der deutschen Literatur insgesamt. Die Bilder der Neuen Welt sind ein sehr beliebtes Thema bei Germanisten, besonders auf Vortragsreisen in den Vereinigten Staaten, aber keine sonderlich akzeptierten Quellen für Wissen über die Vereinigten Staaten selbst. Enthielten die dicken Bände der zumindest in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr oder weniger kanonisierten Literatur auch Material, das für den transatlantischen Dialog und das Verständnis der Vereinigten Staaten von Interesse sein konnte? In Jeffrey Sammons’ Untersuchungen zu Wilhelm Raabe und Friedrich Spielhagen war zwar einiges zu diesen Bildern gesagt – was deren Relevanz in Bezug auf das ›reale‹ Amerika betrifft, sind seine Untersuchungen jedoch skeptisch.9 Das von Christof Hamann und mir im Sommersemester 2007 gemeinsam geleitete germanistisch-amerikanistische Seminar zeigte bald, dass eine ›doppelte‹ Betrachtungsweise dieser Texte möglich war10 und im vorliegenden Beitrag möchte ich aufzeigen, wie ich als Amerikanist mit einem solchen Roman umgehe, auch um Anstöße für zukünftige interphilologische Kooperation zu geben. Friedrich Spielhagens Roman Deutsche Pioniere (1870) spielt zur Gänze im Staat New York – in seinen Anfangskapiteln im Hafen von New York City im Jahr 1758, der lange Rest in dem seit Anfang des 18. Jahrhunderts stark deutsch besiedelten Mohawk Valley in Upstate New York. Sowohl für Amerikanisten als auch für Germanisten stellt sich die Frage, warum ein deutscher Erfolgsschriftsteller der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen seiner wenigen historischen Romane in einer obskuren Region des damaligen Westens spielen lässt, an der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis, oder, wie Amerikanisten mit dem mythenschaffenden amerikanischen Historiker Frederick Jackson Turner sagen, an der frontier.11 Man hat dabei auf das Erscheinungsdatum des Romans, 1871, verwiesen und auf die Auseinandersetzung Deutschlands mit Frankreich. 9

Vgl. zu Spielhagen etwa Jeffrey L. Sammons: Friedrich Spielhagen. Novelist of Germany’s False Dawn, Tübingen 2004, S. 128f. 10 Das interdisziplinäre Hauptseminar »Migration und amerikanische Lebenswelten in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1848 und 1914« behandelte Texte von Raabe, Spielhagen, Keller und Möllhausen. 11 »The Significance of the Frontier in American History«, die so genannte »Turner-Thesis« wurde 1893 in Chicago vorgestellt. Vgl. Frederick Jackson Turner: The Frontier in American History, New York 1920. 142

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Denn der Roman spielt im Siebenjährigen Krieg oder, wie es in der amerikanischen Geschichtsschreibung auch heißt, im »French and Indian War« – in dem die Ureinwohner auf beiden Seiten kämpften. Die deutschen »Pioniere« fochten an der Seite der britischen Kolonialherren gegen die französischen Kolonialtruppen und ihre indianischen Verbündeten. Das Merkwürdige daran ist, wie Sammons in seinem Beitrag im vorliegenden Band ausführt,12 dass die Hauptbeteiligten unter den Deutschen pfälzische Siedler waren, denen die Auseinandersetzungen mit den Franzosen im Jahrhundert zuvor ins kollektive und kulturelle Gedächtnis eingeschrieben waren. Der Roman umfasst also fast ein Vierteljahrtausend Kampf gegen die »Franzmänner« – vom Jahr 1870 blickt man zurück ins Jahr 1758, von dort aus in die Auseinandersetzungen einhundert Jahre davor. Sicherlich ist die historische und geografische Ausweitung dieses Konflikts im transatlantischen Maßstab ein Aspekt, der im Kontext der Rezeption durch die Leser im Jahr 1871, als sich Deutschland anschickt, auf Kosten Frankreichs zur kontinentaleuropäischen Großmacht zu werden, beachtet werden sollte. Trotzdem kann der Amerikanist nicht umhin, die Konkretheit zu bemerken, mit der die amerikanische Lebenswelt des Staates New York hier in einen deutschen Roman Eingang findet. Jeffrey Sammons hat auf eine Quelle des Romans verwiesen, nämlich Friedrich Kapps Darstellung der deutschen Einwanderung nach New York aus dem Jahr 1868, worin diese Kriegshandlungen tatsächlich eine große Rolle spielen und die Namen der wichtigsten Protagonisten, darunter Lambert Sternberg und Nikolaus Herckheimer/Herkimer tatsächlich vorkommen.13 Der ›1848er‹ Kapp, der sich in den zwanzig Jahren des Exils in den Vereinigten Staaten zu einem national gesinnten Anhänger Bismarcks gewandelt hatte – sein in New York geborener Sohn Wolfgang war übrigens der Protagonist des gleichnamigen Putschs im Jahr 1920 – interpretiert diese Einwanderung auch tatsächlich in dem zu erwartenden ideologischen Kontext: Die hoffnungslos gespaltenen Deutschen, verunsichert und ausgeblutet durch Kleinstaaterei und ungerechte Nachbarn, sind zur Auswanderung und damit zur Schwächung ihres Herkunftskontextes gleichsam gezwungen. Aber auch andere Wissensvorräte sind in Spielhagens Roman eingeflossen. Er hatte amerikanische Lyrik und Ralph Waldo Emerson übersetzt und korrespondierte lange Zeit mit seinem Freund aus studentischen Tagen, Carl Schurz, dem bedeutendsten Vertreter von Deutschamerika in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zudem hat er auch seine literarischen

12 Vgl. S. 155-171. 13 Sammons: Spielhagen (s. Anm. 9), S. 133. 143

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Vorgänger, darunter mit Sicherheit Charles Sealsfield, konsultiert. Spielhagen hatte also vielfältigen, auch durchaus privilegierten Zugang zum Wissen über Amerika seiner Zeit und er verarbeitete Teile davon auf relativ komplexe und umfassende Weise in seinem Roman. Auch die indianischen Allianzen, etwa die der Oneidas mit den Engländern, sind erstaunlich deutlich und adäquat herausgearbeitet. Dabei setzt Spielhagen eigene Schwerpunkte. Eine der richtungsweisenden Figuren des Romans ist Nikolaus Herckheimer, der unter dem Namen Nicholas Herkimer in die Annalen der amerikanischen Revolution zwei Jahrzehnte später eingegangen ist. Trotzdem entschied sich Spielhagen, Herkimer nicht im Kontext seines größten Triumphs zu präsentieren, sondern in einer historisch relativ wenig beachteten Rolle im Siebenjährigen Krieg, als er die Verteidigung der Pfälzer im Mohawk Valley gegen die Franzosen und ihre indianischen Verbündeten organisierte.14 Zudem macht er den 1758 erst dreißigjährigen Herckheimer wesentlich älter – bei seinem romanhaften Zusammentreffen mit der jungen Katharina kokettiert er mit seinem Alter und mit seinen grauen Haaren. Betont Kapp in seiner Geschichte, dass man Revolutionsführer Herckheimer/Herkimer als Nationalhelden ehren sollte,15 so führt ihn Spielhagen in einen vergleichsweise unbedeutenden Kontext, wo er sich zusammen mit seinem (fiktiven) Sohn Richard – ein Sohn Herkimers im Soldatenalter ist biografisch gesehen unmöglich – allerdings glänzend bewährt. Die Protagonistin des Romans, Katharina Weise, ist hier das Objekt der Zuneigung zweier Brüder, Lambert und Konrad Sternberg. Lambert hat gewisse Vorrechte, da er sie den Klauen eines verbrecherischen und geldgierigen Kapitäns entreißt; der ungestüme jüngere Bruder macht sich jedoch aufgrund der Tatsache, dass Lambert Katharine nicht sofort geheiratet hat oder zumindest verlobt ist, seine eigenen Hoffnungen. Katharina Weise ist offensichtlich eine fiktionale Verwandte der bei Kapp genannten Katharine Weisenberg, Tochter eines armen deutschen Bauern, die schließlich im Mohawktal nicht wie bei Spielhagen Lambert, sondern den in Deutsche Pioniere nicht erwähnten Sir William Johnson, einen Freund der Indianer, heiratete.16 Die Verbindung aus historischem Material mit einer teilweise variierenden fiktionalen Darstellung deute ich als Entstehung eines spezifi14 Zu Herkimer vgl. www.nyhistory.net/~drums/herkimer.htm (Zugriff vom 1.8.2008). 15 Friedrich Kapp: Geschichte der Deutschen Einwanderung in Amerika. Bd. 1: Die Deutschen im Staate New=York bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1868, S. 253. 16 Ebd., S. 165. 144

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schen Wissens über Amerika, das sich in Spielhagens Roman manifestiert und das ich damit als amerikanistisch relevant betrachte. In seinem Spielhagen-Buch hat Jeffrey Sammons die Deutschen Pioniere als den »most immoderately nationalistic« unter den Romanen dieses Autors bezeichnet17 und ihn damit vor allem im deutschen Kontext verankert und ich kann sehr gut nachvollziehen, dass das Lob des Deutschtums, das auf das Gemüt des Lesers unserer Zeit teilweise bedrückend wirkt, genau diesen Eindruck vermittelt. Ich lese aber große Teile dieses Romans im Kontext amerikanischer Narrative als spezifische Erneuerung des deutschen Volks – als Ausbzw. Einwanderervolk – in Amerika und unter demokratischen Vorzeichen. Dies wird an einer Stelle explizit ausgesprochen: Ja, ja, es hatte drüben schlimm ausgesehen; und wenn es nun auch wohl ein gut Theil besser geworden, seitdem der große Preußenkönig, der alte Fritz, mit seinem Schwerte dazwischen gefahren und mit dem Krückstock wacker nachgeholfen – freier und schöner lebte es sich doch hier, wo man, wenn man es recht bedachte, eigentlich gar keinen Herrn hatte und der Pfarrer – waren just auch nicht alle so brav wie der Rosenkrantz18 – doch mit sich sprechen ließ, und man seines Lebens froh werden konnte, besonders jetzt, nachdem der Franze zu Kreuz gekrochen und der Krieg zu Ende!19

Gerade der Führer der Pfälzer, Herckheimer, befleißigt sich eines demokratischen Führungsstils. In der Mitte des Romans kommt es im Hause Herckheimers zu einer Versammlung einer großen Zahl von Pfälzern, in der sie beraten, wie gegen die Franzosen vorzugehen sei. Der Ruhm, den sich der spätere General im Unabhängigkeitskrieg 1777 erwerben sollte, ist in die bedächtigen Handlungen dieses Treffens im Jahr 1758 zurückprojiziert: Das ist, was ich zu sagen habe, schloß er: nun ist es an Euch, meine Vorschläge zu prüfen. Wir sind freie Männer und Jeder kann am Ende thun und lassen, was ihm gefällt, und seine Haut so oder so zu Markte tragen. Aber, daß wir frei sind, verbietet nicht, daß wir einig sind; im Gegentheil, nur dadurch, dass wir einig sind, werden wir unsere Freiheit bewahren und behaupten.20 17 Sammons: Spielhagen (s. Anm. 9), S. 135. 18 Rosenkrantz taucht mehrfach bei Kapp auf: »Christian Klock baute hier 1756 die erste deutsche Kirche, deren erster Pastor der später nach Herkimer berufene Rosenkrantz und dessen Nachfolger Johann Heinrich Disland war.« (Kapp [s. Anm. 15], S. 155f.) 19 Friedrich Spielhagen: Deutsche Pioniere, in: Sämmtliche Romane, Bd. 13/2, Leipzig 1901, S. 581. 20 Ebd., S. 497. 145

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Danach ergibt sich eine große und laute Diskussion, die nicht so sehr den Charakter einer deutschen Wirtshausrauferei trägt, obwohl auch das zu spüren ist, sondern auch eines amerikanischen townhall meetings, in dem verschiedene Parteien in einer Angelegenheit um die Vorherrschaft kämpfen: Die Rede des dicken Bauern war sehr confus gewesen, und zum Theil in dem Fett seines Unterkinns verloren gegangen; aber seine Anhänger, deren eine nicht kleine Zahl war, gaben nur umso lauter ihren Beifall durch Schreien und Johlen zu erkennen. Die Gegenpartei blieb ihnen die Antwort nicht schuldig; ein ungeheurer Tumult entstand, den selbst Nikolaus Herckheimer’s machtvolle Stimme nicht zu übertönen vermochte.21

Und auch wenn sich die Situation erst entspannt, als der alte Dittmar einen Ruf zur Einigkeit hören lässt, so hat man nichtsdestotrotz im Rahmen eines quasidemokratischen Prozesses zur Einheit gefunden. Der bekannte revolutionäre General wird unter Ausklammerung seines Status im amerikanischen Revolutionskrieg zur demokratischen Führergestalt in der regionalen Neuyorkisch-Pfälzer Öffentlichkeit. Diese Newyorker Pfälzer sind, das fällt aus amerikanistischer Sicht sofort ins Auge, Bewohner der frontier. Es sind Pioniere, »deutsche Pioniere«. Zwar ist das deutsche Wort »Pioniere« militärisch konnotiert; im amerikanischen Kontext jedoch ist es auch im deutschen Sprachgebrauch des 19. Jahrhundert eindeutig mit der frontier verbunden. Sie sind an der Grenze des englischen Kolonialreiches und führen ein relativ ungestörtes Leben – das allerdings immer mit Gefahren verbunden ist. Zwar halten die Pfälzer, wie im Roman an zwei Stellen eher nebenbei bemerkt wird, auch Sklaven, jedoch produziert die Frontier vor allem die selbstbewussten Menschen, die typischen starken Individuen, wie wir sie aus dem amerikanischen Frontierzusammenhang kennen: [W]elche unermeßliche Lebenskraft muß in dieser Rasse stecken, die nur ein Menschenalter braucht, um sich aus halbverhungerten, scheublickenden, Alles duldenden Sclaven in vollsaftige, breitschultrige, sich den Teufel um Andre scheerende Freimänner zu verwandeln!22

Man mag über den Diskurs der (deutschen) ›Rasse‹ und deren Kraft bestürzt sein; die Entwicklung vom »halbverhungerten« Europäer zum »vollsaftigen« Deutschamerikaner imitiert jedoch auch die klassische

21 Ebd., S. 499. 22 Ebd., S. 586. 146

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amerikanische Rhetorik des Wandels vom Europäer zum Amerikaner an der Frontier. Dem Frontierkontext entsprechen die zwei interessantesten Charaktere des Buchs, die ›Amazone‹ Base Ursel und der ›Indianer‹ Konrad Sternberg. Base Ursel ist eine Frontiersfrau, wie wir sie in der amerikanischen westlichen Literatur des gesamten 19. Jahrhunderts kennen, Charles Sealsfield inklusive. Sie weiß mit der Flinte umzugehen, ist enorm praktisch, weitgehend asexuell, dafür aber familienbetont und hat das Herz auf dem rechten Fleck. Die Variante dieser Figur in Spielhagens Roman erinnert sich allerdings an ihre Jugend, als sie den Männern die Köpfe verdrehte und weiß auch die integre Weiblichkeit von Katharina Weise sehr zu schätzen. Ihr kommt eine natürliche Führungsrolle zu und sie wird von der Gemeinschaft weitgehend akzeptiert. Konrad Sternberg, der Riese der Frontier, ist in der Jugend vor den Schlägen des Vaters zu den Oneida-Indianern geflüchtet, bei denen er lange Zeit gelebt und deren Sprache und Lebensart er teilweise angenommen hat. Zwar könnte man auch an Old Shatterhand denken; ich tippe jedoch auf den Typ Natty Bumppos, den Lederstrumpf der gleichnamigen Erzählungen von James Fenimore Cooper oder auf die vielen literarischen Versionen Daniel Boones:23 Der Schein des hellflammenden Kienspans und des lodernden Feuers fiel voll auf ihn, und das war ein Glück für Katherine, denn sie sah nun in demselben Moment, daß der riesengewaltige, in sonderbare, halb bäurische, halb indianische Tracht gekleidete Mann noch sehr jung war, mit einem trotz der tiefbraunen Sonnenfarbe schönen Gesicht, aus dem die großen verwunderten Augen herrlich glänzten. Und jetzt lehnte der junge Riese die Büchse, die er vorhin auf den Boden hatte gleiten lassen, an den Tisch, schlug die mächtigen Hände schallend zusammen, brach in ein überlautes Gelächter aus, warf sich in einen der Stühle, der trotz seiner derben Construction erkrachte, sprang dann wieder auf, trat dicht vor das Mädchen hin, die nun doch ein wenig zurückwich, fing abermals, aber weniger laut, an zu lachen, schwieg dann plötzlich, schüttelte die kurzen braunen Locken und sagte: Das hat der Lambert gut gemacht! Wo ist denn die Andere?24

Die politisch-historische Handlung des Romans ist eng mit der Dreiecksbeziehung Lambert/Konrad/Katharina verknüpft. Konrad verliebt sich unsterblich in Katharina; diese jedoch, obwohl sie hin und wieder durchaus vom Ungestüm des zehn Jahre jüngeren Bruders beeindruckt ist, scheint sich ihrer Gefühle zu ihrem Retter Lambert, einem Gentleman

23 Vgl. zu Boone und Cooper Grünzweig: Sealsfield (s. Anm. 1), S. 72-75. 24 Spielhagen (s. Anm. 19), S. 435. 147

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wie er im Buche steht, gewiss. Konrad flüchtet vor Eifersucht und Verzweiflung, vergisst jedoch nicht seine Loyalität für die Gruppe. Nachdem er seine Beziehungen zu den Ureinwohnern nutzte, um eine Koalition der Oneidas mit den Franzosen zu verhindern, stirbt er beim heroischen Kampf um das Sternbergsche Blockhaus, ermöglicht damit aber den Sieg der Deutschen gegen die Franzosen. Im germanistischen Kontext haben wir hier das im Roman auch explizit angesprochene Kain-Abel-Motiv, das im europäischen Rahmen die Uneinigkeit des deutschen Volkes andeuten mag. Im Kontext der amerikanischen Kultur haben wir in Konrad den western hero, der der Zvilisation zwar den Weg ebnen kann, aber zu wild ist, in sie eingegliedert zu werden. Er darf nicht Ehemann Katharines werden. In der zukünftigen ruhigen Bäuerlichkeit des Mohawk-Tals ist für diesen Mann kein Platz – außer eben als toter Held im kollektiven Gedächtnis seiner Bewohner, der sich für die entstehende zivilisatorische Gesellschaft aufgeopfert hat, wie zum Schluss deutlich wird.25 Konrads Heldentaten werden von Bänkelsängern sogar in den Straßen von New York City besungen: »A Story, a story, Unto you I will tell, Concerning a brave hero –«26

Merkwürdig nur, dass dieses Lied, das im Roman in englischer Sprache erscheint, wieder dekontextualisiert ist. Es handelt nämlich wieder von einer Begebenheit im Revolutionskrieg, zwanzig Jahre später, einem deutschen Helden namens Christian Schell aus Herkimer County, der von Indianern überfallen wird.27 Wieder vertauscht Spielhagen die historischen Situationen; wieder wird die »große« Politik des Revolutionskriegs in die kleinere des French and Indian War im Mohawk Valley versetzt. Das mag zwar dem deutschen Leser nicht aufgefallen sein (wohl aber vielleicht dem deutsch-amerikanischen), das Spiel verweist jedoch auf ein spezifisches Wissen um Zusammenhänge, deren Rekonstruktion 25 Bei Kapp erscheint übrigens ein Konrad mit Familiennamen Weiser, der zwar auch durch die Schule der Indianer geht und sich ihren Lebensgewohnheiten annähert, dann jedoch sehr wohl ein nützliches und ehrbares Mitglied der (deutschen) zivilisierten Gemeinschaft wird (vgl. Kapp [s. Anm. 15], S. 136ff.). 26 Spielhagen (s. Anm. 19), S. 587. 27 Vgl. dazu den im amerikanischen Revolutionskrieg spielenden historischen Roman von Robert W. Chambers: The Maid-at-Arms, New York 1902, S. 249. 148

DEUTSCHE LITERARISCHE AMERIKABILDER

Einsichten in die (historische) amerikanische Lebenswelt und deren Rezeption in Deutschland ermöglicht. Dieses beträchtliche Wissen über die amerikanischen Kolonien bzw. »Amerika«, das Friedrich Spielhagen in Deutsche Pioniere zusammen trägt, wird auf fiktionale Weise verdichtet. Wiewohl dieses Wissen heute nicht mehr vorhanden ist, ist es Teil des historischen deutschen Amerikabildes, das zwar ›vergessen‹ ist, dessen Wirkung wir allerdings, im Verbund mit anderen amerikanischen literarischen Diskursen der Zeit in Rechnung stellen müssen. 1870 ist die Zeit, in der sich die Beziehung der Vereinigten Staaten und Deutschland für mindestens 80 Jahre entscheidend verschlechtert. Der preußische Stiefel des deutschen Militarismus wird in den Vereinigten Staaten sehr negativ aufgenommen; gleichzeitig werden die USA zunehmend als Gefahr für die politische und wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands wahr genommen. In ihrer komplexen Doppeltheit können Texte wie Deutsche Pioniere als Ausdruck der fragilen Kommunikation zwischen den beiden Staaten, Völkern und Kulturen gewertet werden. Im Schlussdialog zwischen den Liebenden Katharina und Lambert wird darüber spekuliert, ob die Deutschen in den Vereinigten Staaten eine Führungsrolle übernehmen könnten, oder ob diese ihre neuen Fähigkeiten nicht lieber dem Vaterland zugute kommen lassen wollen: Und so, fuhr Lambert fort: ist mein Herz zwiefach getheilt. Wenn morgen der alte Freund kommt, werde ich mit ihm hinausgehen in die Wälder und ihm die Wege deuten, welche die Kommenden ziehen, die Stellen bezeichnen, auf denen sie ihre Hütten bauen müssen. Und ich selbst – ich möchte die Hütte abbrechen und Dich nehmen und die Kinder – […] Und er deutete gen Osten, wo in den heiligen Mutterarmen der dunklen Nach die Glorie des kommenden Tages schlummerte.28

Er ist »zwiefach getheilt« – eine innere Spaltung, die für viele Auswanderer typisch ist und wird vermutlich nicht nach Deutschland ziehen. Jeffrey Sammons weist in verschiedenen Beträgen zu deutschsprachigen Amerikabildern zu Recht darauf hin, dass in diesen Romanen keine Amerikaner vorkommen. Aber sind die Deutschamerikaner zweiter und dritter Generation keine Amerikaner? Konnte man in weiten Teilen der Vereinigten Staaten nicht tatsächlich einsprachig – deutsch – aufwachsen und sterben? Lässt sich dieses Amerikanertum nicht vielleicht über das Sprachliche hinaus als Handlungsmuster einer Gruppe und als Ausdruck der – auch amerikanischen – Narrative, die eine Gruppe von sich erzählt, beschreiben? Hat Spielhagen hier vielleicht – wie Sealsfield – den Deut28 Spielhagen (s. Anm. 19), S. 592. 149

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schen hüben und drüben amerikanische Narrative von Unabhängigkeit zur Verfügung gestellt? Die spezifische amerikanistische Relevanz einzelner deutscher Amerikaromane bzw. Amerikabilder mag je verschieden sein, der amerikanistische Ansatz jedoch ist derselbe, nämlich diese amerikanischen Inhalte, Narrative und Bilder ernst zu nehmen und nicht bloß als Produkte spintisierender deutscher Fantasie abzutun. Wie ich anhand der Deutschen Pioniere zu zeigen versucht habe, enthalten gerade Texte, die in historischer Distanz zur Gegenwart stehen, Wissen über Amerika, das der heutige Rezipient rekonstruieren muss. Damit wird auch die Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland – bzw. Europa – rekonstruiert und in einen historischen Kontext gestellt und gerade darin besteht ihre Relevanz.

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II. A MERIKA IM K ANON

DIE DARSTELLUNG AMERIKAS UNBESEHEN: VERGLEICHENDE BETRACHTUNGEN ZU SPIELHAGEN, RAABE UND FONTANE1 JEFFREY L. SAMMONS Bis zum letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts können deutsche literarische Texte über Amerika in zwei Kategorien eingeteilt werden: in Werke von Autoren, die nie da gewesen sind, wie etwa den Phantasiebildern des späten achtzehnten Jahrhunderts2 oder den Tendenzschriften Ferdinand Kürnbergers und Gustav Freytags,3 und in solche von Autoren wie Charles Sealsfield und Friedrich Gerstäcker,4 die Amerika bereist haben. Allmählich aber ermöglicht die größtenteils von den brennenden Fragen der Auswanderung getriebene Flut von Publikationen über Amerika die Aneignung von weniger phantastischen Kenntnissen, ohne die Heimat verlassen zu müssen.5 Allerdings bedeuten die wachsenden Erwartungen an Autoren hinsichtlich Genauigkeit und Glaubwürdigkeit 1

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Adaptiert ist dieser Aufsatz von einem in Irland gehaltenen Vortrag: Jeffrey L. Sammons: Representing America Sight Unseen: Comparative Observations on Spielhagen, Raabe und Fontane, in: Wilhelm Raabe in International Perspective – International Themes in Wilhelm Raabe, hg. v. Dirk Göttsche u. Florian Krobb, Oxford 2008 (im Erscheinen). Siehe Wynfried Kriegleder: Vorwärts in die Vergangenheit. Das Bild der USA im deutschsprachigen Roman von 1766 bis 1855, Tübingen 1999. Siehe Jeffrey L. Sammons: Ideology, Mimesis, Fantasy. Charles Sealsfield, Friedrich Gerstäcker, Karl May and Other German Novelists of America, Chapel Hill 1998, S. 208-219; Sammons: Die Amerikaner als Juden: Kontextualisierte Beobachtungen zur Amerika-Episode in Gustav Freytags Soll und Haben, in: 150 Jahre Soll und Haben. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman, hg. v. Florian Krobb, Würzburg 2005, S. 255-268. Siehe Sammons: Ideology, Mimesis, Fantasy (s. Anm. 3). Eine ähnliche Beobachtung über Afrika und andere koloniale Länder, die durch das Kolonial- und Abenteuerschriftum vertrauter geworden waren, ist neulich gemacht worden: Dirk Göttsche: Der koloniale »Zusammenhang der Dinge« in der deutschen Provinz. Wilhelm Raabe in postkolonialer Sicht, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2005, S. 53-71, hier S. 61. 153

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nicht, dass die Darstellungen frei von einheimischen Perspektiven und Sorgen sind. Dass die Motivation der Darstellung weiterhin über die Eigentümlichkeit des einzelnen Schriftstellers hinausgeht, lässt sich anhand von drei recht unterschiedlichen Schriftstellern zeigen: Friedrich Spielhagen, Wilhelm Raabe und Theodor Fontane.

I Spielhagen, dem Sealsfield und Gerstäcker nicht unbekannt waren, hatte viele amerikanische Interessen und Beziehungen.6 Seine ersten Buchpublikationen waren Übersetzungen von einem amerikanischen Reisebild über Ägypten 1856, Emersons English Traits 1857 und amerikanischen Gedichten 1859.7 Seine wohl letzte Publikation war ein »Gruß« zum 75. Jubiläum der New Yorker Staats-Zeitung, in dem er sein Bedauern aussprach, die Vereinigten Staaten nie besucht zu haben.8 Er übersetzte und förderte zwei heute vergessene, in ihrer Zeit aber noch gelesene Schriftsteller: den Norwegisch-Amerikaner Hjalmar Hjorth Boyesen und eine großbürgerliche Romanschriftstellerin, die unter dem Namen Julien Gordon schrieb.9 Spielhagens Texte enthalten viele Anspielungen auf die USA und amerikanische oder angeblich amerikanische Figuren. In Was will das werden? (1887) tritt eine namenlose Gestalt auf, die mit Sicherheit Bayard Taylor, den Übersetzer von Goethes Faust und amerikanischen Gesandten in Berlin vom Mai 1878 bis zu seinem Tod im Dezember desselben Jahres, darstellen soll. Ich vermute, dass Spielhagen persönlich mit ihm bekannt war. Es ist eine logische Folge von Spielhagens fanatisch mimetischer Erzähltheorie, dass die Gattung des historischen Romans abgelehnt wird, denn den Menschen der Vergangenheit »sind doch ihre Dichter im Leben

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Siehe Jeffrey L. Sammons: Friedrich Spielhagen: Novelist of Germany’s False Dawn, Tübingen 2004, S. 122-135. George William Curtis: Nil-Skizzen eines Howadji; oder der Amerikaner in Aegypten, Hannover 1856; Ralph Waldo Emerson: Englische Charakteristiken, Hannover 1857; Spielhagen: Amerikanische Gedichte, Leipzig 1859. Friedrich Spielhagen’s Gruß an die »New Yorker Staats-Zeitung«, in: New Yorker Staats-Zeitung, Sonntagsbeilage, 24. April 1910, S. 3. Sammons: Friedrich Spielhagen (s. Anm. 6), S. 126-128. Der bürgerliche Name von Julien Gordon war Julie Grinnell Storrow, später verheiratete Wade (†1920). 154

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nicht begegnet«.10 Nur wurde seine Praxis nicht immer von seiner Theorie beherrscht, und so kommt es, dass er zwei historische Romane geschrieben hat, Deutsche Pioniere (1871), der auf dem amerikanischen Schauplatz des Siebenjährigen Kriegs, dem ›French and Indian War‹ im Jahre 1758 stattfindet, und Noblesse oblige (1888), der in Hamburg zur Zeit der napoleonischen Besatzung spielt. Es gibt für Deutsche Pioniere nur eine einzige in Betracht kommende Quelle, den ersten und einzigen Band von Friedrich Kapps Geschichte der deutschen Einwanderung in Amerika,11 ein Werk, das die Perspektive des Romans deutlich beeinflusst hat. Erzählt wird eine konventionelle Liebesgeschichte: Lambert Sternberg, ein deutscher Bauer in der Nähe von Oswego im Staate New York, stößt bei einem Besuch in der Stadt auf eine schöne Redemptionistin, Katharine Weise, deren Vater auf der Schiffsreise gestorben ist, kauft ihren Dienstvertrag und gewinnt schließlich ihre Liebe, nicht ohne vorher die Eifersucht seines ebenfalls in sie verliebten Bruders Konrad überwinden zu müssen.12 Konrad ist ein Riese, der mit den Indianern im Wald lebt; eigentlich ist er als Deutscher ein besserer Indianer als die Indianer selbst, also ein Vorfahr von Karl Mays Old Shatterhand.13 Dieser Handlungsstrang ist für den Kontext des Sammelbands weniger wichtig als der des Kriegs zwischen den Franzosen und ihrer indianischen Verbündeten und den Deutschen. Letztere sind tapfer und stark, es fehlt ihnen aber an Einheit und Initiative. Zur Zusammenarbeit angetrieben werden sie von einem Hauptmann der Miliz namens Herckheimer, der in der amerikanischen Geschichte als Nicholas Herkimer bekannt und als General im Unabhängigkeitskrieg 1777 den Heldentod auf dem Schlachtfeld von Oriskany fand. Dieser Handlungsstrang erreicht seinen

10 Friedrich Spielhagen: Gestalten des Dichters, in: Am Wege. Vermischte Schriften, Leipzig 1903, S. 93-111, hier S. 105. 11 Friedrich Kapp: Geschichte der deutschen Einwanderung in Amerika, Bd. 1: Die Deutschen im Staate New York bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1868. 12 Walter Grünzweig hat mich freundlicherweise darauf aufmerksam gemacht, dass die Namen »Sternberg« und »Lambert« bei Kapp erscheinen, aber auf zwei verschiedene Personen verteilt sind (siehe ebd., S. 309). Zu ergänzen wäre, dass ein Dienstmädchen Katharina Weisenberg »als eine der größten Schönheiten im Thal« gilt; sie wird von Sir William Johnson unter Drohungen losgekauft und zur Frau genommen (ebd., S. 297). 13 Bei Kapp läuft ein Konrad (Weiser) »eben so schnell und schoß eben so gut wie ein Indianer [...]. Durch diese seine genaue Kenntniß des Charakters, der Sprache und Anschauungen der Indianer war Konrad Weiser fortan einer der unentbehrlichsten Männer der deutschen Niederlassungen« (ebd. S. 137f.). 155

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Höhepunkt in der heroischen Verteidigung eines von Deutschen besetzten Blockhauses, die wohl nicht zufällig an eine ähnliche Szene in Sealsfields Nathan der Squatter-Regulator erinnert.14 Der Konflikt, der in Spielhagens Roman zwischen den anständigen, friedliebenden Deutschen und den gewalttätigen, wenn auch feigen Franzosen, ausgefochten wird, spielt sich nur nebenher in Nordamerika ab. Ein patriarchalischer Greis erbittert sich immer noch über die marodierenden französischen »Henker und Mordbrenner«15 die seine Familie 1689 in Heidelberg ermordeten und ihr Haus verbrannten. Jetzt werden Deutsche, die vor französischer Aggression aus der Heimat geflohen sind, in Amerika erneut von den Franzosen bedrängt (siehe DP, S. 455). In Amerika aber, so Spielhagen, haben sich die zunächst bleichen, mageren Einwanderer in hochgewachsene, kräftige Männer verwandelt, die imstande sind, sich zu verteidigen, aber nur, wenn sie zusammenhalten (siehe DP, S. 489). Begreiflicherweise verlegt Spielhagens Tochter das Erscheinungsjahr des Romans aus dem Jahr 1870 in das Jahr 1871, da sie ihn als einen Reflex auf den Deutsch-Französischen Krieg verstanden hat.16 Auch wenn er zumindest teilweise vor dem Ausbruch des Krieges im Juni 1870 fertiggestellt worden sein muss, spiegelt er mit seiner antifranzösischen Gesinnung und Sehnsucht nach kleindeutscher Vereinigung deutlich die Leidenschaften wider, die den Krieg und dessen Nachwirkungen antizipierten. Auch in dieser Hinsicht scheint der Roman weitgehend unter dem Einfluss von Kapp entstanden zu sein, der im Jahre 1870 aus seinem zwanzigjährigen amerikanischen Exil mit einer betont nationalistischen Gesinnung zurückgekehrt ist.17 Dieser klagt ebenfalls darüber, dass der French and Indian War eine Neuauflage der französischen Gräueltaten in Deutschland

14 Siehe Jeffrey L. Sammons: Die Verteidigung des Blockhauses dreiunddreißig Jahre später: Streiflichter auf Friedrich Spielhagens Deutsche Pioniere, in Charles Sealsfield. Lehrjahre eines Romanciers 1808-1829. Vom spätjosephinischen Prag ins demokratische Amerika, hg. v. Alexander Ritter, Wien 2007, S. 183-192. 15 Friedrich Spielhagen: Deutsche Pioniere, in: Ausgewählte Romane 2. Serie, Bd. 4, Leipzig 1889-1893, S. 449f., 513. Die Angabe der Sigle DP und der Seitenzahl erfolgt ohne Angabe von Fußnoten unmittelbar im Anschluss an das Zitat. 16 Antonie Spielhagen: Zum 80. Geburtstag Friedrich Spielhagens, in: Die Gartenlaube 1909, S. 166-169, hier S. 167. 17 Siehe die von Julius Rodenberg beschriebene literarisch-politische Entourage: Briefe von Eduard Lasker. Nebst persönlichen Erinnerungen, in: Deutsche Rundschau 38 (1884), S. 443-459, hier S. 444. 156

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gewesen sei und stellt fest, dass sich die Deutschen erst in der amerikanischen Wildnis zu ihrem wahren, kräftigen Wesen entwickelt hätten.18 Seit einigen Jahren bemühe ich mich um eine Aufwertung von Spielhagens schriftstellerischen Leistungen. Deutsche Pioniere allerdings ist aufgrund eines zeitweisen Nationalchauvinismus sein schwächster Roman. Zweifellos investierte Spielhagen patriotische Hoffnungen in die Vereinigung von 1871, die Realität des wilhelminischen Reiches sollte aber bald seinen Enthusiasmus dämpfen. Diese Ernüchterung macht sich schon in seinem nächsten Roman, Allzeit voran (1872), bemerkbar. Es ist aber interessant, dass das Thema der Ertüchtigung des Deutschen in Amerika nur einige Jahre später von Wilhelm Raabe in Alte Nester (Buchpublikation 1879) aufgegriffen wurde, interessant auch deshalb, weil Raabe Spielhagen mit deutlicher Antipathie betrachtete.19 HansJürgen Schrader hat die These aufgestellt, dass die Erzählstrategien von Alte Nester Raabes Ablehnung der theoretischen Forderungen Spielhagens veranschaulichen.20

II Wie Spielhagen hatte Raabe wesentliche, wenn auch weniger intensive amerikanische Interessen. Amerikanische Ereignisse tauchen ab und zu in seinem Tagebuch auf. In späteren Jahren hatte er amerikanische Briefpartner und gelegentlichen Besuch, darunter von einem Fakultätsmitglied der Yale-Universität, den ich als Student gekannt habe.21 Etwas rätselhaft

18 Kapp: Geschichte der deutschen Einwanderung (s. Anm. 11), S. 162, 231. 19 Siehe Jeffrey L. Sammons: Wilhelm Raabe und Friedrich Spielhagen. Eine kontrafaktische Spekulation, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2003, S. 44-56; Sammons: Friedrich Spielhagen (s. Anm. 6), S. 305-317. 20 Hans-Jürgen Schrader: Gedichtete Dichtungstheorie im Werk Raabes. Exemplifiziert an »Alte Nester«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1989, S. 1-27. Es könnte nebenbei bemerkt werden, dass Spielhagen dreizehn Jahre später das Motiv, mit dem Alte Nester anhebt, den Mord am Förster, dem Vater des Erzählers, durch Schmuggler, wiederholt. Ob es nur Zufall ist, dass das Motiv in Fontanes Quitt wiederkehrt, weiß ich nicht. Das Motiv jedenfalls geht bis ins 18. Jahrhundert zurück (siehe Hugh Ridley: ›Relations Stop Nowhere.‹ The Common Literary Foundations of German and American Literature 1830-1917, Amsterdam, New York 2007, S. 209, Anm. 15). 21 Raabe: Tagebuch, 18. August 1908. Hinweise auf das Tagebuch beziehen sich auf die Handschrift im Raabe-Archiv des Braunschweiger Stadtarchivs. Siehe Jeffrey L. Sammons: Professor Pfarr aus Yale. Ein Rätsel in 157

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ist die Publikation von Wunnigel im Jahre 1878 in der New Yorker Musikzeitung, da diese fast ausschließlich musikalischen Berichten und Ereignissen gewidmet ist, mit denen Wunnigel nichts zu tun hat.22 Anspielungen auf Amerika kommen in Raabes Erzähltexten so häufig vor, dass sie hier nur an zwei ausgewählten Beispielen behandelt werden können.23 Das für unseren Zusammenhang relevanteste frühe Werk ist Die Leute aus dem Walde (1862f.), in dem das Motiv des durch amerikanische Erfahrungen erstarkten Deutschen schon angedeutet wird. Von Friedrich Wolf, der als »Friedrich Warner« aus den USA nach Deutschland zurückkehrt, heißt es: »Ein prachtvoller Menschentypus, dieser junge Amerikaner [...]. Man fühlt sich dabei in seiner Rasse noch für einige Zeit gesichert; ’s ist ein Trost für einen Arzt heutiger Epoche.«24 Für problematisch allerdings halte ich, dass Raabe Robert, den jüngeren Bruder Friedrich Wolfs, durch einen Goldfund in Kalifornien reich werden lässt. Aus dem fünf Jahre früher erschienenen Roman Gold! von Friedrich Gerstäcker hätte Raabe entnehmen können, dass Schwerstarbeit und großes Glück dazu gehören, um gerade mal das zur Deckung der Unkosten notwendige Gold zu finden; und falls doch ein kleiner Gewinn übrig bleibt, wird der einem von Spielern und Gaunern abgeknöpft. 1859, kurze Zeit nach der Publikation von Gold!, hat Raabe Gerstäcker in Dresden aufgesucht und später, um 1870, mit ihm in einem Braunschweiger Klub verkehrt.25 Raabe soll in seiner Schilderung des Goldrausches »die Probe ei-

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Raabes Tagebuch, in: Mitteilungen der Raabe-Gesellschaft 71 (1984), S. 17f. Jeffrey L. Sammons: Wunnigel in der »New Yorker Musikzeitung«, in: Mitteilungen der Raabe-Gesellschaft 71 (1984), S. 12. Vielleicht hat es eine bisher unbekannte Verbindung mit dem Herausgeber, dem aus preußischen Polen stammenden Leopold Damrosch, gegeben. Siehe den Nachruf auf Dr. Leopold Damrosch von Udo Brachvogel, in: Gartenlaube 31 (1885), S. 218. Damrosch, der als Dirigent die Metropolitan Opera mit einem ausschließlich deutschen Repertoire gerettet hat, wurde vom selben Gesangverein, Arion, nach New York eingeladen, der später den HeineBrunnen nach New York bringen sollte. Eine gründliche Untersuchung findet sich in: Geoffrey Patrick Guyton Butler: England and America in the Writings of Wilhelm Raabe: A Critical Study of his Knowledge and Appreciation of Language, Literature and People, Diss. phil. London 1961. Siehe Wilhelm Raabe: Die Leute aus dem Walde, in: Sämtliche Werke, hg. v. Kurt Schreinert, Bd. 5, Göttingen 1962, S. 72. Raabe an Auguste Raabe, 18-19 April 1859, in: Wilhelm Raabe: Briefe 1842-1870, hg. v. William Webster, Berlin 2004, S. 90; Tagebuch, 30. Oktober 1870. Mir scheint, die Beschreibung vom pikaresken Leben Friedrich Wolfs greift teilweise auf das Leben Friedrich Gerstäckers zurück. Siehe 158

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nes wahren Dichters gesehen [haben], der auch das Nichtgeschaute und Nichterlebte lebensecht darzustellen imstande sei«.26 Wie dem auch sei, Die Leute aus dem Walde bekunden diese Fähigkeit nicht so überzeugend, wie er gemeint hat, und er wagt eine solche Darstellung selten in seinen reiferen Werken: Diese spielen hauptsächlich in Landschaften, die er gekannt und erlebt hat. Obwohl in Alte Nester sowohl Just Everstein als auch Ewald Sixtus lange im Ausland leben, dieser in Amerika, jener in Irland, werden nicht viele Details darüber berichtet. Der Ich-Erzähler Fritz Langreuter behauptet, Just habe ihm alles über seine amerikanischen Jahre erzählt, aber, obwohl Just etwas von der Raabeschen Redseligkeit an sich hat, erfahren wir nur, dass er in eine deutsche Gemeinde in Wisconsin, NeuMinden, gezogen und dort letztendlich ein so wohlhabender Farmer geworden ist, dass er seinen verloren gegangenen Besitz in Deutschland wieder erwerben konnte, und dass er in Neu-Minden, wo er auch als Schulmeister tätig war, wegen seiner Bildung geschätzt wurde. Wieland Zirbs macht Langreuter für diese Detailarmut verantwortlich, da dieser monologisiere und nur so tue, als ob er Just ermuntere, von seiner Zeit in den USA zu berichten.27 Mir scheint es aber wahrscheinlicher, dass Raabe sich unsicher in der ihm fremden Umgebung fühlte. Wenn der Erzähler Just sagen lässt, »von allem was man drüben am besten gebrauchen kann, [ist] ein lateinischer Bauer das allerbeste«,28 könnte man wieder einmal denken, Raabe habe seinen Freund Gerstäcker nicht beachtet, dem der lateinische Bauer wegen seiner unnützen Bildung und seinem Beharren darauf, deutsche Vorstellungen amerikanischen Zuständen aufzuzwingen, eine Witzfigur ist, besonders in Nach Amerika! (1855), ein Roman, den Raabe wohl gelesen hat, da er in einem Brief an seine Mut-

Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 104. Möglicherweise hat Fontane Gerstäcker etwas gründlicher gelesen, da er Lehnert Menz in Quitt ein kleines Vermögen in den Goldbergwerken verdienen und beim Konkurs einer Bank verlieren, sich dann in verschiedenen Stellen erholen lässt, was die Flexibilität in der Berufswahl illustriert, die Gerstäcker stets als Voraussetzung vom Erfolg in Amerika betont hat. 26 Wilhelm Raabe: Die Leute aus dem Walde (s. Anm 24), S. 436. 27 Wieland Zirbs: Strukturen des Erzählens. Studien zum Spätwerk Wilhelm Raabes, Frankfurt/M., Bern, New York 1986, S. 212. 28 Wilhelm Raabe: Alte Nester. Zwei Bücher Lebensgeschichten, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. von Karl Hoppe, Bd. 14, Göttingen 1967, S. 99. Die Angabe der Sigle AN und der Seitenzahl erfolgt ohne Angabe von Fußnoten unmittelbar im Anschluss an das Zitat. 159

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ter darauf anspielt.29 Wenigstens lernt Just, amerikanische landwirtschaftliche Geräte zu benutzen, was Gerstäcker für notwendig hielt (siehe AN, S. 100); und offensichtlich ist auch, dass er sich durch seine Migration nicht nur in den Augen anderer, sondern auch im eigenen Selbstverständnis zu seinem Vorteil verändert hat. Vor seiner Migration, mit fünfundzwanzig Jahren, war er, Langreuter zufolge, »langsam und langbeinig, unbeholfen, fett und äußerlich vertiert« (AN, S. 73). Sein eigenes Urteil lautete: »Ein blöderer Hanstoffel als ich ist wohl selten aus seinem Traumwinkel und von der Ofenbank an die freie Luft hinausbefördert worden« (AN, S. 93). Doch erwies er sich zugleich als aufrichtig und offen wie die Menschen in Amerika, die »in jedem Momente ganz genau wissen, was sie sagen und was sie fragen« (AN, S. 88). Dieser Offenheit, aber auch der harten Arbeit und den zum Teil schlimmen Erfahrungen in den USA ist es zu verdanken, dass Everstein als »ein fester, wirklicher und wahrhaftiger Mann« (AN, S. 104) ins Vaterland zurückgekehrt. Just fragt sich: »[W]ie lange müssen wir noch selbst dem Unteroffizier dankbar sein, der uns zum Geradestehen animiert und uns das Kinn mit der Faust in die Höhe stößt, um uns auf das stolze Blau über uns aufmerksam zu machen?« (AN, S. 100). Die Forschung hat sich bislang weniger auf Just als vielmehr auf Langreuter konzentriert. Als Zuhörer und Erzähler erinnert er an Eduard in Stopfkuchen. Er ist nicht so schwerhörig wie dieser, der imstande zu sein scheint, das, was ihm erzählt wird, aufzuzeichnen, ohne es zu erfassen.30 Aber ebenso wie Eduard ist auch Langreuter um sein intaktes Selbst und seine Selbstachtung besorgt, und zu diesem Zweck versucht er, sein dem Leser immer durchsichtigeren verkrampften und depressiven Zustand zu verbergen, indem er Zufriedenheit vortäuscht. Seine sentimentalen Äußerungen über die gute alte Zeit lassen immer deutlicher werden, wie verloren er in der Gegenwart ist. Dem missgebildeten Körper, auf den er die Verantwortung für sein Schicksal zu schieben versucht, entspricht sein innerer Zustand. »Ich lache viel weniger als damals aus eigenem Antrieb,« bekennt er, »und noch viel seltener lache ich mit« (AN, S. 62). Er bleibt kontaktarm. Im Unterschied zu Just, der kurze Zeit, nachdem er aus den USA zurückgekehrt ist, vieles über die Kindheitsfreunde in Erfahrung gebracht hat, wusste und weiß Fritz Langreuter kaum etwas von ihnen, weder, dass Irene Everstein ebenfalls in Berlin 29 Raabe an Auguste Raabe, 25. April 1859, in: Raabe: Briefe (s. Anm. 25), S. 92. 30 Eckhardt Meyer-Krentler hat bemerkt, dass Langreuter sich klarer als Eduard seiner erzählerischen Inkompetenz bewusst ist (Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur, München 1984, S. 265). 160

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wohnt, noch, dass Eva Sixtus ihn tatsächlich einmal gemocht hat. Ihr Bruder Ewald bemerkt spöttisch: »Du bist aus Bequemlichkeit zu Hause nicht mein Schwager geworden« (AN, S. 207). Jetzt nimmt sie der lebenstüchtigere Just zur Frau. Justs Erzählung von seiner Verwandlung in Amerika erfreut den Ich-Erzähler nur scheinbar, in Wirklichkeit deprimiert sie ihn. Als Just ihm sagt, »du bist der einzige von uns, der es zu etwas gebracht hat,« wobei er auf Langreuters Doktortitel anspielt, versteht dieser das Lob als Hohn: »sie durften mir alle in der wohlmeinendsten Weise ungestraft Sottisen meiner Brauchbarkeit wegen sagen« (AN, S. 218). Langreuter, so meine These, verkörpert den Typus des von der eigenen Umgebung eingeengten Deutschen, der im Unterschied zu Just in Amerika oder auch Ewald in Irland keinen Reifungsprozess durchlaufen hat. Der »Traumwinkel« und die »Ofenbank« der jugendlichen Umgebung sind traditionelle Requisiten des provinziellen und schläfrigen deutschen Michel. Langreuter ist mit seinem »lebensfremden Historismus« als »Prototyp des bürgerlichen Intellektuellen […], des Gebildeten par excellence« bezeichnet worden.31 In seinem eminent deutschen Beruf der Altphilologie ist er als Schullehrer gescheitert und seine Gelehrsamkeit hat er trotz des preisgekrönten Aufsatzes, den sich Just aus der New Yorker Staatszeitung notiert hat, zu banalen Zwecken eingesetzt. Seine Identifizierung mit dem unentschlossenen, unkonzentrierten, Energien und Leidenschaften verzettelnden Hamlet, z.B.: »mein Studium in Wittenberg« (AN, S. 218), verweist auf Ferdinand Freiligraths Gedicht »Deutschland ist Hamlet« aus dem Jahre 1844.32 Langreuter geniert sich über seine »viel beschäftigte[ ], selbstgenügsame[ ] Indolenz« (AN, S. 92). Redlich im Lande zu bleiben ist gleichsam Entfremdung: »Wer diese langen Jahre hindurch abwesend gewesen war, das war nicht der Vetter Just Everstein, sondern ich – ich, der ich so hübsch ordentlich zu Hause geblieben war!« (AN, S. 111). In dieser Hinsicht kann daran gezweifelt werden, ob Langreuters Aphorismus, »Mein Luftschloss ist mein Haus!«, oft als Position Raabes verstanden, tatsächlich affirmativ gemeint ist, besonders da er als eine »mit der Angst der Verzweiflung im Herzen festgehaltene Überzeugung« bezeichnet wird (AN, S. 148).

