Jahresgabe ... der Winckelmann-Gesellschaft Stendal: 1958 Beiträge zur Gestalt Winckelmanns [Reprint 2021 ed.] 9783112565445, 9783112565438

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Jahresgabe ... der Winckelmann-Gesellschaft Stendal: 1958 Beiträge zur Gestalt Winckelmanns [Reprint 2021 ed.]
 9783112565445, 9783112565438

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WINCKELMANN-GESELLSCHAFT

JAHRESGABE

1958

WINCKELMANN-GESELLSCHAFT

STENDAL

JAHRESGABE 1958

Beiträge zur Gestalt Winckelmanns von

WALTHER

REHM

E R N S T H E I D R I C H f und A R T H U R S C H U L Z

14 Abbildungen

AKADEMIE - VERLAG • B E R L I N 1958

Alle R e c h t e v o r b e h a l t e n Erschienen im A k a d e m i e - V e r l a g G m b H , Berlin W 8, M o h r e n a t r a ß e 39 Lizenz-Nr. 202 - 100/421/58 Satz, Druck u n d B i n d u n g : I V / 2 / 1 4 - V E B W e r k d r u c k G r ä f e n h a i n i c h e n - 863 Bestell- u n d V e r l a g s n u m m e r 5301 P r i n t e d in G e r m a n y

INHALT Vorwort

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Walther Rehin: Winckelmanns Lebensform und Selbstbildnis in seinen Briefen

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Emst Heidrich: Winckelmann

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Arthur Schulz: Plastische Rundbildnisse Winckelmanns

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VORWORT Die vorliegende Jahresgabe der Winckelmann-Gesellschaft Stendal umfaßt drei Beiträge: Prof. Dr. Walther iüeAm-Freiburg hat uns die Einleitung zum 1. Bande der von ihm in Verbindung mit Prof. Dr. Hans Diepolder, Direktor der Antikensammlungen in München, herausgegebenen, vier Bände umfassenden Ausgabe der Briefe Winckelmanns zur Verfügung gestellt. Sie wurde für den Neuabdruck durchgearbeitet und, nach der Herauslösung aus dem ursprünglichen Zusammenhang, mit neuem Titel versehen. Sowohl dem Verfasser als auch dem Verlage de Gruyter u. Co.-Berlin sei f ü r die freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks herzlich gedankt. Prof. Dr. Ernst Heidrichs Beitrag „Winckelmann" bildet den zweiten Teil seiner öffentlichen akademischen Antrittsvorlesung in Basel 1911 „Die Anfänge der neuern Kunstgeschichtsschreibung", die mit einem weiteren Aufsatze Heidrichs und einer Einleitung Heinrich Wölfflins unter dem Titel „Beiträge zur Geschichte und Methode der Kunstgeschichte" vom Verlag Benno Schwabe u. Co.-Basel 1917 herausgegeben worden ist. Wir sind der Gattin Heidrichs, der allzu früh 1914 ein Opfer des 1. Weltkrieges geworden ist, und dem Verlage zu aufrichtigem Danke f ü r die Erlaubnis verbunden, den Winckelmann-Aufsatz wieder aufleben zu lassen. Der dritte Aufsatz schließt die mit meiner Schrift „Die Bildnisse Winckelmanns" (Jahresgabe der Winckelmann-Gesellschaft Stendal 1950/51) begonnenen ikonographischen Winckelmannstudien ab. Arthur

Schulz

Vorsitzender der Winckelmann-Gesellschaft Stendal

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WALTHER

REHM

WINCKELMANNS LEBENSFORM UND SELBSTBILDNIS I N SEINEN B R I E F E N Als Goethe 1804 im Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung die Veröffentlichung von „Ungedruckten Winckelmannischen Briefen" ankündigte — es waren die Briefe an den Jugendfreund und späteren, 1782 in Weimar verstorbenen Hof-Chatoullier der Herzogin Anna Amalia, Hieronymus Dieterich Berendis, die, 27 an der Zahl, das Jahr darauf in dem Gedächtnisbuch „Winckelmann und sein Jahrhundert" im Druck erschienen —, da begann er die Anzeige mit.folgenden Worten: „Von bedeutenden Männern nachgelassene Briefe haben immer einen großen Reiz für die Nachwelt, sie sind gleichsam die einzelnen Belege der großen Lebensrechnung, wovon Taten und Schriften die volle Hauptsumme vorstellen. Besonders gibt es Menschen, die sich mehr in Briefen als im Umgange und sonst zu schildern bestimmt sind. Unter diese gehört Winckelmann, der sich am freisten fühlte, wenn er mit der Feder in der Hand vor einem Briefblatte sich einem vertrauten Freund gegenüber wähnte." Winckelmanns Briefe sind die Zeugnisse eines merkwürdigen, eigenwilligen und großen Lebens. Sie sind Dokumente eines Deutschen, der schon bald, noch zu seinen Lebzeiten und dann von der nachfolgenden Altersgemeinschaft, zu den Stiftern und Erziehern des geistigen Daseins der Nation gezählt und als Autor einer klassischen Prosa gerühmt wurde. Winckelmann war Gelehrter und Humanist, vor allem jedoch war er ein ganzer Mensch, dessen Lebensrechnung wahrlich eine bedeutende Summe ausmachte. Seine Werke haben den wissenschaftlichen Rahmen gesprengt und weit über ihn hinaus in den geistigen Raum des deutschen und des europäischen 18. Jahrhunderts gewirkt. So sind auch seine Briefe, seit Leibniz und vor Johannes von Müller, in Deutschland die ersten, die als Gelehrtenbriefe von einer starken Persönlichkeit getragen werden. Briefe anderer deutscher Gelehrter dieser Zeitspanne, Briefe von Albrecht von Haller oder von Michaelis, von Reiske oder Heyne können den Vergleich mit denen Winckelmanns nicht 9

aushalten. Dem Dasein jener in ihrer Wissenschaft an sich bedeutenden Männer, Haller vielleicht ausgenommen, fehlt der innere Aufschwung und das Gepräge des Außerordentlichen. Sie schreiben ohne sonderliche Mühe aus ihren vollen Bücherstuben in Göttingen oder Leipzig oder in einer andern deutschen Universitätsstadt, aus einer Bücherwelt, der die Gefahr des selbstgenugsamen Pedantismus und einer ins Falsche sich kehrenden Gründlichkeit droht. Winckelmann aber schreibt aus Rom, aus dem Turmzimmer eines Kardinals-Palastes auf dem Quirinal, mit dem Blick durch offene Fenster, die ihm eine weite Aussicht über die ewige Stadt und ihre Denkmäler bieten, und unter dem Einfluß eines Himmels, „welcher Fröhlichkeit wirket" und „wider die Pedanterie" verwahrt. Vor allem aber: Winckelmann schreibt aus der lebendigen, nie aussetzenden Ansicht einer großen, vergangenen Kunstwelt, aus dauernder, innerer und äußerer Bewegung, nach unablässigen, mitunter mühevollen Fahrten in neue Gebiete seines Reichs, der Kunst des griechischen und römischen Altertums. Dies allein schon, daß Winckelmann, „sola virtute armatus", zuversichtlich sein Vaterland verlassen hatte und mit beharrlicher Kraft nach Rom durchgedrungen war und dort als der erste namhafte Deutschrömer aus der Mitte der abendländischen Welt, aus der „hohen Schule des Lebens" spricht, schaut und berichtet, das sichert ihm vor den meisten seiner gelehrten Zeitgenossen und vor den andern Mitgliedern der „respublica litteraria" den unbedingten Vorrang. Nicht als ob Rom im 18. Jahrhundert noch eine politisch oder kulturell führende Stellung hätte beanspruchen können. Paris und, mit gemessenem Abstand, London, Wien und Berlin waren die politischen und allmählich auch die kulturellen Brennpunkte Europas geworden; sie hatten Rom in dieser Hinsicht aus eigener Kraft längst überflügelt. Rom jedoch lebte aus einer über zwei Jahrtausende sich erstreckenden Geschichte, es rückte jeden Menschen von innerem Gehalt und persönlicher Schwerkraft vor einen mächtigen Hintergrund und wies ihm seinen säkularen Platz an. Dies gab der Stadt immer noch die unvergleichliche Würde, den oberherrschaftlichen Anspruch, das unverlierbar Sichere einer monumentalen geistigen Dauer und eines unausschöpflichen Erbes. Unwillkürlich teilte sie ihre Art einem bedeutenden Geist, einem „befugten Individuum" mit. An Winckelmann läßt sich diese genau so gewahren wie hernach an Wilhelm von Humboldt oder an Goethe, der von dem hohen Begriff Roms sprach und „die Anschauung dieser ungeheuren spezifischen Einheit einer Stadt" zeitlebens zu den großen, bildenden Erlebnissen seines Daseins rechnete. Was der Begründer der archäologischen Wissenschaft etwa an persönlicher Wärme einbüßte, weil er der ganzen deutschen „Kathedralernsthaftig10

k e i t " den Rücken gekehrt und der Heimat, dem Vaterland sich mehr und mehr entfremdet hatte, das gewann er in Rom an Weite der Überschau, an Schärfe des Blicks, an Höhe des inneren (und des äußeren) Rangs und an Humanität. Rom, dieser „große Zustand", erhob ihn einfach über die übrigen Gelehrten, die im Norden, in Preußen oder in Sachsen lebten. Wie ein heimlicher, aber allmählich anerkannter Fürst residierte er dort, an dem Sitz seiner Muße, an dem Ort seiner Freiheit und seines Glücks, in dem Reich seines unermüdeten Schauens und Arbeitens, als ein unendlich, wenn auch spät Bevorzugter. Er hatte den Schul- und Universitätsstaub von sich geschüttelt (vom „taedium pulveris scholastici" sprach er) und sah dann wohl nachsichtig bedauernd, mit leichtem Spott auf die weniger begünstigten Gelehrten herab, auf die,,magistralischen Köpfe'' und Universitätsprofessoren in Deutschland, von denen er sich seit frühe ohnehin abgegrenzt wissen wollte 1 , und erkundigte sich z. B. Ende März 1765 bei dem berühmten Heyne, ob man denn an einem Ort wie Göttingen oder irgendeiner andern deutschen Universität — Leipzig vielleicht ausgenommen — überhaupt zu leben vermöge. Winckelmanns frühere Schul- und Universitätskameraden oder Kollegen, die biederen Lehrer, Ärzte, Pfarrer in der Altmark, in Pommern und Sachsen, die Uden, Genzmer, Volgenau, Berendis, die Paalzow und Francke waren zu Hause geblieben. Da saßen sie nun auf ihren Dorfpfarren, in ihren Schulämtern, in ihren dunklen Bücherstuben oder kleinen Regierungsstellen und staunten, mehr und mehr überrascht durch den einzigartigen Lebensgang und Aufstieg ihres früheren Weggenossen, halb neidisch, halb ungläubig das „hohe Kunstleben" an, das der seltsame Jugendfreund, dieser „homo vagus inconstans", wie ihn schon 1736 ein Eintrag im Schulbuch des Köllnischen Gymnasiums zu Berlin bezeichnet hatte, in Rom vor den Augen der gebildeten Welt f ü h r t e : als vertrauter Hausgenosse und Privatbibliothekar eines Kardinals, als Präsident der Altertümer zu Rom und Scrittore der Vatikanischen Bibliothek, als Mitglied der Königlichen Englischen Societät 1 Winckelmanns Stellung zu ihnen wird durch § 263 von Schopenhauers „Parerga und Paralipomena" (Kapitel X X I : Über Gelehrsamkeit und Gelehrte) ausgezeichnet beleuchtet: „Zwischen Professoren und unabhängigen Gelehrten besteht, von altersher, ein gewisser Antagonismus . . . . Professoren haben, durch ihre Lage, große Vorteile, um zur Kunde ihrer Zeitgenossen zu gelangen. Dagegen haben unabhängige Gelehrte, durch ihre Lage, große Vorteile, um zur Kunde der Nachwelt zu gelangen; weil es dazu, unter andern und viel selteneren Dingen, auch einer gewissen Muße und Unabhängigkeit bedarf. D a es lange dauert, ehe die Menschheit herausfindet, wem sie ihre Aufmerksamkeit zu schenken hat; so können beide nebeneinander wirken." Vgl. auch K. Hildebrandt, Der Gelehrte, in: Jahrbuch für Charakterologie 1924, I, 153—185, bes. 161ff.

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der Altertümer zu London, der Malerakademie von S. Luca zu Rom und der Etruskischen Akademie zu Cortona. Um den Abstand zu ermessen, den Winckelmann zwischen sich und seine altmärkische und sächsische Zeit gelegt hat, muß man die wenigen erhaltenen Briefe lesen, die er von dort während seiner römischen Jahre noch empfing, von Berendis, oder, besonders auffallend durch den Gegensatz, von seinem ehemaligen Seehausener Kollegen im Schulamt, dem Konrektor Paalzow, dem Verfasser der kleinen Schrift: „Kurzgefaßte Lebensgeschichte und Character des Herrn Präsidenten und Abt Winckelmanns in Rom", die 1764 erschien und den Verdruß und Zorn des nicht immer richtig Abgeschilderten hervorrief.1 In diesen Schreiben bekam er mit aller Breite und Geschwätzigkeit die altmärkischen, Stendaler und Seehausener Neuigkeiten, über die er so weit hinausgewachsen war und die er doch erfahren wollte, weniger aus menschlicher Teilnahme an all den einstigen Bekannten, ihrem Leben, Treiben und Sterben, wiewohl auch sie nicht fehlt, sondern vielmehr, um sich selbst immer wieder die Schwere des zurückgelegten Weges, den mühsamen Aufstieg zur Höhe, zum geliebten Ruhm und die inzwischen erworbene Celebrität und „Achtung" vor Augen zu rücken und seinen Zustand, spät genug, zu genießen. Tatsächlich: wenn Winckelmann, der „Antiquario nobile", die Pfade im Rückblick verfolgte, die ihn aus seiner „niedrigen Kindheit", aus der ärmlichen, kleinen Schulstube in Seehausen, aus den Büchersälen in Nöthnitz in die unmittelbare Nähe eines hohen Würdenträgers der römischen Kirche, aus der Enge in die Weite geführt hatten, dann mußte ihm sein Geschick wie eine Tat der Vorsehung, wie ein „Wunder" erscheinen, das anzustaunen und zu schildern er nicht müde wurde. Vorzüglich in dem Schreiben an den ehemaligen Jenenser Studienfreund, an Friedrich Wilhelm Marpurg, vom 8. Dezember 1762, berichtete er in knappen, selbstbewußten Sätzen von dem „Leben und den Wundern Johann Joachim Winckelmanns", in einer so großen und öffentlichen Art, daß man es wohl versteht, wenn der Empfänger dieses seltsame, stolze Dokument — ein merkwürdiges Kabinettstück des gelehrtesten Virtuosen seiner Zeit nannte es Hamann — zum Verdruß des Absenders sofort, noch 1763, dem Publikum übergab, dem es eigentlich gehörte und, wohl unbewußt, auch zugeschrieben war. In aller Öffentlichkeit war es später, 1766, von Winckelmann ausgesprochen worden: „Von der christlichen Demuth hatte das Althertum noch weniger Begriff, weil dieselbe in. der Selbstverleugnung und also in einer gewaltsamen und mit der menschlichen Natur streitenden Fassung bestehet. Es sagen ihre großen Männer 1

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Briefe IV, 96—101; 183—189.

das Gute von sich mit eben der Zuversicht, mit welcher sie es von anderen sagen, weil sie glaubeten, der Mensch müsse sich seines Werths bewußt seyn, um sich vor der Niederträchtigkeit zu verwahren. Die Demuth der Alten gieng nur bis zur Bescheidenheit, welche ohne Schminke seyn sollte, dahingegen jene fast beständig von der Verstellung begleitet und von dem Stolze selbst verlarvet wird". 1 Insofern Winckelmann im 18. Jahrhundert ein „glücklich geborener Heide" war und dies überhaupt sein konnte, gilt jene Betrachtung, als verstecktes Selbstbekenntnis, auch f ü r ihn und f ü r die Art seiner Selbsterfassung. Die „Ruhmliebe", von der Herder, das „Gefühl der eigenen Superiorität und Würde", von dem Goethe später auf Grund der bekannt gewordenen Briefe Winckelmanns sprach, die stets präsumptuöser werdende Grundempfindung seines Daseins, prägt sich von J a h r zu J a h r immer nachdrück licher, seit 1759, in den vielen Schreiben des römischen Aufenthalts aus, und manches aus den Briefen der märkischen und der sächsischen Zeit deutet bereits auf diese in Winckelmann angelegte Haltung hin. Denn Winckelmann war sich schon bald seiner besonderen Art und seines besonderen Wertes bewußt. Briefe freilich, wie sie dann die Söhne der Geniezeit oder die Angehörigen der klassisch-romantischen Epoche in Deutschland geschrieben haben, darf man bei ihm nicht suchen. Seine Briefe lassen sich nicht ohne weiteres mit einem Brief des jungen Goethe oder mit Briefen von Lenz, Novalis, Hölderlin oder Brentano vergleichen. Neben solchen Zeugnissen eines unmittelbar drängenden oder fessellos sich bekundenden „Lebensgefühls" — erst damals wurde dieses Wort langsam gebräuchlich — wirken die Briefe Winckelmanns zunächst noch eigentümlich fremd, mitunter steif und feierlich. Selten nur, in den Jahren und Monaten der Not, in Nöthnitz und Dresden, als Winckelmann sich den Übertritt zur katholischen Kirche abrang, in den langen gewundenen Briefen an den vertrauten Freund Berendis, liegt das Innerste bloß, wird der seelische Kampf bis zum PeinlichAbstoßenden sichtbar. Aber selbst da scheint alles noch wie hinter einem Schleier zu bleiben, den erst die Rousseau- und Wertherzeit, auch innerhalb der Geschichte des deutschen Briefes, hinweggezogen hat. Grundverschieden ist bei allen Berührungen die Art des Sichaussprechens und des Sichdarstellens bei ihm und in den Briefdokumenten der Sturm- und Drangepoche und der folgenden Zeit. Ebenso verschieden ist der Blick ins eigene Innere und in die Schichten dieses Inneren, die hier und dort im Brief oder im Tagebuch zutage treten. Erst mit zunehmender Lebenssicherheit, besonders in 1

Versuch einer Allegorie, Dresden 1766, S. 14. 13

den letzten römischen Jahren, dringt in die Briefe Winckelmanns ein freierer, leichterer, gelockerter, fast jugendlicher Ton, vor allem dort, wo er sich mit der jungen Generation unterhält und auf sie zu wirken sucht. Dann begreift man auch, von derartigen persönlichen Lebenszeugnissen, nicht nur vom wissenschaftlichen Werk Winckelmanns her, daß der Schreiber dieser Briefe durch seine Lebensart und durch seine Lebensleistung selbst einer der Väter der großen deutschen Bewegung geworden ist und die innere Befreiung des deutschen Menschen hat mitbewirken helfen. Zunächst aber ist immer wieder zu spüren, daß Winckelmann aus der ersten Hälfte des aufgeklärten Jahrhunderts kommt, aus dem „siècle métaphysique", wie er es einmal nennt; daß er ursprünglich und von Haus aus ein Gelehrter ist und sein will und dann erst ein Schriftsteller im neuen Sinn wird ; besonders aber, daß er mit seinen Briefen und nicht nur mit ihnen noch der großen humanistischen Tradition des Abendlandes verhaftet ist. Schon daß seine ersten Briefe fast sämtlich in der Sprache der gelehrten Welt, nämlich lateinisch geschrieben sind, daß sich eine ganze Reihe von lateinischen Briefstilübungen erhalten hat, 1 weist auf diese Wurzel von Winckelmanns geistiger Erscheinung hin und schärft den Blick f ü r manche Eigentümlichkeit auch seiner späteren deutschen Briefe, gerade f ü r jene, die er von Rom aus über die Alpen an die zurückgebliebenen Freunde und früheren Weggenossen richtet. Es sind, um einen Ausdruck Winckelmanns aufzugreifen und eine von ihm bevorzugte humanistische und sehr bewußte Form schriftstellerischer Äußerung zu benennen, „Sendschreiben", also „epistolae", „epistolae familiares", wie sie „post renata studia", seit Petrarca, Salutati und Poggio und besonders seit dem großen Erasmus, der sogar eine Anleitung „De conscribendis epistolis" verfaßt hat, die italienischen, französischen, englischen und deutschen Humanisten bis zum 18. Jahrhundert in deutlicher Freude an der schön stilisierten, ciceronianischen Periode, am Personen- und Freundeskult geschrieben, gesammelt und meist auch noch zu eigenen Lebzeiten herausgegeben haben. Denn der Brief war tatsächlich im Dienst dieser neuen humanistischen „sodalitas" zu einer Bedeutung und Mode gekommen, die er seitdem verloren hat. „Er ist getragen durch den erregten, nach jeder literarischen Novität spähenden Geist dieser internationalen Brüderschaft ; auch ist er die Form, nicht nur um Belesenheit und Sprachkunst zu zeigen, sondern auch um Entdeckungen, Gedanken, Anregungen mitzuteilen. Er vertritt in großem Maße das fehlende literarische Journal. Er ist zugleich Geplauder mit guten Freunden und Bekannten 1

