Jahre des Umbruchs: Friedliche Revolution in der DDR und Transition in Ostmitteleuropa 9783666369193, 9783525369197, 9783647369198

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Jahre des Umbruchs: Friedliche Revolution in der DDR und Transition in Ostmitteleuropa
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Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Günther Heydemann Band 43

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Jahre des Umbruchs Friedliche Revolution in der DDR und Transition in Ostmitteleuropa

Herausgegeben von Clemens Vollnhals

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Mit 7 Abbildungen, 1 Schaubild und 7 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36919-7 Umschlagabbildung Foto: Thomas Raupach, Hamburg © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: h Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Einleitung Clemens Vollnhals

I.

9

Die Revolution in der DDR: Der Ruf nach Freiheit und die Einheit Richard Schröder

19

Die realsozialistischen Autokratien am Ende ihrer Herrschaft

33

Von der Perestroika zur Implosion. Die Rolle der sowjetischen Transformation für den Umbruch in Ostmitteleuropa Helmut Altrichter

35

Polen: Erfolge und Misserfolge der ersten osteuropäischen Transformation 1989 Tytus Jaskułowski

47

Ungarns Weg von der fröhlichsten Baracke des Ostblocks zur neuen Wohnanlage der EU (1956 – 1989 – 2006) Máté Szabó

63

Die Transformation in der Tschechoslowakei. Anmerkungen zum Typus des nicht-demokratischen Regimes Jan Holzer

93

Die DDR-Diktatur am Vorabend ihres Untergangs Walter Süß

103

Die Friedliche Revolution: Strukturelle und ereignisgeschichtliche Bedingungen des Umbruchs 1989 in der DDR Detlef Pollack

119

Strukturwandel realsozialistischer Autokratien – Vom Totalitarismus zur Transition Uwe Backes

141

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6

II.

III.

Inhalt

Bemerkungen zum Kommunismus, Totalitarismus und Postkommunismus in der bundesdeutschen Politikwissenschaft Jerzy Maćków

159

Die Spezifik des Systemwechsels: Zur Rolle von Massen und Eliten

171

Polens Weg zum Wechsel 1980–1989: Der Wandel des Verhältnisses zwischen Elite und Massen Dieter Bingen

173

Eliten und Massen im Transitionsprozess in der ČSSR Stanislav Balík

189

Die spontane Macht der Gewaltlosen. Eine übersehene Erklärung für den Untergang der DDR Matthias Damm / Mark R. Thompson

203

Hauptakteure und wechselnde Akteurskonstellationen während der Friedlichen Revolution in der DDR. Ein Vier-Phasen-Modell Michael Richter

219

„1989“: Revolutionen oder koordinierte Transformationen? Verfassungsgebung und die Rolle von Massen und Eliten in den mittel- und osteuropäischen Systemwechseln Friedbert W. Rüb

243

Die Etablierung der Demokratie

265

Die scheinbar vorbildliche Etablierung der Demokratie in Polen Klaus Ziemer

267

Die wichtigsten Spezifika des politischen und rechtlichen Institutionensystems in Ungarn Sándor Pesti

289

Tschechien: Politischer Konsolidierungsprozess 1989–2009. Verlauf, Stand, Perspektiven Karel Vodička

299

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Inhalt

IV.

7

„Let’s go west“ – Selbstbestimmte Prozesse der Demokratisierung und der Wiedervereinigung Ehrhart Neubert

315

Die Runden Tische der Bezirke in der DDR 1989/90 – Instrumente der Demokratisierung in den Regionen? Francesca Weil

327

Die demokratische Konsolidierung der neuen Bundesländer Eckhard Jesse

345

Die kulturelle Prägung macht den Unterschied! Zur Regimeentwicklung postkommunistischer Staaten Steffen Kailitz

361

Anhang

393

Abkürzungsverzeichnis Personenverzeichnis Biogramme der Autoren

395 399 403

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Einleitung Als Michail S. Gorbatschow Mitte der 1980er Jahre seine Reformpolitik zur Modernisierung und Stärkung der Sowjetunion im Systemwettbewerb einleitete, ahnte er nicht, welche Eigendynamik „Glasnost“ und „Perestroika“ freisetzen sollten. Die Veränderungen in der Sowjetunion hatten gravierende Auswirkungen auf die kommunistischen Satellitenstaaten im scheinbar so festgefügten Ostblock. Auf die neuen Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume reagierten die kommunistischen Führungsspitzen in jedem Land Ostmitteleuropas jedoch sehr unterschiedlich. Das gilt für die Bevölkerung wie für oppositionelle Gruppen. Hatte das einheitliche kommunistische System nationale Unterschiede teilweise nivelliert, so zeigten schon die unterschiedlichen Formen seiner Über windung und Abschaffung in den einzelnen Staaten eine neue Vielfalt. Zugleich aber gab es Interdependenzen, die es geboten erscheinen lassen, die Entwicklungen in den einzelnen realsozialistischen Staaten nicht isoliert zu betrachten. Für die DDR etwa ist die Bedeutung der Transitionsprozesse in Polen oder Ungarn ebenso evident, wie die ostdeutschen Ereignisse im Herbst 1989 ihrerseits Auswirkungen auf die ČSSR hatten. Hat eine vergleichende Perspektive für die ostmittel- und südosteuropäischen Staaten in der Politikwissenschaft längst Raum gegriffen, so wird die DDR wegen ihres Sondercharakters im geteilten Deutschland bisher kaum in Vergleiche einbezogen. Daher ist bislang eher unzureichend untersucht worden, welche Gemeinsamkeiten es in den nationalen Entwicklungen gibt und in welchem Verhältnis diese zu augenfälligen Unterschieden stehen. Das Hannah - Arendt Instituts für Totalitarismusforschung e. V. an der Technischen Universität Dresden hat in Kooperation mit der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung im Mai 2009 mit einer internationalen Tagung den Versuch unternommen, im Gesamtkontext der Systemtransformation im sowjetischen Hegemoniebereich Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Entwicklungen in der DDR und in den Nachbarstaaten Polen, ČSSR und Ungarn herauszuarbeiten. Dafür wurden Experten aus den untersuchten Ländern gewonnen. Entstanden ist ein Band, indem sowohl die Entwicklungen in den einzelnen Staaten behandelt als auch in einer vergleichenden Perspektive beleuchtet werden. Wie der Titel bereits andeutet, liegt der Fokus der Untersuchung auf der Transition in der DDR, also auf den politischen Veränderungen während der Friedlichen Revolution. Daneben werden vergleichend die oben genannten „Bruderstaaten“ in den Blick genommen. In drei Hauptkapiteln geht es um den Zustand der realsozialistischen Autokratien am Ende ihrer Herrschaft, die Spezifik des

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Systemwechsels in den einzelnen Staaten unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Massen und Eliten, sowie schließlich um die Phase der Etablierung der Demokratie. Es liegt auf der Hand, dass in den Beiträgen wie auch im gesamten Band keine abschließenden Antworten gegeben werden können; wohl aber soll eine Diskussion angestoßen oder verstärkt werden, die gerade in ihrer vergleichenden Perspektive für die zeitgeschichtliche Forschung einen weiterführenden Erkenntnisgewinn verspricht. Das breite Spektrum der angeschnittenen Themen und der systematischen Zugriffe von Historikern und Politikwissenschaftlern verdeutlicht eindringlich die Forschungsrelevanz des untersuchten Themenfeldes. In der Tat bedarf die fundierte Untersuchung der einzelnen nationalstaatlichen Entwicklungen eines breiteren Interpretationsrahmens, wobei die vergleichende Perspektive auf den gesamten ostmitteleuropäischen Raum besonders fruchtbar ist und zu neuen Erkenntnissen führt. Hierzu einen Impuls zu geben, ist das Anliegen von Autoren wie Herausgebern. In einem einleitenden Essay ver weist Richard Schröder, 1990 als Mitglied der ersten freigewählten Volkskammer und Fraktionsvorsitzender der SPD selbst ein politischer Akteur, auf jenen Faktor, der die Herbstrevolution in der DDR grundlegend von der Situation in den anderen Staaten Ostmitteleuropas unterschied : Sie fand in einem geteilten Land statt; Staat und Nation waren nicht deckungsgleich. Diese Sondersituation eröffnete eine fundamentale politische Alternative : den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Schröder skizziert die historischen Ereignisse der Jahre 1989/90 und wirft einen Blick auf die Zeit der deutschen Zweistaatlichkeit. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte war demnach der Prozess, der aus der Friedlichen Revolution in die deutsche Einheit mündete, im Wesentlichen eine Angelegenheit beider deutscher Staaten, auch wenn es die alliierten Vorbehaltsrechte zu beachten galt. Ein besonderes Augenmerk gilt – neben dem finanziellen Bankrott der DDR – der Rolle der evangelischen Kirche, die zwar nur Reformen und keine Revolution anstrebte, aber dennoch erheblichen Anteil an der Entwicklung hatte. Im ersten Hauptabschnitt geht es um den inneren Zustand der realsozialistischen Autokratien am Ende ihrer Herrschaft. Zunächst gibt Helmut Altrichter einen Überblick über die Entwicklung der Sowjetunion von der Perestroika bis zum Zusammenbruch der UdSSR und erklärt, warum die sowjetische Führung um Gorbatschow weder in der Lage noch daran interessiert war, sich 1988/89 in die innenpolitischen Verhältnisse der verbündeten Ostblockstaaten einzumischen. So befand sich nicht nur die sowjetische Wirtschaft in einer tiefen Krise, im Kreml tobten Machtkämpfe und an den Rändern des Riesenreiches gab es nationale Aufstände gegen die sowjet - russische Fremdherrschaft. In dieser Situation besaß die Fortsetzung der internationalen Entspannungs- und Abrüstungspolitik oberste Priorität, denn ohne eine Senkung der gewaltigen Rüstungskosten war an eine ökonomische Erholung und innenpolitische Stabilisierung nicht zu denken.

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Einleitung

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In Polen, so Tytus Jaskułowski, gibt es bis heute zwischen den politischen Lagern eine heftige Auseinandersetzung über die damalige Bereitschaft der Opposition zu den Gesprächen am Runden Tisch und den zahlreichen Kompromissen im Transformationsprozess. Die Rede ist von einer „ausgehandelten“ oder gar „reglementierten“ Revolution, die von den Machthabern gesteuert worden sei. Gleichwohl war die herrschende Polnische Vereinigte Arbeiterpartei in der letzten Periode der kommunistischen Herrschaft nicht mit ihren Schwesterparteien in der DDR oder der ČSSR zu vergleichen. So unterstützte gut ein Drittel der Parteimitglieder die unabhängige Gewerkschaft Solidarność; ein ebenfalls erheblicher Teil bekannte sich zum Katholizismus. Das Profil der Antisystem Opposition, die keinesfalls durchweg eine Demokratisierung des Landes anstrebte, war ebenfalls unscharf konturiert, während sich die Bevölkerung, konfrontiert mit wirtschaftlichen Problemen, kaum für staatliche Belange interessierte. So gingen alle Seiten mit einer gewissen Kompromissbereitschaft in die Verhandlungen am Runden Tisch, die bereits im Februar 1989 begannen. Ein wesentliches Charakteristikum der polnischen Entwicklung ist ihre Vorreiterrolle. Hier setzten die Veränderungsprozesse zu einem Zeitpunkt ein, als sie in den Nachbarstaaten noch undenkbar schienen. In Ungarn hatte der „Gulaschkommunismus“ subkutan eine Aushöhlung des kommunistischen Herrschaftsapparates bewirkt, hier kam es frühzeitig zu Gesprächen am Runden Tisch. Innerhalb der Ungarischen Vereinigten Arbeiterpartei hatten schon bald Differenzierungsprozesse zwischen Hardlinern und Reformern eingesetzt, die Letztere für sich entscheiden konnten. Dadurch wurden Kompromisse mit den neu etablierten politischen Kräften möglich, die auf eine friedliche, mit Verfassungs- und Gesetzesänderungen verbundene Transformation des politischen Systems abzielten. Diese Etappe fand mit der Ausrufung der Republik Ungarn im Oktober 1989 und den ersten freien Wahlen im März 1990 ihren Abschluss. Unterstützt wurde dieser Trend auch durch die Tatsache, dass sich Ungarn frühzeitig für marktwirtschaftliche Strukturen öffnete und sich dem Westen zuwandte. Vor diesem Hintergrund zeichnet Máté Szabó ein genaueres Bild vom inneren Zustand der Opposition und der „Reformelite“ der UVAP, deren Handlungsweise zudem vom Bemühen geprägt war, es nicht zu einer gewaltsamen Entwicklung wie im Jahr 1956 kommen zu lassen. Das Herrschaftssystem in der ČSSR war am Vorabend der „Samtenen Revolution“ einerseits von einer Rekonsolidierung des kommunistischen Regimes nach dem „Prager Frühling“ 1968 und der „Säuberung“ des Apparates von revisionistischen Kräften geprägt, andererseits von einer „stillen Übereinkunft“ mit der Gesellschaft, die Privatsphäre der Menschen weitgehend zu respektieren. Aufgrund dieser Strukturen ist es sinnvoll, das Regime eher als post - totalitär zu bezeichnen. Von den Oppositionsgruppen, so Jan Holzer, gewann die politisch heterogene „Charta 77“ die größte Bedeutung, wenngleich sie ein Ghettodasein führte, keine klaren politischen Alternativen anbot und keine Erschütterung des Regimes bewirkte. Unter dem Einfluss der Reformpolitik Gorbatschows kam es innerhalb der Führung der kommunistischen Partei zu einer gewissen Fraktio-

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nierung, ohne dass sich jedoch ein starker Reformflügel wie in den 1960er Jahren bildete. Die desaströse Wirtschaftslage unterminierte die „stille Übereinkunft“, da selbst Grundnahrungsmittel knapp wurden. Zwar setzte nun auch die Opposition stärker auf einen Systemwechsel, ihr Einfluss blieb aber zunächst beschränkt. Als bedeutsamer erwies sich die breite Unzufriedenheit der Bevölkerung, die – insbesondere ausgelöst durch die Ereignisse in der DDR und die Fluchtwelle in die bundesdeutsche Botschaft in Prag – im November 1989 den Umbruch auslöste. Walter Süß beschreibt die Revolution in der DDR sowohl als Resultat verschiedener Zufälle als auch längerfristig wirkender struktureller Faktoren. Die dortige Lage war am Vorabend der Revolution gekennzeichnet vom Niedergang der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit angesichts der reformfeindlichen Haltung der SED - Führung, sowie der daraus resultierenden Probleme bei der Umsetzung sozialpolitischer Maßnahmen und in der Versorgung. Nicht zuletzt sorgte die gestiegene Anzahl von Westreisen im Zuge der innerdeutschen Entspannungspolitik für eine veränderte Wahrnehmung der desolaten Situation im eigenen Land, was sich auch an den sprunghaft vermehrten Anträgen auf Ausreise ablesen lässt. Hinzu kam die Verunsicherung der Führung durch die veränderte außen- und sicherheitspolitische Lage in Folge der sowjetischen Reformpolitik. Die Staatssicherheit war aufgrund internationaler Faktoren und der ökonomischen Abhängigkeit vom westlichen Ausland gezwungen, sich mit harten Repressionen gegenüber oppositionellen Kräften zurückzuhalten. Aufgrund der veränderten Machtverhältnisse konnte das Regime seinen Machtanspruch nur noch mit nachlassender Härte verteidigen, auch wenn es Anfang November 1989 noch einmal versuchte, mit repressiven Mitteln Herr der Lage zu werden. Schließlich führte die offen ausgebrochene, lange durch den offiziellen „Antifaschismus“ kompensierte Legitimitätskrise des Systems zum Umbruch, dem desillusionierte Anhänger des Systems nur noch wenig entgegenzusetzen hatten. In der DDR gab es, so Detlef Pollack, nach dem 17. Juni 1953 kaum noch nennenswerten Widerstand gegen das Regime. Als international anerkannter Staat, eingebunden in die Blockkonfrontation und mit einem effektiven Repressionsapparat ausgestattet, wirkte das Regime stabil. Daher kam der Umbruch im Herbst 1989 für viele Beobachter überraschend. Als Erklärung werden in der Forschung verschiedene Theorien herangezogen : so der modernisierungstheoretische Ansatz, die akteursorientierte Perspektive der Transitionsforschung, Rational Choice - Modelle oder Überlegungen der Bewegungsforschung. Eine Analyse der Bedingungsfaktoren des Umbruchs muss entsprechend multidimensional angelegt sein und hat einen retrospektiven Determinismus zu vermeiden. In den Blick zu nehmen sind, so Pollack, die strukturellen Bedingungen und die Formierung des Protests zum Massenphänomen vor dem Hintergrund des Versagens des Sicherheitsapparates. In vergleichender Perspektive bilanziert Uwe Backes die Befunde der Forschung zur Herrschaftsstruktur der Ostblockstaaten. Durch die Herausarbeitung der Elemente totalitär - autokratischer Kontinuitäten wie Diskontinuitäten

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Einleitung

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gelangt er zu einem differenzierten Bild der Herrschaftsrealität, die deren Spätphase kennzeichnete. Systematisch erfolgt zunächst eine Bestandsaufnahme der Strukturmerkmale der unter Stalin voll entfalteten totalitären Herrschaft. Anschließend stellt Backes dar, in welcher Weise sich die totalitären Merkmale abschwächten und welche Konsequenzen die von Land zu Land divergierende Detotalisierung für die Ausprägung des Herrschaftssystems hatte. Schließlich werden die Gründe für die Diversifizierung der realsozialistischen Autokratien untersucht sowie hemmende und begünstigende Elemente der Systemtransformation benannt. Ebenfalls aus politikwissenschaftlicher Sicht begründet Jerzy Maćków thesenartig, warum die autokratischen Regime vor dem Beginn der Transformationsprozesse als totalitär bezeichnet werden sollten. Er verbindet dies mit einer akzentuierten Kritik der bundesdeutschen Politikwissenschaft, die sich vor 1989 eher modernisierungs- oder sozialismustheoretischer Ansätze zur Beschreibung des sowjetischen Machtsystems bedient habe. Die frühere Charakterisierung des „real existierenden Sozialismus“ als ein autoritäres System, hindere ihre Vertreter heute daran, die jetzigen Machtverhältnisse im russischen Einflussbereich ebenfalls als „autoritär“ zu definieren. Ein zweiter Hauptabschnitt befasst sich mit der Spezifik des Systemwechsels und der Rolle von Massen und Eliten. Dieter Bingen ver weist darauf, dass in der Forschung vor allem die Rolle der Eliten bei Transformationsprozessen betont wird, während die Rolle der Massen am stärksten in der Frühphase von Systemwechseln ausgeprägt sei. Polen ist ein herausragendes Beispiel, was Umfang, Dauer und Durchsetzungsfähigkeit der Massenselbstmobilisierung betrifft. Vor dem Hintergrund einer ersten Liberalisierungsphase Anfang der 1980er Jahre, verbunden mit marktwirtschaftlichen Reformen, einigten sich 1988/89 Regimeeliten und Regimeopposition auf die Aushandlung einer kontrollierten qualitativen Veränderung. Grundlage war die Einsicht, dass keine Seite Möglichkeiten sah, ihre Interessen gewaltsam gegen die der anderen Seite durchzusetzen. Die Folge war ein ausgehandelter Systemwechsel par excellence. Dabei kennzeichnete es die Situation, dass Massen und Eliten aufeinander angewiesen waren. Für die wechselseitige Verbindung stehen das „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter“ ( KOR ) und die oppositionelle Gewerkschaft Solidarność. Die Entwicklung in Polen war geprägt durch eine überdurchschnittlich lange Phase der Massenmobilisierung, die maßgeblich zur Verhandlungsbereitschaft der Herrschenden beitrug. Nicht zu vernachlässigen ist in diesem Prozess auch die Rolle der katholischen Kirche als drittem Faktor zwischen Macht und Gegenmacht. Unter dem Einfluss der Entwicklung in den Nachbarstaaten setzte in der ČSSR als letztem ostmitteleuropäischen Land ein Transitionsprozess ein, den Stanislav Balík als die Entwicklung von einem post - totalitären zu einem demokratischen System beschreibt. Sowohl Massen als auch Eliten spielten eine wichtige Rolle. Eine Elitendifferenzierung innerhalb der kommunistischen Partei gab es hier nur ansatzweise in der obersten Parteiebene. Auslöser des Umbruchprozesses waren Studentenproteste im November 1989, die gewaltsam beendet

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wurden. Als Reaktion darauf entstand das „Bürgerforum“, das einen Dialog forderte. Die handlungsunfähige Parteiführung regierte mit einem harten, gewaltorientierten Kurs, erodierte zugleich aber weiter. In dieser Situation kam es zu einer Emanzipierung der staatlichen Institutionen von den Parteistrukturen und zur Organisierung eines Generalstreiks durch das Bürgerforum. Unter dem Druck der Straße wurde die führende Rolle der Partei aus der Verfassung gestrichen. Die Umwandlung erfolgte nun durch eine zunehmende Beteiligung der Opposition an der Regierung und durch Einrichtung eines Runden Tisches. Mit der Wahl von Václav Havel zum Staatspräsidenten endete die erste Phase des Übergangs zur Demokratie. Mark R. Thompson und Matthias Damm betonen die ihrer Meinung nach bislang unterschätzte Rolle der Gewaltlosigkeit und den spontanen, ungeplanten Charakter der Ereignisse in der DDR. Die Gewaltlosigkeit sei eine zwingende Notwendigkeit für das Gelingen der Revolution gewesen. In einer Gesellschaft wie der DDR, in der die Bildung einer organisierten Opposition kaum möglich war, bedarf die plötzliche Herausbildung einer Massenbewegung einer besonderen Erklärung. Verstehen lasse sich der Erfolg der Revolution vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozialen Lage im Herbst 1989 aus dem Zusammenspiel der Exit - Bewegung ( Fluchtwelle ) und der Voice - Strömung („Wir bleiben hier“), dem Unvermögen des Regimes, die Situation wegen der Spontanität der Ereignisse kontrollieren zu können, sowie durch die proklamierte und praktizierte Gewaltlosigkeit, die eine gewaltsame Zerschlagung der Demonstrationen durch das geschwächte Regime verhindert hat. Während vier verschiedener Phasen wechselten in der DDR, so Michael Richter, Rolle und Bedeutung verschiedener Hauptakteure sowie die Akteurskonstellationen. Vor der Revolution spielten internationale Akteure und die Bundesregierung eine wichtige Rolle. Bedeutsam waren auch die reformfeindliche Haltung des SED - Regimes, die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung, die Herausbildung einer Oppositionsbewegung und eine veränderte Haltung in den Kirchen. Im Herbst 1989 wurde das Volk zum dominanten Akteur des Geschehens, bevor es ab Winter 1989/90 zu einem Zweckbündnis von DDR Bevölkerung und Bundesregierung kam. Nach der Verhinderung des Versuchs der SED, Macht und Einfluss zu retten, spielten Demonstranten ab Februar 1990 keine wesentliche Rolle mehr. Die weitere Entwicklung zur deutschen Einheit war geprägt von Interaktionen verschiedener Gruppierungen nationaler wie internationaler Funktionseliten. Ursachen der mehrfach wechselnden Akteurskonstellationen waren Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten im Verhalten der Hauptakteure. Für Friedbert W. Rüb handelt es sich bei den Umbrüchen in den Staaten des „real existierenden Sozialismus“ nicht um Revolutionen. Denn im Unterschied zu früheren Revolutionen wollten die siegreichen oppositionellen Kräfte der Gesellschaft kein neues, revolutionäres Programm oktroyieren. Stattdessen boten sie allein demokratische Verfahren mit offenem Ausgang zur Gestaltung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung an. Zwar vollzogen alle Staaten

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Einleitung

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einen vollständigen Systemwechsel, doch dieser wurde nicht in einem revolutionären Verlauf erreicht, sondern war vielmehr das Ergebnis der Entscheidungen frei gewählter Parlamente und Regierungen. Während der Transitionsphase gab es keine Versuche, aus eigener Macht eine neue Verfassung zu installieren, vielmehr herrschte das dominierende Bestreben vor, den Boden des Verfassungsrechts nie zu verlassen. Es handelte sich somit um Grenzfälle der Verfassungstheorie und -praxis, die weder mit dem Begriff der „Reform“ noch der „Revolution“ angemessen zu bezeichnen sind. Rüb empfiehlt, von „koordinierten Transformationen“ zu sprechen, mit denen ein grundlegend neues Phänomen des Systemwechsels in die Geschichte eingeführt wurde. Im dritten Hauptabschnitt geht es um die Etablierung der Demokratie in den hier untersuchten Staaten Ostmitteleuropas. In Polen, das bei der Überwindung der staatssozialistischen Systeme nach sowjetischem Vorbild eine große, wenn nicht gar die führende Rolle spielte, weist die Demokratieentwicklung, so Klaus Ziemer, eine insgesamt positive Bilanz auf. Es kam zu einem „institutionellen Lernen“ der Institutionen, und die Verfassung bewährte sich. Verbesserungen gab es hinsichtlich der personellen Stabilität des politischen Führungspersonals. Die Wirtschaftspolitik blieb bei einem hohen Wachstum berechenbar. Zwar wies das politische System Defizite auf, die ab 1989 etablierte Ordnung stieß jedoch in der Gesellschaft auf eine breite, wenngleich diffuse Zustimmung. Grundlage dafür waren ein bescheidener, aber ständig wachsender Wohlstand, freies Reisen und eine Stabilität der demokratischen Grundordnung. Durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und der NATO gewann Polen eine international geachtete Position, die ebenfalls dazu beitrug, dass die demokratische Ordnung stabil genannt werden kann. Grundlegende Elemente des in Ungarn während des Systemwechsels entstandenen politischen und rechtlichen Institutionensystems sind, wie Sándor Pesti in seinem Beitrag ausführt, bis heute unverändert geblieben. Das Land ist eine parlamentarische Republik mit einer unitaristischen Struktur, einer Tendenz zur Konsensdemokratie und einer her vorgehobenen Rolle des Ministerpräsidenten. Das Parteiensystem ist durch eine starke Polarisierung zwischen kommunistischen und antikommunistischen Kräften gekennzeichnet, wobei sich die Tendenz zu einem Zweiparteiensystem abzeichnet. Setzte die Bevölkerung zunächst große Hoffnungen in die Handlungsfähigkeit der Parteien, so ließ die negative Wirtschaftsentwicklung Skepsis wachsen und trug zur Herausbildung rechtsextremer Tendenzen in der Gesellschaft bei. Das Parteiensystem ist weiterhin stark in Bewegung und lässt weitere Veränderungen vermuten. Im tschechischen Teil der ČSSR, so Karel Vodička, setzte die Konsolidierung bereits unmittelbar nach der „Samtenen Revolution“ 1989 ein. Zwar bedeutete die Teilung und Auf lösung der Föderation mit der Slowakei eine politische Zäsur, nicht jedoch im Bereich der politischen Kultur und der intermediären Ebene. Die Konsolidierung des politischen Systems ist insbesondere auf der konstitutionellen bzw. institutionellen Ebene weit fortgeschritten, das intermediäre System weitgehend konsolidiert. Probleme gibt es dagegen beim Mentalitäts-

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wechsel der formellen und informellen Akteure. Stabilisierend wirkt sich auch hier die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und der NATO aus. Allerdings könne der Konsolidierungsprozess auf einem niedrigen Niveau zum Stillstand kommen. Anlass zu Sorgen geben die schwache politische Partizipation, das geringe Vertrauen der Bürger in die staatlichen Institutionen, der Zustand von Ver waltung und Justiz und nicht zuletzt eine verbreitete Korruption. Anders als bisweilen behauptet, vollzogen sich, wie Ehrhart Neubert darlegt, Demokratisierung und Wieder vereinigung in der DDR als Prozesse der Selbstbestimmung der Ostdeutschen. Die Revolution war in allen Aspekten ein Prozess der Selbstermächtigung. Bestes Beispiel dafür sind die Gewaltlosigkeit, die von der Bevölkerung selbst ausging, und die explosionsartige Entfaltung zivilgesellschaftlicher Formen. Es entstanden die unterschiedlichsten Gremien gesellschaftlicher Selbstverantwortung wie Runde Tische und Bürgerkomitees. Unterstützt wurde dieser Prozess von Vertretern der Kirchen. Aus der Selbstbestimmung resultierte die Etablierung des Rechts, die der Entwicklung einen legalistischen Charakter gab und die Entwicklung hin zur deutschen Einheit begleitete. Generelles Ziel der Selbstermächtigung aber war die umfassende Demokratisierung. Es ist Ausdruck der heutigen Demokratie, dass gefragt wird, was aus dieser Selbstbestimmung geworden ist. Mit der Rolle der Runden Tische, die sich Ende 1989 auf allen Ebenen bildeten, befasst sich Francesca Weil am Beispiel der Runden Tische in den thüringischen Bezirken Erfurt, Gera und Suhl. Dabei handelte es sich nicht um dauerhafte, demokratisch legitimierte Einrichtungen, sondern um Instrumente der Systemtransformation und der Beherrschung der damaligen gesamtgesellschaftlichen Krisensituation. Mit ihrem konkordanzdemokratischen Charakter und durch die Einbeziehung von Vertretern des untergehenden Regimes halfen sie, eine gewaltfreie Institutionalisierung der Demokratie zu gewährleisten. Wie Weil anschaulich darlegt, wiesen die Runden Tische auf Bezirksebene ein große Bandbreite hinsichtlich ihrer Ziele, Ansprüche und Herangehensweisen auf. Eckhard Jesse untersucht die demokratische Konsolidierung in den neuen Bundesländern und verbindet dies mit einer Beschreibung der überwundenen SEDDiktatur und der Transformationsphase. Er folgt dabei der Einteilung in die konstitutionelle, die repräsentative und die Verhaltenskonsolidierung sowie die Konsolidierung der Bürgergesellschaft. Die konstitutionelle Konsolidierung, also insbesondere die Frage der Verfassungsgebung, löste sich für die DDR durch den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Im Bereich der Parteien kam es vor allem durch die SED - Nachfolgeparteien zu Veränderungen. Die größten Probleme gibt es im obrigkeitsstaatlich geprägten Ostdeutschland nach wie vor im Bereich der Schaffung zivilgesellschaftlicher Strukturen und Mentalitäten. Generell aber hat der schnelle Beitritt zur Bundesrepublik eine rasche Konsolidierung in verschiedenen Bereichen gefördert. Aus einer systematischen Perspektive auf alle dreißig postkommunistischen Staaten, so Steffen Kailitz, werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Konsolidierungsprozess besonders deutlich. Zwanzig Jahre nach dem Umbruch und

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Einleitung

Zerfall des sowjetischen Herrschaftsimperiums stellt sich die Frage, weshalb es in einigen Staaten liberale Demokratien gibt, in anderen hingegen autokratische Regime an der Macht sind. Gründe für die unterschiedlichen Entwicklungen sind in historisch unterschiedlichen kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Traditionen zu finden. Sie haben Einfluss auf den Modernisierungsstand, von dem wiederum die Erfolgsaussichten für die Etablierung und Stabilisierung einer Demokratie abhängen. Bereits der Transitionsmodus ist vor dem Hintergrund des abgelösten autokratischen Regimes bedeutsam für die Entwicklungschancen der Demokratie. So ist zwischen ausgehandelten Systemwechseln, Regimezusammenbrüchen, von alten Eliten kontrollierten sowie von außen eingeleiteten Systemwechseln zu unterscheiden. Last but not least möchten wir uns sehr herzlich bei Erich Iltgen bedanken, der als Präsident des Sächsischen Landtages die Tagung im Plenarsaal mit einem Grußwort eröffnet hat. Unser Dank gilt ebenso der Sächsischen Staatsregierung für den abendlichen Empfang und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED- Diktatur für einen Zuschuss zur Organisation der Tagung. Mit der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung verbindet uns eine langjährige und bewährte Zusammenarbeit. Danken möchten wir ferner Elisabeth Schönfeld, Norbert Herms und Michael Thoß, die bei der redaktionellen Bearbeitung der Manuskripte mitgeholfen haben, sowie Christine Lehmann und Walter Heidenreich für die Erstellung der Druckvorlagen. Clemens Vollnhals

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Die Revolution in der DDR: Der Ruf nach Freiheit und die Einheit Richard Schröder

Was die Herbstrevolution in der DDR von denen der anderen ehemals sozialistischen Ländern unterscheidet, ist zuerst und vor allem anderen die Tatsache, dass sie in einem geteilten Land stattfand, dass es zwei deutsche Staaten gab und dass die „deutsche Frage“ seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch völkerrechtlich noch nicht geklärt war. Deshalb verband sich die Forderung der ostdeutschen Demonstranten nach Freiheit und Demokratie nach dem unbeabsichtigten Fall der Mauer sehr schnell mit der Forderung nach der deutschen Einheit. Man könnte auch sagen : der Ruf nach Freiheit wurde präzisiert zum Ruf nach Freiheit durch Einheit oder nach Einheit in Freiheit. Ein zweites Charakteristikum der Herbstrevolution in der DDR ist die Rolle der Evangelischen Kirche in der DDR, die sie vor und während dieser Revolution gespielt hat.

I. Am 9. Oktober 1989 fand die bis dahin größte Leipziger Montagsdemonstration mit 70 000 Teilnehmern statt. Es war die erste nach dem 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober. Ihre gewaltsame Niederschlagung war vorbereitet. Aber es kamen mehr Menschen als erwartet und die Sicherheitskräfte zogen sich schließlich „mit Eigensicherung“, wie es hieß, zurück. Das war das Ereignis, das Honeckers Rücktritt auslöste, übrigens betrieben von Egon Krenz, Günter Schabowski und Erich Mielke, dem Minister für Staatssicherheit. Bei der nächsten Sitzung des Zentralkomitees kam es zu jener Informationsverwirrung um ein neues Reisegesetz durch Günter Schabowski, die unbeabsichtigt die Maueröffnung auslöste. Ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, war Deutschland vereint. Das Merkwürdige daran ist : Bei der Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 hat niemand die deutsche Einheit gefordert. Auch in den Aufrufen und Erklärungen der oppositionellen Bewegungen, die von September an in die Öffentlichkeit traten – unter anderem Neues Forum, Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch und die Sozialdemokratische Partei in der DDR ( SDP ) –,

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spielte bis zum 9. Oktober die deutsche Einheit überhaupt keine programmatische Rolle. Der Ruf nach der deutschen Einheit kam weder aus der Bundesrepublik noch von den oppositionellen Gruppen, er kam von Demonstranten, zuerst, noch vor dem Fall der Mauer, in der vogtländischen Kleinstadt Plauen, am 20. November dann, wirksam öffentlich wahrgenommen, auf der Leipziger Montagsdemonstration, und zwar mit den Worten „Deutschland einig Vaterland“. Das war, sehr listig, eine Zeile aus der Nationalhymne der DDR von Johannes R. Becher, der diese seinerzeit als ( gesamt - )deutsche Hymne konzipiert hatte. Seit den 70er Jahren wurde sie deshalb nur noch als Instrumentalstück dargeboten, der Text wurde weder gesungen noch gedruckt – ein unbeabsichtigter Beleg dafür, dass die deutsche Frage, entgegen den stereotypen Beteuerungen der SED seit Honeckers Machtantritt, ungelöst war. Die Forderung nach der deutschen Einheit galt in der DDR als konterrevolutionär. Die Demonstranten wussten das natürlich und gingen durchaus geschickt vor : man wird doch noch die Nationalhymne der DDR zitieren dürfen. Das Neue Forum und der westliche ARD - Korrespondent, der nach dem Mauerfall von der Montagsdemonstration live berichtete, gingen auf Distanz. Sie empfanden das als Misston. Um das zu verstehen, müssen wir uns mit dem Status der deutschen Frage im geteilten Deutschland etwas genauer befassen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik und die erste DDR - Verfassung von 1949 erklärten übereinstimmend : Es gibt nur eine deutsche Staatsbürgerschaft. Denn beide Verfassungen beanspruchten, einmal die Verfassung eines vereinigten Deutschlands werden zu können. Da stießen zwei Alleinvertretungsansprüche für das „wahre“ Deutschland aufeinander. Diese Ansprüche wurden nach dem Bau der Mauer am 13. August 1961 teils relativiert, teils aufgegeben. In der Bundesrepublik plädierten Willy Brandt und Egon Bahr für eine neue deutsche Ostpolitik, die die Konfrontation der Blöcke an der innerdeutschen Grenze und die latente ( Atom - )Kriegsgefahr nach und nach mildern sollte. „Wandel durch Annäherung“ war die Formel. Die Anerkennung der faktischen Zweistaatlichkeit und die Respektierung der DDR - Staatsbürgerschaft gehörten in diesen Kontext. Die Lösung der deutschen Frage wurde in ferner Zukunft in einem vereinigten Europa erwartet. Bis dahin sollten vertragliche Regelungen die Härten der Teilung mildern und eine friedliche Koexistenz ermöglichen. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil über die Ostverträge unterstrichen, dass das Vereinigungsgebot der Präambel des Grundgesetzes für die Bundesregierung weiterhin verbindlich blieb. Die öffentliche Meinung der Bundesrepublik ging aber zunehmend in die andere Richtung. So hatte Günter Grass auch noch nach dem Mauerfall immer wieder erklärt, durch Auschwitz hätten die Deutschen das Recht verspielt, in einem gemeinsamen Staat zu leben. Anfang 1990 war eine knappe Mehrheit der Westdeutschen gegen die Wiedervereinigung. Mitte 1990 gab es größere Demonstrationen in Westberlin und Frankfurt am Main mit den Losungen „Nie wieder Deutschland“ und „Deutschland muss sterben, damit wir leben“. Das waren zwar keine Mehrheitsmeinungen, aber auch nicht Anlässe für empörte westliche Gegendemonstrationen.

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Noch nach der Vereinigung gab es immer wieder Veranstaltungen mit dem Titel: „Denk ich an Deutschland in der Nacht ...“, ein Zitat aus einem Gedicht von Heinrich Heine, dessen Fortsetzung jeder kannte : „dann bin ich um den Schlaf gebracht“. Es war aber gar nicht Deutschland, sondern seine alte Mutter, die ihn im französischen Exil um den Schlaf brachte : „Das Vaterland wird nie verderben, jedoch die alte Frau kann sterben.“ Diesen öffentlichen Stimmen vor allem im Westen standen aber diejenigen im Osten gegenüber, die entweder regelmäßige Kontakte zu ihren Verwandten im anderen Teil gepflegt ( SED - Genossen wurden gedrängt, sie abzubrechen ) oder selbst einmal, oft vor dem Mauerbau, die DDR verlassen hatten. Deren Zahl ging in die Millionen und wuchs an, als die Ausreisen ( meist unter schikanösen Bedingungen ) und die Häftlingsfreikäufe im Zuge der Ostpolitik zunahmen. Jeder, der die DDR verließ, konfrontierte die Zurückbleibenden mit dieser Möglichkeit. Und all diese waren natürlich nicht bereit, sich mit der Mauer abzufinden. In der DDR wurde nach Honeckers Machtantritt die Theorie von den zwei Nationen auf deutschem Boden erfunden, der kapitalistischen und sozialistischen. Obwohl das semantisch nicht nachvollziehbar war : „Auf deutschem Boden“ ging die SED daran, ( fast ) alle Erinnerungen an das gesamtdeutsche Zusammengehören zu tilgen. Noch unter Ulbricht war die deutsche Fahne mit dem DDR - Emblem versehen worden. Nun wurde das gemeinsame Autokennzeichen D durch DDR ersetzt und so weiter. Der Gedanke an die deutsche Einheit wurde zum verbotenen Gedanken. Genau den dachten aber diejenigen, die sich an den DDR - Verhältnissen wund rieben und Flucht - oder Ausreisegedanken hegten. Sie wollten „nach drüben“, und „drüben“ war nicht Österreich oder die Schweiz, sondern die andere Seite der innerdeutschen Grenze. Zudem versammelte sich zunehmend allabendlich die ostdeutsche Bevölkerung vor den Westprogrammen des Fernsehens – sofern ihnen das die Linientreue nicht verbot. Während in der Bundesrepublik offiziell das Wieder vereinigungsgebot des Grundgesetzes galt, inoffiziell aber viele darin bloß einen alten Hut sahen, war es in der DDR umgekehrt. Offiziell war der Gedanke an die Einheit konterrevolutionär, tatsächlich aber höchst lebendig. Und die DDR war ein Staat ohne eigenes Nationalbewusstsein. Das hatte zur Folge, dass in der DDR das Wort „sozialistisch“ das Wort „deutsch“ übertönen musste. Ungarische Kommunisten konnten sagen : Wir sind erstens Ungarn und zweitens Kommunisten. SEDGenossen konnten das nicht. Deshalb waren unter ihnen wohl die Hundertfünfzigprozentigen häufiger anzutreffen. Und es gab in der SED keine relevante innerparteiliche Opposition, auch keine relevanten Reformkommunisten. Die Parteispitze verweigerte sich sogar ausdrücklich Gorbatschows Reformkurs, was wiederum die Spannungen, die zur Herbstrevolution führten, enorm verschärfte. Diese unterschiedlichen Einstellungen zur deutschen Einheit wurden in einem Einigungswitz artikuliert. Der Ostdeutsche ruft : „Wir sind ein Volk !“ Der

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Westdeutsche antwortet : „Wir auch.“ Was sich aus der Verbindung von Freiheit und Einheit ergab, war folgendes: 1. Völkerrechtlich war der Zweite Weltkrieg noch nicht beendet; es gab keinen Friedensvertrag. Sowohl die Westmächte als auch die Sowjetunion hatten sich die Zuständigkeit für Deutschland als ganzes reser viert, wie spätestens beim Berlinabkommen 1971 deutlich geworden war. Indem die Herbstrevolution die Forderungen nach Freiheit und Einheit verband, setzte sie ein Thema von höchster internationaler Brisanz auf die Tagesordnung. Zunächst standen auch die westlichen Regierungen – mit Ausnahme der USA – der deutschen Einheit kritisch bis ablehnend gegenüber. Der französische Präsident Mitterrand stattete der DDR noch Ende Dezember 1989 einen Staatsbesuch ab, vereinbarte ein fünf jähriges Handelsabkommen und warnte in einer Rede an der Leipziger Universität vor der Wiedervereinigung. Die „Times“ beschwor die Gefahr eines „Vierten Reiches“. Und der italienische Politiker Andreotti erklärte : Wir lieben Deutschland so sehr, dass wir am liebsten zwei davon haben. Zum Jahreswechsel 1989/90 hatten sich nur zwei europäische Regierungschefs für die deutsche Einheit ausgesprochen : der spanische und der irische. Unter diesen Voraussetzungen ist es sehr erstaunlich, dass dennoch die deutsche Einheit in nur acht Monaten durch den „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“, den so genannten Zwei - plus - Vier - Vertrag, völkerrechtlich ermöglicht wurde. 2. Der Ruf nach der deutschen Einheit hatte zur Folge, dass diejenigen oppositionellen Bürgerbewegungen, die zuerst einmal die DDR reformieren wollten und ihr eine neue, auch für den Westen vorbildliche Verfassung geben wollten ( Verfassung des Runden Tischs ) und deshalb eine schnelle Vereinigung ablehnten – das waren zunächst alle außer der SDP – binnen zwei Monaten ihr Ansehen als Helden des Herbstes verloren und bei den ersten freien Volkskammerwahlen als „Bündnis 90“ ( Neues Forum, Demokratie jetzt, Initiative für Frieden und Menschenrechte ) lediglich 2,9 Prozent der Stimmen erhielten. Im Rückblick fällt auf, dass die sympathischen Konzepte einer grundlegenden Reform der DDR vor der Vereinigung zwei Probleme vernachlässigten : die desolate wirtschaftliche und finanzielle Lage der DDR und die außenpolitischen Rahmenbedingungen. Das waren aber die Gründe, die Eile im Vereinigungsprozess empfahlen. 3. Die deutsche Einheit war naturgemäß eine Angelegenheit beider deutscher Staaten. Der Wahlkampf für die ersten freien Volkskammerwahlen war dominiert von den westdeutschen Wahlkämpfern, vor allem Helmut Kohl ( CDU ), Hans Dietrich Genscher ( F.D.P.), Willy Brandt ( SPD ) und Helmut Schmidt (SPD ). Sie füllten spielend große Plätze. Sie waren ja den DDR - Bürgern über das Westfernsehen wohlbekannt, besser bekannt als die Spitzenpolitiker der

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DDR, die, im Kollektiv agierend, öffentlich ein persönliches Profil gar nicht erkennen ließen. Dieser Einsatz westlicher Politiker hatte enormen Einfluss auf die Gestaltung der Parteienlandschaft in der postrevolutionären DDR. Hätten die ersten freien Wahlen zum Jahreswechsel stattgefunden, hätten wohl die Bürgerbewegungen die Mehrheit im Parlament gewonnen, wie in der ČSSR. Der Differenzierungsprozess innerhalb der Bürgerbewegungen, der z. B. in der ČSSR erst nach den ersten freien Wahlen einsetzte, war sozusagen vorgezogen. Die Wahlen unter dem Leitmotiv Einheit dagegen brachten denjenigen Parteien die meisten Stimmen, die ein Pendant im Westen hatten, nämlich : – die „Allianz für Deutschland“, von Helmut Kohl in Westberlin zusammengeschmiedet aus der Ost - CDU, der DSU ( eine unter Regie der CSU entstandene Partei ) und dem Demokratischen Aufbruch ( eine der Bürgerbewegungen). Sie kamen zusammen auf 48 Prozent. – die „Liberalen“, eine Vereinigung der alten Blockpartei LDPD und der neu gegründeten F.D.P. Ost sowie der Forumspartei, die sich vom Neuen Forum abgespalten hatte (5,3 Prozent ) und schließlich – die Ost - SPD (21,28 Prozent ). Diese drei Parteigruppen bildeten eine Große Koalition mit der Absicht, der Bundesrepublik nach Artikel 23 Grundgesetz beizutreten, allerdings nicht sofort, sondern über ausgehandelte Verträge. Die Opposition bestand aus SED/ PDS (16,4 Prozent ), Bündnis 90/ Grüne und einem einzigen Abgeordneten der Vereinigten Linken. Sie haben – mit zwei Ausnahmen bei Bündnis 90/ Grünen – sowohl den Beitritt als auch den Einigungsvertrag abgelehnt. Man kann an diesem Wahlergebnis sehen, dass nun zwei ehemalige Blockparteien aus der alten Volkskammer in der Regierung saßen : die Ost - CDU, die den Ministerpräsidenten stellte, und die LDPD – ein vielfach kritisierter Sachverhalt. Sie hatten sich schon im November 1989 aus dem SED - geführten „Demokratischen Block der Nationalen Front“ gelöst und waren, zunächst widerstrebend, von der West - CDU und der West - FDP als Schwesterparteien akzeptiert worden. Sie waren übrigens 1945 tatsächlich als Schwesterparteien gegründet und erst danach, aber vor Gründung der DDR, mit sowjetischer Unterstützung von der SED unterworfen worden, wobei die Ost - CDU zweimal ihren Vorsitzenden verlor. Jakob Kaiser etwa floh und wurde später westdeutscher Bundesminister. Bündnis 90/ Grüne fanden sich also in der Opposition wieder und haben das als willkommene Kontinuität verstanden. Opposition waren sie gewöhnt. Sie haben die Ost - SPD umworben, bei der Opposition gegen Helmut Kohl mitzumachen. Aber diese hat, mit etwas verhaltener Zustimmung der West - SPD (Oskar Lafontaine war ihr designierter Kanzlerkandidat ), schließlich beschlossen, der Koalition beizutreten, wobei die Zustimmung dazu in der Fraktion sehr viel stärker war als im Parteivorstand der Ost - SPD, die manchmal fast innerparteiliche Opposition gespielt hat.

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4. Der Weg zur deutschen Einheit durch Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz brachte für die DDR den Vorteil, dass er sofort und einseitig vollzogen werden konnte, also durch eine Erklärung der Volkskammer, die der westlichen Zustimmung nicht bedurfte. Da die Zustimmung der Sowjetunion offenkundig an die Person Gorbatschows gebunden, dessen politische Zukunft in der instabilen Sowjetunion aber ungewiss war, wie sich nicht erst 1991 abzeichnete, war Eile geboten. Zwar wurde der Beitritt über ausgehandelte Verträge ( Wirtschafts - , Währungs - und Sozialunion zum 1. Juli 1990 und Einigungsvertrag zum 3. Oktober 1990) herbeigeführt, im Notfall wäre aber auch jederzeit der Beitritt sofort möglich gewesen. Die schnelle Einführung der D - Mark sollte die Abwanderung stoppen, die nicht nur schwere Personaldefizite in der DDR bewirkte, sondern auch im Westen die Freude über den Mauerfall zu beeinträchtigen begann, weil die Notunterkünfte überquollen und die öffentlichen Kassen schwer belastet wurden. „Kommt die D - Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr“, hatten die Montagsdemonstranten gedroht. Beitritt hieß zugleich, dass nun im Osten zügig die Strukturen aufgebaut wurden, die das Grundgesetz vorsah, unterstützt durch westliche Fachleute, vor allem Verwaltungsbeamte und Juristen, mit der erfreulichen Folge, dass die Zeit des „wilden Ostens“ ohne funktionierende Verwaltung und Justiz weitestgehend vermieden werden konnte, aber auch mit der misslichen Folge, dass nun ein ausgefeiltes System von Regelungen und Vorschriften über das Land hereinbrach, von denen einige anerkanntermaßen reformbedürftig, aber jedenfalls überkompliziert waren, was zur postrevolutionären Situation des Neuaufbaus oft schlecht passte. Manche westdeutschen Kenner haben später gesagt, mit so vielen Vorschriften hätte seinerzeit das westdeutsche Wirtschaftswunder nicht stattgefunden. Andererseits konnte man nicht gleichzeitig beide Landesteile reformieren oder gar den Westen durch einen Streit um Reformen, für die es dort bisher keine Mehrheit gegeben hatte, destabilisieren. Und die andere missliche Folge : Im Osten verbreitete sich ein Gefühl der Fremdbestimmung. Die SED - PDS profitierte davon. Sie konnte ihr Ergebnis von 16,4 Prozent bei den freien Volkskammerwahlen in den ostdeutschen Landtagswahlen auch deshalb überbieten. Manche nennen die Herbstrevolution aus diesen Gründen eine unvollendete Revolution, weil sie nicht bis zur vollständigen Neugründung eines eigenständigen Gemeinwesens geführt hat. Doch das entsprach durchaus Volkes Wille. Die Mehrheit wollte 1990 möglichst schnell leben wie in der Bundesrepublik, die sie durch das Fernsehen kannte. Sie wollte weder auf die Einheit verzichten, noch Experimente mit ungewissem Ausgang. Also kam die Freiheit als Einheit. Und das war, alles zusammengenommen, doch das Beste, was den Ostdeutschen passieren konnte. 5. Die DDR stand 1989 vor dem Staatsbankrott, d. h. der Zahlungsunfähigkeit in Devisen, wie ein für Egon Krenz am 31. Oktober 1989 erstelltes Gutachten der führenden SED - Wirtschaftsfunktionäre ( sog. Schürer - Gutachten ) mit Zah-

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len dokumentierte. Es beschreibt außerdem ernüchternd den Zustand der Industrieanlagen und der Infrastruktur als katastrophal und über Jahrzehnte vernachlässigt, weil Honeckers Konzept der „Einheit von Wirtschafts - und Sozialpolitik“ zugunsten des Konsums und sozialer Maßnahmen die Investitionen in die Erneuerung der Infrastruktur verhindert hat. Dort liest man auch, die sozialen Maßnahmen seien nicht vollständig aus eigenen Mitteln finanziert worden. Mit anderen Worten : Westkredite sind für Konsum eingesetzt worden, wodurch sie nicht rückzahlbar wurden. Doch die Erwartung der Bevölkerung, nach dem Beitritt werde die DDR Wirtschaft schnell aufblühen, war eine Hoffnung, die enttäuscht werden musste. Denn es war die von allen begrüßte Maueröffnung selbst, die die DDR - Wirtschaft unter Schock stellte. Denn nun war die Option eines schrittweisen Übergangs zur Marktwirtschaft dahin, weil bei offenen Grenzen ein gesondertes Wirtschafts - und Währungsgebiet illusorisch war, denn niemand wollte an der innerdeutschen Grenze aufs neue Zollkontrollen einführen. Also konnten die DDR - Waren auch nicht übergangsweise vor der Konkurrenz der Westwaren geschützt werden. Man kann nicht die Mauer wegreißen und das Echo stehen lassen. Als Folgen der Währungsunion und des Beitritts für die Ökonomie der DDR ergaben sich : – Durch enorme finanzielle Transfers von West nach Ost wurde den DDR - Bürgern eine Inflation zur Tilgung der Staatsschulden erspart und den Rentnern sofort eine dem westlichen Standard angenäherte Rente ermöglicht. Auch Arbeitslose wurden nach westlichem Standard unterstützt, beides einmalig in den ehemals sozialistischen Ländern. – Mit der Vereinigung fand de facto der Beitritt der DDR auch zur Europäischen Union statt, ohne dass die Bevölkerung das bemerkt hätte. Erspart wurden den Ostdeutschen die schmerzlichen Einschnitte, um die Beitrittsbedingungen der EU zu erfüllen. Vielmehr wurde nun Ostdeutschland zum Fördergebiet auch der EU. – Aber unter der Wucht der plötzlich und schlagartig geltenden Weltmarktbedingungen brach die DDR - Wirtschaft zusammen. Nach einer Erhebung der Treuhandanstalt waren nur fünf Prozent der DDR - Betriebe weltmarktfähig, dreißig Prozent mussten geschlossen werden, die übrigen waren sanierungsfähig, was aber immer auch Entlassungen bedeutete, weil die Arbeitsproduktivität in der DDR auf dreißig Prozent der westdeutschen gesunken war. Die Vollbeschäftigung beruhte zu erheblichen Teilen auf verdeckter Arbeitslosigkeit, die man auf 16 Prozent berechnet hat, d. h. viele Berufstätige waren schlicht überflüssig. Das galt nicht nur für den riesigen Ver waltungs- , Partei - und Sicherheitsapparat, sondern auch für Industriebetriebe, in denen man bewusst auf Automatisierung verzichtet hatte, um Arbeitsplätze nicht zu gefährden. Der Westexport der DDR musste zusammenbrechen, sobald Material und Löhne in D - Mark bezahlt werden mussten und die nied-

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rige Arbeitsproduktivität nicht mehr durch den Wechselkurs 1 : 4 und höher kompensiert werden konnte. Die plötzlich und für viele unerwartet hereinbrechende Arbeitslosigkeit wurden von vielen Betroffenen der Treuhand, also dem Westen, angelastet. Der Mord an Treuhandchef Rohwedder Ostermontag 1991 wurde aber nicht zum Fanal, sondern löste Erschrecken aus : So haben wir unsere Proteste nicht gemeint. Man kann es eine historische Ungerechtigkeit nennen, dass so viele ehemalige DDR - Bürger den Zusammenbruch der DDR - Wirtschaft nicht der Wirtschaftspolitik der SED, sondern dem Westen anlasten. Oft begegnet man dabei folgendem Urteil : Dass die DDR - Wirtschaft marode war, wussten wir. Aber unser Betrieb, der hätte erhalten werden können. Auch viele Westdeutsche sind bis heute der Meinung, der Niedergang der DDR - Wirtschaft sei der Treuhandanstalt und der westdeutschen Wirtschaft anzulasten, die unliebsame Konkurrenten ausschalten wollte. Der Zusammenbruch der DDR - Wirtschaft hat im Osten den Stolz auf die Revolution mächtig überlagert. Und in der westlichen Wahrnehmung ist der Mauerfall das einschneidende Ereignis, weil die Trabbiflut über die Grenze erlebt wurde. Dass er die unbeabsichtigte Folge einer Revolution war, einer Revolution friedlicher Demonstrationen trotz prügelnder Sicherheitskräfte, das wird vielen wohl erst jetzt, durch die Dokumentationen des zwanzigsten Jahrestages, deutlicher. Wir klagen in Deutschland auf hohem Niveau und nicht immer wohl informiert. Zweifellos hat Ostdeutschland den höchsten Lebensstandard, den höchsten Sozialstandard und die beste Infrastruktur aller ehemals sozialistischen Länder – dank der deutschen Einheit. Doch dieser Vergleich ist in Deutschland unbeliebt. Statt dessen beschäftigen wir uns täglich mit den verbliebenen Unterschieden zwischen Ost und West, obwohl sie niedriger sind als die Unterschiede auch innerhalb der westlichen EU.

II. Die evangelische Kirche in der DDR war innerhalb des „sozialistischen Lagers“ ein Sonderfall. Nur in der DDR waren die Kommunisten mit einer weit über wiegend protestantischen Bevölkerung konfrontiert, 1949 waren das neunzig Prozent. Die Erfahrungen der sowjetischen Kommunisten mit der Russisch Orthodoxen Kirche passten da nicht recht. Während für den orthodoxen Gottesdienst die Liturgie das Entscheidende ist, hat der evangelische in der Predigt sein Zentrum. Neben dem Gottesdienst sind für protestantische Kirchen Gemeindekreise, Jugendarbeit, Bildungsarbeit ( Schulen, Studentengemeinden, Akademien ) und soziale Arbeit („Innere Mission“, Diakonie ) charakteristisch, die sich zumeist „von unten“, als christliche Bürgerinitiativen sozusagen, gebildet hatten. Während die orthodoxe Kirche streng hierarchisch aufgebaut ist, hat sich im Protestantismus das synodale Prinzip der Kirchenparlamente durchge-

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setzt, deren Mitglieder zur Hälfte keine Theologen, sondern „Laien“ sind. Während für jene die Klöster, aus denen die Bischöfe kommen, die geistlichen Zentren sind, werden protestantische Pfarrer an Universitäten und akademischen Hochschulen ausgebildet. Während jene die Theologie der antiken Kirche reproduzierte, hat sich die protestantische Theologie in Auseinandersetzung mit der Aufklärung und der Moderne artikuliert. Deshalb verfing die plumpe antireligiöse Propaganda der Kommunisten, die sich nach einer Empfehlung Lenins an Argumenten der französischen Aufklärer orientierte, wenig. Diese Argumente waren in den Kirchen längst bekannt und bedacht. Während die russischen Kommunisten 1917 mit einer Kirche konfrontiert waren, die aufs engste mit dem Zaren und den vormodernen Lebensverhältnissen verbunden war, war im deutschen Protestantismus die Verbindung von Thron und Altar bereits 1919 gelöst worden. Nach 1945 wurden die Männer und Frauen der Bekennenden Kirche tonangebend mit ihren Erfahrungen aus dem ( jedenfalls geistigen und geistlichen ) Widerstand gegen die Nazidiktatur. Die Theologie Karl Barths und Dietrich Bonhoeffers war für die Kirchen in der DDR sehr wichtig. Während die DDR streng zentralistisch und hierarchisch aufgebaut war, ist der Protestantismus in Deutschland bis heute föderal organisiert ( Landeskirchen ). Und bis 1968 war diese föderale Organisation gesamtdeutsch ( EKD ). Weil die gesamtdeutschen Gremien nach dem Mauerbau nicht mehr gemeinsam tagen konnten, wurde 1968 der „Bund evangelischer Kirchen in der DDR“ gegründet. Ein zweiter Grund war der, dass die neue Verfassung der DDR Vereinbarungen zwischen Staat und Kirche vorsah und der Staat die EKD seit dem ( westlichen ) Militärseelsorgevertrag nicht mehr als Verhandlungspartner akzeptierte. Trotzdem blieben intensive Kontakte zwischen östlichen und westlichen Kirchenleitungen und Gemeinden bestehen. Die finanzielle Unterstützung der ostdeutschen Kirchen erlaubte diesen, ihre Pfarrer selbst zu bezahlen ( in anderen sozialistischen Ländern hat das der Staat gern übernommen, um bestimmen zu können, wer predigen darf ) und eigene kirchliche Hochschulen zu unterhalten, die vom Staat nicht als solche anerkannt wurden und also auch nicht dem Hochschulministerium unterstanden, was eine eigentümliche Freiheit durch Diskriminierung ergab. Der großenteils illegale Import von Fachliteratur machte die kirchlichen Hochschulen zu den wenigen Orten freier Bildung in der DDR. Die sowjetische Besatzungsmacht hat die Kirchen wohlwollend behandelt, da sie sie dem antifaschistischen Widerstand zurechnete. Aber 1953 eröffnete die SED eine Kampagne gegen die Kirchen, die sich besonders gegen die Mitglieder der Jungen Gemeinde und der Studentengemeinde richtete. Etwa 3 000 Oberschüler wurden damals relegiert, etwa siebzig kirchliche Mitarbeiter inhaftiert. Diakonische Einrichtungen wurden enteignet. Aber nach Stalins Tod hat die Sowjetunion ihre Deutschlandpolitik radikal geändert und die DDR Regierung gezwungen, ihre repressive Politik abzubrechen. Weil sie bei dieser Rücknahme der Repressionen die Normerhöhung für die Arbeiter nicht zurückgenommen hatte, kam es zum Aufstand des 17. Juni. Trotzdem hat die SED erfolgreich eine Politik der Entkirchlichung betrieben, die, neben den gesamt-

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europäischen Säkularisierungstendenzen, dazu führte, dass 1989 nur noch zwanzig bis dreißig Prozent der Bevölkerung Mitglied einer Kirche waren. Die in der Sowjetunion geschulten Funktionäre der SED haben sehr lange gebraucht, um den Unterschied zwischen der russisch - orthodoxen Kirche und dem deutschen Protestantismus zu begreifen und schließlich die Versuche eingestellt, das kirchliche Leben auf „Kult“ und Diakonie zu begrenzen. Die SED blieb aber stets der Überzeugung, dass die Kirche erstens „die einzige Institution im Sozialismus [ ist ], die nicht dem Wesen der sozialistischen Gesellschaftsordnung entspricht, aus ihr nicht erwächst und für den Sozialismus und seine Entwicklung überflüssig ist“ ( so ein Funktionär in seiner Dissertation 1983), und dass die Kirche zweitens das Sammelbecken der feindlich - negativen oder gar konterrevolutionären Kräfte bzw. der Brückenkopf des Imperialismus sei. In den Stasi - Dokumenten hält sich diese Terminologie bis zuletzt durch. Nun zum Herbst 1989. Die evangelischen Kirchen haben weder eine Revolution angestrebt und sie schon gar nicht organisiert. Sie haben Reformen angemahnt, meist allerdings vergeblich. Trotzdem haben sie erhebliche Verdienste an der Herbstrevolution. 1. Seit den 80er Jahren bildeten sich verstärkt Gruppen unter dem Dach der Kirche, die sich mit den Themen Frieden / Abrüstung, Umwelt und Dritte Welt beschäftigten. Das waren die Themen, die auch im Westen namentlich die Grünen bewegten. Und es waren Themen, die die SED nicht als konterrevolutionär verdammen konnte, da sie diese sich selbst auf die Fahnen geschrieben hatte, freilich in anderer Intonation. Getragen wurden diese Gruppen von Jüngeren, die vom Schock des 17. Juni 1953 nicht mehr gelähmt waren. Eher unbeabsichtigt vermieden sie die damaligen Themen, auf die die SED immer hart reagiert hatte : Wiedervereinigung, freie Wahlen, Freiheit für politische Gefangene. Diese Gruppen sind nicht leicht zu charakterisieren. Jens Reich etwa unterhielt einen Zirkel von Intellektuellen mit anspruchsvollen Themen. Das war eher die Ausnahme. Gemeinsam war allen eine Sensibilität für Probleme in Nah und Fern, die die Normalbürger lieber verdrängten. Manche stilisierten sich als Aussteiger und bewusst antibürgerlich. Das Verhältnis zu den Kirchengemeinden war nicht unproblematisch, oft sogar spannungsreich, weil die Gruppenaktivitäten die Kirchengemeinden ins Visier der Behörden und der Stasi rückten. Indem die Kirchen erklärten, sie seien Teil der kirchlichen Arbeit, konnten sie sie aber vor Zerschlagung, namenlosem Verschwinden und Ausweisung schützen ( nicht aber vor Unterwanderung durch die Stasi ). Denn die Bundesregierung, von deren gutem Willen die DDR zunehmend abhängig wurde, weil sie Westkredite brauchte, betrachtete das Verhältnis der SED zu den Kirchen als ein Kriterium für das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten. 2. Diese Gruppen vernetzten sich informell und überregional und begannen, Papiere zu ver vielfältigen und Samisdat - Zeitschriften zu gründen, was illegal war. Als die Stasi Einzelne verhaftete, insbesondere bei der Aktion gegen die

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Berliner Umweltbibliothek und gegen die ungebetenen Teilnehmer der offiziellen Liebknecht - und Luxemburg - Demonstration 1988 ( mit dem Plakat : „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ – Rosa Luxemburg ), konnte durch Fürbittgottesdienste und Kontakttelefondienste innerkirchliche Öffentlichkeit hergestellt und das spurlose Verschwinden Verhafteter verhindert werden. Die westlichen Medien mit ihren Vertretern in der DDR machten diese Aktivitäten zudem deutschlandweit und, was noch wichtiger war, DDR - weit bekannt. Sie brachen so das Informationsmonopol der SED - Medien. Anders als die Solidarność in Polen waren die Oppositionellen in der DDR, die sich selbst nie so nannten und nur im Westen Bürgerrechtler genannt wurden, nicht im Volk ver wurzelt, sondern von sehr vielen eher belächelt, wenn nicht gar als Bürgerschreck und Unruhestifter abgelehnt. Ihre Einstellung war nicht repräsentativ. Aber Christen und Nichtchristen sammelten sich in dem gemeinsamen Bestreben, die Missstände in der DDR nicht wortlos hinzunehmen. 3. Von sehr großer Bedeutung waren die drei Tagungen der „Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ von Herbst 1988 bis Frühjahr 1989, bei denen sich erstmals Vertreter der Kirchen und der Gruppen zusammenfanden und Texte zu politischen und gesellschaftlichen, auch internationalen Problemen formulierten. Diese Textentwürfe gingen an die Gemeinden und wurden nach Rückmeldungen noch einmal überarbeitet. Der Text „Mehr Gerechtigkeit in der DDR“ ist wohl der ausführlichste und kritischste Text zu den DDR - Verhältnissen, der vor der Herbstrevolution formuliert wurde. Diese Ökumenischen Versammlungen waren aber auch aus einem anderen Grunde wichtig. Die informellen Gruppen pflegten face - to - face - Kommunikation, sie waren oft wenig effektive Diskutierclubs. Für diesen Stil war die Ökumenische Versammlung schlicht zu groß. Hier musste nach einer Geschäftsordnung, mit einer Tagesordnung und Redezeitbegrenzung und mit Protokoll gearbeitet werden, für viele ein Schock, aber zugleich die erste Begegnung mit geordneter Versammlungsleitung, eine wichtige Vorübung für die Herbstrevolution. Die kirchlichen Synoden waren der einzige Ort in der DDR, an dem die parlamentarische Praxis geübt werden konnte. 4. Im Herbst 1989 entstanden aus dem Milieu dieser Gruppen die ersten Bürgerbewegungen, die nun das Dach der Kirchen verließen und in die Öffentlichkeit traten. Für die Herbstrevolution waren sie in dreierlei Hinsicht wichtig : Erstens beförderten sie die öffentliche Diskussion ungemein. Die ersten Demonstrationen gingen meist von Friedensgebeten aus, wie die Montagsdemonstrationen in Leipzig. Zweitens ist es der Besonnenheit jener Gruppen und ihren Erfahrungen im gewaltfreien Widerstand zu verdanken, dass diese friedlich blieben, obwohl die Sicherheitskräfte zunächst brutal zuschlugen. Eine Revolte hätte die SED sofort niedergeschlagen, denn darauf waren die Sicherheitskräfte trainiert. Und drittens hätte es ohne die Gruppen keinen Runden

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Tisch gegeben, zu dem die Kirchen als Moderatoren Anfang Dezember einluden. Wer sonst hätte diesen Platz einnehmen sollen ? 5. Ein wichtiger Punkt wird meist übersehen. Die SED - Genossen lebten in der Angst vor einer Konterrevolution, die sie sich so vorstellten, wie Kommunisten Revolutionen gemacht hatten : die Gegner an die Wand stellen und erschießen. Sie befürchteten, die Opfer zu werden. Nach dem 17. Juni 1953 hatten die SEDFunktionäre vom Kreissekretär aufwärts persönliche Waffen. Bei hinreichend vielen SED - Genossen hatte sich aber die zutreffende Einsicht durchgesetzt, dass die Kirchenvertreter keine Konterrevolutionäre dieses Zuschnitts waren. Die SED - Genossen haben den Kirchenvertretern zugetraut, dass sie Lynchjustiz verhindern würden. Noch in der letzten ZK - Sitzung, deren Tonbandmitschnitt veröffentlicht ist, meldete sich ein Parteiveteran zu Wort und erklärte, man hätte die Verräter des Sozialismus, die die Partei ruiniert haben, an die Wand stellen und erschießen sollen. Gemeint waren Honecker und die Seinen. Die Verdienste der Evangelischen Kirchen um die Herbstrevolution kann man also kurz so beschreiben. Sie haben einen gewissen Ersatz für die fehlende Öffentlichkeit bieten können. Das steht den Kirchen immer gut an, wenn sie ein Ort des freien Wortes sind, der Nachdenklichkeit und der Meinungsbildung ohne Scheuklappen. Auch viele Nichtchristen haben in der DDR die Kirchen in jener Zeit so erlebt und geschätzt, ohne freilich deshalb Kirchenmitglieder zu werden. Die Kirchengebäude wurden während der Herbstrevolution zudem Ersatz für den Marktplatz oder das Rathaus, indem sich landesweit dort zuerst die neuen politischen Bewegungen bekannt machten. Landesweit wurden Pfarrer gebeten, die lokalen Runden Tische zu moderieren. Es ist kein Zufall, dass so viele Absolventen kirchlicher Hochschulen 1989/90 politisch aktiv wurden. Das hatte nicht nur damit zu tun, dass sie in der freien Rede geübt waren, eine selten gepflegte Gabe in der DDR, sondern auch damit, dass sie ein freieres Denken ohne die marxistisch - leninistischen Scheuklappen der gestanzten Sprache des „Neuen Deutschlands“ pflegten. In der frei gewählten Volkskammer waren Theologen überproportional vertreten, aber auch Mediziner und Techniker, deren Fächer weniger als die Gesellschaftswissenschaften ideologisch kontaminiert waren. Bei den ersten freien Kommunalwahlen am 6. Mai 1990 haben überproportional viele Gemeindemitglieder kandidiert und damit einen breiten politischen Elitenwechsel ermöglicht. Die Kirchen haben nicht die Revolution gemacht oder geplant. Auch die Kirchenleitenden waren von der schnellen Entwicklung zur deutschen Einheit überrascht, oft auch irritiert. Aber ohne die Kirchen und die Christen hätte der Herbst ’89 auch anders verlaufen können, nämlich so, wie die SED es ( vergeblich ) versucht hat : durch halbe und Scheinreformen die führende Rolle der Partei sichern und sich selbst zum Schein erneuern. Die Strategie konnte auf Dauer nicht aufgehen, allein schon wegen des ökonomischen und finanziellen Desasters, das die SED angerichtet hatte, und nach dem Mauerfall wegen der offenen Grenze. Aber es hätte auch ein gedehnter und zermürbender Prozess

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Die Revolution in der DDR

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werden können und dann wäre eine Eskalation nicht ausgeschlossen gewesen. Die aber hätte durchaus noch die sowjetischen Truppen zum Eingreifen bewegen können. Gelegentlich sollten wir uns auch dessen erinnern, was hätte passieren können, aber nicht passiert ist. Das stärkt die Freude über die Freiheit in Einheit.

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I. Die realsozialistischen Autokratien am Ende ihrer Herrschaft

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Von der Perestroika zur Implosion. Die Rolle der sowjetischen Transformation für den Umbruch in Ostmitteleuropa Helmut Altrichter

1.

Der Umbruch in Ostmitteleuropa

In der zweiten Hälfte des Jahres 1989 überschlugen sich in Ostmitteleuropa geradezu die Ereignisse.1 Am 20. August nominierte der polnische Staatspräsident Jaruzelski den Chefredakteur der Wochenzeitschrift „Solidarność“, Tadeusz Mazowiecki, als neuen Ministerpräsidenten. Er wurde vier Tage später vom Sejm mit 378 Stimmen ( bei vier Gegenstimmen und 41 Enthaltungen ) gewählt; er war der erste „bürgerliche“, nicht - kommunistische Ministerpräsident Polens seit mehr als vierzig Jahren. Ende September 1989 einigten sich in Budapest Kommunisten und Opposition am „Runden Tisch“ auf die Modalitäten des Übergangs zum Mehrparteiensystem in Ungarn; nach einem außerordentlichen Parteitag ( Anfang Oktober) löste sich die ehemalige Staatspartei auf; am 18. Oktober billigte die Nationalversammlung mit großer Mehrheit rund hundert Verfassungsänderungen, die den Übergang von einer „Volksrepublik“ zu einer parlamentarischen Demokratie regelten. Am gleichen Tag erklärte Erich Honecker auf einer Sitzung des SED - Zentralkomitees „aus gesundheitlichen Gründen“ seinen Rücktritt aus allen Ämtern, ohne damit die oppositionellen Massenproteste und den Exodus von DDR - Bürgern stoppen zu können; sie erzwangen im November die Öffnung der Mauer. Selbst wenn die Umstände jeweils andere waren, nahmen sich die folgenden Ereignisse fast schon wie Kettenreaktionen aus : Am Tage nach der Grenzöffnung wurde Todor Schiwkow als Partei - und Staatschef in Bulgarien abgelöst. In der zweiten Hälfte des Novembers nahm die Demonstrationswelle in der Tschechoslowakei gewaltig zu und riss erst die Parteiführung, dann die Regierung mit sich. Bei der Neubildung des tschechoslowakischen Kabinetts Anfang

1

Für die Chronik der Ereignisse habe ich zurückgegriffen auf : Radio Free Europe / Radio Liberty, Radio Free Europe Research : Weekly Records of Events in Eastern Europe (1989); Archiv der Gegenwart, 59 (1989); sowie ein Zeitungsausschnittsarchiv am Erlanger Lehrstuhl.

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Helmut Altrichter

Dezember besetzten oppositionelle Reformer Schlüsselressorts ( die Ministerien für Auswärtige Beziehungen, Innere Sicherheit, Finanzen ). Die Vereidigung der neuen Regierung ( am 10. Dezember 1989) war die letzte Amtshandlung Gustáv Husáks als tschechoslowakischer Staatspräsident; sein Rücktritt machte den Weg frei für die Wahl Václav Havels Ende des Monats. Noch im Dezember wurde, nach blutigen Kämpfen, auch Nicolae Ceauşescu als Partei - und Staatschef Rumäniens gestürzt. Auf der Flucht aufgegriffen und zusammen mit seiner Frau vor ein Militärtribunal gestellt, wurden beide am 25. Dezember 1989 zum Tode verurteilt und unmittelbar danach hingerichtet. Selbst wenn die Vorgänge nicht in der Sowjetunion spielten, sondern in Warschau und Budapest, Ost - Berlin und Prag, Sofia und Bukarest, galt ein Seitenblick doch stets Moskau und der bangen Frage, wie Gorbatschow, wie die Sowjetunion wohl „reagieren“ werde. Gorbatschow „reagierte“ nicht; die vorausgegangenen vier Jahre hatten die Sowjetunion von Grund auf verändert. Wie könnte man das besser zeigen als mit einem Blick auf die erste Hälfte des Jahres 1989.

2.

Die Transformation der Sowjetunion

Im Januar 1989 gaben das Staatliche Plankomitee und das Staatskomitee für Statistik bekannt, dass die Getreideernte 1988 in der Sowjetunion deutlich niedriger ausgefallen war als die drei vorangegangenen Ernten und die Planvorgabe um vierzig Millionen Tonnen verfehlt habe.2 Aus dem Außenhandelsministerium war zu hören, dass sich auch die Handelsbilanz weiter verschlechtert habe. Während der Wert aller exportierten Waren um zwei Prozent zurückgegangen war, hatten die Importe um 6,5 Prozent zugenommen. Schuld sei der Preisverfall für Öl und Rohstoffe auf dem Weltmarkt, was die Sowjetunion umso schwerer treffe, als ihre Ausfuhr zu siebzig Prozent aus Öl - und Energielieferungen bestehe. Da im Land ohnehin Warenknappheit herrsche, seien die Importe nur schwer zu reduzieren. Und Leonid Abalkin, Direktor des Akademieinstituts für Wirtschaft, teilte mit, dass nach neuesten Schätzungen das Haushaltsdefizit im eben begonnenen Jahr vermutlich hundert Milliarden Rubel betragen werde, was zwanzig Prozent des Staatshaushalts und elf Prozent des Bruttoinlandsproduktes entspreche. Schon diese Zahlen zeigten : Die 1985 so hoffnungsvoll begonnenen Wirtschaftsreformen waren gescheitert.3 Ihr Versprechen war gewesen, „in kurzer 2

3

Vgl. Chronik der Ereignisse nach Radio Liberty, Reports on the USSR. A weekly publication of RFE / RL on current Soviet affairs (1989), Archiv der Gegenwart (1989) sowie einer Auswertung der sowjetischen Zeitungen „Argumenty i fakty“, „Izvestija“, „Pravda“. Für die Belege vgl. auch Helmut Altrichter, Rußland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009. Vgl. Überblick in Helmut Altrichter, Der Zusammenbruch der Sowjetunion, 1985–1991. In : Stefan Plaggenborg ( Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Band 5, Stuttgart 2002, S. 519–593.

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Von der Perestroika zur Implosion

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Frist die vordersten Positionen in der Wissenschaft und Technik und den Welthöchststand in der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit [ zu ] erreichen“, in den 15 Jahren bis zur Jahrtausendwende das Nationaleinkommen und die Industrieproduktion zu verdoppeln, die Arbeitsproduktivität auf das Zweieinhalbfache und das Realeinkommen der Bevölkerung um 60–80 Prozent zu steigern. Höchstes Ziel sei die beständige Hebung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes. Eine der ersten Maßnahmen war, den „Faktor Mensch zu mobilisieren“, den Schlendrian und Alkoholmissbrauch zu bekämpfen. Letzterer sei schuld, so konnte man in sowjetischen Blättern lesen, dass die UdSSR trotz viel geringerer Motorisierung die gleiche Zahl von Verkehrstoten aufweise wie die USA; dass Millionen von Nutzfahrzeugen zu Schrott gefahren würden; dass zehnmal mehr behinderte Kinder als im Weltmaßstab geboren würden; und dass der Volkswirtschaft ein Schaden in Höhe von Hunderten Milliarden Rubel entstünde. Leistung solle sich wieder lohnen, der Tendenz zur „Gleichmacherei“ im Verteilungsmechanismus gegengesteuert werden. Was für die Arbeiter und Angestellten galt, sollte auch für die Betriebe, Unternehmen und Industrievereinigungen gelten : Ihre Selbständigkeit und Selbstverantwortung war zu stärken, ihre Entfaltung von Initiativen zu unterstützen, ihre Geschäftsführung auf die Grundsätze der Rentabilität neu auszurichten. Ein Unternehmen, so präzisierten die nachfolgenden Debatten, dürfe kein Kostgänger des Staates sein, vielmehr solle es mit den erwirtschafteten Mitteln nicht nur sich selbst, sondern auch den Staat erhalten. Neben der Reform der Staatsbetriebe hatten sich Partei - und Staatsführung auch entschlossen, Teile der „zweiten Wirtschaft“ ( auch „Schattenwirtschaft“ genannt ) zu legalisieren und privatwirtschaftliche Erwerbstätigkeit zuzulassen. So war seit dem 1. Mai 1987 ein „Gesetz über die individuelle Arbeitstätigkeit“ in Kraft. Danach konnten Arbeitnehmer in ihrer Freizeit, Hausfrauen, Invaliden, Rentner, Studenten und Schüler individuell oder gemeinschaftlich eine Gewerbeerlaubnis beantragen; das schloss noch aus, dass ein arbeitsfähiger Sowjetbürger allein seiner privaten Tätigkeit nachging. Bei privatwirtschaftlicher Tätigkeit war insbesondere an die Herstellung von Kleidung, Schuhen, Möbeln und Spielzeug, aber auch an die Reparatur von Autos, Wohnungen und Haushaltsgeräten gedacht. Nach heftigen Debatten war Ende Mai 1988 ein Gesetz verabschiedet worden, das privatwirtschaftlicher Tätigkeit breiten Raum einräumte, unter der Bedingung, dass sie in genossenschaftlicher Form ( als „kooperativ“) betrieben wurde. Ein Kooperativ war der freiwillige Zusammenschluss von mindestens drei Personen, die sich als „Abteilungen“ innerhalb von staatlichen und genossenschaftlichen Betrieben oder auch selbständig als „Firma“, „Werkstatt“, „Atelier“ oder „Ladengeschäft“ registrieren lassen konnten. Sie als Grundbestandteil des volkswirtschaftlichen Systems zu akzeptieren, fiel offenkundig leichter, weil die gemeinschaftliche Form gewahrt wurde und damit der sozialistischen Gesellschaftsordnung nicht widersprach; der Gesetzgeber sah in ihnen eine

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„beständig sich entwickelnde, progressive Form gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit“ und konzessionierte sie für nahezu alle Produktions - und Dienstleistungsbereiche, durchaus sehend, dass sich dahinter auch Familienbetriebe verbergen konnten. Vergleichbares wurde auch für die Landwirtschaft beschlossen, womit es möglich wurde, Grund und Boden, Betriebe und Einrichtungen vom Staat „für 5 bis 50 Jahre und mehr“ zu pachten. Selbst wenn die Führung weiterhin behauptete, sozialistisches Eigentum und der Marxismus - Leninismus stünden grundsätzlich nicht zur Disposition, suchte sie offenkundig nach Wegen, Plan - und Marktwirtschaft sowie verschiedene Eigentumsformen miteinander zu verbinden. Das Ergebnis war jedoch ernüchternd. Eine „radikale Wende“ war, wie Abalkin im Sommer 1988 eingestand, nicht eingetreten, das Wirtschaftswachstum hatte sich weiter verlangsamt, die Lage auf dem Konsumsektor noch verschlechtert, und der technologische Rückstand zum Weltniveau war noch größer geworden. Das war wohl mit ein Grund, die Flucht nach vorne anzutreten und mit dem Umbau des politischen Systems zu beginnen. Künftig sollte sich die Partei aus dem operativen Geschäft heraushalten, Regierung und Verwaltung den dafür vorgesehenen Sowjetgremien überlassen, die neu zu bestellen waren. Seit Ende Januar / Anfang Februar 1989 befand sich die Sowjetunion im Wahlkampf. Es ging dabei um die Bestellung eines „Kongresses der Volksdeputierten“ mit 2 250 Abgeordneten, der künftig die „wichtigsten konstitutionellen, politischen und sozialökonomischen Fragen“ des Landes entscheiden, einen Staatspräsidenten wählen und aus seiner Mitte einen wesentlich kleineren neuen „Obersten Sowjet“ bilden sollte, dessen zwei Kammern dann übers Jahr hinweg die „Gesetzgebung und Kontrolle“ zu übernehmen hatten. Neu waren nicht nur die Institutionen, neu waren ebenso die Modalitäten ihrer Bestellung. Von den Abgeordneten des Volksdeputiertenkongresses waren 750 von gesellschaftlichen Organisationen zu delegieren, 1500 von der Bevölkerung direkt zu wählen, je zur Hälfte in administrativ - territorialen und in nationalen Wahlkreisen, wobei in den Wahlkreisen erstmals – und dies war das eigentliche Novum – deutlich mehr Kandidaten aufgestellt werden sollten, als Sitze zu vergeben waren.4 Ein solches – landesweites und ergebnisoffenes – Referendum hatte es seit der Revolution nicht mehr gegeben. Im März 1989 entschied Boris Jelzin, sich in einem Moskauer Wahlkreis um ein Mandat für den Volksdeputiertenkongress zu bewerben. Obwohl selbst noch immer Parteimitglied, hatte ihn die Kritik an der kommunistischen Partei, an ihrer bürokratischen Verkrustung, an den Privilegien ihrer Funktionäre, an ihrem Machtmonopol populär gemacht. Tausende kamen zu seinen Wahlkampfveranstaltungen, wo er immer wieder dem Parteiapparat vorwarf, sich dem Volk entfremdet zu haben, und seinen Anhängern versprach, dafür zu kämpfen, dass 4

Vgl. Wahlgesetz in : Vedomosti Verchovnogo soveta SSSR 1988, Nr. 49, Art. 729; Edith Paetzold, Die Diskussion zum Entwurf der neuen sowjetischen Verfassung. In : Recht in Ost und West, 33 (1989) 1, S. 38 ff.

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die Partei der Volkskontrolle unter worfen werde, eine Diskussion über ein Mehrparteiensystem forderte. Sein Kontrahent im Wahlkreis war prominent, er war Direktor der Sil - Autowerke. Doch Jelzin siegte schon im ersten Wahlgang Ende März mit fast neunzig Prozent der Stimmen. Ein persönlicher Triumph, aber auch ein Triumph über das Parteiestablishment. Er wurde dabei von „informellen Gruppen“ unterstützt, wie sie sich seit Beginn der Perestroika, ohne die Genehmigung staatlicher Stellen einzuholen, überall im Land gebildet hatten. Die zentrale Parteizeitung „Prawda“ gab ihre Zahl inzwischen mit 60 000 an. Ohne allen Zweifel hatte die Wahlkampagne die Mobilisierung und Politisierung der Bevölkerung weiter vorangetrieben. Nicht nur für politische Forderungen, auch für nationale Parolen gingen in der Sowjetunion mittler weile Zehntausende auf die Straße. Armenier und Aserbaidschaner fochten einen blutigen Konflikt um die Region Berg - Karabach aus, im Baltikum folgten Hunderttausende den Aufrufen der Nationalbewegungen („Volksfronten“), auch in Moldawien lagen die Volksgruppen mit einander im Streit. Im April eskalierten die Nationalitätenkämpfe in Georgien, wo es seit Anfang des Jahres immer wieder zu Massenprotesten gegen den gewaltsamen Anschluss des Landes an die Sowjetunion ( im Jahr 1921), gegen den Moskauer „Zentralismus“ und die „Russifizierung“ der Republik gekommen war, aber auch gegen die Forderung der abchasischen Minderheit, sich von Georgien zu lösen. Hunderttausend nahmen am Wochenende des 8./9. April an den Kundgebungen auf dem zentralen Rustaweli - Platz in Tiflis teil. Sicherheitskräfte beschlossen, die Sitzblockade zu beenden und den Platz über Nacht gewaltsam zu räumen, wobei neben örtlicher Miliz auch die gefürchteten Truppen des Innenministeriums sowie Soldaten der Streitkräfte zum Einsatz kommen sollten. Sie gingen nicht nur mit Schlagstöcken und Reizgas, sondern auch mit Spaten gegen die Demonstranten vor. Zwanzig Menschen starben, viele wurden verletzt, unter den Opfern vor allem Frauen und Kinder. Partei - und Staatsführung verspielten damit auch hier jeglichen Kredit : Einer Umfrage zufolge sahen achtzig Prozent der Bevölkerung fortan die nationalen georgischen Belange am besten bei den „informellen Gruppen“ aufgehoben, neunzig Prozent standen hinter ihren Forderungen nach Demokratie und „wirklicher Unabhängigkeit“.5 Ende Mai 1989 trat der Volksdeputiertenkongress zu seiner ersten Sitzung zusammen. Er tat, was man von ihm erwartete : Er wählte Michail Gorbatschow zum Präsidenten und einen neuen Obersten Sowjet. Doch wie er es tat, hielt das Land in Atem. Zwar waren 85 Prozent der Abgeordneten noch immer Mitglieder der KPdSU. Doch die Debatten zeigten rasch, dass die Ansichten über den einzuschlagenden Weg inzwischen innerhalb der Partei weit auseinander gingen, die Partei keine handlungsfähige Einheit mehr bildete und die Parteimitgliedschaft kaum einen der Abgeordneten daran hinderte, über alle Tagesordnungen hinweg die brennenden Probleme seiner Wähler und seiner Region 5

Für die Nationalitätenkämpfe vgl. Altrichter, Rußland 1989, S. 66 ff., 213 ff., mit Belegen und Hinweisen auf weiterführende Literatur.

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offen zur Sprache zu bringen : die enormen Engpässe bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Massengebrauchsgütern, die Folgen des jahrzehntelangen Raubbaus an der Natur, die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen und Nationalitäten, den Afghanistankrieg.6 Die Bevölkerung verfolgte die Parlamentsdebatten gespannt an den Radio - und Fernsehgeräten, wo sie direkt übertragen wurden; sie bekam damit ein Bild von den wirklichen Zuständen im Lande, „klarer und schonungsloser“, so der Physiker und Menschenrechtler Andrei Sacharow, als es alle Berichte seit Beginn der Perestroika zusammengenommen je vermocht hatten.7 Dieser Befund fand seine Bestätigung im Juni 1989, als die Auseinandersetzungen zwischen den Nationalitäten auf die zentralasiatischen Gebiete übergriffen, auf das usbekische Ferganatal und Westkasachstan. Die sowjetischen Medien berichteten von Pogromen und bürgerkriegsähnlichen Kämpfen, die fast 100 Menschen das Leben kosteten und mit kaum vorstellbarer Brutalität ausgefochten wurden. Hunderte von Häusern wurden geplündert und niedergebrannt, selbst Flüchtlingscamps noch angegriffen; sowjetische Truppen mussten ins Krisengebiet geflogen, Zehntausende von Flüchtlingen evakuiert werden. Als wollte man dem sowjetischen Staat seine letzten Illusionen nehmen, begannen im Juli 1989 die Bergarbeiter zu streiken. Nach den Vorstellungen der marxistisch - leninistischen Staatstheorie konnte es eine Niederlegung der Arbeit im proletarischen Staat eigentlich nicht geben, schließlich würden die Arbeiter damit nur sich selbst bestreiken; wenn es doch geschah, wurde dem Staat damit die Legitimation, der Anspruch bestritten, Interessenvertreter der Werktätigen zu sein. Was im westsibirischen Kusbass begann, wurde rasch zum Flächenphänomen, griff binnen weniger Tage auf den ukrainischen Donbass, auf Workuta im hohen Norden und Karaganda in Ostkasachstan über, mit Hunderten von Gruben, Hunderttausenden von Bergarbeitern im Ausstand und riesigen Folgeschäden für die ohnehin gebeutelte Wirtschaft.8 Der August 1989 war der Monat der Standortbestimmungen, in der Sowjetunion wie in Osteuropa – und Wendepunkt zugleich. Gelegenheit zur Standortbestimmung boten die Gedenktage des 13., 21. und 23. August. Am 13. August 1961 hatte die DDR in Berlin mit der Sperrung der Zugänge zu den Westsektoren der Stadt begonnen. Die DDR - Medien verteidigten den Mauerbau auch an dessen 28. Jahrestag : Er habe die Völker Europas vor einem „kriegerischen Inferno“ bewahrt, „Ruhe und Sicherheit“ für den sozialistischen Aufbau in der DDR gestiftet, die sich in der prekären Lage einer „vorgeschobenen Bastion des Sozialismus“ befand; diesen Weg werde die DDR trotz aller Medienkampagnen 6

7 8

Vgl. Verhandlungsprotokolle veröffentlicht als S - ezd narodnych deputatov SSSR, Per vyj s - ezd narodnych deputatov SSSR. 25 maja – 9 ijunja 1989 g., Stenografičeskij otčet, 6 Bände, Moskau 1989, vorher bereits ( jeweils am Folgetag ) in der Tageszeitung „Izvestija“. Vgl. Andrej Sacharow, Mein Leben, 2. Auf lage München 1991, S. 854 f. Vgl. Melanie Tatur ( Hg.), Die großen Streiks. Neue Arbeiterbewegung, Systemwechsel und Gewerkschaften in Rußland. Berichte, Analysen, Dokumente, Bremen 1998.

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des „Klassenfeindes“ fortsetzen, und die Mauer würde so lange nicht niedergelegt, wie die Bedingungen, unter denen sie entstanden sei, fortbestünden. Am 21. August 1968 hatten Truppen des Warschauer Paktes der Reformpolitik in der Tschechoslowakei ( dem „Prager Frühling“) ein Ende gesetzt. Davon distanzierten sich nun, im Sommer 1989, Polen und Ungarn ausdrücklich, was die amtierende Prager Regierung indigniert als Einmischung in innere Angelegenheiten zurückwies, unterstützt von Ost - Berlin, das zu einer Neubewertung ebenfalls keinen Anlass sah. Am 23. August 1939 war der deutsch - sowjetische Nichtangriffspakt abgeschlossen worden, der gleichzeitig das Schicksal der baltischen Staaten, den Verlust ihrer Unabhängigkeit besiegelte. Die baltischen Republiken gedachten dieses Ereignisses im Sommer 1989 mit großen Kundgebungen und einer 600 Kilometer langen Menschenkette, die von Reval in Estland über Riga in Lettland bis nach Wilna in Litauen reichte. Die baltischen Abgeordneten hatten im Volksdeputiertenkongress auch erreicht, dass eine parlamentarische Untersuchungskommission eingerichtet wurde, die die Echtheit jenes geheimen Zusatzprotokolls überprüfen sollte, in dem Hitler und Stalin Osteuropa unter sich aufgeteilt hatten. Die Sowjetunion hatte dessen Existenz über Jahrzehnte hinweg bestritten. Als schon im Sommer durchdrang, dass die Kommission die Authentizität des Dokuments bestätigen werde, sahen sich die baltischen Republiken in ihrer Rechtsauffassung bestätigt, die Sowjetunion auch wieder verlassen zu können. Sie bestimmte fortan ihre Agenda.9 In diesem Zustand befand sich die Sowjetunion – und das Bündnis im Sommer 1989.

3.

Der Warschauer Pakt im Sommer 1989

Den Zustand des Bündnisses illustrierte das Treffen des Politischen Beratenden Ausschusses, des höchsten Entscheidungsorgans der Warschauer - Pakt - Organisation, im Juli 1989 in Bukarest. Selbst wenn man in seinen außenpolitischen Orientierungen und in der Frage der Abrüstung Einigkeit demonstrierte, ließ sich damit kaum verdecken, dass das Bündnis inzwischen völlig über Kreuz lag, gerade in jenen Bereichen, die einst die Basis seines Zusammenschlusses gebildet hatten : in Fragen der innenpolitischen Entwicklung, als Staaten sozialistischer Orientierung.10 So hatte der Gastgeber des Treffens, der rumänische Staatschef Ceauşescu, sich nicht nur mehrfach „befremdet und besorgt“ über die Entwicklungen „in einigen sozialistischen Nachbarländern“ ( womit er vor allem Ungarn und Polen meinte ) gezeigt; „Marktsozialismus“, den Versuch einer Verquickung von „Markt“ und „Sozialismus“, lehnte er ab; inakzeptabel erschienen ihm erst recht alle Erscheinungen, die „die führende Rolle“ der kommunistischen Partei schwächten; und Gedankenspielen, die die Wiederzulas9 Zu den Vorgängen vgl. Altrichter, Rußland 1989, S. 272 ff. 10 Zu den Vorgängen vgl. Archiv der Gegenwart, 33 (1989), S. 33518 ff.; Kommuniqué in Europa - Archiv, 20 (1989), S. 596–600; Bundesarchiv ( BArch ), DY 30, 11729.

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sung anderer Parteien und die Rückkehr zum Mehrparteiensystem erwogen, trat er mit der Forderung entgegen, zum Schutz der revolutionären Errungenschaften die „Tätigkeit der Miliz und der Sicherheitsorgane zu perfektionieren“. „Entschlossen“ werde er sich auch, so hatte er wenige Tage zuvor im Zentralkomitee angekündigt, den Thesen einer „Entideologisierung der internationalen Beziehungen“ und einer „Verminderung des Klassenkampfs“ widersetzen, ferner allen Bemühungen, die Beziehungen zwischen RGW und Europäischer Gemeinschaft zu vertiefen, wie sie nicht zuletzt die Sowjetunion betrieb. Die sowjetische Seite revanchierte sich auf ihre Weise, in dem sie just am Eröffnungstag der Konferenz einen kritischen Artikel in der „Prawda“ über die Versorgungslage in Rumänien brachte, über Warteschlangen, die Knappheit und Rationierung der wichtigsten Lebensmittel, über die Einsparungen im Energiesektor und den fehlenden Hausbrand, deren Ursachen genau dort lägen, wo auch die anderen sozialistischen Staaten die Wurzeln ihrer Schwierigkeiten ausmachten: „in den Fehlern der Planung, der Politik der Kader und der fehlenden Flexibilität der Wirtschaft“. Selbst wenn kaum noch Hoffnung bestand, diese Meinungsverschiedenheiten auszuräumen, war schlechterdings nicht zu verhindern, dass die Kontroversen über die inneren Entwicklungen auf der Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses zur Sprache kamen. Wie einem internen Bericht über das Treffen von DDR - Seite zu entnehmen ist, war man sich weder einig, ob es im Inneren überhaupt „wesentliche[ r ] gesellschaftspolitische[ r ] Veränderungen“ bedurfte, noch auf welcher Grundlage sie erfolgen sollten. Beharrten die Sowjetunion, die Tschechoslowakei und Bulgarien auf „sozialistische[ n ] Prinzipien“, legte Ungarn sein Konzept eines „demokratischen Sozialismus“ dar, das auf einer Verbindung von „Marktwirtschaft, unterschiedlichen Eigentumsformen bei Wahrung der dominierenden Rolle ihrer kollektiven Formen sowie dem Pluralismus und der Selbstver waltung“ bestand, während Polen – in der Wahrnehmung der DDR – bemüht war, „in den Dokumenten der Tagung die Her vorhebung des sozialistischen Charakters der gesellschaftlichen Entwicklung in den Bruderländern zu vermeiden“. Dies alles gerann im Schlusskommuniqué zu den viel (oder nichts - ) sagenden Bemerkungen, dass es „universelle Sozialismusmodelle“ nicht gebe, niemand „das Monopol auf die Wahrheit“ besitze, der Aufbau einer neuen Gesellschaft ein „schöpferischer Prozess“ sei und jedes Land sich „entsprechend seinen Bedingungen, Traditionen und Erfordernissen“ entwickle, und man im Interesse der gemeinsamen Sicherheit die Beziehungen zwischen den verbündeten Staaten weiterentwickeln wolle, „auf der Grundlage der Gleichheit, Unabhängigkeit und des Rechts eines jeden, selbständig seine eigene politische Linie, Strategie und Taktik ohne Einmischung von außen auszuarbeiten“. Auf dem Treffen war es auch zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen Ungarn und Rumänien über die Behandlung der ungarischen Volksgruppe in Siebenbürgen gekommen. Die Umsetzung des rumänischen Dorfregulierungsplanes bedrohe die ungarische Minderheit existentiell, beraube sie ihrer Identität, zerstöre eine Jahrhunderte alte Siedlungs - und Lebenskultur. Rumänien ver-

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letze damit seine aus der UNO - Mitgliedschaft und der Helsinki - Schlussakte resultierenden Verpflichtungen – Vorwürfe, die der rumänische Staatschef ebenso entschieden zurückwies, wie er die von Ungarn vorgeschlagenen Reiseerleichterungen, die Aufarbeitung der Vergangenheit durch eine gemeinsame Historikerkommission und ein Kulturabkommen ablehnte. Die ungarische Seite machte die tiefgreifenden Differenzen nach ihrer Rückkehr aus Bukarest publik und bestätigte, dass sich die bilateralen Beziehungen „auf einem Tiefpunkt“ befanden. Die Entwicklung in den sozialistischen Bruderstaaten ließ Ceauşescu nicht ruhen. In der Nacht vom 19. auf den 20. August informierte der rumänische Außenminister in seinem Auftrag den Botschafter der DDR ( Plaschke ), der umgehend „gen. e. honecker“ verständigte; Honecker leitete das Telegramm seinerseits zur Information an die „Mitgl[ ieder ] u[ nd ] Kandidaten [ des ] P[ olit ]B[üros ]“ weiter.11 Darin stand, dass die rumänische Staats - und Parteiführung die aktuelle Lage in Polen als „aeuszerst gravierend“ einschätze : Die Beauftragung eines Führers der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung und Chefredakteurs der Zeitschrift „Solidarność“ mit der Regierungsbildung ( gemeint war Tadeusz Mazowiecki ), seine Bestätigung als Premier, bedeute den Verzicht der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei ( PVAP ) auf ihre „fuehrende rolle“, die „oeffnung [ eines ] weges zur beseitigung [ der ] errungenschaften [ des ] sozialismus in polen“ und stehe „in direktem widerspruch zur revolutionaeren konzeption [ des ] aufbau[ s ] [ des ] sozialismus“ und „im dienste reaktionaerster imperialistischer kreise“. Rumänien könne das „nicht als strikt innere angelegenheit polens“ ansehen, sie betreffe „alle s[ ozialistischen ] l[ änder ], das schicksal des sozialismus im weltmaszstab, die i[ nternationale ]k[ ommunistische ]a[ rbeiter ] b[ewegung ]“. Der Verzicht der PVAP auf die Führungsrolle der Partei und der Arbeiterklasse in Polen sei ein „schwerwiegender schlag“ gegen den Warschauer Vertrag, „unvereinbar“ mit dessen Bestimmungen, eine „grosze gefahr“ und eine „direkte, starke unterstuetzung fuer nato - staaten“. Deshalb müßten die Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages eine „entschlossene haltung einnehmen“, verlangen, dass dem Führer der Solidarität das Mandat zur Regierungsbildung entzogen werde. In seiner Botschaft an die „fuehrung [ der ] sed und e. honecker persoenlich“ drückte Ceauşescu zugleich die „hoffnung aus, dasz alles notwendige unternommen“ werde, „um in richtung aufhalten [ des ] kurses, der auf beseitigung [ des ] sozialismus in polen gerichtet ist, zu wirken“. In gleicher Nacht seien von diesem Standpunkt Rumäniens „auch andere s[ ozialistische ]l[ änder ], w[ arschauer ]v[ ertrag ] - staaten und alle anderen s[ ozialistischen ] l[ änder ]“ informiert worden. Das Telegramm wurde in der SED - Politbürositzung am 22. August 1989 als Tagesordnungspunkt 1 besprochen. Dem Entwurf eines Antwortschreibens mit seiner etwas gewundenen Argumentation ist zu entnehmen, dass die Führung der DDR die rumänische Sorge um die weitere Entwicklung in Polen und das 11

BArch, DY 30, JIV2/2a 3235.

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Schicksal des Sozialismus teilte und „natürlich“ ein „koordiniertes Vorgehen angesichts der bedrohlichen Lage im Zusammenhang mit der Entwicklung in der Volksrepublik Polen [ als ] wünschenswert“ betrachtete.12 Doch da die PVAP zur Zeit nicht die Bevölkerung hinter sich habe, die sozialökonomischen Probleme in Polen auch auf längere Sicht nicht oder nur zum Teil lösbar seien, wäre selbst „mit außerordentlichen Maßnahmen eine Wende in der Situation nicht erreichbar“. Zudem hätten wie die Sowjetunion auch die anderen Mitglieder des Warschauer Vertrages in Bukarest soeben die Meinung vertreten, dass „kein Land den Verlauf der Ereignisse innerhalb eines anderen Landes diktieren darf“, wobei die Lage in Polen und die Frage, wie man die PVAP in ihrem Kampf unterstützen könne und müsse, zwischen den Mitgliedstaaten ohnehin „außerordentlich differenziert“ beurteilt würde. Schließlich wäre jeder äußere Druck auch geeignet, „nationalistische Stimmen in Polen zu schüren und die Lage für die PVAP zusätzlich zu erschweren“. Die Überlegungen der Ostberliner Führung enthüllten das ganze Dilemma : Auch die SED - Führung empfand die polnischen Ereignisse, den Machtverlust der PVAP als skandalös. Doch in realistischer Einschätzung der Gesamtsituation wusste sie, dass Neuwahlen für die PVAP verheerende Wirkung zeitigen konnten, da sie die Mehrheit der Bevölkerung gegen sich hatte. Auch mit „außerordentlichen Maßnahmen“ schien eine Wende nicht erreichbar, da sie die langfristigen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme nicht lösten, die hinter dem Autoritätsverlust der PVAP standen und die „auch auf längere Sicht“ kaum lösbar schienen. Die „Möglichkeiten für irgendwie geartete internationalistische Hilfestellungen“ schienen schon deshalb „äußerst begrenzt“, weil die Staaten des Warschauer Vertrages die Entwicklung in Polen ganz unterschiedlich beurteilten, „Möglichkeiten und Notwendigkeiten für eine Unterstützung des Kampfes der PVAP“ ebenso. Und ein „koordiniertes Vorgehen“ kam auch deshalb nicht in Frage, weil man soeben in Bukarest gemeinsam beschlossen hatte, jedem „Bruderland“ die innere Entwicklung selbst zu überlassen, was auch den Perestroika - Gegnern ( wie Bulgarien, Rumänien und der DDR ) das Recht auf eine Ver weigerung der Reformen sicherte.

4.

Zusammenfassung

1.) Selbst wenn Gorbatschow weiterhin behauptete, der Sozialismus stehe nicht zur Disposition, propagierte doch auch er inzwischen eine Verbindung von Planund Marktwirtschaft, auf der Basis verschiedener Eigentumsformen, mit deutlich reduzierten Vorgaben aus dem Zentrum, erweiterten Kompetenzen der Betriebe, Ausbau der Genossenschafts - und Pachtbeziehungen, Konzessionierung von kleinen Privatunternehmen, Liberalisierung des Außenhandels und 12 Argumentation für die Beantwortung des rumänischen Vorschlages zum Vorgehen der Mitgliedsländer des Warschauer Vertrages gegenüber PVAP ( BArch, DY 30, 12601).

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Von der Perestroika zur Implosion

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der Gründung von Joint - Ventures. Ein vergleichbares Experimentieren mit neuen Wirtschaftsformen konnte den Bruderländern kaum ver wehrt werden. 2.) Zwar sollte die KPdSU in Staat und Gesellschaft weiterhin eine führende Rolle spielen, sich aus dem operativen Geschäft jedoch zurückziehen, die Wirtschaft den Betrieben, die Staatsver waltung den Räten überlassen, ihren Apparat deutlich verkleinern und die Funktionsträger in demokratischen Wahlen neu bestellen. Über den neuen Kurs waren innerparteilich heftige Debatten entbrannt, schon im Volksdeputiertenkongress ( im Frühsommer 1989) bildete die Partei keine handlungsfähige Einheit mehr, Fraktionsbildungen waren die Folge; der Ruf nach einem Mehrparteiensystem wurde immer lauter. Selbst wenn sich Gorbatschow im Sommer 1989 noch dagegen sträubte und einen förmlichen Antrag im Volksdeputiertenkongress ablehnte, Artikel 6 der Verfassung, der der Partei das Machtmonopol sicherte, zu streichen, ein halbes Jahr später, im Februar 1990 stimmte er dem zu, wobei er gleichzeitig dafür sorgte, dass die eigene Macht – durch die Einführung der Präsidialverfassung – auf eine neue Grundlage gestellt wurde. 3.) In der Sowjetunion war mit der Lockerung der Zensur und staatlicher Über wachung von allem und jedem eine „Gegenöffentlichkeit“ entstanden, die sich nicht nur in kritischen Medien manifestierte. Sie fand zählbaren Ausdruck in Zehntausenden von „informellen Gruppen“, die sich überall im Land gebildet hatten, ohne sich behördlich registrieren zu lassen. Aus „informellen Gruppen“ waren in den Randgebieten auch die „Volksfronten“ her vorgegangen, die mit ihren Aufrufen Zehntausende, nicht selten Hunderttausende auf die Straße brachten. Insofern waren die Massenkundgebungen, die 1968 in Prag und 1980 in Polen das politische Moskau noch in höchsten Alarmzustand versetzt hatten, mittler weile auch in der Sowjetunion politischer Alltag, seit dem Sommer 1988 auch Massenstreiks, wovon die Medien ausführlich berichteten. 4.) Schlimmer waren eindeutig die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den sowjetischen Volksgruppen und Nationalitäten, mit insgesamt schon Hunderten von Toten, Tausenden von Verletzten, Zehntausenden von Flüchtlingen, die die Staatsführung zusätzlich unter Druck setzten, unter Zugzwang brachten, zunehmend angefeindet von allen Seiten, zunehmend chancenlos, eine befriedigende Lösung zu finden. Sie desavouierten nicht nur das Leitbild vom „großen, einigen Sowjetvolk“, wie es Partei und Staat jahrzehntelang beschworen hatten, als bloße Illusion, sie stellten die Grundlagen der sowjetischen Gesellschaft wie den Bestand des sowjetischen Staates gleichermaßen in Frage, schwächten dessen Führung nach Innen und nach Außen. 5.) Es gab somit gute Gründe für Gorbatschow, 1989 auf den Umbruch in Ostmitteleuropa nicht zu „reagieren“ : in Anbetracht der eigenen innerparteilichen Diskussionen, der staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme; in Anbetracht des Umstands, dass Bruderstaaten mit ähnlichen Problemen kämpften, auf ähnlichen Feldern experimentierten, dass sie sich nicht selten auf die sowjetische „Perestrojka“ bezogen. Ein Eingreifen hätte ganz abgesehen davon auch das Vertrauenskapital zerstört, das man in den Verhandlungen mit

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dem Westen Schritt für Schritt erworben hatte und das die Basis für die Abrüstungserfolge bildete. Und darin, dass Entspannung und Abrüstung nötig, unverzichtbar waren, darin waren sich die Staaten der Warschauer - Vertrags - Organisation, über alle sonstigen Differenzen hinweg, einig : Ohne Entspannung kein Technologietransfer, ohne Senkung der Rüstungskosten keine wirtschaftliche Erholung, ohne kräftige ökonomische Grundlage kein lebensfähiger Sozialismus– und erst recht keine Chance, den Systemwettbewerb für sich zu gewinnen.

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Polen: Erfolge und Misserfolge der ersten osteuropäischen Transformation 1989 Tytus Jaskułowski

1.

Zur Rezeption des Jahres 1989 in Polen – Zwischen der ideologischen und sachorientierten Auseinandersetzung

Die Auseinandersetzung mit den Ereignissen des Jahres 1989 begann in Polen mit dem Abschluss des Vertrages des „Runden Tisches“ im April 1989 und dauert ohne Zweifel bis heute an. Sowohl in den historischen Abhandlungen und Werken, als auch in den publizistischen Essays sowie in den zahlreichen politischen Erklärungen ist eine deutliche Spaltung zu sehen, die die fundamentalen Unterschiede in der polnischen Rezeption der Wende 1989 zeigt. Es geht dabei nicht, wie das z. B. in der DDR der Fall ist, um Begriffe. Wenn man in Polen das Jahr 1989 beschreibt, benutzt man Wörter wie „Revolution“, „Umbruch“ oder „Wende“1 ganz einfach nebeneinander, was in Ostdeutschland heftige Debatten her vorrufen würde.2 In der Literatur herrscht überall Einverständnis darüber, dass in Polen eine Transformation zustande gekommen ist. Generell ist man sich auch über den Verlauf der Ereignisse einig. Heftigen Streit gibt es nur um die Frage, welche Charakterisierung diese Revolution bekommen soll und welche Bedeutung bestimmte Transformationselemente und das gesamte Jahr 1989 für die Entwicklung der Lage in Polen hatten. Insbesondere geht es um die Kompromissbereitschaft der Solidarność - Vertreter während der Gespräche am Runden Tisch sowie um den Umgang mit der damaligen kommunistischen Partei. In der politisch - publizistischen Auseinandersetzung, vor allem anlässlich der Jahrestage der Transformation, ist dieser Streit nahezu zwangsläufig mit der politischen Herkunft der Beteiligten verbunden. Die Dissidenten und Politiker, die damals aktiv an den Verhandlungen der Opposition mit der Staatspartei teilnahmen und als Gemäßigte, Liberale, Christlichliberale bzw. Linksliberale zu bezeichnen sind, verteidigen ihre Haltung. Sie beschreiben die Zeit des Jahres 1989 oder bestimmte Ereignisse als Erfolg ( siehe etwa die Rede von Adam Michnik über „die Wunder des Runden Tisches“3), heben den friedlichen Charakter 1 2 3

Eine Ausnahme bildet Henryk Słabek, Polski rok 1989 : Rewolucja – przewrót – restauracja. In : Dzieje Najnowsze, 3 (2003), S. 35. Vgl. Lothar Fritze, Was die DDR war. In : Deutschland Archiv, 41 (2008), S. 890–898. Vgl. Adam Michnik, Cud Okrągłego Stołu. In : Gazeta Wyborcza vom 24. 2. 1999, S. 1.