31 Monica Weber Clyde: Der Bildungsgedanke bei Wilhelm Raabe, Berkeley 1968, S. 69. 32 Ferdinand Freiligrath: Sämtliche Werke in zehn Bänden, hg. v. Ludwig Schröder, Bd. 5, Leipzig [1907], S. 77-79. 161

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III Die zeitgenössische Relevanz des Motivs vom Deutschen in Amerika zeigt sich darin, dass es auch in Quitt von Theodor Fontane (Buchpublikation 1891) aktualisiert wird, obwohl der Autor an diesem Land jenseits des Atlantik weniger interessiert war als Spielhagen und Raabe.33 Manchmal scheint er Amerika und besonders die Auswanderung dorthin mit Skepsis betrachtet zu haben. Ein Zeichen seines nicht so großen Interesses ist der intertextuelle Verweis auf James Fenimore Cooper; bei seinem Tod ist Lehnert Menz »von den Requisiten einer idyllisch Cooperschen Welt: Jagdtasche, Jagdmesser, Gewehr und Hund, der Uncas heißt!« umgeben.34 Ziemlich spät zitiert Fontane einen Autor, der bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von Sealsfield und Gerstäcker, als Vorbild aufgegeben worden war.35 Lehnert wird von einem mythisch gewordenen Amerika angezogen: »er […] las von Urwald und Prairie, von großen Seen und Einsamkeit«; mit feinem Humor lässt Fontane ihn sich nach »den Heiligen am Salzsee« sehnen, »da hätte jeder sieben Frauen«.36 Aktueller sind die Bezüge auf Bret Harte, der zwei Jahre lang in Deutschland als amerikanischer Konsul in Krefeld wohnte, und zwar seit 1878, dem Jahr, in dem Bayard Taylor Gesandter war; Harte widmete ihm einen Nachruf im Berliner Tageblatt.37 Schon vorher wurde Harte viel gelesen; im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts war er der populärste amerikanische Schriftsteller in Deutschland.38 1874 las Fontane eine Reihe von Hartes Novellen in deutscher Übersetzung; aus den Notizen,

33 Manfred E. Keune: Das Amerikabild in Fontanes Romanwerk, in: Deutschlands literarisches Amerikabild. Neuere Forschungen zur Amerikarezeption der deutschen Literatur, hg. v. Alexander Ritter, Hildesheim, New York 1977, S. 338-363. 34 Ebd., S. 351. Bei Fontane wird der Hund als »Unkas« geschrieben. Für andere Anspielungen auf Cooper, siehe ebd., S. 352f. 35 Sammons: Ideology, Mimesis, Fantasy (s. Anm. 3), S. 16, 130, 149, 166. 36 Theodor Fontane: Quitt, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Edgar Gross, Kurt Schreinert, Rainer Bachmann, Charlotte Jolles, Jutta NeuendorffFürstenau u. Peter Bramböck, Bd. 6, München 1959, S. 36, 61. Die Angabe der Sigle Q und der Seitenzahl erfolgt ohne Angabe von Fußnoten unmittelbar im Anschluss an das Zitat. 37 27. Dezember 1878. Siehe Gary Scharnhorst: Bret Harte, New York 1992, S. 72; Scharnhorst: Bret Harte: Opening the American Literary West, Norman (Oklahoma) 2000, S. 148. 38 Siehe Eugene F. Timpe: Bret Harte’s German Public, in: Jahrbuch für Amerikastudien 10 (1965), S. 215-220, und Ward B. Lewis: Bret Harte and Germany, in: Revue de Littérature Comparée 54 (1980), S. 212-224. 162

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die er währenddessen anfertigte und die eher skeptisch waren, ist nie ein Aufsatz entstanden, aber einige kritische Aspekte finden sich in der Charakterisierung Lehnerts in Quitt wieder.39 Wahrscheinlich kannte Fontane Hartes weit bekannten Aufsatz über die Goldbergwerke in Kalifornien, The Argonaut of ’49, der 1880 für die Deutsche Rundschau übersetzt wurde,40 sonst aber finde ich keine Anzeichen dafür, dass Hartes Schriften Fontane merklich beeinflusst hatten, obwohl die Frage nicht untersucht worden zu sein scheint. Peter Demetz, der Quitt nicht schätzt, behauptet, der Roman sei »zu einem Viertel aus Bret Harte […] hergeleitet«, liefert aber keine Details.41 Quitt ist von der Fontane-Foschung oft als zweitrangiges Werk behandelt worden, es fand aber auch seine Verteidiger.42 Zwei Auffälligkeiten wurden von den Kritikern ebenso wie von den Befürwortern des Romans vernachlässigt. Zum einen die zweiteilige Struktur von Quitt. Paul

39 Henry H. H. Remak. Der Weg zur Weltliteratur: Fontanes Bret-HarteEntwurf, in: Fontane Blätter Sonderheft 6 (1980), S. 5-60. 40 Bret Harte: Aus Kaliforniens frühen Tagen, in: Deutsche Rundschau 25 (November 1880), S. 268-286. Englisches Original in Harte: The Luck of Roaring Camp and Other Writings, hg. v. Gary Scharnhorst, Harmondsworth 2001, S. 229-249. Aus einer editorischen Notiz zur deutschen Version – »Obige Skizze des berühmten amerikanischen Autors ist bisher in englischer Sprache nicht erschienen und vorläufig nur zur Publikation in der ›Deutschen Rundschau‹ bestimmt« (S. 261) – hat man entnommen, dass die deutsche Publikation die erste gewesen sei, aber es ist neulich ermittelt worden, dass das englische Original früher im Jahr 1880 als Einleitung zu den gesammelten Werken in London erschienen war (Scharnhorst: Bret Harte: Opening the American Literary West, S. 160). 41 Peter Demetz: Formen des Realismus: Theodor Fontane. Kritische Untersuchungen, München 1964, S. 107. Die übrigen Dreiviertel werden Paul Lindau zugeschrieben. Remaks etwas wortreicher Aufsatz betont Fontanes übernationale Interessen und seine sich entwickelnden Prinzipien des Realismus, die er im Urteil über Harte exemplifiziert. Keine inhaltlichen Entsprechungen zu Quitt werden angedeutet, was angesichts der flüchtigen Darstellung der kalifornischen Szene nicht überrascht. 42 Z.B. Hans-Heinrich Reuter: Kriminalgeschichte, humanistische Utopie und Lehrstück. Theodor Fontane, »Quitt«, in: Sinn und Form 23 (1971), S. 1371-1376; Christian Grawe: Quitt. Lehnert Menz zwischen Todesverfallenheit und Auferstehung: Zur Bildwelt des Romans, in: Fontanes Novellen und Romane, hg. v. Grawe, Stuttgart 1991, S. 157-184; Sylvain Guarda: Theodor Fontanes »Neben«-werke. Grete Minde, Ellernklipp, Unterm Birnbaum, Quitt: ritualisierter Raubmord im Spiegelkreuz, Würzburg 2004, S. 65-99. 163

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Heyse hat sie zwar als »gegen alle Regeln« kritisiert,43 doch ist sie von anderen Amerikaschriftstellern angewendet worden, besonders von Balduin Möllhausen, für den Fontane sich 1882 zu einem Vorwort gezwungen hat, obwohl er die Erzählungen seiner Frau gegenüber nicht ungerecht als »Mittelgutsblech« charakterisierte.44 Also hätte Sylvain Guarda vielleicht nicht so kategorisch feststellen sollen, »daß der Dachstubenpoet Fontane nicht geneigt war, nur um der Gunst breiterer Leserschichten willen in die zeitgenössischen belletristischen Amerika-Schablonen einzustimmen«.45 Guardas Behauptung, Fontanes »Amerika-Bild […] ähnelt in mancher Hinsicht mehr der Amerika-Vorstellung der Aufklärer«,46 bindet es zu eng an die Phantasiebilder des späten 18. Jahrhunderts. Zum anderen hat bereits vor über 60 Jahren ein amerikanischer Wissenschaftler, Andreas Zieglschmid, bewiesen, dass Quitt ein beträchtliches Wissen über die mennonitischen Siedlungen in Kansas und dem Indian Territory beinhaltet und viele der Personen- und Ortsnamen exakt sind; letzteres ist nützlich zu wissen, weil einige Orte nicht mehr existieren und auf heutigen Landkarten nicht zu finden sind, was zum Schluss verleiten kann, Fontane habe sie erfunden.47 Die geographischen Entfernungen im Roman, die den tatsächlichen nicht entsprechen, führt Zieglschmid darauf zurück, dass Fontane »frequently shortens distances considerably for artistic reasons«.48 Ich glaube aber, dass er wie Karl May keine Vorstellung von den tatsächlichen Entfernungen im amerikanischen Südwesten hatte. Obwohl Zieglschmids Aufsatz regelmäßig in den Anmerkungen und Bibliographien zu Studien über Quitt aufgenommen wird, werden seine Implikationen ebenso regelmäßig ignoriert. Bekanntlich erklärte Fontane, dass er, obwohl er den Stoff »aus dem Phan-

43 Heyse an Fontane, 1l. Dezember 1890, in: Der Briefwechsel zwischen Theodor Fontane und Paul Heyse, hg. v. Gotthard Erler, Berlin, Weimar 1972, S. 212-215. Andere fanden die Teilung interpretationswürdig; siehe Keune: Das Amerikabild, S. 347. 44 Andreas Graf: Der Tod der Wölfe. Das abenteuerliche und das bürgerliche Leben des Romanschriftstellers und Amerikareisenden Balduin Möllhausen (1825-1905), Berlin 1991, S. 132f., 136-141, 160. Zu Möllhausen siehe Sammons: Ideology, Mimesis, Fantasy (s. Anm. 3), S. 91-101. 45 Guarda: Theodor Fontanes »Neben«-werke (s. Anm. 42), S. 83. 46 Ebd. 47 Andreas J. F. Zieglschmid: Truth and Fiction and Mennonites in the Second Part of Theodor Fontane’s Novel »Quitt«: The Indian Territory, in: Mennonite Quarterly Review 16 (1942), S. 223-246. 48 Ebd., S. 239f., 227. 164

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tasie-Brunnen« holen könne, ihn lieber erforschen würde.49 Doch schreibt Hans-Heinrich Reuter, 29 Jahre, nachdem Zieglschmid das Gegenteil bewiesen hat, Fontane sei genötigt worden, für den zweiten Teil in den »Phantasie-Brunnen« zu greifen,50 und Guarda behauptet 62 Jahre später, dass »das Amerika-Bild von Quitt eher zum Phantasmagorischen als zum Realismus« neige.51 Das soll nicht heißen, dass Fontanes fiktionaler Schauplatz unbedingt als realistische Darstellung überzeugt. Aber abgesehen vom existentiellen Status des Handlungsorts – als Traumbild, Utopie oder keine Utopie wegen der inneren Spannungen, oder als eine den ersten Teil spiegelnde Erzählkonstruktion –, scheint es grundlegend für den Roman zu sein, dass Lehnert im amerikanischen Asyl zu einem besseren Menschen wird. Er wird es paradoxerweise, weil er nicht gerichtet wird. Sobald er sich in der Gemeinde befindet, wird er von mehr Liebe überwältigt, als er bisher in seinem Leben gekannt hat (siehe Q, S. 121). Obwohl Obadja Hornbostel wie auch der ehemalige Kommunarde L’Hermite, der es wissen sollte, ahnen, dass es in Lehnerts Vergangenheit etwas Schlimmes und Belastendes gibt, fragt ihn niemand aus. Die ausgleichende Aufrechnung des Schlusses, durch die Lehnert ›quitt‹ wird, könnte auf den Leser unbehaglich wirken, was Fontane selber letztendlich gespürt hat;52 weniger wichtig aber als das Räderwerk des Schicksals ist der Entwicklungsverlauf, durch den es Lehnert gelingt, Verantwortung für sich selbst auf eine Weise zu übernehmen, wie es ihm in Deutschland nicht möglich gewesen wäre. Diese Veränderung gelingt aufgrund der Toleranz, die in seiner Umgebung herrscht. Obwohl Obadja sicher das ist, was wir heute einen Fundamentalisten nennen würden – er erklärt anlässlich der Totenfeier für den Indianerhäuptling Gunpowder-Face,53 dass der Christengott der einzige Gott sei und die Heiden »Steine […] und einen toten See, daraus die Flamme schlägt« (Q, S. 172), finden werden –, duldet er nichtsdestotrotz den Katholizismus der polnischen Maruschka, »entweder aus Respekt vor jeder aufrichtigen Glaubensform, oder weil er der Ansicht leb49 Theodor Fontane: Dichter über ihre Dichtungen, hg. v. Richard Brinkmann unter Mitwirkung von Waltraud Wiethölter, Bd. 12, München 1973, S. 394. 50 Reuter: Kriminalgeschichte (s. Anm. 42), S. 1374. 51 Guarda: Theodor Fontanes »Neben«-werke (s. Anm. 42), S. 84. 52 Fontane: Dichter über ihre Dichtungen (s. Anm. 49), S. 411. 53 »Gunpowder-Face« wird manchmal als Beispiel für den erdichteten Charakter des zweiten Teils angeführt, Zieglschmid hat aber einen »Chief Powder-Face« in den Quellen gefunden (Zieglschmid: Truth and Fiction [s. Anm. 47], S. 230f.). 165

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te, daß Maruschka zu den Auserwählten gehöre, die nicht um ihres Glaubens, wohl aber [...] um ihrer Einfalt willen selig werden« (Q, S. 146). Diese Duldung ist umso bemerkenswerter, als in der Zeit, in der der zweite Teil des Romans spielt, 1884-1885, der ›Kulturkampf‹ zwischen Preußen und der katholischen Kirche zwar am Abklingen, aber noch nicht zu Ende war. Bereits in Irrungen Wirrungen wurde religiöse Toleranz mit dem amerikanischen Milieu in Verbindung gesetzt, wo sie Gideon Francke sich angeeignet hat.54 Die Vertreter Preußens in Quitt, der reizbare Kaulbars und seine übertüchtige Frau, werden zwar wegen ihrer Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit geduldet, übernehmen aber keine leitende Funktion und werden am Rande der Siedlung untergebracht. Kritik an Preußen findet sich außerdem in einem Passus, der mir bei Fontane etwas ungewöhnlich vorkommt: Einer Bemerkung über den schweizerisch republikanischen Ton von Pestalozzis Lienhard und Gertrud, der im Gegensatz steht zu »allen preußischen Büchern«, über die »ein königlich preußischer Geist, eine königlich preußische privilegierte Luft; etwas Mittelalterliches« weht, fügt Obadja hinzu: »alle Deutsche, die wie wir, das Glück haben, Amerikaner zu sein, haben Grund, sich dieses republikanischen Zuges zu freuen« (Q, S. 163), auch wenn er an einer anderen Stelle sich über demokratische »Unruhe« und »die Despotie der Massen« skeptisch zeigt (Q, S. 118).

IV Auf der Basis meiner bisherigen Ausführungen möchte ich abschließend zwei allgemeine Aspekte über die Funktion der USA in der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts skizzieren. Erstens gibt es in dem von Spielhagen, Raabe und Fontane imaginierten Amerika praktisch keine Amerikaner. In Deutsche Pioniere sind neben den Franzosen und Indianern sämtliche Einwohner der Kolonie von New York Deutsche, abgesehen von einem britischen Kolonialbeamten, der die Meinung vertritt, dass die Yankees nur auf Profit aus seien, wohingegen er in den Deutschen eine kämpferische Avantgarde gegen die Franzosen sieht – »welche unermessliche Lebenskraft muss in dieser Rasse stecken […], um sich aus halbverhungerten, scheublickenden, Alles duldenden Sclaven in vollsaftige, breitschultrige […] Freimänner zu verwandeln […]. Ihr seid wahr und wahrhaftig deutsche Pioniere« (DP, S. 585f.). Tauchen bei Spielhagen doch einmal Amerikaner auf, so erweisen sie sich oft als ausgewanderte Deutsche, so z.B. in der humoristischen No-

54 Siehe Keune: Das Amerikabild (s. Anm. 33), S. 346. 166

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velle Die schönen Amerikanerinnen (1868): Die titelgebenden Protagonistinnen entpuppen sich letztendlich als Deutsche. Auch die amerikanischen Figuren Raabes sind nicht selten Deutsche, bei denen die amerikanische Erfahrung nicht immer veredelnd wirkt; Alexander Rodburg in Prinzessin Fisch kehrt aus Amerika als Schurke zurück, obwohl seine Niederträchtigkeit schon vor seiner Auswanderung evident war, und der Spekulant Charles Trotzendorff in Die Akten des Vogelsangs wird dem Klischee des habgierigen, vulgären amerikanischen Kapitalisten in einer Weise angepasst, dass Raabe von seinen beklagenswerten ›Freunden‹ als antiamerikanisch eingeschätzt wird. Justs Umgebung in Neu-Minden ist durch und durch deutsch. Sogar der Ortsname kennzeichnet sie als deutsche Gemeinde, die nur zufällig in Amerika liegt. Fontanes Schauplatz dagegen, nach seinem ostpreußischen Ursprung benannt, ist komplexer, multikulturell und multinational. Offensichtlich im Gegensatz zum von Spielhagen in Deutsche Pioniere so penetrant angewandten Begriff des ›Erbfeindes‹ gewährt die Gemeinde L’Hermite Obdach, nicht nur einem Franzosen, sondern darüber hinaus einem ehemaligen blutrünstigen Kommunarden, also der Neuauflage eines Jakobiners, der den Deutschen der Goethezeit das Fürchten lehrte. Dennoch kommen, wie Christian Grawe bemerkt hat, »Amerikaner im eigentlichen Sinn […] in Quitt kaum vor«.55 Die mennonitische Basis der Gemeinde ist selbstverständlich deutschen Ursprungs; alle Häuser haben Vorgärten, »ganz als ob es Gärten aus der Nogat- und Weichselniederung wären« (Q, S. 116). Obwohl er seit vierzig Jahre in Amerika lebt, behält Obadja »einen heimatlichen Sinn« (Q, S. 159), hört am liebsten Geschichten über Kaiser Wilhelm, Bismarck und die Heimat. Zur letzten Feier in der Gemeinde gehört das Schmücken eines Weihnachtsbaums, das trotz der Sticheleien L’Hermites »gegen diesen preußisch-hyperboräischen Tannenbaumkultus« (Q, S. 184) von Weihnachtsliedern begleitet wird. Dieser erste Aspekt findet sich auch in späteren deutschsprachigen Werken, manchmal auch in solchen, in denen man ihn nicht vermuten würde. In Oskar Maria Grafs Die Flucht ins Mittelmäßige. Ein New Yorker Roman (1957) sind New York, Chicago und sogar die Wälder von New Jersey ausschließlich von Deutschen bevölkert; möglicherweise handelt es sich hierbei um eine selbstironische Anspielung auf Grafs Leistung, neunzehn Jahre in New York gelebt zu haben, ohne Englisch zu lernen.56 In ähnlicher Weise gibt es in Hilde Spiels Lisas Zimmer (1965) auf der oberen Ostseite der Stadt New York nur Deutsche (und eine Litauerin namens Lisa), mit Ausnahme eines einzigen Amerikaners, eines 55 Grawe: Quitt (s. Anm. 42), S. 180. 56 Siehe Helmut F. Pfanner: Exile in New York: German and Austrian Writers after 1933, Detroit 1983, S. 103. 167

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sprachlosen Säufers namens Jeff, den Lisa unerklärlicherweise heiratet. Die Ausblendung amerikanischer Figuren findet sich nicht allein in deutschsprachigen Texten, sie ist auch Bestandteil der französischen antiamerikanischen Tradition; im überschätzten Machwerk Jean Baudrillards, Amérique (1986), etwa gibt es kein amerikanisches Volk, nur Popanze von modischen Prominenten; später hat er über den Angriff auf das World Trade Center gejauchzt.57 Zweitens erscheint Amerika in den Texten aus dem neunzehnten Jahrhundert als ein besseres Deutschland; Deutsche können hier, in einem Land mit einer amerikanischen Rechtsordnung, aber eben frei von Yankees und ähnlichen lästigen Typen, bessere Deutsche werden. Schon vor der 48er Revolution hatte Gerstäcker geschrieben, dass die Auswanderung ein einiges Deutschland in Amerika schaffen würde.58 In Spielhagens Deutsche Pioniere, das vor dem Höhepunkt der Massenauswanderung nach Amerika spielt, aber zu einer Zeit geschrieben wurde, als bereits sehr viele Deutsche den Weg über den Atlantik angetreten waren, wird behauptet, dass die Deutschen nach der Migration stärker, aktiver und verantwortungsbewusster geworden seien. Lambert meint allerdings, dass »der Fleiß, die Mühe, die Arbeit, die Kraft, der Muth, die Unternehmungslust, die wir aufwenden müssen, um es hier so weit zu bringen, [...] in der alten Heimath besser an ihrem Platz« wären, und er hofft, mit Katharine zurückkehren zu können (DP, S. 591). Obwohl Just Everstein amerikanischer Staatsbürger geworden ist (siehe AN, S. 112), gibt es kein Anzeichen dafür, dass sein Aufenthalt auf Dauer angelegt ist; sein Ziel ist, stärker und tüchtiger heimzukehren, um sein Erbe und damit seine Zukunft in Deutschland zurück zu erobern. Fontane schwankt zwischen zwei gegensätzlichen Affekten. »Lehnerts Empfindungen,« schreibt Grawe, »entsprechen in ihrer Spannung zwischen Heimatliebe und Staatshaß durchaus denen Fontanes selbst«.59 Die manchmal kritisierten Ähnlichkeiten zwischen der amerikanischen und der schlesischen Landschaft sind, wie Grawe anmerkt, »very largely man-made«, »entste57 Zur kritischen Einordnung Baudrillards vgl. Walter Erhart: Fremderfahrung und Ichkonstitution in Amerika-Bildern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in: Orbis Litterarum 49 (1994), S. 99-122, hier S. 114f.; Philippe Roger: L’Ennemi américain. Généalogie de l’antiaméricanisme français, Paris 2002, S. 95 und passim; Jeffrey L. Sammons: Gibt es dort ein »Dort«? Das deutsche Amerikabild, in: Das Amerika der Autoren. Von Kafka bis 09/11, hg. v. Jochen Vogt u. Alexander Stephan, München 2006, S. 19-43, hier S. 39. 58 Friedrich Gerstäcker: Aus zwei Welttheilen. Gesammelte Erzählungen, Bd. 1, Leipzig 1854, S. 17f. 59 Grawe: Quitt (s. Anm. 42), S. 177. 168

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hen in Lehnerts Einbildungskraft«.60 Einerseits reibt sich Lehnert an dem preußischen »Polizeistaat« (Q, S. 49) und träumt von der amerikanischen Freiheit, andererseits liebt er sein Land und weiß, dass er es liebt, und möchte daher lieber nicht auswandern. Trotz des Lobs vom republikanischen Geist in den USA bewundert auch Obadja preußische Ordnung und Arbeit […] um dieser Tugenden und vor allem auch um der Nüchternheit willen sind mir die Preußen die liebsten und sind mir die nutzbarsten Mitarbeiter am Werk. Das verdanken sie von alter Zeit her ihren Fürsten und Königen, die sich immer mit Stolz die ersten Diener, das will sagen, die fleißigsten Arbeiter, ihres Landes genannt haben und verdanken es ihren Schulen und ihrer guten Zucht und Sitte. (Q, S. 119)

Also wird ein Mythos von Preußen Bestandteil eines Mythos von Amerika. Obadjas Söhne sind nach Preußen zurückgekehrt, »[u]nd vielleicht haben sie recht getan« (Q, S. 118). Das ist vielleicht ein Signal für den Leser, dass auch Lehnert, hätte er überlebt, zurückgekehrt wäre. In diesem Fall allerdings wäre es ihm wahrscheinlich übel ergangen, da Preußen unverändert geblieben ist, wie am Ende des Romans über die Figur des selbstgefälligen, drakonische Strafen befürwortenden wilhelminischen Spießbürgers, Geheimrat Espe, deutlich wird. Somit kommt über das Amerikamotiv in den behandelten Romanen weniger ein Interesse am Fremden, sondern vielmehr am Eigenen zum Ausdruck. Amerika interessiert nicht an und für sich, sondern nur insoweit es für Deutschland relevant ist, als ein Raum, in dem Deutsche und Deutschland unter Umständen geistig und politisch gesunden können. Die lebhafte Wissbegier über Amerika, die wir bei Gerstäcker, Sealsfield und anderen Schriftstellern der Mitte des Jahrhunderts finden, lässt sich nicht mehr erkennen; sie ist von den Belangen eines erstarkenden Deutschlands absorbiert worden. Verstehen lässt sich diese Entwicklung möglicherweise als erste Phase des sturen Widerstands und der Apperzeptionsverweigerung gegenüber Amerika um die Jahrhundertwende und in den folgenden Jahrzehnten,61 von der mühelosen Besetzung der kollektiven Phantasie durch die verlogenen Trugbilder Karl Mays gar nicht

60 Ebd., S. 173f. Grawe zitiert John Osborne: Meyer or Fontane? German Literature after the Franco-Prussian War 1870/71, Bonn 1983, S. 131. 61 Siehe den Abschnitt »Outlook« in Sammons: Ideology, Mimesis, Fantasy (s. Anm. 3), S. 257-270. Siehe auch Sammons: Zu den Grundlagen des Antiamerikanismus in der deutschen Literatur, in: Alte Welten – Neue Welten. Akten des IX. Kongresses der Internationalen Vereinigung für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft (IVG), hg. v. Michael S. Batts, Bd. 1: Plenarvorträge, Tübingen 1996, S. 33-47. 169

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zu reden. Das war sicher nicht die Absicht von Spielhagen, Raabe oder Fontane, die alle – auch Fontane auf seine eigene Weise – Amerika freundlich gesonnen waren. Doch zugleich bilden die Texte auch das frühe Symptom einer sozialgeschichtlichen Entwicklung in Deutschland, die, als sie den Bezug auf die Wirklichkeit verloren hatte, betrübliche Folgen zeitigte.

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E I N M A L D E U T S C H E R »S T E I N H O F « – »W I S C O N S I N « H I N U N D Z U R Ü C K . D I E »S C H U L M E IS T E R I N « USA UN D » O L D G E R M A N - T E X T - W R I T I N G « A L S PA T R I O T I S C H E S E L B S T F I N D U N G I N W I L H E L M R AA B E S ALTE NESTER ALEXANDER RITTER »Wer wird in der ganzen Welt mit der Welt fertig ohne sie?«1 Wilhelm Raabe (1888)

I Otto Ruppius, amerikaerfahrener Unterhaltungsautor,2 veröffentlicht 1862 den patriotischen Auswandererroman Ein Deutscher.3 Die Genreszene des erzählerischen Auftaktes überhöht die Ankunftsepisode vor der amerikanischen Küste zur sentimentalisierten Feier einer existentiellen

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Wilhelm Raabe zum Arbeitsbeginn am Roman Stopfkuchen (Dezember 1888). Zitiert nach: Hartwig Schultz: Werk- und Autorintention in Raabes Alten Nestern und Akten des Vogelsangs, in: Jahrbuch der RaabeGesellschaft 1979, S. 132-154, hier S. 136. Otto Ruppius (1819-1864), Kaufmann, Buchhändler und gemäßigt liberaler, antiklerikaler Demokrat, politisch engagierter Publizist und erfolgreicher Schriftsteller in Deutschland wie in den USA (1840ff.); 1849 Flucht in die USA, lebt dort bis 1861 als Musiklehrer, Journalist und Schriftsteller; propagiert Gebrauchsliteratur für die Jugend und das einfache Volk; zahlreiche Romane und Novellen über deutschamerikanische Kultur (1856ff.). Zitierte Ausgabe: Otto Ruppius: Ein Deutscher, 2. Aufl. Leipzig (Vorabdruck in: Die Gartenlaube 1861) 1882. 171

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Wiedergeburt.4 »An der Quarantäne vor New=York lag der Dreimaster Adelheid von Bremen mit 274 Auswanderern.« Vor sich die ›nahe Küste‹, über sich »die warme, sternenhelle Nacht«, harren die Passagiere des nächsten Morgens an Deck, ›generalgereinigt‹ und im »sonntäglichen Staat«, um »mit Anstand ihren Fuß an das neue Land setzen« zu können. Erregt spricht man über »Pläne und Hoffnungen«, um sich dann, euphorisch gestimmt, für eine musikalische Begrüßung der Neuen Welt zu formieren. Nach Felix Mendelssohn Bartholdys a capella-Arrangement Der Jäger Abschied (1840) zieht »prachtvoller« Gesang im banalisierten Duktus des Salve Maria durch »die nächtliche Stille über die schlummernden, unbewegten Wasser«: »Sei gegrüßt, Amerika, / Vaterland, das wir erkoren, / Gib uns, was wir fern verloren, / Sei mit deinem Segen nah! / Sei gegrüßt, sei gegrüßt, / Sei gegrüßt, Amerika!«5 Otto Ruppius verfasst einen so unterhaltsamen wie moralisierenden, dabei ratgebenden und in Details realistischen Roman über die Regeneration deutscher Kultur im amerikanischen Zielland. Diese einseitige Intention liegt Wilhelm Raabe, dem Amerikaunerfahrenen, fern. Ihm geht es in seinem Text Alte Nester (1879)6 nicht darum, den deutschen Lesern in Amerika und Europa vorzuführen, wie der Mann »deutschen Charakters«7 die Einwanderungsprobleme meistert und sich »die Thür zu den besten Kreisen der Gesellschaft, zu einer erfolgreichen Karriere« in den USA ›öffnet‹.8 Raabes gesellschafts- und zeitkritischer Roman bietet mit der Identitätssuche des Helden Just Everstein eine im Grundzug parabolische Geschichte zur deutschen Geschichte an. Gesteuert von dem poetologischen Paradigmawechsel realistischen Erzählens und den politischen Gegeben-

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Ebd. S. 3f. Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847): Sechs Lieder: Der Jäger Abschied. Es-Dur (1840). Vier Männerstimmen a capella; op 50. Nr. 2. Text: J. Freiherr von Eichendorff (1810). Für Ruppius’ hymnische Adresse an die USA konnte kein Vorbild aus dem Fundus zeitgenössischer Amerikalieder nachgewiesen werden. Zitierte Ausgabe: Wilhelm Raabe: Alte Nester. Zwei Bücher Lebensgeschichten, in: Sämtliche Werke, hg. v. Karl Hoppe, Bd. 14, Freiburg i.Br., Braunschweig 1955. Die Angabe der Seitenzahl erfolgt ohne Angabe von Fußnoten unmittelbar im Anschluss an das Zitat. Auf die stoffgeschichtliche Kontinuität geht Stefan Diebitz ein: »Wiederlesen im eigenen Lebensbuche«. Wilhelm Raabes Alte Nester, interpretiert als Palimpsest auf Die Kinder von Günderode, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1991, S. 95116. Ruppius: Ein Deutscher (s. Anm. 3), S. 251. Ebd., S. 251, 305. 172

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heiten nach der Reichsgründung 1871, reduziert Raabe die Amerikathematik auf ein narratives Funktionselement seiner Protagonistenentwicklung unter den Verhältnissen eines schmalen, ihm zeitgeschichtlich signifikanten Weltausschnitts. Sein Ansinnen richtet sich somit nicht auf die erzählerische Umsetzung eines wanderungshistorischen Stoffes und der sozioökonomischen Seite einer Entwicklungsgeschichte. Ihn interessieren die psychosozialen Implikationen eines beispielhaften Selbstfindungsprozesses.9

II Der Autor beginnt 1877 mit der Niederschrift des Romans. Er schließt das Manuskript 1879 ab und publiziert den Text in Westermanns Monatshefte. Ein Jahr später erscheint die Buchfassung.10 Die Romanhandlung ist nach der äußeren Biographie der Figuren ereignisarm, nach der inneren ereignisreich. Das gilt insbesondere für die Amerikaepisode. Gemessen am Seitenumfang des Romans umfasst sie mit den Kapiteln 12 bis 14 des »Ersten Buches« lediglich ein Zehntel der Textmenge (S. 85110). Im Hinblick auf die Hauptperson Just Everstein, den Handlungsgang und die Autorintention allerdings ist sie eine Schlüsselphase. Wilhelm Raabe schreibt unter persönlich bedrückenden Bedingungen. Der Literat ist 1870 als ein Gescheiterter von Stuttgart nach Braunschweig gezogen. Mit seinen großen Entwicklungsromanen bleibt er seit Abu Telfan (1868) ohne bemerkenswerten Leserzuspruch. Die aktuellen Kriegsereignisse, den hypertrophen Patriotismus, Militarismus und gründerzeitlichen Kapitalismus, die industriegesellschaftliche Entwicklung und die Philiströsität der Gesellschaft verfolgt er mit Missmut. Gleichermaßen kritisch rezipiert er den poetologischen Diskurs zum realistischen Erzählen und lehnt Friedrich Spielhagens programmatische Forderung nach monokausalem Handlungsgang, detaillierter Milieuschilderung und eindimensionaler Figurengestaltung entschieden ab.11 In Alte Nester folgt der Autor konzeptionell jenem Amerikabild, das er in dem früheren Roman Die Leute aus dem Walde (1863) seinen Le-

9 Siehe Schultz: Werk- und Autorintention (s. Anm. 1), S. 132-154. 10 Vorabdruck: Westermanns Illustrirte Deutsche Monatshefte 1879; Erstausgabe: Braunschweig: George Westermann, 1880. Auf Grund des geringen buchhändlerischen Erfolgs erscheint die zweite Auflage erst 1897 bei Otto Janke (Berlin). 11 Vgl. die einschlägigen Beiträge in: Friedrich Spielhagen: Vermischte Schriften, 2 Bde., Berlin 1864-68. 173

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sern anbietet.12 Dagegen sind die grundsätzlichen Bedingungen identisch. Den qualitativen Unterschied zwischen beiden Amerikadarstellungen bedingt die Publikationszeit vor und nach der Reichsgründung 1871 und Raabes davon beeinflusste literarische Reaktion. Der eine der Protagonisten ist kein Auswanderer, sondern ein junger, zutiefst verunsicherter, durch lebenskluge Mentoren betreuter Mann, dem anhand von Großstadterfahrung, Emigrantenbiographien ihm vertrauter Personen sowie den Varianten deutschamerikanischer Kulturinseln deutlich gemacht wird, ein eigenes Lebenskonzept sinnvollerweise in der deutschen Provinz hinter dem ›Walde‹ zu realisieren. Die damit einhergehende Amerikadarstellung in Die Leute aus dem Walde, nach literarisch verbreiteten Motiven von Prärieabenteuern, gold-rush und sentimentalisierter deutschamerikanischer Kleinstadtkultur facettenreich zusammengefügt, bündelt der Autor in Alte Nester zu der Amerikaerfahrung einer zugewanderten Person in einer amerikanischen Region. Er projiziert dafür die agrarkonservativ beharrende Gesellschaft der »Bauern und Kleinbürger« (S. 14f.) in die back country-Verhältnisse des ländlichen Westens abseits des ›ungeheuren‹ »Fortschritt[s]« (S. 52).13 Nur hier werde vorgelebt, wie Fortschrittsteilhabe und agrargesellschaftliches Beharren miteinander verbunden werden können. Unter den Bedingungen positiv zu sehender provinzieller Regionalität festige sich die durch industriegesellschaftliche Entwicklung bedrohte bürgerliche Ethik. Daher geht es bei der Vita der Hauptperson Just Everstein um die pragmatische, darin kathartische Amerikaerfahrung eines Siedlers, mit der exemplarisch vorgeführt wird, wie ein so ethisch gefestigter Amerikarückkehrer die durch den politisch-ökonomischen Wandel unaufhaltbare Derangierung einer überkommenen Werteordnung in Deutschland bestehen könne. Mit solcher Botschaft folgt der Autor seinem Verständnis von der Welthaltigkeit der Region, ihrer Geschichte und den dort stattfindenden Geschichten als Teil von Welthistorie. Um dieses im Interesse der gesell12 Alexander Ritter: Narrative evasion of socio-political crisis: Raabe’s Die Leute aus dem Walde and Sealsfield’s Das Kajütenbuch oder Nationale Charakteristiken, in: Wilhelm Raabe in International Perspektive – International Themes on Wilhelm Raabe, hg. v. Dirk Göttsche u. Florian Krobb, Oxford 2008 (im Erscheinen), S. 100-113. 13 Immer noch grundsätzlich wichtig: Fritz Martini: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer. Amerikaspiegelungen im Erzählwerk von Keller, Raabe und Fontane, in: Amerika in der deutschen Literatur, Neue Welt – Nordamerika – USA, hg. v. Sigrid Bauschinger, Horst Denkler u. Wilfried Malsch, Stuttgart 1975, S. 178-204. 174

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schaftskritischen Romanintention erzählerisch wirksam werden zu lassen, verlegt der Autor den zehnjährigen Amerikaaufenthalt seines Helden als zeitraffende Vorzeithandlung aus der Erzählergegenwart in die Zeit vor der Reichsgründung, um auf diese Weise die gesellschaftlich gewünschte positive Qualität der Amerikaerfahrung der desillusionierenden gesellschaftspolitischen Entwicklung nach der Reichsgründung zu entziehen. Diese Amerikadarstellung in der Form eines retrospektiven Berichtes der Hauptperson Just Everstein ist funktional gebunden an die konzeptionelle Grundbedingung der Erzählsituation, die der auktoriale Chronist Fritz Langreuter als Gegenfigur zum positiven Helden und Amerikafahrer bestimmt. Langreuter, Einzelkind, frühe Halbwaise, als Dreißigjähriger im Alter des Etabliertseins, ist »Schulmeister« und der »Weltweisheit Doktor Friedrich Langreuter« (S. 26f.) mit einer »venia docendi an der Universität Berlin« (S. 81-83). Die akademische Bildung hat sein soziales wie berufliches Scheitern nicht verhindert. Dem körperlich und geistig ›Verwachsenen‹, dieser Karikatur der deutschen Honoratiorenschicht, überträgt Raabe den Ich-Erzählerauftrag und die Handlungskontrolle. Ihm, dem Autobiographen und Biographen, obliegt es, in »zwei Bücher[n] Lebensgeschichten« (Untertitel des Romans) Rechenschaft über die gebrochenen Schicksale der Jugendfreunde und seiner selbst zu geben. Aus der Position des resignierten, eigenbrötlerischen, aber durchaus selbstironisch-kritischen Philisters und Historiographen (S. 196, 199, 261) lässt der Autor ihn als langatmigen Berichterstatter (Langreuter) und bewahrenden Registrator (Friedrich) berichten und reflektieren. Indem er auf diese erinnernde und dokumentierende Weise sich und die gesellschaftlichen Verhältnisse in der mehrfach gebrochenen Rahmenerzählung beispielhaft dekonstruiert,14 die poetologischen Umstände seines Aufschreibens reflektiert,15 relativiert er zugleich die eigene Erzählerautorität und desillusioniert den Leser hinsichtlich seiner krisenhaften sozialen Wirklichkeit. In der so besonderen Erzählerfigur sublimiert der Autor in bitter-ironischer, kritischer Spiegelung die eigene autobiographische Situation als Bürger und Schriftsteller.16 14 Jan-Oliver Decker: Erinnern und Erzählen. Konservieren, Transformieren und Simulieren von Realität in männlichen Erinnerungen im Realismus, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2005, S. 104-130. 15 Hans-Jürgen Schrader: Gedichtete Dichtungstheorie im Werk Raabes. Exemplifiziert an Alte Nester, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1989, S. 127. 16 Werner Fuld: Wilhelm Raabe. Eine Biographie, München, Wien 1993, S. 247-276. 175

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Daher ist es nur folgerichtig, wenn Raabe den Amerika-Aufenthalt seines Helden in einem geographisch verifizierbaren Amerika als Fluchtort befristet. Nicht die geographische Amerikarealität ist ihm wichtig. Raabe geht es um das metaphorische Verständnis einer räumlichen wie autobiographischen Grenzüberschreitung als Annäherung an sich selbst und einer Amerikafunktionalisierung, nach der die Auswanderer als zurückkehrende Mediatoren verstanden werden, die die Prinzipien für eine regressive Utopie agrarkultureller, gemäßigt industriegesellschaftlicher Zukunft Europas vorleben. Es ist diese Ungleichzeitigkeit erinnerter Geschehnisse, mit welcher der Autor besonders in diesem Roman Alte Nester die Kontinuität von Lebensläufen in der Kontinuität von Weltgeschichte als sein Schreiben gegen die Vergänglichkeit bekräftigt.

