Jahresgabe ... der Winckelmann-Gesellschaft Stendal. 1959 Studien zu Winckelmanns Aesthetik: Normativität und historisches Bewußtsein [Reprint 2021 ed.] 9783112527825, 9783112527818

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Jahresgabe ... der Winckelmann-Gesellschaft Stendal. 1959 Studien zu Winckelmanns Aesthetik: Normativität und historisches Bewußtsein [Reprint 2021 ed.]
 9783112527825, 9783112527818

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WINCKELMANN-GESELLSCHAFT

STENDAL

J A H R E S G A B E 1959

Studien zu Winckelmanns Aesthetik Normativität und historisches Bewußtsein von

INGRID

KREUZER

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 195 9

WINCKELMANN-GE SELLSCHAFT

JAHBE8GABE

1959

STENDAL

WINCKELMANN-GESELLSCHAFT

STENDAL

JAHRESGABE 1959

Studien zu Winckelmanns Aesthetik Normativität und historisches Bewußtsein von

INGRID KREUZER

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1959

Alle Rechte vorbehalten Erschienen im Akademie -Verlag G m b H , Berlin W 1, Leipziger Strafte 3-4 Copyright 1959 by Akademie-Verlag G m b H , Berlin W 1 Lizenz-Nr. 202- 100/116/59 Satz, Druck u n d Einband: IV/2/14 . V E B Werkdruck Gräfenhalnichen • 1184 Bestellnummer: 5372 Printed in Germany E S 12 A

INHALT Vorwort

VII

Einleitung

VIII

I . Das Winckelmann-Bild in der Literatur

1

1. Die panegyrische Literatur

3

2. Die Forschung der Kunstwissenschaft

4

3. Die Forschung der Literaturwissenschaft

12

I I . Stil und Geschmack 1. Die Entwicklung der Begriffe im französischen Klassizismus

. . . .

16

2. Die Bedeutung der Begriffe „ S t i l " und „Geschmack" in Winckelmanns Kunsttheorie

26

I I I . Der plastische Gestaltungsakt 1. Der plastische Gestaltungsakt an sich und in seiner räumlichen Gebundenheit

32

a) Die Faktoren des künstlerischen Aktes und ihre Funktionen . . .

34

b) Die möglichen Verfahrensweisen des bildenden Künstlers

. . . .

39

c) Die räumliche Gebundenheit der plastischen Gestaltung

. . . .

46

2. Der künstlerische Schöpfungsakt im Wirkraum der Geschichte a) Seine Faktoren in ihrer geschichtlichen Bedingtheit

48

b) Die Gebundenheit der künstlerischen Verfahrensweisen an den Ablauf der geschichtlichen Kunstentwicklung

51

I V . Winckelmanns Lehre von der Nachahmung der griechischen Werke 1. Winckelmanns Nachahmungslehre in ihrer wirklichen Bedeutung

.

59

2. Die Aufhebung der Nachahmungslehre durch Winckelmanns historische Erkenntnisse

63

V

V. D a s plastische K u n s t w e r k u n d die menschliche Existenz 1. Schönheit u n d Stille u n d d a s menschliche Sein 2. Die Leistung des K o n t u r s im plastischen K u n s t w e r k 3. Menschliche Existenz als Gegenstand plastischer Gestaltung

. . . .

67 74 77

V I . Die R e z e p t i o n der plastischen K u n s t 1. Die neue Stellung des K u n s t b e t r a c h t e r s in Winckelmanns Theorie der plastischen K u n s t 2. Der Vorgang der Rezeption 3. Die A u f g a b e n des K u n s t b e t r a c h t e r s im aesthetischen u n d im historischen R a u m VII. Zusammenfassung

84 85 90 94

Literaturverzeichnis

102

Abkürzungsverzeichnis

106

VI

VORWORT Die vorliegende Jahresgabe, die einen wesentlichen Beitrag zur Winckelmann-Forschung bedeutet, hat uns unser Mitglied Universitätsprofessor Dr. Bernhard Schweitzer vermittelt. Die Verfasserin, Frau Dr. Ingrid Kreuzer, Tübingen, hat uns in liebenswürdiger Weise ihre Arbeit überlassen, und wir danken beiden herzlich für die Förderung der Aufgaben unserer Gesellschaft. Zu großem Dank sind wir auch der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin und der Geschwister Boehringer-Stiftung für Geisteswissenschaften zu Ingelheim a. Rh. verpflichtet, die die Drucke kosten übernommen haben. Arthur

Schulz

Vorsitzender der Winckelmann-Gesellschaft Stendal

VII

EINLEITUNG Über Winckelmann und sein Werk ist von berufener Seite so viel Wesentliches ausgesagt worden, daß jeder neue Beitrag einer Rechtfertigung bedarf, die seinen Standpunkt im Raum des bisher Geleisteten eindeutig bezeichnet und die Lücken aufzeigt, die durch ihn geschlossen werden sollen. Die vorliegenden Studien zu Winckelmanns Aesthetik 1 wurden angeregt durch die Beschäftigung mit der bisherigen Winckelmann-Literatur, deren Ergebnisse zwar, jeweils für sich betrachtet, vielfach überzeugend sind, in ihrer Gesamtheit aber das Werk Winckelmanns, wenn auch ungewollt, als eine Summe in sich widersprüchlicher Thesen zu entlarven scheinen. So ersteht z. B. Winckelmann, der Historiker der antiken Kunst, als strikter Gegensatz zu Winckelmann, dem Aesthetiker, der jedes Kunstwerk an den Normen der Antike mißt. Alle Versuche der Forschung, Winckelmanns kunsttheoretische Aussagen zu klassifizieren und ihren geistesgeschichtlichen Standort zu bestimmen, offenbaren entweder diese Diskrepanz oder scheitern an der scheinbaren Vieldeutigkeit der Winckelmannschen Begriffswelt. Die Frage erhebt sich mit Notwendigkeit: ist Winckelmanns Lebenswerk, wie es sich im Gesamtbild der Forschung spiegelt, tatsächlich eine Summierung „durcheinanderschillernder kunstästhetischer Begriffe" (L. Curtius), genial in der Konzeption jeder einzelnen Idee, als Ganzes aber systemlos und verworren?2 Oder aber verzerrt dieses Spiegelbild seinerseits den objektiven Sachverhalt ? 1 Dieses Buch ist eine stilistisch überarbeitete Fassung der 1952 abgeschlossenen maschinenschriftlichen Dissertation „Normativität und historisches Bewußtsein in Winckelmanns Aesthetik der plastischen Kunst", Tübingen 1953. 2 So spricht u. a. Richard Benz v o n der „seltsamen Verwirrung in Winckelmanns Denk- und Sprachvermögen" (Die Zeit der deutschen Klassik, Stuttgart 1953, S. 114).

VITI

Da die vorliegenden Studien ihre Aufgabe und Methode nicht zuletzt aus der Widersprüchlichkeit des Forschungsbildes ableiten, erschien es geboten, die gegensätzlichen Thesen der Winckelmann-Literatur der eigentlichen Untersuchung voranzustellen, die Winckelmanns Kunsttheorie (vor allem die Theorie der Plastik) zum Gegenstand einer werknahen, unvoreingenommenen Interpretation macht. 1 Die Grundbegriffe Winckelmanns, die bisher verschiedenartig verwendet, bewertet und gedeutet wurden, sollen in ihrem spezifisch Winckelmannschen Sinngehalt durch eine ständige Vergleichung von Wortlaut und Wortsinn, von Wortgebrauch und Sinngebrauch erfaßt werden. Diese Begriffsklärung und die auf ihr fußende vergleichende Interpretation seiner normativen und historischen Aussagen soll die Widersprüche aufheben, welche durch die isolierte Betrachtung der einzelnen Bereiche notwendig entstehen mußten. Als Basis der scheinbar zusammenhanglosen oder widersprüchlichen Thesen Winckelmanns wird eine Aesthetik des Plastischen erkennbar werden, die durch Winckelmanns historische Erkenntnisse gewandelt, aber nicht zerstört wird. Aus dem Ineinander wirken der beiden Faktoren: normativer Anspruch und historische Erkenntnis wird das Werk in seinem Werden, seinen inneren Spannungen und seinen notwendigen Wandlungen erklärt. Zugleich werden bestimmte Behauptungen der Winckelmann-Literatur in ihrer Einseitigkeit gezeigt: weite Abschnitte der Kritik an Winckelmanns Gedankenwelt (besonders von Seiten der Kunstgeschichte) werden damit gegenstandslos. Jedoch beabsichtigt die Untersuchung selbst keine neue Wertung der Theorien Winckelmanns ; ihr ausschließliches Anliegen ist die unvoreingenommene Darlegung des inneren Zusammenhangs von Winckelmanns aesthetischer Gedankenwelt ; eine solche Darlegung ist nötig geworden angesichts des aufgesplitterten Winckelmann-Bildes und soll künftigen, erneut historisch verknüpfenden und systematisch wertenden Untersuchungen als Vorarbeit dienen. Strenge Konzentration auf das Werk Winckelmanns war aus diesem Grunde das erste methodische Gebot, Entsagung gegenüber jedem Anreiz zur Verfolgung historischer Linien oder zur wertenden Sonderung der Einzelthesen — ausgenommen an solchen Stellen, wo dies zur Herausarbeitung des von Winckelmann gemeinten Sinngefüges unentbehrlich schien. Die Fragestellungen der einzelnen Kapitel zielen auf die Grundpfeiler von Winckelmanns aesthe1

Methodisch verwandt, wenngleich sie andere Ziele verfolgen, sind zwei wertvolle neuere Arbeiten: H. Zeller, Winckelmanns Beschreibung des Apollo im Belvedere, Zürich 1955, und H. Koch, J. J. Winckelmann, Sprache und Kunstwerk, Stendal 1956/57, die in einzelnen Berührungspunkten eine erfreuliche Bestätigung meiner schon in meiner Dissertation geäußerten Ansichten geben.

IX

tischer Theorie; ihre wechselseitige Bezogenheit ; ihre notwendige Verknüpfung wird im einzelnen dargelegt werden. Der systematischen Darstellung vorangesetzt ist die Interpretation von Winckelmanns Begriffen „Stil" und „Geschmack". Diese werden in ihrem Zusammenhang mit der französischen klassizistischen Tradition behandelt, weil sich am Wandel ihres Sinngehaltes der Weg zu Winckelmanns Erkenntnis von der geschichtlichen Bedingtheit aller Kunst beispielhaft erfassen und verfolgen läßt.

X

I. DAS WINCKELMANN-BILD I N DER LITERATUR Die Aufgabe, auf gedrängtem Raum einen Überblick über die Winckelmann-Literatur zu entwerfen, bereitet einige Schwierigkeiten. Der breite Strom an literarischer Resonanz, den Winckelmanns Schriften vom Zeitpunkt ihres Erscheinens an bis zur Gegenwart hervorgerufen haben, enthält ebenso heftige Polemik wie enthusiastische Panegyrik und, wie einleitend schon angedeutet wurde, eine Fülle von Widersprüchen, die sich aus der Entwicklungsverhaftung aller Forschung allein nicht erklären läßt. Die Einheit der Gestalt Winckelmanns besteht nicht mehr; eine Rekonstruktion dieser Einheit nur aus den Ergebnissen der Winckelmann-Literatur ist nicht mehr möglich. Doch ist die Tatsache dieser Auflösung noch kaum in das allgemeine Bewußtsein eingedrungen. In der communis opinio nicht nur der breiten Schicht der gebildeten Laien, sondern auch der Wissenschaft allgemein, lebt das Bild Winckelmanns, unangetastet von dem Zerspaltungsprozeß der Forschung, noch in ungebrochener mythischer Einheit und Größe. Dieser „Mythos Winckelmann" 1 , der vor allem die normativen Thesen seiner frühen Schriften verabsolutiert, beruht auf der zeitgenössischen Wirkung seiner Werke; er war schon zu seinen Lebzeiten befestigt und wurde weder durch die Entwicklung von Winckelmanns Denken selbst, noch durch das genauere Verständnis späterer Zeiten mehr beeinflußt. Die panegyrischen Schriften, die noch im gleichen Jahrhundert die Winckelmann-Literatur begründeten, erhoben diesen Mythos zu literarischer Gültigkeit; auch die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen im folgenden Jahrhundert blieben zunächst Abhandlungen panegyrischer Natur, die nur den Mythos um einige neue Züge bereicherten. So wurde die Kunstbetrachtung zwar auf Winckelmanns historischen Standpunkt aufmerksam, fügte diese Erkenntnis jedoch im Banne der panegyrischen Tradition dem auf seine 1

Vgl. R. Benz, a. a. O., S. 115. 1

normative Aesthetik gegründeten Mythos widerspruchslos hinzu. Der Mythos blieb weiterhin Grundlage und Ausgangspunkt für die Untersuchungen; der Zugang zu der eigentlichen Wesenheit des Winckelmann-Werkes schien durch seine Verbindlichkeit für immer verstellt. Der dem Werk Winckelmanns selbst immanente Widerspruch zwischen normativer und historischer Kunstbetrachtung trat nur mittelbar hervor, — durch die Methode der Forschung, die von historischen oder normativen Gesichtspunkten her die eine oder andere Seite seines Werkes jeweils zum Primat erhob oder entwertete; er wurde im Verlauf der Spezialisierung der Einzelforschung zum Ursprung weiterer Antithesen, die die Theorien Winckelmanns in scheinbar systemlose, „durcheinanderschillernde kunstaesthetische Begriffe" 1 auflösen mußten. Kritik und Polemik drangen daraufhin zersetzend in die panegyrische Richtung ein. Die kunstgeschichtliche Forschung erkannte zwar Winckelmann als den Begründer ihrer Wissenschaft an, entdeckte jedoch in seiner normativen Aesthetik zugleich die Unzulänglichkeit seines historischen Denkens und wandte sich — vom Standpunkt des entwickelten Historismus her — polemisch gegen die Mythe von der Überzeitlichkeit seiner Bedeutung und gegen die Gültigkeit seiner Thesen. Die Literaturwissenschaft dagegen erhob gerade die normative Aesthetik Winckelmanns zu erneuter Bedeutung, da diese Seite seiner Theorie durch ihre Wirkung auf die deutsche Klassik seinen Ruhm nunmehr allein zu rechtfertigen schien, nachdem die Begrenztheit seiner Bedeutung für die Kunstwissenschaft von dieser selbst festgestellt worden war. So schien der Schwerpunkt von Winckelmanns Bedeutung endgültig aus der Kunstwissenschaft in die Literaturwissenschaft verlagert zu sein, die historische Bedeutung seiner normativen Aussagen den Wert seiner kunsthistorischen Erkenntnisse zu überwiegen. Winckelmann wurde gerade in der jüngeren Vergangenheit im Verlauf einer weittragenden Erneuerung des Interesses zum Heros der Literaturwissenschaft, während die Kunstwissenschaft ihre Aussagen über sein Werk im großen ganzen abgeschlossen hatte. Diese Verlagerung der Akzente steht jedoch im Widerspruch zum Charakter des Werkes und ist selber eine letzte Folgeerscheinung des Mythos, ebenso wie die zahlreichen Antithesen, die das Winckelmann-Bild der Forschung aufgelöst haben und trotz vieler richtiger und wichtiger Einzelergebnisse der Ganzheit seines Werkes nicht gerecht werden konnten. Darauf gehen die folgenden Abschnitte im einzelnen ein. 1

Ludwig Curtius, Einleitung zu Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen, 4. Aufl., 1943, Bd. I, S. X X I I . 2

1. Die panegyrische Literatur Die panegyrische Literatur nimmt ihren Ausgang von den literarischen Kreisen des 18. Jahrhunderts.1 Sie ist der Spiegel des mythenbildenden Enthusiasmus, mit dem die Zeitgenossen Winckelmann und seiner Lehre begegneten. Wesen und Persönlichkeit Winckelmanns stehen zunächst im Mittelpunkt des literarischen Interesses. Das Romantische seiner Existenz, der Bildungsroman seines Lebensganges, das Idealische seiner Persönlichkeit gelten seinen Zeitgenossen als poetische Offenbarung, deren Reiz von der Düsternis seines Endes eher erhöht als vermindert wird. Es ist dieser Mythos seines Lebens, der die Tragkraft seiner Lehre verstärkt, wenngleich sein Ruhm sich nicht gleichmäßig auf alle ihre Züge verteilt, sondern vornehmlich auf den folgenden gründet: der Beschwörung des Griechenbildes in der apollinischen Sicht, der Lehre von der Nachahmung, die Winckelmann als den Messias der kulturellen Erneuerung erscheinen läßt, seinem subjektiv-sentimentalischen Kunstverständnis, das den neuen Menschentyp der Klassik prägen hilft, seiner normativen Aesthetik der Griechenkunst, die die Ruhe der sinnlichen Form als sittlichen Wert verkündet und zur Grundlage des neuen aesthetischen Humanismus erhebt. So verdeckt die geschichtliche Wirkung seiner normativen Aesthetik zunächst Winckelmanns historiographische Leistung. Ein Teil der zeitgenössischen Gelehrtenweit 2 begegnet gerade der Geschichte der Kunst des Altertums mit kritischem Abstand und wirft Winckelmann das „Lehrhafte" seines Systems, den Mangel an historisch-archivalischer Behandlung des Stoffes vor. Die Verwendung des Stilbegriffs, seine Stileinteilung und Stufenlehre werden noch nicht in ihrer ganzen Tragweite als historische Erkenntnis erfaßt.3 Die Kunstbetrachtung selbst gerät — durch die Wirkung seiner normativen Aesthetik auf die Kunstlehre der deutschen Klassik — für lange Zeit wieder in den Bann der normativen Betrachtungsweise. Erst als das historische Denken in der sich entwickelnden Kunstgeschichtsschreibung des folgenden Jahrhunderts endgültig zum Durchbruch gekommen ist, würdigt sie auch diese Seite seines Werkes, jedoch nur in ihrer Bedeutimg 1

Vgl. Goethe, Winckelmann und sein Jahrhundert, 1805. Eine ausführliche Darstellung der zeitgenössischen Aufnahme, die Winckelmanns Schriften gefunden haben, gibt H. C. Hatfield, Winckelmann and his German critics 1755-1781, New York 1943. 3 Herder hält zwar in seinem „Denkmal J. Winckelmanns" diesen Angriffen Winckelmanns Stileinteilung als Voraussetzung für eine sinnvolle historische Kunstwissenschaft apologetisch entgegen, sagt jedoch selbst, daß Winckelmanns Kunstgeschichte mehr eine „Metaphysik des Schönen" als eine eigentliche Geschichte der griechischen Kunst sei. 2

3

für die totale Wesenserfassung der griechischen Kunst, ohne zu erkennen, wie gerade die kulturhistorische Begründung dieser Kunst zu ihrer normativen Verabsolutierung im Widerspruch steht. Erst in der Kunstwissenschaft des historischen Relativismus wird dieser Widerspruch voll erkannt und zum Anlaß für die kritische und polemische Auseinandersetzung mit Winckelmanns Werken, die sich gegen die von der panegyrischen Literatur herausgestellten Thesen der normativen Aesthetik richtet, ohne die Berechtigung der bisherigen Auslegung durch eine neue Analyse des Werkes selbst zu überprüfen.

2. Die Forschung der

Kunstwissenschaft

In dem umfangreichen und so überaus verdienstvollen Werk Carl Justis 1 wird die Zwiegesichtigkeit von Winckelmanns Theorien in ihrer normativen und historischen Betrachtungsweise zum ersten Mal klar aufgezeigt. Mit positivistischer Genauigkeit breitet Justi den Inhalt der einzelnen Schriften in der Reihenfolge ihrer Entstehung vor dem Leser aus, mehr beschreibend als deutend, mehr reihend als verknüpfend, ohne den Versuch, die Widersprüche des Wortlauts durch eine Deutung des spezifischen Wortsinnes zu überprüfen. Justis Interesse gilt — seiner entwicklungsgeschichtlichen Stellung entsprechend und schon im Titel seines Werkes sichtbar — weniger den inneren als den äußeren Bezügen von Winckelmanns Theorien, mehr den geschichtlichen Zusammenhängen und Einflüssen, wie sie im Leben und Bildimgsgang des Autors deutlich werden, als den Zusammenhängen und Beziehungen im Organismus des Werkes selber. Winckelmanns Lehre steht für Justi ganz im Banne des französischen Klassizismus; abgesehen von der „Betonung des Wortbegriffes der Ruhe", durch welche sich Winckelmann den „Namen eines Originaldenkers verdient" habe, sieht er Winckelmanns Lehre ganz „als das Kind seiner Zeit". Die Gesamtheit von Winckelmanns Werken stellt sich Justi ohne jede Entwicklung dar, jede These der späteren Schriften sieht er in den „Gedanken" schon festgelegt. „Von dieser Seite angesehen, kann man sagen, daß die Welt Winckelmann nur als Fertigen, nicht als Werdenden kennenlernte." 2 U m so härter kritisiert Justi eine Reihe von Widersprüchen, die er aus einer Anzahl im Wortlaut sich widersprechender Thesen Winckelmanns abliest. Winckelmanns Schwanken zwischen „naturalistischer" und „idealistischer" Kunstauffassung, seine Forderung 1 2

4

Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen, 1866—72, 5. Aufl., Köln 1956. Ebenda, Bd. I, S. 473.

einerseits nach Ausdruckskunst, andererseits nach der reinen inhaltgelösten Plastik, die Widersprüche zwischen seinen Kunstgesetzen der Plastik und seinem „Versuch einer Allegorie" und eine Anzahl weiterer Inkonsequenzen beeinträchtigen für Justi die Vollkommenheit Winckelmanns, wie sie im Mythos lebt, erheblich. „Es fehlte ihm etwas die logische Disziplin der Gedanken, die tabellarische Gliederung der Kenntnisse, der sichere Faden exakter Methoden" 1 , Fehler, die Justi aus dem Genietum Winckelmanns zu erklären sucht: „Diese Spontaneität des Genius ist auch der herrschende Zug in Winckelmanns Bildungsgeschichte . . ," 2 „Er gehörte zu den Köpfen, die jeden Punkt, den sie angreifen, so lebhaft ergreifen, daß sie zur Zeit tibersehen, wie ihm sein Raum durch andere bestritten und beschränkt wird." 3 Winckelmanns Werk hat für Justi ebensoviel positive wie negative Seiten: er tadelt Winckelmanns Nichtoriginalität, rühmt ihn jedoch als den ersten Kulturhistoriker 4 ; er tadelt das Fehlen positi vistisch-historischer Exaktheit, seine Nachahmungslehre 5 und den „abstrusen Versuch einer Allegorie" 6 ; er rühmt seine idealistische klassizistische Kunstauffassung wie auch seine Stileinteilung der griechischen Kunst, und er tadelt seine fehlerhaften Kunsturteile, — damit sind nur einige von Justis Sentenzen herausgegriffen: die Widersprüchlichkeit des Autors hat sich auf den Biographen übertragen. Die angetastete Größe Winckelmanns versucht Justi zwar pietätvoll zu retten: „Daß er uns lehren wollte, nur das Höchste und Herrlichste zu begreifen, daß 1

Ebenda, S. 504. Ebenda, S. 502. 3 Ebenda, Bd. III, S. 246. 4 „Er gab den Anstoß, Rassentypus, öffentliche Sitte, Poesie, Sage, Philosophie, Religion zur Erklärung der Kunst heranzuziehen." (Ebenda, S. 153). 5 „Die Wiederherstellung der Künste durch Nachahmung der Griechen war eine Utopie . . ." (Ebenda, S. 287.) 8 „Nachdem er uns eben mit Liebe das Bild eines Volkes gemalt, dem Schönheit ein öffentliches Interesse war, und mit feinem Sinn den hohen Wert des Konturs schöner Körperformen geschildert, verfällt er in die Sprache der Pedanten, die in der Welt der Begriffe und Worte ihre Augen verloren haben . . . die, u m von einem Bilde angezogen zu werden, des Spieles ihres Denkapparates bedürfen . . ." (Ebenda, Bd. I, S. 459.) Die Inkonsequenz bzw. Rückständigkeit, die Justi hier an Winckelmann feststellt, beruht auf einer Verkennung des Winckelmannschen Begriffes „Kunst". Diese zieht sich durch die gesamte Literatur und gründet eben auf dem Fehlen einer werknahen Interpretation. „Kunst" scheidet sich für Winckelmann in Malerei und in Plastik, die beide ihre ureigenen Gesetze haben. Der Kontur der Malerei z. B. bedeutet etwas völlig anderes als der Kontur der Plastik. Die Lehre v o n der Darstellung allegorischer Inhalte bezieht sich überwiegend auf die Malerei und fügt sieh Winckelmanns Auffassung v o m Wesen der Malerei folgerichtig ein. — Die Unterschiede in Winckelmanns Auffassung von Malerei und Plastik werden innerhalb dieser Arbeit noch zu behandeln sein. 2

5

ihm neben diesem das übrige ganz verschwand, dies macht fast alles andere wieder gut"; 1 dennoch überwiegt seine Überzeugung: „seiner ist mehr gedacht worden, als vieler, die gleichen und höheren Anspruch auf das Andenken der Nachwelt hatten." 2 Die kritische Stellungnahme Carl Justis gelangt in der unmittelbar nachfolgenden kunstgeschichtlichen Winckelmann-Literatur noch nicht zur Wirkung. Diese setzt zunächst die panegyrische Richtung — nunmehr jedoch auf Winckelmann als Historiker bezogen — in zahlreichen Arbeiten fort. 3 Erst die nach der Jahrhundertwende erscheinenden kunstgeschichtlichen Untersuchungen sind wieder vorwiegend polemischer Natur, ohne daß die Methode dieser Arbeiten sich der Werkgestalt selbst interpretierend zuwendet: die von der frühen panegyrischen Literatur verbreiteten Thesen bleiben nach wie vor Vertreter des Werkes selbst und werden vorwiegend Ausgangspunkt der kritischen Stellungnahme; die Aussagen Winckelmanns werden nach wie vor in ihrer isolierten Wortbedeutung begriffen und darum Ursache für weitere Antithesen, für widerspruchsvolle Würdigung und Kritik. Die Kritik Richard Hamanns 4 an Winckelmanns Werk bereichert die Antithesen im Forschungsbild um einige Züge. Für Hamann ist Winckelmann das große Ende einer Tradition,5 der Vertreter des Rokoko, dessen „Para1

J u s t i , a. a. O., B d . I , S. 472. E b e n d a , B d . I I I , S. 492. Die panegyrische R i c h t u n g der kunstgeschichtlichen L i t e r a t u r erhebt Winckelm a n n s historiographische Leistung zu fast mythischer B e d e u t s a m k e i t . E r erscheint als der „ B e g r ü n d e r der deutschen Geschichtswissenschaft" (L. Curtius, Die a n t i k e K u n s t u n d der m o d e r n e H u m a n i s m u s , A n t i k e , 1927, S. 2) u n d als „ B e g r ü n d e r der K u n s t w i s s e n s c h a f t " (W. W a e t z o l d t , Deutsche Kunsthistoriker, B d . I , Leipzig 1927, S. 51), die i h m „ d e n Schlüssel zur vergleichenden B e t r a c h t u n g , ja, ihr Dasein zu v e r d a n k e n h a t " ( J . B u r c k h a r d t , Cicerone, zitiert n a c h Waetzoldt, a. a. O., S. 61), wie als I n a u g u r a t o r des Stilbegriffs (Waetzoldt, a. a. O., S. 63), der die „Geschichte der K u n s t als ein Glied in der Gesamtgeschichte der Menschheit eingefügt, die K u n s t a l s eine B l ü t e der Nationalbildung e r k a n n t . . . u n d die Aufeinanderfolge der Stile nachgewiesen" (B. S t a r k , H a n d b u c h der Archäol. der K u n s t . , A b t . 1, Leipzig 1880, S. 164), „unsere Wissenschaft b e g r ü n d e t " u n d „sie aus d e m D i l e t t a n t i s m u s b e f r e i t " h a t (B. Sauer, Zu Winckelmanns E h r e n , Neue J b b . f. d. klass. A l t e r t u m , 20. J g . , 1917, 1, S. 577), u n d d e m wir „ r e c h t eigentlich die K e n n t n i s v o n dem Wesen aller K u n s t " v e r d a n k e n ( J . Lessing, Einleitung zu Winckelmanns Gesch. d. K u n s t d. A l t e r t u m s , Berlin 1870, S. VI). Diese R i c h t u n g setzt sich (vor allem in Festreden u n d Denkschriften, jedoch a u c h in allgemeinen A n m e r k u n g e n geistesgeschichtlicher L i t e r a t u r a n d e r e r Fachgebiete) bis in die Gegenwart f o r t . 4 R i c h a r d H a m a n n , W i n c k e l m a n n u n d die kanonische Auffassimg der K u n s t . I n : I n t e r n a t . Monatsschrift f ü r Wissenschaft, K u n s t u n d Technik, 7, 1912/13. 5 A u c h E g o n Friedeil bezeichnet in seiner „Kulturgeschichte der N e u z e i t " W i n c k e l m a n n als „ d a s große E n d e des B a r o c k " . 2 3

6

doxie" sich darin offenbart, daß er „die Ausläufer einer Kunst um sich hatte, die der echten Antike nahekam, und was er von Antiken kannte, liebte u n d . . . pries, stand dieser Spätkunst als antikes Rokoko nahe . . . daß er trotzdem eine Erneuerung der Kunst durch diese Antike wollte, bewußt forderte und dazu theoretisch sich mit der Antike beschäftigte."1 Der „Grieche Winckelmann", als der er im Mythos erscheint, wird bei Hamann zum Repräsentanten einer geradezu unantiken Haltung: „. . . gerade die Forderung, das Altertum nachzuahmen, ist ein Zeichen für die innerliche Lösung von dem, was der antiken Kunst ihren Inhalt gab und produktiv werden konnte."2 Zwar sieht auch Hamann bei Winckelmann die Wendung zur historischen Kunstauffassung, allerdings nur als Ansatz, denn „kanonisch bleibt freilich Winckelmanns Lehre vom Altertum auch da". 3 Winckelmann ist für Hamann überhaupt noch nicht zu einer wirklichen Erkenntnis von der Geschichtlichkeit der Kunst gelangt: „Der Gedanke, daß jede Kunst aus ihrer Zeit die produktiven Kräfte schöpft und gewissen in ihrer Zeit angelegten Bedürfnissen entsprechen muß und nur in dieser Entsprechung gewissen allgemeingültigen Bedingungen des Materials oder Formen des Sehens in höherem oder geringerem Maße gehorcht, lag Winckelmann völlig fern. Stellte er sich doch mit der Forderung der Nachahmung der Antike gegen die Kunst seiner Zeit."4 Der Widerspruch zwischen der Nachahmungslehre der frühen Schriften Winckelmanns und dem historischen Entwicklungsgedanken seiner Kunstgeschichte wird von Hamann immer wieder betont: „Später in der Geschichte der Kunst des Altertums leitet Winckelmann die Verfallsperiode der späteren antiken Kunst daher ab, daß sie Werke des guten Stils nachahmte. Schwerlich aber würde er sich darin eines Widerspruches zu seiner Grundgesinnung von der absoluten Autorität der antiken Kunst bewußt geworden sein."5 Gleichzeitig unterzieht Hamann den auch schon von Justi aufgedeckten Gegensatz zwischen naturalistischer und idealistischer Kunstauffassung bei Winckelmann einer neuen Wertung. Er tadelt den „Idealismus" Winckelmanns, der ihm „die Natur als Gegenstand der künstlerischen Formung" ganz „entschlüpfen"6 läßt. Ausgehend von Winckelmanns Satz von der bloß im Verstand der griechischen Künstler gebildeten geistigen Natur als 1

Hamann, a. a. O., Sp. 1193. Ebenda, Sp. 1194. 3 Ebenda. 4 Ebenda, Sp. 1194 f. 5 Ebenda, Sp. 1195. « Ebenda, Sp. 1196. 2

2

7

Urbild ihrer Schöpfungen schließt Hamann, daß Winckelmann das unmittelbare Körpergefühl, das der antiken Plastik zugrunde liegt, abhanden gekommen sei1, daß seine geistig-ideale Kunstlehre, als „von allem ursprünglichen Kunstschaffen am weitesten entfernte Ansicht"2, Winckelmann am Eindringen in das Wesen des Künstlerischen gehindert habe. Hamann sieht Winckelmann als einseitig-rationalistischen Theoretiker, als formalistischen Aestheten; sein Postulat des würdigen Standes — aus dem Postulat der Ruhe als ethisch-aesthetischem Wert entsprungen — gilt Hamann als das plastische Gestalten einer aristokratischen Lebensverfassung, als höfische Repräsentationsforderung des Barock und Rokoko.3 Winckelmanns Wort von der edlen Einfalt und stillen Größe bezieht Hamann in das erstellte Bild des Formalisten Winckelmann ein: „So bedeutet der Ausdruck ,edle Einfalt und stille Größe' weniger die Rückkehr zur großen, erhabenen klassischen Kunst, als etwas Negatives, Abstraktes, jene Lösung schließlich von dem, was der antiken Kunst und der ihr verwandten des Mittelalters und der Barockzeit den Inhalt gab. Es blieb zurück eine Form ohne Inhalt." 4 Winckelmanns „Versuch einer Allegorie" dagegen fügt Hamann seinem Winckelmann-Bild als den konsequenten Versuch Winckelmanns, dieser formalen Kunst einen neuen Inhalt zu geben 5, hinzu. Dennoch zieht Hamann aus dieser völligen Ablehnung der Winckelmannschen Theorie das endgültige Fazit, gerade durch das Bemühen Winckelmanns, die leergewordene Form mit dem Inhalt der Interpretation zu erfüllen, sei sein eigentliches Verdienst entstanden.6 Ein Höchstmaß an Kritik und zugleich Verkennung erfahren Winckelmanns Schriften durch Konrad Fiedler7, der die Gesamtleistung Winckelmanns vom Gesichtspunkt der eigenen theoretischen Bemühungen aus 1

Hamann, a. a. O., Sp. 1197. Ebenda. 3 „Ist also nicht Winckelmann ganz im Geschmack des ancien régime befangen? Und doch warum diese heftige Opposition gegen diese Kunst!" (Ebenda, Sp. 1198.) 4 Ebenda, Sp. 1201. 5 Ebenda, Sp. 1203. 6 „Man. könnte ihn den Vater der modernen Einfühlungstheorie nennen, deren Wesen es ja auch ist, abstrakte Formen durch poetische Interpretation reicher Bewegungsvorgänge, die in ihnen symbolisch seien, aesthetisch bedeutsam zu gestalten." (Ebenda, Sp. 1206.) — „Nicht in den Resultaten seiner ganzen auf einen kanonischen Begriff aufgebauten Theorie von den Epochen des Altertums . . . sind seine Leistungen zu suchen, sondern in der Gesinnung, die zu dem Inhalt der antiken Kunst nur ein theoretisches, verstandesmäßiges Verhältnis hatte, zu der Form aber ein unantikes, sentimentales und modern aesthetisches." (Ebenda, Sp. 1207.) ' Konrad Fiedler, Schriften über Kunst, München 1914, Bd. II. 2

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verneint. Er tadelt Winckelmanns Verabsolutierung der griechischen Schönheit, seine Nachahmungslehre, sein nur plastisch-idealistisches Kunstpostulat, kurz — die Einseitigkeit seiner Theorie, zu welcher er „kommen mußte, indem er den Geschmack als Richter über Kunstwerke einsetzte"1, und die darum „vollständig in den hergebrachten Ansichten über Naturwahrheit in der Kunst befangen" sei — „ohne auf den Gedanken zu kommen, daß die Natur eben verschieden aussieht, je nachdem sie von einem Rubens oder von einem Jordaens angesehen wird."2 Fiedler fehlt jegliches Verständnis des Winckelmannschen Werkes selbst. Er tadelt Winckelmanns Schrift von der „Empfindung des Schönen", deren sublime Lehre von der Rezeption des Kunstwerks sich ihm als Lehre von der bloß sinnlich-erregenden Wirkung des Schönen darstellt3, von der doch Winckelmann selbst gerade mit dieser Schrift Abstand nimmt. Überhaupt spricht Fiedler Winckelmann jegliche klar durchdachte Vorstellung vom „Wesen der Kunst" ab. Winckelmann stehe noch „vollständig auf dem Standpunkt derjenigen, denen das Kunstwerk in der Annehmlichkeit für die Sinne und in der Beschäftigung für den erratenden Verstand aufgeht".4 „Es liegt den Untersuchungen keine klar durchdachte Vorstellung von dem Wesen der Kunst zugrunde, und es wird beständig der Standpunkt gewechselt, von dem die Kunst betrachtet werden soll; denn bald ist von der Kunst als symbolischem Darstellungsmittel, bald als bildlichem Ausdruck von Gedanken, bald als Mittel zum Vergnügen an der Schönheit die Rede."5 Solche Sätze Fiedlers machen es deutlich, welche Verkennung die Theorie Winckelmanns durch die von der panegyrischen Literatur einseitig propagierten Thesen erfuhr, die den Zugang zur Wesenheit des Werkes für so lange Zeit verstellt und eine wirkliche Gesamtuntersuchung des Werkganzen auf der Grundlage eindringlicher Interpretation und Vergleichung verhindert haben. So tadelt Fiedler unter anderem heftig Winckelmanns „Allegorie", den Vorrang des Verstandes, der „mit Kunstwerken nichts anzufangen wisse, solange er dieselben nicht als sinnbildliche Darstellungen abstrakter Begriffe auffassen könnte"6, während doch der Verstand gerade das Wesen der künstlerischen Formung selbst erfassen müsse und erst darin seine größte Arbeit, aber auch seine Fiedler, a. a. O., S. 366. Ebenda, S. 368 f. 3 „Wer sich aber nicht über die angenehme Empfindung der Schönheit zu der reinen Höhe der Erkenntnis erhe"ben kann, der wird die Kunst niemals vollkommen verstehen." (Ebenda, S. 377.) * Ebenda, S. 370. 5 Ebenda, S. 378f. 8 Ebenda, S. 370. 1

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größte Befriedigung erhalte. „Davon ist hier jedoch keine Spur zu finden." Ähnlich wie Hamann erfaßt auch Fiedler Winckelmanns Begriff „Verstand" nur als Ratio im alltäglichen Sinne, während eine vergleichende Interpretation zwei ganz verschiedene Bedeutungsgehalte des Begriffes bei Winckelmann offenbart, die, den Eigengesetzen der Malerei und der Plastik entsprechend, jeweils andere sind, die sich aber, wenn man dies berücksichtigt, Winckelmanns Aesthetik widerspruchslos einordnen lassen.1 Ernst Heidrich2 sieht in Winckelmanns Kunstgeschichte „das Prinzip aller kunsthistorischen Forschung für absehbare Zeiten . . . unverrückbar festgestellt"3, in der Einführung des Stilbegriffes durch Winckelmann den Beginn derjenigen „Epoche der modernen, wissenschaftlichen Kunstgeschichtsschreibung, in der auch wir stehen"4, tadelt jedoch zugleich das eigentlich Unhistorische an Winckelmanns Nachahmungslehre5, die er als das „traditionelle Programm des Klassizismus" bezeichnet, der hier die Sehnsucht seiner Zeit erfülle. Winckelmanns Werke, die Heidrich soziologisch zu erklären versucht, gehören für ihn durch „jene tiefe Sehnsucht nach einer Erneuerung aller Zustände . . ., nach Reinheit und wahrer menschlicher Größe, nach Freiheit, nach der Natur" 6 ganz der Aufklärung an; den Widerspruch zwischen der zeitverhafteten Nachahmungslehre und den zukunftsweisenden historischen Erkenntnissen Winckelmanns vermag er nicht zu deuten. Das „Utopische und Unhistorische" des Gesamtwerkes überwiegt 1 Fiedlers Kritik entzündet sich u. a. an Winckelmanns Auffassung, daß die Künste „vergnügen und zugleich unterrichten" sollen. Dieser Ausspruch findet sich in Winckelmanns frühester Schrift, den „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst" (S. 55); im Vergleich mit allen anderen und späteren, tiefgründigen Aussagen Winckelmanns über das Wesen der Kunst verliert dieses frühe Zitat jegliches Gewicht und erscheint als eine mehr oder weniger gedankenlose Übernahme einer These des französischen Klassizismus. Auch Richard Benz verfällt dem gleichen Irrtum, dieser Aussage übergroßes Gewicht beizumessen, indem er sie folgendermaßen kommentiert: „Hier bricht die reine Aufklärung durch, nebst ihrer grotesken Angst vor dem Bild-gestalteten Baum, der Grundlage aller abendländischen Kunst." (Fiedler, a. a. O., S. 118.) 2 E. Heidrich, Beiträge zur Geschichte und Methode der Kunstgeschichte, Basel 1917. 3 Ebenda, S. 31. 1 Ebenda, S. 27. 5 „Denn in der Tat ging doch die erste und letzte Absicht auch bei Winckelmann, ebenso wie bei jener älteren Kunstgeschichtsschreibung, nicht so sehr auf eine möglichst unbefangene Erkenntnis der Vergangenheit rein um ihrer selbst willen, sondern auf die Hervorbringung eines Idealgemäldes, das seinem Schöpfer eine unmittelbare Einwirkung auf die Gegenwart, auf ihre Kunst, auf das Leben selbst zu ermöglichen schien." (Ebenda, S. 32f.) 8 Ebenda, S. 35.

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für Heidrich und bestimmt sein Urteil, auch wenn er es, ähnlich wie Justi, auszugleichen versucht, indem er den „hinreißenden Schwung", den „tiefen Wahrheitsgehalt dieser hymnischen Dichtung" bewundernd anerkennt. Eine fast panegyrische Würdigung dagegen wird Winckelmann wieder durch Wilhelm Waetzoldt 1 zuteil, der ihn als den „Begründer der Kunstwissenschaft" ansieht und seiner kulturwissenschaftlichen Leistung und der Einführung des Stilbegriffs als „grundgenialen Ideen" uneingeschränkte Würdigung zollt. Fehler, die Waetzoldt in Winckelmanns Schriften aufdeckt, beziehen sich meist auf rein stoffliche Aussagen, wie Fragen der Datierung, der Einstufung, und auf Qualitätsurteile, die zwar von der modernen Wissenschaft längst überholt worden sind, die Größe von Winkkelmanns eigentlicher methodischer Leistung jedoch nicht beeinträchtigen können, denn: seine Werke „leben aber, und das danken sie ihrem Geist, ihrer Methode, ihrer Form".2 Winckelmanns Bedeutung liegt für Waetzoldt eindeutig in der Genialität und Originalität seiner historiographischen Leistung3; dagegen betrachtet er ihn als mangelhaften Aesthetiker, der „akademisch-literarisch verseucht" worden sei. „Es liegt uns fern, die Grenzen Winckelmanns zu verkennen oder die erkannten Schranken seines Geistes zu verschweigen . . . Und doch bleibt Winckelmann. Seine Person ist größer als seine Lehre; er hat seine Ideale nicht nur gepredigt, sondern vorgelebt"4, — wiederum eine Wendung in den mythisch-panegyrischen Bereich, die fast allen Autoren eigen ist, jedoch bei Waetzoldt, der Winckelmann gerade als Historiker rühmt, besonders seltsam anmutet. Waetzoldt hatte Winckelmann den ihm schon seit längerem abgesprochenen Rang als Anfang eines Neubeginns, als großen Begründer der historischen Wissenschaft zurückgegeben; Ludwig Curtius dagegen5 stellt Winckelmann wieder in die Grenzen seiner Zeit: „Winckelmann selber war viel mehr, als ihm bewußt war, der Sohn des Zeitalters, von dem er sich so leidenschaft1

Wilhelm Waetzoldt, Die Begründung der deutschen Kunstwissenschaft durch Winckelmann und Christ. I n : Ztschr. f. Aesthet., 15, 1921. 2 Ebenda, S. 177. 3 ,, . . . die geniale Intuition Winckelmanns . . . seine Gabe des Zusammensehens und Zusammendenkens v o n Kunst und Leben . . . hat ganz neue Möglichkeiten des geschichtlichen Verstehens geschaffen." (Ebenda, S. 179); , , . . . er führt den Begriff des Stiles und der Stilgeschichte ein". „ S t a t t der didaktisch-panegyrischen Methode gibt Winckelmann die historisch-analysierende Betrachtung, v o n der referierend pragmatischen sucht er den Weg zur genetischen". (Ebenda, S. 178f.) 4 Ebenda, S. 185. 5 Ludwig Curtius, Winckelmann und unser Jahrhundert. I n : Antike, 1930; derselbe: Die antike Kunst und der moderne Humanismus. I n : Antike, 1927.