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Briefe IV, 51—54.

humanistischen Geistes, daher er als solcher auch an Unbekannte gerichtet werden kann, die im gleichen Geiste wirken." 1 All diese genannten Aufgaben und Ziele des Humanisten-Briefes sind auch noch in Winckelmanns „Epistolarium" zu fassen. Er schreibt „epistolae", Sendschreiben über die ihm wichtigen „studia humanitatis", über antiquarische Entdeckungen in Rom und Neapel oder über allgemein fesselnde, gelehrte Dinge und plant selbst einmal die Herausgabe einer Art von Zeitschrift „Römische Briefe", die f ü r die gebildete Öffentlichkeit bestimmt waren. Aber er verfaßt auch Sendschreiben über sich selbst, über seine Arbeit, seine Denkungsweise, seine römischen Tage, über seinen Umgang und seine Geltung. Bisweilen besitzen diese Briefe eine nachdrückliche Schwere, eine oratorische Würde und gemessene Feierlichkeit, die Winckelmann aus der Gewalt der Stadt, in deren Mauern er nun als ein echter ,,cittadino" wohnt, aus ihrer „gravitas" und „majestas" zuzuströmen scheinen. Dies römische Pathos wird mit seiner Größe und Pracht zum Hintergrund von Winckelmanns ganzem Leben und Streben, es durchtönt die anhaltende Beschäftigung mit sich selbst, mit seinem Werk und seiner Achtung, ja, das Pathos ist auch in dem Bild gegenwärtig, das Raphael Mengs 1761 von seinem deutsch-römischen Freund gemalt und der Nachwelt hinterlassen hat. Trotz aller Bewußtheit liegt in der dauernden, übrigens nie ungesunden Selbstschau und Selbstdarstellung, die Winckelmann im Brief übt, in diesem Egozentrismus eine gewisse unnachahmbare Naivität; als ob er sich das Bekenntnis des in der Jugend eifrig gelesenen und exzerpierten Montaigne habe zu eigen machen wollen: „ J e m'estudie plus qu'aultre subject: c'est ma metaphysique, c'est ma physique." Oder mit den Worten Goethes, der hier das „Heidnische", das „Antike" an Winckelmann zu erkennen glaubt: „Er denkt nur a n sich, nicht ü b e r sich, ihm liegt im Sinne, was er vorhat, er interessiert sich f ü r sein ganzes Wesen, f ü r den ganzen Umfang seines Wesens und hat das Zutrauen, daß seine Freunde sich auch dafür interessieren werden. Wir finden daher in seinen Briefen, vom höchsten moralischen bis zum gemeinsten physischen Bedürfnis, alles erwähnt, ja er spricht es aus, daß er sich von persönlichen Kleinigkeiten lieber als von wichtigen Dingen unterhalte. Dabei bleibt er sich durchaus ein Rätsel und erstaunt manchmal über seine eigene Erscheinung, besonders in der Betrachtung dessen, was er war, und was er geworden ist." 1 R. Wackernagel, Geschichte der Stadt Basel, Basel 1924, III, 186; 235, 243, 253. Dazu J. Huizinga, Erasmus, Basel 1936, S. 117. C. S. Gutkind, Deutsche Vierteljahrsschrift 1932, 10, 584ff. W. Naef, Vadian, St. Gallen 1944, S. 328—333.

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I n der Tat läßt sich als ein vorherrschender Zug der Briefe die Freude Winckelmanns am eigenen tüchtigen Wuchs und Weg, am erreichten Ansehen, am erlebten Wunder seines Daseins erkennen und das Staunen über das Walten der Vorsehung in seinem Lebensweg, die Genugtuung über einen von J a h r zu J a h r größer werdenden europäischen Ruhm, (obschon er die Athaumasie oder die Nicht-Verwunderung sonst ,,in der Moral" schätzte und sie nur der Kunst ferngehalten wissen wollte, „weil hier die Gleichgültigkeit schädlich ist"). 1 Nach der „Knechtschaft" und der „Märtelei" in Seehausen und Nöthnitz hat Winckelmann den literarischen Ruhm durstig und mit vollen Zügen genossen und eifersüchtig, mitunter heftigungerecht über dessen Unantastbarkeit gewacht. Denn Angriff oder Widerspruch litt Winckelmann auf der Höhe seiner römischen Zeit nicht mehr. Darum das kühl-gespannte Verhältnis zu Lessing, der ihm zu widersprechen und ihn zu verbessern gewagt hatte, darum die erregte Fehde mit G. B. Casanova, darum auch der Ärger über Marpurgs oder Paalzows Indiskretionen, von denen er eine Minderung seiner „Achtung" befürchtete. Darum auch das ganze hochfahrende, oft verletzende und ihm auch übel vermerkte Benehmen gegenüber allem und jedem, was ihm entgegenzustehen, ihn an der Entfaltung seines Ruhms zu hindern oder seine Leistung zu verkleinern schien. Darum wohl auch Winckelmanns Streitlust, seine Unduldsamkeit gegenüber der abweichenden Ansicht anderer, schon verstorbener oder zeitgenössischer Gelehrter und „beschmauchter Scribenten" und die zahlreichen abfälligen Urteile und ausfälligen Bemerkungen über sie, über ihre Leistung und ihr Tun. Gerade weil der Weg so schwer, der Aufstieg so steil ist, der innere und äußere Gegensatz der altmärkischen und der römischen Zeit sich ihm und auch seinen Freunden und den Beobachtern seines Wirkens aufdrängt, ist Winckelmann mißtrauisch um sein Ansehen besorgt. Bisweilen scheint es, als ob mit dem äußeren, zwar späten, aber desto schnelleren Wachstum das innere nicht immer gleichen Schritt gehalten habe; als ob die äußere Vornehmheit und Dignität sich nicht völlig an der inneren habe ausrichten, sich nicht aus ihr habe nähren können; als ob auch von ihm gelte, was man von einem seiner großen humanistischen Vorgänger, von Erasmus gesagt hat und hat sagen müssen: daß sein Charakter nicht ganz der Höhe seines Geistes entspreche. 2 Auch solche menschlichen, allzumenschlichen Züge, die sich in den Briefen oft deutlicher, als ihr Verfasser es ahnt, zu erkennen geben, gehören zum 1

Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1767, S. V. 2 Huizinga, Erasmus aaO. S. 141.

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eigentümlichen, scharf ausgeprägten Wesen Winckelmanns. E s sind Schattenseiten seines Charakters, die man nicht übersehen kann. Sie erklären sich aus dem raschen Emporsteigen zu Rang und Würde, vor allem aber aus dem ganzen sozialen Gefüge, in das Winckelmann hineingestellt war, und aus der Standesform, die er als Lebensform übernehmen mußte, um überhaupt zu seinem Ziel zu gelangen. Es ist, im Soziologischen, die späthumanistisch-barocke Lebens- und Standesform, deren Grundriß überall in der Daseinserfahrung und -gestaltung und in der Daseinsempfindung Winckelmanns durchleuchtet. Wenn er auch mit den Jahren innerlich über sie hinausgewachsen ist, wenn sich sein Lebensgefühl allmählich über das humanistische Standesgefühl erhoben hat, so weisen doch gerade die Briefe nachdrücklicher als die vom Persönlichen und Privaten sich leichter oder stärker lösenden Werke auf diesen tragenden humanistischen Lebensstil, auf die ihm eigenen literarischen Gepflogenheiten und auch auf das ursprüngliche humanistische Standesbewußtsein hin und fordern aufmerksame Beachtung. Daß Winckelmann in einem lateinischen Bewerbungsschreiben nach altem humanistischen Brauch seinen Namen in griechisches Gewand kleidet und sich Goniander nennt, mag rein äußerlich den angedeuteten Zusammenhang belegen. Tiefer greifen andere Beobachtungen. Schon seine „Liebe zur Veränderung", der vergleichsweis leichte und mehrfache Wechsel des Orts und damit auch des „Vaterlands", der Mangel eines „tieferen, verpflichtenden Ortsgefühls", der Wechsel von der märkischen zur sächsischen und von dieser zur römischen „ H e i m a t " und das lebhafte Preisen des jeweiligen Aufenthalts, die Art, wie sich Winckelmann bald als preußischer, bald als sächsischer „ P a t r i o t " und schließlich als Deutschrömer, als ein „römisch gewordener P r e u ß e " fühlt und doch immer wieder, je nach Lebenslage und Aussicht, zwischen diesen widerstreitenden Gefühlen hin- und herschwankt, dann das Fehlen einer festeren Bindung in der Familie — nach dem Tod der Eltern hat Winckelmann überhaupt keine näheren Anverwandten mehr besessen — oder einer Bindung in der Ehe, das durch diese Umstände begründete Verlangen nach Freundschaft und Freunden, der Kosmopolitismus, das sehr fühlbare Streben des „homo literatus" nach schriftstellerischem Ruhm, das alles und manches andere sind echte Züge humanistischer Standes- und Lebensform. Winckelmann verkörpert noch ziemlich rein den Typus des Humanisten, wie er sich seit dem 15. Jahrhundert in Italien mit all seinen Vorzügen und Nachteilen ausgebildet und sich durch die Jahrhunderte der Renaissance und des Barock auch noch im päpstlichen Rom des 18. Jahrhunderts, im Kirchenstaat annähernd unverfälscht hatte erhalten 2

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können, während in den übrigen europäischen Ländern langsam bereits andere Daseinsformen des Gelehrten und Literaten hervorgetreten waren. Soweit der Humanist nicht an der Universität wirkte, sondern als gelehrter Schriftsteller sich im Dienst der „studia humanitatis" seinen Lebensweg suchte, bedurfte er, da er meist über irdische Güter nicht verfügte, eines Rückhalts. Immer und seit je war er auf die Unterstützung und Munifizenz großer vermögender Herren angewiesen. Ihnen diente er und mußte er dienen, im 16. und 17. Jahrhundert und auch noch im 18., etwa als Privatbibliothekar oder als Privatsekretär. Die Unabhängigkeit des Humanisten im Geistigen wurde also überschattet durch eine empfindliche Abhängigkeit im Materiellen. Das gilt auch f ü r Winckelmann. Zeit seines Lebens, die wenigen Konrektorats jähre in Seehausen abgerechnet, die ihn aber dafür in anderer drückender Abhängigkeit hielten, stand er im Dienst von Privatleuten, zuerst, nach der Universitätszeit, als Hauslehrer und Erzieher, dann, nach Aufgabe des Seehausener Amts, im Dienst und im Gefolge reicher Grandseigneurs, als deren Bibliothekar, zunächst beim Grafen Bünau in Nöthnitz, dann bei den Kurien-Kardinälen Archinto und Albani in Rom. Die Abneigung gegen die „Großen" (,,les Grands") und der Zwang, ihnen als den Beschützern seinen Dienst anbieten zu müssen, um weiterzukommen und den Lebensunterhalt zu finden, liegen miteinander in dauerndem Streit und führen zu eigentümlichen inneren Lagen und Verwicklungen : auch bei Winckelmann, der sich doch mehr und mehr als Angehöriger, und zwar als ein bedeutender Angehöriger der „respublica litteraria" fühlte, der „république des lettres" oder der „Gelehrtenrepublik", wie man im 18. J a h r hundert sagte. 1 E r wußte, wie schon die Humanisten des Quattrocento, daß die „humanitas" eine neue „nobilitas", die „nobilitas litteraria" begründete und allmählich alle sozialen Unterschiede aufhob oder zumindest fragwürdig machte; daß in dieser „respublica litteraria" der gesellschaftliche Rang durch den geistigen nicht nur abgelöst, sondern überhaupt erst von ihm bestimmt wurde und daß nicht allein Geburt und Besitz dem Menschen seine Stelle wiesen, sondern Bildung und Geist. Dieses auch ihm eigene humanistische Standesgefühl half Winckelmann, mitten unter hoch- und wohlgeborenen Herren, unter „Standesherren" mit mehr oder weniger mäzenatischen Allüren, die Empfindung seiner nicht „standesgemäßen" Herkunft zu übertönen. Es gab ihm eine gewisse innere Sicherheit, es erweiterte und befreite sich ihm dann in Rom zu seinem stolzen, persönlichen Lebensgefühl. 1

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M. Kirschsteih, Klopstocks Deutsohe Gelehrtenrepublik, Berlin 1928, S. 17—66.

Freilich, dies neue, langsam erstarkende und dann sehr geprägte Selbstbewußtsein des gelehrten Schriftstellers, der sich als Angehöriger einer humanistischen „sodalitas" und „nobilitas" fühlte, sich von der pedantischscholastischen Universitätstradition abgewandt hatte und sein Publikum, seine Geltung, seinen Ruhm bei der gebildeten Öffentlichkeit, bei der Welt suchte und fand, wurde immer wieder durch die materielle Bindung und durch die Tatsache der Dienstleistung bei den „Großen" gedämpft. Aber schließlich kündet um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich die neue „société des gens de lettres", künden die „hommes de lettres" dem Hof und dem Adel den Dienst auf. Wie zuerst schon Pierre Bayle, so stellen sich nach ihm die humanistischen Enzyklopädisten, d'Alembert, Voltaire, Diderot auch materiell auf eigenen Boden und schaffen sich in der seit 1751 erscheinenden „Encyclopédie" ihr eigenes, weithinwirkendes Organ.1 In Deutschland verdeutlichen Winckelmann und Lessing, im dichterischen Reich etwa Klopstock, einen ähnlichen Vorgang, wenn schon in andern, durch die deutschen Verhältnisse bedingten Zügen, die nie die gleiche scharfe Linienführung wie in Frankreich aufweisen. Zwar befanden sich Winckelmann und Lessing bald in ausgesprochenem kulturpolitischen Gegensatz zu der neuen französischen Mentalität, zu ihren geistigen Äußerungsformen und ihrem Vorherrschaftsanspruch. Besonders Winckelmann machte in seinen römischen Jahren aus seiner tiefen, durchaus nicht vorurteilsfreien Abneigung gegen alles französische, d. h. pariserische Wesen, gegen fast jeden Vertreter der Nation „auf — ong" keinen Hehl und warnte die jungen, ihm bekannten .Deutschen vor Paris als dem „Sitz der thörichten Lüste". Auch Lessing nahm den „versatilen Geist" des französischen Nachbarn bei jeder Gelegenheit aufs Korn. Trotzdem sind beide in ihrer Art, in dem neuen schriftstellerischen Selbstbewußtsein, in der Loslösung vom überlieferten Schul- und Universitätswissen ohne den entsprechenden französischen Vorgang nicht zu denken. Winckelmann hat in seinen Hauslehrerjähren in Osterburg, aber auch noch in der Seehausener Zeit Bayles großes Werk, das „Dictionnaire historique et critique", Band für Band zweimal durchstudiert 1 Dazu F r . Schalk, Einleitung in die Enzyklopädie der französischen Aufklärung, München 1936, bes. S. 15—65: Entstehung des schriftstellerischen Selbstbewußtseins in Frankreich. Eine entsprechende Darstellung der etwas anders gelagerten protestantisch-deutschen Verhältnisse fehlt. Andeutungen geben H. Schöffler, Das literarische Zürich. 1700—1750, Leipzig 1925 und W . H. Brudford, Die gesellschaftlichen Grundlagen der Goethezeit, Weimar 1936, S. 236 ff; 273 ff. Weiteres zur späthumanistischen Lebensform bringt G. Hess, Pierre Gassend, Leipzig 1939, S. 17—27. Vgl. zum Grundsätzlichen auch A. von Martin, Bürgertum und Humanismus, in: Geist und Gesellschaft, Frankfurt 1948, S. 148—158.



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und auf fast siebenhundert Seiten exzerpiert und auch sonst den Geist der französischen Aufklärung tief in sich aufgenommen. Später, in seinen kleineren Aufsätzen, die der Kunst und dem richtigen Kunstverständnis gewidmet waren, hat er sich jene weltmännisch-leichte und doch sehr substanzielle Form der öffentlichen Mitteilung zum Vorbild genommen, die die Franzosen seit Montaigne als ,,Essay" bezeichneten und souverän ausgestalteten. Wie die Enzyklopädisten, hat auch er dabei das „instruire et polir la n a t i o n " bewußt erstrebt. Indes, bei allem ausgeprägten schriftstellerischen Selbstgefühl, das Winckelmann besaß und im Hinblick auf den Erfolg seines Wirkens auch besitzen durfte, hat er noch viel unverdeckter als die französischen „hommes de lettres" in seinem Dasein das Leben des Humanisten dargelebt, das ohne Anlehnung und Bindung an die „Großen" nicht möglich war. Die innere Unabhängigkeit und Ungebundenheit des Geistes hat die äußere nicht nach sich ziehen können. Unter diesem Mißverhältnis hat Winckelmann eingestandener- und uneingestandenermaßen immer gelitten. Man rührt hier zweifellos an die geheime, nie ganz vernarbte Wunde seines Lebens und an die Folge dieser Abhängigkeit, an seinen Übertritt zur katholischen Kirche und die Begleitumstände, unter denen der Übertritt in seinen sächsischen Jahren, 1754, sich vollziehen mußte. Weil Winckelmann, als Humanist, als Bibliothekar des Grafen Bünau, abhängig war und diese Abhängigkeit lösen wollte, mußte er sich in neue Abhängigkeit und Verpflichtung begeben. Die aber griff viel tiefer und ging auf Kosten, wenn nicht der Gesinnung, so doch des angestammten Glaubens. Zudem führte sie auch in Rom zu neuer, materieller Gebundenheit an die „Großen", so sehr sich Winckelmann in den ersten römischen Jahren dagegen sträubte. Er wollte sich, eigenem Bekenntnis nach, auf das geringste Bedürfnis einschränken, „um nicht abhängig oder abhängiger zu werden". Er hatte die Armut geheiratet, die Mutter der Freiheit, und hoffte, diese Ehe werde bis ans Ende dauern. I n langen Schreiben hat sich Winckelmann über Vorhaben und Vollzug seines „changement" zu rechtfertigen gesucht, vor sich selbst und vor dem vertrauten Freund Berendis. Später aber hat er fast ganz, auch in Briefen, über diese schmerzlichen, mit tiefen Depressionen belasteten Jahre, über den Wendepunkt seines Lebens geschwiegen. Nur einmal scheint er einem deutschen Landsmann gegenüber, aus dem Abstand der Jahre und in der gelösteren römischen Umgebung, davon gesprochen zu haben, im Frühjahr 1766 zum Baron Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorf. „Un jour que je revenois seul avec lui de Nettuno et que nous nous entretenions sur cette partie de sa vie qu'il avoit passée en Saxe, il me dit qu'il se flattoit que ceux qui l'avoient connu alors, ne le soupçonneroient 20

pas d'avoir embrassé la religion catholique par des vues d'intérêt, comme il convenoit que c'étoit le cas de la plûpart de ceux qui faisoient cette démarche. Il m'avoua que si sa mère ou quelques uns de ses proches parens eussent encore vécu, il n'auroit jamais pu s'y résoudre, de peur de les chagriner; mais que, n'ayant plus personne qui s'intéressât vivement à ce qui le regardoit, il avoit cru devoir passer sur ce que le public diroit là-dessus à son désavantage, fermement persuadé que c'étoit l'unique moyen de parvenir à son but. Aller à Rome et se livrer entièrement à l'étude de l'Antiquité, c'étoit là où tendoient les plus chers de ses voeux." 1 In seinem letzten Brief an Berendis, vom 1. Juli 1767, nennt Winckelmann sich einen ungebundenen Menschen. Dies Ungebundene, Unabhängige seiner Natur konnte ihm den schweren Schritt der Konversion bis zu einem gewissen Grad erleichtern, es vermochte aber doch nie ganz die innere Unsicherheit auszugleichen, die ihm seit jenem Tag des Juni 1754 geblieben war. Das zeigen gerade die Briefe aus den dreizehn römischen Jahren seiner fünfzigjährigen Lebensspanne sehr deutlich. Dort in Rom und in Italien, im Ursprungsland des Humanismus und der humanistischen Lebensform, fand Winckelmann jene Lebensform in einer Art vor, die zwar leicht und zeitgemäß innerhalb des katholischen Rahmens abgetönt, doch im Grund unverändert geblieben war. 2 Da er sich auf die Dauer nicht selbst erhalten konnte und die Pension, die ihm der sächsische Hof ausgesetzt hatte, bei weitem nicht reichte, war er durch Schicksal und Umstände genötigt, sich in das soziale und gesellschaftliche Gefüge eines klerikalen und grandseigneuralen Staatswesen einzufügen, als Privatbibliothekar erlauchter kurialer Würdenträger und Mäzenaten, der nach außen hin als Abbate, als Abbé auftrat. Die natürliche Urbanität des Südländersund die freie, unpedantische Lebensart in diesem „Land der Menschlichkeit" erleichterten Winckelmann beträchtlich die neueingegangenen Abhängigkeiten und Dienstleistungen. Sie machten es ihm möglich, sich eine „ihm gemäße Freiheit' ' zu bewahren, jener altüberlieferten Standesform des Humanisten, der in die nächste Umgebung eines hohen, einflußreichen Herrn aufgenommen war, einen noblen, freien, 1