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der Transformation her vor,4 bestätigen die Notwendigkeit eines „milden“ Umgangs mit der Staatspartei, die doch freiwillig Teile ihrer Macht abgegeben hat, und kritisieren jegliche Versuche, Alternativen für den Verlauf der Revolution in die Diskussion einzubringen. Die andere, rechte bzw. rechtskonser vative Gruppe, die entweder nicht an den Hauptrunden des Runden Tisches tätig war oder überhaupt nicht dabei war, ist prinzipiell mit der Transformation 1989 nicht einverstanden. Diese Gruppe ist der Ansicht, dass die Gespräche am Runden Tisch nur ein taktisches Manöver gewesen seien und dass deren Vereinbarungen für die Solidarność nie als verbindlich hätten gelten dürfen. Die Kompromisse mit der Staatspartei, egal welcher Art, empfanden und empfinden sie als Verrat der Solidarność - Ideale und als Mittel, die dazu beitrugen, den Einfluss der kommunistischen Machtinhaber nach der Wende zu bewahren.5 Manche haben sogar gehofft, in Polen eine gewaltsame Revolution zu erleben, und zwar in der Überzeugung, dass dies für die spätere Demokratieentwicklung besser sei.6 Die Ereignisse des Jahres 1989 bezeichnet man in diesen Milieus als „ausgehandelte“ oder „reglementierte“ Revolution. Ähnliche, aber nicht so extreme Unterschiede sind in der polnischen Fachliteratur auch über das Jahr 1989 zu finden. Die Wissenschaftler der jungen Generation sind – vor allem aufgrund von Recherchen in den seit dem Jahr 2000 zugänglichen Archiven des polnischen Innenministeriums und des Sicherheitsdienstes – der Ansicht, dass die Ergebnisse der Transformation teilweise durch die Machthaber, insbesondere die Generäle Jaruzelski und Kiszczak, gesteuerte Prozesse waren.7 Diese Wissenschaftler sind vor allem von den Forschern der älteren Generation scharf kritisiert worden. Letztere sind der Auffassung, dass die Spitze der polnischen Staatspartei die Demokratisierung zwar geschickt, aber ohne „böse Absichten“ gegenüber der Solidarność vorbereitet hat und dass jegliche Thesen über geheime bzw. inoffizielle Vereinbarungen der Staatspartei mit der Opposition falsch bzw. nicht völlig richtig seien.8 Die Kritik schlug teilweise so große Wellen, dass manche Auseinandersetzungen zwischen den Historikern, z. B. zwischen Antoni Dudek und Andrzej Garlicki,9 in der Tagespresse geführt wurden und teilweise auf ein nicht wissenschaftliches Niveau herabsanken.10

4 Vgl. Krzysztof Kozłowski, Wielka Rewolucja Mniejszości. In : Tygodnik Powszechny vom 21. 2. 1999, S. 1 f. 5 Vgl. Jarosław Kaczyński, O dwóch takich. Alfabet braci Kaczyńskich, Warszawa 2006, S. 172. 6 Vgl. ebd., S. 173. 7 Vgl. Antoni Dudek, Reglamentowana Rewolucja. Rozkład dyktatury komunistycznej w Polsce, Kraków 2004, S. 5 f. 8 Vgl. Andrzej Garlicki, Karuzela czyli rzecz o Okrągłym Stole, Warszawa 2004, S. 361 f. 9 Vgl. Andrzej Friszke, Wynegocjowana rewolucja. In : Więź, 5 (2005), S. 96–104. 10 Vgl. die Auseinandersetzung zwischen Andrzej Garlicki und Antoni Dudek in der Wochenzeitung „Polityka“ im Jahr 2004.

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Polen – Erfolge und Misserfolge

2.

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Akteure der polnischen Transformation 1989 im Spiegel der SWOT - Analyse

In der Beurteilung der letzten Periode der kommunistischen Herrschaft in Polen sowie der damit verbundenen Transformation scheint 20 Jahre nach der Wende die Benennung der jeweiligen Ereignisse nicht so wichtig zu sein. Wichtiger ist die Frage, welche Erfolge und Misserfolge das Jahr 1989 für Polen in der langfristigen Perspektive gebracht hat. Polen, ein Vorreiter der demokratischen Erneuerung Osteuropas, hat schließlich eine der niedrigsten Quoten der Zufriedenheit mit der Demokratie. Außerdem war in keinem Land der ersten Gruppe der neuen NATO - und EU - Mitglieder die Zersplitterung des Parteiensystems und die Instabilität des Rechtssystems so groß und die Wahlbeteiligung so gering.11 Um die Gründe für diese Situation zu verstehen, entwickelten viele Forscher eigene Konzepte und Totalitarismustheorien, die sich nicht nur auf die Lage in Polen beziehen.12 Doch bei der Präsentation der Lage Polens vor und im Laufe der Transformation 1989 sollte man nicht auf die politologisch - theoretischen Konzepte der Totalitarismusforschung zurückgreifen. Erstens beruhen sie vor allem auf einem Vergleich der kommunistischen Staaten in Osteuropa,13 was nicht unbedingt hilfreich für das Verständnis der polnischen Lage sein muss, denn die Wende in Polen war die erste grundlegende politische Transformation, und Beispiele und Erfahrungen aus anderen sozialistischen Staaten in Osteuropa waren nicht vorhanden. Auch die Transitionen der westeuropäischen autokratischen Länder, etwa Spanien oder Portugal, können nicht für die Bewertung der polnischen Lage herangezogen werden, weil in der Tat jedes Land ein einzigartiges Subjekt war. Zweitens nehmen gewisse, vor allem in Westeuropa entwickelte Modelle von vornherein viele Quantifikatoren als gegeben an, wie etwa kategorische Thesen über die Krise des Totalitarismus in Polen in den 80er Jahren14 oder über die Stärke der Opposition. Diese Quantifikatoren entsprechen nicht immer der Wahrheit und riefen in der polnischen Fachliteratur nach 1989 viele ebenso fundamentale Gegenmeinungen her vor – wie etwa die, dass Polen bis 1989 kein totalitärer, sondern ein nur teilweise autoritärer Staat gewesen sei.15 Obwohl die Differenzen in den theoretischen Diskussionen nicht dazu führen, die Lage in Polen 1989 objektiver zu bewerten, sind manche Theorien, vor allem aus der Wirtschaftswissenschaft, sehr nützlich, um die Transitionsprozesse zu analysieren. Besonders her vorzuheben ist die sog. SWOT - Analyse, die eine 11

Vgl. Lena Kolarska - Bobińska, Demokracja w Polsce 2005–2007, Warszawa 2007, S. 265. 12 Vgl. Uwe Backes / Tytus Jaskułowski / Abel Polese ( Hg.), Totalitarismus und Transformation. Defizite der Demokratiekonsolidierung in Mittel - und Osteuropa, Göttingen 2008, S. 13. 13 Vgl. Jerzy Maćków, Totalitarismus und danach, Baden - Baden 2005, S. 17. 14 Vgl. Jerzy Maćków, Die Krise des Totalitarismus in Polen, Münster 1992, S. 12. 15 Vgl. Antoni Dudek, PRL bez makijażu, Kraków 2008, S. 7.

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Grundlage für diese Präsentation bildet. Die Abkürzung SWOT setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der englischen Begriffe „strenghts“, „weaknesses“, „opportunities“ und „threats“ zusammen und kann als „Analyse der Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken“ ins Deutsche übertragen werden. Aus der Kombination der Stärken / Schwächen - Analyse und der Chancen / Gefahren Analyse kann eine ganzheitliche Strategie für die weitere Ausrichtung der Unternehmensstrukturen und die Entwicklung der Geschäftsprozesse, aber auch für die Entwicklung von Ländern und bestimmten Elementen des politischen Systems abgeleitet werden.16 Außerdem scheint diese Analyse neutral zu sein. Man kann sie für alle Länder und politischen Einrichtungen nutzen und benötigt dazu nicht die Erfahrungen anderer Länder als Hintergrund. Indem man fragt, welche Stärken / Schwächen ein Bestandteil des zu untersuchenden politischen Systems hat, setzt man auch nicht a priori voraus, dass dieser Bestandteil gut oder schlecht funktionierte. Welche Stärken und Schwächen hatten also die wichtigsten Akteure der politischen Wende in Polen 1989, also der Staat als Institution, die Staatspartei und die Antisystem - Opposition unter besonderer Berücksichtigung ihrer Führung, die Gesellschaft und last but not least die Wirtschaft ? Welche Chancen oder Gefahren brachte die friedliche Revolution dann für Polen ? Da das politische System Polens seit 1944 maßgeblich von der kommunistischen Partei und ihrer Führung beeinflusst und entscheidend kontrolliert wurde, sollte die SWOT - Analyse der Wende 1989 mit der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei ( Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR ) beginnen. In Übereinstimmung mit den sowjetischen Plänen in Bezug auf Osteuropa insgesamt, sollte diese 1949 durch Zwangsvereinigung gegründete Partei ein Durchsetzungsinstrument der Politik der UdSSR in Polen sein. Aus dieser Tatsache resultierte die erste Dauerschwäche der Staatspartei : fehlende Glaubwürdigkeit. Trotz der durchaus vorhandenen sozialistischen Traditionen in Polen war die Partei im politischen Leben des Landes ein Fremdkörper. Zwar bemühte man sich nach Kräften, um – unter anderem durch nationale und teilweise religiöse Symbole und Rhetorik – die Unterstützung der Gesellschaft für die PZPR zu gewinnen. Die Ergebnisse der entsprechenden Aktivitäten waren aber, zumal nach der Einführung des Kriegsrechts 1981, sehr bescheiden. Man zerstörte dadurch nur die sowieso schwachen ideologischen Grundlagen der Partei. Die PZPR wurde nur als Staatspartei betrachtet, die nichts mit der Ideologie zu tun hatte und deren Mitgliedschaft lediglich eine Voraussetzung für die beruf liche Karriere im kommunistischen Staat war. Diese Entideologisierung bedeutete aber auch eine Chance. Da die Partei keinerlei ideologischen Dogmatismus aufwies, war also mindestens ab 1985 eine eventuelle Änderung der Haltung in Bezug auf z. B. die Anerkennung der Opposition akzeptabel. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass direkt vor der Verhängung des Kriegs16 Vgl. Roman Lombriser / Peter Abplanalp, Strategisches Management, Zürich 1998, S. 188.

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rechts ein Drittel der Mitglieder der PZPR gleichzeitig der oppositionellen Gewerkschaften Solidarność angehörte.17 60 Prozent der Mitglieder der PZPR, die offiziell atheistisch war, erklärten sich 1988 in internen Umfragen als Gläubige. Die Person, der alle Parteimitglieder am meisten vertrauten, war der Primas, also das Oberhaupt der Katholischen Kirche Polens. Und 1989 plädierten sogar 71 Prozent der Parteimitglieder für die Einführung des freien Arbeitsmarktes, die offizielle Zulassung und Tolerierung von Arbeitslosigkeit sowie die Streichung der staatlichen Zuschüsse für unrentable Betriebe. Die Partei konnte also fast alles hinnehmen. Die einzige Bedingung war – nicht von der Ideologie abgeleitet, sondern aus purem Konformismus –, dass die Macht bei der PZPR bleiben sollte. Wenn man über die Partei spricht, meint man nicht nur ihre Mitglieder, sondern vor allem auch ihre Führung. Die Macht des Parteichefs, insbesondere in den 80er Jahren, war gleich der Macht eines Diktators. General Wojciech Jaruzelski war 1981 Verteidigungsminister, Ministerpräsident und 1. Sekretär des Zentralkomitees der Partei. Unabhängig davon, dass er ab 1982 auf verschiedene Ämter verzichtete, konnte keine wichtige Entscheidung im Regierungsapparat ohne seine Genehmigung getroffen werden. Diese Situation war für den Transformationsprozess gleichzeitig eine Chance und eine Gefahr. Einerseits ließ er alle potenziellen und wirklichen Gegner und Machtherausforderer innerhalb der Staatspartei verfolgen. Sein Verhalten schloss außerdem die vollkommene Demokratisierung Polens aus, da er, wie die PZPR selbst, für eine vollständige oder teilweise Abgabe der Macht im Gegenzug bestimmte Konzessionen verlangt hätte, die nichts mit Demokratie zu tun gehabt hätten. Andererseits war ihm bewusst, dass die Partei nicht als glaubwürdig betrachtet wurde. Er wusste auch ganz genau, wie notwendig Reformen für die polnische Wirtschaft waren. Seine Mitarbeiter waren außerdem mutig genug, um dem General die Reformnotwendigkeit sowie die bittere Lage im Lande offen zu legen und um ihm den Vorschlag zu unterbreiten, die Opposition anzuerkennen. Jaruzelski hingegen war in der Lage, solche Nachrichten, die nicht die übliche Propaganda darstellten, anzunehmen. Mehr noch, er versuchte seit 1985 gewisse demokratische Experimente im Lande durchzuführen, und zwar mit der Überzeugung, dass Polen ohne politische und wirtschaftliche Reformen keine Überlebenschance habe. Allerdings mussten diese Reformen Jaruzelskis Interessen berücksichtigen.18 Bei dieser Gelegenheit wird oft hervorgehoben, dass Jaruzelski besonders geschickt die außenpolitische Lage der Sowjetunion nutzte. Das entspricht nur teilweise der Wahrheit. Erstens musste die Sowjetunion zwangsläufig ihre Politik in Osteuropa ändern – und zwar nicht aus Liebe zu Polen, sondern aus zynischem Kalkül, denn die wirtschaftliche Hilfe der Sowjetunion kostete zu viel. Jaruzelski war also gezwungen, seine Politik neu auszurichten, da er spätestens ab 1986 nicht mehr mit der materiellen Unterstützung der Sowjetunion rech17 Vgl. Witold Gadomski, Leszek Balcerowicz, Warszawa 2006, S. 85. 18 Vgl. Tytus Jaskułowski, Die friedliche Revolution in der DDR und Polen 1989–1990. Systemumbrüche im Vergleich. In : Orbis Linguarum, 33 (2008), S. 193–211.

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nen konnte. Zweitens verhielt sich Jaruzelski lediglich wie andere Machtinhaber in den kommunistischen Ländern. Die UdSSR bestimmte die allgemeinen politischen Richtlinien. Ab dem Amtsantritt Gorbatschows 1985 hieß diese Richtlinie : „beschränkte Reformen“. Jaruzelski folgte den sowjetischen Vorgaben, und in der Tat waren diese Reformen positiv für Polen. Aber als Verhaltensmuster ist zwischen der Volksrepublik Polen und der UdSSR nichts Neues passiert, abgesehen davon, dass diese Reformen der Anfang vom Ende des Kommunismus waren. Der zweitwichtigste Akteur im politischen System Polens war die AntisystemOpposition. Das Zusatzwort „Antisystem“ bedeutet auch ihre wichtigste Stärke. Im perfekten kommunistischen System gab es keinen Platz für jegliche Form der Opposition. Aber in Polen gab es sie ab 1944 ohne Unterbrechung; zuerst im Rahmen des Bürgerkrieges und des halbfreien Parteiensystems bis 1949, dann in Gestalt verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, Aufstände und Massenproteste, deren Aktivitäten in den Jahren 1956, 1968, 1970 und 1976 zur Entstehung der Solidarność - Gewerkschaften 1980 geführt haben.19 Diese letzte Bewegung, die auf dem Höhepunkt ihrer Macht sechsmal so viele Mitglieder wie die PZPR zählte, war die sichtbare Alternative zur Staatspartei, zumal sie über eigene, wenn auch zensierte Pressezeugnisse verfügte und die Unterstützung der katholischen Kirche besaß. Welche Merkmale charakterisierten die Solidarność ? Als Gewerkschaft war sie laut Satzung eine föderative Organisation mit dem weltbekannten Führer Lech Wałęsa und mit theoretisch großen Möglichkeiten, die innere Demokratie Polens zu entwickeln. Das war in der Tat ein Vorteil. Ein Nachteil dieser Situation war aber die Implementierung dieser Prinzipien. Im Laufe der Zeit und aufgrund ihrer Illegalisierung als Folge des Kriegsrechts funktionierte Solidarność genauso wie die Staatspartei. Der charismatische Vorsitzende traf die meisten Entscheidungen selbst. Der Vorstand wurde normalerweise nicht oder post factum darüber informiert. Ein Drittel der Solidarność - Regionaleinheiten wollte die Macht Wałęsas nicht anerkennen. Manche Entscheidungen wurden auch während der Solidarność - Vollversammlungen nicht demokratisch getroffen, was nach der Wende sogar die größten Gegner Wałęsas, etwa die Kaczyński - Brüder, für richtig hielten.20 Bekannte Folgen waren die Konflikte in der Solidarność Führung, z. B. zwischen Wałęsa und Andrzej Gwiazda, die Entstehung alternativer Führungsgremien, etwa der „Grupa Robocza“, die sich gegenseitig nicht anerkennen wollten, oder erste Spaltungen innerhalb der Solidarność, die schließlich mit der Gründung alternativer Solidarność - Gruppierungen, etwa der „Kämpfenden Solidarność“, beendet wurden.21 Für die spätere Entwicklung der politischen Kultur Polens war das kein positives Signal. Obwohl die These über 19 Vgl. Tytus Jaskułowski, Demokratiekonsolidierung und die Opposition in Polen und der DDR 1945–1989. In : Totalitarismus und Demokratie, 4 (2007), S. 301–323. 20 Vgl. Paweł Smoleński, Obrona ruchoma. In : Gazeta Wyborcza vom 6. 12. 1999, S. 12. 21 Vgl. Antoni Dudek, Ślady PeeReLu. Ludzie, wydarzenia, mechanizmy, Kraków 2001, S. 285.

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den nichtdemokratischen Charakter der Solidarność nicht nur in Polen auf Widerstand stößt, kann man sagen, dass in der Literatur seit 1999 eine Auffassung mehr und mehr Verbreitung findet, die besagt, dass seit 1981 die demokratische Tradition innerhalb der Solidarność aufgegeben wurde und deshalb ihre Mitglieder nicht das Gefühl hatten, dass sie die Politik der Gewerkschaft mitbestimmen konnten.22 Ein zweites Problem war die Größe von Solidarność. Sie war als Gewerkschaft eine politische Gesellschaftsbewegung, in der alle möglichen Standpunkte und politischen Ideologien zu finden waren. Das war einerseits ein Vorteil, da nur eine große Bewegung echte Chancen hatte, das kommunistische System zu beseitigen. Andererseits war das auch ein Nachteil. Weil Solidarność nur vereint gegen die PZPR gewinnen konnte, wurden die Unterschiede innerhalb dieser Bewegung absichtlich nicht erörtert.23 Diese waren jedoch vorhanden und konnten unter gewissen Umständen die Gewerkschaft spalten, da dort beispielsweise sowohl links - und rechtsorientierte Aktivisten, als auch Wirtschaftsliberale vertreten waren. Diese Spaltungen wurden teilweise von den inoffiziellen Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes angestiftet bzw. vorangetrieben, um die Gewerkschaft oder andere unabhängige Gruppen zu schwächen.24 Ein weiteres Problem der Solidarność war das Fehlen strategischer Konzeptionen. Man war sich zwar darüber einig, dass man den Kommunismus beseitigen wollte, aber man dachte nicht gezielt darüber nach, wie man sich nach dem Erfolg verhalten sollte. Sollten doch derartige Überlegungen angestellt worden sein, so beschränkten sie sich auf den Kreis der Berater von Wałęsa. Andere Kreise oder Milieus wurden, obwohl sie in der unabhängigen Presse und im illegalen Verlagswesen sehr viele Reformkonzepte vorstellten,25 nicht einbezogen, was die Spannungen innerhalb der Solidarność nur verschärfen konnte. Diskussionen innerhalb der Opposition als Ganzes fanden nicht statt. Es wurden keine Formen des innergewerkschaftlichen Dialogs entwickelt; abgesehen davon, dass sich die Solidarność als einzige Opposition betrachtete und die anderen unabhängigen Gruppen nicht ernst nahm. Es war also nicht üblich, andere Meinungen anzuerkennen, zumal viele andere Oppositionsgruppen finanziell und logistisch von der Solidarność abhängig waren.26 Außerdem entwickelte man in den vorhandenen Konzepten und Plänen für ein demokratisches Polen Ideen, die mit den Bestandteilen einer modernen Demokratie und mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun hatten. Man ging z. B. davon aus, dass in Polen keine politischen Parteien nötig wären.27 Außerdem nutzte man im Kampf gegen die 22 Vgl. Rzeczpospolita vom 5. 2. 1999, S. 1. 23 Vgl. Jaskułowski, Demokratiekonsolidierung. 24 Z. B. der Fall von Lesław Maleszka. Vgl. Ewa Stankiewicz / Anna Ferens, Trzech kumpli, Kraków 2008, S. 158 f. 25 Vgl. Jan Skórzyński, Rewolucja okrągłego stołu, Kraków 2009, S. 27 f. 26 Vgl. Padraic Kenney, Wrocławskie Zadymy, Wrocław 2007, S. 257 f. 27 Vgl. Witold Bereś / Krzysztof Burnetko, Nasza Historia. 20latRP.pl, Warszawa 2009, S. 310.

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Staatspartei sehr oft Instrumente, die das Demokratieverständnis der Bürger schwächen konnten, etwa Wahlboykotte. Man war damit einverstanden, dass in der Auseinandersetzung mit der Staatspartei rechtswidrige Mittel prinzipiell zulässig seien. In Bezug auf die zukünftige Entwicklung eines demokratischen Rechtsstaates, was Solidarność ja eigentlich wollte, war ein solches Verhalten äußerst ungünstig, zumal die politische Bildung, die man zwar unternahm, nicht für die gesamte Bevölkerung sichtbar und zugänglich war. Bekannt und gut besucht waren nicht die unabhängigen Publikationen oder Vorlesungen, sondern die Krawalle und Konflikte innerhalb der Solidarność. Was kann man über die polnische Gesellschaft in den 80er Jahren sagen ? Da die wirtschaftliche Lage Polens seit 1944 prinzipiell schlecht war, waren die Entstehung der Opposition bzw. die Massenproteste eine Antwort auf die sich ständig verschlimmernde wirtschaftliche Lage. Obwohl die politischen Forderungen im Laufe der Zeit immer lauter wurden und ohne Zweifel entscheidend zur Entstehung der Solidarność beigetragen haben, war ab 1981 nicht die Politik das wichtigste Thema für die Bevölkerung, sondern die Wirtschaft und die Lebensmittelversorgung. Da die Lage in diesem Bereich ab 1981, auch infolge des Kriegsrechts, immer schwieriger wurde, konnte Solidarność durch die Kritik an der Wirtschaftspolitik der Partei zwar als Sprachrohr der Gesellschaft gelten. Ein Nachteil dieser Situation war aber, dass das Interesse der Bevölkerung für die nichtwirtschaftlichen Aspekte der Solidarność - Aussagen geringer wurde und immer mehr Menschen gar nichts mit der Politik zu tun haben wollten. Ab dem 13. Dezember 1981 bis zur Wende gewann Solidarność lediglich 20 Prozent seiner Mitglieder neu hinzu. Die Aufrufe zum Wahlboykott waren zwar wirksam, aber die durchschnittliche 50 - Prozent - Beteiligung an den Wahlen und die immer kleiner werdende Zahl der Demonstrationen zeigten deutlich das Desinteresse der Gesellschaft an der Politik. Das war auch eine Folge des Kriegsrechts, das durch Terror und Gewaltanwendung das gesellschaftlich - politische Engagement zerstörte. Einerseits war die dadurch entstehende Passivität und Gleichgültigkeit gut, da die Staatspartei durch diese Passivität die Gesellschaft nicht mehr beeinflussen konnte. Andererseits entstand durch dieses Desinteresse in den 80er Jahren eine Kluft zwischen Staat und Gesellschaft. Man war nicht mehr daran interessiert, was mit dem Staat passiert bzw. welche Entwicklungen sich ergeben könnten. Der Staat als „Institution“ war den Polen fremd und wurde nicht als Wert betrachtet. Es war zulässig, z. B. im beruf lichen Leben, nicht an das Wohlergehen des Staates zu denken. Der Staat und seine Einrichtungen konnten nach Ansicht des Großteils der Bevölkerung ausgebeutet werden, um z. B. die materielle Existenz der Familie oder die privaten Interessen der Menschen abzusichern.28 Ein Vorteil dieses Zustandes war, dass dadurch in der zentral gesteuerten Wirtschaft die Mechanismen des freien Marktes beibehalten und ausgeprägt werden konnten. Eine Gefahr war aber die Tatsache, dass man nicht verstand, dass gewisse Verhaltensformen, etwa Streiks, sich später auch gegen die Bevöl28 Vgl. Dudek, Reglamentowana rewolucja, S. 189.

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kerung richteten und sehr schmerzhafte Reformen als Folge der Wende erforderlich waren, was eine gute Grundlage für die Entwicklung des politischen Populismus war. Ähnliche Prozesse konnte man innerhalb der Ver waltung beobachten. Ihr Versagen führte dazu, dass Polen in einer permanenten Wirtschaftskrise steckte. Eine sehr hohe Auslandsverschuldung,29 ein katastrophales Management und eine aufgeblähte Bürokratie waren Merkmale des bevorstehenden Kollapses. Das Versagen der Ver waltung hatte aber auch eine andere Seite : Ein Bestandteil der Ver waltung, konkret das Innenministerium, hatte die Aufgabe, alle Formen der Opposition zu verfolgen. In der Tat riefen manche Elemente dieser Verfolgung sehr grausame und tragische Folgen her vor. Der Sicherheitsdienst wusste zum Teil unglaublich viel über die Opposition und erzielte viele Erfolge im Bereich der Desinformation und der Zersetzung von Solidarność.30 Aber selbst diese Institution funktionierte nicht immer einwandfrei. Die Grenze zwischen Groteske und Grausamkeit war nicht nur in der Tätigkeit des Sicherheitsdienstes extrem schmal. Die hauptamtlichen Mitarbeiter konnten bestochen werden und kümmerten sich seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre immer stärker um ihre eigene materielle Zukunft, da sie den Zusammenbruch des Sozialismus für unvermeidbar hielten. Als Beispiel ist etwa die Gründung von kapitalistischen Einrichtungen wie privaten Bankgesellschaften im angeblich sozialistischen Polen zu nennen, die von Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes betrieben wurden. Nicht ohne Bedeutung war auch die Untreue bzw. der Ungehorsam der Parteimitglieder gegenüber den Entscheidungen des eigenen Politbüros.31

3.

Verlauf der polnischen Transformation 1989 im Spiegel der SWOT - Analyse

Direkt vor der Revolution herrschte in Polen eine außergewöhnliche Situation. Die Wirtschaft war am Ende. Sie wurde von einer Administration und Staatspartei ver waltet, die selbst korrupt und marode waren. Der Sicherheitsdienst war zwar aktiv und agierte ab und zu professionell, aber nicht immer wollte er diese Aktivität zeigen. Die Opposition, obwohl offiziell stark und einig, konnte im Allgemeinen mit dem Verständnis der Gesellschaft rechnen, aber nicht mit der totalen Unterstützung, wie es 1980 der Fall gewesen war. Für die Führer der PZPR und der Solidarność bot diese Lage – auch dank der günstigen außenpolitischen Umstände, also dank Gorbatschows Perestrojka – eine Gelegenheit, einen Umbruch einzuleiten, was die erste und die wichtigste Chance der polnischen Revolution darstellte. Durch den Verhandlungsvorschlag der Staatspartei 29 Die Verschuldung betrug 40 Milliarden US - Dollar. Vgl. Zadłużenie wolnodewizowe Polski. Ministerstwo Finansów ( Hg.), Załącznik 1, Warszawa 1992, S. 1. 30 Vgl. Dudek, PRL bez makijażu, ebd., S. 220. 31 Vgl. Jaskułowski, Demokratiekonsolidierung, S. 201.

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1988 konnten beide Seiten, also die Machthaber und die Opposition, damit beginnen, grundlegende Stereotypen und Vorurteile, aber auch Weltanschauungsprinzipien abzubauen oder zu ändern. Her vorzuheben ist dabei ein Satz von Adam Michnik aus dem Jahr 1999. Er wies zu Recht darauf hin, dass die Verhandlungspartner am Runden Tisch vor Beginn der Gespräche alles trennte: „Sie kannten einander nicht, mochten sich nicht, achteten sich nicht, vertrauten sich nicht und hassten sich sogar.“32 Trotzdem waren sie in der Lage, miteinander zu sprechen und sich dadurch einander anzuerkennen. Das war eine absolute Ausnahme in der polnischen Zeitgeschichte. Ein Nachteil dieses Phänomens war aber, dass die potenziellen Verhandlungsergebnisse zwangsläufig einen Kompromiss darstellen mussten, was immer eine bessere Position für die Staatspartei bedeutete. Dazu muss man wissen, dass das Verhandlungsangebot von der Partei an die Opposition gerichtet wurde. Dadurch wollte Jaruzelski das Tempo der Demokratisierung kontrollieren und die Macht zu seinen Gunsten teilen. So wollte er sicherlich die Verantwortung für die Wirtschaft nicht weiter tragen, zumal er die Höhe der Auslandsverschuldung kannte und wusste, dass Polen, de facto ein Land ohne Devisenreser ven, ab 1989 die Zinsen zu zahlen hatte.33 Die politischen Kompromisse mussten aus Jaruzelskis Sicht möglichst beschränkt werden. Er gab spätestens ab 1986 die ersten konzeptionellen Vorbereitungen für die kontrollierte Demokratisierung des Landes in Auftrag. Das bedeutet, dass er genug Zeit hatte, um sich vorzubereiten, die Personen in der Opposition kennen zu lernen und auch bestimme Verhandlungsphasen gezielt zu simulieren, auch mit Hilfe der analytischen Sondergruppen des Innenministeriums. Solidarność dagegen konnte sich nicht ausreichend vorbereiten. Erstens wurde die Idee, mit der PZPR zu verhandeln und Kompromisse abzuschließen, nicht von allen Solidarność - Flügeln begrüßt. Abgesehen davon, wurden diese auch gar nicht nach ihrer Meinung gefragt, da Wałęsa gemeinsam mit seinem Beraterkreis die wichtigsten Entscheidungen selbst traf und entschied, wer aus der Opposition an den Gesprächen teilnehmen durfte und wer nicht. Auch die Tatsache, dass die Vor verhandlungen sowie die wichtigen Gespräche abseits der offiziellen Runden des Runden Tisches vertraulich gehalten wurden, rief Empörung und Misstrauen innerhalb der Opposition her vor. Eine Schwäche der Solidarność war in der Tat die unzureichende Aufklärung. Sie wusste genaugenommen nichts über die wirkliche Lage der Partei. Die einzigen Konsultationen der Oppositionsvertreter fanden laut Zeugen 15 Minuten vor Beginn der ersten Runde des Runden Tisches statt.34 Da die der Opposition angehörenden Teilnehmer der Gespräche nichts über die Situation innerhalb der PZPR wussten und in der Tat keine Möglichkeit besaßen, die entsprechenden Berichte des Chefunterhändlers der Regierungsseite, General Kiszczak, zu 32 Vgl. Michnik, Cud Okrągłego Stołu, S. 2. 33 Vgl. Gadomski, Leszek Balcerowicz, S. 131. 34 Vgl. Kozłowski, Wielka Rewolucja Mniejszości. In : Tygodnik Powszechny vom 21. 2. 1999, S. 3.

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prüfen, war es für Kiszczak problemlos möglich, die Lage der Partei entsprechend negativ darzustellen. Sein Ziel war es, die Solidarność zu erschrecken und kompromissbereiter zu machen, indem er suggerierte, dass ein Scheitern der Verhandlungen zwangsläufig mit dem Staatsstreich des konservativen Parteiflügels enden musste. Die Staatspartei hatte also mehr Möglichkeiten, die undemokratischen Verhältnisse in Polen beizubehalten, zumal die Gesellschaft überhaupt nicht an dem interessiert war, was sich 1989 in der polnischen Politik ereignete. Das zeigten unter anderem die geringe Unterstützung für die Streiks des Jahres 1988 und das sehr geringe Interesse an den Gesprächen des Runden Tisches. Der erste Solidarność - Innenminister, Krzysztof Kozłowski, erinnerte sich zehn Jahre nach 1989 : „Es fand die wichtigste Debatte über die Zukunft Polens statt [ der Runde Tisch ]. Aber in Polen herrschte Ruhe, Apathie und Passivität. Die einzige Demonstration wurde von kleinen Anarchistengruppen veranstaltet, die die Gespräche als Verrat empfanden. Ein Parteiunterhändler fragte uns : Was denken Sie ? Hätten die Anarchisten das Gebäude gestürmt, hätten sie uns oder euch zuerst getötet ?“35 Die Passivität der Gesellschaft wurde durch die Ergebnisse der ersten freien soziologischen Umfragen bestätigt. Nur 30 Prozent der Befragten wollten 1989 wissen, weshalb der Runde Tisch tagte.36 Von Interesse für die Bevölkerung waren nur die Engpässe in den Lebensmittellieferungen, zumal die Bauernstreiks Anfang 1989 noch einmal den bevorstehenden wirtschaftlichen Kollaps des Landes deutlich gemacht hatten. Aber niemand stürmte die Parteigebäude oder Dienststellen des Sicherheitsdienstes. Mehr noch, Solidarność verurteilte selbst die kleinsten Aktivitäten als Provokation und nutzte auch nicht die neue, für sie günstige politische Lage nach dem Wahldesaster der Staatspartei am 4. Juni 1989. Sie tolerierte auch die Änderungen an den Wahlgesetzen, die zwischen der ersten und der zweiten Wahlrunde vorgenommen wurden, um den ausgehandelten Status quo zu bewahren.37 Die Kompromissbereitschaft der Solidarność und das gesellschaftliche Desinteresse verdeutlichen am besten die Ergebnisse des Runden Tisches : Das Parlament wurde nur teilweise frei gewählt. Die wichtigsten Ministerien blieben mit Vertretern der Staatspartei besetzt. Jaruzelski und Kiszczak behielten alle Befugnisse ihrer Macht. Als Gegenleistung wurde die Solidarność wieder offiziell anerkannt. Des Weiteren wurden alle Grundrechte und Freiheiten wiederhergestellt. Trotz dieser Situation und der Arbeit zahlreicher Aktivisten wollte die absolute Mehrheit der Gesellschaft diese Rechte nicht in Anspruch nehmen. An den ersten, teilweise freien Wahlen nahmen nur 43 Prozent der Berechtigten teil, an der zweiten Runde nur 25 Prozent. Da manche kommunalen Solidarność- Strukturen den Runden Tisch sowie die Wahlen nicht anerkannten, muss35 Krzysztof Kozłowski / Michał Komar, Historia z konsekwencjami, Warszawa 2009, S. 247. 36 Vgl. Edmund Lipiński - Wnuk, 10 lat później. In : Polityka vom 10. 1. 1999, S. 18. 37 Vgl. Dudek, Reglamentowana Rewolucja, S. 327.

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ten die Gewerkschaften mit neuen Spaltungen und spektakulären Absagen der Zusammenarbeit vieler bekannter Solidarność - Führer rechnen.38 Bedeutet das, dass die Gespräche am Runden Tische einen reinen Erfolg für die Partei darstellten ? Sicherlich nicht. Das 1989 neu gewählte halbdemokratische Parlament war eine der besten Legislativen in der polnischen Geschichte und bekommt von allen Parlamenten im freien Polen die besten Noten. Es bereitete im Rekordtempo kompetente und wichtige Gesetze vor, die eine Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg der polnischen Reformen der 90er Jahre bildeten. Die alte Parteiver waltung versagte komplett, was einer der Gründe dafür war, dass General Kiszczak nach den Gesprächen des Runden Tisches keine Regierung bilden konnte. Funktionäre der sogenannten befreundeten Parteien waren so zynisch, das Koalitionsangebot der Solidarność sofort zu akzeptierten. Die dadurch entstehende Regierung von Tadeusz Mazowiecki wurde vor allem von den PZPR - Mitgliedern unterstützt, nicht zuletzt weil das Verteidigungs - und Innenministerium durch die PZPR kontrolliert wurde. Das bedeutete aber nur die zeitliche Verschiebung der Erosion des Staatsapparates. Er war aber noch stark genug, um sich auf die wirtschaftliche Transformation vorzubereiten, Beweise seiner kriminellen Tätigkeit, etwa wichtige Archivbestände, zu vernichten und sich auf die Existenz in der neuen Wirklichkeit einzustellen. Dieselbe Ver waltung führte aber auch die einzigartige Wirtschaftsreform von Ministerpräsident Balcerowicz durch und musste auf außenpolitischem Terrain in der Zeit der Wende, etwa beim deutschen Wieder vereinigungsprozess, die Interessen der Republik Polen vertreten und verteidigen. Bis 1998 bestanden über 70 Prozent der Wirtschafts - und Finanzeliten aus Personen, die in der Wirtschaft des alten Systems leitende Funktionen innegehabt hatten.39 Auch wird die Regierung Mazowieckis, obwohl nicht völlig demokratisch, als die beste Regierung der polnischen Zeitgeschichte bewertet.40 Das Verhalten und der Überlebensinstinkt der Regierungsverwaltung und der Staatspartei standen im krassen Gegensatz zum Verhaltens innerhalb der Solidarność. Der Runde Tisch war ein Katalysator für die Entwicklung der schon erwähnten Schwächen der Gewerkschaften. Der Mangel an innerer Demokratie und die fehlende Tradition der politischen Auseinandersetzung führten dazu, dass die Solidarność ab 1990 in mehr als 20 politische Gruppierungen zersplitterte, die im Durchschnitt nur eine Legislaturperiode, also etwa vier Jahre, im Parteiensystem existierten. Damit trugen die Gewerkschaften sehr zur Instabilität und extremen Fragmentierung des Parteiensystems in Polen bei. Erst 20 Jahre nach der Wende nähern sich die politologischen Indikatoren der Sta-

38 So zum Beispiel die späteren Ministerpräsidenten : Tadeusz Mazowiecki und Jan Olszewski. Vgl. auch Bronisław Geremek / Jacek Żakowski, Rok 1989. Geremek odpowiada, Żakowski pyta, Warszawa 2008, S. 167 f. 39 Vgl. Maria Jarosz, Macht, Privilegien, Korruption. Die polnische Gesellschaft 15 Jahre nach der Wende, Wiesbaden 2005, S. 31. 40 Vgl. Janina Paradowska, Urodzeni 4 lipca. In : Polityka vom 3. 7. 1999, S. 4.

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bilität des politischen Systems dem westeuropäischen Durchschnitt an.41 Die unzureichend ausgeprägte politische Kultur innerhalb der aus der Solidarność entstandenen Gruppierungen führte auch dazu, dass sich die Bevölkerung weiterhin nicht an der Politik interessiert zeigte. Die Beteiligung an den Parlamentswahlen lag nie über 54 Prozent.42 Das fehlende Verständnis für das Wohl des Staates, was auch ein Erbe der 80er Jahre ist, verstärkte die Entwicklung negativer Elemente des politischen und gesellschaftlichen Lebens, wie Korruption, Populismus, politischen Extremismus oder Missachtung des Rechts. Daraus entstand die Sehnsucht nach der Einführung einer sogenannten Ordnung, die ein wesentlicher Grund für den Zuspruch zu jenen Parteien war, die man als extreme oder sogar als Antisystemparteien bezeichnen könnte. Andererseits galt Polen vor allem im Ausland als Muster der politischen und wirtschaftlichen Transformation,43 deren Ergebnisse die NATO - und EU - Mitgliedschaft waren. Ein Bestandteil dieser Transformation waren schließlich auch die Bürger. Sie haben zwar die negativen Eigenschaften von Solidarność geerbt, aber auch die positiven, etwa wirtschaftliche Aktivität, Durchsetzungsvermögen oder Enthusiasmus. Die schwierigsten ökonomischen Reformen wurden letzten Endes mit einer einzigartigen gesellschaftlichen Geduld durchgeführt, obwohl in den ersten drei Monaten der Mazowiecki - Regierung das Lebensniveau um 20 Prozent absank. Eine passive Gesellschaft hätte auch nicht innerhalb von zwei Jahren mehr als zwei Millionen Kleinunternehmen gründen können, die das ökonomische System des Landes auf die Erfolgsspur gesetzt haben.

4.

Fazit

Ist es möglich, wenn man die Komplexität und Vielseitigkeit der Lage in Polen vor und während der Wende betrachtet, eine endgültige Antwort darauf zu geben, ob die polnische Wende ein Erfolg oder ein Misserfolg war ? Eine klare Antwort gibt es nicht ( und kann es auch nicht geben ). Die Situation in Polen war das Debüt der osteuropäischen Transformationen. Es gab keine Vorbilder oder Lehr werke, wie man eine solche Transformation vorbereitet. Jeder Schritt in diesem Prozess war unter den gegebenen Umständen sowohl eine Chance als auch eine Gefahr. Der wichtigste Erfolg war in der Tat der friedliche Charakter der Revolution. Die Kritiker der Verhandlungen mit der Staatspartei haben vergessen, was die von ihnen gewünschte gewaltsame Wende bedeutet hätte, dass vor allem sie die ersten Opfer der Gewalt gewesen wären und dass sie nur dank der friedlichen Machtübernahme jetzt ihre durchaus umstrittene Meinung vortragen können. Dies bedeutet aber nicht, dass die Kritik an den Handlungen des 41 Vgl. Backes / Jaskułowski / Polese, Totalitarismus und Transformation, S. 215. 42 Vgl. Klaus Ziemer, Die politische Ordnung. In : Dieter Bingen / Krzysztof Ruchniewicz (Hg.), Länderbericht Polen, Bonn 2009, S. 169. 43 Vgl. Dawid Warszawski, Zwycięzca nie bierze wszystkiego. In : Gazeta Wyborcza vom 8. 2. 1999, S. 19.

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Jahres 1989 unbegründet war bzw. ist. Die wichtigsten Fehler waren sicherlich, keine Pläne für die Entwicklung des Landes nach der Wende vorzubereiten, keine Mechanismen des politischen Dialogs und der politischen Kultur zu entwickeln, kein Engagement der Bevölkerung für die politische Aktivität zu wecken und die Unfähigkeit, die Gesellschaft von der Richtigkeit der Haltung der Solidarność - Führung 1989 zu überzeugen.44 Einzelne Ereignisse bestätigen diese Fehlerauf listung. Ministerpräsident Balcerowicz war beispielsweise eher durch Zufall in der Regierung von Tadeusz Mazowiecki und setzte Reformen um, die nichts mit den Absichten von Wałęsas Wirtschaftsberatern oder den Vereinbarungen des Runden Tisches zu tun hatten. Man hätte auch die übertriebenen Erwartungen der Gesellschaft bremsen müssen. Das wollte die Solidarność aber nicht, da sie ja eine Gewerkschaft war. Die marktwirtschaftlichen Reformen richteten sich schließlich gegen soziale Privilegien. Man muss zwar mit der Argumentation einverstanden sein, dass manche Elemente der Wende überhaupt nicht vorauszusehen waren. Andererseits scheint die 1999 von Wiesław Władyka aufgestellte These richtig zu sein, dass die Solidarność, bevor der politische Runde Tisch vorbereitet wurde, einen eigenen Runden Tisch für die Opposition selbst hätte veranstalten müssen.45 Dieser Tisch hätte aber auch eine vorzeitige Solidarność - Niederlage bedeuten können, und zwar aus einem einfachen Grund. Die Soziologen unterscheiden drei Arten der Solidarność - Befürworter : Die ersten unterstützten sie, weil sie glaubten, dass sie ihre eigenen politische Haltungen vertreten wird, was prinzipiell nicht möglich war. Die zweite Gruppe unterstützte Solidarność in der Hoffnung, dass ihre Führung über ein Konzept verfügt. Das war aber auch nicht der Fall. Und die dritte Gruppe unterstützte Solidarność nur deshalb, weil sie gegen die Staatspartei war.46 Unter diesen Umständen hatte der antidemokratische Führungsstil von Wałęsa gewisse Vorteile. Er brachte die Verhandlungen mit der Staatspartei zum Abschluss, verschob aber gleichzeitig die unvermeidbare Zersplitterung von Solidarność. Eine weitere Niederlage mussten die Solidarność - Vertreter bei der Frage der Aufarbeitung der kommunistischen Herrschaft hinnehmen. In der Tat sind z. B. die meisten Täter der größten Blutbäder in der polnischen Nachkriegsgeschichte nicht verurteilt oder zur Rechenschaft gezogen worden. Deshalb wurden die Verhandlungen des Runden Tisches hin und wieder als „Akt der Ungerechtigkeit“ betrachtet. Manche Forscher sind auch der Ansicht, dass die Gesellschaft die Wende besser hätte akzeptieren können, wären die Leidenschaften in der Gesellschaft, wie etwa der Antikommunismus, in einem einmaligen Ereignis kumuliert, wie das in Deutschland am 9. November 1989 der Fall war. Dabei gab es solche Ereignisse auch in Polen. Gemeint hier ist z. B. der Abriss des Dzierżyński - Denkmals in Warschau, wo genauso gejubelt wurde wie beim 44 Vgl. Bronisław Geremek, Trzeba było wygrać. In : Polityka vom 26. 7. 2008, S. 18. 45 Vgl. Wiesław Władyka, Co zostało z Okrągłego Stołu. In : Polityka vom 6. 2. 1999, S. 3. 46 Vgl. Lipiński - Wnik, Edmund : 10 lat później. In : Polityka vom 10. 1. 1999, S. 5.

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Mauerfall, allerdings ohne große Präsenz der Medien. Außerdem kann man daran zweifeln, ob solche einmaligen Situationen die Rechtsstaatlichkeit verbessern können. Die Erfahrungen der gewaltsamen Proteste in Polen nach 1945 zeigen ganz deutlich, dass der Anteil der kriminellen Handlungen bei den entsprechenden Demonstrationen ziemlich groß war.47 Die Diskussion über die polnische Revolution kann man praktisch endlos fortsetzen, und solange diese Revolution als Argument in der tagespolitischen Auseinandersetzung in Polen gilt, wird diese Diskussion durch unnötige Emotionen geprägt sein. Die einzige Tatsache, die keine Kontroverse her vorruft, ist die, dass die polnische Wende den Auftakt der demokratischen Umgestaltungen in Osteuropa markiert und dass dank der Erfahrungen aus der polnischen Transformation die anderen Revolutionen besser verlaufen konnten als die polnische. Die Forscher sollten, um Wiesław Chrzanowski zu zitieren, aufhören, weiterhin irreale Mythen über den Runden Tisch zu zelebrieren.48

47 Vgl. Piotr Osęka, Marzec 1968, Kraków 2008, S. 185. 48 Vgl. Wiesław Władyka, Mebel eksportowy. In : Polityka vom 28. 4. 1999, S. 16.

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Ungarns Weg von der fröhlichsten Baracke des Ostblocks zur neuen Wohnanlage der EU (1956 – 1989 – 2006) Máté Szabó

Das System von János Kádár bestand von seinem konterrevolutionären Beginn 1956 bis zu der Abwahl Kádárs als Parteisekretär im Herbst 1988. Mit der Abwahl der Galionsfigur des Regimes ist der Krisenprozess des „Kádárismus“ oder „Goulaschkommunismus“ im Prozess der von Moskau ausgegangenen „Glasnost“ und „Perestroika“ bzw. der neuen Politik der Nichteinmischung der sowjetischen Führung und insbesondere der Armee im früheren Ostblock transparent geworden. Es dauerte bis zum Frühling 1990, bis die ersten freien Wahlen und die daraus her vorgehende Regierungsbildung stattfinden konnten. In dieser Periode war das alte System zwar noch an der Macht, aber es wurde aufgrund der Herausforderungen der neuen politischen Bewegungen und Parteien, von den Ergebnissen der Verhandlungen am Runden Tisch 1989 und den darauf folgenden grundlegenden Verfassungs - und Gesetzveränderungen permanent ausgehöhlt und umgebaut. Am 23. Oktober 1989, dem Jahrestag des Ausbruchs der ungarischen Revolution 1956, spitzte sich die Lage zum Ausruf der ungarischen Republik anstelle der Volksrepublik zu. Die neuen politischen Kräfte waren zwar vorhanden, aber weder sie noch das alte System konnten die Situation kontrollieren; also gab es eine Art „Machtvakuum“, so dass Reform und Revolution in der ungarischen „Refolution“ ( Timothy Garton Ash ) zusammenflossen. Wichtige Akteure waren in dieser Periode die sich entwickelnden neuen politischen Bewegungen und Parteien, aber auch die Elite der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei ( USAP ). Innerhalb der USAP gab es schon länger eine Spaltung zwischen den „Hardlinern“ ( Kádár, Berecz, Grósz ) und den „Softlinern“ ( Pozsgay, Hor váth, Szűrös ), den Technokraten und den Reformkommunisten, die national und demokratisch gesinnt waren. Der innere Machtkampf der Partei ist aufgrund der internationalen und innenpolitischen Prozesse und Transformationen zugunsten der „Softliner“ entschieden worden. Die Reformkommunisten befanden sich mit den etablierten neuen politischen Kräften in einem historischen Kompromiss und mit den etablierten Kräften der Opposition im Dissens. Aufgrund dieser Zusammenarbeit war die friedliche – sich mit Verfassungs - und Gesetzesänderungen – vollziehende Transformation des ungari-

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schen sozialen und politischen Systems gesichert. Den Abschluss dieses Prozesses stellten die erste freien Wahlen 1990 dar.

1.

Vorkämpfer der Wende : Opposition und Dissens

Mit der fehlenden Rolle der Kirchen hat sich die weltliche Intelligenz zur Trägergruppe des Dissidententums entwickelt, und es gab wenig Anknüpfungspunkte zu religiösem Gedankengut und Symbolik. Das politische Denken von ungarischen Oppositionellen hat sich in eine säkularisierte Richtung entwickelt, in welcher Kategorien, Begriffe und Argumentationsweisen aus Philosophie, Recht, Ökonomie, Politik und Sozialwissenschaften im Vordergrund standen. Eine Besonderheit gegenüber der DDR und ČSSR ist in Ungarn das starke Her vortreten der nationalen Problematik, die eine autonome Richtung der oppositionellen Diskurse und Orientierungen im ungarischen Populismus begründet.1 Die nationale Problematik ist in Ungarn ( ähnlich wie in Polen ) sehr bedeutsam, aber mit anderen Akzenten. Nach dem Ersten Weltkrieg ist Ungarn als ein autonomer Staat aus dem Untergang der Habsburger Monarchie entstanden, aber mit großen Gebiets - und Bevölkerungsverlusten an die ebenfalls neu entstehenden Nationalstaaten Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien. Die Gebietser weiterung unter der Vorherrschaft des Dritten Reichss ging nach dem Zweiten Weltkrieg verloren, und nach der kommunistischen Machtübernahme war die nationale Problematik als solche weitgehend Tabu und obendrein Opfer von Unterdrückung und Verfolgung geworden. Dies hat zu einer Erstarkung des ungarischen Nationalismus / Populismus bei der ungarischen Emigration im Westen – in der freien Welt – geführt, sowie in gewissen Bereiche der Kultur und Literatur. In Ungarn war die Literatur ein wichtiger Kanal zur Erhaltung des ungarischem Populismus im kommunistischen System. Literaten, Schriftsteller, Dichter und Dramatiker wie Sándor Csoóri, István Csurka oder Dénes Csengey wurden die Anführer der populistischen Opposition. Der Populismus kehrte parallel mit der Liberalisierung und der Abschwächung der Unterdrückung aus der Kunst und Literatur in das öffentliche Leben und die Politik zurück. Es entstanden die erste Schritte von Dissens und Opposition bzw. von Systemkritik innerhalb der herrschenden Ideologie des Marxismus – wie auch in mehreren anderen Ostblockländern. Eine Aufgabe des Marxismus war die Kritik an den „Verhältnissen“, welche jetzt nicht mehr die bürgerliche Gesellschaft und Politik, sondern die sozialistische Gesellschaft und Politik darstellten. Der Charakter des neuen Regimes, seine Identifikation mit ideologisch - utopischen Zielen sowie die Krise und Deformation des „real existierenden“ Sozialismus waren die Hauptangriffspunkte der neuen Kritik. Es haben sich kritische und dogmatische, offizielle und inoffizielle marxistische Denkschulen entwickelt und 1

Vgl. Gyula Borbándi, A magyar népi mozgalom, Budapest 1989.

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für längere Zeit fast eine Monopolstellung im kritischen Diskurs behauptet. Diese Dominanz ist aufgrund der Repression und Wiederkehr stalinistisch - sowjetischer Methoden2, dessen paradigmatisches Beispiel der Einmarsch der Militär verbände des Warschauer Pakts in Prag 1968 darstellt, vor allem mit der Enttäuschung und der Abkehr von jüngeren, aber auch älteren marxistisch orientierten kritischen Denkern vom dogmatischen Lehrgebäude des Marxismus Leninismus zu erklären. Später kam es auch zur Abkehr vom Marxismus und es gab einen „langen Marsch“ zum Liberalismus,3 der zusammen mit dem Populismus die neue Hauptrichtung des kritischen - oppositionellen Denkens darstellte, während der Marxismus selbst für die Reformer in der kommunistischen Partei belanglos wurde. Dabei haben internationale NGOs einen bedeutenden Beitrag für die ungarische Transformation und die demokratische Konsolidierung geleistet. Die Entwicklung des politischen Denkens und der Systemkritik innerhalb der ungarischen Opposition ist eng mit internationalen Strömungen verbunden. Insbesondere die ČSSR und Polen sind sowohl als Vorbilder als auch als Herausforderer zu nennen – 1968 und 1980/81 sind für Ungarn wichtige Wendepunkte im oppositionellen Diskurs geworden. Solidarität mit den Oppositionsbewegungen des Ostblocks war ebenso wichtig, wie die Solidarität derselben mit Ungarn; insbesondere durch „Memorial - Proteste“ und andere Anknüpfungspunkte an die Tradition der Revolution von 1956 als einer der ersten großen antistalinistischen Kämpfe. Verglichen mit Polen und der ČSSR, spielte Russland vor der Perestroika – vielleicht wegen der nicht - slawischen Sprache und Kultur in Ungarn und der Stationierung sowjetischer Truppen seit 1945 und 1956 – bis zum endgültigen Abschied nach der Wende eine minder bedeutende Rolle. Die Kommunikation mit der Opposition und den Dissidenten in der Sowjetunion oder dem sowjetischen Exil war schwach ausgeprägt, abgesehen von Übersetzungen von Klassikern wie Solschenizyns Werke in inoffiziellen Ausgaben. Ein anderer wichtiger internationaler Bezugsrahmen war das ungarische Exil im Westen, das ( wie im Falle anderer Ostblockländer ) mehrere politisch unterschiedlich orientierte Generationen beherbergte. Im ungarischen Fall war es die Generation von 1956, die ausschlaggebend war.4 Eine Besonderheit stellt das Vorhandensein von ungarischen Oppositionssubkulturen in Jugoslawien, Rumänien und in der Tschechoslowakei dar. Besonders die zwei letztgenannten Gruppen, zum Beispiel mehrere ungarische Oppositionelle aus Rumänien, die nach Budapest übersiedelten und dort eine aktive Rolle einnahmen, sind mit ihren Themen und Persönlichkeiten für den oppositionellen Diskurs bedeutsam geworden. 2 3 4

Gábor Tabajdi - Krisztián Ungváry : Elhallgatott múlt. A pártállam és a belügy (1956– 1990). Corvina /1956 - os Intézet, Budapest 2008. Vgl. Béla Faragó, Nyugati liberális szemmel a magyar ellenzéki gondolkodásról, Paris 1986. Vgl. Gyula Borbándi, A magyar emigráció életrajza 1945–1985, 2 Bände, Budapest 1989.

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Die oppositionelle Kritik und überhaupt die Existenz bzw. Reichweite von oppositionellen Aktivitäten waren weitgehend von der Entwicklung des Ostblocks und der jeweiligen Regime abhängig. In Ungarn haben sich nach 1956 und nach 1968 innerhalb des Regimes mehr und weniger reform - und liberalisierungsoffene Richtungen – „Hardliner“ und „Softliner“ – entwickelt,5 deren Spannungsverhältnisse und Kämpfe mehr oder weniger Freiraum und mehr oder weniger Zündstoff für das oppositionelle Denken lieferten. Vor 1968 gab es eine reformoffene Periode, in der sich die marxistische Kritik entwickelte, aber mit der nach 1973 folgenden Eiszeit zwischen Breschnew und Kádár waren die Freiräume wieder weitgehend geschlossen, und in den oppositionellen Diskursen begann die Abkehr vom Marxismus und die Hinwendung zum Liberalismus. Die Liberalisierungstendenz starb aber nicht, sondern kam durch Umwege in den 80er Jahren wieder zum Vorschein, was eine gewisse Kommunikation zwischen Reformkommunisten, liberalen und populistischen Oppositionsrichtungen zuließ, die sich – mit wechselnden Akzenten und Gleichgewichten – sowohl durch Konflikte als auch durch Kooperationen auszeichnete. Es gab sogar partielle Zusammenarbeit zwischen den Populisten und den Reformkommunisten, was zu einem Dauerkonflikt zwischen Liberalen und Populisten führte. Als ein kleines Land, das nach dem Zweiten Weltkrieg zu den Verlierern gehörte, war Ungarn weitgehend von der Sowjetunion und der von ihr bestimmten Politik des Ostblocks abhängig.6 Dieser starke Druck hat sich jedoch nicht immer durchgesetzt. In der Außenpolitik versuchte Ungarn während der Breschnew - Ära, eine Offenheit gegenüber Westeuropa aufrecht zu erhalten. In dieser relativ eigenständigen Politik spielten auch die Dissidenten eine Rolle – nämlich als Beweis für die westlichen Regierungen, dass in Ungarn ein gewisses Maß an Liberalität vorhanden sei. Nach der großen Repressionswelle von 1956 hat man die Oppositionellen nicht wie in der ČSSR, Polen und der ČSSR nach 1968 mit harten Haftstrafen, Zwangsaussiedlung, und Prozessen bestraft, sondern mit milderen – natürlich nach demokratischen Maßstäbe immer noch sehr harten Repressionen – in Grenzen gehalten, aber nicht ihre Existenzgrundlagen völlig vernichtet.7 Die Abhängigkeit der ungarischen Wirtschaft von westlichen Krediten, Technologien und Investitionen führte ab Ende der 70er Jahren dazu, dass sich eine gewisse „Normalität“ entwickelte, die von der SamizdatHerstellung, über Verkehr und Reisemöglichkeiten für Oppositionelle in den Westen ( mit der Garantie einer Rückkehr ), bis zur Duldung von Samizdat und Auslandspublikationen reichte; eine sehr selektive und repressive, nicht für jeden und nicht für immer geltende, aber doch eine Toleranz mit einer gewis5 6 7

Vgl. Rudolf Tőkés, A kialkudott forradalom. Gazdasági reform, társadalmi átalakulás és politikai hatalomutódlás 1957–1990, Budapest 1998. Vgl. Charles Gáti, Magyarország a Kreml árnyékában, Budapest 1990; Charles Gáti, Füstbe ment tömb, Budapest 1991. Vgl. Ervin Csizmadia, A magyar demokratikus ellenzék (1968–1988), Band 1, Budapest 1996.

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sen Kalkulierbarkeit.8 Für die Ausbildung und Institutionalisierung dieser ( mit den Gesetzen und Vorschriften sozialistischer Systeme selbst nonkonformen ) Duldung hat die Soros - Stiftung, die seit Mitte der 80er Jahren in Ungarn9 als eine Art Schaltstelle zwischen offizieller und inoffizieller, ungarischer und westlicher Kunst, Wissenschaft und zivilgesellschaftlicher Aktivität fungiert, eine sehr wichtige Rolle gespielt. Sie war, zuerst gemeinsam mit der Akademie der Wissenschaften, eine der ersten Stiftungen in Ungarn, die einen legalen Rechtsstatus besaß. Damit hat George Soros, ein Exil - Ungar, in seinem Heimatland den Grundstein für sein weltweites philanthropisches „Reich“ gelegt. Bei der Etablierung der Stiftung haben auch oppositionelle Gruppierungen eine große Rolle gespielt, als Berater für Strategieplanung Soros’ zur Ver wurzelung dieses Unternehmens in Ungarn bzw. auch als Zielgruppe der Stiftungsaktivitäten. Als Anhänger einer „Open Society“ hat Soros die Entstehung von zivilen Gruppen wirksam unterstützt und mit Stipendien, technischen Geräte und Kooperationen mit ähnlichen westlichen Initiativen gefördert. Diese Programme waren sehr wichtig, denn sie stellten den neuen politischen und sozialen Organisationen 1988/89 überhaupt die notwendigen Mittel zur Verfügung. Mehr und mehr westliche Regierungen und Nicht - Regierungsorganisationen folgten im Laufe der Wende seinem Weg und finanzierten den Übergang der Opposition zu etablierten Vereinen, Stiftungen, NGOs, aber auch zu Parteien mit. Die westliche Hilfe war aber natürlich nicht nur materieller, sondern auch symbolisch - prestigeträchtiger Natur : Westliche Anerkennung, Kooperation und Legitimität unterstützten die neuen Organisationen gegenüber der noch 1988/89 in „Hardliner“ und „Softliner“ gespaltenen ungarischen Führung. Das ungarische Exil gewährte Unterstützung für die Opposition beider Lager, und es vermittelte angeblich auch geheime Unterstützung durch westliche Regierungen. Andere Unterstützung erhielt die die ungarische Opposition, besonders in den 70er Jahren, durch verschiedene Gruppierungen der neuen Linken ( BRD, Italien, Frankreich, England ). Die neuen sozialen Bewegungen der 80er Jahre, wie Öko - und Friedensgruppen sowie verschiedene kirchliche Organisationen und Gruppen, haben ebenfalls ihren bescheidenen Beitrag geleistet. An den von der „Praxis - Gruppe“ etablierten freien Universitäten in Korcula und Dubrovnik gab es in den 70er und 80er Jahren bis zur Wende einen regen Austausch von eher links gerichteten Ost - Ost - und Ost - West - Gruppen, die auch jenseits dieser Institutionen ein europäisches Netzwerke ausgebaut haben. Pierre ( Péter ) Kende, einem der Opposition nahe stehenden Emigranten, der vielfältige Kontakte zum politischen Untergrund unterhielt und in der frühen Wendezeit ebenfalls eine ( auch in deutscher Sprache veröffentlichte ) prominente Analyse der Opposition vorlegte, verdanken wir die folgenden quantitativen 8 9

Vgl. György Dalos, Archipel Gulasch. Die Entstehung der demokratischen Opposition in Ungarn, Bremen 1986. Vgl. Béla Nóvé ( Hg. ), Tény - Soros. A magyar Soros Alapítvány első tíz éve 1984–1994, Budapest 1999.

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Angaben zur Stärke der oppositionellen Gruppen und ihrer Wirkungskreise während der Niedergangsphase des Regimes : „Wer ist also Mitglied der ‚Opposition‘ in Ungarn ? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht einfach. Im engsten Sinne des Wortes können nur einige Dutzend Personen oppositionell genannt werden. Bei ihnen muss man noch zwei Kerngruppen unterscheiden : Die der kritischen Bewegung, die mit dem ‚Samizdat‘ entstanden ist und die von ihren wichtigsten aktiven Mitgliedern ‚demokratisch‘ genannt wird, und die Populisten, die sich von der ersteren nicht nur durch ihre Ideen, sondern auch durch die Tatsache unterscheiden, dass ihre Anführer einen Fuß in den offiziellen Institutionen behalten [...] Wenn man jeden der beiden ‚Kerne‘ durch zwei bis drei bekannte Gesichter personifizieren sollte, würde ich für die Gruppe der Populisten den Dichter Sándor Csóori und den Dramaturgen István Csurka und für die ‚demokratische Opposition‘ den Schriftsteller János Kenedi, den Architekten László Rajk und den Philosophen János Kis nennen. [...] In einem weiteren Sinne kann man die ungarische Opposition jedoch als das Publikum der oben genannten Veranstaltungen definieren, oder als die Leserschaft der oppositionellen Zeitschriften. Jedenfalls ist der Umfang dieses Publikums variabel. Die Zahl der aktiven Unterstützer liegt zwischen 200 und 500 [...], während die Anzahl der Sympathisanten in die Tausende geht, und soweit es um die Leserschaft der Bücher und Zeitschriften der organisierten Opposition geht, so kann diese bis zu mehreren Zehntausenden gehen. Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass eine halb - oppositionelle Petition im Jahre 1984 etwa 6000 Unterschriften hat versammeln können. Natürlich ist es unmöglich, die zu zählen, die in ihrer innersten Überzeugung oder als stumme Zuhörer einer öffentlichen Debatte den Widerstandspositionen zustimmen. Das einzige, was man mit Sicherheit sagen kann, ist, dass der intellektuelle Einfluss der Opposition weit über die Zirkel und Ateliers der entscheidenden Oppositionellen hinausreicht.“10

Der Autor hat seine Studie vermutlich 1987 verfasst und sie 1988 angesichts der uner warteten Mobilisierungswirkungen, welche die Oppositionsgruppen im Zuge der Demokratisierungswelle, die inzwischen den ganzen Ostblock erfasst hatte, mit einem Anhang bzw. einer Ergänzung versehen, in der er die rapide quantitative und qualitative Entwicklung skizzierte : „Jetzt, am Ende des Jahres 1988, kann das reale Ausmaß der oppositionellen Kreise mithilfe der Anzahl der Personen geschätzt werden, die ausdrücklich Mitglied der verschiedenen, im Laufe des Jahres gebildeten politischen Vereinigungen geworden sind. Diese Zahl liegt bei mehreren Tausend. Eine Folge dieser Ausweitung : Die Opposition beschränkt sich nicht mehr auf die intellektuellen Kreise der Hauptstadt; sie entwickelt jetzt eine breitere Basis in der Bevölkerung. Aber die Jugend stellt in ihr immer noch die über wiegende Mehrheit.“11 Im Vergleich zur DDR mag die Tatsache, dass Fragen nach der nationalen Identität und den Beziehungen zu Landsleuten im Ausland profilbildende Themen der Opposition bildeten, als eine ungarische Besonderheit erscheinen; der Unterschied zur Situation in anderen Ostblockländern ist jedoch weniger krass. 10 Pierre ( Péter ) Kende, Leistungen und Aussichten der demokratischen Opposition in Ungarn. In : Pierre Kende / Aleksandr Smolar, Die Rolle oppositioneller Gruppen am Vorabend der Demokratisierung in Polen und Ungarn (1987–1989). Mit einem Vorwort von Zdenek Mlynar ( Studie Nr. 17–18 des Forschungsprojekts Krisen in den Systemen sowjetischen Typs ), Köln 1989, S. 68. 11 Ebd., S. 88.

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In Ungarn haben wir auf Seiten der Urbanisten den Einfluss der Sozialphilosophie des kritischen Marxismus und der angewandten Sozialwissenschaften, der von der Georg - Lukács - Schule und ihren Netzwerken ausging, auf der anderen Seite Schriftsteller, Künstler, Kultur wissenschaftler, Historiker und Ethnologen, deren Denken sich um die nationale Identität Ungarns dreht und von Dritter Weg - Traditionen geprägt ist. Dies ist natürlich eine idealtypische Gegenüberstellung, die im Interesse der Typisierung bestimmte Trends zu Lasten anderer besonders her vorhebt; in der Realität waren die strukturellen Unterschiede weniger scharf und natürlich gab es auf beiden Seiten Angehörige der unterschiedlichsten akademischen Berufe. Ungeachtet ihrer ideologischen Differenzen wurden beide Strömungen vom Regime unterdrückt und in ihren Bestrebungen, Öffentlichkeit zu gewinnen, durch Repressionsmaßnahmen gehindert, wenngleich nicht immer auf die gleiche Weise und mit derselben Intensität. Wie aber verlief der Prozess im engeren Sinne in der zweiten Hälfte der 80er Jahre, und wie entwickelte sich insbesondere die Rolle der außerhalb der Partei agierenden Opposition bei der Wende ? 1985 kam es zur Parlamentswahl, bei der sich die örtlichen Parteikomitees im Geiste der Perestroika verpflichteten, mehr Pluralismus zu gewähren und jeweils in den einzelnen Wahlkreisen mehrere Kandidaten aufzustellen. Die oppositionellen Gruppierungen versuchten, ihre unabhängigen Kandidaten in Budapest zu stellen. Das wurde von der offiziellen Seite durch administrativen Druck verhindert, allerdings ohne politische oder juristische Sanktionen gegen die Kandidaten und ihre Unterstützer. Die Kandidatenaufstellung zeigt den wachsenden Mut der oppositionellen Gruppierungen, auch innerhalb der existierenden Möglichkeiten Politik zu machen. Es gab insgesamt 154 inoffizielle Kandidaten, 71 konnten an den Wahlen teilnehmen und 35 kamen ins Parlament ! Hierbei handelte es sich aber weder um von der Partei, noch von der Opposition gestellte, sondern um „spontane“, von nicht - organisierten örtlichen Foren aufgestellte Unabhängige. Kandidaten der Opposition kamen nicht ins Wahlverfahren. Nach den Wahlen vom 14. bis 16. Juni 1985 versuchten bei einem Treffen in dem Dorf Monor, die zwei führenden Gruppierungen – die Populisten und die Urbanisten – angesichts der neuen Herausforderungen von Gesellschaft und Politik an die Opposition, eine gemeinsame Diagnose und Programmatik über die Alternativen der ungarischen Gesellschaft zu formulieren. Aber die Wege der zwei Gruppen blieben weiter getrennt und gingen in die verschiedenen Richtungen der später konkurrierenden Parteienbildungen ( SZDSZ - Urbanisten und MDF - Populisten ). Die ideologische Spaltung, die beim Aufeinanderprallen der einseitig nationalen bzw. der liberaldemokratisch - menschenrechtlichen Orientierungen entstand, ist schon in den Protokollen von Monor festzustellen. Darauffolgend näherte sich die populistische Gruppe den Reformkommunisten unter der Führung Imre Pozsgays an und konnte dafür eigene Institutionen, Organisationen, Stiftungen und Konferenzen seit 1987 legal organisieren, während die Urbanisten mit ihrer radikalen Kritik am System bis in das Jahr 1989 verfolgt

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wurden. D. h. es gab in den Jahren 1987 bis 1989 zwei Toleranzmaßstäbe, die sich auch in den Befehlen und Orientierungen der Staatssicherheit dokumentieren lassen : Die oppositionellen Lager werden differenziert behandelt, wobei die Radikalen ( Urbanisten ) weiter zu verfolgen waren und die Reformisten ( Populisten ), „die uns nahe stehen“, vorsichtig toleriert wurden. Pierre Kende behauptet : „Schon vor 1987 hatte die öffentliche Rede in Ungarn eine zunehmende Liberalisierung erfahren, was sich in Schwächung der großen ‚Tabus‘ und der Entbolschewisierung der Sprache niederschlug. In den Jahren 1987/1988 hatte sich diese Befreiung auf die offizielle Presse ( Radio und Fernsehen eingeschlossen ) so sehr ausgeweitet, dass die Journalisten des Regimes zu den professionellen Kritikern der Regierung geworden sind. Die geheimen Vorkehrungen, welche bis 1987 die als Oppositionelle bekannten Journalisten und Schriftsteller ( z. B. die Redakteure der Zeitschrift ‚Beszélő‘ ) gehindert hatten, sich in der offiziellen Presse auszudrücken, waren völlig verschwunden. Genauso wie die totale Kontrolle der Information durch die Behörden. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass mit Mai 1988, welcher mit dem Abschluss des außerordentlichen Kongresses den Sturz von János Kádár brachte, die herrschende Partei nie so entschieden der Idee der Reform ‚verpflichtet‘ war, wie seit 1968. Und was noch wichtiger ist, im Jahr 1988 betrifft die Reform auch die politischen Institutionen und den gesamten sozialen Bereich. [...] Das allein kann als ein Sieg der Opposition betrachtet werden, die nie unterlassen hat, in diese Richtung zu argumentieren.“12 Der Aufwind treibt die Bewegungs - und Oppositionsszene Ungarns in den Hochbetrieb am Ende der 80er Jahre. Die Wende ist spürbar nah. Die verschiedene Initiativen beginnen sich zuerst informell zu organisieren, dann mit Vereinen als Plattformen oder ganz mutig als Partei. Kende merkt hierzu : „1987 hatte ich mit Erstaunen festgestellt, dass sich die ungarischen Behörden nach einem zehn Jahre langen Kampf damit abgefunden hatten, die Opposition als eine gesellschaftliche Tatsache anzuerkennen, und dass sie sogar einen Dialog mit ihr zu führen, akzeptiert hatten. Im November 1988 präsentiert sich die Opposition [...] völlig offen : sie hat ihre Klubs, ihre Vereinigungen, ihre Sitzungsorte.“13 Im Jahr 1988 entstanden drei Arten von ständigen Strukturen : 1. Die politischen Klubs, die sich auf eine Tradition ( eine Denkrichtung ) von vor 1949 berufen. 2. Die Vereinigungen, deren Ziel es ist, die Interessen bestimmter Bevölkerungsgruppen zu verteidigen ( freie Gewerkschaften, lokale Vereinigungen ). 3. Die im engeren Sinne politischen Vereinigungen, deren Tendenz es ist, sich zu Parteien zu entwickeln.“14

12 Ebd., S. 87. 13 Ebd., S. 86. 14 Ebd., S. 90.

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Als aus der Opposition stammende Parteien erwähnt Kende in seinem Bericht die – große Strömungen bzw. Lager der Opposition vereinigende – SDSZ ( urbanistisch - demokratische Opposition ), die von den Populisten aufgebaute MDF und die junge Generationspartei FIDESZ, die ursprünglich jenseits der beiden Lager stand, dann aber bis 1992 im liberalen, danach im konser vativ - nationalen landete. Die Diskussions - und Organisationsversammlungen der Opposition sind sicherlich Schulen der neuen ungarischen Demokratie und der neuen politischen Kultur gewesen. Welche Rolle aber spielten die Oppositionellen machtpolitisch während der Wende ? Sie stellen die andere Seite des Runden Tisches 1989 dar, der in Ungarn als eine Art verdeckte verfassungsgebende Versammlung funktionierte und die Regeln der Wende feststellte. Die drei Seiten waren Regierung, Opposition ( der „oppositionelle Runde Tisch“) und „dritte“, unabhängige Kräfte, z. B. gewerkschaftliche Organisationen, die sich nun aufgrund der Parteienentwicklung auf lösten. Die ausgearbeiteten Vorschläge sind weitgehend von der letzten kommunistischen Regierung akzeptiert worden. Die oppositionellen Gruppen und Organisationen übten mit ihren vermehrten und größer werdenden Demonstrationen, Versammlungen oder Festen, wie am 15. März und am 16. Juni 1989, Druck auf die USAP aus. Sie bestimmten die Themen der Wende mit, bei denen das Regime graduell nachgab : die Aufarbeitung der Vergangenheit, insbesondere der Revolution von 1956, Demokratie und Menschenrechte, nationale Souveränität, Auf lösung des Ostblocks, Minderheitenschutz für Ungaren im Ausland und für Minderheiten in Ungarn, Ende der Umweltzerstörung, Abschaffung des Ideologiezwanges in Schulen und Gesellschaft, Markt, Privatisierung und die Öffnung nach Westen und Europa. Die reformistischen Kräfte innerhalb der USAP teilten die meisten dieser Punkte und versuchten vergeblich, wie die Ergebnisse der ersten freien Wahlen 1990 zeigten, diese Punkte glaubwürdiger als die von den Oppositionsgruppen etablierten neuen Parteien zu vertreten. Die oppositionellen Gruppen und Organisationen übten im Wahlkampf als neu entstandene Parteien Druck auf die alte Elite aus, forderten sie heraus und wurden die Sieger des Wahlkampfes, in dem die aus der USAP entstandene USP – als Prügelknabe und Sündenbock für die kommunistische Vergangenheit – die schlechtesten Wahlergebnisse bekam. Die Gegen - Elite, die in verschiedenen Formen den Kommunisten gegenübertrat, ist aus der Opposition entstanden und spiegelte sich in den Parteien MDF, SZDSZ und FIDESZ wider, die bei den ersten freien Wahlen 1990 das alte Regime ablösten. Mit der Parteienentwicklung im Jahre1988/89 endete die Geschichte der Opposition als Anti - Regime - Kraft und wurde im Sinne des Parlamentarismus und der Parteiendemokratie umgeformt. Natürlich, wie es sich mehrmals am Beispiel der Entwicklung nach 1989 zeigt, sind die in der Periode der Anti Regime - Opposition entstandenen Strukturen und Erfahrungen auch für die spätere politische und gesellschaftliche Entwicklung relevant. Natürlich sind nicht alle Oppositionelle in die neuen Parteien eingetreten, denn viele zogen es vor,

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sich in der neuen Kultur und Gesellschaft zu betätigen, um als Bürgerrechtler, Künstler oder Wissenschaftler die Ideen der Menschrechte gegenüber jeglichen Gefährdungen und Beschränkungen – wie sie auch in den neuen Demokratien vorhanden sind – zu vertreten. Ein Sieg der Opposition ? Andere Autoren betonen noch die Relevanz der sowjetischen Politik für die Wende in Ungarn, deren Verbündete sich freilich nicht in der Opposition befanden, sondern in der „Opposition innerhalb der Partei“, also in den Anti - Kádár - Gruppen der Elite ! Tökés und Kende betonen die Relevanz der „Softliner“ - Kommunisten innerhalb der Elite für die Öffnung. Kende spricht von „internen Oppositionellen“ und „Mittelgängern“, und Tökés baut eine noch differenzierte Systematik auf, um die Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß zu verdeutlichen.15 Es sind die neuen „Revisionisten“, von denen die Veränderungen in Ungarn ausgehen, und nicht die Oppositionellen, die vom „alten“ Revisionismus der 60er Jahre kommen ! Die Opposition und die „Softliner“ - Elite standen in einem Spannungsverhältnis von Konflikt und Kooperation, wie es Tökés darstellt. Zunächst entwickelten sich aus dem Konflikt heraus mehr und mehr kooperative Elemente, während nach der Wende, im Wahlkampf 1990, wiederum der Konflikt zwischen den aus der Opposition entstandenen Parteien und der reformistischen Nachfolgepartei der USAP dominierte.

2.

Auch „Vorkämpfer“ der Wende : die „Reformelite“ der USAP

Im Vergleich zur Mehrheit der anderen osteuropäischen Länder hat sich das Erbe, das der Staatssozialismus in seiner kádáristischen Version der ungarischen Gesellschaft hinterließ, als relativ vorteilhaft erwiesen. Die frühzeitige Öffnung zum Westen hat insbesondere die Herausbildung eines reformorientierten Flügels innerhalb der Regimeeliten gefördert, der verschiedenen oppositionellen Gruppen im Konflikt mit der Hardliner - Fraktion der Partei als gesprächsbereiter Ansprechpartner zur Verfügung stand. Dieses langjährige Wechselspiel von Kooperation und Konflikt im Beziehungsgeflecht zwischen 1.) dem Reformflügel und der Hardliner - Fraktion innerhalb des politischen Establishments, 2.) den verschiedenen Gruppierungen innerhalb der Opposition und 3.) zwischen Regime - und Gegen - Eliten hat letztlich den „gesteuerten“ Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft ermöglicht und die Aushandlung der Modalitäten des Regimewechsels erheblich erleichtert. Der besondere Charakter des Kádár - Regimes zeigte sich des Weiteren in der Einführung von Marktmechanismen, der sukzessiven Ausbildung eines für staatsozialistische Verhältnisse nennenswerten Niveaus an Rechtsstaatlichkeit sowie in einer relativ weitgehenden Zurückhaltung willkürlicher politischer Inter ventionen in die Zivilgesellschaft. Nach dem Ende der stalinistischen Periode und der Verfolgungen im Anschluss an den niedergeschlagenen Volksauf15 Vgl. Rudolf Tökés, Hungary’s Negotiated Revolution. 1957–1990, Cambridge 1996.

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stand (1956–58) hat es faktisch keine politischen Verbrechen in staatlichem Auftrag mehr gegeben. Die strafrechtliche Aufarbeitung der kommunistischen Herrschaftsperiode war daher in Ungarn in den 90er Jahren von weit weniger Relevanz und Brisanz als in anderen postkommunistischen Ländern. Die relativ liberale Politik des Kádár - Regimes hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass in Ungarn der Graben zwischen der kommunistischen Elite und der Gesellschaft, die Polarisierung in „wir“ und „sie“, weit weniger stark ausgeprägt war als z. B. in Polen oder der ČSSR. Insgesamt hat sich die Öffnung zum Westen und die damit verbundene Abhängigkeit Ungarns von ausländischen Krediten auch positiv auf die Entwicklung der Opposition ausgewirkt. Um Ungarns Image im Westen nicht zu gefährden, praktizierten Kádár und Aczél gegenüber Andersdenkenden einen für kommunistische Regime ungewöhnlich moderaten Umgang. Die internationalen politischen Rahmenbedingungen haben sich mit der Politik Gorbatschows in der Sowjetunion positiv verändert und der neue Reformenschub hat neuen Mut auch in die ungarische Zivilgesellschaft gebracht. Aber in Ungarn waren schon vor Gorbatschow Stimmen der demokratischen Veränderung in der Parteiführung vorhanden gewesen, weswegen auch die Themen von Perestroika und Glasnost Ungarn viel früher und ungehemmter erreicht haben als die DDR oder die Tschechoslowakei. Nach einer langen Phase der ökonomischen und sozialen Liberalisierung setzte sich in Ungarn seit dem Frühjahr 1988 auch in der Politik ein Prozess der weitgehenden Demokratisierung durch. Neue Parteien und politische Organisationen entstanden, ebenso veränderten sich die Verbände. Alternative Gewerkschaften, Arbeiterräte, örtliche Initiativen und Kooperationen entstanden ebenfalls, welche die Interessenvertretung ihrer Mitglieder jenseits der etablierten Strukturen wahrnehmen wollten. Um den Zeitraum bis zu den ersten Parlamentswahlen im Frühjahr 1990 zu überbrücken, wurde 1989 die Institution des Runden Tisches nach polnischem Muster ins Leben gerufen, an dem drei Gesellschaftsbereiche vertreten waren : Neben der kommunistischen Partei bzw. der von ihr dominierten Regierung und den neu entstandenen Oppositionsparteien gab es noch die so genannte „dritte Seite“. Letztere umfasste die von der kommunistischen Partei schon im alten System offiziell zugelassenen Gruppen und Organisationen, von der „Patriotischen Volksfront“ bis zu den staatlichen Jugendorganisationen. Durch die Gespräche am Runden Tisch wurde versucht, das Machtvakuum bis zur ersten freien Wahl 1990 zu überbrücken. Damit war die Funktion des 1985, noch unter János Kádár gewählten Parlaments bewusst beeinträchtigt und seine Rolle in der politischen Willensbildung untergraben; sie sollte erst mit den Wahlen im Frühjahr 1990 wiederhergestellt werden. Parallel zu dieser Entwicklung verlief der Prozess der Reaktivierung des Parlaments. Es wurden in den Jahren 1988 und 1989 einzelne „konser vative“, altkommunistische Abgeordnete aufgrund des im kommunistischen Parlamentarismus institutionalisierten und jetzt praktizierten „imperativen Mandates“ abberufen und deren Mandate hauptsächlich an die neuen politischen Organisationen ver-

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teilt. Damit entstanden echte Fraktionen ( die Kommunisten, die neu gewählten Abgeordneten der außerparlamentarischen Opposition, die Verteidiger von Agrarinteressen etc.) im letzten kommunistischen Parlament und somit ein höheres Maß an Repräsentation. Insgesamt ist die Veränderung der Institutionen durch die Reaktivierung der Öffentlichkeit und des öffentlichen Diskurses weitgehend beschleunigt worden. Die gesellschaftlichen Diskussionen wurden in dem neuen politischen Pluralismus belebt. Eine Flut von politischen Flugschriften entstand, wobei jedoch die sich öffnenden elektronischen und gedruckten Medien im Mittelpunkt standen. Die direkte Partizipation der Bürger im Veränderungsprozess manifestierte sich sowohl in den Aktivitäten neuer politischer Organisationen, Parteien, Verbände und anderen Gruppierungen als auch in der sich entfaltenden öffentlichen Diskussionen. Diese gesellschaftlichen Diskussionen konnten, wie das Beispiel des Vereinsund Versammlungsrechts zeigt, zum Systemwechsel beitragen. Die Vereins - und Versammlungsfreiheit war zwar in der kommunistischen Periode als Verfassungsparagraph ein uneingeschränkt geltendes Grundrecht,16 aber es existierte keine detaillierte gesetzliche Regelung und noch weniger irgendeine politische Praxis, die dieses Grundrecht ver wirklicht hätte. D. h. Norm und Realität standen im krassen Gegensatz zueinander. Die politische Kontrolle zu Beginn der 80er Jahre war so restriktiv, dass der von den aufkommenden neuen zivilen Organisationen beanspruchte Vereinsstatus nicht genehmigt wurde, nicht einmal für Umwelt - oder Denkmalschutz, vom Kern der Macht weit entfernte Gebiete. Nach dem Sturz Kádárs im Frühjahr 1988 wollte die neue Führung der kommunistischen Partei ihren Reformwillen durch ein demokratisiertes Vereins - und Versammlungsrecht manifestieren. Die Initiative ging vom Zentralkomitee der USAP aus. Dieses Gremium hatte am 13./14. Juli 1988 – vielleicht in Anlehnung an die Ereignisse der Französischen Revolution – die Neuregelung der Vereins - und Versammlungsfreiheit diskutiert. György Fejti, damals einer der Sekretäre des Zentralkomitees, skizzierte die gesetzlichen Grundlagen für Freiräume und Entfaltung von gesellschaftlich - politischer Kritik.17 Neben allgemeinen Bekundungen wurden auch konkrete Vorschläge für Gesetzesvorlagen gemacht. Diese Vorschläge wurden durch den Ministerrat an die so genannte Patriotische Volksfront gesandt, um zunächst die gesellschaftliche Diskussion zu organisieren und danach das Parlament mit einzubeziehen. Bei der Patriotischen Volksfront18 handelte es sich um eine stalinistische Ersatzinstitution für das aufgelöste Mehrparteiensystem. Mitunter war sie ein Ort für Pluralisierungsund Demokratisierungstendenzen, etwa unter ihrem Vorsitzenden Imre Pozsgay 16 Vgl. Gábor Halmai, Az állam és az egyesületek. In : A Magyar Politikatudományi Társaság Evkönyve, Budapest 1987, S. 202–206; Gábor Halmai, Az egyesületek és az állam. In : Medvetánc, 4/1987, S. 145–157. 17 Vgl. György Fejti, A gyülekezési és az egyesülési jogról. In : Magyar Ifjúság, 30/1988, S. 2 f. 18 Vgl. István Kukorelli, Die „Patriotische Volksfront“ im politischen System der Ungarischen Volksrepublik. In : Zeitschrift für Parlamentsfragen, 1/1984, S. 94–102.

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zu Beginn der 80er Jahre. Auch sie trat für die Reform des Vereins - und Versammlungsrechts ein. Im Unterschied zu früher wurden Gesetzesvorlagen jetzt in mehreren Tageszeitungen publiziert, um die politisch interessierte Öffentlichkeit von vornherein in die Diskussion einzubeziehen. Durch diese öffentlich geführten Diskussionen entfaltete sich die erneuerte politische Aktivität der ungarischen Gesellschaft, „strategisch“ gegen das alte System und für die demokratische Erneuerung und Öffnung orientiert. Diese Orientierung vereinte die neuen politischen Organisationen, solange ein gemeinsamer Gegner im alten System noch bestand hatte. Justizminister Kálmán war bei der Diskussion der Gesetzesvorlagen zu einer ausführlichen Stellungnahme bezüglich des Regierungsstandpunktes gezwungen.19 Denn die vielen Initiativen außerhalb des Parlamentes und des etablierten politischen Systems, gehörten zum Plan für die von oben initiierten politischen Veränderungen. Kulcsár erklärte, dass die Regierung keine Angst habe, den Demokratisierungsprozess weiter zu entwickeln, sie wolle ihn sogar fördern. Die Gesetze über Vereins - und Versammlungsfreiheit sind als Teil einer umfassenden Transformation Ungarns zu einem wirklichen Rechtstaat anzusehen. Dieser Prozess musste in eine neue Verfassung münden. Die staatsrechtlichen Gesetze, wie jenes über das Vereins - und Versammlungsrecht, sind als Schritte in Richtung auf dieses Ziel zu betrachten. Die im Frühjahr 1989 unter dem Druck der neu entstandenen zivilen Gruppierungen und mit der Hilfe der Reformkommunisten wie Kulcsár und Pozsgay verabschiedeten Gesetze für das Vereins - und Versammlungsrecht20 waren wichtige Hebel im Systemwechsel, welche den friedlichen Übergang vom kommunistischen Regime zur Demokratie bildeten und neue Betätigungsfelder für die früher unterdrückten Bürgerinitiativen sicherten. Der nächste Schritt war ein Parteiengesetz21 und die wesentliche Modifikation der Verfassung am 23. Oktober 1989 – mit der Ausrufung der Republik anstatt bisherigen „Volksrepublik“ Ungarn.22 Das Beispiel der Verabschiedung der grundlegenden Gesetze des Systemwechsels kann mit einer anderen Fallstudie ergänzt werden, um zu zeigen, welches Zusammenspiel oder welche Zusammenarbeit in dem Systemwechsel zwischen den „Softlinern“ der kommunistischen Partei und der Führungselite der neuen zivilen Gesellschaft, der Bürgerorganisationen von 1989, existierte : die Rehabilitierung und Wiederumbettung des – 1958 zum Tode verurteilten und hingerichteten – Revolutionsministerpräsidenten Imre Nagy am 16. Juni 1989.23 19 Magyar Nemzet vom 12.1.1989, S. 1. 20 Az egyesülési jogról szóló 1989. évi II. törvény in : Barnabás Hajas ( Hg.), Alkotmányjogi jogszabálygyűjtemény, Budapest 2005, S. 264–266. A gyülekezési jogról szóló 1989. évi III. törvény in : ebd., S. 267 f. 21 Vgl. 1989 évi XXXIII. törvény a pártok működéséről ( Gesetz XXXIII /1989 über die Tätigkeit und Wirtschaftsführung der Parteien ). In : Magyar Közlöny, 1989/77, S. 1298–1305. 22 András Körösényi / Gábor G. Fodor / Jürgen Dieringer, Das politische System Ungarns. In : Wolfgang Ismayr ( Hg.), Die politischen Systeme Osteuropas, Wiesbaden 2010, S. 357–419. 23 Rituale der Vergangenheitsbewältigung in Ungarn. In : Andreas Pribersky / Berthold Unfried ( Hg.), Symbole und Rituale des Politischen, Frankfurt a. M. 1999, S. 137–159.

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Die Wiederbeerdigung des Führers der ungarischen Revolution von 1956 wurde zu einer politischen Demonstration für die Demokratisierung und Abschaffung des totalitär - autoritären Regimes. Wie hat man durch symbolische Gesten einen Akt der Wiederbesinnung und Erinnerung herbeigeführt und dadurch auch realpolitische Prozesse der Demokratisierung nachhaltig beeinflusst ? Die Wiederaufnahme von alten Pfaden, die Wiederherstellung von politischer Kontinuität steht neben anderen demokratischen Umwälzungen in ganz Ostmitteleuropa im Vordergrund. War die „Politik der Wiederbeerdigung“ eher eine ungarische Besonderheit, oder steckt ein allgemeines Problem dahinter, das gemäß den nationalen Traditionen in spezifischer Weise aufgearbeitet wurde ? Zur Beantwortung dieser Frage bedürfte es einer detaillierten komparatistischen Untersuchung, so dass wir uns jetzt nur mit Ungarn und mit der Rolle der Revolution von 1956 in der politischen Kultur vor und nach 1989 beschäftigen, um die Brüche und Kontinuitäten in den Entwicklungsprozessen der politischen Kultur im autoritären und postautoritären Kontext zu verdeutlichen. Gleich nach dem Sturz Kádárs 1988 als Führer der USAP 24 wurde deutlich, dass der bisher vertretene offizielle Standpunkt zu den „Ereignissen von 1956“, so der offizielle Sprachgebrauch der Propaganda, einer Modifizierung bedurfte. Insbesondere anlässlich des 30. Jahrestages der Hinrichtung Imre Nagys im Juni 1988 wurden Forderungen nach einer Wiederbeerdigung laut. Am 16. Juni 1988 errichteten emigrierte Oppositionelle auf dem Friedhof Pére Lachaise in Paris ein symbolisches Grab. Parallel dazu kam es in Ungarn zu Demonstrationen in der Nähe des vermuteten Ruheplatzes von Imre Nagy. Den sich langsam entwickelnden neuen politischen Kräften wurde es erst 1989 möglich gemacht, eine spektakuläre Wiederbeerdigung und eine damit zusammenhängende offizielle Rehabilitierung und Entschädigung durchzuführen, die seitens der Reformkommunisten als Teil des neuen ungarischen Reformprogramms zur nationalen Versöhnung gedacht war. Der Sturz Kádárs durch jüngere, von Gorbatschow unterstützte Führungskräfte der kommunistischen Partei im Jahr 1988 war zwar eine notwendige Voraussetzung für die Wiederbeerdigung von Imre Nagy. Es gab aber Versuche von politischen Strömungen ( Károly Grósz ), einen Kádárismus ohne Kádár zu errichten und weiterhin eine Politik von gestern zu betreiben. Obwohl sich diese alt - neue Politik nicht mehr direkt im Gegensatz zu Imre Nagy und dem Aufstand von 1956 sah, war es ein längerer Prozess, sich von den Denkmustern des Kádárismus zu distanzieren und neue politische Strukturen aufzubauen. Es gab in der USAP eine vorübergehende Koalition der Nachfolger Kádárs, in welcher der von Károly Grósz repräsentierte konser vative Flügel als tonangebend galt. Der von Imre Pozsgay geführte Reformflügel enthielt sich damals noch der öffentlichen Kraftprobe. Die nach dem Sturz Kádárs begonnenen Veränderungsprozesse trugen erst 1989 Früchte. Im Frühjahr 1989 wurde der Konflikt innerhalb der Führung der USAP, bei dem es um die Neuinterpretation des 24 Vgl. Zoltán Ripp, Rendszerváltás Magyarországon (1987–1990), Budapest 2006.

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Volksaufstands von 1956 ging, zugunsten des Reformflügels entschieden – wahrscheinlich auch durch die Unterstützung, die die Reformer durch Glasnost - Politik Gorbatschows und die Vergangenheitsbewältigung in der Sowjetunion erfuhren. Pozsgay erklärte in einem Rundfunkinter view im Januar 1989, dass 1956 keine Konterrevolution gewesen sei, sondern ein „Volksaufstand“. Als Reaktion der politischen Neuinterpretation von 1956 traten Mitgliedern aus der USAP aus und versammelten sich in der Organisation der „wahren Kommunisten“ außerhalb der USAP. Die neuen Gesetze über das Versammlungs - und Vereinigungsrecht25 traten im Januar 1989 in Kraft und verbesserten damit wesentlich die rechtlichen Voraussetzungen für Demonstrationen und Versammlungen sowie für die Entstehung neuer politischer Organisationen. Protestversammlungen fanden statt, ohne dass die Polizei eingriff. Die Tatsache, dass neben den alten Monopolorganisationen neue Parteien, Verbände, Vereine und soziale Bewegungen entstanden, veränderte die gesamte Struktur des politischen Lebens. 1989 wurde die Wiederbeerdigung Imre Nagys von zwölf legalisierten oppositionellen Organisationen getragen. Die strukturellen Veränderungen zusammen mit der Ablösung des Ministerpräsidenten Károly Grósz durch die Regierung Miklós Németh im Mai 1989 haben die Beisetzung politisch erst möglich gemacht. Die neue Regierung von Miklós Németh kündigte in ihrem Programm an, dass sie eine würdige Beerdigung von Imre Nagy und den anderen Hingerichteten von 1956, verbunden mit der rechtlichen Rehabilitierung und materiellen Wiedergutmachungen, befür worte.26 Regierungswille allein hätte aber nicht gereicht, wenn die USAP ihren Standpunkt nicht schon früher geändert und die neuen Organisationen und Bewegungen keinen politischen Druck ausgeübt hätten. Der Ansprechpartner der Regierung war das „Komitee für historische Gerechtigkeit“ ( Történelmi Igazságtétel Bizottsága, TIB ), das 1988 entstand und sich die Rehabilitierung aller Personen zum Ziel gesetzt hat, die seit 1945 in Ungarn als Opfer der politischen Justiz verurteilt worden waren. Die Beisetzung von Imre Nagy war ein wichtiges Ziel des Komitees, aber keineswegs das einzige. Einige Hinterbliebene Nagys und anderer Hingerichteter waren Gründungsmitglieder des Komitees. Die Beisetzung wurde größtenteils durch das Komitee geleitet und verantwortet, obwohl, wie erwähnt, auch elf andere politische Organisationen mitverantwortlich waren. Durch die Gründung des Komitees wurde von vornherein ausgeschlossen, dass die einzelnen Prozesse isoliert behandelt werden konnten. Damit gab es ein kollektives Repräsentationsorgan für die zum Teil emigrierten oder alten und kranken Hinterbliebenen. An der feierlichen Beisetzung von Imre Nagy selbst nahmen große Massen teil, und Millionen verfolgten sie am Bildschirm im In - und Ausland. Damit wurde dieser Akt zu einem spektakulären Medienereignis, das einen Neubeginn in der Politik Ungarns dokumentierte – einer Politik, welche die Sünden des 25 Vgl. Péter Schmidt, A politikai átalakulás sodrában, Budapest 2008. 26 Vgl. Máté Szabó, Ungarn auf dem Weg zur Demokratie, Mainz 1994.

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Ancien Régime nicht übernehmen und verschweigen wollte. Die Presse beleuchtete im Zuge der Wiederbeerdigung Nagys die politische Vergangenheit mehrerer, nach 1956 aktiver Politiker, was unter dem Druck der öffentlichen Debatte unter anderem zum Rücktritt von einigen Abgeordneten aus dem letzten kommunistischen Parlament führte. Die rechtliche Rehabilitierung Nagys ließ nicht lange auf sich warten : Kurz nach der Wiederbeerdigung erklärte das Oberste Gericht ihn und seine Mitstreiter für schuldlos und bestätigte den Anspruch auf Schadensersatz. Für Hunderte Opfer der politischen Justiz seit dem Zweiten Weltkrieg hat ein später verabschiedetes Gesetz Rehabilitierung und Schadensersatz geregelt. Den nach 1956 Hingerichteten wurden vom Staat die Exhumierung und ein Grabmal nach Wunsch der Hinterbliebenen zugesprochen. Im Herbst 1989 begann daraufhin eine Reihe von Wiederbeerdigungen. Trotz des erklärten politischen „Goodwill“ der neuen Regierung gab es massive Befürchtungen, ob die mit der Beerdigung zusammenhängenden Demonstrationen vom konser vativen Flügel der Partei nicht als Provokation aufgefasst würden und damit Anlass geben könnten, den Ausnahmezustand auszurufen, um so den Demokratisierungsprozess zu stoppen. Diese Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet, da es keinerlei Zwischenfälle gab. Die letzte kommunistische Regierung erreichte ihr Ziel : In der Woche der Beisetzung begannen die Gespräche am Runden Tisch.27 Sie führten bis September 1989 zu einem Konsens über die Rahmenbedingungen einer friedlichen Umstrukturierung der Politik. Der Tag der Revolution von 1956 wurde zum nationalen Gedenktag erklärt. Damit waren die jahrzehntelangen Verschleierungen und Verfälschungen des „Ministeriums der Wahrheit“ zunichte gemacht. Die Reichweite der Medien ermöglichte auf nationaler, wie internationaler Ebene Ansätze zur Aufarbeitung der Vergangenheit. Die USAP löste sich auf und im Oktober 1989 wurde die neue reformorientierte sozialistische Partei – die USP – von den Reformkommunisten ins Leben gerufen. Die von Erzkonser vativen begründete kommunistische Partei, die Arbeiterpartei, konnte nie politische Wirkungen erzielen.

3.

Ende der Übergangsperiode ohne autoritäre Gefahren : die Ergebnisse sind eine stabile Demokratie und eine rasche Entwicklung der Marktwirtschaft

Die Erfolgsgeschichte Ungarns ist weitgehend den damals in der Kádár–Ära geschaffenen guten Ausgangsbedingungen zu verdanken. Die kádáristische Variante des Kommunismus ermöglichte nicht nur eine frühzeitige Öffnung zum Westen, sondern auch das Entstehen von reformbereiten Regimeeliten innerhalb der Partei. Der im kommunistischen Machtbereich besondere Charakter 27 Vgl. András Bozóki ( Hg.), A rendszerváltás forgatókönyve, Bände 1–7, Budapest 1999–2000.

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des Kádár - Regimes zeigte sich in der Einführung von Marktmechanismen, der Verbesserung rechtsstaatlicher Mechanismen sowie in der Verringerung willkürlicher politischer Inter ventionen in die Zivilgesellschaft. Der Reformkommunismus sollte das System in den letzten Jahrzehnten vor der Wende dominieren und so für andere Ausgangsbedingungen für den Systemwechsel, als etwa in der ČSSR oder der DDR, sorgen, wo die alten Eliten stalinistische Methoden der Propaganda, Massenmobilisierung und Repression bis zum Ende ihrer Herrschaft benutzten und eine Öffnung ihrer Regime ablehnten.28 In Ungarn wurden unter kommunistischer Herrschaft, insbesondere in der stalinistischen Zeit vor 1956 und in den Verfolgungsjahren danach (1956–58), Verbrechen verübt. Aufgrund der geringeren Dimension besaß die Strafverfolgung von kommunistischen Verbrechen in Ungarn jedoch eine geringere Relevanz als in anderen postkommunistischen Ländern, gleichwohl war die Erinnerung an die Revolution von 1956 und das Schicksal von Imre Nagy in der Gesellschaft noch sehr präsent. In Ungarn war auch der Graben zwischen der kommunistischen Elite und der Gesellschaft weitaus schmaler als etwa in Polen oder der ČSSR. Eine starke Polarisierung in „wir“ und „sie“ fehlte weitgehend. Die Liberalisierungstendenzen unter János Kádár bereiteten den typisch ungarischen reformgesteuerten Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft vor. Insgesamt sollte sich auch die Öffnung zum Westen unter Kádár und die damit verbundene Abhängigkeit Ungarns von ausländischen Krediten positiv auf das Entstehen einer politischen Opposition auswirken. Um Ungarns Image im Westen nicht zu gefährden, vertrat Kádár eine für kommunistische Regime ungewöhnlich „tolerante“ Haltung gegenüber Andersdenkenden. Die so genannte 3 - T - Methode von Partei und Regierung gegenüber der Intelligenz ( Unterstützung – támogatás, Duldung – tűrés und Verbot – tiltás ) ab Ende der 70er Jahre erwies sich als ein vergleichsweise weniger riskanter Ausgangspunkt für das Erwachen der Opposition. Die großzügig zugestandenen Freiräume für das Wirken der Intelligenz verhinderten allerdings die Entstehung einer umfassenden Regimekritik.29 In ökonomischer Hinsicht entwickelten sich in Ungarn früh marktwirtschaftliche Strukturen. Diese wuchsen in der „zweiten Ökonomie“ im Zuge der 1968 begonnenen halbherzigen ökonomischen Reformen und wandelten sich 1972, als der Kreml dem ungarischen Regime die Rückkehr zur Planwirtschaft nahe legte, zur Schattenwirtschaft. Die „zweite Wirtschaft“, die eng mit der Herausbildung einer „zweiten Gesellschaft“ verbunden war, entwickelte sich in der Folge zu einem immer wichtigeren Faktor der ungarischen Gesamtwirtschaft, obwohl diese offiziell wieder zur Planwirtschaft zurückgekehrt war. Dem Schattensektor war es auch hauptsächlich zu verdanken, dass in Ungarn nicht schon nach der Ölkrise in den 70er Jahren eine Wirtschaftskrise einsetzte. Allerdings 28 Vgl. Jerzy Maćków ( Hg.), Autoritarismus in Mittel - und Osteuropa, Wiesbaden 2009. 29 Vgl. Matthias Buchholz / Walter Schmitz / Andreas Schönfelder ( Hg.), Samisdat in Mitteleuropa. Prozess – Archiv – Erinnerung, Dresden 2007.

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erwies sich der Erfolg, welcher der „zweiten Wirtschaft“ in dieser Zeit beschieden war, als wenig nachhaltig, da er nicht aus einer effizient funktionierenden Konsumgüterindustrie entstand, sondern vielmehr das Ergebnis einer extensiven Kreditaufnahme und Verschuldung im Westen war, mit der die fehlende eigene Produktivität wettgemacht werden sollte. Der steigende Lebensstandard, der die wichtigste Legitimation des Kádár - Regimes darstellte, musste zum Erhalt der innenpolitischen Stabilität durch externe Kredite finanziert werden. Bereits 1982 war eine Auslandsverschuldung in Höhe von rund neun Mrd. Dollar aufgelaufen (1971 : 848 Mio. USD ) – die höchste in Osteuropa. Erst mit dem Ende der Breschnev - Ära und der Ernennung Jurij Andropows zum neuen Parteichef der KPdSU im Jahr 1983 eröffnete sich die Chance auf eine Weiterführung der abgebrochenen Wirtschaftsreformen. Mit der nun wieder offiziellen Duldung der „zweiten Wirtschaft“ und der Zulassung kleinerer Privatunternehmen konnte die marode Wirtschaft jedoch nicht gerettet werden. Zudem scheute die ungarische Führung lange Zeit vor harten Reformmaßnahmen zurück, die eine Kürzung von Sozialleistungen oder eine Schließung unrentabler Betriebe zur Folge gehabt hätten. Auch die noch unter dem kommunistischen Regime erfolgten Privatisierungen erwiesen sich zunächst als zweischneidiges Schwert, da sie einer „spontanen Privatisierung“ bzw. einem „Nomenklatura - Buyout“30 Vorschub leisteten und sich nach der Wende nur schwer wieder unter die Regierungskontrolle einer transparenten und rechtsstaatlich normierten Privatisierung zwingen ließen. Die hohen Auslandsschulden des kommunistischen Regimes in Höhe von rund 20 Mrd. Dollar wirkten sich nach dem Regimewechsel zunächst negativ auf die marktwirtschaftliche Transformation aus. Bereits zu Beginn der Reformen erwies sich die Durchsetzung eines Austeritätsprogrammes, das insbesondere die Bevölkerung hart treffen sollte, als notwendig. Einen positiven Einfluss hatten hingegen die hohen ausländischen Direktinvestitionen, die unmittelbar nach der Regimewende nach Ungarn flossen. Die langjährigen Beziehungen zum westlichen Ausland machten sich hier bezahlt. Wie in Polen begannen in Ungarn die Verhandlungsrunden zur Verfassungsrevision31 am Runden Tisch, an dem die Reformkräfte der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, der so genannte „Oppositionelle Runde Tisch“ und einige gesellschaftliche Organisationen als wenig bedeutsame dritte Verhandlungspartei, die alten sozialen Organisationen des Regimes, saßen. Die Machtverteilung zwischen den beiden Hauptakteuren war ausgeglichener als an Polens Rundem Tisch. Wohl deshalb war der Konsens für eine parlamentarische Demokratie in Ungarn deutlich breiter. Umstritten waren jedoch jene Institutionen der konstitutionellen Ordnung, die für die Machtverteilung in der Transition und im demokratischen Konsolidierungsprozess von erheblicher Bedeutung waren : die Befugnisse und die Legitimationsbasis des Staatspräsidenten, die 30 Vgl. József Bayer / Jody Jensen ( Hg.), From Transition to Globalization : New Challenges for Politics, the Media and Society, Budapest 2007. 31 Vgl. Ellen Bos, Verfassungsgebung und Systemwechsel. Die Institutionalisierung von Demokratie im postsozialistischen Osteuropa, Wiesbaden 2004, S. 211–279.

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Rechte von Parlament und Regierung, das Wahlsystem sowie die Befugnisse des Verfassungsgerichts. Besonders konfliktreich war die Auseinandersetzung um die Direktwahl des Staatspräsidenten und die Aushandlung des Wahlsystems. Heraus kam ein Kompromiss, der den Machtverhältnissen und divergierenden Interessen Rechnung trug. Ein kompliziertes kombiniertes Wahlsystem wurde etabliert, indem 45 Prozent der Mandate über die Mehrheitswahl und 55 Prozent der Parlamentssitze über die proportionale Stimmen - Mandatsverrechnung der Verhältniswahl vergeben werden. Die alten Regimeeliten erwarteten von den Elementen der Mehrheitswahl Vorteile, die Opposition setzte auf jene der Verhältniswahl. Ungeklärt blieben jedoch noch der Bestallungsmodus ( Legitimationsbasis ) und die Kompetenzen des Staatspräsidenten. Diese offenen Fragen bestimmten die zweite Verhandlungsrunde nach den Parlamentswahlen im März / April 1990. Die Postkommunisten ( MSZP ) favorisierten nach wie vor einen direkt vom Volk gewählten, kompetenzreichen Staatspräsidenten. Sie trafen aber nunmehr auf eine informelle Koalition der beiden stärksten Parteien, des Demokratischen Forums und der Freien Demokraten, die unmittelbar nach den Wahlen ein Abkommen zu weiteren Revisionen der Verfassungsvereinbarungen getroffen hatten. In Ungarn hatte sich das Parteiensystem frühzeitiger konsolidiert als in Polen.32 Das Demokratische Forum und die Freien Demokraten verhinderten in ihrem eigenen parteilichen Interesse die Ausbildung eines semipräsidentiellen Regierungssystems. Anders als in Polen und selbst in der Tschechoslowakei dominierte in Ungarn klar das Parlament den Transitionsprozess. Freilich weniger als Akteur, denn als zentrale Entscheidungsarena, d. h. als Zentrum eines Interaktionsnetzwerkes, in dem Parteien als die entscheidenden Akteure auftraten. Parlamente sind keineswegs per se die zentralen Institutionen für eine demokratische Konsolidierung, sondern nur dann, wenn ( wie in Ungarn ) früh konsolidierte Parteien sie zu solchen machen und konkurrierende Institutionen wie der Staatspräsident oder die Exekutive nicht vergleichbare Machtressourcen mobilisieren können. Ungarn besitzt nach wie vor keine neue postkommunistische Verfassung, vielmehr wurde die stalinistische Verfassung von 1949, die 1972 im Sinne des Kádárschen Autoritarismus in wesentlichen Teilen reformiert worden war, 1989 einer demokratischen Totalrevision unterzogen. Bereits Ende 1988 war von der Regierung des Reformkommunisten Miklós Németh die Einführung pluralistischer politischer Institutionen mit einer Serie von Gesetzen und Dekreten vorbereitet worden. Der Prozess der Verfassungsrevision dauerte mit den Verhandlungen am Runden Tisch im Jahr 1989 an. Die Verhandlungsresultate wurden noch vom alten kommunistischen Parlament akzeptiert und umgesetzt. Der mittler weile vorhandene Komplex aus qualitativ neuen Gesetzen und Verfassungsänderungen entspricht quasi einem neuen Verfassungssystem 32 Vgl. Máté Szabó, Urbanisten versus Populisten in Ungarn. In : Berliner Debatte / Initial, 3/2009, S. 67–74; András Körösényi / Gábor Török / Csaba Tóth, The Hungarian Political System, Budapest 2009.

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Grund - , Freiheits - und Menschenrechte sind in der Verfassung formal nach westlichem Muster unzweideutig verankert. Sie werden garantiert durch die Aktivitäten vom Verfassungsgericht und von den drei Ombudsmännern. Die Versammlungs - und Assoziationsfreiheit wird ebenso wie die Meinungs - und Pressefreiheit durch die Verfassung garantiert. Die erste Parlamentswahl 1990 verlief frei, fair und genügte voll den Standards westlicher Demokratien. Die Gewaltenteilung ist in der Verfassung verankert. Die Verfassung schreibt ein parlamentarisches Regierungssystem mit klaren Kompetenzverteilungen und funktionierender Gewaltenkontrolle fest. Der Vorschlag der Reformkommunisten zur Einführung eines präsidentiellen Systems mit einem starken Präsidenten wurde von den demokratischen Kräften in einem Referendum am 26. November 1989 abgelehnt, welches als ein Referendum über das alte oder das neue System interpretiert wurde, in dem die Rolle der USAP und auch aller anderen neuen Partein geregelt wurde ( Fragen über Parteiorganisationen am Arbeitsplatz, Aufrechterhaltung der Arbeitermilizen ). Nach den ersten freien Wahlen im Jahr 1990 bot die größte national - konser vative Partei ( MDF ) als Gewinner der Wahlen, der liberalen Allianz der Freien Demokraten ( SZDSZ ) ihre Zustimmung zu einem kompetenzärmeren Präsidentenamt unter der Bedingung einer schwächeren parlamentarischen Kontrolle über die Regierung an. Schon in den letzten zwei Jahrzehnten des Kádár - Regimes spielten die staatlichen Sicherheitsorgane im Vergleich zur DDR, zu Rumänien oder anderen Ostblockstaaten eine wesentlich geringere Rolle. Auch während des Systemwechsels gab es mit Ausnahme der so genannten Duna - Gate - Affäre kurz vor den ersten freien Wahlen 1990, bei der sich herausgestellt hatte, dass die Geheimdienste illegale Über wachungen von Oppositionspolitikern und - parteien im Auftrag der letzten kommunistischen Regierung von Miklós Németh durchgeführt hatten, keinen Skandal, der die Organe der Staatssicherheit involviert hätte. Nach diesem Skandal wurde die frühere politische Polizei aufgelöst bzw. nach verschiedenen Meinungen nur umorganisiert. Die Polizei folgte zunächst den Befehlen der reformbereiten Kräfte des alten Regimes. Nach den ersten freien Wahlen unterstellte sie sich vorbehaltlos der neuen demokratischen Führung. Das Militär hat in der ungarischen Transformation keine bedeutende Rolle gespielt, denn die sowjetischen Truppen haben – aufgrund der Auf lösung des Warschauer Paktes – Ungarn nach den Wahlen verlassen. Der spezifische Charakter des Kádár - Regimes mit seinen beginnenden Privatisierungsmaßnahmen und dem relativ hohen Konsumniveau verstärkte paternalistische, passive und private Orientierungen. Die Gesellschaft wurde demobilisiert, so dass nur wenige über die Transformationsperiode hinweg aktiv waren. Die Zivilgesellschaft war am Beginn der neuen Ära passiv und „privatisiert“ und eher kulturell als politisch orientiert eingestellt.33 Die große Anzahl 33 Vgl. Zdenka Mansfeldova / Máté Szabó, Zivilgesellschaft im Transformationsprozess Ost- Mitteleuropas : Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei. In : Wolfgang Merkel (Hg.), Zivilgesellschaft und Transformation. Systemwechsel 5, Opladen 2000, S. 89– 115.