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lieh loszulösen suchte." 1 Curtius sieht einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Winckelmanns zeitgebundener Erscheinung und den Ansichten der Gegenwart: ,,. . . wären wir nicht als historisch erzogene Menschen von der Ehrfurcht vor der geheimnisvollen Notwendigkeit des geschichtlichen Geschehens erfüllt . . so müßte uns das Auftreten Winckelmanns mit Unwillen erfüllen, seine Wirkung unbegreiflich erscheinen."2 Dennoch betrachtet auch Curtius Winckelmann schon als „Gelehrten im modernen Sinne", als „Begründer der deutschen Geschichtswissenschaft, nicht bloß der Kunstgeschichte und Archäologie" 3 , wenngleich er immer wieder Winckelmanns Zeitgebundenheit und den Abstand der Gegenwart von seinem Werk betont: „Die Wissenschaft, unsere Wissenschaft dieses Jahrhunderts ist weit von Winckelmann entfernt, kaum eines seiner Worte können wir heute noch wörtlich wiederholen, am wenigsten das von der Nachahmung griechischer Werke." 4 Nur der Geist „Winckelmanns, die Leidenschaft seines Erkenntnisdranges", „seine moralische Absicht" müßten auch in unsere Zeit hineinwirken.5 Werk und Persönlichkeit Winckelmanns sind auch für Gurtius keine Einheit: „Halb ist er gelehrt-nüchtern, halb ist er religiöser Hymnendichter. Er gehört in die Nähe Klopstocks." 6 Darum sieht Curtius auch die Bedeutung Winckelmanns ebensosehr in seiner Wirkung auf Dichtung und Philosophie, wie in der „reinen rationalen Kritik", welche Kunstwissenschaft, Geschichtswissenschaft und Altertumswissenschaft begründen sollte.

3. Die Forschung der

Literaturwissenschaft

Winckelmanns Wirkung auf die deutsche Klassik steht im Mittelpunkt der literaturwissenschaftlichen Forschung. Die Thesen seiner normativen 1

Curtius, Winckelmann und unser Jahrhundert, S. 125. Ebenda, S. 102. 3 Curtius, Die antike Kunst . . . , a. a. O., in: Antike, 1927, S. 2. Als dieser ist Winckelmann auch in die Geschichtswissenschaft eingegangen; Kurt Breysig in „Die Meister der entwickelnden Geschichtsforschung" (Breslau 1936), sieht Winckelmanns Kunstgeschichte „in aller Geschichtsschreibung zum ersten Mal . . . als ein umfassendes Werk wahrhaft entwicklungsgeschichtlicher Richtung und zugleich von ernsthafter Wissenachaftlichkeit..." (a. a. O., S. 157). 4 Curtius, Winckelmann und unser Jahrhundert, a. a. O., S. 126. 6 Ebenda. * Curtius, Die antike Kunst . . . , a. a. O., S. 2; Artur Weese, (Carl Justi. I n : Rep. f. Kunstwissenschaft X X X V I , S. 161) bezeichnet Winckelmanns Kunstgeschichte und ihre Wirkung als „eine mehr künstlerische als wissenschaftliche Offenbarung". J

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Aesthetik und ihre Bezüge zum Idealismus der klassischen Dichtung sind Gegenstand zahlreicher Untersuchungen, die Winckelmanns Bedeutung endgültig in den literaturgeschichtlichen Raum zu verlagern scheinen; seine historiographische Leistung tritt durch die Betonung seiner normativ-aesthetischen Intentionen in den Hintergrund des Interesses. Werk und Persönlichkeit Winckelmanns gelten — dem Winckelmann-Mythos der deutschen Klassik entsprechend — für die Literaturwissenschaft wieder als organische Einheit. Alle Züge seines Wesens und seines Werkes, die den aesthetischen Humanismus der deutschen Klassik begründen halfen, dominieren im Forschungsbild: Winckelmanns sokratisch-platonische Erziehernatur, die „apollinische" Sicht seines Griechenbildes, die Bedeutung seiner Sprache und seines Stils für die klassische Literatur, seine Neubelebung des antiken Götterbildes, dessen Stille er als ethischen Wert verkündet, sein mythologisches Verständnis und die tiefe Religiosität seines „Kunstevangeliums", der prägende Grundzug der Deutschheit seines Wesens und die Lebens- und Persönlichkeitserfülltheit seiner Lehre, die ihr die starke Wirkkraft verlieh. 1 Doch auch die Forschung der Literaturwissenschaft bleibt in ihren Ergebnissen nicht ohne Widersprüche: dem „apollinischen" Winckelmann wird das dionysische „Untergründige" seines Wesens gegenübergestellt; 2 seinem klassischen „Kunstoptimismus" wird seine „tiefe edle Trauer, die alle echten Klassizisten über den Untergang der alten Kunst . . . beugte," 3 entgegengehalten; seine Deutung des Aesthetischen aus der Tiefe mythischer Bereiche 4 wird zum Teil als Mangel an wahrem „mythologischem Verständnis" 5 gedeutet. Untersuchungen, die sich mit dem Ursprung der Winckelmannschen Theorie beschäftigen, konstatieren teils seine unbedingte Originalität, teils seine Abhängigkeit von der französischen klassizistischen 1

U. a.: Walter Rehm, Rudolf Sühnel, Franz Schultz, Justus Obenauer, Ernst Bergmann, Bernhard Vallentin u. a. m. Der Versuch, besonders Winckelmanns „deutsche Sendung" herauszustreichen, führt zu einigen Übertreibungen, besonders bei Fritz Blättner, Winckelmanns deutsche Sendung. D V L U G 21, 1943, der Winckelmanns Wesen aus Deutschheit und Luthertum zu erklären sucht: ,,so lebte Winckelmann in R o m für Deutschland und für die Deutschen und im tiefsten im Protest gegen Rom." (Ebenda, S. 26.) 2 Vor allem bei Alfred Bäumler, Walter Rehm, J. Obenauer; bei Franz Schultz zugleich mit dem Versuch einer Synthese beider Seiten Winckelmanns. 3 F. J. Obenauer, Die Problematik des aesthetischen Menschen in der deutschen Literatur, München 1933, S. 152. * W. Rehm, Griechentum und Goethezeit, Leipzig 1933. 6 A. Bäumler, Von Winckelmann zu Bachofen. I n : J. Bachofen, der Mythos von Orient und Occident, München 1926.

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Tradition, die auch Justi schon angedeutet hatte.1 Auch richtet sich Kritik gegen Winckelmanns Nachahmungslehre2, gegen seine die sinnlich-plastische Kunstform verabsolutierende Einseitigkeit3 und gegen seine lehrhaften Absichten, das „Unhistorische" seiner normativen Bestrebungen.4 Franz Schultz 6 dagegen stellt sich die Aufgabe, das Winckelmann-Bild aus seiner „Trivialisierung und Typisierung" durch die Forschung zu be1 G. B a u m e c k e r , W i n c k e l m a n n in seinen Dresdner Schriften, Berlin 1933, b e t o n t W i n c k e l m a n n s absolute Originalität. K . Borinski, Die A n t i k e in P o e t i k u n d K u n s t theorie, B d . 2, Leipzig 1924, sieht das „gallikanische G r i e c h e n t u m " als die eigentliche T r i e b k r a f t Winckelmanns. (IT. a. h e b t Borinski Winckelmanns allegorisches D e n k e n , seine historiographische Leistung u n d zugleich seine Kunstreligiosität als die b e d e u t e n d s t e n seiner Wesenszüge hervor.) a Vgl. H . Stöcker, Zur K u n s t a n s c h a u u n g des 18. J a h r h u n d e r t s . Von W i n c k e l m a n n bis W a c k e n r o d e r , Berlin 1904 (Palaestra 26). Vgl. a u c h Ch. E p h r a i m , Der W a n d e l des Griechenbildes im 18. J h . , Bern, Leipzig 1936: Sein R u f n a c h N a c h a h m u n g „beweist, d a ß W i n c k e l m a n n in seliger K o n t e m p l a t i o n v o n vollendeten Meisterwerken keine Beruhigung u n d Befriedigung e m p f a n d . E r . . . setzte es sich n i c h t z u m Ziel, die Menschen reines, interesseloses Sehen zu lehren: i h m genügt reine E r k e n n t n i s n i c h t . Sie ist n u r die Vorstufe zur Leistung, zur T a t . " ( E b e n d a , S. 4.) „Seine ganze Wend u n g n a c h Griechenland e n t b e h r t e ohne diesen Willen zur N a c h a h m u n g einen ihrer t r e i b e n d s t e n F a k t o r e n . Noch m e h r , seine gesamte K u l t u r - u n d W e l t a n s i c h t k ö n n t e ohne diesen selbstverständlichen Glauben a n die N a c h a h m u n g nicht erklärt w e r d e n . " (Ebenda.) „ E s m a g seltsam b e r ü h r e n , d a ß W i n c k e l m a n n , der solches Verständnis f ü r die E n t s t e h u n g u n d E n t w i c k l u n g der griechischen K u n s t gezeigt h a t , eine Übert r a g u n g griechischer S t a t u e n in f r e m d e r Zeit u n d f r e m d e m Volk f ü r möglich h ä l t . " ( E b e n d a , S. 5.) Vgl. a u c h R . Benz, a. a. O., S. 116, über Winckelmanns Satz v o n der N a c h a h m u n g der A l t e n : „Dies ist wieder ein solcher m o n u m e n t a l e r Satz, der unbesehen ins Repertoire des Klassizismus ü b e r n o m m e n worden i s t ; aber was besagt er? Wir sollen H o m e r u n d L a o k o o n u n n a c h a h m l i c h finden, aber die Griechen n a c h a h m e n ? Wir sollen d u r c h die N a c h a h m u n g u n n a c h a h m l i c h werden, also m e h r als die Griechen, oder d o c h wie H o m e r , den wir aber gar nicht n a c h z u a h m e n vermögen? W a s soll hier Sinn, w a s bloßer Wortschwall sein?" 3 Obenauer sieht dagegen gerade Winckelmanns Tendenz darin, d a s Plastische ,in unkörperliche Visionen aufzulösen" (a. a. O., S. 155); „hier spricht ein Visionär v o n übersinnlichen Gesichten . . . W a s er so s c h a u t , sind geistige Wesen, die sich ,aus sich selbst u n d aus keinem sinnlichen Stoff eine F o r m g e g e b e n ' " . ( E b e n d a , S. 154.) A u c h hier die Akzentverlagerung d u r c h die Lösimg eines Zitates a u s d e m Sinngefüge des Ganzen. 4 H . K u h n , Die E n t s t e h u n g der Aesthetik a u s d e m Geiste des H u m a n i s m u s . I n : Antike, 1929, t a d e l t ebenfalls W i n c k e l m a n n s klassizistisches D o g m a : „ D a s D o g m a v o n der aesthetischen Allgültigkeit des griechischen Ideals . . . h a t als E r i n n e r u n g vielleicht n i c h t seine E h r w ü r d i g k e i t , aber jedenfalls als Theorie seine Glaubwürdigkeit verloren." (S. 129.) Allerdings sieht K u h n d e n „ G l a u b e n a n die ewige Gültigkeit der griechischen S c h ö n h e i t s f o r m " bei W i n c k e l m a n n noch „rein in seinem k u n s t historischen W e r k a u f g e g a n g e n " , erst bei H e r d e r dringe er als „ D o g m a in die Theorie e i n " u n d stoße „ h a r t m i t d e m schon e r k a n n t e n Gesetz des Stilwandels z u s a m m e n . " (S. 145.) 6 F . Schultz, Klassik u n d R o m a n t i k der Deutschen, I . Teil, S t u t t g a r t 1936.

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freien, aus der negativen Sicht zurückzufinden zu einer neuen positiven Wertung, die sowohl Winckelmanns Bedeutung für die Literaturwissenschaft als auch für die Kunstwissenschaft erneut zusammenzusehen bestrebt ist.1 Er verteidigt Winckelmann gegen die Angriffe auf seine Nachahmungslehre, die nichts anderes sei „als die Erkenntnis der großen Bildungsgesetze, unter denen große Natur und große Kunst stehen"2, jedoch nichts mit der alten Aesthetik des Klassizismus gemeinsam habe. Winckelmann ist für Schultz die Wurzel der „Deutschen Bewegung", ein Klassiker, kein Klassizist, wenngleich sofort nach seinem Tode der Klassizismus in die alte Tradition zurückgefallen sei. Winckelmanns historische Erkenntnis wird von Schultz kaum berücksichtigt; dennoch weist er auch der Kunstwissenschaft im Hinblick auf Winckelmann neue Wege: „Der entscheidende Punkt ist zu finden in der eigentümlichen Weise, in der sich bei ihm Naturnachahmung mit der Gestaltung aus der Idee zu einer vorher noch nicht so dagewesenen Bedingung und Grundlage des Verstehens der Kunst vereinigen."3 Intuitiv gewinnt Schultz eine Erkenntnis, die von der werknahen Interpretation bestätigt wird: erst die angemessene Zusammenschau der scheinbaren Widersprüche, die die Forschung so zahlreich in Winckelmanns Werk aufgedeckt hat, erschließt dessen Wesenheit. 1 Freilich schlägt er auch Winckelmann als „Führer" für den „neuen Humanismus" jener Tage (1936) vor und überspitzt den „Gegensatz zur französisch-westeuropäischen Zivilisation". (Ebenda, S. 107 und 87f.) 1 Ebenda, S. 81. 3 Ebenda, S. 88.

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II. STIL U N D GESCHMACK 1. Die Entwicklung

der Begriffe

im französischen

Klassizismus

Die vergleichende Betrachtung von Bedeutung und Anwendung der Begriffe „ S t i l " und „Geschmack" in zeitlich verschiedenen Kunsttheorien vermag tiefe Einblicke in die Wandlungen des intellektuellen Verhältnisses zum Kunstwerk zu eröffnen, in die allmähliche Entwicklung des historischen Denkens und seine Auseinandersetzung mit den normativen Bestrebungen. Die spontane Bildung des historischen Stilbegriffs heben, wie oben gezeigt wurde, bestimmte Forscher als größte und zukunftsträchtigste Leistung Winckelmanns, des „Begründers der Kunstwissenschaft", hervor. Der Stilbegriff als Terminus der historisch orientierten Kunstforschung ist jedoch keineswegs spontan entstanden. Die Ausbildung des heutigen Stilbegriffes — von der modernen Literatur- und Kunstwissenschaft gleichbedeutend verwendet —, der den individuellen Stil der Künstlerpersönlichkeit, den Zeit und Nationalstil gemeinsam umgreift, vollzieht sich auf getrennten Wegen. Eine seiner Voraussetzungen ist die Gleichsetzung des Terminus Stil — als Begriff der literarischen Individualform, wie er in der Literaturtheorie seit der Antike verwendet wird — mit dem Begriff der „Manier" in der bildenden Kunst. Die Erkenntnis des Phänomens der Zeit- und Nationalstile, die den Individualstil in die überindividuelle historische Bindung einbeziehen, hat sich dagegen im Bedeutungswandel des Terminus „Geschmack" herausgebildet. Das historische Phänomen Stil wurde also erkannt, bevor es mit dem Terminus „ S t i l " verbunden wurde, welche Verbindung erst nach der Übertragung des Begiiffes aus dem Bereich der Literatur in denjenigen der bildenden Kunst erfolgte. Diese Übertragung wird, wie noch zu zeigen ist, möglich durch die Leistung des Grafen Caylus, dem auch die Erfassung und Beschreibung des historischen Phänomens zu danken ist. Winckelmann 16

zieht daraus die terminologischen Konsequenzen und verwendet den Stilbegriff fruchtbar und bahnbrechend als Erkenntnisinstrument der kunstgeschichtlichen Forschung. Er formt mit seiner Hilfe die Ordnungsbegriffe, die ihm zur historischen Erschließung ganzer Kunstwelten dienen sollen. Er sprengt, in gewissem Sinne wider Willen, endgültig die normativ bestimmte theoretische Tradition, um die Komponenten der Kunstgestaltung in ihrer geschichtlichen Bedingtheit aufzudecken. Beide Begriffe, Stil und Geschmack, finden sich in Winckelmanns Schriften nebeneinander. Ihre Interpretation soll im folgenden versucht werden. Ein skizzenhafter Abriß der historischen Entwicklung beider Begriffe sei vorangestellt, zur Erhellung ihres Gehaltes und ihrer spezifischen Anwendungsweise bei Winckelmann selbst. Diese Entwicklung vollzieht sich im Raum der theoretischen Bemühungen des französischen Klassizismus. Beide Begriffe, Stil und Geschmack, bestehen zunächst in der Literaturtheorie der Pléiade und des beginnenden Klassizismus unabhängig nebeneinander: „Style" als der aus dem Sprachgebrauch der Antike entstandene Begriff der Literaturtheorie für Art und Mittel des individuellen formalen Ausdrucks; ,,goût" als aus der physiologischen Wortbedeutung übertragene Bezeichnung für die subjektive Fähigkeit zu Urteil und Kritik. 1 „Style" — als Terminus der klassizistischen französischen Literaturtheorie — erfährt in den eineinhalb Jahrhunderten ihres theoretischen Bemühens keine Wandlung seines Begriffsgehaltes. Die normativen Bestrebungen der Theoretiker sind seit der Herrschaft der Pléiade auf die dichterische Erfindung, die „invention", gerichtet; das formale Element „style" bleibt außerhalb der Betrachtung. 2 Erst Boileau rückt den „style" in den Brennpunkt des Interesses, erhebt ihn an Stelle der „invention" zum Objekt der Doktrin und unterwirft seine Komponenten den „ordres" und „règles" ihrer Gesetzlichkeit.3 1

Der hier gegebene kurze Abriß der Entwicklung des Begriffes „goût" zum „bon goût" als normativem Wertbegriff schließt sich weithin der Auffassung von René Bray an. (Vgl. R. Bray, La formation de la doctrine classique en France, 2. Aufl., Paris 1957.) Die Verwendung des Ausdrucks „goût" als Begriff der Urteilsfähigkeit ist in ihrem Ursprung nicht eindeutig feststellbar. Man vermutet ihn in der spanischen Literaturtheorie; angesichts der beherrschenden Stellung, die der Begriff in der französischen Theorie erhält, ist die Frage nach seiner Herkunft v o n untergeordneter Bedeutung. 2 Auch in der Kunsttheorie, besonders während der Akademieherrschaft Le Bruns, gelten die theoretischen Bemühungen in erster Linie der „invention", während das formale Element demgegenüber eine geringere Rolle spielt. 3 Hierin sieht Bray die Bedeutung Boileaus, nicht in der Bildung der Doktrin selbst. 17

Die fortschreitende Erkenntnis des geschichtlichen Phänomens, welches der heutige Stilbegriff begreift, vollzieht sich indessen im Verlauf der Gehaltsverwandlung des Begriffes „goût".1 Diese durchläuft verschiedene Entwicklungsstufen; sie führt vom Begriff „goût", der das subjektive Urteilsvermögen bezeichnet, zum Begriff „bon goût", der die Fähigkeit zum objektiven, verbindlichen Urteil meint und unablösbar an den „bon sens" gebunden ist, dessen normgebender Funktion sowohl das kunstgestaltende Element, die „règle", wie das kunstkritische Vermögen, der „goût" unterworfen sind.2 Neigungen kommen auf, den „bon goût" aus seiner Abhängigkeit vom „bon sens" zu befreien, die Regeln nunmehr seiner kritischen Funktion zu unterwerfen ; andererseits ergeben sich gerade dadurch Ansatzpunkte für eine Relativierung des Begriffes, da die zeitliche Bedingtheit des „Geschmacks" erkannt wird. Der Zeitpunkt für das Wirken einer neuen Kraft ist gekommen, die, dem „bon goût" übergeordnet, dessen subjektive und zeitliche Bedingtheit gleichermaßen überwindet: die „raison" beginnt an die Stelle des „bon sens" zu treten und seine Aufgaben zu übernehmen. Durch die Bindung des „bon goût" an die „raison" ist die Allgemeingültigkeit eines überhistorischen und objektiven Kunsturteils erneut gewährleistet. Der unterbrochene Prozeß der Verselbständigung und Verabsolutierung des „bon goût" kann sich mit größerer Sicherheit weitervollziehen. Dies geschieht mit solcher Folgerichtigkeit, daß die Kunstgestaltung und Kunsturteil bedingende Aufgabe der „raison" an den „bon goût" selber übergeht und beide Begriffe identisch werden, ja, daß letztlich sogar der „goût" zum übergeordneten Begriff wird und die „raison" sich nunmehr mit einem Teil seines Begriffsgehaltes deckt. Der „bon goût" scheint nun schlechthin absoluter Wertbegriff zu sein, der Qualität im rationalen und aesthetischen Sinne nebeneinander umgreift, nicht, wie zuvor, im kausalen Zusammenhang.3 1

Literatur- und Kunsttheoretiker verwenden den Begriff „goût" jeweils gleichbedeutend in allen Begriffsgehalten. 2 „Bon goût" ist zunächst nur „bon sens" in seiner kritischen Funktion: „Entre bon sens et bon goût il y a la différence de la cause et de son effet." (La Bruyère, zitiert nach Bray, a. a. O., S. 137.) 3 Die Verselbständigung des aesthetischen Qualitätsbegriffes „goût" führt allmählich auch zu einer Anerkennung von Kunstformen, die nicht mehr den strengen Forderungen der Regel entsprechen. Der „grand goût" Le Bruns, die absolute Forderung der akademischen Tradition, wird z. B. zum „goût aimable, élégant, charmé", zur „délectation sensuel" bei Fénélon. Gleichzeitig ist der Begriff „goût" hier bereits in nächste Nähe zum Stilbegriff gerückt, da er mit den für die Bezeichnimg des formalen Ausdrucks gebräuchlichen Epitheta charakterisiert wird. Auch beginnt beim kritischen Urteil der „goût original" die Stelle des „goût réglé" einzunehmen.

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Doch hat sich gleichzeitig die Erkenntnis von der individuellen und zeitlichen Verschiedenheit des „goût" zur Erkenntnis auch seiner nationalen Unterschiede erweitert,1 ein Vorgang von solcher Wirkungskraft, daß sogar die „raison" selbst zeitweilig in den Relativierungsprozeß mit einbezogen wird.2 Diese Erkenntnis von der totalen Relativität des „goût" bewirkt nun zwangsläufig die Erkenntnis von der unabwendbaren, durch diese Relativität bedingten individuellen, zeitlichen und nationalen Verschiedenheit auch der Kunstformen selber. So bildet sich gleichzeitig ein neuer Begriffsgehalt von „goût", der die Eigenart des formalen Ausdrucks einer Kunstepoche begreift,3 ein Vorgang, der sich in der Literatur- und Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts gleichermaßen vollzieht. Nur bleibt dieser Vorgang in der Literaturtheorie von untergeordneter Bedeutung, da diese den Begriff „goût" als Ausdruck für rational bedingte Qualität verabsolutiert und, in enger Bindung an die normative Tradition, die historische Bedingtheit zu überwinden trachtet. Die Kunsttheorie dagegen, die während des Akademiestreits eine Lösung von der Doktrin erstrebt, entwickelt den Terminus „goût" in 1

So u. a. Bohours 1678: „ C h a q u e n a t i o n a son goût en esprit de m ê m e q u ' e n b e a u t é . . ." (zitiert n a c h B r a y , a. a. O., S. 128.) Ogier: „ L e goût varie n o n seulement avec les époques, m a i s avec les n a t i o n s . " (Ebenda, S. 173.) Villiers v e r s u c h t die N o r m a t i v i t ä t der raison m i t d e n historischen E r k e n n t n i s s e n zu vereinen. E r sieht die K u n s t a u s zwei verschiedenen E l e m e n t e n zusammengesetzt — aus einem, das v o n der raison abhängig ist, u n d einem zweiten, welches „est d u ressort d u goût et la c o u t u m e , et qui est p r o p r e à c h a q u e époque e t à c h a q u e n a t i o n " . ( E b e n d a , S. 176). ( G o û t " u n a b h ä n g i g v o n der raison wird v o n i h m als formschaffendes E l e m e n t in der Berechtigung seiner Variabilität begriffen, „ r a i s o n " als ein überhistorisches, unveränderliches, d e m Wesen aller K u n s t i m m a n e n t e s P h ä n o m e n gesehen.) ( E b e n d a , S. 176.) 2 Die E r k e n n t n i s v o n der W a n d e l b a r k e i t des „ g o û t des n a t i o n s " ist v o n der Klimatheorie Godeaus abhängig, die bereits 1630 z u m ersten Mal a u f t r i t t u n d noch d e m f r ü h e n W i n c k e l m a n n zur E r k l ä r u n g der R e l a t i v i t ä t der K u n s t f o r m e n d i e n t . Von Godeau wird selbst die raison als ein von diesen Bedingungen abhängiges Elem e n t b e t r a c h t e t , d a Menschen, die u n t e r einem b e s t i m m t e n Klimaeinfluß leben, anders „raisonnieren" als Menschen, die u n t e r entgegengesetzten Einflüssen leben. (Vgl. B r a y , a. a. O., S. 174.) Der französische Klassizismus gilt in der c o m m u n i s opinio der F o r s c h u n g als der P r o t o t y p einer absolut n o r m a t i v u n d d o k t r i n ä r gerichteten E p o c h e . E s wird viel zu wenig b e a c h t e t u n d ist noch n i c h t im Z u s a m m e n h a n g u n t e r s u c h t worden, wie die Bestrebungen der Liberalität v e r b u n d e n mit d e n E r k e n n t n i s s e n der historischen R e l a t i v i t ä t sich als ein ungebrochener Strom d u r c h d a s ganze 17. u n d 18. J a h r h u n d e r t ziehen u n d n u r v o n immer wieder a u f t r e t e n d e n B e m ü h u n g e n , N o r m u n d D o k t r i n erneut zu fixieren, zu zeitweiliger L a t e n z v e r u r t e i l t werden. 3 Der „ g o û t a n c i e n " u n d der „ g o û t m o d e r n e " als zeitliche Unterschiede werden z u m „ g o û t de l ' A n t i q u i t é " , z u m „ g o û t g o t h i q u e " , z u m „ g o û t f r a n ç a i s " etc.

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seinem historisch-formalen Gehalt weiter und bildet so allmählich das Erkenntnisphänomen, das als „Stilbegriff" in der Hand Winckelmanns der Geschichts- und Wesenserforschung der Kunst neue Möglichkeiten auftun sollte. Dieses Erkenntnisphänomen „Stil" erfährt seine endgültige und entscheidende gedankliche Ausprägung in den noch immer zu wenig gewürdigten kunsttheoretischen Schriften des Grafen Caylus. Caylus ist es auch, der die Übertragung des Terminus „style", des Begriffs für individuellen formalen Ausdruck in der Literaturtheorie, in die Kategorie der bildenden Kunst ermöglicht und damit die Voraussetzung auch für die terminologische Bildung des kunsthistorischen Stilbegriffs schafft. Graf Caylus ist, soweit ich sehe, der erste französische Kunsttheoretiker, der den Begriff „style" zur Erklärung eines Faktors im Bereich der bildenden Kunst verwendet. Die Ausdruckseigenart der Künstlerpersönlichkeit, die spezifische Art und Weise formaler Gestaltung wurde in der Kunsttheorie mit dem Ausdruck „manière" bezeichnet. Der Begriff „manière" war jedoch im Laufe der Entwicklung bereits mit leisen negativen Vorzeichen versehen worden und hatte eine Abwandlung seines Gehalts im Sinne von Gewohnheit, Einförmigkeit und gedankenloser Nachahmungsweise erfahren, 1 konnte also das von ihm zu Begreifende nicht mehr in der angemessenen Weise ausdrücken. Auch Caylus definiert den überkommenen Begriff „manière" als „une suite nécessaire du dessein et une dépendance de l'habitude". 2 Das Moment der bloßen Gewohnheit, das auch Roger de Piles in ihm sah, widerstreitet jedoch dem Element des Aktiven, der individuellen Ausdruckskraft, das der Begriff bei Caylus mit enthalten soll. Darum sieht sich Caylus zum erläuternden Vergleich mit dem Begriffsgehalt des literarischen Terminus „style" gedrängt: „La manière peut être comparée au style" 3 , eine 1 Roger de Piles ist einer der ersten Gegner der „manière", die er als Einförmigkeit und Gewohnheit der Erfindung versteht, hervorgerufen durch die Bindung der Erfindung an die Regeln der Doktrin. Ein „manièriste" ist für ihn ein Künstler, der z. B. gleiche Köpfe, gleiche Ausdrücke etc. in einem Bild wiederholt. (Vgl. A. Fontaine, Les doctrines d'Art en France, Paris 1909, S. 139f.) Eine ähnliche Definition gibt Mariette: „une espèce de routine qui s'était convertie en manière et qui lui faisait envisager tout sous le même point de vue . . . " (zitiert nach Fontaine, a. a. O., S. 187.) 2 Auch Winckelmann versteht Manier im ähnlichen Sinne: ,, . . . dieser . . . Stil ist auch . . . manieriert zu nennen," d. h. „ein beständiger Charakter in allerlei Figuren." (G. d. K „ III, S. 362) ; (vgl. auch G. d. K. III, S. 353 und S. 361 ; G. d. K . II, S. 160; Empf., S. 147 u. a. m.) 3 Caylus, Recueil d'Antiquitées égyptiennes, etrusques, grecques et romaines, Paris 1752-1767, T. I I I , p. X X . (künftig nur Caylus)

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Erkenntnis, die auf seiner Interpretation des literarischen Stilbegriffs gründet, den er als „plusieurs façons de s'énoncer dans les productions de l'esprit" bestimmt; ,,on leur donne les epithètes de bonnes . . . de dures, d'aisées etc.". 1 Ohne Schwierigkeit, sagt Caylus, kann man den verschiedenen Schreibstil der Nationen erkennen, denn jeder, der z. B. die Alten studiert hat, kennt „leur tour, leur façon de parler, leurs mots favoris, enfin leur style". 2 In gleicher Weise können die künstlerischen Arbeiten der Griechen oder jedes anderen Volkes unterschieden werden „par celui, qui sait dessiner".3 Hier wird deutlich, wie die Heranziehung des Terminus „style" zur Erforschung der bildenden Kunst auf einer grundsätzlichen Auffassung Caylus' vom Wesen der Künste beruht: die Abhängigkeit der Künste von der Zeichnung; die Linie als eintertium comparationis von Schrift und bildenden Künsten wird zum Anlaß, den Begriff „style" auch auf die Kunstbetrachtung anzuwenden.4 So wie die Schrift, „leur forme présentera l'idée de celui qui les a écrits", 5 dient die Zeichnung dazu, die Eigenart des Gestaltenden zu erkennen. So wie Schreibenkönnen das Mittel zum Begreifen von Geschriebenem ist, gibt Zeichnenkönnen die Möglichkeit, ein Kunstwerk zu erfassen, seine Besonderheiten zu erkennen und letzten Endes durch Vergleich seinen historischen Standort zu bestimmen. Auch dieser Vergleich, dessen Methode Caylus eingehend erläutert, entlehnt seine Mittel dem Bereich der Handschriftenkunde. Die gleichen Mittel, die dazu dienen, die verschiedenen Schriftarten Europas in ihrer nationalen und zeithchen Zugehörigkeit zu bestimmen, ermöglichen es, 1

Caylus, T. III, p. X X . In dieser Definition ist der Begriff „style" (als Kunst- und Schreibstil) auch in die Grande Encyclopédie eingegangen. (Vgl. dort Bd. 30, S. 558ff.) 2 Caylus, T. III, p. X X I . 3 Ebenda. 4 Diese Auffassung vom Zusammenhang zwischen Schrift und Zeichnung als Grundlage der bildenden Künste ist noch in der modernen Aesthetik v o n Bedeutung. Vgl. Hamann, Das Wesen des Plastischen. I n : Aufsätze über Aesthetik, Marburg 1948, S. 67: „Eine produktive Beziehung zwischen motorischer Funktion und darzustellendem Bild übt schließlich heute jeder Kulturmensch im Schreiben aus . . . Von dieser ausübenden Tätigkeit des Schreibens her begreifen wir heute das Plastische vielleicht am ehesten in der Form der Linie, also als Umrißzeichnung . . . Wir können die Linie das einfachste plastische Gebilde nennen . . . Von der Schrift her wohnen der gezogenen Linie, also der Umrißzeichnung, stärkere bewegungsanregende Tendenzen inne als etwa dem bloßen Rande einer gleichmäßig gefärbten Gestalt." 5 Caylus, T. III, p. X X I . 21

„les différentes manières de la peinture et de la sculpture" 1 zu erkennen; sie sind „aussi sûres, que celles, qui nous apprennent l'âge d'un manuscrit" 2 ;" . . . des hommes . . . acquièrent aisément une habitude, ou si l'on veut, une connoissance suffisante pour dire sans se tromper... ; cette écriture est Espagnole, Italienne, Françoise" 3 . Diese Fähigkeit zur Unterscheidung der Kunstwerke, die jeden Archäologen erst zum wahren „connoisseur" werden läßt, ist eines der Hauptanliegen des Grafen Caylus. Das geschulte Auge vermag beträchtliche Unterschiede zu entdecken, wo sich der gemeine Blick vollkommener Ähnlichkeit gegenüber wähnt.4 Andererseits enthüllen sich ihm aber auch die Ordnungen und Zusammenhänge in der Vielzahl der Kunstwerke, er erkennt ihre verschiedenen Klassen und vermag sie sicher gegeneinander abzugrenzen. Denn die Künste „portent le caractère des nations qui les ont cultivés"5. „Les monuments", so erklärt er genauer, „présentés sous ce point de vue, se distribuent d'eux-mêmes en quelque classes générales, relatives au pays qui les ont produits ; et dans chaque classe ils se rangent dans un ordre relatif au temps, qui les a vû naître. Cette marche développe une portion intéressante de l'esprit humain, je veux dire l'histoire des Arts." 6 So führt die Zeichnung zum Vergleich und die Übung des Vergleichs zur Erkenntnis der historisch bedingten Verschiedenheit der Kunstformen, zur Kenntnis — in unserem Sprachgebrauch — der National- und Epochenstile. Diese Kenntnis der Stile, einmal gewonnen, ermöglicht es der Wissenschaft im Gegenzug, jedes begegnende Werk dem begrenzten Raum seiner historischen Bedingungen, seines notwendigen Ursprungs zuzuweisen. Denn der Künstler, sagt Caylus, „s'attache en vain à copier la nature telle, qu'il la voit: il le veut; il croit y parvenir: sa nation, ses entours, son habitude particulière le séduisent, l'aveuglent"7. Die Erfassung des umgreifenden Caylus, p. X X I I . Ebenda, T. I, p. I X . 3 Ebenda, T. I I I , p. X X I I . 4 ,, . . . des yeux éclairés par le dessein, remarquent des différences considérables, où le commun des yeux ne voit qu' une ressemblance parfaite." (Caylus, T. I, p. V I I I f.) s Ebenda, T. II, p. I. • Ebenda, T. I, p. I X . Kunstgeschichte als Geistesgeschichte — ein Zeugnis für die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutimg Caylus', der in seinen theoretischen Anweisungen für Archäologen (seine Vorreden zu den einzelnen Kapiteln des Recueil tragen den Charakter eines methodischen Lehrbuches für Archäologen) Wege weist, die z . T . erst viele Generationen später von der Forschung beschritten wurden. 7 Ebenda, T. I I I , p. X X I I . In solchen Bemerkungen von Caylus dürfte der erste Keim zur Konzeption einer Geschichte des Sehens liegen, die in der neueren Kunstwissenschaft so bedeutsam geworden ist. 1 2

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Allgemeinen in allen seinen Stufen schafft zugleich die Voraussetzung zur Sonderung des individuell Besonderen. Auf diese Weise erschließt man am Objekt der Betrachtung „son pays, son école . . . jusqu' à sa main en particulier, quand on a la pratique de sa manière"1, d. h. den Begriff seines Stils. Das heißt : die volle Erkenntnis des Stilphänomens ist zugleich das Resultat und die Grundlage der vergleichenden Betrachtung, der „comparaison des objets". Jacob Burckhardt nennt in seinem „Cicerone" Winckelmann den Mann, „welchem die Kunstgeschichte vor allen anderen den Schlüssel zur vergleichenden Betrachtung, ja ihr Dasein zu verdanken hat". Die vergleichende Stilbetrachtung, die grundlegende Methode der modernen Kunstwissenschaft, hat jedoch Caylus bereits dargelegt; er hat ihre Voraussetzungen und Ziele eingehend entwickelt, unverkennbar in dem Bewußtsein, ihr Entdecker zu sein. Wie viele Entdecker auf dem Gebiete des Geistes bleibt er jedoch in der Theorie befangen und verzichtet darauf, seine neuen Erkenntnisse in seinen eigenen praktischen Ausführungen konsequent zur Anwendung zu bringen. [Erst in Winckelmanns Schriften gelangt die neue Methode zur terminologischen Auswirkung und zur praktischen Verwendung.] Die Erkenntnis der nationalen und zeitlichen Verschiedenheit des Kunstschaffens konzentriert sich bei Caylus noch nicht in dem Terminus „Stil", sondern noch im Begriff „goût".2 Die Nationen haben ihren je eigenen „goût", der sich in seinem Wesen eindeutig bestimmen3 und ebenso in seiner historisch bedingten Variabilität genau erfassen läßt.4 Der Zusammenhang von Kunst und Geschichte ist für Caylus schon so eng, daß das Kunstwerk nicht nur als Produkt, sondern geradezu als Dokument und Manifestation 1

Calus, T. III, p. X X I I . Der Terminus „style" wird von Caylus kaum in seinen Ausführungen angewandt, sondern nur zur Bestimmung seines manière-Begriffes herangezogen. 3 ,,Le goût d'un peuple diffère de celui d'un autre peuple presqu'aussi sensiblement que les couleurs primitives diffèrent entr-elles au lieu que les variétés du goût dès nations en différents siècles peuvent être regardées comme des nuances très-fines d'une même couleur . . ." (Caylus, T. I, p. VIII.) „Le dessein fournit les principes, la comparaison donne le moyen de les appliquer, et cette habitude imprime de telle sorte dans l'esprit le goût d'une nation, que, si en faisant fouiller, on découvrait un monument étranger au pays où l'on est, onpourroit conclure, sans craindre de se tromper, qu'il est sorti des mains d'un Artiste, qui luimême étoit étranger." (Ebenda, T. I, p. V l l f . ) 4 „ . . . le goût d'un pays étant une fois établi, on n'a plus qu'à le suivre dans ses progrès, ou dans ses altérations; c'est le moyen de connoître . . . celui de chaque siècle." (Ebenda, T. I, p. VIII.) , , . . . e n examinant les précieux restes des Anciens, on peut concevoir une idée sûre de leur goût." (Ebenda, T. II, p. I.) 2

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des überzeitlichen Geistes einer Nation 1 , andererseits der epochalen politisch-sozialen Verhältnisse erscheint. Die vergleichende Analyse des Kunstwerks dient daher nicht nur zur Erhellung ihrer speziellen Ordnungen und Entwicklungen, sondern darüber hinaus zur Rekonstruktion der allgemeinen Geschichte. Da die Monumente „présentent le tableau des moeurs et de l'esprit d'un siècle et d'une nation," ist es „possible d'en tirer conjectures solides pour l'Histoire, le caractère des Princes et pour les révolutions dans les Gouvernements" 2 . Daher gilt aber auch umgekehrt, daß sich die Forscher, um ein Kunstwerk genau zu bestimmen und ganz zu verstehen, mit ihren Methoden der fraglichen Epoche anzupassen haben 3 und gut daran tun, die Gesamtheit der historischen Gegebenheiten, auch die politisch-sozialen Verhältnisse, in Rechnung zu stellen: ,,. . .il faut assortir ses idées aux moeurs, au gouvernement et au climat de la Nation dont on croit reconnoître le monument; on peut même étendre ses réflexions jusqu' à la situation politique et morale du pays." 4 Das historische Phänomen Stil ist von Caylus in seiner vollen Bedeutung erkannt worden, auch wenn er das Phänomen als Zeit- und Nationalstil noch unter dem Terminus „goût" begreift. So wie der Begriff „manière" bei Caylus in seiner Deutung durch den ,,style"-Begriff die formale Eigenart des gestalteten Kunstwerks wie auch die aktive gestaltende K r a f t des einzelnen Künstlers bedeutet, umfaßt sein Begriff „goût" im übergeordneten Sinne sowohl die formale Eigenart der historisch geschiedenen Werke als auch die alle Formwerdung bedingenden geschichtlichen Kräfte, denen auch die Aktivität der Künstlerpersönlichkeit unterworfen ist: „. . . à étudier fidèlement l'esprit et la main de l'artiste, à se pénétrer de ses vûes, à le suivre dans l'exécution, en un mot : à regarder ses» monuments comme la preuve et l'expression du goût qui régnoit dans un siècle et dans un pays." 5 Zur Ver1 „On ne distingue pas mieux le génié de ses peuples, leurs moeurs, la tournure de leur esprit, s'il est permis de parler ainsi, dans les livres que dans les ouvrages de sculpture et peinture." (Ebenda, T. II, p. I.) Auch hier nimmt Caylus Auffassungen voraus, die bekanntlich von Herder bis in die Gegenwart eine große Rolle in den historischen Wissenschaften gespielt haben. 2 Ebenda, T. III, p. VI. 3 Wiederum eine Erkenntnis, die sich engstens mit noch heute akuten Problemen der Kunstforschung berührt. Vgl. u. a. B. Schweitzer, Formproblem und Wissenschaft. I n : „Das Problem der Form in der Kunst des Altertums", Handbuch der Archäologie, hrsg. v. W. Otto, Bd. I, München 1939. 1 Caylus, T. III, p. I X . 5 Ebenda, T. I, p. VII.