Briefe IV, 250. Vgl. R . B e n z , Jahrbuch Imprimatur 1937, 7, 115: Mengs und Winckelmann, „beide leben sie irgendwie noch in dem großen Kulturraum des Barock : sie genießen Förderung und Schutz des fürstlichen und adligen barocken Mäzenatentums, sie spüren noch einen Zwang barocker Religiosität, wenn sie beide, obzwar aus äußerlichen und persönlichen Gründen, zur katholischen Kirche übertreten — es ist noch immer das christliche Rom, das den Schlüssel auch zum antiken Heidentum in den Händen hat." 2

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sehr persönlichen Stil zu geben und sie in einer für den Norden ungewöhnlichen Art zu gestalten. Alles Gedrückte, Erniedrigende, all das, was Winckelmann in Deutschland, im „Land der Märtelei", in seinem Verhältnis zum Grafen Bünau verletzt und gequält hatte, weil es seinem angeborenen Gefühl f ü r Würde zu nahe getreten war, das fiel hier fort oder schien doch weitgehend getilgt. Seine Stellung, zuerst absichtlich ohne festere Bindung im Haushalt eines Kardinalstaatssekretärs, des Grafen Archinto, des gleichen Mannes, dem er als päpstlichem Nuntius in Dresden 1754 das neue Glaubensbekenntnis abgelegt hatte, und dann als Hausgenosse, als „familiaris" eines großen Sammlers und Kardinalbibliothekars, des Grafen Albani, schließlich noch als Scrittore an der Vaticana, also als Mitglied des päpstlichen Hofstaats, unterschied sich, abgesehen von dem ungeheuren Gegensatz zwischen Nöthnitz und Rom, erheblich von der Stellung, die er beim Grafen Bünau hatte einnehmen müssen, auch wenn er nach außen hin, hier und dort nur einfacher Privatbibliothekar war. Was Winckelmann aber in Rom zustatten kam, das war, außer der erwähnten ,,urbanitas'' und, ,humanitas'' der äußeren Lebensformen, die andere Haltung, die der Gelehrte, der „homo litteratus", in Rom besaß, und die große Freiheit, die dort besonders f ü r diejenigen herrschte, die kein Amt im strengen Sinn besaßen und auch keines suchten. Winckelmann hat später selbst in einem nicht beendigten und darum unveröffentlichten „Sendschreiben von der Reise eines Gelehrten nach Italien und insbesondere nach R o m " , das er dem Gelehrten unter seinen früheren deutschen Bekannten, dem Bibliothekar und Nöthnitzer Kollegen Francke widmete, von diesen Dingen gesprochen: „Gelehrte sind in anderen Ländern diejenigen, welche auf dem Lehr-Stuhle und in Schriften lehren und zu lehren vermeinen; in Rom sind Gelehrte, welche keins von beyden thun. Denn hier entscheidet der Hof, welcher mehr als andere Höfe auf Gelehrsamkeit bestehet, über das Verdienst in derselben, und ein Cardinal, wie Passionei war, giebt hier den Ton. Bey Fürsten sind insgemein Gelehrte und Pedanten Synonyma, welche beyde einerley Geruch an weltlichen Höfen geben. Man kann folglich in Rom zu einer Achtung seines Wissens kommen, ohne ein öffentlicher Scribent zu seyn, und wer es hier ist, wird es auch an anderen Orten in Italien, weil Rom der Mittelpunct ist, werden können und seyn. Viele, die weise sind, begnügen sich mit dieser Achtung . . . Viele von den hiesigen Gelehrten leben also in der Stille, genießen sich selbst und die Musen; sind also wahre Philosophen, ohne es zu scheinen." 1 Winckelmann, als ein deut1

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Briefe IV, 18 f.

scher Gelehrter, der zudem auch den Ruhm suchte, lebte zwar nicht immer in der Stille und im Verborgenen, aber das suchte er sich zu eigen zu machen: den Genuß seiner selbst und die lebensphilosophische Haltung, die „vita contemplativa" im eigentlichen Sinn des Worts. Die Pedanterie war also in Rom unter den Gelehrten, den Humanisten seltener als anderswo, als in Deutschland mit seinem ewigen ,,Professoren und Magisterneid". Aus der Entfernung glaubte es Winckelmann deutlich zu sehen: das Leben an den deutschen Universitäten, an „Orten, welche von Höfen entfernet und ohne große Veränderung sind, in einem Umgang nur mit seinesgleichen oder mit jungen Leuten, in beständiger Arbeit und Sorgen der Nahrung, schränkt den Geist ein, und die Verhältnisse, in welche man stehet, erlauben nicht, fröhlich nach Art der Jugend zu seyn. Daher verhüllet sich das Gesicht vor der Zeit in Ernsthaftigkeit, die Stirn leget sich in Runzeln, und die Sprache selbst wird sentenzenmäßig. I n Rom hingegen und überhaupt in Italien scheinet der Einfluß des Himmels, welcher Fröhlichkeit wirket, wider die Pedanterie zu verwahren." 1 Winckelmann hat dies alles genutzt; er hat sich im Gefolge eines katholisch-romanischen Grandseigneurs „abgeschliffen" und „humanisiert". ,,In R o m " , so schreibt er, „ist die hohe Schule f ü r alle Welt, und auch ich bin geläutert und geprüft." Hier hat er sich einen freieren Lebensstil erworben, der ihn die Abhängigkeit der äußeren Stellung übersehen oder minder stark empfinden ließ. Schließlich kamen ihm in diesen römischen Jahren seine sich langsam festigende Geltung als Forscher und Schriftsteller von europäischen Ruf und die Ehren zugute, die ihm von gelehrten Körperschaften erwiesen wurden. Auch das Amt, das er seit 1763 als Präsident der Altertümer in Rom einnahm, hob seine „Achtung", nicht minder natürlich das Ansehen und die hohe Stellung seines „Herren und ewigen Freundes", an dem auch er als „Diener" teilhatte, so wie der „würdige Kardinal" am zunehmenden Ruhm seines Bibliothekars teilnahm und eifersüchtig über ihm wachte. All diese Dinge führen und bestimmen die innere und äußere Haltung dieses ersten großen Deutschrömers, sie bestimmen und prägen auch die Briefe, die er aus Rom schreibt. I n seiner vorrömischen Zeit äußert sich Winckelmann den Freunden gegenüber wesentlich als Gleicher unter Gleichen, weil er mit ihnen, im Großen und Ganzen, denselben Lebens- und Berufsraum teilt und eine ähnliche soziale Stellung einnimmt; ja vielleicht befindet er sich sogar in noch größerer Abhängigkeit als sie. Jetzt aber, in 1

Briefe IV, 19 f.

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seinen römischen Jahren, mit wachsender geistiger und räumlicher Ferne und in dem völlig veränderten Lebenskreis, dem er zugehört, ist Winckelmann in seinem auch von Goethe bemerkten „unnachlassenden Streben nach Ästimation und Konsideration" mehr und mehr bemüht, in den Briefen den in Deutschland zurückgebliebenen Freunden seine neue Geltung anschaulich zu machen, ihnen den tiefen Unterschied zwischen seiner früheren und seiner jetzigen Lage genau vor Augen zu führen und alle etwaigen falschen Vorstellungen zu tilgen, die sie sich vielleicht aus den anders gearteten deutschen Verhältnissen bilden mochten. Gerade den Freunden, die um seine protestantische und altmärkische Herkunft, um seine kümmerliche Zeit in Seehausen und Nöthnitz wußten, deren wohl meist unausgesprochene Fragen im Punkt der Konversion er zu spüren glaubte, aber innerlich abwehrte, den Uden, Berendis, Genzmer und auch Francke, will Winckelmann offenbar durch eine sehr absichtlich geformte, gleichsam humanistisch stilisierte und erhöhte „Vorstellung" und Auffassung seiner selbst, seiner Lebensverhältnisse, seines gewonnenen Rangs und seiner Leistung Eindruck machen, genau so, wie es die Humanisten der vorhergehenden Jahrhunderte in ihren meist f ü r die Öffentlichkeit bestimmten Briefen schon getan hatten. Darum setzt Winckelmann in diesen „Sendschreiben", die sich inhaltlich oft stark ähneln, das Bild seines römischen Daseins f ü r die andern, Zurückgebliebenen, die es mit eigenen Augen nicht sehen können, ins hellste Licht, gibt ihm einen großen, schönen Rahmen, der manches und nicht nur Unbeträchtliches überdeckt oder ausschließt, darum liebt er starken Farbenauftrag und scheut auch vor Erfindungen und Ausschmückungen nicht zurück, um die Wirkung zu erhöhen, die er erzielen möchte. Die anfängliche Unsicherheit, die Winckelmann den alten Freunden gegenüber seit dem Übertritt und wegen dieses „changement" besitzt, will er übertönen durch eine nachdrücklich zur Schau getragene sichere Haltung, durch den immer wieder angebrachten Hinweis auf seine „Freiheit" als Diener eines Kardinals, auf seinen wachsenden Ruhm, auf seine Zufriedenheit, Fröhlichkeit und Gesundheit, auf sein Glück und auf den stolzen Genuß dieses Glücks und seiner selbst. Winckelmann legt Wert darauf, den Freunden zu zeigen, welch schöne, neue, würdevolle Kleider er trägt, in welch freier Art er lebt und handelt, in welch erlesener Gesellschaft er sich zwanglos als weltmännischer Abbate bewegt, wie unabhängig er mit den „Großen", den Kardinälen und Nuntien umgeht, wie er ihre Achtung, ja ihre Freundschaft erhält, ohne sich um diese zu bemühen, wie er sich von ihnen bitten läßt und nicht mit der übrigen großen Zahl der antichambrierenden Bittsteller, Schmeichler und Höflinge verwechselt sein will. 24

„Ich arbeite f ü r den Cardinal Archinto", so heißt es im Mai 1757 mit einer gewissen auftrumpfenden Genugtuung in einem Schreiben an den ehemaligen „Herren' 1 ', den Grafen Bünau, der seinerzeit seinen Bibliothekar weidlich ausgenutzt hatte, „ohne etwas zu fordern und mit dem festen Vorsatze, nichts ohne die höchste Not anzunehmen. Ich lasse mich niemals in dessen Anticamera sehen, und da er mich daselbst vor vier Monaten einige Stunden warten ließ, so fing ich an, eine große Predigt zu halten: ich sey ein Mensch, der den einzigen Schatz, von welchem vernünftige Creaturen allein Herr sind, zu schätzen wisse, nämlich die Zeit, und daß es unwürdig f ü r mich sey, die Steine in der Vorkammer zuzählen; ja, daß ich vielleicht der einzige sey, der den Cardinal Archinto zu sprechen komme, ohne etwas zu begehren, ja ohne etwas anzunehmen. Endlich kam er heraus und fragte mich: ob ich etwas Besonderes zu sagen habe. Nichts, antwortete ich. Der Cardinal bedachte sich eine Weile, und da ich weiter nicht sprechen wollte, so gieng er weiter. Warum reden Sie itzo nicht ? sagten die Abbaten und dergleichen Leutchen. Ich antwortete ihnen, daß des Cardinais Art zu fragen nicht diejenige sey, die mir Lust mache zu reden." Seine Hauptmaxime sei gewesen, sich nicht wegzuwerfen und keine Kleinigkeiten anzunehmen, nach versicherter Achtung eine große Bescheidenheit anzunehmen, wenig zu reden, aber, wo man ihn nötige und dringen würde, die Zügel fahren zu lassen. Aus Rom schreibt Winckelmann Anfang 1758 an Berendis in einem Brief mit dem Vermerk „Roma dal Palazzo della Cancelleria Apostolica", seinem damaligen Wohnort, dem Amtssitz des Kardinalstaatssekretärs Archinto, er werde nun nach Neapel fahren, wo er dem Hof, sonderlich der Königin, empfohlen sei. „Mengs wird mich besuchen, und nach geendigter Arbeit werde ich eine kleine Reise nach Sicilien thun. Habe ich Zeit wegen der Sommer-Hitze eine Reise nach Florenz zu thun, so geschiehet es von Neapel aus zur See bis Livorno. Geschiehet dieses nicht, so suche ich im May zurück in Rom zu seyn, um die Villeggiatura auf der Villa Camaldoli bey meinem Cardinal Passionei zu genießen." Und er fügt ausdrücklich hinzu: dieses seien weite Aussichten, aber keine Luftschlösser. Nachdem Winckelmann 1759 in die Dienste Albanis getreten ist, versichert er immer wieder, daß er nicht Untergebener, sondern wahrer Familiaris dieses mächtigen Herrn sei: „Ich stehe als Bibliothecarius bey dem Herrn Cardinal Alexander Albani mit 5 Zecchini monatlich, ohne einen Federstrich f ü r ihn oder in der Bibliothec zu machen: ich thue nichts weiter, als mit ihm ausfahren und dieses an seiner Seite: denn unsere Vertraulichkeit gehet so weit, daß ich mich auf sein Bette setze und mit ihm im Bette rede.'' Albani sei ihm nicht nur Richter in allen wissenschaftlichen Dingen, 25

sondern zugleich Freund und Gefährte — „es können zwey Freunde nicht vertraulicher seyn, als wir beyde es sind. So denken und leben die Großen und Häupter der Kirche in Rom, zu Beschämung des tummen Stolzes jenseit der Gebürge". Und ein andermal, wieder an Berendis: ,, Ich bin freyer als ich es in meinem Leben gewesen, und ich bin gewisser Maßen Herr von meinem Herrn und von dessen Lust-Schlössern, wohin ich gehe, wenn und mit wem ich will. Zweymahl in der Woche gehe ich mit dem Cardinal in große Versammlungen, wo eine große Music ist, und auf solche Art gehet das Leben vergnügt und empfindlich vorbey — . . . Der Adel ist hier ohne Stolz und die großen Herren ohne Pedanterie. Man kennet hier mehr als bey uns, worin der Wert des Lebens bestehet; man suchet es zu genießen und andere genießen zu lassen." Oder mit diesen Worten : „Ich bin bey dem größten Cardinal und Enkel von Clemens XI., nicht zu dienen, sondern damit mein Herr sagen könne, daß ich ihm angehöre." „Ich habe an meinem Herrn meinen besten Freund und Vertrauten, dem ich das Geheimste meiner Seele nicht verhehle; ich scherze mit ihm, er empfindet, was mir nahe gehet; er theilet sich ganz mit mir und ist der, welcher mir hat mein Leben genießen machen. In seinem hohen Alter gleichet er einem fröhlichen Jünglinge. E s sollte scheinen, er baue f ü r mich, er kaufe Statuen f ü r mich, denn es geschiehet nichts, was ich nicht billige. Ich bin Herr auf allen dessen Lusthäusern, und in allen ist eine Reihe Zimmer f ü r mich . . . ich bin von allen und jeden Geschäften befreyt, und werde bloß als die Gesellschaft des Cardinais angesehn. I n meiner Person habe ich erfahren, daß der ehrliche Mann, ein bescheidenes und demüthiges Herz in aller Welt geschätzt, ja angebetet wird, und ich habe hier viel thätigere Freunde, als in Deutschland gefunden. Daher muß ich diese Nation und dieses Land lieben, und es war hier allein der einzige Hafen meiner Ruhe zu finden."1 Darum dann auch der ständige Preis dieses seines gewonnenen Glücks — wer sein Glück erkenne und es benutze, der sei es wert, heißt es einmal, wohl in Anlehnung an eine Maxime La Rochefoucaulds : „Pour être un grand homme, il faut savoir profiter de sa f o r t u n e " —, darum der Preis des wahren „ o t i u m " und der wahren „dignitas", des „würdigen Genusses des Lebens und einer edlen Muße", die sich Winckelmann im Palast des Kardinals auf dem Quirinal, in der großen schönen Villa vor Porta Salaria, in den Villeggiaturen zu Castel Gandolfo oder zu Porto d'Anzio am Meer darboten. Porto d'Anzio nannte er den Ort seiner Seligkeit und wünschte, noch wenige Monate vor seinem Tod, im Februar 1768, den getreuen Freund 1

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Briefe II, 58, 87, 176 f; 275; III, 75.

Francke dort zu sehen, um mit ihm längs dem stillen Ufer der See, unter dem mit Myrten bewachsenen hohen Gestade, sorgenlos zu schleichen und auch, wenn das Meer wüte und tobe, dasselbe unter einem Bogen des alten Tempels des Glücks oder von dem Balkon seiner Zimmer selbst ruhig anzuschauen. „Ein solcher monatlicher Aufenthalt und Geist und Herz stärkender Genuß der schönen Natur und Kunst überwiegt den Glanz aller Höfe und ihres geräuschvollen Getümmels." Allein nicht nur in den Briefen an die Freunde, auch öffentlich 1763, in der „Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der K u n s t " , spricht Winckelmann es aus: „Die mir gegönnete Muße ist eine der größten Glückseligkeiten, die mir das gütige Geschick, durch meinen Erhabensten Freund und Herrn, in Rom finden lassen, welcher, solange ich bey und mit ihm lebe, keinen Federstrich von mir verlanget hat, und diese selige Muße hat mich in Stand gesetzet, mich der Betrachtung der Kunst nach meinem Wunsche zu überlassen." Außer Rom war f ü r ihn kein „wahres Vergnügen" mehr zu hoffen; deshalb trieb es ihn dann auch mitten auf der letzten Reise zurück nach Rom. Gewiß ist das in den Briefen Winckelmanns so betont sich kundgebende Hochgefühl seiner römischen Jahre nicht falsch oder trügerisch. Aber es bleibt doch ein ungelöster Rest im Verhältnis zu „seinem" Kardinal. Goethe spricht in dem Abschnitt „Gesellschaft" seines Winckelmann-Aufsatzes von der Lust des Antiquars am Umgang mit reichen, vornehmen und berühmten Leuten und meint, Winckelmann habe zwar bemerkt, daß in Rom die geistlichen Großen, so zeremoniös sie nach außen erschienen, doch nach innen gegen ihre Hausgenossen bequem und vertraulich lebten; allein er habe nicht bemerkt, daß hinter dieser Vertraulichkeit sich doch das orientalische Verhältnis des Herrn zum Knecht verberge. „Alle südlichen Nationen würden eine unendliche Langeweile finden, wenn sie gegen die Ihrigen sich in der fortdauernden, wechselseitigen Spannung erhalten sollten, wie es die Nordländer gewohnt sind." Der Südländer wolle Zeiten haben, wo er sich gehen lasse, und diese kämen dann seiner Umgebung zugut. Wahrscheinlich hat es Winckelmann aber doch bemerkt und sich in den trüberen Augenblicken seiner römischen Tage, die nicht ausblieben, sagen müssen: er sei im Grund doch nichts anderes als ein „domestique". (Darum arbeitet er auch bewußt darauf hin, sich durch den Ertrag seines letzten Werkes, der „Monumenti antichi inediti", wirtschaftlich unabhängig zu machen, in der stillen Hoffnung, nach dem Tod des hochbetagten Kardinals „keines großen Herrn mehr zu bedürfen" und fortan „weder Papst noch Kaiser nötig zu haben".) Nach außen hat Winckelmann freilich nichts von derartigen Regungen dringen lassen. Sonst aber war es das Beste, als Hausgenosse über die mitunter herri27

sehen Anwandlungen des Kardinals, des „Brausewinds", wie er ihn wohl hieß, einfach hinwegzusehen — er hat Albanis „ P o r t r a i t " in einem Brief an Francke aus dem August 1763 trefflich entworfen. 1 Aber daß Winckelmann immer wieder so nachdrücklich von der gewonnenen Freiheit und Muße spricht, weist auf den geheimen Schmerz seines Lebens, den er aus dem beharrlichen und, wie es scheint, siegreichen Kampf mit der Macht der Fortuna weiter in sich tragen mußte. Er suchte, über die Wechselfälle des Lebens hinweg, die „serenitas", die „tranquillitas animi", so wie er die „Meeresstille des Gemüts' 1 als hohes seelisches Ideal in der antiken Götterplastik verwirklicht zu sehen glaubte und sie innerhalb des Menschlichen als Zeichen eines großen, gesetzten Geistes nahm, als Ausdruck einer, freilich schwer zu erringenden, Humanität. Aus seinem Studium L a Rochefoucaulds wußte er: die Wunschlosigkeit glücklicher Menschen komme von der Windstille der Seele, die das Glück ihnen geschenkt habe. Vielleicht erinnerte sich Winckelmann dieser Maxime, als er Ende 1762 an den Freund Marpurg die gewichtigen Worte schrieb: „Ich schätze mich vor einen von den seltenen Menschen in der Welt, welche völlig zufrieden sind und nichts zu verlangen übrig haben. Suche einen andern, welcher dieses von Herzen sagen kann!'' Doch hatte er f ü r all dies einen teuren Kaufpreis erlegen müssen > eben jenen Wechsel des Glaubens und, was er erst allmählich im Rückblick und mit zunehmenden Jahren, im Anblick der nachfolgenden jungen Generation schmerzlich spürte: seine Jugend, die verloren war und die er vergeblich zurückverlangte. (Ein weit schwereres Opfer, das des Lebens, stand ihm erst noch bevor.) Der drückenden Last des in Dresden erlegten Preises war Winckelmann sich wohl bewußt, weshalb er denn auch später die so teuer und doch nie ganz erlangte Freiheit allezeit auf einen „hohen Preis" setzen wollte und gleich nach der Ankunft in Rom schrieb: er wolle als ein freier Mann leben und sterben — „meine Freiheit ist f ü r mich das höchste G u t . " Damals aber, in den Nöthnitzer Jahren, im Dienste Bünaus, war Winckelmann willens, den Preis der Konversion zu zahlen. Niemand mochte ihm sonst helfen, auch nicht und erst recht nicht sein Herr, der Graf Bünau, von dem schon Goethe sagte, er hätte als Particulier nur ein bedeutendes Buch weniger kaufen dürfen, um Winckelmann einen Weg nach Rom zu eröffnen. So mußte Winckelmann sich selbst helfen; er mußte auch hier sein eigener Führer sein und sich allein den Weg suchen. Man müsse die ge1