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der Transitionsverlierer, die von den ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen der Gesellschaft ausgeschlossen wurden, hat sich als eine längerfristige Hypothek für die Konsolidierung einer aktiven und zivilen Demokratie erwiesen. In punkto Vergangenheitsbewältigung und strafrechtlicher Verfolgung alter Regimeeliten zeigte sich bereits 1989 bei den Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition, dass große Teile der Opposition weniger an einer Abrechnung oder Rehabilitierung alter Eliten interessiert waren als vielmehr an der Verfolgung zukunftsorientierter Programme. In den Gesprächen am Runden Tisch im Sommer 1989 wurde die Frage der kommunistischen Vergangenheitsbewältigung ausgeklammert. Die politische Elite der USAP trug positiv zur Transformation bei, indem sie zunächst auf Gewaltanwendung verzichtete, sich für einen Aufbau stabiler Institutionen engagierte und Konfliktlösungen institutionalisierte, mit deren Hilfe Verhandlungen mit der früheren Gegen - Elite am Runden Tisch geführt werden konnten. Der Rechtsstaat, Grundrechte und Grundfreiheiten wurden aufgrund des Konsenses der reformorientierten – der alten und der neu aufkommenden – Elitegruppen rasch und unzweideutig durchgesetzt. Der ungarische Fall zählt zu einer der am wenigsten autoritären Transformationen des postkommunistischen Europa. Es gab eine autoritäre politische Alternative unter den „Hardlinern“ der USAP, welche aber von den „Softlinern“ – in Form einer Kooperation der Reformkommunisten mit den friedlichen Oppositionsbewegungen – beiseite geschoben und marginalisiert worden ist. Die Ausgangsbedingungen für den demokratischen Übergang waren insgesamt günstig. Sowohl in wirtschaftlicher wie auch in politischer Hinsicht wurden manche Voraussetzungen für die Einführung von Marktwirtschaft und Demokratie bereits in der letzten Dekade des kommunistischen Systems geschaffen. Die sich herausbildenden Markt - , Konsum - und Unternehmertendenzen in Verbindung mit rechtsstaatlichen Traditionen boten einen guten Ausgangspunkt für einen erfolgreichen Systemwechsel ohne autoritäre Rückschläge und Sackgassen. Auch die große ethnische Homogenität, die Sicherheit der Grenzen und das Fehlen gewaltsamer Konflikte zählten zu den komparativen Transformationsvorteilen Ungarns für einen demokratischen Übergang ohne autoritäre Versuche und gewaltsame Lösungen. Die Intensität ethnischer, religiöser und sozialer Konflikte war von vornherein niedrig und es blieb in der untersuchten Periode dabei. Insbesondere bei relativ kleinen, kulturell, politisch und ökonomisch offenen Ländern ist die Rolle externer Akteure schon im Vorfeld der Transformation nicht zu vernachlässigen. Im Falle Ost - und Mitteleuropas spielte insbesondere der Gorbatschow - Faktor, die globale US - amerikanische Außenpolitik, das Interesse der EG - Regierungen an einer Beseitigung der Trennung zwischen Ost - und Westeuropa und das deutsche Interesse an einer Wieder vereinigung eine wichtige Rolle.

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Parteipolitik und Proteste nach der Wende

Ungarn wurde von 1998 bis 2002 von einer Mitte - Rechts - Koalition regiert,34 die aus drei Parteien bestand : dem Bund Junger Demokraten – Ungarische Bürgerliche Partei ( Fiatal Demokraták Szövetsége - Magyar Polgári Párt, Fidesz - MPP ), dem Ungarischen Demokratischen Forum ( Magyar Demokrata Fórum, MDF ) und der Unabhängigen Partei der Kleinlandwirte, der Landarbeiter und des Bürgertums ( Független Kisgazda - , Földmunkás és Polgári Párt, FKGP ). Diese Koalition wurde abgelöst von den früheren Oppositionsparteien, der Ungarischen Sozialistischen Partei ( Magyar Szocialista Párt, MSZP - USP ) und vom Bund Freier Demokraten ( Szabad Demokraták Szövetsége, SZDSZ ). Bereits 1994 hatten die Oppositionsparteien MSZP und SZDSZ die damalige Regierung abgelöst und regierten dann bis 1998. Fidesz war und blieb 1994 in der Opposition, er war aber 2002 die führende Kraft der abdankenden Regierungskoalition. 1990 und 1998 bekam die rechte Mitte – das „bürgerliche“ Lager – das Ruder in die Hand. 1994, 2002 und 2006 waren es dank der entsprechenden Wahlergebnisse dagegen die koalierten links - liberalen Kräfte, die Ungarn regierten. „Dritter Weg“, Grüne und Kommunisten haben es seit dem Regimewechsel nicht ins Ungarische Nationalparlament geschafft, allerdings war 1998 bis 2002 mit der Partei der Ungarischen Gerechtigkeit und des Ungarischen Lebens ( Magyar Igazság és Élet Pártja, MIÉP ) eine rechtsradikale Partei mit einer eigenen Fraktion präsent.35 Wie stellen sich die neuen Züge der Wahlen von 2002/2006 dar ?36 Das Wahlsystem ist von 1990 bis 2002 im Großen und Ganzen fast unverändert geblieben, die einzige bemerkenswerte Veränderung war 1994 die Erhöhung der parlamentarischen Eintrittshürde von vier auf fünf Prozent, die aber im Konsens von den damals im Parlament vertretenen Parteien akzeptiert wurde. Ungarn ist einheitlich, zentralisiert, es gibt kein Föderalismus, keine Landtagswahlen und - Parlamente; und die Kommunalwahlen werden im Herbst des Parlamentswahljahrs durchgezogen. Das kommunale Wahlsystem ist ziemlich kompliziert : die Zweimillionenstadt Budapest hat ein eigenes System, die Landbezirke, die Komitäten ( megye ) und die kleinen Kommunen haben auch ihre eigenen Regeln. Aufgrund dieses differenzierten Systems muss man bestätigen, dass als die wirklichen großen politischen Wahlen in Ungarn eigentlich die Parlamentswahlen anzusehen sind. Es gibt keine Europa - Wahl, der ungarische Präsident wird vom Parlament gewählt, Plebiszite sind unbekannt und direkt - demokratische Elemente schwach institutionalisiert. Man darf also sagen, dass – verglichen mit den bundesdeutschen Parteien, welche sich alle an den vorab 34 Vgl. Jürgen Dieringer, Das politische System Ungarns, Opladen 2009. 35 Vgl. Tom Thieme, Hammer, Sichel, Hakenkreuz. Parteipolitischer Extremismus in Osteuropa, Baden - Baden 2007, S. 165–172. 36 Vgl. Jürgen Dieringer, Ungarn in der Nachbeitrittskrise. In : Aus Politik und Zeitgeschichte, 29–30/2009, S. 6–11; Máté Szabó, Ungarns rechte Renaissance. In : Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/2009, S. 17–20.

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erwähnten Herausforderungen messen lassen müssen – für die ungarischen Parteien die einzige große Anstrengung die Parlamentswahl ist. Die Links - Rechts Achse ist in Ungarn früh und fest ins Parteiensystem institutionalisiert worden. Die Parteien sind recht stabil, alle jetzt agierenden großen Parteien waren schon bei dem Regimewechsel da und es gibt eine Konzentrations - und Polarisierungstendenz im Parteiensystem, nachdem sich die meisten Wähler um die zwei Achsen der Links - MSZP und dem Rechts - Fidesz konzentrieren. Die kleineren und mittleren Parteien sind jedoch noch nicht und werden wahrscheinlich auch nicht verschwinden, wie die Relevanz und Präsenz der MDF und der SZDSZ in den Wahljahren 2002/2006 gezeigt hat. Der Abwahl aus dem nationalen Parlament ist in Ungarn meistens mit dem politischen Ableben der Parteien gleichbedeutend, wie es 1998 der Fall der Christdemokraten und 2002 der FKGP und MIÉP zeigte. Die Konzentrations - und Polarisierungstendenzen haben ihre Wurzeln sowohl im Wahlsystem, das aufgrund der Auszählungs - und Registrierungsmethoden eine Tendenz zur Förderung der größeren Parteien besitzt, als auch im politischen System durch das konstruktive Misstrauensvotum, der starken Links - Rechts Orientierung in der politischen Kultur, die polare politische Denkmuster verbreitet. Die Parlamentswahlen von 2002 waren von drei sich verstärkenden Tendenzen der Politisierung, Mobilisierung und Polarisierung geprägt.37 Nach den offiziellen Wahlstatistiken sind die Parlamentswahlen von 2002 mit der größten Bürgerpartizipation seit dem Regimewechsel verbunden. Dieses Phänomen wurde von allen politischen Richtungen begrüßt, und die Politiker sprachen von einem Sieg der ungarischen Demokratie. Denn die Mobilisierung hat sich nicht nur auf den Gang der Bürger zu den Wahlurnen befördert. Sowohl während als auch nach der Wahlkampagne hat es Massenkundgebungen, Aufmärsche und Demonstrationen früher nie gekannter Größe gegeben, die von den Parteien oder deren Satellitenorganisationen organisiert wurden. Angeführt vom Fidesz, hat sich besonders das rechte Lager bewegt. Der ungarische Bürgerbund war vor den Wahlen höchst siegesbewusst, musste in der ersten Runde am 7. April allerdings feststellen, dass das linksliberale Lager stärker war und dass es – da es im ersten Wahlgang nicht zur Mehrheit der individuellen Mandate gereicht hatte – bis zur zweiten Wahlrunde am 21. April alle Mittel aufbieten würde, um den endgültigen Sieg zu erringen. Die Mobilisierung war trotz einzelner, nie richtig aufgeklärter kleiner Handgefechte weitgehend gewaltfrei. Lediglich am 4. Juli gab es eine spektakuläre illegale Blockade, bei der einige der zentralen Verkehrsknotenpunkte Budapests von organisierten bzw. spontanen Demonstrationen des unterlegenen rechten Lagers blockiert wurden, so dass die Polizei die Massen mit einem Truppenaufmarsch, Knüppeln und Tränengas auf lösen musste.

37 Vgl. Máté Szabó, Ungarn. Die Parlamentswahlen 2002 und der verspätete Beginn von Vergangenheitsbewältigung. In : Berliner Debatte / Initial, 1/2003, S. 75–84.

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Die 2002 verlorenen Wahlen bewirkten eine nachhaltige Mobilisierung des rechten, vom Fidesz geführten Spektrums aus, was sich insbesondere in der Gründung zahlreicher Bürgerinitiativen („polgári körök“) niederschlug,38 die die jeweiligen politischen Anliegen der Partei mit Demonstrationen, Versammlungen und symbolischen Aktionen unterstützen sollten. Die Polarisierung und Politisierung der politischen Öffentlichkeit erreichten ein solches Ausmaß, dass die unterlegenen rechten Aktivisten verkündeten, Orbán Viktor (Fidesz - MPP, Ministerpräsident 1998–2002) sei weiterhin der legitime Ministerpräsident der Nation; die Sozialisten hätten ihren Ministerpräsidenten Péter Medgyessy nur mit Wahlbetrug durchgeputscht, da die Ergebnisse der Wahlen manipuliert gewesen wären. Die Anfechtung der Legitimität der neuen Regierung erhielt eine weitere Zuspitzung durch die Enthüllungen über die Vergangenheit des Ministerpräsidenten der MSZP - SZDSZ, die am 18. Juni in der Tageszeitung des rechten Lagers „Magyar Nemzet“ veröffentlicht wurden. Medgyessy musste unter dem Druck der Öffentlichkeit eingestehen, dass er eine Zeitlang mit der Staatssicherheit des Kádár - Regimes kollaboriert hatte. Dieser Skandal führte zu einer Koalitionskrise, da der kleinere Koalitionspartner SZDSZ zuerst den Rücktritt Medgyessys forderte, sich dann aber doch hinter den Ministerpräsidenten der MSZP stellte, allerdings mit der Bedingung einer Erweiterung des Durchleuchtungsgesetzes ( Lustration ). Daraufhin trat das Gründungsmitglied János Kis, ehemaliger Präsident der SZDSZ und führender Dissident der Georg Lukács - Schule, aus der Partei aus, weil er weiterhin den Rücktritt des Ministerpräsidenten forderte. Aufgrund dieses Ereignisses stimmten die Koalitionsparteien MSZP und SZDSZ der Ausweitung der Überprüfung der Vergangenheit von führenden Politikern – vor allem der gegenwärtigen und früheren Regierungsmitglieder : der Ministerpräsidenten, Minister und Staatssekretäre – zu und etablierten einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss mit der Partizipation und dem Einverständnis der Fidesz - MPP - Opposition. Dieser Konsens zerbrach aber, weil sich die von der Regierung gestellten Mitglieder nicht damit begnügten, die Vergangenheit von Ministerpräsident Medgyessy aufzuklären, sondern auch die Zusammenarbeit von mehreren Mitgliedern der früheren Mitte - Rechts - Regierungen mit der Staatsicherheit des Kádár - Regimes öffentlich machten. Gleichfalls im Jahre 2006, als Medgyessy schon seit längerem als Ministerpräsident zurückgetreten war, warf die rechtsorientierte Öffentlichkeit seinem Nachfolger Ferenc Gyurcsány, dem Kandidaten der Sozialisten und Liberalen, vor, er sei ein Kommunist, weil er lange Zeit vor der Wende eine führende Position im Kommunistischen Jugendverband inne hatte. Außerdem habe er nach der Wende seine Beziehungen ausgenutzt, um sich schamlos bis zum Milliardärs - Status zu bereichern, und noch dazu war seine Enkelin mit einem führen38 Vgl. Máté Szabó, Mobilization and Protest Strategy of the FIDESZ - MPP within and after the Electoral Campaign. In : Central European Political Science Review, 4/2003, S. 74–89.

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den kommunistischen Politiker verheiratet. Als Wiederholung der Medgyessy Affäre bot sich nach den Parlamentswahlen 2006 die Veröffentlichung einer geheimen Rede des neu gewählten Ministerpräsidenten Gyurcsány auf einer internen Fraktionssitzung an, in der er eingestand, dass er vor den Wahlen die wirtschaftliche Realität des Landes beschönigt und das Volk belogen („Rede von Balatonőszöd“, ein Erholungsort am Plattensee ). Die Veröffentlichung wirkte wie eine Bombe; sie führte fast einen Monat zu permanenten Demonstrationen und oppositionellen Massenkundgebungen, nicht zuletzt zur Stürmung der Zentrale des öffentlich - rechtlichen Fernsehens im September und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen bei den Feierlichkeiten zur 50. Wiederkehr der Revolution von 1956 am 23. Oktober 2006. Es gab keine Toten, aber beachtlichen Sachschaden und viele Verletzte, was zu heftigen Debatten in den Medien und der Öffentlichkeit über die Zulässigkeit solcher Demonstrationen führte. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen hatten vor allem neu entstandene rechtsextremistische Organisationen organisiert, wobei die neuen mobilen Medien und Kommunikationsnetzwerke eine wichtige Rolle für die dynamische Mobilisierung spielten.39

5.

Wir sollten Dahrendorf neu lesen !

Anlässlich der gewaltsamen Protestwelle diskutiert man über die Preisgabe des „Erbes der politischen Wende“. Wieso konnte diese politische Wende gewaltlos vor sich gehen ? Hatten sich beide Seiten so sehr der Gewaltlosigkeit verschrieben oder konnten die Eliten einen Konsens erzielen, waren vielleicht ihre Demobilisierungsstrategien so erfolgreich gewesen ? Die von ungarischen Experten erstellten politologischen Analysen scheinen für das Letztere zu sprechen und beschreiben die ungarische Demokratie als eine „Schumpetersche Elitendemokratie“,40 in der die Eliten vor, während und nach der politischen Wende eine Demobilisierungsstrategie gegenüber der zivilen Gesellschaft verfolgt haben. Wenn sich populistische Mobilisierungsstrategien bei gewissen Segmenten der Elite durchzusetzen beginnen ( wie zum Beispiel in Ungarn beim FIDESZ, der seit 2002 vergeblich versucht, den Weg aus der Opposition zur Machtübernahme zu finden, bzw. im Kreis der Gleichgesinnten ), dann zeigen sich die destruktiven, also „nicht - zivilen“ Profile41 der zivilen Gesellschaft. Zum einen hatte die Angst vor staatlicher Repression 50 Jahre nach der Revolution von 1956 und 17 Jahre nach dem politischen Umbruch von 1989 stark abgenommen, zum anderen konnten auch westliche Beispiele des radikalen Protests den 39 Vgl. Máté Szabó, A tiltakozás kultúrája Magyarországon, Budapest 2007. 40 Vgl. András Körösényi / Csaba Tóth / Gábor Török, A magyar politikai rendszer, Budapest 2003, S. 42–53; Mihály Bihari, Magyar politika 1944–2004, Budapest 2005, S. 430–439. 41 Vgl. Peter Kopeczky / Cas Mudde ( Hg.), Uncivil society ? Contentious politics in post communist Europe, Routledge 2003.

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Máté Szabó

politischen Gruppen, die in polarisierten Lagern organisiert sind, die Richtung weisen. Ralf Dahrendorf hat in seinem 1989 bekannt gewordenen und seither oft zitierten Essay Folgendes geschrieben : „Der Formalprozess der Verfassungsreform braucht mindestens sechs Monate; ein allgemeines Empfinden, dass die Wirtschaftsreform erfolgreich war und die Dinge auf gutem Wege sind, breitet sich wahrscheinlich erst nach sechs Jahren aus; die dritte Bedingung des Weges in die Freiheit liegt in der Schaffung der sozialen Grundlagen, durch die Verfassung und Volkswirtschaft von Schönwetter - zu Allwetterinstitutionen werden, die allen inneren und äußeren Stürmen widerstehen können, und sechzig Jahre sind kaum genug, um diese Fundamente zu legen. [...] Die bürgerliche Gesellschaft ist der Schlüssel. Sie verknüpft die unterschiedlichen Zeitskalen und Dimensionen der politischen und ökonomischen Reform. Sie ist der Boden, in dem beide verankert werden müssen, um nicht weggeblasen zu werden. Die Stunde des Juristen und die Stunde des Politikers bedeuten wenig ohne die Stunde des Bürgers.“42 „Eine bürgerliche Gesellschaft ist zivil, ja zivilisiert; sie erfordert Männer und Frauen, die andere respektieren und, wichtiger noch, die in der Lage und willens sind, Aufgaben selbst anzupacken und dadurch andere zu ermutigen, so dass allmählich die notwendigen Instrumente des Handelns geschaffen werden. Das sind selbstbewusste Männer und Frauen, die keine Angst und auch keinen Grund zur Angst haben, also Bürger. [...] Um die Chance wahrzunehmen, sind gewisse Bürgertugenden unentbehrlich, einschließlich des zivilisierten Verhaltens, aber auch der Selbständigkeit im Denken und Handeln. Dieser Aspekt der bürgerlichen Gesellschaft lässt sich nicht herstellen; er muss wachsen, und er wächst sicher nicht in einem Sommer oder einer Legislaturperiode. Sechzig Jahre mögen ein allzu ermutigender Zeithorizont für die Realisierung der bürgerlichen Gesellschaft sein; ohnehin sind die Umstände von Land zu Land und von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden; aber eine Generation ist sicherlich erforderlich, und vielleicht müssen wir auch in dieser Hinsicht auf den ‚Test des doppelten Wechsels‘ warten, wobei es hier Generationen und nicht Machtpositionen sind, die wechseln.“43

Wenn man sich die Thesen Dahrendorfs überlegt, die er in seinem buchlangen Essay detailliert dargelegt hat, bekommt man für die Visegrád - Staaten,44 die der Europäischen Union beigetreten sind, einen Schlüssel zur Deutung der politischen Krisensituationen in die Hand, die auch Budapest - Syndrom genannt werden. Die Ausgestaltung der zivilen Kultur der bürgerlichen Gesellschaft konnte logischer weise mit den raschen konstitutionellen und wirtschaftlichen Wandlungsprozessen nicht Schritt halten, sondern hinkt hinterher. In vielen Analysen hat man auf die nicht - zivilen Züge des gesellschaftlichen Beziehungssystems nach der politischen Wende aufmerksam gemacht. In diesem Zusammenhang wurden die südslawischen ( Bürger - )Kriege oder die tiefe Krise, die ein Pyramidenspiel in der albanischen Gesellschaft ausgelöst hat, genannt, die als Beispiel für die greifbaren Formen der vorher erwähnten, nicht - zivilen Züge gelten. In den Visegrád - Staaten haben die Eliten und die Institutionen die Voraussetzungen für einen relativ gewaltlosen und friedlichen Übergang geschaffen, und diese Dynamik hat bis zum manifesten Auftreten der gesellschaftlich - wirtschaftlichen 42 Ralf Dahrendorf, Betrachtungen über die Revolution in Europa, Stuttgart 1990, S. 94 f. 43 Ebd., S. 100 f. 44 Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen.

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Folgen des EU - Beitritts angehalten, aber sie hat in der Wirtschaft und der Gesellschaft eine neue Transformationskrise ausgelöst, die von den Institutionen und Eliten der Wende nicht mehr gesteuert werden konnte. Die politische Krise nimmt verschiedene Formen an; zu den typischen Zeichen der politischen Krise gehören unter anderem : die instabilen politischen Koalitionen, das Lavieren an der Grenze der Regierungsfähigkeit, die Verstärkung des Populismus und die Protestaktionen der Rechten, die Abnahme des Vertrauens in die politische Führung und die staatlichen Institutionen, die Auswanderung in die Länder der alten EU usw. Die über wiegende Mehrheit der politischen Eliten und der aktiven Staatsbürger der postkommunistischen Länder ist noch in dem alten kommunistischen System sozialisiert worden. Ihre Erwartungen in Bezug auf Paternalismus, Stabilität und Wohlfahrtsstaat haben nicht abgenommen, vielmehr erwarten sie die Aufrechterhaltung des Sozialstaates auch unter den Bedingungen der Marktwirtschaft.45 Der Rechtspopulismus mobilisiert diese hohen Erwartungen an den paternalistischen Staat und die nationale Gemeinschaft gegen die Modernisierung, Globalisierung und Europäisierung. Es gibt verschiedene problematische Elemente, die man so zusammenfassen kann : Nach dem Konzept der politischen Kultur, wie es Gabriel Almond und Sidney Verba46 entwickelt haben, stellt die staatsbürgerliche Aktivität, die als über die institutionalisierten Kanäle an das politische System gesandt wird, den Input dar, während die passive Annahme der vom politischen System erzeugten Leistungen als die Zufriedenheit mit dem Output gewertet wird. Die Bürger machen jedoch von ihren institutionell gesicherten Partizipationsmöglichkeiten keinen Gebrauch, sondern sie wenden massenhaft unkonventionelle, sogar rechtswidrige Formen des Protests an, um die Outputs, die Beschlüsse des politischen Systems, zu blockieren. Man nennt das eine „apolitische Blockade“,47 durch die der politische Prozess sowohl auf der Input - als auch auf der Output - Seite blockiert wird. Man kann in gewisser Hinsicht eine Parallele zu den neuen sozialen Bewegungen in den westlichen Demokratien bzw. zu den globalisierungskritischen Bewegungen ziehen, aber diese stehen dem Pol des linken Populismus näher. In den postkommunistischen Kulturen spielt der Rechtspopulismus aufgrund der mehrfachen Diskreditierung der Linken ( infolge ihrer Belastung durch die kommunistische Vergangenheit und ihrer Propagierung eines postkommunistischen Dritten Weges ) eine aktive Rolle in der Kritik der Modernisierung, Globalisierung und Europäisierung. In den postkommunistischen Ländern kommt in den meisten Fällen den Mitte Rechts Parteien ( in Ungarn dem Fidesz ) eine solche Rolle zu – im Gegensatz zu der westeuropäischen politischen Palette, wo EU - Feindlichkeit, Globalisierungs - und Modernisierungskritik in der politischen „Mitte“ nur selten vorkommen. 45 Vgl. Körösényi / Tóth / Török, A magyar politikai rendszer, S. 28–31, 35–39, 46–48. 46 Vgl. Gabriel Almond / Sidney Verba, The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton 1963; dies., The Civic Culture Revisited, Boston 1980. 47 Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, S. 164–172.

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Folgt man der Analyse Dahrendorfs, so lässt sich konstatieren, dass die Umwandlung der politischen Kultur noch nicht in Verzug geraten ist. Dieser Transformationsprozess kann, seiner eigenen Dynamik entsprechend, jene bürgerliche und zivile Kultur, die die Grundlage von Demokratie und Marktwirtschaft bildet, nur langfristig „gebären“ ( wenn überhaupt ). Die Argumente, die Dahrendorf für die These der notwendig ungleichmäßigen Entwicklung anführt, beruhen in erster Linie auf den Erfahrungen der Bundesrepublik, also eines Landes, das man in den postkommunistischen Ländern – von der DDR bis hin zu den Visegrád - Staaten – als ein attraktives Modell, als eine Erfolgsgeschichte betrachtet und das als Musterbeispiel einer positiven postautoritären / totalitären Entwicklung angesehen wird. Abgesehen von den Gefahren des Irrtums, die jede Analogie in sich birgt, lassen die turbulenten politischen Wirbel in den Visegrád - Staaten zwei Jahre nach dem EU - Beitritt darauf schließen, dass die institutionelle Rahmenordnung und die Legitimationsbasis – infolge der direkten Integrationsbeziehungen zu den gesellschaftlich und wirtschaftlich weiter entwickelten westeuropäischen Staaten bzw. durch die Abnahme der einseitigen Transfers – sogar in jenen Ländern destabilisiert wurden, denen man im Westen die größte Eignung für den EU - Beitritt zugesprochen hatte. Dahrendorf hat in seinem Essay und in anderen Werken mehrere Stolpersteine und Krisen in der politischen Geschichte der Bundesrepublik, alte und neue Konflikte der zivilen Entwicklung identifiziert und analysiert. Das kann auch als Hoffnung für die postkommunistische Entwicklung verstanden werden: Wenn man bedenkt, dass in einem Musterstaat, der die Marshall - Hilfe bekommen hat, jahrzehntelang vieles nicht funktioniert hat, dann erhebt sich die Frage, was man von den postkommunistischen Ländern erwarten kann, die ein deutlich geringeres Maß an finanzieller Hilfe erhalten haben und keine mit Deutschland vergleichbaren Traditionen einer bürgerlichen Entwicklung besitzen. Den größten Unterschied zwischen älteren Demokratisierungsprozessen und den neuen demokratischen Konsolidierungen in Ostmitteleuropa bildet zweifellos die Existenz der EU. Sie fördert die demokratische Entwicklung und Modernisierung und verkörpert ein unumgängliches Modell. Die EU hat zwar großzügig über die unterschiedliche Entwicklung der Länder der Zehner - Gruppe, die im Jahre 2004 der EU beigetreten ist, hinweg gesehen, aber diese „Methode“ sollte man vermutlich nicht hinsichtlich der ungleichmäßigen inneren Entwicklung in den größeren Beitrittsländern anwenden, die den mitteleuropäischen Kern bilden. Die ungleichmäßige Entwicklung umfasst die öffentlich - rechtlichen wie die wirtschaftlichen Strukturen, und eine Ungleichmäßigkeit zeigt sich auch in der Entwicklung der gesellschaftlichen und soziokulturellen Systeme. Die Entwicklung und Förderung der bürgerlichen zivilen Kultur wäre in diesen Ländern gerade jetzt dringend notwendig, wo sie vom Westen mit der Aufnahme in die EU als „volljährig“ und „ebenbürtig“ anerkannt worden sind. Diese Aufgabe können diese Länder jedoch nicht aus eigener Kraft, durch eine autonome politische und wirtschaftliche Dynamik lösen. Diese Dynamik reproduziert und schafft vielmehr entstellte, nicht - zivile und nicht - bürgerliche Strukturen.

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Ein gutes Beispiel dafür liefert die für gesellschaftliche Makrogruppen oder ganze politische Subkulturen charakteristische Identifikation mit den Subjekten des vor 50 Jahren bestrittenen antitotalitären Kampfes. Man identifiziert sich mit dem „Volk“, einem Volk, das mehrere Jahre nach dem demokratischen Übergang und dem EU - Beitritt zu den Mitteln eines „Volkswiderstands“, einer „Revolution“ greift, um gegen das wirtschaftspolitische Sparpaket der Regierung zu protestieren. In einem Vergleich der Transitionsprozesse in Lateinamerika und Ostmitteleuropa unter dem Gesichtspunkt der „politischen Ökonomie von Protest und Geduld“48 – Lateinamerika als Bespiel des Protests gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik, Ostmitteleuropa als Beispiel der resignierenden Geduld –, wurde Ungarn jenen Ländern zugerechnet, wo die noch vorhandenen Initiativen des rechten Populismus zunächst eingeschlafen sind und die Gesellschaft mit ziemlich passiven Strategien auf die Transformationskrise reagiert hat. Es ist allerdings kein mitteleuropäisches, sondern ein europäisches und globales Phänomen, dass der rechte Populismus, der sich nach dem EU - Beitritt verstärkt und die politische Mitte erfasst hat, einen so dynamischen Charakter besitzt und über eine so hohe Mobilisierungskraft verfügt. Die eigenartigen Erscheinungsformen des Populismus wurzeln in dieser Region in den präkommunistischen Traditionen der politischen Kultur und in den Positionen, die der Populismus zwischen den beiden Weltkriegen eingenommen hat.

48 Vgl. Béla Greskovits, The Political Economy of Protest and Patience. East European and Latin American Transformations Compared, Budapest 1998.

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Die Transformation in der Tschechoslowakei. Anmerkungen zum Typus des nicht - demokratischen Regimes Jan Holzer

Das Hauptziel dieses Textes besteht darin, einige Überlegungen zur prä - transitionalen Phase des politischen Wandels und des Regimewechsels in der Tschechoslowakei von einem nicht - demokratischen zu einem demokratischen System in den Jahren 1989/90 darzulegen. Es werden einige charakteristische Züge des sogenannten „alten“ oder „früheren“ Regimes in dessen letzter Phase in der zweiten Hälfte der 80er Jahre aufgezeigt und einige Eigenheiten des tschechoslowakischen beziehungsweise tschechischen Beispiels her vorgehoben. Der zweite Teil des Textes ist dem zweiten Ziel dieses Aufsatzes gewidmet : einer Bewertung der grundlegenden arbeitstheoretischen Konzepte über das Ende der nicht - demokratischen Regime anhand des tschechoslowakischen / tschechischen Beispiels.

1.

Der Charakter des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei nach dem August 1968

Das politische System der sozialistischen Tschechoslowakei vor 1989 wird oft als „normalisiert“ bezeichnet. Aber der Begriff „Normalisierung“ ist nur für die erste Periode der Entwicklung (1969–1972) geeignet. Das war die Zeit der Säuberungsaktionen und der Rekonsolidierung des starken kommunistischen Regimes.1 Es war die Zeit, in der neue Machtmechanismen geschaffen wurden, dank denen das Regime fortbestehen konnte. Diese erste Periode wurde 1972, als die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei ( KSČ ) ihre Machtposition vollständig wiedererlangt hatte, abgeschlossen. Ihr neues politisches Mandat gründete vor allem auf dem „Sieg“ über die Revisionisten des Prager Frühlings.

1

Von diesen Säuberungsaktionen waren ca. 500 000 Personen aus Politik, Kultur und Wirtschaft betroffen. Vgl. Petr Fiala / Jan Holzer / Miroslav Mareš / Pavel Pšeja, Komunismus v České republice, Brno 1999, S. 64.

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Jan Holzer

Erneut war die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei das wichtigste Element des damaligen politischen Systems, des Systems der Nationalen Front.2 Die zweite Phase des tschechischen kommunistischen Regimes nach dem August 1968 begann im Jahr 1972 und dauerte bis in die zweite Hälfte der 80er Jahre. Die Situation wurde entscheidend von den Ängsten der kommunistischen Elite beeinflusst, dass jegliche Veränderung den neuen Status quo unwiderruf lich beenden könnte. Trotz dieser Tatsache wird diese Periode als die stabilste Phase der Entwicklung des Regimes bezeichnet, minimal im Gegensatz zur vorangegangenen Periode der „dynamischen Normalisierung“.3 Das anschließende Regime basierte auf einer sogenannten „stillen Übereinkunft“ – dem ungeschriebenen Vertrag mit der Mehrheit der tschechischen und slowakischen Gesellschaft, was typisch für Autoritarismus ( und im Totalitarismus unmöglich ) ist. Er ermöglichte den Bürgern, sich in eine mehr oder weniger respektierte und ungestörte Privatsphäre zurückzuziehen; ein typischer Ausdruck dessen war das Phänomen der „Wochenendhäuser“, dass nirgendwo sonst in Europa auftrat und eine Art der Freizeitgestaltung war. Er versprach einen annehmbaren materiellen Lebensstandard ( einen der höchsten im sowjetischen Lager ) sowie die Befriedigung zumindest einiger der Wünsche der Gesellschaft nach Konsumprodukten im Austausch für die Entpolitisierung der Gesellschaft und den Verzicht auf die Möglichkeit, politisch aktiv zu sein.4 Was den Zustand der Kultur und der Gesellschaft anbelangt, so kontrollierte das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei strikt den Informationsfluss und die Kontakte mit den kapitalistischen Ländern einschließlich der Privatreisen der Bürger und den Bereich der Publikationen. Das bedeutete im Ergebnis eine starke Isolierung des Landes. Die Wirtschaft des Normalisierungsregimes war grundsätzlich dasselbe soziale und wirtschaftliche Modell, das man in den 50er Jahren entwickelt hatte, also in der ersten, stalinistischen Periode der kommunistischen Herrschaft. Die tschechoslowakischen Kommunisten unternahmen keine großen Anstrengungen in Richtung eines innovativen Wirtschaftsmodells. Einer der Hauptgründe war die Erinnerung an die 60er Jahre, als die Reformkommunisten ähnliche Schritte unternommen hatten ( die sogenannten Šik - Reformen, ein Reformversuch, um das tschechoslowakische Wirtschaftsmodell neu aufzubauen ). Das damalige planwirtschaftliche Wirtschaftssystem basierte darauf, dass nur zentrale Stellen entschieden, wie viel jede Fabrik von welchem Produkt herstellen sollte. Und die Fabriken stellten Güter her, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob jemand diese kaufen wollte. Die damit einhergehenden Konsequenzen und Ergebnisse der extensiven Entwicklung waren technologische Veralterung, Umweltzerstörung etc. Obwohl sich die tschechoslowakische Wirtschaft 2 3 4

Neben der KSČ zugelassene Parteien : Die Tschechoslowakische Volkspartei ( ČSL ) und die Tschechoslowakische Sozialistische Partei ( ČSS ). Vgl. Stanislav Balík / Vít Hloušek / Jan Holzer / Jakub Šedo, Politický systém českých zemí 1848–1989, Brno 2003, S. 160. Im Gegensatz dazu erfordern Totalitarismen höchste politische Aktivität.

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während der Phase der Normalisierung als Resultat all dieser Faktoren irgendwo zwischen Niedergang und Bankrott wiederfand, nahm das Regime keine großen Kredite auf, wie das in Ungarn, Polen oder Ostdeutschland der Fall war. Andererseits gelang es dem Regime, die Inflation und das Defizit niedrig zu halten. Aus diesem Grunde war die tschechoslowakische Wirtschaft am Ende der kommunistischen Ära weitgehend stabilisiert, aber sie fiel noch weiter hinter die westliche Welt zurück. Betrachtet man die damalige Situation in den Machtstrukturen, so war die Überalterung unter den tschechoslowakischen Kommunisten signifikant. Gustáv Husák, Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, der seit 1969 an der Spitze der Partei stand, wurde 1986 73 Jahre alt. Kein Mitglied des Präsidiums des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei war zu der Zeit unter sechzig Jahre alt. Somit war die tschechoslowakische Führung ein exzellentes Beispiel für eine Gerontokratie im sowjetischen Block und in diesem Sinne einer der bedeutendsten Punkte in Linz’ Konzept des Post - Totalitarismus ( s. u.).

2.

Der Charakter der Opposition

Was die Opposition betrifft, so spielte die Charta 77 die Schlüsselrolle. Zum Beginn der Ära der Normalisierung gab es allerdings mehrere aktive Oppositionsgruppen, von denen die meisten sozialistisch geprägt waren. Diese waren ein Erbe der späten 60er Jahre. Zu den bedeutendsten zählten die trotzkistisch orientierte „Revolutionäre Jugendbewegung“ ( Petr Uhl ), die „Sozialistische Bewegung der Tschechoslowakischen Kommunisten“, die aus Reformkommunisten der Ära des Prager Frühlings ( Jan Tesař, Milan Hübl ) bestand, oder auch eine Gruppe, bestehend aus früheren Mitgliedern der Tschechoslowakischen Sozialistenpartei in Brno ( Petr Wurm, Jaroslav Mezník ). Durch repressive Maßnahmen von Seiten des Regimes der Normalisierungsära gelang es jedoch ohne größere Probleme, diese Initiativen auszuschalten. Die Charta 77 markierte das Wiederauftauchen einer gewichtigen regimekritischen Gruppierung. Die Gründung der Charta Ende 1976 stellte einen eindeutigen Wendepunkt in den gegen das Regime gerichteten Aktivitäten dar. Einige andere, im Nachhinein entstandene Oppositionsinitiativen, wie beispielsweise das „Komitee für die Verteidigung der ungerecht Verfolgten“, blieben in deren Schatten. Ein weiterer wichtiger Faktor war, dass es innerhalb der Charta 77 ein breites Spektrum an politischen Ansichten gab, welches die vielen verschiedenen Gründe für den Widerstand gegen das kommunistische Regime widerspiegelte. Die Charta 77 vereinigte Reformkommunisten des Prager Frühlings, darunter hochrangige Persönlichkeiten wie den früheren Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, Zdeněk Mlynář, und den früheren Außenminister Jiří Hájek, nicht - kommunistische Sozialisten ( Rudolf Battěk ) oder christlich - konser vative Intellektuelle ( Václav Benda ). Nicht zuletzt gab es

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Freigeister, deren bedeutendster Vertreter Václav Havel war, der gleichzeitig als der inoffizielle Führer der gesamten Initiative fungierte. Doch trotz ihrer unzweifelhaften Bedeutung führten die Aktivitäten der Charta 77 nicht zu einer nennenswerten Destabilisierung des Regimes. Die Charta blieb beschränkt auf eine relativ kleine Gruppe von einigen Hundert Leuten, deren Zahl nach dem Ende der 1970er und in den 80er Jahren kaum anstieg. Das Problem der Charta war, dass sie unter nahezu ghettoähnlichen Bedingungen existierte, woran sich fast bis zum Ende des kommunistischen Regimes nichts änderte. Aber dies war nicht nur ein Ergebnis der erfolgreichen Bemühungen des Regimes, sie zu isolieren. Auch ihre eigene elitäre Exklusivität spielte hier hinein. Einer der prominentesten Dissidenten, Petr Pithart, sprach in dieser Hinsicht bezeichnender weise von einer „Sektenmentalität“.5 Die Charta bot keine klare politische Alternative. Sie definierte sich selbst als „freie, informelle und offene Gesellschaft von Menschen, [...] die der gemeinsame Wille vereint, sich sowohl individuell als auch als Gemeinschaft für die Anerkennung bürgerlicher Rechte und der Menschenrechte einzusetzen“ ( siehe die Stellungnahme der Charta 77 vom 1. Januar 1977), also für jene Rechte, die das kommunistische Regime formal akzeptiert hatte, indem es die internationalen Verpflichtungen der Verträge von Helsinki 1976 ratifiziert hatte. Die interne Diskussion über eine stärkere politische Ausrichtung der Charta scheiterte aufgrund ideologischer Differenzen unter den Mitgliedern und am Konzept der „unpolitischen Politik“, das der Charta von Havel aufgedrückt wurde. Worum handelte es sich dabei ? Havel ver wendete ein moralisches Argument, das auf einem „Leben in Wahrheit“ als dem Gegensatz zu einem „Leben in Lüge“ basierte; man kann das gut in seinem bekannten Aufsatz „Die Macht der Machtlosen“ nachlesen.6 Zunächst zur Terminologie : Ein „Leben in Lüge“, die tragende Säule des nicht - demokratischen Regimes, basierte nach Havels Ansicht auf der passiven und / oder ritualisierten Anerkennung des Regimes und dessen Ideologie. Die primär moralische Begründung dieses Arguments implizierte die Ablehnung von Politik, die lediglich als „Technologie der Macht und deren Manipulation [...] oder als Berechnung, fragwürdige Praktiken und Intrigen“ betrachtet wird. Diese Ideen bildeten ein strategisches Element im Kampf gegen die kommunistische Ideologie, aber gleichzeitig waren sie ein höchst problematisches Element unter dem Blickwinkel des Aufbaus eines politischen Systems in der Ära nach der Transformation. Mit diesem Denkansatz bevorzugte Havel pro futuro ein „post - demokratisches System“, wie er es selbst nannte.7 5

6 7

Vgl. David Selbourne, Death of the Dark Hero. Eastern Europe 1987–1990, London 1990, S. 74. Vgl. aber auch die Begriffe „Protestdisent“ und „Reflexiondisent“ von Petr Pithart. Petr Pithart, Devětaosmdesátý. Vzpomínky a přemýšlení. Krédo, Praha 2009, S. 29–30. Vgl. Václav Havel, Moc bezmocných, Praha 1990, S. 8–19. Vgl. Václav Havel, Politika a svědomí. In : Václav Prečan ( Hg.), Do různých stran. Eseje a články z let 1983–1989, Praha 1989, S. 57, 106.

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Das System basiert auf offenen, dynamischen und kleinen Strukturen, die dank Selbstorganisation und autonomer Prinzipien, die die Idee der Gemeinschaft anerkennen, funktionieren. Die Leitfiguren genießen eine natürliche Autorität und die Gemeinschaft ist „erfüllt vom Enthusiasmus für das konkrete Ziel und löst sich auf, wenn dieses erreicht ist“. Laut Havel wäre es ein Fehler, „seine Autorität auf längst bedeutungslosen Traditionen zu begründen ( wie die traditionellen politischen Massenparteien )“. Diese Konzepte beeinflussten, aus der Sicht Havels, die Aktivitäten des Bürgerforums im November 1989 und die gesamte tschechische Politik in den 90er Jahren.8 Havel änderte nach 1989 in seiner Position als tschechoslowakischer bzw. tschechischer Staatspräsident unter dem Druck der politischen Wirklichkeit einige Aspekte seines politischen Denkens. Aber das ist eine andere Geschichte.

3.

Die letzte Phase des Regimes

Einer der zentralen Wendepunkte in der Geschichte des gesamten kommunistischen Lagers gegen Ende der 80er Jahre war der Aufstieg des neuen Generalsekretärs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michael S. Gorbatschow, und dessen Politik von Glasnost und Perestroika. Gorbatschow jedoch weigerte sich, seine Politik in den osteuropäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion zu propagieren, hauptsächlich weil er befürchtete, diese zu destabilisieren. Als er angesichts der Appelle, die Invasion von 1968 zu verurteilen, stumm blieb und keinen Willen zeigte, in das Geschehen in Tschechien einzugreifen, sah sich die antikommunistische Opposition in ihren Hoffnungen schwer enttäuscht. Auf jeden Fall aber beeinflusste seine Politik die Stabilität des tschechoslowakischen kommunistischen Regimes. Denn Gorbatschow verlor das Interesse, die Regime der Satellitenstaaten in Mitteleuropa zu unterstützen. Die tschechoslowakische kommunistische Führung, die ihre Legitimation aus der sowjetischen Inter vention im Jahr 1968 zog, verlor somit ihre internationale Protektion. Aufgrund des fehlenden Drucks von sowjetischer Seite führte die „Restrukturierungspolitik“ unter dem Normalisierungsregime lediglich zu kosmetischen Veränderungen. Ende 1987 wurde der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Gustáv Husák, aus seinem Amt entfernt. Der neue Generalsekretär Milouš Jakeš wurde von vielen der führenden Parteifunktionäre als eine schwache Figur und Übergangslösung gesehen. Der Grund dafür waren nicht nur sein Alter (65 Jahre ), sondern vor allem seine beschränkten intellektuellen Fähigkeiten. Jakeš unternahm nichts, um die Methoden und den Stil der Parteiführung zu ändern. An diesem Punkt spaltete sich die Führung der kommunistischen Partei in einzelne Fraktionen, die um die Macht kämpften, unter denen es jedoch keinen 8

Vgl. Miloš Havelka, „Nepolitická politika“ : kontexty a tradice. In : Sociologický časopis, 4/1998, S. 461–465.

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starken Reformflügel gab. Lubomír Štrougal, der lange Zeit Ministerpräsident der föderalen Regierung war, als potenzieller Reformer galt und in den parteiinternen Auseinandersetzungen die Rolle Gorbatschows zu übernehmen versuchte, stand innerhalb der Partei isoliert da. Ladislav Adamec, ein zweiter potenzieller Reformer, war ähnlich erfolglos. Das heißt jedoch nicht, dass es keinerlei „Reformer“ in der Tschechoslowakei gab. Aber Przeworskis Begriff der „Reformer“ lässt sich nur bedingt auf die junge Generation der Parteivertreter übertragen – oder diese Bezeichnung hatte Ende der 80er Jahre in der Tschechoslowakei eine andere Bedeutung. Diese Reformer waren keine Kritiker des damaligen Modells und keine Unterstützer der Machtliberalisierung. Dieser untergeordnete ( technokratische ) Teil der Elite glaubte nur an die eigene Fähigkeit, sich an die zukünftige neue demokratische Situation anzupassen. Der wichtigste Punkt der letzten Phase des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei in den späten 80er Jahren war eine Erosion der sogenannten „stillen Übereinkunft“. Eine Erosion, die von den Versorgungsproblemen in der Wirtschaft ausgelöst wurde, da das Regime nicht einmal mehr die Erhaltung des Lebensstandards der Bevölkerung garantieren konnte. Diese Situation stand in scharfem Kontrast zu dem offensichtlichen Anstieg des Lebensstandards in Westeuropa. Das Regime war nicht in der Lage, die Erwartungen der Bevölkerung in Hinblick auf Konsumgüter zu befriedigen. Hinzu kam, dass die frühere Informationshoheit des Regimes kurz vor dem Kollaps stand. Die Glaubenkrise innerhalb der Parteiführung wurde in der berühmten Rede von Milouš Jakeš vor westböhmischen Parteifunktionären im Juli 1989 deutlich, die – nachdem sie durchgesickert und auf Radio Free Europe gesendet worden war – aufgrund der unglaublich primitiven Ausdrucksweise des Generalsekretärs zu dessen totalem Autoritätsverlust beitrug. Um das Jahr 1988 herum gab es Veränderungen in der Vorgehensweise der Regimegegner und bei den Protesten. Bis zum November 1989 war die Zahl der Oppositionsgruppierungen auf einige Dutzend angestiegen. Die neuen politischen Initiativen kamen aus dem politischen Ghetto heraus und brachten den Mut auf, ihre Taktik zu ändern : Neben der ständigen Betonung des Eintretens für die Menschen - und Bürgerrechte trat nun eine politische Argumentation im engsten Sinne des Wortes hinzu, die für einen Regimewechsel plädierte. Trotzdem spielten klassische Protestbewegungen in der kommenden tschechischen Transformation keine große Rolle. Viel erfolgreicher in Hinblick auf die Beteiligung waren die Petitionen. Die größte, die von über einer halben Million Menschen unterzeichnet wurde, wurde 1987 von Augustin Navrátil, einem katholischen Laien aus Mähren, initiiert. Die Petition forderte unter anderem ein Ende der staatlichen Kontrolle über die Kirche, die Trennung von Kirche und Staat, die Wiedereinführung von Ordensgemeinschaften etc.9 Ihr außergewöhnlicher Erfolg war möglich dank der Ver9

Vgl. zum Beispiel Helena Havlíčková, Dědictví. Kapitoly z dějin komunistické perzekuce 1948–1989, Olomouc 2002.

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breitung durch die katholischen Gemeinden und dank der direkten Unterstützung des Prager Erzbischofs Kardinal František Tomášek. Der Massencharakter der Petition spiegelte eine Veränderung im Denken der katholischen Kirche und ein zunehmendes Vertrauen in die Kirche wider. Andererseits muss man sagen, dass die katholische Kirche in der Transformation keine tragende, sondern eher eine symbolische Rolle gespielt hat. Eine weitere erfolgreiche Aktion war die Initiative der Kulturarbeiter im Januar 1989, die die Verhaftung Václav Havels und die harten Maßnahmen gegen die Demonstranten auf den Straßen kritisierte. Noch erfolgreicher war die Petition mit dem Titel „Einige Sätze“, die im Juni 1989 von Mitgliedern der Charta 77 geschrieben wurde. Der Text rief das Regime zum Dialog auf und forderte die Freilassung politischer Gefangener und die Erlaubnis zur Gründung unabhängiger Bewegungen, Unionen und Vereinigungen. Bis zum November wurde sie von einigen 40 000 Menschen unterschrieben. Beide Initiativen wurden von prominenten Persönlichkeiten der sogenannten „offiziellen Kultur“, akademischen Institutionen etc. unterstützt.10 Gleichzeitig jedoch war es eine Tatsache, dass der wachsenden Opposition in der zweiten Hälfte des Jahres 1989 eine gemeinsame organisatorische und politische Plattform fehlte, ganz zu schweigen von der fehlenden gemeinsamen Strategie im Umgang mit dem Regime. Der Gang der Ereignisse und die Veränderungen in der Stimmung innerhalb der Gesellschaft wurden durch geografisch nahe liegende Faktoren beschleunigt – durch den schnellen Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Polen und Ungarn. Psychologisch vielleicht noch wichtiger war der plötzliche Kollaps des kommunistischen Regimes in Ostdeutschland. Durch die in der westdeutschen Botschaft in Prag „campierenden“ Flüchtlinge war Tschechien direkt in die Massenflucht von Ost - nach Westdeutschland involviert. Die Welle der ostdeutschen Flüchtlinge war einer der entscheidenden Faktoren, die die Veränderungen in der gesellschaftlichen Stimmung beeinflussten. Der mitten in Prag stattfindende Exodus hatte einen bedeutenden sozial - psychologischen Einfluss. Der November kam näher ...

4.

Schlussfolgerungen : Der tschechoslowakische Kommunismus und die Theorie von Nicht - Demokratien

Fasst man den Inhalt dieses Textes zusammen, können wir das tschechoslowakische kommunistische Regime einordnen und die wichtigsten Punkte im Hinblick auf dessen Zustand in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auf listen. In den 80er Jahren war das tschechische kommunistische Regime eines der rigidesten im Ostblock. Vielleicht war / ist das der Grund dafür, dass die charakteristische Eigenschaft der öffentlichen Debatte in Tschechien zur Normalisie10 Vgl. zum Beispiel Milan Otáhal, Podíl tvůrčí inteligence na pádu komunismu, Brno 1999.

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rungsperiode in der tschechischen Geschichte die extensive Ver wendung des Begriffes „Totalitarismus“ ist. Aber ver wendet man die Methode von Juan J. Linz,11 stellt man fest, dass die Tschechoslowakei im Zeitraum 1968/69–1989 kein rein totalitäres Regime war. Die erwähnte „stille Übereinkunft“ steht im Kontrast zu der Forderung eines permanenten Aktivismus, ebenso wie die Leere der kommunistischen Ideologie im Kontrast zur mobilisierenden Rolle der Ideologie in der Hochzeit des Totalitarismus steht.12 Als eine weitere Möglichkeit können wir Linz’ Konzept autoritärer Regime und besonders die Variante des Post - Totalitarismus anwenden. Es ist nicht notwendig, dieses bekannte Konzept einschließlich der Periodisierung oder Klassifizierung der Post - Totalitarismen in „früh“, „eingefroren“ und „reif“ an dieser Stelle noch einmal zu erläutern.13 Kurz gesagt, sind post - totalitäre Regime ebenso wie totalitäre Regime Systeme ohne politischen Pluralismus. Die herrschende Partei hat auch weiterhin das politische Monopol inne und weigert sich, eine institutionalisierte politische Opposition zu tolerieren. Doch es gibt gewisse Erscheinungsformen von Pluralität in Sphären außerhalb der Politik, meist in der Wirtschaft oder in gesellschaftlichen Bereichen. Zum Beispiel könnte das Regime eine „inoffizielle“ Wirtschaft dulden; es könnte die Restriktionen im privatwirtschaftlichen Sektor lockern, obwohl eine zentral geplante Wirtschaft noch immer die Hauptrolle spielt. Die frühe und die „eingefrorene“ Periode werden durch das Aufkommen einer gewissen Toleranz gegenüber Kritik voneinander abgegrenzt. In einem „reifen“ post - totalitären System schließlich kann es sogar zur Ausprägung einer bedeutenden „parallelen“ ( nicht offiziellen ) Kultur kommen. Die marxistisch - leninistische Ideologie ist nach wie vor die ideologische Basis des Regimes. Der Glaube daran ist jedoch bei der Mehrheit der Bürger ernsthaft geschwächt, die Ideologie ist die bloße Fassade des Regimes. Eine echte Mobilisierung der Bürger ist nicht vorhanden. Das Ancien Régime in der Tschechoslowakei erfüllte alle Kriterien eines posttotalitären autoritären Regimes, wobei es in verschiedenen Perioden unter verschiedene Sub - Kategorien dieses Typs fiel. Die Periode der Öffnung des Regimes nach dem August 1968 repräsentiert den frühen Post - Totalitarismus. 11

Linz’ Ansatz ist nicht die einzige Definition von Totalitarismus. Am wichtigsten ist vielleicht der sechsteilige Katalog von C. J. Friedrich und Z. Brzezinski. Aber Linz’ Konzept ist aufgrund seines Fokus auf die Phänomene des Aktivismus und der Mobilisierung außergewöhnlich. 12 Einer dieser „heiligen“ Texte ist Poučení z krizového vývoje ve straně a společnosti po XIII. sjezdu ( Dezember 1970). Unter Verwendung eines klassischen ideologischen Wörterbuchs formulierte die KSČ die alleingültige Interpretation der Periode der 60er Jahre einschließlich der „Geschichte und Zukunft der Partei“; vgl. Petr Fiala / Jan Holzer / Miroslav Mareš / Pavel Pšeja, Komunismus v České republice, Brno 1999, S. 64. 13 Vgl. zum Beispiel Juan Jose Linz / Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America, and Post - Communist Europe, Baltimore 1996, S. 38–54. Interessant ist die Anmerkung bezüglich der unterschiedlichen Verwendung dieses Begriffs in der Politikwissenschaft und in den tschechischen Medien : der Begriff „post - totalitärer Staat“ meint die Periode nach dem Fall der Berliner Mauer.

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Die Transformation in der Tschechoslowakei

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Die nächste Periode weist die Mehrheit der Merkmale eines „eingefrorenen“ post - totalitären Regimes auf. Wichtig ist, dass die letzte Phase des tschechoslowakischen Kommunismus im Gegensatz zu anderen kommunistischen Ländern kein Modell für einen „reifen“ Post - Totalitarismus darstellte. Die Situation in der Tschechoslowakei kannte keinen Pluralismus aller Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens statt eines politischen ( wie zum Beispiel in Ungarn ). Das tschechoslowakische kommunistische Regime kontrollierte die wichtigsten Machtmechanismen bei der Mehrheit der Teilfelder; wir könnten nur separate Überläufe zu anderen politischen Parteien und einen Anstieg der Presseaktivitäten in einigen Teilen der Gesellschaft beobachten. Definiert man das tschechische Beispiel aus Sicht der klassischen Theorie von Nicht - Demokratien, ist es möglich, die Standards im kommunistischen Lager mit den typischen Eigenschaften der tschechischen Periode vor der Transformation zu vergleichen. Der erste Punkt lautet : Solidere wirtschaftliche und soziale Standards der tschechoslowakischen Gesellschaft. Das stand in Beziehung zum Beginn der post - totalitären Situation. Das tschechoslowakische kommunistische Regime begann damit, sogar den Mangel an ideologischem Enthusiasmus zu tolerieren, der wichtigste Aspekt der Stabilität des Regimes war der gesellschaftliche Vertrag zwischen der Partei und der Bevölkerung. Selbstverständlich war noch immer die marxistisch - leninistische Ideologie das Fundament des Regimes, aber nur als Fassade des Regimes. Eine echte Mobilisierung der Bevölkerung war nicht vorhanden. Genau in dem Moment, als das Regime nicht ( mehr ) in der Lage war, wirtschaftliche und soziale Garantien zu geben, verschoben sich die öffentlichen Erwartungen in Richtung anderer Möglichkeiten und man akzeptierte die Notwendigkeit einer politischen Entscheidung oder sogar einer Veränderung. Aber die Mehrheit der Erwartungen war mit einer Verbesserung des Lebensstandards verbunden. Freiheit und andere politische Rechte und Bürgerrechte spielten nur eine untergeordnete Rolle. Dies ist, nebenbei bemerkt, auch ein sehr wichtiger Punkt, der das Verständnis der weiteren politischen Entwicklung in den 90er Jahren bestimmte. Der zweite wichtige und besondere Punkt der damaligen tschechoslowakischen / tschechischen Situation war das Fehlen einer echten politischen Alternative. Die Opposition, und insbesondere die Charta 77, bevorzugte aufgrund der politischen Präferenzen ihrer Anführer für eine mögliche Konfrontation mit dem Regime, sogar in der kurzen Zeit vor dem Herbst 1989, nichtpolitische Instrumente und Methoden. Die nichtpolitische Strategie war eines der Hindernisse für den Aufbau eines neuen demokratischen Politikmodells nach 1989. Der dritte wichtige Punkt der tschechoslowakischen / tschechischen Situation war das Fehlen eines echten und fähigen Lagers mit politischen Reformern innerhalb der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Man kann hier von der Abwesenheit eines starken und lebendigen Reformflügels in den höchsten ( also den Prager ) Strukturen der kommunistischen Partei sprechen. Andererseits zeigten lokale kommunistische Eliten ihre solide Fähigkeit, sich an die

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neue Situation anzupassen, und nur wenige Autoren sind bereit, sie „die wahren Gewinner der tschechischen Transformation“ zu nennen. Dieser Aspekt ist – so scheint es – sehr interessant aus der Perspektive der klassischen Theorie zur Transformation. Das Vorhandensein eines reformistischen Teils innerhalb der Elite des alten Regimes, der den Prozess der Liberalisierung anstieß und an einem Kompromiss interessiert war, wird als ein höchst wichtiger Faktor eines möglichen Erfolgs der Transition und für die zukünftige Konsolidierung des demokratischen Regimes interpretiert. Beim tschechischen Beispiel müssen wir diesen Akteur auf der lokalen Ebene suchen. Und schließlich – was in diesem Text nicht kommentiert wird, aber weitreichende Konsequenzen für die Zukunft nach der Transition hat – muss man die andere Ausgangsposition und die anderen Erwartungen der tschechischen und slowakischen Bevölkerung und Eliten in Bezug auf einen Regimewechsel hervorheben. Aber das wäre ein Thema für einen anderen Aufsatz.

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Die DDR - Diktatur am Vorabend ihres Untergangs Walter Süß

Die Revolution in der DDR war das Ergebnis des Zusammenwirkens unterschiedlicher Ereignisse, die auch anders oder gar nicht hätten geschehen können. Erinnert sei etwa an Schabowskis missglückte Pressekonferenz am 9. November, die einen chaotischen Verlauf der Grenzöffnung auslöste. Rückblickender Determinismus ist fehl am Platz. Umgekehrt war die Revolution nicht nur das Resultat verschiedener Zufälle, deren Zusammentreffen so unwahrscheinlich gewesen wäre wie ein Sechser im Lotto. Zu diesen Ereignissen kam es nur und sie konnten nur deshalb solche Bedeutung bekommen, weil längerfristige, strukturelle Faktoren wirksam waren, die der revolutionären Krise ihren umwälzenden Charakter verliehen haben.1 Zu denken ist an die wirtschaftliche Entwicklung, die außen - und sicherheitspolitische Lage, die innenpolitische Situation und vor allem in der zweiten Hälfte der 80er Jahre die Entwicklung der Ideologie und des von der SED geltend gemachten Legitimationsanspruchs.

1.

Wirtschaftliche Lage

Die „Einheit von Wirtschafts - und Sozialpolitik“, die Honecker zum Motto seiner Amtszeit gemacht hatte, war eine Integrationsstrategie : steigendes Konsumniveau gegen äußere Fügsamkeit der Bürger und politischen Stillstand. Das hat etwa ein Jahrzehnt lang einigermaßen funktioniert. Bei oberflächlicher Betrachtung erscheinen die 70er Jahre in wirtschaftlicher Hinsicht als das goldene Jahrzehnt der DDR : Der Konsum stieg langsam, aber kontinuierlich; Preise und Mieten blieben niedrig; ein großes Wohnungsbauprogramm wurde 1973 aufgelegt; es gab einige sozialpolitische Fortschritte. Hinter dieser Erfolgsbilanz verbarg sich jedoch eine ganze Reihe von Problemen. So wurden mit dem Machtantritt des Gegenreformers Honecker alle Versuche zu Wirtschaftsreformen abgebrochen, die letzten Privatunternehmen verstaatlicht und das System erneut zentralisiert. Das überforderte die Planungsinstanzen, führte zu erhöhten Kosten in den Kombinaten, die nach Autarkie strebten, und verminderte die Anpas1

Vgl. Konrad H. Jarausch, Implosion oder Selbstbefreiung ? Zur Krise des Kommunismus und Auf lösung der DDR. In : ders./ Martin Sabrow ( Hg.), Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR, Göttingen 1999, S. 15–40.

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sungsfähigkeit an veränderte außenwirtschaftliche Bedingungen. Zudem waren die wirtschaftspolitischen Prioritätensetzungen von wenig Weitsicht getragen : Die Investitionen waren ganz über wiegend auf Erweiterung ausgerichtet statt auf Ersatz und Modernisierung; zwischen 1971 und 1988 betrug dieses Verhältnis im produzierenden Bereich 84 Prozent zu 16 Prozent. Die Folge war, dass die Anlagen auf Verschleiß gefahren wurden – mit zunehmender Tendenz. Im Jahr 1988 war der Kapitalstock der Volkswirtschaft zu 46 Prozent verschlissen.2 Die Außenhandelsstruktur passte zu einer Konstellation, die Anfang der 70er Jahre noch gegeben war, die sich dann aber dramatisch veränderte. Bei einer Betrachtung der Warenstruktur des DDR - Exports in westliche Länder hätte man denken können, zwischen Erzgebirge und Ostsee gebe es gewaltige Ölvorkommen. Das funktionierte trotzdem, solange aus der Sowjetunion billiges Erdöl gegen Verrechnungsrubel zu erhalten war, das in der DDR weiter verarbeitet wurde und gegen Devisen in den Westen verkauft werden konnte. Es funktionierte nicht mehr, als die Sowjetunion ab 1976 ihre Forderungen an die explodierenden Weltmarktpreise anpasste und ab 1981 zum Teil Bezahlung in Devisen verlangte. Die Lage wurde geradezu dramatisch, als die Erdölpreise ab Mitte der 80er Jahre wieder verfielen, die DDR wegen des Preisbildungsmechanismus im RGW dennoch hohe Preise an die Sowjetunion zahlen musste, im Westen aber nur noch drastisch verringerte Erlöse zu erzielen waren. Versucht wurde, den Preisverfall durch Steigerung der Menge zu kompensieren. Dazu musste das Erdöl dem Binnenmarkt entzogen werden. Die heimischen Großverbraucher wurden wieder auf Braunkohle umgestellt. Allein das kostete 15 Milliarden Mark an Investitionen, ohne binnenwirtschaftlichen Nutzeffekt, aber verbunden mit gewaltigen Umweltbelastungen.3 Die Entwicklung der Mikroelektronik voranzutreiben entsprach zwar einem globalen Trend und angesichts der Restriktionen für Importe aus dem Westen in diesem Sektor ( COCOM - Liste4) gab es dafür durchaus nachvollziehbare Gründe. Aber die kleine DDR wurde mit dem Versuch überfordert, auf diesem Feld zum Marktführer im RGW - Raum zu werden. Trotz enormer Anstrengungen – etwa 28 Milliarden Mark und vier Milliarden DM wurden allein in den Jahren 1986 bis 1989 investiert – gelang es nicht, Anschluss an die Weltmarktentwicklung zu gewinnen. Ein 256 - Kilobit - Chip kostete 1988 in der Herstellung 534 Mark; auf dem Weltmarkt lag der Preis damals bei zwei Dollar.5 Der Ent2 3 4

5

Vgl. Günter Kusch / Rolf Montag / Günter Specht / Konrad Wetzker, Schlussbilanz – DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts - und Sozialpolitik, Berlin 1991, S. 55, 58. Vgl. André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, S. 199 f. Es handelte sich dabei um Beschränkungen des Ostexports moderner Technologie, die vor allem die Entwicklung der Mikroelektronik enorm behinderten. Vgl. Angela Stent, Technologie in den Osten ? Zur Konzeption und Praxis des Consultative Group - Coordinating Committee ( CoCom ). In : Aus Politik und Zeitgeschichte, B 22/1981, S. 38–46. Vgl. Hans - Hermann Hertle, Die Diskussion der ökonomischen Krisen in der Führungsspitze der SED. In : Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen. Hg. von Theo Pirker, M. Rainer Lepsius, Rainer Weinert und Hans - Hermann Hertle, Opladen 1995, S. 309–345, hier 336.

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Die DDR- Diktatur am Vorabend ihres Untergangs

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Abb. 1: Ölpreis auf dem Weltmarkt ($ je Barrel ) / Intra - RGW nach Preismechanismus von 1975

Quelle : OPEC 2004. Annual Statistical Bulletin, Wien 2005, S. 125 ( nominale Preise ); eigene Berechnung.

wicklungsrückstand bei Speicherchips betrug etwa acht Jahre. Das Unvermögen der DDR, den Anschluss zu finden, hatte mehrere Gründe : Vor allem die strukturell bedingte Innovationsträgheit des Systems, die durch die Über wachungsbestrebungen der Staatssicherheit gerade in diesem Bereich noch verstärkt wurde.6 Finanziert werden musste schließlich ein sozialpolitisches Programm, das den normativen Orientierungen der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik entsprach und mit dem die Bevölkerung pazifiziert werden sollte.7 Die größten Kostenfaktoren waren ein Bauprogramm, angelegt auf zwei Millionen Wohnungen, und Subventionen für Mieten, Grundnahrungsmittel, gesellschaftlichen Konsum usw. Die Herangehensweise beim Wohnungsbau war ähnlich wie in der Industrie : Erweiterung statt Ersatz. Zwischen 1971 und 1988 wurden Plattenbausiedlungen meist an der Peripherie hochgezogen, andererseits verfielen die Altbauten und die Innenstädte verrotteten. Es wurden mit Kosten von 6

7

Vgl. Harry Maier, Innovation oder Stagnation. Bedingungen der Wirtschaftsreform in den sozialistischen Ländern, Köln 1987; Reinhard Buthmann, Kadersicherung im VEB Carl Zeiss Jena. Die Staatssicherheit und das Scheitern des Mikroelektronikprogramms, Berlin 1997, S. 28. Vgl. Christoph Boyer / Peter Skyba, Sozial - und Konsumpolitik als Stabilisierungsstrategie. Zur Genese der „Einheit von Wirtschafts - und Sozialpolitik“ in der DDR. In: Deutschland Archiv, 32 (1999), S. 577–590.

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184 Milliarden Mark fast zwei Millionen neue Wohnungen gebaut, da aber etwa eine Million Altbauwohnungen abgerissen wurden oder verfielen, wuchs der Wohnungsbestand tatsächlich nur um eine Million.8 Außerordentlich aufwendig waren die Subventionen zur Sicherung der Stabilität der Verbraucherpreise. Wurden dafür im Jahr 1971 noch 8,5 Milliarden Mark aufgewendet, so waren es 1988 fast fünfzig Milliarden.9 Wenn Ökonomen das intern kritisierten und kostendeckende Preise forderten, wurde warnend an den 17. Juni erinnert. Zu finanzieren war all das nur durch wachsende Verschuldung : sowohl innere Verschuldung ( spürbar in Form eines gewaltigen Kaufkraftüberhangs ) als auch durch Kredite, die vor allem im westlichen Ausland aufgenommen wurden.10 Die Verschuldung war besonders zu Beginn der 80er Jahre bedrohlich. Der Bankrott war damals nur abzuwenden durch Devisentransfers aus dem Westen, vor allem der Bundesrepublik. Bezahlt wurde mit immateriellen Werten : „menschlichen Erleichterungen“. Dass sich die DDR auf eine „Schuldenfalle“ zubewegte, war bereits seit Mitte der 70er Jahre absehbar. Die staatliche Plankommission hatte immer wieder darauf hingewiesen.11 Die politische Führung war also gewarnt. Solche Einwände wurden vor allem mit zwei politischen Argumenten abgebügelt : Erstens verberge sich dahinter Kritik an den Beschlüssen der Partei, besonders zur „Einheit von Wirtschafts - und Sozialpolitik“. Eine solche Kritik stehe der staatlichen Plankommission nicht zu. Und zweitens seien die nicht zu leugnenden Probleme nicht Folge eigener Fehler, sondern außenwirtschaftlich bedingt. Die DDR stand im Herbst 1989 nicht unmittelbar vor dem Bankrott. Die Führung unter Honeckers Nachfolger Krenz war zwar dieses Glaubens, aber ihr waren die tatsächlichen Zahlen unbekannt. Die Westverschuldung war damals erheblich geringer als angenommen.12 Aber dennoch war vor allem die wirtschaftliche Lage dramatisch, weil das bisherige außenwirtschaftliche Verflechtungsmodell nicht mehr funktionierte. Um aus der Klemme zwischen steigenden Importkosten und sinkenden Exporterlösen herauszukommen, hätte die DDR selbst in kurzer Frist auf dem Weltmarkt konkurrenzfähige Produkte anbieten müssen. Gewaltige Ersatzinvestitionen wären nötig gewesen. Dafür aber fehlten die Mittel.

8 Vgl. Kusch / Montag / Specht / Wetzker, Schlussbilanz – DDR, S. 63. 9 Vgl. ebd., S. 126. 10 Die innere Verschuldung des Staatshaushalts beim Kreditsystem wuchs von zwölf Milliarden M 1970 auf 130 Milliarden M 1989. Vgl. Steiner, Von Plan zu Plan, S. 207. 11 Vgl. Hertle, Die Diskussion der ökonomischen Krisen, S. 309–345. 12 Angenommen wurde, die DDR sei netto mit 26,5 Milliarden Dollar verschuldet, tatsächlich waren es 8,2 Milliarden Dollar. Vgl. Steiner, Von Plan zu Plan, S. 224 f.

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Die DDR- Diktatur am Vorabend ihres Untergangs

2.

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Zur außen - und sicherheitspolitischen Lage

Die DDR war bekanntlich Teil eines Imperiums, das von der Sowjetunion dominiert wurde. Die UdSSR war die Vormacht, gab die politische Linie vor und setzte die Grenzen zulässiger Politik. Der Sowjetblock insgesamt befand sich in scharfem Gegensatz zur westlichen Welt, aber in den 70er Jahren war es im Zuge neuer Ost - West - Beziehungen zu einer gewissen Entspannung und zu einer Verdichtung der Beziehungen gekommen. Die Führung der KPdSU hatte sich diese Entwicklung als eigenes Verdienst zugeschrieben, als Beweis dafür, dass der Siegeszug des von ihr verkörperten Sozialismus letztlich unaufhaltsam sei. Die Annahme, es handle sich um linearen Forschritt, erwies sich jedoch schon bald als Illusion. Seit Ende der 70er Jahre hatte sich die Konfrontation zwischen den beiden Bündnissystemen erneut zugespitzt. Die Lage war für die sowjetische Parteidiktatur überaus problematisch, denn in diesen Jahren wurde spürbar, dass das sowjetische Imperium überdehnt war.13 Die wirtschaftlichen und selbst die militärischen Kapazitäten reichten nicht aus, um gleichzeitig im Wettrüsten mitzuhalten, einen Krieg in Afghanistan zu führen und in Polen zu inter venieren; die alten und neuen Bündnispartner in der Dritten Welt zu unterstützen und die Juniorpartnerstaaten in Osteuropa zu subventionieren; darüber hinaus den bescheidenen Lebensstandard der eigenen Bevölkerung zu heben und auch noch Anschluss an jene technischen Innovationen zu finden, die die Konkurrenzsituation auf dem Weltmarkt seit den 70er Jahren grundlegend veränderten. Die Sowjetunion hatte sich übernommen und sie hatte den Anschluss an die westliche Welt verpasst, und dadurch war sie ver wundbar geworden. Aktuell wurde der politische Wandel in den USA mit dem Regierungsantritt von Ronald Reagan als Gefahr wahrgenommen. Aus diesem Grund wurde Anfang der 80er Jahre durch die sowjetische Führungsmacht darauf gedrängt, die Widersprüche zwischen den westeuropäischen Staaten und den USA zu befördern, auf die „realistischen Kräfte“ ( also die Gegner einer neuen Konfrontationspolitik ) zu setzen und die westliche Friedensbewegung zu unterstützen und entsprechend zu beeinflussen.14 Für die DDR - Führung wurde die veränderte Konstellation in verschiedener Hinsicht spürbar. Die neue Eiszeit in den Ost - West - Beziehungen, die seit Ende der 70er Jahre heraufzog, war für die DDR von besonderer Bedeutung : Zum einen war sie auf die privilegierten Wirtschaftsbeziehungen zur Bundesrepublik angewiesen. Zum anderen ließen die Szenarien eines direkten militärischen 13 Vgl. Hannes Adomeit, Imperial overstretch. Germany in Soviet policy from Stalin to Gorbachev. An analysis based on new archival evidence, memoirs, and interviews, Baden - Baden 1998. 14 Vgl. ausführlicher Walter Süß, Wandlungen der MfS - Repressionstaktik seit Mitte der siebziger Jahre im Kontext der Beratungen der Ostblock - Geheimdienste zur Bekämpfung der „ideologischen Diversion“. In : „Das Land ist still – noch !“ Herrschaftswandel und Opposition in der Ära Honnecker. Hg. von Leonore Ansorg / Bernd Gehrke / Thomas Klein / Danuta Kneipp, Köln 2009, S. 111–134.

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Konflikts zwischen den beiden Supermächten keinen Zweifel daran, dass, wenn es denn dazu kommen sollte, die Bewohner der beiden deutschen Staaten zu den ersten Opfern einer nuklearen Eskalation gehören würden. Durch die Stationierung neuartiger Mittelstreckenraketen auf beiden Seiten wurde diese Wahrscheinlichkeit noch erhöht. Nicht weniger beunruhigend musste auf die SED - Führung das sowjetische Verhalten angesichts der Entwicklung in Polen wirken. Dort war seit Sommer 1980 eine revolutionäre Krise im Entstehen begriffen. Schon weil es sich um ein Nachbarland handelte, erregte das bei der SED - Politbürokratie Besorgnis. Dem ein Ende zu setzen, war in ihrem unmittelbaren Interesse – und Honecker drängte darauf.15 Die Spitze der KPdSU hat im Herbst 1980 höchstwahrscheinlich eine begrenzte Inter vention in Erwägung gezogen. Ein Jahr später aber, im Dezember 1981, schreckte die sowjetische Führung vor einer Inter vention zurück. Sie befürchtete westliche Sanktionen.16 Der Wandel der sowjetischen Blockpolitik zwischen 1980 und 1981 war von eminenter Bedeutung : Er zeigte, dass die Breschnew - Doktrin nicht mehr praktizierbar war, jene Doktrin, mit der die sowjetische Existenzgarantie für die osteuropäischen Diktaturen in eine Formel gegossen worden war. Diese Doktrin war nicht aufgehoben worden, aber mit „brüderlicher Hilfe“ war im Fall einer politischen Krise nicht mehr fest zu rechnen. Auch deshalb kam es in dem außenpolitischen Dreieck Moskau – Ostberlin – Bonn in den 80er Jahren zu erheblichen Verschiebungen : Die offenbar gewordene Schwäche der sowjetischen Vormacht, die bedrohlich wirkende sicherheitspolitische Situation und wachsende wirtschaftliche Probleme führten zum Ende der Abgrenzungspolitik und zu einer vorsichtigen Umorientierung der SED - Führung in den Beziehungen zur Bundesrepublik. Der Preis der privilegierten Beziehungen zur Bundesrepublik war eine Einengung des innenpolitischen Handlungsspielraums der SED und damit auch der Staatssicherheit. Es war eine komplizierte Situation zwischen sowjetischen Abgrenzungsforderungen und Honeckers eigener Strategie, durch größere Nähe zur Bundesrepublik Entlastung bei den inneren Problemen zu finden. Diese Faktoren führten zu einer widersprüchlichen Politik der SED - Spitze. Sie oszillierte zwischen Abgrenzung und Annäherung, zwischen verstärkter und nachlassender Repression, zwischen Nachgiebigkeit und Verhärtung gegenüber Ausreisewünschen. 15 Vgl. Michael Kubina / Manfred Wilke ( Hg.), „Hart und kompromißlos durchgreifen“. Die SED contra Polen 1980/81. Geheimakten der SED - Führung über die Unterdrückung der polnischen Demokratiebewegung, Berlin 1995; Monika Tantzscher, „Was in Polen geschieht, ist für die DDR eine Lebensfrage !“ Das MfS und die polnische Krise 1980/81. In : Materialien der Enquete - Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED - Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages). Hg. vom Deutschen Bundestag, Baden - Baden 1995, Band V, S. 2601–2760. 16 Vgl. Mark Kramer, The Kuklinski Files and the Polish Crisis of 1980–1981. An Analysis of the Newly Released CIA Documents on Ryszard Kuklinski ( CWIHP Working Papers, 59), Washington 2009; Matthew J. Ouimet, The rise and fall of the Brezhnev Doctrine in Soviet foreign policy, Chapel Hill 2003, S. 241 f.

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Innenpolitische Probleme

Ein innenpolitischer Bereich, in dem sich die Probleme der 80er Jahre gewissermaßen bündelten, waren die Westreisen und die Ausreisebewegung. Zum einen war Freizügigkeit ein elementares Bedürfnis der Mehrheit der DDR - Bürger, dem das Regime nicht bereit war nachzukommen. Zum anderen kreuzten sich hier auch die außenpolitischen Probleme : In Moskau wurden in der ersten Hälfte der 80er Jahre die zunehmenden Kontakte zwischen beiden deutschen Staaten mit äußerstem Misstrauen gesehen, zwischen Ostberlin und Bonn aber handelte es sich um ein vorrangiges Thema. Die Bundesregierung drängte darauf und für die DDR - Führung war es einer der wenigen Bereiche, in denen sie über etwas Verhandlungsmasse verfügte. Die Regelungen zu Reise und Ausreise wurden in den 80er Jahren fünfmal verändert (1982, Dezember 1985, November 1988, April und November 1989). Spart man die Mauer - Öffnung als Sonderfall aus, so gingen dem in den meisten Fällen Verhandlungen im Rahmen der KSZE und auf deutsch - deutscher Ebene voraus. Entsprechend sind die Annäherung zwischen Bonn und Ostberlin in den 80er Jahren und die Konzessionen, zu denen die SED - Führung gezwungen war, an den einschlägigen Zahlen ablesbar : Von 1980 bis 1988 stieg die Gesamtzahl der Besuchsreisen aus der DDR in der Bundesrepublik – Rentner eingeschlossen – von 1,6 auf 7,8 Millionen. Die Zahl der Reisen in „dringenden Familienangelegenheiten“ unterhalb des Rentenalters wuchs von 40 000 auf über eine Million.17 Der Grund war eine Ausweitung der zulässigen Antragsgründe, vor allem um „Runde Geburtstage“ von Ver wandten (1982 und Dezember 1985).18 Es handelte sich um Zugeständnisse, die Honecker bei Verhandlungen mit der Bundesregierung gemacht hatte. Ebenso wuchs die Zahl der Antragsteller auf ständige Ausreise in den 80er Jahren ganz erheblich : von 22 000 (1980) auf 114 000 (1988). Obwohl auch die Anzahl der Ausreisegenehmigungen im gleichen Zeitraum von 4 000 auf 25 000 versechsfacht wurde, blieb sie doch immer weit hinter jener der Ausreisewünsche zurück.19 Hinter diesen Zahlen verbargen sich nicht nur wach-

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Zahlenangaben nach Kurt Plück, Innerdeutsche Beziehungen auf kommunaler und Verwaltungsebene, in Wissenschaft, Kultur und Sport und ihre Rückwirkungen auf die Menschen im geteilten Deutschland. In : Materialien der Enquete - Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED - Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ). Hg. vom Deutschen Bundestag, Baden - Baden 1995, Band V/3, S. 2015–2064, hier 2025. 18 Anordnung über Regelungen zum Reiseverkehr von Bürgern der DDR vom 15. 2. 1982 ( GBl. I DDR, 17. 3. 1982, S. 187). Sie löste die früheren, weniger weit gefassten Regelungen ab : Die Anordnung vom 17. 10. 1972 über Regelungen im Reiseverkehr von Bürgern der DDR ( GBl. II DDR, Nr. 61, S. 653) und die Anordnung Nr. 2 vom 14. 6. 1973 über Regelungen im Reiseverkehr von Bürgern der DDR ( GBl. I DDR, Nr. 28, S. 269). 19 Ohne Rentner und „Wohnsitzänderungen“ ( Zusammenführung von Eltern mit ihren minderjährigen Kindern, pflegebedürftigen Angehörigen und Ehegatten ) und allein bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland und Berlin - West; zusammengestellt aus

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Walter Süß

Abb. 2: Reisen in dringenden Familienangelegenheiten

Zahlenangaben nach Kurt Plück, Innerdeutsche Beziehungen auf kommunaler und Ver waltungsebene, in Wissenschaft, Kultur und Sport und ihre Rückwirkungen auf die Menschen im geteilten Deutschland. In : Materialien der Enquete - Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED - Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ). Hg. vom Deutschen Bundestag, Baden - Baden 1995, Band V/3, S. 2015–2064, hier 2024 f.

sende Spannungen zwischen denen, die das Land verlassen wollten, und dem Regime, sondern auch Konflikte zwischen SED - Führung und Staatssicherheit. Honecker erhoffte sich von vermehrten Ausreisegenehmigungen einen Rückgang des inneren Drucks, also eine Beruhigung der Lage. Die Staatssicherheit fürchtete das Gegenteil : die „Rückverbindungen“ der Ausgereisten und die davon ausgehende „Sogwirkung“. Das war zutreffend; davor zu warnen bot aber auch keine Lösung. Zudem stellte auch die wachsende Zahl derjenigen, denen keine Ausreisegenehmigung erteilt wurde, ein Unruhepotential dar : Sie hatten innerlich bereits mit der DDR gebrochen, warteten zunehmend ungeduldig nur noch darauf, sie endlich verlassen zu dürfen, und waren hinsichtlich möglicher Protestaktionen schwer kalkulierbar. Die Versuche der Staatssicherheit, dem mit Repression beizukommen, erwiesen sich als wenig erfolgreich, obwohl die strafrechtliche Verfolgung dieser Personengruppe 1984 und 1988 Jahresanalysen der ZKG von Bernd Eisenfeld, Die Zentrale Koordinierungsgruppe (MfS- Handbuch, Teil III /17), BStU, Berlin 1995, S. 50.

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Abb. 3: Ausreisewillige ohne Genehmigungsvoraussetzungen

Stichtag ist jeweils der 31.12. Nicht in den Zahlen enthalten sind – nach damaligem DDR Recht genehmigungsfähige – Anträge von Rentnern auf Übersiedelung und Anträge auf „Wohnsitzänderungen“ zur Zusammenführung von Eltern mit ihren minderjährigen Kindern, pflegebedürftigen Angehörigen und Ehegatten; außerdem sind diese Zahlen allein auf die Bundesrepublik Deutschland und Berlin - West als Ausreiseziel bezogen. Zusammengestellt aus Jahresanalysen der ZKG von Bernd Eisenfeld, Die Zentrale Koordinierungsgruppe ( MfSHandbuch, Teil III/17), Berlin 1995, S. 50.

das Niveau der 60er Jahre erreichte. Die Abschreckungswirkung nahm dennoch ab : wegen der Praxis des Häftlingsfreikaufs und der Verkürzung der Haftdauer.20

4.

Reaktionen der Staatssicherheit

Die Methoden, deren sich die Staatssicherheit in jenen Jahren gegen gesellschaftlichen Widerspruch und Opposition bediente, setzten Trends fort, die bereits in den 70er Jahre angelegt waren, allerdings mit deutlich anderer Akzentsetzung. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre wurden keine längeren Haftstrafen gegen bekanntere Oppositionelle mehr verhängt. Eine Ausnahme versuchte die Staatssicherheit nach den Ereignissen bei der Gedenkdemonstration für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht Anfang des Jahres 1988 zu machen. Den damals verhafteten Bürgerrechtlern wurde mit Haftstrafen bis zu zwölf Jahren gedroht. Aber diese Drohung war nicht durchzusetzen. Die bekanntesten von ihnen musste die Staatsmacht sogar mit Visum ausreisen lassen. Selbst der Versuch 20 Vgl. Johannes Raschka, Justizpolitik im SED - Staat. Anpassung und Wandel des Strafrechts während der Amtszeit Honeckers, Köln 2000, S. 287.

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der Staatssicherheit, die Rückkehr einiger dieser Oppositionellen in die DDR zu verhindern, schlug fehl. Honecker befürchtete negative Auswirkungen auf die DDR - Position bei den KSZE - Folgeverhandlungen in Wien. Ein weiterer Grund für größere Vorsicht hinsichtlich offener Repression lag in der verschärften internationalen Lage in der ersten Hälfte der 80er Jahre und dem von Moskau angeordnetem Ziel, die Widersprüche in den „imperialistischen Staaten“ zu befördern. Das Dilemma, in dem die Staatssicherheit deshalb steckte, hat Mielkes Vordenker Wolfgang Irmler ( der Leiter der Zentralen Auswertungs - und Informationsgruppe ) auf einem Treffen von osteuropäischen Geheimdienstfunktionären im Jahr 1983 deutlich gemacht : „Bei alledem spekulieren der Gegner und [...] innere feindliche Kräfte nicht zu Unrecht darauf, dass es uns aufgrund des objektiv notwendigen Bündnisses mit der westlichen Friedens - und Antikriegsbewegung, mit Pazifisten und Christen im Westen und in unseren Ländern erschwert wird, gegen bei uns unter der Flagge des Friedenskampfes organisierte, in Wirklichkeit aber antisozialistische Ziele verfolgende Gruppen und Kräfte vorzugehen.“21 Die „Erschwernis“, repressiv hart zuzuschlagen, wurde selbstverständlich über die SED - Spitze vermittelt. Mielke hat fünf Jahre später, im Oktober 1988, ebenso argumentiert : „Wir dürfen dem Gegner keinerlei Munition liefern, die es ihm gestatten würde, unsere Organe als Störenfriede im Friedens - und Entspannungsprozess zu bezeichnen.“22 Das engte den Handlungsspielraum ein.

5.

Die sowjetische Herausforderung

Ab Mitte der 80er Jahre kamen zu den bereits bestehenden Problemen neue hinzu. Vor allem der Wechsel in der sowjetischen Führung war bedeutsam. Ursprünglich konnte die Wahl Gorbatschows begrüßt werden, weil ein Ende der lähmenden Übergangsperiode in der sowjetischen Vormacht zu erhoffen war. Selbst der neuen Westorientierung war etwas abzugewinnen, denn dadurch konnten die internationalen Spannungen abgebaut werden. Doch bald wurde die Entwicklung in der Sowjetunion zum Problem. Der amerikanische Politikwissenschaftler Adam Przeworski hat argumentiert, ein autoritäres Regime würde dann in Gefahr geraten, wenn eine realisierbare Alternative entsteht.23 Hinsichtlich der DDR könnte man sagen, dass mit der Bundesrepublik immer eine Alternative existierte. Aber solange die Moskauer Führung an der Bewahrung der „Errungenschaften des Großen Vaterländischen 21 W. Irmler, Ausführungen des Leiters der Delegation des MfS auf der multilateralen Beratung der Bruderorgane zu Problemen der Bekämpfung der ideologischen Diversion [Sofia, November 1983] ( BStU, MfS, ZAIG 8691, Bl. 1–43, hier 23). 22 Referat des Mitglieds des Politbüros des ZK der SED und Ministers für Staatssicherheit, Armeegeneral Erich Mielke, auf der Tagung der Aufklärungsorgane der sozialistischen Länder, Berlin, 17. 10. 1988 ( BStU, MfS, ZAIG 5121, Bl. 3–44, hier 9). 23 Adam Przeworski, Spiel mit Einsatz. Demokratisierungsprozesse in Lateinamerika, Osteuropa und anderswo. In : Transit. Europäische Revue, 1 (1990) 1, S. 190–213.

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Krieges“ Interesse hatte, war diese Alternative nicht realisierbar. Mit Gorbatschow an der Spitze der KPdSU kam diese Konstellation, die über vier Jahrzehnte unverrückbar schien, in greifbare Nähe. Nicht dass er sofort bereit gewesen wäre, die DDR aufzugeben. Ganz im Gegenteil. Aber für die Menschen in der DDR wurde eine neue, überraschende Alternative sichtbar. Das galt vor allem seit Anfang 1987, nachdem der sowjetische Reformprozess auf die politischen Strukturen ausgeweitet worden war. Man muss nur an einige Passagen aus der berühmten Rede Gorbatschows auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPdSU im Januar 1987 erinnern, um das nachvollziehen zu können. So etwa die Parole „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen.“24 In einem internen Papier der Staatssicherheit wurde berichtet, dass Gorbatschows Rede gerade von „progressiven Kreisen“ in der Bevölkerung, also den Stützen des Regimes, „mit außerordentlich großem Interesse“ gelesen würde. Es „dominiert eindeutig Zustimmung zur Politik der KPdSU“. Nur die Genossen im Ministerium des Innern äußerten „Befürchtungen“, die sowjetische Reformpolitik könne „den Nährboden bilden für eine Zunahme der Aktivitäten feindlich - negativer Kräfte“. In vielen Diskussionsrunden, wurde weiter berichtet, „kommen die Beteiligten unter Bezugnahme auf die jeweilige Situation im eigenen Tätigkeitsbereich häufig zu dem Schluss, dass es in der DDR ähnliche Erscheinungen gebe wie in der UdSSR“.25 Dieser Bericht wurde geschrieben, bevor Honecker Anfang Februar 1987 die SED auf scharfe Abgrenzung zum sowjetischen Kurswechsel festlegte.26 Danach wurde auch in der Stasi - internen Berichterstattung über einschlägige Reaktionen der Bevölkerung sehr viel verhaltener berichtet. Im Vordergrund standen nun jene Befürchtungen, die die Genossen im Ministerium des Innern schon zuvor geäußert hatten. Dazu Mielke auf einer Sitzung seines Kollegiums im Februar 1987 : „Das Januarplenum [ der KPdSU ] hat [...] den Gegner, [...] die Zentren der politisch - ideologischen Diversion und andere feindliche Organisationen und Kräfte auf den Plan gerufen. Von ihnen wird eine massive Kampagne entfacht, in der zwei Bestrebungen besonders deutlich sichtbar werden : zum einen, uns in einen Gegensatz zur KPdSU und zur UdSSR zu bringen; zum anderen, unsere Entwicklung – unter Berufung auf die Beschlüsse der KPdSU – zu verleumden, uns gewissermaßen zu einer Kurskorrektur zu veranlassen, also von unserem bewährten Entwicklungsweg abzubringen.“27 24 Michail Gorbatschow, Rede und Schlusswort auf dem Plenum des ZK der KPdSU. Moskau am 27. und 28. Januar 1987, Berlin ( Ost ) 1987, S. 76. 25 ZAIG, „Erste Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung auf das Plenum des ZK der KPdSU“ vom 3. 2. 1987 ( BStU, MfS, ZAIG 4217, Bl. 1–15). Dort auch die vorstehenden Zitate. 26 Vgl. Alexandra Nepit, Die SED unter dem Druck der Reformen Gorbatschows. Der Versuch der Parteiführung, das SED - Regime durch konser vatives Systemmanagement zu stabilisieren, Baden - Baden 2004, S. 151–156. 27 Erich Mielke, Referat auf der erweiterten Sitzung des Kollegiums des MfS zur Auswertung der Rede von Erich Honecker vor den 1. Sekretären der SED (6. 2. 1987) am 13. 2. 1987, S. 40 ( BStU, MfS, BdL / Dok. 008389).

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Der Kunstgriff, die Herausforderung durch die Perestroika auf dem Umweg über ihre westliche Rezeption zu denunzieren, hat allenfalls einige Stasi - Generäle überzeugt. Die an Schärfe zunehmende Abgrenzung der SED - Führung vom sowjetischen Reformprozess aber entfremdete sie von der eigenen politischen Basis. Das galt in begrenztem Umfang selbst im MfS, denn der ideologische Widerspruch war nicht aufzulösen : Einerseits zu beteuern, dass die Existenz der DDR von der Garantiemacht Sowjetunion abhänge, andererseits aber sich von der aktuellen sowjetischen Politik scharf abzugrenzen und sie als existenzgefährdend für den eigenen Staat zu denunzieren. Gerade für Anhänger des Systems ging das Legitimationsproblem noch sehr viel tiefer : Die Sowjetunion hatte für sie immer den „historischen Fortschritt“ verkörpert, dem zu folgen war. Das rechtfertigte auch Isolation unter den eigenen Mitbürgern. Nun wurde die Vergangenheit entwertet, die Verbrechen des Stalinismus benannt und die Lähmung unter Breschnew kritisiert. Für die Zukunft teilten sich die Perspektiven. Dabei folgte die SED offenbar einem Weg, der in der Sowjetunion in den Sumpf der Stagnation geführt hatte. Damit war die Sinnhaftigkeit des gesamten Projekts DDR in Frage gestellt. Auch die sowjetische Außenpolitik wurde trotz oder auch wegen der Erfolge in der Entspannung der internationalen Lage zum Problem. Die Führung unter Gorbatschow war erkennbar nicht gewillt, die Blockdisziplin aufrechtzuerhalten. Das verschaffte auf der einen Seite der SED - Führung den Spielraum, ihrer Reformpolitik nicht zu folgen.28 Auf der anderen Seite bedeutete es aber auch, dass in anderen Staaten des Warschauer Paktes Veränderungen eingeleitet werden konnten, die das kommunistische Machtsystem in Frage stellten. Zuerst in Polen, unter dem Druck einer neuen Streikwelle, dann in Ungarn nach heftigen Auseinandersetzungen in der herrschenden Partei. Diese Entwicklungen demonstrierten, welche Spielräume es im sowjetischen Imperium inzwischen gab. Und sie bildeten die Voraussetzungen für das Befreiungsdrama im Herbst. In Ungarn war ein wichtiger Schritt die Aufkündigung der Blocksolidarität in Form der Öffnung der Grenze nach Österreich – eine Entscheidung, die bereits im Frühjahr 1989 vorbereitet worden war. Anfang des Jahres 1989 wurde die Wiener Folgekonferenz der KSZE abgeschlossen. Sie hatte für die SED - Führung doppelte Bedeutung : Zum einen war die DDR auf internationalem Parkett und selbst im eigenen Lager weitgehend isoliert. Das galt vor allem in Fragen der Menschenrechte. Zum anderen war sie gegen den erklärten Willen der Stasi - Führung, aber auf Drängen der Sowjetunion Verpflichtungen eingegangen, die nicht einlösbar waren, ohne den Bestand der Diktatur zu gefährden. Die Machthaber haben sich damit beruhigt, dass wie in früheren Jahren internationale Verpflichtungen das eine, ihre reale Umsetzung aber etwas anderes sei. Aber selbst in der Staatssicherheit dämmerte die 28 Vgl. Walter Süß, Größere Eigenständigkeit im Dienste des Status quo. Die DDR und ihre Blockführungsmacht. In : Gert - Joachim Glaeßner ( Hg.), Die DDR in der Ära Honecker. Politik – Kultur – Gesellschaft. Festschrift für Hartmut Zimmermann, Opladen 1988, S. 186–213.

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Erkenntnis, dass es künftig so einfach nicht mehr sein würde, nachdem selbst das „sozialistische Lager“ in diesen Fragen gespalten war.

6.

Konsequenzen der veränderten Konstellation

Der Leiter der Untersuchungsabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit, Generalmajor Rolf Fister, hat im Februar 1989 in einer ersten Einschätzung des KSZE - Dokuments folgendermaßen argumentiert : Zwar sei mit dem Abschlussdokument nicht unmittelbar geltendes, innerstaatliches Recht gesetzt worden, aber das bedeute nicht, dass man sich über die eingegangenen Verpflichtungen hinwegsetzen könne. Seine Begründung : „davon wie jeder Staat den getroffenen politischen Vereinbarungen entspricht, davon wird seine internationale Ausstrahlung, werden die Wirkungen seiner Politik maßgeblich bestimmt. Aus diesem Zusammenhang ergeben sich weit reichende Konsequenzen für unsere politische und operative Arbeit.“29 Das waren neue Töne. Sie zeigten, dass die Abwehr westlicher Kritik als völkerrechtlich unzulässige „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ nicht mehr griff. Die bisherige Berufung auf die DDR - Legalität reichte selbst aus der Sicht eines hohen Stasi - Offiziers nicht mehr aus. Sie wurde abgelöst durch eine allmählich sich herausbildende international eingeforderte Legitimität in Fragen der Menschenrechte. Politikwissenschaftlich gesprochen : eines Menschenrechtsregimes, das auch von der SED - Diktatur nicht mehr ignoriert werden konnte. Dieser Wandel zeigte sich zu jener Zeit nur in seinen Anfängen, aber er war revolutionär – für sich genommen und im Herbst 1989 auch in seinen praktischen Konsequenzen. Schon im ersten Halbjahr 1989 aber zeichnete sich ab, dass das Regime seinen Machtanspruch mit nachlassender Härte verteidigte. Erstens wurde der Spielraum strafrechtlich sanktionierten Vorgehens gegen gesellschaftlichen Ungehorsam enger. Erich Mielke warnte die Stasi - Mitarbeiter nach dem Abschluss der Wiener Folgekonferenz der KSZE im Februar 1989 davor, „politischen Schaden“ anzurichten. Er forderte, die „Festnahme von Verdächtigen“ möglichst zu vermeiden und „strenge Maßstäbe an die Prüfung der Unumgänglichkeit der Untersuchungshaft“30 zu legen. Zweites Beispiel : der Schießbefehl. Die DDR war ein Staat, der seine Bürger mit Gewalt daran hindern musste, ihm den Rücken zu kehren. Deshalb waren die Grenztruppen gehalten, zur Verhinderung von Fluchtversuchen auch die Schusswaffe zu gebrauchen. Bis zum April 1989. Im Februar dieses Jahres war noch einmal ein Flüchtling erschossen worden, der zwanzigjährige Chris Gueffroy. Das hatte Aufsehen und Empörung erregt – auch weil kurz nach der Wie29 Redebeitrag von Rolf Fister, undat. [ wahrscheinlich am 6. 2. 1989] ( BStU, MfS, HA IX 8746, Bl. 103–115). 30 Erich Mielke, Ausführung auf der Beratung des Kollegiums des MfS am 1. 2. 1989 (BStU, MfS, ZAIG 5342, Bl. 3–64, hier 50). Dort auch die vorstehenden Zitate.

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ner Folgekonferenz ein solches Vorgehen nicht mehr für möglich gehalten worden war. Intern führte das zu der Einsicht, dass das bisherige Grenzregime politisch nicht mehr durchzuhalten war.31 Zwischen Honecker und dem ZK - Sekretär für Sicherheit, Egon Krenz, kam es zu einer Aussprache, in der der Generalsekretär monierte, es sei falsch „in der jetzigen politischen Situation die Schusswaffe anzuwenden“.32 Mit einigen Tagen Verzögerung wurden veränderte Verhaltensregeln angeordnet und nach unten weitergegeben. Der Leiter der Hauptabteilung VI der Staatssicherheit, die für die Grenztruppen zuständig war, fasste die neue Befehlslage mit den Worten zusammen : „Die Anwendung der Schusswaffe [ bei ‚Angriffen auf die Staatsgrenze und ihrer vorbeugenden Verhinderung‘] darf nur erfolgen, wenn das eigene Leben [ des Grenzsoldaten ] oder das anderer ( z. B. Geiseln ) bedroht ist, und zur Unterbindung der Fahnenflucht.“33 Diese Aussetzung des Schießbefehls bei zivilen Fluchtversuchen war faktisch seine Aufhebung. Im November 1989 hatte die neue Befehlslage eminente Bedeutung. Das dritte Beispiel sind die Kommunalwahlen im Mai 1989.34 Das Ergebnis dieser Wahlen wurde, wie wohl die Ergebnisse aller Wahlen seit 1950, gefälscht. Neu war, dass das nachgewiesen und kritisiert werden konnte. Dazu waren drei Voraussetzungen notwendig : Zum ersten Bürgerrechtler, die den Mut hatten, die Kontrolle durchzuführen. Zum zweiten Medien, die das Ergebnis der Wahlkontrolle öffentlich machten, in diesem Fall westliche Medien. Und drittens ein so enger Handlungsspielraum der Repressionsorgane, dass sie – obwohl sie die oppositionellen Kontrolleure genau überwachten – nicht fähig waren, deren Tun zu verhindern. Ein Skandal wird erst dadurch zum Skandal, dass der ihm zugrunde liegende Sachverhalt öffentlich ausgesprochen wird. Dann aber löst Empörung aus, was lange Zeit stillschweigend hingenommen worden ist. Das Ergebnis war auch hier ein weiterer Legitimitätsverfall des Regimes. Zugleich war es ein wichtiges Zeichen, dass sich das Risiko zivilen Ungehorsams vermindert hatte. Unmittelbar vor dem Beginn der Herbstrevolution hatte Oberst Joachim Wiegand, der Leiter der für die Kontrolle der Kirchen zuständigen Hauptabteilung XX /4, den Handlungsspielraum der Staatssicherheit mit den Worten beschrieben : Oppositionelle Bestrebungen hätten sich so entwickelt, „dass sie nicht mehr ohne Weiteres liquidiert werden können. Operative Maßnahmen des MfS mit repressivem Charakter sind aufgrund der Lageentwicklung nicht mög31

Vgl. ausführlich Walter Süß, Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, Berlin 1999, S. 148–154. 32 Niederschrift über die Rücksprache beim Minister für Nationale Verteidigung, i. V. [ in Vertretung ] Generaloberst Streletz, am 3. 4. 1989, gez. Stabschef Teichmann, Grenztruppen der DDR ( BStU, MfS, HA I 5753, Bl. 2–5). 33 Auswertung der Minister - Dienstbesprechung vom 28. 4.1989 durch den Leiter der Hauptabteilung VI, Genossen Generalmajor Fiedler, am 4. 5. 1989 ( BStU, MfS, HA VI 6298, Bl. 21–24). 34 Vgl. Hans Michael Kloth, Vom „Zettelfalten“ zum freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die „Wahlfrage“, Berlin 2000.

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lich. Demzufolge ist die politische Einflussnahme / Führung entscheidend.“35 Anders ausgedrückt : Die Repressionsorgane allein konnten die Krise unter den obwaltenden Handlungsrestriktionen nicht bewältigen, gefragt war die SED Führung. In den folgenden Wochen wurde im Umfeld des 40. Jahrestags dennoch versucht, die Lage mit repressiven Mitteln wieder unter Kontrolle zu bekommen, aber auch das war nicht durchzuhalten und endete in einem Desaster.36 Die Endkrise der DDR war eine offen ausbrechende Legitimitätskrise. Fehlende demokratische Legitimität war ein Grundzug des Systems über vier Jahrzehnte gewesen, deshalb erklärt dieses Defizit allein Zusammenbruch und Revolution selbstverständlich nicht.37 Das fundamentale demokratische Defizit war von Anfang an kompensiert worden durch den Antifaschismus, seit den 70er Jahren durch den zu Beginn geschilderten Handel, Fügsamkeit gegen steigenden Konsum, und all die Jahre durch die Macht der Verhältnisse. Diese Integrationsfaktoren zerfielen : – Der Antifaschismus verlor im Laufe der Jahre an Kraft, auch weil das Feindbild Bundesrepublik im Zeichen der Entspannungspolitik verblasste. – Die Integration durch Konsum scheiterte an zu geringer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und an der Konkurrenz mit der Bundesrepublik. Die Reisewelle der 80er Jahre hatte Millionen sinnlich erfahrbar gemacht, dass dieser Wettbewerb verloren war. – Die Macht der Verhältnisse aber erschien dank der Veränderungen in der Vormacht Sowjetunion und der Reaktion der SED - Führung nicht mehr als schicksalhaft, sondern als kontingent. Damit war ihr Bann gebrochen. Gerade der letztgenannte Aspekt hatte besondere Bedeutung für eine Gruppe, die zwar in der Minderheit, für die Stabilität des Regimes aber von fundamentaler Bedeutung war : die überzeugten Anhänger des Regimes. Wären sie in den entscheidenden Monaten nicht von ihren Fortschrittsillusionen enttäuscht, ver wirrt und demoralisiert gewesen, dann hätte die Auseinandersetzung zwischen dem Regime und den aufbegehrenden Teilen der Gesellschaft auch anders ausgehen können. Dass dem nicht so war, dafür gab es aktuelle Anlässe, wichtiger aber war die längerfristige Unterhöhlung des Systems durch seine eigene Politik.

35 Beratung der Hauptabteilung XX /4 mit den Leitern der Referate XX /4 aller Bezirksver waltungen am 21. 9. 1989 ( BStU, ASt Neubrandenburg, Abt. XX 663, unpag., 4 S.). 36 Vgl. ausführlich Süß, Staatssicherheit am Ende, S. 238–384. 37 Vgl. Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945–1989, Frankfurt a. M. 1992.

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Die Friedliche Revolution : Strukturelle und ereignisgeschichtliche Bedingungen des Umbruchs 1989 in der DDR Detlef Pollack

Auch wenn die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem staatssozialistischen DDR - System in der gesamten Zeit seiner Existenz stets hoch war, gab es in der DDR doch kaum nennenswerten Widerstand gegen das kommunistische System. Seit der gewaltsamen Niederschlagung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 war jedermann klar, dass sich die in der DDR entstandenen Machtverhältnisse durch Demonstrationen nicht verändern ließen. Durch einen effektiven Repressionsapparat hoch gesichert, durch die internationale Staatengemeinschaft als souveräner Staat anerkannt, eingebunden in die Blockkonfrontation und militärisch gestützt durch die Sowjetarmee, erweckte das Staatssystem der DDR den Eindruck nicht erschütterbarer Stabilität. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als durch den Bau der Berliner Mauer die Abwanderungsmöglichkeiten drastisch sanken. Da im Falle misslingender Protestaktionen niemand mehr das Land verlassen konnte, erhöhte sich seit dem Mauerbau die Bereitschaft zum Arrangement mit dem System bedeutend. Das Regime bot Aufstiegsmöglichkeiten um den Preis politischen Wohlverhaltens, abweichende Verhaltensweisen aber bestrafte es hart. Weder gab es eine unabhängige politische Öffentlichkeit noch staatlich unkontrollierte Institutionen. Angesichts der rigiden Form der Herrschaftsausübung, der Abschottung vom Westen sowie der flächendeckenden Gleichschaltung aller politischen und sozialen Institutionen – vom Kindergarten bis zur Universität, von den öffentlichen Medien bis zum Betrieb – ist das niedrige Protestniveau in der DDR leicht zu verstehen. Überraschend war daher für viele Beobachter im Innern und außerhalb des Landes, wie es im Herbst 1989 nach Jahrzehnten der Anpassung und des Schweigens plötzlich zu einem derart gewaltigen Aufbruch kommen konnte, dass das System letztendlich in sich zusammenbrach. Wie sich dieser Umbruch begreifen lässt, darum soll es im Folgenden gehen.

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1.

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Zur Forschungslage

Zur Erklärung der revolutionären Umbruchsereignisse von 1989 liegt inzwischen eine Vielzahl sozialwissenschaftlicher und historischer Studien vor. Wenn hier in einem ersten Schritt zunächst wichtige Aussagen dieser Studien vorgestellt werden, so steht dahinter das Bemühen, die Probleme herauszufinden, denen sich jede Analyse der historischen und sozialen Bedingungsfaktoren des Umbruchs in der DDR zu stellen hat. Insgesamt lassen sich fünf Ansätze zur Erfassung der Bedingungsfaktoren der friedlichen Revolution in der DDR unterscheiden. Der kulturgeschichtliche Ansatz behandelt die DDR als ein System, das durch die Bevölkerung unterstützt wurde und dessen Niedergang einsetzte, als diese Unterstützung zerbrach.1 Dieser Ansatz neigt dazu, das Ausmaß des politisch hergestellten Konsenses in der DDR zu überschätzen. Wenn das politische Herrschaftssystem in der DDR seine Legitimation tatsächlich aus seiner Unterstützung durch die Bevölkerung bezogen hätte, wäre es kaum zu erklären, warum die Menschen im Herbst 1989 aus dem verordneten Schweigen plötzlich ausbrachen und massenhaft auf die Straße gingen. Plausibler ist es daher, nicht von einem Konsens zwischen Parteiherrschaft und Bevölkerung auszugehen, sondern von einem unterdrückten Konflikt zwischen diesen beiden sozialen Gruppen. Weiterführender ist der modernisierungstheoretische Ansatz, der für den Untergang der DDR vor allem systemimmanente Strukturprobleme verantwortlich macht.2 Diese Probleme werden in der Überzentralisierung des Herrschafts1

2

Vgl. Martin Sabrow, Der Konkurs der Konsensdiktatur. Überlegungen zum inneren Zerfall der DDR aus kulturgeschichtlicher Perspektive. In : Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow ( Hg.), Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR, Göttingen 1999, S. 83–116; Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteienherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945–1989, Frankfurt a. M. 1992; Winfried Thaa / Iris Häuser / Michael Schenkel / Gerd Meyer, Gesellschaftliche Differenzierung und Legitimitätsverfall des DDR - Sozialismus. Das Ende des anderen Wegs in der Moderne, Tübingen 1992; Laurence McFalls, Alltag und Revolution. Vom Wertewandel zum Systemwandel. In : Bernd Lindner ( Hg.), Zum Herbst 89. Demokratische Bewegung in der DDR, Leipzig 1994, S. 149–155. Vgl. die Arbeiten von Gert - Joachim Glaeßner, Am Ende des Staatssozialismus. Zu den Ursachen des Umbruchs in der DDR. In : Hans Joas / Martin Kohli ( Hg.), Der Zusammenbruch der DDR. Soziologische Analysen, Frankfurt a. M. 1993, S. 70–92; Michael Thomas, Wenn es konkret wird. Hat marxistische Klassenanalyse Chancen in der modernen Unübersichtlichkeit ? In : Wolfgang Zapf ( Hg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages 1990 in Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 1991, S. 395–407; Karl Ulrich Mayer / Heike Solga, Mobilität und Legitimität. Zum Vergleich der Chancenstrukturen in der alten DDR und der alten BRD oder : Haben Mobilitätschancen zu Stabilität und Zusammenbruch der DDR beigetragen ? In : Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 46 (1994), S. 193–208; Christian Welzel, Der Umbruch des SED - Regimes im Lichte genereller Transitionsmechanismen. In : Politische Vierteljahresschrift, 36 (1995), S. 67–90; Detlef Pollack, Das Ende einer Organisationsgesellschaft : Systemtheoretische Überlegungen zum gesellschaftlichen Umbruch in der DDR. In : Zeitschrift für Soziologie, 19 (1990), S. 292–307.

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Die Friedliche Revolution

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systems und der Entsubjektivierung der Gesellschaft, in der Blockade von Prozessen der Rationalisierung und funktionalen Differenzierung sowie im Mangel an konfliktverarbeitenden Institutionen und sozialen Mobilisierungsgelegenheiten gesehen. Kritisch ist gegenüber dem modernisierungstheoretischen Ansatz die einseitige Konzentration auf strukturelle Fragen einzuwenden. Strukturelle Defizite gab es in der gesamten Zeit der Existenz der DDR; zusammengebrochen ist die DDR aber erst nach vierzig Jahren ihres Bestehens. In Ergänzung des modernisierungstheoretischen Ansatzes ist es daher erforderlich, auch auf akteurstheoretische Konstellationen und ereignisgeschichtliche Faktoren zurückzugreifen. Eine solche akteurszentrierte Perspektive wird von der politikwissenschaftlichen Transitionsforschung eingenommen, die den Systemwechsel in erster Linie auf die Spaltung der herrschenden Elite zurückführt.3 Aufgrund der von den Softlinern betriebenen partiellen Öffnung des Systems sei es zu einem nicht intendierten Prozess der gesellschaftlichen Mobilisierung gekommen, der von den herrschenden Eliten nicht mehr kontrolliert werden konnte, die Kluft zwischen Softlinern und Hardlinern verstärkte und damit das autoritäre System verletzbar gemacht habe. Kritisiert wird dieses Erklärungsmodell vor allem wegen seiner Konzentration auf die handelnden Eliten und seiner Unterschätzung des Einflusses der mobilisierten Massen.4 Der entgegengesetzte Vorwurf ist gegenüber den Rational Choice - Modellen zu erheben, die vor allem der Frage nachgehen, wie aus individuellen Interessenkalkülen kollektive Protestaktionen entstehen konnten.5 Das individuelle Interesse an Nutzenmaximierung und Kostenminimierung vorausgesetzt, sei es in hohem Maße unwahrscheinlich gewesen, dass sich Einzelne an Demonstrationen beteiligten, solange die Teilnahme an ihnen hochriskant war und wenig Erfolgsaussichten in sich barg. Entscheidend für die Mobilisierung der Massen sei der Wegfall der Breschnew - Doktrin gewesen, der die Veränderungschancen des Massenprotestes erhöht und die Glaubwürdigkeit der Sanktionsandrohungen durch das System gesenkt habe. Hätten sich zunächst Individuen mit einer hohen Protestbereitschaft an den Demonstrationen beteiligt, so habe der von ihnen aufgebrachte Mut die Protestbereitschaft der weniger Risikobereiten

3 4

5

Die politikwissenschaftliche Transitionsforschung schließt an die Studien von Guillermo O’Donnell, Philippe C. Schmitter und Adam Przeworski an, die ihren Ansatz anhand von Analysen der Demokratisierungsprozesse in Lateinamerika entwickelten. Vgl. Ellen Bos, Die Rolle von Eliten und kollektiven Akteuren in Transitionsprozessen. In : Wolfgang Merkel ( Hg.), Systemwechsel 1. Theorien, Ansätze und Konzeptionen, Opladen 1994, S. 81–109; Detlef Pollack, Mass pressures, elite responses – roots of democratization. The case of the GDR. In : Communist and Post - Communist Studies, 35 (2002), S. 305–324. Vgl. vor allem die Analysen von Manfred Tietzel / Marion Weber / Otto F. Bode, Die Logik der sanften Revolution. Eine ökonomische Analyse, Tübingen 1991; Karl - Dieter Opp / Peter Voß, Die volkseigene Revolution, Stuttgart 1993.