III Beide, Wilhelm Raabe und sein Alter Ego, der Berichterstatter Fritz Langreuter, sind nie in Amerika gewesen. Der Autor verwendet die aus Büchern und der Presse angelesenen Kenntnisse über Amerika und den Emigrantenexodus, lässt aber seinen Helden und fiktiven Augenzeugen Just Everstein Amerika so selektiert erleben und rezipieren, dass die demokratischen USA der ländlichen Regionen als dialektisches Gegenbild zu den konservativ-patriotischen, gemäßigt absolutistischen und industriegesellschaftlichen Veränderungen in deutschen Ländern erzählerisch instrumentalisiert werden können. Die Sachinformationen und deren erzählerische Funktionalisierung sind ihm u.a. aus den Werken von Goethe, Charles Dickens, Karl Ferdinand Gutzkow, Friedrich Gerstäcker und Charles Sealsfield bekannt. In seinem Roman Die Leute aus dem Walde (1864) verweist Raabe auf die Quellen seiner Kenntnis und differenzierten Sicht einer kritischen europäischen Perspektive (Slick [Haliburton], Dickens) und einer affirmativen amerikanischen (Cooper, Sealsfield):17 »[…] Frederic Warner zeigte sich wohlbewandert in den Antinomien derselben [USA] und sprach über Sklavenhalter und Abolitionisten, über Natives, Knownothings, Teatotaler, Locofocos, Republikaner und Demokraten […]«, denn er hatte »so-

17 Sealsfield wird erst 1858 amerikanischer Staatsbürger. Vgl. Alexander Ritter: Grenzübertritt und Schattentausch: Der österreichische Priester Carl Postl und seine vage staatsbürgerliche Identität als amerikanischer Literat Charles Sealsfield. Eine Dokumentation, in: Freiburger Universitätsblätter 38.143 (1999), S. 39-71. 176

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wohl Sam Slick [Haliburton] wie Martin Chuzzlewitt gelesen«18 und überhaupt sei man ja vertraut mit den Amerika-»Schilderungen« bei »Sealsfield und Cooper«.19 Aber genauso wie die Öffentlichkeit weiß er um den gesellschaftspolitischen Kontext, nutzt die verbreitete Kenntnis darüber, um Eversteins Amerikafahrt im Zeitgeschehen plausibel zu verankern und so Aktualität, Glaubwürdigkeit und Leserzuspruch zu erlangen. Den zeitgeschichtlichen Hintergrund von Just Eversteins zehnjährigem Amerikaaufenthalt in den 1850er und 1860er Jahren deutet er nur mit wenigen Hinweisen an, getreu seiner Auffassung, sich öffentlich nicht auffällig engagieren zu wollen. Raabe wählt gezielt für die zeitgeschichtliche Platzierung der Romanhandlung eine krisenhafte Phase der deutschen Gesellschaftsverhältnisse vor der Reichsgründung aus. Die deutsche Massenmigration in diesen Jahren (1846-1857: über 1 Million; 1864-1873: dito) ist eine Folge des Missverhältnisses von Bevölkerungswachstum und Erwerbsangebot, der krisenhaften industriegesellschaftlichen Entwicklung, der restaurativen Innenpolitik und fehlenden Reichseinheit.20 Dass er Everstein in ein ebenfalls krisenhaftes Amerika schickt, ist ihm sicher bewusst. Weil aber sein Amerikabild von demokratischer Grundordnung, einer politisch unbeeinflußten agrargesellschaftlichen Aufbruchstimmung im Hinterland geprägt ist, blendet er für den deutschen Leser das Krisenszenario vom Panikjahr 1857, die Sklavereidebatte, Sezessionsbestrebungen sowie den 18 Thomas Chandler Haliburton (1796-1865; Ps. Sam Slick), Anglo-Kanadier, Richter, Politiker und Literat, der während der 1840er Jahre mit seinen satirisch-humorvollen Skizzen der kanadisch-amerikanischen Gesellschaft in England und den USA populär ist. 19 Raabe: Die Leute aus dem Walde, S. 93. Zwischen 1849 und 1888 zählen Cooper, Dickens, Gerstäcker und Sealsfield bei den deutschen Lesern zu den Erfolgsautoren: Alberto Martino: Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756-1914), Wiesbaden 1990, S. 404-410. 20 Zu den diversen politischen, juristischen und sozialgeschichtlichen Aspekten deutscher Auswanderung in die USA vgl.: Germantown. 300 Jahre Auswanderung in die USA 1683-1983, Zeitschrift für Kulturaustausch 32.4 (1982); Reinhard R. Doerries: Iren und Deutsche in der Neuen Welt. Akkulturationsprozesse in der amerikanischen Gesellschaft im späten neunzehnten Jahrhundert, Stuttgart 1986; Juliane Mikoletzky: Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, Tübingen 1988; Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Klaus J. Bade, München 1992. Vgl. das Kapitel: Deutsche in den USA, S. 135-185; Graphik zur Emigration, S. 149. 177

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Beginn des Bürgerkrieges 1861 aus und reduziert die USA auf die deutschamerikanische Kultur der städtischen little Germanies wie ländlichen deutschamerikanischen Siedlungsgebieten des nördlichen Mittelwestens.21 Durch diese rezeptionsorientierte Manipulation ist Amerika für den Deutschen keine exotische Fremde, sondern deutsche Heimat und kann ideologisch als Regenerationsraum deutscher Kultur für die zukünftige Entwicklung Deutschlands offeriert werden. Weil der Autor somit Amerika als zeitgeschichtlich und tagespolitisch weitgehend sterilen Raum einer freien Entfaltung des Bürgers unter agrarsozialen Bedingungen versteht, semantisiert er in diesem Sinne ausgewählte Regionen als Beispielräume für die gesellschaftspolitisch wünschbare Entwicklung Deutschlands. Ein so funktionalisiertes Amerikabild setzt für die Verwendung im Roman voraus, dass es erst dann erzählerisch eingesetzt wird, wenn der Handlungsgang diejenigen negativen Umstände vorgestellt hat, die dann im dialektischen Sinne damit kontrastiert werden können. Im zwölften Kapitel des »Ersten Buches« kommt es, nach einem Dezennium der Trennung von Erzähler und dem aus Amerika zurückgekehrten Just Everstein, zur Wiederbegegnung im Speiseraum eines Berliner Hotels. Mit der gewählten Zehnjährigkeit signalisiert der Autor im Zuge sinnbildlicher Semantik von Vollendung, Rückkehr und Wendepunkt im Zählsystem vorausdeutend dieselben Qualitäten für den folgenden Handlungsgang und die Personenentwicklung bis zum Romanschluss. Was ist bisher geschehen? In den ersten neun Kapiteln geht es um die Erinnerung an das »Märchen« von der »Wonne des Abenteuers der Kinderwelt« (S. 34f.). Ihre idyllische Lebenserfahrung machen die fünf Kinder in der räumlichen Enge zwischen dem Schloss Werden, dem Försterhaus, der Bauernstelle »Steinhof« und einer Hecke »italienische[r] Nußbüsche« (S. 30), symbolisch gefasst im Bild der ›alten Nester‹, in dem »Wunderbaum« (S. 34), der »keinen besseren Platz im Himmel und auf Erden als diesen zwischen Himmel und Erde« (S. 32) bietet. Davon getrennt durch Wald und Fluss, Metaphern für vermeintlich dauernde Geborgenheit und unaufhaltbare Veränderung, »saß der Vetter« Everstein auf seinem Bauernhof. (S. 35) Als der Autor den Erzähler Langreuter mit dem Helden Just Everstein, zurückgekehrt von jenseits des Atlantiks, zusammentreffen lässt, ist die gemeinsame Kindheitserfahrung längst als weltfremd entlarvt, sinnbildlich gefasst im Bild der ›leeren alten Nester‹. Die handlungsent21 Bade (Hg.): Deutsche im Ausland (s. Anm. 20); Kapitel: Die ländliche Welt im mitteldeutschen Westen, S. 161-164; Die städtische Welt in Little Germany, S. 164-167. 178

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scheidenden negativen Veränderungen in den Biographien der erwachsen gewordenen Freunde sind bereits geschehen, werden jedoch dem Leser erst danach sukzessive erinnernd mitgeteilt. Ihre Lebensläufe haben im Zuge der Katastrophenereignisse vom Tod des Grafen, dem Verlust von Schloss und Bauernhof, den industriegesellschaftlichen Auswirkungen auf die Landschaft in desillusionierender Weise keine Fortsetzung der Kindheitsharmonie gebracht. Der gescheiterte Fritz Langreuter lebt wie die verhärmte Witwe Komtesse Irene Everstein samt kränklichem Kind aus der Ehe mit einem Wiener Adligen in Berlin. Eva Sixtus pflegt den alten Vater im Försterhaus, einer Dienststelle, der der Wald abhandenkommt. Der Bruder Ewald entwickelt sich in Irland zum Ingenieur, zum modernen homo faber, auf den »›die Fremde gerade nicht nach meinem Geschmack […] eingewirkt hat‹« (S. 122). Und Just Everstein, ein Sonderling mit familiär und gesellschaftlich fehlgelaufener Sozialisation, verliert seinen Hof, verarmt und wandert nach Amerika aus. Die personale Zerstreuung und die Zerstörung der beiden lokalen Bezugspunkte von Schloss und Bauernhof löst die kleine Gemeinschaft auf, ein signifikanter Vorgang, der das krisenhafte Gefüge der Gesellschaft grundsätzlich meint: »Eine neue Chaussee führt über die Stelle weg, wo meine Nußbäume standen, und wer weiß, wie bald auch über diesen Weg sich ein Eisenbahndamm hinlegt […]. Es ändern sich stets die äußerlichen Umstände, unter denen die Natur und der Mensch ihren Adel gewinnen oder verlieren!« (S. 36) Im Romantitel Alte Nester metaphorisiert der Autor diesen Sachverhalt von den »alten Kindernestern«, die »aber […] ausgeflogene Nester« sind. (S. 71f.) Erst »lange beschwerliche Jahre später« (S. 36) kommt es erzählerisch zur Peripetie. Just Everstein und sein Steinhof bleiben zwar wie in den Jugendjahren der biographische und soziale Fluchtpunkt des Personals, nunmehr allerdings nicht mehr als idyllisch missverstandene Kindheitskonstituenten. Besitzer und Areal stilisiert der Autor zu Faktoren einer institutionalisierten Neuorientierung von Romanfiguren und Gesellschaft. Auslöser ist das »überraschende Wiedersehen« (S. 89) von Fritz Langreuter und Just Everstein an einem »Berliner Wirtstische« (S. 87), den beiden konträren Außenseitern. Der menschlich gescheiterte Grübler und buchstabengelehrte Chronist trifft auf den erfolgreichen Praktiker, »ausgeweitet nach allen Dimensionen«. (S. 86) Just, Deus ex Machina, verkörpert in dieser Situation Raabes Auffassung vom Prinzip des gütigen ›Zufalls‹ (S. 86) und des günstigen Eingriffs in die Geschichte. Der ironische Umgang mit den bedrohlichen Redensarten vom Löffelabgeben (S. 86), vom umgekippten »Salzfaß« (S. 87) und Justs »Anstrich vom Exotischen«, seinem »Anflug von Ame-

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rikanertum« (S. 86), lehrt den Leser: Sie sind «kein übel Omen« (S. 87) für den weiteren Handlungsverlauf. Bei den drei Amerika-Kapiteln 12 bis 14 handelt es sich um eine erzählerhierarchische Austiefung erinnerter Geschehnisse. Raabes Chronist Langreuter berichtet darüber in seiner Erzählergegenwart, jedoch »in den Zeitformen der Vergangenheit« (S. 76), weil ihm die Schicksale der Jugendfreunde definitiv festgelegt erscheinen. Die Mitteilungen über Just und Amerika sind ein erinnerter Dialog an die Wiederbegegnung mit dem Rückwanderer, wie der sich, im Dialog mit dem Freunde Langreuter, seiner Amerikaerlebnisse erinnert. Warum wanderte er aus? Raabe passt seinen Helden in die wanderungsgeschichtlich-soziologischen Verhältnisse der Zeit ein. Er stattet ihn mit den Push-Faktoren des »landwirtschaftlichen Bankerottes« (S. 86) eines bindungslosen Waisen und Kleinbauern aus, der, autodidaktisch gebildeter Eigenbrötler, aber im Glauben an sich selbst, ohne jede informative Vorbereitung, die Emigration wagt. Mit ihm gestaltet er den Typus desjenigen, der am eigenen Charakter und seinem Konzept der Unabhängigkeit festhält, beides durch die Normen und Verhaltensweisen einer vom Fortschritt korrumpierten Gesellschaft in Frage gestellt sieht, sich dem Konflikt verweigert, ihm nach Übersee ausweicht und dort eine Sozialisation erfährt, die ihm seine Persönlichkeitsdisposition erhält, durch Lebenstüchtigkeit ergänzt. Seine Auswanderung spiegelt in des Helden individueller Krisenzeit die zeitgenössische Krisenzeit und damit Raabes kritische Reflexion der eigenen Gegenwart und ihrer Geschichtlichkeit. Die Wiederbegegnung der beiden konträren Protagonisten Langreuter und Everstein vollzieht sich in einer situativ signifikanten Erzählsituation und erzählten Situation. Langreuter bleibt zwar der dominante Erzähler. Er wird aber zum staunenden Protokollanten dessen degradiert, was der Amerikarückkehrer Everstein, monologisierend die Erzählerdominanz übernehmend, in seinem nach Duktus und Diktion launigselbstbewussten Diskurs über sich, die weite Welt, sein erworbenes Selbstwertgefühl und Lebensziel mitteilt. Es ist seine »Lebensgeschichte«, eine »sonderbare Historia« (S. 97), der er eine allgemeine Bedeutung zuspricht, die sie als Buch veröffentlichenswert macht, was Everstein erwägt, der Autor Raabe aber im Roman realisiert. Und so bekommt der Leser durch den synoptischen Bericht einer abgeschlossenen und reflektierten biographischen Erfahrung ein subjektiv erinnertes und berichtetes Amerikabild vermittelt.

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IV In den drei Kapiteln mit Amerikathematik organisiert der Autor die Leserinformation über Eversteins Schicksal in drei Schritten: die äußere Kontinuität des Lebens eines innerlich Gewandelten auf dem wiedergewonnenen Hof, den katastrophalen Anlass für die Emigration und seine psychosoziale ›Wiedergeburt‹, die Rückkehr und seine selbst verkündete und praktizierte Vorbildrolle für die Freunde vulgo die deutsche Gesellschaft. Es sind fünf Aspekte, die den Erzählerbericht der autobiographisch funktionalisierten Mitteilungen der Amerikaerfahrung bestimmen: 1. Die Voraussetzungen von Just Eversteins Amerikaauswanderung verbinden zeittypische Umstände mit individuell negativen Erfahrungen. Der Verlust der materiellen Grundlage durch den Verlust des landwirtschaftlichen Betriebes ist nicht nur eine Folge ungünstiger Bodenqualität und der fortschrittlich wirtschaftenden Konkurrenz. Es ist zusätzlich die Konsequenz aus einer ihm erzählerisch verweigerten familiären und gesellschaftlichen Sozialisation. So verhindert das elternlose Heranwachsen eine soziale Orientierung und Lebensplanung, führt zu Lebensuntüchtigkeit und verursacht den Rückzug von der Wirklichkeit ins »›faule[ ] Behagen‹« (S. 96) des Sonderlings: »›Ein blöderer Hanstoffel als ich ist wohl selten aus seinem Traumwinkel und von der Ofenbank an die freie Luft hinausbefördert worden.‹« (S. 93f.) Zusätzlich verweigern die Mitmenschen dem in seinen menschlichen Qualitäten verkannten Autodidakten, dem agricola latina, die öffentliche Akzeptanz, so dass der Weg »›nach Bodenwerder am letzten Auktionstage […] ein richtiger Kreuzweg‹« (S. 95) wird und in die fluchtartige Amerikaauswanderung mündet. Zusammengenommen ist der »›Abschied […] von euch [den Freunden] und dem Steinhofe und dem Vaterlande‹« unter »›schauderhaften und unangenehmen Umständen‹« (S. 93) diesseits des Atlantiks eine biographische Katastrophe, welche die entwicklungsgeschichtliche Wende und existentielle ›Wiedergeburt‹ jenseits des Atlantiks erst ermöglicht. 2. Die Informationen des Helden über seinen Amerikaaufenthalt vermittelt ein vom kommentierenden Chronisten Langreuter wiedergegebener subjektiver, autobiographisch funktionalisierter Erinnerungsbericht. Weil das so ist, fehlen landeskundliche Beschreibungen und die Wiedergabe von Handlung. Die mitgeteilten Fakten über die Reise, die topographische Einordnung und den Aufenthalt sind sparsame Hinweise, die der Wahrung zeitgeschichtlicher Authentizität und des patriotischen Anspruchs dienen. Raabe lässt seinen Helden unter üblichen Bedingungen reisen, mit »›Zwischendecksgenossen‹« als ›ratloser‹ Zuwanderer bei den »›Neuyorkischen Nordamerikanern‹« (S. 98) ankommend. Ganz im Sinne der Figurenkonzeption eines deutschen Emigranten wählt er als

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Ziel für ihn die Kleinsiedlung »›Neu Minden‹«, »›zirka fünfzig bis sechzig Köpfe stark« (S. 101), »›mitten im Staate Wisconsin‹« (S. 100) »›nordwestlich von Milwaukee‹« (S. 102), im deutschamerikanisch geprägten agrarkulturellen Hinterland des nördlichen Mittelwestens. Die Ortsnamenwahl bindet das ferne Amerika in die nahe Topographie von Minden ein, die preußische Festungs-, Garnisons- und Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirks im Weserbergland.22 Gleichzeitig signalisiert der Autor über die kritische Kontrastierung von immobiler Festungsstadt und mobiler Neugründung mit ihrem »absonderlich[en] Sammelsurium deutsches Volkes […]« (S. 101), von beharrender Honoratiorengesellschaft und Pioniergesellschaft die notwendige gesellschaftliche Öffnung, die vom Vorbild Amerika gelernt werden kann. Denn darum geht es während Eversteins Leben nahe der frontier. In der Grenzregion einer administrativ nicht gegängelten, sich selbst verwaltenden Kommune erfährt der Held seine psychische und soziale Regeneration »›mit Axt, Pflug und Spaten‹« und als »›Schulmeister‹« (S. 102f.). Indem er sein »›Lehrgeld als Ackersmann auf Erden nachträglich‹« für »›Faulheit und Dummheit‹« (S. 100) zahlt, gewinnt er die ihn zur Lebenstüchtigkeit befähigenden Tugenden und Fähigkeiten in den »›Wildnissen und Einsamkeiten‹« im »›Hinterwalde und auf der Prärie‹« (S. 99) zurück. 3. Die Amerikabeschreibung liefert patriotisch deutsch eingefärbte Eindrücke von den Lebenserfahrungen in einer deutschamerikanischen Siedlerkolonie. Everstein geht nach Amerika, weil ihm und den vielen anderen »›der vaterländische Grund und Boden nicht genug Balken mehr unter sich hat‹« (S. 98). Er ist deutscher Patriot, der die amerikanische Fremde meidet, die deutsche Heimat in Amerika sucht und der diese – ohne sich akkulturieren zu müssen – dazu nutzt, um sich »seinen Weg als ein fester, wirklicher und wahrhaftiger Mann […] in das Vaterland und zu dem alten Erbsitz« ›zurückzubahnen‹ (S. 104). Den Erfolg als Rückwanderer schreibt er, völkerpsychologisch schwadronierend, deutscher Mentalität zu. Es hänge »›mit dem deutschen Gewissen‹« für »›Vaterpflichten und Muttersorgen‹« (S. 101) zusammen, mit den mitgebrachten Fähigkeiten des »›Urbauer[n]‹« (S. 93) aus früherer Zeit, um »›als deutscher Ackerknecht von frischem in die Lehre zu gehen‹« (S. 100) und 22 New Minden: Kleinstadt nordöstlich von St. Louis (Illinois; vgl. Karte: Bade [Hg.]: Deutsche im Ausland [s. Anm. 20], S. 159). Bade kennzeichnet »die ländliche Welt im mitteldeutschen Westen« (S. 161-164) als ethnische community deutschamerikanischer kultureller Beharrung und Familienorientierung. – Minden wird nach 1812 wieder preußisch und als Festung (bis 1873) wieder aufgebaut, verliert dadurch den Anschluss an die wirtschaftliche Entwicklung. 182

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»wegen der Ehre des deutschen Vaterlandes’« (S. 99) Erfolg zu haben und nationwide »›als Deutscher den lieben Leuten da drüben ganz devellish‹« zu ›imponieren‹ (S. 93). Mit der eher spießbürgerlich pathetischen Diktion kommt Raabe dem Zeitgeist nach der Reichsgründung entgegen. Das ist nicht als nationalkonservativer Appell zu verstehen. Der Autor demonstriert an seinem patriotisch gesonnenen Helden das Potential und die nationale Bürgerwürde, welches er aus gesellschaftspolitisch kritischer Sicht im deutschen Volk sieht, das sich aber selbst dessen in der Hierarchie einer militärisch und bürokratisch geführten Honoratiorengesellschaft nicht bewusst ist. Darum lässt er Everstein auch fürs »›deutsche Volk‹« resümieren: »›[…] wie lange müssen wir noch selbst dem Unteroffizier dankbar sein, der uns zum Geradestehen animiert und uns das Kinn mit der Faust in die Höhe stößt, um uns auf das stolze Blau über uns aufmerksam zu machen?!‹« (S. 100) 4. Die Amerikaerfahrung lehrt Everstein in der Konsequenz, dass Bildung, gesellschaftspolitische Freiheit, eigenverantwortlicher Fleiß und gegenseitiger Respekt Bedingungen der Charakterbildung und Persönlichkeitsentfaltung sind. Und so ist für ihn »›diese glorreiche Republik der Vereinigten Staaten von Nordamerika eine unbezahlbare Schulmeisterin gewesen‹«, die ihn »›so recht vollständig umgekehrt‹« (S. 99) hat. Sein Fehler, »›auf dem Steinhofe nicht der Herr und Bauer sein‹« zu wollen, ist »›in dem amerikanischen Walde‹« korrigiert worden, indem er wieder sein »›eigener Meister geworden‹« (S. 102) sei und sich so »›wenigstens einmal in der Fremde […] das höchste Ideal‹« (S. 103) erfüllt habe. Von dieser exemplarischen Erfahrung leitet er die biedere Lebensweisheit ab, dass der Mensch »›eigentlich alle zehn Jahre sein Dasein‹« in der distanzierenden Fremde »›sich zurückdenken können‹« (S. 106) müsse, um seine soziale wie regionale Herkunft würdigen und sich selbst unter ihren Bedingungen erkennen zu können. Darum ist dem Autor jeder Migrant im Prinzip ein potentieller Rückwanderer mit »Heimweh« (S. 123) nach der Herkunftskultur, dessen Leben sich als »›heimatliche[s] Gewächs‹« (S. 89) erfüllt, denn – so doziert er apodiktisch – es »›bleib[e] ein Deutscher immer ein Deutscher!‹« (S. 110) 5. Amerika und seine Darstellung im Bild ist textintern, im Hinblick auf den Zuhörer, Erzähler und Multiplikator Langreuter, und textextern, im Hinblick auf den Leser, dezidiert rezeptionsästhetisch konzipiert. Der Leser gewinnt seinen Eindruck aus dem doppelten Diskurs, den Informationen Eversteins und den Reflexionen des Zuhörers und Erzählers Langreuter. Was für Everstein in Amerika zur Selbsterkenntnis geführt hat, stimuliert Langreuter zum Nachdenken über sich selbst und beider Ansichten zusammen vervielfältigen sich im Effekt auf den Leser als Vertreter der deutschen Öffentlichkeit.

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Das Amerikabild Eversteins, interpretiert aus der Sicht seiner autobiographischen Erfahrung, erfährt durch die Reflexionen und Kommentare des Zuhörers als Erzähler und den Leser adressierender Vermittler eine weitere Ausdeutung aus dessen autobiographischer Befindlichkeit. Der von Raabe dem Amerikaerlebnis unterlegte psychosoziale Katharsiseffekt wirkt bei Everstein und Langreuter, beeinflusst entsprechend positiv die Lebensläufe der Freunde. Und er soll – wie vom Autor beabsichtigt – über die kontinuierlich in den erinnerten Handlungsgang eingearbeiteten Reflexionen zu Zeitgeschichte, Lebensführung und Schreibtheorie den so zum Mitdenken animierten Leser zum gesellschaftskritischen Bürger werden lassen. Dies geschieht unter dezidierter Anleitung des kommentierenden Erzählers, dem mehrere Umstände besonders auffallen. Die Wiederbegegnung mit dem Amerikaheimkehrer Everstein und dessen euphorischen Lebensbericht erfährt Langreuter geradezu als sakrale Erleuchtung, als »Feierlichkeit der Stunde« (S. 90), denn es war ihm verblüffenderweise »nie im Leben etwas so neu erschienen als der Vetter Just Everstein« (S. 88). Langreuter schreibt beidem, dem Amerikabericht und Persönlichkeitswandel Eversteins, einen therapeutischen Effekt vom »größte[n] Doktor« gegen die eigene »Bitterkeit« (S. 96) und seiner davon ausgelösten Selbsterkenntnis zu. Er begreife endlich, dass er mit seinem Brotgelehrtentum »erbärmlich wenig […] in Erfahrung gebracht« (S. 90) und »die besten Lebensstunden« (S. 91) mit der »vielbeschäftigten, selbstgenügsamen Indolenz« (S. 92) vertan habe. Des Vetters einzigartiges und ihn erschütterndes »Privatissimum« (S. 91) habe »Gewissensbisse der schlimmsten Art« ausgelöst und sein bisheriges Lebenskonzept ins »Chaos« gestürzt, in das er nur mühsam »die allernötigste Ordnung« (S. 92) zu bringen vermag. Amerikaerfahrung und Eversteins demonstrierte Selbsterkenntnis, die die Selbsterkenntnis des textinternen Zuhörers und Erzählers Langreuter auslöst, ist vom engagierten Autor letztlich auf seine Leser und die zeitgenössische deutsche Öffentlichkeit gerichtet. Everstein und seine Vorbildrolle für Langreuter soll auch die Vorbildrolle für den deutschen Bürger erfüllen. Langreuter fasst darum auch Eversteins sozial-moralisches Programm formelhaft zusammen, wie nämlich der Mensch »durch harte Arbeit, klugen Sinn und treuherziges Beharren in jeglichem wackeren Vornehmen durch gute und böse, durch harte und linde Zeiten, durch schlimme Tage und schlimmere Nächte seinen Weg als ein fester, wirklicher und wahrhaftiger Mann sich in das Vaterland und zu dem alten Erbsitz zurückgebahnt hatte.« (S. 104) Es ist die moralisierende Mahnung, sich derjenigen Tugenden zu erinnern, die durch die übertriebene deutschnationale und industriegesellschaftliche Entwicklung des

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Deutschen Reiches und der Gründerzeit verloren zu gehen drohen. Der Autor schärft seine Kritik und den didaktischen Anspruch noch zu. Nicht Everstein sei der Abwesende gewesen, sondern Langreuter (S. 14, 111), der wie alle anderen »gebildeten, klug, das heißt dumm gewordenen Menschen« (S. 20f.) die gesellschaftspolitische Wirklichkeit und ihre Fehlentwicklung nicht erkannt habe. Raabes dahinter stehendes Verständnis von Geschichte und Zeitsituation führt »Welterfahrung [als] Ferment eines intensivierten Heimatbewußtseins in fortschrittlich-konservativem Handeln«23 vor und sucht perspektivisch danach, einen gesellschaftspolitischen Mittelweg zwischen »politischem Liberalismus«, realisiert in den USA, und »restaurativem Konservativismus«24 für die gesellschaftliche Entwicklung anzubieten.

V Die Aporie des Bürgers Wilhelm Raabe angesichts einer unbehaglich gesehenen gesellschaftspolitischen Entwicklung spiegelt die Aporie der beiden Hauptfiguren Fritz Langreuter und Just Everstein. Mit Letzterem anthropomorphisiert der Autor die eigene und die allgemeine Krise. Er macht ihn zur Leitperson in einem Roman der bürgerlichen Selbstvergewisserung. Das Mittel dazu ist dessen Amerikaerfahrung. Eversteins Bericht darüber stilisiert der Erzähler zum Menetekel, das kritisches Bewusstwerden in Gang setzt: »Wie mit einem Zauberstabe hatte dieser Mensch und Vetter Just, dazu Bürger der nüchternen Vereinigten Staaten von Nordamerika, an die dürre Wand geschlagen und das klaräugige Spukgesindel über mich heraufbeschworen.« (S. 112) Darum scheint es nur so, als wenn die Zeitprobleme im privaten Rückzug ignoriert werden. Dem Amerikamotiv weist der Autor in seinem Roman eine zentrale Funktion zu. Diese allerdings resultiert nicht länger aus dem Topos ›Amerika‹ in seiner geschichtsphilosophisch grundsätzlichen Bedeutung, die es aus dem triadischen Weltbild der Zivilisationsentwicklung und dem gesellschaftspolitisch bestimmten Mythos der demokratischen Republik gewinnt, in der die liberalen Ideale der 48er Revolution realisiert sind. Raabe übernimmt, im Zuge von anhaltendem Massenexodus, Reichsgründung und Renationalisierung, ein aufs kartographisch, historisch erfasstes Faktum und aufs Tagespolitische verkürztes Amerikabild. Die geschichtsphilosophische Entleerung kompensiert eine nationalgeschichtliche Auffüllung, akzentuiert durch die ethnopolitische Dimension 23 Martini: Auswanderer (s. Anm. 13), S. 187. 24 Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, Würzburg 2000, S. 5. 185

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deutschnationaler Rückbindung. Es sind nicht länger die USA als freiheitlicher Staat maßgeblicher Teil der Amerikaperspektive, sondern die Entfaltung deutscher Kultur in den little Germanies der Minderheit. Eingebettet in die Leserkenntnis von Amerika als eines exotischen Raumes abenteuerlichen Lebens und unbegrenzter Freiheit, sind die USA für den realistischen Erzähler nicht länger Objekt der Beschreibung, sondern – als Teil Europas – Mittel erzählerischer und weltanschaulicher Funktionalisierung der psychologisierten Figurenentwicklung. Die grundsätzliche Erzählkonzeption, die dieses Amerikabild generiert und benutzt, hat Dirk Göttsche zutreffend benannt. In ihr »dienen der Chronotopos der Heimkehr, Wiederbegegnungen und Erinnerung als Ausgangspunkte einer lebens- und zeitgeschichtlichen Selbstreflexion bürgerlichen Bewusstseins in seinem sozialen Erfahrungsraum«25 und der »Zeitkritik«26 im Kontext des »Antagonismus von politischem Liberalismus und restaurativem Konservativismus«.27 Seine bedingte Zeitkritik personifiziert der Autor in dem sich selbst dekonstruierenden Erzähler Langreuter sowie dem Helden Everstein und seiner Amerikaerfahrung. Weil Raabe keine Möglichkeit sieht, die gesellschaftliche Fehlentwicklung aufzuhalten, bleibt der Persönlichkeitwandel seines Helden eine Privatangelegenheit, indem er weiterhin im Rückzug von der Wirklichkeit verharrt. Darum verwendet der Autor auch ein in diesem Sinne selektiertes Amerikabild, abstrahiert von der historischen Wirklichkeit. Everstein repräsentiert somit ein Amerika der vorkapitalistischen, agrarkulturellen, ethnopolitisch bestimmten, scheinbar zeitlosen Kolonisierungsphase an der frontier. Ihn lässt der Autor die verlorene heimatliche Siedleridylle – quasi historisch bereinigt – als Rückwanderer rekonstruieren. Raabe passt sich ein in den ›Abbau‹ der »Fernfluchttendenz der romantischen Landschaft«28 und transformiert das zeitgenössische Amerika, gemäß seiner Intention und der darauf abgestimmten Personenkonzeption Eversteins, zu einer – im Unterschied zu beispielsweise Schnabels Roman Insel Felsenburg (1731-43) – im Privaten banalisierten regressiven Utopie.29 Deren Ingredienzien plus Kapitalbesitz bilden die schlichte Botschaft von der trivialisierten romantischen Idyllenbewah25 26 27 28

Ebd., S. 15. Ebd., S. 1. Ebd., S. 5. Albrecht Koschorke: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt/M. 1990, S. 223. 29 Klaus H. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Zur Ikonographie der geographischen Utopie, Frankfurt/M. 1984, S. 247-269. 186

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rung, mit der Everstein – im Auftrag des Autors – den Erzähler, die Freunde, die Leser und die deutsche Öffentlichkeit missioniert. »Dschinnistan«, heißt es in Rückbezug auf Wielands Text,30 »ist für uns beide da« (S. 65-67). Ausfahrt und Amerikaerfahrung erweisen sich dabei als Umweg zurück ins Stationäre. Die Ausklammerung der Welthistorie im Amerikabild und Europabild belässt die Romanhelden beim Privatisieren in einem geschichtslosen Raum letztlich der bürgerlichen Resignation und politischen Entsagung. Amerika ist ihm nicht mehr die Zukunft Europas, sondern wird umgebogen zu dessen Vergangenheit. In diesen Zusammenhang passt Raabes zweite Interpretation des Amerikabildes. Sie ist Teil seiner gesellschaftspolitischen Botschaft. Die Kritik am gründerzeitlichen Fortschrittsdenken ergänzt er durch eine nationalpatriotische Deutung Amerikas. Die USA als Zielraum deutscher Migration ist keine exotische Fremde, sondern durch die Bewahrung deutscher Kultur in den deutschamerikanischen Siedelgebieten ein Raum,31 in denen deutsche Tugenden und Kultur für die kontinuierliche Regeneration der Verhältnisse im Herkunftsland aufgehoben werden.32 In nuce zeichnen sich jene filiopietistischen und heimatideologischen Tendenzen ab, die in den folgenden Jahrzehnten unter den Auspizien einer nationalisierten deutschen Ethnizität über das Kaiserreich, den Ersten

30 Christoph Martin Wieland: Dschinnistan oder Auserlesene Feen- und Geistermärchen, Winterthur 1786-89. 31 Günter Moltmann: Charakteristische Züge der deutschen Amerika-Auswanderung im 19. Jahrhundert, S. 50-63; Kathleen Neils Conzen: Deutschamerikaner und die Erfindung der Ethnizität, S. 149-164, Willi Paul Adams: Ethnische Führungsrollen und die Deutschamerikaner, S. 165176, Hans L. Trefousse: Die deutschamerikanischen Einwanderer und das neugegründete Reich, S. 177-191. Sämtliche Aufsätze in: Amerika und die Deutschen. Bestandsaufnahme einer 300jährigen Geschichte, hg. v. Frank Trommler, Opladen 1986. Siehe auch: Don Heinrich Tolzmann: The German-American Experience, Amherst, NY 2000. 32 Die Tendenz innerhalb der realistischen Literatur, vorindustrielle und provinzielle Lebensordnungen nostalgisch aufzuwerten, unterstützt die Entwicklung der entsprechend ideologisierten und trivialisierenden Heimatliteratur, die vor allem Ende des 19. Jahrhunderts einer kleinbürgerlichen Leserschaft vereinfachte existentielle Orientierung in einer industriegesellschaftlich irritierenden Gesellschaftsentwicklung anbietet. Vgl. dazu: Kay Dohnke: Heimatliteratur und Heimatkunstbewegung, in: Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, hg. v. Diethart Kerbs u. Jürgen Reulecke, Wuppertal 1998, S. 481-493. 187

ALEXANDER RITTER

Weltkrieg, das Versaillessyndrom und den Nationalsozialismus zum Ideologem des Auslanddeutschtums gerinnen.33

VI Der Roman Alte Nester ist Wilhelm Raabes erneuter literarästhetischer Versuch, gegen den Gang der Geschichte, die »flüchtig[e]« Zeit, das Unsicherheitsgefühl und für die zuverlässige Übereinstimmung von »Namen« und »Dingen« (S. 72) zu schreiben und dadurch »ein hermetisches System visueller und semantischer Totalkontrolle über die Dinge aufzubauen« (S. 271). Den schleichenden Verlust einer existentiellen Orientierung in einer überschaubaren agrarkulturell und kleinbürgerlich bestimmten Gesellschaft sucht er dauerhaft durch »ein echtes und gerechtes Kunstwerk« zumindest teilweise zu kompensieren. Eversteins amerikanische »Autobiographie« wird dazu als eines der »monumenta germanica« stilisiert und den Lesern, dem »deutsche[n] Volk« und »manchem kommenden Geschlecht von Kindern und Enkeln« zur »Nachahmung« empfohlen (S. 104). Die implizierte gesellschaftspolitische Kritik als Folge des latenten Krisenbewusstseins der Zeit zielt zwar auf die gründerzeitlichen Gegenwartsverhältnisse. Mit seiner summierenden Formel vom »old Germantext-writing«34 (S. 104) entlarvt sich der Autor jedoch selbst als Vertreter desjenigen zeitgenössischen Bürgertums, dessen Kritik zugleich Ausdruck der Unfähigkeit zur Selbstkritik an den eigenen Klärungsversuchen ist. Die anglisierende Tarnung durch pathetische Worte kann nicht verdecken, dass die historistische Verbindung von geschichtlichem Rückbezug auf Frakturschrift und deutsche Schreibtradition in Richtung einer vorindustriellen Gesellschaftsordnung weist, in der gesellschaftliche Wirklichkeit – so Raabe – für den Menschen noch begreifbar war wie es das Motiv vom austarierten Summenverhältnis des Pythagoras-Satzes versinnbildlichen soll. Amerika mit den USA jenseits des Atlantiks und Eversteins Hof jenseits des Flusses sind keine Ziele, die Transgressionen von Grenzen erfordern, Horizonte öffnen und entgrenzende Veränderungen des Menschen bewirken.35 Der Autor hat in diesem Roman die Erfahrung Ameri33 Robert Hoeniger: Das Deutschtum im Ausland. Leipzig, Berlin 1913; Hugo Grothe: Grundfragen und Tatsachen zur Kunde des Grenz= und Auslanddeutschtums, Dresden 1926; Grothes Kleines Handwörterbuch des Grenz= und Ausland=Deutschtums, hg. v. Hugo Grothe, München, Berlin 1932. 34 Deutsche Frakturschrift. 35 Siehe Koschorke: Die Geschichte des Horizonts (s. Anm. 28). 188

PATRIOTISCHE SELBSTFINDUNG IN RAABES ALTE NESTER

kas als erlebtem Raum ausgeklammert und die Amerikarezeption auf eine Vokabel der exotischen Ferne verkürzt, mit der er die Biographie der Hauptperson und seine nationalkonservativ eingefärbte Botschaft etikettiert. Die nachmärzliche poetologische Umorientierung zum poetischen Realismus und der Paradigmenwechsel zu Stoffen und Themen aus deutschen Provinzen marginalisiert die Amerikarezeption. Man kann Raabe getrost beim gegebenen »Wort« nehmen, wenn er sagt: »[…] wir wissen Bescheid und stehen mit den echten Wirklichkeiten oder Realien in dieser Welt auf ganz gutem Fuße und verkehren miteinander nicht bloß in Schlafrock und Pantoffeln […].« (S. 44) Zu diesen »Wirklichkeiten und Realien« vor einem »verschlossenen Horizont[ ]« in einer Literatur der »Absperrungen und Grenzziehungen« im 19. Jahrhundert aber gehört Amerika nicht mehr.36 Bei des Autors Rückschau auf Vergangenes und dadurch zu klärendes Zukünftiges ist durch den distanzierenden ›Kopfüber‹-Rückblick, mit dem alles »am besten zwischen seinen ausgespreizten Beinen durch besieht«, Amerika aus dem Blickfeld herausgefallen.