Briefe II, 340 f. Zur Psychologie der Briefe sind auch heranzuziehen die Bemerkungen von H. Degering, Eine Berufung an die Kgl. Bibliothek im Jahre 1765/ 1766, in: Aus der Handschriftenabteilung der Preußischen Staatsbibliothek, Berlin 1922, S. 1—48, bes. S. 43 ff. Justi III 3 , 238 f.

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meine Bahn verlassen, sich zu erheben — so ruft sich Winckelmann, als ob er sich selbst habe Mut machen wollen, in jenen peinvollen Tagen und Wochen zu, da er den Übertritt als Möglichkeit ins Auge faßt. Und er will sich erheben, er will der dumpfen Atmosphäre der Armut, der bloßen Bücherwelt, des Gelehrtenneids entfliehen, die ihn zu ersticken und zu verkümmern droht, er will ins Freie, zum Schönen dringen und sich den Weg nach Rom öffnen. Denn — so heißt es 1752 —: „Wo ich nicht bald sterbe, muß ich Rom noch sehen, quovis modo, modo salva conscientia et religione." Und: „Ich bin entschlossen, mich auf einen gewissem Fuß in Rom zu setzen." Schließlich: „Die Haupt-Absicht gehet auf Rom." Winckelmann spürt eine Sendung in sich, wie gleichzeitig im Dichterischen sein Altersgenosse Klopstock. Es ist die archäologische oder, mit den Worten seiner Zeit: die antiquarische. Sie wird sich weit über diesen ursprünglichen Raum ins Allgemeine erstrecken. Winckelmann weiß auch, daß er dieser Sendung gehorchen und in ihrem Dienst die strenge Forderung des Schicksals, den Übertritt, erfüllen muß. „Was jemand ernstlich will, kann alles möglich werden." Aber — das war die immer schmerzlichere und bitterere Einsicht — andere hatten es leichter. Sie mußten nicht ihren Glauben, ihre Unabhängigkeit oder gar ihre Jugend opfern. Sie durften das „Land der Menschlichkeit", das „glückliche Italien", Rom und seine Schätze sehen, die Stadt auf sich wirken lassen, ohne jene schweren Kosten erlegen zu müssen, und hatten doch nicht vom Schicksal in die Brust das Gefühl der Sendung gelegt erhalten. Sie wären meist auch ohne Rom und ohne Italien ausgekommen — all die vielen hochgestellten, reichen Reisenden aus England, Frankreich und Deutschland, die Winckelmann nicht zuletzt darum mit offenem Hohn und mit Verachtung betrachtete, weil sie nichts sahen und fanden. Fortuna hatte sie zwar scheinbar ausgezeichnet, sie aber konnten oder wollten das Glück, Rom und die Kunst, nicht fassen. Sie waren „wie der Wind in den Orgel-Pfeifen, und entfernt von hier, wie der Wind vorher war." Ihnen fehlte der Schlüssel zum Verständnis, den Winckelmann besaß und eifersüchtig hütete: „Die Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst." Um so bewegter war er, wenn er unter diesen, meist adligen Reisenden auch einmal einem Würdigen begegnete, bei dem sich Glück und entschiedener Wille, das Glück auch zu packen, einten: so etwa bei dem „Phönix der Prinzen", dem Fürsten Leopold III. Friedrich Franz von AnhaltDessau, dessen beharrlichen Ernst und dessen strebende Anteilnahme am Schönen zu verkünden er in den Briefen nicht müde wurde; so bei dem jungen Baron Riedesel, mit dem er eine Reise nach Sizilien und dann sogar nach dem gelobten Land, nach Griechenland plante, und dem er einmal schrieb: 29

er sei unter Tausenden der einzige, der das Schöne gleichsam von Natur kenne und diese Kenntnis richtig gemacht habe. 1 Fürst Leopold I I I . Friedrich Franz gehörte zu den gekrönten, den regierenden Häuptern des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Sich ihm zu vergleichen, kam Winckelmann nie in den Sinn (er dankte selbst einmal Gott, kein großer Herr zu sein — ,,die wahre Fröhlichkeit ist nicht ihr Anteil"). Riedesel dagegen, der „freie Reichsstand", der junge „Freund, den er sich erzogen", war ihm nicht nur menschlich, sondern auch gesellschaftlich näher gerückt. Da war ein Vergleich zwischen dessen und dem eigenen Leben denkbar und, obschon im Bitteren, sinnvoll. Wenn Winckelmann jetzt als Freund und Familiaris des Kardinalbibliothekars der Römischen Kirche sah, wie der junge, in der Mitte der zwanziger J a h r e stehende Herr selbstverständlich und sorglos, doch mit ehrlichem Bemühen sich in der Welt umschaute, wie er das Schöne und „die Kenntnis des Schönen" suchte, dann war es ihm, als ob die geheime Wunde seines Lebens, der Quell seiner inneren Unsicherheit noch in der leisesten Berührung schmerze: daß er nicht auch in jungen Jahren, vom Glück begünstigt, so sicher und unbeirrt seinen Weg hatte gehen dürfen, daß er bei aller inneren Ungebundenheit damals wie jetzt gebunden geblieben war. 1747, noch als Schulmeister in Seehausen, hatte er es befürchtet: „Ich kann aus meiner Sphäre nicht kommen. Das Schicksal hat mich zu einem mühsamen Studieren verdammt, ohne die Früchte zu sehn." Und im Januar 1753, in Nöthnitz, mußte er Berendis gegenüber bekennen: es sei sein Unglück, daß er nicht an einem großen Ort geboren sei, wo er Erziehung und Gelegenheit hätte haben können, seiner Neigung zu folgen und sich zu formieren. Vierzehn Jahre später, fast genau ein J a h r vor seinem Tod, am 2. Juni 1767 schreibt der inzwischen fast fünfzigjährige Mann, auf der Höhe seines Daseins, die den Rückblick gestattete und den Vergleich mit andern nahelegte, dem jungen geliebten Riedesel, der eben von seiner großgriechischen Fahrt, aus Sizilien und Unteritalien — zu seinem und Winckelmanns Schmerz hatte er sie allein, ohne den Mentor, aber in dessen Geist machen müssen — zurückgekehrt war, sich f ü r die Reise nach Griechenland rüstete und den Lehrer zum Begleiter zu gewinnen hoffte:,,Mein Unglück ist, daß ich einer von denen bin, die die Griechen ó^np;co?£ís, sero sapientes, nennen (Sapientes ist hier nur in dem geringsten Grade des Wissens zu nehmen): denn ich bin 1

Briefe II, 348. Über Riedesel s. W. Rehm, Götterstille und Göttertrauer, Bern 1951, S. 202—247. Dazu das Lebensbild, das E. E. Becker dem zweiten Band der Neuausgabe von Riedesels Reisen, Darmstadt 1940 [1942], als Einleitung beigegeben hat.

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zu spät in die Welt und nach Italien gekommen; es hätte, wenn ich gemäße Erziehung gehabt hätte, in Ihren Jahren geschehen sollen." (Schon im Juni 1761 hatte es in einem Brief an Geßner gehießen: „Ich bin leider einer von denen, welche die Griechen Spätkluge nennen: Erziehung, Umstände und Mangel haben mich zurückgehalten, früher klug zu werden anzufangen.") Zu spät — das war es. Jetzt erst, in den letzten Jahren, als sich um den gefeierten Gelehrten in Rom eine immer größere Zahl von jungen, bildsamen Deutschen versammelte und seine Lehre suchte, jetzt erst, im Anblick der Jugend, mußte sich Winckelmann eingestehen, daß er doch nicht völlig zufrieden war, wie er wohl gemeint hatte, daß ihm doch etwas zu verlangen übrig geblieben war: seine Jugend (und mit ihr die unangetastete Einheit seines inneren Lebenswegs). Die Trauer um eine versäumte, um eine vom Schicksal mißgönnte, ,,nichtgenutzte", „niedrige" Jugend schwingt untergründig in all diesen Briefen an seine jungen Freunde und in jenem Bekenntniswort gegenüber dem Baron Riedesel mit. I n „Märtelei", in „Plackereien" und Kummer hatte Winckelmann die ersten Jahrzehnte seines Lebens verbringen, den Schulmeister hatte er, wenn auch mit großer Treue, machen und Kindern mit grindigten Köpfen das Abc lehren müssen, s t a t t daß er in jungen Jahren mit weitoffener, aufnahmebereiter Seele, wie Riedesel und mancher andere, wie der junge Heinrich Füssli oder Leonhard Usteri es durften, in Italien, in Rom, zur „Kenntnis des Schönen" gelangen oder gar nach Sizilien und Großgriechenland reisen konnte. Der Jüngere, der „in glücklicheren Umständen" geboren war und dem ein freundliches Geschick gelächelt hatte, durfte seine Jugend ganz nutzen und frei als Jugend erleben, er durfte sich „formieren", „seiner Neigung folgen" und sich die „gemäße Erziehung" verschaffen. Winckelmann dagegen hatte die Jugend — und zwar fast unwiderbringlich — „theils in der Wildheit, theils in Arbeit und Kummer verloren", unedel verloren, glaubte er sogar sagen zu müssen. 1754 heißt es bitter: „Ich habe nunmehro bald 6 J a h r in Sachsen gelebet und kann mich nicht entsinnen, daß ich recht gelachet hätte." Jetzt erst, seit er einen Vergleichsmaßstab in Händen hielt, konnte Winckelmann die ganze Schwere dieses Verlusts ermessen. Darum nun auch der Wunsch, diese seine Jugend vom Schicksal zurückzufordern oder sie im Umgang mit wohlgeborenen jungen Menschen neu zu erwerben und zu gestalten, darum das Bekenntnis: „Ich suche, soviel möglich ist, meine verlorene Jugend zurückzurufen," oder die Worte: „Es ist die höchste Zeit, mich selbst und mein Leben zu genießen. Ich hole itzo nach, was ich versäumet habe; ich hatte es auch von dem lieben Gott zu fordern. Meine Jugend ist gar zu kümmerlich gewesen, und meinen Schulstand vergesse ich nimmer mehr." 31

So versteht man doppelt die von Winckelmann immer wiederholte Befriedigung über das Erreichte, die Freude an seiner „Achtung" und seinem Ruhm und am würdigen „ G e n u ß " seines Lebens, einer „edlen Muße" und Freiheit. Aber man darf auch den untergründigen, schmerzlichen Ton nicht überhören, wenn man Ende 1762 in jenem scheinbar so selbstbewußten Brief an Marpurg liest: ,,M. Plautius, Consul und welcher über die Illyrier triumphiret hatte, ließ an sein Grabmal, welches sich ohnweit Tivoli erhalten hat, unter allen seinen angeführten Taten setzen: VIXIT. ANN. I X . Ich würde sagen: ich habe bis in das achte J a h r gelebet; dieses ist die Zeit meines Aufenthalts in Rom und in anderen Städten von Italien." Alle früheren Jahre also waren ihm tot und ungelebt, erst die letzten dreizehn, seit 1755, seit der Ankunft in Rom „zählten" im strengen Wortverstand oder wurden von Winckelmann langsam und nachdrücklich durch- und ausgezählt, einzeln gewogen und bewußt gelebt und genossen. Mit tiefem, aufs Innerste seines Lebensganges zurückweisendem Bezug hatte er, der Handwerkers- und Kleinbürgerssohn, seinem jungen Freund, dem „freien Reichsstand", das Wort geschrieben, daß er ein Spätkluger sei, in genau dem gleichen Sinn, in dem es zwanzig Jahre später der doch vom Glück um so viel begünstigtere Goethe bei seinem Eintritt in Italien, in Verona aussprach : endlich sei er hier angekommen, wo er schon lang einmal hätte sein sollen, „manche Schicksale meines Lebens wären linder geworden". Und dann wieder wenige Monate danach, auf der Höhe der Südfahrt, in Girgenti, mitten in großgriechischer Landschaft, als sich Goethe am 26. April 1787 ins Tagebuch aufzeichnet: er müsse sich das erschleichen, erstürmen, erlisten, was ihm während seines Lebens auf dem gewöhnlichen Wege versagt gewesen sei, im Gegensatz zu seinem Mentor, jenem Baron Johann Hermann Riedesel, dem Freund Winckelmanns, dem Verfasser der von Goethe hochgeschätzten und eifrig benutzten „Reise durch Sizilien und Großgriechenl a n d " (Zürich 1771). Goethe erblickte sich selbst in der Nachfolge seines großen deutschen Vorgängers in Rom und glaubte wohl auch, eine gewisse Verwandtschaft mit ihm in der Art des ernstlichen, treuen Bemühens um die Erkenntnis der Kunst und in der spät gewährten Gunst eines römischen Aufenthalts zu spüren. Darum meinte er jenen Tagebucheintrag aus Girgenti genau in der gleichen Weise wie Winckelmann sein Bekenntnis im Brief a n Riedesel und gab diesem Grundgefühl seines Lebens noch einmal in seinem Erziehungsroman Ausdruck. Da sagt es, an wichtigster Stelle des zurückgelegten Wegs, Wilhelm Meister: die harmonische Ausbildung der menschlichen Natur sei nur dem Adligen von Geburt gewährleistet, dem Bürgerlichen aber verwehrt — „ich weiß nicht, wie es in fremden Ländern ist, 32

aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse allgemeine, wenn ich sagen darf, personelle Ausbildung möglich. Ein Bürger kann sich Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden, seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen, wie er will." 1 Wenn schon Goethe, der Sohn eines wohlhabenden Patrizier-Hauses, der sachsen-weimarische Geheime Rat dies empfand, wieviel schärfer mußte es Winckelmann fühlen, der sich früher, in Seehausen, und noch in der römischen Zeit den homerischen Vers zugerufen hatte: „TetAcxOi 6 t], KpaSir), Kai KÜvTepov ccAAo ttot' 6tAt|s", und von sich sagen durfte: „Durch Mangel und Armuth, durch Mühe und Noth habe ich mir müssen Bahn machen. Fast in allem bin ich mein eigener Führer gewesen." Dem jungen Baron Riedesel — das sah Winckelmann mit geheimem Neid und mit Liebe zugleich, das sah auch später noch Goethe an ihm — war es von Geburt an gegeben, ganz, wie er da war, sich zu bilden. Die „gemäße Erziehung" war ihm als einem „Hochwohlgeborenen" zuteil geworden und wurde ihm noch immer zuteil: durch Winckelmann selbst, den „meisterhaft Belehrenden", der ihm den „Unterricht zu der Fähigkeit, das Schöne in der Kunst zu empfinden" erteilte. Solcher Unterricht aber — Winckelmann stellte es mit betonten Worten in seiner „Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst" fest — sei nicht für junge Leute, welche nur um ihr notdürftiges Brot lernen und weiter nicht hinaus denken können, welches sich von selbst verstehe, sondern für die, welche, nebst der Fähigkeit, Mittel, Gelegenheit und Muße haben: und diese sei sonderlich nötig. „Denn die Betrachtung der Werke der Kunst ist, wie Plinius sagt, für müßige Menschen, das ist, die nicht den ganzen Tag ein schweres und unfruchtbares Feld zu bauen verdammet sind." Kunstempfinden und Kunstgenuß sind ein Privilegium vom Glück begünstigter Menschen und ohne ,,otium", ohne „tranquillitas animi", ohne „vita contemplativa" undenkbar. Und Winckelmann, da er anders als Riedesel und der Fürst von AnhaltDessau, nur ein Bürger, ein Kleinbürger war und doch die antiquarische Sendung in sich spürte, so wie Wilhelm Meister die theatralische, mußte sich die „edle Muße" erst erkämpfen. Er mußte die ihm scheinbar bestimmte

1 Buch 5, Kapitel 3. Wenn Goethe in Rom (14. Dezember 1786, an Charlotte von Stein) von K. Ph. Moritz, dem Verfasser des „Anton Reiser", dessen jugendliche Lebensgeschichte manche Ähnlichkeit mit der Winckelmanns hat, sagt: „Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir, von derselben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin", so klingt, nur jetzt umgekehrt, das gleiche Motiv an.