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Schmelzung auch dieses Sinngehaltes mit dem Terminus „style" zu einem übergeordneten Begriff ist nur noch ein Schritt. Denn auch das Element Zeichnung ist bei Caylus in dem Begriff ,,goût" enthalten. 1 Der gemeinsame Gehalt der Begriffe „manière" und „goût" bei Caylus — in ihrer Bedeutung als Gestaltungskraft, Gestaltungsweise und Eigenart der Form — wird von Winckelmann endgültig unter der übergeordneten Bezeichnung ; ,Stil" zusammengefaßt . Indessen wird der Begriff „goût" von Caylus auch in seiner unhistorischaesthetischen Bedeutung verwendet, als Begriff für ein freies, regelgelöstes, aesthetisch bestimmtes Qualitätsurteil und als Terminus für die Befähigung zum Kunstschaffen überhaupt. Aesthetische Qualität ist bei ihm in keiner Weise an einen bestimmten und fixierten Schönheitsbegriff gebunden. Zwar sind die Griechen für ihn „une nation si pleine du Goût", und es ist sein besonderes Anliegen, die Qualität gerade der griechischen Kunstwerke den modernen Künstlern als Vorbild hinzustellen, andererseits sind ihm auch die Werke der alten Ägypter Beweise höchster künstlerischer Qualität. Für Caylus waren die alten Ägypter als Volk im Besitz des „goût" als der Voraussetzung für aesthetische Betätigung überhaupt, und sie haben „par l'élévation et la noblesse de leur pensées, . . . inspirés aux . . . Grècs un goût sûr et décidé pour les Sciences et les Arts" 2 . Zwar haben sie die „ordres" nicht gekannt, weil sie nicht der Proportion unterworfen waren, sagt Caylus, aber sie waren Erfinder und haben das geschaffen, was ihrem eigenen Wesen entsprach.3 Der Begriff „goût" bedeutet also bei Caylus einmal die aesthetische Befähigung überhaupt, zum anderen die historisch gebundene spezifische Stiltendenz und deren Ausformung in den Werken eines Volkes und einer Zeit.4 Gerade die Abschnitte des Recueil über die Kunst der Ägypter verraten das tiefe Verständnis Caylus' für das Verhältnis von Volkstum, Kunst und Geschichte. 1 „Sur le dessein, relativement au goût d'un siècle et d'une nation", sagt Caylus (T. III p. VII). Nur „des yeux éclairés par le dessein" können die Wandlungen des nationalen und zeitlichen „goût" feststellen (T. I, p. VIII), die gleiche Bedingung ist also nötig für die Unterscheidung der Eigentümlichkeiten, die in der Individualität des Künstlers begründet sind, wie für jene, die seiner zeitlichen und nationalen Zugehörigkeit entstammen. Zeichnung als das Mittel zur formalen Entäußerung der gestaltenden K r a f t des Subjekts ist zugleich das Mittel der übergeordneten Gestaltungskraft „goût". 1 Caylus, T. I, p. 2f. 3 Ebenda, T. I, p. 3f. 4 „Le goût pour la solidité" der Ägypter (T.I,p.5), ihr „goût national" (T.I,p. 6) im Gegensatz z. B. zum goût „de la figure" der Griechen (T. I, p. 122). „Goût" also mit dem Begriffsgehalt (nämlich als die das Kunstschaffen bestimmende Macht), wie er sich im Verlauf der klassizistischen Epoche herausgebildet hatte, nun aber gemäß den jeweiligen Bedingungen der Geschichte relativiert.



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2. Die Bedeutung der Begriffe „Stil" und ,,Geschmack" in Winckelmanns Kunsttheorie I m Gegensatz zu der dominierenden Bedeutung des Begriffes „goût" in der französischen Literatur- und Kunsttheorie findet der Begriff „Geschmack" bei Winckelmann eine relativ geringe Verwendung. Die Anwendung beider Begriffe — Stil und Geschmack — in Winckelmanns kunsttheoretischen Schriften ist an die Entwicklung seiner kunsthistorischen Betrachtungsweise gebunden. „Geschmack" ist der überwiegende Terminus in Winckelmanns aesthetischen Schriften vor dem Erscheinen seiner Kunstgeschichte. Dort wird er dann von dem Terminus „Stil" fast völlig verdrängt. Die Bedeutungsüberschneidung beider Begriffsgehalte, wie sie — durch die Entwicklung in der französischen Theorie bedingt — so häufig wurde, tritt bei Winckelmann kaum in Erscheinung. 1 Der Gehalt des Begriffes „Geschmack" erfährt jedoch durch Winckelmann eine Umprägung und erhält seine Hauptbedeutung im Zusammenhang mit Winckelmanns Nachahmungslehre. Winckelmanns Begriff „Geschmack" umfaßt die beiden von der französischen Theorie entwickelten Gehalte des Begriffes „bon g o û t " : er bedeutet ihm nicht nur das an eine bestimmte Gesetzlichkeit gebundene, Urteilsvermögen wie Kunstschaffen bedingende Organ, sondern auch den absoluten Qualitätsbegriff, wie er sich im Verlauf der klassizistischen Entwicklung herausgebildet hatte. Dieser Qualitätsbegriff, der sich in Frankreich von der Bindung an die Doktrin zu lösen trachtete und dort allmählich zum historisch-relativierten aesthetischen Kriterium geworden war, wird von Winckelmann erneut einer Norm unterworfen, indem er die Regeln der Vernunft durch die Regeln der Schönheit ersetzt. Die Regeln selber aber, die im französischen Klassizismus der „bon sens" des Menschen der Gegenwart gebildet hatte, 2 sucht Winckelmann im schon gestalteten, geschichtlichen Vorbild auf: der antiken Plastik. Der „goût de l'Antiquité", in Frankreich zur Bezeichnung der formalen Eigenart einer historisch bestimmten Kunstepoche geworden, wird für Winckelmann zum „Geschmack" schlechthin, zum Begriff überhistorisch-absoluter aesthetischer und norma1 Christ z. B. verwendet in seiner Cranachmonographie den Begriff „Geschmack" mit dem historischen, den Stilbegriff eng berührenden Gehalt. Der „goût" Cranachs, sagt Christ u.a., sei um ein merkliches gotischer als derjenige Dürers. Ebenso unternimmt Christ den ersten Versuch einer Periodisierung der deutschen Kunst. 2 Die Bindung an die aristotelische Lehre ist nur der Ausgangspunkt für die klassizistische Doktrin. Bray weist nach, wie der Aristotelismus allmählich durch den neuen Rationalismus überwunden wird. (Bray, a. a. O., S. 122ff.)

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tiver Gültigkeit: der „Geschmack" der Antike übernimmt die Funktionen des „bon goüt", er wird also zum alleinigen Maßstab für die Erkenntnis der Schönheit und zur Doktrin für die erneut gebundene Kunstgestaltung. Nur sind die Gesetze dieser Doktrin nicht mehr intellektuell gebildet und an die Vernunft gebunden, sondern in der formalen Schönheit einer historisch gegebenen Kunstwelt bereits Gestalt geworden. Winckelmanns Begriff „Geschmack" bezeichnet also die Wesenheit der antiken (speziell griechischen) Kunstform als Inbegriff der Schönheit, die von solcher Schönheit bestimmte absolute Qualität und den einzigen Orientierungsort für künstlerisches Urteil und künstlerisches Schaffen. Winckelmann verwendet diesen Begriff zunächst in so doktrinärer Absicht, wie es in Frankreich nicht mehr möglich gewesen wäre, nachdem die historischen Erkenntnisse die „ordres" immer mehr außer Kraft gesetzt hatten. Dieser normative Begriff „Geschmack" dient Winckelmann als Grundlage seiner Nachahmungslehre. Der „wahre gute Geschmack" des Griechentums, „den diese Nation ihren Werken gegeben", soll das Mittel werden zu der von Winckelmann erstrebten Erneuerung des gesamten zeitgenössischen Kunstschaffens, zur „Nachahmung" der Griechenkunst im totalen Sinne. Es ist ein letzter Versuch zur Überwindung der historischen Relativität, den Winckelmann mit Hilfe seines Geschmacksbegriffes unternimmt. 1 Sublimierung des Urteilsvermögens der Betrachterschaft, Erziehung des subjektiven Geschmacks als Organ zur „Empfindung des Schönen" 2 , Determinierung des Kunstschaffens durch die Bindung von Urteil und Gestaltungskraft des Künstlers an die antike Norm sind die Anliegen Winckelmanns, die er mit Hilfe des „guten Geschmacks" zu verwirklichen hofft. In seiner Kunstgeschichte hat sich Winckelmann der Erkenntnis von der Unüberwindbarkeit der historischen Wirkkraft „Stil" gebeugt. Sein Geschmacksbegriff hat durch diese Erkenntnis seine Bedeutung verloren. Der Begriff „Geschmack", sofern er in der Kunstgeschichte zur Anwendung gelangt, ist den allgemeinen historischen Bedingungen unterworfen. Er fungiert nur noch als Qualitätsbegriff mit der Schönheit als Inbegriff. Die Gestaltwerdung der Schönheit jedoch und damit die „Geschmacks"-Äußerung einer Kunstepoche wird von Winckelmann nur noch als Einzelphase 1

„Wenn der Geschmack des Altertums der Künstler Regel in Absicht der Form und der Schönheit nicht sein soll, so wird gar keine anzunehmen sein . . . ja aus jeder Figur würde man das Vaterland des Künstlers ohne Belesenheit erraten können." ( E „ S. 146f.) 2 „Geschmack" als „Empfindung des Schönen" auch in der Gr. Encyclop (Bd. 19, S. 68fT.). I m übrigen vgl. Kap. VI. 27

innerhalb des historischen Ablaufes einer Kunstepoche begriffen.1 So wird letztlich der Begriff „Geschmack" als Qualitätsbegriff von Winckelmann mehr und mehr nur den aktiven, „Stil" gestaltenden Kunstperioden beigeordnet und der Begriff „schlechter Geschmack" als Bezeichnung der „stil-losen", d. h. nichtaktiven, verfallenden Zeiten im Kunstverlauf verwendet. 2 Hierin liegt zugleich ein bedeutendes Merkmal von Winckelmanns Stilbegriff.3 Der Terminus „Styl" wird erstmalig von Winckelmann in seiner Kunstgeschichte regelmäßig angewandt; er ist bereits in seiner „Vorrede zur Geschichte der Kunst" anzutreffen, ohne Hinweis auf seine Herkunft, ohne Erklärung seiner Bedeutung. 4 Das historische Moment selbst gelangt in der „Kunstgeschichte" zum ersten Mal zur Wirkung, während alle vorangehenden Schriften der normativen Aesthetik des griechischen Kunstschönen ausschließlich gewidmet waren. Der Winckelmann dieser frühen Schriften versuchte die normative Aesthetik noch einmal zu absoluter Macht zu erheben, die alle historische 1 die erste E r f i n d u n g einer K u n s t v e r h ä l t sich . . . zu d e m Geschmack in derselben, wie d a s S a m e n k o r n zu der F r u c h t . " (S., S. 66.) Allerdings bleibt „ G e s c h m a c k " a u ß e r d e m a u c h noch — wie bei Caylus — die Bezeichnung f ü r die aesthetische Befähigung zu Gestaltung u n d R e z e p t i o n überhaupt. 2 Die römische K u n s t z. B., die n a c h W i n c k e l m a n n keinen „ S t i l " gebildet h a t , wird s t e t s a u c h wegen ihres i m m e r schlechter werdenden Geschmacks getadelt, der „schlechte G e s c h m a c k " der Griechen selbst a m E n d e ihrer historischen K u n s t e p o c h e n v o n W i n c k e l m a n n festgestellt. Die Begriffe „ S t i l " u n d „ G e s c h m a c k " t r e t e n hier in enge Wechselbeziehung. „ S t i l " wird z u m K r i t e r i u m f ü r „ G e s c h m a c k " , die Voraussetzung ist gegeben, a u c h d e n historischen Begriff „ S t i l " in einer U m k e h r u n g der Ü b e r t r a g u n g m i t aesthetischem Gehalt zu erfüllen. Dies geschieht endgültig d u r c h Goethe, welcher d e n T e r m i n u s „ S t i l " selbst z u m aesthetischen Wertbegriff erhebt. Dieser Gehalt h a f t e t d e m Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch noch h e u t e a n (Vgl. Goethe, E i n f a c h e N a c h a h m u n g , Manier, Stil, 1788.). Dieser aesthetische Gehalt a u c h des Begriffes „ S t i l " war jedoch schon einmal in der französischen Theorie vorbereitet worden, zu einem Z e i t p u n k t , a n d e m die Begriffe „ s t y l e " u n d „ g o û t " in eine ähnliche enge K o r r e l a t i o n getreten waren, ala nämlich Boileau die kritische F u n k t i o n des ,,bon g o û t " a u c h auf d e n Schreib-,,style" ausgedehnt h a t t e . Qualitativ höchster „ s t y l e " wurde z u m „ g o û t " schlechthin, die Voraussetzung war geschaffen, a u c h d e n Begriff „ s t y l e " selbst letzten E n d e s z u m Qualitätsbegriff zu erheben. 3 E i n e kurze A b h a n d l u n g über d e n Begriff „ G e s c h m a c k " bei W i n c k e l m a n n von H . Weber, Ztschr. f. d t . Wortforschg., 1908/09 S. 17ff. u n t e r s u c h t d e n Begriff bei W i n c k e l m a n n in seiner E i g e n s c h a f t als subjektives u n d allgemeines Urteilsvermögen n u r v o n der K a n t i s c h e n Position aus u n d m i t K a n t i s c h e n M a ß s t ä b e n u n d gelangt v o n hier a u s zu d e m Urteil, d a ß W i n c k e l m a n n in keiner Weise versucht .habe, das „ P r o b l e m des Wesens des Geschmackes" zu lösen, d. h. die Frage, ob ein objektives Urteil einer Gesamtheit möglich sei oder nicht. 4 Vgl. Vorrede zur G. d. K . , S. 10.

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Relativität überwinden sollte. Der Winckelmann der Kunstgeschichte ist Historiker geworden, mit der gleichen Unbedingtheit und Konsequenz, mit der er zuvor seine normativen Ideen verfochten hatte. Es wird noch zu verfolgen sein, wie gerade die Wechselwirkung der polaren Faktoren, normative Aesthetik und historische Relativität, sein theoretisches Bewußtsein jeweilig zu bestimmen vermochte, so daß Winckelmanns Werk - in der Notwendigkeit des Widerspruchs und der spannungshaften Bezogenheit des Widerstreitenden — doch als Einheit vor uns zu erstehen vermag. Winckelmanns Stilbegriff meint einmal den formalen „Stil" des Künstlerindividuums. Wie Caylus begreift ihn Winckelmann aus dem Zusammenhang von Zeichnung und Schrift heraus.1 Gleichzeitig ist jedoch der Terminus „Stil" bei Winckelmann von Anbeginn mit dem ausgeprägten historischen Gehalt erfüllt, wie er von Caylus als Erkenntnisphänomen unter dem Terminus „goüt" entwickelt worden war.2 Winckelmanns Stilbegriff umfaßt also den Individual-Stil des Künstlers, die Kraft zur Gestaltung, die Eigenart sowohl des einzelnen Kunstwerks als auch der nationalen Kunstepochen und die Formkraft der geschichtlichen Mächte, die den Künstler als Gestaltenden und das Kunstwerk als Gestaltetes gleichermaßen bestimmt. 3 Diesen Stilbegriff verwendet Winckelmann nun als Werkzeug zunächst seines historischen Wissensdranges, denn „die systematische Kenntnis" des Stils eines Volkes „von den einfältigsten Gestaltungen bis zur Blüte" in „verschiedenen Stufen und Zeiten"4 wird ihm Zweck und Ziel seiner Bemühungen. Sein aesthetischer Erkenntnisdrang bleibt daneben von gleicher 1

„Die Hand des Meisters erkennt sich, so wie in der Schreibart an der Deutlichkeit und kräftigen Fassung der Gedanken . . ." (B., S. 212f.) Die Nähe Winckelmanns zu Caylus wird auch sichtbar in der Methode, die Ähnlichkeit der Schriftform der Campaner und Hetrurier als Erklärung für die stilistische Ähnlichkeit ihrer Kunstformen zu benützen. (G. d. K., III., S. 377.) Der Ausdruck „Manier" wird auch von Winckelmann noch gelegentlich an Stelle des Begriffes „Stil" gebraucht. ( G . d . K . II, S. 163; VIII, S. 241; I X , S. 413; Empf., S. 270.) 2 Schon Justi bemerkt, daß Winckelmann den Grafen Caylus unter den Vorgängern seiner Kunstgeschichte zu nennen unterlassen habe. Die Zuschreibung der Verdienste u m die Bildung und Einführung des Stilbegriffs in die Kunstgeschichte hat Winckelmann auf sich gelenkt. (Vgl. zu dem Problem: Winckelmann und sein Ruhm auch W. Rehm, Winckelmann und Lessing, Berlin 1941, S.37.) 3 Winckelmann gibt so gut wie keine Definition seines Stilbegriffes; dessen umfassende, vielfältige Bedeutung wird nur in der Anwendung sichtbar. Einmal nur definiert er ihn—ohne Individual- und Zeitstil zu berücksichtigen—als „Eigenschaften und Kennzeichen der Kunst" eines Volkes überhaupt. ( G . d . K . III, S; 349.) 4 „Diejenigen (Werke), welche ich mit Stillschweigen übergangen habe, w e r d e n . . . entweder nicht dienen zur Bestimmung des Stils oder einer Zeit in der Kunst . . ." (Vftrr., S. 27.); (vgl. auch G. d. K. III, S. 350; Vorr., S. 10 und S. 40.)

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Intensität, löst sich jedoch allmählich von den ursprünglich damit verbundenen normativen Bestrebungen ab. Historischer und aesthetischer Erkenntniswille in beständiger Korrelation verbinden sich im Verlauf von Winckelmanns Entwicklung zu Ansätzen eines phänomenologischen Erkenntnisstrebens, das ihm bedeutsame Anschauungen vom Wesen der Kunst und des Kunstwerks vermittelt. Wie schon angedeutet, hat für Winckelmann nicht alles Gestaltete in irgendeinem Sinne „Stil". Der Stilbegriff erhält einen gewissen, wenngleich historisch-relativen, qualitativen Gehalt. „Stil" tritt sowohl beim einzelnen Künstler als auch in der Gesamtentwicklung einer Kunstepoche erst in Erscheinung, wenn „die Kunst bereits ihre Form erlangt hatte und in ein System gebracht war."1 Ebenso will Winckelmann den „Stil der Nachahmer", z.B. den der Römer, nicht eigentlich mit der Bezeichnung „Stil" benannt wissen.2 „Stil" wird zugleich Kriterium künstlerischen Ranges und Attribut bestimmter geschichtlicher Entwicklungsphasen. Kunst wird zum „Stil", sobald sie aus dem formlosen „Nachahmen" als ungeistigem ersten Bildungsversuch in den Bereich des bewußten Formschaffens und somit in den Wirkungsbereich der geschichtlichen Formkraft Stil getreten ist. Ebenso verliert die Kunst die Benennung „Stil", wenn sie aus dem Bereich der selbsttätigen geistigen Schöpfung3 in ihrer historischen Bedingtheit in den geist- und formlosen und damit unhistorischen Prozeß der „Nachahmung" übergegangen ist. Wirkliche Kunst als ursprüngliche und geistige Zeugung ist also nur unter dem Einwirken der historischen Formkraft Stil möglich, die der geistigen Schöpfung zur äußerlich-materialen Formwerdung verhilft.4 Die Spontaneität und Unbedingtheit, mit der Winckelmann sich zur Erkenntnis des historischen Phänomens „Stil" bekannt hat, hat ihm den Ruhm, diesen Begriff als erster mit dem historischen Gehalt erfüllt und in die Kunsttheorie eingeführt zu haben, nicht zu Unrecht eingetragen, trotz 1

G. d. K. VIII, S. 172. „Der irrige Begriff eines römischen Stils". (G. d. K. VIII, S. 276.) „Die römischen Künstler sind als Nachahmer der Griechen anzusehen und haben also keine besondere Schule und keinen eigenen Stil bilden können." (G. d. K. VIII, S. 265.) da der Fall in der Kunst kein Stil in derselben ist, . . ." (G. d. K. III, S. 350.) 3 Über den Zusammenhang von Geist und Form siehe Kap. III. 4 Der Begriff „Stil" bei Winckelmann umfaßt nicht nur die formalen Elemente des Kunstwerks, sondern auch die geistigen. Dies beruht auf der umfassenden Leistung des Konturs der Plastik, der formale und geistige Aussagen in Einem vermitteln kann. (Vgl. Kap. V.) 2

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der vorangehenden Erkenntnisse des Grafen Caylus. Es bleibt eines der rätselhaftesten Phänomene im Charakter Winckelmanns, mit welchem Elan und mit welcher Konsequenz er sich seinen historischen Forschungen anheimgegeben hat, der Kunstgeschichte als einer seinen anfänglichen und so absoluten normativen Bestrebungen völlig entgegengesetzten Erkenntnisweise, die letzten Endes seine erste und höchste Absicht — die Erneuerung der abendländischen Kultur durch die Nachahmung der griechischen Werke — in seiner eigenen Erkenntnis zur Utopie werden läßt.

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III. DER PLASTISCHE GESTALTUNGSAKT 1. Der plastische Gestaltungsakt an sich und in seiner räumlichen Gebundenheit Winckelmanns Aesthetik1 ist nicht auf die Lehre vom Wesen des Schönen im gestalteten Kunstwerk beschränkt; ihre Fragestellungen und Aussagen umgreifen vielmehr die Probleme von Werden, Sein und Wirken des Kunstwerks in ihrem Zusammenhang und suchen hieraus das Phänomen Kunst in seiner Ganzheit für die Erkenntnis zu erschließen.2 Im Zentrum dieses Erkenntnisstrebens stehen die Fragen nach dem Wesen des künstlerischen Aktes, nach den Faktoren und Verfahrensweisen, die die Erzeugung der geistigen und konkreten Form des Kunstwerks bewirken. Die französische kunsttheoretische Tradition war diesen Fragen überwiegend in programmatisch-didaktischer Absicht nachgegangen, ohne sich auf die Erforschung des Phänomens eigentlich einzulassen. Auch Winckelmanns Bemühen, sich diesem Fragenkreis zu nähern, ist zunächst mit normativen Absichten verbunden. Im Gegensatz zur rationalen Didaktik des französischen Klassizismus jedoch leitet Winckelmann die Gesetze des künstlerischen Aktes aus dem schon gestalteten, geschichtlich einmaligen Kunstwerk ab: der Plastik der griechischen Antike.3 Die aesthetische Voll1

Winckelmanns Aesthetik wird vorwiegend in denjenigen seiner Schriften entwickelt, die zeitlich vor seiner Kunstgeschichte entstanden sind; sie gipfelt jedoch im 4. und 5. Buch der „Geschichte der Kunst des Altertums", die als aesthetische Abhandlungen in die eigentlich historische Darstellung eingeschoben sind. 2 Winckelmann betont, daß die Erkenntnis vom „Wesen der Kunst" sein „vornehmster Endzweck" sei. (U. a. Vorr., S. 9.) 3 Hierin zeigt sich ein weiterer prinzipieller Unterschied zwischen Winckelmanns Kunsttheorie und den Theorien des französischen Klassizismus. Diese beschäftigten sich überwiegend mit den Darstellungsgesetzen der Malerei, die nur insofern auch für die Plastik gültig zu sein schienen, als der Unterschied zwischen beiden Kunstarten lediglich in der verschiedenen äußeren Erscheinungsform gesehen wurde. Malerei z. B. als „Nachahmung der Natur" durch Farben, Bildhauerei als „Nach-

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kommenheit dieser Werke erweckt in ihm den Drang, auch ihrem Werdeprozeß nachzuspüren und aus der eingehenden Analyse der dabei wirksamen Faktoren das Wesen des künstlerischen Schöpfungsaktes zu erkennen. Zwar übernimmt Winckelmann viele Begriffe des französischen Klassizismus dem Wortlaut nach, doch erfüllt er sie mit ganz spezifischen Sinngehalten, so daß die überlieferte Terminologie durch ihn neue Aussagekraft gewinnt. 1 Die folgenden Möglichkeiten des künstlerischen Gestaltens: „imiter la nature", — „corriger la nature" durch „choisir de la nature le plus beau", — Erzeugung der „beauté idéale" als „ordre intellectuel, créé en nous même" — wurden von den verschiedenen Strömungen der französischen Tradition jeweils einzeln zum Programm erhoben. In Winckelmanns Aesthetik dagegen haben sie sämtlich ihre Berechtigung und bilden zusammen einen Stufenweg im platonischen Sinne. Jede dieser Verfahrensweisen : Nachahmung der schönsten Natur, — synthetische Bildung aus den schönsten Details, — rein geistige Formerzeugung ohne direktes Naturvorbild — erfüllt in diesem Stufenweg eine besondere Aufgabe: die Versinnlichung je e i n e r Möglichkeit des menschlichen Seins, das für Winckelmann in seiner ganzen Spannweite nur in der plastischen Kunst „Gestalt" werden kann. Alle drei Arten der Kunstgestaltung gelten ihm als legitime Verfahrensweisen des plastischen Künstlers. In jedem Falle setzt sich der künstlerische a h m u n g der N a t u r " d u r c h erhabene Arbeit (Vgl. dazu u. a. B a t t e u x , Die Schönen K ü n s t e , d t . Ü b e r t r a g , v. 1751, S. 19). W i n c k e l m a n n dagegen vintersucht vornehmlich d e n plastischen Gestaltungsakt. Malerei u n d P l a s t i k sind f ü r i h n g r u n d sätzlich unterschiedene K ü n s t e : P l a s t i k ist f ü r i h n wesensmäßig Seinsgestaltung, der plastische F o r m p r o z e ß ist d a r u m f ü r W i n c k e l m a n n ein w a h r h a f t e r Schöpfungsa k t . Malerei dagegen wird v o n W i n c k e l m a n n überwiegend als der D i c h t u n g nahestehende E r z ä h l k u n s t b e t r a c h t e t . I h r E n t s t e h u n g s p r o z e ß unterscheidet sich f ü r i h n nicht wesentlich v o m Vorgang des Zeichnens, z u m a l er d e m M o m e n t der F a r b g e b u n g wenig B e d e u t i m g beimißt. Der Gestaltungsprozeß der Malerei wird v o n W i n k k e l m a n n nicht gesondert u n t e r s u c h t . Soweit sie d a s Moment des reinen zeichnerischen F o r m e n t w u r f s betreffen, sind die Gesetze der plastischen Gestaltung a u c h auf die Malerei a n w e n d b a r , allerdings a u c h d a n n n u r , w e n n die Malerei die D a r stellung der „ p l a s t i s c h e n " menschlichen Gestalt z u m Vorwurf h a t u n d n i c h t n u r I n h a l t e erzählt. Die allgemeinen aesthetischen F o r d e r u n g e n Winckelmanns, z . B . n a c h Originalität des Künstlers, gelten selbstverständlich ebenso f ü r d e n Maler wie f ü r d e n Plastiker, wenngleich z. B. von d e n allegorischen Malern Originalität des I n h a l t s m e h r gefordert wird als Originalität der F o r m . (Näheres über diese U n t e r scheidungen W i n c k e l m a n n s zwischen Malerei u n d P l a s t i k siehe K a p . V.) 1 So ist in gewissem Sinne a u c h Winckelmanns vielzitiertes W o r t v o n der „edlen E i n f a l t u n d stillen G r ö ß e " schon v o n Caylus v o r w e g g e n o m m e n : „ c e t t e noble simplicité", sagt dieser (T. I, p. X I ) , „la manière noble et simple d u bel a n t i q u e " (T. I , p. X I I I ) ; W i n c k e l m a n n aber ist es, der d e m aesthetischen Sinngehalt des Wortes den sittlichen hinzugefügt h a t .

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Akt aus den gleichen Paktoren zusammen, nur das Verhältnis dieser Faktoren zur Wirklichkeit ist jeweils ein anderes. a) Die Faktoren des künstlerischen Aktes und ihre Funktionen Im plastischen Gestaltungsakt wird durch die schöpferische Kraft ein totes Material dem „Bilde" eines Urbildes nachgestaltet.1 Das zu gestaltende Rohmaterial wie auch das nachzugestaltende Urbild werden von Winckelmann gleichermaßen in dem Ausdruck „Materie" begriffen.2 „Materie" als Urbild ist für das plastische Kunstwerk die menschliche Gestalt — die „Idee" des Menschen in der Erscheinungsform der Natur.3 „Materie" als Rohmaterial entspricht als kubische Masse dem körperlich-plastischen Sein der menschlichen Gestalt, sie setzt der künstlerischen Formung größeren oder geringeren Widerstand entgegen. Der plastische Gestaltungsakt vollzieht sich für Winckelmann in zwei streng voneinander geschiedenen Phasen: einem geistigen und einem manuellen Vorgang. Im geistigen Schöpfungsakt werden Prinzip und Form des Urbilds aus der Wirklichkeit in die geistige Vorstellung des Künstlers übertragen, die Form des Kunstwerks wird zunächst als geistige Form entworfen. Nach diesem geistigen Formentwurf wird im „manuellen", zweiten Gestaltungsvorgang die rohe „Materie" geformt. Die „Hand" des Künstlers, ausführendes Organ des formentwerfenden Geistes, muß den „harten Gegen1 Der Terminus „Urbild" bedeutet die konkrete Form des künstlerischen Vorwurfs in der Wirklichkeit. 2 Der Begriff „Materie" in dieser doppelten Bedeutung ist für Winckelmanns Theorie von großer Wichtigkeit. E r fußt auf der Vorstellung von der dualistischen Struktur des Daseins aus Idee und Wirklichkeit. Aller erschaffenen Form — also auch der menschlichen Gestalt — wohnt „Idee" als geistiges Formprinzip inne. Andererseits kann „Idee" nur in der Stofflichkeit der Materie zur sinnlichen Anschaubarkeit gelangen. Das Verhältnis von Idee und Materie wird in Winckelmanns Aesthetik und in seiner historischen Kunstbetrachtung verschieden gewertet. Während es in Winckelmanns Erkenntnissen von der Geschichtlichkeit der Kunst bejaht und als notwendig anerkannt wird, ist es in seiner Aesthetik im neuplatonischgnostischen Sinne negativ akzentuiert, wie im folgenden noch deutlich wird. 3 „Da nun der Mensch allezeit der vornehmste Vorwurf der Kunst und der Künstler gewesen ist . . . " (G. d. K . I , S. 125.) „Der höchste Vorwurf der Kunst für denkende Menschen ist der Mensch." (B., S. 207.) Die Bedeutsamkeit dieser Ansicht Winckelmanns von der menschlichen Gestalt als höchstem Urbild für die Plastik wird erst aus der Gesamtheit seiner Aesthetik offenbar, da sie — trotz scheinbarer Bindung an die Tradition — auf einer umfassenderen Erkenntnis beruht, als sie z. B . der Hierarchie der Genres im französischen Klassizismus zugrunde liegt.

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stand der Materie" überwinden, seine kubische Eigenform zur Form des geistigen Bildes umgestalten. (Doch stets nur insoweit, „als die Fähigkeit der Materie" zur Formung es erlaubt, diese darf „nicht übertrieben" werden.1) Durch den Prozeß der Formwerdung wird die tote Stofflichkeit der Materie zum Leben erweckt und durch die schöpferische Kraft des Künstlers „geistig gemacht" 2 . Diesem „manuellen" Gestaltungsakt geht der Prozeß der „geistigen" Formerzeugung voraus, der sich im „Innern" des Künstlers vollzieht. Dieser geistige Schöpfungsvorgang wird von Winckelmann als der wesentlichste Akt der künstlerischen Leistung begriffen; „Verstand" und „Einbildung" des Künstlers sind die wichtigsten seiner Faktoren. Der geistige Schöpfungsakt im Innern des Künstlers wirkt als Medium zwischen Urbild und Stoff. Er bewirkt die Umsetzung des „wirklichen" Urbildes im „Verstände" des Künstlers zur geistigen Form, welche danach in die haptische Form der Materie übertragen wird. Die Form des Urbildes wird zunächst durch die äußeren Sinne des Künstlers aufgefaßt. Die dieser Form immanente Idee wird sodann vom „Verstand" des Künstlers „erkannt und begriffen" 3 , d . h . als Prinzip der Formen und ihrer Relationen aus der Materie abstrahiert und im Verstand des Künstlers zum „Begriff" gebildet. 4 Diese Leistung des „Verstandes" — des für Winckelmann wesentlichsten künstlerischen Organs überhaupt — leitet die erste Phase des künstlerischen Aktesein. Die „Idee" des Urbildes ist vom Künstler „begriffen worden" und als eigenes geistiges Formprinzip seinem Innern erworben. Dieser „Begriff" ist die Voraussetzung für den nun erfolgenden Prozeß der geistigen Formerzeugung. Erst nachdem die Form des Kunstwerks im Geiste des Künstlers als Ganzes entworfen ist, kann sie im manuellen Gestaltungsprozeß — wiederum über die Sinne des Künstlers — in das neue Außen der materialen Form übertragen werden. Die materiale Kunstform gibt das getreue Abbild 1

Gr., S. 222. „Scheint es unbegreiflich, außer dem Haupte, i n , e i n e m anderen Teil des Körpers eine denkende Kraft zu zeigen: so lernet hier, wie die Hand eines schöpferischen Meisters die Materie geistig zu machen vermögend ist." (T., S. 230f.). „Die großen Künstler der Griechen . . . suchten den harten Gegenstand der Materie zu überwinden, und . . . dieselbe zu begeistern." (G. d. K. V, S. 85.) 3 G. d. K. IV, S. 56. 4 Die „Idee' ist immer einem Außen immanent und muß v o m Künstler jeweils neu erworben werden, im Gegensatz zum „Ideal", welches er, wie noch zu zeigen ist, selbsttätig bilden kann. „Idee" als Formprinzip kann verschiedene graduell gestaffelte Bedeutungen haben. Das höchste Formprinzip ist die „Idee der Schönheit". Winckelmann spricht von der „schönsten Idee" (G. d. K. VII, S. 162), v o n der „Idee des unverhüllten Schönen" (G. d. K. X I I , S. 299), v o n den „Ideen schöner Körper" im Gegensatz zu den „gewöhnlichen Ideen" (G. d. K. V, S. 95), v o n der „Idee eines Fauns", „Ideen der Haarbehandlung" u. a. m. 2

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der geistigen Form, während diese das Urbild zuweilen naturgetreu wiedergibt, zuweilen in seinen Formen abwandelt. Die Erzeugung der geistigen Form bewirken „Einbildung" und „Verstand" des Künstlers gemeinsam. Die Einbildung entwirft den geistigen Vorwurf in einer bildhaften Gestalt, die ihre lineare Form vom „Denken" des künstlerischen Verstandes empfängt. 1 Der Kontur als der „erste Gedanke" des Künstlers wird in seiner tiefen geistigen Bedeutung, die ihm Winckelmann beimißt, schon hier offenbar. Als erster geistig-linearer Entwurf der Form bindet er diese auch dann noch an den geistigen Bereich, wenn diese Form zur plastisch-haptischen Wirklichkeit geworden ist. Er ist der höchste „Begriff" der plastischen Form, die dadurch trotz ihrer haptischen Plastizität optisch und geistig begriffen werden kann. 2 Diese geistige Erzeugung des Kunstwerks im Verstände des Künstlers bedeutet für Winckelmann das wesentlichste Kriterium des Künstlerischen 1

, , . . . Linien u n d Umschreibungen der Figuren, die in des Meisters ersten Ged a n k e n , wie diese selbst, eine aus der a n d e r e n fließen u n d geschrieben heißen k ö n n e n . " (G. d. K . V I I I , S. 172.)] „ D e n n so wie ein einziger Zug die Bildung des Gesichts v e r ä n d e r t , so k a n n die A n d e u t u n g eines einzigen Gedankens, welcher sich in der R i c h t u n g eines Gliedes ä u ß e r t , d e m Vorwurfe eine a n d r e Gestalt geben u n d die Würdigkeit des K ü n s t l e r s dart u n . " (B., S. 204.) „Die Bekleidung ist . . . gegen das N a c k e n d e wie die Ausdrücke der Gedanken, das i s t : wie die Einkleidung derselben gegen die Gedanken selbst." (G. d. K . V I , S. 431.) „ . . . so wie in Raffaels ersten E n t w ü r f e n seiner Gedanken der U m r i ß eines K o p f s , j a ganze Figuren, m i t einem einzigen, unabgesetzten Federstrich gezogen . . . " (G. d. K . I I I , S. 401.) Der geistig-lineare E n t w u r f — die „ Z e i c h n u n g " — verbindet Malerei u n d Plastik a n der gemeinsamen Wurzel, bevor sich beide K ü n s t e in G e s t a l t k u n s t u n d E r z ä h l k u n s t spalten. Die „ b i l d e n d e " F u n k t i o n des Verstandes, das „ D e n k e n " , wird a u c h in der K u n s t b e t r a c h t u n g wirksam, sobald der B e t r a c h t e r z. B. vor einem Torso s t e h t , den er in seinen „ G e d a n k e n " f o r m a l e r g ä n z t : „Auf diesem . . . K ö r p e r erhebt sich in einem jeden bildenden Verstände, welcher sie (die S t a t u e ) b e t r a c h t e t , ein H a u p t . . . " (G. d. K . X I I , S. 297.) ,, . . . so f a n g e n sich a n in meinen Gedanken die übrigen m a n g e l h a f t e n Glieder zu b i l d e n : . . . " ( T „ S. 231.) „O, m ö c h t e ich dieses Bild in der Größe u n d Schönheit sehen, in welcher es sich d e m V e r s t ä n d e des K ü n s t l e r s geoffenbart h a t , u m n u r allein v o n d e m Überreste sagen zu können, was er gedacht h a t u n d wie ich denken sollte!" (T., S. 232.) 2 „ D e r edelste K o n t u r vereinigt u n d umschreibt alle Teile der schönsten N a t u r u n d der idealischen Schönheiten in d e n Figuren der Griechen; oder er ist vielmehr der höchste Begriff in beiden." (G., S. 24); vgl. A. v. H i l d e b r a n d t , D a s P r o b l e m der F o r m , 7. u. 8. A u f l . S t r a ß b u r g 1908, S. 71 f. F ü r H i l d e b r a n d t gewinnt eine P l a s t i k erst d a n n „künstlerische F o r m " , wenn sie „als ein Flaches wirkt, obschon sie kubisch i s t " .

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überhaupt, unabhängig von dem Grad an Vollkommenheit, in welchem die geistige Form manuell in die konkrete Kunstform übertragen wird. Im vollkommenen Künstler sind zwar geistige und manuelle Formerzeugung gleichwertig; niemals kann „manuelle" Fertigkeit jedoch einen Mangel an „Verstand" ersetzen, da sich für Winckelmann der eigentliche künstlerische Akt bereits im Innern des Künstlers vollendet.1 Die Übertragung des geistigen Formentwurfs in die Gegenständlichkeit der Materie, die dieser Formung widerstrebt, verunklärt die Reinheit und Ursprünglichkeit der künstlerischen Eingebung durch die „Mühe", die die „Überwindung" der Materie im manuellen Gestaltungsakt fordert.2 Der Nachvollzug des künstlerischen Aktes durch den Kunstbetrachter offenbart in den „Wirkungen" — d. h. den Produktionen des künstlerischen Verstandes — gleichzeitig das Kriterium für die Originalität des Künstlers. Diese zählt zu Winckelmanns wichtigsten künstlerischen Forderungen. Das „eigene Denken", das „eigene Begriffe bilden" gehört notwendig zum wahrhaft künstlerischen Gestalten. Unkünstlerisch ist dagegen das „gedankenlose" Nachahmen, d. h. die „mechanische" Übertragung vorgegebener 1 Der geistige Nachvollzug des künstlerischen Aktes durch den Kunstbetrachter bildet darum ein Hauptstück in Winckelmanns Kunsterziehung. Denn nur in diesem Nachvollzug kann der Betrachter den wahren künstlerischen Wert des Kunstwerks erfassen. „Willst Du über Werke der Kunst urteilen, so siehe anfänglich darüber hin über das, was sich durch Fleiß und Arbeit anpreist, und sei aufmerksam auf das, was der Verstand hervorgebracht hat: denn der Fleiß kann sich ohne Talent zeigen, und dieses erblickt man auch, wo der Fleiß fehlt." (B., S. 203.) „Bewundere niemals, weder am Marmor die glänzende sanfte Oberhaut; noch an einem Gemälde die spiegelnde glatte Fläche; jene ist eine Arbeit, die dem Tagelöhner Schweiß gekostet hat, und diese dem Maler nicht viel Nachsinnen." (B., S. 213.) „Die Vorstellung einer jeden Statue sollte zwei Teile haben: der erste in Absicht des Ideals, der andere nach der K u n s t . " (T., S. 226.) D. h. zuerst soll das „Ideal", der selbständig gebildete geistige Formentwurf im Kunstwerk erkannt und gewürdigt werden, danach erst die „ K u n s t " , d. i. die artifizielle Fähigkeit des Künstlers zur manuellen Gestaltung. Der Begriff „ K u n s t " in dieser Bedeutung ist von dem Terminus „ K u n s t " , unter dem Winckelmann auch das totale Phänomen begreift, streng zu unterscheiden. 2 „ D a wir nun oft an Zeichnungen deutlicher als an ausgeführten Gemälden den Geist der Künstler, ihre Gedanken, nebst der Art, dieselben zu entwerfen, wie auch die Fertigkeit wahrnehmen, mit welcher die Hand ihrem Verstände zu folgen und zu gehorchen fähig gewesen ist . . . " (G. d. K . III, S. 396f.) Uber Modelle in Ton und Zeichnung: „Denn so wie der Vorsprung des ausgepreßten Rebensaftes der edelste Wein ist, eben so erscheint dort in der weichen Materie und auf dem Papiere der reinste und wahrhaftigste Geist der Künstler; dahingegen in einem ausgeführten Gemälde und in einer geendigten Statue das Talent in dem Fleiße . . . verkleidet wird." (G. d. K . I, S. 91 f.)