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Schritt um Schritt verstärkt.6 Problematisch an vielen Analysen des Rational Choice - Modells ist, dass sie mehr an der Erklärung kollektiver Aktionen interessiert sind und weniger daran, Gründe für das Versagen des Machtapparates zu finden. Es leuchtet daher ein, wenn einige Autoren den elitentheoretischen und den Massenmobilisierungs - Ansatz miteinander kombinieren. So erklärt Walter Süß7 den Regimezusammenbruch aus dem Wechselspiel zwischen einer verunsicherten und gespaltenen Elite, die ohne die Unterstützung Moskaus zur Gewaltanwendung nicht bereit und fähig war, und der dadurch beförderten Mobilisierung der Massen. Kritik wird an akteurszentrierten Ansätzen aber auch deswegen geübt, weil sie sich gegenüber externen Faktoren des Umbruchs oft als unsensibel erweisen. Ob es allerdings umgekehrt berechtigt ist, den Systemzusammenbruch in der DDR als bloße Exit - Revolution zu kennzeichnen, die allein in der durch die Öffnung des Eisernen Vorhangs ausgelösten Massenabwanderung und in der Preisgabe der Breschnew - Doktrin ihre Ursache hatte,8 darf ebenfalls gefragt werden. Insofern ist es überzeugend, wenn Soziologen, Politikwissenschaftler und Historiker Überlegungen der Bewegungsforschung aufnehmen und daher in der Lage sind, eine Vielzahl von Faktoren in ihre Analysen zum Umbruch in der DDR einzubeziehen.9 Eingang in die Analyse finden auf diese Weise nicht nur Aspekte der relativen Deprivation, sondern auch des Wandels der politischen Gelegenheitsstrukturen, der angewandten Framing Strategien sowie der Ressourcenausstattung der Protestgruppen. Einen Einfluss 6 7 8 9

Vgl. Bernhard Prosch / Martin Abraham, Die Revolution in der DDR. Eine strukturell individualistische Erklärungsskizze. In : Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 43 (1991), S. 291–301. Vgl. Walter Süß, Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen 1989 nicht gelang, eine Revolution zu verhindern, Berlin 1999. Vgl. Claus Offe, Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation im Neuen Osten, Frankfurt a. M. 1994. Vgl. Karl - Werner Brand, Massendemokratischer Aufbruch im Osten. Eine Herausforderung für die NSB - Forschung. In : Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 3 (1990) 2, S. 9–16; Anthony Oberschall, Protest Demonstrations and the End of Communist Regimes in 1989. In : Research in Social Movements, 17 (1994), S. 1–24; Anthony Oberschall, Opportunities and Framing in the Eastern European Revolts of 1989. In: Doug McAdam / John McCarthy / Mayer N. Zald ( Hg.), Comparative perspectives on social movements. Political opportunities, mobilizing structures, and cultural framings, Cambridge 1996, S. 93–121; Jan Wielgohs / Marianne Schulz, Die revolutionäre Krise am Ende der achtziger Jahre und die Formierung der Opposition. In : Materialien der Enquete - Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED - Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ). Hg. vom Deutschen Bundestag, Band VII /2, Baden - Baden 1995, S. 1950–1994; Helmut Fehr, Unabhängige Öffentlichkeit und soziale Bewegungen. Fallstudien über Bürgerbewegungen in Polen und der DDR, Opladen 1996; Jan Wielgohs / Carsten Johnson, Entstehungsgründe, Handlungsbedingungen, Situationsdeutungen. Analytische Perspektiven auf die DDR Opposition der 80er Jahre. In : Detlef Pollack / Dieter Rink ( Hg.), Zwischen Verweigerung und Opposition. Politischer Protest in der DDR 1970–1989, Frankfurt a. M. 1997, S. 332–363; Detlef Pollack, Politischer Protest. Politisch alternative Gruppen in der DDR, Opladen 2000; Karsten Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der DDR 1989, Göttingen 2000.

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auf das Zustandekommen des Umbruchs in der DDR habe, so wird argumentiert, nicht nur die zunehmende politische und ökonomische Unzufriedenheit in der Bevölkerung Ende der 80er Jahre ausgeübt ( relative Deprivation ), sondern auch die durch die Preisgabe der Breschnew - Doktrin und die Öffnung der österreichisch - ungarischen Grenze zustande gebrachte Erweiterung der politischen Gelegenheitsstrukturen sowie die durch die Oppositionsgruppierungen produzierte Deutung der Situation ( Framing ). Wie der Durchgang durch die existierende Forschungsliteratur zeigt, muss die Analyse der Bedingungsfaktoren des Umbruchs in der DDR folglich multidimensional angelegt sein. Weder reicht es aus, allein auf externe Faktoren zu verweisen, etwa auf die Massenflucht über Ungarn in den Westen oder das Auftreten Gorbatschows, noch genügt es, allein systeminterne Faktoren, etwa die Unzufriedenheit der Bevölkerung, zu berücksichtigen. Auch ist es nicht überzeugend, den Umbruch lediglich auf strukturelle Defizite zurückzuführen. Die Erklärung muss vielmehr Ansätze der politischen Ereignisgeschichte, der soziologischen Strukturanalyse sowie der Ideen - und Kulturgeschichte auf sinnvolle Art und Weise miteinander verbinden. Des Weiteren darf eine Analyse der Ursachen der Massendemonstrationen nicht auf eine einzige Trägergruppe des Protestes abstellen. Weder waren allein Elitenspaltungsprozesse für das Aufkommen der Massenproteste verantwortlich, noch lässt sich die Demonstrationsbereitschaft Tausender auf die motivierende Ausstrahlung der politisch alternativen Gruppierungen und der von ihnen im September und Oktober 1989 gegründeten Bürgerbewegungen zurückführen. Vielmehr wirkten hier unterschiedliche Akteure unter dem Einfluss von Bedingungen, die sie großteils nicht geschaffen hatten, zusammen und brachten dabei Wirkungen hervor, die sie oft nicht einmal intendiert hatten. Schließlich kommt es auch darauf an, den Fehlschluss eines retrospektiven Determinismus zu vermeiden und die Erklärung nicht so aufzubauen, als ob alles, was sich ereignet hat, strukturell bedingt und damit unausweichlich war. Neben den strukturellen Bedingungen des Niedergangs ist auch der historischen Kontingenz der Umbruchsereignisse Rechnung zu tragen. Nur dann kann die Erklärung der Offenheit der Situation, wie sie die beteiligten Akteure erlebt haben, und damit dem begrenzten Erwartungshorizont der Beteiligten gerecht werden. Das heißt nicht, dass auf die Rekonstruktion von im Rücken der Handelnden wirkenden Hintergrundfaktoren verzichtet werden müsste. Vielmehr muss immer beides in die Betrachtung einbezogen werden : das Selbstverständnis der Akteure und der akteursexterne Kontext, die strukturelle Bedingtheit der Umbruchsereignisse und ihre historische Kontingenz.

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2.

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Strukturelle Bedingungen des Protests

Bevor die Ereignisse und Akteurskonstellationen, die zum Umbruch beigetragen haben, analysiert werden, sollen zunächst einige strukturelle, d. h. in der Konstruktion des DDR - Systems selbst liegende Ursachen des Protests benannt werden. Ein erster struktureller Grund für das Aufkommen von Widerspruch und Protest in der DDR - Gesellschaft resultiert aus einer Systemeigenschaft, die man zugleich als ein Element der Stärke der staatssozialistischen Ordnung ansehen könnte : aus der Zentralisierung der politischen Machtbefugnisse sowie aller anderen ökonomischen, militärischen und polizeilichen Ressourcen. Aufgrund der Zentralisierung aller Machtmittel in einer Hand konnte die SED - Spitze ihre Herrschaftsinteressen nicht nur besonders effektiv durchsetzen, sondern sie war durch Kritik und Widerspruch auch besonders verletzlich. Jede abweichende Bestrebung, auch die geringfügigste, besaß die Tendenz zur Ausweitung und musste daher unterdrückt werden. Kritik wurde nicht wie in westlichen demokratischen Gesellschaften integriert, sondern ausgegrenzt und verboten. Dadurch schuf die Führungsspitze der SED ein Gefühl politischer Exklusion und sozialer Bedeutungslosigkeit. Gerade weil die SED - Spitze alles in der Hand behalten wollte, hatte sie die Mehrheit der Bevölkerung tendenziell stets gegen sich. Ein zweiter Grund für Widerspruch und Protest lag in der als Stabilisierungsfaktor gedachten Einrichtung eines Austauschverhältnisses zwischen der politischen Loyalität der Bevölkerung und ihrer Versorgung mit systemproduzierten Leistungen. Solange das System über genügend ökonomische, personelle und finanzielle Mittel verfügte, um die Erwartungen der Bevölkerung einigermaßen zu befriedigen, trug dieses Austauschverhältnis zu seiner politischen Stabilität bei. Als aber das System ab Mitte der 80er Jahre an die Grenzen seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit geriet, begannen die Menschen ihre Loyalität gegenüber der politischen Ordnung aufzukündigen. Ihre Konsum - , Aufstiegs und Sicherheitsansprüche wurden nicht mehr erfüllt; folglich ließ auch ihre Bereitschaft zum politischen Wohlverhalten nach. Aufgrund der Erhöhung des Wohlstandsniveaus, die durch die Verklammerung von Wirtschafts - und Sozialpolitik in der Honecker - Ära erreicht worden war, waren Erwartungen geweckt worden, deren steigendes Anspruchsniveau ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr befriedigt werden konnte. Das Potential für Protest und Widerspruch wurde darüber hinaus dadurch vergrößert, dass die DDR - Führung in den 80er Jahren eine graduelle Öffnung gegenüber dem Westen vornahm. Teilweise bedingt durch die eingegangenen Verpflichtungen im Rahmen des KSZE - Prozesses und die Sorge um wirtschaftlich folgenreiche Reputationseinbußen, teilweise aus Gründen der systeminternen Befriedung lockerte die SED - Spitze die Genehmigungspraxis für Besuchsreisen in den Westen. Waren es 1982 noch 46 000, die eine Besuchsreise in die Bundesrepublik durchführen durften, so belief sich die Zahl der Westreisenden

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1987 auf 1,3 Millionen.10 Mit der großzügigeren Besuchsregelung kam die SED aber nicht nur einem tief sitzenden Bedürfnis der Bevölkerung entgegen, sondern schürte sie auch deren Unzufriedenheit. Mit der Zahl der Westreisenden stiegen die Vergleichsmöglichkeiten und damit das Bewusstsein für den inzwischen entstandenen Abstand im Lebensniveau zwischen West und Ost. Die partielle Westöffnung wirkte insofern in erster Linie nicht als Ventil eines aufgestauten Unmuts, sondern trug vor allem zur Erhöhung der allgemeinen DDR Verdrossenheit bei. Aber auch der Blick nach Osteuropa steigerte die Unzufriedenheit. Der Vergleich mit den politischen Veränderungsprozessen in Polen, Ungarn und insbesondere mit Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion zeigte den Bürgern in der DDR, wie viel an Demokratie, Transparenz und Veränderung auch unter den Bedingungen des Sozialismus möglich war. Die politischen Verhältnisse in der DDR gaben dagegen eher Anlass zu Hoffnungslosigkeit und Frustration.

3.

Die Formierung des Protests

Obwohl die Menschen zum DDR - System zunehmend auf Distanz gingen,11 erhöhte sich die Bereitschaft zum öffentlichen Protest vor dem Herbst 1989 jedoch nur unwesentlich. Zwar lässt sich beobachten, dass seit 1985 die Zahl der politisch alternativen Gruppierungen anstieg, dass sie sich stärker politisierten und vernetzten und dass sie den Schwerpunkt ihres Themenspektrums auf Fragen der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechtsproblematik und damit auf systemsprengende Probleme verlagerten. Zugleich stießen die Bemühungen der Friedens - , Umwelt - und Gerechtigkeitsgruppen, die Bevölkerung für gesellschaftliche Probleme zu sensibilisieren, jedoch an eng definierte Grenzen. Größere Teile der Gesellschaft auf die eigenen Anliegen anzusprechen, gelang vor dem Herbst 1989 fast überhaupt nicht, und manchmal war den Mobilisierungsanstrengungen der Gruppen sogar innerhalb des eigenen Milieus nur ein mäßiger Erfolg beschieden. Als nach den im Gefolge der Liebknecht / Luxemburg - Demonstration vom 17. Januar 1988 durchgeführten Festnahmen einiger führender Oppositioneller wie Bärbel Bohley, Freya Klier, Wolfgang Templin, Werner Fischer und Ralph Hirsch ein Fürbittgottesdienst in der Gethsemanekirche stattfand, kamen etwa 2 300 Personen. Aber nachdem die Inhaftierten, statt Gefängnisstrafen zu verbüßen, in den Westen gingen, brach die Solidaritätswelle sofort in sich zusammen. Für die oppositionelle Szene in Berlin hatte die Westabwanderung einiger 10 Vgl. Karl - Rudolf Korte, Die Chance genutzt ? Die Politik zur Einheit Deutschlands, Frankfurt a. M. 1994, S. 22. 11 Vgl. Walter Friedrich, Mentalitätswandlungen der Jugend in der DDR. In : Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16–17/1990, S. 25–37; sowie Thomas Gensicke, Mentalitätswandel und Revolution. Wie sich die DDR - Bürger von ihrem System abwandten. In : Deutschland Archiv, 25 (1992), S. 1266–1283.

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ihrer führenden Vertreter desaströse Folgen, denn die Friedens - , Menschenrechts - und Umweltgruppen grenzten sich nun umso schärfer von den Ausreisewilligen ab, die doch potenziell ihre Verbündeten waren. Als ein Jahr später die oppositionellen Gruppen in Leipzig, an die im Jahr 1989 das Heft des Handelns übergegangen war, ihrerseits aktiv wurden und aus Anlass des Luxemburg / Liebknecht - Gedenkens gleichfalls eine Protestdemonstration durchführten, war die Reaktion in der Leipziger Bevölkerung ebenfalls nur schwach. An dem Protestmarsch in Leipzig beteiligten sich insgesamt nur etwa 150 bis 200 Personen, wenn auch unter ihnen einige Sympathisanten aus dem Umfeld der Gruppenszene waren.12 Von den Berliner Gruppen wurde die Aktion der Leipziger Gruppen nicht etwa honoriert, sondern zum Anlass für eine harsche Kritik genommen.13 Auch die Teilnahme an anderen Protestaktionen vor dem Herbst ’89 in Leipzig überstieg in der Regel kaum die Zahl von 300 Personen. An dem Pleißepilgerweg am 5. Juni 1988 nahmen etwa 230 Personen teil, durchweg „nur so genannte ‚Insider‘“, am 2. Pleißemarsch ein Jahr danach 300 bis 400 Personen, und auch beim Kirchentag Anfang Juli 1989 waren es nur wenige Hundert – die Staatssicherheit zählte etwa 100 –, die sich dem Protestzug der alternativen Gruppen anschlossen.14 Doch nicht nur die Bevölkerung, auch die Gruppen reagierten oft nur widerwillig auf die Mobilisierungsanstrengungen ihrer Führungselite. Als Hans Jochen Tschiche im Februar 1989 auf dem Treffen von „Frieden konkret“, zu dem fast 200 Delegierte der verschiedenen Gruppen aus der ganzen DDR nach Greifswald gekommen waren, zur Bildung einer DDR - weiten Vereinigung zur Erneuerung der Gesellschaft aufrief, wurde der Vorschlag nach kontroverser Diskussion vom Plenum abgelehnt.15 Ebenso war auch der Erfolg des Aufrufs der Initiative Frieden und Menschrechte zur landesweiten Zusammenarbeit im März 1989 nach den Worten Ehrhart Neuberts „eher spärlich“.16 Selbst mit der Überprüfung der Ergebnisse der Kommunalwahlen, die zuweilen als Auftakt der revolutionären Umbruchsereignisse angesehen wird,17 konnten die opposi12 Vgl. Peter Unterberg, „Wir sind erwachsen, Vater Staat“. Vorgeschichte, Entstehung und Wirkung des Neuen Forum Leipzig. Manuskript, Bochum 1991, S. 48. 13 Die Aktion der Leipziger Gruppen wurde als politischer Dilettantismus, als konzeptionslos und naiv kritisiert. Peter Grimm schrieb in den Umweltblättern : „Die Defizite, die in den Leipziger Gruppen bestehen, sind krass zutage getreten, und man kann nur hoffen, dass sie die nächste Zeit für einen Berg von Auswertungen gebrauchen.“ ( Wolfgang Rüddenklau, Störenfried. DDR - Opposition 1986–89, Berlin 1992, S. 318). 14 Vgl. Unterberg, „Wir sind erwachsen, Vater Staat“, S. 136. 15 Vgl. Armin Mitter / Stefan Wolle ( Hg.), „Ich liebe euch doch alle !“ Befehle und Lageberichte des MfS Januar bis November 1989, Berlin 1990, S. 22. 16 Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Berlin 1997, S. 724. 17 Vgl. Helmut Fehr, Unabhängige Öffentlichkeit und soziale Bewegungen. Fallstudien über Bürgerbewegungen in Polen und der DDR, Opladen 1996, S. 234; vgl. auch Jan Wielgohs / Marianne Schulz, Reformbewegung und Volksbewegung. Politische und soziale Aspekte im Umbruch der DDR - Gesellschaft. In : Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16–17/1990, S. 15–25, hier 18; Sigrid Meuschel, Revolution in der DDR. Versuch

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tionellen Gruppierungen keine größeren Wirkungen erzielen. Zwar übte die Wahlüberprüfung auf die Gruppen selbst einen beachtlichen Effekt aus, denn sie zeigte ihnen, dass sie koordiniert handeln konnten. In der Mehrheit der Bevölkerung aber hatte sie nur eine geringe Resonanz. Die Zahl der Eingaben, die Inkorrektheiten während der Wahl ansprachen, belief sich in der gesamten DDR auf 84 und war von nicht mehr als 300 Personen unterschrieben, unter denen sich auch einige SED - Mitglieder und Wahlhelfer befanden.18 Am Wahltag selbst registrierte die Staatssicherheit republikweit „11 gegen die Kommunalwahl gerichtete Vorkommnisse“.19 An dem in Berlin in Gang gesetzten Protestzyklus, mit dem jeden Monat jeweils am 7. öffentlich auf die Wahlfälschung aufmerksam gemacht werden sollte, beteiligten sich jeweils kaum mehr als 200 Personen. Am 7. Juni demonstrierten vierzig, am 7. Juli wurden 94 am Zugang zum vereinbarten Treffpunkt auf dem Alexanderplatz gehindert und weitere dreißig polizeilich zugeführt; am 7. September waren es 189 Personen, die auf dem Alexanderplatz aufgegriffen und zum Verlassen des Platzes aufgefordert wurden.20 Nicht anlässlich der Fälschung der Kommunalwahlen erhöhte sich die Zahl der bei der Berliner Zeitung eingehenden Leserbriefe – ein guter Indikator für die Stimmung in der Bevölkerung –, sondern erst im Zusammenhang mit der von der SED - Führung vorgenommenen Rechtfertigung der gewaltsamen Niederschlagung der chinesischen Studentenunruhen auf dem Platz des Himmlischen Friedens.21 Mit anderen Worten : Bis in den Sommer hinein, als im Verborgenen die Vorbereitungen zur Bildung DDR - weiter Bürgerbewegungen an verschiedenen Stellen bereits liefen, vermochten die politisch alternativen Gruppen die Bevölkerung kaum zu erreichen und blieben ihre Bemühungen zur Schaffung einer landesweiten oppositionellen Vereinigung mehr oder weniger erfolglos. Noch im Juli stießen Markus Meckel und Martin Gutzeit bei ihren Versuchen, Mitglieder für die von ihnen geplante Gründung der SDP zu finden, zumeist auf entschiedene Ablehnung.22 Und selbst am 13. August, als Hans - Jürgen Fischbeck in der Treptower Bekenntnisgemeinde zur Bildung einer landesweiten Sammlungsbewegung aufrief, war das Echo in der Gruppenszene verhalten.23 Nachdem am 9./10. September das Neue Forum gegründet worden war und daraufhin in schneller Folge auch andere Bürgerbewegungen wie Demokratie

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einer sozialwissenschaftlichen Interpretation. In : Wolfgang Zapf ( Hg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1991, S. 558–571, hier 24. Vgl. Mitter / Wolle ( Hg.), „Ich liebe euch doch alle !“, S. 99. Ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 72 f., 109, 139. Vgl. Wielgohs / Schulz, Reformbewegung und Volksbewegung, S. 18, Anm. 18; sowie Karsten Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der DDR 1989, Göttingen 2000, S. 80. Vgl. Wolfgang Herzberg / Patrick von zur Mühlen ( Hg.), Auf den Anfang kommt es an. Sozialdemokratischer Neubeginn in der DDR 1989. Inter views und Analysen, Bonn 1993, S. 121. Vgl. taz DDR - Journal 1989. Zur Novemberrevolution. August bis Dezember 1989. Vom Ausreisen bis zum Einreißen der Mauer, Berlin 1989, S. 9.

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Jetzt und der Demokratische Aufbruch sowie die SDP entstanden, erhielten die neu gegründeten Vereinigungen indes innerhalb kürzester Frist einen gewaltigen Zulauf. Bereits Ende September hatten über 10 000 den Gründungsaufruf des Neuen Forums unterschrieben.24 Zu gleicher Zeit wuchsen die Teilnehmerzahlen auf den Leipziger Montagsdemonstrationen exponentiell. Waren es Anfang und Mitte September einige Hundert Schaulustige, die nach dem traditionellen Friedensgebet auf den Platz vor der Nikolaikirche drängten, so machte die Zahl der Schaulustigen am 18. September bereits über 1 000 aus. Am 25. September, als sich die Demonstranten erstmals in Bewegung setzten und den Innenstadtring erreichten, über den in den nächsten Wochen die Montagsdemonstrationen regelmäßig laufen sollten, belief sich die Zahl der Demonstrationsteilnehmer schon auf 5 000. Am 2. Oktober waren es 15 000 und am 9. Oktober schließlich 70 000, die zur Montagsdemonstration kamen. Was niemand anzustreben gewagt hätte und wohl kaum einer vorausgeahnt hatte, das stellte sich nun innerhalb weniger Wochen fast wie von selbst ein : dass Menschen den Schutzraum des Privaten verließen und ihren Unmut zu Tausenden in die Öffentlichkeit trugen. Was war geschehen ? Eines ist klar : Es waren nicht die politisch alternativen Gruppen und auch nicht die aus ihnen hervorgegangenen Bürgerbewegungen und Plattformen wie das Neue Forum, Demokratie Jetzt oder Demokratischer Aufbruch, die den Protest auf der Straße organisierten. Zwar waren die Aktivitäten dieser Gruppierungen insofern wichtig, als sie Kristallisationspunkte für den sich formierenden Massenprotest boten. An die von ihnen organisierten Friedensgebete konnte sich der Massenprotest anlagern. Ihre Namen, vor allem bekannt gemacht durch die westlichen Medien, konnten als Symbole des Protestes fungieren. Dennoch wäre es völlig falsch zu behaupten, dass sie die Massen mobilisiert hätten. Die alternativen Gruppen setzten an den entscheidenden Montagen des Septembers, als sich der Übergang von Einzel - zum Massenprotest vollzog, nicht auf Demonstrationen und damit auf die Masse der Bevölkerung, die ihnen seit Jahren die Gefolgschaft verweigert hatte,25 sondern auf das Neue Forum, den Demokratischen Aufbruch oder Demokratie Jetzt, für die man ein langsames Wachstum und möglicherweise sogar eine längere Arbeit im Untergrund erwartete.26 Von den Oppositionsgruppen existiert aus den September - und OktoberTagen in Leipzig nicht ein einziger Aufruf zum öffentlichen Protest. Ihnen kam 24 Vgl. Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch, S. 141. 25 Selbst am 26. Oktober 1989 behauptete Sebastian Pflugbeil noch, dass das Neue Forum „im Moment die Demonstrationen sehr kritisch“ sehe ( Gerhard Rein, Die protestantische Revolution 1987–1990. Ein deutsches Lesebuch, Berlin 1990, S. 25). 26 Vgl. Edelbert Richter, „Die neue Partei konnte nur eine sozialdemokratische sein“. Der Demokratische Aufbruch bis zu seiner Spaltung. In : Andreas Dornheim / Stephan Schnitzler ( Hg.), Thüringen 1989/90. Akteure des Umbruchs berichten, Erfurt 1995, S. 42–49, hier 43. Vgl. auch Ludwig Mehlhorn vom Demokratischen Aufbruch über die Zeit nach dem Erscheinen der Aufrufe des Neuen Forums und von Demokratie Jetzt im September 1989 : „Wir hatten uns auf viel längere Zeiträume und mühseliges Arbeiten eingestellt“ ( Pollack, Politischer Protest, S. 229, Anm. 260).

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es nicht darauf an, die Demonstrationsbereitschaft der Massen zu fördern. Ihr Anliegen war es vielmehr, mit der SED in Dialog zu treten und für die neu gegründeten Bürgerrechtsvereinigungen einen Platz in der DDR - Öffentlichkeit zu erobern. Deshalb wollten sie diese auch auf legale Grundlagen stellen.27 Das Neue Forum zum Beispiel beantragte am 19. September seine Zulassung als offizielle Vereinigung. In einer solchen Situation wäre es ausgesprochen unklug gewesen, sich auf die Seite der kriminalisierten Demonstranten zu stellen. Auch unterschätzten die Mitglieder der Gruppenszene die Angespanntheit der Lage, in der sie sich befanden. Als das Neue Forum gegründet wurde, beschlossen seine Initiatoren, sich das nächste Mal Anfang Dezember 1989 zu treffen.28 Zu diesem Zeitpunkt war der gesamte Umbruch bereits gelaufen, Honecker abgelöst, die Mauer geöffnet, das Politbüro und die Regierung zurückgetreten und sogar der Führungsanspruch der SED aus der Verfassung gestrichen. Die wenige Tage nach dem Neuen Forum gegründete Bürgerbewegung Demokratie Jetzt wollte sogar erst für den Januar oder Februar 1990 zu einem ersten Vertretertreffen einladen.29 Wie in den Jahren zuvor richteten die oppositionellen Gruppierungen keine großen Erwartungen an die Bevölkerung der DDR. Die Teilnahme an den Demonstrationen lag vor dem 9. Oktober, wie die repräsentative Befragung von Opp und Voß ergeben hat,30 bei den Oppositionsgruppen nur unbedeutend höher als im Bevölkerungsdurchschnitt. Nicht die Mitglieder der Oppositionsgruppen waren am aktivsten, diejenigen, die einer Sportgruppe angehörten, gingen im Durchschnitt häufiger zu den Demonstrationen als die Oppositionellen. Dies bestätigt noch einmal, dass es erforderlich ist, zwischen oppositionellen Bestrebungen und Volksbewegung strikt zu unterscheiden. Nicht die Opposition schuf die Massenproteste, die Volksbewegung kam von außen auf die Bürgerrechtsbewegungen zu und schob diese an ihre Spitze. „Neues Forum zulassen“ war denn nicht zufällig eine ihrer ersten Forderungen. Die Verbindung zwischen Volksbewegung und Opposition wurde von den Demonstranten hergestellt. Entscheidend für das Zustandekommen der Massendemonstrationen waren nicht die politischen Aktivitäten der Oppositionsgruppierungen, sondern die völlig apolitischen Entscheidungen der Tausenden von DDR - Bürgern, die im September 1989 die DDR über Ungarn und die Botschaften in Prag, Budapest und Warschau verließen und für sich privat einen Ausweg aus der entstandenen 27 Vgl. den Gründungsaufruf des Neuen Forums. In : Gerhard Rein ( Hg.), Die Opposition in der DDR. Entwürfe für einen anderen Sozialismus, Berlin ( West ) 1989, S. 14. Auch der Demokratische Aufbruch ( ebd., S. 37), Demokratie Jetzt ( ebd., S. 77) und sogar die SDP ( ebd., S. 86) strebten ihre Legalisierung an. 28 Vgl. Marianne Schulz, Neues Form. Von der illegalen Opposition zur legalen Marginalität. In : Helmut Müller - Enbergs / Marianne Schulz / Jan Wielgohs, Von der Illegalität ins Parlament. Werdegang und Konzepte der neuen Bürgerbewegungen, Berlin 1991, S. 11–104, hier 14. 29 Vgl. Gerhard Rein, Die protestantische Revolution 1987–1990. 30 Vgl. Opp / Voß, Die volkseigene Revolution, S. 148 f.

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Misere suchten. Durch die ab dem 11. September einsetzende Ausreisewelle und ihre Dokumentation in den westlichen Massenmedien wurde ein gemeinsamer Rahmen für die Interpretation der Situation geschaffen, der den Umschlag von exit in voice verständlich macht. Die Abwanderung Tausender junger, gut ausgebildeter DDR - Bürger machte allen im Lande mit einem Schlage klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Ihre Flucht rüttelte die Menschen im Lande auf und öffnete ihnen die Augen darüber, in welch einer tiefen Krise sie sich befanden. Die Ausreiser gaben der DDR keine Chance mehr und suchten für sich den individuellen Ausweg aus der Krise. Wer im Lande blieb und den privaten Ausweg ablehnte, sah sich daher gezwungen, sofern er denn nicht vollends resignieren wollte, nach Veränderungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Lage innerhalb der DDR Ausschau zu halten. Während in der Woche vor der ungarisch österreichischen Grenzöffnung nach dem Leipziger Friedensgebet noch die Rufe der Ausreisewilligen „Wir wollen raus“ dominierten, kippte eine Woche nach der Grenzöffnung der Charakter der Montagszusammenkünfte.31 Aus der Losung „Wir wollen raus“ wurde der Ruf „Wir bleiben hier“, was ebenso Loyalität wie Widerspruch bedeutete und für die Herrschenden eine unüberhörbare Drohung enthielt. Mögen die Vorstellungen über die Bewältigungsformen der Krise auch noch so unterschiedlich gewesen sein, die unterschiedlichen Meinungen trafen sich in der Erkenntnis, dass sich etwas ändern musste. Der gespürte Veränderungsbedarf stieß jedoch auf eine reformunwillige Führung. Gegen den von den evangelischen Kirchen, den politisch alternativen Gruppen, dem Neuen Forum und sogar zunehmend in den Reihen der SED selbst artikulierten Veränderungsbedarf hielt die SED - Führung unbeirrt an ihrem Kurs fest. Reformen wurden für überflüssig erklärt. Die Flucht der DDRBürger in die Bundesrepublik sei vom Westen organisiert.32 Denen, die gehen, sollte man keine Träne nachweinen.33 Mit ihrer zynischen Unnachgiebigkeit trug die Führungsriege der SED selbst zur Formierung des Protestes auf den Straßen bei. In gewissem Sinne hat sie die protestierende Menge, die sich auf den Straßen als Volk konstituierte, überhaupt erst her vorgebracht.34 Auf einmal befanden sich kognitiv alle Bevölkerungsgruppen in derselben unerträglichen Situation, so dass, sobald es um die Beurteilung der gegenwärtigen sozialen Lage ging, frühere Differenzen wie etwa die zwischen Parteireformern und Oppositionellen, Angepassten und Kritikern, Intellektuellen und Arbeitern hinfällig wurden. Für die Krise gab es – so die eindeutige Ursachenzuschreibung –

31

Vgl. Albrecht Döhnert / Paulus Rummel, Die Leipziger Montagsdemonstrationen. In : Wolf - Jürgen Grabner / Christiane Heinze / Detlef Pollack ( Hg.), Leipzig im Oktober. Kirchen und alternative Gruppen im Umbruch der DDR. Analysen zur Wende, Berlin 1990, S. 147–158, hier 149. 32 Vgl. die so genannte Mentholstory im Neuen Deutschland vom 21. 9. 1989. 33 Eine Formulierung, die von Honecker persönlich bei der Redigierung der Ausgabe des Neuen Deutschland vom 2. 10. 1989 hineingesetzt wurde. 34 Vgl. Dirk Baecker, Die Leute. In : Dirk Baecker, Gelegenheit. Diebe. 3 x Deutsche Motive, Bielefeld 1991, S. 90.

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in den Augen aller nur einen Schuldigen, und das war die starrsinnige Spitze der SED. Auch wenn auf diese Weise die Motivation zum öffentlichen Protest eine außerordentliche Dringlichkeit erlangte, möglich wurde er nur, weil sich die eingesetzten Sicherheitskräfte in den entscheidenden Wochen des Septembers mit durchgreifenden Maßnahmen gegen die Demonstranten zurückhielten und sich dadurch die Gelegenheitsstruktur für regelverletzende Aktionen deutlich ausweitete. Zweifel an der effektiven Durchsetzungskraft des hochgerüsteten Sicherheitsapparates stellten sich ein. Die Schwäche des Apparates dürfte schon durch seine Unfähigkeit, der Flüchtlingswelle Herr zu werden, offenbar geworden sein. Auf diese Weise senkte sich das Teilnahmerisiko an den Protesten mit dem Effekt, dass sich immer mehr Menschen dem öffentlichen Protest anschlossen. Der massenhafte Protest im Anschluss an die Friedensgebete in Leipzig war also nicht nur bedingt durch die Unerträglichkeit der entstandenen Situation (Deprivation ) sowie durch die mit der Massenflucht über Ungarn hergestellten Eindeutigkeit der Situationsdeutung ( Framing ), sondern auch durch die Erweiterung der politischen Opportunitätsstrukturen. Nach Beendigung des seit der Sommerpause wieder regelmäßig stattfindenden Friedensgebets standen die Kirchenbesucher Montag für Montag auf dem Vorplatz der Nikolaikirche und warteten darauf, was passieren würde. Ihnen gegenüber waren Polizeieinheiten aufmarschiert, die den Platz nach mehreren Seiten hin absperrten. Hinter den Polizeiketten sammelten sich die Schaulustigen aus der Leipziger Bevölkerung, die, geschützt durch Einkaufsbeutel, vorgaben, zufällig am Ort des Protestes vorbeigekommen zu sein. Am 4. September, als die Sicherheitsorgane wegen der gleichzeitig stattfindenden Messe und der deswegen zugelassenen Präsenz westlicher Medien kaum eingriffen, demonstrierten einige Oppositionelle für Reisefreiheit und ein freies Land, wurden aber durch den Ruf der Ausreisewilligen „Wir wollen raus“ noch überstimmt.35 Die Antragsteller auf Ausreise aus der DDR machten seit Beginn des Jahres 1988 einen großen Teil der Besucher des Friedensgebetes in Leipzig aus. Sie waren – anders als in Berlin – von vielen der oppositionellen Gruppen in Leipzig nicht ausgegrenzt, sondern partiell integriert worden und gaben dem Friedensgebet und den daran anschließenden Zusammenkünften nicht selten einen demonstrativen Protest - Charakter. Die staatlichen Vertreter hatten darauf gedrängt, das Friedensgebet in der Messewoche abzusetzen oder doch zu verschieben.36 Der Kirchenvorstand von St. Nikolai hatte sich jedoch nicht davon abbringen lassen, den Gottesdienst wie gewohnt stattfinden zu lassen. Eine Woche später, als westlichen Korrespondenten der Zugang nach Leipzig wieder verwehrt war, gaben die Sicherheitskräfte ihre zuvor geübte Zurück35 Vgl. Döhnert / Rummel, Die Leipziger Montagsdemonstrationen, S. 149; Petra Bornhöft, Ausreiser und Bleiber marschieren getrennt. In : taz - DDR Journal 1989, S. 8. 36 Vgl. Christian Dietrich / Uwe Schwabe, Freunde und Feinde. Dokumente zu den Friedensgebeten in Leipzig zwischen 1981 und dem 9. Oktober 1989, Leipzig 1994, S. 376– 380.

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haltung auf. Als die Menschen, die rauchend, schwatzend oder ihre Bekannten suchend vor der Nikolaikirche warteten, der polizeilichen Aufforderung, den Nikolaikirchhof zu verlassen, nicht Folge leisteten, wurden neunzig von ihnen verhaftet.37 Über das, was nach den Friedensgebeten auf dem Nikolaikirchhof geschah, war man inzwischen in ganz Leipzig informiert. Man redete darüber in den Betrieben und den Schulen; die Westmedien sendeten Berichte über die Vorgänge in Leipzig, und auch die „Leipziger Volkszeitung“ hatte unbedachter Weise empörte Leserbriefe veröffentlicht, in denen sich Bürger Leipzigs von den Ereignissen um die Nikolaikirche distanzierten.38 Als am 18. September, nachdem die Teilnehmer des Friedensgebetes den Vorplatz der Nikolaikirche geräumt hatten, die hinter den Polizeiketten stehenden Schaulustigen und Neugierigen zögernd und neugierig auf den Platz vor der Kirche strömten und ihn schließlich mit ihren lautstarken Rufen und Gesängen füllten, wurden Schaulustige erstmals zu aktiven Demonstranten.39 Am 25. September setzten sich die vor der Nikolaikirche Versammelten das erste Mal in Bewegung und erreichten auf dem Innenstadtring den Friedrich - Engels - Platz, wenige Hundert Meter vor dem Gebäude der Staatssicherheit. Niemand hatte den Demonstrationszug im Vorhinein geplant. Dass er zustande kam, war vielmehr das Ergebnis des Zusammentreffens einer Reihe von unplanbaren Umständen. Wichtig waren nicht nur die seit Jahren aufgestaute Unzufriedenheit der Massen, die durch die Ausreisewelle zustande gebrachte eindeutige Situationsdefinition, das durch das zurückhaltende Taktieren des Sicherheitsapparates entstandene Gefühl neuer politischer Handlungsmöglichkeiten, sondern auch die Integration der Ausreisewilligen in die staatskritischen Aktivitäten der oppositionellen Gruppen, die Weigerung der Kirchenleitungen und Pfarrer, sich dem Druck zur Absetzung der Friedensgebete zu beugen, die über die Westmedien, durch Mund - zu - MundPropaganda und unfreiwillig auch durch die DDR - Medien transportierte Information über Ort und Zeit des Protestes, die demonstrative Harmlosigkeit der oppositionellen Aktivitäten auf dem Nikolaikirchhof, die die Übergriffe der Staatsmacht in den Augen der Leipziger Bevölkerung als unverhältnismäßig erscheinen ließen, sowie schlicht die Neugier auf das, was sich da rings um die Nikolaikirche abspielte.

4.

Der Protest wird zum Massenphänomen

Die Menge, die sich am 25. September und an den darauf folgenden Montagen in der Leipziger Innenstadt sammelte, bewegte sich nicht mutig drauf los, sie zögerte. Niemand übernahm die Führung des von Woche zu Woche anwachsenden Demonstrationszuges. Vielmehr tastete man sich langsam vor, stets 37 Vgl. ebd., S. 390 f. 38 Vgl. etwa den Leserbrief „Was trieb Frau A. K. ins Stadtzentrum ?“ in der Leipziger Volkszeitung vom 24./25. 6. 1989. 39 Vgl. Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch, S. 165.

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damit rechnend, dass die bereitstehenden Polizeikräfte eingreifen und den Zug zum Stoppen bringen würden. Den am Rande Stehenden riefen die Demonstranten zu „Reiht euch ein“, sich selbst machte man Mut mit den Worten „Wir sind das Volk“, „Wir sind keine Rowdies“, an die Polizisten erging der Ruf „Schämt euch was“.40 Das Ziel der ersten Demonstrationen bestand nicht darin, politische Forderungen zu erheben, sondern darin, sich als politischen Akteur zu konstituieren. Mit ihren Demonstrationen probierten die Menschen aus, bis wohin sie gehen konnten. Am 2. Oktober, als man schon wusste, dass wieder eine Demonstration anstand, riefen die Demonstranten einander zu „Losgehen, losgehen“.41 Wie schon am 25. September erscholl am Ende der Ruf „Montag sind wir wieder da“.42 Der Sinn der ersten Demonstrationen bestand darin, nicht zu weichen, den eigenen Körper einzusetzen gegen die drohende Polizeigewalt, die eigene Angst zu überwinden und mit seiner Existenz der geballten Übermacht der Sicherheitskräfte zu trotzen. Als die Demonstranten am 25. September das erste Mal den Ring betraten, blieben die ersten, da die Ampel auf Rot gestellt war, stehen. Sie waren unsicher, wie viel sie sich zutrauen konnten. Als es wenige Minuten später Tausende waren, die den Karl - Marx - Platz füllten, brachten sie Autos und Straßenbahnen zum Stehen und forderten die Insassen auf, sich ihnen anzuschließen.43 Auf den Schultern der Demonstranten machte der Fahrer der Straßenbahn die Runde. Von Mal zu Mal gewann die Masse an Selbstbewusstsein. Insbesondere am 9. Oktober aber war die Angst unter den Demonstranten noch einmal groß. Über informelle Kanäle waren Gerüchte im Umlauf, denen zufolge die Demonstration an diesem Tage gewaltsam unterbunden werden sollte, wenn es sein musste, „mit der Waffe in der Hand“, wie ein Kommandeur in der Leipziger Volkszeitung hatte verlauten lassen.44 Angeblich war an die Krankenhäuser die Weisung ergangen, Betten freizumachen und Blutkonser ven bereitzustellen; in den Schulen und Betrieben wurde die Aufforderung verbreitet, die Innenstadt an diesem Nachmittag nicht zu betreten. Einige gingen an diesem Tage unmittelbar nach dem Friedensgebet nach Hause, wie es Bischof Hempel den Teilnehmern am Friedensgebet in der Thomaskirche angeraten hatte.45 Die meisten blieben. Jeden Augenblick erwartete man, dass Schüsse fielen. Eine Demonstrantin berichtete : „Ich werde nie vergessen, wie wir uns zunächst mit Freunden am Hotel Deutschland getroffen haben und uns Mut gemacht haben. Manche haben geweint, und manche wollten auch wieder gehen. Und 40 Vgl. Bernd Lindner, Soziologie der Losungen. In : Wolfgang Schneider ( Hg.), Leipziger Demontagebuch, Leipzig 1990, S. 169–172, hier 169 f. 41 Vgl. Hartmut Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993, S. 40. 42 Vgl. Döhnert / Rummel, Die Leipziger Montagsdemonstrationen, S. 151; Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung, S. 50. 43 Vgl. Lutz Löscher / Jürgen Vogel, Leipziger Herbst. Eine subjektive Dokumentation. In : Schneider ( Hg.), Leipziger Demontagebuch, S. 17. 44 Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 6. 10. 1989. 45 Vgl. Dietrich / Schwabe, Freunde und Feinde, S. 459.

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wir haben gesagt, wir werden das gemeinsam durchstehen. Und wie wir uns dann in Richtung Kirche bewegt haben und es kaum fassen konnten, dass es immer mehr Menschen wurden.“46 In einer solchen Situation, in der nach dem Empfinden der meisten das eigene Leben auf dem Spiel stand, ging es nicht darum, politische Forderungen zu erheben, sondern darum, seine Angst zu überwinden und nicht zu fliehen. Es ist kein Zufall, dass an diesem Tag, bis auf eine Ausnahme, kein einziges Transparent getragen wurde. „Demokratie – jetzt oder nie“ riefen die Demonstranten. Aber damit war nicht die Herstellung von Demokratie über freie Wahlen gemeint. Vielmehr war die soziale Situation derart unerträglich geworden, dass man bereit war, den Machtkampf mit dem System zu riskieren, damit endlich etwas anders würde in diesem Land : „Aus dieser Verzweif lung, aus dieser Angst, aus dieser Hoffnungslosigkeit heraus entschlossen wir uns“, wie eine Teilnehmerin berichtete, zur Montagsdemonstration zu gehen. „Entweder die oder wir“47 – auf diese Frage hatte sich die Situation zugespitzt. Entweder man war auf der Seite der Herrschenden oder auf der Seite des Volkes. In dieser Situation waren alle Sinne angespannt. „Irgendwie schienen wir uns alle zu ducken unter der Erwartung eines fürchterlichen Schlages.“48 Und doch überwanden die Menschen an diesem Tag ihre Angst. Als sich der gewaltige Zug formierte, war den meisten noch nicht klar, wie viele es waren, die dem Ruf „Schließt euch an“ Folge geleistet hatten. Der Zug passierte den Hauptbahnhof, wo sich die Demonstranten dem Sicherheitsaufgebot der Staatsmacht gegenüber sahen. Die Straße war ein gewaltiges sich bewegendes Menschenmeer : „Bis zu hundert Leute nebeneinander, ein unübersehbarer Menschenstrom, den nichts mehr aufhalten kann.“49 Am Gebäude der Staatssicherheit geriet der unübersehbare Demonstrationszug noch einmal ins Stocken. „Da war die Angst noch mal da. Der Demonstrationszug wich einen Augenblick zurück, und dann war plötzlich die Befreiung da, dass es geschafft war, hier, wo man unglaubliche Ängste ausstehen musste. Und dann wusste man, wir hatten’s geschafft. Und das Glücksgefühl, ich glaube, das kommt nicht noch mal in diesem Leben.“50 Die Angst und Anspannung des Tages schlugen um in Euphorie. Die Sicherheitskräfte hatten nicht eingegriffen. Das Volk hatte über das Regime den Sieg errungen. An diesem Tag, an dem die Bürger Leipzigs ihren Stolz und ihre Würde wieder entdeckten, wurde aus dem Untertan der Souverän. Vom 9. Oktober an waren es die demonstrierenden Menschen auf der Straße, die den Rhythmus und die Richtung der politischen Entwicklung in der DDR bestimmen sollten. 46 Ekkehard Kuhn, Der Tag der Entscheidung. Leipzig, 9. Oktober 1989, Berlin 1992, S. 128. 47 Kuhn, Tag der Entscheidung, S. 75. 48 Jetzt oder nie – Demokratie. Leipziger Herbst 1989. In : Neues Forum Leipzig ( Hg.), Leipzig 1989, S. 83 f. 49 Reiner Tetzner, Leipziger Ring. Aufzeichnungen eines Montagsdemonstranten Oktober 1989 bis 1. Mai 1990, Frankfurt a. M. 1990, S. 18. 50 Junger Mann. Zit. nach Kuhn, Tag der Entscheidung, S. 138.

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5.

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Das Versagen des Sicherheitsapparats

Warum aber schlug der Sicherheitsapparat, obwohl für die gewaltsame Auf lösung alle nötigen Vorbereitungen getroffen waren, die Großdemonstration nicht nieder ? Offenbar wirkte eine Vielzahl von Faktoren zusammen. Eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung lag in dem friedlichen Verhalten auf Seiten der Demonstranten. Im Fall eines Angriffs auf die Sicherheitskräfte wären diese aufgrund eines vorliegenden Befehls zur Selbstverteidigung gewaltsam vorgegangen. Dass die Demonstranten sich friedlich verhielten, hat freilich weniger mit einem aus der Tradition der evangelischen Kirchen stammenden Geist der Friedfertigkeit zu tun als mit taktischem Kalkül, galt es doch, das hochgerüstete Polizei - und Sicherheitssystem nicht zu reizen und den Staatsorganen zu beweisen, dass sich auf der Straße nicht Rowdies und kriminelle Elemente, sondern unbescholtene Bürger – das Volk – befanden. Die wichtigere und schwerer zu erklärende Voraussetzung des friedlichen Ausgangs der Montagsdemonstration vom 9. Oktober liegt auf der Seite der Polizei - und Sicherheitskräfte. Warum griffen sie nicht ein ? Ein wichtiger Grund lag in dem Ausfall der Inter ventionsbereitschaft der Sowjetunion; ein weiterer in der Schwächung der Handlungsfähigkeit des Zentrums in Berlin : Honecker hatte aufgrund seiner Krankheit und der gegen ihn gerichteten Bestrebungen im Politbüro die Zügel nicht mehr fest in der Hand. Krenz war der im Politbüro zuständige Verantwortliche für Sicherheitsfragen. Er hätte die Niederschlagung der Demonstrationen in Leipzig zu seiner Aufgabe machen müssen. Krenz aber war nicht mit den Massencharakter annehmenden Protestaktionen im Lande beschäftigt, sondern damit, wie er Honecker ablösen könne. Der entscheidende Anstoß für die konspirativen Aktivitäten von Krenz und Schabowski, die schließlich zur Entmachtung Honeckers führen sollten, ging denn auch nicht von den Demonstrationen im Lande aus, sondern von der Ausreisewelle. Die „straffere Phase der konspirativen Aktion“ setzte, so Schabowski,51 am Morgen des 8. Oktober ein. An diesem Tag reichte Krenz während einer Sitzung im Ministerium für Staatssicherheit an Schabowski den Entwurf einer Erklärung herüber, die im Politbüro eingebracht werden sollte. Der wichtigste Punkt dieser Erklärung bestand in der Feststellung, dass die Abkehr von der DDR niemanden gleichgültig lassen könne und jeder, der das Land verlasse, von der SED als Verlust empfunden werde – eine Aussage, die im direkten Widerspruch zu der von Honecker eigenhändig ins „Neue Deutschland“ hineingebrachten Formulierung stand, man sollte denen, die das Land verlassen, keine Träne nachweinen. Schon am 5. September hatte die zunehmende Zahl der Flüchtlinge Günter Schabowski zu einem emotional geladenen Ausbruch in einer Politbüro - Sitzung bewogen,52 auf der allerdings weder Honecker 51

Günter Schabowski, Das Politbüro. Ende eines Mythos. Eine Befragung. Hg. von Frank Sieren und Ludwig Koehne, Reinbek 1990, S. 80. 52 Vgl. ebd., S. 62–66.

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noch Krenz anwesend waren, weshalb die von Schabowski angestoßene Debatte vertagt wurde. Die Tatsache, dass sich in den Wochen zuvor täglich mehrere Hundert DDR - Bürger über die grüne Grenze in den Westen abgesetzt hatten, war für ihn eine „quälende Situation“.53 Das demonstrierende Volk hingegen war kaum im Blick. Am 7. Oktober hatten Krenz und Schabowski zwar die Demonstration in Berlin wahrgenommen. Als am 8. Oktober im MfS die Auswertung der Vorgänge vom Vortage und die Planung der nächsten Einsätze der Sicherheitskräfte vorgenommen wurden, hielten sie das, was Mielke zu sagen hatte, jedoch für bloße „Banalitäten“.54 Im Kopf hatten sie den Wortlaut der ins Politbüro einzubringenden Erklärung – normalerweise war allein der Generalsekretär befugt, Vorlagen ins Politbüro einzubringen. Sie fragten sich, wie Honecker darauf reagieren würde und welche Mehrheitsverhältnisse sich bei der Diskussion über die Vorlage im Politbüro bilden würden,55 nicht aber, „wie sich die Lage im Lande bereits verschärft hatte“.56 Am 9. Oktober sah sich Krenz allerdings unvermeidlicher Weise „mit der Bewegung in der ‚Außenwelt‘ konfrontiert“.57 Aus Leipzig erreichte ihn die Anfrage, ob am Abend in Leipzig Gewalt eingesetzt würde. Krenz wusste nichts von einem derartigen Befehl und musste daher erst prüfen lassen, ob ein solcher Befehl irgendwo existierte.58 Walter Friedrich, der Direktor des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig und ein Duz - Freund von Krenz, berichtet, dass er am Vormittag des 9. Oktober Egon Krenz in seinem Büro in Berlin besucht habe und dort einen aufgeregten Egon Krenz vorgefunden habe.59 Aufgeregt war Krenz aber nicht wegen des in Leipzig möglicherweise bevorstehenden Blutbades, über das er von Walter Friedrich überhaupt erst informiert wurde, sondern weil er bereits am Tage zuvor die vorbereitete Erklärung an Honecker gesandt hatte und dieser ihm noch am selben Tage telefonisch seine ablehnende Haltung gegenüber dem Papier kundgetan hatte. Nun, am Vormittag des 9. Oktober, rechnete Krenz jeden Augenblick damit, zu Honecker bestellt zu werden und sich ihm gegenüber behaupten zu müssen. Honecker ließ den widerspenstigen Krenz „zunächst garkochen“ und holte ihn erst gegen Mittag zu sich.60 Bei dem Gespräch schlug Honecker einen beschwörenden Tonfall an. Er könne sich an keine ähnliche Situation in der Partei erinnern, nie habe er sich Wilhelm Pieck oder Walter Ulbricht gegenüber ähnliches erlaubt. Wenn Krenz auf seiner Absicht beharre, die Vorlage einzubringen, könne er nicht mit 53 54 55 56

57 58 59 60

Ebd., S. 62. Ebd., S. 80. Vgl. ebd., S. 87. Günter Schabowski, Der Absturz. Reinbek 1991, S. 250. Angesichts dieses Wirklichkeitsverlustes ist es glaubhaft, wenn Schabowski ( Das Politbüro, S. 78 f.) versichert, nichts von den Ausschreitungen der Polizei gegen die Demonstranten am 7. Oktober gewusst zu haben. Schabowski, Absturz, S. 250. Vgl. Ekkehard Kuhn, Tag der Entscheidung, S.90. Vgl. ebd., S. 87. Schabowski, Absturz, S. 251.

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einer höheren Verantwortung in der Partei rechnen.61 Krenz war „mitgenommen von der kontroversen Unterredung“.62 Sogar mit seinem Widersacher Herrmann sprach er an diesem Nachmittag über seine Auseinandersetzung mit Honecker. Krenz hatte an dem Nachmittag des 9. Oktober, als in Leipzig das Schicksal des Umbruchs in der DDR entschieden wurde, andere Gedanken im Kopf, als sich mit dem Ausgang der Leipziger Demonstration zu beschäftigen. Wohl vor allem damit hängt zusammen, dass Krenz sein Einverständnis mit dem Verzicht auf Gewaltanwendung in Leipzig erst gegen 19.15 Uhr, also nach den entscheidenden Augenblicken der Demonstration, an die Verantwortlichen in Leipzig übermittelte.63 Allerdings dürften für seinen verspäteten Anruf auch komplizierte Abstimmungsprobleme verantwortlich zu machen sein, da er für die Entscheidung zum Gewaltverzicht die Zustimmung der drei Generäle Mielke, Keßler und Dickel benötigte. So war die Einsatzleitung bei der Bezirksleitung der SED in Leipzig an diesem alles entscheidenden Tag also weitgehend auf sich gestellt. Das erschwerte die Entscheidungsfindung beträchtlich, denn die Einsatzleitung war darüber hinaus auch noch gespalten. Drei Sekretäre der SED - Bezirksleitung hatten am späten Nachmittag des 9. Oktober den Aufruf der Leipziger Sechs unterschrieben, um die Anwendung von Gewalt in Leipzig verhindern zu helfen. Helmut Hackenberg, der amtierende 1. Sekretär der Bezirksleitung, der die Aktion seiner Untergebenen nicht billigte, hatte hingegen den Befehl erhalten, Demonstrationen „von vornherein zu unterbinden“.64 Bereits am Tag zuvor war es unter Vermittlung von Kirchenvertretern in Dresden zu einer ersten Verständigung zwischen Demonstranten und Staatsmacht gekommen. Umso dringlicher war Helmut Hackenberg auf klare Anweisungen aus Berlin angewiesen, denn es war nicht klar, ob es sich dabei nur um eine regionale oder eine zentral abgesegnete Lösung handelte. Möglich, dass die unterschiedlichen Befehlslinien, die in Berlin zusammenliefen, vielleicht bedingt durch die Intervention von Krenz, nicht beizeiten koordiniert werden konnten; möglich, dass sich die Hardliner in Berlin überfordert fühlten und nicht bereit waren, eine so hohe Verantwortung, wie sie der Befehl zur gewaltsamen Niederschlagung der Demonstration bedeutet hätte, auf sich zu nehmen; möglich, dass das chinesische Beispiel abschreckend gewirkt hatte; möglich, dass selbst die Hardliner nicht davon überzeugt waren, dass Zuschlagen die Probleme gelöst hätte; möglich auch, dass sie sich nicht mehr sicher waren, ob sie sich auf ihre Truppen noch verlassen konnten.65 Wie auch immer, der Befehl aus Berlin zur Gewaltanwendung blieb aus. Während sich in Leipzigs Innenstadt der Protest formierte, saß die Einsatzlei61 62 63 64 65

Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 252. Fernschreiben Erich Honeckers vom 8.10. 1989. In : Kuhn, Tag der Entscheidung, S. 73. Es ist das Verdienst der umfangreichen Studie von Walter Süß, den Zusammenbruch des Legitimitäts - und Selbstwirksamkeitsglaubens in den Reihen der Sicherheitskräfte selbst herausgearbeitet zu haben. Vgl. Süß, Staatssicherheit am Ende.

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tung unter Helmut Hackenberg in der Bezirksleitung und wartete auf eine Entscheidung aus Berlin. Um 17.00 Uhr hatte das Friedensgebet in den Kirchen Leipzigs begonnen. Um 18.00 Uhr war es beendet. Gegen 18.15 Uhr setzte sich der Demonstrationszug in Bewegung. Etwa zehn bis 15 Minuten später ging der letzte Anruf nach Berlin mit dem Hinweis, dass es sich bei den Demonstrierenden um eine unübersehbare Menschenmenge handele.66 Krenz versprach zurückzurufen. Die Demonstranten bewegten sich immer weiter auf den Hauptbahnhof zu, wo sie aufgehalten werden sollten. Nachdem etwa eine halbe Stunde vergangen war, sagte Hackenberg plötzlich : „Nu brauchen se auch nicht mehr anzurufen, nu sind se ’rum.“ Den Ausgang der Montagsdemonstration vom 9. Oktober entschied letztendlich die verfließende Zeit. Die SED - Funktionäre waren in den entscheidenden Minuten nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen. So nahm das Geschehen seinen Lauf. Auch wenn für die Unentschlossenheit vor allem die Schwächung der Zentralinstanzen und die Spaltung der Partei verantwortlich zu machen sind, spielte ein gewisses Maß an Zufall doch auch in den Ausgang dieses schicksalsträchtigen Tages hinein. Mit dem friedlichen Verlauf des 9. Oktober kam es zum endgültigen und nun auch interaktiven Zusammenschluss von Massenbewegung und Opposition. Die Oppositionsgruppen wurden zu Führern und Sprechern der Demonstrationsbewegung, jedenfalls bis zur Maueröffnung, als die Einheit zwischen Bürgerrechts - und Volksbewegung wieder auseinanderbrach und sich zeigte, dass beide unterschiedliche Zielstellungen verfolgten. In Leipzig, Dresden, Plauen und anderswo entwickelte sich eine Demonstrationskultur mit Sprechchören, Transparenten und Gesängen, die die Forderungen der Opposition aufgriff und skandierte. Der seit Jahren unter dem Dach der Kirchen geführte gesellschaftskritische Diskurs wanderte in die Gesellschaft ein und wurde von breiten Bevölkerungsschichten aufgenommen, wozu freilich auch die mit der Veröffentlichung der Politbüroerklärung vom 11. Oktober einsetzende Entstehung einer zunehmend unabhängiger werdenden medialen Öffentlichkeit beitrug. Als sich das System als verletzbar erwiesen hatte, verbreitete sich der Protest über das ganze Land.

6.

Fazit

Lässt man die hier dargestellte Umbruchsdynamik noch einmal Revue passieren, dann fällt auf, dass sowohl strukturelle als auch ereignisgeschichtliche Faktoren für das Zustandekommen und den Ausgang der Protestdemonstrationen in Leipzig verantwortlich zu machen sind. Die Überzentralisierung der Ressourcenverteilung, der Niedergang der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des DDR - Systems sowie die schrittweise durch den KSZE - Prozess erzwungene Öffnung des Systems nach außen waren notwendige Bedingungen für die Entstehung des 66 Vgl. Kuhn, Tag der Entscheidung, S. 134.

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Massenprotestes in der DDR. Möglich wurden dieser aber erst durch eine Reihe nicht - systemischer Zufälle, die Preisgabe der Breschnew - Doktrin durch Michail Gorbatschow, den Ausfall der Handlungsfähigkeit der SED - Spitze aufgrund der Wochen andauernden Krankheit Erich Honeckers, die daraus resultierenden Koordinationsprobleme in der effektiven Unterdrückung der Demonstrationen, die durch die Entscheidung der ungarischen Regierung für die Grenzöffnung nach Österreich ausgelöste Fluchtbewegung aus der DDR und die damit einsetzende dramatische Zuspitzung des Krisenbewusstseins in allen Segmenten der Bevölkerung sowie die Bereitstellung eines nicht regimekonformen Anknüpfungspunktes für den Protest. Erst diese partiell strukturell bedingte sowie strukturell teilweise unableitbare Faktorenkonstellation überwand die deterministisch wirkende Schwerkraft der einseitigen Machtverteilungsverhältnisse in der DDR und öffnete die Zukunft für Handlungsmöglichkeiten, die bislang verstellt waren.

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Struktur wandel realsozialistischer Autokratien – Vom Totalitarismus zur Transition Uwe Backes

Die seit den 70er Jahren als „realsozialistisch“ deklarierten europäischen Staaten der sowjetischen Hegemonialzone waren in ihrer Herrschaftsstruktur das Ergebnis eines totalitären Herrschaftsanspruchs, der sich infolge des Sieges der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg und der Westausdehnung des sowjetischen Einflussbereiches in der späten Stalin - Ära entfaltet hatte.1 Doch schon Ende der 50er Jahre und im Zuge der „Entstalinisierung“ wiesen professionelle Beobachter der inneren Entwicklung in den Ländern des sowjetischen Satellitengürtels darauf hin, dass die Bezeichnung „Ostblock“ oder „Sowjetblock“ über die strukturelle Heterogenität hinter der propagandistisch erzeugten „Fassade der Einheit“2 hinwegtäusche. Differenzierte Diagnosen stammten auch von westlichen Autoren, die trotz der erkennbaren Veränderungen keinesfalls zu dem Schluss gelangten, die Herrschaftsrealität jenseits des „Eisernen Vorhangs“ sei nicht länger als „totalitär“ zu kennzeichnen. Dennoch mehrte sich in den folgenden beiden Jahrzehnten gerade unter den Kommunismusforschern und „Sowjetologen“ die Zahl derer beträchtlich, die angesichts des politischen und sozialen Wandels in den Staaten Mittel - und Osteuropas die analytische Tauglichkeit des Totalitarismuskonzepts in Zweifel zogen, das Konzept modifizierten, erweiterten oder zu alternativen Analyseinstrumenten griffen.

1

2

Vgl. nur die historischen Bilanzen von Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas 1980–1990, München 1990; Zoltan Barany / Ivan Volgyes ( Hg.), The Legacies of Communism in Eastern Europe, Baltimore 1995; Sten Berglund / Frank Aarebrot ( Hg.), The Political History of Eastern Europe in the 20th Century. The Struggle between Democracy and Dictatorship, Cheltenham 1997; Gerhard Besier, Das Europa der Diktaturen. Eine neue Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006; Archie Brown, Aufstieg und Fall des Kommunismus, Berlin 2009; Stéphane Courtois ( Hg.), Le jour se lève. L’héritage du totalitarisme en Europe 1953–2005, Paris 2006; François Fejtö, La fin des démocraties populaires. Les chemins du post - communisme, Paris 1992; Jacques Rupnik, L’autre Europe. Crise et fin du communisme, Paris 1990; George Schöpflin, Politics in Eastern Europe, Oxford 1993. Vgl. Zbigniew Brzezinski, Der Sowjetblock. Einheit und Konflikt, Köln 1962, S. 15; vgl. auch Jens Hacker, Der Ostblock. Entstehung, Entwicklung und Struktur 1939–1980, Baden - Baden 1983, S. XXI.

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Die damit verbundenen wissenschaftlichen Kontroversen können und sollen hier nicht verfolgt werden.3 Stattdessen geht es darum, die Befunde der Forschung zur Herrschaftsstruktur der Staaten des „real existierenden Sozialismus“ zu bilanzieren, die Elemente der totalitär - autokratischen Kontinuität wie der Diskontinuität herauszuarbeiten, um zu einem wirklichkeitsnahen Bild der – von Land zu Land differierenden – Herrschaftsrealität, insbesondere für die in die Transition mündende Spätperiode ihrer Entwicklung, zu gelangen. Der erste Abschnitt enthält eine Bestandsaufnahme der Strukturmerkmale der in der Stalin - Zeit zu voller Entwicklung gelangten totalitären Herrschaft. Anschließend wird geprüft, in welcher Weise sich die totalitären Merkmale abschwächten und welche Konsequenzen die von Land zu Land divergierende Detotalisierung für die Ausprägung des Herrschaftssystems hatte. Die Erklärungsfaktoren für die Diversifizierung der realsozialistischen Autokratien sind Gegenstand des folgenden Abschnitts. Abschließend wird die Frage nach hemmenden und begünstigenden Elementen der Systemtransformation erörtert.

1.

Elemente totalitär - autokratischer Kontinuität

Alle realsozialistischen Staaten waren von ihrer Etablierung bis zum Beginn der Transition Diktaturen oder – mit dem in der internationalen politikwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahrzehnte favorisierten Begriff – „Autokratien“, da ihre Herrschaftsstruktur weder in Theorie noch Praxis das für Verfassungsstaaten charakteristische System gewaltenkontrollierender „checks and balances“ aufwies.4 Stattdessen wurde Gewaltenkonzentration propagiert und praktiziert. Denn die gebündelte Verfügungsgewalt über den staatlichen Herrschaftsapparat lag in den Händen einer monopolistischen Staatspartei, die ihren unbeschränkten Herrschaftsanspruch mit einem umfassenden, absoluten, exklusiven politischen Wahrheits - , Weltdeutungs - und Gestaltungsanspruch begründete. Als offizielle Staatsideologie fungierte das in den ersten Jahrzehnten Sowjetrusslands kodifizierte System des Marxismus - Leninismus.5 Er bildete die 3

4 5

Inzwischen liegen zahlreiche Bilanzen zur herrschaftsstrukturellen Forschung vor. Vgl. nur Archie Brown, The Study of Totalitarianism and Authoritarianism. In : Jack Hayward / Brain Barry / Archie Brown ( Hg.), The British Study in Politics in the Twentieth Century, London 1999, S.345–394; Alexander Gallus, Typologisierung von Staatsformen und politischen Systemen in Geschichte und Gegenwart. In : ders./ Eckhard Jesse (Hg.), Staatsformen. Modelle politischer Ordnung von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, Köln 2004, S. 19–56; Abbott Gleason, Totalitarianism. The Inner History of the Cold War, New York 1995; Eckhard Jesse, Die Totalitarismusforschung im Streit der Meinungen. In : ders. ( Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1999, S. 9–40; Martin Malia, From Under the Rubble, What ? In : Problems of Communism, 41 (1992), S. 89–106; Detlef SchmiechenAckermann, Diktaturen im Vergleich, Darmstadt 2002. Karl Loewenstein, Verfassungslehre, 4. Auf lage Tübingen 2000, S. 27 f. Vgl. Mark Sandle, Soviet and Eastern bloc Marxism. In : Daryl Glaser / David M. Walker ( Hg.), Twentieth Century Marxism. A Global Introduction, Abingdon 2007,

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„wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch leninistischen Partei“, die unanfechtbare dogmatische Grundlage für die „Führung des proletarischen Klassenkampfes und des sozialistischen und kommunistischen Aufbaus“ sowie die „theoretische Anleitung zur praktisch - revolutionären Veränderung der Welt“.6 Er intendierte einen Bruch mit der bisherigen Geschichte, zielte auf die Durchsetzung eines neuen Wertesystems, die grundlegende Umgestaltung der sozialen Beziehungen, die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft, „in der die Produktionsmittel einheitliches Volkseigentum und alle Mitglieder der Gesellschaft sozial gleichgestellt sind, in der alle Mitglieder der Gesellschaft ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten allseitig entwickeln und zum Wohle der Gemeinschaft einsetzen“.7 Als „Ideokratie“ hatte der konservative Historiker Heinrich Leo in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Terror - und Tugendregime der Jakobiner systemvergleichend eingeordnet.8 Das kommunistische Emanzipations - und Transformationsprojekt der realsozialistischen Staaten knüpfte in den Augen seiner führenden Protagonisten an diese Phase der Französischen Revolution an.9 Der ideokratische Herrschaftsanspruch war keineswegs Bestandteil einer potjemkinschen Legitimationsfassade, sondern mit dem Versuch der Schaffung eines Neuen Menschen verbunden, „der sich in Umgangsformen, Verhaltensweisen und Weltbild vom Menschen des Kapitalismus positiv abheben sollte“.10 Das große Transformationsprojekt umfasste alle sozialen Sphären, machte keineswegs Halt vor der privaten Lebenswelt, den Intimbereich von Familie und Sexualität eingeschlossen. Und selbst dort, wo Resistenz eine ( partielle, strategisch geprägte ) Rücknahme des totalitären Anspruchs in erheblichem Umfang erzwang, wurde die kommunistische Ideologie nicht bedeutungslos. Ein mehr oder weniger subtiles System ideologisch bestimmter Anreize und Sanktionen beeinflusste die Biographien der Menschen, eröffnete Perspektiven oder raubte sie. Der Weltanschauungsstaat durchdrang die gesamte soziale, ökonomische und kulturelle Wirklichkeit, griff rigoroser als andere Autokratietypen in das Alltagsleben der Menschen ein. Die grundsätzliche Nichtanerkennung einer vom Staat zu respektierenden Privatsphäre war über längere Zeit das Charakteristi-

6 7 8 9 10

S. 59–80; Peter W. Sperlich, Rotten Foundations. The Conceptual Basis of the MarxistLeninist Regimes of East Germany and Other Countries of the Soviet Bloc, Westport 2002, S. 176–180. „Marxismus - Leninismus“. In : Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin ( Ost ) 1986, S. 582. „Kommunismus“. In : Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin ( Ost ) 1986, S. 479. Vgl. Heinrich Leo, Studien und Skizzen zu einer Naturlehre des Staates, Halle 1833. Vgl. François Furet, Le passé d’une illusion. Essai sur l’idée communiste au XXe siècle, Paris 1995, S. 120–139. Ulf Brunnbauer, Alltag und Ideologie im Sozialismus – eine dialektische Beziehung. In: Berliner Osteuropa Info, 23 (2005), S. 5. Vgl. zum Folgenden ders., „Die sozialistische Lebensweise“. Ideologie, Gesellschaft und Politik in Bulgarien (1944–1989), Wien 2007, S. 29–38, 71–79.

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kum aller realsozialistischen Systeme,11 wie tief auch immer die Kluft zwischen Theorie und Praxis klaffte. Die Menschen sollten sich ganz in den Dienst des Aufbaus der neuen Gesellschaft stellen. Wo sie dies nicht aus eigenem Antrieb taten, setzten sozialistische Umerziehung und von oben gelenkte Mobilisierung innerhalb der Relais der Partei und der mit ihr verbundenen Massenorganisationen ein. Wer den Geltungsanspruch der Staatsideologie anzuzweifeln wagte, geriet rasch in das Räderwerk sozialer Disziplinierung und Repression.12 Dem ideokratisch - totalitären Herrschaftsanspruch entsprach eine spezifische Herrschaftsstruktur, in deren Zentrum die kommunistischen Staatsparteien standen. Nach den Prinzipien des „demokratischen Zentralismus“ straff geführt, ging die Macht im Normalfall vom häufig zusammentretenden „Politbüro“ mit einem „Generalsekretär“ an der Spitze und dem Apparat des „Zentralkomitees“ ( ZK - Apparat ) als bürokratischem Vollzugsorgan aus. Die Partei beherrschte den Staat u. a. mittels gezielter „Kaderpolitik“, d. h. der Besetzung aller wichtigen Positionen nach „Nomenklaturlisten“ mit bewährten Parteigenossen. Sie bestimmte auch die Besetzung der „Volksvertretungen“ nach einem festen Verteilungsschlüssel, der den Kommunisten stets eine breite Mehrheit (60 bis 80 Prozent ) sicherte.13 Die weitgehend aus Wahlen ohne Auswahl hervorgegangenen Organe erfüllten weder in Theorie noch Praxis eine Kontrollfunktion gegenüber der Regierung. Gleiches galt für die Justiz, die als Bestandteil des staatlichen Verwaltungsapparates und keineswegs als unabhängige Instanz zum Schutz der individuellen Rechtssphäre fungierte. Fest eingebunden in die von der Parteispitze ausgehende Machtvertikale, verfügten weder Sicherheitsdienste noch Armee im Regelfall über Vetomacht. Zudem war die Staatspartei der Kompromissfindung mit eigenständig handelnden Akteursgruppen weitgehend enthoben. Wo „Blockparteien“ als Relikte eines lange zurückliegenden Parteienpluralismus und / oder pseudodemokratische Legitimationsattrappen existierten ( in Bulgarien, der DDR, Polen und der Tschechoslowakei, nicht aber in der Sowjetunion, Rumänien und Ungarn14), waren diese in Einheitsfronten organisiert und besaßen Handlungsspielräume nur insoweit, als sie dem politischen Willen der Monopolparteien nicht widerstrebten. Die staatlich straff gelenkten Massenkommunikationsmittel ließen wenig Raum für die Artikulation abweichender Meinungen. Die sozialistische Planwirtschaft schließlich war mit einer weitreichenden Kontrolle der Wirtschaftsgesellschaft verbunden, innerhalb 11

Vgl. Marc Garcelon, The Shadow of the Leviathan. Public and Private in Communist and Post - Communist Society. In : Jeff Weintraub / Krishan Kumar ( Hg.), Public and Private in Thought and Practice, Chicago 1997, S. 303–332. 12 Vgl. Jerzy Maćków, Die Konstruktion politischer Stabilität. Polen und Russland in den Umbrüchen der achtziger und neunziger Jahre, Baden - Baden 1998, S. 61–67. 13 Vgl. George Brunner, Ansätze zu einem „sozialistischen Parlamentarismus“ im sowjetischen Hegemonialbereich. In : Ralf Rytlewski ( Hg.), Politik und Gesellschaft in sozialistischen Ländern. Ergebnisse und Probleme der Sozialistischen Länder - Forschung, Opladen 1989, S. 154. 14 Vgl. Jürgen Hartmann, Politik und Gesellschaft in Osteuropa. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 1983, S. 96 f.

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derer Gewerkschaften als integrierende Organisationen, nicht aber als „pressure groups“ zur Wahrnehmung von Arbeiternehmerinteressen fungierten. Die realsozialistischen Autokratien wiesen im Vergleich etwa zu autoritären Regimen einen besonders geringen Grad an Kompetitivität auf. Mehr noch : Nicht - Kompetitivität hatte für die Regime „konstitutiven Charakter“.15 Ihr ideokratisch - totalitärer Herrschaftsanspruch ging mit hochgradiger Depluralisierung und einer großen Herrschaftsreichweite wie - intensität einher. Dennoch hatten bereits in den 50er Jahren Entwicklungen eingesetzt, die zu einer Abschwächung der in der Ära Stalin zu voller Entfaltung gelangten totalitären Züge führten. Manche Staaten näherten sich den Strukturmustern autoritärer Autokratien, entwickelten Ansätze politischer Repluralisierung und wiesen – wie neben der Sowjetunion Gorbatschows vor allem Polen und Ungarn – in der zweiten Hälfte der 80er Jahre Öffnungstendenzen gegenüber verfassungsstaatlichen Formelementen auf. Andere Staaten zeigten sich bis zum Beginn der Transition wenig reformbereit und dokumentierten die anhaltende Bedeutung ihres totalitären Potentials.

2.

Divergierende Detotalisierungsgrade

Alle hier interessierende Staaten : Bulgarien, die DDR, Polen, Rumänien, die Tschechoslowakei und Ungarn, hatten ( in unterschiedlichem Ausmaß ) Detotalisierungsprozesse durchlaufen, die sie vom polaren Typus16 totalitärer Herrschaft entfernten und zugleich anderen Formen der Autokratie annäherten. Kein historisches Regime hat für längere Zeit alle Anforderungen erfüllt, die vor allem Hannah Arendt ihrem auf Ideologie und Terror abhebenden Totalitarismuskonzept zugrunde legte.17 Sogar die Herrschaft Stalins kannte, etwa in den Kriegsjahren, einen temporären / sektoralen Rückgang von gewaltsamer Repression und Massenterror.18 Nach dem Tod des Diktators setzte eine partielle Detotalisierung ein, die u. a. mit einer zurückhaltenderen und berechenbareren Repressionspraxis, einem allmählichen Abbau des Lagersystems, einer bescheidenen, aber doch spürbaren kulturellen Repluralisierung verbunden war. Im Spätsozialismus fehlte der Massenterror völlig, war die einstige totalitäre Dynamik mit ihren chiliastischen, mobilisierend wirkenden Verheißungen in bürokratischen Abläufen erstarrt. Die 80er Jahre brachten einen erneuten kräftigen Detotalisierungsschub, der von Polen und der Sowjetunion ausging. In Polen hatte die katholische Kirche 15 Steffen Kailitz, Varianten der Autokratie im 20. und 21. Jahrhundert. In : Totalitarismus und Demokratie, 6 (2009), S. 209–251, hier 243. 16 Vgl. Giovanni Sartori, Totalitarismus. Modellmanie und Lernen aus Irrtümern. In : Eckhard Jesse ( Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert, Baden - Baden 1996, S. 538–555. 17 Vgl. besonders Hannah Arendt, Ideologie und Terror – eine neue Staatsform(1953). In: dies., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. I. Antisemitismus, II. Imperialismus, III. Totale Herrschaft, München 1986, S. 703–730. 18 Vgl. Helmut Altrichter, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, München 2000, S. 109.

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eine bedeutende Machtstellung behauptet und der Besuch des polnischen Papstes im Juni 1979 das Selbstbewusstsein der strenggläubigen Bevölkerung gegenüber der Staatsmacht angestachelt. In der Sowjetunion versuchte der neue charismatische Generalsekretär Michail Gorbatschow nach seinem Machtantritt 1985, den Sozialismus durch einschneidende Reformen zu retten. Unter den Losungsworten „Perestrojka“ und „Glasnost“ entfesselte er eine detotalisierende Veränderungsdynamik, die bald auch die autokratischen Grundstrukturen Russlands und seiner Satellitenstaaten erschüttern sollte.19 Die Detotalisierungsprozesse, deren Umfang und Intensität von Land zu Land erheblich schwankten, bewirkten weithin eine Annäherung an „gewöhnlichere“ Formen der Autokratie, schritten aber nirgends so weit fort, dass die Spuren des Hochtotalitarismus völlig verschwanden. Wie die Niederschlagung der Volkserhebungen, Aufstände und Reformbewegungen in Ostberlin (1953), Posen (1956), Budapest (1956) und Prag (1968) bewies, waren die herrschenden Eliten im Ernstfall bereit, zum Modus gewaltsam - offener Repression zurückzukehren. Dennoch kam die Forschung seit den 60er Jahren nicht umhin, die herrschaftsstrukturellen Veränderungen in den realsozialistischen Staaten im Vergleich zur Stalin - Ära herauszuarbeiten. Im Anschluss u. a. an Analysen des Berliner Osteuropaexperten Richard Löwenthal20 versuchte Juan J. Linz Mitte der 70er Jahre die Veränderungen mittels des Konzepts des „Posttotalitarismus“ systematisch herauszuarbeiten. Demnach waren in den realsozialistischen Regimen totalitäre Züge keineswegs verschwunden, hatten sich aber deutlich abgeschwächt.21 Der Wandel betraf vier Bereiche : 1) die Ideologie, 2) den sozialen Pluralismus, 3) den Führungsstil und 4) die Mobilisierung. 1. Dem Bereich der Ideologie kam dabei eine Schlüsselfunktion zu. Die „wachsende Kluft zwischen ideologischem Anspruch und sozialer und politischer Realität“, die „Diskrepanz zwischen der ständig wiederholten Beschwörung der Ideologie und deren zunehmender Irrelevanz für die Richtlinien der Politik“,22 lockerte die Regimebindung der einstmals gläubigen Anhänger. Die Formeln und Lehrsätze der offiziellen Ideologie wurden bei offiziellen Anlässen zwar ständig beschworen, prägten die Wirklichkeitswahrnehmung aber nur noch partiell. Im Zuge fortschreitender Detotalisierung mobilisierten die überzeugten Kommunisten in der Parteiführung Gefolgschaft und Gehorsamsbereitschaft weniger über konkrete Verheißungen als über den Appell an abstrakte Ideale : die führende Rolle der Arbeiterklasse, die soziale Gleichheit, den Inter19 Vgl. zusammenfassend Besier, Das Europa der Diktaturen, S. 429–639. 20 Vgl. vor allem Richard Löwenthal, Entwicklung kontra Utopie. Das kommunistische Dilemma (1970). In : ders., Faschismus - Bolschewismus - Totalitarismus. Schriften zur Weltanschauungsdiktatur. Hg. und eingeleitet von Mike Schmeitzner, Göttingen 2009, S. 567–596. 21 Vgl. zuletzt Juan J. Linz, Totalitäre und autoritäre Regime. Hg. von Raimund Krämer, Berlin 2000, S. 252. Vgl. auch Mark R. Thompson, Weder totalitär noch autoritär : PostTotalitarismus in Osteuropa. In : Achim Siegel ( Hg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln 1998, S. 309–339. 22 Linz, Totalitäre und autoritäre Regime, S. 249.

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nationalismus. Neben diese propagandistisch verbreitete „offene Ideologie“ war eine nur in der Nomenklatur verbreitete „geschlossene Ideologie“ getreten,23 die stärker den ( gegenüber der breiten Öffentlichkeit verschleierten ) Realitäten und Notwendigkeiten Rechnung trug und die nationalen wie geopolitischen Interessen betonte. Sie ermöglichte die Begründung von Prioritäten ( z. B. hohe Militärausgaben bei geringem Lebensstandard der Bevölkerung ), die den ideologischen Fernzielen auf den ersten Blick widerstritten. Die „geschlossene Ideologie“ war zur Grundlage von sich ausbreitender Doppelmoral, von opportunistischer Anpassung, von Lüge und Korruption geworden.24 Je mehr die Phrasen der „offenen Ideologie“ an Glaubwürdigkeit einbüßten, desto stärker betonte die Propaganda den notwendigen Kampf gegen reale wie imaginäre Feinde. So gewann der Antifaschismus zeitweilig überragende Bedeutung.25 2. In den realsozialistischen Systemen entwickelte sich, abgesehen von ihrer letzten Verfallsphase, kein begrenzter politischer Pluralismus, wie er für autoritäre Regime typisch ist.26 Im Vergleich zum Hochtotalitarismus der Stalin - Zeit entstanden jedoch – im von Land zu Land unterschiedlichem Maße – Ansätze einer sozialen, wirtschaftlichen und / oder kulturellen Repluralisierung. Sie fanden ihren Ausdruck in der Entstehung einer Parallel - oder Schattengesellschaft, - wirtschaft und - kultur mit einer Zunahme privatunternehmerischer Initiativen ( in Landwirtschaft, Handel und Dienstleistungen ), alternativen, meist illegal produzierten und verbreiteten Publikationen ( u. a. Samizdat - Literaturszene ) und regimekritischen Gruppen, die sich trotz staatlicher Verfolgung Gehör zu verschaffen wussten und die Keime einer oppositionellen Bewegung bildeten. 3. Führungsstil und - verhalten unterlagen im Vergleich zur Stalin - Ära erheblichen Veränderungen. Dies war in nicht geringem Maße darauf zurückzuführen, dass die charismatisch - paranoide Führung Stalins auch die Partei selbst, einschließlich ihrer mittleren und höheren Kader, in ständiger existentieller Unsicherheit gehalten hatte. Seinen Nachfolgern musste daher daran gelegen sein, die Machtposition der Partei zu bewahren, zugleich aber das „Ausmaß der willkürlichen Machtausübung“ zu verringern. An die Stelle charismatischer Führung traten bürokratisch - technokratische Abläufe, welche die revolutionäre Dynamik des Regimes beschränkten, wenn nicht gar vollends zum Erliegen brachten, zugleich aber seine Bestandskraft erhöhten. Die „posttotalitäre“ Elite näherte sich in ihrem Führungsstil dem von autoritären Regimen bekannten Verhalten an : „Der Führer herrscht innerhalb nicht näher bestimmter, aber in

23 Vgl. Vladimir Shlapentokh, A Normal Totalitarian Society. How the Soviet Union Functioned and How It Collapsed, Armonk 2001, S. 54–62. 24 Vgl. die eindringliche Beschreibung dieses Zustandes bei Václav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben. Von der Macht der Ohnmächtigen, Reinbek bei Hamburg 1980. 25 Vgl. Herfried Münkler, Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR. Abgrenzungsinstrument nach Westen und Herrschaftsmittel nach innen. In : Manfred Agethen / Eckhard Jesse / Erhart Neubert ( Hg.), Der missbrauchte Antifaschismus. DDR - Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Freiburg i. Brsg. 2002, S. 79–99. 26 Vgl. Linz, Totalitäre und autoritäre Regime, S. 247.

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der Realität vorhersagbarer Grenzen.“27 Die „sozialistische Gesetzlichkeit“ erhöhte auch die Berechenbarkeit des ( kontrollierenden, disziplinierenden, repressiven ) Herrschaftshandelns auf Seiten der Beherrschten. Allerdings rekrutierte sich die Elite – im Unterschied zu autoritären Regimen – nach wie vor fast ausschließlich aus der Gruppe der bewährten Apparatschiki, die eine Karriere im Partei - oder Staatsapparat durchlaufen hatten. 4. Die Regime legten weiterhin Wert auf die organisatorische Durchdringung der Gesellschaft durch Partei und Massenorganisationen, waren aber in immer geringerem Maße in der Lage, die Menschen für politische Ziele zu mobilisieren. Die im Hochtotalitarismus geschaffenen Organisationen und Einrichtungen zur Mobilisierung der Bevölkerung bestanden weiter, erstarrten jedoch vielfach in Routine und Ritualen. Waren „privatisierte“ Existenzen mit einem von der Öffentlichkeit abgeschotteten Eigenleben im Kreis von Familienangehörigen und Freunden einstmals verpönt, erfüllte die Flucht ins Private im „Posttotalitarismus“ eine Ventilfunktion, erleichterte loyales oder zumindest semiloyales Verhalten gegenüber Autoritäten, deren Legitimität auf tönernen Füßen stand. Im letzten Jahrzehnt ihrer Existenz erreichten die realsozialistischen Systeme allerdings einen von Land zu Land sehr unterschiedlichen Detotalisierungsgrad. In ihrem für die Transitionsforschung bedeutsamen Vergleich zwischen den Endphasen der Autokratien Ostmitteleuropas, Südeuropas und Lateinamerikas haben Juan J. Linz und Alfred Stepan die Spannweite des „Posttotalitarismus“ mittels Subtypenbildung zu erfassen versucht.28 Sie formen ein Kontinuum, je nachdem, wie viele der vier Dimensionen mit welcher Intensität die für den „Posttotalitarismus“ typischen Entwicklungstendenzen aufweisen. Das Spektrum reicht vom „early post - totalitarianism“, der am dichtesten am totalitären Typus liegt, über den „frozen post - totalitarianism“, wo nach einem Tauwetter und folgendem Kälteeinbruch das Wachstum der posttotalitären Triebe unterbrochen wurde, bis zum „mature post - totalitarianism“ mit der vollen Entwicklung der typischen Merkmale in allen wesentlichen Bereichen. Als Beispiel für den ersten Subtyp ( früher Posttotalitarismus ) gilt Bulgarien, wo sich erst am Ende der 80er Jahre erste posttotalitäre Ansätze zeigten.29 Die Tschechoslowakei erlebte mit dem Prager Frühling eine intensive Tauwetterperiode, die an den Rand des Systemwechsels führte, von außen gewaltsam beendet wurde und nach einer Übergangszeit einer Phase mit rigiden Herrschaftspraktiken wich, ohne sich dem totalitären Typus jedoch stark anzunähern. Die DDR wird diesem Subtypus vor allem wegen der Ende der 60er Jahre zum Erliegen gekommenen technokratischen Reformversuche zugeordnet, auch wenn sich die SED, anders als die tschechoslowakischen Reformkommunisten, auf Wirtschaft und Parteistruk-

27 Ebd., S. 248. 28 Juan J. Linz / Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America, and Post - Communist Europe, Baltimore 1996, S. 38–54. 29 Vgl. auch Ilija Trojanow, Die fingierte Revolution. Bulgarien, eine exemplarische Geschichte, München 2006.

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tur beschränkte.30 Ungarn führen die Autoren als Paradebeispiel für einen reifen Posttotalitarismus an, der sich über alle signifikanten Dimensionen erstreckt. Die beiden übrigen Länder: Polen und Rumänien, stellen in gewisser Weise Hybride dar, da sie Züge des Posttotalitarismus mit Elementen anderer Autokratietypen verbinden – allerdings auf sehr unterschiedliche Weise. In Rumänien waren die noch stark entwickelten totalitären Züge mit Elementen des „Sultanismus“ verknüpft, wie sie im Personenkult und der Prachtentfaltung des „Conducators“, den klientelistischen Netzwerken mit der Bevorzugung von Familienangehörigen und damit verbundenen dynastischen Tendenzen zum Ausdruck kamen. In Polen hatte sich dagegen wie in Ungarn ein reifer Posttotalitarismus entwickelt. Allerdings war der Totalitarismus ( insbesondere aufgrund der Sonderstellung der katholischen Kirche ) nach Linz / Stepan hier nie zu voller Entfaltung gelangt und in einem Maße erodiert, dass die Schwelle zwischen Posttotalitarismus und Autoritarismus in den 80er Jahren überschritten worden war.

3.

Einflussfaktoren der Detotalisierung

Wie erklärt sich die herrschaftsstrukturelle Varianz der realsozialistischen Autokratien ? Warum wies ihr Detotalisierungsgrad eine so große Schwankungsbreite auf ? Das Faktorenbündel, das diese Fragen zu beantworten ermöglicht, ist komplex und keineswegs bis in alle Einzelheiten erforscht, zumal der Kenntnisstand von Land zu Land schwankt. Dennoch sei der Versuch unternommen, einige zentrale Befunde zu systematisieren. Ein erster Faktor betrifft die Voraussetzungen der Diktaturdurchsetzung. Zwar waren alle hier behandelten kommunistischen Regime Resultat der Ausdehnung des sowjetischen Einflussbereichs infolge des Sieges der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg und insofern exogenen Ursprungs. Doch der revolutionärmarxistische Teil der Arbeiterbewegung war in den verschiedenen Ländern in sehr unterschiedlichem Maße sozial verankert; Sympathie und Antipathie gegenüber Russland, der Sowjetunion und der Roten Armee wiesen aus mannigfachen Gründen eine ungleiche Verteilung auf, so dass auch das ( autoritäre wie liberale ) Resistenzpotential gegenüber dem Hegemon und den sich mit dessen Hilfe etablierenden kommunistischen Staatsparteien eine große Bandbreite aufwies. Eng mit der Frage nach exogenen und endogenen Triebkräften verbunden ist die Einschätzung der Vitalität verfassungsstaatlicher bzw. autokratischer Traditionen.31 Deren Ausprägung hatte erhebliche Folgen für die Legitimierungsstra30 Vgl. Günther Heydemann, Die Innenpolitik der DDR, München 2003, S. 22–27; Klaus Schröder, Der SED - Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 173–187. 31 Vgl. Klaus Ziemer, Totalitarian and Authoritarian Systems : Factors in Their Decline and Hurdles in the Development of Democratic Order. In : Jerzy W. Borejsza / ders. (Hg.), Totalitarian and Authoritarian Regimes in Europe. Legacies and Lessons from the Twentieth Century, New York 2006, S. 158–173, hier 161.

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tegien der neuen Machthaber und die entstehenden Repressions - und Disziplinierungskosten. Bezeichnenderweise trugen die Regime in jenen beiden Ländern, in denen sich die Symptome des Linzschen Posttotalitarismus am stärksten ausprägten, überwiegend exogenen Charakter. Im russophoben Polen hatte die kommunistische Partei, die zu Recht mit der Sowjetunion identifiziert wurde, einen schweren Start und musste zur Stabilisierung ihrer Herrschaft bedeutsame Konzessionen machen. So wurde die Landwirtschaft anders als in den meisten kommunistischen Ländern nicht kollektiviert und die katholische Kirche, die in der Zeit der Staatenlosigkeit zu einem Eckstein der nationalen Identität geworden war und erheblichen Anteil am Widerstand gegen die NS - Fremdherrschaft hatte, weniger heftig bekämpft als die religiösen Institutionen in den übrigen ostmitteleuropäischen Ländern.32 Ungarn wiederum war ein von der Roten Armee besiegter ehemaliger Satellit Hitlerdeutschlands, der infolge der Kriegsniederlage Territorien erneut verlor, die er durch die Teilrevision des Vertrages von Trianon wiedergewonnen hatte. Die Bevölkerung, in der das konservativ ländlich - agrarische Element bei weitem über wog, begegnete revolutionären Parolen überwiegend mit Misstrauen; der als Sowjetimport geltende Kommunismus war durch Béla Kuns Terrorherrschaft 1919 diskreditiert. Die Brutalitäten der Roten Armee und das despotische Auftreten der sowjetischen Besatzungsmacht zementierten diese Einstellungen, so dass die im Herbst 1944 konstituierte Ungarische Kommunistische Partei trotz ihrer Begünstigung durch die militärischen Machthaber und ihres anfänglich betont offenen und konzilianten Auftretens bei den ersten, noch freien Wahlen vom November 1945 lediglich 16,9 Prozent der Stimmen erhielt.33 Nach der kommunistischen Diktaturdurchsetzung und einer repressiv - hochtotalitären Phase erwiesen sich Polen und Ungarn für die Sowjetunion als schwierige Bundesgenossen.34 War die Entwicklung der Volksrepublik Polen, beginnend mit der Juni - Revolte in Posen,35 von Unruhen und Rebellionen mit zum Teil breitem sozialem Rückhalt begleitet, die das kommunistische Regime vor harte Bewährungsproben stellten, es in seiner Existenz aber letztlich nicht gefährdeten, erreichte die ungarische Revolution von 1956 solche Ausmaße, dass eine militärische Intervention aus sowjetischer Sicht unerlässlich erschien. War es in Polen vor allem die Sonderstellung der katholischen Kirche, die den „reifen Posttotalitarismus“ nährte, beruhte die sich herausbildende Ausnahmestellung Ungarns innerhalb des sowjetischen Satellitengürtels auf dem Bemühen der neuen Führung unter János Kádár, das Trauma von 1956 (35 000 Verhaftungen, 22 000 Verurteilungen, 400 bis 500 Hinrichtungen, 200 000 ins Exil 32 Vgl. Archie Brown, Aufstieg und Fall des Kommunismus, Berlin 2009, S. 233 f. 33 Vgl. Charles Andras, Ungarn. In : Claus D. Kernig, Die kommunistischen Parteien der Welt, Freiburg 1969, Sp. 513–526. 34 Vgl. Miklós Molnár, La démocratie se lève à l’Est. Société civile et communisme en Europe de l’Est : Pologne et Hongrie, Paris 1990, S. 159–206. 35 Vgl. Paweł Machcewich, Rebellious Satellite. Poland 1956, Washington 2009.

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Getriebene36) zu überwinden, dem überwiegend auf Repression gegründeten Regime neue legitimatorische Ressourcen zu erschließen. Diese Entwicklung begann 1962 mit der offiziellen Distanzierung vom totalitären Anspruch Mátyás Rákosis („Wer nicht gegen uns ist, ist für uns“), gewann mit der Einführung die Planwirtschaft ergänzender Marktmechanismen ( Zulassung privat - unternehmerischer Initiative in Landwirtschaft, Kleingewerbe, Wohnungsbau, Dienstleistungen; Lockerung des Eigentumsrechts ) ab 1968 an Dynamik und führte zu einer teilautonomen Wirtschaftsgesellschaft,37 die in dieser Weise nirgendwo sonst innerhalb der Warschauer - Pakt - Staaten existierte. In Ungarn gehörte der „Warenmangel mit den hysterischen Warteschlangen“38 bald der Vergangenheit an; das Regime erzeugte zumindest Performanzlegitimität ( und nahm dafür eine hohe Auslandsverschuldung in Kauf ), konnte die Mechanismen sozialer Disziplinierung lockern, das Ausmaß „willkürlicher Inter ventionen in die Zivilgesellschaft“39 verringern und die in anderen realsozialistischen Staaten allgegenwärtige Medienpropaganda zurückfahren. Während die über wiegend exogenen kommunistischen Einparteiregime Polens und Ungarns mit ausgeprägten Schattengesellschaften koexistierten, in deren Schutzzonen sich ein beachtliches Maß intellektueller und kultureller Pluralität entfalten konnte ( wenn auch unter dem Damoklesschwert der Repressionsdrohung ), blieben diejenigen Länder, bei deren Diktaturdurchsetzung das endogene Element eine größere Rolle gespielt hatte, allesamt näher am totalitären Extremtypus. Dies galt besonders für ökonomisch rückständige Staaten wie Bulgarien und Rumänien, in denen verfassungsstaatliche Traditionen schwach ausgeprägt waren und überkommene autoritäre Herrschaftsmuster eine gute Grundlage für die Errichtung einer Einparteidiktatur bereitstellten. In Bulgarien kamen noch das geringe Ausmaß an Vorbehalten gegenüber Russland ( Befreiung von der Türkenherrschaft) und ein schon vor dem Zweiten Weltkrieg stark ausgeprägtes bäuerliches Genossenschaftswesen hinzu, was eine „seltene Kongruenz von faktischer Legitimität, politischer Kultur und Existenzerfordernissen des realen Sozialismus“40 ermöglichte. Auch die DDR und die Tschechoslowakei gehörten zu jenen Staaten, in denen die in der Regierungszeit Stalins dominant gewordenen totalitären Züge am Ende der realsozialistischen Herrschaft in erheblichem Umfang fortbestanden. Wenn der „Posttotalitarismus“ in beiden Ländern nicht zur Reife gelangte, lag dies in beiden Fällen nicht – wie in Bulgarien und Rumänien – an der 36 Vgl. Stéphane Courtois ( Hg.), Das Handbuch des Kommunismus. Geschichte – Ideen – Köpfe, München 2010, S. 80. 37 Vgl. Anna Seleny, The Political Economy of State - Society Relations in Hungary and Poland. From Communism to the European Union, Cambridge 2006, S. 37–76; Rudolf L. Tökés, Hungary’s Negotiated Revolution, Economic reform, social change and economic succession, Cambridge 1996, S. 82–116. 38 György Dalos, Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa, München 2009, S. 63. 39 Máté Szabó, Ungarns Weg, in diesem Band. 40 Hartmann, Politik und Gesellschaft in Osteuropa, S. 252.

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relativen Schwäche verfassungsstaatlicher Traditionen; sie reichten historisch weit zurück und hatten nach dem Ersten Weltkrieg zu Demokratiegründungen geführt, deren trauriges Ende Mitte der 20er Jahre keineswegs absehbar war. In der Tschechoslowakei lebten diese Traditionen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre wieder auf, als im Zuge der Liberalisierungstendenzen in verschiedenen osteuropäischen Ländern jüngere, reformorientierte Parteikader an die Spitze gelangten und eine Öffnung des Systems ( u. a. Lockerung des Organisationsmonopols und der Pressezensur ) einleiteten. In der DDR blieb – ungeachtet der Reformversuche der zweiten Hälfte der 60er Jahre – ein „Berliner Frühling“ aus. Bereits 1953 war hier eine Volkserhebung ( in der allerdings weder intellektuelle Zirkel noch Parteireformer eine Rolle spielten ) militärisch niedergeschlagen worden.41 Das traumatische Ereignis prägte bis zum Ende des Regimes das Verhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten, bestimmte die Repressionsmodi und die Definition ungestraft überschreitbarer Handlungsgrenzen. Es bestimmte das Gefühl dafür, ab wann mit einer Inter vention der „sowjetischen Freunde“ zu rechnen war, die an der Demarkationsgrenze im Westen, an der Grenze zum anderen Teil Deutschlands weniger Freiraum für eigenständige Wege zu gewähren bereit schienen als in anderen Warschauer Pakt - Staaten. Das Ausloten der Handlungsspielräume innerhalb des von der Sowjetunion vorgegebenen Rahmens war zum Teil von den Persönlichkeiten an der Parteispitze abhängig.42 Deren Interpretation hing zudem von den jeweiligen geopolitischen ( außenpolitisches Risikopotential ) und ökonomischen ( Kosten / Nutzen aus Moskauer Sicht ) Gegebenheiten ab. Unabhängig davon war unter den Satelliten von Anfang an der Wunsch verbreitet, eigene Wege zu gehen und sich der ständigen Bevormundung durch Moskau zu entziehen. Die „Nationalisierung“ des Kommunismus43 bildet daher einen weiteren wichtigen Faktor für die Erklärung der zunehmenden Vielgestaltigkeit der realsozialistischen Länder. Die Berufung auf eigene nationale Traditionen konnte dabei – wie im „Kádárismus“ – Detotalisierung begünstigen, musste es aber nicht. So führte der anfangs von der Bevölkerung vehement unterstützte neue Kurs Gomułkas in Polen keineswegs zu der erhofften Liberalisierung.44 Und die rumänische kommunistische Führung verstand es in den 60er Jahren zwar, den sino - sowjetischen Konflikt für die Gewinnung größerer Autonomie innerhalb einer zunehmend „polyzen41

Vgl. Karl Wilhelm Fricke / Roger Engelmann, „Konzentrierte Schläge“. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953–1956, Berlin 1998; Hubertus Knabe, 17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand, München 2003; Heidi Roth, Der siebzehnte Juni 1953 in Sachsen, mit einem einleitenden Kapitel von Karl - Wilhelm Fricke, Köln 1999. 42 Zur Bedeutung der Person Kádárs für die ungarische Sonderentwicklung ab 1962 vgl. Tökés, Hungary’s Negotiated Revolution, S. 38–77. 43 Vgl. Jerzy Maćków, Totalitarismus und danach. Einführung in den Kommunismus und die postkommunistische Systemtransformation, Baden - Baden 2005, S. 46. 44 Vgl. Leszek Kołakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, Band 3, München 1989, S. 493.

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trischen“ sozialistischen Staatengemeinschaft auszunutzen.45 Doch ging der Erfolg dieser Strategie mit keiner dauerhaften Liberalisierung einher. Ganz im Gegenteil : Rumänien erschien bald „totalitärer“ als die Sowjetunion.46 Allerdings ließ die Herrschaftsstruktur auch Eigenheiten erkennen, die eher als Merkmale klassischer Despotien denn als Spezifika erodierender totalitärer Herrschaft gelten können. Ceauşescu häufte immer mehr Macht auf die eigene Person und Mitglieder seiner Familie, entwickelte einen grotesken Personenkult, trat bald mit Schärpe und Zepter auf47 und regierte mithilfe korrupter klientelistischer Netzwerke und der allgegenwärtigen „Securitate“, die eine noch höhere soziale Durchdringung erreichte als der Staatssicherheitsdienst der DDR.48 Als die Ära Gorbatschow mit „Glasnost“ und „Perestrojka“ begann, gehörte er wie SED - Generalsekretär Honecker49 zu denen, die sich konsequent - abwehrend verhielten. So vergrößerte sich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre die Kluft zwischen den eher beweglichen und reformbereiten Ländern und den unbeweglichen Dogmatikern weiter. Denn in Polen und Ungarn war nicht nur die Detotalisierung weiter fortgeschritten als in den übrigen realsozialistischen Ländern. In die Einparteiregime hatten überdies verfassungsstaatliche Elemente Eingang gefunden, die den bevorstehenden Systemwechsel bereits erahnen ließen.50

4.

Erschwerende und erleichternde interne Transitionsvoraussetzungen

Systemwechsel werden oft in erheblichem Umfang von externen Faktoren bestimmt.51 Die Varianz der ostmitteleuropäischen Transitionen 1989/90 lässt sich jedoch ohne die Bestimmung der regimetypischen internen Ausgangsbedingungen nicht erklären, wie vor allem Juan J. Linz und Alfred Stepan gezeigt haben.52 Die Transitionslast ist umso größer, je weiter das zu transformierende Regime in seiner Grundverfassung vom angestrebten Transformationsziel entfernt ist. Ein Wechsel von einem zum anderen Autokratietypus dürfte nach die45 Eine fundierte Bestandsaufnahme für die Endphase des Realsozialismus bietet Heinz Timmermann, „Kommunistische Weltbewegung“ : Das Ende eines Mythos, Köln 1985. 46 Vgl. Milovan Djilas, The Disintegration of Leninist Totalitarianism. In : Irving Howe (Hg.), 1984 Revisited. Totalitarianism in Our Century, New York 1983, S. 136–148, hier 144. 47 Vgl. Besier, Das Europa der Diktaturen, S. 588. 48 Vgl. Dennis Deletant, Rumänien. In : Lukasz Kaminski / Krysztof Persak / Jens Gieseke (Hg.), Handbuch der kommunistischen Geheimdienste in Osteuropa 1944–1991, Göttingen 2009, S. 341–393. 49 Vgl. Alexandra Nepit, Die SED unter dem Druck der Reformen Gorbatschows, BadenBaden 2004. 50 Vgl. die Beiträge von Dieter Bingen und Klaus Ziemer in diesem Band. 51 Vgl. Wolfgang Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Wiesbaden 2010, S. 96–101. 52 Vgl. Linz / Stepan, Problems of Democratic Transition, S. 55–65.

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ser Annahme leichter zu bewerkstelligen sein als die Transformation einer Autokratie gleich welcher Prägung in einen demokratischen Verfassungsstaat. Am schwierigsten erscheint der Übergang vom extremen Autokratietyp Totalitarismus zum voll entwickelten, konsolidierten demokratischen Verfassungsstaat.53 Externe und interne Transitionsbedingungen beeinflussen sich oft wechselseitig. Die Veränderungen in der Sowjetunion Gorbatschows waren nicht zuletzt auch das Ergebnis interner Dynamik und wirkten ihrerseits auf die innere Entwicklung der Satellitenstaaten zurück. Der interne Wandel wiederum wurde durch jene Detotalisierungstendenzen begünstigt, die Linz u. a. mit dem Begriff des Posttotalitarismus umschrieben haben. Je stärker die totalitäre Prägung erhalten geblieben war, desto mehr konnte diese den Transitions - und späteren Konsolidierungsprozess ( vorausgesetzt, die Demokratieetablierung war erfolgreich ) belasten. Umgekehrt wurde die Transition ( und etwaige spätere Konsolidierung ) durch eine weiter fortgeschrittene Detotalisierung erleichtert. Dieser Zusammenhang lässt sich insbesondere anhand folgender Aspekte aufzeigen: 1. Vor allem in Polen und Ungarn hatte die Repluralisierung auch die Staatsparteien selbst erfasst und einen Machtkampf zwischen Hardlinern und Softlinern, Reformunwilligen und Reformbereiten hervorgerufen, der angesichts der Öffnung des politischen Systems der Hegemonialmacht zugunsten der letztgenannten entschieden wurde. Das Auseinanderfallen der Staatsparteien oder deren weitgehende Sozialdemokratisierung begünstigten die Entstehung eines pluralen Parteiengefüges und die Akteurskonsolidierung der marktwirtschaftlichen Verfassungsstaaten.54 2. Die Schwächung der Staatsparteien und die graduelle Repluralisierung führten in Polen und Ungarn zu Reformen, die erste Ansätze einer Gewaltenkontrolle entstehen ließen. So wurde 1982 in Polen unter heftigem Protest der kommunistischen Nachbarstaaten ein Verfassungsgerichtshof eingerichtet, der in der Ära Gorbatschow an Einfluss gewann. Mit dem Konsultativrat beim Vorsitzenden des Staatsrates unternahm das Regime den Versuch, bekannte Oppositionelle in das System zu integrieren. Der Sejm gewann in bescheidenem Umfang an Eigenständigkeit, ablesbar etwa anhand der häufigen Nein - Stimmen parteiloser Abgeordneter und einiger Vertreter der Blockpartei „Stronnictwo Demokratyczne“ ( Demokratische Partei ). „1988 lehnte der Sejm eine wichtige von der Parteiführung vorgeschlagene Personalentscheidung ab – ein in den Nachbarstaaten ebenso undenkbarer Vorgang wie das Scheitern der Regierung, die erforderliche absolute Mehrheit der Stimmberechtigten bei einem von ihr

53 Vgl. auch zum Folgenden Uwe Backes, Totalitarismus und Transformation – Eine Einführung. In : ders./ Tytus Jaskułowski / Abel Polese ( Hg.), Totalitarismus und Transformation. Defizite der Demokratiekonsolidierung in Mittel - und Osteuropa, Göttingen 2009, S. 13–26. 54 Vgl. Kai - Olaf Lang, Systemtransformation in Ostmitteleuropa : Eine erste Erfolgsbilanz. In : Aus Politik und Zeitgeschichte, B 15 (2001), S. 16.

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im November 1987 angesetzten Referendum zu erreichen.“55 Dieses sollte die Durchführung von Wirtschaftsreformen legitimieren. Allerdings blieb General Jaruzelski fest im Sattel, beeinflusste die Transition in erheblichem Umfang, was den Übergang verlängerte und die spätere Konsolidierung belastete.56 In Ungarn wurde bereits seit dem Wahlgesetz von 1983 verstärkt von der Möglichkeit der Aufstellung unabhängiger Kandidaten Gebrauch gemacht. Dies wirkte sich positiv auf die Wahrnehmung parlamentarischer Kontrollrechte aus. Der Beschluss zur Einführung eines Mehrparteiensystems auf dem Plenum des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (10./11. Februar 1989) war ein noch bedeutenderer Schritt in diese Richtung.57 3. Der Hochtotalitarismus hatte die Zivilgesellschaft ausgelöscht. Wo sich seitdem aber eine vitale Parallelgesellschaft und Gegenöffentlichkeit herausgebildet hatte, konnte diese den Differenzierungsprozess innerhalb der Staatsparteien unterstützen und ergänzen sowie entscheidenden Einfluss auf die Richtung der Transition nehmen. Die Fähigkeit sozialer Selbstorganisation zeigte sich in Polen eindrucksvoller als in jedem anderen realsozialistischen Land. Wiederum war es der Einfluss der katholischen Kirche, der maßgeblich zur Entstehung der Gewerkschaftsbewegung Solidarność beitrug. Bis zur Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 traten dieser ersten unabhängigen Gewerkschaft im sowjetischen Herrschaftsbereich nahezu zehn Millionen Arbeiter (rund 80 Prozent der Beschäftigten des Landes ) bei. Für einige Monate entstand auch eine freie Gewerkschaft der in Polen besonders zahlreichen privaten Bauern, die in kurzer Zeit einen Mitgliederstand von drei Millionen erreichte, während die Staatspartei, die die Schwelle von drei Millionen nie überschritten hatte, an rapidem Mitgliederschwund litt.58 Die Verhängung des Kriegsrechts unterbrach diese Entwicklung zwar für einige Jahre; doch unter den gewandelten Rahmenbedingungen der zweiten Hälfte der 80er Jahre bildete die Schattengesellschaft eine entscheidende Voraussetzung für die 1988 beginnende Transition.59 In Ungarn war die Schattengesellschaft anfänglich noch stark „privatisiert“ und „eher kulturell als politisch orientiert“.60 Das war gleichsam der Preis des Kádárismus und der Vitalität der Schattenwirtschaft. Im Vergleich zu Polen war die Zahl organisierter Dissidenten noch im Jahr 1988 mit 200 bis 55 Klaus Ziemer / Claudia - Yvette Matthes, Das politische System Polens. In : Wolfgang Ismayr ( Hg.), Die politischen Systeme Osteuropas, 2. Auflage Opladen 2004, S. 189– 246, hier 191. 56 Vgl. Tytus Jaskułowski, Party System and Democratic Consolidation – Poland and East Germany in Comparison. In : Backes / Jaskułowski / Polese ( Hg.), Totalitarismus und Transformation, S. 209–221. 57 Vgl. Brunner, Ansätze zu einem „sozialistischen Parlamentarismus“, S. 163–165. 58 Vgl. Maćków, Totalitarismus und danach, S. 74. 59 Vgl. Linz / Stepan, Problems of Democratic Transition, S. 265–269; Claudia Kundigraber, Polens Weg in die Demokratie. Der Runde Tisch und der unerwartete Machtwechsel, Göttingen 1996, S. 25–30. 60 So über die Situation in Ungarn Ende der 80er Jahre : Máté Szabó, Ungarns Weg, in diesem Band.