36 Ebd., S. 298, 268. 189

PATRIOTISMUS UND KOSMOPOLITISMUS IN WERKEN GOTTFRIED KELLERS TODD KONTJE Das 21. Jahrhundert steht im Zeichen der Globalisierung. Nationen und der Nationalismus sind zwar längst nicht verschwunden, aber die Souveränität der einzelnen Nationalstaaten wird immer wieder in Frage gestellt.1 Politische Organisationen wie die Europäische Union oder die Vereinten Nationen und religiöse Bewegungen wie der Islam überschreiten täglich politische Grenzen. Transnationale Firmen nutzen billige Arbeitskräfte in Entwicklungsländern und verkaufen weltweit Produkte, die sich kaum voneinander unterscheiden. Ein Kurssturz an der Börse in Tokio verursacht in wenigen Stunden eine finanzielle Krise in Frankfurt. Die Reichen der Welt fliegen als Touristen in wenigen Stunden zu entlegenen Orten, während die Armen in immer wachsenden Zahlen in die Industrieländer auswandern. Das Internet ermöglicht globale Kommunikation. Krankheiten wie AIDS oder die Vogelgrippe wissen nichts vom Schengener Abkommen oder Zollbeamten, genauso wie der Klimawandel ohne Rücksicht auf unsere Staatsangehörigkeit uns alle betrifft. Manche von diesen Entwicklungen sind so neu und vollziehen sich so schnell, dass wir leicht vergessen können, dass frühere Generationen auch nicht in abgeschirmter Isolation lebten. Im Mittelalter brachten die Kreuzzüge viele Europäer mit den Zivilisationen der arabischen Länder in Berührung, während der Schwarze Tod sich mit Windeseile vom Mittelmeer bis zur Nordsee verbreitete. Entdeckungsreisen von Kolumbus, da Gama und Magellan veränderten in wenigen Jahrzehnten das Weltbild der Europäer radikal; spätestens seit dem 16. Jahrhundert kann man von einer angehenden Globalisierung sprechen. Mit der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert beschleunigte sich dieser Prozess nochmals sprunghaft. »Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel«, schrieben

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Vgl. Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996; Jan Aart Scholte: Globalization. A Critical Introduction, New York 2000. 191

TODD KONTJE

Karl Marx und Friedrich Engels im Manifest der Kommunistischen Partei. »An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen«.2 In dem folgenden Aufsatz möchte ich die Auswirkung dieser frühen Globalisierung auf die Werke von Gottfried Keller zeigen. Allzu leicht kann man den Erfinder der Seldwyler Geschichten zu einem Schweizer Heimatdichter herunterstufen, dessen bekannteste Novelle, Romeo und Julia auf dem Dorfe, in scheinbar programmatischer Opposition zu Shakespeares Weltliteratur steht.3 Kellers Blick auf die Welt erstreckte sich jedoch viel weiter als die Mauern seiner Heimatstadt Zürich oder die Grenzen der Schweiz.4 Im ersten Teil dieses Aufsatzes biete ich eine Übersicht über die vielen Textstellen, in denen Keller Bezug auf die außereuropäische Welt nimmt. Im zweiten untersuche ich etwas näher die besonders wichtige Rolle von Amerika in seinen Geschichten. Drittens wende ich mich dem komplexen Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz zu, in der Überzeugung, dass innereuropäische Spannungen und Affinitäten mit außereuropäischen Beziehungen innigst verbunden sind. Ich schließe mit einigen Gedanken über die Beziehung zwischen Kellers Kosmopolitismus und der heutigen globalisierten Welt. 2 3

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Karl Marx / Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Stuttgart 2005, S. 23. Gegen die Verharmlosung von Keller als Idylliker oder Schweizer Lokalpatriot wirkten bahnbrechende Studien von Adolf Muschg (Gottfried Keller, München 1977), Gerhard Kaiser (Gottfried Keller. Das gedichtete Leben, Frankfurt/M. 1981) und Kaspar T. Locher (Gottfried Keller. Welterfahrung, Wertstruktur und Stil, Bern 1985). Schon Walter Benjamin bemerkte das »Amerika, das er [Keller] so oft und so romanhaft beschworen hat« (Gottfried Keller. Zu Ehren einer kritischen Gesamtausgabe seiner Werke, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.1, Frankfurt/M. 1991, S. 283-294, hier S. 294). Eine gründliche, heute noch wichtige Studie über die Rolle Amerikas in Kellers Werk liefert Fritz Martini (Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer. Amerikaspiegelungen im Erzählwerk von Keller, Raabe und Fontane, in: Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt – Nordamerika – USA, hg. v. Sigrid Bauschinger, Horst Denkler u. Wilfried Malsch, Stuttgart 1975, S. 178-204). Eine jüngere Übersicht bietet Elisabeth Binder: Heimatträumen. Die Ausgewanderten in Gottfried Kellers Werk, in: Merkur 59 (2005), S. 679-691. Ihrer Meinung nach interessiert sich Keller kaum für »die realen Lebensbedingungen eines Ausgewanderten in Amerika etwa oder Brasilien« (S. 681); ihm gehe es hauptsächlich um »Selbstfinden« und damit um die »existentialistische Dimension« des Auswanderns (S. 688). 192

PATRIOTISMUS UND KOSMOPOLITISMUS IN WERKEN KELLERS

Heinrich Lees Jugendgeschichte beginnt mit der Beschreibung des Gottesackers in dem »uralten Dorfe« seines Vaters.5 So viele Generationen sind dort begraben, dass die »Erde buchstäblich aus den aufgelösten Gebeinen der vorübergegangenen Geschlechter [besteht]« (2, 57). Die Tannenbretter, aus denen die Särge gemacht werden, und das Leinen für die Totenhemden wachsen auf den naheliegenden Bergen und Feldern um das Dorf herum und sind also auch organisch mit der Landschaft verbunden. Generationen vergehen, einzelne Familien sind manchmal reich, manchmal arm, aber eigentlich ändert sich nichts: Der ewige Kreislauf der Natur schreitet unaufhaltsam fort. Heinrich Lees Vater verlässt das Dorf und tritt somit in die Geschichte ein. Begeistert von den Idealen der Französischen Revolution und bewegt von dem griechischen Freiheitskampf, ist er ein klassischer Liberaler der 1820er Jahre, der den Weg für die kommende Juli-Revolution von 1830 vorbereitet. Dazu gehört auch seine Vorliebe für die hochdeutsche Schriftsprache, sein Glaube an »die edeln Güter der Bildung und Menschenwürde« (2, 68) und seine Schillerbegeisterung. Als ausgebildeter Steinmetz kehrt er von seinen Wanderjahren in Deutschland in die Schweiz zurück, wohnt aber nicht mehr im Dorf, sondern in der Stadt. Hier erweitert er rasch sein Geschäft und investiert sein Geld in diverse Bauunternehmen.6 Er begründet nebenbei Schulen für arme Kinder, organisiert Lesezirkel für die Weiterbildung seiner Freunde, spielt Laientheater – und richtet sich zugrunde: »Das Ende war, daß er plötzlich dahinstarb, als ein junger, blühender Mann, in einem Alter, wo andere ihre Lebensarbeit erst beginnen« (2, 71). Sein Sohn Heinrich ist erst fünf Jahre alt. Die Vaterlosigkeit, die die Ursache vieler von Heinrich Lees späteren Problemen ist, ist also geschichtlich bedingt. Der Vater wird von den Stürmen der Zeit emporgehoben, fliegt eine Weile tapfer mit, aber am Ende stürzt er in den Tod. In die geschichtslose Welt der alten Heimat führt aber kein Weg zurück. Nachdem die Halbwaise Heinrich von der 5

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Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Erste Fassung, in: Ders.: Sämtliche Werke in sieben Bänden, hg. v. Thomas Böning, Gerhard Kaiser, Kai Kauffmann, Dominik Müller u. Peter Villwock, Bd. 2, Frankfurt/M. 19851996, S. 57. Sonstige Hinweise auf Kellers Werke in dieser Ausgabe erfolgen in Klammern im Text mit Bandnummer und Seitenzahl. In den wenigen Fällen, wo das zitierte Werk im Text nicht deutlich identifiziert werden kann, erfolgt eine detaillierte Angabe in einer Fußnote. Auch der Wechsel »von der auf dem Lande üblichen Kapitalakkumulation zur produktiven Kapitalinvestition« ist ein Zeichen seiner Fortschrittlichkeit. Stellenkommentar zu: Der grüne Heinrich. Erste Fassung, in: Keller: Sämtliche Werke Bd. 2 (s. Anm. 5), S. 1007. 193

TODD KONTJE

Schule ausgeschlossen wird, wandert er zum alten Dorf zurück, aber die jetzigen Bewohner stehen in deutlichem Kontrast zu dem zeitlosen Bild des uralten Gottesackers. Sein Onkel ist eigentlich »von städtischer Abkunft«; er wirft alles hinter sich, »um sich ganz der braunen Ackererde und dem wilden Forste hinzugeben«, während Annas Vater zwar »von bäuerischem Herkommen und dürftiger Bildung« ist, aber »nach milden und feinen Sitten« strebt (2, 243). Das Naturkind Anna verliert durch die von ihrem Vater aufoktroyierte französische Erziehung ihre Spontaneität, während die verwitwete Judith auch schon in der Stadt gelebt hat und als Außenseiterin im Dorf geduldet wird. Selbst die »pomphafte Leichenfeier«, die der Mann von Heinrichs verstorbener Großmutter anordnet, wird von den anderen Dorfbewohnern als altmodisch empfunden. »So muß es also doch getanzt sein?«, fragt Annas Vater verdutzt, »[i]ch glaubte, dieser Gebrauch wäre endlich abgeschafft, und gewiß ist dies Dorf das einzige weit und breit, wo er noch manchmal geübt wird!« (2, 289). Die alte Naturverbundenheit der Dorfbewohner ist vorbei. Entweder suchen sie bewusst eine einfache Lebensform, die sie nicht mehr haben, oder sie streben vom alten Dorf weg. Die Opposition zwischen der modernen Stadt und dem einfachen Landleben stellt sich also als falsch heraus; hier wie dort wehen die Winde der neuen Zeit. Mit dem historischen Wandel erweitert sich der Horizont. Hiermit sind nicht nur figurativ neue Ideen gemeint, sondern auch buchstäblich neue geografische Regionen. Der grüne Heinrich I beginnt mit der Überquerung des Rheins; Heinrich verlässt die Schweiz und fährt nach Deutschland. Am Ende seiner Jugendgeschichte steht das Bild von Judith, die sich einer Gruppe von Auswanderern nach Amerika angeschlossen hat und »in weiter Ferne« verschwindet (2, 543). Gottfried Keller selbst hat Amerika nie besucht – er hat nicht einmal das Meer gesehen7 – aber er verbrachte sieben Jahre in Deutschland, wo die Mehrzahl seiner Werke konzipiert, wenn auch nicht alle ausgeführt worden sind.8 Auch für die daheimgebliebenen Schweizer waren zu dieser Zeit regelmäßige Kontakte mit der Fremde kaum vermeidbar: man kaufte Kolonialwaren, hörte Berichte von Missionaren in der Kirche, las über Kolonien und Forschungsreisende in Familienzeitschriften wie der Gartenlaube oder in Briefen von Freunden und Familienmitgliedern, die selber ausgewandert waren. In einem solchen historischen Klima wäre es eher überraschend, wenn die fremde Welt keine Spuren in Kellers Werken hinterlassen hätte. 7 8

Vgl. Stellenkommentar, Bd. 2 (s. Anm. 5), S. 1045. Vgl. Michael Böhler: Die falsch besetzte zweite Herzkammer. Innere und äußere Fremde in Gottried Kellers Pankraz der Schmoller, in: Figuren des Fremden in der Schweizer Literatur, hg. v. Corina Caduff, Zürich 1997, S. 36-61, hier S. 37. 194

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Manche von Kellers Gedanken über fremde Länder folgen den alten Schablonen des europäischen Orientalismus. In den Vorarbeiten zum Grünen Heinrich schreibt Keller über Europas »Überlegenheit und Culturentwicklung [...] im Gegensatze zu dem monotonen Asien und Afrika«.9 Heinrich Lee lernt diese Welt zum ersten Mal bei der alten Frau Margret kennen. Hier findet er »alte Kosmographien mit zahllosen Holzschnitten, fabelgespickte Reisebeschreibungen, vorzüglich nordische, indische und griechische Mythologien« (2, 103). In der Schule hört Heinrich Vorlesungen über die Weltgeschichte, »und unzählige Namen orientalischer Urvölker schwirrten an uns vorüber, während wir gleichzeitig die Geographie von Europa betrieben« (2, 196). Der Graf hat vermutlich dieselben Geschichten gehört, denn er äußert den ironischen Wunsch, den »ganzen Trödel« seines aristokratischen Erbes nach seinem Tode seiner Schwester in Polen zuzuschicken: »[V]ielleicht, wenn es gut geht, rutscht er mit der Zeit weiter ostwärts nach Asien hinüber, woher unsere Urväter gekommen sind, und findet da ein gemütliches Grab!« (2, 826). Bunte Bilder aus dem Orient leben auch noch im Volk, denn im Festzug zur Faschingszeit in München wird der Wagen von Venus von »Pfaffen und Juden, Türken und Mohren« gezogen (2, 598), während »einige venetianische Patrizier und Maler [...] die Vorstellungskraft auf die Lagunenstadt und von da ins ungemessene Weite an die Küsten der alten und neuen Welt [lenkten]« (2, 591). Nach der Parade verkleidet sich Ferdinand Lys in der »Tracht eines altorientalischen Königs« (2, 612), und in diesen »assyrischen Gewänder[n]« (2, 626) schließt er sich einer »Partie Whist« an (2, 622). Ein Whist spielender assyrischer König? In diesem anachronistischen Bild begegnet ein fantasievoller Orientalismus aus dem 16. einem britischen Kartenspiel aus dem 19. Jahrhundert, und damit wechseln wir von der fabelhaften Welt der Vergangenheit zu der europäischen Wirklichkeit im Zeitalter des Imperialismus. Spuren der Kolonien finden wir in Kellers gesammelten Werken hindurch verstreut. Auf der Fahrt durch die Schweiz nach Deutschland bemerkt Heinrich Blumen, »Georginen aus dem fernen Reiche der Montezumas herübergekommen«, die in der Schweiz so gut gedeihen, dass »die bunten Scharen Amerikas mit dem glühenden Rosenvolke des Morgenlandes [wetteifern]« (2, 29). In Kleider machen Leute lässt sich der vermeintliche Graf Strapinski Zigarren und Zigaretten aus Kuba, Smyrna und Virginien anbieten (4, 295), während Herr Jacques in der Rahmengeschichte der Züricher Novellen einen »neuen Ovid« schreiben will, »in welches eine neue Folge von Verwandlungen eingetragen werden sollte, nämlich Verwandlungen von Nym-

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Keller: Paralipomena zu Der grüne Heinrich, Bd. 2 (s. Anm. 5), S. 925. 195

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phen und Menschenkindern in Pflanzen der Neuzeit, welche die Säulen des Kolonialhandels waren«. Die Blumen und Pflanzen der Antike werden durch »das Zuckerrohr, die Pfefferstaude, Baumwoll- und Kaffeepflanze« ersetzt (5, 12). Dass solche Produkte durch Sklavenarbeit hergestellt wurden, bleibt Keller nicht unbekannt, denn er lässt Heinrich Lee seinen Gott bitten, »daß er den Amerikanern über die Kalamität der Sklavenfrage auf eine gute Weise hinweghelfen möchte, damit die Republik und Hoffnung der Welt nicht in Gefahr käme und dergleichen Dinge mehr« (2, 727). Hier geht es hauptsächlich darum, Heinrichs schwärmerischen Gottesbegriff bloßzustellen, aber der Verweis auf gerade dieses Beispiel ist für Kellers Erkenntnis der außereuropäischen Welt trotzdem kennzeichnend. In manchen Geschichten spielen die Kolonien eine zentrale Rolle. Der brasilianische Admiral Don Correa verhandelt in Afrika mit der Fürstin von Angola und wird mit einer Sklavin beschenkt, während der Franzose Thibaut von Vallormes seine Berlocken in Nordamerika an eine Indianerin verliert. Auch Schweizer haben Beziehungen zu den Kolonien in Kellers Werken. Pankraz der Schmoller nimmt an den britischen Kämpfen in Indien teil und dient bei der französischen Fremdenlegion in Afrika. Im Verlorenen Lachen importiert die Familie von Schwanau »Würmergespinste [...] aus verschiedenen Weltteilen« für ihre Seidenfabrik; das fertige Produkt wird dann weltweit verkauft, zum Beispiel für »das billige Prunkkleid, das die Weiber der kalifornischen oder australischen Abenteurer einige Jubeltage hindurch schmückte, um nachher weggeworfen zu werden« (4, 534). Gerade diese internationalen Beziehungen werden später zum Verhängnis, denn eine finanzielle Krise »von jenseits des Ozeans [brach] über die ganze Handelswelt herein und erschütterte auch das Glor’sche Haus ... Große Warenmassen lagen jenseits der Meere entwertet« (4, 563). Martin Salander geht es schließlich besser. Er verliert zunächst sein in Brasilien mühsam erworbenes Geld durch Schwindel, reist jedoch ein zweites Mal dorthin, um als reicher Mann nach Hause zurückzukehren. Nicht nur der Handel, sondern auch die Religion bringt Kellers Figuren in Kontakt mit der Fremde. Wenn die Seldwyler ihre Pfarrer necken wollen, heißt es in der Einleitung zum ersten Band, dann drängen sie in die Kirchen, loben heuchlerisch die Predigten, »und [bieten] mit großem Geräusch seine gedruckten Traktätchen und Berichte der Baseler Missionsgesellschaft umher, natürlich ohne ihm einen Pfennig beizusteuern« (4, 13). Albertus Zwiehahn, dessen Schädel Heinrich Lee in der zweiten Fassung des Romans mit sich nach Deutschland bringt, war schon zu Lebzeiten viel gereist: in Ostindien geboren, schließt sich der in Afra Zigonia Mayluft Verliebte den frömmelnden Herrnhutern an und wird

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prompt als Missionar nach Grönland verfrachtet. Wie zu erwarten, hatte der Atheist und Jesuitenhasser Keller kein Verständnis für jede Art religiösen Eifers. Im Grünen Heinrich I benutzt Keller die so genannten »Tischklopfer« als Beispiel für den Unsinn, der durch die Buchdruckerei in alle Welt gedrungen ist (2, 582). Es handelt sich um eine spirituelle Bewegung, die »1853 aus Amerika nach England [kam], von wo sie [...] nach Deutschland weiterwanderte und sich hier epidemieartig ausbreitete«, gerade als Keller am dritten Band seines Romans schrieb.10 Don Correa hat das Glück, seine Zambo-Maria von den Afrikanern zu bekommen, bevor die »modegerechte[ ] Aufstutzung« für ein Mädchen ihres Alters durchgeführt wird: »[N]och seien die üblichen Zähne nicht ausgebrochen, die Wangen nicht tätowiert und noch kein Ring durch die Nase gezogen« (6, 311). Barbarische Sitten zweifellos, mindestens aus der Perspektive eines gutbürgerlichen Schweizers aus dem neunzehnten Jahrhundert, aber Kellers eigentliche Pointe kommt erst später: ZamboMaria wird von Jesuiten entführt, und nur der Schrecken vor einem Ausbruch der Pest verhindert »die Nonnen und Pfaffen, dem verlassenen Mädchen den Kopf zu scheren und den Schleier aufzuzwingen und den übrigen Hokuspokus aufzuführen« (6, 324). Im ähnlichen Sinne verspottet Lucies Vater im Sinngedicht die Besuche, die sie als Kind mit ihrer Mutter einem katholischen Kloster gemacht hatte: »[S]o verglich uns der selige Vater scherzend mit jenen aztekischen Indianern, welche heutzutage noch zu gewissen Zeiten auf den großen Strömen landeinwärts fahren sollen, um an geheimnisvollen Orten den alten Göttern zu opfern« (6, 357). Die Auswanderung nach Amerika spielt eine besonders wichtige Rolle in Kellers Werken. Nordamerika war das Hauptziel der meisten Schweizer Auswanderer im 19. Jahrhundert, obwohl auch Brasilien für einige in Frage kam. In den Jahren 1816-1817, also zwei Jahre vor Kellers Geburt, fand bedingt durch schlechte Ernten, Hungersnot und die beginnende Industrialisierung die erste Auswanderungswelle aus der Schweiz statt.11 In den 1820er Jahren ließ die Zahl der Auswanderer nach, aber »vom Ende der dreißiger Jahre an bis zur Mitte der fünfziger stieg die Zahl wieder, zunächst rasch, dann sprunghaft«.12 In Kellers Familien- und Bekanntenkreis finden sich einige Auswanderer nach Amerika: Judith Keller, eine Verwandte aus dem väterlichen Heimatdorf, migriert nach Amerika;13 der Fabrikant, den Heinrich Lee kurz vor seiner Abreise nach Deutsch10 11 12 13

Stellenkommentar, Bd. 2 (s. Anm. 5), S. 1248. Ebd., S. 1142. Ebd., S. 1209. Ebd., S. 1120. 197

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land besucht, basiert vermutlich auf Eduard Münch, der bei Kellers Mutter wohnte und 1854 nach New York emigriert;14 der Freund, mit dem Heinrich Lee fingierte Briefe wechselt, ist das fiktionalisierte Ebenbild von Johann Müller, der »als Angestellter einer englischen Gesellschaft den Michigansee« ausgemessen hatte, bevor er in Washington DC starb.15 Kellers wiederholte Hinweise auf »die neue Völkerwanderung über die Meere« tragen zur anti-idyllischen Tendenz seiner Werke bei.16 Der Gottesacker des uralten Dorfes, auf dem reiche neben armen Familien liegen, liefert ein Bild der Eintracht. Die Ausgewanderten oder Ausgestoßenen dagegen bilden die Kehrseite dieses sonst harmonischen Bildes.17 Wenn Anna die Geister der alten verfolgten Heiden in der Höhle über dem Wasser zu sehen meint, sieht sie eigentlich Heimatlose, die von den Autoritäten aufgegriffen und »über die Grenze« gebracht werden (2, 282).18 Zu diesen zählt der schwarze Geiger in Romeo und Julia auf dem Dorfe, der »keinen Taufschein und keinen Heimatschein« hat und so verarmt ist, dass er »um den blutigen Pfennig gekommen [ist], mit dem [er] hätte auswandern können!« (2, 103). In der Regel sympathisiert Keller in seinen Schilderungen zumindest implizit mit diesen Verfolgten; ab und an kritisiert er jedoch auch diejenigen, die ausgewandert sind und nachher nur Schlechtes von der alten Heimat erzählen. Heinrich Lee beschreibt die Zeit, in der Deutschland so schlecht verwaltet wurde, »daß Scharen von Vertriebenen jenseits der Grenzen umherzogen und die Fremden im Schmähen und Schelten gegen ihr Vaterland förmlich unterrichteten« (3, 518). Diese Ausländer haben sonst keine Quellen über das fremde Land, und »so nahm der Fremde das Unwesen zuletzt für bare Münze und lernte es selbständig gebrauchen oder mißbrauchen« (3, 518). Der Erzähler der Drei gerechten Kammacher gibt zu, dass der etwas zynische Spruch, »[w]o es mir wohl geht, da ist mein Vaterland!«, für diejenigen taugt, denen es in der Fremde gut geht, aber er meint auch, dass solche Leute »das neue Land ihres Wohlergehens [...] wenigstens lieben müssen, wo sie immerhin sind« (4, 200). Der Kammacher Jobst gehört jedoch zu den Lauwarmen, »ohne Heimweh nach dem alten, ohne Liebe zu dem neuen Lande«, wie jene »niederen Organismen, wunderlichen 14 15 16 17

Ebd., S. 1138. Ebd., S. 1150. Keller: Die drei gerechten Kammacher, Bd. 4 (s. Anm. 5), S. 200. »The fact that the production of Heimat also eo ipso creates homelessness, is the grim inner structure Keller discerns of Swiss-German identity formation.« Nicholas Saul: Gypsies and Orientalism in German Literature and Anthropology of the Long Nineteenth Century, Oxford 2007, S. 79. 18 Vgl. auch den Kommentar zu dieser Stelle, Bd. 2 (s. Anm. 5), S. 1143. 198

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Tierchen und Pflanzensamen, die durch Luft und Wasser an die zufällige Stätte ihres Gedeihens getragen worden« (4, 201). Das Gegenteil von diesem schwachen Typus ist der aufrichtige Martin Salander, der zwar sein Geld in Brasilien verdient, aber nicht mit seiner Familie dorthin ziehen will: »Weil ich im Vaterlande leben und sterben will, ich bin kein Auswanderer!« (6, 400) Keller bespricht dieses Thema am deutlichsten in den Fragmenten über Patriotismus und Kosmopolitismus, die ursprünglich in die Beschreibung von Heinrichs Heimkehr eingehen sollten.19 »Die Rathschläge und Handlungen des beschränkten und einseitigen Patrioten werden seinem Vaterlande nie wahrhaft nützlich und [heilbringend] ruhmbringend sein«, schreibt Keller dort, aber auch »der einseitige Kosmopolit, der in keinem bestimmten Vaterlande mit seinem Herzen wurzelt«, ist kein Ideal.20 Genauso wie man sich selbst besser kennen lernt, indem man sich mit anderen Leuten befreundet, so lernt man die Heimat kennen und lieben, wenn man mit der Fremde bekannt wird. »Mißtrauet daher jedem Menschen, welcher sich rühmt, kein Vaterland zu kennen und zu lieben, aber mißtrauet auch dem, welchem mit den Landesgränzen die Welt mit Brettern vernagelt ist«, schließt Keller. Das eigene Land lieben ist schön und gut, »allein diese schöne Eigenschaft muß gereinigt werden durch die Liebe und Achtung vor dem Fremden, und ohne die große und tiefe Grundlage und die heitere Aussicht des Weltbürgerthumes ist der Patriotismus (ich sage absichtlich diesmal nicht Vaterlandsliebe) ein wüstes [und] unfruchtbares und todtes Ding«.21 Auf die Beziehung kommt es an, auf das Hin- und Herschweben zwischen dem Vertrauten und dem Fremden, auf eine produktive Zusammenarbeit zwischen Gegensätzen. In Anbetracht dieser Wechselbeziehung zwischen Heimatverbundenheit und Aufgeschlossensein für das Fremde wenden wir uns der Rolle von Amerika in Gottfried Kellers Werken zu. Das Bild von Amerika als Land der Freiheit taucht am Anfang von Pankraz, der Schmoller auf. An einem Sommernachmittag in Seldwyla, als Pankraz schon viele Jahre weggewesen ist, taucht eine Reihe von Fremden mit exotischen Tieren auf: einem Kamel, einem Bären, einigen Affen und einem großen Adler aus Amerika, der von seinem Händler in einem Käfig gequält wird, der aber früher über den »fernen blauesten Länder[n] ... in seiner Freiheit geschwebt« war (4, 21). Bevor Pankraz nach Indien und Afrika fährt, hält er sich für kurze Zeit in »Neuyork« auf, wo es ihm eigentlich hätte gefal19 Zu diesen Fragmenten siehe Hartmut Steinecke: Kellers Romane und Romanvorstellungen in europäischer Perspektive, in: Gottfried Keller. Elf Essays zu seinem Werk, hg. v. Hans Wysling, München 1990, S. 77-90. 20 Keller: Paralipomena zu Der grüne Heinrich, Bd. 2 (s. Anm. 5), S. 926. 21 Ebd., S. 926f. 199

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len müssen, wie er im Nachhinein bemerkt, »da hier Jeder tat, was er wollte, und sich gänzlich nach Bedürfnis und Laune rührte, von einer Beschäftigung zur andern abspringend, wie es ihm eben besser schien, ohne sich irgend einer Arbeit zu schämen, oder die eine für edler zu halten als die andere« (4, 31f.). Obwohl er trotzdem »in den ältesten, träumerischen Teil unsrer Welt« weiterfährt (4, 32), scheint ihm etwas von der Regsamkeit der Neuen Welt anzuhaften, denn gleich nach seiner Rückkehr in die Schweiz verlässt er das schläfrige Dorf Seldwyla und zieht in die Hauptstadt, wo er sich durch »Tüchtigkeit« und »Freundlichkeit« auszeichnet (4, 68). In Frau Regel Amrain und ihr Jüngster wird der liberale Herr Amrain aus der Schweiz vertrieben, weil er unvorsichtige Bemerkungen im Beisein des konservativen Kapitalisten macht, der seinen Steinbruch mitfinanziert. Frau Regel Amrain übernimmt das Geschäft, »als derselbe schon jenseits des atlantischen Weltmeers war und nicht mehr zurückkommen konnte« (4, 147). Er kommt aber doch zurück, zwar immer noch nicht so tüchtig wie seine Frau und sein inzwischen erwachsener Sohn, aber doch verändert. Das Geld, das er mitbringt, hat er »auf einmal durch irgend einen Glücksfall erwischt« und nicht durch aufrichtige Arbeit erworben (4, 192), aber »er hatte ein tüchtiges rastloses Arbeiten wenigstens mit angesehen und sich unter den Amerikanern ein wenig abgerieben, so daß ihm diese ewige Sitzerei und Schwätzerei nun selbst nicht mehr zusagte« (4, 193). Frau und Sohn bleiben im Vorstand des Steinbruchs, aber der heimgekehrte Vater lässt sich »von seinem wohlerzogenen Sohne nachträglich noch ein Bißchen erziehen« (4, 193). Die drei Schurken schließlich, die in Das Sinngedicht das Leben einer ›armen Baronin‹ fast zerstören, verwandeln sich nach der Auswanderung in die USA von verdreckten und versoffenen Halunken in ordentliche Bürger: »Einer sei ein stiller Bierzapfer in der Nähe von Newyork, der andere Schulhalter in Texas und der dritte Prediger bei einer kleinen Religionsunternehmung, und Allen gehe es gut« (6, 242). In allen diesen Fällen übt die Neue Welt eine positive Wirkung auf Figuren aus, die von der Heimatgemeinde ausgeschlossen oder gar ausgestoßen wurden. Wie in vielen anderen Werken der deutschsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts erscheint Amerika als »Land der Verheißung und der Zukunft«,22 ein Land ohne Standesdünkel und hemmende Traditionen, wo das Individuum sich frei entfalten kann. In den obigen Beispielen fungiert Amerika auch als »Schule der Erziehung und 22 Malsch, Wilfried: Einleitung. Neue Welt, Nordamerika und USA als Projektion und Problem, in: Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt – Nordamerika – USA, hg. v. Sigrid Bauschinger, Horst Denkler u. Wilfried Malsch, Stuttgart 1975, S. 9-16, hier S. 11. 200

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Bewährung«.23 Je verdorbener die Charaktere sind, desto länger müssen sie sich in Amerika aufhalten, und selbst Amerika kann nicht immer Wunder wirken. Pankraz wirft nur einen flüchtigen Blick in das unbefangene Leben von New York, aber er erinnert sich daran und arbeitet nach diesem Vorbild in der Schweiz tüchtig weiter. Der träge Herr Amrain bedarf eines längeren Aufenthaltes und kehrt nur leicht verbessert in die Heimat zurück. Die drei Schurken werden dauerhaft aus Europa verbannt und in Amerika von einander getrennt, und selbst unter diesen strengen Maßnahmen ist der Erfolg bescheiden. Die Heimkehr aus Amerika spielt auch eine wichtige Rolle in der zweiten Fassung des Grünen Heinrich. Während Judith in der ersten Fassung einfach verschwindet, kehrt sie in der zweiten zu Heinrich zurück, sobald sie hört, dass er in Schwierigkeiten geraten ist. »Die Amerikanerin!« (3, 854), wie sie von den fremden Kindern im Hause von Heinrichs verstorbenem Onkel genannt wird, ist durch ihre Erfahrungen in der Neuen Welt eine andere geworden, wie Heinrich gleich bemerkt: »[D]ieses Weib, das die Meere durchschifft, sich in einer neuen werdenden Welt herumgetrieben und zehn Jahre älter geworden, [war] zarter und besser, als in der Jugend und in der stillen Heimat« (3, 854). »Zarter und besser« bestimmt, aber auch entsexualisiert: Die Frau, die einst Heinrich spöttisch angelächelt hatte, »eine Rosenknospe im Munde, mit welcher ihre Lippen nachlässig spielten« (2, 343), die nackt aus dem Bade gestiegen war und die Heinrich feurig auf den Mund geküsst hatte (2, 522), wird jetzt zu einer keuschen Freundin und einer braven Krankenschwester und Lehrerin. Sie »pflegte die kranken Kinder und erzog die gesunden« (3, 855) und hält damit die kleine Kolonie zusammen, bis neue Verkehrsverbindungen sie in Kontakt mit neuen Lebenskräften bringt. Danach reist die tüchtige und inzwischen reich gewordene Judith in Amerika herum, sogar, »wenn sich Gesellschaft fand, landeinwärts, bis sie die wilden Indianer zu sehen bekamen« (3, 856). In die Schweiz zurückgekehrt, fungiert sie als Heinrichs Beichtmutter und stille Begleiterin, bis sie von einer Kinderkrankheit hinweggerafft wird, weil sie es nicht lassen konnte, »sich mit ihren hilfsbereiten Händen in eine ratlose Behausung armer Leute [zu stürzen], die mit kranken Kindern angefüllt und von den Ärzten abgesperrt war« (3, 862). Aus heutiger Sicht mag man diese Veränderung Judiths als eine prüde Verballhornung der vor Leben strotzenden Figur seines Jugendwerkes beklagen, aber im Text selber gibt es keine Spur von Ironie. Amerika hat die einst verlockendsinnliche Frau geläutert und dadurch das Überleben des Helden ermöglicht.

23 Martini: Auswanderer (s. Anm. 4), S. 182. 201

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Der Fall Judith bietet ein geschlechtsspezifisches Bild von Amerika als eine Art Erziehungsinstitut in Kellers Werken dar. Teilte Keller die radikalen Ansichten mancher Vormärz-Schriftstellerinnen und -Schrift steller in Hinsicht auf Sexualmoral, dann hätte die lebenslustige Judith die einst von Theodor Mundt verkündete »Emanzipation des Fleisches« vielleicht in Amerika verwirklichen können.24 Schon 1794 ließ Sophie Mereau die unkonventionelle Heldin ihres ersten Romans, Das Blütenalter der Empfindung, Freiheit in der Neuen Welt suchen;25 1820 schickte Henriette Frölich ihre revolutionäre Protagonistin zu einer utopischen Kolonie in Kentucky,26 und im Jahre 1847 veröffentlichte Fanny Lewald den satirischen Roman Diogena, in dem sie sich Ida Hahn-Hahns berüchtigte Gräfin Faustine als unzufriedene Gattin eines nordamerikanischen Indianerhäuptlings vorstellte.27 Als ausgesprochener Feind der angehenden Frauenbewegung wollte der ältere Keller aber nichts mit Sexualemanzipation der Frauen zu tun haben. Er lässt Judith in Amerika zwar reifer und stärker werden, aber sie wird auch immer »weiblicher« im Sinne von damals üblichen Geschlechterrollen, das heißt, fürsorgender, mütterlicher und entsagender. Auch Dortchen Schönfund ist in der Neuen Welt geboren, wie sich in der zweiten Fassung von Der grüne Heinrich herausstellt. Ihr Vater »ging nach Südamerika, um in seiner Art ein neues Leben zu beginnen«, berichtet der Graf Dietrich zu W...berg von seinem Bruder, »allein da fiel er erst recht dem unvernünftigen Zufall anheim und verlor frühzeitig in dortigen Händeln das Leben« (3, 767). Der europamüde Graf wäre ihm trotzdem gerne gefolgt: »Hätte ich einen Sohn, so wäre ich schon mit ihm nach der Neuen Welt gegangen, um in der verjüngenden Volksflut unterzutauchen« (3, 767). Stattdessen bleibt er zu Hause und adoptiert ein Findelkind, das von Russland-Auswandern zurückgelassen wird. Erst später erfährt er, dass dieses Kind eigentlich seine eigene Nichte ist, die Tochter seines ausgewanderten Bruders und also »Gräfin Dorothea 24 Renate Möhrmann: Die andere Frau. Emanzipationsansätze deutscher Schriftstellerinnen im Vorfeld der Achtundvierziger-Revolution, Stuttgart 1977, S. 71. Mundts Roman heißt Madonna. Unterhaltungen mit einer Heiligen (Frankfurt/M. 1973 [zuerst 1835]). 25 Sophie Mereau-Brentano: Das Blütenalter der Empfindung, in: Sophie Mereau-Brentano: Das Blütenalter der Empfindung. Amanda und Eduard. Romane, hg. v. Katharina von Hammerstein, München 1996, S. 7-58. 26 Henriette Frölich [Jerta]: Virginia, oder die Kolonie von Kentucky. Mehr Wahrheit als Dichtung, Berlin 1963. 27 Fanny Lewald: Diogena. Roman von Iduna Gräfin H... H..., Leipzig 1847. Vgl. Todd Kontje: Women, the Novel, and the German Nation 1771-1871. Domestic Fiction in the Fatherland, Cambridge 1998, S. 152f. 202

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W...berg (eigentlich heißt sie von Haus aus Isabel)« (3, 846). Statt Heinrich zu heiraten, was aus der Sicht des Grafen durchaus möglich gewesen wäre, vermählt sie sich »mit einem jungen Freiherrn Theodor von W...berg«. »Man wird ihm den Grafentitel verschaffen«, berichtet der Graf in seinem letzten Brief an Heinrich, »und ich werde gestatten, daß das Majorat auf ihn übergeht« (3, 846). Wie die Geschichte von Judith hat diese neue Entwicklung in Dortchens Schicksal ihre eigene Ambivalenz. Man könnte Keller einer reaktionären politischen Wende bezichtigen in einem sonst anspruchsvollen Roman, der plötzlich mit Motiven aus der Trivialliteratur arbeitet. Die schöne Waise entpuppt sich als eine verlorene Gräfin und heiratet statt des Bürgers Heinrich Lee einen Adligen. Man könnte aber auch anders argumentieren: Weder Dortchen noch ihr Onkel glauben noch an die Sonderstellung des deutschen Adels. Dortchen erscheint zwar einmal in einem »Kleid von schwerem schwarzen Atlas, das sehr aristokratisch geschnitten war«,28 als sie die Ahnenbilder mit Heinrich und dem Grafen betrachten will, aber das Kleid ist eigentlich eine Verkleidung, denn zu diesem Zeitpunkt weiß sie nicht, wer sie eigentlich ist. Sie neckt Heinrich wegen seiner bürgerlichen Ahnen, und als Heinrich errötend, aber stolz behauptet, dass er wenigstens nicht auf der Straße gefunden worden ist, packt sie gleich zu: »Nun hab’ ich Sie gefangen, mein wohlgeborener Herr! Ich bin nämlich auf der Straße gefunden, wie Sie mich da sehen!« (3, 768). Der Scherz hat aber auch seine ernsthafte Seite, denn das heitere und freie Naturell des Waisenkindes verleiht ihr eine Art natürlichen Adel. Auch ihr spontaner Unglaube an das Leben nach dem Tode und ihr Unbekümmertsein um die Existenz Gottes sind Ausdrücke eines freien Wesens, das sich nicht von alten Traditionen beeindrucken lässt. Der Graf seinerseits handelt edel, nicht weil er seine Familie achthundert Jahre zurückverfolgen kann, sondern weil ihm diese Tradition unbedeutend, ja lästig geworden ist. Wenn er Dortchens Gatten doch den Grafentitel verschafft, ist ihm die Erhaltung seines Familiennamens eigentlich egal: »Denn ich habe ebensowenig Grund, das Fortbestehen des Namens zu hindern, als dasselbe zu wünschen« (3, 846). In diesem Sinne lässt sich Dortchens Geburt in Südamerika und ihre Erziehung als Findelkind als Befreiung und Bereinigung des alten europäischen Adels betrachten. Die frische Luft der Neuen Welt lässt einen neuen Adel entstehen, eine Ari28 Dieses Zitat stammt aus dem Grünen Heinrich I (Bd. 2 [s. Anm. 5], S. 823). In der zweiten Fassung lautet der Satz leicht verändert: »Sie war in schwarzen Atlas gekleidet, trug auf Hals und Brust eine vornehme Spitzenzierde, und in dieser verlor sich eine Perlenschnur.« (Bd. 3 [s. Anm. 5], S. 764) Aber auch hier, wie der Graf bemerkt, »[gefällt] es unserer Dame einmal, die Ahnfrau zu spielen« (Bd. 3 [s. Anm. 5], S. 767). 203

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stokratie der angeborenen menschlichen Würde und nicht die der modrigen Tradition. Nicht immer erweckt der Zaubertrunk eines Amerikaaufenthalts zu neuem Leben; im Falle von Regine aus Das Sinngedicht führt er stattdessen in die Tragödie und in den Tod. Reinhart erzählt die Geschichte von Erwin Altenauer, dem Sohn einer deutsch-amerikanischen Familie in Boston. Obwohl die Familie seit über hundert Jahren in Amerika lebt, sprechen sie zu Hause immer noch Deutsch, und Erwin liebt die alten Traditionen so sehr, »daß er dem Verlangen nicht widerstand, das Urland selbst kennenzulernen«. Erwin will sich »auf alle Fälle als Amerikaner« in Europa zeigen, aber er hat auch nichts gegen die scherzhafte Mahnung seiner Verwandten, er solle »eine recht sinnige und mustergültige deutsche Frauengestalt über den Ozean zurück[ ]bringen«. In der armen Dienstmagd Regine meint er eine solche gefunden zu haben. Regine darf ihn aber nicht in ihrem rohen Zustand als echtes »Rheingold[ ]« (6, 140) zurück in die Heimat begleiten, sondern muss vorher von ihm erzogen werden. In dieser modernen Pygmaliongeschichte geht aber alles schief. Bevor Erwin mit seinem Erziehungsprojekt fertig ist, zwingen ihn dringende Geschäfte, nach Hause zurückzukehren. Statt Regine gleich mitzunehmen, vertraut er seine Verlobte drei Frauen an, die ihre Bildung vollenden sollen. Sie richten aber nur Schaden an: Eine maskulin wirkende Malerin benutzt sie als Aktmodell und ein feuriger Südamerikaner scheint eine heimliche Beziehung mit ihr zu haben, während ihr Bruder als Raubmörder verhaftet und hingerichtet wird. Endlich wieder vereinigt herrscht peinliche Stille zwischen den Eheleuten, er überzeugt, dass seine Frau ihm untreu gewesen, sie sicher, dass ihr Mann sie verlassen wird, wenn er erfährt, dass er die Schwester eines Raubmörders geheiratet hat. Erst nachdem sie sich erhängt hat, erfährt er die Wahrheit; soweit Reinhart weiß, hat Altenauer nie wieder geheiratet. In dieser Geschichte hat Keller die Tragödie geschrieben, die er für die Bühne nie vollenden konnte.29 Schuld an Regines Tod sind verschiedene Faktoren: ihr mangelndes Selbstvertrauen, eine Reihe von Zufällen, das verhängnisvolle Schweigen zwischen den Ehepartnern und die als unnatürliche Sucht gebrandmarkte Lust der Malerin, Männerkleider zu tragen und das unschuldige Mädchen zu kompromittierenden Situationen zu verführen.30 Aber vor allem ist Erwins idée fixe Schuld daran, dass seine Frau seinem altmodischem »Bild verklärten deutschen Volkstumes« (6, 160) entsprechen soll, sowie sein Standesdünkel. Während Re29 Vgl. das Fragment Therese (Bd. 7 [s. Anm. 5], S. 498-532) und den Stellenkommentar dazu (ebd., S. 1038-1049). 30 Vgl. Antje Harnisch: »Die Sucht, den Mann zu spielen« in Gottfried Kellers Realismus, in: German Quarterly 68 (1995), S. 147-159. 204

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gine sich immer vergisst und allzu freundlich mit den Bedienten plaudert, während sie zu einer feinen Dame erzogen werden soll, denkt Erwin »nur an den gemessenen Ton, der in seinem elterlichen Hause herrschte, und an die Rangstufe, welche Regine dort einzunehmen berufen war« (6, 160). In dieser Hinsicht ist Erwin europäischer als die Europäer; statt wie Herr Amrain »sein Gläschen stehend zu trinken« (4, 193) unter Menschen, die sich gar nicht um ihren sozialen Rang kümmern, bildet er sich ein, jemand ganz apartes zu sein, der nur mit einer entsprechend perfekten Frau heimkehren darf. Die Tatsache, dass seine Familie nach drei Generationen in Amerika immer noch Deutsch spricht, zeigt auch, wie wenig sie sich der neuen Gesellschaft angepasst hat. Regine ist also die Tragödie eines Mannes, der nicht von Amerika gelernt hat, der in Standesdünkel und romantischen Fantasien verharrt, statt sich von der Freiheit der Neuen Welt inspirieren zu lassen. Während Keller gelegentlich von Begegnungen mit Indianern in Amerika, Sklaven in Afrika und Missionaren in Grönland erzählt, stehen im Grünen Heinrich die Beziehungen zwischen der Schweiz und dem benachbarten Deutschland im Vordergrund. Der junge Heinrich Lee fährt voll freudiger Erwartung in das Land, wo »seine Sprache rein und so gesprochen, wie er sie aus seinen liebsten Büchern kannte, so glaubte er wenigstens« (2, 37). Der erste Eindruck bestätigt seine Erwartungen: Der Rhein »[wallt] im Mondlichte glänzend daher« (2, 37), und »alles, was er sich unter Deutschland dachte, war von einem romantischen Dufte umwoben« (2, 38). Aus solchen Träumen wird er aber unsanft erweckt. Zweimal während seiner ersten Stunden auf deutschem Boden wird ihm der Hut abgeschlagen, einmal von Männern, die sich als Stellvertreter des Königs identifizieren, und einmal vom König höchstpersönlich. Wie Keller selber kommentiert, soll der zweite Vorfall eine Steigerung des ersten sein, »um den ersten prosaischen Eindruck zusammenzufassen, welchen das autoritätsmäßige Deutschland auf einen jungen Idealisten machte, welcher das Land des Geistes und der Poesie gesucht hatte«.31 Als Heinrich auf den ersten Affront ärgerlich reagiert, lachen ihn die Männer aus: »Schade, daß er mit seinem Spleen nicht in England zu Hause ist!«, mokiert sich der eine; »Ich glaube, er würde noch lieber nach Amerika gehören«, setzt der andere hinzu (2, 45). Damit ist die politische Landschaft kurz umrissen: das reaktionäre, monarchische Deutschland auf der einen, und die fortschrittliche, demokratische Schweiz zusammen mit England und Amerika auf der anderen Seite. Genau diese Konstellation wird während des Tell-Spiels wieder-

31 Stellenkommentar, Bd. 2 (s. Anm. 5), S. 1064. 205

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holt: Heinrich ist enttäuscht, dass mitten im Volksspiel Bürger ihre eigenen Interessen verteidigen, aber der Statthalter versichert ihm, dass diese Schweizer trotzdem tapfere Patrioten sind, genauso wie die Engländer und Amerikaner, denen man »die gleichen Vorwürfe der Engherzigkeit, des Eigennutzes« macht (2, 419). Selbst der Möchtegern-»Schmied seines Glückes« Johannes Kabys hat »als zarter Jüngling schon den ersten seiner Meisterstreiche geführt und seinen Taufnamen Johannes in das englische John umgewandelt [...] da er dadurch von allen übrigen Hansen abstach und überdies einen angelsächsisch unternehmenden Nimbus erhielt« (4, 333). Insofern ist es doppelt ironisch gemeint, wenn Heinrichs erste Deutschlandreise als eine Fahrt »tief in das ›Land der Zukunft‹ hinein« beschrieben wird (2, 39): »Das Land, in dem er seine Zukunftshoffnungen zu verwirklichen sucht, ist politisch und geistig tief in vergangene Zeiten verstrickt, und er selbst wird dort keine Zukunft haben«.32 So einfach ist die Beziehung zwischen Deutschland und der Schweiz aber nicht. Das zeitgenössische Deutschland wird in der Tat als AntiSchweiz und Anti-Amerika dargestellt, aber das Deutschland der Zukunft mag anders aussehen. Deutschland ist schließlich nicht nur das Land der veralteten Monarchien, sondern auch das Land von Jean Paul, Heine, Schiller, Goethe und Feuerbach. Dort hat Heinrichs Vater seine fortschrittlichen Ideen gelernt, und dort bereitet sich die Revolution von 1848 vor. Auch wenn Keller weiß, dass diese Revolution fehlschlagen wird, heißt das nicht, dass die Ideale der deutschen Liberalen nie verwirklicht werden können. Der norddeutsche Hunne, der Annas Sarg zusammenzimmert, spricht schon »von der Freiheit deutscher Nation [...] und wie bald die stattliche Republik eingeführt werden müßte« (2, 532), und die scheinbar rückwärtsgewandte Verherrlichung der Zeit von Kaiser Maximilian im Münchener Festzug erweckt auch die Hoffnung, »daß ein solches Volk doch noch zu was anderem fähig sei als zur Darstellung der Vergangenheit und daß diese körperliche Wohlgestalt [...] die selbständigen Männer der Zukunft hervorbringen werde« (2, 596). Schon haben die Schweizer und die Deutschen eine gemeinsame Vergangenheit. Nur »der Lauf der Geschichte« sorgt dafür, dass Heinrich bei seiner ersten Überquerung des Rheins sich nicht daran erinnert, dass er »nur von einem Gau des alten Alemanniens in den andern hinüber, aus dem alten Schwaben in das alte Schwaben gegangen« war (3, 494). Das heißt nicht, dass man die Unterschiede der Gegenwart vertuschen soll, schreibt Keller in seinen sehr frühen Vermischten Gedanken über die Schweiz. »Denn, zugegeben, daß wir den nämlichen Völkerstämmen entsprossen sind wie unsere Nachbaren, so tut das durchaus nichts zur Sa-