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Formen des Urbildes auf das Material auf nur manuelle Weise, ohne daß die Formen des Kunstwerks zuerst als geistige Formen im Verstände des Künstlers erzeugt worden sind.1 „Kenntnis" und „Wissen" des Künstlers sind für Winckelmann an der eigentlichen künstlerischen Leistung des Verstandes, der Erzeugung der geistigen Form, nicht beteiligt, sondern betreffen ausschließlich den manuellen, äußeren Gestaltungsprozeß. Winckelmann bezieht in beide Begriffe nicht nur alle Arten der technischen Ausführung oder anatomisches Wissen ein, sondern auch Maß und Proportion — im überlieferten Sinne — als außerhalb der geistigen Gestaltung liegende, nur „mechanische" Mittel zur konkreten Formgebung.2 Nur der geistige Gestaltungsprozeß, der als 1

„ G i b A c h t u n g , ob der Meister des Werks, welches D u b e t r a c h t e s t , selbst g e d a c h t oder n u r n a c h g e m a c h t h a t ; " (B., S. 203.) „ N a c h m a c h e n ohne zu d e n k e n i s t : eine Madonne v o n M a r a t t a . . . u n d andere F i g u r e n anderswo n e h m e n u n d ein Ganzes m a c h e n . . . " (B., S. 206.) „Gegen das eigene D e n k e n setze ich d a s N a c h a h m e n , n i c h t die N a c h a h m u n g : u n t e r j e n e m verstehe ich die knechtische Folge, in dieser a b e r k a n n d a s Nachgea h m t e , w e n n es m i t V e r n u n f t g e f ü h r t wird, gleichsam eine andere N a t u r a n n e h m e n , u n d etwas Eigenes w e r d e n . " (B., S. 206.) „ N a c h m a c h e n n e n n e ich ferner, gleichsam n a c h einem gewissen F o r m u l a r arbeit e n , ohne selbst zu wissen, d a ß m a n n i c h t d e n k t . " (B., S. 206f.) „Seine Bilder sind edel, aber n a c h seinen eigenen Begriffen entworfen, so d a ß er m e h r als die vorigen, ein Original heißen k a n n . " (Empf., S. 266.) Der verschiedene Sinngehalt des Begriffes „ N a c h a h m u n g " bei W i n c k e l m a n n sei s c h o n hier kurz e r l ä u t e r t : „ N a c h a h m u n g " b e d e u t e t f ü r ihn 1. Alle K u n s t g e s t a l t u n g (Malerei oder Plastik), die ihren Vorwurf a u s der organischbelebten N a t u r bezieht, im Gegensatz zu d e n „scientifischen" K ü n s t e n , die n u r n a c h geistigen Prinzipien gestalten (Architektur, G e f ä ß k u n s t etc.). (Über die etruskischen K ü n s t l e r : „Bei aller dieser Ungeschicklichkeit in Zeichnung der Figuren w a r e n " sie „ z u der Wissenschaft der Zierlichkeit der F o r m e n in ihren Gef ä ß e n gelangt, das i s t : sie h a t t e n das, was bloß idealisch u n d scientiflsch ist, erk a n n t , d a sie hingegen in dem, wo die N a c h a h m u n g u n s f ü h r t , u n v o l l k o m m e n geblieben w a r e n . " ) (G. d. K . I I I , S. 354.) 2. E i n e n Modus der plastisch-anthropomorphen K u n s t g e s t a l t u n g , die sog. „ n a t u r a listische" Verfahrensweise. 3. Bloßes F o r m k o p i e r e n im Gegensatz zur w a h r h a f t künstlerischen „originalen" F o r m g e s t a l t u n g . Die in B., S. 206 gebrauchte terminologische U n t e r s c h e i d u n g v o n „ N a c h a h m u n g " als positiver K u n s t g e s t a l t u n g u n d „ N a c h a h m e n " als Kopier e n wird v o n W i n c k e l m a n n n i c h t eingehalten u n d ist z u d e m sehr unglücklich gewählt. I n d e n meisten Fällen wird d a h e r a u c h das negative F o r m k o p i e r e n v o n W i n c k e l m a n n u n t e r d e m Terminus „ N a c h a h m u n g " begriffen. 2 „Die Zeichnimg des N a c k e n d e n g r ü n d e t sich auf die K e n n t n i s u n d auf Begriffe der Schönheit, u n d diese Begriffe bestehen teils in Maßen u n d Verhältnissen, teils in F o r m e n , . . . diese bilden die Gestalt, u n d jene b e s t i m m e n die P r o p o r t i o n . " (G. d. K „ I V , S. 45.)

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eigentlicher künstlerischer Akt der konkreten Formgebung vorausgeht, vermag den bildenden Künstler wahrhaft als „Schöpfer" zu offenbaren,1 als Schöpfer eines Daseins in einem Prozeß, welcher dem Schöpfungsakt der Natur ebenbürtig ist, ja, wie wir noch sehen werden, diesem sogar übergeordnet sein kann. b) Die möglichen Verfahrensweisen des bildenden Künstlers Die Erkenntnis vom Wesen der drei künstlerischen Verfahrensweisen bildet sich bei Winckelmann erst allmählich heraus. Seine ursprüngliche Ansicht vom Verfahren plastischer Gestaltung überhaupt ist die sogenannte „naturalistische" Kunstauffassung. Unter dieser Voraussetzung betrachtet Winckelmann zunächst die antiken Werke und leitet aus ihnen die Erkenntnis von der „schöneren Natur" des griechischen Menschen ab, die dem griechischen Künstler Urbild für das plastische Menschenbild war.2 Dieses W. spricht über die Proportion, als „über einen abgesonderten Begriff und außer dem Geistigen in der Schönheit . . . " (G. d. K . V, S. 226.) Die Begriffe „Kenntnis" und „Wissen" sind in Winkelmanns Aesthetik fast negativ akzentuiert, da der eigentlichen Ausführung des Kunstwerks relativ geringe Bedeutung beigemessen wird. In Winkelmanns geschichtlicher Darstellung vom „Werden" der Kunst kommt beiden Begriffen eine weit größere Bedeutung zu. 1 „Die großen Künstler der Griechen, die sich gleichsam als neue Schöpfer anzusehen hatten . . . " (G. d. K . V, S. 85.) 2 „ E s war ein Glück für die alten Griechen und für ihre Künstler, daß ihre Körper eine gewisse jugendliche Völligkeit h a t t e n ; " (E., S. 138f.) „ . . . die Griechen erlangten diese Bilder, wären auch dieselben nicht von schönern Körpern genommen gewesen, durch eine tägliche Gelegenheit zur Beobachtung des Schönen in der Natur . . . " (G., S. 21.) „Die Körper erhalten durch diese Übungen den großen und männlichen Kontur, welchen die griechischen Meister ihren Bildsäulen gegeben." (G., S. 11.) ,, . . . denn da an griechischen Statuen die Knöchel . . . eckig genug angemerkt sind . . . so ist es sehr wahrscheinlich, daß sie die Natur also gebildet unter sich gefunden haben." (E., S. 139). „Diese Statuen mußten sehr genau nach eben der Stellung, in welcher der Sieger den Preis erhalten hatte, gearbeitet werden . . . ist nicht hieraus zu schließen, daß die Künstler alles nach der Natur gearbeitet haben?" ( E „ S. 139.) „Es bietet sich hier allezeit die Wahrscheinlichkeit von selbst dar, daß in der Bildung der schönen griechischen Körper, wie in den Werken ihrer Meister, mehr Einheit des ganzen Baues, eine edlere Verbindung der Teile, ein reicheres Maß Fülle gewesen, ohne magere Spannungen und ohne viele eingefallene Höhlungen unserer Körper." (G„ S. 20.) Diese Grundauffassung wird für Winckelmann in Verbindung mit dem auf ihr basierenden panegyrischen Griechenbild zum Anlaß für seine Nachahmungslehre, über welche im Zusammenhang noch zu sprechen ist. Naturgetreue Kunstgestaltung bedeutet für Winckelmann jedoch niemals Nachbildung auch des Unschönen oder Charakteristischen, sondern immer nur Nachgestaltung des Schönen, HarmonischNatürlichen. 4

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Verfahren, das die Formen des Urbildes naturgetreu wiedergibt, wird von Winckelmann „Nachahmung" genannt. Auch für diese formgetreue „Nachahmung" der Natur gelten die Gesetze des künstlerischen Aktes. Die sinnliche Einfühlung der rezeptiven Organe in die Formen des Urbilds ermöglicht der abstrahierenden Kraft des künstlerischen Verstandes, die der jeweiligen Naturform immanente Idee als geistiges Formprinzip zu „begreifen". Das Bild der geistigen Form wird durch die Einfühlung der „Einbildung" des Künstlers in die Gestalt des Urbilds entworfen; die „Gedanken" des Künstlers umgreifen dieses Bild zugleich mit dem geistigen Kontur. Erst dann wird die Materie dieser geistigen Kunstform nachgestaltet. Die Forderung nach wahrer,,Nachahmung" als gänzlicher geistiger Neuschöpfung wird erfüllt, obwohl das Kunstwerk dem Urbild formgetreu entspricht: Wirklichkeit ist in Kunstform umgewandelt; die „Idee" der „schönsten Natur" ist aus der vergänglichen organischen Materie befreit und in der anorganischen und widerstandsfähigeren Materie der Kunstform zu überzeitlicher Anschaubarkeit gelangt. 1 Diese ursprüngliche Auffassung Winckelmanns von der Art und Weise plastischer Gestaltung wird jedoch schon in den „Gedanken" selber erweitert durch Ansätze zu seiner sogenannten „idealistischen" Kunstauffassung, die ihre Geschlossenheit allerdings erst im Verlauf seiner folgenden Schriften gewinnt. In dieser erweiterten Auffassung vom Wesen des plastischen Gestaltungsprozesses untersucht Winckelmann eine zweite Verfahrensweise, die der „Nachahmung", der sogenannten „naturalistischen" Gestaltung übergeordnet ist. Auch dieser zweite Weg des künstlerischen Verfahrens wird von Winckelmann aus den griechischen Statuen abgeleitet. In seiner Analyse wirkt sich der neuplatonische Gedanke von der Verstellung der Idee durch die Materie stärker aus; die Kunstform mit ihren transzendenten Bezügen wird der Wirklichkeit übergeordnet: „Höchster Endzweck" und „vornehmste Absicht" der plastischen Kunst ist für Winkkelmann die Gestaltung der „schönsten Idee". Diese „eine" Idee ist als „Begriff der höchsten Schönheit" in Gott und wird von ihm durch die Schöpfung in der Materie versinnlicht.2 Die Unvollkommenheit und „Teil1 Die auf diese Weise erzeugte Kunstform bleibt in ihren Wirkungsmöglichkeiten der Wirklichkeit verhaftet, während durch die beiden höheren Verfahrensweisen die Wirkung der Kunstwerke in die Transzendenz erweitert wird. Über den Grad an Wirklichkeit, der sich i m Gehalt der auf so verschiedene Weise erzeugten Kunstformen ausdrückt, siehe Kap. V und VI. 2 „ . . . den höchsten Vorwurf nach der Gottheit, ich meine die Schönheit . . . " (G. d. K. IV, S. 44). Die Schönheit der höchste „Begriff der Menschlichkeit". (G. d. K. IV S. 46).

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barkeit" der Materie verhindert jedoch die Identität der Idee mit den Formen der Wirklichkeit. Diese Identität — das „Ideal" — ist daher in der Natur in den seltensten Fällen gegeben. 1 Es ist darum die Aufgabe der plastischen Kunst als einer zweiten Schöpfungsinstanz, in der Kunstform dieses „Ideal" zu gestalten, denn „der Geist vernünftig denkender Wesen hat eine eingepflanzte Neigung und Begierde, sich über die Materie in die geistige Sphäre der Begriffe zu erheben, und dessen wahre Zufriedenheit ist die Hervorbringung neuer und verfeinerter Ideen." 2 Aus diesem Grunde wurden die griechischen Künstler veranlaßt, „noch weiter zu gehen" und die Grenzen der formgetreuen „Nachahmung" der schönen Natur zu durchbrechen: „sie fingen an, sich gewisse allgemeine Begriffe von Schönheiten sowohl einzelner Teile als auch ganzer Verhältnisse der Körper zu bilden, die sich über die Natur selbst erheben sollten: ihr Urbild war eine bloß im Verstände entworfene geistige Natur." 3 „Dieser Auszug der schönsten Formen wurde gleichsam zusammengeschmolzen, und aus diesem Inbegriffe erstand wie durch eine neue geistige Zeugung eine edlere Geburt. . ."* Dieser zweite Weg — von Winckelmann auch „weise Nachahmung" genannt — verfährt in einer Art synthetischer Abstraktion. Ist der Künstler durch die Unvollkommenheit der „Matèrie" verhindert, durch „Ideen hoher Schönheit" der — ganzen — Körper angereizt zu werden, 5 so vermag die schöpferische Kraft seines Verstandes den Begriff des schönen Körpers als Synthese vieler Einzelideen, die er aus den schönsten Details abstrahiert, selbst zu erzeugen. Die „Einbildung" des Künstlers orientiert sich an den ,,Da aber nur ein einziger Begriff der Schönheit, welcher der höchste und sich immer gleich ist . . . kann gedacht werden . . ." (G. d. K. VIII, S. 216.) ,, . . . die Schönheit, die den großen Künstlern erschien und sich fühlen, begreifen und bilden ließ . . . Ich aber schlug mein Auge nieder . . . wie diejenigen, denen der Höchste gegenwärtig erschienen war, weil ich diesen in jener zu erblicken glaubte." (G. d. K. IV, S. 46.) „Die höchste Schönheit ist in Gott! und der Begriff der menschlichen Schönheit wird vollkommen, je gemäßer und übereinstimmender derselbe mit dem höchsten Wesen kann gedacht werden, welches uns der Begriff der Einheit und Unteilbarkeit von der Materie unterscheidet." (G. d. K. IV, S. 60.) 1 „Die Natur aber und das Gebäude der schönsten Körper ist selten ohne Mängel . . ." (G. d. K. IV, S. 68.) Die , .Vollkommenheit, für welche die Menschheit kein fähiges Gefäß sein kann . . . " (G. d. K. IV, S. 59.) „Die sorgfältigste Beobachtung der Natur muß also allein nicht hinlänglich sein zu vollkommenen Begriffen der Schönheit . . ." (E., S. 141.) 2 G. d. K. V, S. 85. 3 G., S. 17. 4 G. d. K. V, S. 85. 5 G. d. K. III, S. 143. 4

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„Bildungen" der einzelnen Formen und subsumiert sie dem „Begriff" des Ganzen; das „Ideal" ist also keine eklektische Addierung von Formen, sondern originale geistige Schöpfung des Künstlers.1 Diese Gestaltung des Ideals in der konkreten Kunstform — Winckelmann hebt diese Bedeutung des Begriffs „Ideal" im Gegensatz zu seinem überlieferten Sinngehalt besonders hervor2 — offenbart die plastische Gestaltung als einen der Schöpfung der Natur übergeordneten Schöpfungsakt, weil man „hier in dem Einen den Inbegriff desjenigen findet, was in der ganzen Natur ausgeteilt ist". 3 Die „Materie", deren Teilbarkeit und Widerstand die Anschaubarkeit der Idee in der Naturform verhindern, wird in der „idealischen" Kunstgestaltung wahrhaft „überwunden". Nicht nur der Rohstoff „Materie" wird im künstlerischen Akt geformt, sondern auch das Urbild „Materie", der Mensch, wird erst im Kunstwerk zur gottgewollten vollkommenen Gestalt erschaffen. Die Idee der höchsten Schönheit, in der Schöpfung zur Natur mit Notwendigkeit durch die Materie verstellt, wird erst in der höheren „Natur" der Kunstform zum anschaubaren „Ideal". Die „idealische" Schönheit., die durch ihre Allgemeingültigkeit der individuellen Schönheit übergeordnet ist und „alle einzelne Schönheiten . . . in Eins und in einem 1 „Die Nachahmung des Schönen in der Natur ist entweder auf einen einzelnen Vorwurf gerichtet, oder sie sammelt die Bemerkungen aus verschiedenen einzelnen und bringt sie in Eines . . . Dieses aber ist der Weg zum allgemeinen Schönen und zu idealischen Bildern desselben; und derselbe ist es, den die Griechen genommen haben." (G., S. 21.) „Diese Wahl der schönsten Teile und deren harmonische Verbindung in einer Figur brachte die idealische Schönheit hervor . . . sodaß das Ideal nicht in allen Teilen der menschlichen Figur besonders stattfindet, sondern nur allein von dem Ganzen der Gestalt kann gesagt werden." (G. d. K . I V , S. 70). „Das Ideal ist bloß zu verstehen von der höchsten möglichen Schönheit einer ganzen Figur, welche schwer in der Natur in eben dem hohen Grade sein kann, in welchem einige Statuen erscheinen, . . . " (G. d. K . IV, S. 70f). (Vgl. auch G. d. K . I V , S. 62, § 25.) 2 „ . . . die idealische Schönheit, . . . welche also kein metaphysischer Begriff ist . . . " „ . . . man könnte glauben, daß, wenn vom Ideal die Rede ist, dasselbe nur allein im Verstände könne gebildet werden." (d.h. ohne die Möglichkeit seiner sinnlichen Inkarnation in der konkreten Form.) (G. d. K . I V , S. 70.) 3 G., S. 22. „Nach solchen über die gewöhnliche Form der Materie erhabenen Begriffen bildeten die Griechen Götter und Menschen." (G., S. 17). „Das Gesetz aber: die Personen ähnlich und zu gleicher Zeit schöner zu machen, war allezeit das höchste Gesetz, welches die griechischen Künstler über sich erkannten, und setzt notwendig eine Absicht des Meisters auf eine schönere und vollkommenere Natur voraus." (G., S. 18). „Denn stückweise finden sich eben so hohe Schönheiten in der Natur, als irgend die Kunst mag hervorgebracht haben, aber im Ganzen muß die Natur der Kunst weichen." (G. d. K . , IV, S. 70).

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Bilde" vereinigt, 1 wird von Winckelmann auch „dichterische Schönheit" genannt. Das „Dichterische" ist für Winckelmann der eigentliche Ursprung auch der bildenden Künste, die geistige Sphäre, welche — unabhängig von aller materialen Entäußerung - dem menschlichen Geist die intuitive Erkenntnis der reinen Idee, des noch „unerschaffenen" Seins im Geist der Gottheit selbst ermöglicht.2 Polyklet ist für Winckelmann ein solcher „erhabener Dichter in seiner Kunst", der „die Schönheit seiner Figuren über das wirklich Schöne in der Natur zu erheben suchte", — „daher seine Einbildung vornehmlich mit jugendlichen Figuren beschäftigt war."3 Der jugendliche menschliche Körper, „in welchem alles ist und sein und nicht erscheint und erscheinen soll"4, enthält noch den „gleichsam unerschaffenen Begriff der Schönheit" 5 in seinem reinen „Sein". Erst wenn in der „männlichen und betagten Figur . . . die Natur die Ausführung ihrer Bildung geendigt, folglich bestimmt hat" 6 , ist dieses reine Sein endgültig der Materie verhaftet und durch diese verstellt. 7 Darum liegen für den Aesthetiker Winckelmann die wesentlichsten Aufgaben der Plastik im metaphysischen Bereich; je „geistiger" ihre Verfahrensweise ist, desto vollkommener vermag sie diese Aufgaben zu erfüllen: das reine „Sein" aus dem „Scheinen", das „Unerschaffene" aus dem „Erschaffenen" zu befreien und zu seinem göttlichen Ursprung zurückzuführen. Das dritte Verfahren des bildenden Künstlers, welches in Winckelmanns Aesthetik an höchster Stelle steht, ist dieser Aufgabenstellung angemessen. Der Künstler versucht, sich bei der Erzeugung der geistigen Form so weit wie möglich von den Formen der „Materie" zu lösen. 8 Die geistige Form wird ohne ein „wirkliches" Urbild entworfen; ihre Wiedergabe in der Kunst1

G. d. K. IV, S. 46. Zu den ersten Kunstwerken „gaben die ersten Stifter der Religion, welches Dichter waren, die hohen Begriffe, und diese gaben der Einbildung Flügel, ihr Werk über sich selbst und über das Sinnliche zu erheben." (G.d. K. V, S. 85). Aus diesem Gedanken entspringt Winckelmanns Auffassung von der „Zeichnung" als dem Geistigsten aller künstlerischen Darstellungsmittel. Der gezeichnete „Gedanke" des Künstlers stößt auf keinen Widerstand der „Materie" und bleibt darum auch in der sichtbaren Form reinster Ausdruck der geistigen Bewegung. 3 G. d. K. I X , S. 370. 4 G. d. K. IV, S. 66. 5 G. d. K. V I I I , S. 212. 6 G. d. K. IV, S. 66. ' Die Tadler Polyklets, sagt Winckelmann, verlangten jedoch gerade die Darstellung der „scheinbaren" Wirklichkeit, sie verlangten „mehr Nachdruck, d. i.: eine empfindlichere Andeutimg der Teile in seinen Figuren." (G. d. K. I X , S. 370.) 8 „ . . . die höchste Idee menschlicher Schönheit, . . . welche wir erhöhen, je mehr wir uns über die Materie erheben können." (G. d. K. IV, S. 59.) 2

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form verzichtet auf die Ausprägung derrundplastisch-haptischen „Bestimmtheit" aller Erscheinungsformen der Wirklichkeit; diese werden auf die vom Kontur umschriebene, optisch erfaßbare Fläche projiziert. Der „Begriff" der geistigen Form wird vom Verstand des Künstlers völlig neu erzeugt. Die „Bildung" des Ideals wird von der Einbildung des Künstlers — die „angefüllt" ist mit dem „einzelnen Schönen der Natur" — durch meditative „Betrachtung der von Gott ausfließenden Schönheit" aus dem göttlichen Ursprung selbst gewonnen.1 Auf diese Weise haben für Winckelmann die Griechen ihre Götter- und Heroenbilder erschaffen. Alles, was „sterbliche" Materie ist, ist aus diesen Gestalten entfernt, die wie „von den Schlacken der Menschlichkeit gereinigt" sind2. Schönheiten, „dergleichen schwerlich aus menschlichem Geblüt erzeugt worden"3, erscheinen „gleichsam in die Unsterblichkeit eingehüllt, und die Gestalt ist bloß wie ein Gefäß derselben. Ein höherer Geist scheint den Raum der sterblichen Teile eingenommen und sich an die Stelle derselben ausgebreitet zu haben" 4 ; „ein himmlischer Geist . . . hat gleichsam die ganze Umschreibung dieser Figur erfüllt." 5 Der Kontur der plastischen Kunstgestalt, der als geistiges Element die konkreten Formen des Kunstwerks umgreift und ihre Wirklichkeit an den geistigen Ursprung bindet, „umschreibt" hier eine Form, die „dergestalt 1 „Diese Schönheit ist wie eine nicht durch Hilfe der Sinne empfangene Idee, welche in einem Verstände und in einer glücklichen Einbildung, wenn sie sich anschauend nahe bis zur göttlichen Schönheit erheben könnte, erzeugt würde; in einer so großen Einheit der Form und des Umrisses, daß sie nicht mit Mühe gebildet, sondern wie ein Gedanke erweckt und mit einem Hauch geblasen zu sein s c h e i n t . . . " (G. d. K . V I I I , S. 212.) 2 ,, . . . die Hand der Künstler brachte Geschöpfe hervor, die von der menschlichen Notdurft gereinigt waren. Figuren, welche die Menschheit in einer höhern Würdigkeit vorstellen, die Hüllen und Einkleidungen bloß denkender Geister und himmlicher Kräfte zu sein scheinen." (G. d. K . V, S. 124.) ,, Von keiner sterblichen Speise . . . ist sein Leib ernährt, und er scheint nur zu genießen, nicht zu nehmen und völlig, ohne angefüllt zu sein." (T., S. 232.) „ E s scheint ein geistiges Wesen, welches aus sich selbst und aus keinem sinnlichen Stoff sich eine Form gegeben, die nur in einem Verstände, in welchen keine Materie Einfluß hat, möglich war; eine Form, die von nichts Erschaffenen sichtbar genommen ist, und die allein eine Erscheinung höherer Geister hat bilden können." (Nachl. S. L X V I . ) „Gehe mit Deinem Geiste in das Reich unkörperlicher Schönheiten und versuche, ein Schöpfer einer himmlichen Natur zu werden, um den Geist mit Schönheiten, die sich über die Natur erheben, zu erfüllen: denn hier ist nichts Sterbliches, noch was die menschliche Dürftigkeit erfordert." (G. d. K . X I , S. 222.) 3 G. d. K . V, S. 101. 4 T., S. 231 f. 5 G. d. K . X I , S. 222; vgl. auch G. d. K . V I I I , S. 221.

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verfeinert" ist, daß „nur allein der Geist in derselben gewirkt zu haben scheint"1. Die sinnliche Natur scheint auf diesem Wege völlig ausgeschaltet. Die „Formen eines solchen Bildes" sind vom Künstler selbst erdacht. Er ist ein „Schöpfer reiner Geister und himmlischer Seelen" geworden, die „keine Begierden der Sinne erwecken, sondern eine anschauliche Betrachtung aller Schönheit wirken."2 Die plastische Kunstgestaltung hat ihren Stufenweg durch die Wirklichkeit durchschritten und nähert sich wieder ihrem Ursprung, der zugleich ihre höchste Bestimmung ist: dem „Reich der unkörperlichen Ideen"3, der „dichterisch" zu erzeugenden höchsten göttlichen Schönheit. Die Formen eines auf solche Weise gestalteten Kunstwerks werden vom Betrachter rein geistig empfangen, ohne daß haptische Formen-„Wirklichkeit" auf seine „Sinnlichkeit" einwirkt und seinen Geist an der reinen Anschauung hindert. Die Vorstellung der „dichterischen Schönheit" wird im Geist des Kunstbetrachters „erweckt" — die Idee, als „von Gott ausfließende und zu Gott führende Schönheit"4, kann wieder in ihren Ursprung münden. Auch dieser höchste geistige Gestaltungsakt, der die „Materie" überwindet und die geistige Form ohne jedes wirkliche Urbild erzeugt, bleibt in der konkreten plastischen Gestaltung letztlich an die Formen der Materie gebunden, da die Idee, um „erkannt" zu werden, der Versinnlichung in den materiellen Formen bedarf. Zwar nimmt der Künstler „nur eben soviel von der Materie dazu", als nötig ist, „seine Absicht auszuführen und sichtbar zu machen"5, aber dieses Wenige ist erforderlich, da trotz der Unvollkommen heit der „Natur" die Idee nur durch deren Formen erfahrbar ist. Die Erfahrung aus der Natur geht der Erkenntis der Idee notwendig voraus. Mit gleicher Notwendigkeit bauen die drei Verfahrensweisen aufeinander auf. Der Künstler, der im dritten Verfahren gestalten will, muß erst das erste und zweite durchschritten haben.6 Erst dann hat er die Formen der Natur in sich aufgenommen und kann sich der eigenen Intuition überlassen. Ohne das unterste und zugleich erste Verfahren „Nachahmung der schônstën Natur" hätten sich die idealischen niemals entwickeln können. Die organischen Formen der menschlichen Natur sind als sinnliche Erscheinungsformen der Idee für alles plastische Gestalten von verbindlicher GesetzlichG. d. K. V, S. 144. G. d. K. VIII, S. 221. 3 Ebenda. 4 G. d. K. V, S. 102. ' G. d. K. XI, S. 221. " „So wie nun die Alten stufenweise von der menschlichen Schönheit bis an die göttliche hinaufgestiegen waren . . ." (G. d. K. V, S. 139.) 1

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keit.1 Auch die „idealischen Schönheiten", welche die dritte und höchste Verfahrensweise gestaltet, sind als „von der Natur abstrakte Ideen" lediglich die zum reinen Prinzip abstrahierten Formen der menschlichen Natur.2 c) Die räumliche Gebundenheit der plastischen Gestaltung Dieses - aller plastischen Gestaltung von ihm auferlegte — aesthetische Gesetz dient dem frühen Winckelmann zur Begründung des Vorrangs, den die griechische Plastik vor der künstlerischen Produktion aller anderen Völker einnimmt. Die Rangunterschiede der nationalen Kunstformen offenbaren sich ihm am Kriterium des „guten Geschmacks", der aesthetischen Vollkommenheit der griechischen Antike, von welchem sich der „Geschmack" der anderen Völker in gradueller Staffelung bis zum „schlechten" und „gewöhnlichen" Geschmack unterscheidet. Die aesthetische Vollendung der griechischen Kunst in ihrer Einmaligkeit erklärt sich Winckelmann nicht ausschließlich aus einer überragenden Befähigung der griechischen Künstler, sondern wesentlich aus der biologischen Beschaffenheit der griechischen „Natur", die in der Gestalt des griechischen Menschen Idee und Wirklichkeit „in einem Bilde vereint"3. Nur der griechische Künstler kann die Idee aus den ihr gemäßen Formen der Wirklichkeit rezipieren; die Künstler aller anderen Völker müssen sich dagegen an der Formenwelt einer Natur orientieren, deren Wirklichkeit nicht mit der Idee der höchsten Schönheit erfüllt ist.4 Diese qualitative Staffelung der menschlichen „Natur", die sich in den charakteristischen,,Bildungen'' der einzelnen Nationen äußert, sieht Winckel mann in einem graecozentrischen Weltbild begründet, das sowohl den Vorrang der griechischen Natur als auch die Relativität der anderen nationalen „Bildungen" erklärt. Neben Winckelmanns persönlichem Griechenenthusiasmus wirken am Aufbau dieses Weltbildes Elemente der antiken Klimatheorie mit, die sich mit der neuplatonischen Emanationslehre verbinden. 1 „ D i e K u n s t . . . soll zur Bildung der Schönheit allezeit das Natürliche suchen und alles Gewaltsame . . . vermeiden." (Empf., S. 271.) 2 „Die Bildung aller Gottheiten ist wie nach einer von der Natur selbst angedeuteten Idee bestimmt." (G. d. K. V, S. 124.) 3 Diese Vorzüge der griechischen Natur werden in den frühen Schriften Winckelmanns, besonders den „Gedanken", ausführlich erläutert. 4 so haben diese (die Künstler) in jedem Lande ihren Figuren die Gesichtsbildung ihrer Nation gegeben . . . deutsche, holländische und französische Künstler sind . . . wie die Sinesen und Tatern in ihren Gemälden kenntlich." (G. d. K. I, S. 125.)

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Das Griechentum bildet in der Topographie dieses Weltbildes die eigentliche „Mitte" der Schöpfung; aus dieser zentralen Lage ergeben sich die „Vorzüge" seiner Natur. Diese werden einmal im Sinne der Klimatheorie aus dem „Wirken" des gemäßigten Himmels erklärt, welcher im Zentrum der Welt die „schönsten Gestalten" bildet.1 (Von der Winckelmannschen Emanationslehre dagegen wird das Griechentum gleichsam als diejenige Phase der Weltschöpfung gedeutet, in welcher die Idee noch mit den Formen der Wirklichkeit übereinstimmt.) Die graduellen Unterschiede in der „Bildung" anderer Völker sind durch deren raum-zeitliche Situation bedingt. Dem Maßstab der räumlichen Entfernung eines Volkes von dem Zentrum der Welt entspricht die relative Schönheit seiner Natur, in welcher die Idee nur noch unvollkommen zur Erscheinung gelangt. Alle den Griechen zwar verwandten, aber zeitlich nachfolgenden Völker sind von diesem Zentrum — Strahlraum der Idee und reinster Himmel zugleich — nur durch die Natur des Griechentums getrennt. (So sind die Italiener z. B. dem Zentrum näher als die Deutschen, diese sind ihm wiederum näher als z. B. die Engländer.2) Alle nichteuropäischen Völker dagegen sind von dem Zentrum weit entfernt und der Willkür der Materie preisgegeben, wodurch ihre Züge von dem „Ebenbilde ihres Schöpfers halb verstellt" sind.3 1 „ U n t e r einem so gemäßigten u n d zwischen W ä r m e u n d K ä l t e gleichsam abgewogenen H i m m e l s p ü r t die K r e a t u r einen gleich ausgeteilten Einfluß desselben . . . E i n solcher H i m m e l (sagt H i p p o k r a t e s ) bildet die schönsten Geschöpfe . . . " (E., S. 126.) (Vgl. u. a. a u c h d e n A b s c h n i t t ü b e r die Vorzüge der griechischen N a t u r in d e n „Gedanken".) Die Griechen, die „ein L a n d bewohnten, welches die Pallas (sagt m a n ) wegen der gemäßigten J a h r e s z e i t e n vor allen L ä n d e r n d e n Griechen zur W o h n u n g angewiesen . . ." (G. d . K . , I , S. 133.) „Vieles, was wir u n s als idealisch vorstellen m ö c h t e n , w a r die N a t u r bei ihnen. Die N a t u r , n a c h d e m sie stufenweise durch K ä l t e u n d H i t z e gegangen, h a t sich in G r i e c h e n l a n d . . . wie in ihrem M i t t e l p u n k t e gesetzt, u n d je m e h r sie sich demselben n ä h e r t , desto . . . allgemeiner ist ihr W i r k e n in geistreichen witzigen B i l d u n g e n . " (G. d. K . I V , S. 9f.) 2 „ D a s vorzügliche Talent der Griechen zur K u n s t zeigt sich n o c h j e t z t in d e m großen . . . T a l e n t e der Menschen in d e n w ä r m s t e n L ä n d e r n v o n I t a l i e n ; u n d in dieser vorzüglichen Fähigkeit zur K u n s t h e r r s c h t die E i n b i l d u n g , sowie bei d e n denkenden B r i t e n die V e r n u n f t ü b e r die E i n b i l d u n g . " (G. d. K . I , S. 137). „ E s finden sich d a h e r in d e n schönsten L ä n d e r n v o n I t a l i e n Menschen, . . . welche gleichs a m f ü r die Bildhauerei erschaffen scheinen." (G. d. K . I , S. 127f.) „ W e r a u c h niemals diese L ä n d e r gesehen h a t , k a n n a u s der z u n e h m e n d e n Feinheit der Einwohner, je w ä r m e r d a s Ellima ist, v o n selbst auf die geistreiche Bildung derselben schließen." (G. d. K . I , S. 128.) 3 „Folglich sind unsere u n d der Griechen Begriffe v o n der S c h ö n h e i t . . . r i c h t i g e r " , , , . . . d e n n was n i c h t schön ist, k a n n nirgends schön sein . . . " (G. d. K . I V , S. 55);

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Diesen Vorzug der griechischen Natur, welcher die aesthetische Vollkommenheit der griechischen Kunst bedingt, glaubt Winckelmann durch seine Nachahmungslehre auch den anderen Völkern vermitteln zu können, indem er die „Nachahmung" der griechischen Kunstnatur fordert, aus welcher der nichtgriechische Künstler die Idee in ihrer reinen Erscheinungsform rezipieren kann. Später freilich ändert sich Winckelmanns Auffassung von der Geschichtlichkeit des Künstlers, seines Verhältnisses zur Natur, der Faktoren seiner Schaffensakte.

2. Der künstlerische Schöpfungsakt im Wirkraum der Geschichte a) Seine Faktoren in ihrer geschichtlichen Bedingtheit Mit der Einführung und Anwendung des Stilbegriffs wird der Einbruch des historischen Denkens in Winckelmanns Aesthetik auch nach außen hin sichtbar. Der Stilbegriff dient Winckelmann als Ordnungsbegriff seines großen, die Kunst der alten Völker geschichtlich ordnenden Werkes; zugleich ist er Ausdruck einer neuen Erkenntnis vom „Wesen der Kunst": „Kunst" wird nicht mehr ausschließlich als ein der geschichtlichen Wirklichkeit übergeordnetes aesthetisches Phänomen betrachtet, sondern als ein Element dieser geschichtlichen Wirklichkeit selbst erkannt. 1 , , . . . die Zweifler wider die Richtigkeit der Begriffe der Schönheit gründen sich vornehmlich auf die Begriffe der Schönheit u n t e r entlegenen Völkern, die, ihrer verschiedenen Gesichtsbildung zufolge, a u c h verschieden v o n der unsrigen sein m ü ß t e n . " (G. d. K . IV, S. 53.) „Solche Bildungen w i r k t die N a t u r allgemeiner, je m e h r sie sich ihren äußersten E n d e n n ä h e r t . " (G. d. K . I V , S. 54.) „Regelmäßiger aber bildet die N a t u r , je n ä h e r sie n a c h u n d n a c h wie zu ihrem M i t t e l p u n k t e geht, u n t e r einem gemäßigten H i m m e l . . . " (G. d. K . I V , S. 55.) „ I n der allgemeinen F o r m aber sind . . . die meisten u n d gesittetsten Völker in E u r o p a sowohl als in Asien u n d Afrika übereingekommen, d a h e r die Begriffe derselben nicht f ü r willkürlich a n g e n o m m e n zu h a l t e n sind, ob wir gleich nicht v o n allen d e n G r u n d angeben k ö n n e n . " (G. d. K . I V , S. 56.) 1 W i n c k e l m a n n s Absicht, m i t seiner Kunstgeschichte zugleich ein „Lehrgeb ä u d e " zu errichten, ist v o n der F o r s c h u n g vielfach i m Sinne der K ü n s t l e r p ä d agogik seiner Nachahmungslehre v e r s t a n d e n worden. Als „ L e h r e n a u c h z u m Ausü b e n " . . . „ n i c h t bloß als Kenntnisse z u m W i s s e n " b e t r a c h t e t er jedoch lediglich seine A b h a n d l u n g e n ü b e r das Wesen der Schönheit im 4. u n d 5. B u c h seiner K u n s t geschichte. (Diese A b h a n d l u n g gehört jedoch zu seiner Aesthetik u n d n i c h t zu der eigentlichen historischen Darstellung.) (G. d. K . I V , S. 7.) I n seinem „ L e h r g e b ä u d e " der Kunstgeschichte will W i n c k e l m a n n dagegen eine E r k e n n t n i s vermitteln, welche im „ W e s e n der K u n s t " n e b e n d e m M o m e n t der Schönheit das Moment der Geschichtlichkeit einschließt. „ D e r d r i t t e A b s c h n i t t dieser A b h a n d l u n g v o n d e m W a c h s t u m e u n d d e m Falle der K u n s t geht n i c h t weniger als

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Winckelmanns Auffassung vom Wesen des künstlerischen Aktes erweitert sich durch die Erkenntnis von dessen geschichtlicher Bedingtheit. In Winkkelmanns Aesthetik war die Gestaltung des Kunstwerks wesentlich als Leistung eines geistigen Aktes verstanden worden. Dieser war in seiner aesthetischen Qualität von der schöpferischen Befähigung des subjektiven .,Verstandes" abhängig und durch Volkstum und Umwelt eines Künstlers nur insofern bedingt, als die „Natur" als Urbild für die Kunstgestaltung diente. In Winckelmanns Erkenntnis von der Geschichtlichkeit aller Kunstgestaltung erscheint der künstlerische Akt des einzelnen Künstlers unlösbar der geschichtlichen Welt seines Daseins verknüpft, dessen „Wirklichkeit" eine neue positive Bedeutung zukommt. Der „Stil" des Künstlers offenbart nicht mehr nur seinen „Geschmack" — die aesthetische Befähigung seines kunsterzeugenden Verstandes—, sondern die neben diesem wirkenden Kräfte der Geschichte selbst, die die individuelle Schöpfung an die Gesetzlichkeit des „Zeit-" und „Nationalstils" binden. Diese sowohl zeitliche als auch nationale Bedingtheit der individuellen Kunstgestaltung wird von Winckelmann auf verschiedene Weise erklärt. Maßgebend für die nationalen Stilunterschiede bleibt zwar die biologische Beschaffenheit, die körperliche „Bildung" der einzelnen Völker. Aber diese erscheint nun veränderlich, den Kräften der Geschichte unterworfen; das dynamische Moment der geschichtlichen Entwicklung ist in Winckelmanns statisches Weltbild eingedrungen.1 Das geschichtliche Dasein eines Volkes erschafft auch den Künstler in seiner geschichtlichen Existenz. In dieser sind alle Kräfte verankert, mit welchen der Künstler die Wirklichkeit in der Kunstform bewältigt; seine geschichtliche „Natur", die Ganzheit seines i die vorigen" (von der Schönheit) — „auf das Wesen derselben." (G. d. K. V I I I . S. 171). Winckelmann betont in seiner Vorrede zur Kunstgeschichte ausdrücklich, daß seine „Geschichte der Kunst" keine „bloße Erzählung der Zeitfolge derselben" sein soll, sondern im weiteren geschichtlichen Sinne „Lehrgebäude", als sie zugleich „den Ursprung, das Wachstum, die Veränderung und den Fall der Kunst nebst dem verschiedenen Stil der Völker, Zeiten und Künstler lehren" will, im Gegensatz zu den bisherigen Geschichtsschreibern der Kunst, die nicht auf diese Weise „in das Wesen und zu dem Innern der Kunst" führten. (Vorr., S. 9f.) 1 „Der Himmel ist zwar allezeit derselbe, aber das Land und die Einwohner können eine verschiedene Gestalt annehmen." (G. d. K. I, S. 126.) „Denn, wenn man erwägt, daß . . . Regierungsform und Lebensart (der heutigen Ägypter) der ehemaligen Verfassung ganz und gar entgegensteht: so wird auch die verschiedene Beschaffenheit der Körper begreiflich sein." (G. d. K. I, S. 126.) „ E b e n diese Betrachtung läßt sich über die heutigen Griechen machen." E s „ist leicht einzusehen, daß ihre jetzige Verfassung, Erziehung, Unterricht und Art zu denken auch in ihre Bildung einen Einfluß haben könnte." (G. d. K. I, S. 127.)

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Daseins, Physis und Geist sind integrierend an der künstlerischen Schöpfung beteiligt. Alle Faktoren des künstlerischen Aktes werden durch die geschichtliche Personalität des Künstlers bestimmt: die Fähigkeit zur sinnlichen Rezeption des Urbildes ist an die Physis des Künstlers gebunden; auch das „Denken", der Entwurf der geistigen Form, wird durch ihre Formen mitbestimmt; die Bilder, welche seine „Einbildung" entwirft, entsprechen mit Notwendigkeit seiner eigenen psycho-physischen „Bildung".1 1 „Durch den Einfluß des Himmels bedeuten wir die Wirkung der verschiedenen Lage der Länder und der besonderen Witterung und Nahrung in denselben, in die Bildung der Einwohner wie nicht weniger in ihre Art zu denken." (G. d. K . I , S. 122.) „Die Art zu denken, sowohl der Morgenländer und mittägigen Völker als der Griechen offenbart sich auch in den Werken der Kunst. Bei jenen sind die figürlichen Ausdrücke so warm und feurig als das Klima, welches sie bewohnen, und der Flug ihrer Gedanken übersteigt vielmals die Grenzen der Möglichkeit. I n solchen Gehirnen bildeten sich daher die abenteuerlichen Figuren der Ägypter und der P e r s e r . . . " (G. d. K . I , S. 133.) „Die Gemütsart der Hetrurier . . . wirkt zu heftige Empfindungen, und die Sinne werden nicht mit derjenigen sanften Regung gerührt, welche den Geist gegen das Schöne vollkommen empfindlich macht." (G. d. K . I I I , S. 293f.) „Die erste von den Ursachen der Eigenschaft der Kunst unter den Ägyptern liegt in ihrer Bildung". (G. d. K . I , S. 143.) „ E s konnten also ihre Künstler das Mannigfaltige nicht suchen, weil dasselbe nicht in der Natur war." (G. d. K . I , S. 144.) „Wenn also nur die Italiener die Schönheit malen und bilden können . . . so liegt in den schönen Bildungen des Landes selbst zum Teil der Grund dieser F ä h i g k e i t . . . " (G. d. K . I , S. 129.) Das „Denken" der Ägypter „ging vor dem Natürlichen vorbei". (G. d. K . I I , S. 151.) „Die Griechen hingegen, die unter einem gemäßigteren Himmel und Regierung lebten . . . hatten, so wie ihre Sprache malerisch ist, auch malerische Begriffe und Bilder." (G. d. K . I , S. 133f.) „Ihre Einbildung war nicht übertrieben, wie bei jenen Völkern, und ihre Sinne, die durch schnelle und empfindliche Nerven in ein feingewebtes Gehirn wirkten, entdeckten mit einmal die verschiedenen Eigenschaften eines Vorwurfs, und beschäftigten sich vornehmlich mit Betrachtung des Schönen in demselben." (G. d. K . I , S. 134.) „Die Natur eines jeden Landes hat ihren Eingeborenen sowohl als ihren neuen Ankömmlingen eine ihr eigene Gestalt und eine ähnliche Art zu denken gegeben." (E., S. 125.) „Man muß also in Beurteilung der natürlichen Fähigkeit der Völker . . . nicht bloß den Einfluß des Himmels, sondern auch Erziehung und Regierung in Betracht ziehen. Denn die äußeren Umstände wirken nicht weniger in uns als die Luft, die uns umgibt, und die Gewohnheit hat soviel Macht über uns, daß sie sogar den Körper und die Sinne selbst, die von der Natur in uns geschaffen sind, auf eine besondere Art bildet; wie unter anderem ein an französische Musik gewöhntes Ohr beweist, welches durch die zärtlichste italienische Symphonie nicht gerührt wird." (G. d. K . I , S. 135.)