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500 aktiven Unterstützern ( allerdings mit einem in die Tausende gehenden Sympathisantenkreis ) klein.61 Aber es existierte wie dort eine ausgeprägte Gegenöffentlichkeit, die anders als in Polen nicht von kirchlichen Strukturen abhing. Das Samizdat - Organ „Beszélö“ ( durchschnittliche Auf lage : ca. 4 000) veröffentlichte in der ersten Jahreshälfte 1987 eine Ausgabe zum „Gesellschaftsvertrag“, in der die Forderung „Kádár muss gehen“ erhoben wurde. Anschließend trafen sich die Parteireformer Rezsö Nyers und Imre Poszgay mit den Autoren zum privaten Gedankenaustausch.62 Der Vorgang zeigt, dass die relative numerische Schwäche der organisierten politischen Opposition angemessen nur unter Berücksichtigung der fortgeschrittenen Pluralisierung im Inneren der Staatspartei zu interpretieren ist. Allerdings gilt dies nicht minder für Polen, wo vor Verhängung des Kriegsrechts ein Drittel der Mitglieder der Staatspartei der Solidarność angehörte.63 In der DDR, Bulgarien, Rumänien und der Tschechoslowakei waren die Staatsparteien bis Ende der 80er Jahre weitaus geschlossener ( in der Tschechoslowakei gab es zwar Machtkämpfe, aber keinen Reformflügel mehr64) und die Schattengesellschaften dennoch schwächer ausgeprägt als in Ungarn und Polen.65 4. Ein exogener Totalitarismus ließ sich leichter abschütteln als ein in erheblichem Umfang endogener. Dies mag mit erklären, warum der Kommunismus aus den Parteiensystemen Polens und Ungarns praktisch verschwand, während er sich in der Tschechischen Republik in halbherzig reformierter Form als allenfalls semiloyale Kraft hartnäckig behauptet hat. 5. In allen realsozialistischen Staaten stellte die sozialistische Kommandowirtschaft ein gravierendes Transitionshindernis dar. Das Erfordernis der Gleichzeitigkeit der politischen und ökonomischen Transformation bildete zwar offenkundig kein „Dilemma“ im strengen Sinne,66 wohl aber eine besondere Herausforderung, deren Meisterung mit gravierenden sozialen Belastungen verbunden war. Grundsätzlich verfügten jene Staaten über etwas bessere Startvoraussetzungen, in denen bereits vor Beginn der Transition wirtschaftliche Reformen in Gestalt der Implementierung von Konkurrenzmechanismen bzw. 61 62 63 64 65

66

Vgl. ebd. Szabó bezieht sich auf Aleksander Smolar / Pierre Kende : Die Rolle oppositioneller Gruppen. Am Vorabend der Demokratisierung in Polen und Ungarn (1987– 1989), Köln 1989. Vgl. Linz / Stepan, Problems of Democratic Transition, S. 300. Vgl. den Beitrag von Tytus Jaskułowski in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Jan Holzer in diesem Band. Eine solide Grundlage für einen Vergleich bilden die Beiträge in Detlef Pollack / Jan Wielgohs ( Hg.), Dissent and Opposition in Communist Eastern Europe. Origins of Cicil Society and Democratic Transition, Aldershot 2004. Vgl. auch Annabelle Lutz : Dissidenten und Bürgerbewegung. Ein Vergleich zwischen DDR und Tschechoslowakei, Frankfurt a. M. 1999. Vgl. Wolfgang Merkel, Gegen alle Theorie ? – Die Konsolidierung der Demokratie in Ostmitteleuropa. In : Backes / Jaskułowski / Polese ( Hg.), Totalitarismus und Transformation, Göttingen 2009, S. 27–48. Zur Formel vom „Dilemma der Gleichzeitigkeit“ vgl. Claus Offe, Das Dilemma der Gleichzeitigkeit. Demokratisierung und Marktwirtschaft in Osteuropa. In : Merkur, 45 (1991) 4, S. 279–292.

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der Vergrößerung von Freiräumen für unternehmerische Aktivitäten, etwa im Bereich der Landwirtschaft und des Kleingewerbes, eingeleitet worden waren. Allerdings wurden diese Startvorteile der stärker reformorientierten Staaten zum Teil dadurch relativiert, dass ihnen von Seiten des Westens bevorzugt Kredite gewährt worden waren, wodurch die Staatsverschuldung eine Höhe erreicht hatte, dass sie eine Hypothek für die Zukunft bildete. So sehr die Persistenz totalitärer Züge in einigen wichtigen Bereichen auch den Wandel der Systeme hemmte, so wenig kann der Totalitarismus in jeglicher Hinsicht als ein die Transformation erschwerendes Bollwerk gelten. Wie Wolfgang Merkel gezeigt hat, überwand ein Teil der postkommunistischen Transitionsstaaten die hohe Hürde der simultanen Transformation aller gesellschaftlichen Subsysteme mit weit weniger Schwierigkeiten, als es angesichts des von vielen für so überzeugend erachteten Theorems vom „Dilemma der Gleichzeitigkeit“ eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Offenkundig schuf der totalitäre Staat nicht nur widrige, sondern auch einige förderliche Transformationsbedingungen. Merkel nennt zwei Variablen, die den raschen Konsolidierungserfolg einiger ostmitteleuropäischer Staaten erklären :67 1. Modernität : Die realsozialistischen „Erziehungsdiktaturen“ erreichten ein Bildungsniveau der breiten Bevölkerung, das bei weitem über dem der südeuropäischen Transformationsländer der 70er oder der lateinamerikanischen der 80er Jahre lag. Sie erfüllten damit eine der zentralen Demokratisierungsvoraussetzungen, die von Modernisierungs - und Systemtheoretikern immer wieder ins Feld geführt worden sind.68 2. Staatlichkeit : Wo die Jellineksche Trias von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsautorität gewährleistet war, konnten sich die neu etablierten Demokratien rasch konsolidieren. Dies galt auch für die Tschechoslowakei, wo das Staatsproblem Anfang der 90er Jahre auf bemerkenswert friedliche und demokratische Weise gelöst werden konnte. Sie profitierten auch davon, dass der kommunistische Staat eine zwar oft ineffektive, aber doch einigermaßen funktionierende Administration, ausreichende Ressourcen und ein Grundverständnis für die notwendigen Staatsfunktionen hinterlassen hatte. Jene Staaten hingegen, in denen gravierende Probleme der Staatlichkeit fortbestanden, scheiterten schon bei der Demokratieetablierung ( wie Russland ) oder weisen bis heute die gravierendsten Beeinträchtigungen des demokratischen Etablierungs- und Konsolidierungsprozesses auf, denkt man nur an einige Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien sowie Albanien und Moldawien. 67 Merkel, Gegen alle Theorie ?, S. 43 f. Vgl. auch Geoffrey Pridham, Comparative reflections on democratisation in East - Central Europe : a model of post - communist transformation ? In : ders./ Attila Ágh ( Hg.), Prospects for democratic consolidation in East - Central Europe, Manchester 2001, S. 1–24, hier 19 f. 68 Vgl. zum Kommunismus als modernisierender Bewegung auch Sten Berglund / Joakim Ekman / Frank Aarebrot, The Challenge of History in Central and Eastern Europe. In : dies. ( Hg.), The Handbook of Political Change in Eastern Europe, Cheltenham 2004, S. 13–56.

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Vor allem der letzte Faktor ist insofern zu relativieren, als die Durchsetzung von Staatlichkeit nicht als ein spezifisches Merkmal totalitärer / posttotalitärer Autokratien gelten kann. Zudem relativieren die bereits erwähnten externen Transitionsbedingungen die Bedeutung interner Faktoren. So wären Demokratieetablierung und - konsolidierung in der DDR wohl komplizierter verlaufen, hätten sie nicht unter derart exzeptionellen Bedingungen stattgefunden : in der Form des Beitritts zu einem schon bestehenden und trotz aller Probleme funktionstüchtigen deutschen Verfassungsstaat im Westen.

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Bemerkungen zum Kommunismus, Totalitarismus und Postkommunismus in der bundesdeutschen Politikwissenschaft Jerzy Maćków

Erste Bemerkung : Die folgenden Bemerkungen beziehen sich vor allem auf den Mainstream der bundesdeutschen politologischen Beschäftigung mit Mittel -, Ost -, Nordost - und Südosteuropa im Zusammenhang des Totalitarismus.1 Sie betreffen dagegen nicht die unter den deutschen Politikwissenschaftlern wichtige und einflussreiche Minderheit, zu der nicht zuletzt Georg Brunner, Hans Buchheim, Carl - Joachim Friedrich oder Peter Graf Kielmansegg gehören, die einen großartigen Beitrag zum Verständnis des Totalitarismus und somit auch indirekt des Posttotalitarismus geleistet haben. Zweite Bemerkung : Der Totalitarismus - Begriff ist sowohl ein wissenschaftlich analytischer als auch ein normativer Terminus, der zudem oft für politische Zwecke verwendet wird. Solche Bezeichnungen gibt es in Sozialwissenschaften bekanntlich zuhauf, wie etwa die Kategorien „Demokratie“, „Autoritarismus“, „Pathologie“, „Diktatur“ u. a. zeigen. Der Totalitarismus „bohrt“ bzw. „bohrte“ in den Seelen politisierter Intellektuellen aber offenbar stärker als die anderen Begriffe. Dritte Bemerkung : Normativ gilt „Totalitarismus“ zwar als negativ beladen, d. h. er wird für gewöhnlich zur Kennzeichnung einer schlechten Ordnung benutzt, zumal durch Demokraten. Es wird aber allzu oft vergessen, dass dieser Begriff für die Anhänger der totalitären Ordnung, also für die „Totalitaristen“, durchaus positiv besetzt ist. Benito Mussolini schwärmte von einem totalitären Staat, den aufzubauen er außerstande war. Er war ähnlich ein Totalitarist wie viele Menschen, die sich eine gute Gesellschaft ohne die Allgegenwärtigkeit des Staates nicht vorstellen können. Diese extrem etatistische und dezidiert antiliberale Grundeinstellung, die zuweilen totalitäre Dimensionen annimmt, ist im Westen und selbstverständlich auch in der Bundesrepublik gar nicht so selten. 1

Die in diesem Beitrag zitierte Literatur stellt lediglich einen für die Untermauerung der obigen Bemerkungen repräsentativen Ausschnitt dar, der problemlos erweitert sein könnte.

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Vierte Bemerkung : Die negative Färbung des Totalitarismus - Begriffs geht zweifellos auf die Herausforderung zurück, die der Kommunismus ( neben dem Nationalsozialismus ) für die westlichen Demokratien darstellte. Die sowjetische Ordnung wurde in der Publizistik und Politik der freien Welt als „totalitär“ kritisiert und abgelehnt. Diese Ablehnung wäre aber wahrscheinlich so nicht möglich, wenn nicht der publizistische ( politische ) Begriff „Totalitarismus“ in der westlichen Öffentlichkeit vorgeherrscht hätte. Fünfte Bemerkung : Unter dem ( publizistischen bzw. politischen ) TotalitarismusBegriff wird für gewöhnlich nach wie vor ein Konzept verstanden, das angeblich den Kommunismus mit dem Nationalsozialismus gleichsetzt. Dieses Verständnis, es kann getrost auch „vulgär“ genannt werden, verfehlt aber den Kern des analytischen, wissenschaftlichen Totalitarismus - Ansatzes. Sechste Bemerkung : Das vulgäre Verständnis des Totalitarismus und sogar der vermeintlichen Totalitarismus - Theorie wurde im politischen Kampf der westlichen Gesellschaften gebraucht und zuweilen auch missbraucht. Besonders in der alten Bundesrepublik wurden den Anhängern des Totalitarismus - Konzepts oft pauschal niedere Beweggründe unterstellt, und konkret, dass sie die nationalsozialistischen Verbrechen verharmlosen bzw. den Frieden mit dem Ostblock stören wollten. Siebente Bemerkung : Weder der Westen noch selbstverständlich die Bundesrepublik haben das Monopol auf das richtige Verständnis bzw. die vorbildliche Diskussion über den Totalitarismus, obwohl manche Autoren zumindest den Eindruck vermitteln, das dem so wäre. Achte Bemerkung : Wenn man vom angelsächsischen wissenschaftlichen Diskurs absieht, der ethnisch offen ist, dann gibt es verschiedene nationale Diskussionen über den Totalitarismus, die nur partiell miteinander verbunden sind. Auch außerhalb des Westens wird der Totalitarismus als jeweils nationales Thema behandelt, zumindest in den ehemaligen Ostblock - Ländern. Diese nationale Prägung ist historisch und politisch bedingt, weil verschiedene Völker und Nationen unterschiedliche Erfahrungen mit der Realität des Totalitarismus gemacht haben. Neunte Bemerkung : Die Bedeutung des wissenschaftlich - analytischen Totalitarismus - Begriffs ist bekanntlich umstritten. Wenn man aber trotzdem nach dessen gemeinsamen Nenner sucht, dann kommt man nicht umhin, den Totalitarismus als eine Ordnung zu definieren, die zum einen sui generis und zum anderen durch den ideologisch begründeten uneingeschränkten Herrschaftsanspruch gekennzeichnet ist.

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Bemerkungen zum Kommunismus

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Zehnte Bemerkung : Auch die Totalitarismus - Diskussion in der alten Bundesrepublik hatte ihre nationalen Eigenarten. Erstens herrschte hier ( wie in der ganzen westlichen Öffentlichkeit ) beinahe uneingeschränkt das publizistisch - vulgäre Verständnis des Totalitarismus vor, wobei es vielen Diskutanten tatsächlich darum zu gehen schien, die nationalsozialistischen Verbrechen durch den historischen Vergleich irgendwie zu relativieren. Es war eine nihilistische Absicht, die auf der Annahme beruhte, dass die moralische Abscheulichkeit eines Verbrechens durch den Hinweis auf andere Verbrechen relativiert werden kann. Eine sachgerechte Analyse des damaligen Totalitarismus, also des kommunistischen Systems, und des Schicksals der von diesem System vereinnahmten Völker und Gesellschaften war diesen Diskutanten eher unwichtig. Zweitens überwog in der politischen Klasse – von der Öffentlichkeit ganz zu schweigen – die Überzeugung, dass der Kommunismus ewig dauern wird. Als der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker anlässlich seines Besuchs in Moskau im Juni 1987 bei Michael Gorbatschow vorsichtig nach den Chancen für die Einheit Deutschlands fragte, antwortete ihm der Generalsekretär der KPdSU, dass auch in einem Jahrhundert zwei deutsche Staaten existieren werden. Gemäß seiner eigenen Darstellung soll von Weizsäcker daraufhin nachgefragt haben, ob es vielleicht in 50 Jahren doch mit der Einheit Deutschlands klappen könnte. Gorbatschow soll – ebenso ironisch – dieser Verkürzung der Wartezeit grundsätzlich zugestimmt haben. Diese Geschichte erzählt der Altbundespräsident immer wieder, um scherzhaft einen Beweis dafür zu erbringen, dass er immerhin ein halbes Jahrhundert „ausgehandelt“ hat. Die Anekdote ist zwar lustig, aber wenn man im Jahre 1987 den Kommunismus analytisch sachgerecht beurteilte, d. h. ihn als ein totalitäres System in einer existenziellen Krise einschätzte, zeugt sie vor allem davon, dass man in der Bundesrepublik Deutschland schon einen eigenwilligen Sinn für Humor hatte. Selbst über die Einheit Deutschlands wurde hierzulande ausschließlich in den Kategorien der sowjetischen Zustimmung und so gut wie nie in jenen des Zusammenbruchs eines zum Untergang verurteilten, d. h. nicht reformierbaren totalitären Imperiums gedacht.2 An dieser schier reaktionären Sichtweise, die dem Geschichtsverständnis „Große Männer machen Geschichte“ entspringt, hat sich in der Bundesrepublik bis heute kaum etwas geändert. Elfte Bemerkung : Auch in der Politikwissenschaft der Bundesrepublik fristete der Totalitarismus - Ansatz bis zum Ende des Kommunismus bestenfalls ein Schattendasein, obwohl in der zweiten Hälfte der 80er Jahre die Diffamierung seiner publizistischen und wissenschaftlichen Anhänger nachgelassen hatte. Aus vielerlei Gründen wurden dem Totalitarismus - Konzept dennoch das Modernisierungs - und das Sozialismus - Konzept vorgezogen.3 2 3

Timothy Garton Ash hat die auf diesen Prämissen aufbauende Ostpolitik der Bundesrepublik eindringlich analysiert. Siehe sein mittlerweile klassisches Werk zu dieser Problematik : Im Namen Europas ? Deutschland und der geteilte Kontinent, München 1993. So wurde etwa das Standardwerk „Totalitarian and Authoritarian Regimes“ von Juan J. Linz, einem der führenden Theoretiker der totalitären und autoritären Herrschaft, das

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Zwölfte Bemerkung : Gemäß dem Modernisierungs - Ansatz war der Kommunismus ein autoritäres System, das durchaus Modernisierungserfolge aufzuweisen hatte.4 Im Sinne dieses Ansatzes wurde der Sowjetsozialismus für reformierbar gehalten.5 Die Perestrojka konnte noch im Jahre 1989 nicht als ein gescheitertes Projekt, sondern als ein „Durchbruch zu einer neuen sozialistischen Demokratie“ apostrophiert werden. So mancher politologische Experte behauptete sogar im selben Jahr, dass in der Sowjetunion, einem Staat, in dem es damals größte Probleme mit der Versorgung der Bevölkerung mit Seife, Lebensmitteln und Alkohol gab, von den Gütern des gehobenen Bedarfs ganz zu schweigen, ein „Übergang zur modernen Konsumgesellschaft westlichen Typs“ vollzogen wurde : „Die sowjetischen Haushalte sind heute mit Standardgeräten relativ gut ausgerüstet. Der Übergang von der reinen Bedarfsdeckung zum leicht gehobenen Konsum wurde in den letzten drei Jahrzehnten schnell vorangetrieben. Sieht man von der geringen Qualität und der hohen Reparaturanfälligkeit der meisten Geräte ab, so standen 1984 Rundfunk - und Fernsehgeräte in 96 von 100 Haushalten (1965 : nur 59 bzw. 24). Über Kühl - und Tiefkühlschränke verfügen inzwischen 91 von 100 Haushalten (1965 : nur 11). Dagegen gibt es weniger Waschmaschinen (70) und noch seltener Staubsauger (37), die den Alltag der sowjetischen Hausfrauen entlasten. Wohnungen sind in der Sowjetunion dagegen immer noch ein äußerst knappes Gut.“6 Dreizehnte Bemerkung : Gemäß dem in der bundesdeutschen Politikwissenschaft wahrscheinlich zweitpopulärsten Analyse - Ansatz des kommunistischen Systems, dem Sozialismus - Ansatz,7 befanden sich die kommunistischen Ostblockstaaten am Aufbau der sozialistischen Ordnung, wenngleich der Weg zum Ziel als mühsam betrachtet wurde. Diese Mühseligkeit änderte nichts am sonderbaren Optimismus hinsichtlich der Zukunft des Sozialismus in der DDR, den ein Tübinger Politikwissenschaftler im Jahre 1988 wiedergab : „Der Sozialismus sei keineswegs historisch abgegolten oder gar polemisch : obsolet geworden, son-

4 5 6 7

– als Beitrag zum „Handbook for Political Science“ ( Band 3) – bereits im Jahre 1975 erschienen war, in der Bundesrepublik erst in den 80er Jahren und nur indirekt rezipiert. Dazu haben vor allem Eckhard Jesse und Uwe Backes beigetragen. Vgl. dies., Totalitarismus. Extremismus. Terrorismus. Ein Literaturführer und Wegweiser zur Extremismusforschung in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1985, S. 89 f. Der Beitrag von Linz ist auf Deutsch erst fast ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung publiziert worden : ders., Totalitäre und autoritäre Regime. Hg. von Raimund Krämer, Berlin 2000. Vgl. etwa Günter Trautmann. Sowjetunion im Wandel. Wirtschaft, Politik und Kultur seit 1985, Darmstadt 1989, S. 45. Vgl. z. B. das seinerzeit beachtete Werk von Maria - Elisabeth Ruban, Wandel der Arbeitsund Lebensbedingungen der Sowjetunion 1955–1980. Planziele und Ergebnisse im Spiegelbild sozialer Indikatoren, Frankfurt a. M. 1983. Trautmann, Sowjetunion, S. 71. Der Autor berief sich auf Maria - Elisabeth Ruban. Zu den drei populärsten Analyse - Ansätzen der kommunistischen Ordnung – Totalitarismus, Sozialismus und Modernisierung – vgl. Jerzy Maćków, Totalitarismus und danach. Einführung in den Kommunismus und die postkommunistische Systemtransformation, Baden - Baden 2005, S. 23–30.

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dern enthalte [...] den Vorschein eines ‚Noch - Nicht‘, das trotz aller Widrigkeiten eine humane Perspektive als konkrete Utopie enthält – realisierbar vielleicht nicht morgen, aber doch übermorgen, womöglich, wenn auch bruchstückhaft, noch zu unseren Lebzeiten.“8 Mit „unseren Lebzeiten“ war das Leben der besser Geborenen gemeint, d. h. derjenigen, die von außen betrachten konnten, wie andere Völker auf die „konkrete Utopie“ zusteuern würden, dazu noch „bruchstückhaft“. Vierzehnte Bemerkung : Im Westen war in den 80er Jahren schon eine gewisse Renaissance des Totalitarismus - Begriffs nicht zu übersehen, wenngleich das nicht für die Bundesrepublik galt. Ähnlich dem zuvor vergessenen Terminus der bürgerlichen Gesellschaft ( civil society ) ist diese Wiederbelebung des Totalitarismus - Ansatzes auf eine Art begrifflichen Re - Import aus Mittel - und Osteuropa zurückzuführen9. Da die Krise der kommunistischen Ordnung spätestens seit dem Polnischen Sommer 1980 eigentlich unübersehbar war, wurde nämlich im illegalen antikommunistischen Diskurs ( und sogar in den kleinen Kreisen jener Kommunisten, die sich das Denken nicht ganz abgewöhnt hatten ) Mittel - , Ost - , Nordost - und Südosteuropas der wissenschaftlich - analytische Totalitarismus Begriff ebenso populär wie die Überzeugung, der Kommunismus sei nicht reformierbar. Fünfzehnte Bemerkung : Die Antikommunisten aus dem Ostblock benutzten den wissenschaftlichen Totalitarismus - Begriff viel unbefangener, als man dies in der Bundesrepublik tat, obwohl sie keine Politologen waren und die wissenschaftliche Totalitarismus - Literatur gar nicht oder bestenfalls in nicht immer repräsentativen Ausschnitten kennen lernen konnten. Es war für sie zwar selbstverständlich, dass die kommunistischen Massenmorde die gleiche moralische Qualität haben wie die nationalsozialistischen. In ihrem mittels der Emigrantenpresse und des Samizdats durchaus international geführten Diskurs10 wurde das Totalitäre des Kommunismus im ideologisch gerechtfertigten Anspruch auf die uneingeschränkte Herrschaft erkannt. Diesen Anspruch lehnten sie als anmaßend ab und erachteten ihn – übrigens nicht nur Christen – als die Ursache für das Böse der totalitären Ordnung. Die in der Altbundesrepublik weitestgehend verpönte Redewendung Ronald Reagans vom Kommunismus als einem „Imperium des Bösen“ fand daher bei ihnen eine große Zustimmung. In diesen Kreisen gilt der verstorbene amerikanische Präsident nach wie vor als eine Lichtfigur. 8 Gerd Meyer, Perspektiven des Sozialismus oder Sozialismus ohne Perspektive ? Entwicklungstendenzen und Widersprüche in der DDR - Gesellschaft. In : ders./ Jürgen Schröder ( Hg.), DDR heute. Wandlungstendenzen und Widersprüche einer sozialistischen DDR- Gesellschaft, Tübingen 1988, S. 11–37, hier 37. 9 Arpad Sölter, Zivilgesellschaft als demokratietheoretisches Konzept. In : Jahrbuch für Politik, 3 (1993) 1, S. 145–180, bes. 148. 10 Sehr wichtig war in diesem Zusammenhang die Zeitschrift „Kontinent“.

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Sechzehnte Bemerkung : Der Zusammenbruch des Kommunismus betraf zwei miteinander verwobene Dimensionen des Systems : die totalitäre und die imperiale. Der totalitäre Staats - und Gesellschaftsaufbau war für die Ineffizienz des Staates, der Wirtschaft und überhaupt der Gesellschaft verantwortlich. Er verhinderte zudem den vom „kapitalistischen Feind“ vorgemachten Übergang von der Industrie - zur Dienstleistungs - und Kommunikationsgesellschaft. Sobald das Zentrum des Imperiums – der Kreml – die Effizienzschwäche seines Systems offen zugab, erschütterte es damit dessen Legitimation, die ohnehin durch die zunehmende gesellschaftliche Unzufriedenheit mit der Systemleistung, noch zusätzlich gefördert durch den Generationenwechsel, angeschlagen war. Da die Peripherie bekanntlich von jeher Probleme mit dem Imperium und auch mit dessen Legitimierung mittels der totalitären Ideologie hatte, mussten Versuche, den Kommunismus zu reformieren, auch zwangsläufig das Imperium in Frage stellen. Siebzehnte Bemerkung : Die Systemkrise, die sich aus dieser Verschränkung von Totalitarismus und Imperium ergab, hatte einen existenziellen Charakter. Man hätte auf sie grundsätzlich entweder mit einem kontrollierten Systemwechsel oder mit einem Krieg reagieren können.11 Offenbar hat man im Kreml von der zweiten Variante ganz abgesehen und zunächst auf systemkonforme Reformen – „uskorenije“ und „perestrojka“ – gesetzt. Ihr schnelles und unausweichliches Scheitern nährte allerdings die Erkenntnis der sowjetischen Führungsspitze, dass das System doch nicht reformierbar war. Damit wurden die TotalitarismusTheorien, dessen Autoren seit Jahrzehnten das Gleiche behaupteten, erfolgreich verifiziert und der Totalitarismus - Ansatz ist zum intellektuellen Sieger des Kalten Krieges geworden. Achtzehnte Bemerkung : In Deutschland wird die „Osteuropa - Forschung“ kaum von politikwissenschaftlichen Theoretikern, sondern von den tatsächlichen Kennern der entsprechenden Länder betrieben.12 Von einem ihrer prominentesten Vertreter, Gerhard Simon, ist die Behauptung von Anfang der 90er Jahre bekannt, die „Osteuropa - Forschung“ habe versagt. Simon begründete seine Meinung damit, dass der Zusammenbruch des Kommunismus von ihm und sei11

Jerzy Maćków, Totalitarismus, S. 71 ff. Die existenzielle Krise des Kommunismus wurde im Polen der 80er Jahre sichtbar : Ein ineffizientes System, das über keinerlei Legitimation verfügte, das ausschließlich mit der Drohung der sowjetischen Intervention am Leben erhalten wurde. Dazu ders., Die Krise des Totalitarismus in Polen. Die Totalitarismus - Theorie als Analyse - Konzept des sowjetsozialistischen Staates, Münster 1992. 12 Zum beträchtlichen Teil handelt es sich um die ehemaligen Mitarbeiter des im Jahre 2000 unverständlicherweise aufgelösten Kölner Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien ( BIost ). Dass es sich hierbei kaum um Politikwissenschaftler handelt, dafür aber um herausragende Länderexperten, beweist nicht zuletzt der Sammelband : Zwischen Krise und Konsolidierung. Gefährdeter Systemwechsel im Osten Europas. Hg. vom Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Jahrbuch 1994/95, München 1995.

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nen Kollegen nicht vorhergesagt worden ist. Dies war eine methodologisch sehr gewagte Selbstkritik,13 die aber zu Recht darauf abzielte, dass selbst die Länderexperten das ganze Ausmaß der doch in den 80er Jahren sichtbaren existenziellen Krise des Kommunismus offenbar nicht wahrnehmen wollten. Neunzehnte Bemerkung : Auch die meisten bundesdeutschen Politikwissenschaftler, die jahrzehntelang den Totalitarismus - Ansatz als das „Konzept der Kalten Krieger“ bzw. der „Verharmlosung des Nationalsozialismus“ bekämpft hatten, haben sich in Bezug auf die Einschätzung der Zukunft des Kommunismus selbstverständlich geirrt. Was aber an ihrem Versagen wesentlich stärker ins Gewicht fällt, ist die Tatsache, dass der Großteil der deutschen Politikwissenschaft eben jahrzehntelang auf falsche Theorien gesetzt und somit das kommunistische System verklärt hat. Im Gegensatz zur Selbstkritik Simons formulierte zudem kein politikwissenschaftlicher Experte für Mittel - , Ost - , Nordost - und Südosteuropa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus eine Aussage, die nach kritischer Selbstbetrachtung geklungen hätte. Zwanzigste Bemerkung : In der deutschen Politikwissenschaft ist nach dem Zusammenbruch des Kommunismus eine Diskussion um dessen Analyse - Ansätze ausgeblieben. Die Fragen, inwiefern das kommunistische System sozialistisch bzw. ( und ) der Modernisierung verpflichtet war, wurden einfach nicht mehr erörtert. Man stellte sich auch nicht der Frage nach den Gründen für die größtenteils unzureichende empirische Qualität der politologischen Untersuchungen zum Kommunismus. Einundzwanzigste Bemerkung : Mit großem Eifer widmete sich die deutsche Politologie dagegen der neuen Forschungsrichtung zu, die sogleich „postkommunistische Transformationsforschung“ genannt wurde. Zum einen half der aus der ehemaligen DDR kommende Bedarf nach Wissen über Demokratie dabei, über das eigene Versagen, den die Entwicklung im 20. Jahrhundert bestimmenden Konflikt angemessen zu analysieren, hinwegzusehen. Zum anderen kam der deutschen Politologie die amerikanische Transitionsforschung zur Hilfe : Diese entdeckte nämlich die sogenannte dritte Demokratisierungswelle,14 die gleichermaßen die postautoritären Systeme Südeuropas, Südamerikas und Südasiens in den 70er und 80er Jahren wie die posttotolitären Systeme erfasst haben sollte. Die Theorien dieser angelsächsischen Forschungsrichtung wurden in Deutschland eifrig rezipiert, während eine Weiterentwicklung der besten Theorie des Kommunismus, der Totalitarismus - Theorie, für die Analyse des Postkommunismus ausgeblieben war.

13 Die Annahme ist keineswegs unumstritten, dass die Aufgabe des Wissenschaftlers darin bestehen sollte, verbindliche Aussagen über die Zukunft zu produzieren. 14 Samuel Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, Norman, OK 1991.

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Unter den Konklusionen des am häufigsten rezipierten politologischen Werkes, das der Demokratisierung der lateinamerikanischen und südeuropäischen Autoritarismen gewidmet ist, d. h. des im Jahre 1986 von Guillermo O’Donnell und Philippe C. Schmitter herausgegebenen Sammelbandes „Transitions from Authoritarian Rule“,15 steht ein Satz über die „fundamental provision“ dieses Systemübergangs : „during the transition, the property rights of the bourgeoise are inviolable.“16 Diese Erkenntnis, die der Befürchtung entsprang, die politische „Linke“ hätte der Transition zur Demokratie einen Bärendienst erweisen können, falls sie die Eigentumsverhältnisse zur Disposition stellen und den Aufbau des Sozialismus anstreben würde, hat offensichtlich nichts mit der postkommunistischen Systemtransformation zu tun. In den posttotalitären Ländern mussten doch sowohl die privaten Eigentumsverhältnisse als auch die Bourgeoise zunächst noch „herbeigezaubert“ werden. Diese Tatsache hat jedoch in Deutschland kaum jemanden davon abgehalten, die Erkenntnisse der amerikanischen Transitionsforschung bedenkenlos auf den Postkommunismus zu übertragen.17 Zweiundzwanzigste Bemerkung : Auch die Ansicht von Juan J. Linz, Alfred Stepan und Richard Gunther aus dem Jahre 1995, die wichtigste Erklärungsvariable der postkommunistischen Entwicklung sei das Wesen der alten, zu überwindenden Regime,18 ging in der kaum noch zu überschauenden Flut der politologischen Veröffentlichungen über „Demokratie in Osteuropa“ unter. Ähnliches betraf den von Vladimir Pastuchov geprägten Satz, die Zukunft Russlands komme aus der – vorkommunistischen – Vergangenheit,19 der einer Mahnung glich, bei der Postkommunismus - Analyse die historisch gewachsenen Entwicklungstrajektorien der betroffenen Länder und Regionen unbedingt zu berücksichtigen.

15 Guillermo O’Donnell / Philippe C. Schmitter ( Hg.), Transitions from Authoritarian Rule. Tentative Conclusions about Uncertain Democracies, Baltimore 1993. 16 Ebd., S. 69. 17 Symptomatisch ist dafür das Buch Gert - Joachim Glaeßners, Demokratie nach dem Ende des Kommunismus. Regimewechsel, Transition und Demokratisierung im Postkommunismus, Opladen 1994. Klaus von Beyme gehörte zu den wenigen politikwissenschaftlichen Gegnern des Totalitarismus - Ansatzes, die sich trotzdem – auf der empirischen Ebene – der Einmaligkeit der postkommunistischen Systemumwandlung bewusst waren. Vgl. ders., Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt a. M. 1994, S. 47–51. 18 Juan J. Linz / Alfred Stepan / Richard Gunther, Democratic Transition and Consolidation in Southern Europe, with Reflections on Latin America and Eastern Europe. In : Richard Gunther / P. Nikiforos Diamandouros / Hans - Jürgen Puhle ( Hg.), The Politics of Democratic Consolidation. Southern Europe in Comparative Perspective, Baltimore 1995, S. 77–123, hier 116. 19 Vladimir Pastuchov, Buduščee Rossii vyrastaet iz prošlogo. Postkomunizm kak logičeskaja faza razvitija evrazijskoj civilizacii. In : Polis, Nr. 5–6/1992, S. 59–74.

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Dreiundzwanzigste Bemerkung : Es wäre jedoch zu einfach, im Sinne von Linz, Stepan und Gunther das unterschiedliche Erbe des Kommunismus in verschiedenen Ländern für die recht unterschiedlichen Ergebnisse der Systemtransformation verantwortlich zu machen. Denn die „nationalen“ kommunistischen Systeme waren grundsätzlich gleicher Qualität, selbst wenn in Deutschland z. B. immer wieder behauptet wird, dass die totalitäre Herrschaft der DDR ungleich „härter“ gewesen sei als das angeblich lediglich autoritäre System der Volksrepublik Polen. Übersehen wird bei diesem Beispiel, dass der ostdeutsche Kommunismus bis 1961 viel liberaler als der Kommunismus in Polen war, weil die DDR damals eine de facto offene Grenze hatte, während es in Polen in der ersten Hälfte der 50er Jahre den Kommunisten sogar gelungen war, die katholische Kirche politisch zu unterwandern. Man kann noch unzählige solche Beispiele nennen, die belegen, dass der Kommunismus als totalitäres System in jedem Land des sowjetischen Blocks irgendwann gesiegt hat. Er hat erst als ein siegreiches System verschiedene nationale Ausprägungen erhalten, die sich wahrscheinlich am besten mit der länderspezifischen Stärke und den unterschiedlichen Ausprägungen des Nationalismus sowie der bürgerlichen Gesellschaft in der vorkommunistischen Zeit erklären lassen. Insofern gilt das Desiderat Pastuchovs, Geschichte zu studieren, auch für die Kommunismus - Forschung. Vierundzwanzigste Bemerkung : Das Erbe des Totalitarismus ist überall im Postkommunismus sehr ähnlich : – – – –

nur vorgetäuschte Rechtsstaatlichkeit, fehlende Autonomie von Wirtschaft und Politik, kaum Organisation sowie Passivität der Gesellschaft, gleichheitsorientierte Gesellschaften, d. h. Gesellschaften, die im politischen Bereich durchaus demokratische Erwartungen hegen. Diesbezüglich hat der Totalitarismus das Erbe der traditionellen Gesellschaft zumindest teilweise über wunden und somit auch etwas Demokratieförderndes hinterlassen.

Fünfundzwanzigste Bemerkung : Das vorkommunistische Erbe des früher totalitär erfassten Raumes ist – grob betrachtet – zweigeteilt. In Zentral - , Nordost und Südosteuropa war der westliche Pluralismus – je nach Land – zumindest ansatzweise vorhanden gewesen, weshalb der totalitäre Kommunismus dort wenig nennenswerte interne Ursprünge hatte. Dort sind die totalitären Staaten von der Sowjetunion meistens eingesetzt worden. Nach dem Kommunismus wiederum musste „lediglich“ eine „Rückkehr nach Europa“– zur Rechtsstaatlichkeit, zur Autonomie gesellschaftlicher Subsysteme ( darunter der Wirtschaftsautonomie ) und zum Meinungspluralismus – eingeleitet werden. Im geographischen Osteuropa war dagegen die von Pastuchov analysierte Hinterlassenschaft des Imperiums der Romanows bestimmend. Es ist ein dezidiert nicht - westliches, meistens auch ein anti - westliches Erbe, dessen Elemente die lediglich scheinbare Rechtsstaatlichkeit, der Vorrang der Politik gegenüber

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der Wirtschaft,20 die Schwäche der gesellschaftlichen Akteure sowie die staatlich eingeschränkte Meinungsvielfalt gewesen sind. Es ist kein Zufall, dass der Totalitarismus in diesen, entscheidend vom Zarenreich geprägten Ländern einen endogenen Charakter hatte und erst von dort aus nach Mittel - , Nordost - und Südosteuropa zwangsexportiert wurde. Es verwundert auch nicht, dass Osteuropa nach dem Ende des Totalitarismus nur teilweise „nach Europa“ zurückkehrt, und zwar in jenen Regionen, die – wie der Raum „in between“ zwischen Russland und der EU – nicht nur eine russische Vergangenheit haben.21 Sechsundzwanzigste Bemerkung : Da man in der Transformationsforschung sehr selten bereit bzw. imstande war, sowohl die historisch gewachsenen politischen und gesellschaftlichen Strukturen als auch die vielfältige Hinterlassenschaft des kommunistischen Regimes in die Analyse einzubeziehen, war die zeitweilige Verengung dieser Forschungsrichtung auf die politischen Institutionen unvermeidbar.22 Sehr viele Politologen haben sich zudem Anfang der 90er Jahre in atemberaubendem Tempo noch die volkswirtschaftliche Kompetenz „angeeignet“ : Unter Rückgriff auf wirtschaftliche Statistiken ( vorzugsweise den Anteil des Privatsektors in der Volkswirtschaft und das Wachstumstempo betreffend ) räsonierten sie über die vermeintlich beste Strategie, wie die zentrale Plan - in die Marktwirtschaft überführt werden sollte ( wobei in Deutschland die Analyse nicht selten in eine etwas gönnerhafte Bewertung der ökonomischen Neupositionierung der durch den Totalitarismus ökonomisch ruinierten Länder anhand der idealisierten „sozialen Marktwirtschaft“ ausartete ). Dabei ist freilich kein Beweis dafür erbracht worden, dass das angemessene Verständnis des 20 Man braucht mit der Einschätzung Ernest Gellners nicht übereinzustimmen, dass in der westlichen ( bürgerlichen ) Welt „die Wirtschaft nicht nur selbstständig, sondern sogar dominierend ist und den Staat als ihren rechenschaftspflichtigen Angestellten behandelt“, um die herausragende Rolle der freien Wirtschaft für die individuelle Freiheit zu erkennen. Siehe ders., Die Bedingungen der Freiheit. Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen, Stuttgart 1995, S. 223. Zum Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft vgl. Jerzy Maćków, Am Rande Europas ? Nation, Zivilgesellschaft und außenpolitische Integration in Belarus, Litauen, Polen, Russland und der Ukraine, Freiburg 2004, S. 30–41. 21 Das schließt freilich langfristig eine Europäisierung ( im Sinne der Verwestlichung ) Russlands nicht aus. 22 Dies erklärt die seinerzeit rege Rezeption der Werke, in denen das „konstitutionelle Design“ der postkommunistischen Systeme analysiert wurde, in der deutschen Politologie. Zu diesen Werken gehörten vor allem : Juan J. Linz / Arturo Valenzuela ( Hg.), The Failure of Presidential Democracy, Baltimore 1994; Jon Elster / Claus Offe / Ulrich K. Preuss, Institutional Design in Post - communist Societies. Rebuildling the Ship at Sea, Cambridge 1998. Als deutsches Beispiel kann der Sammelband fungierten Wolfgang Merkel / Eberhard Sandschneider / Dieter Segert ( Hg.), Systemwechsel 2. Die Institutionalisierung der Demokratie, Opladen 1996. Dass das kommunistische Erbe der Versammlungsregierung die postkommunistischen Staaten ohnehin auf die Spur der parlamentarischen Regierungssysteme gebracht hat, die auch mit dem Autoritarismus durchaus „kompatibel“ sein können, wurde allerdings nicht erkannt. Vgl. Jerzy Maćków, Parlamentarische Demokratie und Autoritarismus. Erfolge und Misserfolge der postkommunistischen Verfassunggebung, Hamburg 1998.

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Posttotalitarismus mit einer Demokratie - oder einer Markt - Theorie vermittelt werden kann. Siebenundzwanzigste Bemerkung : Wegen ihrer voreingenommenen – teleologischen – Sicht, die postkommunistische Systemtransformation führe unausweichlich zur Demokratie, läuft die politologische Transformationsforschung der Entwicklung stets hinterher, statt ihre Forschungsschwerpunkte selbst zu bestimmen. Nach dem Aufbau der neuen, postkommunistischen Regierungssysteme brauchte sie Jahre, um festzustellen, dass der institutionelle Neuaufbau keineswegs automatisch in eine Demokratie mündet. Deshalb wendete sie sich der Problematik der Zivilgesellschaft zu, weil sie in deren schwacher Ausprägung die Ursache für die „Demokratiedefizite“ der betroffenen Staaten zu erkennen glaubte.23 Dann wurde sie überrascht von der Erkenntnis, dass selbst in den als erfolgreich eingeschätzten postkommunistischen Demokratien die bürgerliche Gesellschaft doch bestenfalls unterentwickelt ist. Danach wurde sie mit dem offensichtlichen Umstand konfrontiert, dass die „demokratischen Defizite“ der neuen Systeme der gescheiterten Demokratisierung nicht bloß Defizite – wie die Schwächen der italienischen Demokratie unter Silvio Berlusconi – sind, sondern feste Eigenschaften des Autoritarismus darstellen. Dann wurde sie noch völlig unerwartet mit einem starken Populismus gerade in vielen postkommunistischen Demokratien konfrontiert. All diese Probleme konnte sie ohne den dem Postkommunismus gerecht werdenden theoretischen Hintergrund lediglich konstatieren. Achtundzwanzigste Bemerkung : Die Besonderheiten der posttotalitären Modernisierung – eines Prozesses, der für jeden, der sehen will, ebenso auffällig ist, wie es die Systemkrise des Kommunismus vor gut zwei Jahrzehnten war – werden in der deutschen Politikwissenschaft in etwa so vernachlässigt wie die vermeintlich positiven Folgen der pathologischen Modernisierung im Kommunismus24 überbewertet wurden. Dies gilt insbesondere für den erstaunlichen Kulturwandel der postkommunistischen Gesellschaften, der letzten Endes für die politischen Entwicklungen bestimmend ist. Neunundzwanzigste Bemerkung : So wie früher die kommunistischen Staaten zu autoritären Systemen verklärt worden sind, werden heutzutage viele Staaten der gescheiterten Demokratisierung nicht als autoritär, sondern als defizitäre Demokratien bzw. „hybride Systeme“ verklärt. Denn wenn der Kommunismus autoritär war und sich nach seinem Zusammenbruch fast überall der neue Raum für Freiheiten geöffnet hat, dann liegt der Schluss nahe, dass dieser neue Raum die 23 Wolfgang Merkel unter Mitarbeit von Christiana Henkes ( Hg.), Systemwechsel 5. Zivilgesellschaft und Transformation, Opladen 2000. 24 Pathologisch sind an der kommunistischen Modernisierung : Urbanisierung ohne bürgerliche städtische Infrastruktur („Trabantenstädte“), Industrialisierung auf der Grundlage obsoleter Technologien und Alphabetisierung ohne Meinungsfreiheit.

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Demokratie darstellt. Geht man aber vom Kommunismus als einem totalitären System aus, dann muss nach der Aufgabe des totalitären Herrschaftsanspruchs zumindest zeitweilig ein System des eingeschränkten politischen Pluralismus mit der benachteiligten Opposition – ein Autoritarismus also – aufgetreten sein. Dieser wurde im Laufe der Transformation entweder in Demokratie umgewandelt oder, wie etwa in Russland und Belarus, perpetuiert.25 Dreißigste Bemerkung : Im Großen und Ganzen versagt also die politologische Transformationsforschung, und zwar aufgrund sowohl ihrer theoretischen Unzulänglichkeiten als auch der sich leider fortsetzenden empirischen Defizite. Heute gibt es aber im Gegensatz zu früher nicht mehr die Chance, dass aus den intellektuellen und politischen Kreisen Mittel - , Ost - , Südost - und Nordosteuropas die im Westen verdrängten, aber wichtigen Analyse - Konzepte bzw. Theoreme „re - importiert“ werden könnten. Diese Konzepte und Theoreme gibt es nämlich ebenso wenig wie die Politikwissenschaft in den Ländern der genannten Regionen. Sieht man von einzelnen Wissenschaftlern ab, ist der Aufbau des Fachs Politologie im postkommunistischen Raum ebenso gescheitert wie der Großteil der politikwissenschaftlichen Transformationsforschung in der Bundesrepublik.

25 Zur systematischen Analyse dieses Autoritarismus vgl. Jerzy Maćków ( Hg.), Autoritarismus in Mittel - und Osteuropa, Wiesbaden 2009, S. 55–13.

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II. Die Spezifik des Systemwechsels: Zur Rolle von Massen und Eliten

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Polens Weg zum Wechsel 1980–1989 : Der Wandel des Verhältnisses zwischen Elite und Massen Dieter Bingen

1.

Die Rolle von Massen und Eliten in der Transformationsphase – ein kurzer Blick auf Forschungsfragen

In der 2009 erschienenen erweiterten Auf lage der zu einem deutschsprachigen Standardwerk avancierten Einführung in die politikwissenschaftliche Transformationsforschung leitete deren Autor Wolfgang Merkel das Kapitel „Die Rolle der Massen und Eliten in der Transformationsliteratur“ mit folgenden Bemerkungen ein : „Es überrascht nur wenig, dass der Bedeutung von Akteuren im Verlaufe eines Systemwechsels von den funktionalistisch, strukturalistisch oder akteurstheoretisch inspirierten Ansätzen der Transformationsforschung unterschiedliches Gewicht beigemessen wird. Wo aber den Akteuren in der Transformationsforschung eine besondere Rolle zugeschrieben wird, gibt es eine klare herrschende Meinung : Die Eliten sind die überragenden Akteure, die Massen meist nur eine abhängige soziale Kategorie, die je nach Problemlage, Regimeart, Machtkontext und Transformationsphase von den Eliten mobilisiert oder demobilisiert werden.“1 In der nordamerikanischen Transformations - und Elitenforschung werden Elitenpakte und Elitenübereinkommen ( elite settlements ) als eigentlicher Gründungsakt der Demokratie gesehen.2 Kommen sie zustande, bestehen gute Durchsetzungschancen für die Demokratie. In den Transformationsprozessen der dritten Demokratisierungswelle im 20. Jahrhundert ( Südeuropa, Lateinamerika, Ost - und Südostasien, Mittel - und Osteuropa ) ließ sich zunächst unabhängig von ihrem spezifischen Transitionsmodus die allgemeine Tendenz feststellen, dass die Mobilisierung der Massen und die Bedeutung sozialer Bewegungen am stärksten in der Anfangsphase von Systemwechseln waren. Der Höhepunkt der kollektiven Mobilisierungen erfolgte in der Regel in der Endphase des autoritären Regimes und zu Beginn der Institutionalisierung der Demokratie. In dieser Phase erweitern und verengen Massenmobilisierungen die Handlungsoptio1 2

Wolfgang Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, 2. Auf lage Wiesbaden 2010, S. 89. Vgl. Guillermo O’Donnell / Philippe C. Schmitter, Transition from Authoritarian Rule. Tentative Conclusions about Uncertain Democracies, Baltimore 1986, S. 37 f.

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nen der unterschiedlichen Elitengruppen meist in signifikanter Weise. Sind die Massen als soziale Bewegungen hoch mobilisiert, können sie in diesem frühen Abschnitt des Systemwechsels zeitweise sogar die Agenda der Transformation weitgehend beeinflussen.3 Polen war in der ostmitteleuropäischen Demokratisierungswelle zweifelsohne das herausragende Beispiel, was Umfang, Dauer und Durchsetzungsfähigkeit der Massenselbstmobilisierung und - organisation betraf. Der Höhepunkt gesellschaftlicher Mobilisierung bricht sich nach diesem Modell, das von der politischen Realität überwiegend verifiziert wurde, am Ende der Transitions - bzw. Demokratisierungsphase in der Regel an der verfassungsmäßigen Etablierung der demokratischen Institutionen. Schon die Aushandlung der neuen Verfassung vollzieht sich meist als ein elitenzentrierter und insofern exklusiver Prozess. Das „zivilgesellschaftliche Fenster der Gelegenheiten“ schließt sich im Übergang von der Demokratisierung zur demokratischen Konsolidierung4 wieder rasch bis auf einen kleinen Spalt.5

2.

Das polnische Beispiel an Umfang, Dauer und Differenzierung

Wenn sich in akuten Krisensituationen eines autoritären Systems zwischen Regimeeliten und Regimeopposition eine Pattsituation herauskristallisiert und keine Seite die Möglichkeit besitzt, einseitig die Modalitäten der zukünftigen politischen Herrschaft zu definieren, kommt es – vorausgesetzt, beide Seiten reagieren „rational“ – zu Verhandlungen über eine neue politische Herrschaftsform. Auf die Phase der erfolglosen Liberalisierung innerhalb des autoritären Systems, d. h. kontrollierter politischer Öffnung ohne Veränderung der realen Machtverhältnisse, folgt die Phase der Aushandlung einer kontrollierten qualitativen Veränderung des Systems, ohne dass die neuen Regeln der Machtverteilung den Spielern bekannt wären.6 Diese Situation hatte sich im Jahre 1988 im spätkommunistischen Polen herausgebildet. Regime und Opposition sahen beide keine erfolgversprechende Möglichkeit, ihre Interessen mit Gewalt gegen die andere Seite durchzusetzen. Wie im Lehrbuch skizziert, kam es in Polen zu Verhandlungen, die in „Transformationspakten“ mündeten. Polen gilt deshalb für Ostmitteleuropa als das Paradebeispiel einer „pacted transition“ ( Linz / Stepan ), d. h. eines „ausgehandelten Systemwechsels“.7 3 4

5 6 7

Merkel, Systemtransformation, S. 91. Vgl. zu den unterschiedlichen Konzepten des Übergangs von der Transitionsphase zur demokratischen Konsolidierungsphase Fritz Plasser / Peter A. Ulram / Harald Waldrauch, Politischer Kultur wandel in Ost - Mitteleuropa. Theorie und Empirie demokratischer Konsolidierung, Opladen 1997, S. 24 ff. Ellen Bos, Verfassungsgebung und Systemwechsel. Die Institutionalisierung von Demokratie im postsozialistischen Europa, Wiesbaden 2004, S. 34 f. Ebd., S. 32 f. Adam Przeworski, Democracy and the Market. Political and Economic Reforms in Eastern Europe and Latin America, Cambridge 1991, S. 78; deutsche Kurzfassung : ders., Spiel mit Einsatz. Demokratisierungsprozesse in Lateinamerika, Osteuropa und anders-

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Polens Weg zum Wechsel

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Die lange Phase der politischen Transformation begann in Polen im Jahre 1980 mit einer ersten Liberalisierungsphase des kommunistisch - diktatorischen Systems. Im Fokus der Beobachtung steht der politischen Natur gemäß die Solidarność. Für den demokratischen Umbruch in Polen war die Gewerkschaft, gesellschaftliche und politische Bewegung seit 1980, das Synonym für die entscheidende Bedeutung, welche die organisierte Masse in der Transition besaß.8 Demnach ist mit Blick auf die Phasen der Transition in Polen der Zeitraum auszuweiten von den wenigen Monaten von Herbst 1988 ( erste Begegnung Kiszczak - Wałęsa ) bis August 1989 ( Wahl des nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Mazowiecki ) auf einen Zeitraum von neun Jahren (1980–81 Liberalisierung, 1982–84 autoritär - bürokratisches Armee - Regime, 1985–88 Liberalisierung, 1989 Demokratisierung ). Was sich in den Nachbarländern im Verlauf von wenigen Monaten oder gar Wochen vollzog, der Verlust bzw. die Übergabe der Macht, über deren Vollständigkeit bis heute wissenschaftlich und politisch gestritten wird, an die Opponenten gegen das alte System, das hatte in Polen einen Vorlauf, der mit der Etablierung der „Unabhängigen Selbstver walteten Gewerkschaft Solidarność“ im September 1980 begann.9 Eine Randbemerkung sei erlaubt. Darunter leiden nicht Wenige in Polen bis heute : Es fehlt eine Ikone des Systemsturzes, ein Symbol, das Datum, das sich für immer einprägende Bild, das die Deutschen mit der entscheidenden Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober 1989 oder mit dem Mauerfall am 9. November 1989 besitzen, die Ungarn mit der Umbettung und dem nachgeholten Staatsbegräbnis für Imre Nagy am 16. Juni 1989 oder die Tschechen mit dem – allerdings weitgehend – vergessenen 17. November 1989. 1980 war das Präludium für 1988–89, das Thema aber wurde 1989 variiert, die Akteure auf beiden Seiten hatten ihre organisatorische Qualität verändert. Solidarność 1989 war nicht die Solidarność von 1980, die Staatspartei war 1988 in einem anderen Zustand als 1980, das politische System war 1988 seit acht Jahren in Auf lösung begriffen, auch wenn über drei Jahre von 1985 bis 1987 der Anschein von kleiner Stabilisierung hatte entstehen können. Die Unterschiedlichkeit zwischen der Machtfrage in den Jahren 1980/81 und 1988/89 gibt auch eine vorläufige Antwort auf die Frage nach der Bedeutung von Massen und Elite im Transformationsprozess. 1980/81 ging es

8

9

wo. In : Transit. Europäische Revue, 1/1990, S. 190–211, hier 196 f.; Juan J. Linz / Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America, and Post - Communist Europe, Baltimore 1996, S. 264; Klaus von Beyme, Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt a. M. 1994, S. 94. Vgl. Ireneusz Krzemiński, Solidarność – organizacja polskich nadziei ( Solidarność – eine Organisation polnischer Hoffnungen ). In : Solidarność – wydarzenia, konsekwencje, pamięć. Red. Barbara Gruszka, Warszawa 2006, S. 13–34; Marek Latoszek, „Solidarity“ – A Contribution to Social Movement Theory. In : Polish Sociological Revue, 1 (153) 2006, S. 39–53. Vgl. die ausführlichste deutschsprachige Darstellung von Hartmut Kühn, Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980–1990, Berlin 1999, und die immer noch lesenswerte Studie von Jerzy Holzer, „Solidarität“. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. Hg. von Hans Henning Hahn, München 1985.

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den Herausforderern des realsozialistischen Systems in Gestalt einer Massenstreikbewegung, die in eine gesellschaftlich - politische Massenbewegung mit knapp zehn Millionen Mitgliedern mündete, um die Einhegung der Macht und die für die Autokratie tödliche Herausforderung einer Doppelherrschaft im Rahmen einer Liberalisierung. 1988/89 ging es der Elite mit weit geringerer Massenunterstützung um einen, wenn auch unvollständigen, Elitenwechsel bzw. die Einführung einer Demokratie auf Raten. Mit der Einheit von Arbeitern, Intelligenz und Bauern war die kommunistische Partei, die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei ( PVAP ), im Sommer 1980 als vermeintliche Repräsentantin der egalité angeschlagen. Die Herausforderer der kommunistischen Diktatur der Arbeiterklasse hielten dieser den Spiegel auf der ideologisch - teleologischen Ebene vor. Egalitäre, sozialistische Prinzipien – es genügt ein Blick auf die 21 Forderungen der streikenden Arbeiter im August 198010 – wurden offensichtlich von der Solidarność vertreten, nicht aber von der Privilegien verteilenden kommunistischen Kaste. In den Sozialwissenschaften wird seit fast dreißig Jahren die Kontroverse geführt, ob Arbeiter oder Intellektuelle die entscheidende Rolle in dem polnischen Transformationsprozess spielten.11 In Wirklichkeit waren Elite und Massen 1980 und 1989 aufeinander angewiesen. Die Intellektuellen hatten schon 1976 erkannt, dass sie die Arbeitermassen brauchten, um einen Umsturz der Verhältnisse auf längere Sicht zu bewirken. Und sie gründeten das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter ( Komitet Obrony Robotników – KOR ). Andererseits, die Inteligenjca war nichts ohne die Arbeiter. Sie hätte sich ohne die freie Gewerkschaftsbewegung im Untergrund nicht mit Aussicht auf irgendeinen mittelfristigen Erfolg in die Herausforderung des staatssozialistischen Apparats begeben. Der Soziologe Roman Łaba beschrieb die 1980 entstandene Bewegung Solidarność als eine breite Front aller polnischen Bürger, als „eine strategische Allianz von Intellektuellen, Angestellten, Arbeitern und Bauern, die zu großen Teilen auf den Verhandlungserfolgen beruhte, die an der Ostseeküste von Arbeitern erreicht worden waren. Ohne die Intellektuellen hätte es keine Solidarność gegeben, doch die Solidarność, der sie beitraten, beruhte auf Rahmenbedingungen, die von Arbeitern geschaffen wurden.“12 Das charakteristischste Merkmal von Solidarność war, dass sie eine Bewegung war, in der Arbeiter und Intellektuelle – und viele beruf liche oder gesellschaftliche Gruppierungen „dazwischen“ – zusammenarbeiteten und im besten Sinne friedliche, würdevolle Massenmobilisierung mit geschickten hochrangig besetzten Verhandlungen verknüpften. Es 10 Kühn, Das Jahrzehnt der Solidarność , S. 29–31. 11 Vgl. Michael D. Kennedy, Professionals, Power and Solidarity in Poland. A critical sociology of Soviet - type society, Cambridge 1991; David Ost, Solidarity and the Politics of Anti - Politics. Opposition and Reform in Poland since 1968, Philadelphia 1990; Jadwiga Staniszkis, Poland’s Self - Limiting Revolution, Princeton, N. J. 1984. 12 Roman Łaba, The Roots of Solidarity. A Political Sociology of Poland’s Working - Class Democratization, Princeton, N. J. 1991.

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war Lech Wałęsa, der im August 1980 die Intellektuellen Tadeusz Mazowiecki und Bronisław Geremek bat, auf der Lenin - Werft zu bleiben und den Streikenden in ihren Verhandlungen mit den Behörden beizustehen, und es war Wałęsa, der darauf bestand, dass auch die KOR - Aktivisten aus den Gefängnissen entlassen werden müssen.13 Roman Łaba stellt in einem anregenden Vergleich zu der Feststellung von Barrington Moore, der in einer ersten Antwort auf die modernisierungstheoretische Vernachlässigung der handelnden Akteure in einem auf soziale Klassen fixierten neomarxistischen Ansatz auf die Akteurebene im Systemwandel abhob, fest, dass es die aussterbenden Klassen gewesen seien, die in Polen revolutionär wurden. Polens Arbeiterklasse in den 70er Jahren sei ein Proletariat des 19. Jahrhunderts in einem Staat des 20. Jahrhunderts gewesen. Von daher sei nicht nur Solidarność, diese einzigartige soziale und politische Bewegung, eine Sache der Vergangenheit, sondern auch die besondere Klassenstruktur Polens, diese einmalige „Gesellschaft“, deren Vertreter zu sein, Solidarność den Anspruch hatte; eine gespaltene Gesellschaft, die sich dennoch als Einheit gegenüber der fremden „Macht“ verstand.14 Aber auch die Intelligenz mit ihrem Ethos, das in vieler Hinsicht noch immer dem 19. Jahrhundert angehörte, und ihrer auch systembedingten Version der edlen Gleichheit konnte nur beschädigt im neuen, modernen, westlichen Polen ankommen. Ihre Niederlage erlitt sie nur ein gutes Jahr nach dem historischen Sieg von 1989 in den Präsidentenwahlen im Herbst 1990, als Tadeusz Mazowiecki eine harsche Niederlage nicht nur gegen Lech Wałęsa einfuhr, der sich als Antipode zu den Intellektuellen der Demokratiebewegung profiliert hatte, sondern auch eine demütigende Niederlage gegenüber dem schillernden Mann aus dem Nichts, Stanisław Tyminski, einstecken musste und bereits im ersten Wahlgang zu den Präsidentenwahlen ausgeschieden war, die keinem der Kandidaten die absolute Mehrheit der Stimmen gebracht hatte. Aber zurück zur Situation 1988. Wie 1980 waren auch 1988 die Streiks eine notwendige Kulisse, ja sie waren sogar die unmittelbaren Auslöser für die Liberalisierungs - bzw. Demokratisierungsschritte der Softliner und derjenigen im Machtapparat, die sich aufgrund ihrer Informationskanäle ein realistisches Bild der Erosion der Macht von unten machen konnten. Das waren 1988 General Wojciech Jaruzelski und die Herren über den gesamten Sicherheitsapparat ( General Kiszczak, General Pożoga ). So kam es zu der Einladung des Innenministers General Czesław Kiszczak an den Runden Tisch. 1988/89 war es aber im Unterschied zu den Verhandlungen mit den streikenden Arbeitern im Sommer 1980 die Intelligenz, die auch im Vordergrund sichtbar das Heft in der Hand hatte. Arbeiterführer waren am Runden Tisch erwünscht, die Verhandlungen wurden aber von Experten, Politikern,

13 Timothy Garton Ash, Solidarność – eine Sache der Vergangenheit. In : Transit. Europäische Revue, 2/1991, S. 47–69, hier 55. 14 Barrington Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie, Frankfurt a. M. 1969, S. 475 ff.; Łaba, The Roots of Solidarity.

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Professoren geführt.15 Es waren acht Jahre ins Land gegangen. Nicht die Erneuerung des Sozialismus, oder seine schlichte provisorische Reparatur bis zu einem irgendwann anstehenden Zusammenbruch des Sowjetsystems in Russland, stand auf der Tagesordnung der Moderaten auf der Seite der Opposition, wie es 1980 noch der Fall war, sondern seine geordnete Abschaffung wurde verhandelt, auch wenn sich die Oppositionsseite am Runden Tisch für eine unbestimmte Übergangszeit noch auf Machtgarantien für die regierenden Kommunisten einließ und die Partei sich in der Illusion wog, wesentliche Teile politischer Kontrollfunktionen – demokratisch legitimiert – in einen Systemzustand neuen Typs hinüberretten zu können : „This illusion saved us from the Rumanian experience. If the Party leadership realized how weak it was, there would never have been the roundtable talks and peaceful change“,16 behauptete später Aleksander Kwaśniewski, der 1989 einer der Hauptverhandlungsführer auf Seiten der Partei war. Die herrschende und regierende Partei selbst hatte sich schon der Marktwirtschaft verschrieben, die Arbeitslosigkeit war kein Tabu bei den 1987 eingeleiteten ( und gegenüber 1982 radikaleren ) Wirtschaftsreformen gewesen. Egalitarismus war für die Wirtschaftsreformer aus dem PVAP - Umfeld out. Die Arbeiterklasse hatte als ideologisches Schibboleth ausgedient. Auch Polens Kommunisten träumten schon von Aktien und Börsen.17 Andererseits, als Drohkulisse eines Kollapses des sozialistischen Gewaltmonopols war Solidarność noch notwendig. Aber die Rollen waren 1988/89 anders verteilt als 1980/81. Der Gewerkschaftsführer Wałęsa brachte den Stein ins Rollen in dem legendären TV - Streitgespräch mit dem Vorsitzenden der regimenahen Gewerkschaften OPZZ, Alfred Miodowicz, am 30. November 1988, aber danach waren die Experten gefordert, die Finessen des geordneten Übergangs an - zig Tischen und Untertischen auszuhandeln. Und auch der Inhalt des Auszuhandelnden war nicht Einheit, Gleichheit, Solidarität, „wir“ gegen „sie“ ( auch „sie“ waren nicht mehr das, was „sie“ 1980/81 waren ), sondern das Ende des Dualismus – Massen hier, Macht da –, jetzt waren Differenz, Teilung, Gleichgewicht, Individualisierung angesagt. Massendemonstrationen hätten jetzt nur noch gestört. Es war aber auch ganz einfach die Motivation nicht mehr da, die 1980 Millionen gelenkt hatte. Nicht nur das System war am Ende, auch die ganze Gesellschaft litt unter einer Art Burnout - Syndrom. Jetzt musste Vernunft anderer Qualität bewiesen werden, nämlich, dass die neuen Demokraten aus der Intellektuellengruppe der Solidarność es besser machen konnten, wenn sie den Staat übernahmen, oder mindes15 Vgl. Samuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, Norman 1993, S. 167. 16 Wiktor Osiatynski, The Roundtable Talks in Poland. In : The Roundtable Talks and the Breakdown of Communism, Chicago 1996, S. 21–68, hier 26. 17 Wiesław Gumuła, Teoria osobliwości społecznych. Zaskakująca transformacja w Polsce ( Theorie gesellschaftlicher Raritäten. Verblüffende Transformation in Polen ), Warszawa 2008, S. 190.

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tens ein „burden sharing“ ausgehandelt werden sollte. Und irgendwie wussten auch die Massen, dass es zwar auch um sie ging, dass aber erst einmal ein Regelmechanismus ausgearbeitet werden musste, der die Voraussetzungen für wirtschaftliche Entwicklung und Arbeit schaffen konnte, dass man jetzt aber nicht für die Wurst demonstrieren durfte. Das war schon acht Jahre zuvor geschehen – und der Kaiser bzw. die Partei des Kaisers war damals schon nackt gewesen.

3.

Letztes Vorspiel 1988 und der letzte Dienst der Solidarność als gesellschaftliche Bewegung

Warnsignale hatte es nach einer kurzfristigen Entspannung im Herbst 1986 (Freilassung aller politischen Gefangenen und Ankündigung neuer Konsultationsorgane ) im Jahr 1987 und in den ersten Monaten 1988 genug gegeben. Die polnischen Massenmedien und die Meinungsforschungsinstitute registrierten eine von Monat zu Monat zunehmende Unzufriedenheit und Zukunftsangst in weiten Kreisen der Gesellschaft. In der Presse war die Rede von dem „Gefühl, von einer zivilisatorischen Degradation bedroht zu sein, dem Gefühl der Sinnlosigkeit und der Monetarisierung des Bewusstseins“18 – eine Folge des dramatischen Kaufkraftverlusts des Zloty. Die nach sechs Jahren weitgehend erfolglos gebliebener Wirtschaftsreformen vorherrschende Gemütsverfassung sei Erschöpfung und Unruhe. Polen sei überhaupt ein erschöpftes Land geworden. Vor allem ermüde das Gefühl der Perspektivlosigkeit, konstatierte die offiziell von der Partei kontrollierte Wochenzeitung „Polityka“ im Frühjahr 1988.19 In der repräsentativen soziologischen Untersuchung „Polen ’88“ hieß es, dass Anfang 1988 über 84 Prozent der Befragten glaubten, „dass ein grundlegender Wandel zum Besseren in Polen nur erreicht werden kann, wenn die Autoritäten mit der Gesellschaft eine Übereinkunft finden“. Zugleich sahen fast 70 Prozent „keinen Sinn darin, einen grundlegenden Wandel zu erwarten“.20 Ein alarmierendes Signal für die Jaruzelski - Gruppe waren die Ereignisse im April und Mai 1988. Es gab zwar keinen Massenprotest, es streikten nicht Millionen Arbeiter, sondern nur einige Tausend. Die Lunte glimmte trotzdem. In den zurückliegenden Monaten waren Arbeitsniederlegungen nach Preisanhebungen bei Nahrungsmitteln und Energieträgern zwischen 40 und 200 Prozent mit der Zusage von Lohnerhöhungen beendet worden. Im April und Mai 1988 18 Mirosława Marody, „Awans i krach“ ( Aufstieg und Zusammenbruch ). In : Polityka vom 30. 4. 1988. 19 „Zmęczenie materiału“ ( Materialermüdung ). In : Polityka vom 14. 5. 1988. 20 Władysław Adamski u. a., „Polacy ’88. Konflikty i reformy“ ( Polen ’88. Konflikte und Reformen ). In : Polityka vom 23. 7. 1988; Edmund Wnuk - Lipiński, Nastroje społeczne w latach 1986–1989 ( Gesellschaftliche Stimmungen 1986–1989). In : Polska 1986– 1989: koniec systemu. Materiały międzynarodowej konferencji. Miedzeszyn, 21–23 pażdziernika 1999. Tom 1 Referaty. Red. : Paweł Machcewicz, Warszawa 2002, S. 13– 28.

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erreichte der Unmut eine neue Qualität. Streikbereitschaft griff auf Großbetriebe über, die mit der Industrialisierung Polens und zugleich mit den zyklischen Konflikten zwischen Arbeiterpartei und Arbeiterschaft assoziiert wurden und in denen die Solidarność besonders stark war ( Leninhütte in Nowa Huta, Leninwerft in Danzig, Ursus - Traktorenwerk in Warschau ).21 Im August 1988 kam es zur zweiten Streikwelle des Jahres. Begonnen hatte sie am 15. August damit, dass 500 Bergleute der Nachtschicht in der oberschlesischen Steinkohlengrube „Manifest Lipcowy“ in Jastrzębie bei Kattowitz ihre Arbeit nicht aufnahmen und einen Streik verkündeten. Die Organisatoren formulierten 21 Forderungen – wie die Danziger Streikenden acht Jahre zuvor – zur Verbesserung der Arbeits - und Lebensbedingungen der Bergleute. Das brisanteste, weil das monistische System herausfordernde Verlangen war die Wiederzulassung der Gewerkschaft „Solidarność“, also der Gewerkschaftspluralismus. Die Streiks weiteten sich in dem folgenden Tagen über das oberschlesische Kohlenrevier aus, in dem zwölf von 68 Zechen bestreikt wurden. Am 17. August griff die Streikbewegung auf die Küste über. Mit dem Streik in der Danziger Lenin - Werft trat die „wilde“ Streikaktion am 22. August in eine für die Jaruzelski - Führung gefährliche Phase.22 Kennzeichnend für die Arbeitsniederlegungen war, dass sich ihnen nicht die gesamten Belegschaften der bestreikten Betriebe anschlossen, sondern vor allem junge Arbeiter der Nach - Solidarność - Generation.23 Die Auguststreiks waren Ausdruck des Protests gegen die hoffnungslose Wirtschafts - und Versorgungslage und des Versagens des bisherigen Instrumentariums politischer Steuerung seitens der Jaruzelski - Führung. Ihr drohte ganz einfach die Kontrolle über die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ereignisse zu entgleiten, wollte sie nicht zu Mitteln des politischen Terrors greifen. In dem kleinen informellen Führungszirkel um General Jaruzelski ( Stanisław Ciosek, Czesław Kiszczak, Władysław Pożoga ) machte sich die Einsicht breit, dass mit Konsultationsmodellen der Inklusion oppositioneller Elite - Persönlichkeiten ohne direkte politische Mitentscheidung der pluralistischen Gesellschaft, also durch Isolierung der Oppositionselite von den Massen bzw. von der für illegal erklärten Solidarność, ein Ausweg aus der Gefahr einer Anarchisierung des Landes nicht zu finden war.24 Timothy Garton Ash bezeichnete den Sommer 1988 als den letzten Augenblick, in dem sich Solidarność „at its best“ und als überaus erfolgreich zeigte : als die bahnbrechende polnische Form einer mächtigen gesellschaftlichen Mobi21 Kühn, Das Jahrzehnt der Solidarność, S. 388–394. 22 Ebd., S. 394–398. 23 Osiatynski, The Roundtable Talks in Poland, S. 23. Zur Gesamtentwicklung der Solidarność im Untergrund zwischen 1982 und 1989 vgl. Andrzej Friszke ( Hg.), Solidarność podziemna 1981–1989 ( Solidarność im Untergrund 1981–1989), Warszawa 2006. 24 Vgl. Dieter Bingen, The Failure of Socialist Transformation : The Polish Experience of the 1980s. In : Rüdiger Frank / Sabine Burghart ( Hg.), Driving Forces of Socialist Transformation. North Korea and the Experience of Europe and East Asia, Wien 2009, S. 141–158.

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lisierung mit dem allgemeinen Ziel, durch den friedlichen Druck des Volkes, kombiniert mit Verhandlungen durch die Elite, das Ende des Kommunismus zu erreichen.25 In Polen hatte sich 1988 eine klassische „spieltheoretische Transformationssituation“ herauskristallisiert. Es begann ein machtpolitisches Verhandlungsspiel über die Reformschritte und schließlich die Form einer neu verfassten politischen Ordnung. In jeder Runde mussten Kompromisse zwischen den Verhandlungskontrahenten geschlossen werden. Von Runde zu Runde verschoben sich jedoch die Machtressourcen, die die kommunistischen Reformeliten und die Opposition für sich mobilisieren konnten. Beide Seiten waren unsicher über die Zukunft und vermochten weder die eigene noch die gegnerische Machtposition präzise einzuschätzen. Dieser „Schleier der Unwissenheit“26 kam der Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten des Runden Tisches zugute. „Sowohl Adam Przeworski als auch Linz / Stepan27 beziehen sich auf die Denkfigur des ‚veil of ignorance‘ von John Rawls, um die positiven Verhandlungseffekte zu erklären, wenn strategisch handelnde Akteure sich nicht über ihre eigene Stärke und die zukünftigen Folgen der Entscheidungen im Klaren sind. Solche Unsicherheitsbedingungen erweisen sich als günstig für vorsichtige Kompromisse, als ‚zweitbeste Lösungen‘, weil mögliche negative Konsequenzen wie in einem Nullsummenspiel nicht einen einzigen Partner tref fen.“ Rawls hatte die Denkfigur in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ (1971) eingeführt, um über faire Verfahren die partikulare Interessenverfolgung rationaler Akteure zu minimieren. Der Kompromiss wurde nicht zuletzt deshalb möglich, weil er auf Fehlkalkulationen beider Akteure hinsichtlich ihrer mittelfristigen Machtchancen beruhte.28 Das Regime überschätzte, die Opposition unterschätzte die eigene Macht und den Rückhalt in der Bevölkerung. Es waren also fehlkalkulierte Erwartungen beider Seiten, die die Dynamik der Demokratisierung im Winter und Frühjahr 1989 bestimmten. Allein die Fehlkalkulationen über eigene Machtressourcen erklären jedoch nicht das Verhalten der Akteure : der Softliner auf der einen und der Moderaten auf der anderen Seite. Dazu kam ganz entscheidend der offensichtliche Verzicht auf offene Gewalt und Terror auf der Machtseite und der Verzicht auf einen Kampf um Alles ( Demokratie jetzt ) oder Nichts ( mit Niederlage endender Aufstand und darauffolgendes Martyrium der Nation ) auf der Oppositionsseite. Es gab offensichtlich einen ungeschriebenen Konsens über ausgeschlossene Instrumente des Machterhalts bzw. des Machter werbs um des höheren Ziels der Erhaltung der biologischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Substanz der Nation willen. Hier scheint es sinnvoll zu sein, als erklärende Kategorie für das soziale und politische Handeln in der hier zur Rede ste25 26 27 28

Garton Ash, Solidarność – eine Sache der Vergangenheit, S. 58. John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge 1971. Vgl. Przeworski, Democracy, S. 87; Linz / Stepan, Problems, S. 266. Josep M. Colomer / Margot Pascual, The Polish Games of Transition. In : Communist and Post - Communist Studies, 27 (1994) 3, S. 275–294, hier 291.

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henden Transitionsphase den common sense einzuführen, so wie ihn zuerst der schottische Philosoph Thomas Reid Mitte des 18. Jahrhunderts in seiner „Philosophy of Common Sense“ im Hinblick auf eine „unteilbare Einheit der Vernunft“ verstanden hat, die 1988 PVAP - Softliner und Solidarność - Moderate leitete.29 Zuerst mussten jedoch die Softliner in der Staats - und Parteiführung über den eigenen Schatten springen. Dabei halfen die katholische Kirche und ihr nahestehende Intellektuelle mit einem Vermittlungsangebot. Hierzu bot sich Professor Andrzej Stelmachowski an, Vorsitzender des Warschauer Klubs der Katholischen Intelligenz ( Klub Inteligencji Katolickiej – KIK ). Nach einem ersten Gespräch zwischen Stelmachowski und ZK - Sekretär Józef Czyrek erteilte das Politbüro Innenminister General Kiszczak den Auftrag, als demonstrativen Beweis des guten Willens der Jaruzelski - Gruppe, ein Treffen mit Lech Wałęsa vorzubereiten. Es gilt festzuhalten, dass der „Runde Tisch“ in Polen von oben, d. h. von den Softlinern der Parteiführung ins Spiel gebracht worden war, im Unterschied beispielsweise zur DDR, wo ihn die Vertreter der Opposition im Dezember 1989 der Parteiführung im Zustand der sich beschleunigenden Zersetzung der alten Partei - und Staatsmacht vorschlugen, die nur aus Hardlinern bestand und von der inneren Erosion des Systems im Spätherbst 1989 völlig überrascht worden war. Der Realitätsverlust hatte die SED - Führung grundlegend von der PVAP - Führung unterschieden. Die erlag jedoch einer grandiosen Fehleinschätzung anderer Art, die Jaruzelski erst im Juni 1989 nach dem ersten Wahlgang zu den halbdemokratischen Wahlen als eine letzte Illlusion eingestand.30 Nach dem letzten Strohhalm einer eingebildeten Wirklichkeit greifend, hatten nämlich die Softliner in der Partei gehofft, dass die PVAP durch ihre dramatische Demokratie - Volte eine neue Legitimation in der Gesellschaft gewinnen und im demokratischen Wettbewerb eine Mehrheit in den halbfreien Wahlen erringen könne. Am 31. August 1988 war es zur Begegnung Wałęsa - Kiszczak gekommen, dem ersten Gespräch des seit 1982 als „Privatperson“ bezeichneten Arbeiterführers mit einem Vertreter der Staatsmacht seit November 1981, das als Gespräch unter Gleichen betrachtet werden konnte. Angesichts der andauernden Streiks in der Danziger Lenin - Werft schaltete sich der Episkopat direkt in die Vermittlungsbemühungen ein, indem Bischof Jerzy Dąbrowski „auf beiderseitigen Wunsch“ ( und das für Gewerkschaftsfragen zuständige stellvertretende Politbüromitglied Ciosek ) an der Begegnung teilnahm. Weitere Arbeitstreffen zwischen Kiszczak und Wałęsa, die der Vorbereitung eines „Runden Tisches“ mit Teilnehmern von Partei und Regierung und von Solidarność und politischer Opposition zum Zwecke eines „Antikrisenpaktes“ dienten, fanden am 15. und 29 Vgl. Helga Albersmeyer - Bingen, Common Sense. Ein Beitrag zur Wissenssoziologie, Berlin 1986, insbes. S. 82–121. 30 Agnieszka Rybak / Piotr Gociek, „PZPR do końca nie wierzyła, że straci władzę.“ ( Die PVAP glaubte bis zum Ende nicht, dass sie die Macht verliert ). In : Rzeczpospolita vom 12./13. 9. 2009, S. A8 f.

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16. September statt. An beiden Treffen nahm Prälat Alojzy Orszulik im Auftrag von Primas Józef Glemp teil. Trotz der intensiven Gespräche kam es im September nicht zu der erwarteten Begegnung am Runden Tisch. Hauptstreitpunkt war die Legalisierung der Solidarność, die Wałęsa mindestens als vorläufige Absichtserklärung der Regierung forderte. Auch wollte sich die Regierungsseite nicht auf die Teilnahme von Oppositionspolitikern wie Jacek Kuron und Adam Michnik einlassen, die zu diesem Zeitpunkt von Jaruzelski und seinem politischen Vertrauten Rakowski noch nicht zur „konstruktiven“ Opposition gerechnet, sondern zu den „Radikalen“ gezählt wurden. Jaruzelski hat später öfters darauf hingewiesen, wie sehr er persönlich von dem Feindbild beeinflusst war, bis er sich anlässlich der ersten Begegnungen mit Kuron und vor allem Michnik von der Kultiviertheit und Mäßigung der Lieblingsfeinde der Parteipropaganda überzeugen konnte. Nach der Regierungsübernahme durch Mieczysław Rakowski im September 1988 drohten die Vorbereitungen für den Runden Tisch zu scheitern. Die neue Regierung konzentrierte sich auf eine „radikale Wirtschaftsreform“ und zeigte wenig Bereitschaft, die Frage des Gewerkschaftspluralismus vordringlich zu behandeln. Als Devise galt : Erst Wirtschaftsreform, dann – wenn überhaupt – Gewerkschaftspluralismus und politische Demokratisierung. Im Parteiapparat und im offiziellen Gewerkschaftsbund OPZZ unter Führung von Politbüromitglied Alfred Miodowicz hatte sich erbitterter Widerstand gegen Innenminister Kiszczaks weitreichendes Dialogangebot geregt. Der politische Durchbruch für Wałęsa und die Forderung nach Wiederzulassung der Solidarność kam unmittelbar nach dem vom OPZZ - Vorsitzenden Miodowicz angeregten und direkt übertragenen Fernsehduell mit Wałęsa am 30. November 1988, aus dem Wałęsa als politischer Sieger her vorging. Miodowicz, als schlagfertiger und polemischer Debattierer bekannt, hatte Wałęsa vor einem Millionenpublikum als eine Gallionsfigur bloßstellen wollen, die ohne seine politischen Berater hilf los und schwach dasteht. Das war Miodowicz nicht gelungen – ein taktisches Missgeschick, das sich für die Anhänger des Status quo als verhängnisvoll erwies. Erstmals nach sieben Jahren war die „Privatperson“ Wałęsa wieder medial landesweit präsent. Millionen von jungen Polen hatten noch nie ein Bild von ihm gesehen, nur von der schon legendären Gestalt gehört. Bei Bronisław Geremek, dem strategischen Kopf und Berater, gibt es eine eindrückliche Beschreibung, wie eine ganze Schar von Intellektuellen Lech Wałęsa für seine Fernsehdebatte mit Miodowicz vorzubereiten versuchte. Der Filmregisseur Andrzej Wajda hielt ihm einen Vortrag über Kameratechniken. Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen, Rechtsanwälte stopften ihn mit Fakten und Zahlen über die Lage der Nation voll. Eine Nonne versorgte ihn mit Kräutertränken gegen seinen kratzenden Hals. Dann ging er los und setzte Miodowicz mit einem Satz matt : „Der Westen fährt mit dem Auto und wir sitzen auf dem Fahrrad.“ Innerhalb weniger Tage gründeten sich zahlreiche neue Gewerkschaftszellen der Solidarność. Der Warschauer Führung wurde innerhalb kürzester Zeit klar,

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dass der Zusammenbruch jeglicher Ordnung ohne politische Verständigung über eine Wiederzulassung der Solidarność und neue Formen des politischen Pluralismus nicht aufzuhalten war. Zur politischen und ideologischen Vorbereitung auf die Gespräche am Runden Tisch wurde die 10. ZK - Sitzung der PVAP am 21./22. Dezember 1988 und in einer zweiten Runde vom 16.–18. Januar 1989 einberufen. Nur nach der Drohung mit dem Rücktritt von ihren Partei - und Regierungsämtern konnten Jaruzelski, Rakowski, Kiszczak und Siwicki gerade mal 55 Prozent der ZK - Mitglieder für den gewerkschaftlichen und politischen Pluralismus in einer „sozialistischen parlamentarischen Demokratie“ gewinnen. Gegen erhebliche Widerstände in ihren eigenen Reihen hatten sich die Softliner auf der Machtseite gegen die Hardliner und die Moderaten auf der Oppositionsseite gegen die Radikalen durchgesetzt.

4.

Der Runde Tisch als Transitionsmöbel

In der Stellungnahme des Landesexekutivkomitees der noch verbotenen Solidarność wurden die ZK - Beschlüsse als „grundlegender Schritt hin zum gesellschaftlichen Dialog“ begrüßt. Mit dem Runden Tisch in Polen wurde eine Institutionalisierung des evolutionären Systemwechsels vom realen Sozialismus zur pluralistischen Demokratie gefunden, der Vorbildcharakter für vergleichbare politische Prozesse in den benachbarten Ländern Ostmittel - und Südosteuropas haben sollte. Für den historisch präzedenzlosen Systemübergang mussten entsprechende Institutionen gefunden werden, für die in den bestehenden Verfassungssystemen kein Platz war und die ausgesprochen transitorischen Charakter hatten. Aber ungeachtet ihrer fehlenden Ver wurzelung im bestehenden Verfassungs - und Rechtssystem des Staates übernahmen sie vorübergehend eine quasi gesetzgebende Funktion, auch wenn entsprechende Vereinbarungen noch vom formellen Gesetzgeber, dem sozialistischen Parlament, ratifiziert werden mussten.31 Bronisław Geremek hat diese Verhandlungen im Detail beschrieben.32 Er zeigt auf, dass die Grundbedingung für diese Gespräche das Ende der sowjetischen Widerstände und Gorbatschows sanfte Ermutigung zu Reformen gewesen waren. In dieser Situation und angesichts des Niedergangs der nationalen Wirtschaft kam die neue politische Initiative, wie Geremek wiederholt betont, zuallererst von Armee und Polizei, von General Jaruzelski und Innenminister General Kiszczak, und erst in zweiter Linie vom Reformflügel der Partei. Ver31

Vgl. Ellen Bos, Verfassungsgebung und Systemwechsel. Die Institutionalisierung von Demokratie im postsozialistischen Osteuropa, Wiesbaden 2004, S. 158–165. 32 Rok 1989. Bronisław Geremek opowiada, Jacek Żakowski pyta ( Das Jahr 1989. Bronisław Geremek berichtet, Jacek Żakowski fragt), Warschau 1990. Vgl. auch die analytisch wertvolle Kurzbeschreibung der Gespräche am Runden Tisch bei Wiktor Osiatynski, The Roundtable Talks, S. 21–68.

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handlungspartner waren die Vertreter der, wie Geremek es nennt, drei Strömungen in der Solidarność: der Arbeiter, der Bauern und der Intellektuellen, alle aus verschiedenen Gruppierungen und mit unterschiedlichen Überzeugungen, doch alle zu diesem Zeitpunkt bereit, ihre öffentlichen Reden am Haupttisch und ihre halböffentlichen Statements an den vielen Nebentischen, vor allem den berühmten „Magdalenkas“,33 jenen heimlichen Gipfeltreffen in einem Gästehaus der Regierung außerhalb Warschaus, umsichtig zu koordinieren. Diese oppositionelle Elite hatte jedoch die Bevölkerung hinter sich, und den öffentlichen Druck von unten. Geremek beschreibt, wie die Bereitschaft der Behörden, diesen oder jenen Punkt zu konzedieren, beinahe unmittelbar mit der Zu - und Abnahme des „gesellschaftlichen Drucks“ in Verbindung stand. Schließlich, aber keineswegs letztlich, gab es noch die Vertreter der Kirche, Gastgeber verschiedener wichtiger Treffen, wo sie als Vermittler agierten. „Gegenüber ihren Mitgliedern sowie der Bevölkerung fühlte sich die Solidarność hinsichtlich ihrer Verhandlungsziele und Vorgehensweise ausreichend legitimiert, auch wenn ihre Vertreter nicht gewählt, sondern von der Gewerkschaftsführung gemäß ihrer Eignung ernannt worden waren. Zwei - bis dreimal pro Woche wurden in einem Warschauer Kino öffentliche Diskussionsrunden veranstaltet, bei denen die Positionen und Zwischenergebnisse der Gespräche präsentiert und die Kritik der Anwesenden aufgenommen wurde. Dabei erfuhr die Solidarność weitgehend eine Bestätigung ihrer Arbeit. Diese Unterstützung durch die Bevölkerung wurde in den Medien entsprechend transportiert und blieb auch der Parteiführung nicht verborgen, was die Opposition wiederum nutzen konnte, um ihren Spielraum in den Verhandlungen weiter auszudehnen. Den Verhandlungsführern der PVAP wurden daraufhin Kompromisse abgerungen, die sie zunächst gar nicht zugestehen wollten, wie die freien Wahlen im wieder eingeführten Senat. Die Führung der PVAP hatte daher größere Schwierigkeiten, sich gegenüber ihren Mitgliedern durchzusetzen und die Ergebnisse zu rechtfertigen.“34 Und dennoch, aufgrund der Sicherungen für einen vorläufigen Machterhalt der alten Machtstrukturen in den Vereinbarungen des Runden Tisches sprach Adam Przeworski davon, dass ursprünglich von den Akteuren beider Seiten nur eine „broadened dictatorship“ ausgehandelt worden sei, die erst durch das beide Seiten des Runden Tisches überraschende Wahlergebnis als Transformationsbeschleuniger obsolet wurde und einer wirklichen Demokratisierung („democracy with guarantees“) Platz machte, die mit der demokratischen Wahl des Präsidenten im November 1990 und der Wahl eines frei gewählten Parlaments ( Oktober 1991) zu einer Demokratie ohne Einschränkungen wurde.35 33 Vgl. Huntington, The Third Wave, S. 167. 34 Nach Claudia - Yvette Matthes, Polen und Ungarn – Parlamente im Systemwechsel. Zur Bedeutung einer politischen Institution für die Konsolidierung neuer Demokratien, Opladen 1999, S. 77. 35 Michael Bernhard, Semipresidentialism, Charisma, and Democratic Institutions in Poland. In : Kurt von Mettenheim ( Ed.), Presidential Institutions and Democratic Politics. Comparing Regional and National Contexts, Baltimore 1997, S. 177–203, hier 182 f.

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Bis zum 5. April verhandelten Vertreter von PVAP, Bauernpartei ( ZSL ) und Demokratischer Partei ( SD ) sowie der drei im Sejm vertretenen christlichen Gruppierungen ( FAX, UChS, PZKS ), dazu Repräsentanten des offiziellen Gewerkschaftsbundes OPZZ, als „Regierungskoalitions - Seite“ mit Vertretern der „Oppositions - Solidarność - Seite“, die sich im Wesentlichen aus Mitgliedern des im Dezember 1988 gebildeten „Bürgerkomitees bei Lech Wałęsa“ zusammensetzten. Nicht beteiligt an den Gesprächen am Runden Tisch waren Vertreter der Fundamentalopposition, wie der „Konföderation Unabhängiges Polen“ ( KPN ) und der „Kämpfenden Solidarität“ ( Solidarność Walcząca ), die eine Diskussion mit den Vertretern des alten Systems, d. h. den Runden Tisch, grundsätzlich ablehnten. Mit am Tisch saßen bekannte Systemkritiker wie Jacek Kuron und Adam Michnik, die gegenüber den oppositionellen Hitzköpfen der evolutionären Über windung des Systems gemeinsam mit den kompromissbereiten Vertretern der PVAP und des Staatsapparates das Wort redeten. In den Gesprächen am Runden Tisch standen nicht allein Themen auf der Tagesordnung wie : Abschaffung von ungerechtfertigten Privilegien von Mitgliedern einer dem Egalitarismus verpflichteten Partei, Gewerkschaftsmacht gegen Staatsparteimacht, soziale und wirtschaftliche Chancengleichheit, kurz der fürsorgliche Staat; nein, auf der Tagesordnung stand vielmehr eine neue politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung. Ende der 80er Jahre konnten die Eliten derer, die das „wir“ vertraten, nämlich der demokratischen Opposition, selbst über ihren individuellen Platz und das Ordnungsmodell bestimmen. Sie bestimmten die Prinzipien einer Staats - und Gesellschaftsordnung, die zugleich über das Schicksal ihrer ursprünglich egalitären Massenbewegung, der Solidarność, bestimmte. Das heißt, der Sieg am Verhandlungstisch läutete zugleich das Sterbeglöckchen für das einmalige Phänomen Solidarność. Der frühere oppositionelle Publizist und politische Analytiker Aleksander Smolar lieferte eine mitleidlose Analyse, indem er die Gründe für die Selbstaufhebung der Massenbewegung im politisch differenzierenden und individualisierenden Emanzipationsprozess auf dem Weg zur „Normalität“ einer modernen demokratischen Gesellschaft 1989 beschreibt : „Solidarność – das war ein glühendes Gefühl der Gemeinschaft und der Brüderlichkeit, das wiedergefundene Bewusstsein von Würde und Achtung gegenüber sich selbst und den anderen, das war die gemeinsame Anstrengung, große Ziele für die Nation und für den einzelnen zu ver wirklichen. [...] Die Solidarność ist tot, denn sie war ein Wunder, das in normalen Zeiten nicht existieren kann. Sie wurde gesprengt durch die Vielfalt und Gegensätzlichkeit der Werte, auf denen sie gebaut war, durch die Unterschiedlichkeit der Interessen, Biographien, Mentalitäten und Ambitionen der Menschen, aus denen sie bestand. Sie wurde zerschlagen durch den Kriegszustand, der der Mehrheit den Willen und die Möglichkeit raubte, sich für die Sache des Gemeinwohls zu engagieren. Endgültig erledigt wurde sie durch den Übergang zur Demokratie, dessen Natur die Verständigung zwischen den gemäßigten Eliten beider Seiten und eine Demobilisierung der Massen verlangte. Sie wurde schließlich begraben unter einem Gesellschaftsmodell, das wir

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Polens Weg zum Wechsel

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selbst gewählt haben und das Polen eine Entwicklungschance bietet. Dieses Modell setzt auf das ‚antirevolutionäre‘ Programm individueller Karrieren, auf konkurrierende Individuen statt auf Kollektive, auf Konkurrenz statt auf Solidarität, auf Bewunderung für die Starken, Erfolgreichen, Energischen, Gebildeten und Reichen, und nicht auf Hilfe für die Armen, Schwachen und Ungebildeten. Was hat das alles noch mit der Solidarność zu tun ?“36 Der Nestor der polnischen Soziologie, Jerzy Szacki, schrieb, dass die Solidarność zur sozialen Verschiebung der polnischen Revolution beigetragen habe, sie habe sich unmerklich von einer Arbeiterrevolution in eine Revolution der Besitzenden bzw. der künftigen Besitzenden verändert.37 Die Geschichte, die er zu erzählen hat, ist die des historischen Sieges von Solidarność und des Beginns ihres Zerfalls, der dem Sieg so schnell folgen sollte – mit der Bildung der Mazowiecki - Regierung im September 1989.

5.

Resümee

Die allgemeine Regelsetzung der Transformationsliteratur durchbrechend, gilt es für die Transition in Polen festzustellen, dass sie sich erstens über einen ungewöhnlich langen, wenngleich durch das Kriegsrecht unterbrochenen, Zeitraum hinzog und dass zweitens über einen ebenso ungewöhnlich langen Zeitraum die Massen, wenn auch in einem variierenden quantitativen Umfang ( zwischen zehn Millionen 1980/81 bis einige Hunderttausend 1988) einen Ausschlag gebenden Einfluss auf den Transformationsverlauf hatten. Dabei war die Abnahme der Massenmobilisierung über acht Jahre nicht nur ein Ergebnis von staatlicher Repression, sondern vor allem nach der Liberalisierung ab Mitte der 80er Jahre auch ein Spiegelbild der Erosion der Parteimacht und des zunehmenden Ausfalls der dysfunktionalen Steuerungsinstrumente des autoritären Systems in Wirtschaft und Gesellschaft. Das „Wir“ und das „Sie“ waren in allmählicher und widersprüchlicher Auf lösung begriffen. Die Ent - Solidarność - isierung begann also schon während der 80er Jahre im Kriegsrecht und nach der Aufhebung des Kriegsrechts. Die Entsolidarisierung entpuppte sich in der kritischen Phase 1988 als eine Gefahr, die für die Macht größer als für die Solidarność war. Schließlich hielten die Herrschenden die Verantwortung für Regierung, Ver waltung und Versorgung ( das Hauptproblem ) in den Händen und nicht die Opposition. Dementsprechend groß war die Panik der herrschenden Softliner im Herbst 1988 wegen der dramatischen Versorgungsengpässe, gesellschaftlicher Demoralisierung, Massenemigration und Depression, kurz : der Unsteuerbarkeit des Staatsschiffs. Was aber, wenn die moderaten Solidarność - Führer nicht mehr in der Lage 36 Aleksander Smolar, 1989 – Geschichte und Gedächtnis. In : Transit. Europäische Revue, 20/2001, S. 15–43, hier 39–42. 37 Zit. ebd.

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waren, „ihre“ Massen zu steuern und zu mäßigen ? Demnach hatten die Softliner ein Interesse an einer ausreichenden Autorität der Solidarność - Elite über die Massen, was wiederum die oppositionelle Machtposition gegenüber dem Partei - / Regierungslager vergrößerte. An einer Diskreditierung der Oppositionselite durch eigene Intransigenz konnte der Machtseite demnach nicht gelegen sein, vorausgesetzt, die Akteure auf beiden Seiten folgten einem common sense über das um jeden Preis zu Vermeidende : wie Blutvergießen, Bürgerkrieg, sowjetische Militärintervention und das zu Bewahrende : die Erhaltung der Substanz der nationalen Gesellschaft. Nochmals zusammengefasst, bestanden auf Seiten der Softliner grundsätzlich widersprüchliche Interessen, einerseits an der Spaltung zwischen Solidarność - Elite und der Massen auf Oppositionsseite ( alte Inklusionsmodelle mit dem Ziel, die politische Macht zu behalten und gleichzeitig die wirtschaftliche Verantwortung abzugeben, schlicht der Schwächung der Systemopposition ), andererseits an einer ungebrochenen Autorität der Oppositionselite bei den Massen zum Zwecke der Mäßigung vor allem der jungen, perspektivlosen Arbeitergeneration und des Aufhaltens der seit Jahren andauernden Massenemigration der gut Ausgebildeten mit dem Hinweis der Oppositionsautoritäten, dass es sich lohne, in Polen zu bleiben, weil die Aussicht bestehe, dass sich die politische Situation absehbar zum Besseren wenden werde. Das Dilemma war für die „Helden des Rückzugs“ ( Hans Magnus Enzensberger ) nicht auf lösbar. Ein Desiderat der Untersuchung des spezifischen polnischen Falls der Transformation bleibt der Faktor katholische Kirche als dritter Macht - und Einflussfaktor zwischen Macht und Gegenmacht. Sie hat als eigenständiger Akteur eine wichtige Vermittlungsrolle zwischen den Partei - Softlinern und den Moderaten auf Oppositionsseite eingenommen. Dabei war sie ideologisch zweifellos eine Verbündete der demokratischen Opposition und machtpolitisch ein Moderator.38 Zugleich beschleunigte die katholische Kirche den Transformationsprozess, indem sie Instrumente anbot, die ihr eine zweitausendjährige Geschichte, eine tausendjährige Präsenz in Polen, einen ideologischen Überbau und schließlich die persönliche Autorität ihres Personals auf Erden – vom Papst aus Polen bis zum Dorfpfarrer – zur Verfügung stellte, wovon beide Seiten der Auseinandersetzung um die richtige Ordnung in Polen nur träumen konnten. Die katholische Kirche verfügte über ihre Elite und „ihre“ Massen und Massenmobilisierung (von täglichen Messen bis zu großen Prozessionen und den Millionenmengen anlässlich der zahlreichen Polenreisen von Papst Johannes Paul II.), wobei es große Schnittmengen mit den Massen gab, die die Opposition mobilisieren konnte. Ein größeres Kapitel über die katholische Kirche insbesondere in Polen ist in der politikwissenschaftlichen Transformationsforschung noch zu schreiben.

38 Osiatynski, The Roundtable Talks in Poland, S. 26, 37.

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Eliten und Massen im Transitionsprozess in der ČSSR Stanislav Balík

Die Auf lösung des undemokratischen Regimes in der Tschechoslowakei, das in der klassischen Darstellung von Juan J. Linz als Beispiel eines posttotalitären kommunistischen Regimes in seiner „eingefrorenen“ ( frozen ) Variante1 – ggf. nach der Klassifizierung von Wolfgang Merkel als ein kommunistisches autoritäres Regime2 – bezeichnet wird, erfolgte erst sehr spät, als letzte unter den Ländern Ostmitteleuropas. Der internationale Kontext spielte dabei eine wichtige Rolle : Die tschechoslowakischen Bürger waren sich bewusst, dass das „heimische“ kommunistische Regime in Mitteleuropa nur mehr eine isolierte Insel darstellte, sie wussten von den erfolgreichen Verhandlungen am Runden Tisch in Polen im Frühling 1989, sie besaßen Informationen über die Ereignisse in Ungarn im Sommer 1989 und vor allem hatten sie unmittelbare Erfahrung mit dem Anfang der ostdeutschen Transition. Ein Teil der DDR - Bürger nutzte nämlich zur Flucht die bundesdeutsche Botschaft in Prag, wo sich große Menschenmengen ansammelten, während sich gleichzeit die Straßen mit den verlassenen Autos der Emigranten füllten. Eine Veränderung in der Tschechoslowakei schien also unvermeidbar zu sein; es war jedoch nicht klar, welche Form sie annehmen und vor allem, wann sie eintreten würde. Kompliziert wurde die Situation durch einen Streit der Fraktionen innerhalb der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei ( KPTsch ), wo auf der einen Seite die „Konser vativen“ mit Vasil Biłak und dem Generalsekretär Milouš Jakeš an der Spitze standen, die jede Änderung, sei es auch im Geiste der Perestroika, ver weigerten, auf der anderen Seite befanden sich technokratisch gesinnte Parteimitglieder mit dem föderalen Ministerpräsidenten Ladislav Adamec an der Spitze. Des Weiteren gab es in der Partei auch eine Gruppe der „Jungen“ („jung“ muss man im Kontext der Gerontokratie in der

1

2

Vgl. Juan J. Linz / Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America and Post - Communist Europe, Baltimore 1996, S. 38–54. Der vorliegende Beitrag wurde im Rahmen des Forschungsprojektes „Politische Parteien und Interessenvertretung in den heutigen europäischen demokratischen Systemen“ ( MSM0021622407) ausgearbeitet. Vgl. Wolfgang Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Opladen 1999, S. 38.

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KPTsch am Ende der 80er Jahre interpretieren – diese „Jungen“ waren über 40 Jahre alt ) um den Prager KPTsch - Sekretär Miroslav Štěpán, die auf ihre Gelegenheit warteten. Die Tatsache, dass diese Differenzierung lediglich die höchste Führungsebene betraf und dass es in der Partei keine einflussreiche, kohärente und organisatorisch geschlossene Modernisierungsströmung gab, die sich von der kommunistischen Ideologie allmählich entfernte, führte allerdings dazu, dass sich die KPTsch nach dem Transitionsprozess nicht auf den Weg der „Sozialdemokratisierung“ begab, wie dies z. B. in Polen und Ungarn der Fall war. Vielmehr blieb sie nach eher individuellen Austritten von Hunderttausenden Mitgliedern bis heute eine orthodox kommunistische Partei.

1.

Die Initiierungsphase – die Rolle der Massen

Der Auslöser des Regimefalles war die harte Unterdrückung einer studentischen Demonstration in Prag am 17. November 1989, die anlässlich des 50. Jubiläums der Ermordung des Studenten Jan Opletal durch die Nazis veranstaltet wurde. Es bleibt ein Paradox der Geschichte, dass der Organisator der Demonstration der Sozialistische Jugendverband war, also eine Satellitenorganisation der KPTsch. Weitere Mitveranstalter waren unabhängige Studenten und Aktivisten. Kritische Worte über das kommunistische Regime konnte man bereits während des offiziellen Teils der Demonstration auf dem Prager Vyšehrad vernehmen. Zum Bruch kam es nach dem Ende des offiziellen Teils, als sich der Umzug auf den Weg ins Stadtzentrum machte. Zwischen Vyšehrad und der Straße Národní třída stieg die Teilnehmeranzahl auf 50 000 an und als der Umzug Národní třída erreichte, wurde er von der Polizei angehalten. Ein Teil der Demonstranten ging auseinander, vielen anderen war es jedoch nicht möglich, den Demonstrationszug zu verlassen. Diese Personen wurden dann brutal niedergeknüppelt. Bis heute spekuliert man, inwieweit der Umzug ins Stadtzentrum spontan war und inwieweit er durch die Geheimdienste manipuliert wurde. Petr Hájek z. B. behauptet, dass es sich „um keinen Volksaufstand gegen das unterdrückerische Regime handelte. Die Menschen hätten sich die Teilnahme an Protesten gewiss überlegt, wenn die Medien, zuallererst das kommunistische tschechoslowakische Fernsehen, die eher unmotivierte Öffentlichkeit nicht in ‚revolutionäre Aufbruchstimmung‘ versetzt hätten. Ohne jeden Zweifel war es keine spontane Tat, keinen Ausdruck von authentischen Interessen.“3 Zu den meist diskutierten Fragen gehört, wer den Befehl zum brutalen Vorgehen gegen die Demonstranten erteilt hat ( wobei die polizeiliche Steuerung des Eingriffs selbst sehr chaotisch war ) und ob es sich nicht um eine Aktion zum Zweck der Diskreditierung von einigen kommunistischen Funktionären handelte. So machte beispielsweise das Mitglied der ersten Untersuchungskommission zu den Ereignissen des 17. Novembers, der Student Václav Bartuška, den 3

Petr Hájek, Smrt ve středu ( Tod am Mittwoch ), Prag 2009, S. 198 f.

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Eliten und Massen im Transitionsprozess

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Gedanken populär, dass es sich um einen Versuch gehandelt habe, die bisherige KPTsch - Führung mittels einer Welle des öffentlichen Protestes zu beseitigen und durch eine neue, eindeutig auf Perestroika orientierte Führung zu ersetzen. Dieses Vorhaben sei mit stiller Zustimmung der Führungsriege in der UdSSR bzw. des KGB erfolgt.4 Keine der „Verschwörungstheorien“ wurde jedoch bewiesen. In diesen Debatten geht es allerdings nicht nur um die Vergangenheit, vielmehr zielen sie auch auf die Gegenwart. Die Vertreter der „Inszenierungstheorien“ behaupten, dass die gesamte Entwicklung der tschechischen Gesellschaft nach dem November 1989 von kryptokommunistischen Strukturen gesteuert worden sei. Es geht also im Prinzip um einen Streit über die Interpretation der weiteren zwanzigjährigen Entwicklung. Wie auch immer man die Spontaneität des inoffiziellen Teils der Demonstration beurteilen mag – und es wurde nie ausreichend bewiesen, warum der Umzug gerade den Weg von Vyšehrad zur Národní třída nahm, warum das Ziel gerade Národní třída war usw. –, so ließ sich doch die Reaktion der Studenten, der Schauspieler und der Öffentlichkeit kaum vorhersagen. Die brutale Niederschlagung der Proteste löste eine große Empörung aus und führte dazu, dass die Studenten zu einem Generalstreik aufriefen. Diesem Aufruf schlossen sich einen Tag nach der Demonstration auch die Schauspieler der Prager Theater an. Das brutale Vorgehen der Polizei gegen die Studenten war jedoch nicht die allein entscheidende Ursache, denn zu ähnlichen, wenngleich nicht ganz so drastischen Übergriffen war es im Verlauf der letzten 14 Monate immer wieder gekommen : Zuerst im August 1988 bei den Demonstrationen zum 20. Jubiläum der Okkupation des Landes durch die Armeen des Warschauer Paktes, dann im Oktober 1989 während der so genannten Palach - Woche, als junge Leute an das 20. Jubiläum der Selbstverbrennung Jan Palachs erinnerten und gegen die gesellschaftliche Entwicklung nach der sowjetischen Okkupation protestierten. Die Schlüsselrolle für die Mobilisierung der Massen und für die rasche Ausweitung der Proteste im ganzen Land spielte wahrscheinlich das Gerücht, dass am 17. November 1989 auf der Národní třída ein Student zu Tode geschlagen worden sei. Obwohl das Regime zwei Tage später das Gerücht widerlegen konnte, war seine psychologische Auswirkung am Anfang außerordentlich groß : Die Öffentlichkeit war zwar in der Lage, Knüppel und Wasserwerfer zu akzeptieren, aber die Nachricht – „sie bringen unsere Kinder um“ – führte zu einer bedeutsamen Ausweitung der antikommunistischen Proteste auch in der mittleren und älteren Generation.5 Auf der Welle der spontanen Massenproteste entstand am 19. November in Prag die Bewegung „Občanské fórum“ ( Bürgerforum ), zu deren Hauptfigur 4 5

Vgl. Václav Bartuška, Polojasno ( Halb bedeckt ), Prag 1990, S. 241–248. Bis heute wurde nicht eindeutig erklärt, inwieweit es eine Provokation war, die ausuferte. Sicher ist, dass die Rolle des toten Studenten auf Národní třída der Stasi - Offizier Ludvík Zifčák spielte. Heute ist er der Generalsekretär der marginalen, nichtparlamentarischen und orthodoxen Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei – Tschechoslowakische Arbeitspartei.

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Václav Havel wurde. Dem Bürgerforum schlossen sich nicht nur die bisherigen Oppositionsinitiativen an, sondern auch viele Leute ohne „Dissidentenhintergrund“.6 Das Bürgerforum repräsentierte in der tschechoslowakischen Transition einen Flügel ( Pol ) der Eliten. Abgesehen davon, dass binnen kurzer Zeit ein breites Netz an „Zellen“ auf der lokalen, Kreis - und Bezirksebene ( und unter dem Einfluss der 40 - jährigen kommunistischen Erfahrung sogar in Betrieben ) entstand, war das Bürgerforum eine elitäre Struktur. Das Zentrum hatte nämlich keine Verantwortung gegenüber den Regionen. Das so genannte Koordinationszentrum des Bürgerforums war in seinen Handlungen und Strategien ganz unabhängig. Praktisch gleichzeitig mit dem Bürgerforum entstand in der Slowakei die Schwesterorganisation „Verejnosť proti násiliu“ ( Öffentlichkeit gegen Gewalt ). Für die weitere Entwicklung blieben jedoch die Rolle des Bürgerforums und die Ereignisse in Prag entscheidend. Am 20. November 1989 demonstrierten auf dem Prager Wenzelplatz mehr als 100 000 Leute, wodurch die Demonstrationen ( im Vergleich zu den früheren Oppositionsveranstaltungen ) einen massenhaften Charakter gewannen. Weitere Massendemonstrationen fanden in den nächsten Tagen sowohl in Prag als auch in weiteren großen Städten statt. Den Höhepunkt stellte dann der Generalstreik am 27. November 1989 dar, der die öffentliche Unterstützung für das Bürgerforum deutlich machte.

2.

Die Reaktion der kommunistischen Eliten

Das Bürgerforum stellte in seinem Gründungsmanifest vom 19. November einige Forderungen. Die wichtigsten von ihnen zielten gegen das bestehende kommunistische Establishment, indem das Bürgerforum den Rücktritt der am meisten kompromittierten kommunistischen Politiker forderte : des Präsidenten der Republik und früheren Generalsekretärs des ZK der KPTsch Gustáv Husák, des gegenwärtigen Generalsekretärs der ZK der KPTsch Milouš Jakeš, des Sekretärs der KPTsch für Ideologie Jan Fojtík, des Sekretärs der KPTsch Karel Hoffman, des Gewerkschaftsvorsitzenden Miroslav Zavadil, des Vorsitzenden der Föderalen Versammlung ( Parlament ) Alois Indra, des führenden Sekretärs des Stadtkomitees der KPTsch in Prag Miroslav Štěpán und des Innenministers František Kincl. Weitere Forderungen im Manifest waren die Einrichtung einer Kommission zur Untersuchung der Polizeiübergriffe, die Freilassung der politischen Gefangenen und der Generalstreik am 27. November. Als Hauptstrategie des weiteren Vorgehens wurde der Dialog deklariert, was die Herangehensweise der Protagonisten von Charta 77 widerspiegelte.7 Das Bürgerforum dachte am

6 7

Zur Beschreibung der personellen Ressourcen des Bürgerforums vgl. Jiří Suk, Labyrintem revoluce ( Durch das Labyrinth der Revolution ), Prag 2003, S. 91 f. Vgl. Jiří Suk, Občanské fórum. 2. díl. Dokumenty ( Das Bürgerforum. Band 2 : Dokumente ), Prag 1997, S. 1.

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Anfang jedoch nicht an eine Machtübernahme; zu einer Änderung dieser Position kam es erst in der ersten Dezember woche, also mehr als drei Wochen nach dem Ausbruch der Proteste. Im Gesamtkontext der dramatischen Ereignisse gegen Jahresende 1989 waren drei Wochen eine sehr lange Zeit. Für den geforderten Dialog mangelte es jedoch an geeigneten Partnern. Die Führung der KPTsch zeigte keinen Willen zum Dialog. Eine weitere Frage ist, ob diese Führung überhaupt dialogfähig war. Es ist eindeutig, dass es ihr nicht mehr gelang, auf die Ereignisse adäquat zu reagieren. Der Versuch, die aufgeweckte Öffentlichkeit mittels Aufrufe zur Ruhe und der Verurteilung von Demonstranten ruhig zu stellen, führte völlig in die Sackgasse. Zur Demoralisierung der ganzen Partei ( auch ihrer Führung ) trug im Endeffekt auch der misslungene Versuch der Mobilisierung der Parteiarmee – der „Volksmiliz“ ( d. h. von bewaffneten Kommunisten aus den Betrieben ) – bei. Die Verlegung von Einheiten der Volksmiliz aus den Regionen nach Prag war ein Teil der Strategie des radikalen Flügels der KPTsch - Führung, der über den so genannten chinesischen Lösungsweg nachdachte ( inspiriert durch die Niederschlagung der studentischen Proteste auf dem Platz des himmlischen Friedens im Juni 1989). Die schwache Position der KPTsch bezeugte auch die Tatsache, dass ein Teil der Volksmiliz den Weg nach Prag nicht antrat. Die ganze Operation wurde nach zwei Tagen von Milouš Jakeš beendet. Einen weiteren Schlag stellte dann die Aufkündigung des Gehorsams seitens der immer noch von der Partei beherrschten Massenmedien dar. Die KPTsch Führung verlor die Kontrolle über das staatliche Fernsehen, das wiederholt Aufnahmen von niedergeknüppelten Studenten auf Národní třída und von laufenden Demonstrationen ausstrahlte.8 Eine ähnliche Entwicklung gab es im Rundfunk und in der Presse. Die nun wesentlich freiere Berichterstattung beeinflusste sehr stark die Zunahme der Proteste im ganzen Land. Auch die Volksfront, eine Dachorganisation von allen zugelassenen Parteien und weiteren Organisationen, die der KPTsch als ein wichtiges Werkzeug der politischen Kontrolle diente, begann zu zerfallen. Eine Schlüsselrolle spielte dabei die Emanzipation der Tschechoslowakischen Volkspartei ( TVP ) und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Partei ( TSP ). Die Presseorgane von beiden Parteien („Volksdemokratie“ und „Freies Wort“) berichteten bereits am 18. November uner wartet objektiv über die Ereignissen auf Národní třída. Den Vertretern des Bürgerforums wurde es ermöglicht, zu den Massen vom Balkon des Melantrich - Gebäudes auf dem Wenzelplatz zu sprechen, das zum Eigentum der TSP gehörte. Beide Parteien machten parallel eine dynamische Entwicklung samt Führungswechsel durch, sie suchten den Weg zum Bürgerforum und distanzierten sich von ihrer früheren Unter würfigkeit gegenüber der KPTsch. Besonders schnell vollzog sich diese Dynamik in der Volkspartei. Auf der Sit8

Vgl. Jarmila Cysařová, Čas přelomu. Garáž OF ČST : 21. listopadu 1989 – 11. lednu 1990 ( Umbruchszeit. Garage der OF ČST : 21. November 1989 – 11. Januar 1990), Soudobé Dějiny, 2–3/1999, S. 297–307.