32 Ebd., S. 1059. 206

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che.« Schließlich stammen wir alle von Adam her, aber der »Geist der Generationen verändert sich unendlich« im Laufe der Zeit, und verschiedene Nationen mit bestimmten Eigenschaften entstehen.33 Auf der anderen Seite heißt es im Grünen Heinrich, dass »Völkerfamilien und Sprachgenossenschaften, welche zusammen ein Ganzes bilden sollen« trotz ihrer Unterschiede doch voneinander lernen und sich produktiv ergänzen sollen: »[D]enn wie durch alle Welt und Natur bindet auch da die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit, und das Ungleiche und doch Verwandte hält besser zusammen« (2, 562). Das beste Beispiel für ein produktives Zusammenwirken der Deutschen und der Schweizer ist Schillers Wilhelm Tell. Dass ein Schwabe in Weimar, der die Schweiz nur aus Büchern und Ansichtskarten kannte, das Nationalspiel der Helvetier geschrieben hat, wird nicht als ironisch oder widersprüchlich empfunden. Heinrich »liebte sein helvetisches Vaterland; aber über diesen Strom waren dessen heiligste Sagen in unsterblichen Liedern verherrlicht erst wieder zurückgewandert«. Wenn die Geschichte von Wilhelm Tell in der Schweiz erzählt oder dargestellt wird, dann in den Worten, »welche ihm der deutsche Sänger gegeben hat« (2, 37-38). Auch in seinem Aufsatz Am Mythenstein erweist sich Keller als dankbar für das Geschenk Schillers an die Schweizer.34 »Ein großer Dichter schüttet aus dem Füllhorn seines Reichtums ein Schauspiel hervor, und einem alten Bundesstaate, der eine stattliche Vorzeit und eine Geschichte hat [...], dem aber eine verklärende Nationaldichtung fehlt, ist diese in der schönsten klassischen Form geschenkt« (7, 164). Bezeichnend für das Tell-Spiel in Der grüne Heinrich ist die verwischte Grenze zwischen Realität und Fiktion. »Denn dies war das Schönste bei dem Feste, daß man sich nicht an die theatralische Einschränkung hielt [...] sondern sich frei herum bewegte und wie aus der Wirklichkeit heraus und wie von selbst an den Orten zusammentraf, wo die Handlung vor sich ging« (2, 400). Die Reden, die von den Amateurschauspielern gehalten werden, unterscheiden sich kaum von den »Reden in einer Volksversammlung« (2, 403), und Tell zittert wirklich, wenn er zum theatralischen Schuss anlegt. Das Verhältnis zwischen Spiel und Wirklichkeit entspricht der Beziehung zwischen der Schweizer Geschichte und den Worten des deutschen Dichters: Das Zusammenwirken von Eigenem und Fremdem schafft eine erhöhte Wirklichkeit, ein ernsthaftes Spiel, in dem die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Deutschland und der Schweiz, Realität und Fiktion aufgehoben werden. Und damit wird 33 Gottfried Keller: Vermischte Gedanken über die Schweiz, in: Sämtliche Werke, hg. v. Jonas Fränkel u. Carl Helbing, Bd. 21, Bern 1926-1942, S. 102. 34 Vgl. Muschg: Gottfried Keller (s. Anm. 3), S. 280-282. 207

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auch, mindestens implizit, die Opposition zwischen der Neuen Welt und Deutschland beiseite gelegt. Nicht mehr stehen die demokratische Schweiz, England und Amerika dem reaktionären, monarchischen Deutschland gegenüber, denn das vom deutschen Dichter verfasste Schweizer Volksstück entwirft ein gemeinsames, utopisches Bild der befreiten Menschheit. Wo liegen die Grenzen von Kellers Kosmopolitismus? Gibt es Stellen, in denen er den gängigen Vorurteilen seines Zeitalters erliegt? Die postkoloniale Kritik will gerade einen solchen blinden Fleck in Pankraz, der Schmoller entdeckt haben. »So human das Ende, so inhuman sind viele Wegstrecken Pankraz’, zumal in den exotischen Ländern«, kommentiert die Nigerianerin Edith Ihekweazu. Er darf sich in der Fremde bilden, aber Afrika bleibt bloß Kulisse, ein Symbol des Primitiven, das überwunden werden muss. »Dabei geht leicht das Bewußtsein verloren, daß reale Kulturen zu symbolischen Wildnissen verzogen sind.«35 Dazu könnte man die afrikanische Fürstin von Angola in Don Correa hinzufügen, die mit ihrem bunten Tross »in seinem barbarischen Pompe« auftritt (6, 304), und dennoch so stolz ist, dass sie ihren menschlichen Thron lieber verschenkt, als ihn ein zweites Mal zu benutzen. Das Bild von dem großen, herumhüpfenden Indianerhäuptling mit den großen Berlocken an der Nase ist auch nicht gerade schmeichelhaft oder einfühlsam. Ob man solche Stellen als harmlose Karikaturen eines Humoristen abtun und lieber die humorlose Selbstgerechtigkeit der politisch korrekten postmodernen Kritiker ins Visier nehmen soll, ist Geschmackssache; wichtiger scheinen mir die vielen Textstellen, in denen Keller selber Ansätze zu einer Kritik des Eurozentrismus liefert. Dies geschieht häufig in Das Sinngedicht, als zum Beispiel Lucie in der Rahmengeschichte Reinholds »orientalische[ ] Anschauungen« verspottet (6, 139). Sie vergleicht seine Geschichte über den Mann, der sich eine schöne Braut aus dem Volk holt, mit einem Käufer, »der auf den Sklavenmarkt geht und die Veredlungsfähigkeit der Ware prüft« (6, 138). Der Franzose Thibaut, der seine Berlocken verliert, wird erst recht für seine rousseauhaften Phantasien über die edlen Wilden lächerlich gemacht.36 Auch das Ende von Don Correa dreht den Spieß um. Auf seine Frage, ob seine ehemalige Sklavin Maria-Zambo ihn freiwillig gewählt hätte, wenn sie vorher von ihrer 35 Edith Ihekweazu: Versuch einer nigerianischen Textlektüre von Gottfried Kellers Pankraz, der Schmoller, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 18 (1992), S. 469-470. Vgl. auch Böhler: Die falsch besetzte zweite Herzkammer (s. Anm. 8). 36 Vgl. Susanne Zantop: Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770-1870, Durham, London 1997, S. 206-209. 208

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menschlichen Freiheit gewusst hätte, kann sie ihm nur ausweichend zweideutig beantworten: »›Du fragst zu spät‹, erwiderte sie mit nicht unfeinem Lächeln; ›ich bin jetzt dein und kann nicht anders, wie das Meer!‹« (6, 331) Ob die Liebe zu ihm freiwillig oder angelernt ist, kann sie selber nicht entscheiden, aber gerade dadurch wird die Selbstzufriedenheit ihres Gatten in Frage gestellt. Denn wenn, wie Susanne Zantop treffend argumentiert hat,37 die spontane Liebe einer Eingeborenen zu ihrem europäischen Gatten eine weit verbreitete koloniale Fantasie war, ist Zambo-Marias bewusste Verweigerung einer deutlichen Antwort auf Don Correas Frage auch eine Herausforderung seiner Autorität. Zugegeben: Kellers Kosmopolitismus ist nicht völlig unbeschränkt. Wilde bleiben Wilde, Barbaren Barbaren, und Jesuiten – nun eben Jesuiten. Aber ein bornierter Lokalpatriot ist er auch nicht gewesen. Wie schon Walter Benjamin bemerkte, befürwortete der reife Keller eine »starke[ ], siegreiche[ ] Bourgeoisie. Nicht aber auf ihrem Wege zum Imperialismus.« Er war vielmehr geprägt durch den Liberalismus des Vormärz, und war in dieser Hinsicht typisch für sein Land. »Die Schweiz hat wohl am längsten in ihren oberen Schichten Züge des vorimperialistischen Bürgertums festgehalten«.38 In den 1850er Jahren war die Schweiz »die Fluchtburg des europäischen Fortschritts geworden, die Heimat der überall sonst geschlagenen, veruntreuten, ins Exil gedrängten Demokratie.«39 Keller war stolz auf dieses Land, aber »nicht nationalistisch im begrenzten Sinn«. Vielmehr hoffte er, wie Adolf Muschg betont, dass »der Triumph seiner Sache im eigenen Land den demokratischen Frühling für ganz Europa einläuten werde«.40 Schon gegen Ende seines Lebens war Keller viel pessimistischer geworden, aber er muss sich im Grabe umgedreht haben, als der Schweizer Wahlkampf im Herbst 2007 begann. Denn damals sorgte die Schweizer Volkspartei mit einem kontroversen Wahlplakat weltweit für Schlagzeilen. Unter der Parole »Volksinitiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer« stand ein Bild von vier Schafen, drei weißen und einem schwarzen. Während zwei weiße Schafe etwas blöde dreinschauen, gibt das dritte dem schwarzen einen kräftigen Tritt in den Hintern. »Sicherheit schaffen«, heißt es unten rechts, und in kleineren Buchstaben, »Mein Zuhause – Unsere Schweiz«. 37 Ebd., S. 121-161. 38 Benjamin: Gottfried Keller (s. Anm. 4), S. 284f. Vgl. auch Muschg: Gottfried Keller (s. Anm. 3), S. 260. Eine sehr erhellende Studie dieser antiimperialistischen Mentalität bietet Lionel Gossman: Basel in the Age of Burckhardt. A Study in Unseasonable Ideas, Chicago-London 2000. 39 Muschg: Gottfried Keller (s. Anm. 3), S. 254. 40 Ebd., S. 260. 209

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Diese nicht gerade subtile Anspielung auf die Angst vor dem Fremden hat eine lange Tradition; Kellers Schwarzer Geiger wusste schon ein Lied davon zu singen, oder wenigstens zu spielen. Damals wanderten die Schweizer in Scharen aus; jetzt ist die isolationistische Schweiz wie die anderen europäischen Länder ein Einwanderungsland geworden. Damals war die bedrohliche Welt weit weg, wie zum Beispiel Pankraz’ Löwe in der afrikanischen Wüste, während jetzt die schwarzen Schafe vor der eigenen Tür stehen. Aber ist der Unterschied wirklich so groß? Die fremde Welt draußen war schon immer eine Projektionsfläche der inneren Ängste; alles, wovor man sich hier fürchtete – seien es Frauen, Sexualität, Schwarze oder Juden – konnte man metaphorisch in die Wildnis verbannen.41 Keller ist nicht immer frei von den Vorurteilen seines Zeitalters, aber sehr oft wirken die Ansichten und Einsichten dieses Schweizer Kosmopoliten wie ein erfrischendes Antidot gegen die giftigen Reden seiner oder auch unserer Zeitgenossen. Denn wie er selber betonte, »ohne die große und tiefe Grundlage und die heitere Aussicht des Weltbürgerthumes ist der Patriotismus [...] ein wüstes [...] unfruchtbares und todtes Ding«.42

41 Vgl. das knappe aber sehr einleuchtende Vorwort von Corina Caduff, in: Figuren des Fremden in der Schweizer Literatur (s. Anm. 8), S. 7-15. 42 Keller: Paralipomena zu Der grüne Heinrich I, Bd. 2 (s. Anm. 5), S. 927. 210

IN

IRRITATIONEN VON IDENTITÄTEN. DEUTSCH-AMERIKANISCHE MIGRATIONSBEWEGUNGEN GOTTFRIED KELLERS NOVELLE REGINE TOBIAS LACHMANN

In der Einleitung zum Sammelband Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850-1914) gehen Achim Barsch und Peter M. Hejl von der Annahme aus, dass der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine zentrale Bedeutung für jedes Verständnis der Veränderungen von komplexen Vorstellungssystemen wie den historisch variablen Menschenbildern zukommt, weil viele der zum Teil radikalen Umwälzungen seit dem 17. Jahrhundert erst in diesem Zeitraum zu ihrer vollen Entfaltung kommen. Fraglich bleibt allerdings, ob neben den drei dafür genannten Gründen – dem Evidenzverlust alter Vorstellungen, der Entstehung neuer Konzepte für das Verständnis des Menschen sowie der zunehmenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung1 – nicht auch die Migrationsbewegungen einen entscheidenden Anteil haben an den aufkommenden Irritationen traditioneller Vorstellungen von ›der‹ menschlichen Identität. Zu einer solchen Einschätzung könnte man nämlich durchaus gelangen, betrachtet man etwa die Literatur des Bürgerlichen Realismus, aus deren häufig so betulich ausstaffierten heimatlichen Räumen es die Figuren nicht selten entweder hinauszieht in eine mehr oder minder exotische Ferne oder in die das Fremde unversehens hereinbricht, wobei vermeintliche Selbstverständlichkeiten wie die eigene bzw. fremde Identität nachhaltig in Frage gestellt werden. Bezieht man die Publikationsorte dieser Texte, die florierenden (Familien-)Zeitschriften,2 1

2

Vgl. Achim Barsch u. Peter M. Hejl: »Zur Verweltlichung und Pluralisierung des Menschenbildes im 19. Jahrhundert: Einleitung«, in: Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850-1914), hg. v. Achim Barsch u. Peter M. Hejl, Frankfurt/M. 2000, S. 7-90, hier S. 13. Vgl. Manuela Günter: »Die Medien des Realismus«, in: Realismus. Epoche – Autoren – Werke, hg. v. Christian Begemann, Darmstadt 2007, S. 45-61. 211

TOBIAS LACHMANN

und die Höhe ihrer Auflagen in die Überlegungen ein, so bekommt man eine erste Ahnung von der potentiellen Wirkungsmacht dieser Erzählungen, die ihre Phantasmen an den interdiskursiven Schnittstellen in die sozialen Reproduktionszyklen der Wissensintegration und -proliferation einspeisen und damit das ihre zur so genannten ›bürgerlichen Sinnkrise‹ bzw. zu deren nicht zuletzt auch literarischen ›Verarbeitung‹ beitragen.

Die bürgerliche Identitätskrise im sozialgeschichtlichen Kontext Als Ursachen für die fundamentale Krise des bürgerlichen Selbstverständnisses, die sich schwerpunktmäßig in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts manifestiert, müssen die verschiedensten politischen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen seit dem nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg nach 1776 und der französischen Revolution von 1789 gelten. Neben massiven Umwälzungen in den Sektoren Wirtschaft, Politik, Bevölkerung, Technik und Religion sind es vor allem neue Erkenntnisse im Bereich der Wissenschaften, die von einem nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die zeitgenössischen Vorstellungen von der menschlichen Natur sind und die von den damaligen ›neuen Medien‹ von rein individuellen Erfahrungen und Forschungsergebnissen in kollektive Imaginationen transformiert werden. Schon Johann Caspar Lavaters Physiognomik liegt ein Menschenverständnis zugrunde, das die dominierenden Dichotomien von Körper vs. Geist sowie Außen vs. Innen zu überwinden sucht. Gemäß ihres Selbstverständnisses als »Fertigkeit, durch das Aeußerliche eines Menschen sein Innres zu erkennen«,3 zielt die Physiognomik darauf ab, den äußeren Schein mit dem inneren Sein in Einklang zu bringen und entpuppt sich damit als ein Programm mit großem Einfluss auf das Bürgerliche Trauerspiel mit seiner zentralen Frage nach dem ›wahren Kern‹ des kalkulierenden Adeligen, der sich – vom bürgerlichen Standpunkt aus betrachtet – zu seinen geheimsten Gefühle bekennen soll. Während medizinischanatomische Forschungen wie diejenigen zur Sinnesphysiologie den Menschen als physiko-chemische Maschine erscheinen lassen, rückt die Evolutionstheorie kontingente Ereignisse wie die Entstehung von genetischen Mutationen, die zur Anpassung an die natürliche Umwelt führen, oder die Vorgänge der natürlichen Auslese in den Fokus eines neuen

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Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Faksimile-Druck nach der Leipziger Ausgabe von 1775, Bd. 1, Zürich 1968, S. 13. 212

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Wissens vom Menschen. Nicht zuletzt durch die Abkehr von der Variablen eines Gottes, der jederzeit in die unvorhersehbaren natürlichen Abläufe hätte intervenieren können, und damit durch die Abkehr von jeglichen Vorstellungen etwaiger überindividueller Mächte, muß aber vor allem der Darwinismus mit seinem fulminanten Marsch durch die Diskurse als eine der tiefgreifendsten Erschütterungen traditioneller Menschenbilder gelten. Entgegen diesem Trend zur Säkularisierung des Denkens profiliert sich aber gerade in der ›idealistischen‹ Literatur des Bürgerlichen Realismus eine der Romantik geschuldete Tendenz zur Verklärung eben jener metaphysischen Konzepte wie derjenigen von »Volk«, »Volksgeist«, »Geschichte« und »Kultur«. Insofern erscheint es wenig überraschend, dass die essentielle Sinnfrage des Bürgertums in der Literatur des Bürgerlichen Realismus ausgerechnet in einer – zumindest dem Titel nach – lyrischen Form formuliert wird.

Das Sinngedicht und die Deutsche Rundschau Zwischen Januar und Juni 1881 erscheint Gottfried Kellers Das Sinngedicht zunächst als Vorabdruck in der Deutschen Rundschau,4 dem » führende[n] literarische[n] Organ der Wilhelminischen Kaiserzeit«.5 Nach ihrer Gründung wird diese Zeitschrift,6 in der wissenschaftliche Essays sowie Novellen und Romane erscheinen, schnell zum »repräsentativen Organ« für die »Gesammtheit der deutschen Culturbestrebungen«.7 Die

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Gottfried Keller: »Das Sinngedicht. Novellen«, in: Deutsche Rundschau 26 (1881), S. 1-38, 161-192 u. S. 321-342 sowie in: Deutsche Rundschau 27 (1881), S. 1-38 u. S. 161-194. Die Angabe der Seitenzahl erfolgt ohne Angabe von Fußnoten unmittelbar im Anschluss an das Zitat. Siehe auch Gottfried Keller: »Das Sinngedicht«, in: Gottfried Keller: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Walter Morgenthaler, Bd. 7. Das Sinngedicht. Sieben Legenden, Basel, Frankfurt/M. 1998, S. 3-329. Hugo Aust: Realismus. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart, Weimar 2006, S. 11. Zur Deutschen Rundschau siehe Günter Butzer, Manuela Günter u. Renate von Heydebrand: »Strategien zur Kanonisierung des Realismus am Beispiel der Deutschen Rundschau«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 24.1 (1999), S. 55-81. http://programm.der.deutschen.rundschau.at.german.pages.de (Zugriff vom 02.06.2008). Siehe auch Julius Rodenberg: »Programm der Deutschen Rundschau«, in: Wilmont Haacke: Julius Rodenberg und die Deutsche Rundschau. Eine Studie zur Publizistik des deutschen Liberalismus (18701918), Heidelberg 1950, S. 196-198, hier S. 196. 213

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Auflage von 10000 Exemplaren sichert nicht nur den Status als führendes Organ im kulturellen Leben Deutschlands, sondern auch der Deutschen in aller Welt. Neben dem Deutschen, »welcher als Lehrer, Kaufmann oder schlichter Arbeiter Fuß gefaßt [hat] in allen civilisierten Gegenden des Erdballs, ja selbst über diese hinaus« zählt laut Gründungsprospekt auch der Deutsche, »welcher seine Gesinnung, Sprache und Literatur nicht aufzugeben braucht, um ein geachteter und einflußreicher Bürger der Vereinigten Staaten von Nordamerika zu werden«8 zur potentiellen Leserschaft der ebenso wissenschaftlichen wie literarischen Monatsschrift. Der Erfolg der Deutschen Rundschau hängt nicht zuletzt mit der schon im Gründungsprospekt formulierten Prämisse zusammen, dem Dilettantismus in keiner Weise Vorschub leisten zu wollen. Das ist nicht nur erfreulich für all diejenigen, die sich mit der Zeitschrift und den darin erschienenen Texten beschäftigen, sondern auch für den österreichischen Statistiker und Wirtschaftshistoriker Karl Theodor von Inama-Sternegg, den Begründer der deutschen Anthropogeographie und Geopolitik Friedrich Ratzel und den Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller, die durch den Abdruck ihrer Texte in der Deutschen Rundschau von der Redaktion als »Männer der Wissenschaft«9 bzw. als bedeutender zeitgenössischer Dichter und Novellist geadelt werden.10 Eine Gemeinsamkeit zwischen den dreien besteht darin, dass ihre unterschiedlich gearteten Auseinandersetzungen mit Amerika in einem Band, nämlich der Nummer 27 der Deutschen Rundschau vereint sind: Inama-Sterneggs Überlegungen zum Zeitalter des Credits,11 Ratzels Culturgeographie der Vereinigten Staaten von Amerika12 und Kellers Das Sinngedicht. Es entsteht dabei eine eigentümliche Spannung zwischen dem wissenschaftlichen Zugriff auf der einen und dem literarischen Zugriff auf der anderen Seite. Denn es stellt sich die Frage, inwiefern Keller letztlich nicht das genaue Gegenteil von der in der Rezension zu

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http://programm.der.deutschen.rundschau.at.german.pages.de (Zugriff vom 02.06.2008). Siehe auch Rodenberg: »Programm der Deutschen Rundschau« (s. Anm. 7), S. 197. 9 http://programm.der.deutschen.rundschau.at.german.pages.de (Zugriff vom 02.06.2008). Siehe auch Rodenberg: »Programm der Deutschen Rundschau« (siehe Anm. 7), S. 196. 10 http://programm.der.deutschen.rundschau.at.german.pages.de (Zugriff vom 02.06.2008). Siehe auch Rodenberg: »Programm der Deutschen Rundschau« (s. Anm. 7), S. 196. 11 Karl Theodor von Inama-Sternegg: »Das Zeitalter des Credits«, in: Deutsche Rundschau 27 (1881), S. 81-90. 12 E. K.: »Ratzel’s Culturgeographie der Vereinigten Staaten von Amerika«, in: Deutsche Rundschau 27 (1881), S. 150-152. 214

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Ratzels Culturgeographie geforderten Aufklärung von Amerika-Mythen leistet. Dort heißt es: »Würde [mit Ratzels Culturgeographie, T.L.] auch in weiteren Kreisen dem Eingang richtiger Vorstellungen über das Land [Nordamerika], welches das Ziel theils berechtigter, theils übertriebener Wünsche und Hoffnung ist, Vorschub geleistet, so wäre dies gleichfalls eine nicht zu unterschätzende Wirkung.«13 Wenn der Amerikadiskurs in der deutschsprachigen Literatur des bürgerlichen Realismus im Folgenden exemplarisch am Beispiel von Gottfried Kellers Novellenzyklus Das Sinngedicht analysiert wird, dann steht aber eben jene Konzeption von Amerika als diskursivem Gegenstand im Mittelpunkt. Ich werde mich dabei insbesondere auf das Regine überschriebene achte Kapitel konzentrieren, meine Analyse an gegebener Stelle aber im Rückgriff auf Inama-Sternegg und Ratzel kontextualisieren.

Deutsch-amerikanische Migrationen und das Identitätsdispositiv in der Novelle Regine Bei Das Sinngedicht handelt es sich um eine dialogisch konzipierte Novellensammlung, deren Binnenerzählungen über eine gemeinsame Rahmenhandlung miteinander verbunden sind: Zur Zeit »als die Naturwissenschaften eben wieder auf einem höchsten Gipfel standen, obgleich das Gesetz der natürlichen Zuchtwahl noch nicht bekannt war« (S. 1), wird Ludwig Reinhart, als vereinsamte ›moderne‹ Faustfigur, Opfer einer fundamentalen Orientierungskrise, die sich als Augenleiden manifestiert. Tief verunsichert wendet sich der Wissenschaftler von seinen sterilen Apparaturen ab und der vernachlässigten Literatur zu. Es ist ein Epigramm Friedrich von Logaus, das Reinhart durch Zufall in der Lachmannschen Lessing-Ausgabe entdeckt und sich als Rezept zur »Augenkur« (S. 18) selbst verordnet. Letztere besteht darin, die »Erkundung des Stofflichen und Sinnlichen« (S. 2) aus dem Elfenbeinturm hinaus in die weite Welt zu verlegen. Wie Don Quichotte macht sich Reinhart auf dem erstbesten Mietpferd auf die Reise ins Reich des Welt- und Frauenverständnisses. Denn nichts anderes ist es, worauf der in der Brieftasche mitgeführte Logausche Sinnspruch verweist. Er lautet »Wie willst du weiße Lilien zu rothen Rosen machen? Küß eine weiße Galathee: sie wird erröthend lachen« (S. 3) und stellt in der leicht zu entschlüsselnden Blumenallegorie die neckische Frage, wie eine Jungfrau, d.i. die weiße Galathee, zur Frau, also der roten Rose, gemacht wird. Die Antwort ist

13 Ebd., S. 151. 215

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naheliegend: Natürlich durch Küssen und alles Weitere… Das aus dem Sinnspruch abgeleitete Kussexperiment durchzieht als handlungskonstitutives Element Rahmen- und Binnenerzählungen gleichermaßen und ist eines von zahllosen literarischen Verfahren, die Das Sinngedicht zu einem Text von enormer Komplexität verweben. Zu nennen sind u.a. Mythen und Intertexte wie die von Acis und Galatea oder Pygmalion, Schemata des deutschen Bildungsromans, die Lichtsymbolik, phantastische Einschübe wie die Sage vom Wunsch des Kaisers Nero nach Geschlechtsänderung und nicht zuletzt die Leitmotivik der in der Pathosformel vom Lachen und Erröten zum Ausdruck gebrachten Opposition von Geist und Körper, innerhalb derer dem Erröten eine besondere Bedeutung zukommt; und zwar über die aus dem Sem [belebt] ableitbaren Bedeutungsdimensionen des, erstens, auf den Bereich des Menschlichen verweisenden Erweckens von Begehren und, zweitens, der auf die Dingwelt verweisenden Belebung eines Bildwerks. Dass hierbei neben dem Mythos vom Bildhauer Pygmalion, der sich in eine von ihm selbst geschaffene Statue verliebt und Aphrodite bittet, diese zu beleben, vor allem die Veröffentlichung von Charles Darwins On the Origin of Species by Means of Natural Selection (1859)14 einen zentralen Kontext darstellt, kann nicht genug betont werden, ist doch der Darwinismus einer der wirkungsmächtigsten Interdiskurse des 19. Jahrhunderts – und als Sozialdarwinismus auch nicht ohne Einfluss auf Ratzels Konzeption der Geopolitik geblieben. In der dominant erzähltheoretisch, motivgeschichtlich oder psychoanalytisch orientierten Sekundärliteratur zu Das Sinngedicht stoßen diese Aspekte auf unterschiedlich starkes Interesse. Die einzige Gemeinsamkeit der Ansätze besteht daher letztlich in ihrer hochgradig selektiven Betrachtungsweise. Aus diskurstheoretischer Sicht hingegen ist eine weitergehende Analyse des Sinngedichts möglich. Dieser Prognose liegt die These zugrunde, dass es – abweichend vom literaturwissenschaftlichen Konsens – nicht primär das Problem der Paarbildung, oder in Darwinscher Terminologie: der Zuchtwahl ist, das sich im Text als konstitutiv erweist, sondern vielmehr das Problem der Identitätsbildung. Meine These möchte ich anhand der Bedeutung des Amerikadiskurses im RegineKapitel erläutern, nachdem ich wichtige Informationen zum weiteren Handlungsverlauf nachgeliefert habe. Nachdem Reinhart das Kussexperiment auf seiner Reise dreimal mit mäßigem Erfolg durchgeführt hat – sein erstes ›Opfer‹ lacht ohne zu erröten, das zweite errötet ohne zu lachen und das dritte bringt ihn in seiner 14 Charles Darwin: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, London 1859. 216

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Geschlechterrolle selbst in Bedrängnis – erreicht er den Garten der Dame Lucie, in deren Haus er einige Tage verweilt, wobei Reinhart, Lucie und ihr Onkel sich wechselseitig Geschichten – die Binnennovellen – erzählen. Insgesamt sind es zehn narrative Einheiten, die in den Erzählgang des Zyklus eingeschoben werden, bis sich das Sinngedicht endlich erfüllt, indem Reinhart die Lichtgestalt Lucie küsst und dabei beobachten kann, wie sie lachend purpurrot wird, da »die schöne Glut sich in dem weißen Gesicht verbreitete« (S. 194). Reinhart ist allerdings nicht die einzige männliche Figur des Texts, die vom Ehrgeiz besessen ist, weiße weibliche Haut rot werden zu lassen. Im Rededuell mit der emanzipierten Lucie erzählt Reinhart die Novelle Regine, um seine chauvinistische Weltsicht zu untermauern: Erwin Altenauer, ein deutschstämmiger Amerikaner mit deutlich artikulierter Identitätsstörung, tritt auf der Suche nach seiner kulturellen Herkunft eine Stelle als Staatssekretär in Jena an. Dort stilisiert er die Magd Regine zu einer märchenhaften Figur ursprünglich deutscher Individualität, nimmt sie Kraft seiner wirtschaftlichen Macht an sich wie einen Besitz und beginnt ein Bildungswerk, das in der pedantischen Erziehung Regines zur »Weltdame« besteht, die er triumphal nach Amerika zu überführen beabsichtigt. Doch die erhoffte Synthese der Antithesen von ›Natur und Kultur‹ sowie ›Freiheit und Konvention‹ misslingt. Unter dem Einfluss dreier bildungsbeflissener Damen, von denen Altenauer nicht weiß, dass sie in gewissen Kreisen als »Parzen« gelten, »weil sie jeder Sache, deren sie sich annahmen, schließlich den Lebensfaden abschnitten« (S. 166), entsteht in Abwesenheit Altenauers ein Halbakt von Regine. Aufgrund dieser »Taktlosigkeit« sowie des Gerüchts, Regine habe während seiner Geschäftsreise nächtens Männerbesuch empfangen, bringt Altenauer seine Frau nach Boston, wo diese sich schließlich wegen der ihr entgegengebrachten Kaltherzigkeit erhängt – allerdings nicht ohne sich zuvor in ihre Heimattracht gekleidet zu haben: Erschrocken und noch mehr verlegen kehrte er sich und schaute sich um, ob sie nicht vielleicht dennoch im Zimmer hinter ihm stünde, allein es war leer wie zuvor. Indem er sich nun abermals kehrte und dabei einem der Vorhänge näherte, stieß er an etwas Festes hinter demselben, wie wenn eine Person dort sich verborgen hielte. Rasch wollte er den dicken Wollenstoff zurückschlagen, was aber nicht gelang; denn die Laufringe an der Stange waren gehemmt. Er trat also, den Vorhang sonst lüftend, so gut es ging, hinter denselben und sah Reginens Leiche hängen. Sie hatte sich eine der starken seidenen Ziehschnüre, die mit Quasten endigten, um den Hals geschlungen. Im gleichen Augenblick, wo er den edlen Körper hängen sah, zog er sein Taschenmesser hervor, das er auf Reisen trug, stieg auf den Bettrand und schnitt die Schnur durch; im andern Augenblicke saß er auf dem Bette und hielt die schöne und im Tode schwere

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Gestalt auf den Knien, verbesserte aber sofort die Lage der Frau und legte sie sorgfältig auf das Bett. Aber sie war kalt und leblos; er aber wurde jetzt rat- und besinnungslos, und er starrte mit großen Augen auf die Leiche. Gleich aber erwachte er wieder zum Bewußtsein durch die ungewohnte Tracht der Toten, die sein starrendes Auge reizte. Regina hatte das letzte Sonntagskleid angezogen, welches sie einst als arme Magd getragen, einen Rock von elendem braunem, mit irgendeinem unscheinbaren Muster bedrucktem Baumwollzeuge. (S. 185)

An die Stelle der intendierten Rötung tritt letztlich also die leichenblassbläuliche Verfärbung der Haut der an ihrer Trauer zugrunde gegangenen Regine. Regines Tod ist einer der stärksten Indikatoren für die Brisanz der Identitätsproblematik in Das Sinngedicht, konnotiert die Kleiderwahl der in Amerika zu Tode gekommenen deutschen Magd doch deren Klassenbewusstsein und ihre Sehnsucht nach der Heimat gleichermaßen. Über den Gesellschafts- und den Nationalitätendiskurs sind hier gleich zwei Ausprägungen von ›Identität‹ realisiert: die soziale und die nationale bzw. kulturelle Identität. Nun imaginiert man kulturelle Identität für gewöhnlich – in struktureller Analogie zur persönlichen Identität – als eine Funktion, die für die ordnungsstiftende Integration disparater Selbst- und Fremdbilder, Erwartungshaltungen und kultureller Rollenvorgaben zugunsten einer relativ statisch-harmonischen Instanz verantwortlich ist; was in der Regel durch Identifikationsprozesse geschieht. In seiner Homogenität und Statik ist dieses Konzept jedoch hochgradig fragwürdig. Das zeigt nicht nur das Beispiel Regines in seiner Drastik. Auch für den mit Symptomen der so genannten American Nervousness15 ausgestatteten Erwin Altenauer, der im weiteren Verlauf der Erzählung noch vier Mal zwischen Deutschland und Amerika pendeln wird, ist die Herkunftsfrage alles andere als entschieden; und das, obwohl seine Vorfahren schon »vor länger als hundert Jahren nach Nordamerika ausgewandert sind« (S. 27): In Boston lebt eine Familie deutscher Abkunft, deren Vorfahren vor länger als hundert Jahren nach Nordamerika ausgewandert sind. Die Nachkommen bilden ein altangesehenes Haus, wie wenige in der ewigen Flut der Bewegung sich erhalten; und selbst das Haus im wörtlichen Sinne, Wohnung und Geräte, sollen bereits einen Anstrich altvornehmen Herkommens aufweisen, insofern während eines kurzen Jahrhunderts dergleichen überhaupt erwachsen kann. Die deutsche

15 Siehe Volker Roelcke: Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790-1914), Frankfurt/M., New York 1999, insbesondere das Kapitel über Neurasthenie als Krankheit der modernen Zivilisation, S. 112-121. 218

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Sprache erlosch niemals unter den Hausgenossen; insbesondere einer der letzten Söhne, Erwin Altenauer, hing so warm an allen geistigen Überlieferungen, deren er habhaft werden konnte, daß er dem Verlangen nicht widerstand, das Urland selbst wieder kennenzulernen, und zwar um die Zeit, da er sich schon dem dreißigsten Lebensjahr näherte. Er entschloß sich also, nach der alten Welt und Deutschland auf längere Zeit herüberzukommen; weil er aber, bei einigem Selbstbewußtsein, sich in bestimmter Gestalt und auf alle Fälle als Amerikaner zu zeigen wünschte, bewarb er sich in Washington um die erste Sekretärstelle bei einer Gesandtschaft, deren Sitz in einer der größeren Hauptstädte war. Mit nicht geringer Erwartung segelte er anher, vorzüglich auch auf das schönere Geschlecht in den deutschen Bundesstaaten begierig; denn wenn wir germanischen Männer uns mit Eifer den Ruf ausgezeichneter Biederkeit beigelegt haben, so versahen wir wiederum unsere Frauen mit dem Ruhm einer merkwürdigen Gemütstiefe und reicher Herzensbildung, was in der Ferne gar lieblich und Sehnsucht erweckend funkelt gleich den Schätzen des Nibelungenliedes. Von dem Glanze dieses Rheingoldes angelockt, war Erwin überdies von seinen Verwandten scherzweise ermahnt worden, eine recht sinnige und mustergültige deutsche Frauengestalt über den Ozean zurückzubringen. (S. 27f.)

Während im fernen Amerika die deutsche Sprache gepflegt wird, ist Altenauer beim Aufenthalt in seinem »Urland« bestrebt, sich »auf alle Fälle als Amerikaner« zu erkennen zu geben. Mit seiner gepflegten Lässigkeit, seinen einfachen Sitten, seiner unzweideutigen Wortwahl und Direktheit, die »noch die ältere echte Art amerikanischen Wesens dar[stellte] und den geraden Weg [ging], ohne um die hundert kleinen Hinterhalte und Absichtlichkeiten sich zu kümmern« (S. 28) stößt er im Umgang mit der Damenwelt auf Ablehnung. Er wird geschnitten und erklärt sich diesen Umstand damit, dass »[d]iese Schneidigkeit […] der Mantel für [die] innere Unfreiheit« (S. 28f.) einer philisterhaften deutschen Gesellschaft ist, die die freien Amerikaner allenfalls aus der Distanz kritisch beäugt. Verweisen die Erfahrungen Altenauers insofern einerseits auf die prekäre Rolle von ›Identität‹ im Kontext von Migrationsbewegungen ganz allgemein, so eröffnet die Strategie, sich in der Folge dem Proletariat zuzuwenden und die Magd Regine durch ein ehrgeiziges Bildungsprojekt aus der Arbeiterklasse auf die Stufe des wohlhabenden Bürgertums zu heben, um sie ehelichen zu können, den Blick auf eine Nivellierung sozialer Differenzen, die speziell mit Nordamerika assoziiert wird; und im kulturellen Narrativ vom Aufstieg des Tellerwäschers zum Millionär ihre stereotype Ausgestaltung gefunden hat. Die Bildung Regines verläuft vornehmlich auf der sprachlichen Ebene, was der abendländischen, logozentrisch wie patriarchalisch geprägten Denktradition entspricht.

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Zum Schreiben hatte Regine jetzt gesessen, was sie in Erwins Zimmer noch nie getan. Sie nahm eine amerikanische Zeitung in die Hand, die auf dem Tische lag, und versuchte zu lesen. »Das ist Englisch!« sagte Erwin, »wollen Sie’s lernen? Dann können Sie mit mir nach Amerika kommen und einen reichen Mann heiraten!« Sie errötete stark. »Lernen möcht’ ich es schon«, sagte sie, »vielleicht fahr ich doch einmal hinüber, wenn es hier zu arg wird!« (S. 36)

Erwin bringt Regine Englisch bei, später weitere Fremdsprachen. Und Regine, »dieses höchst merkwürdige Wesen, das sich selbst nicht kannte, [aber] alles zu lernen imstande war« (S. 36), fungiert hierbei als ein leeres Blatt Papier, das Erwin füllt; wie auch Amerika ein leeres Blatt Papier war, auf dem die Europäer ihre Geschichten zu erfinden begannen. Wenn nun jedoch die Deutsche Regine als Pygmalionwerk des Amerikaners Erwin erscheint, dann werden die traditionellen Zuschreibungen dieses bildungsbürgerlichen Pygmalionismus’ in chiastischer Manier unterlaufen, indem Subjekt- und Objektstatus des Bildwerks verkehrt werden. [Amerika] Amerika = Pygmalionwerk der Europäer [Deutschland]

[Deutschland] Regine = Pygmalionwerk Erwin Altenauers [Amerika]

Natürlich ist Erwin alles andere als die personifizierte Selbstlosigkeit. Zwar heißt es im Text: »Dennoch schämte er sich nicht etwa ihres frühern niedern Standes, sondern wollte denselben nur so lange geheim halten, bis sie völlige Freiheit und Sicherheit der Haltung und damit eine Schutzwehr gegen Demüthigungen erworben hatte« (S. 163). In Wirklichkeit ist es ihm jedoch einzig und allein um eine Projektion seiner männlichen, amerikanischen Phantasien auf das von ihm geschaffene – und insofern unfreie – weibliche, deutsche Animationsobjekt zu tun, das in der Folge zum Fetisch schrumpft. Präfiguriert ist dieser Akt der Projektion schon in der Szene, in der Regine von angeheiterten deutschen Studenten umringt wird und wechselweise als »Liebchen«, »Schätzchen«, »Gretchen« oder »Mariechen« (S. 31) tituliert wird. Vor dem Hintergrund der Folie des Antagonismus von alter und neuer Welt sind die Gründe für das Scheitern seines Projekts vor allem in der Degeneration des ›alten Europa‹ zu suchen. Er frug nach ihrer Heimat und nach den Ihrigen, und sie beantwortete die Fragen ohne Rückhalt, erzählte auch manches freiwillig, da vielleicht noch nie jemand […] sich so theilnehmend nach diesen Dingen erkundigt hatte. Sie war

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das Kind armer Bauersleute, die einen Theil des Jahres im Tagelohn arbeiten mußten. Nicht nur die acht Kinder, Söhne und Töchter, sondern auch die Eltern waren wohlgestaltete große Leute, ein Geschlecht, dessen ungebrochene Leiblichkeit noch aus den Tiefen uralten Volksthumes hervorgegangen. Nicht so verhielt es sich mit der Beweglichkeit, der moralischen Widerstandskraft und der Glücksfähigkeit der großwüchsigen Familie. In Handel und Wandel wußten sie sich nicht zeitig und aufmerksam zu kehren und zu drehen, den Erwerb vorzubereiten und zu sichern, und statt der Noth gelassen aus dem Wege zu gehen, ließen sie dieselbe nahe kommen und starrten ihr rathlos ins Gesicht. […] Ungefähr so gestaltete sich das Bild, das Erwin den Worten der Magd entnahm, beinahe das Bild verfallender Größe, welche ihre Sterne verlassen haben, eines Geschlechtes, das im Laufe der Jahrhunderte vielleicht seine Freiheit dreimal verloren und wieder gewonnen hatte, zuletzt aber nichts mehr damit anzufangen wußte, da es über den Leiden des Kampfes das Geschick verloren. Oder war es zu vergleichen mit einem verkommenen Adelsgeschlechte, das sich in die Lebensart des Jahrhunderts nicht finden kann? (S. 34)

Regines Familie befindet sich im fortgeschrittenen Stadium des Verfalls. Der körperlichen Wohlgestaltetheit ihrer Eltern und Geschwister, deren »Leiblichkeit noch aus den Tiefen uralten Volkstums« herrührt, steht eine defizitäre Geistigkeit gegenüber. Nicht zuletzt im Hinblick auf die im 19. Jahrhundert weitverbreiteten Theorien der Heredität und Degenereszens kann man in diesem Fall von einer Regression sprechen, die durch den durch die industrielle Revolution bedingten sozialen und ökonomischen Wandel katalysiert wird. Schließlich hat man vor allem im Bereich der neuen Formen von »Handel und Wandel« (S. 34), die ein Altenauer mühelos beherrscht, den Anschluss an die anbrechende Moderne schon jetzt verloren. Diese Diagnose würde Inama-Sternegg wohl bestätigen. In seinem wissenschaftlichen Essay Das Zeitalter des Credits geißelt er das Übel der modernen Creditwirthschaft, das er mit dem »äußerst ungenügende[n] Zustand der socialen Organisation des Volkes«16 verknüpft. Beim Übergang von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft wurde seines Erachtens »[d]as innige sociale Verhältniß«17 unter den Bürgern aufgekündigt. Auf eine Epoche der sozialen Gebundenheit folgt deshalb eine »Zeit der Befreiung aus diesen Fesseln« und damit die Auslieferung großer Teile der Bevölkerung an die immer abstrakter werdenden Verhältnisse der Moderne, die er vor allem als Dis-Sociations-Effekte18 kennzeichnet. 16 Inama-Sternegg: Zeitalter des Credits (s. Anm. 11), S. 88. 17 Ebd., S. 84. 18 Zu As-Sociation und Dis-Sociation siehe Jürgen Link: Massendynamik und As-Sociation, in: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie 36 (1998), S. 3-12, sowie Ders.: As-Sociation und Interdiskurs, in: 221

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Und die großen socialen Verbindungen, welche der moderne Verkehr erzeugte, haben die Masse der kleineren wirthschaftlichen Existenzen nicht in sich aufgenommen. Den alten socialen Halt hat der Kleinbürger, der Bauer und der Arbeiter verloren; neuen nicht gewinnen können: so steht er da, vereinsamt, isoliert, nur auf sich selbst gestellt. Seinen Egoismus kann er ungestört geltend machen; aber gerade dieser vergiftet seine Moralität. Wer kein gesellschaftliches Vertrauen zu verlieren hat, der hat auch keines zu schonen. In dieser gesellschaftlichen Isolierung also, in diesem Mangel an Vertrauen in weiterem Kreise liegt die Creditlosigkeit der Hauptmasse der Bevölkerung. Darin ist aber auch ihr allgemeiner wirthschaftlicher Rückgang mindestens ebenso sehr begründet, wie in der Ueberlegenheit der Technik des Großbetriebes über den kleinen.19

Inama-Sternegg zufolge sind es vor allem Regines Leute – Kleinbürger, Bauern und Arbeiter –, die zunehmend isoliert dastehen und gewissermaßen als ›abgehängtes Prekariat‹ unter dem wirtschaftlichen, infrastrukturellen und technologischen Wandel zu leiden haben. Aber auch die höhere Gesellschaft ist ›dem Untergang geweiht‹, was sich nicht zuletzt am Geschlechterdiskurs ablesen lässt. Die große Bedeutung des Geschlechterdiskurses für Das Sinngedicht ist in der Forschung unbestritten. Diese Ansicht äußert sich nicht zuletzt in der Rekurrenz des Herren- bzw. Damenwahl-Motivs. Gleich mehrfach wird eine eindeutige Geschlechterzuordnung aber auch irritiert: so z.B. durch die Wirtin mit dem bezeichnenden Namen Salome, die im 4. Kapitel »verkehrte Welt« (S. 9) mit Reinhart spielen möchte. In Regine geschieht dies durch die Figur der Malerin und Transvestitin, die die Sage von Kaiser Neros Wunsch nach Geschlechtsänderung erzählt und damit auf einen interessanten Kontext verweist. Seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts diskutieren westliche Frauenbewegungen Androgynie und Bisexualität als Utopien der Befreiung.20 In den feministischen Debatten über Doppelgeschlechtlichkeit artikulieren sich sowohl das Begehren nach der Gleichwertigkeit der Frau, als auch die Ablehnung der Annahme ihrer Gleichartigkeit. Amerikanische Gruppen haben hier eine Vorreiterrolle übernommen. Zu Fragen der sozialen und nationalen oder kulturellen Identität gesellen sich über den Geschlechterdiskurs Fragen der Geschlechteridentität sowie über den dem Wissenschaftsdiskurs immanenten Darwinismus kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie 38/39 (1999), S. 13-22. 19 Inama-Sternegg: Zeitalter des Credits (s. Anm. 11), S. 89. 20 Ulla Link-Heer: Wird Androgynie normal? Zur Entfaltung imaginierter Geschlechtlichkeit zwischen zwei Fins de Siècle, in: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie 27 (1992), S.46-49. 222

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Fragen der biologischen Identität. Ausgehend von der Hypothese, dass die in früheren sozialen Organisationsformen gegebene Einbettung der Person in eine durch den Glauben an kosmische Ordnungen oder religiöse Weltbilder gestützte, von stabilen Sozial- und Sinnstrukturen geprägte Gemeinschaft durch derartige naturwissenschaftliche Erkenntnisse nachhaltig in Frage gestellt wird, lässt sich das Identitäts-Dispositiv als zentraler Gegenstand des Sinngedichts bezeichnen, in dem sich Geschlechterdiskurs, Gesellschaftsdiskurs, Wissenschaftsdiskurs und Nationalitätendiskurs koppeln. Dem Amerikadiskurs als spezieller Ausprägung des Nationalitätendiskurses kommt in diesem Komplex insofern eine bedeutende Rolle zu, als im Bild der amerikanischen Gesellschaft einerseits bereits zu einem frühen Zeitpunkt die in ihrer Gesamtheit nicht mehr zu überschauende, sich funktional zunehmend ausdifferenzierende und von einer Vielzahl konkurrierender Sinnsysteme charakterisierte Moderne konnotiert ist, andererseits aber immer auch Konzepte der Freiheit, Emanzipation und Einebnung von Differenzen, die einen demokratischen Gegenpol zur europäischen Despotie profilieren. Vor diesem Hintergrund erübrigt sich der Hinweis auf die Einseitigkeit der Akzentuierung des Begriffs der »Amerikanisierung«, den der deutsche Physiologe Emil Du BoisReymond in seiner Rede Culturgeschichte und Naturwissenschaft (1877) prägt und unter dem er vor allem »die gefürchtete Ueberwucherung und Durchdringung der europäischen Cultur mit Realismus und das reissend wachsende Uebergewicht der Technik«21 verstanden wissen will.