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„gemeine Bahn" verlassen, um aus „seiner Sphäre" zu kommen, um sich zu erheben und der Betrachtung der Kunst sich weihen zu können. Einen entbehrungsreichen Weg hatte er durch das Leben, über die Konversion, nach Rom zu nehmen, um dann in vorgerückten Jahren, da „Erziehung, Umstände und Mangel" ihn früher gehindert hatten, als ein „Spätkluger" seinen Geist ausbilden und „formieren" zu können. Freilich, die harmonische, die allgemeine personelle Ausbildung der menschlichen Natur, von der Goethe seinen Wilhelm Meister sprechen ließ, die mußte Winckelmann, der Schusterssohn aus der Altmark, als einen nie mehr ganz erreichbaren, ihm für immer verlorenen glücklichen Zustand betrauern. Doch auch hier schenkte ihm das „gütige Geschick" in etwas einen Ausgleich. Es schenkte dem „Tüchtig-Regsamen" in Rom den Umgang mit jungen, schönen, bildsamen Menschen, „und niemals", sagt Goethe, „erscheint er belebter und liebenswürdiger als in solchen, oft nur flüchtigen Augenblicken". Nun darf Winckelmann mit Sokrates sprechen: es sei besser, auf das Herz der Jünglinge schreiben, als auf Papier. Denn er weiß, wie es sein frühverstorbener Zeitgenosse Vauvenargues sagte: daß Einfluß auf Menschen mehr wert sei als Reichtum. Jetzt erwacht diesem echten Humanisten der inbrünstige Wille, solchen jungen, vom Schicksal bevorzugten Menschen ein Erzieher zu werden, ihnen zur harmonisch geschlossenen Gestalt zu verhelfen, sie zu „formieren", zu „unterrichten", zu bilden, indem er sie dem höchsten Bildenden, dem Schönen der griechischen Kunst gegenüberstellt. Da er selbst sein Leben mit einem höheren Gehalt erfüllt, ihm eine neue Gestalt gegeben hatte, war er als ein wahrer „uaiSafcoyos" auch bemüht, diesen neuen, erworbenen Lebensgehalt und diese höhere Lebensform unmittelbar weiter zu tragen und junge aufgeschlossene Menschen in dieser anderen Gesinnung zu erziehen. Es ist Winckelmanns „angeborener seltener Schulmeister trieb", der in solchen Bemühungen und Begegnungen durchschlägt, sein „innerster Beruf, welcher auf den Unterricht j unger Leute gehet.'' Als ob er auf diesem, ,sokratischen Weg'1 des Unterweisens und Erziehens andern habe geben und ersparen wollen, was er selbst in seiner Jugend so bitter an sich hatte erleben und entbehren müssen. Daß es ihm weder in Sachsen, der ersten Wahlheimat, noch auch in Preußen, seinem „natürlichen Vaterlande", gelungen war, ein „öffentlicher Lehrer" zu sein, daß man ihn in Dresden und später noch in Berlin verschmäht hatte, fiel ihm schwer auf die Seele. Denn in Rom, wo die Erziehung in Händen der Geistlichen lag, waren ihm die Wege zum Unterricht verlegt. „Wäre ich nach Berlin gegangen, hätte ich das, was man in Sachsen einzusehen nicht vermögend gewesen, thun wollen, das ist: meinem innern und natür34

liehen Berufe nachgehen, welcher ist, Lehrer der Jugend zu seyn, und dieses mit Hintansetzung aller meiner Zeit und Bequemlichkeit." Wilhelm Meister sagt das harte Wort: Verdienst könne sich der Bürger in Deutschland wohl erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden, aber seine Persönlichkeit gehe verloren, er möge sich stellen wie er wolle. Hier muß man an Winckelmann (und vielleicht auch an Goethe selbst) denken und sich die Gefahr klarmachen, die dem inneren Dasein aus den Lebensbedingungen und der Lebensform des Humanisten drohten. Vom Lebenslauf der Humanisten im Quattrocento und im Cinquecento meint Burckhardt, er sei in der Regel ein solcher gewesen, daß nur die stärksten sittlichen Naturen ihn durchmachen konnten, ohne Schaden zu nehmen. 1 Winckelmann war gewiß kein haltloser Literat, kein charakterloser Humanist; seine Persönlichkeit war gewiß nicht verloren gegangen, sie war vielmehr in den Wechselfällen des Lebens scharf und klar umrissen worden. Aber wer kann sagen, sie habe nicht doch einen, wenn auch noch so verborgenen Schaden genommen, sie habe nicht doch in Seehausen und in Nöthnitz, in einem „tiefgedrückten Zustand", in den kümmerlichen sozialen Verhältnissen eine leichte innere Biegung erfahren? Manches in den Briefen und zwischen den Zeilen weist auf einen Schaden, eine Verbiegung, einen geheimen Schmerz. Dort wird er spürbar, wo Winckelmann durch seine Lage und den ihm zuerteilten Stand des Humanisten gezwungen wird, nicht nur sein Vaterland, sondern auch seinen Glauben und diesen auf Kosten der inneren Überzeugung zu wechseln. Er durfte das hohe Verdienst f ü r sich beanspruchen, Begründer einer Wissenschaft und Praeceptor einer neuen deutschen Jugend geworden zu sein, und konnte doch durch das Erreichte, durch Arbeit und Ruhm, durch starken Geltungswillen und ausgeprägtes Erziehungsverlangen, das Bewußtsein so bitter erlegter Kosten vor sich selbst nicht völlig überdecken. All dies, die mit dem Leben eines Gelehrten, eines Humanisten verbundenen Schwierigkeiten, das stete Nachklingen der Krise in den Jahren 1753 und 1754 und schließlich das angestrengte Bemühen, sich durch würdige Leistung einen Platz nicht nur im gelehrten, sondern mehr noch im ganzen gebildeten Europa zu erringen, all dies muß man im Auge behalten, sollen die Briefe Winckelmanns, namentlich die seiner römischen Epoche, der Jahre seiner Meisterschaft und „Achtung" in ihrem eigentlichen Sinn verstanden und gewürdigt werden. Zwar steht hinter allen Briefdokumenten dieses Mannes die gleiche unverkennbare und immer stärker geformte Per1

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Kultur der Renaissance, Jacob Burckhardt-Gesamtausgabe V, 194.

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sönlichkeit, die als eine wahre „Persona" durch alle hindurch- und aus allen heraustönt, das gleiche Gefühl seiner Bedeutung, die gleiche Art der Selbstauffassung ; allein es sind die einzelnen Briefgruppen zu unterscheiden und die jeweiligen Empfänger zu betrachten, an die sich Winckelmann mit seinen Briefen, Episteln und Sendschreiben wendet. „Seine Briefe", so sagt Goethe, „haben, bei den allgemeinen Grundzügen von Rechtlichkeit und Derbheit, je nachdem sie an verschiedene Personen gerichtet sind, einen verschiedenen Charakter, welches immer der Fall ist, wenn ein geistreicher Briefsteller sich diejenigen vergegenwärtigt, zu denen er in die Entfernung spricht, und also ebensowenig in der Nähe das Gehörige und Passende vernachlässigen k a n n . " Winckelmaun schreibt Briefe als Gelehrter an Gelehrte, nach Deutschland, Frankreich, England, Italien, an Heyne, Michaelis, Reiske, an Barthélémy und Desmarest, an Martorelli und Paciaudi — es sind „epistolae", in denen sich eine mitunter lässig zur Schau getragene, aber sicher beherrschte Gelehrsamkeit kundgibt. Es sind Dokumente einer unermüdlichen Anteilnahme am großen gemeinsamen Gegenstand, der Kunst des Altertums, Zeugnisse eines hohen Selbstbewußtseins bei aller Höflichkeit des Tons und einer beständigen, stolzen Arbeit am langsam und zielbewußt aufgeschichteten Lebenswerk, dessen Werden hier und in den andern Briefen Schritt f ü r Schritt, von J a h r zu J a h r genau verfolgt werden kann. Doch muß man bei dieser Briefgruppe an das Wort des geistreichen Abbé Galiani denken (Winckelmann ist ihm im Frühjahr 1758 in Neapel noch flüchtig begegnet) : die Briefe der Gelehrten, die einander schreiben, weil sie sich dem Ruf nach kennen, zieren ihren Geist, rühren aber nicht ihr Herz. 1 Das gilt bis zu einem gewissen Grad auch von der sehr stattlichen Zahl der Briefe, die Winckelmann aus Italien zuerst in französischer, dann in italienischer Sprache an seinen Dresdener Gönner Giovanni Lodovico Bianconi gerichtet hat. 2 Trotz der Anrede: Carissimo amico — einen wirklichen Freund hat Winckelmann in diesem gewandten, oft undurchsichtigen Leibarzt, Diplomaten und dilettierenden Gelehrten nie gewonnen. Dazu war Bianconi viel zu tief in die höfischen Kabalen und Ränke verstrickt und f ü r den Deutschen stets die Quelle eines teils begründeten, teils unbegründeten Mißtrauens. Das Gefühl der Abhängigkeit und der Dankverpflichtung nehmen den Schreiben an den ehemaligen „Padrone" oft die freie, natürliche 1

W. Weigand, Die Briefe des Abbé Galiani, München 1914, II, 435. Die Beziehungen zwischen Winckelmann und Bianconi behandelt E. Jacobs auf Grund des damals noch ungedruckten Materials im Archäologischen Jahrbuch 47, 1932, Anzeiger Sp. 564—596. 2

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Art. Später wurde Bianconi Vermittler der antiquarischen Relazionen, die Winckelmann f ü r den Kurprinzen Friedrich August von Sachsen nach Dresden sandte. I n den Privatbriefen aber, die Winckelmann nebenher an den Italiener richtete, spürt man das Bemühen, auf dem Grund der eigenen, inzwischen erworbenen Geltung sich zu behaupten und f ü r sich den gleichen inneren und äußeren Rang zu beanspruchen, den Bianconi zunächst vor seinem früheren Schützling voraus gehabt hatte. Ein weiterer, sehr großer Teil der Briefe ist an die deutschen Jugendfreunde und Studiengenossen in der Heimat, an Berendis, an Genzmer und Uden und an den trockenen, aber rechtschaffenen Nöthnitzer Kollegen Francke gerichtet. Sie alle kannten die Enge und Not seiner Seehausener und Nöthnitzer Jahre. Offen genug hatte Winckelmann zuvor von diesen Dingen in seinen Briefen berichtet und die Freunde fast rückhaltlos zu Vertrauten seiner inneren und äußeren Kümmernisse gemacht. Seit 1755, dem J a h r der Ankunft in Rom, hatte sich die Lage erheblich geändert. Die Verhältnisse, in denen Winckelmann, der ferne Freund, der abtrünnige Protestant und Preuße, der Abbate, sich nun befand, waren grundverschieden von den zurückgelassenen deutschen. Da er vermuten oder argwöhnen mußte, es möchten die ehemaligen Freunde sich von seinem neuen Leben ein falsches Bild machen oder in Gedanken immer noch an der alten Vorstellung seiner hinter ihm liegenden märkischen und sächsischen Notjahre festhalten, zog er in diesen Briefen, wahrhaften „epistolae ad familiares", alle ihm erreichbaren, oft zu lauten Register, um ihnen von seinem Leben und Treiben in der ewigen Stadt ausführlich und genau zu erzählen. Wahre, unerschütterliche Anhänglichkeit und Bonhommie gehen in jenen „Sendschreiben" und „Bulletins" mit einem gewissen, nicht immer angenehmen Überlegenheitsgefühl, mit Prahlsucht und dem Verlangen, möglichst starken Eindruck zu erzielen, merkwürdig und unnachahmbar zusammen und stempeln sie zu besonders lehrreichen Zeugnissen f ü r die Art, wie sich Winckelmann selbst sah und deutete. Daneben stehen die Briefe an die Männer, die sich Winckelmann erst während der italienischen Zeit auf Grund seines literarischen Namens neu zu Freunden gewonnen hat, vor allem die an die beiden Zürcher, an Caspar Füssli und Salomon Geßner, die Briefe an Wille und Wiedewelt, an Mengs und an den vertrauten, „geprüften" Freund Muzel-Stosch. Hier hatte es der Schreiber nicht nötig, seine dunkle Jugend zu überdecken. Die Empfänger wußten nichts oder nur wenig von seinen vorrömischen Jahren. Winckelmann durfte ihnen unbefangen, Mann zu Mann, gegenübertreten und ihnen, die von ihm bereits als einem rühmlich bekannten Autor gehört 37

hatten, im Ton einer immer herzlicher werdenden Freundschaft, einer wahren Verbundenheit, als „ein Freund der Freunde", frei und heiter-behaglich von sich und seiner Arbeit, von seinen Erfolgen und Bekanntschaften berichten. Er ließ sie an all den großen und kleinen Ereignissen des abwechslungsreichen römischen Lebens teilnehmen. Da war es nicht nötig, sich ins beste Licht zu setzen, da konnte der Briefschreiber mitunter auch aus freien Stücken den Vorhang vor der deutschen Leidenszeit fortziehen und im Gefühl des Bestandenhabens, im Blick auf das Erreichte, von der Not einer harten Jugend erzählen. Und so erwirbt ihm, nach Goethes Worten, „diese schöne Gesinnung der Freundschaft das Herz manches Trefflichen, und er hat das Glück, mit den besten seines Zeitalters und Kreises in dem schönsten Verhältnisse zu stehen". Aber die freiesten, eigentümlichsten Briefe sind doch die, die Winckelmann den „würdigen Jünglingen" widmete, all denen, die ihn in Rom aufsuchten und seinen Umgang erfahren hatten: die Briefe an Berg, Riedesel und den Grafen Schlabbrendorf, an Leonhard und Paul Usteri, an Heinrich Füssli und Christian von Mechel. Hier gibt Winckelmann sein Persönlichstes, hier spürt man die Macht der Freundschaft, die ihn erleuchtet, die Kraft des Schauens, den freudigen Willen zur Aufmunterung und zum „Unterricht", das Vermögen eines wirklich pädagogischen Humanismus und auch das Charisma des geborenen Bildners, der aus innerstem Beruf die junge Generation zur „edlen Muße" und zum Urquell des Schönen führen möchte. Und meist fand er dankbare Herzen. „Jetzt sitz' ich an der Quelle dessen, was groß und schön ist", schreibt der j unge Heinrich Füssli aus Rom im Dezember 1763 nach Hause an Leonhard Usteri, „und Winckelmann erklärt mir ihr geheimnisvolles Murmeln. — Bald erklärt er mir mit philosophischer Deutlichkeit den verschiedenen Geschmack der Nationen, ihre verschiedenen Epochen, steigt von den Gattungen zu Arten und von diesen zu einzelnen Dingen herunter, und ein Geist, schwächer als der seinige, folgt ihm dennoch, ohne sich zu ermüden, denn er weiß, in welcher Ordnung er vortragen muß, damit sich die häufigen Ideen nicht verwirren und eine die andere zu gehöriger Zeit wieder erwecke. — Aber nach und nach erhebt sich der Geist und ergießt sich über sein ganzes Gesicht aus, seine Augen werden blinkender, und er scheint begeistert wie sein Schutzgott, der Vaticanische Apollo; und in diesen Entzückungen, worein ich mit hingerissen werde, irren unsere Augen auf idealischen Schönheiten herum, sehen aber nur das gröbste, das übrige empfindet die Seele." 1 1

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Briefe IV, 234.

Wenn Winckelmann, eigenen Worten nach, des Genusses der höchsten menschlichen Glückseligkeit beraubt war, einen würdigen Sohn erzeugt zu haben, so blieb ihm doch die geistige Vaterschaft, die „Zeugung im Verstände" nicht versagt, weder hier, in diesen engen persönlichen Beziehungen, noch in weiterem Sinn: im Leben seiner Nation. Denn Erziehung, so durfte später Lichtenberg mit Recht sagen, Erziehung ist Zeugung einer andern Art. Neben Goethe hat vor allem Herder, der Winckelmann 1778 das erste „Denkmal" setzte, die aus dem Freundschaftsverlangen strömende pädagogische K r a f t des großen Antiquars erkannt und später selbst immer wieder jungen Menschen die Werke dieses ruhelosen „Wanderers" und Erziehers in die Hand gelegt. Und einer von ihnen bekannte es dann: Winckelmann habe ihn wie neugeboren gemacht. 1 Aus solchen Schichten und Strebungen gliedert sich das „opus epistolar u m " des Mannes. Als Vermächtnis eines bedeutenden Namens und als Zeugnis einer besonderen menschlichen Art gehört es unlöslich zum schriftstellerischen und wissenschaftlichen Werk und macht mit diesem zusammen „eine Lebensdarstellung, ein Leben selbst" aus. Die Briefe begleiten das Werk und erklären auch die Macht der „Stiftungen", die Winckelmann hinterlassen hat. Auf der einen Seite bedeuten die Briefe weniger als das Werk, das sich immer freier, oft in feierlich großer Form darbietet, auf der andern Seite auch wiederum mehr. Denn sie führen abstandloser an den Kern des Persönlichen heran, sie sind die Materialien und Bausteine, aus denen nicht nur das wissenschaftliche Werk, sondern das Werk dieses Lebens selbst errichtet wird, sie sind die Substruktionen, über denen sich der Lebensbau Winckelmanns erhebt. Das Bild, das man aus den Briefen gewinnt, unterscheidet sich trotz des gerade auch hier erkennbaren humanistischen Formungswillens von dem, das die Werke Winckelmanns gewähren. Nicht als ob die beiden Bildnisse sich widersprächen: allein während in den Büchern, die nicht ohne Absicht alle ein großes, repräsentatives Format — Winckelmannsches Format nennt es Hamann — besitzen, nur die eine, helle, sieghafte Seite zum Vorschein kommt, während in ihnen aller Stoff des Lebens getilgt ist und ihr Verfasser sich mit bewußter Würde und in hoher Stilisierung zeigt, bringen die Briefe auch die andere, dunklere, verborgenere Seite zum Vorschein, die im Leben eines großen Menschen nie fehlt, nie 1 J. W. Ritter, Fragmente aus dem Nachlaß eines jungen Physikers, Heidelberg 1810, I, p. L l l f . — J. G. Müller, Aus dem Herderschen Hause, hsg. von J. Bächtold, Berlin 1881, S. 35, 57, 69, 72. — H . Steffens, Was ich erlebte, Leipzig 1938 (Dieterich), S. 101. — Bettina Brentano, Die Andacht zum Menschenbild. Unbekannte Briefe, Jena 1942, S. 23.

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fehlen darf. Sie breiten den unaufhörlichen, harten Lebenskampf dieses Mannes aus, sie richten noch einmal die Widerstände auf, mit denen dieses schwer erfahrene, aber mächtig geleistete Dasein zu ringen hat, sie weisen stärker, als es die Betrachtung der Werke je zu tun vermag, auf die irdischstoffliche Existenz des Briefschreibers hin und lenken unvermeidlich immer wieder den Blick ins Innere, Menschliche, Allzumenschliche, Private. Überschaut man die Dokumente dieses Daseins im Ganzen, dann scheint es wirklich so, als ob die dunkle Seite im Leben dieses merkwürdigen deutschen Mannes den größeren Raum einnehme. Die so hell belichtete, hell anmutende Spanne der dreizehn römischen Jahre, von 1755—1768, kann die „dreißig Jahre Niedrigkeit, Unbehagen und K u m m e r " nicht verhüllen oder einfach auslöschen. Das tief Gefährdete, oft Garantielose, Freischwebende, ja Fragwürdige der humanistischen Existenz und Lebenserfahrung an sich, mit ihren Versuchungen, ihrem ungebundenen und zugleich gebundenen Wesen, ihrem oft vehementen Orts-, Vaterlands-, Glaubens- und Schicksalswechsel, mit ihrem Kosmopolitismus, der durch Heimat- und Familienlosigkeit erkauft war, mit ihrer Ruhmliebe, der „cupiditas gloriae", ihrer Streitfreude, ihrem Freundschaftskult, wird auch noch im irdischen Lebenswandel Johann Joachim Winckelmanns, gerade aus seinen Briefen und im Hinblick auf sein furchtbares Ende, erkennbar. J a , dieser qualvolle Tod des „homo vagus inconstans" zu Triest, fern der natürlichen und der erwählten Heimat, einsam und unerkannt, im Zimmer eines Gasthofs, wirft düstere Schatten auf die in den Briefen sich spiegelnde Lebenszeit zurück und ruft wiederum in ihnen Schatten hervor, die das Auge vielleicht sonst nicht wahrgenommen hätte. Jener Tod weist auf Züge und Anlagen hin, die Winckelmann mitten hinein in sein schreckliches Ende geführt haben. Und auch die große,, Schwermut", die ihn auf seiner letzten Reise befiel und ihn schon auf deutschem Boden zur plötzlichen Umkehr trieb, mag in der Nähe des Todes aus den gleichen dunklen Gründen aufgestiegen sein, die auch seinen Lebensweg bestimmt hatten. Auf das Romantische seines Lebens und Wesens weist Goethe in seiner Würdigung Winckelmanns hin. Dieser selbst spricht von den „Wundern" seines Lebens. Ein Humanist der alten Zeit, Poggio oder Tristan Caracciolo oder Pontanus, hätte angesichts dieses aus Niedrigkeit zur Höhe so stolz aufsteigenden und dann jäh abbrechenden Lebens auf die Wandelbarkeit des Glücks, die „varietas fortunae" gedeutet und in ihm einen weiteren eindrucksvollen Beleg f ü r das gesehen, was ein anderer Humanist, der Italiener Pierio Valeriano, nach dem „sacco di R o m a " in einem langen Traktat an Hand vieler Beispiele behandelt hatte — „de infelicitate literatorum", von 40

dem Unglück der Gelehrten 1 . Hielten sich Glück und Unglück im Leben dieses letzten großen abendländischen Humanisten die Waage? oder neigt sich die Schale zur Seite des Unglücks? I n einer beschwingten, fast übermütigen Stunde seines Lebens, nach dem Eintritt in das Haus des Kardinals Albani, nach der Übersiedlung in dessen Palast auf dem Quirinal, alle Quattro Fontane, in seine vier Zimmer oben im Turmaufbau, die den Blick auf die ewige Stadt, auf die Campagna und die fernen, sie begrenzenden Höhenzüge frei gaben — all dies lag nun gleichsam zu seinen Füßen —, da hatte Winckelmann wohl gemeint, das Glück endlich besiegt und überwunden zu haben. Da schrieb er am 24. Juni 1759, nicht ohne die dem Humanisten seit je eigentümliche und durch den Kampf mit dem Glück noch gesteigerte Anlage der ,,superbia' (t , an den Dresdener Gönner Bianconi: ,,Se Dio me presta la vita e la salute, potrei dire: Superavi Te, fortuna." Aber dann überwand das Glück ihn. Hatte Winckelmann es geahnt? I m Februar 1768, vier Monate vor seinem Tod, aus der freudigen Erwartung des Aufbruchs in die alte Heimat, in dem fast schon euphorischen Gefühl fruchtbarer, erfolgreicher, ruhmbringender Arbeit, kündigte er dem alten Nöthnitzer Freund Francke seine bevorstehende Reise und das Wiedersehen an und schrieb mitten im Brief, fast völlig unvermittelt: „Endlich wird die Ruhe kommen an dem Orte, wo wir uns zu sehen und zu genießen hoffen! woran ich ohne die innigste Bewegung und ohne Freudenthränen nicht gedenken kann. Dahin will ich, wie ein leichter Fußgänger, so wie ich gekommen bin, aus der Welt gehen. Ich weyhe diese Thränen, die ich hier vergieße, der hohen Freundschaft, die aus dem Schooße der ewigen Liebe kömmt, die ich errungen und in Ihnen gefunden habe." Seltsame, ergreifende Worte, in denen der Gedanke des irdischen Aufbruchs zur Reise in die Heimat mit dem der Pilgerschaft zum Tode, die Hoffnung auf irdisches ,Wiedersehen mit der eines überirdischen sich ahnungsvoll verbindet. Johannes Winckelmann, Pilgrim — so lautete die Unterschrift eines Briefes aus dem August 1767. Ein Pilgrim war er geblieben.