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zung des ZK der TVP vom 27. auf den 28. November übernahm die so genannte Erneuerungsströmung, die sich erst vor wenigen Wochen formiert hatte, die Führung der Partei. Zum Parteivorsitzenden wurde Josef Bartončík und zum Generalsekretär Richard Sacher gewählt. Zu dem Bemühen, „die Zeichen der Zeit“ nicht zu verkennen, gehörte es, dass bereits auf der ersten Demonstration des Bürgerforums auf dem Wenzelplatz am 20. November auch der Vorsitzende des Sozialistischen Jugendbundes, Vasil Mohorita, auftrat, der die demonstrierenden Studenten unterstützte. Charakteristisch für den Zustand der kommunistischen Eliten und der gesamten Parteistruktur war es, dass die oberste Parteiführung erst eine Woche nach den Ereignissen auf Národní třída zusammenkam, um am 24. November die politische Situation zu beraten. Dieselbe Partei, die in der Lage gewesen war, im Februar 1948 Hunderttausende Anhänger auf die Prager Straßen zu bringen, im August 1968 nahezu über eine Nacht eine außerordentliche Parteiversammlung einzuberufen, war im November 1989 handelsunfähig. Die Sitzung des ZK der KPTsch am 24. November brachte nichts anderes als eine weitere Schwächung und Erschütterung der parteilichen Einheit. Obwohl Milouš Jakeš und der ganze Parteivorstand zurücktraten, war der neu gewählte Vorstand keine Garantie für eine geänderte politische Linie. Ein weiteres Problem war, dass in den neuen Vorstand einige äußerst unbeliebte Persönlichkeiten ( Jozef Lenárt, Miroslav Štěpán, Miroslav Zavadil ) gewählt wurden, die rasch unter den Druck der eigenen Partei, aber auch der Öffentlichkeit gerieten. Aus diesem Grund traten bereits am 26. November alle Genannten zurück. Noch schwer wiegendere Folgen für die KPTsch hatte die Wahl des neuen Generalsekretärs Karel Urbánek. Spätere historische Bewertungen stellten zu Recht fest, dass er keine politische Konzeption besaß und lediglich „heiße Luft redete“.9 Die durch Urbánek geführte KPTsch geriet an die Peripherie der Ereignisse und griff in die Prozesse des Übergangs zur Demokratie nicht mehr ein. Die Sitzung des ZK der KPTsch am 24. November war jedoch noch wegen einer Tatsache wichtig. Die Armee schlug durch den Verteidigungsminister ( und ZK - Mitglied ) Václavík vor, „die Armee, die Sicherheit [ d. h. die Polizei ] und die Milizen [...] in Kampfbereitschaft zu versetzen, damit diese Einheiten vorbereitet sind, die Sachen zu lösen, sollte es zu irgendetwas kommen“. Václavík schlug ferner vor, „Maßnahmen gegenüber den Medien“ zu ergreifen und diese, „falls notwendig, dann mit Kraft“ zu beruhigen.10 Im Geiste der „chinesischen Lösung“ war der Verteidigungsminister bereits eine Woche zuvor auf der Sitzung des föderalen Parlamentes aufgetreten. Die Führung der KPTsch diskutierte zwar die Gewaltanwendung, fand allerdings zu diesem Schritt nicht genug Mut. Die Armee rechnete mit der Möglichkeit eines militärischen Eingreifens, ent-

9 Suk, Labyrintem revoluce, S. 136. 10 Poslední hurá. Tajné stenografické záznamy z posledních zasedání UV KSČ v listopadu 1989 ( Das letzte „Hurra“. Geheime stenographische Aufzeichnungen von den letzten Sitzungen der ZK KPTsch im November 1989), Prag 1992, S. 70.

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schied sich allerdings nicht zur selbständigen Vorgehensweise.11 Eines der Grundprinzipien des kommunistischen Regimes – die Unterordnung der Armee der politischen Führung der KPTsch – funktionierte also auch im Augenblick ihres Unterganges.

3.

Die Verhandlungen der Eliten

Wie bereits erwähnt, war die KPTsch paralysiert und ihre formelle ( alte wie neu gewählte ) Führung war nicht in der Lage, mit den oppositionellen Gruppen, die die Öffentlichkeit repräsentierten, Verhandlungen zu führen. In dieser Situation kam es zur faktischen Emanzipierung der staatlichen von den parteilichen Strukturen. Die Initiative ergriff Ladislav Adamec, der seit 1988 als der föderale Ministerpräsident amtierte. Als er am 24. November als Kandidat für den Parteivorsitz scheiterte, begann er mit dem Bürgerforum zu verhandeln. Sein Erfolgsrezept war das Entgegenkommen gegenüber dem Bürgerforum, dem er wiederum als geeigneter Partner für den Dialog erschien. Die Verhandlungen fingen bereits vor dem erfolgreichen Generalstreik an. Das Bürgerforum präsentierte seine Forderungen aus dem Gründungsmanifest. Adamec verlangte dagegen eine Begrenzung des Generalstreiks lediglich auf einige Minuten, um die wirtschaftlichen Verluste zu minimieren. Auf diese Forderung ging das Bürgerforum nicht ein, denn es fürchtete die Abschwächung der psychologischen Wirkung des Generalstreiks. Das Bürgerforum lud Adamec während der ersten Verhandlung zu einer geplanten Demonstration ein, die auf dem Letná - Platz in Prag stattfinden sollte. Adamec zeigte auf dieser Demonstration – welche wahrscheinlich die größte in der tschechischen Geschichte war; es nahmen mehr als eine halbe Million Menschen teil –, wie weit er von der Realität entfernt war. Er redete ausschließlich in der kommunistischen Phraseologie und wiederholte seinen Wunsch bezüglich der Minimierung des Generalstreiks. Die Demonstranten, die anfangs auf seiner Seite waren, antworteten mit massivem und lautem Widerspruch.12 Trotz dieses Misserfolgs blieb Adamec für das Bürgerforum auch weiterhin der Hauptpartner im Dialog mit dem zugrundegehenden Regime. Nach dem Erfolg des Generalstreiks, der letztlich zwei Stunden dauerte und an dem laut Umfragen 75 Prozent aller Arbeitnehmer teilnahmen, forderte das Bürgerforum die Beendigung der Massendemonstrationen. Es wollte sich in der nächsten Zeit auf die Verhandlungen über Veränderungen innerhalb des Regimes konzentrieren und seinen guten Willen, ohne den „Druck des Straße“ zu verhandeln, demonstrieren. Aus der Sicht der weiteren Entwicklung erwies sich jedoch diese Entscheidung als problematisch. Das Bürgerforum, das seine Legitimität vor 11

Vgl. Milan Otáhal, Opozice, moc, společnost 1969/1989 ( Opposition, Macht, Gesellschaft 1969/1989), Prag 1994, S. 11–30; Pavel Pečinka, Pod rudou vlajkou proti KSČ (Unter der roten Fahne gegen die KPTsch ), Brno 1999, S. 110. 12 Vgl. Milan Otáhal, Opozice, S. 113; Suk, Labyrintem revoluce, S. 49.

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allem aus der massiven Unterstützung bei den Demonstrationen schöpfte, die gerade gedämpft wurden, verlor hiermit den Kontakt zur Öffentlichkeit. Des Weiteren verlor es das wichtigste Druckmittel gegenüber dem Regime : die großen Demonstrationen. Das wesentlichste Problem war allerdings die Tatsache, dass das Bürgerforum Anfang Dezember 1989 kein Interesse an der Machtübernahme hatte – es wollte die Macht lediglich kontrollieren. In der Praxis erreichte das Bürgerforum die Gründung einer Untersuchungskommission der Ereignisse vom 17. November und die Streichung der führende Rolle der Partei und des Marxismus - Leninismus aus der Verfassung ( beides wurde bei der Parlamentssitzung am 29. November beschlossen ). Das Bürgerforum ließ aber Ladislav Adamec freie Hand bei der Ernennung der neuen Regierung. Dazu trugen u. a. die Drohung Adamecs bei, einen Militärputsch oder eine Verfassungskrise herbeizuführen, und die Behauptung, er sei der bevorzugte Kandidat Gorbatschows für den „Umbau ( Perestroika ) des Systems“. Gleichzeitig war dem Bürgerforum, dass es auf die Übernahme der Regierung und der damit verbundenen Verantwortung nicht ausreichend vorbereitet war. Adamecs „neue“ bzw. „zweite“ ( oder eher renovierte )13 Regierung – auch bekannt als „15+5“, d. h. 15 Kommunisten und fünf Nichtkommunisten ( ein Mitglied aus der Tschechoslowakischen Sozialistischen Partei, ein Mitglied aus der Volkspartei und drei Mitglieder ohne Parteizugehörigkeit ) – wurde der Öffentlichkeit am 3. Dezember 1989 präsentiert. Es war eine Regierung, mit deren Zusammensetzung die Vertreter des Bürgerforums zunächst einverstanden waren oder die sie zumindest nicht strikt ablehnten. Hier wurde jedoch der Kontaktverlust seitens des Bürgerforums zur Öffentlichkeit deutlich. Für die Öffentlichkeit war nämlich das Zugeständnis an die Kommunisten, ihnen zwei Drittel der Regierungssitze zu belassen – was vor einem Monat noch völlig unvorstellbar war –, nicht mehr ausreichend. Unmittelbar nach der Bekanntgabe der Regierungszusammensetzung begannen spontane Proteste.14 Das Bürgerforum reagierte sofort und lehnte unter dem Eindruck der Proteste die Regierung ab. Es betrachtete Adamec weiterhin als den am ehesten annehmbaren Kandidaten für die Funktion des Ministerpräsidenten und forderte somit lediglich eine Umbesetzung der Regierung. In diesen Tagen vollzog das Bürgerforum allerdings eine grundsätzliche Änderung seiner bisherigen Taktik, was einen schnelleren Verlauf der Transition ermöglichte. Es verließ die Taktik der äußeren Kontrolle und begann, über das direkte Engagement in der Exekutive mittels so genannter „vorgezogener Wachposten“ nachzudenken. Dies wurde bereits während der Bildung der tschechischen Nationalregierung ( also nicht der föderalen Regierung ) deutlich, die am 5. Dezember ernannt wurde und in der die Kommunisten keine Mehrheit mehr hatten – das Bürgerforum delegierte direkt einige Mitglieder. Diese Vorgehensweise wurde dann auch in den Verhandlungen über die föderale Regierung angewandt. 13 Aus Verfassungssicht handelte es sich um keine neue Regierung. Es kam lediglich zur Auswechslung einiger Regierungsmitglieder. 14 Vgl. Suk, Labyrintem revoluce, S. 58.

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Dafür sprachen sich vor allem die Ökonomen aus dem Prognostischen Institut der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften aus ( besonders nachdrücklich Václav Klaus, der heutige Präsident ). Sie begriffen, dass sie, gestützt auf Regierungsposten, die Ereignisse stärker als nur durch eine äußere Kontrolle beeinflussen konnten. Adamec wurde klar, dass sich sein Entscheidungsraum innerhalb der Regierung verkleinerte und so trat er am 5. Dezember mit der Begründung zurück, die Regierung sei „kein Verband von Freiwilligen“15 ( gemeint waren damit die nicht von ihm ausgewählten Mitglieder ). Er verließ die Bühne jedoch nicht sofort. Aus seinen Verhandlungen mit dem Bürgerforum entstammte der Vorschlag, Marián Čalfa zum neuen Ministerpräsidenten zu ernennen. Der Kommunist Čalfa war bis November 1989 Justizminister und hatte in der „15+5“ Regierung den Posten des ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten inne. Am 9. Dezember 1989 stellte er seine neue Regierung der „nationalen Verständigung“ vor. Ihr Hauptziel war es, das Land zu freien Wahlen zu führen, was eine der wichtigsten Forderungen der Demonstranten seit den Novemberereignissen darstellte. Noch vor der Bildung der Čalfa - Regierung fand am 8. Dezember eine von der KPTsch initiierte Verhandlung am Runden Tisch statt. Die Kommunisten gingen mit der Hoffnung in die Verhandlung, noch als Partei zurück „ins Spiel“ zu kommen, und nicht nur als einzelne Parteimitglieder, in den Lauf der Ereignisse eingreifen zu können. Am Runden Tisch nahmen die Vertreter des Bürgerforums, der „Öffentlichkeit gegen Gewalt“, der KPTsch, der Volkspartei, der Tschechoslowakischen Sozialistischen Partei und auch Vertreter von zwei slowakischen Parteien teil, die formell während der gesamten kommunistischen Herrschaft existiert hatten : die Partei der slowakischen Wiedergeburt und die Freiheitspartei. Weitere Teilnehmer stellten der Sozialistische Jugendverband und die Volksfront. Obwohl die Verhandlung keinen praktischen Einfluss auf die Ausgestaltung der Regierung Čalfa hatte ( die eigentliche Auswahl der Regierungsmitglieder nahm Čalfa selbst auch für die KPTsch vor, das Bürgerforum stimmte der Auswahl folglich zu und die KPTsch griff in das Verfahren praktisch nicht ein ), besaß sie eine große Bedeutung für das weitere Schicksal der KPTsch. Das offizielle Protokoll enthielt nämlich eine Passage, die besagte, dass bei diesem Treffen die „entscheidenden politischen Kräfte“ zusammen gekommen seien. Das Bürgerforum erkannte damit die KPTsch als einen relevanten und legitimen politischen Akteur an, und dies zu einem Zeitpunkt, als die politische Autorität der kommunistischen Partei eine stark sinkende Tendenz aufwies.16 15 Vladimír Hanzel, Zrychlený tep dějin. Autentické záznamy jednání představitelů státní moci s delegacemi hnutí Občanské fórum a Verejnosť proti násiliu v listopadu a prosinci 1989 ( Der beschleunigte Puls der Geschichte. Authentische Aufnahmen aus den Verhandlungen der Staatsmacht mit den Delegationen des Bürgerforums und der Bewegung „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ im November und Dezember 1989), Prag 1991, S. 165. 16 Zum Ablauf der Verhandlungen am Runden Tisch vgl. Hanzel, Zrychlený tep dějin, S. 295–380.

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Von diesem Augenblick an nahm der Druck zur Auf lösung der KPTsch ab, obwohl einige darüber in den nächsten Wochen noch nachdachten. Der tschechische „Runde Tisch“ ist keineswegs mit den „Runden Tischen“ in Polen oder in Ungarn zu vergleichen. Bei der Bildung und Ausgestaltung der Regierung Čalfa wurde zum ersten Mal die Kraft des Bürgerforums und sein Wille, Regierungsverantwortung zu übernehmen, offenkundig. Mit den „vorgezogenen Wachposten“ übernahm das Bürgerforum in der Regierung starke Positionen, vor allem in den Wirtschaftsressorts. Die Nichtkommunisten besetzten ebenfalls die Posten des ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten, des Außenministers und des Sozial - und Arbeitsministers. Beim ersten Blick auf die Parteizugehörigkeit der Regierungsmitglieder wird klar, dass das Bürgerforum nicht überlegen war – in der Regierung gab es zehn Kommunisten, zwei Mitglieder der Tschechoslowakischen Sozialistischen Partei, zwei der Volkspartei und sieben parteilose Mitglieder (nominiert durch das Bürgerforum und die „Öffentlichkeit gegen Gewalt“) –, aber bei einigen Kommunisten war ihre Parteimitgliedschaft nur noch ein Relikt der Vergangenheit und die KPTsch wurde von ihnen nicht mehr real repräsentiert.17 Von politischer Naivität des Bürgerforums zeugte dagegen das Verhalten seiner Vertreter im Hinblick auf die Besetzung der Schlüsselressorts wie des Verteidigungs - und des Innenministeriums, denen bei dem ( noch nicht vollendeten) Regimewechsel die allergrößte Bedeutung zukam. Die Amtsführung von Verteidigungsminister Miroslav Vacek, der früher Chef des Generalstabes des tschechoslowakischen Volksarmee gewesen war ( und auch nach den Wahlen im Jahr 1990 noch bis Oktober 1990 Minister blieb ), hinterließ keinen ersichtlichen Schaden. Das Innenministerium wurde jedoch zu einem schwer wiegenden Problem. Es wurde, ganz irrational, entschieden, dass seine Führung bis Ende Dezember 1989 kollektiv vom Ministerpräsidenten und den zwei ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten wahrgenommen werden sollte. Danach sollte die Führung des Ministeriums, was Václav Havel favorisierte, an Richard Sacher von der Volkspartei übergehen. In der Wirklichkeit führte dieses Modell zur faktischen Führungslosigkeit im Ressort. Dadurch wurde es z. B. möglich, dass ein Teil des Archivs der Staatssicherheit vernichtet werden konnte und wichtige Dokumente einfach verschwanden. Auch nach der Amtsübernahme Sachers blieb die Situation im Ressort unübersichtlich – und aus der Sicht der Öffentlichkeit nicht zufriedenstellend. So gab beispielsweise Sacher die Auf lösung der Staatssicherheit erst unter großem Druck am 1. Februar 1990 bekannt. Im Zusammenhang mit der Bildung der Regierung Čalfa hoffte Ladislav Adamec, dass er mit Hilfe des neuen Ministerpräsidenten einen gewissen Einfluss auf die Exekutive ausüben könnte. Auch das Bürgerforum betrachtete Čalfa nur als eine Übergangslösung. Marián Čalfa zeigte sich allerdings als ein flexibler 17

Valter Komárek und Vladimír Dlouhý verließen die KPTsch im Dezember 1989, Čalfa im Januar 1990.

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und fähiger Staatsbeamter, der sich sowohl in der formellen Verfassungsproblematik als auch in den informellen Facetten des damaligen politischen Systems gut auskannte. Er befreite sich sofort von jeglicher Verbindung zu Adamec und seiner Gruppe und orientierte sich auf das Bürgerforum. Eine Schlüsselrolle spielte dabei, dass er das Vertrauen Václav Havels gewann, und zwar durch die erfolgreiche Beeinflussung des politischen Geschehens hinter den Kulissen, was dann zur Wahl Havels zum Staatspräsidenten führte.

4.

Die Wahl Havels zum Staatspräsidenten

Die Regierung Čalfa wurde am 10. Dezember 1989 offiziell ernannt. Es war die letzte offizielle Amtshandlung des Präsidenten Husák vor seinem Rücktritt vom höchsten Staatsposten. In diesem Moment konnte ein weiteres „Spiel“ im Rahmen des tschechoslowakischen Übergangs zur Demokratie beginnen – und zwar der Kampf um den Posten des Staatspräsidenten, der in der Tschechoslowakei trotz relativ geringer formeller Bedeutung traditionell große Autorität genoss. Der Gedanke, Václav Havel zum Staatspräsidenten zu küren, tauchte bereits Anfang Dezember 1989 auf. Das Koordinierungszentrum des Bürgerforums wusste allerdings nicht so richtig, wie man ihn in die Wirklichkeit umsetzen könnte. Potenzielle Konkurrenten waren nämlich Ladislav Adamec, der bereits während seines Rücktritts als Ministerpräsident mit der Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten rechnete, und besonders der in der Slowakei außerordentlich populäre Alexander Dubček, der ehemalige Erste Sekretär des ZK der KPTsch aus der Zeit des Prager Frühlings im Jahr 1968. Hinter Dubček stand eine Reihe von slowakischen Institutionen und Organisationen, einschließlich der Kommunistischen Partei der Slowakei und des Präsidiums des slowakischen Parlamentes. Nicht ganz aussichtslos war auch ein weiterer Reformkommunist des Prager Frühlings, Čestmír Císař, unterstützt vom Sozialistischen Jugendverband. Eine improvisierte, am 6. Dezember 1989 in den Prager Straßen durchgeführte Umfrage zeigte, dass für Dubček elf Prozent der Befragten votiert hätten, für Adamec, Havel und Císař jeweils um ein Prozent. Der zu dieser Zeit populäre Valter Komárek, der jedoch keine Ambitionen für das Amt besaß, kam auf acht Prozent.18 Aus der Sicht des Bürgerforums entstand eine große Komplikation, als die KPTsch auf der zweiten Sitzung des Runden Tisches am 11. Dezember den Vorschlag präsentierte, dass der Staatspräsident künftig direkt von den Bürgern gewählt werden sollte. Gegen diesen Vorschlag konnte das Bürgerforum nur schlecht argumentieren. Das Bürgerforum, das selbst auf Grund von Massenprotesten entstanden war, lehnte den Vorschlag der KPTsch, die am Anfang der Transition von den Massen völlig abgekoppelt war, zur Einbindung der Massen in den Wahlprozess für das höchste Amt der Republik ab. Das Bürgerforum war 18 Suk, Labyrintem revoluce, S. 200.

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sich der Probleme mit der Wahlversammlung bewusst : Das föderale Parlament, das auch die Rolle der Wahlversammlung für die Wahl des Staatspräsidenten inne hatte, war nämlich im Jahr 1985 gewählt worden und bestand mit absoluter Mehrheit aus kommunistischen Abgeordneten. Diese Zusammensetzung schien weder für die Wahl des neuen nichtkommunistischen Präsidenten legitim zu sein, noch konnte man die Abgeordneten rasch auswechseln. Die Kommunisten nutzen diese Tatsache für ihre Argumentation zu Gunsten der direkten Wahl. Sie verließen sich darauf, dass Václav Havel und andere Oppositionsvertreter ( vielleicht mit Ausnahme von Alexander Dubček ) nicht so bekannt und populär waren, wie z. B. Ladislav Adamec. In dieser Situation schaltete sich am 15. Dezember Ministerpräsident Čalfa ein. Bei einem Geheimtreffen mit Havel bot er an, eine erfolgreiche Präsidentschaftswahl zu „organisieren“. Havel nahm das Angebot an und stimmte einer engen Kooperation mit Čalfa zu. Čalfa schlug die Wahl Dubčeks zum Vorsitzenden der Föderalen Versammlung vor, um auf diese Weise seine Kandidatur zu verhindern. Und so betonte Havel gleich am nächsten Tag in einer Fernsehansprache geschickt, dass, wenn er zum Staatspräsidenten gewählt werde, Alexander Dubček in einem anderen hohen Staatsamt ihm zur Seite stehen müsse. Nach intensiver Überzeugungsarbeit konnte man Dubček, der an dem Amt des Staatspräsidenten stark interessiert war, für den Vorsitz der Föderalen Versammlung gewinnen. Er wurde am 28. Dezember 1989 zunächst in die Föderale Versammlung kooptiert ( zusammen mit einigen anderen Abgeordneten ) und dann sofort zum Vorsitzenden des föderalen Parlamentes gewählt. Aufgrund der Einflussnahme Čalfas19 wurde einen Tag später in einer feierlichen Sitzung der Föderalen Versammlung auf der Prager Burg Václav Havel in einer öffentlichen Abstimmung einstimmig zum Präsidenten gewählt. Es ging also um keine Wahl im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern eher um eine Akklamation. Mit der Wahl Havels endete die erste Periode des tschechoslowakischen Übergangs zur Demokratie. Die zweite Phase wurde dann im Juni 1990 mit den freien Parlamentswahlen abgeschlossen, den ersten freien Wahlen seit 1935 übrigens. Charakteristisch für die Zwischenzeit waren Maßnahmen, die die sichtbarsten Komponenten des alten undemokratischen Regimes beseitigten. So kam es u. a. zur Abberufung einiger Abgeordneter und ihrer Ersetzung durch neue ( im Zuge der Kooptierung ), zum Wechsel der Staatssymbole, zur Auf lösung der Staatssicherheit, zur Beseitigung der staatlichen Aufsicht über die Kirchen. Auch wurden private Schulen zugelassen und erste Schritte zur Erneuerung der kommunalen Selbstver waltung unternommen.

19 Vgl. ebd., S. 224.

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Fazit

Die skizzierten Vorgänge lassen sich in folgenden vier Punkten zusammenfassen : 1. In der tschechoslowakischen Transition spielten sowohl die Massen als auch die Eliten eine bedeutsame Rolle. 2. Am Anfang spielten die Massen eine wichtige Rolle – vor allem mit ihrer Beteiligung an den Demonstrationen. Eine Schlüsselrolle kam dabei den Studenten und Schauspielern zu, als sie zu einem Generalstreik aufriefen. Auf dem Höhepunkt der Demonstrationen und des Proteststreiks wuchs die Bedeutung des Bürgerforums, einer Gruppierung, die primär von einer zahlenmäßig kleinen Gruppe von Dissidenten und Oppositionellen gegründet worden war. 3. Die Schlüsselrolle der Massen endete mit dem erfolgreichen Generalstreik am 27. November 1989, also bereits nach den ersten elf Tagen des gesamten Transitionsprozesses. Nach der Bildung der zweiten Regierung Adamec („15+5“) meldeten sich die Massen allerdings noch einmal zu Wort. Die öffentlichen Proteste und Demonstrationen führten zu einem Strategiewechsel bei den Eliten, vor allem beim Bürgerforum. 4. Die Schlüsselrolle der Eliten kam in zwei Perioden zum Tragen : In der Zeit zwischen dem Ende des Generalstreiks und der Bildung der zweiten Regierung Adamec und vor allem am Schluss der ersten Transitionsphase – unmittelbar vor der Wahl Havels zum Staatspräsidenten.

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Die spontane Macht der Gewaltlosen. Eine übersehene Erklärung für den Untergang der DDR Matthias Damm / Mark R. Thompson

1.

Übersehene Charakteristika der Revolution von 1989

Wir wollen in unserem Beitrag auf zwei Charakteristika der Ereignisse von 1989 hinweisen, von denen wir glauben, dass sie bisher zu wenig Aufmerksamkeit erfahren haben. Damit wollen wir gleichzeitig zwei Tendenzen der bisherigen Forschung entgegentreten, die unserer Meinung nach dazu geführt haben, dass entscheidende Mechanismen der Revolution bislang zu wenig Beachtung fanden. Es geht uns nicht darum, die Ergebnisse der zahllosen Studien, die in den vergangenen zwanzig Jahren zu diesem Thema angefertigt wurden, zu entkräften oder zu entwerten – wir wollen keineswegs das Rad neu erfinden, sondern vielmehr einen neuen, eher ungewöhnlichen Blick auf das richten, was inzwischen vollständig erklärt oder selbstverständlich erscheint. Die beiden Tendenzen, die wir in Frage stellen, sind einerseits die Neigung, die Gewaltlosigkeit der Revolution für selbstverständlich oder nicht erklärungsbedürftig zu halten. Andererseits sind wir der Meinung, dass die Forschung den Ereignissen des Herbst 1989 ein zu hohes Maß an Organisation unterstellt, obwohl das Geschehen vor allem in seiner frühen Phase tatsächlich kaum organisiert, sondern hauptsächlich spontan und ungeplant war. Man mag einwenden, gerade die Gewaltlosigkeit sei doch nicht übersehen worden – schließlich wird ja gerade das Faszinosum, dass diese Revolution so anders war als die Revolutionen, die uns aus der Geschichte bekannt sind, in den meisten Darstellungen der Ereignisse explizit betont. Nicht zuletzt ist auch der Begriff von der „Friedlichen Revolution“ einer der am meisten verwendeten. Und doch scheint es uns bei den meisten dieser Darstellungen bei einer bloßen Beschreibung der Ereignisse als friedlich, gewaltlos oder gewaltfrei zu bleiben. Übersehen wird dabei oft, dass das Ausbleiben von Gewalt nicht nur alles andere als selbstverständlich war : Es war zudem eine unbedingte Notwendigkeit für das Gelingen der Revolution. Ähnlich verhält es sich mit der Spontaneität : Dass in einer Gesellschaft wie der DDR die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft extrem eingeschränkt waren, bedarf kaum einer Erwähnung. Dass damit die Entstehung von organisieren Gruppen oder gar einer echten politischen Opposition kaum möglich war, ist

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ebenfalls keine neue Erkenntnis. Wie sich dann aber trotz dieser widrigen Umstände innerhalb kürzester Zeit eine so machtvolle Demonstrationsbewegung bilden konnte, scheint uns bislang zu wenig Gegenstand der Analyse gewesen zu sein. Und auch hier gilt : Die Spontaneität der Demonstrationsbewegung in ihrer frühen Phase war weit mehr als ein interessantes Detail. Auch sie war eine unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg der Revolution. Entwickelt hat sich diese Fragestellung ursprünglich aus der Beobachtung einer weiteren, noch auffälligeren Forschungslücke : Angesichts dessen, dass die Bezeichnung der Revolution in der DDR als „Friedliche Revolution“ fast schon ein Allgemeinplatz ist, verwundert es, dass die vorrangig im angelsächsischen Bereich angesiedelte Gewaltlosigkeitsforschung dem Phänomen bislang so gut wie keine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Bislang existiert gerade eine einzige Monographie, ein mehr als 15 Jahre altes dünnes Bändchen, das der australische Wissenschaftler Roland Bleiker während eines Forschungsaufenthalts in Deutschland verfasst hat.1 Davon abgesehen, herrscht aber ein bemerkenswertes Schweigen seitens der Gewaltlosigkeitsforscher. Die Ereignisse der DDR sind auch groß angelegten Überblicksdarstellungen oft nur eine kurze Erwähnung wert.2 Die aktuelle Gewaltlosigkeitsforschung konzentriert sich statt dessen meist auf Fälle, die ein höheres Organisationsniveau aufwiesen als die DDR. Als Beispiel kann der jüngst von Gene Sharp herausgegebene Sammelband „Waging Nonviolent Struggle“ dienen, in dem für den Zeitraum Ende der 80er Jahre nur den Protesten in China, Burma und der Tschechoslowakei eigene Kapitel gewidmet sind, die DDR aber keine Erwähnung findet.3 Sharp erkennt dabei durchaus an, dass es viele Beispiele für erfolgreiche spontane gewaltfreie Bewegungen gibt. Er hält den hohen Organisationsgrad einer Bewegung allerdings für ein entscheidendes Mittel, um ihre Erfolgschancen zu steigern : „Amazingly, many improvised nonviolent struggles have triumphed. There is now reason to believe that the effectiveness of this technique can be greatly increased with improved understanding of the requirements of this technique, and with development of strategic planning.“4 Spontane Entwicklungen hält er hingegen für riskant, fehlende Planung einer Widerstandsbewegung berge das Risiko des Scheiterns : „The result of such failures to plan is that the chances of success in the conflict are drastically reduced, and at times eliminated. [...] Hodgepodge activities do not move the struggle forward, but instead 1 2 3

4

Vgl. Roland Bleiker, Nonviolent Struggle and the Revolution in East Germany, Cambridge 1993. Vgl. z. B. Roger S. Powers ( Hg.), Protest, Power, and Change : an Encyclopedia of Nonviolent Action from ACT - UP to Women’s Suffrage, New York 1997, S. 441 f. Vgl. Joshua Paulson, The Liberation of Czechoslovakia – 1989. In : Gene Sharp ( Hg.), Waging Nonviolent Struggle. 20th Century Practice and 21st Century Potential, Boston 2005, S. 271–276; Joshua Paulson, Burmese Defy the Military Dictators – 1988–1990. In : ebd., S. 245–252; Joshua Paulson, Uprising and Repression in China – 1989. In : ebd., S. 253–270. Sharp, Waging Nonviolent Struggle, S. 45.

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result in scattered and unfocused actions or, worse, in the weakening of the movement.“5 Sharps Position ist angesichts seiner Rolle als einer der profiliertesten Theoretiker und Aktivisten des gewaltfreien Widerstandes nachvollziehbar : Die zahlreichen erfolgreichen gewaltfreien Widerstandsbewegungen, an denen er selbst beteiligt war, profitierten in der Tat von guter Organisation und Planung. Allerdings wäre es fatal, aus Sharps Analyse den Umkehrschluss zu ziehen, spontane gewaltfreie Bewegungen seien per se zum Scheitern verurteilt. Das Beispiel der Revolution in der DDR beweist nicht nur, dass auch eine weitgehend spontan entstandene Bewegung in der Lage sein kann, diszipliniert und besonnen zu handeln. Sie zeigt darüber hinaus auch, dass die Konzentration auf eine gute Organisation, wie sie Sharp fordert, dem Erfolg einer Bewegung im Wege stehen kann: Gerade im Konflikt mit undemokratischen Regimen, bei denen nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie ihre Gegner mit rechtsstaatlichen Methoden behandeln oder sich an informelle Spielregeln halten, können die Methoden, welche die klassische Gewaltlosigkeitsforschung beschrieben hat, in vielen Fällen nicht verfangen – die gewaltfreien Aktivisten würden von solch einem Gegner verfolgt und ausgeschaltet werden und könnten ihre moralische Überlegenheit nicht ausspielen. Wir wollen daher im Folgenden zeigen, dass den Vorteilen organisierter Bewegungen, wie sie Sharp herausgearbeitet hat, auch Vorteile von ungeplanten und spontanen Ereignissen gegenüberstehen. Bei allen Risiken, die spontane Organisationsformen bergen, ermöglichen diese die Entstehung eines für das Regime nicht fassbaren Gegners, der in der Lage sein kann, die Vorkehrungen zu unterlaufen, die autokratische Herrschaftssysteme gegen ihre Gegner zu treffen pflegen. Ein hoher Organisationsgrad erfordert immer Strukturen, die in einem repressiven System einerseits nur unter größten Anstrengungen entstehen können und andererseits die Widerstandsbewegung dem einfachen Zugriff des Gegners aussetzen. Der Verzicht auf organisierte Strukturen hingegen erschwert es den Regimevertretern, die Bewegung zu kontrollieren, zu unterwandern und zu zerstören. Gerade diese Immunisierung für die Kontrollversuche des Staates stellt für uns im Fall der Revolution in der DDR den Schlüssel für den Erfolg dar. Wir wollen in dieser Studie Aspekte behandeln, denen unserer Meinung nach sowohl die klassische DDR - Forschung als auch die Gewaltlosigkeitsforschung bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben. Damit wollen wir eine Lücke schließen, auf die bereits 1993 in dem bekannten Werk von Karl - Dieter Opp, Peter Voß und Christiane Gern über die „volkseigene Revolution“6 hingewiesen wurde. In diesem Buch formulierte Opp auf wenigen Seiten „Bedin5 6

Ebd., S. 442. Karl - Dieter Opp / Peter Voß / Christiane Gern, Die volkseigene Revolution, Stuttgart 1993.

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gungen für die Entstehung spontaner, gewaltloser Revolutionen“,7 beließ es aber bei einer groben Skizze, da diesem Aspekt nicht sein hauptsächliches Interesse galt. Aufgreifen wollen wir zudem die ganze Reihe von Arbeiten, die sich mit dem Wechselspiel der verschiedenen Strömungen der oppositionellen Bewegung beschäftigen, der Ausreise - und Fluchtwelle sowie der Demonstrationsbewegung.8 Wir wollen in Anlehnung an die Terminologie Albert Hirschmans9 die Ausreisebewegung als Exit- und die Demonstrationswelle als Voice- Opposition bezeichnen.

2.

Ein Neuer Blick auf das Geschehen von 1989 : Eine alternative Erklärung

Unser Ansatz mündet in drei Thesen, die wir nun vorstellen und erläutern wollen. These 1 : Der entscheidende Faktor für den Erfolg der Revolution war das Zusammenspiel zweier Gruppen : Der Exit- Bewegung der Ausreisewilligen sowie der Voice- Strömung der Massendemonstrationen. In ihrer personellen Zusammensetzung lassen sich diese Gruppen nicht immer trennscharf voneinander unterscheiden. Dennoch stehen sie für zwei grundlegend verschiedene Motive für politischen Protest in der untergehenden DDR. Unter dem Begriff der Exit- Opposition verstehen wir die Ausreisewelle, die seit Mitte des Jahres 1989 dafür sorgte, dass der gesellschaftliche Umbruch in der DDR in Gang geriet. Die Ausreisewilligen werden häufig als Gegenpart zur Demonstrationsbewegung beschrieben. Ihre Bewertung fällt dabei teilweise deutlich negativ aus : Den Ausreisewilligen wird oft unterstellt, nur aus egoistischen Motiven gehandelt zu haben, als sie der DDR den Rücken kehrten und kein Interesse an einer Reform des Staates zeigten. Auch wenn die Entscheidung zum Verlassen der DDR jeder für sich traf, können die „Ausreisewilligen“ doch als eine politische Bewegung betrachtet werden, nämlich als eine Bewegung derer, für die an der DDR nichts mehr zu ret-

7 8

9

Ebd., S. 296 ff. Vgl. neben Hirschmans eigener Analyse der Ereignisse in der DDR ( Albert O. Hirschman, Abwanderung und Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Essay zur konzeptionellen Geschichte. In : Leviathan, 20 [1992], S. 330–358) und der relativ neuen und sehr aufschlussreichen Arbeit von Steven Pfaff (Steven Pfaff, Exit - voice dynamics and the collapse of East Germany. The crisis of Leninism and the revolution of 1989, Durham 2006) unsere eigenen Ansätze, insbesondere Mark R. Thompson, Why and How East Germans Rebelled. In : Theory and Society, 25 (1996) 2, S. 263–299; Matthias Damm, Die Gewaltlosigkeit des Umbruchs in der DDR. Magisterarbeit, Universität Erlangen - Nürnberg 2002. Vgl. Albert O. Hirschman, Exit, Voice, and Loyality. Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge 1970.

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ten war, die mit ihrem Weggang Lücken in die Strukturen von Gesellschaft und Infrastruktur rissen und die mit ihrem Desinteresse an der DDR diejenigen motivierten, die eine Reform des Staates anstrebten. Nicht nur wegen der deutlich zur Schau getragenen Missbilligung durch das Regime war die Exit- Bewegung ein entscheidender Faktor für den Beginn der Friedlichen Revolution : Die plötzliche Mobilisierung durch die Ausreisewelle diente als Initialzündung für die zweite Bewegung, die Voice- Opposition. In dieser sammelten sich jene, die den Staat nicht verlassen konnten oder wollten und die mit der Formel „Wir sind das Volk!“ die Legitimität der SED - Herrschaft bestritten. Anders als im „Wippen - Schema“, gemäß dem Exit und Voice laut der klassischen Hirschman’schen Theorie10 funktionieren, traten diese beiden Arten der Mobilisierung im Herbst 1989 gemeinsam auf : Als Verbündete, wie Hirschman selbst Anfang der 90er Jahre formuliert hat.11 Es ist kaum zu übersehen, dass der entscheidende Auslöser für das Entstehen einer Massenbewegung gerade die Ausreisewilligen waren. Der Frust darüber, dass so viele Menschen plötzlich aus Freundeskreis und Arbeitsumfeld verschwanden, die dramatischen Bilder aus den besetzten Botschaften und auch die angesichts der Fluchtbewegung schwindende Hoffnung, einen Wandel in der DDR auslösen zu können, waren die Initialzündung für die breite Demonstrationsbewegung. Exit und Voice waren also nicht nur Verbündete, Exit trieb Voice an.12 In der bisherigen Forschung wurde dieser Mechanismus oft vernachlässigt. Insbesondere scheint es in vielen Darstellungen einen Bias zugunsten der organisierten Oppositionsgruppen zu geben. Obwohl die Bedeutung des Neuen Forum und der vielen weiteren Gruppen vor allem für die späteren Phasen der Revolution kaum hoch genug eingeschätzt werden kann, war ihr Einfluss auf die Ausweitung der lokal begrenzten Proteste zu einer Massenbewegung doch eher gering.13 Natürlich gibt es eine lange Tradition widerständigen Verhaltens in der DDR aus dem Umfeld des schwach organisierten Oppositionsmilieus, von den zahlreichen etwa an Umweltfragen orientierten Protesten bis hin zum Nachweis der Wahlfälschungen im Frühjahr 1989. Der Organisationsgrad dieser Gruppen ist bis zum Herbst 1989 aber eher niedrig einzuschätzen. Auch die zahlenmäßige Größe des oppositionellen Milieus lag weit unter der Zahl derer, die sich im Herbst 1989 öffentlich gegen das Regime stellten.

10 11 12 13

Vgl. Hirschman, Exit, Voice and Loyality. Vgl. Hirschman, Abwanderung und Widerspruch. Vgl. Thompson, Why and How East Germans Rebelled. Vgl. auch Karl - Dieter Opp, Wie erklärt man die Revolution in der DDR ? In : Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 5 (1992) 1, S. 6–23. Zur organisierten Opposition in der DDR liegt eine große Zahl an Darstellungen vor. Vgl. z. B. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, 2. Auflage Bonn 1998; Karsten Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der DDR, Göttingen 2000.

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Der Bewegung fehlte zudem eine dezidierte inhaltliche Basis. Obwohl die Forderung nach der Zulassung des Neuen Forum einer der häufigsten Slogans der Demonstranten war, unterlagen die Demonstrationen keiner einheitlichen Programmatik, die durch die organisierten Gruppen vorgegeben worden wäre. Statt dessen ist eher ein Mangel an konkret formulierten Zielen festzustellen : Die oppositionellen Strömungen, die sich beispielsweise im Umfeld der Leipziger Friedensgebete entwickelten, waren vielmehr Ausdruck einer diffusen Unzufriedenheit angesichts der zahlreichen Einschränkungen der politischen und gesellschaftlichen Freiheit in dem posttotalitären Staat. Es war also nur folgerichtig, dass die Aktionen der Protestierenden viel weniger organisiert waren, als es heute manchmal erscheinen mag, sondern in aller Regel spontan stattfanden : Dort, wo es wie in Leipzig mit den Friedensgebeten einen räumlichen und zeitlichen Anlaufpunkt gab, bildete sich eine von Woche zu Woche an Stärke zunehmende Bewegung, ohne dass hierzu eine Organisation notwendig gewesen wäre. Opp nennt diesen Mechanismus „spontane Kooperation“.14 Die Bedeutung solcher informellen Organisationskeime wie die Nikolaikirche wurde unter anderem von Karsten Timmer her vorgehoben. Er sieht die Entwicklung im Herbst 1989 als Wechselspiel zwischen spontanen Ereignissen und Elementen, die das Geschehen lenkten. An den entscheidenden Montagen im September und Oktober war ein beträchtliches Potential an Unzufriedenheit vorhanden, das lediglich mobilisiert werden musste. Mangels Kommunikationsmöglichkeiten und mangels organisierter Führung der Demonstrationsbewegung orientierten sich die Unzufriedenen an symbolischen Orten wie der Nikolaikirche, die seit langem als Ort der kritischen Auseinandersetzung mit dem Regime etabliert war und die mit der Regelmäßigkeit der allmontaglichen Friedensgebete einen zeitlichen Takt vorgab. „Die Umsetzung des Mobilisierungspotentials war“, so Timmer, „kein Selbstläufer. Sie bedurfte organisatorischer Kristallisationspunkte, an die sich der Protest anlagern konnte, und ideeller Deutungsangebote, in deren Rahmen die Unzufriedenheit gebündelt und die Krise interpretiert werden konnte.“15 Zuzustimmen ist dem insofern, als dass Punkte wie die Nikolaikirche in der Tat Ort, Zeit und Anlass für die Massendemonstrationen vorgaben. Allerdings erscheint uns der Begriff der Organisation für dieses Phänomen eher weit gefasst. Schließlich wurde hier keine bewusst planende Instanz tätig. Orte wie die Nikolaikirche dienten allenfalls als informelle Ordnungskriterien. Die Konzentration der Ereignisse an diesen informellen Strukturen darf also nicht als Organisation fehlgedeutet werden. Die Funktionsweise der Kristallisationspunkte kam auf verschiedenen Ebenen zum Tragen : Sie dienten einerseits als geographischer Anlaufpunkt, der von vielen Menschen leicht und mit geringem 14

Karl - Dieter Opp / Christiane Gern, Dissident Groups, Personal Networks, and Spontaneous Cooperation. The East German Revolution of 1989. In : American Sociological Review, 58 (1993), S. 659–680; Opp / Voß / Gern, Die volkseigene Revolution, S. 77 ff., 259 ff. 15 Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch, S. 122.

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Risiko zu erreichen war. Andererseits waren sie aber auch Taktgeber für die zeitliche Organisation, indem regelmäßige Ereignisse wie Gottesdienste Kommunikation oder Absprachen zwischen den Demonstranten unnötig machten. Was für einen Beobachter letztendlich wie eine organisierte Bewegung aussehen musste ( und von den Sicherheitskräften in der DDR ja auch so gedeutet wurde ), war also tatsächlich das Ergebnis einer spontanen, sich von Woche zu Woche verstärkenden Bewegung. Das Kriterium, an welchem die Abgrenzung der Ereignisse des Oktober 1989 von einer organisierten Bewegung festzumachen ist, ist nicht das Fehlen von Regelmäßigkeit, sondern das Fehlen von Struktur, Planung und Hierarchie. Die Teilnehmer der Demonstrationen sahen sich ( zumindest in der entscheidenden frühen Phase der Bewegung ) nicht als Teil einer strukturierten oder organisierten Gruppe. Sie handelten zwar gleichzeitig, aber individuell; die Entscheidung zum Handeln war eine Entscheidung vieler Einzelner und keine Entscheidung, die von einer planenden Instanz vorgegeben worden wäre. Timmer beschreibt in diesem Zusammenhang ein Phänomen, das die Bewegungsforschung als milling ( „Umherstreifen“ ) bezeichnet :16 Der Termin der Friedensgebete an jedem Montag um 17.00 Uhr erwies sich insofern als überaus günstig, als es zu diesem Zeitpunkt – nach Arbeitsende, aber vor Ladenschluss – möglich war, sich völlig unverdächtig in der Innenstadt aufzuhalten.17 Der Entschluss, sich zurückzuziehen oder aber sich den Demonstranten anzuschließen, konnte so von jedem Einzelnen ganz spontan und in Abwägung der Risiken und im Kontakt mit den anderen Anwesenden gefällt werden. Die unorganisierte Gleichzeitigkeit der Demonstranten war sogar in der Lage, spontan auf Änderungen der Lage zu reagieren : Wo eine gefährliche Zuspitzung der Ereignisse stattfand, wie etwa in Dresden an den Tagen vor dem 40. Jahrestag der DDR, entspannte sich die Situation ebenfalls als Ergebnis spontanen Handelns, in diesem Fall durch die Bildung der „Gruppe der 20“ nach dem Dialogangebot von Frank Richter an die Einsatzkräfte. These 2 : Die Spontaneität der Ereignisse war entscheidend für das Unvermögen des DDR - Regimes, die Situation zu kontrollieren. Wir kommen damit zu unserer zweiten These. Der bislang oft übersehene spontane Charakter der Ereignisse war entscheidend dafür, dass es dem DDR Regime nicht gelang, die Revolution unter Kontrolle zu bringen. In vielen Darstellungen ist die Unentschlossenheit und Kopf losigkeit des SED - Regimes angesichts eines anfangs scheinbar so harmlosen Gegners hervorgehoben worden. 16 Ebd., S. 168. 17 Gewählt wurde dieser Termin, der seit Einführung der Friedensgebete Anfang der 80er Jahre unverändert geblieben war, aus ganz schlichten Gründen : Das Ende der Veranstaltung sollte mit dem Zeitpunkt um 18.00 Uhr zusammenfallen, zu dem die Nikolaikirche für Besucher geschlossen wurde. Vgl. Friedrich Magirius, „Selig sind, die Frieden stiften ...“. Friedensgebete in St. Nikolai zu Leipzig. In : Jörg Hildebrandt / Gerhard Thomas ( Hg.), Unser Glaube mischt sich ein. Evangelische Kirche in der DDR 1989. Berichte, Fragen, Verdeutlichungen, Berlin 1990, S. 92–99, hier 92.

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Das Ancien Régime schien wie das Kaninchen vor der Schlange zu stehen und völlig überfordert zu sein von dem, was sich im Herbst abspielte. Das ist angesichts des grotesk aufgeblähten Sicherheitsapparates der DDR zunächst sehr bemerkenswert, könnte man doch vermuten, dass ein Staat, der mehr Energie als fast jedes andere System der Geschichte darauf verwandte, seine Bürger zu beobachten, eine für ihn gefährliche Entwicklung frühzeitig erkennen sollte. Es ist rückblickend wohl nicht mehr im Detail nachzuweisen, welche Informationen die Stasi über die organisierten oppositionellen Gruppen oder über die sich ad hoc formierende Bewegung etwa im Umfeld der Leipziger Friedensgebete hatte. Wir können aber davon ausgehen, dass der Sicherheitsapparat über den größten Teil der Aktivitäten gut informiert war.18 Dass es dem Ancien Régime dennoch nicht gelang, die Entwicklung der Bewegung einzudämmen oder gar zu kontrollieren, lag nicht nur daran, dass man sie inhaltlich auf fatale Weise unterschätzte und ihr nicht das Potential zu einer Infragestellung der SED - Herrschaft zuschrieb. Dazu kam, dass sich die Demonstrationsbewegung als ein Gegner herausstellte, der von den Mitteln des Systems kaum zu erfassen war. Die von Woche zu Woche anwachsenden Demonstrationen kamen ohne jegliche organisierende Instanz aus. Der spontane und unorganisierte Charakter der Bewegung ließ die Bemühungen des Sicherheitsapparates, „Rädelsführer“ zu identifizieren, ins Leere laufen. Da sich beispielsweise in Leipzig die Demonstrationen an die vom Staat seit langem geduldeten und terminlich festliegenden Friedensgebete anschlossen, musste niemand Aufrufe verfassen oder Flugblätter verteilen und sich dadurch dem Regime gegenüber exponieren. Flüsterpropaganda und die Berichterstattung der westlichen Medien genügten, um die Information über das Stattfinden der Demonstrationen zu verbreiten. Dazu kam, dass die inhaltliche Unbestimmtheit der Aktionen eine Verfolgung erschwerte : Die Bewegung verfügte, wie bereits ausgeführt, bis lange in den Herbst 1989 über keine festgelegten Ziele, die über die generelle Ablehnung der Zustände in der DDR hinausgegangen wären. Wo sich Slogans bildeten ( und man darf mutmaßen, dass diese spontan aus der jeweiligen Situation heraus geboren wurden ), war ihnen – auch bei den beiden wichtigsten: „Keine Gewalt!“ und „Wir sind das Volk !“ – ihre Sprengkraft nicht auf den ersten Blick anzusehen. Der spontane Charakter alleine erklärt allerdings noch nicht die Zurückhaltung des Regimes gegenüber der revolutionären Bewegung. Als Anfang Oktober 1989 die Dynamik der Ereignisse aus Sicht des Regimes außer Kontrolle

18 Dieser Aspekt kann hier nicht ausführlich behandelt werden. Vgl. aber die umfangreiche Literatur zur Rolle des Staatssicherheitsdienstes der DDR, etwa Walter Süß, Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, Berlin 1999; Sandra Pingel - Schliemann, Zersetzen. Strategie einer Diktatur, Berlin 2002.

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geraten war, wäre es durchaus denkbar gewesen, dass das Regime die Revolution mit Gewalt niederschlägt. These 3 : Die Gewaltlosigkeit der Bewegung verhinderte eine gewaltsame Zerschlagung der Revolution durch das geschwächte Regime. Unsere dritte These lautet, dass die gewaltsame Unterdrückung der Revolution vor allem dadurch verhindert wurde, dass die oppositionelle Bewegung fast völlig auf Gewalt verzichtete. Es ist bereits viel darüber spekuliert worden, warum die DDR - Führung nicht im letzten Moment den Weg einer „chinesischen Lösung“ wählte und die Bewegung blutig beendete. Tatsächlich war es wohl vor allem so, dass die Demonstranten durch ihren Gewaltverzicht ein gewaltsames Eingreifen des Regimes extrem erschwerten. Auch wenn die konkreten Ziele der Bewegung eher diffus waren, war doch eine zentrale Einsicht verbreitet : Erfolgreich konnte ein Aufstand gegen ein so übermächtiges Regime nur sein, wenn die Bewegung dem Staat so wenig Ansatzpunkte für eine Gegenwehr bot wie möglich. Auch diesem Aspekt wurde bislang zu wenig Beachtung geschenkt. Natürlich ist die Bezeichnung der Revolution von 1989 als „friedlich“ ausgesprochen verbreitet. Nur selten aber wird thematisiert, wie notwendig der Gewaltverzicht für den Erfolg der Revolution war. Es handelte sich bei der „friedlichen Revolution“ nämlich um ein Ereignis, dessen Ausgang prinzipiell offen war – der Weg hin zur Friedlichkeit war keineswegs vorherbestimmt. Am offensichtlichsten ist dies angesichts dessen, was Anfang Oktober 1989 in Dresden stattfand und heute als „Schlacht um den Hauptbahnhof“ bezeichnet wird – ein Aspekt der Revolution, der, obwohl er eines der zentralen Ereignisse war, bislang keinen echten Eingang in die Überlieferung des Revolutionsherbstes gefunden hat. Letztlich ist es egal, ob unter denen, die in Dresden die Inneneinrichtung des Bahnhofes zerstörten und sich eine Straßenschlacht mit der Polizei lieferten, Provokateure waren, oder ob sich hier der Zorn der an der Grenze abgewiesenen Ausreisewilligen entlud. Dieses Ereignis, das erst einige Tage später in die Gründung der „Gruppe der 20“ mündete, hätte zum Fanal der Revolution werden können, zum Auslöser und zur Rechtfertigung eines gewaltsamen Eingreifens der Sicherheitskräfte und somit der „chinesischen Lösung“, welche die Demonstranten immer befürchtet hatten. Anhand der überlieferten Aussagen und Berichte der Demonstrationsteilnehmer lässt sich zeigen, dass die Angst vor einer Eskalation allgegenwärtig war, etwa angesichts der Berichte über für Leipzig angeforderte Blutkonserven und Ärzte mit Erfahrung bei Schussverletzungen. Auch hier ist es letztlich egal, ob diese Gerüchte durch das Regime gezielt gestreut wurden, wie eine weit verbreitete Theorie aussagt, und ob sie tatsächlich eine Grundlage hatten – alleine die Tatsache, dass die Gerüchte unter den Demonstranten bekannt waren, ist entscheidend. Es lässt sich ebenfalls nachweisen, dass den Demonstranten die Logik eines so asymmetrischen Konflikts gegen einen übermächtigen Gegner bewusst war. Aus Berichten, Flugblättern und Aufrufen geht hervor, dass die große Mehrzahl

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der Demonstranten sich nicht nur aus Angst, aufgrund einer „neurotischen Gehemmtheit“19 oder aus Mitläufertum friedlich verhielt : Es war ihnen vielmehr bewusst, dass Ereignisse wie die in Dresden vom Regime als Vorwand für eine Niederschlagung der Proteste verwendet werden würden. Diese Einsicht entstand an vielen Stellen sicherlich aus der jeweiligen Situation heraus. Dazu kommt, dass in vielen entscheidenden Situationen Menschen vor Ort waren, denen es gelang, die Logik des Gewaltverzichts der Menge zu vermitteln. Das wichtigste Beispiel hierfür ist sicherlich das Eingreifen von Frank Richter und Andreas Leuschner bei der Bildung der „Gruppe der 20“ in Dresden. Aber auch am Kristallisationpunkt Leipziger Nikolaikirche gelang es den Kirchenvertretern, in den jeweiligen Friedensgebeten erfolgreich auf einen friedlichen Verlauf der Demonstrationen hinzuwirken. Ein gewaltfreies20 Handeln entzog den scheinbar übermächtigen Mitteln des Staates aber ihre Schlagkraft.21 Mit ihrer Gewaltfreiheit schwächten die demonstrierenden Massen also die Gegenwehr des DDR - Regimes. Die Demonstrationsbewegung folgte der Logik des asymmetrischen Konflikts. Angesichts der objektiv weitaus überlegenen Machtmittel des Regimes durfte sie nicht riskieren, dass die Sicherheitskräfte ihr Verhalten als Vorwand für ein gewaltsames Vorgehen nutzten. Diese Logik hatte auch eine entscheidende Wirkung auf die Wahrnehmung der Bewegung, sowohl durch die Öffentlichkeit als auch durch das Regime : Dieses hatte ja lange mit der Taktik operiert, die Demonstranten als Rowdies zu verunglimpfen und zu marginalisieren. Der friedliche und massenhafte Protest erschwerte dies aber zunehmend – allzu offensichtlich war der Widerspruch zwischen dem, was in den Medien behauptet wurde, und dem, was auf den Straßen zu sehen war. Die Maßnahmen, mit denen gegen die Demonstrationen vorgegangen wurde, seien es „Zuführungen“ oder die gewaltsame Auf lösung von Demonstrationen, wie sie Anfang Oktober 19 Vgl. Hans - Joachim Maaz, Der Gefühlsstau. Das Psychogramm der DDR, Berlin 1990, S. 168. 20 Der Begriff „gewaltfrei“ wird in der deutschsprachigen Literatur in der Regel verwendet, wenn gekennzeichnet werden soll, dass Gewaltverzicht als strategisch motiviertes Mittel eingesetzt wird. Eine Bewegung, die lediglich zufällig oder aufgrund fehlender Mittel keine Gewalt anwendet, wird in diesem engeren Sinn als „gewaltlos“ bezeichnet. Vgl. Wolfgang Sternstein, Gewaltfreiheit als revolutionäres Prinzip. Zwölf Thesen, Frauenfeld 1979, S. 3. 21 Zur Beschreibung dieser inneren Logik haben wir an anderer Stelle ( Matthias Damm / Mark R. Thompson, Wende oder friedliche Revolution ? Ungleiche Deutungen einer historischen Zäsur. In : Totalitarismus und Demokratie, 6 (2009) 1, S. 21–35) bereits den in der Gewaltlosigkeitsforschung eingeführten Begriff des politischen Jiu Jitsu vorgeschlagen. Der Begriff spielt auf die Funktionsweise der japanischen Kampfkunst Jiu Jitsu an, bei der ( ähnlich wie beim Judo ) die Angriffe des Gegners unschädlich gemacht werden, indem der Kontrahent versucht, dessen Kraft aufzunehmen und gegen ihn zu richten. Politisches Jiu Jitsu bezeichnet demnach den Mechanismus, der zu einem Legitimationsverlust des Ancien Régime führt. Obwohl dieses objektiv über weit überlegene Machtmittel und Ressourcen verfügt, werden diese im Angesicht des gewaltfreien Widerstands nutzlos. Das Regime gerät in interne Richtungsstreitigkeiten und eine Loyalitätskrise, die Mobilisierung der gewaltfreien Opposition wird forciert.

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in Leipzig bereits vorgekommen waren und auch für den 9. Oktober offensichtlich geplant wurden, erschienen im Lichte der friedlichen Proteste unangemessen. Je weiter die öffentlichen Verunglimpfungen der Bewegung von der wahrgenommenen Realität abwichen, desto mehr Menschen waren bereit, sich an den Demonstrationen zu beteiligen. Hierdurch ist beispielsweise die Dynamik der Ereignisse in Dresden von bürgerkriegsähnlichen Zuständen hin zu gewaltlosen Demonstrationen zu erklären. Auch über die in der DDR stets präsenten Auslandsmedien wurde das Bild transportiert, dass sich in der DDR eine legitime, zwar wütende, aber friedliche Bewegung gegen ein illegitimes Regime erhob. Die vielleicht entscheidendste Wirkung hatte die Gewaltfreiheit aber auf das Regime selbst. Der so offensichtliche Widerspruch zwischen Propaganda und Realität schwächte auch die Loyalität der Regimevertreter auf allen Ebenen, angefangen von den „gesellschaftlichen Kräften“ und den Kampfgruppen, welche ja oft im direkten Konflikt mit den Demonstranten eingesetzt wurden, bis hin zu den Führungsebenen und hohen Parteikadern. Der Loyalitätsverlust führte schließlich zu enormer Verwirrung und Handlungsunfähigkeit. So wenig man der DDR - Führung auch Skrupel beim Umgang mit ihren Gegnern unterstellen kann, so wichtig war ihr doch die Aufrechterhaltung einer Fassade. Man konnte oder wollte es sich nicht leisten, gegen eine Bewegung mit offener Gewalt vorzugehen, die sich zwar am Rande der Legalität ( oder auch jenseits ) bewegte, aber auf enorme Sympathien der breiten Bevölkerung stieß, einschließlich vieler Menschen innerhalb des Apparates. Da an der Spitze des Systems keine Entscheidung zu einem harten Durchgreifen getroffen wurde, verlagerte sich die Entscheidungsebene immer weiter nach unten, letztlich bis zu den Einsatzführern vor Ort, die mit ihren Kräften friedlichen Demonstranten gegenüberstanden. Es ist gut dokumentiert, dass diese in einer Mischung aus Ratlosigkeit, Resignation, fehlendem Vertrauen in die Loyalität ihrer eigenen Untergebenen und Angst davor, als Verantwortliche für ein Massaker in die Geschichte einzugehen, den Konflikt aussaßen, sich zurückzogen und dem Volk die Straße überließen. Der schleichende Legitimationsverlust, der das gewaltsame Vorgehen des Ancien Régime erschwerte, hatte sich bereits mit Gorbatschows Machtantritt angekündigt. Das Regime hatte seitdem seine Legitimation nicht nur gegenüber den Bürgerrechtlern und Demonstranten eingebüßt, auch nach innen war es bereits weitgehend erodiert.22 In seiner Studie über die ostdeutschen Sicherheitseliten23 hat Daniel Friedheim Belege dafür vorgelegt, dass die von der Unterstützung der Sowjetunion abhängigen Regime nach Gorbatschows Machtantritt ihre innere Legitimation verloren hatten. Seine Untersuchung des Handelns der Mitglieder der geheimen 22 Vgl. hierzu auch Mark R. Thompson, To Shoot or not to Shoot. Post - Totalitarianism in China and Eastern Europe. In : Comparative Politics, 34 (2000) 1, S. 63–83. 23 Daniel V. Friedheim, Democratic Transition Through Regime Collapse : East Germany in 1989, Diss. Yale 1997.

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Krisenstäbe – Parteiführer, zivile Staatsvertreter, Geheimdienstoffiziere – haben gezeigt, dass die vorher fast uneingeschränkte Unterstützung, welche die Ziele der SED innerhalb der Partei erfahren hatten, abrupt verfiel, nachdem die Entscheidung gefallen war, sich nicht Gorbatschows reformistischem Kurs anzuschließen. Friedheims Schluss hieraus ist, dass die verknöcherte Führungsriege in Ostdeutschland zwar noch lange eine Fassade der Stabilität aufrecht erhalten konnte. Nachdem der Charakter der Moskauer Hegemonie sich verändert hatte, verloren viele SED - Mitglieder aber ihren Glauben in die Legitimität ihrer Partei, und auch die Loyalität des Militärapparates begann zu bröckeln. So schwächte im erstarrten post - totalitären Regime der DDR ( wie auch der Tschechoslowakei ) der Verlust der Unterstützung durch die Sowjetunion zusätzlich die Legitimität der Partei, die bereits durch den Verfall der Ideologie und die Wirtschaftskrise massiv erodiert war. Die Gesellschaft war dabei nur scheinbar passiv – tatsächlich war sie sozioökonomisch hoch modernisiert und konnte politisch leicht mobilisiert werden. Als Gorbatschows neuer Kurs sowie die demokratischen Transitionen in Polen und Ungarn die politische Gelegenheit boten, konnte eine kleine gesellschaftliche Strömung, welche das Ende des Kommunismus forderte, schnell immer breitere Unterstützung gewinnen, bis schließlich der kritische Punkt erreicht war, an dem das Regime überwunden wurde. Angesichts der fehlenden Legitimität und der Unsicherheit, ob die eigenen Sicherheitsapparate sich noch loyal verhalten würden, konnte die Parteiführung in Ostdeutschland auf die Friedliche Revolution nur paralysiert reagieren und brach schließlich in sich zusammen. Darüber, warum ein Staat mit einem so eklatanten Legitimationsdefizit überhaupt so lange überleben konnte, ist bereits vielfach gesprochen worden. So schreibt der bereits erwähnte Gewaltlosigkeitsforscher Bleiker, kein Staat könne dauerhaft überleben, wenn die Bevölkerung ihm die Legitimation abspreche. Für Bleiker war es allein das „Window of Opportunity“, das sich im Herbst auftat, das zum Zusammenbruch des Regimes führte : Ausgelöst durch die Umwälzungen in der Sowjetunion wurde aus der anfangs schwachen, vom Regime zudem falsch eingeschätzten Ausreisebewegung und den lokal begrenzten spontanen Aktionen der Bürgerrechtsbewegung eine massive öffentliche Infragestellung des Machtanspruches der SED - Herrschaft. Etwas ähnliches meint wohl auch Ilko - Sascha Kowalczuk, wenn er in seiner jüngst erschienenen Darstellung des Revolutionsherbstes24 den Prozess beschreibt, in dem aus „DDR - Menschen“ im Herbst 1989 Bürger wurden. Dieser Prozess war Anfang Oktober 1989 bereits abgeschlossen. Das Volk hatte die Macht in die Hand genommen und hatte deutlich gemacht, dass es sein neues Selbstbewusstsein nicht wieder aufgeben würde. Der 9. Oktober 1989 24 „Gerade weil ich die Ereignisse von 1989 insgesamt als Bürgerbewegung begreife, konzentriert sich meine Darstellung auf den Bürger. Auf jene, die im Herbst 1989 zu Bürgern wurden, und jene, die schon vor 1989 versuchten, in der Diktatur Bürgerrechte einzuklagen und wahrzunehmen“ ( Ilko - Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 15).

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kann somit als Wendepunkt der Ereignisse gesehen werden : Die Leipziger Demonstration an diesem Tag markiert den Moment, an dem zumindest im Rückblick der Legitimationsverlust des Regimes offenkundig wurde. Die Ereignisse in den darauf folgenden Wochen ( der Mauerfall, die Bildung der Runden Tische, die Besetzung der Stasi - Dienststellen, die ersten freien Wahlen ) waren in ihrer historischen Bedeutung nicht weniger wichtig, aber dennoch fanden sie zu einem Zeitpunkt statt, zu dem die eigentliche Revolution von 1989 bereits abgeschlossen war.

3.

Fazit

Vereinzelt wurde der Begriff der Friedlichen Revolution in Frage gestellt, weil er verschleiere, dass es im Herbst ’89 immer wieder zu Gewalt gegen friedliche Demonstranten durch die Sicherheitskräfte kam.25 Wir wollen diesen Aspekt keineswegs geringschätzen. Allerdings bezeichnet der Begriff der Friedlichen Revolution für uns vor allem das Handeln der Revolutionäre. Und deren Verhalten war mit den genannten seltenen Ausnahmen gewaltfrei. Tatsächlich hatte die Bewegung die Achillesferse des Regimes getroffen, wohl ohne sie gezielt anvisiert zu haben. Ein bekanntes Zitat des SED - Vordenkers Horst Sindermann bringt es auf den Punkt : „Der gewaltfreie Aufstand passte nicht in unsere Theorie. Wir haben ihn nicht erwartet, und er hat uns wehrlos gemacht.“26 Erstaunlicherweise wies die Bewegung, die sich im Jahr 1989 aus den Ausreisewilligen und den Demonstranten zusammengesetzt hatte, mit ihrer Spontaneität und Gewaltlosigkeit genau die beiden entscheidenden Charakteristika auf, die einen Staat wie die DDR ins Wanken bringen konnte. Jeder andere Weg des Widerstands wäre versperrt gewesen : Die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft waren weiterhin extrem eingeschränkt. Ein monströser Sicherheitsapparat verhinderte das Entstehen unabhängiger Gruppierungen und Organisationen, Kommunikationsmöglichkeiten innerhalb des oppositionellen Milieus waren kaum vorhanden. Angesichts dessen ist es fast schon erstaunlich, dass sich in den wenigen zur Verfügung stehenden Nischen der DDR - Gesellschaft überhaupt in kleinem Umfang Keimzellen oppositioneller Strukturen bildeten. Diese Strukturen waren aber weder darauf angelegt, noch dazu geeignet, den Herrschaftsanspruch des Staates in Frage zu stellen. Hierzu bedurfte es anderer Formen des Handelns, um ihr Anliegen an die Öffentlichkeit bringen zu können und sich dennoch dem Vorgehen des Staates zu entziehen. 25 Jüngst Kowalczuk : „Wer auch immer die Rede von der ‚friedlichen Revolution‘ erfunden haben mag, er scheint erst am Abend des 9. Oktober hingeschaut zu haben“, in Bezug auf die Gewalt der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten, v. a. gegen die Inhaftierten ( Kowalczuk, Endspiel, S. 401). 26 „Wir sind keine Helden gewesen“. Der frühere Volkskammer - Präsident Horst Sindermann über Macht und Ende der SED. In : Der Spiegel vom 7. 5. 1990, S. 53–66.

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Ermöglicht wurde diese Entwicklung durch den ideologischen Verfall der DDR : Im Zuge der Entwicklung hin zum „erstarrten“ post - totalitären System verlor die ideologische Legitimation des DDR - Regimes immer mehr an Glaubwürdigkeit. Gorbatschows reformorientierter Kurs und der Umbruch in den Nachbarländern Polen und Ungarn verstärkten diese Entwicklung zusätzlich.27 Im gleichen Maße wie die Lähmung der Regimevertreter offenbar wurde, öffneten sich für die verschiedenen Strömungen der oppositionellen Bewegung neue Handlungsräume. Die besondere Akteurskonstellation schuf zusammen mit dem sich öffnenden „Window of Opportunity“ ein Umfeld, in dem sich eine Revolution entwickeln konnte. Die Spontaneität der Ereignisse machte es möglich, dass eine massenhafte Demonstrationsbewegung entstand. Ihre Gewaltfreiheit ermöglichte es der Bewegung, sich zu behaupten und die Waffen des Ancien Régime machtlos zu machen – dem ideologisch aufgeweichten System fehlte es an der Durchsetzungskraft und ideologischen Legitimation, die notwendig gewesen wäre, um ähnlich wie in China wenige Monate zuvor die Revolution blutig niederzuschlagen. Eine gewaltsame Entwicklung war dabei zu keinem Zeitpunkt ausgeschlossen. Nicht nur die Straßenschlacht um den Dresdner Hauptbahnhof, sondern zahllose weitere emotional aufgeladene Momente, das unbedachte Vorgehen von Demonstranten oder das eigenmächtige Handeln von Regimevertretern hätten die Initialzündung zu einer Eskalation werden können. Es gehört zu den entscheidenden Elementen der Revolution, dass die spontane Demonstrationsbewegung funktionierende Strategien entwickelte, um die vorhandene Aggression einzudämmen und damit fast vollständig gewaltsame Zwischenfälle zu verhindern. Mit der Herkunft vieler Teilnehmer aus christlichen Gruppen sowie mit einem gewissen Verständnis für die Logik des gewaltfreien Widerstands, das auch in der DDR verbreitet war, war eine entscheidende Basis gelegt. Dennoch war es wohl vor allem die Kreativität der Demonstranten darin, wirksame Aktionsformen zu entwickeln und von Woche zu Woche weiter zu verbreiten, welche eine Eskalation verhinderte : So wurde immer darauf geachtet, das direkte Zusammentreffen von Provokateuren, unbedachten Demonstranten oder Betrunkenen mit den Sicherheitskräften zu vermeiden, indem diese von friedlichen Demonstranten umringt und die Situation etwa durch das Singen von Liedern entspannt wurde. Bei Verhaftungen wurden die Verhafteten dadurch geschützt, dass sie ihre Namen riefen, so dass diese dokumentiert werden konnten. Ab Anfang Oktober wurden solche einfachen Verhaltensregeln auch in Form von Flugblättern und Aufrufen verbreitet. Zudem boten die Slogans „Wir sind das Volk“ und „Keine Gewalt“ der Bewegung auch eine ideelle Basis, die mit gewaltsamen Vorgehen nicht in Einklang zu bringen war und die sich von Woche zu Woche immer weiter festigte. Kaum 27 Vgl. Thompson, To Shoot or not to Shoot.

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zu überschätzen ist dabei der Einfluss der Dialogansätze zwischen Demonstranten und Regime, mit denen der Staat seine Gegner als Gesprächspartner auf Augenhöhe anerkannte, etwa der Dialog der Dresdner „Gruppe der 20“ mit dem Oberbürgermeister oder der Aufruf der „Leipziger Sechs“ um Kurt Masur. Gerade bei Beobachtern, die außerhalb der DDR sozialisiert waren, scheint die Dramatik der Ereignisse teilweise unterschätzt zu werden. Allzu unspektakulär nimmt sich das Niveau der Eskalationen aus, die es am Dresdner Hauptbahnhof, aber auch bei Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften in Berlin oder Leipzig gab. Übersehen wird dabei, dass es in der DDR, anders als in etablierten demokratischen Systemen, keinerlei Spielregeln für öffentliche politische Auseinandersetzungen gab. Während Demonstranten etwa in der Bundesrepublik davon ausgehen können, dass selbst bei deutlichen Provokationen in der Regel keine Situation entstehen wird, in der ihr Leben in Gefahr gerät, mussten die Demonstrierenden in der DDR die offenen und die angedeuteten Drohungen des Regimes ernst nehmen : Die „chinesische Lösung“ mag im Oktober 1989 nicht konkret geplant gewesen sein, eine Eskalation mit Toten und Verletzten war aber stets im Bereich des Denkbaren. Die Lehre, die sich aus der spontanen, gewaltfreien Revolution von 1989 ziehen lässt, lautet also : Auch ein scheinbar so unangreifbares Regime wie das der DDR ist anfällig für einen massenhaften Entzug der Loyalität durch die Bürger. Die Friedliche Revolution von 1989 wurde möglich, als Ausreisewillige und Demonstranten gemeinsam, spontan und gewaltfrei den Herrschaftsanspruch des SED - Regimes in Frage stellten.

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Hauptakteure und wechselnde Akteurskonstellationen während der Friedlichen Revolution in der DDR. Ein Vier - Phasen - Modell Michael Richter

Wer waren die Hauptakteure der Friedlichen Revolution in der DDR ? Handelte es sich in allen Phasen der Transition um dieselben ? Welche Akteurskonstellationen ergaben sich in Form von Kooperationen, Duldungen und Konfrontationen und wie wechselten diese phasenbezogen ? Was waren die Gründe für die sich ändernde Bedeutung von Akteuren ? Lag es an ihren wechselnden Strategien und Vorgehensweisen im Verhältnis von Zielorientierung und Agieren angesichts aktueller Herausforderungen ? In welchem Verhältnis standen Interessen und Überzeugungen der Akteure ? Handelten z. B. die SED - Führung, die Bevölkerung, die Bundesregierung oder die sowjetische Führung primär aus einer bestimmten Interessenlage heraus oder folgten sie leitenden Ideen ? Auf diese Fragen werden im Folgenden Antworten gesucht. Bedeutung und Handlungsanteil unterschiedlicher Akteure bzw. Akteursgruppen an der Friedlichen Revolution sind umstritten, auch weil das Kraftfeld politischer Interessen bis weit in die Wissenschaft hineinreicht. Von einer Historisierung der Ereignisse 1989/90 kann keine Rede sein. Viele damals Aktive sind es heute noch, andere sind in der Versenkung verschwunden. So ist der Kampf um die Deutung der Friedlichen Revolution ein Teil des gegenwärtigen politischen Wettbewerbs. Weitgehend unstrittig ist die Bedeutung der tektonischen Verschiebungen globaler Machtverhältnisse am Ende des sowjetischen Imperiums. Durch sie wurde die Entwicklung in der DDR erst möglich. In einem „Großereignis grundstürzender Art“1 wurde die Nachkriegsordnung von Jalta zerschlagen und der OstWest - Konflikt beendet. Gelegentlich wird mit Hinweis auf die Bedeutung der globalen Entwicklung die Rolle der Umbrüche in den einzelnen Ostblockstaaten sogar als Folgeprozesse gering veranschlagt.2 So wenig aber der Hinweis darauf, dass die Französische Revolution nur auf Grund einer bestimmten Ent1 2

Hartmut Zwahr, Die Revolution in der DDR 1989/90 – eine Zwischenbilanz. In : Alexander Fischer / Günther Heydemann ( Hg.), Die politische „Wende“ 1989/90 in Sachsen, Dresden 1995, S. 205–252, hier 204. So z. B. Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium 1982–1990. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 2006.

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wicklungssituation erst möglich wurde, davon abgehalten hat, sie als Prozess zu analysieren, so wenig gibt der Hinweis auf die Tatsache, dass sich die globale Lage Ende der 80er Jahre veränderte, eine Antwort darauf, warum kommunistische Führungen einzelner Ostblockstaaten verschieden auf die Entwicklungen reagierten und die Umbruch - sowie Konsolidierungsprozesse sich unterschieden. Der Blick auf übergeordnete Zusammenhänge macht eine Betrachtung nationaler bzw. regionaler Entwicklungen nicht nur nicht überflüssig, sondern basiert auch deswegen auf deren Kenntnis, weil sich nicht anonyme geschichtliche Wahrheiten realisieren, sondern Menschen handeln, bei denen sich Aktionen und Kontingenzen, Handlungen und Zufälle zu „Handlungs - WiderfahrnisGemischen“ legieren.3 Wegen der Komplexität und Vielfalt der Ereignisse handelte es sich trotz unbestreitbarer Kausalitäten um einen in vielerlei Hinsicht offenen und keinesfalls determinierten Prozess. Dieser hätte auch anders verlaufen können, wenngleich er so ausging wie geschehen.4 Der je konkrete Verlauf in den einzelnen Ostblockstaaten und Sowjetrepubliken hing wesentlich vom Profil, den Handlungsoptionen und Zielen verschiedener Akteure ab, die sich, mehr interessen - oder ideengeleitet, während des Transformationsprozesses wandelten. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch für die Friedliche Revolution in der DDR wesentliche Akteure bestimmen. Es sind dies die DDR - Bevölkerung, internationale Mächte, beide deutsche Regierungen, Parteien sowie Gruppen und Kirchen. Deren Handlungsrelevanz und Interaktionen werden bezogen auf vier Phasen betrachtet : 1. in der Zeit vor der Friedlichen Revolution, 2. während der Hauptaktionszeit auf den Straßen bis zum Fall der Mauer am 9. November 1989, 3. der Folgezeit bis Ende Januar 1990 und 4. schließlich in der Zeit vom Februar 1990 bis zur Wieder vereinigung im Oktober 1990.

Phase 1 : Vor der Friedlichen Revolution Internationale Akteure : Wie bereits mit Blick auf den globalen Charakter der Ereignisse betont, ist die Bedeutung internationaler Akteure evident. Ohne die Aufhebung der Breschnew - Doktrin durch Michail S. Gorbatschow hätte es keine Friedliche Revolution in der DDR gegeben. Ebenfalls bedeutend ist die Rolle der USA, deren Unterstützung der deutschen Einheit gegenüber der Sowjetunion wie westlichen Verbündeten der Bundesrepublik den Prozess erst erfolgreich werden ließ.5 Insbesondere als Auslöser und Beschleuniger der Entwicklung in 3 4 5

Odo Marquard, Die Philosophie der Geschichten und die Zukunft des Erzählens. In : ders., Skepsis in der Moderne. Philosophische Studien, Stuttgart 2007, S. 55–71, hier 63. Vgl. Ehrhart Neubert, Ereignisse und Akteure der friedlichen Revolution 1989/90 – wie erinnern ? In : Deutschland Archiv, 41 (2008), S. 500–506, hier 501. Zur Haltung und zu den Motiven der USA vgl. u. a. Heinrich Bortfeldt, Washington – Bonn – Berlin. Die USA und die deutsche Einheit, Bonn 1993, S. 3–39; Richard Kieesler / Frank Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken. Der diplomatische Weg zur

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der DDR wirkten die Entwicklungen in Nachbarländern wie Polen und Ungarn, in denen die kommunistischen Parteien frühzeitig die Chancen nutzten, die sich ihnen durch die sowjetische Reformpolitik von Glasnost und Perestroika boten. Insbesondere kann die Rolle der sowjetischen Führung kaum überschätzt werden. Es war weniger aktives Agieren als ihre Zurückhaltung sowie die Respektierung des Selbstbestimmungsrechtes von Völkern und Staaten, die, trotz mancher Verbalinjurien gegen die staatliche Einheit Deutschlands, zunächst die Revolution und später die deutsche Einheit überhaupt erst ermöglichten. Das entscheidend Neue nach Jahrzehnten imperialer Hegemonie war, dass sie die Menschen wieder gewähren ließ. Freilich darf dies nicht als bewusste Entscheidung für ein freiheitlich - demokratisches System verstanden werden. Ziel Gorbatschows war zunächst eine Erneuerung des sowjetischen, also real - sozialistischen Imperiums unter veränderten globalen Bedingungen. Er war der Konkursver walter eines Systems, das bei seinem Machtantritt schon ausgebrannt war und ihn veranlasste, die Flucht in eine Zukunft anzutreten, deren Konturen noch unscharf blieben.6 Freilich hätte er aber auch anders entscheiden können, und auch die Machtkämpfe im Kreml zwischen Reformern und systemkonser vativen Hardlinern hätten anders ausgehen können. So aber wurde die Friedliche Revolution in Folge einer „erfolgreich gescheiterten“ Revolution „der kommunistischen Selbstüber windung“ möglich.7 Handlungsleitend waren für die sowjetische Führung neu bestimmte, eher pragmatische Interessen, die jedoch noch von ideologischen Fixierungen überlagert waren. Diese Mischung aus Pragmatismus und Ideologie drückte sich auch im Machtkampf des Kreml aus und bewirkte dessen schwankend wirkende Haltung. Im Westen hatten nur die USA eine vergleichbare Bedeutung. Hochrüstungsprogramme und wirtschaftliche Prosperität der westlichen Gegenmacht veranlassten die Sowjetunion schließlich zum Politikwechsel. Es kam zu Abrüstungsverhandlungen zwischen beiden Supermächten, vor deren Hintergrund die veränderte globale Situation gesehen werden muss. Die Rolle der USA erschöpfte sich aber darin nicht. Vielmehr unterstützte sie, interessegeleitet, aber auch unter Berücksichtigung politischer Prinzipien, die Entwicklung zur deutschen Einheit. Durch ihre Haltung wurden schließlich andere westliche Verbündete veranlasst, Widerstände gegen die Entwicklung aufzugeben. Es bleibt aber festzuhalten, dass sich insbesondere die britische Regierung, trotz jahrzehntelanger anderslautender Bekundungen, gegen die aus der Forderung nach Selbstbestimmung resultierende Entwicklung hin zur deut-

6 7

deutschen Einheit, Baden - Baden 1993, S. 16–21; Alexander von Plato, Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die geheimen Moskauer Protokolle, Berlin 2002, S. 19–22. Vgl. Ehrhart Neubert, Die Revolution 1989 und die schwierige Erinnerung 15 Jahre danach. In : Deutschland Archiv, 37 (2004), S. 1056–1062, hier 1059. Ludger Kühnhardt, Revolutionszeiten. Das Umbruchjahr 1989 im geschichtlichen Zusammenhang. München 1994, S. 243.

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schen Einheit stemmte.8 Nicht Widerstände gegen ein NS - Deutschland trieben sie, ihre Ressentiments bezogen sich auf eine Bundesrepublik mit vierzig Jahren stabiler Demokratie und auf eine DDR, in der das Volk im Begriff war, eine Diktatur abzuschütteln. Da es bei anderen westlichen Verbündeten der Bundesrepublik ähnliche Vorbehalte gab, musste die revoltierende Bevölkerung in der DDR nicht nur das SED - Regime entmachten, sondern sich auch über Ressentiments internationaler Mächte hinwegsetzen. Dabei halfen ihre konsequente Gewaltlosigkeit und ein klares Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie. Bundesrepublik Deutschland : Die Bundesrepublik Deutschland spielte in mehrfacher Hinsicht eine entscheidende Rolle. Ihr Festhalten am Prinzip der deutschen Nation und an einer einheitlichen Staatsbürgerschaft wurde zum wesentlichen Auslöser der Massenflucht. Grundlage dafür war die Tatsache, dass die Bundesrepublik für eine Mehrheit der Deutschen in der DDR über Jahrzehnte deutscher Teilung als „das bessere Deutschland“ galt, an dem man sich orientierte. Dabei trat bei vielen an die Stelle bundesdeutscher Realität, mangels empirisch begründbarer Urteile, eine West - Utopie, die der oft beschwerlichen Lebenswirklichkeit im Osten gegenüber gestellt wurde. Ist von der Bundesrepublik die Rede, so dürfen westliche Medien nicht vergessen werden. Ihre mobilisierende, und zugleich vor Übergriffen des DDR Staates Schutz bietende Rolle ist unbestritten. Sie haben die Proteste zwar nicht initiiert, jedoch durch die Darstellung der Ereignisse zu ihrer Verstärkung beigetragen. Auch haben sie die Motive der Proteste nicht erzeugt, wohl aber an ihrer beschleunigten Kanalisierung mitgewirkt. Sie waren „kontingente exogene Nebenursachen, die für die Entfaltung endogener Hauptfaktoren günstige Bedingungen boten“ und eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für die Revolution.9 SED : Zur Beurteilung der SED im Vorfeld der Friedlichen Revolution ist eine innere Differenzierung unerlässlich. Ein Kollektivsingular wie „die SED“ hilft nicht weiter, will man das nur scheinbar monolithische Herrschaftssystems analysieren.10 Unterschieden werden muss z. B. zwischen SED - Führung und Parteibasis. Setzte die Führung unter Erich Honecker auf militärische Gewalt zur Sicherung des Regimes und trug mit ihrer Reformver weigerung maßgeblich zu Massenflucht und Demonstrationen bei, waren unter Flüchtlingen und Demonstranten viele Parteimitglieder zu finden. Auch im Funktionärsapparat wuchs der Frust über den starren Kurs des Politbüros. Neben Anhängern der kommunis8 Vgl. Margaret Thatcher, Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, Düsseldorf 1993, S. 1097–1101; Kieesler / Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken, S. 63–65; von Plato, Die Vereinigung Deutschlands, S. 136–144. 9 Lothar Fritze, Verführung und Anpassung. Zur Logik der Weltanschauungsdiktatur, Berlin 2004, S. 150. 10 Vgl. Henrik Bispinck / Dierk Hoffmann / Michael Schwartz / Peter Skyba / Matthias Uhl / Hermann Wentker, DDR - Forschung in der Krise ? Defizite und Zukunftschancen – Eine Entgegnung auf Jürgen Kocka. In : Deutschland Archiv, 36 (2003), S. 1021–1026, hier 1023.

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tischen Ideologie gab es immer mehr Befür worter eines semi - diktatorischen „demokratischen Sozialismus“. Jüngere Funktionäre ohne Erfahrungen mit NSRegime und Zweitem Weltkrieg handelten eher pragmatisch und interessengeleitet. Angesichts fehlender innerparteiliche Demokratie blieben Unzufriedenheit und Meinungsdifferenzierung freilich zunächst wirkungslos. Bevölkerung / Massenflucht : Viele SED - Mitglieder und einfache Funktionäre unterschieden sich in ihrer Unzufriedenheit kaum noch von der Bevölkerungsmehrheit, die ebenfalls eher interessen - als ideengeleitet handelte. Generell handelt die Bevölkerung im Zeitalter der Säkularisierung moderner Gesellschaften primär nach Interessen. Weltanschauungsparteien sind auf dem Rückzug. Dabei stehen zwar längerfristige Überzeugungen durchaus noch in Relation zu kurzfristigen Nutzener wägungen, letztere bestimmen das Handeln aber immer stärker. In der DDR war sowohl das Handeln derer interessengeleitet, welche die DDR verließen und so maßgeblich dazu beitrugen, die Revolution zu zünden, als auch derer, die auf den Straßen Veränderungen durchsetzten. Wollten die einen ihr Leben durch Weggang in den Westen verbessern, galt das Interesse der Demonstranten der Abschaffung des SED - Regimes. Dieses hatte sich als unfähig erwiesen, die Lebensbedürfnisse, einschließlich persönlicher und politischer Freiheiten, angemessen zu befriedigen. So oder so aber kam der unzufriedenen Bevölkerung die zentrale Rolle im Geschehen zu. Ohne sie wäre es weder zur Friedlichen Revolution noch zur deutschen Einheit gekommen. Bürgerbewegungen : Im Vorfeld der friedlichen Revolution spielten kirchliche Basisgruppen und Bürgerbewegungen eine wichtige Rolle als gesellschaftliche Protestpotentiale. Sie standen für eine zivilgesellschaftliche Bürgerkultur und trugen dazu bei, die Ideologie der SED durch Ideen aufzubrechen, die aus internationalen Diskussionszusammenhängen stammten. Erinnert sei an die Diskussionen beim konziliaren Prozess der Ökumenischen Versammlung der Kirchen in der DDR. Während der Auslösung der Massenproteste nach Beginn der Massenflucht dienten basisdemokratische Gruppen als Katalysatoren. Im Umfeld der Leipziger Nikolaikirche stellten ihre Proteste zentrale Impulse der revolutionären Massenproteste dar. Ihre praktische Bedeutung ging zu diesem Zeitpunkt sogar über die sich formierenden Bürgerbewegungen hinaus. Dennoch muss hinsichtlich von Ausrichtung wie Bedeutung der Bürgerbewegungen differenziert werden. Allein ihr Engagement hätte nicht ausgereicht, das System ins Wanken zu bringen. Lange galten sie als zentrale Akteure des revolutionären Prozesses. So billigte ihnen Helmut Müller - Enbergs das „bleibende Verdienst am Sturz der SED - Herrschaft“ zu.11 Ulrich Mählert meinte, „eine kleine Zahl von Bürgerrechtlern“ habe das SED - Regime gestürzt.12 Für Stefan Wolle waren es „ein paar Schmuddelkinder aus den Kellern der Gemeinde-

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Helmut Müller - Enbergs, Bürgerbewegungen. In : Hans - Joachim Veen ( Hg.), Lexikon Opposition und Widerstand in der SED - Diktatur, München 2000, S. 89–91, hier 90. 12 Zit. nach Uta Stolle, Der Aufstand der Bürger. Wie 1989 die Nachkriegszeit in Deutschland zu Ende ging. Mit einem Vor wort von Joachim Gauck, Baden - Baden 2001, S. 11.

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häuser und ein Dutzend evangelischer Pastoren“.13 Dieser Eindruck muss heute revidiert werden. Eine Unterscheidung zwischen der breiten Volksbewegung und den Bürgerbewegungen ist allerdings insoweit willkürlich, als diese natürlich ebenfalls Teil der Bevölkerung waren. Auch waren die Grenzen fließend. Bei vielen regionalen Gruppen des Neuen Forums in Kreisen und Kommunen etwa kann kaum zwischen demonstrierender Bevölkerung und dem Neuen Forum unterschieden werden. Oft existierte dieses als Form der Selbstorganisation der Demonstranten. Die entsprechenden Akteure standen allenfalls in einem Spannungsverhältnis zwischen Orientierung an zentralen Vorgaben der Berliner Initiativgruppe und Erfordernissen vor Ort. Ungeachtet dessen ist in der Tendenz eine Unterscheidung zwischen Massenbewegung und Bürgerbewegungen sinnvoll. Sie macht sich am oben genannten Paradigma einer Polarität von Interessen und Überzeugungen fest. War die breite Volksbewegung eher interessenorientiert, so vertraten die Akteure der Bürgerbewegungen, auch da, wo sie in Kreisen und Kommunen akzeptierte Organisatoren und Wortführer von Demonstrationen waren, stärker Wertorientierungen. Oft handelte es sich um Intellektuelle, die an Wertediskussionen gewöhnt waren und sich Gedanken über notwendige Alternativen zur globalen Entwicklung machten. Ihr Interesse an Änderungen ging oft in eine andere Richtung als das der Protestierenden, deren Wortführer sie waren. Da, wo sie die Bevölkerung vertraten, orientierten sie sich an den Interessen der Menschen und diffamierten diese auch dann nicht, wenn sie selber weiterreichende Vorstellungen vertraten. Andere Akteure aus den Bürgerbewegungen aber waren stärker ideen - oder gar ideologiegeleitet und lehnten die Interessen der Bevölkerung nach staatlicher Einheit aus einer Haltung der Äquidistanz zu Sozialismus und Kapitalismus ab. Ihre ideologische Fixiertheit aber erschwerte ihnen das Manövrieren im schnellen Transformationsprozess, bei dem es nicht um Alternativen zur globalen Entwicklung ging, sondern um Interessen in einer sehr konkreten Situation. Nicht nur von der Bevölkerung hoben sich die Bürgerbewegungen ab, auch unter ihnen selbst gab es Unterschiede. So differierten etwa die „Neuen Foren“ in Sachsen und Berlin so stark, dass es fast irreführend ist, sie unter demselben Logo zu subsumieren. Strebte das Neue Forum im Umfeld Bärbel Bohleys nach einer basisdemokratischen Reform des Sozialismus, so wünschten die meist bevölkerungsverbundenen Neuen Foren Sachsens häufig eine freiheitliche Demokratie samt ökologisch sozialer Marktwirtschaft und die deutsche Einheit. Die gravierenden Unterschiede zwischen verschiedenen Flügeln der Bürgerbewegung führten im Dezember 1989 und Januar 1990 dazu, dass die Organisationen sich in Flügel spalteten. Geprägt ist das Bild der Bürgerbewegungen in der Friedlichen Revolution, medienbedingt, von den in Berlin ansässigen Gruppen. Viele von ihnen, so 13 Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur, Bonn 1998, S. 341.

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Heiner Müller, kamen selbst aus der SED.14 Für sie stimmt der Eindruck, dass sie als „langjährige Widersacher des SED - Regimes größere Probleme hatten, sich dem vom System oktroyierten Gedankengebäude zu entziehen“.15 Viele waren sozialistische Revisionisten und Reformer, nicht aber antikommunistische Dissidenten wie anderswo in Osteuropa.16 Sie lehnten eine Vereinigung mit der Bundesrepublik oft ab und versuchten, eine reformierte DDR beizubehalten.17 Darüber, wie groß der Anteil derer war, die 1989/90 eine Erneuerung des sozialistischen Systems statt einer freiheitlichen Demokratie anstrebten, gehen die Meinungen auseinander. Während Gerd Poppe meint, nur eine Minderheit habe den Sozialismus verbessern wollen,18 ging die Opposition nach Reinhard Schult mehrheitlich von Veränderungen im Rahmen des Sozialismus aus.19 Ulrike Poppe meinte später mit Blick auf ihr früheres Umfeld : „Ich kenne niemand, der das System ändern wollte.“20 Im Nachhinein erklärten die meisten Oppositionellen, der Begriff Sozialismus habe für sie 1989/90 einen positiven Klang gehabt. Sie hätten auf eine eigenständige DDR - Entwicklung gehofft und eine vorbehaltlose Übernahme des westlichen Wirtschaftssystems abgelehnt.21 Das Sozialismusmodell linker Bürgerbewegter hatte oft keinen ausgeprägten Realitätsbezug. In deutscher romantischer Tradition stehend, folgte man frei im Raum schwebenden Ideen.22 Oft verbanden sich aber auch sozialistische Überzeugungen mit pragmatischtaktischen Überlegungen hinsichtlich der als unveränderbar erfahrenen Realitäten. Vernünftiger weise dachten viele, die DDR bleibe selbst im besten Fall Teil eines reformierten Ostblocks. Über diese rationale Selbstbeschränkung setzte sich freilich die Bevölkerung unvernünftig, aber erfolgreich hinweg und bewies ein weiteres Mal, dass Geschichte nicht aus der Durchsetzung von vernünftigen Erkenntnissen besteht, sondern das Ergebnis aktiven Handelns im Spannungsfeld von Ursachen, Aktionen und Kontingenzen ist. Kirche : Auch die Kirche spielte im Vorfeld und während des revolutionären Prozesses eine wichtige Rolle. Sie war einer der Initiatoren, wenn auch nur „ein 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 22. 12. 1993; Zwahr, Die Revolution in der DDR, S. 233 f. Christof Geisel, Auf der Suche nach einem dritten Weg. Das politische Selbstverständnis der DDR - Opposition in den 80er Jahren, Berlin 2005, S. 80. Vgl. Konrad H. Jarausch, Implosion oder Selbstbefreiung ? Zur Krise des Kommunismus und der Auf lösung der DDR. In : Dietrich Papenfuß / Wolfgang Schieder ( Hg.), Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert, Köln 2000, S. 543–565, hier 551. Vgl. Mark R. Thompson, Die „Wende“ in der DDR als demokratische Revolution. In : Aus Politik und Zeitgeschichte, B 45/1999, S. 14–23, hier 15 f.; Hermann - Josef Rupieper ( Hg.), Friedliche Revolution 1989/90 in Sachsen - Anhalt, Halle 2000, S. 200. Zit. in Geisel, Auf der Suche, S. 43. Vgl. Reinhard Schult, Rechts = Links oder die Totalitarismusfalle. In : Horch und Guck, 7 (1998) 24, S. 75. Zit. nach Zwahr, Die Revolution in der DDR, S. 237. Vgl. Geisel, Auf der Suche, S. 55. Vgl. dazu Lothar Fritze, Der Traum der Intellektuellen. Ein Versuch in therapeutischer Absicht. In : Sinn und Form, 43 (1991) 3, S. 560–585.

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auslösender Faktor unter anderen“.23 Zunächst bot sie die einzige Gegenöffentlichkeit zur von der SED geknebelten Öffentlichkeit. Sie bot oppositionellen Gruppen ein Dach für deren Aktivitäten. Zudem wurde die synodale Praxis zu einem Erfahrungsschatz beim Übergang zur parlamentarischen Demokratie. Aber nicht nur daraus resultierte die Bedeutung insbesondere der evangelischen Kirchen. Ein wichtiges Signal war deren Abrücken vom Selbstverständnis einer „Kirche im Sozialismus“ im Jahr 1989, ihre Rolle bei der Aufdeckung der Wahlfälschungen im Mai 1989 und das offene Eintreten vieler, – wenn auch bei weitem nicht aller – Geistlichen für eine freiheitliche Demokratie. Blockparteien : Dagegen spielten die Blockparteien24 bis zum Ausbruch der Massenproteste im Herbst 1989 kaum eine Rolle. Allein in der LDPD setzte sich deren Vorsitzender, Manfred Gerlach, bereits seit 1988 für eine Reform des Sozialismus nach sowjetischem Vorbild ein. Allerdings gab es in allen Blockparteien einen Aufbruch an der Basis.25 Viele Mitglieder beteiligten sich an den Protesten, ohne dabei als solche in Erscheinung zu treten, und forderten eine größere Rolle ihrer Blockparteien. Dies wurde, außer bei der LDPD, von den Funktionärsapparaten zurückgewiesen. Relevante Akteurskonstellationen : Die Entwicklung im Vorfeld der Revolution war vom Interessengegensatz zwischen der sowjetischen und der SED - Führung bestimmt. Wünschte Gorbatschow in der DDR eine Reform des Sozialismus, um seinem Modell eines Europäischen Hauses die notwendige Akzeptanz zu verschaffen, sah Honecker angesichts deutscher Zweistaatlichkeit gerade darin eine Gefahr. Er meinte, die DDR könne nur als real - sozialistischer Staat überleben. Angesichts der veränderten Haltung des Kreml samt Aufgabe der Breschnew - Doktrin sah er das SED - Regime auf sich selbst gestellt. De facto war die sowjetische Bestandsgarantie für die Diktatur in der DDR entfallen. Seit der deutsch - sowjetischen Erklärung beim Besuch Gorbatschows in Bonn im Juni 1989 stand zudem auch die Bestandsgarantie für die DDR - Staatlichkeit für den Fall zur Disposition, dass sich eine souveräne DDR - Regierung für die staatliche Einheit mit der Bundesrepublik aussprechen sollte. Eine auf sich gestellte SEDDiktatur, die nicht länger eine von sowjetischer Macht abgeleitete Vasallendiktatur war, hatte, das zeigte die weitere Entwicklung, keine Überlebenschance. Damit unterschied sich die Situation von der im Juni 1953, als SED und KPdSU in dieser Frage noch sehr viel stärker an einem Strang zogen. Damit ergaben sich nun neue, ungewohnte Akteurskonstellationen. Gorbatschow avancierte zum Garanten für Veränderungen in Mitteleuropa. Bürger23 Günter Krusche, Das prophetische Wächteramt. Die zukünftige Rolle der Kirche. In : Hubertus Knabe ( Hg.), Aufbruch in eine andere DDR. Reformer und Oppositionelle zur Zukunft ihres Landes, Reinbek 1989, S. 98–106, hier 99. 24 Gemeint sind CDU, LDPD, NDPD und DBD. Die SED, obwohl Mitglied des Blocks, wird üblicher weise nicht als Blockpartei gezählt, sondern als Verursacherin und Gestalterin der Blockpolitik. 25 Vgl. Manfred Agethen, Unruhepotentiale und Reformbestrebungen an der Basis der Ost- CDU im Vorfeld der Wende. In : Historisch Politische Mitteilungen, 1 (1994), S. 89– 114.

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bewegungen und Bevölkerung in der DDR beriefen sich nun ebenso auf ihn wie die Bundesregierung. Das Ziel einer DDR - Reform wurde nun, zunächst unausgesprochen, zum gemeinsamen Ziel großer Teile der DDR - Bevölkerung, einschließlich vieler SED - Mitglieder, sowie dortiger Bürgerbewegungen und der Bundesregierung. Dabei reichten zwar die Ziele von einer Reform des Sozialismus in einer eigenständigen DDR bis hin zur Schaffung einer parlamentarischen Demokratie als Grundlage für eine Entscheidung über die deutsche Einheit, diese Unterschiede aber waren zunächst irrelevant. Entscheidend war der gemeinsame Wunsch in Ost und West, angesichts der unflexiblen SED - Führung überhaupt Veränderungen einzuleiten. Die Massenflucht war dabei Ausdruck der Skepsis in der DDR - Bevölkerung hinsichtlich tatsächlicher Möglichkeiten. Zum Club der Veränderungswilligen gehörten aber auch zahlreiche andere europäische Mächte, so dass die Konstellation im Vorfeld mit Blick auf die greise SED - Führung unter Honecker als „einer gegen fast alle“ bezeichnet werden kann.

Phase 2 : Der Aufstand bis zum Fall der Mauer Internationale Faktoren : Der Oktober und November 1989 bis zum Fall der Berliner Mauer war geprägt vom Aufstand in der DDR. Im Ausland registrierte man das revolutionäre Geschehen mehr oder weniger überrascht und beratschlagte Konsequenzen. Die Bedeutung internationaler Akteure in dieser Phase war eher gering. Allein die sowjetische Führung unterstützte nach wie vor Reformveränderungen und stellte die Fortdauer der DDR - Staatlichkeit nicht in Frage. In den westlichen Regierungen sah man die sowjetische Reformentwicklung durch die DDR - Ereignisse gefährdet und drängte die Bundesregierung zur Zurückhaltung. Bundesrepublik : Zwischen den Bonner Parteien herrschte Einigkeit, in der DDR eine Reformentwicklung zu befördern, ohne deren staatliche Souveränität infrage zu stellen. Ungeachtet der Zurückhaltung wurde die Bundesregierung durch ihre permanenten Angebote wirtschaftlicher Hilfen im Falle demokratischer Veränderungen zu einem Katalysator der inneren Entwicklung. Insbesondere in der SED - Führung konnte man es sich angesichts des ökonomischen und finanziellen Bankrotts, wie er Ende Oktober 1989 im Politbüro offengelegt wurde, nicht erlauben, derartige Offerten zu ignorieren. Das galt insbesondere auch deswegen, weil aus der finanziell selbst daniederliegenden Sowjetunion entsprechende Hilfen nicht zu erwarten waren. Bei der Bevölkerung bestätigten die Hilfsangebote den Eindruck, die Bundesrepublik sei das Land, mit dessen Unterstützung sich die Lage auch zwischen Elbe und Oder wieder richten ließe. Bevölkerung : Insbesondere ausgelöst durch Massenflucht und regelmäßige Proteste im Umfeld von Kirchen in Leipzig und Berlin im September, setzten Anfang Oktober 1989 Massenproteste ein. Unter dem starken Symbol „Neues Forum“ ging es in einer gemeinsamen Anstrengung aller Teile der veränderungs-

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bereiten Bevölkerung im Oktober darum, die SED zum Dialog über gesellschaftliche Änderungen zu bewegen. Zunächst wurden noch kaum weitergehende Ziele formuliert, vielmehr wollte man ungestraft diskutieren können. Angesichts der peu à peu errungenen Freiheiten aber hielt sich der demonstrierende, aktivere Teil der Bevölkerung mit der Formulierung seiner Absicht, sich des SED Regimes zu entledigen, immer weniger zurück. Die Gründe dafür lagen auf der Hand. Die Partei - und Staatsführung war nicht in der Lage war, eine angemessene Versorgung zu gewährleisten, ver wehrte Reisefreiheit und ahndete Abweichen von der offiziellen Ideologie mit Benachteiligung. Der Wille, ein Leben wie die Menschen in westlichen Staaten, insbesondere der Bundesrepublik, zu führen, wurde zum entscheidenden Antrieb der Revolution. Davon ließen sich die Demonstranten weder durch ausländische Politiker noch durch westdeutsche oder DDR - Intellektuelle abhalten. Sie kämpften an mehreren Fronten, vor allem gegen die SED, aber in der Sache auch gegen die halbe Politiker welt in Ost und West. Niemand sonst bestimmte die Entwicklung so nachhaltig wie die Demonstranten, deren Proteste flankiert wurden von Aktionen in Betrieben, Schulen und in vielen anderen Institutionen. Dabei war der Mobilisierungsgrad in den Kommunen recht unterschiedlich. Die maximale Mobilisierung, also der prozentuale Teil der Bevölkerung, der an dem Tag auf die Straße ging, an dem die höchste Teilnehmerzahl einer Kommune erreicht wurde, lag durchschnittlich bei ca. 40 Prozent.26 SED : Angesichts der Stärke der Massenproteste schwenkte das Politbüro, verbunden mit einem Führungswechsel zu Krenz, auf eine Strategie der Machtsicherung durch Gewährung von Dialogen über einen SED - geführten Sozialismus um, als dies nichts fruchtete, durch Zugeständnisse hinsichtlich der Reisefreiheit. Auf den Einsatz militärischer Gewalt wurde fortan verzichtet. Innerhalb der Partei kam es unter dem Druck der Proteste zur wachsenden Polarisierung insbesondere in systemtreue Kommunisten und reformorientierte „demokratische Sozialisten“. Deren wichtigster Vertreter war der 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Dresden, Hans Modrow, der den Kurs von Generalsekretär Krenz offen kritisierte. Die Einheitlichkeit der SED - Führung zerbrach und es offenbarten sich erhebliche Meinungsdifferenzen. Bürgerbewegungen : Bei den spontanen Massenprotesten im Oktober und Anfang November 1989 spielten die Bürgerbewegungen eine nachgeordnete Rolle. Einzige Ausnahme war das Neue Forum. Die Auseinandersetzung um dessen Zulassung wurde zum mobilisierenden Element. In vielen Kommunen war es das Gremium der Selbstorganisation der Demonstranten. Gemessen an seiner Bedeutung als Symbol der Auseinandersetzung mit dem Regime blieb seine organisatorische Bedeutung jedoch gering. Allerdings prägten die programmatischen Profile aller Bürgerbewegungen die öffentlichen Diskussionen, insbesondere dank westlicher Medien, weiterhin maßgeblich mit. 26 Vgl. Michael Richter, Die Friedliche Revolution, Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90, Göttingen 2009, S. 1485 f.

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Kirchen : Insbesondere die evangelisch - lutherische Kirche spielte im Herbst eine wichtige Rolle.27 Sie war vielerorts Mitorganisator von Demonstrationen und trug wesentlich zur Friedlichkeit bei. Sie organisierte selbst Massenveranstaltungen. Hinsichtlich ihrer politischen Ziele reichte das Spektrum von Befür wortern einer westlichen Demokratie über demokratische Sozialisten bis hin zu vereinzelten Anhängern des bisherigen Regimes. Relevante Akteurskonstellationen : Die Massenproteste im Oktober und bis zum Fall der Mauer am 9. November 1989 zeigten ein Maß an Interaktion aller Teile der veränderungsbereiten DDR - Bevölkerung, wie es sie danach nicht mehr gab. Das lag daran, dass es noch kaum um die Durchsetzung weitergehender Ziele ging, sondern darum, zunächst einmal Grundlagen dafür zu schaffen, mögliche Veränderungen überhaupt diskutieren zu können. Gemeinsam wurde die SED - Führung durch Massenproteste gezwungen, auf Dialog mit der Bevölkerung umzuschalten. Demonstranten, Bürgerrechtler, Kirchenvertreter und veränderungswillige Mitglieder der Blockparteien sowie der SED zogen an einem Strang. Das Ziel war die Ingangsetzung eines gesellschaftlichen Dialogs mit dem Ziel einer wie auch immer gearteten Demokratisierung der Gesellschaft. Dieser breiten Phalanx gelang es auch deswegen, das Regime in seinen Grundfesten zu erschüttern, weil auch bei vielen SED - Mitgliedern der Glaube an die Richtigkeit des eigenen Weges ins Wanken geraten war. Flankiert wurden die gemeinsamen Bemühungen um Veränderungen von internationalen wie bundesdeutschen Politikern, welche die Demokratisierungsbemühungen durch Reformforderungen an das SED - Regime und wirtschaftliche Hilfsangebote unterstützten. Nach der Machtübernahme richtete die neue Krenz - Führung ihre Politik nun wieder an der sowjetischen Führung aus. Nur als deren enger Verbündeter glaubte man das Überleben der DDR sichern zu können. Gorbatschows Empfehlungen in dieser Situation waren klar : Er bekräftigte den Kurs der Zweistaatlichkeit, empfahl Reformen und forderte mehr Gemeinsamkeiten zwischen beiden deutschen Staaten. Umgekehrt machte er aber auch klar, dass die DDR nicht länger mit finanzieller Unterstützung der Sowjetunion rechnen konnte. Zwar wünschte man in Moskau eine DDR, die weiterhin im Bündnis mit der Sowjetunion stand. Die Entscheidung dafür aber lag jetzt bei der DDR selbst. Die Zeit der Zwangsallianzen mit den Staaten außerhalb der UdSSR war vorbei. Dadurch wurde auch die staatliche Einheit Deutschlands wieder eine Option.

27 Vgl. Joachim Garstecki, Zeitansage Umkehr. Dokumentation eines Aufbruchs, Stuttgart 1990, S. 13.

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Phase 3 : Vom Fall der Mauer bis Ende Januar 1990 Bevölkerung : War die Entwicklung bis zum Fall der Berliner Mauer am 9. November vom gemeinsamen Bemühen geprägt, über den weiteren Weg öffentlich beraten zu können, so setzte die entsprechende Diskussion im November mit voller Intensität ein. Ein wachsender Teil der Bevölkerung sah nun die Chance, sich nicht nur des SED - Regimes zu entledigen, sondern am besseren, freieren Leben in der Bundesrepublik zu partizipieren. Davon ließen sich die meisten Demonstranten nun nicht mehr abbringen. Überall in Ost wie in West sprachen Politiker inzwischen von der Ver wirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung. Warum sollte dies nicht auch für die DDR - Deutschen gelten ? Ab Mitte November bestimmten Forderungen nach deutscher Einheit immer mehr das Bild der Demonstrationen. Versuche der SED - PDS und von Ministerpräsident Modrow, durch eine Kampagne „gegen rechts und deutsche Einheit“ die Vormachtstellung der Partei in einer demokratisch - sozialistischen DDR zu sichern, führten im Januar 1990 zu neuen kraftvollen Demonstrationen, zu denen auch Bürgerbewegungen und neue Parteien aufriefen. Es war schließlich der von den Demonstranten erzeugte Systemveränderungsdruck, der den auf Machterhalt gerichteten Reformen den Boden entzog.28 Mit einer erstaunlichen Tatkraft, so Charles S. Maier, wurde der revolutionäre Prozess gegen alle Abschwächungsversuche aus den Reihen der SED - PDS oder von Bürgerbewegungen bis zur deutschen Einheit vorangetrieben.29 Es waren somit keinesfalls nur internationale Politiker, die das Geschehen bestimmten. Hätten sie allein gehandelt, wäre es wohl kaum zur deutschen Einheit gekommen. Es waren die Protestierer, die diese Entwicklung durch entschiedenes Handeln herbeiführten. „Der reißende Strom, der alles mit sich fortzog“, war „die ostdeutsche Gesellschaft.“ Sie „trieb die Politik in Ost und West vor sich her“.30 Bundesregierung : Die wachsenden Forderungen nach staatlicher Einheit setzten die Bundesregierung unter einen nicht uner wünschten Druck. „Nicht wir oder andere in West und Ost“, so erklärte Helmut Kohl am 11. Dezember 1989, „bestimmen heute Inhalt, Richtung und Tempo dieser Prozesse. Die Entwicklung in der DDR wird von den Menschen dort gestaltet.“31 Geflissentlich verschwieg er den Aktivpart seiner Regierung an der Ausrichtung der Proteste. Schließlich war er es, der Ende November einen Zehn - Punkte - Plan offerierte, der am entscheidenden Wendepunkt der Revolution einen Weg zur deutschen Einheit über eine Konföderation aufzeigte. War der Plan selbst eine Reaktion auf Forderungen der Demonstranten gewesen, so gab er der Revolution seinerseits starke Richtungsimpulse. Die Politik der Bundesregierung wurde nun selbst 28 Vgl. Zwahr, Die Revolution in der DDR, S. 230. 29 Vgl. Charles S. Maier, Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 26. 30 Erhart Neubert, Die Revolution 1989 und die schwierige Erinnerung 15 Jahre danach. In : Deutschland Archiv, 37 (2004), S. 1056–1062, hier 1058 f. 31 Zit. nach Horst Teltschik, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991, S. 74 f.