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Emil Du Bois-Reymond: Reden. 1. Folge. Litteratur – Philosophie – Zeitgeschichte, Leipzig 1886, S. 240-306, hier S. 280. 223

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KRISEN VON J E N S E I T S D E S O C E A N S […] H E R E I N .« G O T T F R I E D K E L L E R U N D D I E N EU E W E L T BRACH EINE JENER GRIMMIGEN

MARTIN STINGELIN Die frühe Globalisierung hat viele Protagonisten in Gottfried Kellers Werken auf vielfältige Weise überrascht,1 nicht nur die Migranten unter ihnen wie Pankraz, den Schmoller,2 den der Weg aus der Schweiz über New York nach Ostindien führt und dessen Rückkehr unter mehreren exotischen Tieren auch von einem leibhaftigen »Adler aus Amerika«3 als Herold angekündigt wird; Amerika,4 dessen überraschendes Freiheitsversprechen den in seiner Ungezügeltheit, ja Zügellosigkeit nach Halt suchenden Pankraz augenscheinlich überfordert hat:

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Siehe dazu etwa Hellmut Thomke: Entfremdung und Selbstfindung in der dialektischen Erfahrung vom Fremde und Heimat. Zu einem Grundthema in Gottfried Kellers Leben und Werk, in: Begegnung mit dem »Fremden«. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses, hg. v. Eijiro Iwasaki, Tokyo 1990, Bd. 9, S. 361367. Siehe dazu Christian Müller: Subjektkonstituierung in einer kontingenten Welt. Erfahrungen zweier Afrika-Heimkehrer: Gottfried Kellers »Pankraz, der Schmoller« und Wilhelm Raabes »Abu Telfan«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2002, S.82–110; Pramod Talgeri: Schmollen als verfremdete Entfremdung. Fremde als Kulisse – Fremde als Freiraum. Pankraz’ Reisen in die Fremde, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 18 (1992), S. 500-505. Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla (Erster Band) (1856), in: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Walter Morgenthaler, Bd. 4, Basel, Frankfurt/M., Zürich 2000, S. 20. Zum literaturhistorischen Kontext siehe auch Fritz Martini: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer. Amerikaspiegelungen im Erzählwerk von Keller, Raabe und Fontane, in: Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt – Nordamerika – USA, hg. v. Sigrid Bauschinger, Horst Denkler u. Wilfried Malsch, Stuttgart 1975, S. 93-107. 225

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In New-York hatte ich zwar den Fuß an das Land gesetzt und auf einige Stunden dies amerikanische Leben besehen, welches mir eigentlich nun recht hätte zusagen müssen, da hier jeder that, was er wollte, und sich gänzlich nach Bedürfnis und Laune rührte, von einer Beschäftigung zur andern abspringend, wie es ihm eben besser schien, ohne sich irgend einer Arbeit zu schämen, oder die eine für edler zu halten als die andere. Doch weiß ich nicht wie es kam, daß ich mich schleunig wieder auf unser Schiff sputete und so, statt in der neuen Welt zu bleiben, in den ältesten, träumerischen Teil unsrer Welt geriet, in das uralte heiße Indien, und zwar in einem roten Rocke, als ein stiller englischer Soldat.5

Die frühe Globalisierung hat Kellers Demokratiebegriff aufs entschiedenste herausgefordert. Davon soll hier nicht zuletzt als Begegnung zwischen der deutschsprachigen Literatur und dem amerikanischen Pragmatismus im Zeichen des Realismus beziehungsweise im Zeichenrealismus die Rede sein. Überraschungen werfen Probleme auf, indem sie uns auf uns selbst zurückwerfen, auf unsere Seh- und Denkgewohnheiten. Im Moment des Überraschtseins stehen wir uns selbst für einen Augenblick als Fremde gegenüber, im Begriff, uns zu verwandeln: Einerseits sind wir noch befangen in jener Trägheit der Wahrnehmungen, der gefestigten Überzeugungen und der durch Gewohnheit automatisierten Schlussfolgerungen, die uns in die Irre geführt haben; andrerseits sind wir schon bemüht, neue Schlussfolgerungen zu finden, die uns in dieser veränderten Lage eine bessere Orientierung gewährleisten – ein ›Anfang‹, mit dem wir uns in derselben Situation befinden wie Pankraz, der Schmoller, seines Zeichens Shakespeare-Leser. Dieser Titelheld der ersten Novelle von Kellers Zyklus Die Leute von Seldwyla sieht sich in der Fremde Ostindiens nach einer langen Reihe von missverständlichen Zeichen, denen er glaubte, die sichere Orientierung gewährende Zuversicht in Lydias Zuneigung zu ihm entnehmen zu dürfen, endlich in ihr getäuscht. Tatsächlich waren ihre Signale zweideutig, mehr an den eigenen Narzissmus gerichtet, ihn in sich verliebt machen zu können, als an den bald Verliebten selbst. Lydias Liebe war inszeniert, Pankraz das Deutungsopfer einer Szene, die er in ihrer Doppelbödigkeit nicht zu durchschauen vermochte. Die Art und Weise, wie Pankraz nach Lydias überraschender Offenbarung, dass sie keine Zuneigung zu ihm empfinde, seine Ernüchterung formuliert, ist aufschlussreich für die Lektüre aller Novellen von Kellers Zyklus Die Leute von Seldwyla, deren Ereignishaftigkeit sich gerade darin vollzieht, dass diejenigen Protagonisten vorgeführt werden, welche die Welt nur ungenügend als inszenierte, durch Zeichen vermittelte wahrzunehmen vermögen: 5

Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla (Erster Band) (s. Anm. 3), S. 32. 226

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Und also um Ihren edlen Glauben an Ihre Persönlichkeit herzustellen, war es Ihnen möglich, alle Zeichen der reinen und tiefen Liebe und Selbstentäußerung zu verwenden? […] Nein, Fräulein Lydia! ich rechne es mir sogar zur Ehre an, daß ich mich von Ihnen fangen ließ, daß ich eher an die einfache Liebe und Güte eines unbefangenen Gemütes glaubte, bei so klaren und entschiedenen Zeichen, als daß ich verdorbener Weise nichts als eine einfältige Komödie dahinter gefürchtet.6

Um so größer ist die Überraschung von Pankraz in der Fremde, als er in der Gestalt eines ungewöhnlich großen afrikanischen Löwen, obwohl dieser »ein durchtriebener Geselle zu sein«7 scheint, plötzlich eindeutigen Zeichen gegenübersteht, die gar keinen Deutungsspielraum mehr zulassen, würde doch jede Reaktion unweigerlich zur tödlichen Gegenreaktion führen; weder das Auf-dem-Sprung-Sein noch die konzentrierte, allein auf lückenlose Registrierung bedachte, unreflektierte Beobachtung können aus jenem Vorbehalt schöpfen, Zeichen als doppelte, das heißt komödiantisch wahrzunehmen, der erst eine Inszenierung ermöglicht: […] und wenn ich mich nur gerührt hätte, so würde er gesprungen sein und mich unfehlbar zerrissen haben. Aber ich stand und stand so einige lange Stunden, ohne ein Auge von ihm zu verwenden und ohne daß er eines von mir verwandte. Er legte sich gemächlich nieder und betrachtete mich.8

Geläutert durch diese semiotische Lektion, dass Zeichen sowohl zuviel als auch zuwenig bedeuten können,9 zieht Pankraz schließlich deutungssicher »in den Hauptort des Kantons, wo er Gelegenheit fand, mit seinen Erfahrungen und Kenntnissen ein dem Lande nützlicher Mann zu sein und zu bleiben«.10 Eine Rückkehr, die nicht nur in dieser Novelle mit dem Anfang korrespondiert, dass Kellers Protagonisten in einer globali6 7 8 9

Ebd., S. 57f. Ebd., S. 68. Ebd., S. 70. Die semiotischen Erörterungen im Folgenden stützen sich auf meine Studie: Seldwyla als inszenierte semiotische Welt. Ein unvermuteter schweizerischer Schauplatz der Zeichenreflexion, in: Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literarischer Texte, hg. v. Ethel Matala de Mazza u. Clemens Pornschlegel, Freiburg i. Br. 2003, S. 209-225; dort auch weiterführende bibliografische Hinweise zum Paradigma eines semiotischen Begriffs von ›Realismus‹, für das als jüngstes Beispiel hier der Beitrag von ClausMichael Ort: Was ist Realismus?, in: Realismus. Epoche – Autoren – Werke, hg. v. Christian Begemann, Darmstadt 2007, S. 11-26, genannt sein mag. 10 Keller: Die Leute von Seldwyla (Erster Band) (s. Anm. 3), S. 72. 227

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sierten Welt trügerischer Zeichen ankommen, die der Klärung bedürf(t)en. Je mehr die Zeichen international zirkulieren, um so weniger wird sicher, durch welche Bedeutung sie gedeckt sind.11 Dies veranschaulicht Keller unablässig am »Börsenspiel«,12 dessen Konjunkturen von der Neuen Welt abhängig sind: […] es brach eine jener grimmigen Krisen von jenseits des Oceans über die ganze Handelswelt herein und erschütterte auch das Glorsche Haus, welches so fest zu stehen schien, mit so plötzlicher Wut, daß es beinahe vernichtet wurde und nur mit großer Not stehen blieb. Schlag auf Schlag fielen die Unglücksberichte innerhalb weniger Wochen und machten den stolzen Menschen die Nächte schlaflos, den Morgen zum Schrecken und die langen Tage zur unausgesetzten Prüfung. Große Warenmassen lagen jenseits der Meere entwertet, alle Forderungen waren so gut wie verloren und das angesammelte Vermögen schwand von Stunde zu Stunde mit den hochprozentigen Papieren, in welchen es angelegt war, so daß zuletzt nur noch der Grundbesitz und einiges in alten Landestiteln bestehende Stammvermögen vorhanden war. Aber auch dieses sollte dahingeopfert werden, um die eigenen Verbindlichkeiten zu erfüllen, welche im Augenblicke des Sturmes bei dem großen Verkehre gerade bestanden.13

Tatsächlich stehen, wie Hubert Ohl und Gerhard Kaiser gezeigt haben, alle Novellen des ersten Bandes von 1856 und des zweiten Bandes von 1873/74 in einer spiegelsymmetrischen Entsprechung zueinander,14 und so wiederholt sich diese Läuterung in der letzten Novelle Das verlorene Lachen, der dieses Zitat entnommen ist und die den Roman Martin Salander in vielfältiger Weise vorwegnimmt. In dieser Novelle wird Jukundus Meyenthal durch seine Wahrheitsliebe, die ihn zu unbedingter

11 Siehe Michael Böhler: »Fettaugen über einer Wassersuppe« – frühe Moderne-Kritik beim späten Gottfried Keller. Die Diagnose einer Verselbstständigung der Zeichen und der Ausdifferenzierung autonomer Kreisläufe, in: Nachmärz. Der Ursprung der ästhetischen Moderne in einer nachrevolutionären Konstellation, hg. v. Thomas Koebner u. Sigrid Weigel, Opladen 1996, S. 292-305. 12 Siehe Gottfried Keller: Martin Salander. Roman (1886), in: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Walter Morgenthaler, Bd. 8, Basel, Frankfurt/M., Zürich 2004, S. 270 und 301. 13 Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla (Zweiter Band) (1874), in: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Walter Morgenthaler, Bd. 5, Basel, Frankfurt/M., Zürich 2000, S. 321. 14 Siehe Hubert Ohl: Das zyklische Prinzip von Gottfried Kellers Novellensammlung Die Leute von Seldwyla, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 63 (1969), S. 216-226, und Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben, Frankfurt/M. 1981, S. 282f. 228

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Offenheit anhält, immer wieder das Opfer trügerischer Geschäftspartner. Schließlich findet er, durch sein wechselhaftes Schicksal eines Besseren belehrt, wieder mit seiner Ehefrau aus dem Hause Glor zusammen: Justine zog nun zu ihrem Mann nach der Stadt, wo er ohne Unterbrechung wohl gedieh und seine Leichtgläubigkeit in Geschäfts- und Verkehrssachen verlor, ohne deswegen selbst unwahr und trügerisch zu werden,15

wie es auf der letzten Seite des Novellenzyklus heißt. So ist die Waage zwischen dem richtigen Verstehen von Zeichen und ihrem aufrichtigen Gebrauch zuletzt im Gleichgewicht. Dieses semiotische Gleichgewicht ließe sich, da es mit der erkenntniskritischen Reflexion seiner Bedingungen einhergeht, als Poetologie von Gottfried Kellers »Realismus« definieren. In den Vordergrund rückt das pragmatische Moment des Zeichenhandelns. Rufen wir uns die pointierte Entgegnung von Pankraz auf Lydias trügerischen Umgang mit Liebessignalen in Erinnerung: »Nein, Fräulein Lydia! ich rechne es mir sogar zur Ehre an, daß ich mich von Ihnen fangen ließ, daß ich eher an die einfache Liebe und Güte eines unbefangenen Gemütes glaubte, bei so klaren und entschiedenen Zeichen, als daß ich verdorbener Weise nichts als eine einfältige Komödie dahinter gefürchtet.«16

Diese Stelle ist wirklich bemerkenswert, vergegenwärtigt man sich gleichzeitig sowohl das, was sie behauptet, als auch die Form dieser Behauptung. Die Behauptung: Zeichen sollten zum Nennwert genommen werden können; jede reflexiv gebrochene Form der Zeicheninterpretation ist eine Unterstellung von Unaufrichtigkeit und als solche ein Symptom der Verdorbenheit, der Dekadenz. Die Form der Behauptung offenbart jedoch einen Selbstwiderspruch, da das Beharren auf Naivität im Umgang mit Zeichen an dieser Stelle semiotisch hochreflexiv inszeniert ist: Ich, Pankraz, erkenne, dass ich die trügerische Zweideutigkeit von Lydias Liebeszeichen nicht erkennen wollte, um meine semiotische Unschuld nicht zu verlieren; gleichzeitig erneuere und bewahre ich mir mit dieser Erkenntnis meine semiotische Unschuld. Was für die Gattung des Detektivromans, die den Realismus beerben wird, konstitutiv werden sollte, trifft schon auf Gottfried Kellers Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla zu: Es ist ein Buch der Zeichen, des Zeichenhandelns und der sie reflektierenden Inszenierung. Nun stößt man sich gerne am didaktischen Grundzug der Seldwyler Novellen, den schon die wenigen hier angeführten Zitate unterstrichen haben dürften 15 Keller: Die Leute von Seldwyla (Zweiter Band) (s. Anm. 13), S. 355. 16 Keller: Die Leute von Seldwyla (Erster Band) (s. Anm. 3), S. 58. 229

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und der sich im Zeichen der Globalisierung in Kellers letztem Buch, dem Roman Martin Salander, fortsetzen sollte. Doch worin besteht eigentlich der Lernprozess ihrer Protagonistinnen und Protagonisten? Die genannten Texte Gottfried Kellers sind sowohl eine Schule des Sehens und der richtigen Interpretation von Zeichen wie der Täuschungen, die ihrer missglückten Interpretation entspringen können, und zwar sowohl der Täuschungen im Allgemeinen wie der Sinnestäuschungen im Besonderen. Das ließe sich etwa am Beispiel von Kleider machen Leute, Der Schmied seines Glücks oder Die missbrauchten Liebesbriefe zeigen. Um diese Täuschungen unsererseits beobachten zu können, müssen wir unterscheiden zwischen dem, was man »vor Augen hat«, und der Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen.17 Erst dadurch sehen wir, dass diese Schlussfolgerung falsch sein kann. Diese Unterscheidung führt mitten hinein in die Semiotik des amerikanischen Pragmatikers Charles Sanders Peirce, die sich hier mit den erkenntniskritischen Voraussetzungen von Gottfried Kellers Erzählkunst trifft und damit der Frage nach ›Amerika‹ im deutschsprachigen Realismus eine unvermutete Wendung gibt. Aus der Perspektive der Peirceschen Semiotik ist die Unterscheidung zwischen dem, was man »vor Augen hat« und der richtigen oder falschen Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen, deshalb notwendig, weil es kein unmittelbares Verstehen gibt. Alles Verstehen ist zeichenvermittelt. Doch was ist überhaupt ein »Zeichen«? Die schönste Bestimmung des Zeichens findet sich in einem Brief von Peirce an die englische Philosophin Lady Victoria Welby vom 12. Oktober 1904: »Meine liebe Lady Welby, […] ein Zeichen ist etwas, bei

17 Siehe Alexander Roesler: Vermittelte Unmittelbarkeit. Aspekte einer Semiotik der Wahrnehmung bei Charles S. Peirce, in: Die Welt als Zeichen und Hypothese. Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles S. Peirce, hg. v. Uwe Wirth, Frankfurt/M. 2000, S. 112-129. Die »Hypotypose«, die rhetorische Figur des »Vor-Augen-Stellens«, spielt im Zusammenhang mit der hier thematisierten literarischen Des-Illusionierung eine besonders beachtenswerte Rolle; vgl. Rüdiger Campe: Vor Augen stellen: Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung, in: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, hg. v. Gerhard Neumann, Stuttgart, Weimar 1997, S. 208-225. Zum Widerstreit zwischen dem Anspruch der ›realistischen Poetik‹, die Wirklichkeit zu beschreiben, und der rhetorischen Figur der Hypotypose, der sie sich dazu bedienen muss, vgl. Roland Barthes: L’effet de réel, in: Ders.: Œuvres complètes, hg. v. Éric Marty, Bd. 2: 1966-1973, Paris 1994, S. 479-484, hier S. 482. 230

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dessen Kenntnis wir etwas mehr wissen.«18 Im Gegensatz zur bekannteren zweiwertigen Semiotik von Ferdinand de Saussure, der nur zwischen dem Zeichenträger, dem sogenannten Signifikanten, und dem Vorstellungsbild, das dieser hervorruft, dem sogenannten Signifikat, unterscheidet, ist der Zeichenbegriff von Charles Sanders Peirce dabei dreiwertig. Peirce unterscheidet zwischen dem Zeichenträger, das heißt dem Medium, durch das sich ein Zeichen vermittelt, etwa ein verliebter Augenaufschlag; zwischen dem Gegenstand, dem Objekt, auf den sich dieses Zeichen bezieht, hier also die Verliebtheit; und zwischen dem sogenannten Interpretanten, das heißt der Wirkung, die ein Zeichen in einem Interpreten auslöst, hier also die Reaktion: ›Sie meint mich!‹ An diesem Beispiel kann man, geschult an der semiotischen Lektion von Pankraz, dem Schmoller, schon erkennen, dass die Schlussfolgerung auf den Gegenstand eines Zeichens keineswegs so zwingend ist, wie es der Zeichenbegriff von Ferdinand de Saussure nahelegt, der nur den Signifikanten und das Signifikat kennt. Mit der Ergänzung um den Aspekt des Interpretanten hat Peirce ein und dasselbe Zeichen konzeptuell für verschiedene Deutungen oder Missdeutungen geöffnet: Als Beobachter des Beobachters Pankraz interpretieren wir Lydias Zeichen anders als der Schmoller; sie haben für uns einen anderen Interpretanten. Die Zeichenklassifikation der Peirceschen Semiotik bietet nun den unschätzbaren Vorteil, diese verschiedenen Deutungen, denen eine Inszenierung erst entspringen kann, jeweils situativ analysieren und einander gegenüberstellen zu können. Die Semiotik von Peirce ist aus einer Kritik an Kants Kategorienlehre hervorgegangen; es handelt sich also ebenso um ein erkenntniskritisches Unternehmen wie Die Leute von Seldwyla und Martin Salander, und das macht Kellers Novellenzyklus und Roman für Peirces Semiotik besonders empfänglich. Peirce führt Kants Kategorientafel logisch auf drei Grundelemente zurück: die sogenannte »Erstheit«, die sich als reine Qualität nur zu sich selbst verhält; die sogenannte »Zweitheit«, die eine Relation von zwei Momenten darstellt, und die sogenannte »Drittheit«, die erst die Reflexion darüber ermöglicht, wie sich eine »Erstheit« zu sich selbst und die zwei Momente einer »Zweitheit« zueinander verhalten. Zeichen können auf der Stufe der Erstheit eine reine Qualität, auf der Stufe der Zweitheit ein existierendes Objekt und auf der Stufe der Drittheit allgemeine Typen zum Ausdruck bringen. Der Gegenstand eines Zeichens kann diesem auf der 18 Charles Sanders Peirce: Über Zeichen (aus Briefen an Lady Victoria Welby), aus dem Englischen übersetzt von Elisabeth Walther, in: Charles Sanders Peirce: Die Festigung der Überzeugung und andere Schriften, hg. v. Elisabeth Walther, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1985, S. 143-167, hier S. 150. 231

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Stufe der Erstheit ähnlich sein, ein solches Zeichen nennt Peirce Ikon; auf der Stufe der Zweitheit verursacht der Gegenstand das Zeichen notwendigerweise; ein solches Zeichen nennt Peirce Index; während auf der Stufe der Drittheit eine willkürliche Konvention ihre Beziehung regelt, ein solches Zeichen nennt Peirce Symbol. Interpreten schließlich können auf der Stufe der Erstheit Begriffe bilden, auf der Stufe der Zweitheit Aussagen machen und auf der Stufe der Drittheit Argumente reflektieren. Auf diese Weise gelangt Peirce zu einer Zeichenklassifikation, die zehn verschiedene Typen von Zeichen unterscheidet, je nachdem, welcher Aspekt in der Interpretation dominiert. Genau genommen unterscheidet Peirce also nicht zehn verschiedene Typen von Zeichen, sondern zehn verschiedene Formen der Interpretation von Zeichen. Die logische Genauigkeit dieser Unterscheidungen macht die Peircesche Zeichenklassifikation zu einem wertvollen Werkzeug auch für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, wenn ihre Terminologie auch sperrig ist: So bezeichnen rhematisch-ikonische Qualizeichen die niederste Zeichenstufe einer bloßen Gefühlsempfindung, argumentative symbolische Legizeichen die höchste Zeichenstufe, auf der sich etwa die Schlussfolgerungen eines literaturwissenschaftlichen Vortrags bewegen sollten. Ich werde mich hier auf die Ebene des Gegenstandsbezugs von Zeichen beschränken. Pankraz, der Schmoller, täuscht sich im Gegenstandsbezug der ambivalenten Liebeszeichen von Lydia: Mal geht sie ihm nach, mal will sie scheinbar nichts von ihm wissen. Diese Zeichen sind Pankraz durch ihre Ähnlichkeit aus seiner Shakespeare-Lektüre vertraut, insofern deutet er sie ikonisch. Diese Deutung ist eine Schlussfolgerung von einem überraschenden Fall auf eine Hypothese, die ihn erklärt. Peirce nennt diese Form der Schlussfolgerung Abduktion, im Gegensatz zur Induktion, der Erschließung des Gesetzes aus dem Fall und dem Ergebnis, und im Gegensatz zur Deduktion, der Ableitung des Ergebnisses aus dem Gesetz und dem Fall.19 Die Abduktion ist zwar die kreativste Schlussform, da sie als einzige erlaubt, neue Gesetze zu entdecken, aber sie ist auch die risikoreichste logische Operation, wie etwa Pankraz bald erfahren muss. Er glaubt, in Lydia Desdemona, Helena oder Imogen wiederzuerkennen: […] gut! hier haben wir unsern Fall! Denn nichts Anderes als ein solches festes, schöngebautes und gradausfahrendes Frauenfahrzeug ist diese Lydia, die ihren

19 Siehe etwa Masimo A. Bonfantini und Giampaolo Proni: Raten oder nicht Raten?, in: Der Zirkel oder Im Zeichen der Drei. Dupin, Holmes, Peirce (1983), hg. v. Umberto Eco u. Thomas A. Sebeok, übers. v. Christiane Spelsberg u. Roger Willemsen, München 1985, S. 180-230, insbes. S. 197f. 232

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Anker nur e i n m a l und dann in eine unergründliche Tiefe auswirft und wohl weiß, was sie will. […] Das unheimliche Rätsel war nun gelöst.20

Pankraz ist mit dem semiotischen Vehikel des Ikons offenbar in der falschen Deutungsrichtung unterwegs. In derselben verzweifelten semiotischen Lage befinden sich auch Die drei gerechten Kammacher in der gleichnamigen Novelle, aber auf der nächsthöheren Zeichenstufe des Gegenstandsbezugs, die in Keller Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla inszeniert wird: Die überraschende Beobachtung, dass sie sich alle drei genau gleich verhalten, erschüttert ihre Erwartung, einmalige Individuen zu sein. Daraus müssten sie einen abduktiven Schluss ziehen und eine neue Hypothese aufstellen. Doch sie weigern sich, überrascht zu sein, verweigern sich der Abduktion und verharren auf der indexikalischen Ebene der Rückschlüsse auf die jeweiligen Beweggründe der anderen. Keiner der drei gerechten Kammacher wechselt auf die symbolische Ebene, von der er seine Situation semiotisch erst durchschauen könnte. Darin besteht ihre Selbstgerechtigkeit, in der sie orientierungslos erstarren wie in einem Spiegelkabinett. Bei Keller können wir auf der Erzählebene der Protagonistinnen und Protagonisten also beobachten, wie sie jeweils am Sprung von der ersten oder zweiten zur dritten Interpretationsstufe des Zeichens, vom Begriff oder der Aussage zum Argument scheitern. Sie werden durch falsche abduktive Schlussfolgerungen zu Opfern ihrer forciert ikonischen oder indexikalischen Interpretationen, zu denen sie von automatisierten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern verführt werden. Das ist die hohe semiotische Schule von Gottfried Keller, die als solche erst auf der symbolischen Zeichenebene durchschaubar wird, und zwar als Inszenierung, in der die semiotischen Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens von Zeichen, mithin von Welt reflektiert werden, von der die Realisten Keller und Peirce glauben, dass sie »in the long run« von der demokratischen Gemeinschaft der sich gegenseitig korrigierenden Deutern in einer approximativen Annäherung als Wirklichkeit erkannt werden kann. Mit dieser Reflexion geht als gymnastische Dehnungsübung eine Entautomatisierung der Wahrnehmung und des Denkens einher, wozu auch die lichtbringende Lucie den in seinem naturwissenschaftlichen Weltbild befangenen Gelehrten Reinhart anhält, indem sie ihm die Novelle Die Berlocken erzählt. Auch hier handelt es sich ausdrücklich um ein ›Spuren‹-Geschehen,21 in dem der Protagonist auf der Jagd nach Liebeszeichen im buchstäbli-

20 Keller: Die Leute von Seldwyla (Erster Band) (s. Anm. 3), S. 49. 233

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chen und im übertragenen Sinn auf die falsche Fährte gelockt und schließlich ernüchtert, das heißt durch Spott zur Reflexion der semiotischen Umstände seiner Täuschung angehalten wird, diesmal allerdings im kulturkritischen Spiegel der rousseauistischen Verklärung amerikanischer ›Wilder‹, das heißt Indianer, durch die Europäer: Als die Heeresabteilung, bei der er stand, an irgend einen breiten Fluß vorrückte, auf dessen anderem Ufer ein größerer Indianerstamm lagerte, entflammte er mit den anderen Franzosen in Enthusiasmus, nun der wahren Natur und freien Menschlichkeit so unmittelbar gegenüberzustehen; denn jeder von Ihnen trug sein Stück Jean Jacques Rousseau im Leibe. Es handelte sich darum, mit den Indianern in Verkehr zu treten […]. Thibaut war unter den ersten, die über den Strom setzten, und that es bald täglich nicht nur ein-, sondern zweimal, und, war in den Wigwams zu Hause. Nämlich eines der indianischen Mädchen zog ihn unwiderstehlich hinüber, daß er seine ganze siegreiche Vergangenheit vergaß und einem Neuling gleich auf den Spuren einer Wilden umher irrte.22

In einer ironischen Verkehrung der Verhältnisse schenkt der vermeintlich situationsmächtige ›Eroberer‹ der zu Erobernden mit den Berlocken die Gunstbezeugungen der von ihm im Stich gelassenen Verehrerinnen als Zeichen seiner Liebe: Unser guter Thibaut erschrak über die Deutlichkeit des Verlangens nach den Berlocken und besann sich ein Weilchen mit melancholischem Gesichte; er war ganz überrascht von der ungeheuerlichen Keckheit des Begehrens und konnte es nur begreifen, wenn er bedachte, daß das unschuldige Wesen weder die Bedeutung noch den Wert dessen kannte, was es forderte. Als aber das Mädchen traurig das Haupt senkte und die Hand aufs Herz legte und noch mit anderen Zeichen verriet, daß sie große Hoffnungen auf die Erfüllung ihres Wunsches gesetzt hatte, legte er diese Zeichen zu seinen Gunsten aus und änderte seine Gedanken. Im Grunde, dachte er, ist es nur in der Ordnung, wenn ich diese Erinnerungen derjenigen zu Füßen lege, welcher ich mich für das Leben verbinden will!23

21 Siehe Gottfried Keller: Das Sinngedicht (1882), in: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Walter Morgenthaler, Bd. 7, Basel, Frankfurt/M., Zürich 1998, S. 3-329, S. 281 und S. 285; vgl. dazu auch Gabriele Brandstetter: Fremde Zeichen: Zu Gottfried Kellers Novelle »Die Berlocken«. Literaturwissenschaft als Kulturpoetik, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 305-324. 22 Keller: Das Sinngedicht (s. Anm. 21), S. 285. 23 Ebd., S. 287-288. 234

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Am Schluss baumeln die Berlocken an der Nase von Quoneschis Verlobtem, durch dessen Kriegsschmuck sich Thibaut an der Nase herumgeführt sieht.24 Die Berlocken sind insofern weniger vertrackt – oder vielleicht gerade deshalb noch vertrackter –, als die Begegnung zwischen Pankraz, dem Schmoller, und Lydia, mit deren Hilfe der Leser in Kellers Zeichenwelt entführt worden ist, sich auf dem vermeintlich sicheren Boden einer vertrauten und geteilten indogermanischen Sprache, doch wohl des Englischen, bewegt, während die für Thibaut von Vallormes ans Stumme grenzende Unverständlichkeit ihrer ihm gänzlich fremden Sprache eine geradezu makellose, keine störenden Widerstände bietende Projektionsfläche seines Begehrens nach der ›edlen‹ und schönen Wilden darstellt. Bleibt, zum Abschluss, Martin Salander.25 Hier stellt mit Brasilien,26 in dem Salander erst während einer siebenjährigen, dann während einer dreijährigen Emigration zweimal zu bedeutendem Reichtum gekommen ist, der ihm eine bürgerliche und politische Karriere in der Schweiz ermöglicht, die Neue Welt im indirekt proportionalen Verhältnis, in dem die Alte Welt konjunkturell von ihr abhängig ist, einen blinden Fleck dar. Das in Brasilien erworbene Vermögen wiegt zwar Salander in der trügerischen Gewissheit, dass sich Zeichen und ihre Bedeutung decken sollten; der brasilianische Reichtum stellt gewissermaßen die Rückversicherung dieser Illusion dar, die sich im Roman als zusehends haltloser erweist. Der Erzähler, von dem Gerhard Kaiser allerdings den Eindruck hatte, als ob er stellenweise »auswandert« und »in der Versenkung« verschwindet,27 gibt aber von Salanders immerhin zehnjährigen Brasilienerfahrungen nicht mehr preis, als ein ausdrückliches Überlegenheitsgefühl

24 Dessen Beschreibung ist zum Teil wörtlich der Schilderung der MandanIndianer in Maximilian Prinz zu Wieds 1841 erschienenem Bericht Reise in das innere Nord-America in den Jahren 1832 bis 1834 entnommen, während sich der Name »Quoneschi« Henry Wadsworth Longfellows Indianerepos Der Sang von Hiawatha in der Übersetzung von Ferdinand Freiligrath verdankt; siehe Gottfried Keller: Das Sinngedicht. Apparat, in: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Walter Morgenthaler, Bd. 23.1, Basel, Frankfurt/M., Zürich 1998, S. 429-434. 25 Siehe dazu im Besonderen Christa Grimm: Fremdheit und Vertrautsein in Gottfried Kellers Roman Martin Salander (1886), in: Partir de Suisse, revenir en Suisse / Von der Schweiz weg, in die Schweiz zurück, hg. v. Gonçalo Vilas-Boas, Strasbourg 2003, S. 41-51. 26 Siehe dazu grundsätzlich Jeroen Dewulf: Brasilien mit Brüchen. Schweizer unter dem Kreuz des Südens, Zürich 2007. 27 Kaiser: Gottfried Keller, S. 592–593; siehe Rolf Selbmann: Gottfried Keller: Romane und Erzählungen, Berlin 2001, S. 174. 235

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der Alten Welt gegenüber der Neuen. Die amerikanischen Erlebnisse Salanders selbst sind bis auf die Floskel: »So fuhr Martin wieder den atlantischen Ufern zu«,28 vollständig ausgeblendet.29 Sie werden wie ein traumatisch abgekapselter Fremdkörper komprimiert in Salanders pädagogisch beseelter Bewunderung für die schweizerische Kulturlandschaft, deren Kahlschlag Salanders ökologische Sorge gilt: Sie zogen also mit einander aus, in den Wald hinauf, der sie mit seinem durchsichtigen Schatten empfing. Die lange nicht genossene Luft solchen Kulturgehölzes machte dem Familienhaupte wohl zu Mut; die alte Lehrhaftigkeit erwachte in ihm, so daß er Frau und Kindern von dem Unterschiede zu erzählen begann zwischen den Urwäldern des Westens, wo nur Kampf und Ausrottung herrsche, und den von erquickender Luft durchwehten Forsten der alten Welt, wo der Wald gebaut und gepflegt würde fast wie ein Hausgarten. Und wie auch da noch Gegensätze zu treffen seien, zeigte er ihnen, indem er hier an dem reinlichen Boden und den sauber und lichtgehaltenen Stämmen eine Staats- oder Genossenschaftswaldung, dort an Gestrüpp, Wucherzeug und kränklichem Holze den Besitz nachlässiger Bauern erkennen wollte.30

Es schmerzt einen Deleuzianer, mit welch kunstvollen Mitteln sich der Realismus in diesem Punkt ausdrücklich gegen das ›Werden‹ der Neuen Welt verschließt, das für Salander beziehungsweise den hier mit ihm solidarischen Erzähler eine ebenso große Herausforderung hätte darstellen können wie die unwägbaren politischen Fährnisse und Verwerfungen in der schweizerischen Parteienlandschaft nach der demokratischen Bewegung und der wirtschaftsliberalen Gegenbewegung.