1 Burckhardt aaO. V, 196 ff. Das sehr merkwürdige, in Dialogform abgefaßte Buch, über dessen Bedeutung auch E. Zilsel, Die Entstehung des Geniebegriffs, Tübingen 1926, S. 203ff., zu vergleichen ist, erschien zuerst in Venedig 1620 unter dem Titel: Contarenus seu de Literatorum infelicitate. Es wurde ein Jahrzehnt vor Winckelmanns Geburt, 1707, von J. B. Mencke, zusammen mit ähnlichen Schriften unter dem Sammeltitel: Analecta de calamitate Literatorum, neu herausgegeben. Der Verfasser lebte von 1477—1558. Der zweiten, Amsterdam 1647 erschienenen Auflage wurde seine Lebensbeschreibung in einem Zusatz als weiterer Beleg für das abgehandelte Thema beigefügt.

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ERNST

HEIDRICH

WINCKELMANN 1 Merkwürdig genug, in welchem Umkreis von Zuständen und Ideen die geniale Tat Winckelmanns, die die Erschließung bisher ungeahnter Erkenntniswege und die Einordnung der künstlerischen Erscheinungen in eine durchaus andere, weitere Sphäre des Lebens bedeutete, zustande kam. I n jenem päpstlichem Rom, das sich, wie im 16. Jahrhundert, durch die engste Verbindung der kirchlichen mit den künstlerischen und gelehrten Kreisen charakterisierte, und dessen zentrale Stellung innerhalb der gesamteuropäischen Kultur an äußerem Glanz hinter jenen älteren Zeiten nicht zurückzustehen schien. Die Tiefe der Einwirkungen und Anregungen, die von Rom ausgingen, mochte auf dem Gebiet des künstlerischen wie des kirchlichen und politischen Lebens immer geringer geworden sein — die wundervolle und in dieser Art einzige Vielfarbigkeit der Gesellschaft und die in ihr erreichte Höhe einer aufs äußerste verfeinerten Kultur ließen den Gedanken eines Mangels oder Rückschritts kaum aufkommen. Es schien die nächste Folge der Tätigkeit Winckelmanns, daß der Ruhm der Hüterin aller Schätze und der Metropole alles künstlerischen Lebens nochmals gesteigert und gefestigt wurde. Denn auch das Ziel, dem er sich zuwandte, und das zu erreichen allein in Rom möglich scheinen konnte, einer Wiederbelebung der Antike, schien dasselbe, wie in den Zeiten Julius II. und Michelangelos, und der universale Zug dieses neuen Humanismus, der Anspruch auf eine über alle nationalen Besonderheiten hinausreichende Allgemeingültigkeit seiner Ideale schien wiederum die Einigung der gesamten Kulturwelt unter der Führung Roms anzukündigen. Es ist noch einmal eine Tat jenes römischen Geistes, der die vergangenen Jahrhunderte beherrscht oder zu beherrschen 1 Ernst Heidrich, 1880 geboren, hatte 1905 bei Wölfflin in Berlin promoviert, sich 1909 dort habilitiert und war auf Wölfflins Empfehlung im Dezember 1910 nach Basel berufen worden. Im Sommer 1914, wenige Monate vor seinem Tode erhielt er den Lehrstuhl Georg Dehios in Straßburg. Durch seine Bücher über die Altdeutsche, Altniederländische und Vlämische Malerei ist er weiteren Kreisen bekannt geworden.

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doch wenigstens versucht hatte, eine seiner glänzendsten, vielleicht die letzte. Es war ein Gelehrter und ein Deutscher, der sie vollzog, und der wahre Sinn, in dem er es tat, war der einer definitiven Auflösung desjenigen Zusammenhanges, den er zu stärken schien. Die unmittelbar fortwirkende Kraft und die innere Kontinuität der von der italienischen Renaissance ausgehenden Entwicklung waren erloschen, und die Grenzen desjenigen Gebietes, an das ihre Herrschaft gebunden war, wurden überschritten in dem Moment, wo einem allgemeinen Gefühl der Ermattung und des Widerwillens und der Sehnsucht und Begeisterung zugleich sich der Blick Winckelmanns auf Griechenland und die griechische Kunst richtete. Die Antike, die zunächst nur in der römischen Überlieferung und Umbildung überkommen und nicht anders denn als eine unmittelbare Vorstufe und Voraussetzung jener national italienischen Kunst, in der man ihre Erneuerung vollzogen glaubte, verstanden worden war, erscheint nunmehr als eine von ihr deutlich getrennte und ihr vielfach und gerade in den Hauptpunkten entgegensetzte, eigentümliche Welt. Indem man Ernst macht mit dieser Gegenüberstellung und Scheidung Griechenlands und Italiens, bedeutet die Einsetzung Athens in sein ursprüngliches Recht, mag auch das von ihm und seiner Kunst entworfene Bild zunächst mehr noch der Phantasie als der wirklichen Anschauung angehören, die Entthronung Roms. „Die reinsten Quellen der Kunst suchen, heißt nach Athen reisen" — diese Worte aus Winckelmanns Erstlingsschrift sollten in einem anderen Sinne noch, als er selbst sie damals, wo er auf die für Dresden erworbenen Antiken hinweisen wollte, verstanden hatte, zur Wahrheit werden. Zugleich aber entstehen, indem man sich jener Welt der griechischen Kunst und ihrer besonderen, unvergleichlichen Schönheit zu bemächtigen sucht, Probleme der historischen Erkenntnis von ganz anderer Art, als sie bis dahin gegeben gewesen waren. An die Stelle des naiven, von einer ungebrochenen Schaffensfreudigkeit getragenen Gefühls der direkten Nähe tritt das Bewußtsein der Ferne, der unüberbrückbaren zeitlichen Distanz, die die Gegenwart und ihre grenzenlose Nichtigkeit von jener Vergangenheit trennt, in der alle Quellen der Natur offen scheinen. Eine fremde Welt auch darin, daß der Boden, dem diese Kunst entstammt, ein anderer ist: ein anderes Land und ein anderes Volk, nach den natürlichen wie nach den besonderen historischen Bedingungen seiner Existenz von aller Gegenwart durchaus geschieden — das Ganze wie ein Eiland der Seligen in unendlicher Ferne auftauchend und von ihrem duftigen Schleier umspielt, unerreichbar, in seiner in sich vollendeten Schönheit nur dem geistigen Auge sichtbar und nur zugänglich um den Preis der Selbstentäußerung und des Verzichtes auf alle Scheinwerte 43

einer trügerischen Gegenwart. Allein ein inneres Wiedergeborenwerden, ein völliges Aufgehen in den Idealen jener, ach, so fernen Kunst läßt die Erneuerung des Geistes, aus dem sie hervorgegangen war, als möglich erscheinen; ihr Ganzes von einer inneren Einheit, aus der kein Stein fehlen darf. Mit einer bloßen Verbesserung der überkommenen Künstlergeschichte — wenn sie damals überhaupt möglich gewesen wäre — und mit der Schätzung einzelner Denkmäler war hier ebenso wenig getan wie mit einer rein antiquarischen, ebenso nur auf das Einzelne gehenden Scheinwissenschaft: nur der besitzt den Zauberstab, um die Vergangenheit zu neuem Leben zu erwecken, der sie von innen her zu verstehen, ihre Bedingungen und die eigentümliche Gesetzlichkeit ihres Werdens, das Geheimnis ihrer organischen Entstehung aufzulösen vermag. Zum ersten Mal steht so die Kunstgeschichtsschreibung vor wirklichen Problemen der historischen Erkenntnis: nicht mehr eines einfach erzählenden didaktisch-panegyrischen Berichtes von Künstlern und Kunstwerken, sondern der Erkenntnis der Kunst eines Volkes und einer Epoche als einer in sich gesetzlich zusammenhängenden Gesamtheit von Erscheinungen, die an die Existenz bestimmter, von außen her einwirkender Umstände und von innen her treibender Kräfte gleichmäßig gebunden sind. An die Stelle des alten Kennerurteils, das auf die Qualität des einzelnen Kunstwerks geht und an die Dinge den Maßstab der Gegenwart und des eigenen Geschmacks anlegt, tritt die Forderung einer vollständigen Umstellung des Bewußtseins und einer planmäßigen Analyse des „Stils" der Epoche, der Nation und, wenn auch f ü r Winckelmann nach der Natur des Stoffes und seiner Fragestellung noch zurücktretend, der Individualität und ihrer verschiedenen Entwicklungsphasen. Was nun auch im einzelnen fehlen und verzeichnet scheinen mag, so ist doch das Prinzip aller kunsthistorischen Forschung f ü r absehbare Zeiten damit unverrückbar festgestellt; wie die berühmten Worte in Winckelmanns Vorrede zu seiner Kunstgeschichte das Neue und Unerhörte seines Versuches bezeichnen: fast kein Skribent habe bisher in das Wesen und zu dem Innern der Kunst geführt, und eben dies, das Wesen der Kunst, sei der vornehmste Endzweck seiner Darstellung, in welchen die Geschichte der Künstler wenig Einfluß habe. Und weiter, über die Methode, mit deren Hülfe er seinen „Versuch eines Lehrgebäudes" durchführen wolle: die Beschreibung eines Kunstwerks solle die Ursache seiner Schönheit beweisen und das Besondere in dem Stil der Kunst angeben. Sofort aber zerlegt sich ihm das Problem nach den beiden, doch untrennbar verbundenen Seiten: einer Erklärung der „Ursachen", aus dem das Phänomen der betreffenden Kunst herzuleiten sei, und der Erkenntnis der dadurch bedingten Gesetzlichkeit ihres Verfahrens, 44

ihres „Stils". Indem so die allgemeinen Probleme einer historischen Erkenntnis in den Vordergrund treten, liegt darin zugleich, daß diese neue Kunstgeschichtsschreibuug an direktem Interesse für die Künstlerschaft selbst verliert. Sie hörte auf, die interne Angelegenheit eines Standes und der ihm unmittelbar zugewandten Kreise zu sein. Es handelt sich bei ihr um gelehrte Forschung, und ihre Fragestellungen und Ergebnisse gehen jeden Gebildeten an. Sie tritt aus einer rein äußerlichen Koordination in das engste Verhältnis zu den historischen Wissenschaften überhaupt, durch eine Verflechtung der Probleme, bei der zwar jeweilig dieses oder jenes in den Vordergrund des Interesses wird treten müssen, keins aber außerhalb des unlöslichen Zusammenhanges des historischen Gesamtprozesses wird behandelt und verstanden werden können. Das letzte ist ein neuer Begriff der Humanität und so denn, nach Abzug der idealistischen Tendenz Winckel manns: Erkenntnis des Menschen vermöge einer historischen Anschauung auch der Kunst der Vergangenheit. Man mag sich daran erinnern, daß gleichzeitig an die Stelle der alten, von den Künstlern selbst zum Zwecke einer besseren Fundamentierung ihrer Praxis geschaffenen Kunsttheorien der moderne Begriff einer allgemeinen, wissenschaftlichen Ästhetik tritt. Es lag in den Verhältnissen und findet seine Analogie auf andern Gebieten, daß die neue, für die weitere Entwicklung der Kunstgeschichtsschreibung grundlegenden Begriffe zunächst gewissermaßen am Phantom, an einem Traumbild der Wirklichkeit mehr noch als an dieser selbst entwickelt wurden. Jedermann weiß, wie gering und unsicher das Material war, auf das Winckelmann seine Darstellung der antiken Kunstgeschichte, und zwar an ihren wesentlichsten Punkten, zu gründen gezwungen war, und von jeher hat man die geniale Intuition bewundert, mit der er die Lücken zu schließen und Bilder nicht nur von höchster Schönheit, sondern auch von einer tiefen und bleibenden Wahrheit wie aus dem Nichts hervorzurufen wußte. Es stand ihm vor Augen, wie die Dinge gewesen sein müßten, noch ehe er sie gesehen hatte. Denn in der Tat ging doch die erste und letzte Absicht auch bei Winckelmann, ebenso wie bei jener älteren Kunstgeschichtsschreibung, nicht so sehr auf eine möglichst unbefangene Erkenntnis der Vergangenheit rein um ihrer selbst willen, sondern auf die Hervorbringung eines Idealgemäldes, das seinem Schöpfer eine unmittelbare Einwirkung auf die Gegenwart, auf ihre Kunst, auf das Leben selbst zu ermöglichen schien. Es handelt sich dabei zunächst um eine tiefere historische Begründung jener klassizistischen Bewegung, die längst da war und in deren Geschichte sein Auftreten nur eine neue Phase bedeutete. Die einfache Folge von Winckelmanns Schriften, seiner „Gedanken über die Nachahmung der 45

griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst" und der „Geschichte der Kunst des Altertums' '; macht dieses Verhältnis auch für das große historische Werk vollkommen deutlich. Mit einem eigentümlichen hohen Pathos und so, daß auch hier bereits mit raschen Zügen ein Bild der griechischen Welt als einer Einheit entworfen wird, bezeichnet jene programmatische Erstlingsschrift doch in der Hauptsache dieselben Ziele, denen eine mächtige Strömung der gleichzeitigen künstlerischen Entwicklung ohne dies bereits entgegeneilt. Neben Winckelmann steht Mengs, und man weiß, welchen kanonischen Wert jener den „Regeln des Herrn Mengs" beimaß, und wieviel der Gedankenaustausch mit dem Maler für ihn bedeutete. Aber über diese zeitliche Koinzidenz hinaus führt jene antikisierende Bewegung, die ja nach einer Seite hin den letzten Ausklang der Renaissance überhaupt darstellt, sowohl in der Kunst wie in der theoretischen Literatur bis weit ins 17. Jahrhundert zurück und somit auf die Wurzeln, durch die die Tat Winckelmanns mit der vorhergehenden Epoche zusammenhängt. Seine Kunstgeschichte schafft dieser Bewegung ihr Geschichtsbild und gibt ihr damit zugleich eine unendlich vertiefte Bedeutung weit über den wirklichen Wert der künstlerischen Leistungen hinaus, die sie noch hervorzubringen vermochte. Denn nun endlich geschieht es, daß jene klassizistische Richtung, die bisher doch nur eine Abzweigung der alles in allem einheitlich und ununterbrochen fortwirkenden Tradition bedeutet und deren Erörterungen sich auf dem gewohnten Boden der Künstlerdebatte gehalten hatten, sich mit der allgemeinen Sehnsucht der Zeit trifft und in sie einmündet. In der Verbindung mit den allgemeinen, auf die Umgestaltung des Lebens in seiner Gesamtheit gerichteten Ideen erhält das Programm des Klassizismus seinen neuen Sinn und sein neues Pathos, die vertiefte Begründung seiner Forderungen und die prinzipielle Bedeutung für alle Gebildeten — wodurch bei aller zeitlichen Beschränktheit seiner Geltung doch auch ein neuer Begriff der Kunst in ihrem Verhältnis zum Leben überhaupt geschaffen wird. Wie vieles auch abstrakt und sentimental, verkünstelt und verzopft erscheinen mag, so ist doch ein Verhältnis des Menschen zur Kunst gewonnen, das unverlierbar ist, weil es stärker und tiefer und wahrer ist, als es je vorher verstanden worden war, so daß es auch an den scheinbar entgegengesetztesten Strömungen der modernen Kunst, eines Millet oder Monet oder Cézanne, nicht nur stand hält, sondern sich in ihnen nur um so klarer herauszustellen und tiefer zu bewähren scheint. Der literarische, künstlich poetisierende Inhalt, in dem das 18. Jahrhundert das neue Erlebnis einer allgemeinmenschlichen Bedeutung des künstlerischen Eindrucks einzuschnüren ge46

zwungen gewesen war, fällt fort. Daß aber das Kunstwerk, indem die ihm zugrunde liegende Sinnlichkeit der Anschauung uns in ihren Bann zwingt und die gestaltende K r a f t des Malers uns neue, ungeahnte Seiten der sichtbaren Welt erschließt, uns zugleich Lebensgefühle allgemeinster Art mitteilt und uns in ein bestimmtes Verhältnis zur Welt, das Wort im weitesten Sinne genommen, stellt — daß uns so ein Allgemein-Menschliches, eine Art nicht bloß des künstlerischen Sehens, sondern eine Weltanschauung schlechthin faßbar wird — daß damit Begriffe in die Wertrechnung eingestellt werden wie Echtheit, Ursprünglichkeit, Gesundheit des Empfindens: ist der letzte Sinn jener großen Umwälzung des 18. Jahrhunderts, der uns um so klarer hervorzutreten scheint, je mehr wir, zeitlich und der besonderen Art des künstlerischen Ausdrucks nach, uns von ihr entfernen. Es ist, über das klassizistische Programm hinaus, dieses neue Ideal einer innigen, beide Teile befruchtenden Verbindung von Kunst und Leben, dem Winckelmann in seiner „Geschichte der Kunst des Altertums' 1 ' einen ersten klaren Ausdruck zu geben bemüht ist. Es ist unmöglich und unnötig, des Näheren auf die Ideenwelt des 18. Jahrhunderts, die im Zusammenhange der Aufklärung entstanden war, und in die auch die Tat Winckelmanns eingestellt werden muß, einzugehen. Es ist jene tiefe Sehnsucht nach einer Erneuerung aller Zustände von Grund auf, nach Einfachheit und Stille, nach Reinheit und wahrer menschlicher Größe, nach Freiheit, nach der Natur. Die sentimentalsten Seiten dieser Bewegung, bis zu der Begeisterung f ü r die ungebrochene Kraft und Schönheit der Naturvölker, klingen in Winckelmanns Betrachtungen ebenso wieder, wie der Haß gegen den Despotismus und die Forderung einer demokratischen Staatsverfassung. Sein nächster Geistesverwandter ist, wie man oft und mit Recht gesagt hat, Rousseau. Die Kunst der Gegenwart ist krank und dem Tode geweiht, weil sie der Ausdruck ungesunder Lebensverhältnisse ist, und ihre Erneuerung ist nicht möglich ohne eine Erneuerung des öffentlichen Lebens — durch Haß und Sehnsucht wird die Fähigkeit geweckt, in dem künstlerischen Eindruck diejenigen Töne aufzufassen, die das Echo der hinter ihm stehenden Zustände des politischen und gesellschaftlichen Lebens und der damit verbundenen Art, zu fühlen und zu denken, sind. Es ist eine innere Erfahrung von grundlegender und bleibender Bedeutung, daß es unmöglich sei, jene durch die Phantasie aufs höchste gesteigerte Vorstellung der Reinheit und Idealität der griechischen Kunst in einer Umgebung entstanden oder in eine solche übertragen zu denken, in der der Geist des ancien régime, mit seinen verkünstelten Lebensformen und seiner Immoralität, herrsche — man kann die neue Kunst nicht wollen ohne den neuen Staat 47