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Der subjektive Stil des Künstlers kann sich nur innerhalb der von der Geschichte bestimmten Möglichkeiten seiner „Natur" vollenden; er erhält die Signatur des Nationalcharakters mit Notwendigkeit aufgeprägt. b) Die Gebundenheit der künstlerischen Verfahrensweisen an den Ablauf der geschichtlichen Kunstentwicklung Der nationale Stil eines Volkes wird durch das Moment der geschichtlichen Entwicklung in der Zeit abgewandelt. Diese zeitlichen Veränderungen in der Stileinheit einer Nation begreift Winckelmann als Entwicklungsstufen des Organismus Kunst, welcher der geschichtlichen Entwicklung eines Volkes eingeordnet und von ihren Bedingungen abhängig ist. „Ursprung, Wachstum Reife und Verfall" der Kunst zeichnen sich als zeitliche „Stilstufen" innerhalb der künstlerischen Produktion eines Volkes ab. Jeder dieser Stilstufen entspricht ein bestimmtes Kunstverfahren. Der bildende Künstler, welcher nach Winckelmanns eben beschriebener Aesthetik die Stufenfolge aller Verfahrensweisen im Sinne einer geistigen Höherentwicklung durchlaufen konnte, ist nun durch die Geschichtlichkeit seines Daseins an e i n e bestimmte Stufe des organischen Kunstverlaufs gebunden; er kann also — sofern er nicht in einer Übergangsphase lebt, jeweils nur in e i n e m einzigen, seinem Zeitstil zugehörigen Verfahren gestalten. Die organische Entwicklung zwischen Ursprung und Reife der Kunst bedeutet die Gewinnung der aesthetischen Vollkommenheit, die sich in der höchsten Stufe, dem Zenith der Kunstentwicklung, manifestiert. Diese aesthetische Vollendung der Kunst wird nicht, wie in Winckelmanns unhistorischer Aesthetik, in der Überwindung der Wirklichkeit gesehen, sondern gerade in der künstlerischen Bewältigung der Wirklichkeit, in der Übereinstimmung von Natur und Kunst erkannt. Die zeitliche Folge der „Stile" im organischen Kunstverlauf ist darum von der Staffelung der Verfahrensweisen in Winckelmanns Aesthetik grundsätzlich unterschieden. Der „So wie nun der Himmel und das Klima selbst in der Bildung wirkte . . . ebenso und nicht weniger ist dieser Wirkung das gütige Wesen . . . und der fröhliche Sinn der Griechen zuzuschreiben . . . die zur Entwerfung schöner und lieblicher Bilder ebensoviel, als die Natur zur Zeugung der Gestalt beitragen." (G. d. K. IV, S. 14.) Über die Fähigkeit zur Empfindung des Schönen: „Es ist dieselbe in wohlgebildeten Knaben eher als in anderen zu suchen, weil wir insgemein denken, wie wir gemacht sind;" (Empf., S. 243.) „Es ist auch sehr wahrscheinlich, daß bei Künstlern so wie bei allen Menschen der Begriff der Schönheit dem Gewebe und der Wirkung der Gesichtsnerven gemäß sei." (G. d. K. IV, S. 50.)

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Vorrang des Geistes ist zugunsten der Wirklichkeit zurückgenommen. Nur die Wirklichkeit bestimmt das Ziel der organischen Kunstentwicklung, die Verwandlung der Verfahren von der Abstraktion zur Einfühlung — welch letztere ein Volk erst auf der höchsten Stufe seiner Kunstentwicklung erreicht: erst in der „Nachahmung" der Natur wird die Harmonisierung des menschlichen Geistes mit der Wirklichkeit möglich. Jede „Stilstufe" ist zugleich eine Stufe in der Entwicklung des künstlerischen „Könnens", das als Voraussetzung für die souveräne „Nachahmung der Natur" von den Künstlern eines Volkes erst erworben werden muß, ehe ihnen auf der höchsten Stufe der Kunstentwicklung die aesthetische Bewältigung der Wirklichkeit gelingt. 1 In seiner historischen Darstellung der Griechenkunst zeigt Winckelmann den Verlauf der organischen Kunstentwicklung als eines Elements der Geschichte des griechischen Volkes. Vier zeitlich unterschiedene „Stile" der Griechen entsprechen den Stufen ihrer organischen Kunstentwicklung: der „ältere Stil", der „große oder hohe Stil", der „schöne Stil" und der „Stil der Nachahmer". 2 Die primitiven Anfänge der Kunst werden von Winckelmann nicht in die eigentliche Darstellung der Kunstentwicklung einbezogen. Plastische Gestaltung wird erst durch das Element der „Zeichnung" zur Kunst, in welcher ein geistiger Faktor den bloßen Nachbildungstrieb der Primitiven ablöst und die im geschichtlichen Baum durch die Wirkkraft „Stil" gestalteten Werke von den prähistorischen Bildungen unterscheidet. 3 Winckelmanns Beschreibung der griechischen Stile beginnt also erst mit dem „älteren Stil", in welchem „die Kunst bereits ihre Form erlangt hatte und in ein System gebracht war",4 der sich also durch das Element der Zeichnung — der Bewältigung der Plastik durch den Kontur — bereits als wirkliche Kunstgestaltung ausweist. Dieser „ältere Stil" der Griechen zeichnet sich durch „große Einheit der Ausarbeitung" aus, welche „vor der Kenntnis der Schönheit vorherge1

„Die schönen Künste haben ihre Jugend so wohl wie die Menschen, und der Anfang dieser Künste scheint wie der Anfang bei den Künstlern gewesen zu sein . . . " (G., S. 33.) a G. d. K. V I I I , S. 173f. 3 „Die Werke der Kunst sind in ihrem Ursprünge . . . ungestalt und einander ähnlich, wie der Same ganz verschiedener Pflanzen, gewesen;" (G. d. K. I, S. 61.) „Die Kunst hat mit der einfältigsten Gestaltung, und mit Bildung in Ton, folglich mit einer Art von Bildhauerei, angefangen: denn auch ein Kind kann einer weichen Masse eine gewisse Form geben, aber es kann nichts auf eine Fläche zeichnen; weil zu jenem der bloße Begriff einer Sache hinlänglich ist, zum Zeichnen aber viele andere Kenntnisse erfordert werden." (G. d. K. I, S. 62f.) * G. d. K. VIII, S. 173.

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gangen" 1 , denn die „Begriffe der Schönheit sind den Griechen nicht ursprünglich mit der Kunst eigen gewesen"2. Die geschichtliche Kunstentwicklung zur vollendeten Gestaltung der Schönheit in den Formen der Natur vollzieht sich als allmähliche Erwerbung der Wirklichkeit. Die erste Stufe des älteren Stils beginnt mit der „Kenntnis" und Gestaltung der Materie, ohne diese zunächst durch „Begriffe der Schönheit" zu läutern. 3 Im Verlauf der „stufenweise" erfolgenden Entwicklung des älteren Stils 4 entfernt sich die Gestaltung wieder von den Formen der Wirklichkeit und wird „abstrakt" — die Künstler suchen, nachdem sie die „Bestimmung" der einzelnen Formen gewonnen haben, die Gesetze des Ganzen systematisch festzulegen. So wurde der Stil „auf ein System gebaut, welches aus Regeln bestand, die von der Natur genommen waren, sich aber nachher von derselben entfernt hatten und idealisch geworden waren. Man arbeitete mehr nach der Vorschrift dieser Regeln, als nach der Natur, die nachzuahmen war; denn die Kunst hatte sich eine eigene Natur gebildet." 5 „Idealisch" wird also von Winckelmann auch das Verfahren archaisch-kubisch bildender Kunstepochen genannt. Es wird von ihm erst als Historiker entdeckt und ist nicht in den Zusammenhang seiner älteren Aesthetik einbezogen. Winckelmann selbst warnt davor, diese Art der „idealischen" Gestaltung mit den idealischen Verfahren in der griechischen Blütezeit zu verwechseln. 6 Die „idealische" Gestaltung des „älteren Stils" ist durch die Autonomie des Wissens bestimmt. Die Gesetze des Daseins werden zur Form gestaltet, ohne daß die 1

G. d. K. VIII, S. 191. Ebenda, S. 179. , , . . . denn die Mannigfaltigkeit in Stellung und Handlung kann ohne hinlängliche Kenntnis des Körpers und ohne Freiheit in der Zeichnung nicht a u s g e d r ü c k t . . . werden: die Kunst fängt, wie die Weisheit, mit Erkenntnis unser selbst an." (G. d. K. III, S. 352.) 4 Der ältere Stil Winckelmanns umfaßt die Entwicklung der griechischen Kunst von der Archaik an und den strengen Stil bis etwa zur Frühklassik. Der Verlauf des „älteren Stils ist jedoch stufenweise zu verstehen, da wir unter dem älteren Stil den längsten Zeitlauf der griechischen Kunst begreifen". (G. d. K. VIII, S. 192f.) s G. d. K. VIII, S. 206. R. Hamann, Aufsätze über Aesthetik, Marburg 1948, S. 93: „Die archaische Plastik" läßt die „Vorführung eines bestimmten körperlichen Verhaltens . . . zurücktreten hinter dem Ideal der zusammenhangvollen einheitlichen Körperform". Sie „betont einseitig den Genuß an plastischen Formen". • , , . . . jedoch mit dieser Erinnerung, daß etwas idealisch heißen kann, ohne schön zu sein. Denn die Gestalt der ägyptischen Figuren, in welchen weder Muskeln noch Nerven und Adern angedeutet sind, ist idealisch, bildet aber dennoch in derselben keine Schönheit, so wenig als die Bekleidung ihrer weiblichen Figuren, da dieselben nur gedacht werden muß und also idealisch ist, schön genannt werden kann." (G. d. K. IV, S. 62.) 2

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Einbildung sich an den Formen der Natur orientiert, „das Naturvorbild wird in die geometrisch-lineare Gesetzmäßigkeit eingebunden".1 „Die Eigenschaften dieses älteren Stils waren unterdessen die Vorbereitung zum hohen oder großen Stil der Kunst und führten diesen zur strengen Richtigkeit. . . denn in der Härte von jenem offenbart sich der genau bezeichnete Umriß und die Gewißheit der Kenntnis, wo alles aufgedeckt vor Augen liegt." 2 „Können" und „Wissenschaft" des Künstlers hatten in Winckelmanns Aesthetik keine positive Bedeutung. In der geschichtlichen Kunstbetrachtung dagegen sind Können und Wissen notwendige Voraussetzung für das „Wachstum" der Kunst zur aesthetischen Vollendung, die als „Wahrheit und Schönheit der Form" zugleich auf der erworbenen „Richtigkeit" der Begriffe und der Fähigkeit zur konkreten Gestaltung beruht.3 Die „Verbesserer der Kunst", die Künstler des „hohen Stils", „erhoben sich" über das erstarrte System des älteren Stils und „näherten die Kunst mehr der Wahrheit der Natur". Die Idee der Schönheit wird nun aus den Formen der Natur abstrahiert und im Sinne des „idealischen" Verfahrens der Aesthetik zum Prinzip erhoben. Die Plastiken des hohen Stils sind von „flüssigeren Umrissen", „weniger gelehrt als schön"; das „Wissen", von den Meistern des älteren Stils erworben, ist nun selbstverständlicher Besitz und tritt hinter der geistigen Gestaltung der Schönheit zurück. Dieser Stil „kann der große genannt werden, weil außer der Schönheit die vornehmste Absicht dieser Künstler die Großheit scheint gewesen zu sein"4; „. . . es sind die vornehmsten Eigenschaften zur Andeutung dieses Stils der gleichsam unerschaffene Begriff der Schönheit, vornehmlich aber die hohe E i n f a l t . . . in der ganzen Zeichnung."5 Die gewisse Härte und Strenge seiner Konturen wird von Winckelmann aus dem willentlichen Stilprinzip der Künstler erklärt und von der Bedingtheit des Könnens der älteren Meister, die sich in der Härte ihrer Zeichnung äußert, streng unterschieden.6 Diesem Willen zur 1

Vgl. W. Worringer, Abstraktion und Einfühlung, München 1921, 12. Aufl. G. d. K. VIII, S. 203. 3 „Von dieser Einfalt der Gestalt ging man zur Untersuchung der Verhältnisse, welche Richtigkeit lehrte, und diese machte sicher, sich in das Große zu wagen, wodurch die Kunst zur Großheit und endlich unter den Griechen stufenweise zur höchsten Schönheit gelangte." (G. d. K. I, S. 62.) 4 G. d. K. VIII, S. 206. (Myron, Polyklet, Alkamenes und Phidias werden von Winckelmann zu den Meistern des hohen Stils gezählt.) 6 G. d. K. VIII, S. 212. 9 „Es bildete sich also in ihren Figuren die Großheit, welche aber in Vergleichung gegen die wellenförmigen Umrisse der Nachfolger dieser großen Meister eine gewisse Härte kann gezeigt haben." (G. d. K. VIII, S. 208f.) 2

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„Richtigkeit" — zur Gestaltung der absoluten Wahrheit der Idee — ist ein .,gewisser Grad an schöner Form aufgeopfert worden"1. Der abstrahierenden Gestaltung des „hohen Stils" liegt die Erkenntnis der einen Idee der in der Natur versammelten Schönheit zugrunde, im Gegensatz zur „idealischen" Gestaltung des älteren Stils, dessen Meister noch vor der Erkenntnis der Idee der Schönheit alle Formprinzipien der Natur in ein System abstrakter Formen bannten. Während dem „hohen" Stil in Winckelmanns Aesthetik als Art und Weise der höchsten geistigen Kunstgestaltung das Prädikat der aesthetischen Vollendung zukam, bedeutet er in der Geschichte der Kunst nur eine Übergangsstufe: das letzte derjenigen Stadien, in welchen die Autonomie des menschlichen Geistes die Natur zu „überwinden", die Zufälligkeit ihrer Formen durch große, in den Seinsgesetzen verankerte Ordnungssysteme zu normen versucht. Die Werke des hohen Stils, die „wie von der Natur abstrakte Ideen und nach einem Lehrgebäude gebildete Formen waren", suchte der „schöne Stil näher zur Natur zu führen." 2 „Was die Zeichnung allgemein betrifft, so wurde alles Eckige vermieden, was bisher noch in den Statuen großer Künstler, als des Polyklets, geblieben war, und dieses Verdienst um die Kunst wird sonderlich dem Lysippus, welcher die Natur mehr, als dessen Vorgänger nachahmte, zugeeignet." 3 Während die Meister des hohen Stils „mehr das wahrhaftig Schöne" angestrebt hatten, so „sucht man jetzt das Liebliche", d. h. die Formen der Natur in ihrer individuellen Prägung zu gestalten. Nicht mehr die abstrakte Schönheit des hohen Maßes, nicht mehr „Hier ist in der Zeichnung das Harte von dem Scharfen wohl zu unterscheiden, damit man nicht z. E. die scharfgezogene Andeutung der Augenbrauen, die man beständig in Bildungen der höchsten Schönheit sieht, für eine unnatürliche Härte nehme, welche aus dem älteren Stil geblieben sei: denn die scharfe Bezeichnung hat ihren Grund in den Begriffen der Schönheit, wie oben bemerkt worden." (G. d. K. VIII, S. 206f.) 1 I m Gegensatz zu Winckelmanns Aesthetik, in welcher die Proportion als „außer dem Geistigen in der Kunst" betrachtet wird, wird das Streben der Meister des hohen Stils (vor allem Polyklets) aus ihren Proportionsstudien hergeleitet. 2 G. d. K. VIII, S. 217. „Nichts entfernt mehr von der Natur als ein Lehrgebäude und eine strenge Folge nach demselben." (G. d. K. X , S. II f.) „ . . . da in der Kunst vieles idealisch geworden war, d. i.: da die vorigen Meister das Schönste und das Höchste zu erschaffen suchten, und sich davon ein Bild gemacht hatten, welches über die Natur erhaben war, wird es geschehen sein, daß sich dieses Bild von der Natur entfernt hatte, die also in ihren Teilen nicht mehr völlig kenntlich war." (G. d. K. X , S. 12.) 3 G. d. K. VIII, S. 213. „Zu der Beobachtung und Nachahmung derselben führte Lysippus die Kunst zurück." „Dieser Künstler suchte die Natur selbst nachzuahmen . . . er fing da an, wo die Kunst angefangen hatte . . ." (G. d. K. X , S. 12.) 5

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die Gestaltung absoluter Werte wird erstrebt, sondern die „Nachahmung" der Natur in ihrer „Mannigfaltigkeit". Durch die nun vollendete Ausbildung der gestaltenden K r ä f t e und durch die Harmonisierung des menschlichen Geistes mit der Welt ist der „ungetrübte Genuß des organischen Seins" auf der höchsten Stufe der Kunstentwicklung möglich geworden. Die „Nachahmung der schönen N a t u r " , der erste und unterste Weg in Winckelmanns Aesthetik ist der höchste und zugleich ins Ende weisende im organischen Kunstverlauf: „der Verfall der Kunst mußte notwendig mit den Werken der höchsten und schönsten Zeit merklich werden." 1 Der „Stil der Nachahmer" folgt auf den schönen Stil, welcher als Zenith der Kunstentwicklung zugleich den Wendepunkt zum Verfall der Kunst darstellt. Den Werken aus der Zeit der „Nachahmer" kommt das Prädikat „Stil" im eigentlichen Sinne nicht mehr zu; die „stil"-gestaltenden K r ä f t e der Geschichte sind erlahmt, die Fähigkeit zur künstlerischen Bewältigung der Wirklichkeit ist erloschen. Die Künstler ahmen „ N a t u r " und „Stile" der vorangegangenen Zeiten nach. 2 Der Verfall des Organismus Kunst ist ebenso wie seine Blüte in den aktiven Stilepochen an die Dynamik der geschichtlichen Entwicklung eines Volkes gebunden. Aus den Bedingungen der Geschichte deutet Winckelmann die Unterschiede in der Kunstentwicklung der alten Völker. Wachstum und Entwicklung des Organismus Kunst bedürfen besonders günstiger „äußerer Umstände", ohne die die Kunst nicht zur Blüte und Reife gelangen kann. 3 So sind „die Ursachen und der Grund von dem Vorzuge, welchen die Kunst unter den Griechen erlangt hat", nur zum Teil „in dem Einfluß des Himmels" zu suchen, sondern ebensosehr „der Verfassung und Regierung und der dadurch gebildeten Denkungsart, wie nicht weniger der Achtung der 1 , , . . . es ist zu glauben, daß einige Künstler gesucht haben, zu der großen Manier ihrer Vorfahren zurückzukehren," und „sich bemühten, den älteren Stil nachzuahmen". (G. d. K. VIII, S. 241.) „Da nun die Verhältnisse und die Formen der Schönheit . . . auf das Höchste ausstudiert, und die Umrisse der Figuren so bestimmt waren, daß man ohne Fehler weder herausgehen, noch hineinlenken konnte: so war der Begriff der Schönheit nicht höher zu treiben. Es mußte also die Kunst, in welcher, wie in allen Wirkungen der Natur, kein fester Punkt zu denken ist, da sie nicht weiter hinausging, zurückgehen." (G. d. K. VIII, S. 236.) 2 „Die Vorstellungen der Götter und Helden waren . . . gebildet, und es wurde schwer, neue zu erdenken, wodurch also der Nachahmung der Weg geöffnet wurde. Diese schränkt den Geist ein . . . und der Nachahmer ist allezeit unter dem Nachgeahmten geblieben." (G. d. K. VIII, S. 236f.) 3 „Die Künste aber können ohne eine besondere glückliche Anscheinung niemals emporkommen." (G. d. K. X , S. 93.) I m 9. und 10. Buch seiner Kunstgeschichte stellt Winckelmann „die Geschichte der Kunst nach den äußern Umständen der Zeit unter den Griechen betrachtet" dar.

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Künstler und dem Gebrauch und der Anwendung der K u n s t unter den Griechen zuzuschreiben". 1 Ein wesentlicher „Umstand", der die aesthetische Blüte der griechischen Kunst begünstigte, war die politische Freiheit der Griechen, den anderen Völkern mehr oder weniger versagt. 2 Die alten Ägypter konnten die „Höhe der griechischen Kunst nicht erreichen", nicht nur „wegen der Bildung ihrer Körper und ihrer Art zu denken" (Wirkungen der Geschichte, die die biologische Struktur eines Volkes betreffen), sondern weil der geschichtliche Verlauf ihrer Kunstentwicklung durch politische, sozial- und religionsgeschichtliche Bedingungen an seinem organischen Wachstum gehindert wurde. 3 Durch diese Umstände erstarrte der Organismus der ägyptischen K u n s t auf seiner archaischen Stufe: ihren Künstlern war „nicht erlaubt, von dem alten Stil abzugehen: denn ihre Gesetze schränkten den Geist auf bloße Nachfolge ihrer Vorfahren ein und untersagten ihnen alle Neuerungen" 4 . So haben die ägyptischen Statuen zwar „viel Idealisches, jedoch keine idealische Schönheit"; der organische Kunstverlauf wird durch widrige geschichtliche Verhältnisse gebrochen und gehemmt. Die „Kunst der Hetrurier" h ä t t e indessen „vermöge der . . . vorteilhaften äußern Umstände 5 die höchste Vollkommenheit erreichen müssen. Da aber dieses nicht geschehen ist, . . . scheint die Ursache davon in den Eigenschaften und in der Gemütsart der Hetrurier zu liegen", die „den Fortgang der Künste gehemmt haben." 6 Die „Melancholie" der „Hetrurier", ihre zu „heftigen Empfindungen" und „tiefen Untersuchnngen" geneigte Natur h a t ihre Einbildung an die starren Formen des archaischen Systems gebunden und an der Einfühlung in die Formen der Natur gehindert. 6 Die „jonischen 1

G. d. K. IV, S. 8. „In Absicht der Verfassung und Regierung von Griechenland ist die Freiheit die vornehmste Ursache des Vorzugs der Kunst . . ." (G. d. K. IV, S. 18). „Durch die Freiheit erhob sich . . . das Denken des ganzen Volkes." (G. d. K. IV, S. 24). 3 „In solcher Verfassung konnten die Künstler weder Erziehung noch Umstände haben, die fähig waren, ihren Geist zu erheben, sich in das Hohe der Kunst zu wagen." (G. d. K. II, S. 160.) „Endlich liegt eine von den Ursachen der angezeigten Beschaffenheit der Kunst in Ägypten in der Achtung und in der Wissenschaft ihrer Künstler, welche . . . zu dem niedrigsten Stande gerechnet wurden." (G. d. K. II, S. 159.) 4 G. d. K. II, S. 158. 5 „Eine solche Regierung, an welcher ein jeder im Volke Anteil hatte, mußte auf den Verstand des ganzen Volkes einen Einfluß haben und den Geist und den Sinn erheben und beide geschickt machen zur Übung der Künste." (G. d. K. III, S. 291.) 6 G . d . K . I I I , S.293. (Das heißt: die Eigenart des von ihrer „Natur" abhängigen nationalen Stils der „Hetrurier" widerspricht der organischen Tendenz zur Einfühlung in die Natur.) 6 G. d. K. III, S. 293f. 2

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Griechen" dagegen, an „Gestalt und Gemüt" von dem „reinsten Himmel" f ü r das Kunstschaffen geradezu prädestiniert, die jedoch „ihre Freiheit von der angrenzenden Macht der Perser nicht verteidigen konnten, waren nicht imstande, sich in mächtige freie Staaten . . . zu erheben, und die Künste . . . konnten daher in dem jonischen Asien ihren vornehmsten Sitz nicht nehmen" 1 . Alle Faktoren des biologischen und geschichtlichen Daseins eines Volkes müssen aufeinander abgestimmt sein und zusammenwirken, damit der Organismus seiner Kunstübung wachsen, sich entwickeln und in der aesthetischen Reife vollenden kann. Der Vorrang der griechischen Kunst, von Winckelmann ursprünglich nur aus dem Vorzug der griechischen „Natur", der biologischen Beschaffenheit des griechischen Volkes, erklärt, erfährt nun durch die Erkenntnis von den Wirkungen der Geschichte auf die Kunstproduktion eines Volkes seine letzte Bestätigung. Die „ N a t u r " der Griechen — in Winckelmanns Kunstgeographie an bevorzugter Stelle stehend — bewirkt aus der Einheit von Gestalt und Geist den Stil des griechichen Volkes. Die Bedingungen der griechischen Geschichte — wiederum wirksam auf die organische „Bildung" der griechischen „ N a t u r " — vermögen den Organismus des griechischen Kunstschaffens so günstig „anzuscheinen", daß er sich zu Blüte und Reife der griechischen Klassik entwickeln konnte. Die Forderung der Aesthetik nach „geistiger" Kunstgestaltung bleibt trotz der Erkenntnis von der Bedingtheit des Kunstschaffens durch die Geschichtlichkeit des Künstlers bestehen. Der echte künstlerische A k t : geistige Erzeugung des Kunstwerks, deren Ausdruck die Zeichnung ist, muß auf der jeweiligen Stilstufe erfüllt, d. h. in dem jeweils von ihr bestimmten Verfahren geleistet werden, damit sich der Künstler von dem geistlosen und damit ,,stil"-losen „Nachahmer" unterscheide. Dem menschlichen Geist kommt der schöpferische Rang auch innerhalb der geschichtlich bedingten Kunstgestaltung zu. Während er in Winckelmanns Aesthetik jedoch die Überwindung der Wirklichkeit zur Aufgabe hatte, f ü g t er sich nun der jeweiligen geschichtlichen Kunstsituation ein und erfährt gerade in der Harmonisierung von Kunst und Wirklichkeit seine höchste Befriedigung. 2 1

G. d. K. I, S. 134. Selbstverständlich bleibt der subjektiven Eigenart des Künstlerindividuums, seinem persönlichen „Stil" innerhalb der geschichtlichen Bedingtheit R a u m : „Unterdessen kann der Stil von einer Zeit in der Kunst so wenig, als in der Art zu schreiben, allgemein sein . . ." (G. d. K. VIII, S. 210f.) Zudem verleiht der „Geschmack" — die aesthetische Qualifizierung des einzelnen Künstlers — den Kunstwerken innerhalb des Zeit- und Nationalstils verschiedenen künstlerischen Rang. 2

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IV. WINCKELMANNS L E H R E VON D E R NACHAHMUNG D E R GRIECHISCHEN W E R K E 1. Winckelmanns Nachahmungslehre in ihrer wirklichen

Bedeutung

An keiner These Winckelmanns hat sich der Gegensatz der Meinungen so heftig entzündet wie an seiner Lehre von der Nachahmung der griechischen Werke. Seinen Zeitgenossen war diese Lehre eine Verkündigung, schien sie doch den Weg zu weisen, wie die Sehnsucht des Jahrhunderts nach kultureller Erneuerung zu befriedigen sei. Dagegen wurde, seit im vorigen Jahrhundert die Erkenntnis von der Gechichtlichkeit des Kunstschaffens im Bewußtsein der Wissenschaft aufgegangen war, die Nachahmungslehre Ausgangspunkt heftiger Kritik an Winckelmann, dem man die Forderung eklektizistischen Formkopierens vorwarf, oder doch zumindest Anlaß, ihn und sein Werk als überholt zu erklären. Doch fehlten auch zahlreiche Rechtfertigungsversuche nicht: diese deuteten seine Lehre im Sinne einer Forderung nach „geistigem" Nachahmen, d. h. als Nachvollzug der griechischen Verfahrensweise in der jeweils gegebenen geschichtlichen Gegenwart. Auch diese Deutung verfehlt, ebenso wie die Polemik, den eigentlichen Sinngehalt der Nachahmungslehre. In beiden Fällen wird unter dem Begriff„Nachahmung" eine Abwandlung des künstlerischen Verfahrens verstanden: von der Kritik als Formgewinnung durch bloßes Kopieren, von der Verteidigung als Übertragung des griechischen „Idealismus" in die zeitgenössische Wirklichkeit. Beides ist von Winckelmann mit seiner Nachahmungslehre nicht gemeint, die nur auf Grund der Kenntnis seiner Aussagen über das Wesen des künstlerischen Aktes an sich gerecht verstanden werden kann. „Nachahmung" bedeutet dort, wie schon oben dargelegt, das erste, überwiegend geübte Verfahren künstlerischer Gestaltung, das zugleich die Forderung nach „Originalität" erfüllt; keinesfalls aber „geistloses", „mecha59

nisches" Formkopieren. Die Lehre von der „Nachahmung der griechischen Werke" muß in ihrer wörtlichen Bedeutung verstanden werden: Winckelmann fordert die „Nachahmung der griechischen Werke" an Stelle der üblichen „Nachahmung der Natur". Nicht ein neues V e r f a h r e n zeigt seine Lehre den Künstlern seiner Zeit, sondern ein neues O b j e k t : die griechische Kunstnatur, die die Stelle des bisherigen Urbilds, der „gewöhnlichen" Natur einnehmen soll.1 Winckelmanns Nachahmungslehre gründet auf seiner Erkenntnis von der Relativität der „Natur"-Schönheit als Ursache für die Relativität der Kunstformen, die er mit seiner eigentümlichen Geographie der Kunstgestaltung erklärt. Die Macht der Geschichte über Kunst und Wirklichkeit ist von dem frühen Winckelmann noch nicht erkannt; die „Natur" wird im künstlerischen Gestaltungsakt mir als Urbild betrachtet, als mehr oder weniger „reine" Erscheinungsform der Idee. Nur in der „Natur" des Griechentums erschien ihm die Idee der Schönheit mit den Formen der Wirklichkeit identisch ; sie gelangte daher in den Werken der griechischen Plastik zur überzeitlichen Anschaubarkeit. Die „Natur" der anderen Völker — durch Raum und Zeit vom griechischen Altertum getrennt — vermag die Idee nicht mehr rein zu offenbaren. So bedeutet für den modernen abendländischen Künstler die griechische Kunst-Natur die einzige sinnliche Erscheinungsform der Idee. Sein durch die Orientierung an der „gewöhnlichen" Natur bedingter „schlechter Geschmack" — der unvollkommene Begriff der Idee — wird durch den aus der Griechenkunst rezipierten „guten Geschmack" — den Begriff der reinen Idee — geläutert. 2 Die „Nachahmung der griechi1 Von der Nachahmungslehre des französischen Klassizismus, die sich durch den Einfluß der rationalistischen Doktrin mehr und mehr v o m „imiter l'Antiquité" zum „corriger l'Antiquité" hinentwickelte, ist Winckelmanns Nachahmungslehre auch insofern unterschieden, als Winckelmann seine Lehre nicht auf rationale Regeln, Proportionsgesetze usw. gründet. Die „Nachahmung" der griechischen Werke ist für ihn nur durch Kenntnis der „Originale" möglich, die weder durch Stiche, Abbildungen oder Kopien, noch durch Regeln ersetzt werden können. Winckelmann will gerade keinen starren Formalismus lehren, sondern in gewissem Sinne durchaus „Naturalismus" d. h. lebendige Einfühlung der Künstler in die „Wirklichkeit" der griechischen Kunstnatur. (Über die Bedeutsamkeit des „originalen" Kunstwerks s. Kap. VI.) 2 „Wenn der Geschmack des Altertums der Künstler Regel in Absicht der Form und der Schönheit nicht sein soll, so wird gar keine anzunehmen sein . . . ja aus jeder Figur würde man das Vaterland des Künstlers ohne Belesenheit erraten können." (E., S. 146f.) „Wer die besten Werke des Altertums nicht hat kennen lernen, glaube nicht, zu wissen, was wahrhaftig schön ist; unsere Begriffe werden außer dieser Kenntnis einzeln und nach unserer Neigung gebildet sein." (B., S. 211.)

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sehen Werke" ist somit der „einzige Weg" für ihn, um „groß, ja unnachahmlich" zu werden; die Idee der Schönheit ist in den „griechischen Statuen eher zu entdecken", „nicht so sehr zerstreut, sondern mehr in Eines vereinigt", als in der Unvollkommenheit seiner eigenen, vom emanierenden Zentrum entfernten „Natur". 1 Der Künstler, der auf diese Weise die griechischen Werke „nachahmt", rezipiert anstelle der Formender „gewöhnlichenNatur" seines Volkes die Formenwelt der griechischen Kunstwerke und abstrahiert aus ihnen die reine Idee, die seinen eigenen geistigen Formentwurf durch „Denken" und „Einbildung" bestimmt. Er leitet also wie jeder Künstler, der das Verfahren der „Nachahmung" der Natur ausübt, den künstlerischen Akt der geistigen Formerzeugung und unterscheidet sich dadurch vom „Eklektizisten", welcher auf nur „mechanische" Weise bereits vorgegebene Formelemente zusammenfügt. 2 „Gegen das eigene Denken", sagt Winckelmann, „setze ich das Nachahmen, nicht die Nachahmung. Unter jenem verstehe ich die knechtische Folge, in dieser aber kann das Nachgeahmte, wenn es mit Vernunft geführt wird, gleichsam eine andere Natur annehmen und etwas Eigenes werden." 3 1

„ I c h glaube, ihre N a c h a h m u n g k ö n n t e lehren, geschwinder klug zu werden, weil sie hier in d e m einen d e n Inbegriff desjenigen findet, was in der ganzen N a t u r ausgeteilt i s t . . . " (G., S. 22.) „ D a s S t u d i u m der N a t u r m u ß also wenigstens ein längerer u n d m ü h s a m e r e r W e g zur K e n n t n i s des vollkommenen Schönen sein, als es d a s S t u d i u m der A n t i k e n i s t . " (G„ S. 21.) 2 Die Caracci „ w a r e n Eklektici u n d suchten die R e i n h e i t der Alten u n d des Raphaels, das Wissen des Michel Angelo . . . zu v e r e i n i g e n " . . . „ I n der Schule des Agostino . . . h a b e n sich Domenichino, Guido . . . Albano gebildet, die den R u h m ihrer Meister erreicht, aber als N a c h a h m e r müssen geachtet werden, . . . " (Empf., S.265.) Guercino: „Seine Bilder sind edel, aber n a c h seinen eigenen Begriffen e n t w o r f e n , sodaß er m e h r als die vorigen, ein Original heißen k a n n . " (Empf., S. 266.) „Eklektici oder Sammler, . . . die a u s Mangel eigener K r ä f t e d a s einzelne Schöne a u s Vielen in Eines zu vereinigen suchten. Aber so wie die Eklektici n u r als K o p i s t e n . . . anzusehen sind, u n d wenig oder nichts Ursprüngliches h e r v o r g e b r a c h t h a b e n : so war auch in der K u n s t , w e n n m a n eben den W e g n a h m , n i c h t s Ganzes, Eigenes u n d Übereinstimmendes zu e r w a r t e n . " (G. d. K . V I I I , S. 237). Dieses „ N a c h a h m e n " s t e h t also im s t r i k t e n Gegensatz zum aesthetischen V e r f a h r e n der s y n t h e t i s c h e n Abstraktion, d u r c h welches die Synthese der schönen Details d u r c h d e n geistigen E n t w u r f des „ I d e a l s " — der Idee des Ganzen — zur E i n h e i t z u s a m m e n g e f ü g t w i r d l 3 „ N a c h m a c h e n n e n n e ich ferner gleichsam n a c h einem gewissen F o r m u l a r arbeiten, ohne selbst zu wissen, d a ß m a n nicht d e n k t . " (B., S. 206f.) „ N a c h m a c h e n ohne zu d e n k e n i s t : eine M a d o n n a v o n M a r a t t a . . . u n d a n d e r e Figuren anderswo n e h m e n u n d ein ganzes m a c h e n . " (B., S. 206.) ,, . . . .derjenige, welcher beständig a n d e r n n a c h g e h t , wird niemals v o r a u s k o m m e n , u n d welcher a u s sich selbst nichts Gutes zu m a c h e n weiß, wird sich a u c h der Sachen v o n a n d e r n n i c h t g u t bedienen' . . . " (G., S. 22f.)

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Winckelmanns Nachahmungslehre bedeutet jedoch keineswegs eine ausschließliche Bindung des bildenden Künstlers an das Urbild „griechische K u n s t " . Die „Nachahmung der griechischen Werke" kann im modernen Künstler eine Art Läuterungs- und Erziehungsprozeß bewirken, in dessen Verlauf sich seine schöpferischen Kräfte dem „guten Geschmack" der griechischen Kunst so vollkommen angleichen, daß sich der Künstler auch der Orientierung an der „gewöhnlichen" Natur überlassen kann. Durch das beständige „Studium der Antike" ist die Fähigkeit des Künstlers zur sinnlichen Rezeption — seine „Empfindung" — um soviel „richtiger gemacht" und geläutert worden, daß sie nunmehr auf das „wahre Schöne" reagiert, gegen die „gewöhnlichen" Formen der Natur jedoch un,,empfindlich" ist. Der „Verstand" des Künstlers — sein den geistigen Formentwurf bewirkendes Organ — hat sich den „Begriff" der wahren Schönheit angeeignet; die eigene geistige Schöpfung des Künstlers ist selbst im Formenreich der gewöhnlichen Natur zum „guten Geschmack" prädisponiert. Die „Nachahmung der griechischen Werke" hat den Künstler „gelehrt, mit Sicherheit zu denken und zu entwerfen", 1 so daß ihn „der wahre Geschmack des Altertums . . . auch durch die gemeine Natur hindurch beständig" begleiten wird; „alle Bemerkungen in derselben" werden wie „durch eine Art einer chemischen Verwandlung dasjenige" werden, „was sein Wesen, seine Seele ausmacht." 2 „Die Begriffe des Ganzen, des Vollkommenen in der Natur des Altertums werden die Begriffe des Geteilten in unserer Natur bei ihm läutern und sinnlicher machen: er wird bei der Entdeckung der Schönheiten derselben diese mit dem vollkommenen Schönen zu verbinden wissen und durch die Hilfe der ihm beständig gegenwärtigen Formen wird er sich selbst eine Regel werden." 3 Diese Anverwandlung der Schöpferkraft des modernen bildenden Künstlers an die aesthetische Sphäre des Griechentums vermag ebenso wie die direkte „Nachahmung der griechischen Werke" für Winckelmann die Wiedergeburt griechischer Form und griechischer Schönheit in der zeitgenössischen Kunstproduktion zu bewirken. Diese Spekulation, die im Zusammenhang von 1

G„ S. 22. „In diesem Verstände ist es zu n e h m e n . . . wenn . . . .Raphael . . . sich bestrebt habe, den Marmor zu verlassen und der Natur gänzlich nachzugehen.'" (G., S. 23.) 3 „Wenn der Künstler auf diesen Grund baut und sich die griechische Regel der Schönheit Hand und Sinne führen läßt, so ist er auf dem Wege, der ihn sicher zur Nachahmung der Natur führen wird." (G., S. 22.) „Alsdann und nicht eher kann er, sonderlich der Maler, sich der Nachahmung der Natur überlassen in solchen Fällen, wo ihm die Kunst verstattet, von dem Marmor abzugehen . . . und sich mehr Freiheit zu geben." (G., S. 22.) 2

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Winckelmanns allgemeiner Aesthetik als berechtigt erscheint, sollte sich durch Winckelmanns Erkenntnis von der Bedingtheit aller Kunstgestaltung durch die geschichtliche Wirkkraft „Stil" als utopisch erweisen.