28 Keller: Martin Salander (s. Anm. 12), S. 71. 29 Siehe Selbmann: Gottfried Keller (s. Anm. 27), S. 175. 30 Keller: Martin Salander (s. Anm. 12), S. 61. 236

»L I E B E R L E S E R , W E I S S T D U , W AS D A S W O R T G R E E N H O R N B E D E U T E T ?« P H A N T A S I E N D E R M I G R A T I O N UN D R E M I G R A T I O N : DIE ROMANANFÄNGE VON KARL MAYS W I N N E T O U I U N D W I N N E T O U IV UWE SCHWAGMEIER Weltgeschichte ist fatal, / und sie wird erst ideal, / wo sie, anders ausgerichtet, / sich zur Poesie verdichtet / und das wahre Gute kennt: / Winnetou, Old Shatterhand. Roger Willemsen (Winnetou I) Roll me over and turn me around, let me keep spinning ‘till I hit the ground. Thin Lizzy (Cowboy Song)

Der ›Kolonialismus der Phantasie‹ ( V o r au s se tz u n g e n ) Das Nordamerika der berühmten Reiseerzählungen Karl Mays trägt die Züge eines Phantasmas. Damit verbunden ist die Tatsache, dass diese Texte bekanntermaßen vieles den burlesken Momenten der Kolportage schulden. In Winnetou I (1893)1 etwa trifft man auf grantige Büchsenmacher als Tragiker, gutbürgerliche Städterfamilien als Hort eines obskuren Deutschtums, erfahrene Scouts als Witzfiguren und die ach so offene Prärie als Kulisse vor der sich ganz, ganz böse und ganz, ganz gute ›Indianer‹ tummeln. Mittendrin: ein Ich-Erzähler, der sich zunächst langsam

1

Karl May: Winnetou. Erster Band. Reiseerzählung, Karl Mays Hauptwerke in 33 Bdn., hg. v. Hermann Wiedenroth u. Hans Wollschläger, Bd. 19, Köln 1992; im Haupttext wird daraus unter dem Kürzel ›WI‹ plus Seitenzahl zitiert. 237

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und dann immer wieder als eben jener Old Shatterhand entpuppt, welcher eine vorgeblich mit Bildung, Sachkenntnis, Vernunft, Verständnis, Gelassenheit und (Überzeugungs-)Kraft verbundene Einstellung gegenüber dem ›neuen Kontinent‹ vertritt …2 Es ist immer leicht, in einem solchen Ton über das Werk von Karl May zu schreiben.3 Dennoch kann jene soeben skizzierte Einstellung Old Shatterhands als nichts weiter denn der alte, gewachsene, westeuropäische Dünkel gegenüber dem genannten Territorium (insbesondere den Vereinigten Staaten von Amerika) identifiziert werden. Dabei entlarven sich die Sichtweisen des Erzählers zuweilen selbst als ein – im engeren Sinne – kolonialistischer Dünkel. All dies trifft sicherlich auf Karl Mays Winnetou-Trilogie4 zu, wobei sich am Beginn von Winnetou I in verschiedener Hinsicht besonders prägnant zeigt, welche Vorstellungen von Migrantentum und (idealer) Migration, ja, lediglich phantasierter Migration in diesen Texten am Werk sind. Die letztere Variante annulliert die anderen geradezu, ist sie doch eng verbunden mit einer ganz bestimmten Volte, die typisch für Mays Schaffen scheint: die je schon beschlossene Remigration. Zeitlich (fast) parallel zu Karl May zeigt sich in anderen Werken der deutschsprachigen Literatur immer wieder »ein nahezu verzweifeltes Ringen um Authentizität, ein fast vergebliches Bemühen um ›Echtheit‹ […].«5 Es handelt sich hierbei um eine Einschätzung, die auf ein sehr passendes Beispiel zielt – nämlich Theodor Fontanes späten Roman Quitt (1890). Fontane gehört zu einer ganzen Gruppe von deutschsprachigen

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Schon die ältere Beschäftigung mit gewissen Phänomenen bei Karl May wählt für ihr Schreiben gerne eine witzig-ironische Rhetorik; vgl. z.B. Otto Forst-Battaglia: Karl May. Traum eines Lebens – Leben eines Träumers, Bamberg 1966, S. 99. Erfreulich anders machen dies zumeist die Autoren im Karl-MayHandbuch. 2. erweiterte und bearbeitete Auflage, hg. v. Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Klaus Rettner, Würzburg 2001. – Um Hinweise auf Informationen inhaltlicher und historischer Natur sowie zum Forschungsstand zu geben, verweist der vorliegende Text wiederholt auf dieses Werk, da jene Dinge hier nicht ausführlich geboten werden können. Zur Frage ›Trilogie oder Tetralogie‹ der Winnetou-Bände vgl. Ueding: Handbuch (s. Anm. 3), S. 174. Uwe Schwagmeier: »Alle Künste, die Falkenauge in seinen besten Momenten geübt«. Der ›Kolonialismus der Phantasie‹ und der Wunsch, Indianer zu werden: Theodor Fontane und James Fenimore Cooper, in: (Post-) Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie, hg. v. Axel Dunker, Bielefeld 2005, S. 119146, hier S. 146. 238

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Autorinnen und Autoren, die sich (spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts) mit dem Projekt einer literarischen Darstellung Nordamerikas auseinandersetzen. Nicht wenige sind dabei inspiriert von Werken James Fenimore Coopers (1789-1851) oder einem durch diesen vermitteltes Schreiben, für das man beispielhaft etwa den seinerseits wiederum sehr einflussreichen französischen Autor Gabriel Ferry (1809-1852) nennen könnte.6 Diese gesamte Rezeptionslinie ist bei den einzelnen Schriftstellerinnen und Schriftstellern nicht selten mit der ganzen Kraft der Jugendlektüre ausgestattet – oftmals gar mit all der Farbigkeit einer fast ›kindlich‹ zu nennenden Fähigkeit zur Assoziation und Imagination. Auf solche Weise nun zeitigt dieses ›Begehren in der Lektüre‹ – durchaus im Verbund mit einer ›Verdrängung/Repression des Lesens‹7 – späterhin einen ganzen Katalog an intertextuellen Verfahrensweisen, die einen Vorstellungsraum eröffnen, welcher gerade eben nicht zwingend von einem ›Ringen um Authentizität‹ in der textuellen Repräsentation Nordamerikas geleitet ist. Vielmehr sind die in Frage stehenden Texte und Techniken von dem soeben skizzierten Phänomen durchdrungen, das man als ›Kolonialismus der Phantasie‹ bezeichnen könnte.8 So betrachtet, stellt Fontanes Quitt eher schon eine Ausnahme dar: »Der deutsche Romancier [= Fontane; U.S.] verschreibt sich eine Kur, durch die er die ›Phantasien der frühen Lektüre‹ zwar in Richtung eines gewissen Realismus relativiert, sie gleichzeitig aber vor der völligen Zerstörung bewahrt.«9 Nur wenige Künstlerinnen und Künstler sind in der Lage, sich einen solchen eher ausgewogenen und vor allem nicht verlogenen ›Mit6

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Diese beiden Autoren finden hier namentlich Erwähnung, da sie sicher als maßgebend und vielleicht sogar stilbildend für Karl Mays Œuvre gelten können. – Vgl. dazu allgemein Rudolf Beissel: Von Atala bis Winnetou. Die Väter des Western-Romans, Bamberg, Braunschweig 1978; Volker Klotz: Abenteuer-Romane. Sue – Dumas – Ferry – Retcliffe – May – Verne, München, Wien 1979 und den Artikel von Rainer Jeglin zur literarischen Tradition Karl Mays, in: Ueding: Handbuch (s. Anm. 3), S. 27-47 sowie die bisher einzige größere Einzelstudie zur deutschsprachigen Cooper-Rezeption Karlheinz Rossbacher: Lederstrumpf in Deutschland. Zur Rezeption James Fenimore Coopers beim Leser der Restaurationszeit, München 1972. Zur konkreten Beschäftigung Mays mit Ferry siehe z.B. Roland Schmid: Nachwort des Herausgebers, in: Gabriel Ferry: Der Waldläufer. Für die Jugend bearbeitet von Karl May. Reprint der ersten Buchausgabe von 1879, Bamberg 1987, S. N1-N46. Die Begrifflichkeiten werden in Sinne von Roland Barthes verwandt; vgl. Roland Barthes: Über das Lesen, in: Ders.: Das Rauschen der Sprache. (Kritische Essays IV), Frankfurt/M. 2006, S. 33-43, besonders S. 36f. Genaueres dazu in Schwagmeier: Künste (s. Anm. 5), besonders S. 125f. Ebd., S. 146. 239

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telweg‹ zu erarbeiten. Die Möglichkeit des Scheiterns an solch intrikaten Zusammenhängen wird sich sehr wahrscheinlich eher im Bereich der so genannten Trivialliteratur und bei deren hervorragenden Vertretern finden: »Daß das komplette Fehlen, vielmehr Versäumen einer solchen Absicherung [im Sinne von Fontanes Quitt; U.S.] verheerende Folgen zeitigen kann, dafür kennt die Geschichte der deutschsprachigen Literatur einen Namen: Karl May.«10 Es muss hier dennoch die Überlegung erlaubt sein, ob solche Diagnosen für das gesamte Schaffen Karl Mays zutreffen. In diesem Sinne wird hier daher abschließend ein kurzer Blick auf einige ›AmerikaImpressionen‹ in Winnetou IV (1910, seit 1914 Winnetou’s Erben, ab 1960 Winnetous Erben),11 dem vermeintlichen ›Beschluss‹ der WinnetouSerie, geworfen. Insbesondere die neuere Forschung hat genauer zeigen können, dass sich an diesem Punkt sehr konkret Einflüsse der einzigen Nordamerikareise Karl Mays von 1908 bemerkbar machen.12 Ob solches aber im Text durchweg eine Veränderung hinsichtlich einer stärker realitätsbezogenen, ja ›modernen‹ Auffassung der USA und ihrer Einwohner entstehen lässt, bleibt fraglich.13

10 Ebd. 11 Karl May: Winnetou Band IV. Reiseerzählung, hg. v. Dieter Sudhoff, Hamburg 1984; im Haupttext wird daraus (nicht nach Spalten!) unter dem Kürzel ›WIV‹ plus (durchlaufende) Seitenzahl zitiert. – Bei dieser Ausgabe handelt es sich um ein Faksimile des Erstabdrucks im ›Unterhaltungsblatt‹ Lueginsland der Augsburger Postzeitung (beginnend mit der No. 88 am 6. Oktober 1909, endend mit No. 36 am 27. April 1910), welches von der Karl-May-Gesellschaft veranstaltet wurde. Es ist de facto textidentisch mit der ersten Buchausgabe bei Fehsenfeld. Sudhoffs Edition ist in dieser Hinsicht mit Hinweisen auf Varianten (S. 5) und einer Seitenkonkordanz (erstellt von Gerhard Klußmeier, S. 307) versehen. 12 Eine ausführliche Darstellung findet sich bei Dieter Sudhoff: Karl May in Amerika. In fernen Zonen. Karl Mays Weltreisen, hg. v. Lothar u. Bernhard Schmid, Bamberg, Radebeul 1999, S. 233-427. 13 Die älteren Monographien mit erkennbaren Präferenzen für die Reiseerzählungen, Mays mittleres Schaffen also, kommen nicht selten zu leicht disparaten, meist aber nahezu vernichtenden Einschätzungen gegenüber dem Spätwerk, zu dem auch Winnetou IV zu zählen ist; vgl. z.B. Forst-Battaglia: Traum (s. Anm. 2), S. 91. 240

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Der Anfang von Winnetou I ( c l o s e r e a d i n g ) 14 Die Fabel, von der dieser Roman, einer der populärsten Karl Mays, getragen wird, ist dementsprechend berühmt: Erzählt wird die Entwicklung des Ich-Helden vom Greenhorn zum berühmten Westmann Old Shatterhand. Er lernt den Häuptlingssohn Winnetou kennen, erringt seine Freundschaft und wird schließlich sein Blutsbruder. Winnetous Vater Intschu tschuna, Häuptling der Mescalero-Apatschen, und seine Schwester Nscho-tschi werden von einer Gruppe weißer Verbrecher getötet, die von Santer angeführt wird. Die Suche nach dem Mörder bleibt lange erfolglos.15

Neben der noch immer nicht genügend untersuchten Einleitung16 ist im vorliegenden Rahmen besonders jene Exposition des Romans interessant, welche die konkrete und sehr bekannte Wild-West-Handlung vorbereitet. Es handelt sich im Wesentlichen um das der Einleitung folgende, erste Kapitel des Romans mit der Überschrift Ein Greenhorn. Hier erfährt die Leserschaft nicht nur die – in hoch ironischem, beinahe sarkastischem Ton vorgetragene – Definition des Erzählers, was denn ein Greenhorn sei,17 sondern auch von seinem folgenden Eingeständnis: 14 Zu Winnetou I siehe grundsätzlich den Artikel von Helmut Schmiedt, in: Ueding: Handbuch (s. Anm. 3), S. 174f. u. S. 497. – Eine nach wie vor gelungene Einführung in die Forschungslage zum Thema an sich bietet: Karl Mays »Winnetou«. Studien zu einem Mythos, hg. v. Dieter Sudhoff u. Hartmut Vollmer, Frankfurt/M. 1989. 15 Michael Petzel / Jürgen Wehnert: Das neue Lexikon rund um Karl May. Leben Bücher Filme Fans. Von der Wüste zum Silbersee: Der große deutsche Abenteuer-Mythos. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Berlin 2002, S. 497. – Die Figuren aus Mays Kosmos, auch Seitenakteure wie Sam Hawkens, werden in diesem Text nicht eigens vorgestellt, sondern als bekannt vorausgesetzt. 16 Unter den Vorzeichen der (post-)colonial studies wäre eine erneute und tief greifende Untersuchung dieser ›Einleitung‹ dringend wünschenswert. – Eine Karl-May-Forschung, die sich an eben den (post-)kolonialen Studien orientiert hat gerade eben erst begonnen; vgl. dazu z.B. Uwe Schwagmeier: »Mußt Du heim, Sidhi, oder mußt Du nicht heim?« Eine kurze Anleitung zur Beschäftigung mit den Orientbildern Karl Mays, in: Sesam öffne dich. Bilder vom Orient in der Kinder- und Jugendliteratur, hg. v. Michael Fritsche u. Kathrin Schulze, Oldenburg 2006, S. 81-102. 17 Ein Greenhorn hat keine oder schlechte Manieren, weiß nicht mit (Schuss-) Waffen umzugehen, spricht eigentümlich Englisch, missdeutet oder scheut sich vor Auftreten, Aussehen und Angewohnheiten der ›richtigen Yankees‹ 241

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Ein Greenhorn ist eben ein Greenhorn - - - und ein solches Greenhorn war damals auch ich. Aber man denke ja nicht etwa, daß ich die Ueberzeugung oder auch nur die Ahnung gehabt hätte, daß diese kränkende Bezeichnung auf mich passe! O nein, denn es ist ja eben die hervorragendste Eigentümlichkeit jedes Greenhorns, eher alle andern Menschen, aber nur nicht sich selbst für ›grün‹ zu halten. (WI, S. 16)

Diese Textpassage repräsentiert eine der vergleichsweise wenigen Stellen in den Winnetou-Romanen, viel mehr allen Reiseerzählungen, an denen der Ich-Erzähler reflektierend Abstand zu jener Heldenrolle gewinnt, die sich zu erschreiben er sonst gewohnt ist. Zugleich kann man hier auf gewisse Denkvolten aufmerksam werden: Ein Greenhorn ist eben gerade dann vollends ein solches, wenn es sich nicht dafür hält. Man kann vielleicht sogar eine doppelte Volte erkennen, wenn man bedenkt, dass innerfiktional der zeitliche Abstand zu den erzählten Ereignissen und Befindlichkeiten bedeutend ist, schreibt Old Shatterhand seine Erinnerungen doch erst in der europäischen Heimat nieder, nach zahlreichen Reisen und Abenteuern. Die doppelte Volte besteht nun darin, dass mit eben dieser Reflektion das Etikett ›Greenhorn‹ nicht nur etabliert, sondern sogleich wieder durchgestrichen wird. Der Gestus der Überlegtheit ist der Gestus der Überlegenheit. Mit einer nachgelieferten Authentifizierung macht der Erzähler dasjenige zur Wahrheit, was Shatterhand schon seinerzeit ›im Westen‹ für wahr hielt: Ich glaubte […], ein außerordentlich kluger und erfahrener Mensch zu sein; hatte ich doch, so was man zu sagen pflegt, studiert und nie vor einem Examen Angst gehabt! Daß dann das Leben die eigentliche und richtige Hochschule ist, deren Schüler täglich und stündlich geprüft werden und vor der Vorsehung zu bestehen haben, daran wollte mein jugendlicher Sinn damals nicht denken. (WI, S. 16)

Auch hier weist das Wort damals auf die für diese Interpretation so wichtige Differenz von Zeitpunkt des Erzählens (= Niederschrift) und Zeitpunkt des Erzählten. Geschickt wird so zu kaschieren versucht, was der Text tatsächlich mitteilt: Die Hauptfigur ist gebildet, in Mays Logik also klug, gescheit, intelligent, und sie ist Akademiker mit Abschluss (Studium & Examen). Damit ist nicht nur Shatterhand, der sich späterhin auch immer wieder selbst so einschätzt, zum Lehrer prädestiniert, sondern

und beherrscht insbesondere die Alltagstechniken des Westmannes, wie Fährtenlesen, Himmelskunde, Feuermachen und die Sprachen der indigenen Völker, nicht; vgl. WI, S. 15f. 242

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auch eine für Mays Œuvre so bezeichnende Metapher eingeführt, jene vom Leben als (Hoch-)Schule nämlich. Ferner ist an diesem Punkt der Selbstreflexion schon implizit, was weiterhin auf der Handlungsebene unausgesetzt durchgespielt werden wird: Der eindringliche Verweis auf den akademischen Abschluss deutet an, dass das Leben vielleicht eine Schule sein mag, Old Shatterhand darin aber immer Lehrer und nicht Schüler ist. Dem Nachdenken des Ich-Erzählers über sich selbst (= die Hauptfigur) ist also nicht unbedingt zu trauen. Dies nun ›verlogen‹ zu nennen, mag überspitzt scheinen. Es könnten jedoch gerade (im Sinne der doppelten Volte) letztlich die Momente sein, die das Heldentum Shatterhands untermauern, die scheinbar versuchen davon Abstand zu gewinnen. Damit sind auch die Vorzeichen umrissen, unter denen die (vorgebliche) Migration der Hauptfigur steht: Unerquickliche Verhältnisse in der Heimat und ein, ich möchte sagen, angeborener Tatendrang hatten mich über den Ozean nach den Vereinigten Staaten getrieben, wo die Bedingungen für das Fortkommen eines strebsamen jungen Menschen damals weit bessere und günstigere waren als heutzutage. Ich hätte in den Oststaaten recht wohl ein gutes Unterkommen gefunden, aber es trieb mich nach dem Westen. Bald auf diese und bald auf jene Weise für kurze Zeit tätig, verdiente ich mir so viel, daß ich, äußerlich wohl ausgerüstet und innerlich von frohem Mute erfüllt, in St. Louis ankam. Dort führte mich das Glück in eine deutsche Familie, in welcher ich einen einstweiligen Unterschlupf als Hauslehrer fand. (WI, S. 16f.)

Dies ist nahezu schon alles, was in Winnetou I über das Leben Old Shatterhands bis dato zu erfahren ist, setzt doch die Handlung ein, als sich dieser bereits in eben jenem St. Louis (Missouri) befindet. Nichtsdestoweniger ist das hier Mitgeteilte in unterschiedlichen Belangen aufschlussreich: Zunächst fällt auf, dass eine Störung im Verhältnis zur deutschen Heimat, die nicht näher erläutert wird, den Anlass für die Reise in die Vereinigten Staaten von Amerika bildet.18 Dabei sind letztere ganz offenbar mit der bekannten Vorstellung besetzt, dass es dort dem Tüchtigen nicht schwer fallen wird, sein Glück zu machen. Zudem folgt der Erzähler einem (inneren) Drang nach Westen, in – zum Zeitpunkt des Erzählten und im Sinne der Kolonialisten – noch weniger zivilisierte Gebiete, obwohl er in den östlichen USA19 problemlos ein Auskommen gefunden hätte. Durch die Verdienste der

18 Die biographistische Forschung hat in diesem Moment immer wieder einen Reflex auf die Gefängnisaufenthalte Karl Mays gesehen. 19 Dies heißt entsprechend: in den Landesteilen, in denen die koloniale Struktur umgreifend etabliert ist. 243

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eigenen Tatkraft materiell gut ausgestattet und mental wohl gewappnet findet Shatterhand in St. Louis (welches hier indirekt als eine Art frontier town markiert wird) ausgerechnet bei einer deutschen Familie sein Obdach.20 Alles zusammen genommen, wirkt dies wie eine Verdichtung von Topoi, die, angesichts des Datums der ersten Buchausgabe von Winnetou I, in der deutschsprachigen Literatur bereits eine gewachsene Tradition aufzuweisen haben – von Sealsfield, über Gerstäcker und Möllhausen bis hin zum eingangs erwähnten, drei Jahre zuvor erschienenen Quitt Fontanes.21 Zum Teil anders jedoch als bei Figuren, die aus der genannten Tradition bekannt sind, ist für Old Shatterhand sein Herkunftsland immer noch ›die Heimat‹ und nicht etwa ›die alte Heimat‹ oder ähnliches. Dieser Status Deutschlands bleibt hier und fortan unangetastet und weist auf jenes Moment, das oben schon als ›je schon beschlossene Remigration‹ bezeichnet wurde. Hier ist zu sehen, dass die Figur Old Shatterhand dem Muster des Odysseus folgt, welcher nach Querelen in der ›Heimat‹, Abenteuer in fernen Ländern zu bestehen hat, nur um dafür umso machtvoller (und berühmter) an den Ort der eigentlichen biographischen Bestimmung zurückzukehren.22 Alles Tun und Erleben Shatterhands während seiner Abenteuer in Nordamerika kann also durch den Text, der den Beginn seiner Erfahrungen mit den USA schildert, zurückgelesen werden auf sein Verhältnis zum wilhelminischen Deutschland.

20 Hinsichtlich der Authentizitäts-Spuren in Mays Winnetou-Bänden mag vielleicht von Interesse sein, dass es historisch belegt ist, dass die reale Stadt St. Louis im 19. Jahrhundert einen großen Zustrom deutschsprachiger Migranten erlebte. 21 Nach Ansicht des Verfassers handelt es sich hierbei um eine nicht zu unterschätzende Tatsache – und zwar, auch und gerade mit Blick auf die anderen Beiträge zu diesem Band. – In dieser Hinsicht ist es spannend, zu sehen, dass es bei May hin und wieder den Versuch gibt, eben diese Traditionslinie zu negieren, auch, um dem eigenen Text den Anschein der Autorität des unbedingt Authentischen zu verleihen. So lässt er beispielsweise Sam Hawkens sagen: »Nein, alle diese Bücherschreiber kennen den Westen nicht, denn wenn sie ihn kennen gelernt hätten, so hätten sie ihn nicht verlassen, um ein paar hundert Papierseiten mit Tinte schwarz zu machen. Das ist so meine Ansicht, und ich vermute sehr, daß sie die richtige ist« (WI, S. 136). 22 Auch in der ausschließlich deutschsprachigen Literatur hat dieses Muster eine sehr alte Tradition, was unmittelbar begreifbar wird, wenn man sich Beispiele wie etwa den Herzog Ernst (um 1170) vor Augen hält. Vgl. dazu auch das Kapitel Manische Wiederholung: Karl May und das AbenteuerSchema, in: Harald Fricke: Gesetz und Freiheit. Eine Philosophie der Kunst, München 2000, S. 118-133. 244

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Interessant ist weiterhin, dass sich in der Passage, anhand derer all diese Beobachtungen gemacht werden können, gleichzeitig die innere Berufung zum Dasein als Lehrer auf der Handlungsebene einlöst. Die Metapher von der Schule des Lebens steht dabei allerdings gar nicht in Frage; viel mehr wird sie in bestimmter Hinsicht mit dem konkreten Handlungsverlauf amalgamiert: Shatterhand, der Lehrer qua Bestimmung und Ausbildung, wird tatsächlich ein solcher und so wird eine Position befestigt, welche später plausibel erscheinen lässt, dass ein so genanntes Greenhorn – allein ob seines Wissens und Könnens – in jedem Fall mit den Gegebenheiten der Prärie zurecht kommen kann und wird. An späterer Stelle von Winnetou I wird die ›je schon beschlossenen Remigration‹, welche die Grundfolie all der soeben vorgeführten Teilaspekte bildet, sogar offen thematisiert und von Shatterhand im Gespräch mit Sam Hawkens unumwunden dargelegt: »Ich mache Reisen, um Länder und Völker kennen zu lernen, und kehre zuweilen in die Heimat zurück, um meine Ansichten und Erfahrungen ungestört niederzuschreiben.« »Aber zu welchem Zwecke denn, um aller Welt willen? Das kann ich nicht einsehen.« »Um der Lehrer meiner Leser zu sein und mir nebenbei Geld zu verdienen.« (WI, S. 137)

Schon in diesem Ausschnitt aus dem Disput der beiden ist die Skepsis von Sam Hawkens gegenüber den Überzeugungen Old Shatterhands erkennbar. Diese verstärkt sich fast zum Zorn, wobei – unter erzählstrategischen Gesichtspunkten – allerdings zu bedenken bleibt, dass Hawkens im Fortgang des Romans ein wichtigstes Gegenüber Shatterhands darstellt. Allerdings bildet er vor allem eine Art Widerpart, an dem sich immer wieder aufs Neue zeigt, dass jener letztendlich eben kein Greenhorn ist: »Zounds! Der Lehrer seiner Leser! Und Geld verdienen! Sir, Ihr seid übergeschnappt, wenn ich mich nicht irre! Eure Leser werden gar nichts von Euch lernen, denn Ihr versteht ja selber nichts. Wie kann so ein Greenhorn, so ein ganz und gar ausgewachsenes und ausgestopftes Greenhorn der Lehrer seiner Leser sein! Ich versichere Euch, daß Ihr gar keine Leser finden werdet, nicht einen einzigen! Und sagt mir nur um des Himmels willen, warum Ihr, aber auch grad Ihr ein Lehrer werden wollt, und noch gar der Lehrer Eurer Leser, die Ihr gar nicht finden und haben werdet! Gibt es denn nicht Lehrer und Schulmeister genug auf Erden und in der Welt? Müßt Ihr die Summe dieser Leute denn vergrößern?« »Hört, Sam, ein Lehrer zu sein, ist ein hochwichtiger, ein heiliger Beruf!«

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»Pshaw! Ein Westmann ist viel wichtiger, tausend- und abertausendmal wichtiger! Das muß ich wissen, weil ich einer bin, während Ihr erst kaum mit der Nase hergerochen seid. Ich muß mir das also allen Ernstes verbitten, daß Ihr Lehrer Eurer Leser werden wollt! Und nun gar Geld dabei zu verdienen! Welch eine Idee, welch eine ganz und gar hirnlose Idee!« (WI, S. 137)

Hier wiederholt sich die Logik vom Beginn (= ein Greenhorn ist ein Greenhorn, weil es nicht weiß, dass es ein Greenhorn ist) in einer Art Spiegelung (= ein Westmann ist ein Westmann, weil er weiß, was ein Westmann ist). Man begegnet im Text aber auch einer noch einmal etwas anders gelagerten Taktik, den Begriff ›Greenhorn‹ indirekt ins Bedeutungslose zu verschieben. Da der Text Old Shatterhand bis zu diesem Punkt schon auf unterschiedlichen Bedeutungsebenen als einen Lehrer ausgewiesen hat, so ist es durchaus vorstellbar, dass er nach seiner Rückkehr der ›Lehrer seiner Leser‹ werden wird (und dies wohl möglich auch noch mit Erfolg). Ein Lehrer in der ›Schule des Lebens‹ und außerdem ein wirklicher Hauslehrer zu sein, sind die tatsächlichen und günstigen Voraussetzungen für den Status eines ›Lehrers seiner Leser‹, nicht etwa – wie Sam Hawkens meint – die ungünstige Existenz als Greenhorn. Es zeigt sich viel mehr, dass die letztere Kategorie für den IchErzähler schlichtweg irrelevant ist. Zusätzlich ist an diesem Komplex wiederholt zu sehen, wie wichtig das Vorhaben der Remigration ist, welches den hier doch eigentlich in vollem Gange befindlichen Prozess der Migration zusehends als eine Art Phantasie ausweist. All dies spielt an unterschiedlichen Stellen des Romans eine Rolle; auch die Reflexionen Shatterhands über sein Verhältnis zu dem Scout Hawkens zeigen dies: Es hatte sich zwischen ihm und mir im Stillen ein Verhältnis herausgebildet, welches ich am besten mit dem Worte Suzeränität, Oberlehnsherrlichkeit, bezeichnen möchte. Er hatte mich unter seinen Schutz genommen, und zwar wie einen Menschen, den man gar nicht danach zu fragen braucht, ob er damit einverstanden ist. Ich war das Greenhorn und er der erfahrene Westmann, dessen Worte und Taten für mich unfehlbar zu sein hatten. Er gab mir, so oft sich Zeit und Gelegenheit bot, theoretischen und praktischen Unterricht in allem, was man im wilden Westen wissen und auch können muß, und wenn ich heut der Wahrheit nach sagen muß, daß ich später an Winnetous Seite die hohe Schule durchmachte, so muß ich billig eingestehen, daß Sam Hawkens mein Elementarlehrer gewesen ist. (WI, S. 42)

Bezogen auf bestimmte Kennzeichen der Handlungsverläufe (= das ›Abenteuer-Schema‹) bei Karl May hat Harald Fricke vom Prinzip der

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›manischen Wiederholung‹ gesprochen.23 Dies gilt neben solch konkreten Komponenten zusätzlich für eher diskursiv zu nennende Aspekte dieser Texte. Für den bisher vorgestellten Themenkreis zeigt sich solches an der zuletzt zitierten Passage aus Winnetou I wiederholt: Wieder erscheint die Metapher von der ›Schule des Lebens‹, wieder begegnet einem augenscheinlich das Eingeständnis des Erzählers, im Westen unerfahren, eben ein Greenhorn zu sein – und alles in Beteuerungsformeln, die für die Wahrheit des Ausgesagten bürgen sollen. Wieder aber kommt die Differenz zwischen Zeitpunkt des Erzählten und des Erzählens zum tragen und gibt dem Erzähler Zeit, Worte zu finden und Betrachtungsweisen zu wählen, mithin Doppelbödigkeit zu konstruieren. Dies kommt vor allem in der Rede von der ›Suzeränität‹ zum Ausdruck. Die vollmundige Art mit der sich Sam Hawkens offenbar zum Beschützer Shatterhands aufgeschwungen und sich selbst zur Autorität erklärt hat, entbehrt nicht einer gewissen Liebenswürdigkeit.24 Auch will es scheinen, dass ihm dahingehend vom Erzähler Sympathie und Dankbarkeit entgegengebracht werden. Es ist letzterem sogar möglich Hawkens metaphorisch zu seinem ›heiligen‹ Stand des Lehrers zuzulassen, allerdings nur um ihn in ein und demselben Ausdruck zu desavouieren und herabzustufen. Mehr als die niedrige Kategorie ›Elementarlehrer‹ kann ihm der Erzähler nicht zugestehen – das heißt: die ›hohe Schule‹ keinesfalls.25 All dies zusammengenommen zielt auf etwas ganz Bestimmtes, denn in dieser Passage stellt sich endgültig heraus, dass es sich bei der Festlegung der Positionen von ›Westmann‹ und ›Greenhorn‹ um bloße Setzungen seitens Hawkens’ handelt und nicht etwa um wahrhaftige Tatsachen. Im Sinne der oben schon dargelegten ›doppelten Volte‹ gehen die semantischen Gehalte des Textes gleichzeitig in unterschiedliche Richtungen,

23 Vgl. Fricke: Gesetz (s. Anm. 22), S. 118f. 24 Dies ist auch an anderen Stellen des Romans in den Schilderungen des Erzählers und seiner Wiedergabe der Äußerungen des Gefährten zu bemerken: »Und ich, Sam Hawkens, will euch auch warnen, wenn ich mich nicht irre. Dieses junge, deutsche Greenhorn steht unter meinem ganz besondern Schutze. Wer es wagen sollte, ihm nur ein Haar zu krümmen, dem schieße ich sofort ein Loch durch die Gestalt. Ist mein voller Ernst; könnt es euch merken, hihihihi!« (WI, S. 51). – Vorerst sei an diesem Punkt lediglich darauf hingewiesen, dass Hawkens im Rahmen seines ›Gelöbnisses‹ eine Verbindung zwischen Shatterhands Deutschtum und seinem Label ›Greenhorn‹ zieht. 25 Wen wundert es, dass diese ›hohe Schule‹ Winnetou zufällt, ist er doch mindestens im Kosmos derjenigen Reiseerzählungen, die seinen Namen tragen, die einzige Figur, die Old Shatterhand ebenbürtig (und ganz selten – auf eine geheimnisvolle und melancholisch gefärbte Art – überlegen) ist. 247

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so dass man auch hier von etwas sprechen kann, das scheinbar erzählt wird und etwas, das tatsächlich mitgeteilt werden soll. Diese Verhältnisse finden dann auch ihre Entsprechungen auf der bloßen Handlungsebene, etwa, wenn Hawkens Shatterhand in die Mustangjagd einführen will, dort sich aber der vermeintliche Schüler besser schlägt als der vermeintliche Lehrer.26 Zu allen diesen, sich zum Teil in einem widerspruchsvollen Spiel von Bedeutung befindlichen Etiketten Old Shatterhands (Deutscher, Greenhorn, Akademiker, Lehrer, Schriftsteller, Westmann) kommt eine weitere: die des Landmessers. Damit nun greift Karl May einen der traditionsreichsten Topoi der deutschsprachigen Amerika- und Abenteuerliteratur auf.27 Vor dem Hintergrund des bisher Dargestellten ist es eventuell aufschlussreich, sich die Genese dieser neuen Funktion Shatterhands genauer anzusehen.

Nochmals: Der Anfang von Winnetou I (close reading II) Im Verlauf des Romans gibt es einen bestimmten Punkt, von dem an der neue Status Old Shatterhands als (führendes) Mitglied eines Vermessungstrupps letztlich gilt. Es ist dies jener besondere Abend, an dem für ihn in St. Louis ein Fest gegeben wird, welches ihm zunächst unerklärlich ist.28 Tatsächlich soll ihn das Dinner einerseits freundlich aus dem Kreis seines Little Germany verabschieden und ihn andererseits feierlich in der zusätzlichen Funktion installieren. Aus diesem Anlass macht er wichtige Bekanntschaften, die für seine Zukunft im Westen – wie schon gezeigt – von Bedeutung sind:

26 Vgl. WI, S. 74f. – Im Roman gibt es (ganz im Sinne der ›manischen Wiederholung‹) noch andere, ähnliche Beispiele, bezogen etwa auf Bisons oder Grizzlybären. 27 Siehe dazu besonders den Beitrag von Alexander Honold in diesem Band. 28 Parallel dazu zeigt sich, wie sehr der Erzähler bereits in die Gegebenheiten der ehemaligen Migranten von St. Louis integriert ist und im Text damit zunächst die Vorstellung der eigenen, endgültigen Migration aufrecht erhalten kann: »Da ich Hausgenosse war, brauchte ich nicht bis Punkt zum Glockenschlage zu warten, sondern stellte mich einige Minuten vorher in dem dining-room ein. Dort sah ich zu meiner Verwunderung nicht das gewöhnliche Arrangement, sondern es war wie zu einem Feste gedeckt worden« (WI, S. 32). 248

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Ungefähr drei Wochen nach unserm sonderbaren Besuche im Bureau [der Atlantik und Pazifik Company, bei dem Shatterhand – von ihm selbst unbemerkt – auf seine Eignung als surveyor in einem Vermessungstrupp geprüft wird; U.S.] bat mich die Lady, am Abend, der heut für mich ein freier war, nicht auszugehen, sondern das supper mit der Familie zu nehmen. Als Grund dieser Einladung gab sie an, daß Mr. Henry kommen werde, und außerdem habe sie zwei Gentlemen geladen, von denen der eine Sam Hawkens heiße und ein berühmter Westmann sei. Ich als Greenhorn hatte diesen Namen noch nicht gehört, freute mich aber doch darauf, den ersten wirklichen und sogar berühmten Westmann kennen zu lernen. (WI, S. 32)

Noch kurz bevor der Erzähler zu seinen spektakulären Abenteuern im tiefen Westen aufbricht, erhält er also die Fiktion von der eigenen Person als nicht nur nominelles Greenhorn aufrecht. Aus den genannten Gründen ist dem nicht zu trauen, was ähnlich für den Pomp gilt, mit dem hier Sam Hawkens als ›berühmter Westmann‹ eingeführt wird, bei dem man sich glücklich schätzen darf, ihn kennen zu lernen. Ist dies im Text mit dem üblichen Bescheidenheitsgestus ›durchexerziert‹ worden, erinnert der Erzähler sogleich daran, dass er seines Zeichens (Haus-)Lehrer ist; kurz vor den anderen Angehörigen der Abendgesellschaft begibt sich der Erzähler in das Speisezimmer: Die kleine, fünfjährige Emmy hatte sich allein in dem Raume befunden und den Finger, um zu naschen, in das Beerenkompott gesteckt. Sie zog ihn, als ich eintrat, schnell zurück und wischte ihn spornstreichs an ihrem hochblonden Frisurchen ab. Als ich nun mit strafendem Winke den meinigen erhob, kam sie auf mich zugesprungen und flüsterte mir einige Worte zu. Um ihr Vergehen gut zu machen, teilte sie mir das Geheimnis der letzten Tage, welches ihr das kleine Herzchen fast abgedrückt hatte, mit. Ich glaubte, falsch verstanden zu haben; sie aber wiederholte auf meine Aufforderung dieselben Worte: »Your farewellfeast.« (WI, S. 32f.)29

29 Mit solchen Szenen gehen aufschlussreiche Andeutungen des Erzählers einher, welche wieder auf das Faktum seiner vollständigen Integration in die Gemeinschaft der deutschen Migranten zielen, überdem aber noch betonen, dass mit der zukünftigen, als ehrenwert und gefahrvoll geltenden Berufung zum Landmesser sein Ansehen zusätzlich noch steigt bzw. sich verändert: »Sonderbarerweise hatte sich zu derselben Zeit auch das Verhalten der Familie, in der ich wirkte, verändert. Die Eltern hatten sichtlich mehr Aufmerksamkeit für mich, und die Kinder waren zärtlicher geworden. Ich überraschte sie bei heimlichen Blicken auf mich, die ich nicht verstehen konnte; ich hätte sie liebevoll und auch bedauernd nennen mögen« (WI, S. 32). 249

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In dieser Rührszene, die einem damaligen deutschen Familienblatte entstammen könnte, verdichten sich nun wiederum (die bekannten) Aspekte. Mit wenigen Stichworten und Zusammenhängen (der freundliche Anlass als solcher, das Beerenkompott, das hochblonde Frisurchen, das kleine, fast abgedrückte Herzchen und die englische Sprache, die zumindest die Kinder bereits angenommen haben) wird das Klischee eines wohlgeordneten bürgerlichen Haushaltes deutscher Migranten entworfen. Der amüsante kleine Vorfall scheint in ein fast biedermeierliches Licht getaucht. Erhobenen Zeigefingers ist Old Shatterhand in milder Strenge der Dreh- und Angelpunkt des Geschehens, steht als der geliebte Lehrer in jener Eigenschaft da, die vor allem dazu angetan ist, die Naivität eines Greenhorns, ja, diesen Begriff an sich zu negieren. Bei diesem ›Abschiedsschmaus‹ muss nicht mehr gezweifelt werden, ob sich der Erzähler in der Folge auch als Landmesser (und Westmann) meisterlich bewähren wird. Wie schon angedeutet, kommt es zu diesem Wendepunkt durch einen bestimmten Verlauf, und damit hängt auch zusammen, dass jener Mr. Henry zu der feierlichen Abendtafel geladen ist. Dementsprechend noch zuvor in Winnetou I skizziert Old Shatterhand Mr. Henry erstmalig: »In dieser Familie verkehrte Mr. Henry, ein Original und Büchsenmacher, welcher sein Handwerk mit der Hingebung eines Künstlers betrieb und sich mit altväterischem Stolze Mr. Henry, the Gunsmith nannte« (WI, S. 17). Mr. Henry unterhält also Kontakt mit einer deutschen Familie, was die Vermutung nahe legt, dass er nicht nur zum deutschen Migrantenumfeld gehört, sondern selbst auch Deutscher ist. In gewissem Sinne scheint hier das Adjektiv ›altväterisch‹ diesen Eindruck noch zu verstärken, weist es doch auf so etwas wie eine Abstammungslinie. Dass Mr. Henry nun auch noch (gleich Regin) ein Waffenschmied ist, rückt ihn sogar in die Nähe einer Mythen-Tradition, welche zur Zeit Karl Mays – noch vergleichsweise naiv – als ein nationale Identität stiftender ›Ursprung‹ eines gewissen Deutschtums begriffen wurde.30 All das wird im Text zudem mit einem Englisch versehen, welches so sicher nie gesprochen wurde, doch nichtsdestoweniger in der Absicht eingesetzt ist, die (lediglich imaginierten) sprachlichen Eigentümlichkeiten der ›deutschen

30 Vervollständigt man die Analogie aus der nordischen Mythologie, so fällt Old Shatterhand, der ja von Mr. Henry mit seinen beiden legendären Waffen – dem Bärentöter und dem Henrystutzen – ausgestattet wird, die Rolle Sigurds/Siegfrieds zu; eine Referenz die im Schrifttum über Karl May in meist ironischer Absicht immer wieder gemacht worden ist und in ikonografischer Hinsicht an heutigen Vorabenden noch im Äußeren der Shatterhand-Figur der Zeichentrickfilmserie Winnetoons besichtigt werden kann. 250

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Kolonien‹ an der frontier zu betonen. Mit dieser Bevölkerungsgruppe steht denn auch die Vorgeschichte Mr. Henrys in Zusammenhang: Dieser Mann war ein außerordentlicher Menschenfreund, obgleich er das Gegenteil zu sein schien, da er außer der erwähnten Familie mit keinem Menschen verkehrte und selbst seine Kunden so kurz und schroff behandelte, daß sie nur der Güte seiner Ware wegen zu ihm kamen. Er hatte seine Frau und Kinder durch ein grausiges Ereignis verloren, über welches er nie sprach, doch vermutete ich infolge einiger seiner Aeußerungen, daß sie bei einem Ueberfalle ermordet worden waren. Das hatte ihn äußerlich rauh gemacht […]. (WI, S. 17)

Henry stellt für Winnetou I den Typus des Grantlers also nicht nur aus Gründen von Komik oder Rhetorik, um in den (Streit-)Gesprächen mit Old Shatterhand, welche gleich noch näher betrachtet werden sollen, einen besonders bärbeißigen Widerpart abzugeben. Henry steht mit seinen Eigenheiten und seiner Vergangenheit auch für den (literarischen) Topos der typischen Lebensgeschichte eines Migranten eine bis anderthalb Generationen vor der Old Shatterhands ein. Umgibt Henry ohnehin eine diffuse Aura der Deutschtümelei, so erfüllt er dieses Klischee auch mit Blick auf seine Heimatverbundenheit: […] er wußte es vielleicht gar nicht, daß er eigentlich ein perfekter Grobian war; der Kern aber war mild und gut, und ich habe oft sein Auge feucht gesehen, wenn ich von der Heimat und den Meinen erzählte, an denen ich mit ganzem Herzen hing und auch heut noch hänge. (WI, S. 17)

Damit gehört Mr. Henry zu einer ganzen Gruppe von Figuren in Mays Werken, die wesentlich – im Guten wie im Schlechten – durch die Differenz von Schein und Sein definiert sind, und er zählt auch zu den vielen Vaterfiguren, von denen insbesondere Winnetou I nur so wimmelt.31 Für den vorliegenden Zusammenhang ist es aber bedeutsamer, dass an dieser 31 Diesem Komplex gälte es, sich gesondert zu widmen: Mr. Henry setzt Shatterhand für sich an die Stelle seines verstorbenen Sohnes (vgl. WI, S. 17 unten u. S. 21f.), was aber auch in umgekehrter Richtung gelesen werden kann. Bald schon wird Henry in seiner Vaterfunktion für Shatterhand allerdings von Sam Hawkens abgelöst, der sie aber (gleich Henry) nicht vollends auszufüllen vermag. Weiterhin erscheint später Klekih-petra, der ›weiße Vater‹ der Apatschen und in gewissem Sinne in besonderer Weise von Winnetou und Nscho-tschi, der Intschu tschuna, den leiblichen Vater der beiden, fast ins Bedeutungslose verschiebt. Dem nicht genug: Klekih-petra ist – in Lebenslauf, Weltanschauung und Stammesfunktion, wenn auch zu jeweils unterschiedlichen Anteilen – eine Präfiguration Old Shatterhands. 251

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Passage nachzuvollziehen ist, wie der Heimatbegriff Old Shatterhands denjenigen der vorhergehenden Migrantengenerationen (in ihren Little Germanies) beleuchtet. Die Rede über das Thema in seiner Wichtigkeit stiftet eine Kommunikationsbasis, die gewährleistet, dass man sich gegenseitig einer absoluten Gemeinsamkeit versichern kann. Doch während in Mr. Henrys weinerlicher Erinnerung die Heimat als Ort einer verklärten Vergangenheit, mit der man abgeschlossen hat, erscheint, zeigt der Tempuswechsel am Ende der zitierten Textstelle, dass sich dies für den Erzähler Shatterhand keineswegs so verhält. Zudem verweist die grammatische Wendung auf den Zeitpunkt des Erzählens und indirekt auf dessen Ort, das heißt also auf den remigrierten Shatterhand daheim im deutschen Kaiserreich. Wieder bei Zusammenhängen angelangt, die offensichtlich die gesamte Eröffnung des Romans bestimmen, beginnen auch die Dispute zwischen Henry und Shatterhand. Ersterer hat dabei allerdings etwas im Sinn, das sich dem Letzteren nur langsam entdeckt. So kommt es jedoch dazu, dass der Büchsenmacher den Erzähler mit einem nun schon ausführlich diskutierten Ausdruck belegt: »Greenhorn?« antwortete ich, die Stirn in Falten ziehend, denn ich fühlte mich bedeutend verletzt. »Ich will annehmen, Mr. Henry, daß dieses Wort Euch ohne Absicht und nur so herausgefahren ist!« »Bildet Euch doch nichts ein, Sir! Ich habe mit vollem Bedacht gesprochen; Ihr seid ein Greenhorn, und was für eins! Den Inhalt Eurer Bücher habt Ihr gut im Kopfe, das ist wahr. Es ist ganz erstaunlich, was ihr Leute da drüben lernen müßt! Dieser junge Mensch weiß genau, wie weit die Sterne von hier entfernt sind, was der König Nebukadnezar auf Ziegelsteine geschrieben hat und wie schwer die Luft wiegt, die er doch nicht sehen kann! Und weil er dies weiß, bildet er sich ein, ein gescheiter Kerl zu sein! Aber steckt die Nase ins Leben, versteht Ihr mich, so ungefähr fünfzig Jahre ins Leben hinein; dann werdet Ihr, aber auch nur vielleicht, erfahren, worin die richtige Klugheit besteht! Was Ihr bis jetzt wißt, ist nichts - ist gar nichts. Und was Ihr bis jetzt könnt, ist noch viel weniger. Ihr könnt ja nicht einmal schießen!« Er sagte dies in einem außerordentlich verächtlichen Tone und mit einer solchen Bestimmtheit, als ob er seiner Sache förmlich sicher sei. (WI, S. 18f.)

Es zeigt sich nun doch einmal, dass der Erzähler durch die Bezeichnung ›Greenhorn‹ gekränkt ist und bei dieser Gelegenheit wird ebenso deutlich, dass es sich bei Mr. Henry in seinen Ansichten und dem Gestus, mit dem er diese vorbringt, um eine Präfiguration von Sam Hawkens handelt. Schon Mr. Henry bringt hier eine Argumentation vor, welche Hawkens später im Prinzip wiederholen wird: Ein reiner Theoretiker (für den er Shatterhand ansieht) wird in der Praxis schlichtweg nicht bestehen kön-

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nen. Seine Polemik gegen Studium und Schrifttum macht deutlich, dass er ausschließlich die Tat für authentisch und wirksam hält. In seiner Weltsicht kann Erfahrung (= fünfzig Jahre ›die Nase ins Leben stecken‹) nicht durch Wissen oder Bildung, welche eben keine ›richtige Klugheit‹ sind, aufgewogen werden. Dabei lässt er in seiner tiefen Überzeugtheit die Möglichkeit, dass theoretisches Wissen mit Geschick in die Praxis umgesetzt werden kann, vor lauter Hochmut außer Acht. Shatterhand wird sich die Arroganz seines Gegenübers wenige Augenblicke später – quasi als Überraschungseffekt – zu nutze machen.32 Doch zwei weitere Aspekte sind an dieser Passage noch bemerkenswert. Zum Einen erfährt man en passant die Sicht eines Amerikaners, der seine Migration vollständig, wenn auch unter großen Opfern vollzogen hat, auf das drüben der ›alte Heimat‹ – die USA stehen für Praxis und Erfahrung, in Deutschland befinden sich die Greenhorns, die ›erstaunlich viel lernen müssen‹. Kommen letztere in den Vereinigten Staaten an, fühlen sich Männer vom Schlage Mr. Henrys offenbar bemüßigt, ihnen erst einmal Standpauken zu halten. Zum Anderen wählt Henry mit der Erwähnung der babylonischen Schriftzeichen ein merkwürdiges Bild, welches nicht recht zu seinen übrigen Diagnosen passen will. Gemeint ist der Verweis als Chiffre für eine so umfassende Bildung, die durch relativ entlegene Kenntnisse sogar noch dazu befähigt, Zeichensysteme lesen zu können, die als besonders schwierig oder geheimnisvoll gelten. Da aber ausdrücklich der reale Ort dieser Zeichen – die Ziegelsteine – angesprochen wird, schleicht sich ein Element von Authentizität in das Bild. Gerade letztere aber möchte Henry doch für seinen Standpunkt des Praktikers vereinnahmen. Nimmt man also wiederum die Möglichkeit eines zweiten, gegenläufigen Sinns in Karl Mays Text ernst, so erhalten die Ziegelsteine symbolhaften Charakter. Sie könnten ebenso für die allein durch Bildung verliehene Fähigkeit stehen, welche – sozusagen – ›im Authentischen zu lesen vermag‹. Dem entspricht abstrakt ein Lesen im Leben selbst und konkret das Fährtenlesen. Wie der Fortgang des Romans zeigen wird, versteht sich Shatterhand auf beides. In Henrys eigener Rede deutet sich also an, dass die damit vertretenen Ansichten (zumindest bezogen auf den Erzähler) obsolet sind und vielleicht unmittelbar bevorsteht, dass er sich von Old Shatterhand eines Besseren belehren lassen müssen wird:

32 Dabei handelt es sich übrigens um eine ganz typische Charakteristik der Figur Old Shatterhand, der man in allen Texten, in denen sie auftritt, wieder begegnen kann. 253

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»Schießen ist nämlich schwerer als nach den Sternen gucken oder alte Ziegelsteine von Nebukadnezar lesen. Verstanden? Habt Ihr denn jemals ein Gewehr in der Hand gehabt?« »Ich denke.« »Wann?« »Schon längst und oft.« »Auch angelegt und abgedrückt?« »Ja.« »Und getroffen?« »Natürlich!« Da ließ er den Lauf, den er geprüft hatte, rasch sinken, sah mich wieder an und meinte: »Ja, getroffen, natürlich, aber was?« »Das Ziel, ganz selbstverständlich.« »Was? Wollt Ihr mir das im Ernste aufbinden?« »Behaupten, aber nicht aufbinden; es ist wahr.« (WI, S. 19f.)