Es sind neue Organe auch des historischen Verstehens, die durch diese Fähigkeit eines Zusammendenkens von Kunst und Leben geschaffen werden. Das erste und letzte ist dabei, daß man die ethische Bedeutung der neuen Humanität und der ihr entsprechenden Kunst, gegenüber der „frechen" Art eines Bernini, empfindet: jenen Ausdruck der „großen und gesetzten Seele" oder, mit den tausendfach wiederholten Worten, der „edlen Einfalt und stillen Größe". Man mag nun die Gefahren, die auch f ü r die Kunstgeschichtsschreibung, wie f ü r die Kunst selbst, dadurch entstehen, daß ethische Werturteile die ästhetischen Gesichtspunkte bei der Beurteilung der Kunstwerke zurückzudrängen scheinen, noch so ernst nehmen und wird doch nicht übersehen können, daß auch hierin ein wirklich bestehender Zusammenhang zum ersten Mal in den Gesichtskreis des Bewußtseins gerückt und der psychologischen Analyse einer späteren, ruhigeren Forschung überliefert ist. Unnötig zu sagen, wie auch hier die Dinge Winckelmann in dem Licht erschienen, das die eigne Sehnsucht ihnen gab. Wir denken bei den eben angeführten Worten an die Kunst des Phidias — Winckelmann bezog sie auf eine der glänzendsten Leistungen des hellenistischen Barock, wie ja auch sonst die von ihm aufs höchste bewunderten Werke jener späten Zeit angehören, deren seelische Verfassung wir, auch nach dem Eindruck der ihr angehörenden künstlerischen Schöpfungen, gewiß nicht in jener Art würden charakterisieren wollen. Man wird bei dieser Umbildung aller f ü r die künstlerische und die kunsthistorische Anschauung entscheidenden Begriffe das persönliche Moment nicht vergessen: die Erscheinung des armen Schustersohnes aus Stendal, wie er unter unsäglichen Entbehrungen und tiefen inneren Kämpfen sich den Weg zu jener Welt einer reinen Schönheit bahnt, die ihm nicht eine Begleitung des Lebens, sondern das Leben selbst ist. Sehnsuchtsvoll-kontemplative Stimmungen, mit denen er an die griechische Kunst herantritt, ein Bedürfnis, das Immaterielle und Geistige, die Atmosphäre des Lebens, die diese Kunst umschwebt, in sich aufzunehmen, um in ihr atmen und weiterleben zu können. Seine Empfindung ist auf jenen schwärmerisch edlen, liebenden Ton gestimmt, der der deutschen Bildung der folgenden Jahrzehnte und ihrem Verhältnis zur Antike ihr besonderes Gepräge gibt — daß man dieser Kunst nachsieht, „so weit das Auge geht" — „so wie eine Liebste an dem Ufer des Meeres ihren abfahrenden Liebhaber, ohne Hoffnung ihn wiederzusehen, mit betränten Augen verfolgt und selbst in dem entfernten Segel das Bild des Geliebten zu sehen glaubt." Wie anders hatte doch die Stimmung sein müssen, mit der der Schüler des Michelangelo [nämlich Vasari, s. auch S. 49,55,57], der ausübende Künstler der 48

Vergangenheit gegenübertrat ! Über alles Persönliche hinaus jedoch : es ist die allgemeine Bewegung des 18. Jahrhunderts, in der die Laien kraft ihrer Bildung und unter Berufung auf die offensichtlichen Mängel und die allmähliche Verrottung des herrschenden Systems empordrängen und eine Reform der bestehenden Zustände von Grund auffordern, in der auch Winckelmann steht — jene große Bewegung des dritten Standes, der die Privilegierten, die in Staat und Kunst Regierenden vor Gericht fordert, weil die von ihnen geübte frivole Souveränität des Könnens und Genießens das öffentliche Leben zu depravieren und allen Begriffen einer wahren Größe und Menschlichkeit Hohn zu sprechen scheint. Und so erhält nun die Opposition, die, bereits längst vorher und auf allen Gebieten, in den Kreisen der Fachleute selbst begonnen hatte, einen revolutionären Charakter, und die Ideen, die auf den verschiedenen Lebensgebieten und in gleichem Sinne der eigentlich „barocken" Tendenz der allgemeinen Entwicklung entgegengestellt worden waren, strömen ineinander und wachsen zu einer Flut, die das ancien régime mit seiner gesamten Kultur vernichtet. So nun aber, in diesem historischen Prozeß von allgemeinster Bedeutung und aus der besonderen Lage der Reformer heraus, die sich dadurch von den Fachleuten unterscheidet, entsteht die durchgehende, f ü r das Zeitalter typische Art des kunstgeschichtlichen ebenso wie des politischen Denkens : diese radikale und oft so doktrinäre Art, auf das Ganze zu gehen, nicht so sehr auf einzelne Reformen, als auf den neuen Geist zu dringen, der das gesamte öffentliche und private Leben mit seinen Kräften erfüllen, reinigen und ihm neue Formen des Daseins verleihen soll. Es scheint möglich, den Zusammenhang, in dem Staat, Gesellschaft, Kultur und Kunst zueinander stehen, zu erkennen, weil man hofft, ihn in dem ersehnten Sinne neu schaffen zu können. Man findet den Begriff der organischen Einheit von Kunst und Leben und glaubt das in ihr wirkende gesetzliche Verhältnis der einzelnen K r ä f t e zueinander feststellen zu können, weil man dadurch die Handhaben zu seiner mechanischen Regulierung zu gewinnen glaubt. Wie weit ist nun der „ O r t " innerhalb des geistigen Lebens, an dem Winckelmanns Kunstgeschichte steht, von demjenigen geschieden, von dem aus Vasari seine Kreise gezogen hatte! Die Differenz in den hier und dort so gänzlich anders behandelten Formen der Kunstgeschichtsschreibung liegt in nichts Anderem als in dem Unterschied zwischen der ständisch-aristokratischen Gesellschaft der Renaissance und der von dem Humanitätsideal erfüllten bürgerlichen Welt des 18. Jahrhunderts. So weit nun auch die Bewegung auf allen Gebieten in der Folgezeit zurückebben mußte — ihre wesentlichsten Ergebnisse sind geblieben und beginnen allmählich, unter Verzicht auf die idealistischen Hypertrophien 4

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des 18. Jahrhunderts, in lebensfähigen Formen dauernden Bestand zu gewinnen. Wir haben versucht, die Kräfte und Stimmungen anzudeuten und in dem allgemeineren Zusammenhang des historischen Geschehens zu verstehen, die Winckelmann emportrugen. Die Größe seiner Leistung ist damit noch nicht bezeichnet. Sie liegt darin, wie subjektive Traumgebilde unter seinen Händen feste Form und objektive Konsistenz gewannen. Man braucht hier nichts zu verbergen oder zu beschönigen: weder die so oft eintretende Verflüchtigung der sinnlichen Anschauung in ein dichterisches Spiel mit allerlei Vorstellungen und Begriffen, noch das Willkürliche und Zwangvolle und im Einzelnen meist Unwahre in der Kombination der politischen und sontigen Zustände als der vermeintlichen „Ursachen" mit d'em künstlerischen Stil der Nationen und Epochen. Hier wie dort werden die Zusammenhänge, um die es sich handelt, in den allgemeinsten Formen mehr noch geahnt als erlebt, so daß die Einzelausführung vielfach rein gedanklich postuliert erscheint. Aber in allem waltet dieselbe reine Verbindung von schöpferischer Genialität und wissenschaftlicher Ehrlichkeit, von unverrückbarer Klarheit des intuitiv gefundenen Ideals einer wirklichen Verbindung und Erkenntnis der Tatsachen und unermüdlicher, stets suchender und bessernder Einzelarbeit, so daß sowohl für den Inhalt seiner Künstgeschichte des Altertums wie für den in ihr entwickelten Formbegriff einer wissenschaftlichen Kunstgeschichtsschreibung eine spätere, methodisch fortschreitende Forschung vielleicht nicht einen Stein auf dem andern lassen und dann doch nichts anderes getan haben wird als: die Umrisse schärfer und richtiger bestimmt und mit wärmerem Leben erfüllt zu haben, die Winckelmann gezogen hat. Und so geht nun Winckelmann von den „Ursachen der Verschiedenheit der Kunst unter den Völkern" aus und schreibt er seine Kapitel von den „Ursachen des Vorzugs der griechischen Kunst vor den andern Völkern" : der „Einfluß des Himmels", d. h. von Klima und Bodenbeschaffenheit, auf die körperliche Bildung und die „Denkungsart" des Volkes, die Einwirkungen ferner der Rasseneigentümlichkeiten, der Staatsverfassung und der gesellschaftlichen Zustände, insbesondere auch der „Achtung", d.h. der sozialen Stellung der Künstler, endlich die Bedeutung der "Anwendung", d. h. von Zweck und Wertschätzung des künstlerischen Schaffens — das und noch mehr soll in seinem Ineinandergreifen deutlich werden, damit die Kunst der einzelnen Nationen und zumal die griechische Kunst in dem Rahmen des wirklichen Lebens und von ihren natürlichen Existenzbedingungen her verstanden werden könne. Man weiß, daß Winckelmann mit dieser Art der Fragestellung sich auf das Vorbild Montesquieus berufen konnte, und 50

der innere Zusammenhang, der von vornherein die neue kunstgeschichtliche mit den historischen Wissenschaften überhaupt verbindet, wird dadurch vollkommen deutlich. Mehr jedoch: es ist bekannt, wie die Vorstellung der natürlichen Bedingtheit und Gesetzlichkeit auch des historischen Geschehens unter dem Einfluß der astronomisch-naturwissenschaftlichen Weltansicht des Zeitalters entwickelt wurde, und es ist somit der Umkreis des wissenschaftlichen Denkens im weitesten Sinne des Wortes, in den die Kunstgeschichtsschreibung durch Winckelmann eintritt. Die regulativen Prinzipien der Forschung — daß alle Bewegung und aller Zusammenhang auch innerhalb der historischen Welt aus der Wirksamkeit einfacher, klar bestimmbarer Agentien, gleichsam vermöge einer Rechnung, herzuleiten seien — scheinen dieselben in der kunstgeschichtlichen wie in aller Wissenschaft. Zugleich scheint es möglich, die historische und die naturwissenschaftliche Erkenntnis direkt ineinander übergreifen zu lassen, indem die Geschichtsdarstellung von den im engeren Sinne „natürlichen" (geographischen u. a.) Bedingungen ausgeht. Man mag daran erinnern, wie dieses Ideal seine großartigste Ausprägung in dem Versuch Herders erhalten hat, den gesamten geschichtlichen Verlauf im Zusammenhange einer das Weltall umspannenden Kosmologie zur Anschauung zu bringen. Doch ist seine Vorstellung von der Erde als der „großen Werkstätte zur Organisation der Menschheit", so viel weiter er auch den Rahmen f ü r seine "Philosophie der Geschichte" zu spannen sucht, im Grunde keine andere als die, auf der auch Winckelmanns „Versuch eines Lehrgebäudes" ruht. Man braucht nun nicht erst auf die positivistische Umbildung dieser Anschauungen in Taine's Geschichtskonstruktion hinzuweisen — die ganze neue Kunstgeschichtsschreibung, mit wenigen bewußten Ausnahmen, hat die einmal gewonnenen Gesichtspunkte anerkannt und immer wiederholt und wird sie, soweit sie nicht auf einen Teil ihrer Aufgaben zugunsten anderer freiwillig resigniert, immer wiederholen müssen. Mit Unterschieden freilich: mit dem prinzipiellen Verzicht auf die scheinbare Eleganz und Präzision der rechnerischen Auflösung historischer Probleme mit der weitgehendsten Skepsis gegen die eilfertige Umdeutung von neben und nach einander bestehenden Zuständen und Ereignissen in ein kausales Abhängigkeitsverhältnis, mit einermöglichst vollständigen Verdrängung der von nur scheinbar einfachen Elementen ausgehenden und aus ihnen den historischen Prozeß „aufbauenden" Geschichtskonstruktion durch erlebte Anschauung und psychologisch einleuchtende Analyse des Sachverhalts. Aber es bleibt, daß die Entwicklung des künstlerischen Geistes sich nicht im luftleeren Raum, sondern durch die Tätigkeit bestimmter Individuen unter ebenso bestimmten natürlichen und 4*

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politisch-kulturellen Verhältnissen vollzogen hat und immer vollziehen wird und sonach nur bei möglichst vollständiger Übersicht des ganzen Erscheinungskomplexes verstanden werden kann. Es wird unerläßlich sein, in einer klaren, erlebten Anschauung den Gesamtzustand des Bewußtseins, in dem das Kunstwerk entstanden ist und gewirkt hat, zu reproduzieren, um ihn dann, soweit möglich, auf seine äußeren und inneren »Ursachen« zurückzuführen. Man könnte, indem die Dinge so liegen, wohl sagen, daß die einzige Frage, die ernstlich aufzuwerfen sei, bei der modernen wie bei der Kunstgeschichtsschreibung der Renaissance, wenn auch in etwas anderem Sinne, allein auf die Form der Darstellung gehe: wie die literarische Ausbreitung der „Ursachen" der künstlerischen Entwicklung anzulegen und abzutönen sei, ohne daß die Einheit des Ganzen und die Möglichkeit für den Leser, das Ineinanderspielen der verschiedenen Fäden in einem Anschauungsakt zu übersehen, aufgehoben würde. Aber freilich, die Dinge sind unendlich komplizierter geworden, und der Spielraum, der der individuellen Wahl oder Willkür bleibt, ist ungleich weiter als je vorher. Aber auch da, wo, gleichviel aus welchen Gründen, die durch historische Arbeit gewonnene Anschauung der Epoche, um deren Kunst es sich handelt, unausgesprochen oder halb nur angedeutet bleibt, muß sie doch da sein und sich, für den ersten Blick vielleicht kaum merklich, doch mit einer überall wirksamen Energie in die Behandlung der kunsthistorischen Probleme einweben. Es ist nur eine scheinbare Paradoxie der Geschichte, daß mit Hilfe dieser Prämissen der Begriff der nationalen Kunst, der von der älteren, stark nationalistischen Kunstgeschichtsschreibung doch immer nur gestreift, niemals aber klar entwickelt worden war, von Winckelmann gefunden wurde, indem er die internationale Bedeutung der griechischen Kunst darzulegen unternahm. Man kommt auch hier auf die Antizipation eines Begriffes, den erst die folgende Zeit mit rechtem Leben zu erfüllen vermochte. Das Idealbild jener griechischen Welt, in der alles in einer so unvergleichlichen Vollendung erscheint, weil es von einem inneren Einklang aller Kräfte getragen wird, ist mehr noch sehnsüchtige Ahnung einer Zukunft als Anschauung der Vergangenheit. Der nationale Charakter, wie er durch die geographischen und ethnographischen, politischen und kulturellen Verhältnisse in den für seine Entwicklung entscheidenden Jahrhunderten geformt ist, prägt auch dem künstlerischen Schaffen seine Züge so unverlöschbar ein, daß sie bis in die spätesten Zeiten des Verfalls der nationalen Kunstübung sichtbar bleiben. Indem so der Begriff der nationalen Kunst als einer trotz allen Abwandlungen und Abschwächungen konstanten Größe gewonnen wird, treten die für die antike Kunst führenden Mächte einander als geschlossene Ein52

heiten von starker Gegensätzlichkeit der Bildung gegenüber. Es liegt in der allgemeinen Tendenz Winckelmanns, daß bei dieser ersten Schilderung eines Systems der für die Kunstgeschichte bedeutsamen nationalen Mächte nur von ihrem Neben- und Nacheinander, nicht aber von ihrer gegenseitigen Einwirkung die Rede ist. Der Begriff einer allgemeinen Kunstgeschichte des antiken Kulturkreises wird nicht entwickelt und kann nach Lage der Dinge nicht entwickelt werden. Denn schließlich dient doch alles nur der griechischen Kunst, die den „Vorzug vor allen andern Völkern" verdient, zur Folie. In dem Bilde, das Winckelmann von ihr entwirft, sammelt sich alles Licht: die idealische Schönheit der Natur und der Menschen und die ebenso vollkommene Höhe der politischen und gesellschaftlichen Zustände und aus solchen Bedingungen hervorgehend, eine klassische, ewige schöne Kunst — man mag das Utopische und Unhistorische dieser glänzenden Schilderung noch so stark betonen und wird doch nicht nur den hinreißenden Schwung, sondern auch den tiefen Wahrheitsgehalt dieser hymnischen Dichtung bewundernd anerkennen müssen. Wie eine apollinische Erscheinung tritt die griechische Nation und ihre Kunst aus dem Kreise der Andern hervor. „Die Freiheit aber ist die vornehmste Ursache des Vorzugs dieser Kunst" — es ist damit vielleicht der Kern bezeichnet, um den die Gedankenwelt Winckelmanns sich zusammenschließt, und jene Worte enthalten, so primitiv und direkt falsch die Erklärung wird, sobald sie ins Einzelne geht, doch auch eine kunsthistorische Erkenntnis von bleibender Wahrheit. Endlich dann Rom: „ich glaube berechtigt zu sein, den Begriff eines römischen Stils in der Kunst, insoweit unsere jetzigen Kenntnisse gehen, für eine Einbildung zu halten." Es ist das Verdienst, das Winckelmann selbst am höchsten stellte: daß es ihm gelang, für die teils gefühlte, teils nur begrifflich postulierte Einheit und Gesetzlichkeit des künstlerischen Verhaltens der antiken Nationen, wie die ursächliche Erklärung, so auch die wissenschaftliche Formel zu finden, durch die es möglich wurde, das Faktum selbst in einer bestimmten Weise zn erfassen und möglichst exakt, nach seinen äußeren Merkmalen, zu beschreiben und aufzulösen. Gewiß, daß nun auch Winckelmanns „Entdeckung" des Stilbegriffs — denn um diesen handelt es sich — der modernen Kunstgeschichtsschreibung nicht bereits fertige Methode, sondern neue Aufgaben, vielleicht die wichtigsten und schwierigsten, die sie überhaupt zu lösen hat, überantwortete. Es bedeutet für die Einschränkung, an die der Begriff bei Winckelmann gebunden ist, gewiß nicht gar so viel, daß er, wie ja kaum anders möglich, darauf verzichtete, von dem Stil der einzelnen Künstler genauer zu sprechen: der Stil der verschiedenen Nationen und 53

weiterhin der einzelnen Perioden ihrer Entwicklung, mit besonderer Berücksichtigung der griechischen Kunst — darauf liegt der Nachdruck. Wesentlicher ist bereits die ebenfalls von vornherein gegebene Beschränkung auf plastische Werke und endlich vor allem: daß die Stilcharakteristik doch eigentlich nur auf die Behandlung der Linie (und die Modellierung der Form) oder, um Winckelmanns Worte zu gebrauchen, auf die „Zeichnung des Nackenden und die Bekleidung der Figuren" Rücksicht nimmt. Es handelt sich darum, den Grad der „Schönheit", und das heißt nun eben: der Schönheit und Flüssigkeit der Zeichnung, f ü r die Kunst der einzelnen Nationen und Epochen genauer zu bestimmen. Zu dieser gewollten Einschränkung kommt dann ein fast unterschiedsloses und verwirrendes Ineinanderspielen von stilistischer Analyse und antiquarischer Beschreibung. Aber so unvollständig und unklar nun die Ausführung im Einzelnen auch nach dieser Seite hin bleibt, so ist doch klar, in welcher Richtung sich der weitere Ausbau des von Winckelmann gefundenen Begriffes zu vollziehen hat. Es wird stets nur durch einen Prozeß der Abstraktion gegenüber dem naiven künstlerischen Eindruck möglich sein, den Begriff des Stils als der irgendwie bestimmten Gesetzlichkeit der Bildung des Kunstwerks zu finden. Aber ebenso gewiß kann es sich nie um tote Begriffe handeln, um die bloße Feststellung äußerer, immer wiederkehrender Merkmale oder, nach einer komplizierten und inhaltreicheren Formel, um die Erkenntnis einer gewissen stetigen Relation zwischen den einzelnen Teilen und Seiten der künstlerischen Erscheinung (nach Raum, Form, Farbe, Licht* usw.). Vielmehr wird das Ziel aller Stilgeschichte doch stets sein: eine genetische Erklärung des fertigen Kunstwerks zu vermitteln, die lebendigen Antriebe des künstlerischen Schaffensprozesses auf eine psychologisch zwingende Weise an den durch ihn hervorgerufenen Formen deutlich zu machen. Der „hohe", der „schöne,, Stil — das alles sind f ü r Winckelmann, und nicht anders f ü r uns, Manifestationen des griechischen Geistes und der ihm eigentümlichen Humanität; so daß der Stilbegriff nur die Krönung des Baues darstellt, dessen Grundlegung in den Kapiteln von den „Ursachen" der griechischen Kunst gegeben ist. Es wird Winckelmann recht zu geben sein, daß der Begriff des Stils das höchste darstellt, was seine Kunstgeschichte ihm und uns gegeben h a t : die Möglichkeit, letzte Gründe und feinste Unterschiede des seelischen Lebens an den durch sie bewirkten Formen zu einer wissenschaftlichen Anschauung zu bringen. Man kommt hier über die Grenzen der Kunstgeschichtsschreibung weit hinaus: es wird möglich sein, den Begriff des „Stils" auf alle Hervorbringungen des geistigen Lebens anzuwenden, und es wird somit, indem die von Winckelmann angewandte Fragestellung ver54