2. Die Aufhebung der Nachahmungslehre durch Winckelmanns historische Erkenntnisse Auch in Winckelmanns historischer Kunstbetrachtung kommt dem Begriff „Nachahmung" eine ganz bestimmte Bedeutung zu. Als das „naturalistische" unter den künstlerischen Verfahren ist „Nachahmung" nur auf einer einzigen Stufe des organischen Kunstverlaufs möglich und als dieser Stufe zugehöriger Zeit-„Stil" mit Notwendigkeit der geschichtlichen Kunstentwicklung verknüpft. Neben dieser Bestimmtheit des künstlerischen Verfahrens durch den „ S t i l " einer Zeit wurde auch die Gebundenheit der Kunstgestaltung an den „Stil" einer Nation erkannt: die geschichtlich-biologische Seinsstruktur eines Volkes wirkt durch die „Natur" des einzelnen Künstlers hindurch im künstlerischen Akt und bindet den subjektiven „ S t i l " des Künstlerindividuums in die Gesetzlichkeit der nationalen Kunstproduktion ein. Auch die Kunst der Griechen ist somit als ein geschichtliches Phänomen erkannt. Die Formen der Natur, die dem griechischen Künstler die sinnliche Erscheinung der Idee vermitteln, sind Formen von geschichtlicher Einmaligkeit. Die organische Entwicklung der griechischen Kunst wird von den Gegebenheiten der griechischen Geschichte mit Notwendigkeit bedingt, — Geist und sinnliche Gestalt des griechischen Künstlers (im künstlerischen Prozeß integrierend beteiligt) haben diesen mit Notwendigkeit seiner geschichtlichen Situation verknüpft. Die von Winckelmann als aesthetische Norm erkannte griechische Plastik hat sich ihm zugleich in ihrer geschichtlichen Notwendigkeit und Einmaligkeit offenbart: nur innerhalb der organisch-geschichtlichen Struktur des griechischen Lebens konnte sich ihre klassische Blüte entwickeln, nur aus dem Zusammenwirken aller individuellen mit den überindividuellen geschichtlichen Faktoren wurde ihre nationale Stilbildung möglich. Nicht anders als der griechische Künstler dem Stil seiner Zeit und seiner Nation, ist auch der moderne Künstler seiner geschichtlichen Gegenwart verhaftet. Nur durch negatives „Nachahmen" kann er sich aus ihren Bindungen lösen, d. h. durch „geistloses" Formkopieren, indem er die Formen des Kunstwerks nicht selbst entwirft, sondern vorgegebene Formen auf nur „manuelle", „.mechanische" Weise 63

überträgt. Solches „Nachahmen" kennzeichnet im „Stil der Nachahmer" die Verfallsepoche der Kunst eines Volkes, in welcher die „stilbildenden" aktiven Kräfte der Geschichte erlahmen und die Wirklichkeit von den Künstlern eines Volkes nicht mehr bewältigt werden kann: die Künstler ahmen „Natur" und ,Stile" vorangegangener Epochen nach.1 Nur im „Stil" seiner geschichtlichen Gegenwart kann der Künstler den echten künstlerischen Akt vpllziehen, den eigenen geistigen Formentwurf, der den stilbildenden Kräften der Geschichte zugehört. Aesthetische Qualität gelingt ihm nur in der Bindung an den Stil seiner Zeit und seines Volkes.2 Selbst wenn der Geist des Künstlers sich der aesthetischen Sphäre des Griechentums vollkommen angleicht, müssen die Gesetze der Wirkkraft „Stil", die sowohl die künstlerische Schöpfung an die geschichtliche Existenz des Künstlers binden, wie sein künstlerisches Verfahren an eine „Stilstufe" im organischen Kunstverlauf, mit Notwendigkeit eine von dem griechischen Urbild verschiedene künstlerische Form bewirken. Winckelmann schildert in seiner Kunstgeschichte den Restaurierungsversuch des Kaisers Hadrian — „der die Kunst in ihrem ganzen Umfange begriffen hatte" 3 und einen rationalen Erneuerungsprozeß des gesamten organischen Kunstverlaufs einzuleiten versuchte. Er „führte die Kunst gleichsam zurück zu ihren ersten Anfängen und zu der Grundlage der Zeichnung", zu einer bewußten Archaik also, durch welche die „Richtigkeit" der Wirklichkeit von neuem erworben werden sollte, um die Kunst von dem „Schwulst" der Verfallsepoche zu reinigen. Dieser Restaurierungsversuch 1 ,, . . . es ist zu glauben, daß einige Künstler gesucht haben, zu der großen Manier ihrer Vorfahren zurückzukehren. Auf diesem Wege kann es geschehen sein . . . daß die Künstler sich bemühten, den älteren Stil nachzuahmen . . ." (G. d. K . VIII, S. 241.) „Es mußte also die Kunst . . . zurückgehen . . . wodurch also der Nachahmung der Weg geöffnet wurde. Diese schränkt den Geist ein . . . der Nachahmer ist allezeit unter dem Nachgeahmten geblieben." „Die Nachahmung beförderte den Mangel eigener Wissenschaft, wodurch die Zeichnung furchtsam wurde, und was der Wissenschaft abging, suchte man durch Fleiß zu ersetzen . . . " (G. d. K. VIII, S. 236f.) „Es wird auch der Kunst wie der Weltweisheit ergangen sein, daß, so wie hier, also auch unter den Künstlern Eklektici oder Sammler aufstanden, die aus Mangel eigener Kräfte das einzelne Schöne aus Vielen in Eines zu vereinigen suchten." (G. d. K . VIII, S. 237.) 2 „Die römischen Künstler sind als Nachahmer der Griechen anzusehen und haben also keine besondere Schule und keinen eigenen Stil bilden können." (G. d. K. VIII, S. 265.) 3 G. d. K. X I I , S. 279.

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mußte an den fehlenden geschichtlichen Verhältnissen scheitern, mit welchen die alte Kunst „beständig einerlei Schicksale hatte" 1 . Winckelmanns frühe Schrift „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst" ist von den späteren Büchern seiner „Geschichte der Kunst des Altertums" durch die Spanne einer denkerischen Entwicklung getrennt, in deren Verlauf die historischen Erkenntnisse Winckelmanns die normativen Bestrebungen seiner Aesthetik überwunden haben. Der Historiker Winckelmann hat sich von seiner Nachahmungslehre distanziert. Für den Aesthetiker Winckelmann bleibt die griechische Kunst Beispiel höchster aesthetischer Vollendung; der Hoffnung auf Erneuerung der abendländischen Kunst durch „Nachahmung" der griechischen Werke aber hat der Historiker Winckelmann entsagen müssen: denn „Nachahmung" von Kunstformen historischer „Stile" ist ein Phänomen des geschichtlichen Verfalls einer Kultur und als wahre künstlerische Leistung nicht mehr denkbar. „Guter Geschmack" bedeutet nur mehr das Kriterium für aesthetische Qualität, die sich jedoch nur im „Stil" aktiver Geschichtsepochen verwirklichen kann. Der Widerspruch zwischen Winckelmanns normativer Aesthetik und seiner geschichtlichen Kunstbetrachtung ist durch die Entwicklung des Denkers Winckelmann erklärt. Die Polemik der kunsthistorischen Literatur ist somit in zweifacher Hinsicht gegenstandslos: einmal weil der Winckelmann der Nachahmungslehre auch vom Nachahmer der griechischen Werke wahre künstlerische Leistung fordert und an deren Möglichkeit glaubt, zum anderen, weil er auf seine Lehre verzichtet, sobald ihm bewußt geworden ist, in welchem Ausmaß Kunst geschichtlich bedingt ist. Auch diejenigen Rechtfertigungsversuche der Literatur, die Winckelmanns Nachahmungslehre als Forderung nach Übertragung der griechischen Verfahrensweise in die jeweilige geschichtliche Wirklichkeit deuten, werden durch Winckelmanns Aussagen nicht bestätigt. Der normative Aesthetiker Winckelmann, der die „Gedanken" schrieb, forderte formgetreue „Nachahmung" antiker Urbilder, „naturalistische" Nachgestaltung der griechischen Kunstnatur. Der Historiker Winckelmann jedoch formuliert keine künstlerischen Postulate dieser Art — an die Stelle der Künstlerpädagogik tritt die auf den Betrachter bezogene Kunsterziehung. Der Fortschrittsoptimismus des 1

„Wäre es möglich gewesen, die Kunst zu ihrer vormaligen Herrlichkeit zu erheben, so war Hadrian der Mann, dem es hierzu weder an Kenntnis noch an Bemühung fehlte; aber der Geist der Freiheit war aus der Welt gewichen, und die Quelle zum erhabenen Denken und zum Ruhme war verschwunden." (G. d. K. X I I , S. 291.)

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frühen Winckelmann ist der „tiefen Trauer des echten Klassizisten über den Untergang der alten Kunst" 1 gewichen. Gerade weil Winckelmanns Erkenntnis von der Geschichtlichkeit der Kunst zugleich die Erkenntnis von der Unwiederholbarkeit griechischer Form und Schönheit ist, gibt er die zeitgebundene Haltung des lehrhaften Theoretikers auf und zieht sich in die Sphäre historischer Betrachtung zurück, um in der Erkenntnis vom „Wesen" der griechischen Kunst Entschädigung für den verlorenen Besitz zu finden.2 1

Obenauer, a. a. O., S. 152. Ü b e r den. Torso i m Belvedere: „Die K u n s t weint zugleich m i t m i r : d e n n d a s W e r k , . . . welches vielleicht das letzte ist, a n welches sie ihre ä u ß e r s t e n K r ä f t e gewendet h a t , m u ß sie h a l b vernichtet . . . sehen . . . Aber die K u n s t , welche u n s weiter u n t e r r i c h t e n will, r u f t u n s von diesen traurigen Überlegungen zurück u n d zeigt uns, wieviel noch aus d e m Übriggebliebenen zu lernen i s t . . . " (T., S. 233.) „ I c h bin in der Geschichte der K u n s t schon über ihre Grenzen gegangen, u n d ohngeachtet mir bei B e t r a c h t u n g des Unterganges derselben fast zu Mute gewesen ist, wie demjenigen, der in Beschreibung der Geschichte seines Vaterlandes die Zerstörung desselben, die er selbst erlebt h a t , b e r ü h r e n m u ß t e : so k o n n t e ich mich dennoch n i c h t enthalten, d e m Schicksale der W e r k e der K u n s t , so weit m e i n Auge ging, nachzusehen, so wie eine Liebste a n d e m U f e r des Meeres ihren a b f a h r e n d e n Liebhaber, ohne H o f f n u n g , ihn wiederzusehen, m i t b e t r ä n t e m Auge verfolgt . . . " (G. d. K , X I I , S. 365.) 2

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V. D A S P L A S T I S C H E K U N S T W E R K U N D D I E MENSCHLICHE E X I S T E N Z 1. Schönheit und Stille und das menschliche Sein I n Winckelmanns aesthetischen Schriften wird Plastik aus dem Sammelbegriff der „schönen K ü n s t e " bewußt herausgehoben u n d nach ihrer formalen u n d gehaltliehen Eigengesetzlichkeit untersucht. Z u m ersten Mal werden nicht mehr n u r dogmatische Regeln formuliert, sondern es wird versucht, das Wesen des Plastischen selbst zu ergründen. I n Winckelmanns Theorie der plastischen K u n s t vereinigen sich die polaren Entwicklungsströme seinerZeit. Sie enthält gleichermaßen Elemente der Aufklärung wie Keime romantischer Geisteshaltung: sowohl die Forderung nach „idealer" Schönheit als auch die Forderung nach „ A u s d r u c k " in der plastischen Form. Winckelmann ist keineswegs ausschließlich der „kühle Klassizist", der einseitig reine, inhaltsgelöste Schönheit fordert, als welchen ihn seine Zeit u n d auch die Nachwelt vielfach verstanden h a t . E r h a t die Ausdruckskraft der plastischen F o r m bereits in weitem U m f a n g erkannt. Allerdings betrachtet er noch nicht, wie wenig später Herder, die Deutung der Wirklichkeit als wesentlichste Leistung der Plastik. 1 Herder beschränkte in bewußtem Verzicht auf alle metahpysische Spekulation die Aufgaben der plastischen K u n s t auf die Nachgestaltung der 1 ,, . . . da jede Form der Erhabenheit und Schönheit am menschlichen Körper eigentlich nur Form der Gesundheit, des Lebens, der Kraft, des Wohlseins in jedem Gliede . . . dieses Geschöpfes . . . sei und bleibe . . . Die Wohlgestalt des Menschen ist also kein Abstraktum aus den Wolken, keine Komposition gelehrter Regeln oder willkürlicher Einverständnisse . . ." (J. G. Herder, Plastik, Herders Werk I I I , 2, Deutsche Nationalliteratur, hrsg. v. J. Kürschner, 76. Bd., Stuttgart o. J., S. 327). „Schönheit ist also nur immer Durchschein, Form, sinnlicher Ausdruck der Vollkommenheit zum Zwecke, wallendes Leben, menschliche Gesundheit." Ebenda, S. 328; vgl. auch B. Schweitzer, Herders Plastik, Leipzig 1948.

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sinnlich-seelischen Beziehungen im lebenden menschlichen Körper. Die „Wahrheit" der plastischen Aussage liegt für ihn in der sinnlichen E r f ü l l barkeit der plastischen Formen selbst. 1 F ü r Winckelmann dagegen bedeutet die Gestaltung solcher Wirklichkeit, der tätigen und bewegten menschlichen Seele in den Formen des Körpers, nur e i n e unter den Möglichkeiten der plastischen Kunst, nur e i n e n Abschnitt aus der weiten Spanne des Menschlichen zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, welche ihm unter allen Künsten allein die Plastik auszudeuten vermag. „Wahrheit" ist für Winckelmann nur im metaphysischen Bereich; sie steht in seiner Aesthetik antinomisch dem Wirklichen gegenüber. Aus dieser Vorstellung Winckelmanns von der antinomischen Struktur des Daseins — welche sich erst durch die Entwicklung seines historischen Denkens allmählich in die Erkenntnis von der Polarität des Daseins wandelt 2 — ergibt sich für ihn die eigentliche Aufgabe der plastischen Kunst, welche allein durch die formalen Möglichkeiten der Plastik geleistet werden k a n n : sogar die Gestaltung des Wirklichen transparent zu machen für das „eigentliche W a h r e " des menschlichen Seins. Keine andere Kunstform ist ebenso sehr wie die Plastik an die sinnliche Existenz des Menschen gebunden und hat zugleich die Fähigkeit, die „wahre" geistig-seelische Substanz des Menschen als absoluten Wert in den Formen der Wirklichkeit zu gestalten. I n der plastischen Gestalt wird das Sein des Menschen auf einer höheren Daseinsebene neu erzeugt, auf welcher sich die Idee realisieren und das Reale idealisieren kann; das Metaphysische der menschlichen Existenz kann durch die plastische Gestaltung des menschlichen Körpers sinnlich erfahrbar werden. 1 „Im Gesicht istiTraum,im Gefühl Wahrheit." (Herder, a.a. O., S. 281); schöne Form, schöne Bildung, die . . . dargestellte, tastbare Wahrheit ist," (Ebenda, S. 284); „ . . . die Bildnerei ist Wahrheit, die Malerei Traum." (Ebenda, S. 289.) 2 Auch in dieser Entwicklung Winckelmanns deuten sich bereits Ansätze einer Geisteshaltung an, die für die Romantik bestimmend wird. „Das Reich des Verstandes und die Welt der Gefühle, Bewußtheit und Unbewußtheit, Erfahrung und Idee, Natur und Geist . . . das Besondere und das Allgemeine, Endliches und Unendliches, diesseitige und jenseitige Welt, alle diese Gegensatzpaare, von der Aufklärung und verwandten Richtungen als Antinomien angesehen, werden v o n Romantikern als Polaritäten, als einander zugehörige, sich bedingende Gegensätze, deren Spannung den Kraftstrom des Lebens ergibt . . . erlebt und aufgefaßt." „ . . . daß der einzelne nicht losgelöst allein dem Unendlichen oder einer fremden und toten Umwelt, die ihm als geistigem Wesen weit unterlegen ist, gegenüberstehe, wie das die rationalistische Lehre zur Folge hat, das verhindert die . . . Anerkennung . . . der allgemeinen Mächte, denen der Einzelne zugehört, von denen er sich abhängig fühlt und weiß, seien das nun die Kräfte der Natur oder die Mächte der Vergangenheit, die in die Gegenwart und Zukunft hinein wirken, in dem großen ununterbrochenen Strom allen Geschehens." (P. Kluckhohn, Das Ideengut der deutschen Romantik, 2. Aufl., Halle 1942, S. 16f.)

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Diese Aufgabe kann für Winckelmann von der Plastik auf verschiedene Weise geleistet werden. Die Komponenten aus dem sinnlichen und aus dem metaphysischen Bereich können sich im plastischen Kunstwerk jeweils verschieden verknüpfen. Für die alte Aesthetik, soweit sie für die bildende Kunst ausschließlich die Gestaltung des Absoluten erstrebte, war die Darstellung der reinen, ausdruckslosen Schönheit höchstes Gesetz. Auch in Winckelmanns Aesthetik ist die „Idee" der höchsten Schönheit Inbegriff des absoluten Wertes. Allerdings vertritt für ihn die Idee der höchsten Schönheit diesen absoluten Wert nicht mehr allein. Die Erkenntnis der Unmöglichkeit, diesen spekulativen Begriff formal eindeutig zu verwirklichen, die Herder bewog, das „Wahre" in die Sphäre der sinnlichen Erscheinungswelt zu verlegen, bildet sich auch in Winckelmann allmählich heraus.1 1 Winckelmanns intensives B e m ü h e n , das Wesen der Schönheit zu e r g r ü n d e n u n d die begriffliche Definition der höchsten Idee m i t ihrer formalen Definition in E i n klang zu bringen, s c h w a n k t beständig zwischen D e d u k t i o n u n d I n d u k t i o n . I m Verlauf seiner E n t w i c k l u n g zeichnet sich jedoch deutlich eine gewisse Resignation a n d e r rationalistischen Erkenntnisweise a b : ,, . . . so bleibt unser Begriff v o n der allgemeinen Schönheit u n b e s t i m m t u n d bildet sich in u n s durch einzelne Kenntnisse, die, w e n n sie richtig sind, gesammelt u n d v e r b u n d e n u n s die höchste I d e e m e n s c h l i c h e r Schönheit geben . . . D a ferner . . . ein jeder Begriff auf einer Ursache b e s t e h t , die a u ß e r diesem Begriffe in etwas a n d e r e m gesucht werden m u ß : so k a n n die Ursache der Schönheit n i c h t a u ß e r ihr, d a sie in allen erschaffenen Dingen ist, g e f u n d e n werden. E b e n d a h e r , u n d weil unsere Kenntnisse Vergleichungsbegriffe sind, die Schönheit aber m i t nichts H ö h e r e m k a n n verglichen werden, r ü h r t die Schwierigkeit einer allgemeinen u n d d e u t lichen E r k l ä r u n g derselben." (G. d. K . IV, S. 59f.) , , . . . das Schwerste ist, was es n i c h t scheint, die Schönheit, weil sie . . . n i c h t u n t e r Zahl u n d Maß f ä l l t . " (B„ S. 207.) W i n c k e l m a n n b e t o n t , d a ß er „kein System der Schönheit schreiben" will, „selbst w e n n ich es k ö n n t e " . D a r u m sieht er auch die R e t t u n g a u s der R e l a t i v i t ä t der Begriffe keineswegs in fixierten Regeln u n d Gesetzen, s o n d e r n er sieht die Gewähr f ü r die Bildung aesthetisch richtiger Begriffe allein in der s u b j e k t i v e n aesthetischen „ E m p f i n d u n g s f ä h i g k e i t " des rezipierenden oder gestaltenden I n d i v i d u u m s . „ D a s Schöne b e s t e h t in der Mannigfaltigkeit im E i n f a c h e n ; . . . n u r der v e r s t e h t die wenigen W o r t e , der sich diesen Begriff aus sich selbst g e m a c h t h a t . " (B., S. 207.) „ E b e n daher ist das Verständnis des Verhältnisses des Ganzen, die Wissenschaft v o n Gebeinen u n d Muskeln n i c h t so schwer u n d allgemeiner, als die K e n n t n i s des Schönen. U n d w e n n a u c h das Schöne durch einen allgemeinen Begriff k ö n n t e b e s t i m m t werden, welches m a n wünscht u n d s u c h t : so w ü r d e sie dem, welchem der H i m m e l das Gefühl versagt h a t , n i c h t helfen." (B., S. 207.) Schönheit bleibt letztlich f ü r W i n c k e l m a n n ein letztes, unerforschliches Myster i u m , ,, . . . eines v o n den großen Geheimnissen der N a t u r , deren W i r k u n g wir sehen u n d alle empfinden, von deren Wesen aber ein allgemeiner, deutlicher Begriff u n t e r die u n e r f u n d e n e n W a h r h e i t e n g e h ö r t . " (G. d. K . I V , S. 46.) E s läßt sich ü b e r h a u p t parallel zu seiner E n t w i c k l u n g als Historiker eine Tendenz Winckelmanns zu größerer N a t u r n ä h e feststellen. Der W e g zur Vollkommenheit in der K u n s t „ist, selbst die Quelle zu suchen u n d zu d e m U r s p r ü n g e zurückzukehren,

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Aus diesem Grund führt er in seine Aesthetik noch einen zweiten Wertnenner für das Absolute ein: den Begriff der „Stille", der sich, bei zugleich größerer begrifflicher Faßbarkeit, formal eindeutig versinnlichen läßt. Der Begriff der „Stille" wird für Winckelmanns Aesthetik der plastischen Kunst von ausschlaggebender Bedeutung. Stille wirkt als seelischer und als formaler Wert zugleich und ist darum für beide Gestaltungsinhalte der Plastik — menschlicher Körper und menschliche Seele — gleichermaßen verbindlich. Zugleich kann mit Hilfe dieses Begriffes die Verbindung zwischen der philosophischen Definition der höchsten Schönheit und ihrer formalen Bestimmbarkeit hergestellt werden. Denn im metaphysischen Bereich — der Sphäre des Absoluten, die für den Aesthetiker Winckelmann im platonischen Sinne höchste Wirklichkeit und „Wahrheit" ist — fallen der Raum der höchsten Schönheit und der Raum der Stille zusammen. Absolute Schönheit ist nur in absoluter Stille anwesend. Überdies ist der Begriff der Stille in der philosophischen Definition der höchsten Schönheit enthalten; er entspricht deren Begriffen von „Einheit", „Unteilbarkeit" und „Einfachheit", die im „ruhigen", wenig bewegten, ungebrochenen und „einfältigen" Kontur sinnliche Form gewinnen.1 Beide Begriffe, absolute Schönheit und absolute Stille, gehören dem Begriff des „höchsten göttlichen Wesens" zu, das alle Wirklichkeit, also auch den Menschen, aus seinem Zentrum ausfließen läßt. 2 Darum wird auch das „wahre" Wesen menschlichen Seins als um die Wahrheit rein und unvermischt zu finden. Die Quelle und der Ursprung ist die Natur selbst, die . . . unter Regeln, Sätzen und Vorschriften sich verlieren und unkenntlich werden k a n n " . (G. d. K . X , S. 11.) Hier berührt sich Winckelmann bereits nahe mit Herder, in dessen Nachfolge sich die romantischen Kunsttheorien herausgebildet haben. (Wie sehr die Natur im späten Winckelmann an Vorrang gewinnt, kann vielleicht auch sein Ausspruch bezeugen, daß er sich nach Vollendung seiner kunsthistorischen Arbeiten „ganz dem Studium der N a t u r " widmen wolle.) 1 „Die F o r m e n eines solchen Bildes sind einfach und ununterbrochen, und in dieser Einheit mannigfaltig, eben dadurch aber sind sie harmonisch." (G. d. K . I V , S. 60.) 2 Die Auffassung Winckelmanns von der emanierenden Gottheit, die für seine Aesthetik bedeutsam ist, wird vom Historiker Winckelmann durch die Auffassung von der Gestaltung des Daseins durch die demiurgischen Mächte Natur und Geschichte ersetzt. Die in Winckelmanns Aesthetik wirksame Emanationslehre, die hier in ganz persönlicher Prägung erscheint, setzt sich jedoch in der deutschen Klassik fort. „Die Welt wird von Goethe aufgefaßt als eine E m a n a t i o n der Gottheit, von Gott ausfließend, sich in die Fülle der Wirklichkeiten zerteilend, um danach wieder in die Einheit zurückzukehren. I n der ursprünglichen Einheit bricht die Polarität von Licht und Finsternis auf, von Geist und Materie, von Seele und K ö r per . . . die er als ,die notwendigen Doppelingredienzen des Universums' bezeichnet." (Kluckhohn, a. a. O., S. 8.)

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absolute Schönheit der Formen und als absolute Stille der Seele gedacht, die sich beständig durchdringen. Die Absolutheit der Durchdringung findet jedoch im „erschaffenen" Menschen niemals statt; sie ist möglich nur in dem Zustand der „Unerschaffenheit", dem menschlichen Sein im göttlichen Ursprung selbst. Sobald der Mench zum lebendigen Dasein „erschaffen" ist, tritt die Seele als Bewegendes in Tätigkeit. Ihre Bewegungen, die die „Leidenschaften" sind, die „Winde..., die in dem Meere des Lebens unser Schiff treiben" 1 , drücken sich sowohl in den einzelnen Formen als auch im Handeln und Wirken des lebenden Körpers aus und zerstören so die absolute „Einheit" und „Stille" der höchsten Schönheit. Wenn Winckelmann von der Schönheit des „menschlichen" Körpers spricht, so ist damit niemals die höchste, absolute Schönheit gemeint; denn dieser wird durch das Erschaffensein in der Materie und durch die vom wirklichen Dasein erforderte Bewegung der Seele unmöglich gemacht. Dennoch ist auch für Winckelmann der lebende menschliche Körper „schön", wenngleich in verschiedenem Grade.2 Die menschliche Schönheit entfernt sich mit dem wachsenden Alter des Menschen, seinem zunehmenden Verfallensein an die Materie, immer mehr von der absoluten Schönheit. Den Begriffen der höchsten Schönheit entspricht am meisten der ruhige, nicht unterbrochene Kontur des jugendlichen Körpers. Noch ist die werdende Mannigfaltigkeit seiner Formen ganz in die Einheit eingebunden. Im jugendlichen Körper spiegelt sich noch das wahre Sein, der Zustand der „Unerschaffenheit"; seine Formen „erscheinen" noch nicht und sind nur wenig „ausgedrückt". Die Seele ist nur leise bewegt und regiert die Formen aus ihrer noch ruhenden Mitte. Einheit und Mannigfaltigkeit, Formen und Seele befinden sich noch in relativ ungestörter Harmonie. Der jugendliche Mensch ist noch im Zustand der „Unschuld", einem gleichsam paradiesischen Dasein, auf der Scheide zwischen Wahrheit und Wirklichkeit. 3 Im männlichen Körper dagegen hat die Natur „ihre Bildung 1 G. d. K. IV, S. 62. (Fast die gleiche Formulierung findet sich in Herders „Plastik", a. a. O., S. 329.) 2 „Die Schönheit ist jedem Alter eigen, aber . . in verschiedenem Grade." (G. d. K. IV, S. 64.) 3 „Die höchste Schönheit ist in Gott! und der Begriff der menschlichen Schönheit wird vollkommen, je gemäßer und übereinstimmender derselbe mit dem höchsten Wesen kann gedacht werden, welches uns der Begriff der Einheit und Unteilbarkeit von der Materie unterscheidet." (G. d. K., IV S. 60.) „ . . . mit der Jugend aber gesellt sie sich vornehmlich, daher ist der Kunst großes Werk, dieselbe zu bilden. I n derselben fanden die Künstler, mehr als in dem männlichen Alter, die Ursache der Schönheit: in der Einheit, in der Mannigfaltigkeit und in der Übereinstimmung . . . So wie aber die Seele als ein einfaches Wesen viele verschiedene Begriffe auf einmal und in einem Augenblicke hervorbringt: ebenso

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geendigt und bestimmt", seine Formen sind „Mannigfaltigkeit allein", sie sind „mächtig und ausgedrückt" und „erscheinen" in plastischer Erhabenheit. Im „betagten", alternden Körper dagegen lösen sich die Formen bereits wieder auf und die umgreifende Verbindung durch den Kontur zerfällt; der Kontur, letzte Bindung der Wirklichkeit an die Idee, ist von der Materie endgültig gebrochen.1 Auch die menschliche Seele entfernt sich im Gang des Lebens in wachsendem Maße von ihrem wahren Wesen — der Stille. Der Zustand der „Grazie"2, des von der konzentrischen Kraft der noch ruhenden Seele harmonisierten Körpers, wie ihn der jugendliche Mensch auf der frühen, unschuldigen Stufe des Daseins noch am reinsten verkörpert, 3 wird allmählich zerstört. Die vom Leben erzeugten Leidenschaften der Seele, das von der Wirklichkeit geforderte Handeln des Menschen verhindern das „natürliche", konzentrische Wirken der Seele und zwingen sie zur zentrifugalen Bewegung 4 , die den menschlichen Körper aesthetisch unschön wirken läßt und zugleich „Ausdruck" seines geringeren ethischen Ranges ist; zeichnen doch Schönheit und Stille das höchste Wesen sowohl in aesthetischer wie in ethischer Hinsicht aus. Befindet sich nun der Mensch in einem solchen vom Leben erzwungenen „unnatürlichen" Zustand von Seele und Körper, hat die Wirklichkeit die natürliche Harmonie des Daseins zerstört, so kann nur durch den gesitteten Geist des Menschen die Wirklichkeit überwunden und ein wesentlicher „Teil" der Grazie, der „Wohlanstand", wiederhergestellt werden, indem der sittlich gereifte Geist des Menschen die „handelnde und ist es auch mit dem schönen jugendlichen Umrisse, welcher einfach scheint und unendliche verschiedene Abweichungen auf einmal h a t . . ." (G. d. K. IV, S. 64f.) „ D a aber in dieser großen Einheit der jugendlichen Formen die Grenzen derselben unmerklich eine in die andere fließen . . . so ist aus diesem Grunde die Zeichnung eines jugendlichen Körpers, in welchem alles ist und sein und nicht erscheint und erscheinen soll, schwerer als in einer männlichen und betagten Figur . . . die Bildung zwischen dem Wachstum und der Vollendung (ist) gleichsam unbestimmt gelassen." (G. d. K. IV, S. 66.) 1 Über die größere Leichtigkeit, eine männliche und betagte Figur zu zeichnen: „ . . . weil in jener die Natur die Ausführung ihrer Bildung geendigt, folglich bestimmt hat, in dieser aber anfängt, ihr Gebäude wiederum aufzulösen, und also in beiden die Verbindung der Teile deutlicher vor Augen liegt;" (G. d. K . IV, S. 66.) 2 Vgl. besonders Winckelmanns Schrift „Über die Grazie in den Werken der Kunst". 3 Plato . . . „macht uns ein Bild von den edlen Seelen der Jugend, und läßt uns auch hieraus auf gleichförmige Handlungen und S t e l l u n g e n . . . schließen." (G., S. 15.) 4 Über die modernen Künstler: „Sie verlangen eine Seele in ihren Figuren, die wie ein Komet aus ihrem Kreise weicht . . . " (Bezieht sich auf einen zur zentrifugalen Bewegung gesteigerten Kontrapost.) (G., S. 33.) 72

leidende" Seele beruhigt und an Stelle der zerstörten, unbewußten Stilleder Grazie den Zustand bewußter Ruhe erreicht.1 Diese „Weisheit" wächst mit dem zunehmenden Alter des Menschen, geht also dem aesthetischen Zerfall der Formen des Körpers parallel. Durch die enge Verschmelzung von ethischen und aesthetischen Werten, die im Begriff der Stille enthalten sind, kann selbst ein weniger schöner oder alternder Körper durch den Ausdruck gemäßigter Leidenschaften und gesitteter Handlungen in gewissem Grade aesthetisch schön wirken, während der Ausdruck der unbeherrschten Seele selbst den schöneren Körper durch das Fehlen des ethischen Wertes in der aesthetischen Wirkung beeinträchtigt.2 Durch diese bewußte Beruhigung der handelnden und leidenden Seele wird sie wiederum konzentriert und der Körper dadurch in den Zustand der Harmonie gesetzt, welcher das eigentliche Kriterium irdischer Schönheit ist 3 und der natürlichen, unschuldigen Grazie entspricht:4 alle „Bewegung hat den notwendigen Grund des Wirkens in sich"5 und gehorcht der natürlichen, der konzentrierten Seele innewohnenden Kraft. Der „Wohlstand" in „einem der Natur gemäßen Leben", die „Wirkungen der sich selbst gelassenen Natur" 6 werden dadurch 1 „Die Ruhe und Stille ist zugleich als eine Folge der Sittsamkeit anzusehen" (also nicht nur eine „Gabe" wie die Stille der natürlichen Grazie), „welche die Griechen in Gebärden, und im Handeln allezeit zu beobachten suchten . . ." „Dieser Denkungsart zufolge hielten die Alten eine langsame Bewegung des Körpers für eine Eigenschaft großmütiger Seelen." (G. d. K. V, S. 193f.) „Ein Teil der Grazie" ist „die Beobachtung des Wohlanstandes in Gebärden und im Handeln." (G. d. K. V, S. 191.) 2 Die Stille als der „Zustand, welcher der Schönheit . . . der eigentlichste i s t , . . . daß die schönsten Menschen von stillem, gesittetem Wesen sind." (G.d.K. V, S. 192.) 3 Die (irdische) „Schönheit ist nichts anderes als das Mittel von zwei extremis. Wie eine Mittelstraße in allen Dingen das Beste ist, so ist sie auch das Schönste. Um das Mittel zu treffen, muß man die beiden extrema kennen. Gott und die Natur hat das Bessere gewählt und die Schönheit der Form besteht selbst darin, daß sich Dinge wie zu einem Mittel verhalten. Die Uniformität macht keine Schönheit." Dieses Zitat Winckelmanns aus dem Nachlaß „Gedanken über Kunstwerke", S. XLIIIf., ist bezeichnend für die Wandlung seines Denkens in der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Schönheit. Die Akzente werden im Verlauf seiner Entwicklung immer mehr von der absoluten auf die irdische Schönheit verlagert. 4 „Da sich auch das wahre Schöne der menschlichen Figur insgemein in der unschuldigen stillen Natur einzukleiden pflegt . . ." (Empf., S. 230.) Über die Grazie: „In der Einfalt und in der Stille der Seele wirkt sie und wird durch ein wildes Feuer und in aufgebrachten Neigungen verdunkelt. Aller Menschen Tun und Handeln wird durch dieselbe angenehm und in einem schönen Körper herrscht sie mit großer Gewalt." (Gr., S. 217.) 5 Gr., S. 219. (Eine verwandte Auffassung der Grazie findet sich in Kleist» Schrift über das Marionettentheater.) 6 G. d. K. V, S. 210. 6«

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erreicht. So kann die Grazie durch das ihr innewohnende Prinzip der Stille Gestalten, „die nicht die vollkommene Idee der Schönheit haben . . . was dieser abgeht, durch ihren Einfluß ersetzen" 1 , wie sie andererseits die „Ankündigung und Fähigkeit" zur Schönheit als deren Voraussetzung „erteilt". 2 2. Die Leistung des Konturs im plastischen Kunstwerk Die Fähigkeit, den durchseelten menschlichen Körper zu gestalten, jede Regung und jeden Zustand der Seele in den sinnlichen Formen erfahrbar zu machen, erwächst der Plastik aus den Eigenschaften ihres Konturs. E r ist Träger ihrer eigentlichen Ausdruckskraft und leistet die Gehaltsaussagen der plastischen Form. Die Unterschiede zwischen Malerei und Plastik, soweit sie auf der Verschiedenheit des Konturs beruhen, hat Winckelmann bereits Idar erkannt. In beiden Künsten ist die Linie das gemeinsame geistige Element, die formale Fixierung des von der Einbildungskraft des Künstlers entworfenen geistigen Bildes. Die prinzipiellen Unterschiede des gemalten und gebildeten Konturs treten erst in der konkreten Kunstform zutage. Der Kontur in der Malerei überträgt den geistigen Bildentwurf auf die flächige Materie. Er bleibt ablesbares Zeichen, formelhaft verkürztes Abbild des Vorwurfs und damit wesentlich geistiges Element, den Prinzipien der Schrift nahe verwandt.3 Der Kontur des plastischen Kunstwerks dagegen G. d. K . V I I I , S. 224. Gr., S. 217. Winckelmann hebt seine Auffassung der Grazie scharf von der Vorstellung ab, die die Kunst des Rokoko mit diesem Begriff verbunden hat. E r tadelt streng die unnatürliche, der natürlichen Bewegung entgegenwirkende „neuerliche tanzmeistermäßige Grazie." (G. d. K . V, S. 217.) „Die gezierte Zierlichkeit, eine erzwungene und übel verstandene Grazie, die übertriebene und verdrehte Gelenksamkeit . . . hat die Sinne der Alten niemals geblendet." (G. d. K . V I I I , S. 255.) (Die von Winckelmann von der „hohen Grazie" unterschiedene „niedere Grazie", die im „natürlichen Dasein" anwesend ist, hat mit dieser „falsch verstandenen" „neueren Grazie" nichts gemeinsam. Vgl. Winckelmaims Unterscheidung zwischen der hohen und niederen Grazie. G. d. K . V I I I , S. 217f.) 8 Diese Auffassung vom Wesen des Konturs in der Malerei bedingt Winckelmanns Hochschätzung allegorischer Bildinhalte. Da die Malerei keine sinnliche Wirklichkeit vermitteln kann, darf ihre Wirkung nicht allein auf ihren sinnlichen Darstellungs mitteln beruhen (Farbe etc.), sondern sie muß, wie die Schrift, gedankliche Aussagenleisten. Der „Pinsel, den der Künstler führt, muß in Verstand getunkt sein" (G., S. 56); das „größte Glück" der Malerei ist „die Vorstellung unsichtbarer . . . und zukünftiger Dinge" (G., S. 55); sie soll „mehr zu denken hinterlassen", als was sie 1

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•wird zur rundplastischen Form, er umgreift haptische Wirklichkeit und prägt deren Formen zum Ausdruck des geistigen Gehalts. Mit Malerei und Schrift hat er das geistige, bewegungserzeugende Element der Linie gemeinsam; nur wird diese Bewegung im plastischen Kunstwerk niemals fixiert: sie bildet die rundplastischen Formen in beständigem Fließen. 1 Alle plastische Form ist Kontur, der ganze Körper wird von Konturen „umschrieben" 2 ; „ d e m Auge gezeigt h a t " . (G., S. 56). „Die Malerei erstreckt sich auf Dinge, die n i c h t sinnlich sind, diese sind ihr höchstes Ziel." (G., S. 50.) Aus diesem G r u n d e propagiert W i n c k e l m a n n die allegorische Malerei, d a s D a r stellen von hieroglyphenartigen Bildern, die eine Vielzahl v o n Begriffen subsumieren. m i t der Zeit aber versuchte m a n auch dasjenige, w a s vielen einzelnen gemeins a m war, das ist, allgemeine Begriffe auszudrücken. E i n e jede E i g e n s c h a f t eines Einzelnen ergibt einen solchen Begriff, u n d , g e t r e n n t v o n demjenigen, was i h n begreift, denselben sinnlich zu machen, m u ß t e d u r c h ein Bild geschehen, welches, einzeln wie es war, keinem Einzelnen insbesondere, sondern Vielen zugleich z u k a m . " (E., S. 159). „Bilder v o n d e r . . . A r t geben den W e r k e n der K u n s t die w a h r e epische G r ö ß e : eine einzige F i g u r k a n n ihr dieselbe g e b e n ; je m e h r Begriffe sie in sich f a ß t , desto höher wird sie; u n d je m e h r sie zu denken v e r a n l a ß t , desto tiefer ist der E i n druck, den sie m a c h t , u n d u m so viel sinnlicher wird sie also." (E., S. 165.) Die Anweisung zu solcher A r t allegorischer G e s t a l t u n g bezieht sich i m m e r auf die Malerei, niemals auf die Gestaltung des plastischen menschlichen K ö r p e r s a n sich. I n der P l a s t i k leistet die sinnliche F o r m selbst die geistige oder seelische Aussage, in der Malerei ist d a s nicht möglich, sondern m u ß d u r c h ü b e r t r a g e n e Begriffe geschehen. „ P a r r h a s i u s . . . h a t sogar . . . d e n Charakter eines ganzen Volkes a u s d r ü c k e n k ö n n e n . . . Scheint die Vorstellung möglich, so ist es n u r allein d u r c h d e n W e g der Allegorie: d u r c h Bilder, die allgemeine Begriffe b e d e u t e n . " (G., S. 50f.) (Vgl. dazu H e r d e r , der der Malerei ebenfalls die F ä h i g k e i t , seelische W e r t e zu gestalten, a b s p r i c h t : „ W o Seele lebt u n d einen edlen K ö r p e r d u r c h h a u c h t u n d die K u n s t wetteifern k a n n , Seele im K ö r p e r darzustellen . . . das bilde die K u n s t u n d d a s h a t sie gebildet. W e r aber . . . dies Gesetz abermals d e n Schilderern, d e n Malern der großen N a t u r t a f e l a u f b ü r d e t , der greife j a n a c h seinem K o p f e , wie E r e t w a zu schild e r n w ä r e . " (Herder, a. a. O., S. 288f.) 1 D a r u m wird v o n W i n c k e l m a n n alle plastische G e s t a l t u n g „ K u n s t der Zeichn u n g " genannt. „ D e r K ü n s t l e r b e w u n d e r e in den Umrissen dieses K ö r p e r s die i m m e r w ä h r e n d e Ausfließung einer F o r m in die andere . . . " (G. d. K . X , S. 98.) 2 Ü b e r das Verhältnis v o n K o n t u r u n d m i t t l e r e m K ö r p e r b e t o n t W i n c k e l m a n n anläßlich der Aussage Plinius', d a ß P a r r h a s i u s i m U m r i ß gut sei, a b e r in der Ges t a l t u n g der m i t t l e r e n Körperteile u n t e r sich selbst gehe, es gebe keinen gesondert bestehenden „ m i t t l e r e n " K ö r p e r in der plastischen G e s t a l t u n g : „ E s ist aber n i c h t klar, was mittlere K ö r p e r sein sollen. M a n k ö n n t e es v o n denjenigen Teilen des K ö r p e r s verstehen, welche der ä u ß e r s t e U m r i ß einschließt. Allein ein Zeichner soll seinen K ö r p e r v o n allen Seiten, u n d n a c h allen Bewegungen k e n n e n : er wird denselben n i c h t allein vorwärts, sondern a u c h v o n der Seite u n d v o n allen P u n k t e n gestellt, verstehen zu zeichnen, u n d dasjenige, was im ersteren Falle v o n d e m Umrisse eingeschlossen zu sein scheinen k ö n n t e , wird in diesem Falle der

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er ist sinnliche Form und geistiger Begriff zugleich 1 und verbindet die künstlerisch erzeugte Wirklichkeit mit dem metaphysischen Bereich. 2 Die beständige Bewegung des plastischen Konturs beschreibt in den Formen des Körpers die Bewegungen der Seele, „welche der Schöpfer dem Werke seiner Hände eingeblasen" hat. 3 Je stiller diese Seele ist, desto „schöner" sind die Formen, in denen sie sich ausdrückt. Je bewegter die Seele ist, desto bewegter ist der formenbildende Kontur, der die Aussage über ihren tätigen oder leidenden Zustand in der Wirklichkeit leistet. Da der Kontur der Plastik gleichermaßen die Formen des Leibes bildet und Stellungen, Handlungen und Gebärden umgreift, kann im plastischen Kunstwerk Bewegung und Ruhe miteinander verschmolzen und alle „mögliche Mannigfaltigkeit" in die geistige Einheit eingebunden werden. Auch der Ausdruck des Wirklichen, dessen Bewegtheit den Begriffen der höchsten Idee widerspricht, kann mit dem Prinzip der Stille verbunden und dadurch aesthetisch schön gestaltet werden. Die wesentlichste Aufgabe der plastischen Kunst ist darum die Gestaltung des nackten menschlichen Körpers4, dessen Formen alle Stufen des menschlichen Seins von der Wahrheit zur Wirklichkeit auszudrücken vermögen, während die Gestaltung des bekleideten Körpers die Plastik bedeutender Aussagemöglichkeiten beraubt. 5 Umriß selbst sein. Man. kann nicht sagen, daß es für einen Zeichner m i t t l e r e Teile des Körpers gibt — (ich rede nicht v o n dem Mittel des Leibes) —eine jede Muskel gehört zu seinem ä u ß e r s t e n U m r i s s e ; und ein Zeichner, der fest ist in dem äußersten Umrisse, aber nicht in dem Umrisse derjenigen Teile, welche der äußerste einschließt, ist ein Begriff, der sich weder an sich selbst, noch in Absicht auf einen Zeichner gedenken läßt." (E., S. 143.) 1 „Der edelste Kontur vereinigt und umschreibt alle Teile der schönsten Natur und der idealischen Schönheiten der Griechen, oder er ist vielmehr der höchste Begriff in beiden." (G., S. 24.) 2 Nur die durch das geistige Element des Konturs gebildete plastische Form ist für Winckelmann wahrhaft künstlerische Leistimg, nicht jedoch der ursprüngliche, primitive Bildungstrieb, der die Formen nur manuell aus der Materie erzeugt, ohne sie geistig zu bewältigen. Die primitive „ursprüngliche Erfindung und Zeugung einer Figur" (G. d. K. I, S. 69f.) ist noch kein Kunstwerk. 3 G., S. 37. 4 „Der höchste Vorwurf für denkende Menschen ist der Mensch, oder nur dessen äußere Fläche." (B., S. 207); der höchste Vorwurf der Kunst, die Bildung des N a c k e n d e n . . . " (G. d. K. II, S. 269.) 6 „Unter einem Gewände, welches der Künstler dem Laokoon als einem Priester hätte geben sollen, würde uns sein Schmerz nur halb so sinnlich gewesen sein." (G., S. 32.) 76