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zum dominanten Faktor der Entwicklung. Das von vielen bereits aufgegebene Staatsverständnis der Bundesrepublik als demokratischer Kernstaat eines wieder zu vereinigenden Deutschlands wurde revitalisiert. Zwar durfte sich die Bundesregierung nicht direkt in die inneren Angelegenheiten der DDR einmischen, wer aber sollte sie hindern, der DDR im Falle dieser oder jener Entwicklungen Angebote zu machen, über die dort souverän und auf demokratischer Grundlage entschieden werden konnte ? War für die Bundesregierung eher das praktische Interesse an der deutschen Einheit handlungsleitend oder die Idee der nationalen Einheit Deutschlands ? Es ist schwierig, die Gemengelage politischer und ökonomischer Interessen von der Überzeugung zu lösen, dass die deutsche Einheit per se und vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte notwendig und geboten sei. Ohne Zweifel hatte sich in der Bundesrepublik in vier Jahrzehnten bereits eine westdeutsche Interessenlage herausgebildet, bei der auch viele politisch Verantwortliche immer weniger nach den Interessen der Deutschen in der DDR fragten. Demgegenüber entschied sich der Bundeskanzler für eine Politik, deren Ergebnis in finanzieller Hinsicht für die bis dahin westdeutsche Bundesrepublik nicht unbedingt positiv zu Buche schlug, die aber jedenfalls von der Mehrheit der dortigen Bevölkerung mitgetragen wurde. Internationale Kräfte : Die meisten internationalen Akteure waren ob der Dynamik des revolutionären Prozesses verunsichert. Die aktive Rolle, welche die Bundesregierung ab Ende November zu spielen begann, stieß in Ost wie West auf Widerstand. Gorbatschow unterstützte vor dem Hintergrund der Machtkämpfe im Kreml die Bestrebungen der SED um Erhalt der reformsozialistischen Eigenstaatlichkeit der DDR. Länder wie Großbritannien und Frankreich bemühten sich um eine Stabilisierung der DDR - Staatlichkeit, sahen sie in der dortigen Entwicklung doch eine Gefahr für den Reformprozess in der Sowjetunion und damit in ganz Osteuropa. Allein die USA setzte sich interessengeleitet für ein einheitliches Deutschland ein, dass als Mitglied der NATO die Reihen der westlichen Demokratien stärken und den Einfluss Moskau in Europa verringern sollte. Bürgerbewegungen : Nach dem Fall der Mauer sank die Bedeutung der Bürgerbewegungen. Die Ziele von revolutionärer Volksbewegung und reformorientierten Bürgerbewegungen gingen auseinander. Während die meisten Demonstranten die deutsche Einheit forderten, plädierten wichtige Akteure der Bürgerbewegungen, insbesondere in Berlin, ab November verstärkt für eine demokratische Reform des Sozialismus an der Seite der SED und in einer weiterhin eigenständigen DDR. Eine Grundlage dafür sahen sie in der neuen Politik Hans Modrows, der ab Ende November 1989 als Ministerpräsident Willi Stoph nachfolgte. Weit davon entfernt, einen Machtwechsel erzwingen zu wollen, versuchten viele Bürgerrechtler, wie auch die Spitzen der Blockparteien, dem neuen Ministerpräsidenten zu helfen, den gesellschaftlichen Aufstand zu überstehen. An Runden Tischen wollten sie gemeinsam mit der Regierung die DDR reformieren, nicht abschaffen. So konnte sich Modrows Politik darauf stüt-

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zen, dass ein erheblicher Teil der Bürgerbewegungen ähnliche sozialistische Ziele wie seine Partei vertrat. Hubertus Knabe hat zurecht darauf hingewiesen, dass bei vielen DDR - Oppositionellen die „antikapitalistische, linke Orientierung so stark“ gewesen sei, „dass man sich manchmal wundert, warum die SED sie so hartnäckig bekämpft hat“.32 Tatsächlich bedauerte auch Modrow im Nachhinein, „dass unsere Kennzeichnung der angeblichen Feinde eine Brandmarkung vieler Bündnispartner war“. Man habe viele zu Gegnern erklärt, „die doch die Botschaft des Sozialismus sehr wohl verstanden hatten“.33 Anfang des Jahres 1990 entwickelten sich viele Akteure, insbesondere der Berliner Bürgerbewegungen, eher zu Gegnern des auf deutsche Einheit zielenden revolutionären Prozesses. Mit Blick auf eine gewünschte Reform der DDR - Gesellschaft bemühten sie sich um die Zerschlagung des Repressionsapparates der SED, des MfS. Eine spätere Folge der DDR - Verteidigungsallianz war es, dass die Rolle der ostdeutschen Bevölkerung insbesondere Anfang des Jahres 1990 lange Jahre verschwiegen oder in ein negatives Licht gerückt wurde. Dank selektiver Wahrnehmung und daraus resultierender Legendenbildung wurde der Eindruck erweckt, die Demonstrationen für die deutsche Einheit ab November 1989 hätten nichts mit der „Bürgerrevolution“ des Herbstes bis zum Fall der Mauer zu tun. Tatsächlich waren es zum großen Teil dieselben Demonstranten, die zunächst Demokratie und Freiheit forderten, später aber zunehmend die deutsche Einheit.34 SED : Die SED vollzog nach dem Fall der Mauer einen Strategieschwenk. Mit Modrow als Ministerpräsidenten und Krenz als Parteichef trat Ende November 1989 an die Stelle des bisherigen Alleinherrschaftsanspruchs der SED das Konzept eines sozialistischen Verfassungsstaates unter Einbeziehung neuer sozialistischer Kräfte. Auch hier ging es vor allem um Machtsicherung, war doch klar, dass angesichts des revolutionären Prozesses die bisherige diktatorische Alleinherrschaft nicht länger durchsetzbar war. In einer vom MfS - Nachfolger „Verfassungsschutz“ abgesicherten demokratisch - sozialistischen DDR sollten die SEDGenossen weiterhin eine entscheidende, andere sozialistische Kräfte hingegen eine nachgeordnete Rolle spielen. Anhänger der deutschen Einheit waren als Staatsfeinde zu bekämpfen. Die Glaubwürdigkeit des Konzeptes krankte allerdings schon daran, dass die SED kaum auf andere reformsozialistische Kräfte in den Bürgerbewegungen zuging. Stattdessen blockierte sie, wo sie konnte, und übte sich in Strategien des Machterhalts. Die SED - PDS blieb auch Anfang des Jahres ein zentraler Akteur der Ereignisse. Zwar zeigte sie sich an Runden Tischen kooperativ, stellte sich aber in der Sache weiterhin der Schaffung einer freiheitlichen Demokratie entgegen. Um 32 Hubertus Knabe, Die deutsche Oktoberrevolution. In : ders. ( Hg.), Aufbruch in eine andere DDR, S. 19. 33 Hans Modrow, Ich wollte ein neues Deutschland. Mit Hans - Dieter Schütt, 2. Auf lage Berlin 1998, S. 203. 34 Vgl. Hartmut Zwahr, Die Revolution in der DDR im Demonstrationsvergleich. Leipzig und Berlin im Oktober und November 1989. In : Manfred Hettling / Paul Nolte ( Hg.), Nation und Gesellschaft. Historische Essays, München 1996, S. 335–350, hier 335.

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ihr Ziel eines demokratisch - sozialistischen Verfassungsstaates zu erreichen, startete sie im Dezember 1989 unter Regie des Parteivorsitzenden Gregor Gysi eine Diffamierungskampagne gegen freiheitlich - demokratische Kräfte, welche die deutsche Einheit befür worteten. Die SED - PDS versuchte, diese durch eine behauptete Nähe zum Neonazismus zu diskreditieren, um günstige Bedingungen für die eigenen Handlungsoptionen zu schaffen. In einer vom MfS - Nachfolger „Verfassungsschutz“ abgesicherten demokratisch - sozialistischen DDR wäre der SED fast zwangsläufig weiterhin eine führende Rolle zugefallen. Aber auch potentielle reformsozialistische Bündnispartner in den Reihen der Bürgerbewegungen wurden durch die ungeniert vorgetragenen Machtansprüche verprellt. Die SED - PDS stellte sich noch bis Ende Januar dem revolutionären Veränderungsprozess entgegen und versuchte, vom sozialistischen Regime zu retten, was nicht zu retten war. Statt Machtaufgabe war das Verhalten geprägt von einer modifizierten Machterhaltungsstrategie unter veränderten Klassenkampfbedingungen. Blockparteien : Unter dem Druck der Massenproteste setzten sich insbesondere ab Mitte November auch in den Blockparteien Funktionäre durch, die eine Reform des Sozialismus unterstützten. Im Gegensatz dazu verlangten allerdings bereits viele Mitglieder eine Entwicklung in Richtung freiheitlicher Demokratie, sozialer Marktwirtschaft und deutscher Einheit. Nach der Amtsübernahme Modrows und angesichts von dessen Konzept einer sozialistischen Verfassungsstaatlichkeit schwenkten auch die Blockparteien als Mitglieder der Regierung Modrow zunächst auf diesen Kurs. Sie verabschiedeten sich aus dem Block als einem Alleinherrschaftsinstrument der SED und trugen nun eine am Runden Tisch vermittelte Reformentwicklung mit. Erst unter dem Druck westlicher Partner änderte sich die Haltung der Blockparteien. Insbesondere die CDU verabschiedete sich Mitte Dezember vom demokratisch - sozialistischen Kurs, was nicht ohne Spannungen innerhalb der Modrow - Regierung bleiben konnte. Nicht nur die Haltung der Mitglieder zwang die Führungen der Blockparteien zum Richtungsschwenk, hinzu kam, dass die Handlungsbühne spätestens ab Dezember 1989 von Akteuren aus beiden Teilen Deutschlands besetzt war. Das veränderte die innenpolitischen Koordinaten und verärgerte Anhänger der DDR - Eigenstaatlichkeit. Zwar war die Bundesregierung, vermittelt durch die DDR - Bevölkerung, ein am Geschehen beteiligter Hauptakteur geworden, noch aber durften westdeutsche Politiker angesichts der international vereinbarten Nichteinmischung in innere Angelegenheiten der DDR dort nicht direkt agieren. Sie brauchten Partner. Während sich die SDP problemlos zur DDR - Dependance der SPD wandelte, bereitete die Metamorphose insbesondere der CDU - Führung unter Lothar de Maizière Kopfzerbrechen. Dessen Bemühen, die ModrowRegierung zu stützen, kollidierte mit der Absicht des Kanzlers, sie durch eine Regierung des Zentralen Runden Tisches zu ersetzen und die Ost - CDU neben DSU und Demokratischem Aufbruch in einer Wahlallianz zusammenzubinden. Anders als von der Basis gewünscht, fügte sich die Führung unter dem Einfluss des Funktionärsapparates nicht leicht in ihre neue Rolle als Partner der Bundes-

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CDU. Nur als solche gewann sie freilich in der Folgezeit an Bedeutung und wurde bei der ersten freien Wahl in der DDR stärkste Partei. Relevante Akteurskonstellationen : Nach dem Fall der Mauer veränderten sich die Akteurskonstellationen gravierend. Die veränderungswilligen Teile der Bevölkerung drängten nun immer mehr nach deutscher Einheit, was von einem großen Teil der Bürgerbewegungen nicht mitgetragen wurde. Indem viele Akteure der Bürgerbewegungen auf eine Reform der Gesellschaft in der DDR gemeinsam mit der SED setzten, vergaben sie die Möglichkeit, sich an die Spitze der revolutionären Bewegung zu stellen. Stattdessen wurde die Bundesregierung neuer Wortführer der protestierenden Teile der DDR - Bevölkerung. Bereits in dieser Akteurskonstellation zeichnete sich das gemeinsame Ziel eines einheitlichen deutschen Staates ab. Ein wachsende Zahl an DDR - Bürgern wandte sich damit zugleich sowohl gegen die Alternativen einer demokratischen als auch einer demokratisch - sozialistischen DDR. Helmut Kohl übernahm die Meinungsführerschaft in der deutschen Frage. Die politische Initiative ging deutschlandweit auf die Bundesregierung über, die auf Grundlage der Volksbewegung von nun an die revolutionäre Entwicklung in der DDR gleichermaßen als exogener wie endogener Faktor entscheidend mitbestimmte.35 Zwei Hauptakteure des gesamten Prozesses wuchsen nun schrittweise in eine symbiotische Beziehung hinein, die dem sich in einer Macht - und Richtungskrise befindlichen Kanzler ebenso half wie der revoltierenden Bevölkerung in der DDR. Ab Dezember war die Handlungsbühne nicht mehr nur von Akteuren aus beiden Teilen Deutschlands besetzt, sie spielten bereits auch Hauptrollen. Hauptakteur aber blieb die Bevölkerung. Die allgegenwärtigen und permanenten Demonstrationen setzten die Bundesregierung unter ( einen allerdings erwünschten ) Druck. Die Revolution trieb die Politik vor sich her. Deren Beitrag war lediglich die Gestaltung und Aufbereitung dessen, was die Revolution an Fakten schuf.36 Dabei war der demonstrierende Teil der Bevölkerung eine Art „Avantgarde“ der Bevölkerungsmehrheit. Stimmungsberichte des MfS und der SED, die ja auch Auskunft über die Haltung derer geben, die sich an den Protesten nicht beteiligten, zeigen aber deutlich, dass die Proteste von der schweigenden Mehrheit mehr oder weniger mitgetragen wurden. Auf der internationalen Ebene bildete sich eine Allianz westlicher Staaten wie Frankreich und Großbritannien mit der Sowjetunion heraus, deren Ziel die Sicherung des Reformprozesses im Ostblock durch einen längerfristigen Erhalt 35 Vgl. Helmut Wiesenthal, Die Transformation der DDR. Verfahren und Resultate, Gütersloh 1999, S. 55; Lothar Rühl, Zeitenwende in Europa. Der Wandel der Staatenwelt und der Bündnisse, Stuttgart 1991, S. 340. Helmut Müller - Enbergs spricht in diesem Zusammenhang von einer „Revolution in der Revolution“, die mit der Forderung nach deutscher Einheit stattgefunden habe und in deren Folge die „revolutionären Eliten“ ausgetauscht wurden. Vgl. Helmut Müller - Enbergs, Schritte auf dem Weg zur Demokratie : Die Rolle der Bürgerbewegungen in der Volkskammer. In : Gert - Joachim Glaeßner ( Hg.), Eine deutsche Revolution. Der Umbruch in der DDR, seine Ursachen und Folgen, Frankfurt a. M. 1991, S. 94–107, hier 96. 36 Vgl. Erhart Neubert, Ereignisse und Akteure der friedlichen Revolution 1989/90, 505.

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der DDR - Staatlichkeit war. Entsprechenden Bedenken trat die Bundesregierung mit Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Staaten und die wachsende Forderung der DDR - Bevölkerung nach staatlicher Einheit entgegen. Dem aktiv vorgetragenen Willen der Demonstranten nach deutscher Einheit konnten sich auch die internationalen Akteure in einer Situation nicht länger ver weigern, die von der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes von Völkern und Staaten geprägt war. Gysi und Modrow stellten die Orientierung an sowjetischen Interessen und Vorgehensweisen wieder her. Beide vertraten das deutschlandpolitische Konzept Valentin Falins, die DDR zum reformsozialistischen Staat im Europäischen Haus zu wandeln und so zu erhalten.

Phase 4 : Februar bis Oktober 1990 Bevölkerung : Nach der zweiten Demonstrationswelle im Januar 1990 trat die Bevölkerung ab dem Februar aktiv kaum noch in Erscheinung. Im Wahlkampf delegierte sie ihre Anliegen zunehmend an politische Funktionseliten aus Ost und West. Allerdings blieb die Bevölkerung in der sich herausbildenden Demokratie trotz passiver Haltung zentraler Akteur. Zwar trat die Revolution mit der Delegierung der Vollstreckung des revolutionären Willens an politische Funktionseliten in ihre repräsentativ - demokratisch geprägte Phase ein und zeigte äußerlich nicht mehr den bisherigen Aktionismus der Revolte auf den Straßen. Aber gerade die erste freie Wahl zur Volkskammer der DDR am 18. März 1990 unterstrich die Bedeutung der Bevölkerung. Die Wahl setzte nicht nur Meinung der bisher aktiveren Teile der Bevölkerung in Politik um. Das neugewonnene demokratische Prinzip stellte vielmehr die Ziele aller, auch bisher passiv gebliebener Bevölkerungsteile, ins mengenmäßige Verhältnis. Hier nun zeigte sich, dass die Bevölkerung in übergroßer Mehrheit die deutsche Einheit wünschte, wenn auch auf verschiedenen Wegen. Bundesregierung : Vor dem Hintergrund der Volksbewegung erreichte die Bundesregierung im Februar 1990 die sowjetische Einwilligung in die staatliche Einheit. Der Bundeskanzler und sein Außenminister wurden nun zu dominanten Gestaltern des auf den Demonstrationen vorgetragenen Willens zur Einheit. Bei der Wahl am 18. März 1990 erhielt die von Kohl geschmiedete „Allianz für Deutschland“, die einen Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes anstrebte, die meisten Stimmen. Die Gestaltung der Einheit bei den folgenden innerdeutschen und Zwei - plus - Vier - Verhandlungen lag nun vor allem in der Hand der Bundesregierung. Der DDR - Regierung unter Lothar de Maizière blieb kaum mehr als die Rolle einer Assistenzregierung. Der weitere Prozess war von Verhandlungen und Gesetzgebungsprozessen beider deutscher Parlamente und Regierungen geprägt, wobei Bundestag und Volkskammer fast nur Gesetzesvorlagen der Bundesregierung absegneten. In ihren Wirkungen aber war dieses Vorgehen ebenso radikal systemstürzend wie zuvor die zugrunde liegenden Proteste und Forderungen der Bevölkerung.

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Internationale Faktoren : Anfang Februar 1990 stimmte die sowjetische Führung, wie erwähnt, der staatlichen Einheit vorbehaltlich der Klärung offener Fragen der außenpolitischen Einbindung Deutschlands zu. Vor allem ging es dabei um die Einbindung in die NATO. Dabei hoffte man im Kreml auf einen Sieg der SPD bei freien Wahlen. Nun gaben auch westliche Verbündete der Bundesrepublik ihren Widerstand auf, nicht ohne, wie Frankreich, im Februar noch Zugeständnisse wie die Einwilligung zur politischen Union Europas oder die Aufgabe der D - Mark zugunsten einer europäischen Währung von der Bundesregierung zu erhalten. Bis zur Märzwahl hatte die Vorgabe gegolten, dass nicht nur das Ob sondern auch das Wie der deutschen Einheit vom demokratischen Votum bei freien Wahlen abhing. Diese Forderung war nun erfüllt. Wenngleich der Sieg der CDU in der „Allianz für Deutschland“ ein Votum für den baldigen Beitritt nach Artikel 23 bedeutete und man insbesondere in Moskau darüber verärgert war, konnte kein Staat in Ost oder West sich nun länger der deutschen Einheit ohne Glaubwürdigkeitsverlust entgegenstellen. Das Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes der Völker und Staaten galt auch für Deutschland. Allerdings beanspruchten die Alliierten des Zweiten Weltkrieges angesichts ihrer fortdauernden Verantwortung für Deutschland als Ganzes ein Mitspracherecht. Schon bald nach den Wahlen begannen daher die Zwei - plus - Vier - Verhandlungen beider deutscher Regierungen mit ihnen. Im Sommer wurde so u. a. die sowjetische Zustimmung zur NATO - Mitgliedschaft des vereinten Deutschland erreicht. Mit der Wieder vereinigung im Oktober endeten die Rechte und Verantwortlichkeiten der Siegermächte. Deutschland war wieder ein souveräner Staat. Ehemalige Blockparteien : Noch im Herbst 1989 hatten die Blockparteien kaum eine Rolle gespielt. Das änderte sich, seit CDU und LDPD zu DDR - Filialen der entsprechenden Westparteien wurden. Als Partner der West - CDU gewann in der Folgezeit insbesondere die Ost - CDU an Bedeutung. Als Mitglied der Allianz für Deutschland wurde sie bald mit der Politik des Bundeskanzlers gleichgesetzt und bei der ersten freien Wahl stärkste Partei. Ihr Sieg war gleichbedeutend mit dem demokratisch geäußerten Willen der Mehrheit der Bevölkerung nach einem baldigen Beitritt zur Bundesrepublik, wie ihn die internationale Staatenwelt als Grundlage einer solchen Entwicklung unbedingt voraussetzte. SPD : Eine besondere Rolle spielte die SDP bzw. SPD. Sie entstand zunächst als Teil der Bürgerbewegung, unterschied sich aber von den basisdemokratischen Gruppen durch ihr frühes Bekenntnis zur freiheitlichen und parlamentarischen Demokratie. Auch hinsichtlich ihrer entschiedenen Gegnerschaft gegen die SED und ihrer Nachfolgestrukturen hob sie sich von ihnen ab. Mit ihrem Konzept einer schrittweisen Vereinigung Deutschlands nach Artikel 146 des Grundgesetzes war sie die wichtigste politische Alternative zur Politik Kohls. Bis kurz vor der Volkskammerwahl im März 1990 schien sie auch aus Sicht aller involvierten internationalen Mächte, allen voran der Sowjetunion, die geeignete Alternative zum CDU - Konzept einer schnellen Vereinigung zu sein. Nach guten Ergebnissen bei Meinungsumfragen bis kurz vor den Wahlen, die erwarten lie-

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ßen, dass eine frei gewählte DDR - Regierung unter Führung der SPD mit der Bundesregierung aus CDU / CSU und FDP verhandeln würde, war es vor allem das Agieren des SPD - Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine, das im letzten Moment zum Stimmungsumschwung zu Gunsten der CDU führte. In populistischer Weise vertrat er einseitig westdeutsche Interessen und warnte vor den Folgen der Übersiedlung von Deutschen aus der DDR. Mochten auch einige Bedenken begründet gewesen sein, so waren sie doch nicht geeignet, die SPD in der DDR zur stärksten Kraft werden zu lassen. Hier klangen die Worte Helmut Kohls überzeugender, der dem Osten bald „blühende Landschaften“ versprach. Der Stimmungsumschwung hatte nicht nur für die deutsche Entwicklung gravierende Auswirkungen; er veränderte auch die politische Arithmetik Europas. Statt eines langsamen Prozesses der Einheit trat die DDR bereits ein halbes Jahr später der Bundesrepublik bei. SED / SED - PDS / PDS : Nach der zweiten Protestwelle gegen die Partei im Januar 1990 stand die SED - PDS Ende des Monats politisch vor dem Aus. Nur dem Taktieren Modrows und Gysis war es zu verdanken, dass sie sich nicht auf löste. Während Modrow seine Regierung durch die Einbeziehung neuer Gruppierungen und Parteien in eine „Regierung der nationalen Verantwortung“ rettete, gelang Gysi Ende Januar / Anfang Februar 1990 die Umwandlung in die „Partei des demokratischen Sozialismus“ ( PDS ). Modrow schwenkte Anfang Februar auf das Ziel der deutschen Einheit um, verband dies aber mit der sowjetischen Forderung nach einer Neutralisierung Deutschlands. Auch hier ging es um Besitzstandswahrung, denn ein – angesichts der realen Machtverhältnisse allerdings irreales – neutrales Deutschland wäre zwangsläufig unter Moskauer Einfluss geraten und hätte der SED - PDS bessere Wirkungsmöglichkeiten gegeben als ein der NATO angehörendes. Die SED - Führung kapitulierte also erst, als ihre „Machtumwandlungs - , Machtverschiebungs - und Machtumgruppierungsversuche“ gescheitert waren. Bis dahin brachte sie immer neue Finten und Varianten des Machterhalts, des Verzögerns und Verschleierns ins Spiel. Das SED - Regime implodierte nicht, sondern „zerbrach an der Entschiedenheit der Strukturenauf löser aus den Bürgerkomitees, an den Demonstrationen, den Protestversammlungen“.37 Erhalten blieb der ideologische Anspruch, der freiheitlichen Demokratie ein marxistisch begründetes demokratisch - sozialistisches Konzept entgegenzusetzen. Bürgerbewegungen : Seit Ende Januar 1990 waren die wichtigsten Bürgerbewegungen an Modrows „Regierung der nationalen Verantwortung“ beteiligt. Am Zentralen Runden Tisch bezogen sie mehrheitlich Positionen, die auf einen Erhalt der DDR orientierten und ignorierten den Wunsch der Bevölkerungsmehrheit nach deutscher Einheit.38 Bei den Märzwahlen wurden sie deswegen marginalisiert. Heute sehen viele Akteure ihr damaliges Tun kritisch. Wolfgang Templin bedauert, dass man die Entscheidung für die deutsche Einheit nicht mit37 Zwahr, Die Revolution in der DDR, S. 230. 38 Vgl. Thompson, Die „Wende“ in der DDR als demokratische Revolution, S. 15 f.

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getragen habe. Bärbel Bohley meint, man sei „abgedriftet“ und nicht in der Lage gewesen, „über den Tellerrand zu sehen und zu erkennen, wie dicht die Wieder vereinigung vor der Tür stand“. Dass man der CDU das Feld überließ, „regt mich bis heute wahnsinnig auf“. „Wir träumten davon, unser Land selber zu verändern. Wir haben an diesem Traum selbst dann noch festgehalten, als die Realität längst eine andere war.“39 Relevante Akteurskonstellationen : Zentrale Akteurskonstellation war die von DDR - Bevölkerung und Bundesregierung. Die Bevölkerungsmehrheit delegierte die Umsetzung ihrer revolutionären Ziele an die Bundesregierung bzw. die Bonner Parteien und wählte in freien Wahlen mehrheitlich deren DDR - Partner. Ebenso wichtig aber waren die Abkehr der sowjetischen Führung von einer engen Kooperation mit der SED - dominierten DDR - Regierung und ihre Hinwendung zur Bundesregierung. In Moskau erkannte man die starke Westorientierung der ostdeutschen Bevölkerung und das Problem, eine weiterhin eigenständige DDR gegebenenfalls finanziell und ökonomisch am Leben erhalten zu müssen. Nachdem die Wahlen keinen Zweifel am Willen der Mehrheit der Ostdeutschen zur schnellen Einheit gelassen hatten, setzten sich alle relevanten internationalen Akteure mit beiden deutschen Regierungen an einen Tisch, um Einzelheiten der Wieder vereinigung auszuhandeln. Bei den Zwei - plus - Vier - Verhandlungen wurde der demokratisch geäußerte Wille der DDR - Bevölkerung gemeinsam umgesetzt. Ohne diese neue Kooperation zwischen Ost und West wäre die Wieder vereinigung nicht möglich gewesen.

Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Verhalten der Akteure als Ursache wechselnder Akteurskonstellationen – bezogen auf den gesamten Zeitraum Bevölkerung : Das Handeln der Bevölkerung war während des gesamten Prozesses uneinheitlich. Dabei lassen sich tendenziell mehrere Hauptgruppen unterscheiden, ohne dass diese immer voneinander abgrenzbar sind. Generell standen sich zwei Gruppen gegenüber. Der größere Teil der Bevölkerung lehnte die Verhältnisse in der DDR ab und wünschte mehr oder weniger intensive Veränderungen. Ein kleinerer Teil stützte das SED - Regime und war mit den Verhältnissen zufrieden. Von der Gruppe der Unzufriedenen entschloss sich ein Teil, die DDR dauerhaft zu verlassen. Es handelte sich vor allem um jüngere Menschen, unter ihnen zahlreiche Familien mit Kindern. Sie verließen die DDR zunächst angesichts ausbleibender Veränderungen. Ihre Abstimmung mit den Füßen trug zur Zuspitzung der Krise in der DDR bei und löste die Demonstrationen aus. Aber auch während der weiteren Entwicklung hin zur deutschen Einheit blieb die Zahl der dauerhaft Ausreisenden hoch. Ihre Flucht bzw. Ausreise in die Bundesrepublik 39 Zit. nach Zwahr, Die Revolution in der DDR, S. 230.

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sorgte für einen dauerhaften politischen Druck auf die Bundesregierung und trug mit zur international anerkannten Entscheidung für die staatliche Einheit bei. Für einen größeren Teil der unzufriedenen Bevölkerung kam ein Weggang aus der Heimat nicht in Frage. Während ein Teil davon passiv blieb, strebte der aktivere Teil Veränderungen an. Bezogen sich diese zunächst auf eine Reform der DDR, wurde ab November der latent vorhandene Wunsch nach Über windung der Verhältnisse durch staatliche Einheit immer deutlicher vertreten. Man wollte zwar in der Bundesrepublik leben, aber nicht durch Auswanderung, sondern, indem man der Bundesrepublik beitrat. Wie die Märzwahlen zeigten, war der Wunsch nach deutscher Einheit auch unter der „schweigenden Mehrheit“ dominant. Hinsichtlich ihres Wunsches nach einem Leben wie in der Bundesrepublik bildeten die Flüchtlinge und Ausreisenden gemeinsam mit den unzufriedenen Teilen der Bevölkerung, die eine staatliche Einheit wünschten, aber nicht in die Bundesrepublik ausreisen wollten, eine gemeinsame Gruppe. Eine kleinere Gruppe der Bevölkerung wünschte entweder demokratische oder reformsozialistische Veränderungen in einer weiterbestehenden DDR. Diese bestimmte zwar, unterstützt von ambitionierten westlichen Medien, das öffentliche Bild, wurde aber bei den ersten freien Wahlen marginalisiert. Unter den systemstützenden Anhängern der SED - Diktatur gab es vor allem drei Hauptgruppen. Der größere Teil der SED - Mitglieder erwies sich angesichts der zuende gehenden Alleinherrschaft als Mitläufer und unterstützte ab etwa November 1989 die Tendenz zur deutschen Einheit. Diese Gruppe kann zum unzufriedenen Teil der Bevölkerung gezählt werden. Ein zweiter Teil wünschte eine demokratisch - sozialistische Reform des Regimes bei Erhalt der DDR. Schließlich gab es jene, die das Ende der Diktatur entweder aus ideologischer Überzeugung, wegen des Verlustes von Privilegien oder eines Lebens bedauerten, das unter veränderten Verhältnissen so nicht fortgesetzt werden konnte. Dazu gehörten u. a. Militärs und Funktionäre. Für den Gang der Ereignisse war es von zentraler Bedeutung, dass sich im Oktober und November 1989 neben der andauernden, systemdestabilisierenden Massenflucht verschiedene Teile der unzufriedenen Bevölkerung unter der Forderung nach einer Reform der DDR zusammenschlossen. Diese Phalanx umfasste Befür worter der deutschen Einheit ebenso wie die einer Reform bzw. einer demokratischen Veränderung der DDR. Dadurch entstand eine breite Volksbewegung, die das Regime ins Wanken brachte. Ab November zeichneten sich die unterschiedlichen Ziele der Gruppen deutlicher ab. Jetzt kam es zu neuen Konstellationen. Der wachsenden Gruppe der Befür worter der deutschen Einheit standen nun jene gegenüber, welche die DDR erhalten wollten. In dieser Frage kam es zu einer Annäherung zwischen Akteuren aus den Bürgerbewegungen, der SED und den Blockparteien. Ungeachtet dessen wuchs der Anteil der Bevölkerung, der die deutsche Einheit wünschte, kontinuierlich an. Die freien Wahlen im März zeigten schließlich, dass

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eine absolute Mehrheit der Bevölkerung weniger aus nationalen Überzeugungen als interessegeleitet die Wieder vereinigung wünschte. SED : Bei der Bewertung der Handlungsweise der SED und ihrer Nachfolgstrukturen müssen die oben genannten Gruppen innerhalb der Partei berücksichtigt werden. Bei den SED - Mitgliedern ist zwischen ideologischen Hardlinern bzw. Nutznießern des Regimes, Befür wortern einer demokratisch - sozialistischen Reform der DDR und der größten Gruppe der Mitläufer zu unterscheiden. Die Mehrzahl der Mitglieder war aus opportunistischen Gründen in die Partei eingetreten. Sie waren keiner ausgeprägten Überzeugung gefolgt, sondern hatten darin ihren persönlichen Vorteil gesucht. Diese traten ab dem Herbst 1989 scharenweise aus der Partei aus, schauten sich nach anderen Strategien zur Durchsetzung persönlicher Interessen um und stärkten die Reihen derer, die eine Wieder vereinigung anstrebten. Die kommunistischen Hardliner und bisherigen Nutznießer des Regimes erlitten in der Friedlichen Revolution eine schwere Niederlage. Der Sieg der Revolution bedeutete ihr politisches Aus. Entscheidender war für den weiteren Weg der Partei die Gruppe der ebenfalls ideologisch ausgerichteten Anhänger einer demokratisch - sozialistischen Reform der DDR. Deren Handlungsstrategie unterschied sich von jener der Hardliner insbesondere in der Frage des Einsatzes direkter staatlicher Gewalt und der Bereitschaft, die Macht auch diktatorisch auszuüben. Hinsichtlich des Strebens nach Erhalt der eigenen Macht waren die Unterschiede freilich bis Ende Januar 1990 noch gering. Wie zunächst Honecker, so ging es nach ihm auch Krenz, Modrow oder Gysi darum, sich unter verändernden Bedingungen, die sie weder bewirkten noch verhindern konnten, an der Macht zu halten. Die Phasen der Handlung der Partei unterschieden sich hinsichtlich der Strategien des Machterhalts, kaum aber hinsichtlich der ideologischen Ausrichtung. Dagegen kann mit Blick auf die verschiedenen, aufeinander folgenden SED - Führungen von Selbstaufgabe keine Rede sein. Vielmehr stellte sich die Parteileitung unter Gysi noch bis Ende Januar dem demokratisch - revolutionären Veränderungsprozess entgegen und versuchte, vom sozialistischen Regime zu retten, was nicht zu retten war. Statt Machtaufgabe war das Verhalten geprägt von einer modifizierten Strategie unter veränderten Klassenkampfbedingungen. Fragt man bei der SED - Führung nach dem Verhältnis von Interessen und Überzeugungen, so fällt zunächst auf, dass die politisch Handelnden der aufeinander folgenden SED - Führungen ( Honecker, Krenz, Gysi ) im untersuchten Zeitraum an der Ideologie des Marxismus - Leninismus festhielten. Man definierte sich als „progressiv“ oder „aufrechter Kommunist“ etc. und ging auch beim politischen Gegner davon aus, dass dessen Handeln, wenn auch von westlich kapitalistischen Machtzentren aus irregeführt, auf Überzeugungen basierte. So war ständig die Rede von „Andersdenkenden“, nie von „Andersinteressierten“. Andererseits war die SED - Führung durchaus interessegeleitet. In der weiteren Durchsetzung der Ideologie sah man die entscheidende Grundlage für den Erhalt der DDR als Basis der eigenen Macht und materieller Privilegien.

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Hauptakteure und wechselnde Akteurskonstellationen

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Blockparteien : Von den Blockparteien wurden allein die LDPD und die OstCDU handlungsrelevant. Unter dem Einfluss ihres Vorsitzenden Manfred Gerlach gehörte die LDPD seit 1988 zu den politischen Kräften in der DDR, die Reformen im Sinne Gorbatschows unterstützten. Durch das Festhalten der Parteiführung am demokratisch - sozialistischen Kurs bis Anfang des Jahres 1990 verlor die Partei ihre Handlungsrelevanz jedoch. Anders sah dies bei der Ost CDU aus. Deren Vorsitzender Gerald Götting gehörte bis zu seiner Absetzung Anfang November 1989 zu den Stützen des reformfeindlichen Kurses Honeckers. Sein Nachfolger Lothar de Maizière bemühte sich zunächst um ein demokratisch - sozialistisches Profil der Partei. Unter dem Druck der Mitglieder, die sich mehrheitlich an Positionen der West - CDU orientierten, machte die Partei Mitte Dezember 1989 einen Schwenk hin zu Positionen eines baldigen Beitritts zur Bundesrepublik und eines Endes sozialistischer Ausrichtungen. Als Partner der West - CDU, Mitglied der von Bundeskanzler Kohl geschmiedeten „Allianz für Deutschland“ und dadurch Wahlsieger bei den Märzwahlen, wuchs der Partei eine bisher ungeahnte Bedeutung zu. Bisherige, auch bislang systemtreue Funktionäre der Blockpartei gelangten überall in führende Positionen der DDR, ab Oktober 1990 der Bundesrepublik bzw. der neuen Bundesländer. Bürgerbewegungen : Das Bild der Bürgerbewegungen war während des gesamten Prozesses heterogen. Mit ihren systemkritischen Reformvorstellungen stellten sie zunächst wichtige Kristallisationspunkte der Auseinandersetzung mit dem Regime dar und lieferten alternative Denkansätze für eine Zeit nach der Diktatur. Im Oktober 1989 wurde insbesondere das Neue Forum zum Symbol der Veränderung. Angesicht der noch kaum ausformulierten Ziele von Volksbewegung und Bürgerbewegungen kam es bis Anfang November zu einer Gemeinsamkeit, die allerdings spätestens mit dem Mauerfall endete. Während ein großer Teil der Bürgerbewegungen nun demokratisch - sozialistische oder basisdemokratische Ziele formulierte, die vorzugsweise in einer erneuerten DDR umgesetzt werden sollten, strebte eine zunehmende Mehrheit der Bevölkerung die deutsche Einheit an. Von nun an kam den Bürgerbewegungen zwar noch eine wichtige Rolle bei der Zerschlagung des repressiven Systems der SED zu, nicht aber mehr bei der Gestaltung der zukünftigen politischen Ordnung. Bundesregierung : Die Bundesregierung spielte während des gesamten Prozesses eine zentrale Rolle. Ihr Festhalten am Ziel der deutschen Einheit und der einheitlichen Staatsbürgerschaft war Grundlage der Massenflucht aus der DDR ab dem Sommer 1989, die sich ihrerseits mobilisierend auf die Massenproteste auswirkte. Ihre Aufforderungen an die DDR - Führung, Reformen als Grundlage einer engeren Zusammenarbeit beider deutscher Staaten einzuleiten, setzten das SED - Regime unter Druck. Auch während des Demonstrationsgeschehens ab dem Herbst 1989 behielt die Orientierung der Bundesregierung am Ziel der Einheit seine entscheidende Bedeutung bei. Spätestens seit dem Zehn - Punkte Plan von Bundeskanzler Kohl sah ein wachsender Teil der Bevölkerung dadurch eine klare Alternative zu Lösungen auf Grundlage der DDR - Staatlichkeit. Ab nun bestimmte eine Bevölkerungsmehrheit die politischen Funktionseliten der

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Michael Richter

Bundesregierung bzw. der Bonner Parteien zu ihren neuen Interessenvertretern. Durch diese Allianz wurde die Bundesregierung in den Verhandlungen zur deutschen Einheit zum entscheidenden Faktor. Internationale Akteure : Von entscheidender Bedeutung war während des gesamten Prozesses die Haltung der sowjetischen Führung. Diese muss vor dem Hintergrund der Abrüstungsverhandlungen mit den USA und innenpolitischer Auseinandersetzungen zwischen Hardlinern und Reformern im Kreml gesehen werden. Das zentrale Kontinuum der Haltung Gorbatschows war in dieser Zeit das Festhalten am Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes der Völker und Staaten außerhalb der UdSSR und am Ende der Breschnew - Doktrin. Ziel war bis Ende Januar 1990 der Erhalt des Bündnispartners DDR als eines zweiten deutschen Zimmers im Europäischen Haus russischer Bauart. Insbesondere angesichts des dominanten Wunsches der DDR - Bevölkerung nach deutscher Einheit nahm der Kreml Ende Januar 1990 eine Korrektur seines deutschlandpolitischen Kurses vor. Ab Februar unterstützte er den Prozess der Wieder vereinigung und suchte auf diesem Wege, die Interessen der UdSSR als Partner des vereinten Deutschland in Europa zu wahren. Übergeordnetes Ziel der westlichen Verbündeten der Bundesrepublik war es, die sowjetische Reformentwicklung nicht durch Ereignisse in der DDR zu gefährden, die den Hardlinern im Kreml Gelegenheit gegeben hätten, Gorbatschow zu entmachten. Ungeachtet dessen unterstützte die US - Regierung eher als alle anderen eine Entwicklung hin zur Einheit Deutschlands als Mitglied der NATO. Demgegenüber lehnte die britische Regierung trotz entgegengesetzter Bündnisverpflichtungen eine deutsche Einheit bis zum Februar 1990 ab. Unter dem Druck der USA beteiligten sich die alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkrieges wegen ihrer Verantwortlichkeiten für Deutschland als ganzes und die Stabilität der europäischen wie globalen Ordnung an der Gestaltung der deutschen Einheit als eines Schrittes zur Über windung der Blockkonfrontation. Wichtigste Voraussetzungen für das Gelingen der Friedlichen Revolution und der Entwicklung hin zur deutschen Einheit waren die Fortdauer des Wunsches der DDR - Bevölkerung nach Über windung der SED - Diktatur durch die deutsche Einheit, das Festhalten der sowjetischen Führung am Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes der Völker und Staaten seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre, das Festhalten der Bundesregierung am Ziel der deutschen Einheit sowie der Kontinuität der Haltung der US - Regierung gegenüber diesem im Grundgesetz verankerten Staatsziel der Bundesrepublik. Das Abweichen nur eines der Akteure von diesen Kontinuitäten hätte zwar nicht das Aus der Friedlichen Revolution, wohl aber der daraus resultierenden Entwicklung zur Wieder vereinigung bedeutet.

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„1989“: Revolutionen oder koordinierte Transformationen? Verfassungsgebung und die Rolle von Massen und Eliten in den mittel - und osteuropäischen Systemwechseln Friedbert W. Rüb

Der Auftritt der Massen als Movens der Geschichte war eine der zentralen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und hat politische Schriftsteller und Theoretiker der Politik wie kaum ein anderes Phänomen bewegt. Mit der Verbreitung des Wahlrechts wurden die Massen zu einer zentralen Figur, die jedoch in regulierten Aktionen als Stimmabgeber zwar als bedrohlich, aber hinnehmbar betrachtet wurden. Mit den Wahlen war zugleich immer ein bedrohliches Phänomen verbunden, nämlich die Mobilisierung der Massen, ihre Demagogisierung, die Anstachelung ihrer Leidenschaften und damit die Steigerung ihrer Unberechenbarkeit. Elias Canetti hat diese Vorgänge in „Masse und Macht“1 mit äußerstem Misstrauen betrachtet, während die ( marxistische ) Geschichtsphilosophie die Massen als den Vollzieher der gesetzmäßig sich zu einem Ziel bewegenden Geschichte gefeiert hat. Hierbei waren sie der Motor von Revolutionen, die die großen Weichenstellungen in der Geschichte vornahmen. Das 20. Jahrhundert, das kurze „Zeitalter der Extreme“,2 begann 1917 mit der sozialistischen Oktoberrevolution und endete 1989 mit dem Zusammenbruch des Sozialismus, der ebenfalls als Revolution, aber als Revolution mit Adjektiven, bezeichnet wurde : „Friedliche“, „samtene“, „verhandelte“ – um nur einige zu nennen – formulieren ein gewisses Unbehagen am Revolutionsbegriff, um dann umso energischer an ihm festzuhalten.3 War es das Zeitalter der Massen ? Waren es die Massen, die den Beginn des Zeitalters der Extreme eingeleitet haben und ihm – Ironie der Geschichte – auch sein Ende bereiteten ? Welche Rolle haben hierbei die Eliten gespielt ? Welches

1 2 3

Elias Canetti, Masse und Macht, Hamburg 1960. Eric J. Hobsbawn, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995. Vgl. z. B. Ilko - Sascha Kowalczuk, Die Revolution von 1989. Warum es vielen so schwer fällt, von ihr zu sprechen. In : Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 48 (2009) 1, S. 4–14; ders., Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009.

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Friedbert W. Rüb

Zusammenspiel zwischen beiden ergab sich ? Und welche Rolle hat die souveräne verfassungsgebende Gewalt des Volkes hierbei gespielt ? Ich werde in vier Schritten vorgehen. Ich werde zunächst zu klären versuchen, ob der Zusammenbruch des Sozialismus eine Revolution ( wenn auch mit Adjektiven ) war oder nicht, denn davon bestimmt sich auch die Rolle der Massen (1.). Ich werde in einem zweiten Schritt verdeutlichen, warum der Revolutionsbegriff das welthistorisch Neue der osteuropäischen Systemwechsel eher verdunkelt statt erhellt (2.). Ich werde dann die Phasen der Systemwechsel und die Rolle der Massen und Eliten in vergleichender Perspektive darstellen (3.). Abschließend fasse ich meine Ergebnisse zusammen und begründe, warum die „koordinierten Transformationen“ in Mittelosteuropa ( MOE ) ein grundlegend neues Modell des Systemwechsels in die Geschichte eingeführt haben (4.). Meine These ist, dass die Besonderheit der in Mittelosteuropa vollzogenen Systemwechsel gerade in der bewussten Absetzung vom traditionellen Revolutionsbegriff zu sehen ist, indem es ihn nicht nur grundsätzlich in Frage stellt und als geschichtlich überholt erklärt, sondern zugleich ein neues Modell zur radikalen Umgestaltung von Gesellschaften entwickelt.

1.

Revolution oder „koordinierte Transformation“ ? Zum Charakter des Systemwechsels in Mittelosteuropa

Um es vor weg zu betonen : Die Systemwechsel waren keine Revolutionen, sondern koordinierte Transformationen, in denen die oppositionellen Kräfte bewusst darauf verzichteten, sich als Massen dauerhaft zu mobilisieren, als souveräne ( verfassungsgebende ) Gewalt zu konstituieren und der Gesellschaft ein neues und revolutionäres Programm aufzuerlegen, sondern den Boden der Verfassung und des Rechts nie zu verlassen trachteten und der Gesellschaft allein Verfahren mit offenem Ausgang zur Gestaltung ihrer gesellschaftlichen Ordnungen zur Verfügung stellten, aber zunächst keine substantielle Ordnungsvorstellung selbst. Das Unbehagen am Revolutionsbegriff hat verschiedene semantische Ausdrucksformen gefunden : „Verhandelte“ Revolutionen,4 dann „samtene“ oder „lawful revolution“,5 dann „friedliche“ oder „self - limiting revolutions“6 oder gar „Refolution“,7 ein Mix aus Reform und Revolution. Alle diese Begriff lichkeiten, 4

5 6 7

Laszlo Bruszt, The Negotiated Revolution in Hungary. In : Andras Bozóki / Andras Körösényi / George Schöpflin ( Hg.), Post - Communist Transition : Emerging Pluralism in Hungary, London 1992, S. 45–59; Rudolf Tökes, Hungary’s Negotiated Revolution. Economic Reform, Social Change, and Political Succession, 1956–1990, Cambridge 1996. Bela K. Kiraly / Andras Bozoki, The Lawful Revolution in Hungary, 1989–94, Boulder 1995. Andrew Arato, Dilemmas Arising form the Power to Create Constitutions in Eastern Europe. In : Cardozo Law Review, 14 (1993) 3–4, S. 661–690. Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas, München 1990.

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„1989“: Revolutionen oder koordinierte Transformationen

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und ich habe nur die wichtigsten erwähnt, ver weisen nicht in erster Linie auf das Ergebnis des Systemwechsels, sondern fokussieren auf ihre Verlaufsform, auf ihre Prozessdynamik. Ohne Frage haben die Systemwechsel eine vollständige Transformation der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und oft auch territorialen Grundlagen von Staaten vollzogen und legen die Vorstellung einer Revolution nahe. Doch man muss systematisch unterscheiden zwischen der Verlaufsform der Transformation und den schließlichen Ergebnissen, die das Resultat von verbindlichen Entscheidungen von ( mehr oder weniger ) frei gewählten Regierungen waren, und nicht das unmittelbare Ergebnis einer wie auch immer gearteten Revolution. In fast allen Ländern stand nicht die Verheißung einer souveränen, verfassungsgebenden Versammlung im Mittelpunkt, vielmehr war der Versuch kennzeichnend, den Boden des ( Verfassungs )Rechts nie zu verlassen und so die Konstituierung einer souveränen verfassungsgebenden Gewalt zu verhindern. Deshalb wurden komplett neue Verfassungen mit den Änderungsregeln der alten Verfassungen vollzogen, wobei diese Änderungen von den noch mit kommunistischen „Abgeordneten“ besetzten „Volksvertretungen“ verabschiedet wurden. Welche zentralen definitorischen Momente umfasst der Revolutionsbegriff ? Es gibt viele und unterschiedliche Begriff lichkeiten, aber man kann sie alle auf einen kleinen gemeinsamen Nenner zurückführen, der ihnen mehr oder weniger explizit zu Grunde liegt. Er umfasst vier definitorische Merkmale, die alle gleichzeitig realisiert sein müssen.8 1. Ein Bruch mit den konstitutionellen Grundsätzen der bisherigen Verfassung, die vollständig delegitimiert ist; 2. die Konstitution einer souveränen, verfassungsgebenden Gewalt, die der Gesellschaft eine neue politische und / oder soziale bzw. ökonomische Ordnung oktroyiert; 3. die Mobilisierung der Massen, die die revolutionäre Machtergreifung durch ihre Aktionen unterstützen oder selbst die Macht ergreifen; und schließlich 4. die Anwendung von Gewalt, weil zwei Gruppen unvereinbare Ansprüche auf die Macht in einem Staat stellen und sich die alte Elite nicht freiwillig aus ihren Machtpositionen zurückzieht. Der Kampf um die Souveränität, der aus den unvereinbaren Machtansprüchen der kämpfenden Gruppen entspringt, ist ein, vielleicht das zentrale Merkmal von Revolutionen und als souveräne Gewalt ist sie an keine ihr übergeordneten normativen Prämissen oder an Rechtssätze gebunden. Im Gegensatz zu Reformen, die sich innerhalb der Regeln und Institutionen eines bestehendes ( politi8

Vgl. Charles Tilly, Die europäischen Revolutionen, München 1993, S. 29–46; Karl Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, Frankfurt a. M. 1973, S. 21 f.; Carl J. Friedrich ( Hg.), Revolution, New York 1966; Jack A. Goldstone, Revolutions : Theoretical, Comparative, and Historical Studies, San Diego 1986; Eric J. Hobsbawn, Revolution. In: Roy Porter / Mikulas Teich ( Hg.), Revolutions in History, Cambridge 1986, S. 5–46; Crane Brinton, Die Revolution und ihre Gesetze, Frankfurt a. M. 1959.

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Friedbert W. Rüb

schen ) Systems vollziehen, die nicht vollständig delegitimiert sind, sind Revolutionen durch einen abrupten Bruch mit dem bestehenden Verfassungs - und Institutionengefüge und dem gewaltsamen Austausch der alten Elite verbunden. Sicherlich können auch systemische ökonomische, soziale und politische Änderungen innerhalb und mit Hilfe des bestehenden Institutionensystems vollzogen werden, aber zentral ist, dass bei Reformen das alte politische Regime entweder unberührt bleibt oder mit den Regeln zur Änderungen von Regeln verändert wird. Es kommt aber nicht zu einem Bruch mit diesen Regeln, in dem eine neue Gruppe als souveräne Gewalt neue Regeln setzt. Im Gegenteil, sie verfügen – ebenso wie die politischen und wirtschaftlichen Eliten – nach wie vor über eine breite legitimatorische Basis. Revolutionen dagegen setzen an die Stelle des alten Institutionengefüges ein komplett neues, das von der souveränen verfassungsgebenden Gewalt des Volkes gegeben wird und die Konstituierung eben dieser souveränen Gewalt voraussetzt. Die Aneignung der souveränen Gewalt muss sich nicht unbedingt in einem gewaltsamen Akt vollziehen, sie kann sich ebenso durch freie Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung ausdrücken, wie etwa nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und der Wahl der Weimarer Reichsversammlung. Aber zentral ist die Ausarbeitung einer neuen konstitutionellen Ordnung durch die souveräne verfassungsgebende Gewalt des Volkes, weil die alte ihre Legitimität vollständig verloren hat. Bei Reformen, seien es kleine oder systemische, verfügt die politische Elite nach wie vor über ein großes Ausmaß an Legitimität und operiert innerhalb des bestehenden Institutionensystems, weil sie für die unzufriedenen Massen den Reformprozess in Gang setzt. Alle zentralen politischen Entscheidungen werden innerhalb des alten Institutionengefüges getroffen und dieses ist nach wie vor in der Lage, diese Entscheidungen auch effizient zu implementieren. Eine Revolution hat dann stattgefunden, wenn die institutionelle Ordnung zusammenbricht, weil sie von einer tiefen Legitimationskrise begleitet ist und durch den gewaltsam herbeigeführten Bruch mit dem alten Regime und dessen Institutionengefüge gekennzeichnet ist. Reformen dagegen, die sowohl ohne als auch durch eine Legitimationskrise in Gang gesetzt werden können, vollziehen sich immer innerhalb des bestehenden Institutionengefüges.9 Staatsstreiche finden meist wegen unvereinbarer Machtansprüche innerhalb der herrschenden Cliquen oder zur unmittelbaren Unterdrückung der aufständischen Kräfte in revolutionären Situationen statt,10 wobei im ersteren Fall keine umfassende Legitimationskrise vorhanden sein muss und im zweiten in demokratischen Staaten die Ausrufung des Ausnahme - oder Notstandzustandes immer mit einem Bruch mit den konstitutionellen Grundlagen einhergeht. 9 Vgl. Janos Kis, Between Reform and Revolution. In : East European Politics and Society, 12 (1998) 2, S. 300–383, hier 316. 10 Staatsstreiche sind grundsätzlich von revolutionären Ereignissen zu unterscheiden und sind dadurch gekennzeichnet, dass die Macht zweigeteilt ist und beide Machtblöcke begründete, gleichwohl unvereinbare Ansprüche auf die staatliche Macht stellen. Vgl. Tilly, Revolutionen, S. 31 f.

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„1989“: Revolutionen oder koordinierte Transformationen

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Um die Besonderheiten der mittel - und osteuropäischen Transformationen genauer zu sehen, ist eine Erinnerung an verfassungstheoretische Grundsätze hilfreich. Die Kompetenz zur Änderung einer Verfassung ist eine Kompetenz Kompetenz, die von einer gegebenen Verfassung verliehen wird und die aus logischen und systematischen Gründen nicht dazu ver wendet werden kann, genau diese Verfassung außer Kraft zu setzen.11 Sie dient allein dazu, die „Erhaltung der Kontinuität im geschichtlichen Wandel“12 zu bewirken, und ist mit einem „Verbot, die Identität der Verfassung und mit ihr die Kontinuität der rechtlichen Grundordnung des Gemeinwesens aufzugeben“,13 untrennbar verbunden. Deshalb ist es eigentlich unmöglich, die Änderungsregeln einer Verfassung dazu zu benutzen, um eine Verfassung mit einer völlig neuen Identität und völlig neuen normativen Prämissen zu kreieren. Dies geht nur dann, wenn die alte Verfassung bereits politisch und rechtlich tot ist.14 Umgekehrt aber steht mit der alten, jedoch bereits „toten“ Verfassung ein institutioneller Rahmen bereit, der die Konstituierung einer souveränen verfassungsgebenden Gewalt des Volkes faktisch überflüssig macht und zugleich ein semantisches Vokabular der Selbstbeschränkung für beide Seiten, die oppositionellen Kräfte wie die alten Machthaber, bereitstellt. Die alten Machthaber müssen nicht die revolutionäre Gewalt des Volkes fürchten, sondern können mit den Oppositionellen einen Übergang verhandeln, in dem sie während und auch nach der Transformation einen rechtlichen und institutionell geschützten Rahmen haben, in dem sie sich als politische Kräfte bewegen können. Und die oppositionellen Kräfte können gegen das Ancien Régime um die Macht kämpfen, ohne Gewalt anwenden zu müssen. Was wir in Mittelosteuropa beobachten konnten ist ein Grenzfall der Verfassungstheorie und - praxis, die man weder mit dem Begriff der Reform noch dem der Revolution analytisch angemessen bezeichnen kann. Wir brauchen deshalb einen Begriff, der diesen Grenzfall analytisch angemessen reflektiert, und diesen sehe ich in dem Begriff der „koordinierten Transformation“.15 Um den Begriff von anders gelagerten Begriffen abzusetzen, ist eine Vier - Felder - Matrix hilfreich, die die bisher diskutierten zwei Dimensionen – die Kontinutät / Diskontinuität der ( verfassungs )rechtlichen Strukturen und die Anwesenheit / Abwesenheit einer tiefen legitimatorischen Krise – kombiniert. 11 Vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928, S. 103. 12 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1976, S. 276. 13 Ebd., S. 277. 14 Vgl. Arato, Dilemmas, S. 675. 15 Die Begriff lichkeit geht zurück auf Janos Kis ( Between Reform and Revolution, S. 319), der jedoch den Begriff der „coordinated transition“ benutzt. Transitionen bezeichnen in der Systemwechseltheorie den Wandel allein von politischen Regimen, während wir in Mittelosteuropa mit einem systemischen Wandel konfrontiert waren ( und sind ), der politischen, ökonomischen und sozialen Wandel umschließt und besser als „Transformation“ oder auch als „Systemwechsel“ bezeichnet werden sollte. Vgl. Wolfgang Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, 2. Auf lage Wiesbaden 2010.

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Friedbert W. Rüb

Schaubild 1 : Typen von systemischem Wandel Legitimationskrise Ja

Ja

Nein

Koordinierte Transformation

Reform

Revolution

Staatsstreich (coup d’etat)

Verfassungskontinuität Nein

Koordinierte Transformationen sind – wie Revolutionen auch – durch eine tiefgreifende Krise der Legitimität der institutionellen ( und oft ökonomischen ) Ordnung begleitet, die die Autorität der Machtelite, bindende Entscheidungen zu treffen, nachhaltig und unwiderruf lich in Frage stellt. Gleichwohl vollzieht sich der Wandel – wie bei Reformen – innerhalb des bestehenden rechtlichen Rahmens, ohne dass sich eine souveräne verfassungsgebende Gewalt des Volkes konstituiert, die der Gesellschaft eine neue politische und / oder ökonomische Ordnung diktiert. Im Gegenteil, die verhandelnden politischen Kräfte setzen ausdrücklich auf konstitutionelle Kontinuität, um den Boden des Rechts nicht zu verlassen und um einseitige Ordnungssetzungen zu verhindern. Jedoch, und das unterscheidet die mittel - und osteuropäische Situation von traditionellen Reformen, verfügen die alten Machthaber über keine legitimatorische Basis mehr, grundlegende Änderungen selbst in Gang zu setzen. Dazu mussten sie die oppositionellen Kräfte während des Übergangs in das alte Machtgefüge kooptieren und sich mit ihnen koordinieren, um eine revolutionäre Situation zu vermeiden; und nach den verhandelten Übergängen mussten sie in der neuen institutionellen Ordnung, insbesondere bei den ersten freien Wahlen, mit ihnen konkurrieren. So entstanden keine unvereinbaren Ansprüche auf die politische Macht, weil die alten Eliten nicht auf gewaltsame Verteidigung ihrer Macht setzten, sondern als „Helden des Rückzugs“16 agierten. Da auch koordinierte Transformationen immer mit der Mobilisierung der Massen verbunden sind und sie eine bedeutende Rolle spielen, ist die Frage nach der Bedeutung von Eliten und Massen gleichbedeutend mit der Frage nach den jeweiligen konkreten und empirisch beobachtbaren Untertypen von koordinierten Transformationen, die je nach Ausgangslage in den jeweiligen Ländern unterschiedliche Ausdrucksformen fanden.

16 Hans Magnus Enzensberger, Die Helden des Rückzugs. Brouillon zu einer politischen Moral der Macht. In : ders., Zickzack. Aufsätze, Frankfurt a. M. 1997, S. 55–63 ( Erstveröffentlichung in der FAZ vom 9. 12. 1989).

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„1989“: Revolutionen oder koordinierte Transformationen

2.

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Zur Rolle von Eliten und Massen in den Subtypen der koordinierten Transformation

Die gängige Unterteilung von sogenannten „modes of transition“ oder „modes of extrication“17 unterscheidet vier Grundtypen, die allen Transformationen (Südeuropa, Lateinamerika, Asien und Mittelosteuropa ) unterlegt werden. Zunächst Transitionen durch Pakte, die dann entstehen, wenn „elites agree upon a multilateral compromise among themselves“; durch Zwang, sofern „elites use force unilaterally and effectively to bring about regime change against resistance of the incumbents“; dann durch Reform, sofern „masses mobilize from below and impose a compromised outcome without resorting to violence“ und schließlich durch Revolution, „when masses rise up in arms and defeat the previous authoritarian rules militarily“.18 Überträgt man dieses Kategoriensystem ( zu ) schematisch auf Mittelosteuropa, dann betreibt man „concept - stretching“ : Man findet dann Transition durch Revolution in Rumänien, durch Reform in der ehemaligen Tschechoslowakei, durch Pakte in Bulgarien, Polen und Ungarn und durch Zwang in Albanien ( ebd.). Das Problem dieser Konzepte sehe ich darin, dass sie keine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Transformationen vornehmen, sondern bestimmte, an den südeuropäischen und lateinamerikanischen Fällen gewonnene Kategorien über die unterschiedlichen Transitionen hinweg anwenden. Aber während es sich in den lateinamerikanischen und südeuropäischen Transitionen zur Demokratie um Wechsel der politischen Regime handelt, vollzog sich in Mittelosteuropa eine vierte Welle, die mit einem kompletten Systemwechsel und dem damit verbundenen Problem der Simultaneität von politischer und ökonomischer, ja zum Teil auch territorialer Transformation konfrontiert war.19 Auch wenn man die damit verbundenen Überspitzungen hinsichtlich der Komplexität dieser Transformationen nicht teilt,20 so markieren diese Überlegungen gleichwohl eine Sonderstellung der Transformationen in Mittelosteuropa, die eine unmittelbare Übertragung der Transitionskonzepte fragwürdig erscheinen lässt. Die Transformation in Rumänien als revolutionär, die in der ČSSR als reformistisch und die in Albanien als durch Zwang von oben zu bezeichnen, ist ausgesprochen fragwürdig. Stattdessen scheint es mir sinnvoller zu sein, die Besonderheiten in Mittelosteuropa generell als „koordinierte Transformationen“ zu markieren und dann 17

Terry L. Karl / Philippe C. Schmitter, Modes of Transition in Latin America, Southern and Eastern Europe. In : International Social Science Journal, 43 (1991), S. 269–284. 18 Ebd. Ähnlich von Klaus von Beyme, Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt a. M. 1994, S. 95. 19 Vgl. Claus Offe, Das Dilemma der Gleichzeitigkeit. Demokratisierung und Marktwirtschaft in Europa. In : Merkur, 45 (1991) 4, S. 279–292; Jon Elster, The Necessity and Impossibility of Simultaneous Economic and Political Reform. In : Douglas Greenberg / Stanley N. Katz / Melanie Beth Oliviero / Steven C. Wheatley ( Hg.), Constitutionalism and Democracy : Transitions in the Contemporary World, New York 1993, S. 267–274. 20 Vgl. Wolfgang Merkel, Gegen alle Theorie ? Die Konsolidierung der Demokratie in Ostmitteleuropa. In : Politische Vierteljahresschrift, 48 (2007) 3, S. 413–433.

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Friedbert W. Rüb

nach Übereinstimmungen und Differenzen innerhalb dieser einen Gattung und nicht zwischen unterschiedlichen Gattungen von Transformationen zu fragen. Das Leitkonzept „koordinierte Transformation“ kann dann mit Variationen innerhalb des Konzepts operieren und neue Gesichtspunkte aufdecken, für die die anderen Konzepte „blind“ sind. In einem Vergleich der Transformationen zwischen Ungarn und Polen hat der polnische Politologe Jerzy J. Wiatr festgehalten, dass „there is a number of explanations for this difference. Neither the political cultures – with interesting similarities – nor the socio - economic situation will suffice, however. The explanation should be sought in the way in which the negotiated revolution has taken place, in the behaviour of the main actors (on part of both the former regime and the opposition ), in the legal framework chosen for the first stage of democratic transformation, and in the role of the leaders.“21 Wiatr weist darauf hin, dass wir es zwar in Polen und in Ungarn mit koordinierten Transformationen zu tun haben, aber gleichwohl mit zwei unterschiedlichen Subtypen innerhalb dieser Gattung. Und er weist zudem auf drei wichtige Variablen hin, die diese Differenz ausmachen könnten : Das Verhalten der zentralen Akteure, die Bedeutung der neu gewählten institutionellen Architektur und die Rolle von politischen Eliten bzw. herausgehobenen Führungspersönlichkeiten. Generell kann man vermuten, dass sich weitere Untertypen finden lassen, dass also Rumänien, Albanien, Bulgarien, die ehemalige Tschechoslowakei u. a. erneut als Untertypen innerhalb des Genus koordinierte Transformation konzeptionalisiert werden können – und nicht als Revolutionen, Reformen oder Staatstreich. Genau dies will ich im Folgenden versuchen und hierbei die Rolle von Eliten und Massen in den Mittelpunkt rücken.22

2.1

Polen : Der Runde Tisch als Paradigma der Transformation

Am Anfang stand Polen und der Anfang ist immer am schwersten. Es gab kein historisches Vorbild, an dem man sich hätte orientieren können, und alle Beteiligten sind mit falschen Vorstellungen in die Verhandlungen am Runden Tisch gegangen. Voraussetzung für die Einrichtung des Runden Tisches war u. a. eine grundlegende Neueinschätzung der politischen und ökonomischen Ausgangslage durch die reformorientierten Kräfte in der polnischen KP und dem Militär. 21 Jerzy J. Wiatr, Executive – Legislative Relations in Crisis : Poland’s Experience, 1989– 1993. In : Arend Lijphart / Carlos H. Waisman ( Hg.), Institutional Design in New Democracies : Eastern Europe and Latin America, Boulder 1996, S. 103–116, hier 110. 22 Die folgenden Darstellungen basieren vor allen auf Friedbert W. Rüb, Schach dem Parlament. Regierungssysteme und Staatspräsidenten in den Demokratisierungsprozessen Osteuropas, Wiesbaden 2001 und der dort in den einzelnen Länderstudien angegebenen Literatur. Vgl. aber auch Beyme, Systemwechsel in Osteuropa; Merkel, Systemtransformation; Juan J. Linz / Alfred C. Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, Latin America and Post - Communist Europe, Baltimore 1996.

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„1989“: Revolutionen oder koordinierte Transformationen

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Sie mussten anerkennen, dass a ) die Opposition in Form der Solidarność und anderer Kräfte kein vorübergehendes, sondern ein dauerhaftes Phänomen ist und den Ausdruck einer grundlegenden und nicht zu korrigierenden Legitimationskrise des alten Regimes darstellt; ökonomische Reformen konnten deshalb b ) ohne den Einbezug der oppositionellen Kräfte nicht realisiert werden, was umgekehrt bedeutete, c ) das Monopol einer politischen Kraft auf die politische Macht aufzugeben.23 Seinen institutionellen Niederschlag fand diese Einschätzung im Runden Tisch, dessen erste öffentliche Sitzung am 6. Februar 1989 begann. An ihm verhandelten die Reformer innerhalb der militärischen und politischen Elite und die moderaten Kräfte der Opposition über die zukünftigen Spielräume der Zivilgesellschaft. Die Verhandlungen bezogen sich anfänglich auch auf wirtschaftliche Reformen und andere Fragen, aber diese Gespräche führten – wie später in den anderen Ländern Mittelosteuropas auch – zu keinen Ergebnissen. Alle substantiellen sozio - ökonomischen Fragen der neuen Gesellschaftsordnung waren keinem Kompromiss zugänglich, aber man konnte sich darauf einigen, Verfahren zu verhandeln, über die dann in einem nächsten Schritt die substantiellen Fragen entschieden werden sollten. Infolgedessen wurden vor allem verfassungsrechtliche und institutionelle Fragen verhandelt. Der Verlauf und die Ergebnisse der Verhandlungen am Runden Tisch sind weitgehend bekannt und brauchen nur in groben Strichen nachgezeichnet werden. Für die reformorientierten Kräfte war relevant, dass sie im Amt des Staatspräsidenten eine Vetoposition hatten, der den Verlust der politischen Macht der kommunistischen Partei kompensieren konnte. Vier Machtbefugnisse waren zentral und standen im Mittelpunkt des Konflikts. Zunächst a ) sein Recht, Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen, dann b ) sein Vetorecht gegenüber Gesetzen des Sejm, auch c ) das Recht der Parlamentsauf lösung und schließlich d ) seine außen - und innenpolitischen Kompetenzen. Zudem sollte der Staatspräsident nicht in freien Wahlen gewählt, sondern vom Sejm und dem Senat gewählt werden, in denen die „gewählten“ kommunistischen Abgeordneten über klare Mehrheiten verfügten. Im Sejm sollten in den ersten Wahlen allein 35 Prozent der Sitze frei gewählt werden, so dass die kommunistische Mehrheit in der zentralen gesetzgebenden Kammer gewährleistet war. Beides, die undemokratische „Wahl“ des Staatspräsidenten und die im Wahlgesetzt festgelegte 65- Prozent Mehrheit der Kommunisten, musste mit dem Widerstand der Opposition rechnen. Kurz vor dem Scheitern der Gespräche wurde die Blockade der Verhandlungen durch einen Vorschlag von Aleksander Kwaśniewski, einem der wichtigen Verhandlungsführer der Regierung, aufgelöst. „The silent deadlock was interrupted by Kwasniewski’s extemporaneous suggestion : ‚How about electing the president by Sejm and the Senate which, in turn, will be elected freely ?‘ ‚This is worth thinking‘, said Geremek. The opposition did not care about the Senate but was attracted by the idea of free electi23 Wiktor Osiatynski : The Roundtable Talks in Poland. In : Jon Elster ( Hg.), The Roundtable Talks and the Breakdown of Communism, Chicago 1996, S. 21–69, hier 24.

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ons in general. The party went along, seeing in Kwaśniewski’s proposal a road to electing their own candidate with some measure of legitimacy. Thus, through mutual self - interest, a compromise was reached, one of the most significant decisions of the Round Table, that is free elections to the Senate.“24 Die Logik der Machtteilung wird hier überdeutlich und die weiteren Verhandlungen drehten sich dann darum, welche Befugnisse jeweils Präsident und Senat im neuen Verfassungsgefüge haben sollten. Diese Verhandlungen waren nur deshalb erfolgreich, weil zentrale Konflikte nicht in den öffentlichen, sondern unter Vermittlung der katholischen Kirche in Gesprächen im Kloster Magdalenka außerhalb von Warschau beigelegt wurden. Die Massen waren an diesen Verhandlungen nur indirekt beteiligt. Sie fungierten als fiktives Drohpotential, das aber im Extremfall auch faktisch einsetzbar gewesen wäre. Die Legitimationskrise des alten Regimes war so dramatisch, dass allen Beteiligten klar war, dass die Massen jederzeit mobilisierbar waren und eine erneute Verhängung des Kriegsrechts wie 1980/1981 keine realistische Option mehr darstellte. Das Ergebnis der ersten Wahlen in Polen kennen wir. Solidarność gewann – bis auf einen unabhängigen Kandidaten – alle Sitze im frei gewählten Senat und alle möglichen der 35 Prozent frei wählbaren im Sejm. Dies stellte die am Runden Tisch vereinbarten Ergebnisse so grundlegend in Frage, dass in einer Ad hoc - Revision eine neue Regierungszusammensetzung mit Regierungschef Mazowiecki von der Opposition vereinbart wurde. Gleichwohl bleib es bei der Idee der Machtteilung : Die Opposition besetzte die Mehrheit der Ministerposten, gewährte aber – auch mit Rücksicht auf die Sowjetunion – den alten Eliten bestimmte Ministerposten, u. a. für Innen - und Verteidigungspolitik wie für auswärtige ökonomische Beziehungen. Zudem hatte Staatspräsident Jaruzelski die Zeichen der Zeit erkannt und signalisierte bereits im Juli 1990 die Bereitschaft zum Rücktritt; zu groß und zu deutlich war der Legitimationsverlust des alten Regimes. In einer Direktwahl des Staatspräsidenten gewann der Führer der Solidarnosc, Lech Wałęsa, gegenüber dem amtierenden Ministerpräsidenten Mazowiecki, der bereits im ersten Wahlgang scheiterte. Der Prozess der Verfassungsgebung blieb kompliziert und vollzog sich über die sogenannte „Kleine Verfassung“ bis zur endgültigen Verabschiedung einer Verfassung im Mai 1997. Sie wurde mit einer denkbar knappen Mehrheit durch ein Referendum angenommen; bei einer Wahlbeteiligung von nur 43 Prozent stimmten gerade einmal 54 Prozent der Wahlberechtigten für die Verfassung. Beide Bedingungen für eine koordinierte Transformation waren gegeben : Zunächst eine tiefgreifende Legitimationskrise des alten Regimes, die dazu führte, dass die reformorientierte Elite innerhalb des herrschenden Blocks keine andere Möglichkeit für Reformen sah, als Teile der moderaten und verhandlungsbereiten Opposition einzubeziehen. Die Logik der Machtteilung fand immer ihren Ausdruck in einer bestimmten institutionellen Architektur des Regierungssystems, wobei alle Änderungen der Verfassung und anderer Institu24 Ebd., S. 53 f.

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tionen immer den Gang der Verfassungsänderung oder den der normalen Gesetzgebung nahm; aber nie trat eine Situation ein, in der der Boden des ( Verfassungs )Rechts verlassen wurde. Verfassungsrechtliche Kontinuität bei radikalem Bruch mit der alten kommunistischen Verfassung. Immerhin wurde die neue Verfassung durch ein Referendum bestätigt, sie hatte also die Legitimität des Volkes. Aber die souveräne verfassungsgebende Gewalt des Volkes hat sich nie konstituiert.

2.2

Ungarn : Verfassungsgebung am Runden Tisch und durch Plebiszit

Obwohl auch in Ungarn alle wesentlichen Fragen am Runden Tisch verhandelt wurden, entstand die Verfassung nicht ausschließlich nach der Logik der Machtteilung; stattdessen wurden zentrale Fragen durch Volksentscheid entschieden. Sechs Tage nach der verheerenden Wahlniederlage der Kommunisten in Polen begannen die Verhandlungen am Runden Tisch. Während – wie in Polen – alle Verhandlungen über inhaltliche Fragen der Politik, wie Wirtschafts - oder sozialstaatliche Reformen scheiterten, waren die über Verfahrensfragen weitgehend erfolgreich. Das neue Wahlgesetz, das eine reine Addition der Vorschläge der Opposition und der Reformer beinhaltete, wurde vom alten, kommunistisch dominierten Parlament verabschiedet. Auch wurden alle Grundfragen der neuen Verfassung verhandelt, wobei die zentralen Konflikte bei der Wahl und den Machtbefugnissen des Staatspräsidenten ausbrachen. An dieser Frage aber, wer den Präsidenten ( Parlament oder Direktwahl durch das Volk ) und wann er ( vor oder nach den Parlamentswahlen ) gewählt werden und welche Machtbefugnisse er haben sollte, zerbrach der Runde Tisch. Um einen vollständigen Bruch der Verhandlungen zu verhindern, stimmte ein Teil der Opposition einem Kompromissvorschlag der Reformkommunisten zu, wobei die dafür notwendigen Verfassungsänderungen erneut vom Parlament mit Hilfe der Regeln zur Änderungen der Verfassung – innerhalb weniger Stunden und fast ohne Diskussion – verabschiedet wurden. Der radikale Teil der Opposition suchte außerhalb von Verhandlungen eine Entscheidung über ein Plebiszit, mit dem zugleich auch die Wahlchancen der oppositionellen Parteien bei den ersten freien Wahlen erhöht werden sollten. Mit der denkbar knappen Mehrheit von 50,14 Prozent der Stimmen – das entsprach genau 6101 Stimmen – war der Volksentscheid bei einer Wahlbeteiligung von rund 60 Prozent erfolgreich.25 Die Massen wurden nicht auf die Straßen, sondern an die Wahlurnen mobilisiert. Gleiches galt auch für die ersten freien Wahlen, die das Ungarische Demokratische Forum ( MDF ) gewann und 25 Neben der Frage der Wahl des Staatspräsidenten wurden noch drei weitere Sachverhalte entschieden, über die am Runden Tisch keine Einigung erzielt werden konnte. Es handelte sich um die Entwaffnung der sog. Arbeitermilizen, dann um das Verbot politischer Aktivitäten in Betrieben und schließlich um die Offenlegung des Vermögens der kommunistischen Partei bzw. ihrer Nachfolgepartei.

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mit einer der beiden liberalen Parteien ( SZDSZ ) eine Regierungskoalition bildete. Diese hatte wegen des hohen disproportionalen Effekts des Wahlsystems mit nur 52,7 Prozent der Wählerstimmen eine Mandatsmehrheit von über 72 Prozent, so dass sie nicht nur über die verfassungsändernde, sondern über die zur Verabschiedung einer völlig neuen Verfassung nötige Mehrheit verfügte. Dies sollte nach dem Koalitionsvertrag in der ersten Legislaturperiode erfolgen. In einem Akt der Selbstbeschränkung einigte man sich jedoch, die sogenannte „Methode der radikalen Kontinuität“ fortzuführen und Verfassungsänderungen wie die Verabschiedung einer komplett neuen Verfassung nur im Konsens mit den oppositionellen Parteien zu vollziehen. Der verfassungsgebende Ausschuss des Parlaments wurde paritätisch ( und nicht proportional zu den Mandatsanteilen ) besetzt und jeder Beschluss dieses Ausschusses konnte nur mit Zustimmung von fünf der insgesamt sechs ( im Parlament vertretenen ) Parteien gefasst werden. War bei bestimmten Fragen eine Einigung nicht möglich, so blieb die Regelung der alten ( kommunistischen ) Verfassung automatisch in Kraft, was die verfassungsrechtliche Kontinuität erneut bekräftige. Im März 1996 war dann ein „Entwurf für die Grundzüge einer neuen Verfassung“ fertig, der vom Parlament verabschiedet werden sollte. Bei dieser Abstimmung stimmten dann mehrere Regierungsmitglieder der inzwischen an die Macht gekommenen Nachfolgeorganisation der kommunistischen Partei nicht für diese Grundzüge, so dass nur eine erhebliche Anzahl von Verfassungsänderungen verabschiedet werden konnte. Die neue ungarische Verfassung war dann die grundlegend veränderte alte und ist es bis heute geblieben. Sie ist das Ergebnis eines Elitenkompromisses und wurde dem Volk nie zur Abstimmung vorgelegt. Während des gesamten Verfassungsgebungsprozesses wurde die Methode der „radikalen Kontinuität“ angewendet, nie und zu keinem Zeitpunkt wurde der Boden des ( Verfassungs )Rechts verlassen, während die anderen grundlegenden Fragen, wie die Wirtschaftsreformen und die Umgestaltung des Sozialstaates, mit einfachen Mehrheiten, aber begleitet durch erbitterte parteipolitische Kontroversen, durch die jeweiligen Parlamentsmehrheiten verabschiedet wurden.

2.3

Die Transformationen in der Tschechoslowakei, Bulgarien und Rumänien

In der ehemaligen Tschechoslowakei spielten die Massen eine überragende Rolle bei der Implosion des alten Systems, das ohne großen Widerstand in sich zusammenbrach. Die oppositionellen Kräfte richteten – ebenso wie in Polen und Ungarn – einen Runden Tisch ein, an dem die alte kommunistische Elite vertreten war, obwohl sie faktisch über keine Macht mehr verfügte. Das dort verhandelte Wahlrecht für die ersten freien Wahlen war ein fast reines Verhältniswahlrecht, das den alten politischen Kräften einen erheblichen Anteil an politischer Macht erhielt, obwohl die Opposition ohne Weiteres ein für sie günstigeres hätte durchsetzen können. Diese Strategie der freiwilligen Selbstbeschränkung

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wurde auch bei den Änderungen der politischen Institutionen verfolgt. Hier war das Prinzip der unbedingten Legalität zentral, auch hier wurden alle Änderungen der bestehenden Verfassung mit den Änderungsregeln genau dieser Verfassung vollzogen. Das Verhältniswahlrecht hatte zur Folge, dass viele kommunistische und auch nationalistische Kräfte in den beiden föderalen Parlamenten und den beiden Kammern des Zentralstaates vertreten waren. Aufgrund der komplizierten Verfassungsstruktur mit einem asymmetrischen Föderalismus verfügte die slowakische Minderheit über ein außergewöhnlich starkes Minderheitenveto, das einfache Gesetzgebung und insbesondere Verfassungsänderungen extrem schwierig machten. Dennoch wurde durch „eine lange Reihe mosaikartiger Verfassungsänderungen“26 die alte Verfassung demokratischen Grundsätzen angepasst. Die komplizierte Verfassungsstruktur des föderalen Staates führte letztlich dazu, dass viele wirtschaftliche und soziale Reformvorhaben durch die Vetopositionen der Slowaken verhindert wurden, was die Trennung der beiden Republiken beschleunigte. Die Massen brachten das vollständig delegitimierte System zur Implosion, aber alle weiteren Prozesse wurden von der schwachen Opposition und den wenigen reformorientierten Kräften in der alten Nomenklatura verhandelt. Es handelte sich – trotz mancher Besonderheiten – wie in Polen und Ungarn um eine koordinierte Transformation auf dem Boden des ( Verfassungs )Rechts. Bulgarien und Rumänien fallen aus dem bisher skizzierten Schema heraus. In Bulgarien reagierten die alten kommunistischen Kräfte präventiv, was durch eine Spaltung innerhalb des kommunistischen Machtblocks forciert wurde. Die reformorientierten Kräfte lösten den Chef der KPB, Todor Schiwkow, nach zwei langen Sitzungen des Politbüros ab, bei denen auch der russische Außenminister teilgenommen hatte. In wichtigen Positionen des Staats - und Parteiapparates wurden Umbesetzungen vorgenommen, so dass die KPB eine weitaus höhere Legitimität genoss als in den bisher erwähnten Staaten. Auch entwickelte das kommunistische Parlament eine erstaunliche Gesetzgebungsaktivität. Es veränderte bestimmte Bestimmungen des rigiden Strafrechts und strich die führende Rolle der kommunistischen Partei aus der Verfassung. Erst danach gründeten sich einige oppositionelle Gruppierungen, fast alle in der Hauptstadt. Im Dezember 1989 fanden erste Demonstrationen in Sofia statt, die nicht sofort unterdrückt oder niedergeschlagen wurden. Der Runde Tisch war eine präventive Einrichtung der KPB, der eher als eine Art Konsultationsorgan fungierte, denn als Verhandlungsorgan mit gleichberechtigten Mitgliedern. Auch sollte der Runde Tisch nicht die institutionellen Grundlagen der neuen Ordnung beraten und beschließen, sondern allein das Wahlgesetz für die ersten Wahlen formulieren. Als verfassungsgebendes Organ sollte dann das gewählte Parlament fungieren, das auch die am Runden Tisch erzielten Ergebnisse erneut und endgültig entscheiden sollte, was die Möglichkeit einer Revision der Beschlüsse einschloss, weil das Parlament eine andere Legitimation besaß als der Runde Tisch. 26 Helmut Slapnicka, Das tschechoslowakische Verfassungsprovisorium. In : Osteuropa Recht, 37 (1991), S. 257–285, hier 258.

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Die erste Wahl endete überraschend mit einem Sieg der Kommunisten. Der noch von der alten Nationalversammlung gewählte Staatspräsident Petar Mladenov musste zurücktreten, weil er die zunehmenden Massenproteste, die sich gegen den Wahlsieg der Kommunisten richtete, durch Einsatz des Militärs unterdrücken wollte. Dies verdeutlichte zum Einen, wie gefährlich für die alten Eliten die mobilisierten Massen waren; und zum Anderen die große Bedeutung der Staatspräsidenten, die in der Regel den Oberbefehl über die Streitkräfte hatten. Nachdem der Kandidat der Opposition, Scheljew Schelew, von der Nationalversammlung zum neuen Präsidenten gewählt worden war, entspannte sich die Lage, weil der Einsatz des Militärs angesichts sich ausweitender Proteste der Bevölkerung unwahrscheinlich wurde. In über 20 Städten wurden sogenannte „Städte der Wahrheit“ aus permanenten Zeltlagern errichtet und täglich fanden in der Hauptstadt Sofia Demonstrationen vor dem Parlament statt. Die Lage spitze sich erneut zu, als die Nationalversammlung am 20. Juli die erste komplett neue Verfassung in ganz Osteuropa verabschieden wollte. Sie war zuvor im verfassungsgebenden Ausschuss zwischen der Opposition und den regierenden Sozialisten ausgehandelt worden, aber die Opposition war nicht kohärent und ein Teil ihrer Abgeordneten verließ vor der Abstimmung demonstrativ das Parlament, begann einen Hungerstreik und erklärte sich zur außerparlamentarischen Opposition. Damit war nicht nur der Verlust der qualifizierten Mehrheit zur Verabschiedung der Verfassung verbunden, sondern auch der Grundstein für eine „binäre Fundamentalkonfrontation“27 gelegt, die die weitere politische Entwicklung in Bulgarien begleitete. Zwar nahmen durch Vermittlung des Staatspräsidenten Schelew ein Teil der oppositionellen Abgeordneten ihre Arbeit wieder auf und die Verfassung konnte nun verabschiedet werden, aber die starke Konfrontation blieb gleichwohl erhalten. In Rumänien gestaltete sich der Übergang noch komplizierter, bis heute sind nicht alle Tatsachen erhellt. Zentral für das Verständnis ist jedoch der enge Zusammenhang zwischen der Gewaltsamkeit als Auslöser und späterem ständigem Begleiter der Transformation und dem „Mythos“ einer Revolution. Die Gewaltsamkeit des Systemwechsels machte es für alle beteiligten Gruppierungen unumgänglich, die Legitimation ihrer jeweiligen Machtpositionen und die Legitimität der Verfassung aus dem Mythos der Revolution heraus zu begründen. Man brauchte einen „clear title to having brought off the revolution. No group could hope to exercise power effectively unless legitimated by a heroic role in the revolution; hence the battle over the revolution as a symbol.“28 Die Verfassung selbst war ein solches legitimatorisches Symbol im Machtkampf, denn sie sollte nicht nur das Ende des alten, sondern auch den Beginn des neuen Zeitalters symbolisieren. Insofern war auch die politische Praxis des „neuen“ 27 Wolfgang Höpken, Die „unvollendete Revolution“ ? Bilanz der Transformation nach fünf Jahren. In : ders. ( Hg.), Revolution auf Raten. Bulgariens Weg zur Demokratie, München 1996, S. I–XXXI, hier XI. 28 Katherine Verdery / Gail Kligman, Romania after Ceausescu : Post - Communist Communism ? In : Ivo Banac, Eastern Europe in Revolution, Ithaca 1992, S. 117–147, hier 122.

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Regimes durch den Revolutionsbegriff legitimiert und nicht durch institutionell geregelte Verfahren. Am 22. Dezember 1989 konstituierte sich der „Rat der Front der Nationalen Rettung“ ( FSN ) als souveränes Organ, das sich alle anderen Staatsorgane unterordnete bzw. deren Tätigkeit unterband. Zwar wurde die alte Verfassung nicht explizit außer Kraft gesetzt, aber alle Macht lag in der Hand des Rates. Per Dekret erklärte er sich am 27. Dezember zum alleinigen Machthaber mit allen exekutiven und legislativen Rechten, einschließlich der Befehlsgewalt über die Streitkräfte. Er konnte demgemäß auch einfache Gesetze erlassen und bestimmte Ion Iliescu zum Ratsvorsitzenden. Am 31. Dezember 1989 wurde per Dekret eine neue revolutionäre Regierung installiert, die das politische Programm des Rates umsetzen sollte. Die revolutionäre Gruppe aus der alten kommunistischen Elite wollte ihre Macht auch plebiszitär legitimieren und dazu waren Wahlen, welcher Art auch immer, unvermeidlich. Obwohl die Front im Prinzip die gesamte Macht in den Händen hielt, wurde auf Grund von Demonstrationen und anderer Proteste ein Runder Tisch ( der „Provisorischer Rat der nationalen Einheit“) eingerichtet, der das Wahlgesetz verabschiedete. Obwohl die Mitglieder der Front an dem knapp 250 Personen umfassenden Runden Tisch die Mehrheit hatten, konnte die Opposition das ursprünglich geplante Mehrheitswahlrecht durch ein fast reines Verhältniswahlrecht ersetzen, was ihre Erfolgsaussichten erheblich verbesserte. Dies war ein erstaunlicher Erfolg angesichts der eindeutigen Mehrheitsverhältnisse der FSN und der schwachen und intern fraktionalisierten Opposition. Echte Verhandlungen konnten so nicht stattfinden, aber das absolute Machtmonopol der FSN war durch den Runden Tisch aufgebrochen. Das am 20. Mai 1990 neu gewählte Parlament fungierte zugleich als verfassungsgebende Versammlung, die dann – zusammen mit der Zweiten Kammer – im November 1991 mit der Mehrheit der FSN - Abgeordneten eine neue Verfassung verabschiedete, die im Kern die bestehenden Machtpositionen der FSN festschrieb. Beide Transformationen können als „unsaubere“ Koordinationen bezeichnet werden, weil effektive Koordination die gleichberechtigte Beteiligung der außerinstitutionellen Opposition voraussetzt. Wird wie in Bulgarien die ( äußerst schwache ) Opposition nur formal konsultiert und dominiert die alte Elite den Prozess der Ablösung und Demokratisierung, dann haben wir es mit einer „ver wässerten“ Koordination zu tun. In Rumänien dagegen übernahm eine Gruppe innerhalb der alten Elite in einer unklaren Situation die politische Macht, liquidierte den sultanistischen Machthaber ( und seine Frau ) und proklamierte für sich die „Revolution“, in deren Namen dann auch der Einsatz außerlegaler und gewaltsamer Macht gerechtfertigt wurde. Hier handelt es sich um verfälschte Koordination, denn es fanden weder eine Revolution, noch eine Reform, noch ein klassischer Staatstreich statt. Letzterem kommt Rumänien zwar am nächsten, aber die Beteiligten eines echten und erfolgreichen Staatsstreiches lassen sich nicht von der Opposition an einem Runden Tisch einen Teil ihrer gerade erkämpften Machtpositionen abhandeln.

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Der deutsche Sonder weg : Der Systemwechsel in der DDR

Während alle bisher dargestellten Transformationen durch „voice“ der Massen in Gang gesetzt und / oder begleitet wurden, war die Lage in der ehemaligen DDR eine völlig andere. Hier vollzog sich die Delegitimation und anschließende Implosion des alten Regimes in der Parallelität von „exit“ und „voice“.29 In keinem anderen Land in Mittelosteuropa konnte man diese Parallelität beobachten, weil nur in der DDR die Ausreise in die Bundesrepublik als Exit - Option vorhanden war. Die massiven Auswanderungswellen, die sich in den Botschaftsbesetzungen in der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn niederschlugen, fanden ihren Höhepunkt in der Auswanderungswelle nach der Öffnung der ungarischen Grenze im September 1989. Während das alte Konzept von Abwanderung und Widerspruch als einfaches „‚hydraulisches‘ Modell“30 davon ausging, dass mit zunehmender Abwanderung als weitgehend privater und stummer Entscheidung Widerspruch als öffentliche und kollektive Aktivität abnehmen würde, führte ersteres in der DDR zur Verstärkung des internen Widerstandes. Diese Verstärkung der Massenbewegung war nicht ohne Gefahren für die Transformation. Zwar war nach den Entwicklungen in den anderen Ländern klar, dass die Sowjetunion militärisch nicht inter venieren würde, aber die alte Elite war in ihrer tiefen Verunsicherung nicht in der Lage, sich auf eine einheitliche Linie – welcher Art auch immer – zu einigen. Die Möglichkeit der gewaltsamen Unterdrückung stand immer im Raum, insbesondere bei immer größer werdenden Demonstrationen in Leipzig und anderen Städten. Insofern war die Gewaltfreiheit aller Voice - Aktionen eine unhintergehbare Voraussetzung für den Erfolg. Die immer wieder betonte und auch faktisch realisierte Absage an Gewalt war die zentrale Legitimationsquelle der Bürgerbewegungen und war zugleich die Voraussetzung, die ( noch ) herrschende Elite von der Gewaltoption abzuhalten. Der Zwang der Bürgerbewegungen und deren lokalen Organisatoren, jegliche Gewalt oder auch nur Chaos zu verhindern, war immens. Bereits ein einzelner Provokateur hätte die Situation unkontrollierbar eskalieren lassen können und man muss es nachträglich fast als Wunder betrachten, dass dies nicht durch Spitzel der Stasi oder einfache Gewaltabenteurer geschah. Die programmatischen Positionen der oppositionellen Bürgerbewegungen waren durch eine nach wie vor existierende Loyalität gegenüber dem sozialistischen Regime gekennzeichnet. Alle zentralen Dokumente enthalten ein Bekenntnis zum Sozialismus.31 Jens Reich, einer der führenden Figuren des 29 Vgl. Albert O. Hirschman, Exit, Voice, and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge MA 1970; ders., Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik. In : Leviathan, 20 (1992), S. 330–358; Steve Pfaff, Exit - Voice Dynamics and the Collapse of East Germany. The Crisis of Leninism and the Revolution of 1989, Durham 2006. 30 Hirschman, Abwanderung, S. 334. 31 Vgl. Pfaff, Exit - Voice Dynamics, S. 194.

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Neuen Forums, hatte formuliert, dass man nicht die politische Macht usurpieren, sondern freie Wahlen realisieren wollte, in denen sich die Vielfalt der gesellschaftlichen Kräfte ausdrücken sollte.32 Und wie an den anderen Runden Tischen auch konnte zwar über die rechtlichen Verfahren zur ersten freien Wahl eine Einigung erzielt werden, nicht aber über die zentralen substantiellen Politikziele.33 Während die durch die ersten freien Wahlen an die Macht gebrachten Oppositionellen oder ( wie in Rumänien und Bulgarien ) die alten Eliten ein mehr oder weniger striktes Programm sozialer und ökonomischer Reformen in Gang setzten, war die am 18. März 1990 gewählte Volkskammer ein historisches Provisorium, die über nur geringen Handlungsspielraum verfügte. Die radikale Umgestaltung wurde nicht von ihr in Gang gesetzt, sondern durch die mit der Kohl - Regierung ausgehandelten Verträge. Durch den Staatsvertrag zur Währungs - , Wirtschafts - und Sozialunion vom 18. Mai 1990 und den am 20. September 1990 in der Volkskammer und dem Bundestag verabschiedeten Einigungsvertrag wurde die weitgehende Übertragung aller rechtlichen, institutionellen und politischen Strukturen der BRD auf die ( ehemalige ) DDR vorgenommen. Dies waren alles Meisterleistungen der bundesrepublikanischen Exekutive, die Massen spielten in diesen Prozessen keine Rolle, sieht man von der erneuten Mobilisierung im Kontext der ersten freien Wahl einmal ab, die bereits von den westdeutschen Parteien mit ihrem finanziellen und organisatorischen Potential dominiert und als „Stellvertreterkrieg“ geführt wurden, bei dem es auch um den langfristigen Machterhalt in Westdeutschland ging.34 Zwar hatte der Runde Tisch eine eigene Verfassung erarbeitet, die für Gesamtdeutschland gelten sollte. Sie verarbeitete die Erfahrungen der Bürgerbewegung und sah einige interessante Neuerung gegenüber dem Grundgesetz ( GG ) vor, hatte aber – ebenso wie die Paulskirchenverfassung von 1849 – nie eine realistische Chance zur Realisation. Sie wurde wegen der Einigungs - und Beitrittsverhandlungen nach Art. 23 GG nie in die Volkskammer eingebracht. Obwohl Art. 146 GG einen eigenständigen Prozess der Verfassungsgebung vorsah, wurde er in den hitzigen Debatten der damaligen Zeit von den verantwortlichen Eliten und einem Teil der Verfassungsrechtler nie ernsthaft erwogen.35 Nicht einmal zu einer abschließenden plebiszitären Selbstvergewisserung des Grundgesetzes, das nun die Verfassung des gesamten deutschen Volkes war, konnte sich die politische Elite durchringen. Die Konstituierung einer verfas-

32 Nach ebd., S. 208. 33 Vgl. Uwe Thaysen, Der Runde Tisch. Oder : Wo blieb das Volk ? Der Weg der DDR in die Demokratie, Opladen 1990. 34 Gerhard Lehmbruch, Die improvisierte Vereinigung : Die dritte deutsche Republik. In : Leviathan, 18 (1990), S. 462–486, hier 470. 35 Vgl. Horst Dreier, Das Grundgesetz – eine Verfassung auf Abruf ? In : Aus Politik und Zeitgeschichte, 18/19 (2006), S. 19–26. Zu den verfassungsrechtlichen Fragen des Art. 146 im Kontext der Vereinigung vgl. Ewald Wiederin, Die Verfassungsgebung im wieder vereinigten Deutschland. Versuch einer dogmatischen Zwischenbilanz des Art. 146 GG n. F. In : Archiv des Öffentlichen Rechts, 117 (1992), S. 410–448.

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sungsgebenden Gewalt des Volkes, in welcher von den politischen Eliten auch immer kontrollierten Form, sollte es nie geben.36 Zusammenfassend wirft der hier nur angedeutete Verlauf der Systemwechsel ein klares Schlaglicht auf die Rolle von Massen und Eliten, die in der Transformationsforschung gut herausgearbeitet ist. In den hier beschriebenen koordinierten Transformationen ist das Elitenverhalten die „Schlüsselvariable“37 für den Erfolg. In der Regel kam es zu einem Kompromiss, oft begünstigt durch die Selbstbeschränkung der oppositionellen Kräfte, der sich vor allem auf die verfassungsrechtliche und institutionelle Ebene bezog. Wird dieser Institutionenkonsens später durch einen Programmkonsens hinsichtlich der dringendsten ökonomischen und sozialen Reformen ergänzt, dann sind die Erfolgsaussichten einer Transformation noch günstiger.38 Der Elitenkonsens wurde öffentlich an den Runden Tischen ausgehandelt; zentraler waren aber oft geheime und in großer Autonomie von den Massen getroffene Kompromisse.39 Die Massen und ihre potentielle Mobilisierungsfähigkeit wurden dann zu einem strategischen Kalkül, das die moderaten Reformer zur Stärkung ihrer Verhandlungsposition benutzten. Insgesamt lässt sich ein Zyklus von Aufschwung und Abschwung beobachten, der einem klar identifizierbaren Rhythmus folgt : In der „revolutionären Situation“,40 in der das alte Regime herausgefordert und seine schwindende Legitimationsbasis deutlich wird, spielen die Massen eine herausragende Rolle. Während des „elite settlements“ wird dagegen bedeutsam, dass die Massen nicht unkontrolliert agieren, dass sie nicht die Hardliner im alten Regime herausfordern, dem friedlichen Prozess durch Gewaltanwendung ein Ende zu setzen. In Bulgarien und in Leipzig standen die Transformationen kurz vor der Gewaltanwendung, in der eine chinesische „Lösung“ bzw. eine Gewaltoption nicht ausgeschlossen schien. Nachdem die zentralen institutionellen und verfassungsrechtlichen Fragen verhandelt wurden und Gründungswahlen bevorstehen, kommt es erneut zu einem Aufschwung der Massenmobilisierung, denn nun geht es um die zukünftige Machtverteilung in dem neuen demokratischen Gefüge. Gleichwohl ist es eine „zivilisierte“ Massenbewegung, die sich im Kontext von Wahlkämpfen und - verfahren und den damit verbundenen institutionellen Regeln vollzieht.

36 Es wurde sogar die Streichung des Art. 146 gefordert, weil er eine „Zeitbombe im Verfassungsgefüge“ sei. So Josef Isensee in der FAZ vom 22. 8. 1990. Zit. nach Dreier, Grundgesetz, S. 5. 37 Michael Burton / Richard Gunther / John Highley, Introduction : Elite Transformations and Democratic Regimes. In : John Highley / Richard Gunther ( Hg.), Elites and Democratic Consolidation in Latin America and Southern Europe, Cambridge 1992, S. 1–37, hier 8. 38 Vgl. Friedbert W. Rüb, Zur Funktion und Bedeutung politischer Institutionen in Demokratisierungsprozessen. In : Wolfgang Merkel / Eberhard Sandschneider / Dieter Segert (Hg.), Systemwechsel 2 : Die Institutionalisierung der Demokratie, Opladen 1996, S. 54. 39 Vgl. Merkel, Systemtransformation, S. 91. 40 Vgl. Tilly, Revolutionen, S. 31 ff.

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Die Pluralität der Zivilgesellschaft wird zudem bei den ersten Gründungswahlen deutlicher. Während die vielfältigen Unterschiede in der Phase der Liberalisierung und Demokratisierung zugunsten der Destabilisierung des alten Regimes zurückstehen ( müssen ), wird in der ersten Wahl die Vielfalt und Pluralität der gesellschaftlichen, insbesondere aber der oppositionellen Kräfte überdeutlich. Damit verbunden sind oft Ernüchterungseffekte bei den Massen und sozialen Bewegungen, die zum Rückzug in den privaten Bereich führen.41

3.

„1989“ : Das Ende des „Zeitalters der Revolutionen“ ?

Der Revolutionsbegriff zur Kennzeichnung von „1989“ wird von verschiedenen Seiten vehement verteidigt und ist oft mit dem Vor wurf verbunden, dass man den unbändigen Freiheitswillen der Menschen nicht als entscheidenden Schlüssel für die Umwälzungen betrachte und zugleich das alte Regime verharmlose.42 Aber man kann die zentrale Rolle der Massen ebenso anerkennen wie den widerlichen und unmenschlichen Charakter der alten diktatorischen Regime, auch wenn man den Revolutionsbegriff analytisch nicht für plausibel hält. Zentral aber für den Prozess des Übergangs ist die Idee und Praxis der Selbstbeschränkung und – damit untrennbar verbunden – die Idee und Praxis der radikalen Kontinuität.43 Die bisherigen europäischen und außereuropäischen Revolutionen, von der französischen über die russische bis zur chinesischen, mobilisierten nicht nur massiv die sozialen Kräfte, die sie unterstützten; zudem konstituierten sich diese Kräfte als „souveräne“ Macht, die aus der Revolution her vorgegangen war und der Gesellschaft ihr neues Programm aufzwang – gegen den Widerstand der alten Kräfte und mit massiver Gewalt. Selbst die Arbeiter - und Soldatenräte zu Beginn der Weimarer Republik konstituierten sich als souveräne Gewalt, die der Gesellschaft ihr sozialistisches Programm oktroyieren wollten. In dem im Reichsgesetzblatt veröffentlichen Aufruf hieß es : „Die aus der Revolution her vorgegangene Regierung, deren politische Leitung rein sozialistisch ist, setzt sich zur Aufgabe, das sozialistische Programm zu ver wirklichen.“44 Zudem kündigten die Räte die Einberufung einer „Konstituierenden Versammlung“ an, die eine neue Verfassung ausarbeiten sollte. Das sich selbstbeschränkende Moment der osteuropäischen Systemwechsel bestand nun darin, dass sie im Kern ein entgegengesetztes Ziel verfolgten : Sie wollten kein revolutionäres Programm realisieren, sondern allein den institutio41

Zur Rolle von Massen und Eliten und den damit verbundenen Zyklen der Mobilisierung und Demobilisierung vgl. Merkel, Systemtransformation, S. 89–93. 42 So pointiert u. a. Kowalczuk, Revolution von 1989; ders., Endspiel. 43 Vgl. Andrew Arato, Revolution, Civil Society and the Problem of Democracy. In : Transit, 1/1990, S. 110–121; ders., Bruch oder Kontinuität ? Verfassungsdebatten in den Demokratien. In: Transit, 9/1995, S. 6–22; Ulrich K. Preuß, Revolution, Fortschritt und Verfassung. Zu einem neuen Verfassungsverständnis, Berlin 1990. 44 Zit. nach Preuß, Revolution, S. 60.

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nellen und verfassungsrechtlichen Rahmen abstecken, in dem sich die dann demokratisch organisierte Gesellschaft in „normalen“ Politikprozessen über ihre Vorstellungen verständigt und mit und innerhalb dieser Verfahren den eher radikalen oder schrittweisen Übergang zur Markwirtschaft vollzieht. Das Programm dieser Marktwirtschaften, also ob sie eher liberalistisch oder sozialdemokratisch sein sollten, ob sie als Schocktherapie oder als schrittweiser Übergang realisiert werden sollten, welche Form der Arbeitsbeziehungen eingeführt werden sollten – all dies wurde von den revolutionären Kräften nicht vorgegeben. Vielmehr musste jede Gesellschaft die Beantwortung dieser Fragen in einer Art Münchhausen - Prozess an sich selbst vollziehen und realisierte „varieties of capitalism“, deren Grundstrukturen von den moralischen, normativen, institutionellen und politischen Kompetenzen einer Gesellschaft abhängen.45 Die Runden Tische verstanden sich nicht als Repräsentanten revolutionärer Massen, nicht als „aus der Revolution her vorgegangen“, sondern bereits als Repräsentanten der Vielheit, Pluralität und Unterschiedlichkeit der Zivilgesellschaft. In Ungarn wurde dies besonders deutlich, weil die oppositionellen Kräfte sich bereits als Vielheit an einem vorgelagerten Runden Tisch trafen und dort ihre Strategien gegenüber den kommunistischen Reformkräften am eigentlichen Runden Tisch aushandelten. Ulrich K. Preuß hat das neue Verständnis treffend charakterisiert : „Alle diese Charakteristika der Revolutionen des Jahres 1989 haben eine innere Verbindung darin, dass sie die für die europäischen Revolutionen kennzeichnende Absicht ver werfen, der Gesellschaft einen souveränen und homogenen Willen ‚des Volkes‘ aufzuerlegen und mittels dessen Macht nach einem bestimmten politischen Plan zu gestalten. [...] Wenn es denn eine Utopie gibt, so ist sie das Gegenteil der Utopie einer im Staat institutionalisierten Einheit von kollektiver Vernunft und säkularisierter Allmacht : die Idee der Autonomie der Zivilgesellschaft und ihrer Fähigkeit, in diskursiven Prozessen und durch kluge Institutionalisierung auf sich selbst einzuwirken.“46 Insofern drückte sich diese Form der Selbstbeschränkung nicht nur im Prozess der Verfassungsgebung, sondern auch in der Verfassung selbst aus. Während Verfassungsgebung durch die Runden Tische unter Nutzung der Änderungsregeln der alten kommunistischen Verfassung die Konstituierung einer souveränen Gewalt des Volkes verhindern sollte, hat die ( demokratische ) Verfassung eine andere Aufgabe : In ihr drücken sich die „Politikmöglichkeiten einer Gesellschaft“47 viel deutlicher aus als in der souveränen Gewalt, weil sie die Pluralität der Gesellschaft und ihrer divergierenden Interessen und Normen weit mehr zur Geltung bringen kann als eine souveräne Gewalt. Zentral wird dann, ob Verfassungen konsumptiv oder investiv geschaffen werden. Investiv sind sie dann, wenn sich die beteiligten Akteure über die institutionellen Formen der 45 Vgl. Peter A. Hall / David Soskice ( Hg.), Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001. 46 Preuß, Revolution, S. 64. 47 Ebd., S. 65.

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„1989“: Revolutionen oder koordinierte Transformationen

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Selbstregierung verständigen, die sich nicht nur in einem Katalog von individuellen und politischen Freiheitsrechten ausdrückt, sondern auch in einer gelungenen horizontalen Gewaltenteilung. Sie ist nicht nur – wie wir seit Montesquieu wissen – eine Form der Begrenzung der politischen Macht zum Schutz der Freiheiten, sondern steigert zugleich die Selbstthematisierungsfähigkeit von Gesellschaften. Durch eine gelungene Ordnung des institutionellen Gefüges des Regierungssystems kann eine Verbesserung der Selbstwahrnehmungsfähigkeit gesellschaftlicher und sozialer Probleme ebenso gelingen wie die Rationalisierung des gesetzgeberischen Entscheidungsprozesses.48 Zwar wurden viele der mittel - und osteuropäischen Verfassungen an den Runden Tischen verhandelt und reflektieren die machtorientierten Interessen der beteiligten politischen Kräfte. Aber synchron wurden immer auch grundsätzliche Fragen der institutionellen Ausgestaltung des Regierungssystems zur Rationalisierung des politischen Prozesses durch argumentative Prozesse thematisiert.49 Verfassungen sind konsumptiv, sofern sie unmittelbar der Stabilisierung einer historisch gegebenen Machtkonstellation dienen und nicht für zukünftig andere Machtverhältnisse entworfen werden. Sie verbrauchen sich, sofern sich die Machtverhältnisse ändern und werden dann häufig geändert, weil sie Gesellschaften kein plausibles institutionelles Potential zur Selbstthematisierung bereitstellen. Dies war in Rumänien und Bulgarien der Fall – und deshalb auch die massiven Konflikte über die Verfassung selbst. Der Revolutionsbegriff, seine zentralen definitorischen Merkmale und die damit verbundenen semantischen und konnotativen Assoziationen verhindern geradezu die Beobachtung des mit den mittel - und osteuropäischen Transformationen verbundenen Paradigmenwechsels : Es waren koordinierte Transformationen, die die Idee der souveränen verfassungsgebenden Gewalt ad acta legten, sich eine erstaunliche Form der Selbstbindung auferlegten und so eine historisch neue Form der gesellschaftlichen Umwälzung ins Spiel brachten : Durch die Methode der „radikalen Kontinuität“50 komplett neue Verfassungen zu kreieren, die den zivilgesellschaftlichen Kräften einen Rahmen bereit stellen, ihre gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen mit Hilfe von institutionellen Verfahren produktiv zu bearbeiten und so radikal neue, gesellschaftliche Ordnungsformen zu schaffen, die die Möglichkeit zur laufenden Selbstkorrektur durch die civil society eröffnen.

48 Vgl. Stephan Holmes, Conceptions of Democracy in the Draft Constitutions of Post Communist Countries. In : Beverly Crawford ( Hg.), Markets, States and Democracy. The Political Economy of Post - Communist Transformation, Boulder 1995, S. 71–81. 49 Vgl. Elster ( Hg.), Roundtable Talks; Rüb, Schach dem Parlament, bes. S. 22–89. 50 Arato, Bruch oder Kontinuität, S. 8.

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III. Die Etablierung der Demokratie

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Die scheinbar vorbildliche Etablierung der Demokratie in Polen Klaus Ziemer

Bei der Über windung der sowjetsozialistischen Systeme in Ostmitteleuropa spielte Polen eine, wenn nicht die führende Rolle. Die Art und Weise, in der die streikenden Arbeiter an der Ostseeküste 1980, beraten von führenden Intellektuellen des Landes, die Anerkennung der Gewerkschaft Solidarność durch die kommunistische Führung des Landes durchsetzten, führte bei der sozial - und politikwissenschaftlichen sowie ideengeschichtlichen Einordnung der Ereignisse weltweit zu einer Renaissance des Begriffs „Zivilgesellschaft“.1 Die Verhandlungen am Runden Tisch zwischen den kompromissbereiten Eliten des Ancien Régime im Frühjahr 1989 setzten, auch wenn oder gerade weil die Ereignisse nach den Wahlen vom Juni 1989 ganz anders verliefen, als alle Beteiligten des Frühjahrs 1989 sich das vorgestellt hatten, Maßstäbe für die ganze Region. Auch in der DDR wurde Ende 1989 ein Runder Tisch der alten und der neuen politischen Eliten etabliert. In Polen erkannte die Mehrheit der alten politischen Eliten, dass ihre Zeit abgelaufen war. Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei ( Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR ), die das Land mehr als 40 Jahre geführt hatte, löste sich im Januar 1990 selbst auf, und der bis 1995 gewählte Präsident General Wojciech Jaruzelski verzichtete Ende 1990 auf sein Amt, um den Weg für einen in allgemeinen Wahlen gewählten Präsidenten freizugeben und damit das neue, souveräne und demokratische Polen zu stärken. Polen schien somit geradezu vorbildlich den Weg von der kommunistischen Diktatur zur Demokratie zurückzulegen. Betrachtet man jedoch Details dieses Weges genauer – etwa den Verschleiß an Premierministern in der ersten Hälfte der 90er Jahre, der den Vergleich mit Italien nicht zu scheuen braucht –, so wird das Bild differenzierter. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie gefestigt die Demokratie in Polen nach maßgebenden Kriterien der Transformationsforschung einzuschätzen ist. Gefragt werden soll dabei nach der Stabilität des politischen Institutionensystems, nach der Herausbildung intermediärer Instanzen zwischen Staat und Gesellschaft, der Rolle zentraler formeller wie

1

Auslöser war wohl der Aufsatz von Andrew Arato, Civil Society against the State : Poland 1980–81. In : Telos, 47 (1981), S. 23–47. Deutsche Version in Rainer Fenchel / Anna Jutta Pietsch ( Hg.), Gesellschaft gegen den Staat, Hannover 1982, S. 42–87.

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nicht formeller politischer Akteure und nach den politischen Einstellungen der Gesellschaft insgesamt.2

1.