allgemeinert und die Methode der Untersuchung entsprechend verfeinert werden, von hier aus an eine allgemeine Geistesgeschichte zu denken sein, die imstande ist, die Abwandlungen des seelischen Lebens von Generation zu Generation und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zu verfolgen und die besondere Gesetzlichkeit jenes organisatorischen Vermögens, das die Eindrücke der Außenwelt mit irgendwelchen Mitteln zu geistig bedeutsamen Gebilden gestaltet, in dem Zusammenhang der natürlichen Ursachen und des großen historischen Geschehens auf eine wissenschaftliche Weise verständlich zu machen. „Der höchste Endzweck aber und der Mittelpunkt der gesamten Entwicklung der griechischen Kunst ist die Schönheit,, — es ist mit diesen Worten Winckelmanns bereits gesagt, wie sich ihm der Aufbau der einzelnen Stilepochen der griechischen Kunstgeschichte (und nur bei dieser kommt er zu dem Versuch einer ausführlichen Entwicklungsgeschichte) darstellen mußte. Ursprung und allmähliches Wachstum, Höhe und langsamer Verfall sind die Kategorien, nach denen ihm der historische Ablauf verständlich wird. Es sind scheinbar dieselben Begriffe, wie auch Vasari sie anwendet, aber während dieser sie auf das darstellerische Können bezieht, das infolge der Zerstörung aller Kultur durch den Einfall der „Barbaren" vernichtet wird und dann nun, in der in die Gegenwart selbst einmündenden Bewegung, sich wiederum zu glänzender Höhe erhebt, will Winckelmann damit den naturgesetzlichen Verlauf des Lebens der Nation als einer Einheit bezeichnen, und es ist vielleicht das Bezeichnendste bei der von ihm aufgestellten Stufenfolge von Jugend, Reife und Alter des griechischen Volkes und seiner Kunst, daß er diesen letzteren Begriff, des Alterns und allmählichen Versagens der künstlerischen Kraft, aus der Stimmung der Zeit heraus zu entwickeln vermochte. Es wird nicht nötig sein, die oft hervorgehobenen Schwächen dieser wie jeder Konstruktion nochmals zu betonen und auf die Ergänzung und Korrektur des von Winckelmann entworfenen Bildes hinzuweisen, die sich aus der Anwendung weltgeschichtlicher Gesichtspunkte von selbst ergibt. Wichtiger ist auch hier, sich das positive Moment gegenwärtig zu halten: daß zum ersten Mal der ganze Stoff in einer großen und klaren Epochengliederung bewältigt ist — daß dabei erreicht ist, den künstlerischen Inhalt der einzelnen Epochen, ihre geistige Richtung und besondre Farbe, sowie die ihr zur Verfügung stehenden Darstellungsformen mit wenigen einfachen Zügen zu umschreiben — daß endlich in der Folge der künstlerischen Stile, bei aller untrennbaren Verbindung mit den tausend Zufälligkeiten der Gesamtgeschichte der Nation eine klar erkennbare psychologisch verständliche Kontinuität der künstlerischen Probleme und Darstellungsformen zum Ausdruck kommt. 55

Es ist bekannt, wie eng Winckelmann mit der Geschichte der klassischen deutschen Dichtung der folgenden Jahrzehnte verbunden ist und wie tief Goethe diesen Zusammenhang empfunden hat. Es handelt sich hier um mehr als um das von Winckelmann geschaffene Idealbild der Antike oder um die Schönheit der literarischen Form in seinen Schriften — eine tiefere Gemeinsamkeit liegt in dem Verhalten des Schriftstellers zum Stoff der Darstellung, in seinem Bemühen, ihn zu durchdringen und zu durchgeistigen. Was Winckelmann selbst damit ausdrückte, daß er von dem „Versuch eines Lehrgebäudes" sprach, als den er sein Geschichtswerk angelegt habe — wie er denn auch die Absicht gehabt hatte, „ein Gespräch über die Schönheit, nach Art desPhädrus des Plato", in den „Theoretischen" Teil einzufügen. Es ist die Absicht, Geschichte zu d e n k e n , sie statt in der bloßen Form eines erzählenden Berichtes denkend zu verstehen. Und so entsteht eine innere Spannung des Geistes, eine Höhe des intuitiven Vermögens, aber auch jene gegen die natürliche Anschauung gewandte abstrakte Innerlichkeit und jener idealistische Zug, der die deutsche Dichtung seit Herder als ihr kongenial entsprechen mußte. Die Gewalt des sprachlichen Ausdrucks, die man von jeher an Winckelmann Schriften bewundert hat, ist doch nichts anderes als die Folge jenes erhöhten Mitlebens mit den Dingen der Vergangenheit, jenes enthusiastischen Schauens, dessen Ziel auch in der historischen Forschung kein andres ist, als: durch die historische Anschauung einzugehen in einen reineren Begriff der Menschlichkeit, der Humanität. Man wird nun zunächst finden, daß sein Werk durch die Verbindung kunsthistorischer und antiquarischer Abschnitte und ästhetisch-philosophischer Diskurse zum mindesten an künstlerischer Einheit nicht gewonnen hat, und allein schon die Bezeichnung der historischen Darstellung als eines „Lehrgebäudes" scheint ein Unding. Und doch wird der Unterschied aller modernen gegenüber der älteren Kunstgeschichte eben darin liegen, daß sie ein „Lehrgebäude" gibt, wo jene bloße Kollektaneen gegeben hatte: nicht nur im Sinne einer planmäßigen und wirklich durchgreifenden Disposition der Darstellung, sondern vor allem darin, daß ohne volle innere Aneignung des Stoffes und, um die soeben gebrauchten Worte zu wiederholen, ohne die einzelnen Erscheinungen denkend, d. h. durch eine möglichst vollständige Rekonstruktion des Sachverhältnisses vermittels einer klaren psychologischen Analyse verstanden zu haben, Kunstgeschichte nicht geschrieben werden kann. Wie weit war nun mit einem Schlage die Geschichtschreibung der antiken über diejenige der neueren Kunst hinausgekommen! Wie wenig fürs erste die Schriftsteller auf diesem Gebiet den wahren Sinn und die methodische Bedeutung von Winckelmanns Vorgehen verstanden, zeigt 56

vielleicht nichts deutlicher, als daß Lanzi f ü r seine Einteilung der Geschichte der italienischen Malerei nach Schulen sich auf das Beispiel Winckelmanns glaubte berufen zu können. Es lag in der Natur der Sache, daß Winckelmann selbst sich weniger des Gegensatzes zu der Künstlergeschichte Vasaris und seiner Nachfolger (die er doch auch abwies) als vielmehr desjenigen zu einer rein antiquarischen Scheingelehrsamkeit bewußt wurde. Ihr stellte er die Forderungen entgegen, die ihm die wichtigsten erschienen: einer Autopsie der Denkmäler und daß der Skribent sie mit den Augen eines weisen Künstlers zu betrachten imstande sei — beides Forderungen, die in der gleichzeitigen Geschichtschreibung der neueren Kunst bereits erfüllt scheinen konnten. Aber indem er die eine Wissenschaft den Prinzipien der andren anzunähern schien, ging er über beide hinaus, und es war zu erwarten, daß früher oder später der Moment kommen würde, wo die von ihm angewandte neue Art eines kunsthistorischen Denkens sich auch des Gebietes der neueren Kunstgeschichte bemächtigte. Es geschah doch erst und kam dann freilich sofort zu einer bedeutenden Weiterbildung der Begriffe, nachdem die Welt des 18. Jahrhunderts versunken und ein neuer Zustand des öffentlichen Lebens eingetreten war.

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BEITRAGE ZUR

GESTALT WINCKELMAN MS von Walther Rehm • Ernst Heid rieh + Arthur Schulz

ARTHUR

SCHULZ

PLASTISCHE R U N D B I L D N I S S E WINCKELMANNS* Es ist nicht verwunderlich, wenn sich in Dresden die Erinnerung an Winckelmann länger als anderswo erhalten und man ihn hier öfters an öffentlichen Gebäuden im Bilde festgehalten hat. Das in der prächtigen Residenz Augusts des Starken verbrachte Jahr 1754/55 ist das f ü r Winckelmanns Leben entscheidendste Jahr gewesen, in dem er sich seiner künftigen Bestimmung endgültig bewußt wurde, und in dem, wenn auch durch das Opfer seines Glaubenswechsels erkauft, sich die Pforte nach Italien öffnete, das, wie f ü r so viele Deutsche, auch s e i n Schicksalsland werden sollte. Nicht weniger als dreimal ist das Bildnis des großen Mannes, der nicht die Altmark, in der er geboren wurde, sondern Sachsen gern seine Heimat nannte, an oder in bedeutenden Bauten Dresdens angebracht worden. Das farbig glasierte Majolika-Medaillon Winckelmanns von Rudolf Hans Hartmann — Mac Lean, das um 1893 entstanden sein dürfte und das sich früher im Treppenhause des Albertinums befand, später den Prell'schen Wandmalereien weichen mußte und wie sein Gegenstück, das Medaillon des A. R. Mengs, den Sammlungen des Albertinums einverleibt wurde, war bei einem Besuche Dresdens nicht mehr aufzufinden (Abb. 1 Anm. 1). Dafür haben sich zwei andere Rundbildnisse des großen Gelehrten inmitten starker Zerstörungen an den Gebäuden erhalten. Im Japanischen Palais, das z. Zt. noch arg zerstört, aber im Wiederaufbau begriffen ist, in der Mitte der Aufgangstreppe zur ehemals dort untergebrachten Landesbibliothek an dem Podest, wo der Treppenlauf sich symmetrisch teilt, war noch vor kurzem, über Augenhöhe, eine große Tafel * Der vorliegende Aufsatz ergänzt mein Buch über „Die Bildnisse Johann Joachim Winckelmanns." (Jahresgabe 1950/1 der Winckelmann-Gesellschaft Stendal, Akademie Verlag Berlin 1953). Einige dort bereits gebrachte Reliefs werden hier, um der Vollständigkeit der Abhandlung willen, wiederholt. Der Buchstabe B bezieht sich jeweils auf dieses Buch, die Zahl dahinter auf die Seite, auf der das Kunstwerk darin gewürdigt wird.

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D i , .1 a h r e s g a b e 1958 d e r Winckel mann • Gesellschaft Stendal bringt drei Beiträge zum Bilde des Begründers der archäologischen Wissenschaft. 1 »er als bester K e n n e r Winckel. m a n n s und s e i n e r z e i t b e k a n n t « Freiburger Literarhistoriker W a l t h e r R e h m entwickelt aus den etwa 1000 e r h a l t e n e n Briefen des Gelehrten, die er in G e m e i n s c h a f t m i t d e m Münchener Archäologen Hans Diepolder in vier Bänden 1952 bis 1957 herausgegeben h a t , ein Selbstbildnis d e r v i e l u m s t r i t tenen Persönlichkeit. Die hier wiedergegebene Kinleitung der großen Briefausgabe, die Walt h e r Rehm f ü r die J a h r e s g a b e neu ü b e r a r b e i t e t h a t , zeigt die zwiespältige Seele Winckel m a n n s in meisterhafte]- feingeschliffener S p r a c h e . Ferner ist ein A u f s a t z des K u n s t h i s t o rikers Ernst Heidrich über Winckel m a n n wiedergegeben, in dem er sich auch mit den letzten Zielen der Kunstgeschichte historisch auseinandersetzt und die K u n s t aus der G e s a m t h e i t des L e b e n s zu verstehen s u c h t . Die Winckel m a n n - l k o n o g r a p h i e , die der Vorsitzende d e r W i n c k e l m a n n Gesellschaft S t e n d a l , A r t h u r Schulz, in u n s e r e m Verlag 1953 erscheinen ließ (Die Bildnisse J . •!. W i n e k e l m a n n s ) f i n d e t im letzten A u f s a t z ihren Abschluß. Kr bringt die plastischen Rundbildnisse Winekelm a n n s , die bis in die j ü n g s t e Gegenwart hineinreichen. Der Verfasser hat sich seit etwa 10 J a h r e n mit dem Stoff b e f a ß t , so d a ß seine i k o n o g r a p h i s e h e n Studien und ihre Ergebnisse auf Vollständigkeit A n s p r u c h erheben d ü r f e n .

WINCK ELM A N N - G E S E L L S C H A F T STENDAL

Jahresgabe 1954/55 1956. 72 S e i t e n — 22 A b b i l d u n g e n gr. 8° — 8 , - - DM

Die Jahresgabe 1954/55 enthält die für die WinckelmannForschung notwendige Ergänzung der Winckelmann-Bibliographie für die Jahre 1942 bis 1955 von Dr. H. Ruppert, ferner zwei Beiträge von Dr. Steinmann und Dr. Zeller über die berühmten WinckelmannBüsten des Bildhauers Fr. W. Doell, die auf Brieffunden in Gotha und Zürich beruhen. Dr. Hanna Koch Johann Joachim Winckelmann Sprache und Kunstwerk Jahresgabe 1956/57 N a c h d r u c k 1957. 190 S e i t e n 8 Kunstdrucktafeln — gr.8° E n g l . B r o s c h . 15,50 DM

Die Abhandlung zeigt Winckelmann als den Schöpfer der modernen Kunstwissenschaft. Ein Hauptproblem ist dabei die Frage, in welcher Weise die Sprache Kunstwerke wiederzugeben vermag. Der Zweck der Untersuchung soll jedoch kein sprachgeschichtlicher sein, sondern sie bemüht sich, Winckelmanns Persönlichkeit und Werk von der Seite der Form zu erfassen. Bestellungen d u r c h eine Buchhandlung erbeten

AKADEMIE -VERLAG BERLIN

Abb. 1. R u d . H a n s H a r t m a n n - M a c L e a n . Majolika, farbig glasiert. E t w a 1893. E h e m . im Albertinum — Dresden. Verschollen.

dunkel schwarzgrün gefleckten Marmors in die Wand eingelassen, eingerahmt von einem Mäanderfries mit 10 großen Rosetten (Abb. 2; Anm. 2). Von Bronze ist auch die Schrift aufgesetzt: J . J . Winckelmann. Der Stern unter dem Namen ist symbolisch. Rings um das Medaillon zieht sich ein von vier gekreuzten Bändern umschlungener Lorbeerkranz. Das Bronzemedaillon ist von der Hand Gustav Broßmanns (Abb. 2; Anm. 2). Der im Profil nach links kräftig modellierte Relief köpf ist, wie der schlanke Hals, schmal und hoch gebaut. Die Haare fließen in weichen, langen und gewellten Strähnen, bedecken den obersten Teil der unter ihnen noch etwas ansteigenden Stirn und sind über dem wieder hoch und schmal geformten Ohr waagerecht nach vorn geholt. Auffallend kräftig ist die Unterstirn vorgebaut. Die Augen sind verhältnismäßig klein, die Nase ist merkwürdig lang und gerade und in vollem Widerspruch stehend zu den authentischen Bildnissen Winckelmanns. Unter den deutlich vortretenden Backenknochen bemerken wir die f ü r den Stendaler charakteristischen senkrechten Falten an der Wange. Doch keine Warze, auch kein Doppelkinn. Das Kinn selbst ist recht kräftig gebildet, eine wulstige Verdickung findet sich neben dem Mundwinkel. Die Widmungsinschrift am unteren Rande der Tafel bezeichnet das Relief als eine Stiftung der Dresdener Kunstgenossenschaft vom Jahre 1868. Die mit Maaßzahlen versehene Skizze des Originalentwufes von R. Steche (Abb. 3; Anm. 3), die sich früher im Besitze der Sächsischen Landesbibliothek befand, aber im letzten Kriege verloren ging, war im Rahmenwerk sehr zart in Tusche ausgezogen, in der Zeichnung des Kopfes und in der Beschriftung dagegen nur in Bleistift angelegt. Die Inschrift lautet: Dem Andenken J . J . Winckelmanns errichtet von der Kunstgenossenschaft zu Dresden MDCCCLXXI Als unterster Absatz folgt der Stern. I n der Jahreszahl ist der Schluß L X X I deutlich später eingesetzt als der Anfang MDCCC. Das J a h r der Einweihung ist nachträglich dem drei Jahre älteren Entwürfe eingefügt worden. Die Erinnerungstafel sollte an Winckelmanns hundertjährigem Todestage enthüllt werden, ist aber erst 1872 mit einer Pestrede von Hettner eingeweiht worden (s. Hettners kleine Schriften, S. 542). Der Umriß des Kopfes ist sehr sorgfältig und bestimmt in das Rund eingetragen, besonders sicher die auffallende Profillinie. Der ausführende Bildhauer Brossmann hat sich eng an Steches Entwurf gehalten in der vor59

tretenden Unterstirn, den kleinen Augen, der langen geraden, fast spitzen Nase, dem fest ausgeprägten Kinn und dem schmalen Ohr. Auch dieser Umstand, das Vertrauen des Bildhauers zu dieser Skizze, läßt vermuten, daß schon Steches Zeichnung sich an ein ganz bestimmtes f ü r ihn maßgebendes Vorbild hielt. Brossmann signierte seinen Bronzeguß mit 1868. Die einzige frühere Darstellung Winckelmanns, die mit hier so auffallenden Gesichtszügen übereingeht, ist die 1867 datierte Lithographie Schieferdeckers in Leipzig (Abb. 4; Anm. 4). Daß zwischen dem Dresdener Medaillon und diesem schon damals erschienenen, damals neuestem Winckelmann-Bild ein ursächlicher Zusammenhang besteht, ist außer Frage. Steche sowohl wie Brossmann können nur nach Schieferdecker gearbeitet haben oder nach einer uns noch unbekannten Plastik, die auch f ü r letzteren das Vorbild abgab, was nach dem Charakter seiner Lithographie durchaus möglich wäre. Gewiß hat Brossmann manches auch gemildert und ins Ideale verallgemeinert. Die Nase ist nicht mehr ganz so lang und spitz, und die schlicht, fast straff gestrichenen Haare sind gänzlich ins Weiche und Wellige umstilisiert. Die Anschwellung der Stirn über Brauen und Nasenwurzel, die etwas kleinen Augen, die Backenknochen, Wangenfalten, die Zeichnung von Mund und Kinn sind genau von Schieferdecker übernommen. Bleiben wir in Dresden. Schon deshalb, weil das flache Sandsteinmedaillon, das sich außen an der im letzten Kriege stark mitgenommenen Kunstakademie an der der Brühl'schen Terrasse zugekehrten Seite befindet, deutlich den Einfluß von Brossmann-Steches Werk aufweist. Das Rundbild, als Gegenstück zu dem Schinkels, wurde 1893 von Karl Martin Engelke, einem geborenen Tilsiter, der in Dresden bei Johann Schilling und in Wien seine Ausbildung erfuhr und auf den verschiedensten Gebieten der Plastik tätig war, geschaffen (Abb. 5; Anm. 5). Das Relief Engelkes ist dem Brossmanns so ähnlich, daß man beide in der Vorstellung leicht verwechselt: Derselbe hohe schmale Kopf, das leicht gewellte, wenn auch nicht so üppige Haar, das lange Ohr, die lange, ein wenig mehr nach auswärts gebogene Nase, die stark hervortretenden Backenknochen, die senkrecht herunterführenden Wangenfalten, das noch stärker als bei Brossmann vorspringende Kinn, alles verrät, daß Engelke sich nicht viel Mühe gemacht hat, sich mit den bekannten Bildnissen Winckelmanns, von denen er sich in Dresden leicht Abbildungen hätte beschaffen können, vertraut zu machen. Er zog es vor, sich an das etwa 25 Jahre vorher entstandene Relief Brossmanns anzulehnen. An seinem Platze, hinter den Säulen der tempelartigen Front hoch oben an der Eingangsseite angebracht, dürfte es, ebenso wie sein Gegenstück Schinkel, wenig Beachtung gefunden haben. 60

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