3. Menschliche Existenz

als Gegenstand plastischer

Gestaltung

Die aesthetisch höchste Leistung der plastischen Kunst ist die Gestaltung des wahren Seins: der reinen Idee im Zustand der Stille. Die Formen eines solchen Kunstwerks sind „einfach", „einfältig" und „groß" und bedeuten eine Läuterung der „wirklichen" Form.1 Der Kontur ist nur so wenig bewegt., wie es die sinnliche Vergleichbarkeit mit den Formen der Wirklichkeit fordert. Ein solches Kunstwerk ist Sinnbild der absoluten Werte; es stellt den Menschen „in einer höhern Würdigkeit" dar2, sein wahres Sein in Schönheit und Stille, und ist zugleich dem Begriff von der Einheit und Unteilbarkeit und von der ,,UnVeränderlichkeit'' göttlicher Wesenheit gemäß.3 Es versetzt „die Seele in einen süßen Traum der Entzückung"4 und erweckt „keine Begierden der Sinne", sondern „wirkt eine anschauliche Betrachtung" der höchsten Wahrheit.5 Das Prinzip der Stille äußert sich in den einzelnen Formen des Körpers ebenso wie in seiner Haltung und Stellung.6 Die „Ruhe 1

,, . . . die A r t , wie a u s Helden. Götter entstanden, s i n d : so geschieht dieses m e h r d u r c h A b n e h m e n , als d u r c h Zusetzen, das i s t : d u r c h stufenweise A b s o n d e r u n g desjenigen, was eckig u n d v o n der N a t u r selbst s t a r k a n g e d e u t e t worden, bis die F o r m dergestalt verfeinert wird, d a ß n u r allein der Geist in derselben gewirkt zu h a b e n scheint." (G. d. K . V, S. 144.) 2 G. d. K . V, S. 124. 3 G. d. K . V, S. 86. D a s höchste Wesen „welches uns der Begriff der E i n h e i t u n d der U n t e i l b a r k e i t v o n der Materie unterscheidet. Dieser Begriff der Schönheit ist wie ein a u s der Materie durchs F e u e r gezogener Geist, welcher sich s u c h t ein Geschöpf zu zeugen n a c h dem Ebenbilde der in d e m Verstände der G o t t h e i t e n t w o r f e n e n ersten vern ü n f t i g e n K r e a t u r " . (G. d. K . , I V , S. 60). „Diese Bildung ist der W ü r d i g k e i t des Begriffs von der Gottheit gemäß, als welche keinen Wechsel der Zeit, noch S t u f e n des Alters a n n i m m t , sondern wir müssen ein Wesen ohne alle Folge d e n k e n . " (G. d. K . V, S. 121.) „Mit solchen Begriffen wurde die N a t u r v o m Sinnlichen z u m Unerschaffenen erhoben, u n d die H a n d der K ü n s t l e r brachte Geschöpfe hervor, die v o n der menschlichen N o t d u r f t gereinigt w a r e n ; Figuren, welche die Menschheit in einer h ö h e r n Würdigkeit vorstellen, die Hüllen u n d Einkleidungen bloß d e n k e n d e r Geister u n d himmlischer K r ä f t e zu sein scheinen." (G. d. K . , V, S. 124.) 1 G. d. K . IV, S. 86. 5 G. d. K . V I I I , S. 221. E i n e m solchen K u n s t w e r k k o m m t der Begriff der „ h o h e n G r a z i e " z u : Die h o h e Grazie ist „ v o n höherer G e b u r t u n d v o n der H a r m o n i e gebildet, u n d ist b e s t ä n d i g u n d unveränderlich wie die ewigen Gesetze v o n dieser s i n d " . Sie „scheint sich selbst genugsam, u n d bietet sich nicht a n , sondern will gesucht w e r d e n ; sie ist zu e r h a b e n , u m sich sehr sinnlich zu m a c h e n ; . . . sie verschließt in sich die Bewegungen der Seele u n d n ä h e r t sich der seligen Stille der göttlichen N a t u r . . . " (G. d. K . V I I I , S. 218f.) 6 „ D e r höchste B e g r i f f . . . sonderlich der R u h e u n d Stille, findet sich i n d e n Figuren der G o t t h e i t e n ausgedrückt, so d a ß die Bilder des V a t e r s der G ö t t e r bis auf die subalternen Götter u n g e r ü h r t v o n E m p f i n d u n g e n s i n d . " (G. d. K . V, S. 196.) 77

und Gleichgültigkeit", in welcher allein „der erhabenste Begriff der Schönheit" möglich ist, 1 darf nicht durch den Ausdruck des Wirklichen unterbrochen werden. Für ein solches Kunstwerk ist das Prinzip der „Unbezeichnung" höchstes Gesetz.2 Jeglicher „Ausdruck" muß der Gestaltung der höchsten Schönheit „aufgeopfert" werben. Denn „der Ausdruck . . . verändert die Züge des Gesichts und die Haltung des Körpers, folglich die Formen, welche die Schönheit bilden, und je größer diese Veränderung ist, desto nachteiliger ist dieselbe der Schönheit" 3 . Durch die Gestaltung der bewegten Seele wird die „Harmonie unterbrochen und die Einheit und Einfalt gestört . . ., worinnen die Schönheit besteht.. . " 4 Die Gestaltung der absoluten, ausdruckslosen Schönheit ist zwar die höchste, jedoch nicht die einzige Aufgabe der plastischen Kunst. Denn da „in der menschlichen Natur zwischen dem Schmerz und dem Vergnügen . . . kein mittlerer Stand ist, und die Leidenschaften die Winde sind, die in dem Meere des Lebens unser Schiff treiben", „so kann die reine Schönheit allein nicht der einzige Vorwurf unserer Betrachtung sein, sondern wir müssen dieselbe auch in den Stand der Handlung und der Leidenschaft setzen, welches wir in der Kunst in dem Worte Ausdruck begreifen." 5 Sobald die „menschliche Natur" im bewegten Dasein „nachgeahmt" wird, ist der „Die geistige Natur" (der Götter) „ist zugleich in ihrem leichten Gange abgebildet". (G. d. K . V, S. 88.) „Über die Menschheit erhaben ist sein Gewächs, und sein Stand zeugt von der ihn erfüllenden Größe." (G. d. K . X I S. 222.) 1 G. d. K . V, S. 193. 2 „Aus der Einheit folgt eine andere Eigenschaft der hohen Schönheit, die Unbezeichnung derselben, das ist: deren Formen weder durch Punkte noch durch Linien beschrieben werden, als die allein die Schönheit bilden, folglich eine Gestalt, die weder dieser oder jener bestimmten Person eigen sei, noch irgendeinen Zustand des Gemüts oder eine Empfindung der Leidenschaft ausdrücke, als welche fremde Züge in die Schönheit mischen und die Einheit unterbrechen." (G. d. K . I V , S. 61.) 3 G. d. K . V, S. 192; vgl. auch G. d. K . I X , S. 442. 4 G. d. K . I V , S. 53. „Diejenige Harmonie, die unseren Geist entzückt, b e s t e h t . . . in einfachen, lang anhaltenden Zügen." (G. d. K . I V , S. 61.) „So wie nun der Zustand der Glückseligkeit, das ist: die Entfernung vom Schmerze, und der Genuß der Zufriedenheit in der Natur der allerleichteste ist . . . so scheint auch die Idee der höchsten Schönheit am einfältigsten und am leichtesten, und es ist zu derselben keine philosophische Kenntnis des Menschen, keine Untersuchung der Leidenschaften der Seele und deren Ausdruck nötig." (G. d. K . , I V , S. 61.) Auf der anderen Seite ist gerade die formale Gestaltung der höchsten Schönheit für den Künstler schwerer, als die Gestaltung der Schönheiten in der Natur. Die Seele des Künstlers selbst muß Stille und Konzentration auch in der Wirklichkeit bewahren: „denn es kann der Begriff einer hohen Schönheit auch nicht anders erzeugt werden, als in einer stillen und von allen einzelnen Bildungen abgerufenen Betrachtung der Seele." (G. d. K . V, S. 192.) 6 G. d. K . I V , S. 62.

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Ausdruck des „wirkenden und leidenden Zustandes" der Seele höchstes künstlerisches Gebot,1 denn die Gestaltung der irdischen Schönheit „würde ohne Ausdruck unbedeutend heißen können"2, und das „Abstrakte und bloß Schöne ist von dem Ausdruck in der Schönheit wohl zu unterscheiden"3. Die Gesetze der „höchsten" Schönheit haben also für die Gestaltung des menschlichen Daseins keine Gültigkeit. Das formenbildende Prinzip eines solchen Kunstwerks ist die Bewegung, durch welche der Kontur das Wirken der lebenden Seele ausdrückt.4 Dieser Ausdruck wird durch die einzelnen Formen des Gesichts und des ganzen Körpers ebenso wie durch seine Haltung, sein Standmotiv und seine Gebärden geleistet.5 Alle plastischen Formen sind in einer „unzertrennlichen Mitteilung"6 und vereinen durch die „mögliche Mannigfaltigkeit" in der Einheit des Kunstwerks Aussagen von verschiedenster Art. Alle anderen Künste werden darin von der Plastik übertroffen. Was Malerei und Dichtung im Neben- bzw. Nacheinander darzustellen gezwungen sind, wird von ihr in einem einzigen Bildwerk ausgesagt. Plastik gestaltet nicht nur den Zustand des Körpers und der Seele im Augenblick, sondern sie kann das Wirken und die Begebenheiten eines 1 „Da aber im Handeln und Wirken die höchste Ruhe und Gleichgültigkeit nicht stattfindet," und auch „göttliche Figuren menschlich vorzustellen sind: so konnte auch in diesen der erhabenste Begriff der Schönheit nicht beständig gesucht noch erhalten werden." (G. d. K . V, S. 193.) 2 G. d. K . V, S. 193. 3 ,, . . . und da in unserer Natur dasjenige vollkommen heißt, was die wenigsten Fehler hat, so finden sich in diesem Verstände viele Figuren der Alten, welche für schön gelten können. Aber das Abstrakte und bloß Schöne ist von dem Ausdruck in der Schönheit wohl zu unterscheiden." (Empf., S. 263.) 4 „Da, wohin der größte Schmerz gelegt ist, zeigt sich auch die größte Schönheit ... kein Teil ist in R u h e " usw. (G. d. K . X , S. 23.) 6 „Das Wort Ausdruck, welches in der Kunst die Nachahmung des wirkenden und leidenden Zustandes unserer Seele und unseres Körpers, und der Leidenschaften sowohl als der Handlungen ist, begreift im weitläufigen Verstände die Aktion mit in sich, im engeren Verstände aber scheint die Bedeutung desselben auf dasjenige, was durch Mienen und Gebärden des Gesichts bezeichnet wird, eingeschränkt, und die Aktion oder Handlung, wodurch der Ausdruck erhalten wird, bezieht sich mehr auf dasjenige, was durch Bewegung der Glieder und des ganzen Körpers geschieht." (G. d. K . V, S. 191 f.) die hohen Schönheiten sind hier in einer unzertrennlichen Mitteilung. Was für ein Begriff erwächst zugleich hierher aus den Hüften, deren Festigkeit andeuten kann, daß der Held niemals gewankt und nie sich beugen müssen." (T., S. 229f.) „Diese Seele schildert sich in dem Gesichte des Laokoons und nicht in dem Gesichte allein, bei dem heftigsten Leiden. Der Schmerz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdeckt, und den man ganz allein, ohne das Gesicht . . . zu betrachten, an dem schmerzlich eingezogenen Unterleib beinahe selbst zu empfinden glaubt. . . " (G., S. 31.)

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ganzen Lebens in einer Gestalt konzentrieren.1 Doch nicht nur „episch" auch „lyrisch" und „dramatisch" 2 kann die Gestimmtheit der plastischen Aussage sein. Lyrisch wird sie durch die Gestaltung der unschuldsvollen Grazie in der jugendlich-schönen Form. 3 Soll jedoch ein dramatischer Augenblick in den Formen des Körpers ausgedrückt werden, so können diese über die „natürliche" Bildung hinaus bis zur äußersten „Möglichkeit" gesteigert werden.4 Allerdings darf dieser „Ausdruck" des Leidens und Wir1 „Durch eine geheime Kunst aber wird der Geist durch alle Taten seiner Stärke bis zur Vollkommenheit seiner Seele geführt, und in diesem Sturze ist ein Denkmal desselben, welches ihm kein Dichter, die nur die Stärke seiner Arme besingen, errichtet: der Künstler hat sie übertroffen." (T., S. 231.) „Da, wo die Dichter aufgehört haben, hat der Künstler angefangen . . . dieser zeigt uns denselben in einer vergötterten Gestalt und mit einem gleichsam unsterblichen Leibe, welcher dennoch Stärke und Leichtigkeit zu den großen Unternehmungen, die er vollbracht, behalten hat. Ich sehe in den mächtigen Umrissen dieses Leibes die unüberwundene Kraft des Besiegers der gewaltigen Riesen . . . und zu gleicher Zeit stellen mir die sanften Züge dieser Umrisse, die das Gebäude des Leibes leicht gelenksam machen, die geschwinden Wendungen desselben in dem Kampfe mit dem Achelaos vor . . . I n jedem Teile des Körpers offenbart sich wie in einem Gemälde der ganze Held in einer besonderen Tat, und man sieht . . . zu welcher Tat ein jedes Teil gedient h a t . " (T., S. 228.) (Aus diesem Grunde wird z. B . gerade Plastik von Herder als „allegorisch" bezeichnet [Herder, a. a. O., S. 350f.]; nur liegt hier, anders als in der allegorischen Malerei im Sinne Winckelmanns, die Konzentration der Inhalte in den Formen selbst verborgen.) 2 Diese Begriffe entleihe ich bei der Poetik, um Winckelmanns Auffassung von der Spannweite der plastischen Kunst zu verdeutlichen. Diese Entleihung erscheint mir berechtigt, da die Literaturwissenschaft diese Termini nicht nur als dichtungswissenschaftliche, sondern auch als anthropologische Begriffe gebraucht. (Vgl. E . Staiger, Grundbegriffe der Poetik, Zürich 1946.) 3 ,, . . . ohne Andeutung irgendeiner Leidenschaft, welche die Übereinstimmung der Teile und die jugendliche Stille der Seele, die sich hier bildet, stören könnte. In diese Ruhe und gleichsam den Genuß seiner selbst, mit gesammelten und von allen äußern Vorwürfen zurückgerufenen Sinnen ist der ganze Stand dieser edlen Figur gesetzt". (G. d. K . X I I , S. 287.) „Aber in dieser Ruhe muß die Seele durch Züge, die ihr und keiner andern Seele eigen sind, bezeichnet werden, um sie ruhig, aber zugleich wirksam, still, aber nicht gleichgültig oder schläfrig zu bilden." (G., S. 33.) 4 „Die Formen bildeten sie an Helden heldenmäßig und gaben gewissen Teilen eine mehr große als natürliche Erhobenheit, in die Muskeln legten sie eine schnelle Wirkimg und Regung, und in heftigen Handlungen setzten sie alle Triebfedern der Natur in Bewegimg . . . Die Absicht hiervon war die mögliche Mannigfaltigkeit . . . " (G. d. K . V, S. 139.) Winckelmann scheidet in diesem Sinne eine Idealisierung, die auf Verstärkung des Ausdrucks zielt, von jener, durch welche die Natur den Begriffen der höchsten Schönheit der Form angeglichen werden soll: „Laokoon . . . welcher eine durch das Ideal erhöhte Natur ist . . . Die Regung dieser Muskeln ist am Laokoon über die Wahrheit bis zur Möglichkeit getrieben . . . um die höchste Anstrengung der Kräfte im Leiden und Widerstreben auszudrücken. In dem Rumpf des vergötterten Her-

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kens gewisse Grenzen niemals durchbrechen, denn es „soll auch die Gestalt, wenngleich der Ausdruck die Schönheit überwiegen würde, schön heißen können"1. „Schön" gestaltet ist ein solches Kunstwerk nur dann, wenn in der möglichen Mannigfaltigkeit die absoluten Werte erhalten bleiben. Diese werden — da der Ausdruck der wirkenden Seele Formen höchster, absoluter Schönheit verbietet — durch das Prinzip der Stille vertreten, welches sich als ethischer und aesthetischer Wert zugleich in der Einheit der künstlerischen Form manifestiert. Denn ein plastisches Wesen, dessen Seele die konzentrische Mitte verloren hat, „wie ein Komet aus ihrem Kreise weicht" 2 und damit das Ethos der Stille gänzlich verleugnet, zerstört durch die zentrifugale Bewegung des Körpers und der Glieder die umgreifende Einheit des Konturs und wirkt unedel und unschön in gleichem Maße.3 Darum sind kules ist in eben diesen Muskeln eine hohe idealische F o r m u n d S c h ö n h e i t ; . . . I m Apollo, d e m Bilde der schönsten Gottheit, sind diese Muskeln gelinde . . . in k a u m sichtbare Wellen geblasen u n d w e r d e n m e h r d e m Gefühl als d e m Gesicht o f f e n b a r . " (G. d. K . V, S. 140.) 1 G. d. K . V, S. 193. 2 G., S. 33. 3 „ I n Vorstellung der H e l d e n ist d e m K ü n s t l e r weniger als d e m Dichter e r l a u b t : dieser k a n n sie m a l e n n a c h ihren Zeiten, wo die L e i d e n s c h a f t e n n i c h t d u r c h die Regierimg oder d u r c h den gekünstelten W o h l s t a n d des Lebens geschwächt waren, weil die angedichteten E i g e n s c h a f t e n z u m Alter u n d z u m S t a n d e des Menschen, zur F i g u r desselben aber kein notwendiges Verhältnis h a b e n . J e n e r aber, d a er d a s Schönste in d e n schönen Bildungen wählen m u ß , ist auf einen gewissen G r a d des Ausdrucks der Leidenschaften eingeschränkt, die der B i l d u n g n i c h t nachteilig werden soll." (G. d. K . V, S. 204f.) (Die Polemik Leasings im „ L a o k o o n " , die gegen W i n c k e l m a n n s F o r d e r u n g n a c h Stille als ethischem W e r t gerichtet ist, berücksichtigt nicht, d a ß W i n c k e l m a n n s ethische P o s t u l a t e in gleichem Maße aesthetische sind. F ü r Lessing, der hier d e n Schönheitsgesetzen der A u f k l ä r u n g noch m e h r v e r h a f t e t ist als W i n c k e l m a n n , ergibt sich die F o r d e r u n g n a c h B e s c h r ä n k u n g mimischer Gebärden in der bildenden K u n s t a u s d e n Gesetzen der schönen F o r m . D a f ü r W i n c k e l m a n n jedoch jede F o r m Ausdruck eines seelischen Wertes ist, müssen sich schöne F o r m u n d schöne Seele m i t Notwendigkeit identifizieren. V o n W i n c k e l m a n n wird der s t ä r k s t e A u s d r u c k ebenfalls a u s d e m Gesicht v e r b a n n t u n d in die F o r m e n des K ö r p e r s verlegt, weil er im Anlitz a m ehesten die E i n h e i t des K o n t u r s zerstört — eine unaesthetische E r scheinimg, die jedoch zugleich eine unethische anzeigt.) „ D e r weise K ü n s t l e r , welcher d e n schönsten der Götter bilden wollte, setzt n u r d e n Zorn in die Nase . . . " (G. d. K . , V, S. 198.) „ A u ß e r d e m ist die Stille u n d R u h e im M e n s c h e n . . . der Z u s t a n d , welcher u n s f ä h i g m a c h t , die w a h r e Beschaffenheit u n d E i g e n s c h a f t e n derselben zu u n t e r s u c h e n u n d zu erkennen . . . u n d folglich k a n n a u c h die K u n s t n u r in der Stille d a s e i g e n t l i c h e Wesen derselben a u s d r ü c k e n . " (G. d. K . V, S. 192f.) „ I n der R u h e u n d Stille des K ö r p e r s o f f e n b a r t sich der gesetzte u n d große G e i s t . . ." (T., S. 231.) „ J e ruhiger der S t a n d des K ö r p e r s ist, desto geschickter ist er, d e n w a h r e n Charakter der Seele zu schildern; in allen Stellungen, die v o n d e m S t a n d e der R u h e

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Haltung und Standmotiv für den plastischen Künstler von äußerster Wichtigkeit:1 hier bietet sich ihm die Möglichkeit, höchste Bewegung und gesteigerten Ausdruck der einzelnen Form mit dem Prinzip der Einheit und der Stille zu verbinden.2 So wird in der aesthetischen Vollkommenheit der künstlerischen Form gestaltete Wirklichkeit und metaphysische Wahrheit der menschlichen Existenz in gleichem Maße anschaubar. Das Prinzip der Stille ist für Winckelmann wesentlicher geworden als die Idee der höchsten Schönheit selber. Denn Stille ist nicht nur der formale Wert, durch den die Idee zur sinnlichen Verkörperung gelangen kann, sondern auch der höchste Wert der menschlichen Seele, der im Gegensatz zur reinen Schönheit auch in der Wirklichkeit anwesend ist. Die Möglichkeiten plastischer Gestaltung umfassen alle Stufengrade menschlichen Seins: vom Ursprung in der Idee über den Zustand unschuldigen, vom Leben noch zu sehr abweichen, befindet sich die Seele nicht in dem Zustand, der ihr der e i g e n t l i c h s t e ist, sondern in einem gewaltsamen und erzwungenen Zustand." (G., S. 32.) „So zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele." (G., S. 31.) 1 „Nächst der Kenntnis der Schönheit ist bei dem Künstler der Ausdruck und die Aktion zu achten . . . E s soll also im Unterricht mit der Lehre von den schönen Formen die Beobachtung des Wohlstandes in Gebärden und im Handeln verbunden werden . . . " (G. d. K . V, S. 191.) Winckelmann wendet sich besonders gegen den von den modernen Künstlern mißverstandenen Kontrapost. (G„ S. 33 und G. d. K . V, S. 243. Über Ausdruck und Standmotiv: G. d. K . V, S. 198ff.) „Da nun dem Ausdrucke der Leidenschaften im Gesichte der Stand und die Handlung gleichförmig zu sein pflegen: ist beides der Würdigkeit der Götter in ihren Statuen und Figuren gemäß und kann der Wohlstand genannt werden. (G. d. K . V, S. 198.) „Mit eben dieser Weisheit verfuhren die alten Künstler in Vorstellung der Figuren aus der Heldenzeit und bloß menschlicher Leidenschaften, die allezeit der Fassung eines weisen Mannes gemäß sind, welcher die Aufwallung der Leidenschaften unterdrückt." (G. d. K . V, S. 204.) „In den Gebärden der alten Figuren bricht die Freude nicht in Lachen aus, sondern sie zeigt nur Heiterkeit vom inneren Vergnügen . . . I n Betrübnis und Unmut sind sie ein Bild des Meeres, dessen Tiefe still ist, wenn die Fläche anfängt unruhig zu werden." (Gr., S. 220.) 2 „Kenntlicher und bezeichnender wird die Seele in heftigen Leidenschaften: groß aber und edel ist sie in dem Stande der Einheit, in dem Stande der Ruhe. I m Laokoon würde der Schmerz allein gebildet Parenthyrsus gewesen sein. Der Künstler gab ihm daher, um das Bezeichnende und das Edle der Seele in Eines zu vereinigen, eine Aktion, die dem Stande der Ruhe in solchem Schmerze der nächste war." (G., S. 33.) „Dieser Schmerz . . . äußert sich dennoch mit keiner Wut in dem Gesichte und in der ganzen Stellung . . . Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen B a u der Figur mit gleicher Stärke ausgeteilt und gleichsam abgewogen." (G., S. 34.)

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unberührten Daseins in Harmonie bis zur bewußten Existenz in der Wirklichkeit, die die Bindung an den metaphysischen Ursprung bedroht. In allen diesen Gestaltungsformen muß das Prinzip der Stille enthalten sein, damit das Wahre Wirklichkeit werden kann und auch das Wirkliche an die Wahrheit gebunden bleibt. Auf diese Weise deutet die Plastik das Wesen des Menschen, das eingespannt ist zwischen Immanenz und Transzendenz und verwahrt sein Sein über Zeit und Raum. Als Historiker hat Winckelmann die geschichtliche Bedingtheit dessen, was für ihn im höchsten aesthetischen Sinne Plastik ist, erkannt. 1 Seine Resignation, die sich aus dieser Erkenntnis ergibt, findet jedoch Trost in der Erkenntnis von der überzeitlichen Wirksamkeit solcher Werke, die durch die Leistung des Kunstbetrachters unabhängig vom Gang der Geschichte zu beständig neuem Dasein erschaffen werden können. Davon wird im folgenden Kapitel zu sprechen sein. 1 Als Historiker erkennt Winckelmann, daß auch die Gestaltung der Stille und Ruhe in der plastischen Form, die Gestaltung der Grazie und des Ausdrucks der Leidenschaften jeweils an den Zeitstil eines Volkes und damit an den organischen Kunstverlauf gebunden ist. Die vollkommene Harmonie mit dem Sein, die die innige Verschmelzung des Wirklichen mit den metaphysischen Werten erlaubt, ist nur im Zenith des organischen Kunstverlaufs möglich.

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VI. DIE REZEPTION DER PLASTISCHEN KUNST 1. Die neue Stellung des Kunstbetrachters in Winckelmanns Theorie der plastischen Kunst In Winckelmanns Aesthetik der plastischen Kunst werden nicht nur der künstlerische Schöpfungsprozeß und das Wesen der plastischen Kunstform an sich untersucht, sondern auch die Rezeption des plastischen Kunstwerks durch den Kunstbetrachter. Erst diese Untersuchungen runden das Gefüge von Winckelmanns Aesthetik ab, in welchem er das Phänomen Plastik aus der Gesamtheit von Werden, Sein und Wirken des Kunstwerks zu erschließen versucht. Winckelmann geht auch damit einen entscheidenden Schritt über das Programm der bisherigen kunsttheoretischen Tradition hinaus. Zum ersten Mal wird die Rezeption des Kunstwerks in den engeren Bereich aesthetischer Fragestellungen einbezogen, zum ersten Mal wird die Person des Kunstbetrachters selbst Objekt des kunsttheoretischen Erkenntnisstrebens und erscheint in völlig neuer Bedeutsamkeit. Mit Winckelmanns Erkenntnis von der engen Verknüpfung der plastischen Kunst mit dem menschlichen Sein wird die Beziehung zwischen Kunstwerk und Betrachter grundlegend verändert und ein neuer Abschnitt in der Geschichte des aesthetischen Verhaltens eingeleitet. Dem betrachtenden Subjekt wurde bis dahin keinerlei aktive Leistung im Wirkraum der künstlerischen Kräfte zugesprochen. Das Wirken des Betrachters erschöpfte sich im lehrhaften Verhalten, durch welches er — als Kunstrichter, Pädagoge oder Auftraggeber — mit Hilfe des „Geschmacks" den künstlerischen Willen prägte und die Produktion bestimmte. Das Verhältnis des Betrachters zum einzelnen — zeitgenössischen oder historischen — Kunstwerk war indessen passiv-rezeptiver oder kritischer Natur und wurde durch das Anwachsen historischarchivalischer und literarischer Gelehrsamkeit in zunehmendem Maße intel84

lektualisiert. 1 Dem plastischen Kunstwerk wird die intellektuelle Rezeption allein nicht gerecht; es erhält sein Dasein und seinen Sinn erst aus der Verknüpfung mit der ganzen menschlichen Existenz. Der Künstler wie der Kunstbetrachter werden von der Beziehung zwischen Mensch und Plastik gleichermaßen betroffen. Der aesthetische Raum, dem bis dahin nur Künstler und Kunstwerk zugehörten, weitet sich damit aus und bezieht nun auch den Kunstbetrachter ein. Alle Kräfte des Betrachters physischpsychischer und geistiger Art sollen dem Kunstwerk zugewandt sein. Er darf nicht mehr in passiver Rezeptivität verharren, auch von ihm wird — wie vom bildenden Künstler selbst — schöpferische Aktivität gefordert; erst durch ihn erfährt das plastische Kunstwerk die aesthetische Vollendung. Denn das Kunstwerk ist nicht mehr Ende, sondern Mitte des Schöpfungsweges, Zentrum eines Wirkraumes voller geistiger, seelischer und körperlicher Kräfte, die in der Spannung der aesthetischen Rezeption den Gegenwert zur Spannung des aesthetischen Produzierens bilden. Die Ansprüche, denen der Kunstbetrachter zu genügen hat, fordern nicht nur eine bestimmte künstlerische Begabimg, sondern auch deren Ausbildung, die der geistigen Ausbildung des schöpferischen Talents entspricht. Die hohe Bedeutung, die Winckelmann dem Kunstbetrachter zuspricht, entspringt jedoch nicht aus seinen aesthetischen Erkenntnissen vom Wesen der Plastik allein; sie ist ebenso sehr in seinen historischen Erkenntnissen begründet, wie im folgenden noch zu zeigen ist. Aus diesem Grunde ist die Darstellung dieses Abschnittes der Winckelmannschen Theorie für die vorliegende Untersuchung von entscheidender Wichtigkeit: greifen doch hier die beiden großen Bereiche seines Denkens — reine Aesthetik und historisches Bewußtsein — zum ersten Mal wirklich ineinander.

2. Der Vorgang der Rezeption Allein zwei der Schriften Winckelmanns — die „Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst" und die „Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst" — sind ausschließlich der Erziehung des Kunstbetrachters gewidmet und deuten schon im Titel ihre Absichten an, nämlich: die Lehre von der Erfahrbarkeit der plastischen Form, Erschließung eines neuen rezeptiven Organs und Anleitung zur „Bildung" der aesthetischen Urteilskraft. 1 Für die Malerei, soweit sie nicht menschliche Gestalt darstellt, sondern gelehrte Inhalte vermittelt und darum den menschlichen Intellekt anspricht, hat auch für Winckelmann die intellektuelle Rezeption den Vorrang.

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Die Kunsttheorie vor Winckelmann hat sich auf die Regelung des kritischen Urteils durch rationale Dogmen beschränkt, die Kunst-Urteil und Kunst-Schaffen gleichermaßen normierten. Diese kritische Distanz zwischen Kunstwerk und Betrachter, die die Rezeption auf die intellektuelle Sphäre beschränkt, versucht Winckelmann als erstes aufzuheben. Die Ausbildung der kritischen Fähigkeit steht in seiner Lehre erst an zweiter Stelle. Als erstes erstrebt er die ganzheitliche Erfassung der aesthetischen Qualität, die an eine wesentliche Voraussetzung gebunden ist: an das Verstehen von Wesen und Eigengesetzlichkeit der plastischen Form und ihres künstlerischen Entstehungsprozesses. Aesthetische Erfahrung als Voraussetzung des kritischen Urteils ergibt sich also aus zwei Akten: erstens aus der Erkenntnis der aesthetischen Qualitäten des Kunstwerks, und zweitens aus der Würdigung der künstlerischen Leistung im Nachvollzug des künstlerischen Aktes. Diese Erkenntnisse können vom Kunstbetrachter nur durch eigene, aktive Leistung gewonnen werden; die aesthetische Erfahrung erfordert von ihm ein völlig neues Verhalten gegenüber dem Phänomen Kunst. Seine Aufgabe erschöpft sich nicht mehr in der passiven Rezeptivität; die künstlerischen Werte bieten sich ihm keineswegs mühelos dar, sondern sie sind im „Innern" der esoterischen Sphäre „Kunst" beschlossen 1 und werden nur dem „suchenden", um ihr „Geheimnis" sich bemühenden Streben offenbar.2 Die aesthetische Erziehung setzt darum ein mit der Forderung nach intimer Begegnung des Betrachters mit der „originalen" Schöpfung. 3 „Wie mit seinem Freunde" muß er mit dem Kunstwerk „bekannt" werden und mit ihm vertrauten Umgang pflegen 4 ; leidenschaftliches, hingegebenes Werben allein kann ihm 1

„Vermagst D u aber in die Geheimnisse der Kunst einzudringen . . . " (T., S. 227 f.) „Hat jemand Erleuchtung genug, in das Innerste der Kunst hineinzuschauen . . ." (G., S. 19.) 2 , , . . . und ich legte mir selbst die Notwendigkeit auf, nicht den Rücken zu wenden, bevor ich etwas von Schönheit mit dessen Gründen gefunden hätte." (Vorr., S. 40.) „Ist ein Vorurteil nützlich, so ist es die Überzeugung von dem, was ich sage; mit derselben nähere dich zu den Werken des Altertums in Hoffnung, viel zu finden, so wirst du viel suchen." (B., S. 206.) „Suche nicht die Mängel und Unvollkommenheiten in Werken der Kunst zu entdecken, bevor du das Schöne erkennen und finden gelernt." „ . . . eben so ist das Unvollkommene viel leichter als das Vollkommene zu bemerken und zu finden." (G. d. K. V, S. 302.) 3 „Die Kopie im kleinen ist nur der Schatten, nicht die Wahrheit . . . und es ist vom Homerus auf dessen beste Übersetzungen kein größerer Unterschied als v o n der Alten und des Raphael Werken auf deren Abbildungen: diese sind tote Bilder und j ene reden. Es kann also die wahre und völlige Kenntnis des Schönen in der Kunst nicht anders als durch Betrachtung der Urbilder s e l b s t . . . erlangt werden." (Empf., S.254f.) 4 G., S. 8.

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das Mysterium der künstlerischen Werte erschließen.1 Das plastische Kunstwerk ist „organisches", durchgeistetes und durchseeltes Wesen für sich2 und fordert vom Betrachter ichentbundenes Verstehen, d. h. die Verschmelzung seiner eigenen mit der plastischen Existenz. Die Rezeption wird von Winckelmann ebenso wie der künstlerische Gestaltungsprozeß in einen äußerlich „mechanischen" und einen innerlich „geistigen" Akt geschieden. Der mechanische Akt, die Wahrnehmung der konkreten Form, ist eine Leistung des „äußeren" Sinnes. Dessen Wirken muß „richtig", d. h. zur objektiven Wahrnehmungsfähigkeit gebildet sein.3 Es ermöglicht den Akt der „geistigen" Erfahrung, die an den „inneren Sinn" als das Organ der Empfindung gebunden ist.4 Die „Empfindung" mit Hilfe des inneren Sinnes entspricht dem „Denken" mit Hilfe des „Verstandes" bei der Erzeugung der geistigen Form im künstlerischen Akt. Die Wahrnehmung der konkreten plastischen Form, des bewegten Konturs, durch den äußeren Sinn regt den inneren Sinn zur organischen Erzeugung des geistigen Bildes an; 5 in gewissem Sinne wiederholt der Betrachter — nur in umge1 „Die Athaumasie, oder die Nichtverwunderung, die vom Strabo angepriesen wird, weil sie die Apathie hervorbringt, schätze ich in der Moral, aber nicht in der Kunst, weil hier die Gleichgültigkeit schädlich i s t . " (Vorr., S. 39.) 2 „Dar Künstler mußte die Stärke deä Geistes in sich selbst fühlen, welche er seinem Marmor einprägte. Griechenland hatte Künstler und Weltweise in einer P e r s o n . . . Die Weisheit reichte der Kunst die Hand und blies den Figuren derselben mehr als gemeine Seelen ein." (G., S. 31 f.) 3 „Die Richtigkeit des Auges besteht in Bemerkung der wahren Gestalt und Größe der Vorwürfe." (Empf., S. 246.) „ E s ist aber die Richtigkeit des Auges eine Gabe, welche vielen mangelt". (Empf., S. 245.) Diese „Richtigkeit" des äußeren Sinnes wird vom Künstler wie vom Betrachter gleichermaßen gefordert. Während Winckelmann ursprünglich dazu neigte, alle Stilverschiedenheiten der einzelnen Künstler auf eine solche „Unrichtigkeit" des Auges zurückzuführen, unterscheidet er später zwischen der ,,stil"-gebundenen subjektiven und geschichtlichen Verschiedenheit der formalen Gestaltung und der Fähigkeit zur objektiven Wahrnehmung, die für jeden Künstler Voraussetzung für sein eigentliches Gestalten ist. „Die Maler sehen die Sachen auf e i n e Art, und dennoch malen sie dieselben verschieden einer von dem andern. (Nachl., S. X X I X . ) (Also nicht das verschiedene „Sehen" etwa im Wölfflinschen Sinne ist für Winckelmann der Grund für die verschiedenen Stile, sondern ein geschichtlich bedingtes Wollen, d. h. ein „Nicht anders wollen können".) Das „Sehen" als solches muß zur Objektivität erzogen sein (durch Zeichnen nach der Natur, schönes Schreibenlernen usw.). 4 „Das Werkzeug dieser Empfindung ist der äußere Sinn, und der Sitz derselben der innere: jener muß richtig, dieser empfindlich und fein sein." (Empf., S. 245.) 6 „Der innere Sinn ist die Vorstellung und Bildung der Eindrücke in dem äußeren Sinne, und mit einem Worte, was wir Empfindung nennen. Der innere Sinn aber 7

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kehrter Folge — die Phasen des künstlerischen Aktes. Das Kunstwerk wird von ihm neu erschaffen zu einer wiederum geistigen Form, die nun durch die „Empfindung" erfahren wird. Denn nur die „Empfindlichkeit" des „inneren Gefühls" vermag auch die substilsten aesthetischen Werte wahrzunehmen. Es schmiegt sich fühlend-tastend den geistigen Formen an,1 es schmilzt ihre sinnlich-seelischen Werte in die Existenz des Betrachters ein und überträgt auf ihn die Harmonie des plastischen Wesens.2 Die aesthetische Erfahrung bewirkt zugleich den wahren aesthetischen Genuß. In der Verschmelzbarkeit der plastischen Gestalt mit dem „inneren Gefühl" liegt zugleich ein Kriterium für ihre aesthetische Qualität. Die „Empfindung" ist darum für Winckelmann ein wichtiger Faktor auch des ist nicht allezeit dem äußeren proportioniert, d. i. es ist jener nicht in gleichem Grade empfindlich mit der Richtigkeit von diesem, weil er mechanisch verfährt, wo dort eine geistige Wirkimg ist." (Empf., S. 248.) „Dieser innere Sinn muß fertig, zart und bildlich sein." „Fertig", weil er die Empfindung des „Ganzen" vermittelt, die der „Überlegung" vorhergeht; sie „kann dunkel und ohne Gründe sein . . . bis die Untersuchung der Stücke die Überlegung zuläßt, annimmt und erfordert. Wer hier von Teilen auf das Ganze gehen wollte, würde ein grammatikalisches Gehirn zeigen und schwerlich eine Empfindung des Ganzen und eine Entzückung in sich erwecken." „Zart, . . . weil das Schöne in der Harmonie der Teile besteht, deren Vollkommenheit ein sanftes Steigen und Sinken ist, die folglich in unserer Empfindung gleichmäßig wirkt, und diesselbe mit einem sanften Zug führt, nicht plötzlich fortreißt. . . E s ist auch die heftige Empfindung der Betrachtung und dem Genüsse des Schönen nachteilig, . . . denn sie führt auf einmal dahin, was sie stufenweise fühlen sollte." Bildlich, weil die dritte Eigenschaft „des inneren Gefühls . . . in einer lebhaften Bildung des betrachteten Schönen besteht. . . " (Empf., S. 249f.) 1 Über die „sanft angedeuteten" Grübchen bei den Griechen, welche „öfters nur durch ein gelehrtes Gefühl bemerkt werden." (G., S. 19f.) „ . . . schwellende Hügel von Muskeln . . . die weniger dem Gesicht als dem Gefühl offenbar werden." (T., S. 230.) „Das wahre Gefühl des Schönen gleicht einem flüssigen Gipse, welcher über den Kopf des Apollo gegossen wird und denselben in allen Teilen berührt und umgibt." (Empf., S. 245.) (Dieses „innere Gefühl" Winckelmanns hat noch nichts mit Herders Erkenntnis von der physischen Tastbarkeit der plastischen Form gemeinsam, die die Formen in die innere Wahrnehmbarkeit überleitet. Die Berührung mit dem Kunstwerk ist bei Winckelmann immer geistiger Art, obwohl die sublimierte „innere" Sinnlichkeit durchaus in den aesthetischen Genuß einbezogen wird. Der Vorgang des „Ertastens" geschieht immer durch den inneren Sinn, das Auge dagegen sieht, „als o b " es tastet [vgl. Hamann, Aufsätze . . . , a. a. O., S. 66], d. h. es leitet die Bewegimg der sinnlichen Form in die Aktion der „Empfindung" über.) 2 „Die Fähigkeit, das Schöne in der Kunst zu empfinden, ist ein Begriff, welcher zugleich die Person und die Sache, das Enthaltende und das Enthaltene in sich f a ß t . " (Empf., S. 238.)