Die niemals verlogene Rede Old Shatterhands, welche in so merkwürdigem Kontrast zu den ›Verlogenheiten‹ des Erzählers steht, zeigt sich hier exemplarisch – in ihrem typischen Duktus, den man einen ›Duktus der Selbstverständlichkeit‹ nennen möchte. Zudem entpuppt sich aus den Andeutungen über Shatterhands Vergangenheit nun langsam, welch überragende Kenntnisse dieser an sich und überhaupt hat. Ferner wird durch den Text vorgeführt, dass die Ehrlichkeit Old Shatterhands jederzeit durch Können oder Kräfte, welche schlicht in die Tat umgesetzt werden, belegbar ist: »[…] Ich bin kein Knabe, dem Ihr Stunde gebt, verstanden! So ein Greenhorn und Bücherwurm, wie Ihr seid, will schießen können! Hat sogar in türkischen, arabischen und andern dummen Scharteken herumgestöbert und will dabei Zeit zum Schießen gefunden haben! Nehmt doch einmal das alte Gun da hinten vom Nagel, und legt es an, als ob Ihr zielen wolltet! Es ist ein Bärentöter, der beste, den ich jemals in den Händen gehabt habe.« Ich ging hin, langte die Büchse herab und legte sie an. (WI, S. 20)

Noch beharrt Henry auf seinem Misstrauen gegenüber dem Stöbern in alten Scharteken, setzt Greenhorn und Bücherwurm gleich und verfällt auf Schulmetaphern, mit denen er indirekt andeuten kann (wie dies später auch Sam Hawkens tut), dass er es doch sei, welcher dem Lehrer noch einiges beibringen könne. Erst als sich Old Shatterhands körperliche Fähigkeiten zeigen, kommt er ins Stutzen:

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»Halloo!« rief er aus, indem er aufsprang. »Was ist denn das? Ihr geht ja mit diesem Gun wie mit einem leichten Spazierstocke um, und doch ist es das schwerste Gewehr, welches ich kenne! Besitzt Ihr denn eine solche Körperkraft?« Anstatt der Antwort nahm ich ihn unten bei der zugeknöpften Jacke und bei dem Hosenbund und hob ihn mit dem rechten Arm empor. (WI, S. 20)

Nun stehen jene körperlichen Fähigkeiten Old Shatterhands vollends unter Beweis – hier noch in einer Situation slap stick-artiger Komik. Diese lässt zunächst in den Hintergrund treten, dass die Szene die Funktion einer Überleitung hat – hin zu dem, was der Text vorrangig aussprechen möchte. Denn im Grunde führt Shatterhand vor, dass europäische Bildung aus mehr Komponenten zusammengesetzt ist, als Mr. Henry wahr haben will. Sie ist allerlei Intellektualismus plus Köperbefähigung: »Aber, Sir, bei Eurer Muskelkraft ist es wirklich jammerschade, daß Ihr Euch so auf die Bücher geworfen habt. Hättet Euch körperlich üben sollen!« »Habe ich auch.« »Wirklich?« »Ja.« »Boxen?« »Wird drüben bei uns nicht getrieben. Aber im Turnen und Ringen mache ich mit.« »Reiten?« »Ja.« »Fechten?« »Habe ich Unterricht erteilt.« »Mann, schneidet nicht auf!« »Wollt Ihr es versuchen?« »Danke; habe genug von vorhin! Muß überhaupt arbeiten. Setzt Euch wieder nieder!« Er kehrte zu seiner Schraubenbank zurück, und ich tat dasselbe. Die nun folgende Unterhaltung war eine höchst einsilbige; Henry schien sich in Gedanken mit irgend etwas Wichtigem zu beschäftigen. Plötzlich sah er von der Arbeit auf und fragte: »Habt Ihr Mathematik getrieben?« »War eine meiner Lieblingswissenschaften.« »Arithmetik, Geometrie?« »Natürlich.« »Feldmesserei?« »Sogar außerordentlich gern. Bin sehr oft, ohne daß ich es notwendig hatte, mit dem Theodolit draußen herumgelaufen.« »Und könnt messen, wirklich messen?«

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»Ja. Ich habe mich sowohl an Horizontal-, als auch an Höhenmessungen oft beteiligt, obgleich ich nicht behaupten will, daß ich mich als ausgelernten Geodäten betrachte.« (WI, S. 21f.)

Parallel zu seinen Vorhaltungen, ist Mr. Henry endlich dem auf den Grund gegangen, was er die ganze Zeit über herauszufinden versucht, nämlich, dass Old Shatterhand durchaus zum Landvermesser ausgewiesen ist! Es fehlen hier nur noch die verkappte Prüfung des Ich-Erzählers beim Besuch des Vermessungsbüros und das Abschiedsfest um abzuschließen, was oben als die Genese von Shatterhand als Landmesser bezeichnet wurde, als das Gespräch der beiden plötzlich ins Ethische wechselt. Dies geschieht als die Eigenschaften eines neuartigen Gewehres besprochen werden, an dem Mr. Henry gerade arbeitet: »Wenn Ihr ein Gewehr fertigt, welches fünfundzwanzigmal schießt, und es in die Hände jedes beliebigen Strolches gebt, so wird drüben auf den Prairien, in den Urwäldern und den Schluchten des Gebirges sich bald ein grausiges Morden erheben; man wird die armen Indianer niederschießen wie Cojoten, und in einigen Jahren wird es keinen Indsman mehr geben. Wollt Ihr das auf Euer Gewissen laden? […] Und […] wenn jedermann dieses gefährliche Gewehr für Geld bekommen kann, so werdet Ihr allerdings in kurzer Zeit tausende absetzen, aber die Mustangs und die Büffel werden ausgerottet werden und mit ihnen jede Art von Wild, dessen Fleisch die Roten zum Leben brauchen. Es werden hundert und tausend Aasjäger sich mit Eurem Stutzen bewaffnen und nach dem Westen gehen. Das Blut von Menschen und Tieren wird in Strömen fließen, und sehr bald werden die Gegenden diesseits und jenseits der Felsenberge von jedem lebenden Wesen entvölkert sein.« (WI, S. 24f.)

Hier nun vermengen sich alle bisher angesprochenen Ebenen. Old Shatterhand erweist sich letztlich als Alleskönner, wofür essentiell seine Ausbildung in Deutschland verantwortlich zu sein scheint. Das daraus resultierende Selbstbild als Lehrer schließt offensichtlich auch ein Selbstverständnis als Ethiker ein. Das Folgende ist von vielleicht besonderer Wichtigkeit, um ein Eigentümliches am Werk Karl Mays (welches vollständig vor einem christlichen Hintergrund entstand)33 ernsthaft wahrzunehmen: Die sich langsam herauspräparierenden Fähigkeiten eine Akademikers, Athleten und Lehrers als Feldmesser, stellen die Figur nicht lediglich in eine Tradition 33 Es handelt sich um eine geistige Prägung, welche dem empirischen Autor, der realen Person Karl May wohl kaum abgesprochen werden. Dass er (u.a.) für sein ›Spiel mit der Konfessionen‹ im Alter stark angefeindet wurde, spielt – nach Überzeugung des Verfassers – für die Argumentation oben keine Rolle. 256

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der deutschsprachigen Literatur, sondern durch die Unverwechselbarkeit und die Spezifika der Shatterhand-Figur, ihre praktisch unglaubwürdige Perfektion kann zur bloßen Abenteuer-Thematik eine ethische Dimension addiert werden. Das Ausmaß und die Negativität von Old Shatterhands Visionen (die zum Zeitpunkt des Erzählens – daran sei erinnert – längst zu historischen Tatsachen geworden sind) lässt die Zuschreibung ›Greenhorn‹ nun vollends als unhaltbar erscheinen: »’sdeath!« rief er jetzt aus. »Seid Ihr wirklich erst vor kurzem aus Germany herübergekommen?« »Ja.« »Und vorher noch nie hier gewesen?« »Nein.« »Und im wilden Westen erst recht noch nicht?« »Nein.« »Also ein vollständiges Greenhorn. Und doch nimmt dieses Greenhorn den Mund so voll, als ob es der Urgroßvater aller Indianer wäre und schon seit tausend Jahren hier gelebt hätte und heute noch lebte! Männchen, bildet Euch ja nicht ein, mir warm zu machen! […]« (WI, S. 25)

Die Rhetorik Henrys wird zusehends unbeholfener, als er merkt, mit wem er es zu tun hat. Der Status Shatterhands als Greenhorn wird nur noch herbeigeredet, denn wie in dieser Passage an der ersten, entgeisterten Frage Henrys zu erkennen ist, geht es im Text tatsächlich darum, zu vermitteln, dass in Shatterhand jemand anscheinend eine Migration vornimmt, deren hervorstechendes Merkmal ist, das sie von unglaublich genauer Kenntnis des und von so genannt tiefen Gedanken über das Land geprägt ist, in das migriert werden soll. In der Folge solcher Analysen lässt sich zu den Ausführungen vom Beginn zurückkehren: Eine genauere Betrachtung der Exposition von Winnetou I weist die ›je schon beschlossene Remigration‹ (der Handlungsebene) als auf Engste verbunden mit Mays ›Kolonialismus der Phantasie‹ aus. Dies produziert gleichsam das Phantasma der USA in seinen Reiseerzählungen, für die Winnetou I ohne Weiteres als exemplarisch gelten kann. Das sich langsam steigernde Enthüllen der Fähigkeiten, Titel und Attribute Old Shatterhands lässt diese Figur zunehmend überzogener und unglaubwürdiger erscheinen. Damit erweist sich jedoch auch das Vorverlegen der Handlungsereignisse (= Zeitpunkt des Erzählten) zusehends als unglaubwürdig. Dies liegt essentiell an der Differenz von Zeitpunkt des Erzählten und Zeitpunkt des Erzählens, durch die ›doppelte Volten‹ als textorganisatorisches und semantisches Prinzip etabliert werden können: Der Status ›Greenhorn‹ entpuppt sich als bloße 257

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Zuschreibung, und Shatterhand zeigt sich schließlich vollständig als Lehrer (seiner Leser). Dies zeitigt nicht nur einen manchmal nur schwer zu ertragenden Tonfall bei Karl May, sondern weist Shatterhands Umgang mit den USA als eine Art von Desinteresse aus – die Realität der Handlungsebene kann ihn nicht mehr überraschen, denn er weiß ohnehin mehr. In gewissem Sinne geht es in Winnetou I darum Topoi der (deutschsprachigen) Abenteuerliteratur abzuarbeiten und sie dann zu übertrumpfen. Authentizität, beispielsweise im Sinne eines realistischen Programms, spielt dabei eine nachrangige, mehr noch, praktisch gar keine Rolle. Alles zusammengenommen entsteht der trügerische Eindruck einer idealen Migration Shatterhands. Dieser wird – wie man zeigen kann – tatsächlich dadurch annulliert, dass sich alle Elemente des Textes auf die Remigration des Erzählers (und letztlich deren Meriten) richten.34 Es geht hier also keinesfalls darum, mit spezifisch literarischen Mitteln so etwas wie einen deutsch-amerikanischen Dialog zu stiften. Jedoch wäre zu untersuchen, ob dies für alle Werkphasen Mays, die zum Teil unter deutlich anderen Vorzeichen stehen gilt.

34 Ganz besonders verdeutlicht sich dieser Zusammenhang an den ›Unehrlichkeiten‹, die sich Old Shatterhand gegenüber Nscho-tschi erlaubt; vgl. dazu Sabine Kyora: Pocahontas’ Schwestern. Indianerinnen in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Pocahontas revisited. Kulturwissenschaftliche Ansichten eines Motivkomplexes, hg. v. Sabine Kyora u. Uwe Schwagmeier, Bielefeld 2005, S. 64-79, besonders S. 73f. 258

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Der Anfang von Winnetou IV ( Ü b e r b l i c k & A u s b l i c k ) 35 Wie eingangs schon erwähnt, steht der Roman Winnetou IV in engem Zusammenhang mit Karl Mays Aufenthalt in Nordamerika.36 Die Reise ließ wohl den endgültigen Entschluss reifen, aus der erfolgreichen Trilogie eine Tetralogie37 werden zu lassen: […] Winnetou wurde wiedererweckt. Schon in Amerika hatte er [= May; U.S.] daran gedacht, diese Gestalt in sein neues literarisches Gebäude einzufügen. Er hatte es ja bereits mehrfach deutlich gemacht, dass alle seine frühren Bücher nur Vorstufen des eigentlichen Werks waren, das er mit ›Und Friede auf Erden!‹ und den beiden letzten Bänden des ›Silbernen Löwen‹ begonnen hatte.38

Dass Winnetou IV stilistisch konzeptionell zu diesem ›eigentlichen‹ Werk, dem Spätwerk Mays gehört, mit dem er sich daran begeben hatte »der Lesewelt nunmehr ernstlich zu beweisen, was er literarisch zu leisten vermöchte«,39 ist insbesondere für die beiden letzten Drittel des Romans wichtig und dort fast überpräsent. Zu Beginn des Textes lassen sich jedoch jene Realitätspartikel ausmachen, die sich augenfällig von Mays Amerika-Tour herschreiben. Besonders deutlich lässt sich dies an einer speziellen Episode vom Beginn des Romans vorführen:

35 Zu Winnetou IV siehe grundsätzlich den Artikel von Günter Scholdt, in: Ueding: Handbuch (s. Anm. 3), S. 265f. und Dieter Sudhoff: Karl Mays »Winntou IV«. Studien zur Thematik und Struktur, Ubstadt 1981. – Sudhoff hat später auf Unzulänglichkeiten seines früheren Bandes hingewiesen; vgl. Sudhoff: Karl May in Amerika (s. Anm. 12), S. 238. 36 Klaus Walther: Karl May, München 2002, S. 151: »May reiste erstmals 1908 nach Amerika. Er traf am 16. September 1908 in New York ein und hielt sich insgesamt 41 Tage in der Neuen Welt auf. Am 21. September fuhr er auf dem Hudson River nach Albany und besichtigte in Buffalo die Statue des Seneca-Häuptlings Sa-go-ye-wat-has. Am 5. Oktober traf May bei seinem alten Schulfreund Ferdinand Pfefferkorn in Lawrence, Massachusetts, ein und kehrte am 24. Oktober über Boston zurück nach New York. Über England reiste er Anfang November wieder nach Deutschland zurück.« 37 Man sollte (wie z.B. Günter Scholdt) eher sogar davon sprechen, dass Mays letzter Roman »[…] als Schlußband mehrerer Amerikazyklen konzipiert […]« ist (in: Ueding: Handbuch [s. Anm. 3], S. 267). 38 Walther: Karl May (s. Anm. 35), S. 155. 39 Arno Schmidt: ›Winnetous Erben‹. Karl May und die Frage der Texte, in: Ders.: Essays und Aufsätze 1, Zürich 1995, S. 462-474, hier S. 462. 259

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Und nun waren wir bei den Niagarafällen. Wir wohnten im Clifton=House, unweit der kanadischen Mündung der Hängebrücke. Man hat von diesem Hotel aus einen geradezu unvergleichlichen Blick auf das grandiose Schauspiel der stürzenden Wassermassen. (WIV, S. 28)

Diese Beschreibung (auch die folgenden) dürfte ziemlich den Reiseeindrücken des Autors entsprechen.40 Spielen Naturereignisse, gegebenenfalls deren Tücken, schon zuvor im Werk Karl Mays keine unbedeutende Rolle, so ist der Rahmen hier frei von jeglichem Spannungsaufbau eines Abenteuerromans oder gar den Interessen eines Westmannes und wirkt wie ein rein touristischer. Dieser Eindruck gilt weiterhin auch für die Darstellung der Logis: Unsere Wohnung bestand aus drei Räumen, die […] eine Ecke ausfüllten. Das Zimmer meiner Frau lag nach dem Hufeisenfalle, war größer als das meinige, hatte aber keinen Balkon. Das meinige hatte die Aussicht nach dem Vereinigten=Staaten=Katarakt, war kleiner, öffnete sich dafür aber nach der großen Plattform, auf der ich mich so häuslich einrichten konnte, wie es mir nur immer beliebte. Zwischen diesen beiden Zimmern lag der Garderobe= und Toilettenraum, der sie in amerikanisch praktischer Weise vereinigte. (WIV, S. 28)

Zwar ordnet der letzte Satz hier das Praktische, die Praxis wieder dem Amerikanischen zu, doch längst nicht mehr im großspurigen Sinne eines Mr. Henry, sondern mit der stillen Vergnügtheit eines zufriedenen Hotelgastes in seiner Freude an der Modernität von Design (Architektur) und Komfort. Dieses Element, welches die gesamte Niagarafälle-Sequenz durchzieht, wird im Text schließlich offen thematisiert – namentlich unter dem Stichwort ›Tourismus‹: Wir waren am Nachmittag angekommen und machten gleich noch an diesem Tage die zwei bekannten Fahrten, welche jeder Besucher der Niagarafälle unbedingt gemacht haben muß. Es ist das eine Bahn- und eine Dampfbootfahrt. Das Geleise der Bahn geht hart am kanadischen Ufer des Niagara hinab und dann drüben am Vereinigten-Staaten-Ufer wieder herauf. Tief, tief unten kocht und brodelt der Strom: die Felsen steigen vollständig senkrecht in die Höhe, und die Schienen der Bahn liegen oft höchstens zwei Meter von der Kante des Abgrundes entfernt. An diesem letzteren rast man mit der Schnelligkeit des Fluges dahin, und man hat, da man nur den geöffneten Schlund und das jenseitige Ufer sieht, vom Anfange bis zum Ende dieser Fahrt das Gefühl, als ob man direkt in die Luft hinausfahre, um dann in die Tiefe hinabzuschmettern. Die Bootsfahrt macht man auf der wohlbekannten und beliebten Maid of the Mist, 40 Dieter Sudhoff hat dies sorgsam gezeigt; vgl. Sudhoff: Karl May in Amerika (s. Anm. 12); für das Folgende siehe dort auch die Abbildungen S. 300f. 260

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welche kühn bis in die nächste Nähe der Fälle steuert und am geeigneten Orte diejenigen Touristen landet, welche daheim von sich rühmen wollen, daß sie sogar »hinter dem Wasser« gewesen seien. (WIV, S. 29)

Die Angst in die Tiefe hinabzuschmettern kommt hier lediglich den Adrenalinschüben eines Rummelplatzbesuchers beim Fahrgeschäft gleich. Denn trotz aller Evokationen von Wassertosen, steiler Höhen und klaffender Abgründe, dies sind nicht mehr die Herausforderungen und Gefahren, denen sich einst der junge Old Shatterhand immer wieder stellen musste, sondern »allerlei lustige und rührend, seltsam ältliche Abenteuer«41 – wie Arno Schmidt verständnisvoll, aber auch ironisch formuliert hat. Auch war es Schmidt, der früh schon darauf hingewiesen hat, dass in Winnetou IV ein Teilaspekt der Realitätspartikel in einer gewissen Faszination für moderne Technik besteht (welcher auch in der soeben zitierten Beschreibung der Ausflüge vorhanden ist): Hochinteressant – um 1 Lieblingswort Mays zu benützen – wie er zum ersten Mal, noch zögernd, gewissen Möglichkeiten der modernen Technik auf ihre Verwendbarkeit für seine Traumwelten abtastet: Fotoapparat; Projektor; Flugzeug; elektrisches Licht – man gewinnt manchmal den Eindruck, als sei er selbst plötzlich aus 40=jährigem Geträum erwacht, und erblicke nun staunend und betroffen eine Neue Welt. (Präziser seine eigene Umwelt! An deren Entwicklung nicht teilgenommen zu haben einer der größten Einwände gegen ihn ist!)42

Doch das Besondere der Episode bei den Niagarafällen bleibt das Touristische, ein Schwelgen im Reiseluxus, das nichts mehr mit den anstrengenden Prärieritten der Reiseerzählungen oder gar den Beschwerlichkeiten einer Existenz als Landmesser zu tun hat: Später aßen wir bei den Klängen eines ausgezeichnet spielenden doppelten Streichquartetts das Abendbrot in dem großen, im Parterre des Hotels liegenden Speisesaale und zogen uns dann in unsere Wohnung oder, richtiger gesagt, auf meinen freien Altan zurück, welcher uns den unbeschreiblichen Genuß gewährte, die Fälle von dem geheimnisvollsten Schimmer des Mondes besucht und verklärt zu sehen. (WIV, S. 29)

Schließlich begegnen Old Shatterhand und seine Frau – die hier tatsächlich auch Mr. und Mrs. May heißen – den ersten ›Indianern‹ ihrer Reise.

41 Schmidt: Winnetous Erben (Anm. 39), S. 468. 42 Ebd., S. 469. – Schmidts Ton ist sicher dem Selbstschutz vor der eigenen, lebenslänglichen Karl-May-Traumatisierung geschuldet. 261

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Dies geschieht anlässlich eines auffälligen Tisches im Speisesaal, an den sich niemand setzen darf, weil er offenbar reserviert ist: Viele, welche kamen und nach diesem Tische gingen, um dort Platz zu nehmen, wurden abgewiesen, bis wir fast am Schlusse der Frühstückszeit zwei Männer eintreten sahen, welche sofort aller Augen auf sich zogen. Sie standen ungefähr im gleichen Alter und waren Indianer. Das sah man gleich beim ersten Blick. Hoch und breitschulterig gebaut, mit scharf, aber, ich möchte beinahe sagen, edel geschnittenen Zügen, gingen sie, scheinbar ohne jemand anzusehen, langsam und würdevoll nach dem erwähnten Tische und setzten sich dort nieder. Sie waren nicht indianisch gekleidet, sondern sie trugen feine Stoffanzüge nach gewöhnlicher Fassung, und ihr Haar war genau so verschnitten wie anderer Leute Haar […] (WIV, S. 31)

Eine solche Szene fügt sich zunächst natürlich sehr gut in die Beschreibung des Lebens und der Menschen im Hotel, wenn auch die beiden aufsehenerregenden Gäste sogleich mit der Aura des Geheimnisvollen umgeben sind. Beide haben offenbar Gewohnheiten der ›Weißen‹ angenommen, was im Text zu den Veränderungen Nordamerikas seit Shatterhands Tagen als Westmann zählt und positiv, wenn auch indirekt als weitere ›Modernität‹ präsentiert wird. Dennoch muss das ›zivilisierte‹ Verhalten der beiden Figuren auffällig betont werden. Es verändert sich so auch, was man bis dahin als mögliche Richtung des Romans hätte vermuten können: »Mr. Athabaska« und »Mr. Algongka« [= mit diesen Namen werden die Beiden im Text zuerst vorgestellt; U.S.] frühstückten sehr langsam und sehr mäßig, und zwar in einer Weise, als ob sie in Hotels von dem Range des Clifton=House aufgewachsen seien. Es war eine Lust, ihnen zuzusehen. Das taten wir natürlich so unauffällig wie möglich. Das Herzle freute sich besonders über die Würde, die in jeder, auch der geringsten Bewegung dieser hochinteressanten Männer lag, und über ihre Bescheidenheit. (WIV, S. 32)

Bei der Lektüre von Winnetou IV lässt das Element, dass neueingeführte Figuren zunächst von Rätseln umwittert zu sein scheinen (welches sattsam aus den Reiseerzählungen bekannt ist), stutzen. Dazu gesellt sich hier die Mischung der von den Kolonisatoren übernommenen Lebensart mit Attributen typisch May’scher ›Edelindianer‹, welche überaus kurios wirkt. Beides sind Anzeichen dafür, dass sich ein mögliches realistisches Projekt einer für den Autor neuartig ausgerichteten Beschreibung Nordamerikas im Grunde schon zu Beginn des Romans erledigt hat. Ein Blick in die Biographie Karl Mays zeigt, dass das ganze Vorhaben einer Nordamerika-Tour, welches zweifelsfrei gewisse Realismen im Text gezeitigt

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PHANTASIEN DER MIGRATION UND REMIGRATION

hat, mehr mit der Programmatik des Symbolischen im Spätwerkes zu tun hat, als mit der Gelegenheit zu einer Revision der älteren Amerikabilder des Romanciers. Dazu hat Hans Wollschläger als einer der ersten angemerkt: Die Amerika-Reise wirkt im Strudel der späten Zeit wie eine Insel, abseits noch einmal idyllisch gelegen, unter schon schief stehender Herbstsonne […]. Zu eigentlicher Information, zu wirklichen Studien mag sie noch weniger wohl bestimmt gewesen sein als die Orientreise; so hastig rasch sich May zu ihr entschließt, so letztlich ziellos wird sie durchgeführt. Im Buch, das dann aus ihr entsteht, ›Winnetou IV‹, häuft er die Begründungen wie einen Wall gegen die eigene Unsicherheit auf […]43

Aus dem versonnenen Tourismus der empirischen Person Karl May und dem ästhetischen Anspruch des Autors all seine Amerika-Romane mit einem gewaltigen Schlussakkord im Stile seines ›eigentlichen‹, seines symboli(sti)schen Werkes zu beenden, entstehen Unsicherheiten und Zwiespalt: »[…] in Wirklichkeit liegt May in dauerndem selbstgesprächigen Streit mit sich, welchen Sinn es noch haben könnte, das Land der Indianer […] noch einmal anders als mit der Seele zu suchen […].«44 So entsteht das Spröde des Romantextes aus dem, was Arno Schmidt andeutet, wenn er einerseits vom zu späten Erwachen Mays spricht und andererseits von dessen ›Abtasten‹ der Wirklichkeit hinsichtlich der ›Verwendbarkeit für seine Traumwelten‹. So entsteht der »zitterig[e] Swan=Song eines Greises«:45 So entstand ›Winnetous Erben‹, das als Fortsetzungsroman erstmals in der ›Augsburger Postzeitung‹ abgedruckt wurde. Als Buchausgabe erschien es dann unter dem Titel ›Winnetou 4. Band‹ bei Fehsenfeld, der ja gar zu gern an die alte Erfolgsgeschichte anknüpfen wollte. Doch das Buch ist keine Abenteuergeschichte, wenn sich auch die bekannten Figuren wiederfinden.46

Letzteres zeigt sich schon bei einem nur groben und abrissartigen Überblick über die Fabel des Romans.47 Es ist noch immer außergewöhnlich 43 Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Interpretationen zu Persönlichkeit und Werk. Kritik, hg. v. Klaus Hoffmann, Dresden 1989, S. 123. 44 Ebd., S. 123. 45 Schmidt: Winnetous Erben (s. Anm. 39), S. 469. 46 Walther: Karl May (s. Anm. 36) S.155f. 47 Ebd., S.155f: »Old Shatterhand ist mit seiner Frau nach Amerika zurückgekehrt, und […] an den Niagarafällen begegnet er den beiden Söhnen seines Erzfeindes Santer. […] So kommt es zum Streit um ein Denkmal für 263

UWE SCHWAGMEIER

und bemerkenswert, dass sich Karl May von seinen Reiseerzählungen zu lösen versucht, indem er diese zu Teilen wieder in die Strategien des Spätwerkes inkorporiert. Doch die Eröffnung eines spezifisch literarischen, transatlantischen Dialogs, die Winnetou IV hätte sein können und es angesichts des weltumspannenden pazifistischen Anliegens des gealterten Autors vielleicht auch hat sein sollen, ist der Roman nicht. Das nahezu verzweifelte Ringen um Authentizität, das fast vergebliche Bemühen um ›Echtheit‹ in der Auseinandersetzung mit Nordamerika, welches eingangs für Fontanes Quitt so positiv als ein Vermeiden der Fallstricke des ›Kolonialismus der Phantasie‹ gewertet wurde, kann hier nicht attestiert werden. Karl May mag – auch und gerade durch die Erfahrungen seiner tatsächlichen Reisen – kurz erwacht sein, in Winnetou IV, seinem letzten Roman, überwiegt auf unterschiedlichen ästhetischen Ebenen ein Dämmern, ein Schlummern, ein (wenn auch anrührendes) Träumen: »Zuletzt ist der Exkurs in die westliche Realität ein Experiment: ob sich die Fluchtbewegungen seiner Gedankenspiele nicht doch auch in der Praxis noch einmal heilsam würden erfahren lassen. Es muß mißlingen; – im Buch danach versickert die Realität denn bald auch wieder zwischen den Traumkulissen.«48

Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meines Oldenburger WINNETOU-Seminars (SoSe 2006) gewidmet

Winnetou. Freunde und Feinde, sie alle treffen sich hier am Mount Winnetou, wo man über das Denkmal entscheiden will. In all dem Getümmel braucht es diesmal keinen Henrystutzen, denn Old Shatterhand hat eine viel wertvollere Waffe ausgegraben, das echte Testament Winnetous. Dessen Inhalt erfährt der Leser allerdings nicht, denn da ist noch ein weiterer Band geplant. Aber nun geht es erstmal in den Kampf: Old Shatterhand muss gegen die feindlichen Häuptlinge antreten. [Seine Frau] verhindert, dass die Feinde ihn töten, das falsche Denkmal stürzt zusammen, und am Schluss erscheinen lauter junge Winnetous und Winnetas, um das wirkliche Erbe des Verblichenen anzutreten«; zu einer präziseren Wiedergabe des Inhaltes siehe Ueding: Handbuch (s. Anm. 3), S. 266f.; vgl. auch Wollschlager: Grundriß (s. Anm. 43), S. 139: »Mit ›Winnetou IV‹ […] hat er freilich […] mehr im Sinn: eine weitere Amerika-Reise soll Stoff für einen Abschlußband ›Winnetous Testament‹ bringen […].« 48 Wollschlager: Grundriß (s. Anm. 43), S. 123. – Ganz ähnlich gilt all dies in Mays Schaffen auch für das Verhältnis von Orientromanen und Spätwerk; vgl. dazu Schwagmeier: »Mußt Du heim, Sidhi, oder mußt Du nicht heim?« (s. Anm. 16), S. 81f. und S. 102. 264

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INDEX Dingeldey, Erika 124 Du Bois-Reymond, Emil 11, 223 Dumas, Alexandré 40 Dürrenmatt, Friedrich 22 Emerson, Ralph Waldo 143, 154 Engels, Friedrich 192 Ferry, Gabriel (d.i. Louis de Bellemare) 239 Feuerbach, Ludwig 204 Fontane, Theodor 12-14, 16, 91, 153, 154, 162-168, 170, 238240, 244, 264 Forster, E. M. 42 Franklin, Benjamin 68, 72-74, 79 Freiligrath, Ferdinand 161 Frémont, John Charles 50, 51 Freytag, Gustav 69, 153 Fricke, Harald 246 Fröhlich, Henriette 202 Fuld, Werner 97 Gagern von, Heinrich 129 Gerhard, Ute 15 Gerstäcker, Friedrich 12, 60, 97, 49, 153, 154, 158-160, 162, 168, 169, 176, 244 Goethe, Johann Wolfgang von 10, 154, 176, 204 Goings, Kenneth W. 117 Gordon, Julien 154 Göttsche, Dirk 186 Graf, Oskar Maria 167 Grawe, Christian 167, 168

Altenkirch, Ferdinand 37 Auerbach, Berthold 14, 59, 6065, 67-82, 89 Aust, Hugo 12, 101 Bach, Johann Sebastian 120 Balzac, Honoré de 40 Balzer, Bernd 12 Bancroft, George 64 Barsch, Achim 209 Baudelaire, Charles 40 Baudrillard, Jean 168 Baumgarten, Harald 36 Becker, Sabina 12 Becker, Nikolaus 66, 67 Becker, Eva D. 102 Beethoven van, Ludwig 120 Belgum, Kit 14 Benjamin, Walter 39, 207 Bismarck von, Otto 15, 32, 143 Boese, Carl 37 Boones, Daniel 147 Boyesen, Hjalmar Hjorth 154 Brachvogel, Udo 93 Brecht, Bertolt 11 Brehm, Bruno 55 Brenner, Peter J. 90, 132 Bürner-Kotzam, Renate 22, 23 Cooper, James F. 40-47, 49, 52, 53, 55-57, 147, 162, 177, 239 Da Gama, Vasco 191 Darwin, Charles 97, 216 Demetz, Peter 163 Dickens, Charles 176 285

INDEX

Kontje, Todd 17, 105, 106, 120, 123 Koschorke, Albrecht 102 Kürnberger, Ferdinand 31, 153 Lachmann, Tobias 17 Lame Deer, Archie Fire 141 Lavater, Johann Casper 212 Lessing, Gotthold Ephraim 21 Lewald, Fanny 202 Lincoln, Abraham 80 Longfellow, Benjamin 68, 72 Lotman, Jurij M. 92 Magellan, Ferdinand 191 Mann, Erika 36 Marlitt, E. (d.i. Eugenie Marlitt) 15, 91, 101, 105, 106, 109-116, 118, 123, 124 Martini, Fritz 21 Marx, Karl 192 May, Karl 12, 14, 18, 47, 55, 56, 98, 140, 141, 155, 164, 169, 237, 238, 240, 241, 242, 243, 244, 246, 248, 250, 251, 253, 256-264 McInnes, Edward 12 Mendelssohn Bartholdy, Felix 172 Mereau-Brentano, Sophie 202 Möllhausen, Balduin 12, 14, 39, 46-57, 91, 98, 164, 244 Mundt, Theodor 200 Muschg, Adolf 209 Musil, Robert 40, 41 Ohl, Hubert 97, 228 Ovid (Publius Ividius Naso) 193 Parker, Theodore 68, 73, 74, 79 Parr, Rolf 13 Peirce, Charles S. 17, 230, 231, 232, 233

Grimm, Jakob 129 Grotthuß, Elisabeth 32, 33, 35 Grundmann, Franz 34, 35 Grünzweig, Walter 15, 16 Guarda, Sylvain 164 Günter, Manuela 102 Gutzkow, Karl Ferdinand 176 Halfeld, Adolf 90 Haliburton, Thomas Chandler 176 Hamann, Christof 14, 142 Harte, Bret 162, 163 Heese, Hermann 90 Heine, Heinrich 67, 204 Hejl, Peter M. 209 Henisch, Peter 140 Herkimer, Nicholas 143, 155 Heyse, Paul 164 Hoenecker, Erich 141 Holtei, Carl von 25, 27, 32, 35, 37 Honold, Alexander 13, 14 Humboldt, Alexander von 47, 49, 51, 52, 56 Ihekweazu, Edith 208 Inama-Sternegg, Karl Theodor von 214, 215, 221, 222 Jean Paul (d.i. Johann Paul Friedrich Richter) 204 Jefferson, Thomas 74 Kafka, Franz 11, 140 Kaiser, Nancy 81 Kaiser, Gerhard 228, 235 Kant, Immanuel 231 Kapp, Friedrich 9, 143, 144, 155, 156 Keil, Ernst 83 Keller, Gottfried 12, 14, 17, 69, 192, 194-199, 200-209, 213215, 225-231, 233, 235 Koll, Rolf-Dieter 97 Kolumbus, Christopher 191

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INDEX

142-145, 147-149, 153, 154, 156, 157, 162, 166, 167, 168, 170-176 Spiel, Hilde 167 Stingelin, Martin 17 Tatlock, Lynne 15 Taylor, Bayard 64, 154, 162 Tocqueville, Alexis de 48 Turner, Frederick Jackson 142 Vischer, Friedrich Theodor 102 Washington, George 74 Weidmann, Paul 75 Welby, Lady Viktoria 230 Wichert, Ernst 13, 28, 32, 37 Wieland, Christoph Martin 186 Wollschläger, Hans 263 Wörrishöffer, Sophie 91 Zantop, Susanne 207 Ziegelschmid, Andreas J. F. 164, 165 Zirbs, Wieland 159 Zweig, Stefan 22

Pestalozzi, Johann Heinrich 166 Plato 75 Plumpe, Gerhard 12 Poe, Edgar Allan 40 Raabe, Wilhelm 12-14, 16, 91, 95, 97, 98, 142, 153, 154, 157159, 161, 162, 166, 167, 170, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182-189 Ratzel, Friedrich 213, 214, 216 Resnais, Alain 37 Reuter, Hans-Heinrich 165 Ritter, Alexander 16, 140 Roth, Joseph 22 Rousseau, Jean Jacques 234 Ruppius, Otto 91, 99, 101, 171, 172 Sammons, Jeffrey 16, 81, 140, 142-144, 149 Saussure, Ferdinand de 231 Sazaki, Kristina 64 Scherzer, Karl von 93, 94 Schiller, Friedrich 21, 204, 205 Schmidt, Arno 261 Schnabel, Johann Gottfried 186 Schneckenburger, Max 66, 67 Schrader, Hans Jürgen 157 Schuchalter, Jerry 32 Schurz, Carl 132,143 Schwagmeier, Uwe 18 Scott, Walter 42, 43 Sealsfield, Charles (d.i. Karl Postl) 60, 139, 140, 144, 147, 149, 153, 154, 156, 162, 169, 176, 244 Sehm, Gunter 43 Shakespeare, William 226, 232 Spanke, Arnold 35 Spielhagen, Friedrich 15, 16, 127, 128, 130-132, 134-138,

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DIE AUTORINNEN

UND

AUTOREN

KIT BELGUM, Associate Professor für Germanistik und stellvertretende Direktorin des Zentrums für Europa-Studien an der Universität Austin, Texas. Publikationen (Auswahl): Popularizing the Nation: Audience, Representation, and the Production of Identity in Die Gartenlaube, 1853-1900, Lincoln 1998; Interior Meaning: Design of the Bourgeois Home in the Realist Novel, New York 1991. UTE GERHARD, Professorin am Institut für Deutsche Sprache und Literatur der TU Dortmund. Ausgewählte Publikationen: Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der Weimarer Republik, Opladen 1998; (Mithg.): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politisch-sozialer Landschaften, Heidelberg 2001; (Mithg.): (Nicht) normale Fahrten. Faszinationen eines modernen Narrationstyps, Heidelberg 2003. WALTER GRÜNZWEIG, Professor für amerikanische Literatur und Kultur an der TU Dortmund. Forschungsgebiete und Projekte: Literaturund Kulturbeziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und den deutschsprachigen Ländern; Literatur und Kultur der amerikanischen Romantik; Konstruktionen von Normalität in der amerikanischen Literatur und Kultur; Kultur und Technik; Theorie und Kritik des internationalen Bildungsaustauschs. CHRISTOF HAMANN, Schriftsteller und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Wuppertal. Ausgewählte Publikationen: (Mithg.): Räume der Hybridität. Postkoloniale Konzepte in Theorie und Literatur, Hildesheim u.a. 2002; Fester. Roman, Göttingen 2003; (Mithg.): Odradeks Lachen. Fremdheit bei Kafka, Freiburg 2006; Gastredakteur des Text+Kritik-Sonderhefts zu ‚Literatur und Migration’ (2006); Usambara. Roman, Göttingen 2007; (Mithg.): Hermann Kinder, Eggingen 2008.

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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

ALEXANDER HONOLD, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Publikationen (Auswahl): Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, München 1995; Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte, Berlin 2000; (Mithg.): Kolonialismus als Kultur. Literatur, Wissenschaften und Medien in der deutschen Gründerzeit des Fremden, Tübingen 2002; (Mithg.): Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit, Stuttgart 2004; (Hg.): Walter Benjamin: Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa, Frankfurt/M. 2007. TODD KONTJE, Professor für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität von San Diego, Kalifornien. Publikationen (Auswahl): The German Bildungsroman: History of a National Genre. Literary Criticism in Perspective. Columbia, South Carolina 1993; Women, the Novel, and the German Nation 17711871: Domestic Fiction in the Fatherland. Cambridge, England 1998; (Hg.): A Companion to German Realism. Camden House Studies in German Literature, Linguistics, and Culture. Rochester, New York 2002; German Orientalisms. Ann Arbor, Michigan 2004. TOBIAS LACHMANN, Student der Anglistik, Amerikanistik, Germanistik und Sportwissenschaft an der Universität Dortmund. Staatsarbeit zum Thema: Das Amerikabild bei Klaus Mann. Publikationen zu Elisabeth Hauptmann, Gottfried Keller, Klaus Mann, Thomas Mann und W.G. Sebald. ROLF PARR, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Publikationen (Auswahl): »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust«. Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks (1860-1918), München 1992; Interdiskursive As-Sociation. Studien zu literarisch-kulturellen Vereinen, Gruppen und Bünden zwischen Vormärz und Weimarer Republik, Tübingen 2000; (Mithg.): Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme, Heidelberg 2006; Autorschaft. Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz zwischen 1860 und 1930, Heidelberg 2008. ALEXANDER RITTER, Privatdozent am Institut für Germanistik II - Neuere Deutsche Literatur und Medienkultur der Universität Hamburg. Publikationen (Auswahl): (Hg.) Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker. Erläuterungen und Dokumente, 4. Aufl. Stuttgart 1998; (Hg.) Harry

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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

Graf Kessler: Notizen über Mexiko, Frankfurt/M. 1997; (Hg.) Sealsfield-Studien 1, München 1998; (Hg.) Sealsfield-Studien 2, München 2000; Deutsche Minderheiten. Regionalliterarische und interkulturelle Perspektiven der Kritik, München 2001. JEFFREY L. SAMMONS, Professor emeritus für Germanistik an der Yale University. Publikationen (Auswahl): Jeffrey Sammons: Wilhelm Raabe. The Fiction of the alternative Community, Princeton 1987; Ideology, Mimesis, Fantasy: Charles Sealsfield, Friedrich Gerstäcker, Karl May, and Other German Novelists of America, Chapel Hill 1998; Friedrich Spielhagen. Novelist of Germany’s False Dawn, Tübingen 2004; Heinrich Heine. Alternative Perspectives 19852005, Würzburg 2006. UWE SCHWAGMEIER, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Oldenburg. Publikationen (Auswahl): (Mithg.): Pocahontas revisited. Kulturwissenschaftliche Ansichten eines Motivkomplexes. Bielefeld 2005; (Mithg.): How To Make A Monster. Zur kulturellen Konstruktion und Codierung von Schreckgestalten. Würzburg (in Vorbereitung; erscheint 2008/2009). MARTIN STINGELIN, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der TU Dortmund. Pubikationen (Auswahl): »Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs«. Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik (Rhetorik) und historischer Kritik (Genealogie), München 1996; Das Netzwerk von Gilles Deleuze. Immanenz im Internet und auf Video, Berlin 2000; (Mithg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004; (Mithg.): »System ohne General«. Schreibszenen im digitalen Zeitalter, München 2006. LYNNE TATLOCK, Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Washington Universität in St. Louis. Publikationen (Auswahl): Willibald Alexis’ »Zeitroman« Das Haus Dusterweg. Analysen und Dokumente, Frankfurt/M. 1984; (Hg.): Konstruktion. Untersuchungen zum deutschen Roman der frühen Neuzeit, Amsterdam 1990; (Mithg.): German Culture in Nineteenth-Century America: Reception, Adaptation, and Transformation, Rochester 2005.

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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Birgit Althans, Kathrin Audem, Beate Binder, Moritz Ege, Alexa Färber (Hg.)

Kreativität. Eine Rückrufaktion Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2008 März 2008, 138 Seiten, kart., 8,50 € ISSN 9783-9331

ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.

Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007) und Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de

Lettre Vittoria Borsò das andere denken, schreiben, sehen Schriften zur romanistischen Kulturwissenschaft (hg. von Heike Brohm, Vera Elisabeth Gerling, Björn Goldammer und Beatrice Schuchardt) Juni 2008, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-821-6

Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Februar 2009, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Manuela Günter Im Vorhof der Kunst Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert Juli 2008, 382 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-824-7

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3) ANZ966.p 194303407256

Lettre Tom Karasek Generation Golf: Die Diagnose als Symptom Produktionsprinzipien und Plausibilitäten in der Populärliteratur August 2008, 308 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-880-3

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Fernand Hörner Die Behauptung des Dandys Eine Archäologie März 2008, 356 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-913-8

Juni 2008, 392 Seiten, kart., 37,80 €, ISBN 978-3-8376-1006-2

Stefan Tigges (Hg.) Dramatische Transformationen Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater Februar 2008, 386 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-512-3

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3) ANZ966.p 194303407256

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