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künstlerischen Urteils. 1 Bei Werken „hoher, abstrakter Schönheit" jedoch ist die Nachempfindung der sinnlich erfaßbaren Formen allein nicht ausreichend, um die künstlerische Leistung voll zu würdigen. Der rezeptive Akt verlangt auch hier vom Kunstbetrachter die Wiederholung des ganzen Schöpfungsaktes, den der Gestalter eines solchen Kunstwerks selbst geleistet hat. Erst wenn der Betrachter durch Meditation die Idee aus dem göttlichen Ursprung neu gewinnt, erst wenn er sie selbst zum „Ideal", zum geistigen Bilde, erzeugt, erwächst ihm das Verständnis für den Rang an künstlerischer Leistung, durch welche die Idee in der ihr angemessenen sinnlichen Form gestaltet ist. 2 Die schöpferischen Kräfte des bildenden Künstlers — die „Weisheit", „Talent", „Originalität", „Verstand", „Geist", sowie die Fähigkeit zur materialen Gestaltung umfassen, 3 können nur bei schöpferischer Begabung des Betrachters selbst in vollem Umfang ermessen werden. 1

Ü b e r den L i e b h a b e r : „ H a t derselbe die W e r k e der b e s t e n Meister b e t r a c h t e t , so d a ß er eine n o t d ü r f t i g e E r f a h r u n g erlangt h a t : k a n n derselbe sein Auge u n d sein Gefühl m e h r , als d e n Ausspruch, welcher ihn n i c h t überzeugt, sich eine Regel sein lassen." (Empf., S. 269f.) „ D e r Vorwurf dieses Gefühls ist nicht, was Trieb, F r e u n d s c h a f t u n d Gefälligkeit anpreisen, sondern was der innere feine Sinn, welcher v o n allen Absichten g e l ä u t e r t sein soll, u m des Schönen willen selbst, e m p f i n d e t . " (Empf., S. 245.) „ . . . ich w u r d e vielmals irre g e m a c h t d u r c h d a s U r t e i l der K ü n s t l e r , welches meiner E m p f i n d u n g u n d K e n n t n i s w i d e r s p r a c h . " (Vorr., S. 35.) „Die höchste Deutlichkeit k a n n Dingen, die auf der E m p f i n d u n g bestehen, n i c h t gegeben werden . . . Hier h e i ß t es: Gehe hin u n d sieh . . . " (Empf., S. 273.) „ . . . versuche, ein Schöpfer einer himmlischen N a t u r zu werden, u n d w e n n d u in dir selbst ein Bild erzeugt u n d eine vollkommenere Gestalt, als je dein Auge sah, hervorgebracht h a s t , alsdann t r i t t her zu d e m Bilde dieser G o t t h e i t . " (Nachl., S. L X X f . ) 2 „Mit e r w ä r m t e r E i n b i l d u n g v o n d e m Verlangen, alle einzelnen Schönheiten, die ich b e m e r k t , in E i n s u n d einem Bilde zu vereinigen, s u c h t e ich m i r eine dichterische Schönheit zu erwecken u n d mir gegenwärtig h e r v o r z u b r i n g e n . " (G. d. K . I V , S. 46.) „ D a s Schöne b e s t e h t in der Mannigfaltigkeit i m E i n f a c h e n . . . n u r der v e r s t e h t die wenigen W o r t e , der sich diesen Begriff aus sich selbst g e m a c h t h a t . " (B., S. 207.) „ I m U n t e r r i c h t ü b e r W e r k e der K u n s t ist die Grazie das Sinnlichste . . . m i t derselben m u ß m a n a n f a n g e n zu lehren, bis m a n zur hohen, a b s t r a k t e n Schönheit gehen k a n n . " (Gr., S. 218.) „ D e n n es ist n i c h t genug, zu sagen, d a ß e t w a s schön ist, m a n soll a u c h wissen, w a r u m u n d in welchem Grade es schön sei." (T., S. 227.) „Wie ist es aber geschehen . . . , d a ß die G r ü n d e der K u n s t u n d Schönheit wenig u n t e r s u c h t geblieben . . . Die Schuld d a v o n liegt in der u n s angeborenen T r ä g h e i t , a u s u n s selbst zu denken u n d in der Schulweisheit." (G. d. K . I V , S. 43.) 3 „ G i b A c h t u n g , ob der Meister des Werks, welches D u b e t r a c h t e s t selbst ged a c h t oder n u r n a c h g e m a c h t h a t ; ob er die v o r n e h m s t e Absicht der K u n s t , die Schönheit, g e k a n n t , oder n a c h den i h m gewöhnlichen F o r m e n gebildet; u n d ob er als ein Mann gearbeitet oder als ein K i n d gespielt h a t " (B., S. 204), d . h . ob er n u r a u s dem Material heraus F o r m e n gebildet, oder diese geistig e n t w o r f e n h a t . 7»

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3. Die Aufgaben des Kunstbetrachters und im historischen

im

aesthetischen

Raum

1

Die Ausbildung dieser „Gabe" , die allein aesthetisches Verstehen ermöglicht, schließt die Bildung und Erziehung des ganzen Menschen ein. Winckelmann erstrebt daher ein umfangreiches Erziehungsprogramm, das an die Stelle seiner künstlerpädagogischen Absichten tritt.2 Es umfaßt die sittliche Erziehung des Menschen von Jugend an, die organische „Bildung" seines Wesens zu sinnlich-seelischer Harmonie, die Sublimierung seiner Sinne zur Empfindlichkeit für wahre aesthetische Werte und die Schulung seines „Verstandes" zur Erkenntnis künstlerischer Qualität.3 „Sittliche Würde", „erleuchtete Sinne", geistige Bildsamkeit und ein „hoher Verstand", wie auch die Fähigkeit zu absoluter Ruhe und Stille müssen vom Kunstbetrachter erworben sein, bevor er in die „Geheimnisse" der Kunst einzudringen vermag4. Erst dann werden ihm die Erkenntnisse, die die verschiedenen Arten der plastischen Gestaltung vermitteln, zuteil: Er er1

„Die F ä h i g k e i t der E m p f i n d u n g des Schönen h a t der H i m m e l allen v e r n ü n f t i g e n Geschöpfen, aber in sehr verschiedenem Grade, gegeben." (Empf., S. 239.) „ E 3 ist dieselbe, wie der poetische Geist, eine Gabe des Himmels, bildet sich a b e r so wenig wie dieser v o n sich selbst u n d würde ohne Lehre u n d U n t e r r i c h t leer u n d t o t bleiben." (Empf., S. 238f.) „ W o diese E m p f i n d u n g nicht ist, predigt m a n Blinden die E m p f i n d u n g des Schönen, wie die Musik einem nicht musikalischem Gehöre." (Empf., S. 244.) „Diese Fähigkeit wird durch gute Erziehung geweckt u n d zeitiger g e m a c h t u n d meldet sich eher als in vernachlässigter Erziehung, welche diesselbe a b e r n i c h t ersticken k a n n . . . E s wickelt sich aber dieselbe eher a n großen O r t e n als a n kleinen O r t e n a u s u n d im U m g a n g e m e h r , als d u r c h Gelehrsamkeit. D e n n das viele Wissen, sagen die Griechen, erweckt keinen gesunden V e r s t a n d . " (Empf., S. 242.) 2 Verschiedene Hinweise in Winckelmanns Schriften lassen d a r a u f schließen, d a ß er n o c h weitere kunsterzieherische Schriften geplant h a t , a n deren A u s f ü h r u n g i h n wohl sein T o d gehindert h a t (u.a. Betr., S . 2 1 5 f . : „ I c h h a b e ü b e r h a u p t in etlichen J a h r e n meines A u f e n t h a l t e s in I t a l i e n eine fast tägliche E r f a h r u n g , wie . . . j u n g e Reisende v o n blinden F ü h r e r n geleitet werden u n d wie n ü c h t e r n sie über die Meisterstücke der K u n s t hinflattern. I c h behalte m i r vor, einen ausführlichen U n t e r r i c h t hierüber zu erteilen." — L e t z t e n E n d e s ist jedoch a u c h Winckelmanns K u n s t g e schichte f ü r d e n K u n s t b e t r a c h t e r geschrieben, d a f ü r den s p ä t e n W i n c k e l m a n n aesthetische E r f a h r u n g historischer Werke n u r d u r c h die Einbeziehung des Wissens u m die Geschichtlichkeit der K u n s t möglich ist. 3 I n dieses E r z i e h u n g s p r o g r a m m wird v o n W i n c k e l m a n n allerdings a u c h der j u n g e K ü n s t l e r einbezogen; jedoch n u r insoweit, als sein „ G e s c h m a c k " dieser E r z i e h u n g bedarf, d a diese u n a b h ä n g i g ist v o n der stilgebundenen, eigentlichen Gestaltungsk r a f t . I n diesem Sinne werden a u c h in W i n c k e l m a n n s späteren Schriften die W e r k e der A n t i k e d e n j u n g e n K ü n s t l e r n als Studien- u n d E r k e n n t n i s o b j e k t a n e m p f o h l e n , d a die Fähigkeit zur richtigen K u n s t b e t r a c h t u n g a u c h f ü r den K ü n s t l e r erforderlich ist. 4 „ . . . ich n e h m e selbst einen erhabenen S t a n d an, u m m i t Würdigkeit anz u s c h a u e n . " (G. d. K . X I , S. 223.)

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kennt in der Konturierung der plastischen Gestalt das „Wesentliche" seiner eigenen Existenz1 und „begreift" in der „Idee" zugleich die „Wahrheit" des reinen Seins. Die Harmonie der plastischen Formen stillt in ihm die Unrast der Seele und führt sie aus der „Teilung" und „Zerstreuung" durch die Wirklichkeit zurück in die Versammlung und Konzentration. Er findet im Kunstwerk seine „Mitte" wieder und erreicht in der „Ruhe des Geistes und des Körpers" den „wahren Genuß seiner selbst". Er erfährt sittliche Läuterung durch das Ethos des „weise" gestalteten Werkes und „Erbauung" in der Anschaubarkeit des „höchsten Wesens". Ihm wird ebenso irdische „Glückseligkeit" im „Genüsse des Schönen und des Lebens selbst" zuteil, wie zugleich die Erkenntnis des metaphysischen Grundes, die ihn über sich und seine Zeit erhebt.2 Erleben von Plastik wird zu einem Akt von fast , , . . . so w e r d e n a u c h jene (die K u n s t w e r k e ) , w e n n sie n a c h Begriffen h o h e r Schönheit gebildet . . . sind, d e m unerleuchteten Sinne weniger gefallen, als eine gemeine hübsche B i l d u n g . " (G. d. K . I V , S. 48f.) Bei m a n c h e n ist das „ s a n f t e Gefühl der reinen Schönheit n i c h t zur R e i f e " gek o m m e n „ d u r c h die B e m ü h u n g e n , ihr Wissen a l l e n t h a l b e n a n z u w e n d e n . . . " (G. d. K . I V , S. 51.) „Dieser A u s d r u c k einer b e d e u t e n d e n und r e d e n d e n Stille der Seele a b e r e r f o r d e r t einen h o h e n V e r s t a n d . " (G. d. K . V I I I , S. 216.) „Die Schönheit wird d u r c h d e n Sinn e m p f u n d e n , a b e r d u r c h d e n V e r s t a n d erk a n n t u n d begriffen, w o d u r c h jener . . . weniger empfindlich a u f alles, a b e r richtiger . . . w e r d e n soll." (G. d. K . I V , S. 56.) ,, . . . u n d das wenige Unmerkliche ein Vorwurf denkender, empfindlicher Geschöpfe i s t ; da« Viele u n d Handgreifliche aber schlaffe Sinne u n d einen s t u m p f e n V e r s t a n d beschäftigt . . . " (B„ S. 205.) „ D a sich a u c h d a s w a h r e Schöne in der menschlichen F i g u r insgemein i n der unschuldigen stillen N a t u r einzukleiden pflegt, so will es d u r c h einen ähnlichen Sinn gefühlt u n d e r k a n n t w e r d e n . " (Empf., S. 250.) „Aber d u m u ß t dieselbe m i t großer R u h e b e t r a c h t e n , d e n n d a s Viele im W e n i g e n u n d die stille E i n f a l t wird dich sonst u n e r b a u t lassen . . . " (B., S. 206.) „ V e r m a g s t d u aber, in die Geheimnisse der K u n s t einzudringen, so w i r s t D u ein W u n d e r derselben erblicken, wenn d u dieses W e r k m i t einem r u h i g e n A u g e bet r a c h t e s t . " (T., S. 228.) „ . . . eine so schöne Seele wie die seinige in einem so schönen K ö r p e r w u r d e erf o r d e r t , d e n w a h r e n C h a r a k t e r der Alten in n e u e r e n Zeiten zuerst zu e m p f i n d e n u n d z u e n t d e c k e n . " (G., S. 34f.) „ . . . d e n n es k a n n der Begriff einer hohen Schönheit a u c h n i c h t a n d e r s erzeugt werden als in einer stillen u n d von allen einzelnen Bildungen a b g e r u f e n e n B e t r a c h t u n g der Seele." (G. d. K . V, S. 192.) 1 „ W e n n der äußere Sinn richtig ist, so ist zu wünschen, d a ß der innere diesem gemäß vollkommen sei: d e n n es ist derselbe ein zweiter Spiegel, in welchem wir d a s Wesentliche unserer eigenen Ähnlichkeit d u r c h d a s Profil s e h e n . " (Empf., S. 248.) 2 Vorr., S. 37. „ S o wie der Genuß unser selbst u n d das w a h r e Vergnügen in der R u h e des Geistes u n d des K ö r p e r s zu erlangen ist, so ist es a u c h das Gefühl u n d der Genuß des Schön e n . " (Empf., S. 250.)

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religiöser Bedeutung, d a für Winckelmann die Bindung des Seienden a n den metaphysischen Ursprung durch keine andere T a t des menschlichen Geistes in gleichem Maße erfahrbar wird. 1 Mit der Empfängnis und Erkenntnis der im plastischen K u n s t w e r k versammelten W e r t e erfüllt der B e t r a c h t e r eine notwendige Aufgabe im aesthetischen R a u m , denn nur durch die echte aesthetische Rezeption vollendet er den Sinn der plastischen Schöpfung, erschafft er das K u n s t w e r k zu beständig neuem, gegenwärtigem Dasein, w a h r t er dessen Wirksamkeit und erfüllt das plastische Wesen mit „ S c h m e r z " und „ L e b e n " . 2 Auch ist er wie der K ü n s t l e r notwendiges Bindeglied zwischen I m m a n e n z und Transzendenz, weil erst durch ihn der Kreislauf der „ I d e e " beschlossen wird, indem er sie aus der materialen Verkörperung erneut befreit und in den göttlichen Ursprung zurückfließen läßt. Diese Leistung des K u n s t b e t r a c h t e r s — und hierin hegt der entscheidende Grund für die hohe Bedeutung, die ihm von Winckelmann beigemessen wird — bleibt möglich auch unter dem Schicksal der Geschichtlichkeit. Der aesthetisch-produktiven Sphäre belassen die geschichtlichen Mächte nur „ E s ist also diese Fähigkeit als eine seltene Gabe des Himmels zu schätzen, welche den Sinn zum Genüsse des Schönen und des Lebens selbst hierdurch fähig gemacht hat . . . " (Empf., S. 251.) „La Fage . . . hat den Geschmack der Alten nicht erreichen können: Alles ist in Bewegung in seinen Werken und man wird in der Betrachtung derselben geteilt und zerstreut . . . " (G., S. 34.) „Ich aber schlug mein Auge nieder . . . wie diejenigen, denen der Höchste gegenwärtig erschienen war, weil ich diesen in jener zu erblicken glaubte." (G. d. K . I V , S. 46.) „Die Weisheit reichte der Kunst die Hand und blies den Figuren derselben mehr als gemeine Seelen ein." (G., S. 32.) „Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen B a u der Figur mit gleicher Stärke ausgeteilt . . . sein Elend geht uns bis an die Seele, aber wir wünschten, wie dieser große Mann das Elend ertragen zu können." (G., S. 31.) 1 Das Kunsterleben der Romantik kann trotz vieler Gemeinsamkeiten, z. B . der Verknüpfung der aesthetischen mit den religiösen Bedürfnissen, nicht mit Winkkelmanns Anschauungen verglichen werden, da die metaphysische Bedeutung gerade der plastischen Form von den Romantikern nicht erkannt worden ist. Die Sehnsucht nach transzendierender Erkenntnis durch Kunst erfüllt sich in der Romantik hauptsächlich durch Dichtung, Musik und Malerei, in Kunstformen also, die den romantischen Intentionen nach Auflösung und Entgrenzung entgegenkommen, während Winckelmann der Unendlichkeit des Absoluten gerade und nur in der genau umgrenzten konkreten Form begegnet. Auch Herder steht mit seiner „Plastik" in dieser Hinsicht Winckelmann näher als der romantischen Kunstauffassung. 2 „Mehr Empfindung aber wird zum Schönen in der Kunst, als in der Natur, erfordert, weil jenes . . . ohne Schmerz, ohne Leben ist, und durch die Einbildung erweckt und ersetzt werden muß." (Empf., S. 244.) 92

einen begrenzten Wirkraum, Harmonie mit dem Sein wird nur in kurzen geschichtlichen Augenblicken erreicht. Diese sind auch bei höchster Anspannung des schöpferischen Willens nicht willkürlich wiederholbar und dennoch dem Verfallensein an die Zeit nicht preisgegeben, weil der Kunstbetrachter durch sein geistiges Wirken Zeit und Raum zu überwinden vermag. Der bildende Künstler kann die aesthetischen Werte nur innerhalb der formalen Möglichkeiten seines eigenen geschichtlichen Daseins gestalten. Der Betrachter dagegen vermag im Vorgang der Rezeption trotz seiner Geschichtlichkeit die aesthetischen Möglichkeiten auch anderer geschichtlicher Daseinswelten nachzuvollziehen.1 Dies setzt allerdings — neben der aesthetischen Erziehung — das Wissen des Betrachters von der Geschichtlichkeit aesthetischer Produktion voraus. Um dieses Wissen vom „Wesen der Kunst" als eines geschichtlich bedingten aesthetischen Phänomens zu vermitteln, schreibt Winckelmann seine Geschichte der Kunst des Altertums. Erst dieses Wissen um das „Denken" einer anderen Zeit, um den geschichtlichen Raum, aus welchem sie ihre Werke erschaffen hat, macht diese Werke für den Betrachter aesthetisch erfahrbar und die Relativität der „Stile" durchsichtig für die Erkenntnis der zeitlosen aesthetischen Qualität. So erfüllt der Betrachter eine Aufgabe an der Kunst auch im weitesten Sinne: er erkennt, würdigt und überwindet zugleich das Moment der Geschichtlichkeit, dessen der Geist zur Gestaltwerdung bedarf. Er erkennt den geschichtlichen Wandel des Seinsbezugs und verschafft den kurzen Augenblicken der Harmonie in der Rezeption überzeitliche Gültigkeit und Wirksamkeit. 2 Die aesthetischen Werte sind im geschichtlichen Werk verwahrt, aber nicht verschlossen, und über Raum und Zeit hinweg der Menschheit lebendiger Besitz. 3 1

„Mit einem Auge, welches diese Schönheiten empfinden gelernt, mit diesem wahren Geschmacke des Altertums muß man sich seinen Werken nähern." (G., S. 35.) „Montfaucon . . . hat mit fremden Augen . . . geurteilt . . ." (Vorr., S. 19.) 2 „Mit Betrachtungen über die Kunst verhält es sich auch anders, als mit Untersuchungen der Gelehrsamkeit in den Altertümern. Hier ist schwer etwas Neues zu entdecken . . . aber dort ist in dem Bekanntesten etwas zu finden: denn die Kunst ist nicht erschöpft." (G. d. K. VIII, S. 262.) 5 „ . . . die Altertümer . . . als Werke von Menschen gemacht, die höher und männlicher dachten als wir, und diese Einsicht kann uns bei Untersuchung dieser Werke über uns und unsere Zeit erheben." (Vorr., S. 37.)

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VII. ZUSAMMENFASSUNG Diese Untersuchung nahm ihren Ausgang von der Tatsache der Auflösung und Zersplitterung in eine Vielzahl widersprüchlicher Auffassungen und Deutungen, die das Werk Winckelmanns in den fast zwei Jahrhunderten seiner Wirkung und Erforschung erfahren hat. Positive Würdigung einerseits und Polemik andererseits, die jeweils nur einzelne Teile des Werkes betrafen, durch die Forschung verschiedenartiger Disziplinen, verstellten seine Ganzheit, so daß es nicht mehr als Ergebnis einer in ihrer inneren Einheit erkennbaren denkerischen Leistung angesprochen werden konnte. Das Bild des Denkers Winckelmann wurde in seiner überlieferten Größe pietätvoll aufrechterhalten, ohne daß dies durch die scheinbare Zwiespältigkeit seines Werkes noch gerechtfertigt erschien. Ein wesentlicher Grund für diese Erscheinung im Forschungsbild ist die Außerachtlassung des in dem Werk enthaltenen Entwicklungsmomentes, das kaum gesehen wurde. Verführt durch den „Mythos Winckelmann", in welchem seine Leistungen als „prophetisch", „intuitiv" und „fertig" dargestellt wurde, stellte man Thesen seiner frühen Schriften solchen seines späteren historischen Denkens in einer Weise gegenüber, daß sich mit Notwendigkeit sein Werk als Ganzes in einer unaufhebbaren Widersprüchlichkeit auftun mußte. Ein weiterer Grund für die Verkennung, die das Werk Winckelmanns als Ganzes erfahren hat, liegt in der mangelnden Einfühlung vieler Interpreten in die Werkgestalt selbst. Diese entzieht sich mit zunehmender zeitlicher Entfernung dem direkten Verständnis. Winckelmanns äußerst subjektive, intuitive Sprache — daneben die Verwendung auch der überlieferten Terminologie, deren neuer Sinngehalt erst erschlossen werden muß, und die oft durch spontane Regungen bedingte Entstehung seiner einzelnen Schriften, die in sich die ganze Fülle der jeweils gewonnenen Erkenntnisse ohne systematische Anordnimg bergen, erschweren das Verständnis seiner Leistung in 94

hohem Maße und verbieten jede Berufung auf eine Einzelthese, die nicht zuvor aus dem inneren Zusammenhang seines Denkens ihre Deutung erfahren hat. Diese Deutung hatte sich diese Untersuchung zur Aufgabe gesetzt. Durch eine Interpretation, die sich innerhalb des Werkes selbst bewegte, die jede einzelne Aussage zu dem Ganzen in Beziehung setzte, war sie bemüht, die Schwierigkeiten des Verstehens zu überwinden und Mißverständnisse zu vermeiden, die sich aus der abgelösten Betrachtung nur einzelner Thesen des Werkes mit Notwendigkeit ergeben mußten. Wesentliche und unwesentliche Aussagen konnten auf diese Weise voneinander geschieden werden, und aus der Sicht des Ganzen wurde das in ihm verborgene Werden offenbar: die Widersprüche innerhalb des Werkes erschienen als Pole einer denkerischen Entwicklung und der durch sie bedingten inneren Spannung. Das scheinbar verwirrende und verworrene Verhältnis von normativer Aesthetik und geschichtlicher Kunsterkenntnis ist damit durchsichtig geworden, die Auseinandersetzung zwischen seinen ursprünglich normativen Absichten, die aus seiner Sehnsucht nach Erneuerung der griechischen Kunst erwuchsen, und seinen historischen Erkenntnissen, die jene Absicht als Utopie entlarvten. Die Polemik der Forschung, die speziell auf Winckelmanns Nachahmungslehre gerichtet war, wird durch das Wissen um diese Wandlung gegenstandslos. Denn die Nachahmungslehre ist verbindlich nur für den frühen Winckelmann; sie bedeutet den Anfang seines kunsttheoretischen Wirkens und wird in dem Augenblick ihrer Bedeutung enthoben, in dem er tiefer in das „Wesen der Kunst" eingedrungen ist und die Erkenntnis von ihrer geschichtlichen Bedingtheit gewonnen hat. Diese Erkenntnis besagt, daß auch wahre Nachahmung, wie er sie ursprünglich verstand: echte künstlerische Leistung nämlich in der (Nach- und) Neugestaltung der griechischen Kunst-Natur, von den Kräften der Geschichte verhindert wird; (geistloses, bloß „mechanisches" Formkopieren aber hat Winckelmann selber zu allen Zeiten verurteilt). Die Resignation, die sich aus dieser Erkenntnis Winckelmanns gegenüber seiner ursprünglichen restaurativen Absicht ergab, wird von ihm kompensiert durch die Erkenntnis von der — vom geschichtlich bedingten Werden unabhängigen — überhistorischen Gültigkeit und Wirksamkeit vollendeter plastischer Schöpfungen. Das geschlossene Sinngefüge einer Aesthetik der Plastik, das Winckelmann im Verlauf seiner Entwicklung errichtet hat, ist nur darum noch nicht als solches erkannt worden, weil die unsystematische Festlegung seiner jeweils gewonnenen Erkenntnisse in der oft zufälligen Form der einzelnen Schriften dessen inneren Zusammenhang verbirgt. Darum mußten, solange man nicht diese Tatsache zum Anlaß einer mühsamen Ordnung und Deutung aller 95

Aussagen nahm, seine Gedanken als „durcheinanderschillernde kunstaesthetische Begriffe" erscheinen. UnlogikundUnkonsequenz, Wechseides Standpunktes und Schwanken zwischen extremen Ansichten wurden Winckelmann beständig vorgeworfen. Auch hier konnten durch die eingehende Interpretation und Zusammenschau viele Thesen, die, für sich betrachtet, in sich widerspruchsvoll oder einander entgegengesetzt erscheinen mußten, vom Ganzen her erklärt und in das Ganze eingebunden werden. Winckelmanns „Schwanken" zwischen „naturalistischer" und „idealistischer" Kunstauffassung zeugt einerseits in Wahrheit für eine umfassende Konzeption der plastischen Gestaltungsmöglichkeiten von der Wirklichkeit hin zur Idee. Jede dieser Möglichkeiten hat für Winckelmann ihre volle Berechtigung und eine bestimmte Aufgabe im Bereich der plastischen Kunst zu erfüllen. Andererseits erklärt sich sein „Schwanken" durch die je verschiedene Staffelung, in welcher die drei künstlerischen Verfahrensweisen innerhalb der reinen Aesthetik und der geschichtlichen Kunstbetrachtung erscheinen. Für den Aesthetiker Winckelmann stehen Wirklichkeit und Idee sich antinomisch gegenüber. Die Gestaltung der Natur ist nur die Vorstufe für die Gestaltung der reinen Idee, für die Überwindung der Wirklichkeit in der höchsten aesthetischen Leistung. Dem Historiker Winckelmann verwandelt sich diese Antinomie zur Polarität: Natur und Wirklichkeit erhalten einen neuen, positiven Akzent; in der Verfolgung des organischen Kunstverlaufs in der Zeit wird die Harmonie mit der Wirklichkeit als Höhepunkt der Entwicklung erkannt. Winckelmanns Schönheitsbegriff ist auf ähnliche Weise gestaffelt und differenziert und nur aus seiner Ontologie zu erklären. Ideale Schönheit und Naturschönheit sind keine Widersprüche, sondern Stufengrade im Weg des Seienden von der Wahrheit zur Wirklichkeit, vom Ursprung im Göttlichen — der reinen Idee — zur Verkörperung der „menschlichen" Schönheit in der Natur. Eine jede Aussage Winckelmanns über „Schönheit" muß daraufhin betrachtet werden, ob von der „menschlichen" oder von der „höchsten" Schönheit gesprochen wird. Durch eben diese graduelle Staffelung ist auch der scheinbare Widerspruch zwischen der Forderung nach Gestaltung hoher „abstrakter" Schönheit und der Forderung nach Ausdruckskunst erklärt, der im Forschungsbild besonders deutlich zutage tritt. Winckelmann will keine „Form ohne Inhalt", die „Natur als Gegenstand der künstlerischen Gestaltung" ist ihm keineswegs „ganz entschlüpft", — die Gestaltung des reinen Seins in der „Unbezeichnung" ist nur eine unter den Möglichkeiten der plastischen Kunst. Und auch diese ist nicht „leere" Form an sich, sondern sie verbild96

licht in der absoluten Stille der „ausdrucks"losen Schönheit die metaphysische Wahrheit der menschlich-göttlichen Seele. Von gleicher Wichtigkeit ist für Winckelmann jedoch auch die Gestaltung dieser Seele in ihrem lebenden Zustand, ihr bewegtes Handeln und Leiden in der Wirklichkeit, das in den plastischen Formen „ausgedrückt" wird. Die Beschränkung dieses Ausdrucks durch das ethisch-aesthetische Postulat der Stille wird von Winckelmann nicht gefordert, weil Ausdruck den Gesetzen der höchsten Schönheit widerspricht — die Bereiche der „höchsten" Schönheit und der Ausdruckskunst werden von Winckelmann stets voneinander getrennt —, sondern weil sich die Deutung des Wirklichen nicht an die Wirklichkeit selbst verlieren darf. Alle plastische Kunst steht in einem letzten transzendierenden Bezug: sie deutet alle Formen der menschlichen Existenz und bindet diese zugleich an den metaphysischen Bereich, aus welchem dem Aesthetischen seine ethische Bedeutsamkeit zukommt. Diese Möglichkeit, die antinomische Spaltung des Daseins aufzuheben und Wahrheit und Wirklichkeit, Immanenz und Transzendenz im anschaubaren Menschenbild zu vereinen, ist für Winckelmann nur der Plastik eigen. Das Phänomen Plastik wird von ihm zum ersten Mal nach seiner strukturalen Eigenart befragt und von den anderen Künsten unterschieden. Diese Unterscheidung wird jedoch nicht immer begrifflich angezeigt. Oft spricht Winckelmann nur von „Kunst" — so muß auch hier eine jede Aussage daraufhin untersucht werden, ob sie sich auf Malerei oder auf Plastik bezieht. Auch diese Unterscheidung zwischen beiden Künsten ist der Forschung häufig nicht bewußt, so daß der Vorwurf der Inkonsequenz, der sich auf das Mißverhältnis gewisser Kunstgesetze Winckelmanns zu seiner Forderung nach Allegorie bezieht, ihn auch hier zu Unrecht trifft. Allegorischer Inhalt wird von Winckelmann für die Malerei gefordert, und diese Forderung fügt sich konsequent in seine Auffassung von der Malerei ein, die sich grundsätzlich von seiner Auffassung der Plastik unterscheidet. Plastik ist Menschenkunst in einem umfassenden Sinn. Die Gestaltung und die Rezeption des plastischen Kunstwerks beanspruchen Geist, Seele und Sinne des Menschen in gleichem Maße. Die der Plastik entgegengesetzte materiale Struktur der Malerei bedingt die Andersartigkeit ihrer Aufgabengebiete. Der gemalte Kontur bannt die Form auf die Fläche und schließt die Gestaltung solcher sinnlich-seelischer Wirklichkeit aus, wie sie nur der plastische Kontur auszudrücken vermag. Der Kontur auf der Fläche gibt jeweils nur ein formelhaft verkürztes Abbild der Wirklichkeit und gilt Winckelmann — ähnlich wie die Schrift — vornehmlich als Mittel zur formalen Sichtbarmachung gedanklicher Inhalte. Während das mehrdimensionale Ineinanderwirken plasti97

scher Formen die verschiedensten Aussagen in einem Kunstwerk zu leisten vermag, ist die Malerei an ein räumliches Nebeneinander der Darstellung gebunden. Aus diesem Grunde bedient sie sich in Bildern verschlüsselter gedanklicher Konzentrate, um trotz der Begrenztheit ihrer Darstellungsmittel in der einzelnen Form ein Höchstmaß an inhaltlicher Aussage zu versammeln. Winckelmanns Aussagen über die Malerei sind innerhalb seines Werkes jedoch von geringerer Bedeutung und — abgesehen von seinem „Versuch einer Allegorie" — nur sporadisch innerhalb seiner Aussagen zum Phänomen Plastik verstreut. Die illusionistischen Darstellungsmittel der Malerei - Farbe. Perspektive, Licht und Schatten — spielen in seinem Bewußtsein kaum eine Rolle. Winckelmann ist hier durchaus dem linearen Denken der klassizistischen Tradition verhaftet. Diese Einseitigkeit seines Interesses für die plastische Kunst wird ihm von der Forschung oft zum Vorwurf gemacht. Hierin liegt jedoch gerade seine entscheidende Bedeutung. Denn nur durch seine intensive Hinwendung zur Plastik war es ihm möglich, diese aus der summarischen Unterordnung in dem Bereich der „schönen Künste" zu befreien, das Plastische als Phänomen für sich zu erkennen und seine Aesthetik der Plastik zu entwickeln. Die Übernahme der von der kunsttheoretischen Tradition geprägten Begriffe hat das Verständnis seiner Leistung in hohem Maße erschwert. Viele dieser Begriffe hat Winckelmann mit einem neuen Sinngehalt erfüllt, der ihnen aus der phänomenologischen Untersuchung der Plastik zukommt und häufig nur zu dieser in Beziehung steht. Jede Untersuchung, die sich an die konventionelle Bedeutung der Winckelmannschen Begriffswelt hält, ohne ihren Sinngehalt aus der Ganzheit seines subjektiven Denkens zu deuten, ist Mißverständnissen ausgesetzt. So wurden die Begriffe „Verstand" „Gedanken" und „Denken" bei Winckelmann häufig im überlieferten Sinne nur als ratio aufgefaßt und seine Theorie ausschließlich der rationalen Aufklärungsaesthetik zugeordnet. Diese Bedeutung haben diese Begriffe jedoch nur dann, wenn sie sich auf rational erfahrbare Inhalte der Malerei beziehen. Sonst aber ist für Winckelmann der „Verstand" das schöpferische Organ, in dessen geistigem Bereich sich gerade das irrationale Mysterium der Formwerdung vollzieht; die Funktion des „Denkens" in diesem Prozeß gilt der Erzeugung des Konturs, dem Bindeglied zwischen Geist und Form, das der plastischen Kunst ihre Spannweite zwischen Immanenz und Transzendenz verleiht. Auch die Begriffe der Sinnlichkeit und Empfindung wurden zuweilen mißverstanden, und zwar in dem Sinn, als habe Winckelmann mit der Wirkung der Kunst nur das „delectare" der Tradition, bloßes Vergnügen und „Annehmlichkeit für die Sinne" gemeint. Alle Sinnlichkeit ist bei 98

Winckelmann jedoch geistig sublimiert und nimmt mit der „Empfindung" an der schöpferischen Leistung der Rezeption teil, durch die der Kunstbetrachter seiner bisherigen Passivität enthoben und als notwendiger aktiver Pol in den Wirkraum der aesthetischen Kräfte eingeordnet wird. Auch die Begriffe „Ideal" und „idealisch" offenbaren erst durch Interpretation ihre vielschichtige Bedeutung. Das „Ideal" bezeichnet für Winckelmann immer den Zustand der Vollendung, die konkrete Verkörperung der höchsten Idee als Identität des reinen Geistes mit der adäquaten Form, nicht aber ein Traum- oder Wunschbild, das nur ins Unendliche verfolgt, niemals aber erreicht werden kann. „Idealische" Kunstgestaltung bedeutet für Winckelmann einmal: die Verfahren zur Hervorbringung dieses Ideals, zum anderen: das Verfahren archaischer Abstraktion, dessen Schöpfung zwar „idealisch" ist, niemals aber das „Ideal" im angegebenen Sinne. Noch andere Begriffe Winckelmanns, die hier im einzelnen nicht mehr angeführt zu werden brauchen, konnten ebenfalls nur durch Interpretation in ihrem wirklichen Sinngehalt erfaßt werden. Aus dem Fehlen solcher Interpretation lassen sich auch die widerstreitenden Ansichten erklären, die sich im Forschungsbild bezüglich der Fragen nach Originalität und Traditionsverhaftung Winckelmanns ergeben haben. Winckelmann wurde in den einzelnen Untersuchungen teils als „originaler" Denker gewürdigt, teils der klassizistischen französischen Tradition oder der deutschen Aufklärung zugeordnet oder auch als Bahnbrecher der klassischromantischen Epoche bezeichnet. Jeder Versuch, Winckelmanns Werk geschichtlich zu klassifizieren, ist erst dann gerechtfertigt, wenn zuvor seine Gedankenwelt auf ihren spezifischen Charakter untersucht worden ist. Aus diesem Grunde hat sich die vorliegende Arbeit in bewußter Beschränkung mit der Untersuchung der Werkgehalte selbst befaßt. Sie hat im allgemeinen auf die ideen- und problemgeschichtliche Verknüpfung verzichtet, um die geschlossene Ganzheit des Sinngefüges in der Darstellung wahren und in überzeugender Weise neu vermitteln zu können. Die Leistungen des Werkes im einzelnen und die dem Ganzen immanente Entwicklung sollten auf diese Weise neu zusammengesehen werden, weil sich nur aus der Zusammenschau auch des widersprüchlich erscheinenden Einzelnen die wahre Wesenheit Winckelmanns erkennen läßt. Winckelmanns ursprüngliche Stellung, die den Anfang seiner kunsttheoretischen Tätigkeit bestimmt, ist die des normativen Aesthetikers, den überwiegend didaktische Absichten bewegen. Diese stützen sich auf den überlieferten, aesthetisches Urteil und künstlerisches Schaffen gleichermaßen normierenden Begriff des „guten Geschmacks", als dessen Verkörperung sich Winckelmann die griechische 99

Plastik offenbart. Seine Überzeugung von der Absolutheit dieser Kunst vertieft seinen Drang, sie in ihrer aesthetischen Beschaffenheit zu erkennen und zugleich — aus der polemischen Haltung gegenüber der Kunst seiner Gegenwart — ihren Vorrang aus dem Vorrang ihres geschichtlichen Ursprungsraumes zu begründen. Diese zunächst noch unhistorischen Auffassungen werden zum Anlaß, die Nachahmung der griechischen Kunstnatur durch die zeitgenössische Künstlerschaft zu fordern. Im Verlauf der aesthetischen Untersuchungen des geschichtlichen Objektes bricht jedoch die Erkenntnis von der geschichtlichen Bedingtheit aller Kunst in Winckelmanns Bewußtsein ein. Diese Erkenntnis gewinnt Gestalt im Stilbegriff, dessen Sinngehalt bereits von der Tradition entwickelt wurde, dessen konsequente und fruchtbare Anwendung jedoch erst von Winckelmann durchgeführt wird. Mit dem Phänomen des Stils wird das Wirken der geschichtlichen Kräfte erkannt, die alle künstlerische Produktion eines Volkes und einer Zeit ermöglichen und zugleich begrenzen. Durch diese Erkenntnis wird die Forderung Winckelmanns nach Wiederherstellung der griechischen Kunst zunichte. An die Stelle seines optimistischen Erneuerungsglaubens tritt die Resignation; Winckelmann zieht sich aus der künstler-pädagogischen Position zurück und sucht in der Sphäre der reinen Erkenntnis Ersatz für den unwiederbringlich verlorenen Besitz. Sein Erkenntnisdrang vertieft sich im Bereich der reinen Aesthetik. Die griechische Plastik wird in eindringlichen Analysen in den Phasen ihres Werdens, Seins und Wirkens untersucht. Die normativen Gesetze werden aus dem Phänomen des Plastischen selbst gewonnen und der aesthetischen Erkenntnis zugänglich gemacht, ohne daß damit noch didaktische Postulate im Sinne der frühen Nachahmungslehre verbunden werden. Winckelmanns Aesthetik der plastischen Kunst ist eine Analyse des plastischen Phänomens, die Erkenntnis von den Möglichkeiten, Aufgaben und Wirkungen plastischer Form und die Lehre von den Kriterien künstlerischer Qualität. Parallel zu dem aesthetischen vertieft sich jedoch auch der historische Erkenntnisdrang Winckelmanns, der das aesthetische Phänomen Plastik nach seinen geschichtlichen Bedingungen befragt. Winckelmanns Kunstgeschichte ist keine bloße Historiographie der alten Kunst, sondern schmilzt die aesthetischen in die geschichtlichen Erkenntnisse ein, um so das Wesen der Kunst" in seiner Ganzheit zu erfassen und zu vermitteln. Das System der reinen Aesthetik erfährt unter dem Aspekt der geschichtlichen Betrachtung allerdings manche Umgruppierung. Im Zusammenhang mit der Erkenntnis vom Wirken der geschichtlichen Kräfte erscheinen die Antinomien Idee und Wirklichkeit als Polaritäten, und der organische Kunstverlauf enthüllt 100

den Primat der Natur vor der Idee, der aesthetische Höhepunkt verlagert sich. Die Stufengrade plastischer Gestaltung, die das aesthetische System im platonischen Sinne entwickelt, erscheinen nun in den Verlauf der geschichtlich-organischen Entwicklung eingebunden und werden aus der Gesamtstruktur des geschichtlichen Daseins erklärt. Die griechische Kunst in ihrer aesthetischen Vollendung erscheint als Produkt einer einmaligen, unwiederholbaren geschichtlichen Situation; die Absolutheit ihres aesthetischen Ranges wird jedoch gerade dadurch für Winckelmann erneut bestätigt. Die Erkenntnis vom geschichtlichen Wandel der Torrn bewirkt in ihm keineswegs den Entschluß, auch andere als die Formen der Vollendung als gleichberechtigt anzuerkennen. Die Relativität der künstlerischen Gestaltung wird von dem Historiker Winckelmann zwar erkannt, beeinflußt aber das Kunsturteil des Aesthetikers nicht. Aus seiner normativen Aesthetik heraus erkennt Winckelmann eine Möglichkeit, die Relativität des geschichtlichen Formenwandels doch noch zu überwinden. Dies ist durch die schöpferische Leistung des Künstlers nicht mehr möglich, da die Form unter dem Diktat der geschichtlichen Mächte steht. Durch die schöpferische Leistung des Kunstbetrachters jedoch kann die geschichtliche Relativität überwunden werden. Die Entstehung des Kunstwerks zwar ist an den geschichtlichen Augenblick gebunden, sein Wirken jedoch ist von überhistorischer Gültigkeit und kann die Erfahrung dessen, was für Winckelmann im höchsten aesthetischen Sinne Plastik ist, auch einer anderen geschichtlichen Gegenwart vermitteln, die zu seiner formalen Gestaltung nicht mächtig ist. Aus diesem Grunde wird Winckelmann vom Künstlerpädagogen zum Erzieher der Betrachterschaft, die er durch Vermittlung aesthetischen Verständnisses und historischen Wissens zum adäquaten Aufnehmen geschichtlich bedingter, aber aesthetisch vollkommener Plastik hinzuführen versucht. Es hat sich gezeigt, daß nur aus der Zusammenschau des ganzen Werkes die wirkliche Leistung Winckelmanns sichtbar wird. Denn nur aus der Wechselwirkung zwischen seiner normativen Aesthetik und seinem historischen Bewußtsein konnte die Vielfältigkeit der denkerischen Leistung erwachsen, die ihn als Aesthetiker und als Historiker in gleichem Maße fruchtbar werden ließ. Daß Winckelmann bis in die Tiefe der Existenz von der Auseinandersetzung zwischen normativem und geschichtlichem Denken betroffen wurde, beiden Polen mit wesentlichen Kräften seines Innern verbunden, ist gewiß ein Grund für die große Wirkung, die er an einem Wendepunkt der neueren Geschichte ausgeübt hat, und für den inneren Rang, den der rückschauende Blick gerade seinem Werke zuerkennen muß. 101

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VERZEICHNIS DER VERWENDETEN ABKÜRZUNGEN FÜR DIE AM HÄUFIGSTEN ZITIERTEN SCHRIFTEN WINCKELMANNS Die Zitate sind n a c h der Ausgabe der sämtlichen Werke Winckelmanns von J o s e p h Eiselein, Donauöschingen 1825ff., a u f g e f ü h r t (Römische Ziffern n a c h G . d . K . bezeichnen das B u c h der Winckelmannschen Kunstgeschichte, nicht den B a n d der Eiseleinschen Ausgabe; Eiseleinsche Bandziffern werden im T e x t n i c h t weiter genannt). G . d . K . I—XII = Geschichte der K u n s t des Altertums, Buch 1—12 (Eiselein B d . 3 - 6 ) Vorr. = Vorrede zur Geschichte der K u n s t des A l t e r t u m s (Eiselein B d . 3) G. = Gedanken über die N a c h a h m u n g der griechischen W e r k e (Eiselein Bd. 1) E. = E r l ä u t e r u n g der Gedanken von der N a c h a h m u n g der griechischen Werke (Eiselein Bd. 1) B. = E r i n n e r u n g über die B e t r a c h t u n g der Werke der K u n s t (Eiselein Bd. 1) Gr. = Von der Grazie in Werken der K u n s t (Eiselein Bd. 1) T. = Beschreibung des Torso im Belvedere (Eiselein Bd. 1) Empf. = A b h a n d l u n g von der Fähigkeit der E m p f i n d u n g des Schönen in der K u n s t (Eiselein Bd. 1) S. = Sendschreiben über die Gedanken von der N a c h a h m u n g der griechischen Werke (Eiselein Bd. 1) Nachl. = Nachlaß, Fragmente, Zusätze (Eiselein Bd. 12)