Das politische Institutionensystem

Das am Runden Tisch ausgehandelte Institutionensystem stellte einen Kompromiss dar zwischen den Zielsetzungen des bisherigen politischen Establishments und den Vorstellungen der Opposition. Die politische Kernfrage, um die es ging, die Wiederzulassung der Gewerkschaft Solidarność, war dabei relativ rasch gelöst. Schwieriger war das Erreichen eines der Hauptziele, dessentwegen der Runde Tisch einberufen worden war, nämlich in Zukunft eine Regierung bilden zu können, die von der Gesellschaft als legitim anerkannt würde, so dass sie in der Lage wäre, die schwere strukturelle Wirtschaftskrise des Landes zu lösen. Dazu waren seit einem Jahrzehnt wechselnde Regierungen der PZPR nicht in der Lage gewesen. Wenn die Regierung als legitim betrachtet werden sollte, müsste sie aus freien Wahlen her vorgehen. Die Quadratur des Kreises, das Problem, wie freie Wahlen abgehalten werden könnten, ohne dass die Kommunisten sofort die Macht verlören, wurde dahin gehend gelöst, dass der 1947 abgeschaffte Senat als zweite Kammer wieder eingeführt wurde. Zu ihm waren die Wahlen auch nach westlichen Kriterien frei.3 Allerdings erhielt der Senat geringere Kompetenzen als die Erste Kammer des Parlaments, der Sejm. Die politische Zusammensetzung des Sejm wurde nach dem Schlüssel festgelegt : 65 Prozent der Sitze für die PZPR und ihre bisherigen „Bündnispartner“; 35 Prozent der 460 Sitze standen Parteilosen offen. Die Überlegungen zur konkreten Ausgestaltung des politischen Institutionensystems wurden von der Absicht des Reformflügels innerhalb der Partei bestimmt, analog der Perestrojka in der Sowjetunion Kompetenzen, die bisher bei Parteiinstanzen gelegen hatten, auf Staatsorgane zu übertragen. Entsprechend sollte Parteichef General Jaruzelski Staatspräsident werden und dabei möglichst umfassende Kompetenzen erhalten. Als Vorbild bot sich das semipräsidentielle System der V. Französischen Republik an, von dem eine Reihe von Bestimmungen übernommen wurde. Die Opposition wollte dagegen die Position des Präsidenten möglichst schwach ausgestalten. Das Wahlsystem zum Sejm sollte nur für die Wahlen von 1989 gelten. Vier Jahre später sollte es echte konkurrentielle

2

3

Die Darstellung lehnt sich an den Kriterienraster an, der von Wolfgang Merkel seit Mitte der 90er Jahre in einer Reihe von Publikationen vorgeschlagen worden ist, zuletzt in: Plausible Theory, Unexpected Results : The Rapid Democratic Consolidation in Central and Eastern Europe. In : Internationale Politik und Gesellschaft, 2 (2008), S. 11–29. Online abrufbar unter : http ://library.fes.de / pdf - files / ipg / ipg - 2008–2/03_a_merkel_ gb.pdf (1. 8. 2009). Gewählt wurden die 100 Senatoren nach absoluter Mehrheitswahl. Jeder der damals 49 Wojewodschaften standen zwei Sitze zu, den beiden bevölkerungsreichsten Warschau und Kattowitz je drei.

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Die scheinbar vorbildliche Etablierung

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Wahlen geben. Der Staatspräsident war dagegen auf sechs Jahre gewählt, so dass General Jaruzelski nach diesem Kalkül nach den Parlamentswahlen von 1993 noch eine Schlüsselrolle bei der Regierungsbildung zugefallen wäre. Da allen Beteiligten klar war, dass General Jaruzelski aus außenpolitischen Gründen ( personifizierte Bündnistreue Polens gegenüber der Sowjetunion ) als künftiger Staatspräsident unverzichtbar war, er aber keine Chance besaß, in allgemeinen Wahlen gewählt zu werden, wurde die Wahl des Staatspräsidenten indirekt vorgesehen, durch die aus Sejm und Senat gemeinsam gebildete Nationalversammlung, die auch in der Zwischenkriegszeit den Staatspräsidenten gewählt hatte. Umstritten war das Quorum, mit dem der Sejm Einsprüche des Senats bei der Gesetzgebung zurückweisen konnte. Die Regierungsseite wollte aus durchsichtigen Gründen 65 Prozent, die Opposition setzte ihre Forderung nach einer Mehrheit von zwei Dritteln durch. Entscheidend bei der Ausarbeitung der Bestimmungen im Einzelnen war der Wille beider Seiten zu einer Einigung, zumal keine Seite wusste, ob die Vereinbarungen im eigenen Lager mehrheitlich akzeptiert würden. Wie labil die Situation auch nach dem Runden Tisch noch war, zeigte sich nach dem ersten Wahlgang vom 4. Juni 1989, als die Solidarność bereits 160 der ihr zugänglichen 161 Sejmmandate und 92 der 100 Senatssitze gewonnen hatte. Gravierender für die Regierungsseite war, dass 33 der 35 auf der Landesliste für den Sejm angetretenen Spitzenkandidaten des Establishments durchgefallen waren und das Verhältnis 65 zu 35 in Gefahr schien. Die Solidarność - Vertreter erklärten sich mit der pragmatischen Lösung einverstanden, dass die Besetzung der fraglichen 33 Mandate jeweils in einem Duell zwischen zwei Kandidaten derjenigen Gruppierungen entschieden werden sollte, denen das Mandat zustand.4 Damit wurden in einer Situation, die fast einer Staatskrise gleichkam, die Festlegungen des Runden Tisches ergänzt. Durch das Wahlergebnis vom Juni 1989 – die Solidarność gewann alle 161 ihr zugänglichen Mandate im Sejm und 99 von 100 Sitzen im Senat – sowie die Wahl von General Jaruzelski zum Staatspräsidenten mit einer hauchdünnen Mehrheit entstand eine politische Dynamik, die die Übereinkunft des Runden Tisches nur kurz nach ihrem Abschluss obsolet werden ließ, was zentrale Annahmen der künftigen politischen Machtverhältnisse anging. Mit Tadeusz Mazowiecki wurde ein Nichtkommunist Chef einer Regierung, die im Parlament auch ohne die PZPR über eine Mehrheit verfügte. Zug um Zug wurden bis Ende 1989 strukturelle Machtpfeiler der kommunistischen Herrschaft beseitigt : die Kontrolle der Partei über die Massenmedien, das Nomenklatursystem, die Kontrolle der Partei über die bewaffneten Kräfte und vor allen den Geheimdienst, etc. Ende 1989 wurde die im Kern aus dem Jahre 1952 stammende Verfassung dahingehend geändert, dass das Machtmonopol der PZPR gestrichen und ein 4

Zu dem ausgesprochen komplizierten Wahlsystem dieser Wahlen und den Ergebnissen vgl. Klaus Ziemer, Auf dem Weg zum Systemwandel in Polen. Teil II. In : Osteuropa, 11–12/1989, S. 956–980.

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Parteienpluralismus eingeführt wurde. Ferner wurden mehrere Änderungen von großer Symbolkraft vorgenommen. Die „Volksrepublik“ wurde aus dem Staatsnamen gestrichen, das Land erhielt den aus der Adelsrepublik stammenden altehr würdigen Namen „Republik Polen“ ( Rzeczpospolita Polska ) ebenso zurück wie der Adler im Staatswappen seine Krone als Zeichen der Souveränität. Der Nationalfeiertag der Volksrepublik wurde gestrichen, stattdessen die beiden in der Zwischenkriegszeit geltenden Feiertage wieder eingeführt. Belassen wurde der Kern des am Runden Tisch vereinbarten Institutionensystems. Dies galt auch für die noch aus der Volksrepublik stammende Aussage, dass das Parlament das oberste Staatsorgan sei.5 Die richterliche Unabhängigkeit wurde zwar unterstrichen, doch wurde die Bestimmung beibehalten, dass Urteile des Verfassungsgerichtshofs vom Sejm mit einer Zweidrittelmehrheit zurückgewiesen werden konnten. Die politische Situation wurde im Laufe des Jahres 1990 überschaubarer. Die unblutigen Revolutionen in der Tschechoslowakei und der DDR entlasteten die neue polnische Regierung außenpolitisch, mit der Selbstauf lösung der PZPR entfiel im Januar 1990 einer der beiden zentralen Partner des Runden Tisches. Mit dem Fortfall dieses Drucks traten Spannungen personeller wie inhaltlicher Art innerhalb der Solidarność deutlicher her vor. Ab dem Frühjahr 1990 kam es zum „Krieg an der Spitze“ zwischen Wałęsa, der sich von der Macht ausgeschlossen fühlte und immer mehr das Präsidentenamt anstrebte, und Mazowiecki. General Jaruzelski, obwohl für noch fast fünf Jahre gewählt, machte mit seinem Amtsverzicht den Weg für direkte Präsidentschaftswahlen Ende 1990 frei, die nach einer Verfassungsänderung stattfinden konnten. Jaruzelski hatte nach seiner knappen Wahl seine verfassungsmäßigen Kompetenzen keineswegs voll ausgeschöpft, so dass sich das Schwergewicht der Macht zu Parlament und Regierung verlagerte. Wałęsa dagegen versuchte die Kompetenzen des Staatspräsidenten, die das Solidarność - Lager am Runden Tisch noch so weit wie möglich hatte reduzieren wollen, maximal auszuschöpfen, mit Hilfe des als Staatssekretär im Präsidialamt beschäftigten Juristen Prof. Lech Falandysz gegebenenfalls auch über die Bestimmungen der Verfassung hinaus.6 Wałęsa dachte weniger in Kategorien der Notwendigkeit, das neue politische Institutionensystem zu stabilisieren und damit die Demokratie strukturell zu stärken. Er sah Probleme primär in persönlichen Konfliktlagen und versuchte entsprechend, die Verfassung zu seinen Gunsten zu interpretieren. Die Folge waren teilweise heftige Auseinandersetzungen mit anderen Verfassungsorganen. 5

6

Formal gesehen hatte die Verfassung der Volksrepublik Polen ( wie die meisten Verfassungen nach sowjetischem Muster ) eine Versammlungsregierung eingeführt. Es handelte sich dabei aber um eine „semantische Verfassung“ im Sinne von Karl Loewenstein (Verfassungslehre, Tübingen 1959, S. 153 ff., hier insbes. 156 f.), da das Machtmonopol der PZPR zwar 1976 als Prinzip in die Verfassung aufgenommen wurde, in seinen praktischen Auswirkungen dort aber nirgendwo sichtbar wurde. Dieses „Überinterpretieren“ rechtlicher Bestimmungen fand seinen Eingang in die polnische Umgangssprache als „Falandysieren“.

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Waren in der ersten Übergangsphase juristische Unklarheiten in der Übereinkunft zwischen Ancien Régime und Gegeneliten gegebenenfalls von Vorteil, wenn der entsprechende politische Wille vorhanden war, konstruktive Lösungen zu finden, so wurden unklare rechtliche Bestimmungen beim Beharren von Konfliktpartnern auf ihrer Rechtsposition zunehmend zu einer Belastung der Beziehungen im Dreieck Präsident – Regierung – Parlament. Da die Ausarbeitung einer ursprünglich für den 3. Mai 1991, den 200. Jahrestag der ersten schriftlichen Verfassung Polens und Europas, erwarteten neuen Verfassung nicht zustande kam, griff das Parlament auf eine in Polen im 20. Jahrhundert sowohl nach dem Ersten wie nach dem Zweiten Weltkrieg geübte Praxis zurück. Es verabschiedete vor der grundsätzlich neuen Verfassung im Oktober 1992 eine „Kleine Verfassung“, die vor allem die Präzisierung der Beziehungen zwischen Präsident, Regierung und Parlament vorsah. Das Ergebnis war allerdings ernüchternd. Mit der Einführung eines konstruktiven Misstrauensvotums neben dem „klassischen“ Misstrauensvotum sollte die Position der Regierung gestärkt werden. Tatsächlich jedoch wurde bereits im Mai 1993 die Regierung Suchocka mit einem „normalen“ Misstrauensvotum gestürzt. Die Ausarbeitung einer neuen Verfassung wurde nach den vorgezogenen Neuwahlen von 1993 dadurch erschwert, dass Politiker des rechten Parteienspektrums die Wirkung der neu eingeführten 5 - Prozent - Klausel unterschätzt hatten und mehrere dem konser vativen Lager zuzurechnende Gruppierungen zum Teil knapp unter fünf Prozent der Stimmen blieben. Dies hatte zur Folge, dass mehr als ein Drittel der gültigen Stimmen bei der Mandatsverteilung nicht berücksichtigt wurde ( und das bei einem Verhältniswahlsystem ). Die beiden postkommunistischen Gruppierungen SLD und PSL kamen mit rund 35 Prozent der gültigen Stimmen auf 66 Prozent der Mandate im Sejm. Entsprechend bestritt ein Großteil derjenigen konser vativen Politiker, die den Einzug in den Sejm verpasst hatten, diesem das Mandat für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Dieser Grundvor wurf blieb bis zum Referendum von 1997 bestehen, auch wenn zur Ausbalancierung dieses Ungleichgewichts konser vative Politiker in die Verfassungskommission kooptiert wurden. Zwar wurden inhaltliche Auseinandersetzungen auch um die Frage geführt, ob die künftige Verfassung eher ein semipräsidentielles oder ein parlamentarisches System erhalten sollte, wobei die Positionen von Akteuren wechseln konnten, je nachdem, welche Funktion ein Politiker gerade innehatte.7 Die auch in der Öffentlichkeit heftig diskutierten Fragen betrafen eher weltanschauliche Probleme, etwa ob die Verfassung wie in der Zwischenkriegszeit eine invocatio Dei beinhalten sollte. Der nach langen, zum Teil mit heftigen Emotionen geführten Debatten angenommene Kompromiss der Formulierung der Präambel, den Tadeusz Mazowiecki vorgeschlagen hatte, lautete : „beschließen wir, das Polni7

Dies galt z. B. für Aleksander Kwaśniewski, der nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten eine deutlich geringere Begeisterung für das von ihm zuvor befür wortete parlamentarische System zeigte.

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sche Volk – alle Staatsbürger der Republik, sowohl diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten“, diese Verfassung.8 1997 war dieser Passus in Polen höchst umstritten. In der Zwischenzeit ist er allgemein akzeptiert, und in der Debatte um eine Verfassung der Europäischen Union, in der die invocatio Dei ebenfalls eine zentrale Rolle spielte, wurde die polnische Lösung als ein möglicher Kompromiss vorgeschlagen, traf jedoch auf die entschiedene Ablehnung der Vertreter Frankreichs. Bei den institutionellen Regelungen wurden die Kompetenzen des Präsidenten weiter beschnitten. Er besitzt zwar weiterhin ein politisches Veto gegen Gesetze des Parlaments. Dieses kann jedoch nun mit nur 60 Prozent statt zuvor 65 Prozent Stimmenmehrheit vom Sejm zurückgewiesen werden. Gleichwohl hat die Praxis gerade unter Präsident Lech Kaczyński während der Regierung von Donald Tusk gezeigt, dass dieses Quorum bisweilen sehr hoch sein kann. Es hat je nach dem Kontext der jeweiligen Materie in etwa der Hälfte der Fälle zum Scheitern der betreffenden Initiative geführt. Weitere Neuerungen der Verfassung lassen sich unter der Überschrift „institutionelles Lernen“ subsumieren. An erster Stelle betrifft dies die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums als des einzigen Weges, eine Regierung zu stürzen. Nach der fatalen Bilanz des Anfangs der Dritten Republik, als es zwischen 1989 und 1997 acht Premierminister gab, sorgte die Einrichtung des konstruktiven Misstrauensvotums für eine gewisse Stabilisierung der Regierungen. Jerzy Buzek, 1997 zum Ministerpräsidenten einer Koalition gewählt, die zu Beginn der Wahlperiode über die Unterstützung von 56,7 Prozent der SejmAbgeordneten verfügte, verlor durch die Erosion seines eigenen Lagers, der extrem heterogenen AWS - Fraktion, immer mehr Rückhalt und war nach dem Austritt des Koalitionspartners UW ab 2000 mehr als ein Jahr Chef einer Minderheitsregierung und bisher einziger Regierungschef der Dritten Republik, der eine volle Wahlperiode als Ministerpräsident durchstand. Auch Leszek Miller regierte nach dem Bruch der SLD - PSL - Koalition im Februar 2003 mehr als ein Jahr als Chef einer Minderheitsregierung, ebenso wie nach Millers Rücktritt vom Mai 2004 der parteilose Marek Belka bis zu den Neuwahlen vom Oktober 2005, weil der politisch zersplitterte Sejm die institutionelle Hürde des konstruktiven Misstrauensvotums nicht über winden konnte. Dasselbe traf auch auf Ministerpräsident Kazimierz Marcinkiewicz ( PiS ) zu, der von Oktober 2005 bis Mai 2006 von der Samoobrona und der LPR toleriert wurde, ehe diese Parteien auch formell in die Regierungskoalition eintraten. Eine weitere Stärkung des politischen Institutionensystems bedeutete die Festlegung in der neuen Verfassung, dass Urteile des Verfassungsgerichtshofs ab sofort bindend waren und nicht mehr, wie aus der Volksrepublik nach 1989 8

Präambel der polnischen Verfassung vom 2. 4.1997. Zit. nach http ://www.sejm.gov.pl / prawo / konst / niemiecki / kon1.htm (1. 8. 2009).

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übernommen, vom Sejm mit Zweidrittelmehrheit zurückgewiesen werden konnten, wovon der Sejm auch in den 90er Jahren mehrfach Gebrauch gemacht hatte. Allerdings trat diese Bestimmung erst zwei Jahre nach Inkrafttreten der neuen Verfassung, d. h. ab Oktober 1999, in Kraft. Das Verfassungsgericht hat mit seinen Urteilen mehrfach Versuche anderer Verfassungsorgane ( Regierung, Sejm ) zurückgewiesen, ihre Kompetenzen auszuweiten, und wurde dafür vor allem während der PiS - Regierungen (2005–2007) teilweise scharf kritisiert. Es stelle eine Art dritte Parlamentskammer dar, die in Opposition zur Regierung stehe. Auch wenn dem Verfassungsgerichtshof bisweilen vorgehalten wird, es habe seine in den Unzulänglichkeiten der alten Verfassung begründete „Hyperaktivität“ auch bei der Auslegung der neuen beibehalten, so gilt er doch als „Garant der Rechtsstaatlichkeit“.9 In der Gesellschaft hat der Bekanntheitsgrad des Verfassungsgerichts ständig zugenommen. Es zählt mit einer Beurteilung seiner Kompetenz und politischen Unabhängigkeit von jeweils über 80 Prozent zu den Institutionen mit dem höchsten Ansehen.10 Unter der Überschrift „institutionelles Lernen“ lassen sich in den 90er Jahren darüber hinaus weitere verfassungsrechtliche und sonstige gesetzliche Neuregelungen fassen. So wurde das Prinzip der „wehrhaften Demokratie“, das implizit im deutschen Grundgesetz aufgrund der Erfahrung der Zerstörung der Weimarer Republik enthalten ist, auch in der polnischen Verfassung von 1997 insofern verankert, als Art. 13 die Möglichkeit des Verbots von Parteien vorsieht, die sich in ihren Programmen auf Nazismus, Faschismus oder Kommunismus berufen, Rassen - oder Nationalitätenhass propagieren, Gewalt zum Zweck der Machtübernahme billigen oder Mitgliedschaften und Organisationsstrukturen verheimlichen. Auch die Neufassung des Parteiengesetzes, das 1990 ganze acht Artikel enthielt, wurde 1997 nicht nur auf 64 Artikel ausgeweitet. Sie enthielt auch eine erhebliche inhaltliche Präzisierung der Anforderungen, die erfüllt werden müssen, damit eine Gruppierung den rechtlichen Status einer politischen Partei erhält. Die Erhöhung der Mitgliederzahl von 15 auf 1 000 markiert dabei nur eine quantitative Dimension der Veränderung. Auch die Binnenstrukturen der Parteien müssen demokratischen Grundsätzen entsprechen und ebenso transparent sein wie die Finanzierung der Parteien.11 Als wichtige Stärkung des politischen Institutionensystems ist auch die zum 1. Januar 1999 vorgenommene Straffung der seit 1975 49 Wojewodschaften auf 16, die Wiedereinführung der Landkreise und die mit diesen Reformen einhergehende Dezentralisierung der Macht zu betrachten. Der Akzeptanz dieser 9 Fryderyk Zoll, Polen als Rechtsstaat. Der schwierige Nachlass der Regierung Kaczyński und sein Einfluss auf die Rechtsstaatlichkeit Polens. In : Polen - Analysen, Nr. 38 vom 16. 9. 2008, S. 2–7, hier 6; http ://www.laender - analysen.de / polen / pdf / PolenAnalysen38.pdf (17. 8. 2009). 10 Vgl. CBOS, Opinie Polaków o Trybunale Konstytucyjnym, BS 76/2007, Mai 2007; http://www.cbos.pl / SPISKOM.POL /2007/ K_076_07.PDF (3. 9. 2008). 11 Ustawa z dnia 27 czerwca 1997 r. o partiach politycznych, mit Änderungen, Dz. U. 1997, Nr. 98, Pos. 604; http ://www.sejm.gov.pl / prawo / partiepol / kon12.htm (17. 08. 2009).

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Dezentralisierung gibt in etlichen Umfragen eine weit höhere Zustimmung der Gesellschaft zu den politischen Institutionen auf regionaler und lokaler Ebene als gegenüber denen auf zentraler Ebene beredten Ausdruck.12 Neben den unbestreitbaren Fortschritten gibt es jedoch gerade auch im rechtlichen Bereich einige offensichtliche Schwachpunkte, die das Funktionieren politischer Institutionen unter bestimmten Umständen behindern können. Zu ihnen zählen die unklare Kompetenzabgrenzung im Bereich der Außenpolitik zwischen Präsident, Ministerpräsident und Außenminister. So bestimmt Art. 133, Abs. 3 der Verfassung : „Der Präsident der Republik Polen arbeitet im Bereich der Außenpolitik mit dem Vorsitzenden des Ministerrates und dem zuständigen Minister zusammen.“ Die damit implizierte Abstimmung der Außenpolitik zwischen den drei Instanzen war in der Vergangenheit nicht immer gegeben. Nachdem seit den Parlamentswahlen von 2007 Präsident ( Lech Kaczyński, PiS ) und Regierung ( Premierminister Donald Tusk, PO ) geradezu verfeindeten politischen Lagern angehören, ist es mehrfach zu Reibungsverlusten und offenen Widersprüchen bei außenpolitischen Entscheidungen gekommen, die im In - und Ausland für Irritationen sorgten. Eine weitere immer häufiger kritisierte rechtliche Regelung betraf die seit März 1990 festgelegte Personalunion zwischen dem Amt des Justizministers und dem des Generalstaatsanwalts. Insbesondere die Art, wie der Justizminister der PiS - Regierungen 2005–2007, Zbigniew Ziobro, das Amt des Generalstaatsanwalts wahrnahm, weckte bisweilen Zweifel an der politischen Neutralität dieses Amtes. Um die Generalstaatsanwaltschaft zu entpolitisieren, beschloss das Parlament Ende August 2009 gegen die Stimmen der PiS - Fraktion, ab 31. März 2010 die Ämter des Generalstaatsanwalts und des Justizministers zu trennen, und überstimmte im Oktober 2009 auch ein Veto von Präsident Lech Kaczyński. Der Generalstaatsanwalt wird nun für eine einmalige sechsjährige Amtszeit unter zwei Kandidaten, die der Landesrichterrat und der Landesrat der Staatsanwälte erstellen, vom Staatspräsidenten ernannt. Den Verdacht einer parteipolitischen Instrumentalisierung rechtlicher Bestimmungen, zumindest aber einen „haut gout“ hinterlässt die Tatsache, dass zwischen 1991 und 2001 fast jedes Mal unmittelbar vor Neuwahlen zum Sejm das Wahlgesetz geändert wurde. 2001 war der in sich hoffnungslos zerstrittene Sejm immerhin in der Lage, durch die Änderung des Verfahrens der Zuteilung der Sitze von d’Hondt zum modifizierten Verfahren nach Sainte - Laguë zu verhindern, dass die SLD im kommenden Sejm die absolute Mehrheit der Sitze erhielt, die sie bei Beibehaltung des bisherigen Systems erhalten hätte.13 Dem Ansehen des Parlaments und der Festigung der Rechtsordnung hat dies ebenso wenig gedient wie die 2006 unmittelbar vor den Wahlen zur kommunalen und 12 Vgl. u. a. Klaus Ziemer / Claudia - Yvette Matthes, Das politische System der Republik Polen, Tabelle 11 : Institutionenvertrauen in Polen. In : Wolfgang Ismayr ( Hg.) : Die politischen Systeme Osteuropas, 3. Auflage Opladen 2009. 13 Frances Millard, Elections in Poland 2001 : electoral manipulation and party upheaval. In : Communist and Post - Communist Studies, 1/2003, S. 69–86.

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regionalen Selbstver waltung von der PiS - geführten Koalition durchgeboxte, für sie vermeintlich günstige neue Wahlordnung. In dieselbe Richtung deuten immer wieder auftretende Personalquerelen bei der Besetzung der Ämter im Landesrat für Rundfunk und Fernsehen, der laut gesetzlichem Auftrag eigentlich für die Sicherung der Informationsfreiheit und damit ein parteipolitisch neutrales Programm sorgen soll. Diese Probleme zeugen davon, dass die politischen Parteien dazu tendieren, bestimmte Posten als Pfründe zu betrachten, was einer der Gründe für eine wachsende Entfremdung zwischen großen Teilen der Gesellschaft und den politischen Eliten ist. Dennoch kann man insgesamt eine positive Bilanz der institutionellen Konsolidierung ziehen. Niemand bestreitet ernsthaft die Legitimität des neuen Institutionensystems.14 Der Verfassungsgerichtshof wacht über die Einhaltung der formalen Spielregeln. Weitere Einrichtungen wie der Beauftragte für die Bürgerrechte ( Ombudsmann ) sichern sie ebenfalls.15 Bei einer grundsätzlichen Akzeptanz des neuen politischen Systems ist über die Jahre hinweg allerdings eine teilweise deutliche Mehrheit der repräsentativ Befragten der Ansicht, dass die Demokratie in Polen schlecht funktioniere.16

2.

Die Herausbildung intermediärer Instanzen

Erheblich schwieriger als auf der Ebene der Institutionen hat sich die Konsolidierung von Organisationen erwiesen, die ein Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft darstellen. Dies ist eine Folge der aus der kommunistischen Zeit ererbten Schwäche der Zivilgesellschaft. Die PZPR hatte ein Organisationsmonopol beansprucht und ( mit Ausnahme der Organisation des geistlichen Lebens der Katholischen Kirche ) auch durchgesetzt, so dass zivilgesellschaftliche Strukturen in größerem Umfang erst ab 1989 errichtet werden konnten. 14

Die Stimmen, die von der Dritten Republik als einer Fortsetzung der Volksrepublik sprachen und eine „Vierte Republik“ mit einer starken Exekutive, eine „Lustration“ von staatlichen Funktionsträgern auf Zusammenarbeit mit den kommunistischen Geheimdiensten u. a. forderten, sind nach der Wahlniederlage der PiS von 2007 weitgehend verstummt. 15 Auf einem anderen Blatt stehen Fragen der good governance. Im Bertelsmann Transformations - Index nahm Polen 2008 unter 125 Transformationsländern im politischen und wirtschaftlichen Bereich Platz 11 ein ( bei Berücksichtigung nur der politischen Transformation Platz 14), im Bereich der Management - Leistung dagegen als mit Abstand letztes EU - Mitglied Platz 23 ( vorletzter EU - Platz : Rumänien auf Rang 22). Berücksichtigt wurden dabei die Jahre 2005–2007, die in Polen weitgehend mit der Amtszeit der PiS - geführten Regierungen zusammenfielen; vgl. http ://www.bertelsmanntransformation - index.de / fileadmin / pdf / Anlagen_BTI_2008/ BTI_2008_Rangliste_ DE.pdf (2. 8. 2009). 16 Vgl. zuletzt CBOS, Opinie o funkcjonowaniu demokracji w Polsce. BS /20/2009, Februar 2009; http ://www.cbos.pl / SPISKOM.POL /2009/ K_020_09.PDF (2. 8. 2009). Die einzige Ausnahme bildete kurzfristig der November 2007, also die Zeit unmittelbar nach der Abwahl der Regierung Kaczyński, als 46 Prozent mit dem Funktionieren der Demokratie in Polen zufrieden waren und nur 42 Prozent unzufrieden. Vgl. ebd., S. 6.

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Während in westlichen Demokratien die Zivilgesellschaft die staatlichen Strukturen einerseits kontrolliert und andererseits stützt, war es im postkommunistischen Polen paradoxer weise der Staat, der erst die Rahmenbedingungen für das Entstehen einer kräftigen Zivilgesellschaft sichern sollte. Nach Jerzy Szacki wurde sie „gewissermaßen zu einem staatlichen Projekt“.17 Nach dem großen politischen Erfolg der Oppositionsbewegung der 80er Jahre, der auf dem Zusammenspiel zwischen Intellektuellen und Arbeitern beruhte, enttäuschte die relativ schwache Aktivität der Zivilgesellschaft nach 1989, für die zahlreiche Ursachen genannt werden. Zu ihnen zählt der Verlust der zuvor große Teile der Gesellschaft einigenden Solidarität, die von individuellem, egoistischem Gewinnstreben abgelöst wurde. Zivilgesellschaftliche Strukturen entwickelten sich vor allem im Umfeld der lokalen Selbstverwaltung sowie kirchlicher Basisstrukturen, in großenteils informellen Jugendbewegungen sowie in Nichtregierungsorganisationen, deren offizielle Zahl 2008 mit mehr als 67 000 angegeben wurde, wobei jedoch 40–50 000 als realistisch angesehen werden.18 Gewiss wirken die Hypotheken der kommunistischen Zeit weiter. Aber auch im regionalen Kontext ist der Organisationsgrad der Polen in NGOs ausgesprochen niedrig. Unter 21 von der EU untersuchten Staaten wies Polen das geringste zivilgesellschaftliche Engagement auf.19 Besonders schwierig gestaltete sich der Aufbau dauerhafter politischer Parteien. Strukturierend für die Herausbildung politischer Parteien nach 1989 waren gesellschaftliche Konfliktlinien, die zum Teil konstant blieben, sich zum Teil aber auch erst allmählich herauskristallisierten. Dies galt besonders für Fragen der sozioökonomischen Transformation. In der ersten Zeit nach 1989 war großen Teilen der Gesellschaft nicht klar, wie die weitere wirtschaftliche Entwicklung verlaufen und welche Auswirkungen dies auf ihre speziellen Interessen haben würde. Im Vordergrund standen daher zunächst die Cleavages : Altes versus neues System und entsprechend eine positive oder negative Bewertung der Volksrepublik, ggf. Lustration („Durchleuchtung“ auf Zusammenarbeit mit den kommunistischen Geheimdiensten ) und Entkommunisierung. Hinzu kamen Fragen wie eine stärkere oder schwächere Rolle der Katholischen Kirche im öffentlichen Leben, was vor allem Anfang der 90er Jahre sehr kontrovers diskutiert wurde, sowie die Alternative : Hinwendung zu ( teilweise sehr eng verstandenen) nationalen Traditionen oder Öffnung nach außen, insbesondere mit Blick auf die angestrebte Integration in die Europäische Union. Einen strukturellen Vorteil besaßen die beiden größten sich umbildenden politischen Parteien, die aus dem alten System überkommen waren, die NachVgl. Jerzy Szacki, ( Wieder - ) Aufbau der Civil society. Diskussionsbeitrag von Jerzy Szacki. In : Transit, 1/1990, S. 127 f. ( Kursivdruck im Original ). 18 Vgl. Aleksandra Soboń - Smyk, 20 lat III sektora w Polsce – kilka faktów z badań. In : Civicpedia. Badania społeczeństwa obywatelskiego vom 3. 6. 2009, http ://civicpedia.ngo. pl / ngo /459472.html (5. 9. 2009). 19 Vgl. Piotr Gliński, Die Zivilgesellschaft in Polen : Genese, Entwicklung, Dilemmata. In : Länderanalysen Polen, Nr. 25 vom 15.1. 2008, S. 2–12, hier 5; http ://www.laender - analysen.de / polen / pdf / PolenAnalysen25.pdf (5. 9. 2009). 17

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folgeorganisation der PZPR, die Sozialdemokratie der Republik Polen ( Socjaldemokracja Rzeczypospolitej Polskiej, SdRP ), die lange Zeit wichtigste Kraft der aus gut 30 Gruppierungen bestehenden Allianz der Demokratischen Linken ( Sojusz Lewicy Demokratycznej, SLD ) war. Die SLD bildete sich 1999 zur Partei um. Auch die „Bündnispartei“ der PZPR, die Vereinigte Bauernpartei ZSL (Zjednoczone Stronnictwo Ludowe ), nahm nach mehreren Parteineu - und - umbildungen im Milieu der Landwirte einen anderen Namen an, den der größten antikommunistischen Partei der unmittelbaren Nachkriegszeit, der Polnischen Bauernpartei PSL ( Polskie Stronnictwo Ludowe ). SLD wie PSL konnten sich im Gegensatz zu ihren neu gegründeten Konkurrenten auf einen Apparat stützen, der zwar reduziert werden musste, aber eingespielt war, und verfügten damit über einen beträchtlichen Vorteil gegenüber den neu gegründeten Parteien, die teilweise kaum in der Lage waren, unterhalb der regionalen Ebene flächendeckend eine Parteiorganisation aufzubauen. Versuche, Parteien der Zwischenkriegszeit wieder zu beleben, wie sie der als Verteidiger aus politischen Prozessen der Volksrepublik bekannte Anwalt Władysław Siła - Nowicki mit der katholischen „Partei der Arbeit“ ( Stronnictwo Pracy, SP ) oder der für die Solidarność 1989 zum Senator gewählte Literatur wissenschaftler und Publizist Jan Józef Lipski mit der Polnischen Sozialistischen Partei ( Polska Partia Socjalistyczna, PPS ) versuchten, scheiterten rasch. Die meisten der in den 90er Jahren neu entstehenden Parteien gingen aus dem politischen Flügel der Solidarność her vor, deren 1989 gewählte Parlamentsmitglieder sich zum Parlamentarischen Bürgerklub ( Obywatelski Klub Parlamentarny, OKP ) zusammenschlossen. Nach der Selbstauf lösung der PZPR Ende Januar 1990 und der Zunahme von Spannungen innerhalb der Solidarność - Führung setzte mit der Gründung der Zentrumsallianz ( Porozumienie Centrum, PC ) aus dem OKP heraus durch die damals eng mit Lech Wałęsa zusammenarbeitenden Brüder Jarosław und Lech Kaczyński der Zerfall des politischen Flügels der Solidarność ein, der ein breites politisches Spektrum von demokratischen Sozialisten bis zu Nationalklerikalen umfasst hatte, wobei weltanschaulich konser vative Positionen deutlich dominierten. Kennzeichen des früheren Solidarność Lagers war in der ersten Hälfte der 90er Jahre seine große Zersplitterung. Die größte aus ihm her vorgehende Gruppierung war in den 90er Jahren die Demokratische Union ( UD ) bzw. nach der Fusion mit dem KLD ( s. u.) 1993 Freiheitsunion ( Unia Wolności, UW ). Der UW gehörten die meisten der auch im Westen bekannten früheren oppositionellen Intellektuellen wie Tadeusz Mazowiecki, Bronisław Geremek, Leszek Balcerowicz u. a. an. Auch die Einführung der 5-Prozent - Hürde bei den Sejm - Wahlen von 1993 konnte die zum großen Teil vor allem persönlich zerstrittenen politischen Eliten nicht zu einer engeren Zusammenarbeit veranlassen. Erst als bei diesen Wahlen eine Reihe von Gruppierungen teilweise knapp an der 5 - Prozent - Klausel scheiterte und mehr als ein Drittel der gültigen Stimmen bei der Mandatsvergabe nicht berücksichtigt wurde, veranlasste das den damaligen Vorsitzenden der Gewerkschaft Solidarność, Marian Krzaklewski, mit der Wahlaktion Solidarność ( Akcja Wyborcza Solidar-

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ność, AWS ) eine Koalition des Post - Solidarność - Lagers von rund 40 Gruppierungen zu formieren, die bei den Parlamentswahlen 1997 mit über 33 Prozent der Stimmen zum Sejm gewann und mit Józef Buzek auch den Premierminister stellte. Die AWS war jedoch so heterogen, dass Krzaklewski als Fraktionsführer sie nicht integrieren konnte. Das Torpedieren von Regierungsvorlagen durch etliche AWS - Abgeordnete führte zwar zum Ausschluss einiger besonders Hartnäckiger aus der Fraktion, konnte aber deren Verhalten nicht grundlegend ändern. 2000 verließ aus Protest gegen die fehlende Koalitionsdisziplin der Koalitionspartner UW die Regierung. Buzek konnte zwar die Wahlperiode als Premierminister überstehen, aber die AWS, die sich nicht einmal zu einer Partei umbilden konnte, zerfiel de facto noch vor der Wahl von 2001. Aus ihr gründeten sich u. a. die beiden Parteien, die seit 2005 die politische Szene Polens dominieren. Vertreter der wirtschaftsliberal eingestellten AWS - Gruppierungen, die endlich ohne den Ballast ständig blockierender eigener Fraktionsmitglieder regieren wollten, gründeten 2000/2001 gemeinsam mit UW - Mitgliedern, die dem früheren, vor allem in Danzig starken Liberal - Demokratischen Kongress ( Kongres Liberalno - Demokratyczny, KLD ) angehört hatten, der nach den Wahlen von 1993 mit der UD zur UW fusioniert war, die Bürgerplattform ( Platforma Obywatelska, PO ). Führende Gründungsmitglieder waren Parlamentspräsident Maciej Płażyński ( AWS ), der parteilose frühere Außenminister Andrzej Olechowski, der 2000 in den Präsidentschaftswahlen aus dem Stand mit 17 Prozent den zweiten Platz hinter Amtsinhaber Aleksander Kwaśniewski belegt hatte, sowie der Danziger Politiker Donald Tusk ( zuletzt UW, früher KLD ). Die zweite Neugründung 2001 aus der AWS heraus war die Partei Recht und Gerechtigkeit ( Prawo i Sprawiedliwość, PiS ) der Zwillingsbrüder Jarosław und Lech Kaczyński, die über die Zentrumsallianz ( PC ) zur AWS gestoßen waren. Vor allem Lech Kaczyński hatte mit Law - and - Order - Parolen als seit Sommer 2000 amtierender Justizminister große Popularität gewonnen. Als weitere Partei, die auf Anhieb in den Sejm einzog, wurde 2001 von Vertretern der marginalen Gruppierungen Nationaldemokratische Partei ( Stronnictwo Narodowo Demokratyczne, SND ) und Nationalpartei ( Stronnictwo Narodowe, SN ) die Liga der Polnischen Familien ( Liga Polskich Rodzin, LPR ) gegründet. Shooting Star dieser sich auf national - klerikale Werte berufenden Partei wurde der 1971 geborene Roman Giertych, Jurist und Historiker, der 1989 den an eine Organisation der Zwischenkriegszeit anknüpfenden rechtsextremen Verband „Allpolnische Jugend“ gegründet hatte. Erstmals schaffte 2001 auch die von Andrzej Lepper 1993 gegründete „Selbstverteidigung der Republik Polen“ ( Samoobrona RP ) den Einzug ins Parlament, die mit populistischen Parolen Transformationsverlierer, insbesondere kleine Landwirte, ansprach, in deren Führungspersonal sich jedoch eine ganze Reihe von teilweise zwielichtigen Geschäftsleuten fand, so dass sich mit Politikern gerade der Samoobrona - Fraktion überproportional häufig die Staatsanwaltschaft befasste.

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2001 allerdings erreichte die SLD ihren Zenit. Zusammen mit der Arbeitsunion ( Unia Pracy, UP ), in der sich früher dem linken Flügel der Solidarność angehörende Politiker mit ehemaligen PZPR - Mitgliedern zu einer Art polnischer Labour Party zusammengeschlossen hatten, kam sie auf 41,0 Prozent der Stimmen bei den Wahlen zum Sejm und 216 der 460 Sejmmandate. Von 12,0 Prozent im Jahre 1991 hatte die SLD von Wahl zu Wahl an Stimmen gewonnen. In der Partei waren alte PZPR - Kader ebenso vertreten wie Angehörige des früher der SLD nahe stehenden Gewerkschaftsverbands OPZZ, aber auch Personen aus dem früheren Parteiestablishment, die von der Insider - Privatisierung Ende der 80er Jahre profitiert, sich zuvor staatliches Kapital privat angeeignet hatten und nun Unternehmer waren. Insofern bildete die SLD fast eine Art „linker Volkspartei“. Ähnlich wie die AWS in der Wahlperiode zuvor, diskreditierte sich die SLD durch eine Reihe teilweise spektakulärer Korruptionsskandale, die Premierminister Miller 2004 zum vorzeitigen Rücktritt zwangen. Unter Führung von Parlamentspräsident Marek Borowski verließen im Frühjahr 2004 einige SLD - Abgeordnete die Partei und gründeten zusammen mit einigen UP - Mitgliedern die Polnische Sozialdemokratie ( Socjaldemokracja Polska, SdPl ), die aber über einen knappen Erfolg bei den Wahlen zum Europaparlament 2004, als sie 5,3 Prozent der Stimmen und drei Mandate gewann, nicht hinauskam. Die SLD wurde in den Wahlen von 2005 mit 11,3 Prozent abgestraft und bewegt sich seither in Meinungsumfragen zwischen 10 und 15 Prozent. Eine Neustrukturierung der Linken, darunter auch gemeinsam mit den zu den „Polnischen Demokraten“ ( Polscy Demokraci, PD, nach US - Vorbild ) mutierten Resten der UW, wurde mehrfach versucht, bisher allerdings ohne Erfolg. Nicht ohne Mühen hat sich die „gewendete“ Bauernpartei PSL auf der politischen Bühne behaupten können und bildet seit den Wahlen von 2007 den Koalitionspartner der PO. Sie besitzt ihre Hochburgen vor allem in den ländlichen Gebieten des Südens und Ostens, hatte zwischen 2001 und 2007 allerdings unter der starken Konkurrenz der Samoobrona zu leiden. Sie konnte sich in den Wahlen von 2007 gegen diese populistische Konkurrenz behaupten, weil sie sich glaubwürdig als besonnene, mit der PO regierungsfähige Alternative darstellen konnte. Der knappe Wahlsieg von PiS bei den Sejmwahlen von 2005 (27 % der Stimmen bei 40,57 % Wahlbeteiligung ), der Sieg von Lech Kaczyński bei den Präsidentschaftswahlen kurz darauf sowie die Regierungsbildung von PiS zunächst mit Tolerierung durch, ab 2006 dann in auch formeller Koalition mit den zuvor nicht für koalitionsfähig gehaltenen Randparteien Samoobrona und LPR – die Parteiführer Lepper und Giertych stiegen nicht nur zu Ministern, sondern sogar zu Vizepremierministern auf – sowie die von diesen Parteien bewirkte innenpolitische Polarisierung und außenpolitische Isolierung führten zu einer beispiellosen politischen Mobilisierung der Gesellschaft, die sich bei den vorgezogenen Neuwahlen von 2007 in einer für polnische Verhältnisse sehr hohen Wahlbeteiligung von 53,88 Prozent niederschlug, der höchsten Wahlbeteiligung in Parlamentswahlen seit den den politischen Systemwechsel einleitenden Wahlen vom

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Juni 1989. Seit den Wahlen von 2007 sind nur noch vier Parteien im Parlament vertreten – sieht man von der Handvoll Abgeordneter der SdPl und PD ab, die über die Listen der SLD in den Sejm kamen, heute aber von der SLD getrennt sind ( sowie dem Abgeordneten der deutschen Minderheit ). Die PiS konnte ihren Stimmenanteil im Sejm zwar von 27 auf 32,11 Prozent ausbauen, aber auf Kosten ihrer bisherigen Koalitionspartner, die mit 1,5 und 1,3 Prozent weit unter der 5 - Prozent - Hürde blieben und auf absehbare Zeit aus dem nationalen politischen Wettbewerb ausgeschieden sind. Die Absorption dieses Wählerpotentials hat die PiS jedoch zugleich weiter nach rechts rücken lassen. Mehrere einer „klassischen“ konser vativen Partei zuzurechnende Abgeordnete haben die PiS bald nach den Wahlen verlassen und sind zum Teil fraktionslos, zum Teil in einem informellen Abgeordnetenkreis zusammengeschlossen. Der PiS - Vorsitzende des auswärtigen Sejmausschusses der Jahre 2005–2007, Paweł Zalewski, wurde 2009 für die PO in das Europaparlament gewählt. Die PO besitzt nach allen Umfragen einen klaren Vorsprung vor der PiS, auch nach dem Ergebnis der Wahlen zum Europaparlament 2009 (44,4 zu 27,4 %). Neben SLD und PSL scheinen alle anderen sonstigen Parteien chancenlos. Ob sich jedoch ein solches Vier - Parteien - System auf Dauer halten wird, ist schwer zu prognostizieren. Zum einen hat es in den Jahren nach 1989 derartige Ver werfungen im Parteiensystem gegeben, dass nicht auszuschließen ist, dass auch in Zukunft Abspaltungen und Neugründungen zustande kommen könnten, die sich auch im Sejm wieder finden, zumal die starke Position der PO weniger auf strahlenden Leistungen der eigenen Partei als auf einem noch schwächeren Auftreten der Konkurrenz beruht. Außerdem ist die Parteienidentifikation in Polen nur sehr schwach ausgeprägt ( rund 2 % Parteimitglieder ) und hat in den letzten zehn Jahren sogar noch abgenommen. So gaben 2007 nur 46 Prozent der Personen mit „linker“ Einstellung an, es gebe eine ihnen „nahe stehende“ Partei (1998 waren es noch 74 % gewesen ). Trotz der PiS - Regierung sahen nur 52 Prozent der Befragten mit „rechter“ Einstellung eine ihnen „nahe stehende“ Partei (1998, auf dem Höhepunkt der AWS - Erfolge : 74 %). 2007 erklärten 29 Prozent der sich zur politischen Mitte zählenden Befragten, es gebe eine ihnen „nahe stehende“ Partei (1998 : 44 %), dagegen 53 Prozent, eine solche Partei gebe es nicht – obwohl die PO schon sechs Jahre bestand.20 Angesichts solcher Befunde kann von einer Konsolidierung des Parteiensystems trotz der scheinbar klaren Ergebnisse bei den Parlamentswahlen von 2007 und den Wahlen zum Europaparlament 2009 kaum gesprochen werden. Ähnlich schwach sind die Organisationen der Sozialpartner ausgebildet. Die Gewerkschaften leiden unter drastischem Mitgliederschwund und sind stark zersplittert. Die früher systemnahe OPZZ soll Mitte der 90er Jahre noch 4,5 Millionen Mitglieder gezählt haben. Für 2007 schätzt man 750 000. Die Solidar20 Zahlen nach CBOS, Partie bliższe i dalsze. Identyfikacje partyjne Polaków. BS /73/ 2007, Warszawa, maj 2007; http ://www.cbos.pl / SPISKOM.POL /2007/ K_073_07. PDF (2. 8. 2009).

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ność, die im Herbst 1981 fast zehn Millionen Mitglieder beanspruchte, konnte nach ihrer Relegalisierung 1989 nie wieder an diese Zahlen anknüpfen. Für 2001 wurden noch 1,1 Millionen Mitglieder angegeben, für Ende 2005 gut 720 000. Der 2002 vom OPZZ abgespaltene Gewerkschaftsverband FZZ Forum beansprucht 515 000 Mitglieder vor allem in der öffentlichen Ver waltung, bei den Eisenbahnen und in den Staatsbetrieben. Hinzu sollen bei einer großen Zahl kleiner Gewerkschaften noch einmal 300 000 Personen kommen. Größte Einzelgewerkschaft ist der im OPZZ organisierte Lehrer verband ZNP.21 Den schwachen Gewerkschaften stehen Arbeitgeber verbände gegenüber, die formell ab 1991 gegründet wurden und sich zunehmend professionalisiert haben. So führt der Business Center Club ein eigenes Institut für Lobbying. Vier Arbeitgeber verbände sind ebenso wie die drei großen Gewerkschaftszentralen ( und die Regierung ) in der von der Verfassung von 1997 vorgesehenen Trilateralen Kommission für sozioökonomische Angelegenheiten vertreten, die formell 2001 eingerichtet wurde, aber auf eine bereits seit 1994 bestehende Vorgängerorganisation zurückgreifen konnte. Aufgrund ihrer Genese war im Selbstverständnis von OPZZ wie vor allem Solidarność die Grenze zwischen Gewerkschaftsarbeit und parteipolitischer Tätigkeit fließend. Die Solidarność war im 1991 gewählten Sejm mit einer eigenen Fraktion vertreten, verfehlte 1993 den erneuten Einzug nur knapp und bildete das Organisationsgerüst für die AWS 1997. Mit der Verfassung von 1997 und der Novellierung des Gewerkschaftsgesetzes 2001 wurden die Rollen von Gewerkschaften und Parteien zwar deutlich getrennt. Doch ist die Sympathie der Solidarność seit 2005 ebenso erkennbar auf Seiten der PiS wie die der OPZZ auf Seiten des SLD. Das FZZ Forum löste 2005 nur deswegen ein Abkommen mit der Samoobrona, weil deren Vorstand entgegen einer Vereinbarung Mitgliedern der Gewerkschaft keine Listenplätze bei den Wahlen zum Sejm einräumte.22 Der Gesetzgeber hat zwar versucht, das Verhalten der Interessengruppen durch Maßnahmen wie ein Gesetz zur Regelung der Lobbyarbeit zu normieren und transparenter zu machen. Vor allem bei den Gewerkschaften sind aber bis weit in das 21. Jahrhundert hinein die Verhaltensmuster aus realsozialistischen Zeiten noch präsent, als der Staat fast der einzige Arbeitgeber war und unmittelbarer politischer Protest vielfach zum Erfolg führte. Entsprechende Verhaltensmuster wurden auch nach 1989 beibehalten, als Berufsgruppen wie Bergarbeiter oder Krankenschwestern in der Hauptstadt mit Erfolg wenigstens Teile ihrer Ziele mit manchmal militanten Mitteln gegenüber der Regierung durchsetzen konnten. Nichtregierungsorganisationen sind im Vergleich zu westlichen Gesellschaften, in denen sie sich seit Jahrzehnten entfalten konnten, weiterhin nur schwach 21 Alle Zahlenangaben nach Clemens Rode, Gewerkschaften in Polen. In : Dieter Bingen/ Krzysztof Ruchniewicz ( Hg.), Länderbericht Polen, Bonn 2009, S. 415–424. 22 Ebd., S. 419.

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ausgebildet. Sie versuchen vor allem im sozialen Bereich das häufig zu dünne staatliche soziale Netz mit eigenen Initiativen zu stärken. Eine wichtige Rolle für die Festigung demokratischer Normen und Werte in der Gesellschaft sowie bei der Kontrolle der staatlichen Institutionen kommt den Medien zu. Im Realsozialismus hatten sie fast vollständig unter der Aufsicht der Partei gestanden und bildeten einen der wichtigsten informellen Pfeiler der PZPR bei der Kontrolle über die Gesellschaft. Nach 1989 mussten Journalisten vielfach erst ihre neue Rolle in einer pluralistischen Gesellschaft lernen, etwa keine „Hofberichterstattung“ zu betreiben, sondern zwischen Nachricht und Kommentar zu unterscheiden. Gewiss verlor die Partei die materielle Verfügungsgewalt über die Medien, deren Besitz im Printbereich zu einem großen Teil an die jeweiligen Redaktionen als Genossenschaften überging. Doch nach der Abschaffung der Zensur bildete der Markt das entscheidende Kriterium für Sein oder Nichtsein zahlreicher neu entstandener Blätter, von denen viele nach kurzer Zeit aus finanziellen Gründen ihr Erscheinen wieder einstellen mussten. Ausländisches Kapital wechselnder Zusammensetzung übernahm große Teile des Besitzes an den polnischen Printmedien, wobei auf längere Sicht deutsches Kapital dominierte, insbesondere bei den Regionalzeitungen. Für den Aufbau der Demokratie war die Bedeutung der Presse ambivalent. Neben Zeitschriften der Yellow Press konnten sich insgesamt vier Zeitungen mit überregionaler Bedeutung sowie Wochenzeitschriften etablieren, die hohen Standards genügen und mit investigativem Journalismus teilweise politische Skandale aufdecken konnten und damit unzureichende Kontrollfunktionen staatlicher Organe ersetzten. Für Rundfunk und Fernsehen wurde ein duales System eingeführt, das neben den öffentlich - rechtlichen auch Privatsender zulässt. Der Landesrat für Rundfunk und Fernsehen soll nach der Verfassung die Freiheit des Wortes und das Informationsrecht im öffentlichen Rundfunk und Fernsehen sichern. Tatsächlich jedoch ist er durch Bestellung durch Präsident, Regierung und Parlament hoch politisiert und wird von den jeweils Regierenden in ihrem Sinne besetzt, was sich in entsprechenden Programmen vor allem im öffentlichen Fernsehen niederschlägt. Ein gewisses Gegengewicht bilden die Programme der Privatsender.

3.

Das Verhalten informeller Akteure

Mächtige parastaatliche Einrichtungen, die die Gültigkeit der neuen Ordnung in Frage stellen könnten, gibt es in Polen nicht. Das Militär, das 1981 immerhin die Macht übernommen und damit die Herrschaft der PZPR um ein paar Jahre verlängert hatte, akzeptierte den Wechsel zur Demokratie. Die Durchsetzung des Primats der Politik über das Militär verlief Anfang der 90er Jahre nicht ohne Konflikte. Hilfreich war dabei der Druck externer Akteure wie Nato und EU, denen Polen beitreten wollte. Im August 2009 kam es nach dem Tod eines pol-

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nischen Soldaten in Afghanistan zur heftigen öffentlichen Kritik des Oberbefehlshabers der Landstreitkräfte, General Skrzypczak, an der unzureichenden materiellen Ausstattung der Armee. Verteidigungsminister Klich verurteilte diese öffentliche Kritik als Infragestellung des Primats der Politik über das Militär, und Skrzypczak musste von seinem Amt zurücktreten. Wichtigste nichtpolitische gesellschaftliche Kraft in Polen ist die Katholische Kirche, der nominell über 90 Prozent der Bevölkerung angehören. Die Kirche ist mit der Nation über Jahrhunderte ver woben, war deren wichtigstes Band in der Zeit der Teilungen des Staates sowie während des Zweiten Weltkriegs und konnte ihre Rolle in der Gesellschaft durch die vielfältige Unterstützung der Opposition in den 70er und 80er Jahren neu legitimieren. Ihre Vertreter spielten eine maßgebende Rolle beim Zustandekommen des Runden Tisches vom Frühjahr 1989 und für dessen Gelingen. Ihre Hierarchie erkannte allerdings zu Beginn der 90er Jahre nicht, dass sich die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Kirche wirkt, mit dem Ende der kommunistischen Herrschaft grundlegend geändert hatten. Durch übermäßige Präsenz im öffentlichen Leben, durch die ( von der Regierung ) 1989 überhastet betriebene Einführung des Religionsunterrichts an den Schulen, das Drängen auf eine verschärfte (1993 eingeführte ) Abtreibungsgesetzgebung, sehr direkte ( und dann meistens doch nicht befolgte ) Aufrufe zur Stimmabgabe für konkrete Parteien, etc. büßte sie erheblich an Zustimmung ein, von 87,8 Prozent im November 1989 auf 38 Prozent im Mai 1993. Nach größerer Zurückhaltung bei öffentlichen Äußerungen stabilisierte sich ihr Ansehen wieder bei Werten zwischen 60 und 70 Prozent.23 Noch Mitte der 90er Jahre waren größere Teile des polnischen Episkopats deutlich EU - kritisch eingestellt, weil sie den permissiven Einfluss einer drohenden Verwestlichung Polens fürchteten. Nicht zuletzt die mehrfach öffentlich bekundete Zustimmung von Papst Johannes Paul II. zu Polens EU - Beitritt gab den Ausschlag dafür, dass 2003 das Quorum einer Abstimmungsbeteiligung von mindestens 50 Prozent erreicht wurde. Eine jüngere empirische Studie kam zu dem Ergebnis, dass die Katholische Kirche in Polen sehr wohl Lobbyarbeit betreibt, dass sie dies aber eher indirekt tut. Ansprechpartner sind dabei nicht Abgeordnete, sondern nur die Regierung.24 Eine Gemeinsame Kommission, die in ihren Ursprüngen bis in das Jahr 1949 zurückreicht und zur Zeit der Volksrepublik vor allem in den 80er Jahren aktiv war, wurde 1989 auch förmlich eingerichtet.25 Die Katholische Soziallehre wird von den politischen Parteien bis weit in das linke Spektrum hinein immer wieder ( zumindest verbal ) als verpflichtend anerkannt. Doch hat es die Kirche in Polen weitgehend unterlassen, durch die Beru23 Vgl. Ziemer / Matthes, Das politische System der Republik Polen. 24 Dominik Hierlemann, Lobbying der katholischen Kirche. Das Einflussnetz des Klerus in Polen, Wiesbaden 2005. 25 Vgl. Art. 4, Abs. 1 des Gesetzes vom 17. 5.1989 über die Beziehung des Staates zur Katholischen Kirche, Dz. U. 1989, Nr. 29, Pos. 154; abrufbar u. a. unter http ://www. law.uj.edu.pl / users / kpkiw / USTAWAKK.doc (5. 9. 2009).

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fung gerade auch auf die Soziallehre von Papst Johannes Paul II. beim Aufbau der neuen sozioökonomischen Ordnung Maßstäbe zu setzen und somit ihre Position auch in der neuen gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit neu zu legitimieren. Zwar besucht weiterhin landesweit rund die Hälfte der Gläubigen sonntags den Gottesdienst ( allerdings bei großen regionalen Unterschieden ). Doch fehlt ihr nach dem Tode von Johannes Paul II. eine integrierende Führungspersönlichkeit. Etliche Bischöfe gehen das heikle Problem der Zusammenarbeit von Priestern mit den kommunistischen Geheimdiensten nur sehr zögerlich an. Welche negativen Folgen das haben kann, zeigte Anfang 2007 der spektakuläre Rücktritt des erst zwei Tage im Amt befindlichen neuen Warschauer Erzbischofs Stanisław Wielgus, von dem Dokumente mit seiner Unterschrift zur Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Geheimdienst im Internet aufgetaucht waren. Nicht unter Kontrolle bringt der Episkopat ( und wollen offensichtlich einige Bischöfe nicht ) den dem Redemptoristenorden unterstehenden Sender Radio Maryja, auf dessen nationalistische, xenophobe, antieuropäische Parolen vor wiegend ältere Menschen auf dem Lande mit geringer Bildung hören. Die Kirche steht somit vor einer Reihe großer interner Herausforderungen. Heftig kritisiert wird der unkontrollierte und für die Öffentlichkeit nicht transparente Einfluss, den wirtschaftliche Eliten auf politische Entscheidungen nehmen. Mehrere Untersuchungsausschüsse des Sejm ( zur Rywin - Affäre, zum Raffineriekonzern Orlen, zur Versicherungsgruppe PZU ) haben die korrupten Verflechtungen zwischen Politik und Business deutlich gemacht. Die Eliten des Ancien Régime konnten ihr Know - how und ihre vielfältigen Kontakte in das neue System mit hinein nehmen und besaßen damit erhebliche Startvorteile gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen. Neue Interessenkonfigurationen entstanden, in denen die neuen politischen Eliten, die keine ökonomische Hausmacht besaßen, aus der Tatsache, dass sie die politischen Spielregeln setzten, auch ökonomisches Kapital zu schlagen versuchten („politischer Kapitalismus“) und hierbei auch mit Vertretern der Gewerkschaften kooperierten, die nicht an einer Privatisierung der bisherigen Staatsbetriebe interessiert waren.26 Es ist weniger der konkret ( wie z. B. in den genannten Untersuchungsausschüssen ) nachweisbare Eingriff außerhalb der politischen Institutionen stehender Akteure, die auf das politische Geschehen Einfluss nehmen, als das diffuse Gefühl großer Teile der Gesellschaft, dass nicht wenige aus der früheren kommunistischen Elite ihre Positionen in neuer Form in das sozioökonomische und politische System der 1989 entstandenen Dritten Republik haben übertragen können, das den Wunsch größerer Teile der Gesellschaft nach grundlegenden Änderungen der gegenwärtigen Ordnung erklärt. Die von der Partei PiS der Brüder Kaczyński unterstellte „Kontinuität der Volksrepublik“ und die daraus 26 Vgl. u. a. Krzysztof Jasiecki, Elity polityki i biznesu. In : Maria Jarosz ( Hg.), Polska. Ale jaka ? Warszawa 2005, S. 210–232.

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erhobene Forderung nach einer „Vierten Republik“, in der die Verbindungen jedes Einzelnen mit den kommunistischen Geheimdiensten ( Lustration ) überprüft, das Ämter verbot für frühere kommunistische Funktionäre ( Entkommunisierung ) durchgesetzt und die Durchleuchtung der Herkunft heutiger Vermögen vorgenommen werden sollen, besitzt damit in der aktuellen politischen Realität in einzelnen Punkten sehr wohl nachvollziehbare Anknüpfungspunkte. Auf einem anderen Blatt steht dagegen a ) die Art und Weise, wie von den PiS- Regierungen versucht wurde, diese Postulate in die Praxis umzusetzen, wobei mehrfach die Grenzen zu rechtsstaatlichen Verhaltensweisen erreicht oder überschritten wurden; und b ) die bisweilen spiegelbildliche Einstellung der PiS - Führung zu Eliten der Volksrepublik ( Steuerung der Gesellschaft „von oben“, Misstrauen gegenüber Initiativen „von unten“ und generell gegenüber der Zivilgesellschaft ), nur unter umgekehrtem ideologischem Vorzeichen.

4.

Politische Einstellungen der Gesellschaft

Fragt man schließlich nach den Einstellungen der Gesellschaft gegenüber dem neuen politischen und sozioökonomischen System, so sind die Ergebnisse ambivalent. Eine große Rolle scheinen heute die ganz über wiegend positiven Erfahrungen mit Polens EU - Mitgliedschaft zu spielen. Auf die Frage, ob sich die Situation Polens nach 1989 insgesamt zum Besseren verändert habe, antworteten im Mai 2004, dem Monat von Polens EU - Beitritt, 45 Prozent mit Ja, im Januar 2009 waren es 80 Prozent. Entsprechend sank die Zahl der negativen Antworten von 37 auf 9 Prozent.27 Noch drastischer veränderte sich der Anteil derer, die in den Veränderungen seit 1989 mehr Vor - als Nachteile sahen, vom Tiefpunkt Mai 2001 (15 %) über Mai 2004 (22 %) auf 56 Prozent im Januar 2009. Entsprechend nahm der Anteil derer, die mehr Nach - als Vorteile sahen, im gleichen Zeitraum von 55 über 37 auf 12 Prozent ab.28 Dieser positiven allgemeinen Einschätzung der gegenwärtigen Ordnung, die sich offensichtlich auf eine positive Beurteilung der sozioökonomischen Leistungsbilanz der letzten Jahre stützt und abhängig ist von der Höhe des Einkommens, dem Grad der formalen Bildung etc. der Befragten, stehen Haltungen zur Demokratie gegenüber, die darauf hindeuten, dass deren Grundprinzipien zwar von der großen Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert werden, dass es aber auch erhebliche Restbestände nichtdemokratischer Einstellungen gibt. So stimmten über die Jahre hinweg zwar relativ stabil zwischen 60 und 70 Prozent der Befragten dem Satz zu, die Demokratie sei allen anderen Regierungsformen überlegen ( Januar 2009 : 68 %); der gegenteiligen Meinung waren immer nur zwischen 11 und 19 Prozent (2009 : 14 %). Wurde jedoch konkreter nachgefragt, stimm27 CBOS, Polacy o minionym dwudziestoleciu, BS /26/2009, Warszawa, luty 2009, S. 5; http ://www.cbos.pl / SPISKOM.POL /2009/ K_026_09.PDF (10. 8. 2009). 28 Ebd., S. 8.

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te in der Regel eine Mehrheit dem Satz zu : „Bisweilen können undemokratische Regierungen erwünschter sein als demokratische“ ( zur Zeit des PiS - Wahlsiegs im September 2005 : 52 zu 27 %), seltener war eine meist knappe Mehrheit der gegenteiligen Ansicht ( am klarsten nach der Abwahl von PiS im November 2007: 31 zu 48 %, Januar 2009 : 35 zu 40 %). Ein ähnliches Bild ergaben die Reaktionen auf die Behauptung : „Für Leute wie mich hat es im Grunde keine Bedeutung, ob die Regierungen demokratisch oder undemokratisch sind.“ Diesem Satz stimmten im September 2005 noch 50 Prozent zu ( gegenteiliger Meinung: 39 %). Bis Januar 2009 änderte sich das Verhältnis allerdings auf 33 zu 53 Prozent.29 Bedenkt man, dass die Wahlbeteiligung in Polen auch für ostmitteleuropäische Verhältnisse ausgesprochen niedrig ist – sie erreichte bei den Parlamentswahlen 2005 40,57 Prozent und bei der höchsten Wahlbeteiligung seit 1989, dem zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 1995 68,3 Prozent –, ergibt sich das Bild einer auf der Ebene der politischen Einstellungen der Gesellschaft noch keineswegs gefestigten Demokratie. Um die richtigen Maßstäbe zu bewahren, sollte man sich aber vergegenwärtigen, dass Polen erst zwanzig Jahre ein demokratisches Regierungssystem besitzt und die polnische Gesellschaft zuvor im 19. und 20. Jahrhundert wenig Gelegenheit hatte, sich in Demokratie zu üben. Auch Daten zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, die zehn Jahre nach deren Gründung erhoben wurden, zeigten in der deutschen Gesellschaft noch erhebliche Restbestände autoritärer Einstellungen.30 Insofern stellen die oben angeführten Daten keinen Beleg für eine besonders labile demokratische Einstellung dar.

5.

Bilanz

Zwanzig Jahre nach dem Amtsantritt des ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten nach dem Zweiten Weltkrieg weist die Entwicklung der Demokratie in Polen eine insgesamt positive Bilanz auf. Das in den 90er Jahren zu beobachtende „institutionelle Lernen“ hat die demokratischen Institutionen weiter gefestigt. Die Verfassung von 1997 hat sich im Wesentlichen bewährt, doch sind auch mehrere Schwachpunkte deutlich geworden. Zum 20. Jahrestag des politischen Systemwechsels haben drei frühere Präsidenten des Verfassungstribunals Vorschläge zu leichten Änderungen der Verfassung unterbreitet, die vor allem die Kompetenzen des Präsidenten betreffen. Sein Veto gegen Gesetze, das der Sejm nur mit einer Mehrheit von 60 Prozent zurückweisen kann, soll danach nur mehr aufschiebende Wirkung haben, aber nicht mehr einen Gesetzentwurf 29 Alle zuletzt zitierten Zahlen nach CBOS, Opinie o funkcjonowaniu demokracji w Polsce. BS /20/2009, Februar 2009; http ://www.cbos.pl / SPISKOM.POL /2009/ K_020_ 09.PDF (2. 8. 2009). 30 Vgl. die Angaben zur Bundesrepublik in Gabriel A. Almond / Sidney Verba ( Hg.), The civic culture. Political attitudes and democracy in five nations. An analytic study, Boston 1965, passim.

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zu Fall bringen können. Ferner sollen die Kompetenzen in der Außenpolitik klar abgegrenzt werden.31 Der Beauftragte für die Bürgerrechte hat gar drei – sich gegenseitig ausschließende – Varianten einer neuen Verfassungsordnung ins Spiel gebracht.32 Die personelle Stabilität des politischen Führungspersonals ließ vor allem in den ersten Jahren der Dritten Republik viel zu wünschen übrig. Die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums hat hiergegen eine gewisse Abhilfe geschaffen. Trotz der hohen Fluktuation des Führungspersonals und der Abwahl jeder bisherigen Regierung blieb die Wirtschaftspolitik berechenbar, zog in hohem Umfang ausländisches Kapital an und sicherte Polen ein auch in der Region überdurchschnittlich hohes Wirtschaftswachstum, das zu einer Erhöhung der Realeinkommen beitrug. Die spürbaren Transferleistungen der Europäischen Union seit Polens Beitritt 2004 legitimierten das neue Ordnungssystem in den Augen der Gesellschaft zusätzlich. Gab es vor allem seit dem Einzug der Samoobrona 2001 Abgeordnete, die in beachtlichem Ausmaß mit der Staatsanwaltschaft zu tun hatten, so dass die Medien teilweise vom Sejm als einem besonders „kriminogenen Milieu“ sprachen, das das Ansehen dieser Institution herabsetzte, so schließt eine Verfassungsänderung von Juni 2009 Personen von der Mitgliedschaft im Sejm und im Senat aus, die wegen eines vorsätzlich begangenen Offizialdelikts zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden ( Art. 99, Abs. 3). Offenkundige Defizite weist Polen noch bei der Qualität der Governance auf, wie etliche internationale Rankings übereinstimmend erklären.33 Hier ließe sich die ökonomische Leistungsfähigkeit noch steigern, die in der internationalen Wirtschaftskrise aber sehr bemerkenswert war.34 Gewiss weist, wie zu zeigen war, auch das politische System einige Defizite auf. Fast alle Umfragen zeigen jedoch, dass die nach 1989 etablierte politische und sozioökonomische Ordnung in der Gesellschaft auf eine breite diffuse Zustimmung stößt. Der Vergleich mit den 80er Jahren, als Polen im Ausland hoch verschuldet und im Innern von einer „sozialistischen Stagflation“ geplagt war, aus der das autoritäre Regime von General Jaruzelski keinen Ausweg fand, lässt die aktuellen Probleme als vergleichsweise gering erscheinen. Gerade der Rückblick auf die 80er Jahre lässt die heutige politische und sozioökonomische Grundordnung trotz einer ganzen Reihe von Kritikpunkten im Einzelnen insgesamt als ein System erscheinen, das bescheidenen, aber fast ständig wachsenden Wohlstand garantiert, freies Reisen, Stabilität der demokra31

Vgl. Projekt osłabienia weta prezydenta już gotowy, PAP / PH 25. 8. 2009, http ://wiadomosci.onet.pl /2030770,11,item.html (10. 9. 2009). 32 Trzy projekty zmian konstytucji autorstwa RPO (2. 9. 2009), http ://www.money.pl / gospodarka / wiadomosci / artykul / trzy Prozent3Bprojekty Prozent3Bzmian Prozent3Bw Prozent3Bkonstytucji Prozent3Bautorstwa Prozent3Brpo,228,0,526308.html (6.9.2009). 33 Vgl. u. a. Sebastian Płóciennik, Die Qualität der Institutionen in Polen. In : Bingen / Ruchniewicz, Länderbericht Polen, S. 333–343, hier 333–335. 34 Polen schrieb beim Wirtschaftswachstum im II. Quartal 2009 als einziges europäisches Land mit 1,1 Prozent schwarze Zahlen. Vgl. http ://www.infoseite - polen.de / newslog /? p=1763 more - 1763 (10. 9. 2009).

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tischen politischen Grundordnung sowie Polens äußere Sicherheit gewährleistet und das Polen eine international geachtete Position verschafft hat. Zusammen mit der externen Unterstützung durch die Mitgliedschaft in EU und NATO lassen diese Faktoren die Stabilität der demokratischen Ordnung zumindest auf dem gegenwärtigen Niveau als gesichert erscheinen.

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Die wichtigsten Spezifika des politischen und rechtlichen Institutionensystems in Ungarn Sándor Pesti

Der Beitrag analysiert das während des Systemwechsels entstandene rechtliche und politische Institutionensystem in großen Linien ( innerhalb des politischen Institutionensystems in erster Linie die Parteienstruktur ) und zeigt dabei an mehreren Beispielen die bis in die heutige Zeit reichenden Konsequenzen dieser Struktur auf.

1.

Die verfassungsmäßige Grundstruktur

Die grundlegenden Elemente des zur Zeit des Systemwechsels entstandenen rechtlichen Institutionensystems sind bis heute unverändert. Diese in der Verfassung und in einigen entscheidenden Gesetzen festgelegte Struktur ist im Sommer 1989 – im Laufe der zwischen der Staatspartei und der Opposition geführten Gespräche sowie während der Verhandlungen zwischen der Siegerpartei der ersten freien Wahlen 1990 ( Ungarisches Demokratisches Forum ) und der größten Oppositionspartei ( Bund der Freien Demokraten ) – entstanden.1 Die bedeutendsten Elemente dieser Struktur sind : 1. Ungarn ist eine parlamentarische Republik, in der die Funktion des Staatsoberhauptes darin besteht, der Einheit der Nation Ausdruck zu geben und über die demokratische Tätigkeit des Staatsapparates zu wachen. Der Staatspräsident wird vom Parlament gewählt und sein Gewicht in der Staatsorganisation entspricht im Wesentlichen dem des deutschen Bundespräsidenten. Er hat keine politische Verantwortung, die meisten seiner Maßnahmen können nur mit der Gegenzeichnung des Zuständigen der Regierung in Kraft treten. Er kann das Parlament nur in zwei Fällen auf lösen : Wenn die Regierung innerhalb eines Jahres viermal gestürzt wird bzw. wenn nach dem Vorschlag des Staatspräsidenten bezüglich der Person des Ministerpräsidenten das Parlament innerhalb von vierzig Tagen keinen Premierminister wählen kann. ( In Ungarn wird der Regierungschef nämlich vom Parlament gewählt, der Staatspräsident ernennt nur die

1

Vgl. Zoltán Ripp, Rendszerváltás Magyarországon 1987–1990, Budapest 2006, S. 50–62.

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Minister ). Das Parlament wurde jedoch seit dem Systemwechsel noch nie aufgelöst.2 Die meisten Konflikte zwischen der Regierung und dem Staatspräsidenten gab es im ersten (1990–1994) und im gegenwärtigen Regierungszyklus ( seit 2006). Der Grund dafür lag in der ersten Periode einerseits in den in der Verfassung nur unklar bestimmten Kompetenzen. Im Zusammenhang mit den deswegen aufkommenden Diskussionen hat das Verfassungsgericht schließlich in mehreren Beschlüssen den genauen Inhalt dieser Kompetenzen geklärt und definiert. Dies geschah zum Beispiel mit dem Ernennungsrecht des Staatspräsidenten, mit den Befugnissen des Oberbefehlshabers der Armee und mit den Befugnissen im Zusammenhang mit den auswärtigen Angelegenheiten. ( Es ist interessant, dass der damalige Präsident des Verfassungsgerichtes, László Sólyom, gegenwärtig der Staatspräsident der Republik Ungarn ist.) Die andere Ursache der Konflikte lag darin, dass das Staatsoberhaupt ( Árpád Göncz ) der Kandidat der damals größten Oppositionspartei, des Bundes der Freien Demokraten, war, der nach seiner Wahl zum Präsidenten engen Kontakt zu seiner Partei pflegte und dessen Entscheidungen stark vom Standpunkt der Freien Demokraten beeinflusst waren.3 Die Ursache der gegenwärtigen Konflikte ist zum einen die seit 2006 verschärfte innenpolitische Lage und zum anderen die autonome Persönlichkeit des Staatsoberhauptes, der im Jahr 2005 als Kandidat der jetzigen Opposition zum Präsidenten gewählt wurde. Er ist zwar bei weitem nicht so stark an die größte Oppositionspartei ( Fidesz ) gebunden, wie damals der erste Staatspräsident Árpád Göncz an die Freien Demokraten, jedoch steht er mit seinem Wertesystem der Fidesz eindeutig näher und hat im Lauf der seit 2006 andauernden innenpolitischen Krise mehrmals Meinungen geäußert, die dem Standpunkt der Opposition näher waren, was von der Regierung und den führenden Kräften der Ungarischen Sozialistischen Partei ( MSZP ) stark kritisiert wurde. 2. Im Interesse der Sicherstellung einer stabilen Regierung hat Ungarn – nach deutschem Muster – die Institution des konstruktiven Misstrauensvotums eingeführt. Die Institution hat auch die an sie geknüpften Hoffnungen erfüllt, denn in Ungarn ist es seit 1990 – vielleicht als einzigem postkommunistischem Land – trotz politischer Gegensätze, die die Gesellschaft tief spalten, noch nie zu vorgezogenen Wahlen gekommen ( obwohl dies von der jetzigen Opposition seit Anfang 2007 ständig gefordert wird ). Regierungswechsel während einer Legislaturperiode gab es bisher dreimal : im Dezember 1993 nach dem Tod des Premierministers József Antall, im Jahr 2004 in Folge des Rücktritts von Péter Medgyessy und im April 2009, als Ferenc Gyurcsány ein konstruktives Misstrauensvotum initiiert hat. Das war übrigens das erste konstruktive Misstrauensvotum seit dem Systemwechsel, das nicht nur zu politischen, sondern auch zu 2 3

Vgl. András Körösényi / László Lengyel / István Stumpf / Péter Tölgyessy, Túlterhelt demokrácia. Alkotmányos és kormányzati alapszerkezetünk, Budapest 2006, S. 172 f. Vgl. Virág Kovács, Köztársasági elnöki jogállás és hatalom Magyarországon, Budapest 2007, S. 30–47.

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verfassungsrechtlichen Diskussionen geführt hat. Einige Verfassungsjuristen wiesen daraufhin, es sei verfassungsrechtlich bedenklich, dass der amtierende Ministerpräsident das Misstrauensvotum gegen sich selbst empfohlen hat, statt seinen Rücktritt einzureichen. Sein Ziel war vermutlich, den Staatspräsidenten aus dem Verfahren heraus zu halten : bei einem Rücktritt ( des Ministerpräsidenten ) hat der Staatspräsident das Recht, einen Vorschlag bezüglich der Person des neuen Ministerpräsidenten zu machen. Der Staatspräsident war zwar selber nicht damit einverstanden, den Wechsel des Regierungschefs auf diese Art und Weise vorzunehmen, er hat jedoch die Verfassungsmäßigkeit nicht bestritten und die vom neuen Ministerpräsidenten vorgeschlagenen Minister ernannt.4 3. Das Parlament in Ungarn besteht aus einer Kammer, deren 386 Abgeordnete auf eine denkbar komplizierte Weise gewählt werden. 176 Kandidaten werden aus einzelnen Wahlbezirken, 152 aus Parteilisten der Komitate und 58 aus der landesweiten Kompensationsliste ins Parlament gewählt. Die Wähler stimmen dabei für die einzelnen Kandidaten und die Parteilisten der Komitate. Von der landesweiten Liste werden die Mandate aufgrund von Stimmen verteilt, die auf Parteien abgegeben wurden, jedoch keine Mandate erzielt haben.5 Seit dem Systemwechsel wurde vielfach kritisiert, dass das Wahlsystem zu kompliziert ist und dass im Verhältnis zur Einwohnerzahl von 10 Millionen die Zahl der Abgeordneten (386) sehr hoch ist. Da jedoch in Ungarn zur Modifizierung des Wahlrechtsgesetzes die Unterstützung von zwei Drittel der Abgeordneten erforderlich ist, blieben die diesbezüglichen Gespräche zwischen den Parteien und den Fachleuten bisher erfolglos. Bezüglich der Notwendigkeit einer Änderung herrscht zwar Einvernehmen zwischen den bedeutenden politischen Kräften, über die Art und Weise konnte bisher jedoch wegen der unterschiedlichen politischen Interessen und fachlichen Auffassungen keine Einigung getroffen werden. ( Ebenfalls seit der Zeit des Systemwechsels ist für das ungarische politische System charakteristisch, dass in vielen Fragen eine Zwei - Drittel - Mehrheit zur Durchführung von Änderungen erforderlich ist, weswegen die Zustimmung der jeweiligen Opposition notwendig ist.) Auch die Frage der Einführung einer zweiten Kammer wurde bereits oft aufgeworfen. Es gibt auch zahlreiche Vorschläge bezüglich ihrer Bildung und Zusammensetzung, jedoch ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass diesbezüglich je Einvernehmen zwischen den Parteien hergestellt werden wird ( natürlich wäre auch hier die Zwei - Drittel - Mehrheit erforderlich ). 4. Ungarn ist – im Gegensatz zum föderativ eingerichteten Deutschland – ein typisches Beispiel der unitaristischen Staaten, in dem neben einer starken Zentralgewalt den kommunalen Selbstver waltungen durch das Selbstver waltungsgesetz von 1990 weit reichende Befugnisse eingeräumt wurden. Über die unitaristische Form und die Selbstständigkeit der kommunalen Selbstver waltungen 4 5

Vgl. András Körösényi / Csaba Tóth / Gábor Török, A magyar politikai rendszer, Budapest 2007, S. 235. Vgl. István Kukorelli ( Hg.), Alkotmánytan I., Budapest 2007, S. 123–145.

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sind sich die politischen Kräfte und die Fachleute einig, jedoch wird über die dazwischen liegenden Ebenen gestritten. Bis heute wird die Kommunalver waltung durch das Komitatssystem bestimmt, welches ein Erbe der Zeit vor dem Systemwechsel ist. Das Land besteht aus 19 Komitaten und der Hauptstadt, die von direkt gewählten kommunalen Selbstver waltungen – Generalversammlungen / Bezirksparlamente – ver waltet werden. Parallel zum EU - Beitrittsprozess sind außerdem sieben Regionen entstanden, die über bedeutende finanzielle Mittel verfügen, wodurch der Einfluss der Komitate etwas eingeschränkt wird.6 Der gegenwärtigen Regierung ist es jedoch nicht wie geplant gelungen, die Rolle der Regionen weiter zu verstärken und eine Direktwahl der regionalen Führung, ähnlich wie das bei den Komitaten geschieht, durchzusetzen. Auf diesem Weg sollte der Einfluss der Komitate weiter beschränkt ( und eventuell sogar deren Auf lösung ermöglicht ) werden. Auch für diese Änderung wäre eine Zwei - Drittel - Mehrheit erforderlich gewesen, allerdings war es nicht möglich, hierfür die Zustimmung der Opposition zu erlangen. 5. Die rechtliche Struktur, die zur Zeit des Systemwechsels geschaffen wurde, enthält zahlreiche Elemente, durch die die Macht der jeweiligen Mehrheit eingeschränkt wird. Dadurch soll das System in Richtung einer Konsensdemokratie gerückt werden. Neben der für zahlreiche Gebiete vorgeschriebenen Zwei- Drittel - Mehrheit sind noch einige Beispiele zu erwähnen : – In Ungarn verfügt das Verfassungsgericht im europäischen Vergleich über weitreichende Befugnisse und in der Zeit bis 1998 – als László Sólyom als Präsident des Verfassungsgerichtes fungierte – wurden diese weitreichenden Befugnisse ziemlich aktiv umgesetzt. Bei der Untersuchung der Verfassungsmäßigkeit zahlreicher Rechtsvorschriften hat das Verfassungsgericht nicht nur den geschriebenen Text der Verfassung berücksichtigt, sondern auch den zugrundeliegenden Geist ( der Verfassung ) beachtet, wodurch eine Art „unsichtbare Verfassung“ entstanden ist.7 – Neben dem Verfassungsgericht existieren zahlreiche Institutionen mit verschiedenen Befugnissen, welche die Macht der Regierung einschränken ( der Staatliche Rechnungshof, die vier Ombudsmänner, der Haushaltsrat, die Staatsanwaltschaft, die auf für Europa ungewöhnliche Weise nicht der Regierung, sondern dem Parlament untersteht, etc.). – Die Geschäftsordnungen des Parlaments räumen der jeweiligen Opposition bedeutende Befugnisse zur Kontrolle der Macht der Regierung ein. So sind beispielsweise bei vielen wichtigen Parlamentsausschüssen die Vorsitzenden Angehörige der Opposition. Auf Ersuchen von zwei Fünfteln der Mitglieder eines Ausschusses muss ein zuständiger Vertreter der Regierung an den Ausschusssitzungen teilnehmen, und zu den jeweiligen Fragen Stellung nehmen. Auf Ersuchen von einem Fünftel der Parlamentsabgeordneten ist das Parla6 7

Vgl. Körösényi / Tóth / Török, A magyar politikai rendszer, S. 136–155. Vgl. László Sólyom, Az alkotmánybíráskodás kezdetei Magyarországon, Budapest 2001, S. 5–15.

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ment verpflichtet, einen Untersuchungsausschuss zur Untersuchung einer die Regierung betreffenden Angelegenheit einzurichten. Den Oppositionsfraktionen muss mindestens einmal wöchentlich die Möglichkeit eingeräumt werden, parlamentarische Anfragen an die Regierung zu richten.8 6. Innerhalb der Regierung nimmt der Ministerpräsident seit jeher eine besondere Rolle ein. Deswegen überrascht es, dass erst im Jahr 2006 gesetzlich festgelegt wurde, dass „der Ministerpräsident im Rahmen des Regierungsprogramms die allgemeine Ausrichtung der Regierung bestimmt“ ( vgl. Richtlinienkompetenz in Deutschland ). Diese besondere Rolle wird durch einige Rechtsvorschriften gewährleistet ( vor allem das bereits erwähnte konstruktive Misstrauensvotum, aber darüber hinaus auch durch zahlreiche Rechtsvorschriften, die die Tätigkeit der Regierung und die Ordnung des Staatsapparates regeln). Andererseits bestätigt sich diese Rolle auch in der politischen Praxis unabhängig von den Rechtsnormen.9 Die starke Position des Ministerpräsidenten wurde in den meisten Fällen auch von dafür geeigneten Persönlichkeiten ausgefüllt. Von den ungarischen Ministerpräsidenten nach dem Systemwechsel waren József Antall, Péter Boross, Gyula Horn, Viktor Orbán und Ferenc Gyurcsány alle starke, charismatische Persönlichkeiten mit Führungsqualitäten, die neben der ihnen durch die Rechtsvorschriften eingeräumten besonderen Rolle eine starke Macht in ihren Händen hielten ( womit sie auch einen europäischen Trend verkörperten ). Nur einer der Ministerpräsidenten ist als „schwache“ Persönlichkeit mit weniger stark ausgeprägten Fähigkeiten anzusehen : Péter Medgysessy, der nur zwei Jahre lang im Amt war. Als auch die führenden Politiker der damaligen Koalition von seiner Unfähigkeit überzeugt waren, wurde er im Sommer 2004 durch einen „Putsch“ aus seiner Position entfernt. Sein Nachfolger Ferenc Gyurcsány, der gerade gestürzt wurde, ist ein Gegenpol zu ihm : er besaß mehr Macht und führte eine stärker zentralisierte Regierung als alle seine Vorgänger. Es wird interessant sein zu beobachten, wie sich der frisch gewählte Regierungschef Gordon Bajnai, dessen Persönlichkeit eher der von Medgyessy ähnelt – wobei er eindeutig bessere Fähigkeiten hat und kompetenter erscheint – in seiner neuen Position in dieser auch sonst sehr schweren Situation behaupten kann. Die beschriebene Machtfülle des Ministerpräsidenten wurde natürlich – in verschiedenem Maße und in unterschiedlichen Formen – durch die Tatsache eingeschränkt, dass in Ungarn seit dem Systemwechsel – außer im letzten Jahr – eine Koalitionsregierung bestand.

8 9

Vgl. Sándor Pesti, Az újkori magyar parlament, Budapest 2002, S. 115–136. Vgl. Sándor Pesti, A kormányzati reform. In : Kommentár, 5/2006, S. 90–103.

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2.

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Die Parteienstruktur

In den im Frühling 1990 stattgefundenen ersten freien Wahlen erlitt die im Oktober 1989 gegründete Nachfolgerpartei der Staatspartei ( der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei ), die Ungarische Sozialistische Partei ( MSZP ) eine historische Niederlage. Sie erhielt insgesamt acht Prozent der Stimmen und kam als eine kleine Oppositionspartei ins Parlament. Die gemäßigt rechte, christlichdemokratische Partei gewann die Wahlen mit einer überzeugenden Mehrheit und der Vorsitzende der Partei, József Antall, bildete in Koalition mit zwei kleineren rechten Parteien die Regierung. Die Wahlen im Jahr 1994 brachten für die postkommunistische MSZP die siegreiche Rückkehr an die Macht : mit 54 Prozent der Stimmen erreichten die Abgeordneten der Partei die absolute Mehrheit im Parlament. Hauptursache dafür war, dass ein Großteil der Gesellschaft große Illusionen bezüglich des Systemwechsels hegte – in erster Linie im Zusammenhang mit der raschen Erhöhung des Lebensniveaus der Einwohner. Dann aber wurde die Bevölkerung mit den Schwierigkeiten des Demokratisierungsprozesses konfrontiert : Statt einer Erhöhung des Lebensniveaus war in der ersten Zeit eher ein Rückgang zu verzeichnen. Zudem wuchsen die Vermögensunterschiede, die Arbeitslosigkeit stieg plötzlich auf eine ungekannte Höhe und die Leute wurden von einer allgemeinen Existenzunsicherheit erfasst. Es kam auch zu einer spürbaren Verschlechterung der öffentlichen Sicherheit. Die Gesellschaft, die an die zwischen den politischen Kräften aufkommenden Konflikte nicht gewöhnt war, fand sich plötzlich inmitten von den Alltag bestimmenden Interessenkonflikten und zur damaligen Zeit in scharfer Form geführten Auseinandersetzungen über Wertvorstellungen wieder. All dies führte bei einem großen Teil der Bevölkerung zu einer Ernüchterung bezüglich der neu entstehenden politischen Kräfte und es kam eine unstillbare Nostalgie für das KádárSystem auf, welches, wie bekannt, tatsächlich die „fröhlichste Baracke des kommunistischen Lagers“ gewesen war. Dazu kamen noch die Fehler der Antall Regierung und die feindliche Atmosphäre, welche die Mainstream - Medien gegenüber der Regierung entfacht haben. Und letztendlich, dass József Antall im Dezember 1993 nach einer schweren Krankheit verstarb. Sein Tod bedeutete einen bis heute unersetzbaren Verlust im ungarischen politischen Leben. (Übrigens wurde gerade in diesem Jahr ein Gebäudeflügel des Europäischen Parlaments nach ihm benannt.) Obwohl aufgrund der Wahlergebnisse die MSZP auch alleine eine Regierung hätte bilden können, ging sie eine Koalition mit dem linksliberalen Bund der Freien Demokraten ( SZDSZ ) ein. Diese Partei zeichnete sich zur Zeit des Systemwechsels durch die lauteste antikommunistische Rhetorik aus, wodurch sie während der Legislaturperiode von 1990–1994 zur stärksten Oppositionspartei wurde. Ihre Annäherung an die MSZP war bereits ab 1992 zu beobachten und zur Zeit der Wahlkampagne im Jahr 1994 war eine spätere Koalition bereits vorhersehbar. Die MSZP wollte mit der Einbeziehung des SZDSZ zum einen eine stabile Mehrheit sichern, zum anderen war für sie der starke Einfluss der

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Die wichtigsten Spezifika

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SZDSZ in der Presse sehr nützlich. Nicht zuletzt wollte die postkommunistische Partei damit auch ihre Legitimität im Westen verstärken. Ein Großteil der damaligen führenden Kräfte des SZDSZ hatte übrigens kommunistische Wurzeln, aber bereits während der 70er Jahre kam es zur Desillusionierung bezüglich des Kádárs - Systems, des real existierenden Sozialismus und zur Bildung einer Opposition im Untergrund. Die Koalition hielt trotz ständiger Auseinandersetzungen bis 1998 und wurde von 2002 bis 2008 weitergeführt. Seitdem wird die MSZPRegierung auch weiterhin von außen durch die SZDSZ am Leben erhalten.10 Der Fidesz, eine im Jahr 1988 von jungen, antikommunistischen Intellektuellen gegründete Partei, gewann zur Zeit der Horn - Regierung (1994–1998) an Einfluss und ist zu einer bedeutenden politischen Kraft geworden. Die Partei hat dank ihres talentierten Vorsitzenden Viktor Orbán die Rolle als Spitze der bürgerlichen Rechten an Stelle des geschwächten MDF übernommen. Orbán selbst ist seit 1995 die Führungsfigur der ungarischen Rechten. Zwischen 1998 und 2002 war er der Ministerpräsident des Landes. Seit einem Jahrzehnt ist in der ungarischen Politik ein Trend hin zu einer steigenden Konzentration des Parteiensystems zu beobachten, eine Bewegung in Richtung eines Zwei - Parteien - Systems.11 Bei den Wahlen 2006 wurden neunzig Prozent der Stimmen der Komitatslisten auf die beiden großen Parteien abgegeben. Nach den Wahlen im nächsten Jahr (2010) ist es möglich, dass das Land ein Zweiparteien - Parlament haben wird. Der Grund dafür liegt nicht in erster Linie im Wahlsystem ( dessen wesentliche Elemente sind seit dem Systemwechsel unverändert ). Als Hauptursache hierfür ist die außerordentlich tiefe politische Spaltung der ungarischen Gesellschaft anzusehen. Hierfür gibt es traditionelle Gründe, die seit langer Zeit – seit mindestens 100 Jahren – in der ungarischen Geschichte begründet sind. Besonders zu erwähnen ist die kommunistische Diktatur in den vierzig Jahren vor dem Systemwechsel. Die stärkste Kluft in Ungarn besteht bis zur heutigen Zeit zwischen Kommunismus und Antikommunismus. Ich bin überzeugt, dass es sinnvoll gewesen wäre, nach tschechischem Muster gleich am Anfang des Systemwechsels die Mitglieder der oberen Partei - und Staatsführung der kommunistischen Diktatur aus den führenden Ämtern der neuen, demokratischen politischen Macht auszuschließen. Eine solche Entscheidung hätte wahrscheinlich dem Wohl der ganzen ungarischen politischen Kultur gedient und hätte der MSZP ermöglicht, eine europäische sozialdemokratische Partei zu werden. Zudem wäre auch die Frustration bestimmter rechter Kreise und ihr unversöhnlicher Hass gegenüber den Machthabern auf Seiten der Linken gedämpft worden. Heute hätte das natürlich keinen Sinn mehr, die Zeit wird dieses Problem früher oder später lösen. Aber auch heute ist es noch so, dass nach dem Rücktritt von Ferenc Gyurcsány als Parteivorsitzenden, jeder der drei Kandidaten für seine Nachfolge während der Kádár - Ära Funktionen in der kommunistischen Par10 Vgl. Körösényi / Tóth / Török, A magyar politikai rendszer, S. 68–87. 11 Vgl. Csaba Tóth, A magyar pártrendszer fejlődésének fő iránya. In : Politikatudományi Szemle, 3/2001, S. 81–105.

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Sándor Pesti

tei oder in der KISZ ( der Jugendorganisation der Kommunisten ) ausgeübt hat. Die schließlich zur Vorsitzenden gewählte Ildikó Lendvai war beispielsweise Leiterin der Kultursektion des Zentralkomitees der Ungarischen Kommunistischen Arbeiterpartei ( MSZMP ), eine der engsten Mitarbeiterinnen von György Aczél, dem zweiten Mann des Kádár - Systems. Der verbitterte Kampf zwischen den Führern der beiden Parteien hat diese Gegensätze noch weiter vertieft, wobei ich jedoch nicht die Meinung vieler Ungarn teile, dass diese für diesen Zustand die Hauptverantwortlichen sind. Wer so denkt, ver wechselt Ursache und Wirkung. Ursprünglich haben sie die gegenwärtige Situation nicht verursacht, sondern die vorhin erwähnten tieferen Gründe haben gerade solche konfrontativen Führungspersönlichkeiten an die Spitzen der beiden Lager geführt.12 Die im nächsten Jahr anstehenden Wahlen werden sehr wahrscheinlich mit einem Sieg für den Fidesz ausgehen, welcher zur Zeit laut Angaben der Meinungsforscher mit großem Vorsprung führt. Über diese Partei sind selbst in der deutschen Presse ( z. B. Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Die Welt ) ungenaue, teilweise auch ausgesprochen verzerrte Informationen zu lesen, obwohl diese die ungarischen Verhältnisse besser kennen, als die angelsächsische Presse. Nicht selten wird der Fidesz als nationalistische, populistische und – sogar als nach dem Führerprinzip funktionierende – antidemokratische Kraft dargestellt. Davon stimmt zweifellos soviel, dass die Partei in den letzten Jahren in wirtschaftlichen und sozialen Fragen eine ziemlich populistische Rhetorik ver wendet und sich gemäß der politischen Strategie ihres Vorsitzenden – dass rechts neben dem Fidesz keine bedeutende Partei stehen soll und möglichst viele Wähler mit Hang zu radikalen Ansichten für den Fidesz stimmen sollen – nicht so hermetisch von rechtsradikalen politischen Kräften abgrenzt, wie das mehrere ihrer westeuropäischen Schwesterparteien tun ( beispielsweise die CDU ). Dennoch kann ganz klar festgestellt werden, dass die führenden Politiker des Fidesz den europäischen demokratischen Werten verpflichtet sind und sich von jedweder Diskriminierung sowie von Gewalttätigkeit und sonstigen antidemokratischen Attitüden distanzieren. Nicht zufällig ist Viktor Orbán, der Vorsitzende der Partei, bereits seit langer Zeit einer der stellvertretenden Vorsitzenden der europäischen Volkspartei. Bei den öffentlichen Veranstaltungen des Fidesz treten auch oft führende Politiker der Europäischen Volkspartei, eingeschlossen deren Vorsitzender Wilfried Martens, als Gäste auf. Der langfristige Erfolg dieser Strategie zeigt sich darin, dass die einzige als extremistisch anzusehende Partei, der nach dem Systemwechsel der Einzug ins Parlament gelungen war, die MIÉP ( Ungarische Partei der Wahrheit und des Lebens ), im Jahr 2002 bei den Wahlen die 5 - Prozent - Hürde nicht erreichte und nach vier Jahren aus dem Parlament ausschied. Seitdem ist es keiner der extremen politischen Kräfte gelungen, ins Parlament einzuziehen. Aber Jobbik, die derzeit populärste derartige Partei – welche die in der westlichen Presse oft erwähnte Magyar Gárda ( Unga12 Vgl. Sándor Pesti, A Gyurcsány - korszak. In : Kommentár, 3/2009, S. 85–94.

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Die wichtigsten Spezifika

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rische Garde ) ins Leben gerufen hat – steht nach den Umfragen der Meinungsforscher derzeit bei sieben Prozent. Natürlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass es schon in der unmittelbaren Zukunft zu bedeutenden Veränderungen in der Parteienstruktur kommt, sei es durch Spaltungen, Fusionen oder durch das Erscheinen einer neuen politischen Kraft, die in kurzer Zeit an Bedeutung gewinnt ( z. B. versuchen viele, Ferenc Gyurcsány zu überreden, aus der MSZP auszutreten und eine neue linke Partei zu gründen ).

3.

Resümee

Die grundlegenden Elemente des zur Zeit des Systemwechsels entstandenen rechtlichen Institutionensystems sind bis heute unverändert. Die bedeutendsten Elemente dieser Struktur sind : Ungarn ist eine parlamentarische Republik, mit begrenzten Befugnissen des Staatsoberhauptes; im Interesse einer stabilen Regierung kann die Regierung nur mit einem konstruktiven Misstrauensvotum gestürzt werden; das Parlament besteht aus einer Kammer; ein gemischtes Wahlsystem; ein unitaristisches Staatssystem; ein eher konsensusorientiertes Demokratiemodell; eine besondere Rolle des Ministerpräsidenten innerhalb der Regierung. Die Parteienstruktur wurde ab Ende der 90er Jahre immer konzentrierter und geht in Richtung eines Zwei - Parteien - Systems.

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Tschechien : Politischer Konsolidierungsprozess 1989–2009. Verlauf, Stand, Perspektiven Karel Vodička

Der Konsolidierungsprozess fing in der Tschechoslowakei bereits im Jahre 1989, nach der „Samtenen Revolution“, an. Die Teilung der Tschechoslowakei stellte zwar eine Zäsur im institutionellen Bereich dar, nicht jedoch im Komplex der politischen Kultur und auf der intermediären Ebene. Die Bewertung des Konsolidierungsgrades ist umstritten, weil verschiedene Faktoren im Transformationsprozess unterschiedlich gewichtet werden. Nach den Kriterien Robert A. Dahls1 oder Samuel P. Huntingtons müsste das politische System Tschechiens als konsolidiert erachtet werden. Petr Fiala2 und Soňa Szolományi3 halten ihr jeweiliges Land ( Tschechien / Slowakei ) für eine konsolidierte Demokratie. Auch im Freedom - House - Rating werden die Tschechische und die Slowakische Republik den konsolidierten Demokratien zugerechnet.4 Demgegenüber beurteilt Timm Beichelt Tschechien als „formal demokratisches Regime“ und die Slowakei ( zusammen mit Russland und der Ukraine ) als „minimaldemokratisches Regime“.5 Michal Kubát bezeichnet Tschechien als konsolidierte, die Slowakei als lediglich „semikonsolidierte“ Demokratie.6 Für eine komparative Analyse des Konsolidierungserfolgs erscheint das von Wolfgang Merkel entwickelte Konsolidierungsmodell geeignet, da es eine getrennte Evaluation einzelner Segmente des politischen Systems und damit eine differenziertere Betrachtung ermöglicht. Merkel unterscheidet vier Konsolidierungsebenen : die konstitutionelle Konsolidierung, die repräsentative Konsoli1 2 3 4 5 6

Vgl. Robert A. Dahl, Demokracie a její kritici, Praha 1995, S. 212. Vgl. Petr Fiala, Česká republika, transformující se nebo konsolidovaný politický systém? In : Středoevropské politické studie, 1/2001, S. 4 ( http ://www.iips.cz / seps / index.php ?ID=7). Vgl. Soňa Szomolányi, Cesta Slovenska k demokracii : od „devianta“ k štandartnej novej demokracii. In : Grigorij Mežnikov / Olga Gyárfášová ( Hg.), Slovensko. Desať rokov samostatnosti a rok reforiem, Bratislava 2004, S. 9–24, hier 10. Vgl. www.freedomhouse.org / template.cfm ?page=438&year=2008. Timm Beichelt, Demokratie und Konsolidierung im postsozialistischen Europa. In : Petra Bendel / Aurel Croissant / Friedbert W. Rüb ( Hg.), Zwischen Demokratie und Diktatur, Opladen 2002, S. 183–198, hier 198. Michal Kubát, Postkomunismus a demokracie, Praha 2003, S. 27.

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Karel Vodička

dierung, die Verhaltenskonsolidierung und die Konsolidierung der Bürgergesellschaft. Der Konsolidierungsprozess verläuft auf allen Ebenen parallel, jedoch ist er in der Regel zuerst auf der konstitutionellen und zuletzt auf der Ebene der Bürgergesellschaft abgeschlossen.7 Die tschechischen Erfahrungen bestätigen Merkels Prämissen. Abb. 1: Vier Konsolidierungsebenen8

1.

Konstitutionelle bzw. institutionelle Konsolidierung

Die konstitutionelle Konsolidierung, die in der Regel am frühesten abgeschlossen ist, bezieht sich insbesondere auf die Verfassungsinstitutionen und das Wahlgesetz.9 Ihr sollten auch andere staatliche Institutionen und die Stabilisierung der gesamten Verfassungs - und Rechtsordnung hinzugerechnet werden, so dass auch von einer institutionellen Konsolidierung gesprochen werden kann. Von großer Bedeutung ist, dass zu der konstitutionellen Konsolidierung nicht nur die formale Herausbildung dieser Institutionen gehört, sondern auch die Respektierung der Spielregeln durch die Akteure. Der konstitutionelle Konsolidierungsprozess lässt sich in Tschechien – aus formaler Sicht – als abgeschlossen bezeichnen. Allerdings gibt es nach wie vor Defizite in der Akzeptanz der rechtlichen Normen durch relevante Akteure : In Tschechien liegen die Schwierigkeiten der konstitutionellen Konsolidierung weniger in der Ausgestaltung der Institutionen, die weitgehend abgeschlossen ist, sondern mehr in der unzureichenden Beachtung der Spielregeln durch die Akteure.10 Das Gewaltenteilungssystem funktioniert in Tschechien zufriedenstellend und die Verfassungsprinzipien finden sukzessive ihren Weg in die politische Pra7 8 9 10

Vgl. Wolfgang Merkel, Systemtransformation, Opladen 1999, S. 145. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Karel Vodička / Ladislav Cabada, Politický systém České republiky, Praha 2007, S. 344.

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Tschechien : Politischer Konsolidierungsprozess

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xis. Die in der Verfassung verankerten Institutionen wurden schrittweise konstituiert. Die Kluft zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit wurde in den Transformationsjahren 1993 bis 2009 immer kleiner. Der Senat als die zweite in der Verfassung verankerte Parlamentskammer wurde im Jahre 1996 – d. h. erst drei Jahre nach der Staatsgründung – gewählt. Im Jahre 2000 wurden durch die ersten Kreistagswahlen die regionalen Selbstver waltungsorgane ( Kraje ) eingerichtet. Damit wurde einer weiteren – bis dato ruhenden – Verfassungsinstitution Leben eingehaucht. Ein Teil der Macht erfuhr dadurch eine Dezentralisierung. Am 1. Januar 2003 wurde auch das in der Verfassung vorgesehene Oberste Ver waltungsgericht ins Leben gerufen, das mit der Zeit zu einer – dringend notwendigen – Verbesserung der öffentlichen Ver waltung beitragen könnte. Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts werden von den politischen Akteuren respektiert. Die Verfassungsrechtssprechung aus der Legislaturperiode 1998–2002 illustriert das institutionelle Spannungsverhältnis, das zwischen der damaligen stillschweigenden Koalition aus Sozialdemokraten und der Demokratischen Bürgerpartei auf der einen und dem Verfassungsgericht sowie dem Staatspräsidenten auf der anderen Seite bestand. Das Verfassungsgericht erwies sich als eine wirksame Barriere gegen die Bemühungen des Machtkartells der Sozialdemokraten und der Demokratischen Bürgerpartei, die in der Verfassung verankerten Grundparameter des politischen Systems abzuändern; es erfüllte seine Funktion im Gewaltenteilungssystem. Das Verfassungsgericht hob aufgrund der Verfassungsbeschwerde des Staatspräsidenten, Václav Havel, diejenigen Bestimmungen des Wahlgesetzes 204/2000 auf, die das Wahlsystem zugunsten der beiden großen Parteien radikal deformierten und ihre Macht auch für die Zukunft sichern sollten; das Wahlgesetz hätte ansonsten zur Machtverfestigung der Großparteien und zur Marginalisierung ihrer kleineren Konkurrenten geführt.11 Ferner verhinderte das Verfassungsgericht die Versuche, die Unabhängigkeit der Zentralbank einzuschränken,12 empfahl die Herabsetzung der Prozentgrenze für die Wahlkampfkostenerstattung13 und schränkte die übermäßige finanzielle Begünstigung der Parlamentsparteien gegenüber den anderen Parteien ein.14 Durch seine Entscheidungen trug das Verfassungsgericht maßgeblich zum Erhalt der Parteienpluralität und des politischen Wettbewerbs bei. Die Parlamentswahlen verliefen im Wesentlichen korrekt. Das Verhältniswahlrecht, nach dem das Abgeordnetenhaus gewählt wird, hat sich insgesamt 11

Vgl. Nález Ústavního soudu 64/2001 Sb. ( Erkenntnis des Verfassungsgerichts, Nr. 64/ 2001 Slg.). 12 Vgl. Nález Ústavního soudu 278/2001 Sb. ( Erkenntnis des Verfassungsgerichts, Nr. 278/ 2001 Slg.). 13 Vgl. Nález Ústavního soudu 243/1999 Sb. ( Erkenntnis des Verfassungsgerichts, Nr. 243/ 1999 Slg.). 14 Vgl. Nález Ústavního soudu 98/2001 Sb. ( Erkenntnis des Verfassungsgerichts, Nr. 98/ 2001 Slg.).

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bewährt, da es eine exzessive Parteienzersplitterung verhinderte und die Herausbildung eines moderat fragmentarischen Parteiensystems begünstigte.15 Als vorteilhaft erweist sich die verfassungsrechtliche Verankerung des Verhältniswahlrechts für die Abgeordnetenkammer und des Mehrheitswahlrechts für den Senat. Da das Wahlsystem durch die Verfassung geschützt wird, ist das Risiko, dass mit einer einfachen Parlamentsmehrheit das Wahlgesetz aus machtpolitischem Kalkül manipuliert wird, reduziert. Bislang ermöglichte jede Wahl zur Abgeordnetenkammer die Regierungsbildung. Die Bildung einer Regierungskoalition gestaltete sich allerdings immer schwierig. Dies ist nicht auf das Wahlsystem per se zurückzuführen, sondern auf die starke Präsenz der kommunistischen Partei in der Abgeordnetenkammer. Die Kommunisten sind auf der Zentralebene weiterhin isoliert, sie werden als koalitionsunfähig angesehen. Ihre Stimmen fehlen daher immer zur Bildung einer möglichen Regierungskoalition.16 Der Sinn des Senats wird oft bezweifelt. Der Senat – mit geringen Kompetenzen und ohne Anbindung an die Regionalparlamente – wird als eine zu teure Verfassungsinstitution angesehen.17 Die Gesetzgebungsinitiative des Senats ist mit einem Anteil von nur zwei Prozent der vorgelegten Gesetze gering.18 Es mag auch fraglich erscheinen, ob in der Gesetzgebung ein suspensives Veto sowohl des Staatsoberhauptes als auch des Senats sinnvoll ist.19 Andererseits bewährte sich der Senat in der Legislaturperiode 1998–2002, die durch die Übermacht des ČSSD / ODS - Machtkartells in der Abgeordnetenkammer gekennzeichnet war, als eine institutionelle Absicherung gegen Wahlgesetz - und Verfassungsmanipulationen zugunsten der großen Parteien. Der konstitutionelle Konsolidierungsprozess lässt sich für Tschechien – aus formaler Sicht – als abgeschlossen bezeichnen. Allerdings gibt es nach wie vor erhebliche Defizite in der Akzeptanz und Einhaltung der Spielregeln durch relevante Akteure. Das institutionelle System und die in ihm verlaufenden Entscheidungsprozesse sind durch klientelistische Beziehungen und Korruption beeinträchtigt. Die Bestechung, in der kommunistischen Zeit allgemein verbreitet, weitete sich im Zuge der Privatisierung der 90er Jahre explosionsartig aus.20 Nach Auffassung der Bevölkerung sind von der Korruption am stärksten die politischen Parteien, die öffentliche Ver waltung, die Banken und die Polizei 15 Vgl. Vodička / Cabada, Politický systém České republiky, S. 205. 16 Vgl. Karel Vodička, Das politische System Tschechiens, Wiesbaden 2005, S. 144. 17 Vgl. Zdeněk Jičínský / Vladimír Mikule, Einführung In : Karin Schmid / Vladimír Horský ( Hg.), Das Ende der Tschechoslowakei 1992 in verfassungsrechtlicher Sicht, Berlin 1995, S. 7–84, hier 55. 18 Vgl. Zdenka Mansfeldová, Das tschechische Parlament im Zeichen allmählicher Stabilisierung. In : Susanne Kraatz / Silvia von Steinsdorff ( Hg.), Parlamente und Systemtransformation im postsozialistischen Europa, Opladen 2002, S. 111–125, hier 119. 19 Vgl. Wolfgang Ismayr, Die politischen Systeme Osteuropas im Vergleich. In : ders. ( Hg.), Die politischen Systeme Osteuropas, Opladen 2004, S. 9–69, hier 43. 20 Vgl. Korupce a protikorupční politika v České republice, Monitoring procesu vstupu do EU, Open Society Institute 2002 ( www.transparency.cz / pdf / osi_2.pdf ), S. 79.

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betroffen.21 Diese Ansicht wird von Transparency International, Zweigstelle Prag, geteilt. Der Chef der TI - Zweigstelle für Tschechien, David Ondráčka, sieht das Hauptproblem in Tschechien in der politischen Korruption, im unkontrollierten Lobbyismus und in der massiven politischen Einflussnahme auf die Justiz und die öffentliche Ver waltung.22 Korruption und Wirtschaftskriminalität werden von achtzig Prozent der tschechischen Bürger als das gravierendste Problem des Landes wahrgenommen.23 Die Bestechlichkeit wird von der Öffentlichkeit scharf kritisiert und die Unfähigkeit bzw. der Unwille der politischen Eliten, mit dieser Angelegenheit fertig zu werden, schwächt essentiell die Legitimität des politischen Systems und seiner Institutionen. In Tschechien kann die Korruption, die mit den vorrevolutionären Beziehungsnetzen eng zusammenhängt, als ein fester Bestandteil der gesellschaftlichen Organisation angesehen werden.24 Die Korruptionsindikatoren deuten an, dass die Bestechlichkeit in Tschechien nicht abnimmt. Im Corruption Perceptions Index 1998 wurde Tschechien mit 4,8 bewertet, im Jahre 2008 war es 5,2 – also praktisch unverändert. Tschechien ist 2008 auf einem Niveau mit Bhutan, Malaysia und Costa Rica. Die übrigen postkommunistischen Länder weisen allerdings noch schlechtere Ergebnisse auf.25

2.

Repräsentative Konsolidierung

Als repräsentative Konsolidierung bezeichnet Merkel die territoriale und funktionale Interessenrepräsentation, insbesondere die Parteien und Interessenverbände.26 Die bedeutsamsten Vertreter ökonomischer Interessen sind Gewerkschaften und Arbeitgeber verbände. Als Vertreter nichtökonomischer zivilgesellschaftlicher Interessen gelten vor allem Kirchen, Umweltverbände und Sportvereine. Nach chaotischen Verhältnissen zu Beginn der Transformation ist in Tschechien mittler weile ein strukturiertes intermediäres System zu erkennen. Die Interessengruppen suchen noch nach optimalen Mechanismen und geeigneten Adressaten ihrer politischen Wirkung.27 Die intermediären Institutionen wie Gewerkschaften, Arbeitnehmer verbände, Berufskammern, Kirchen und Vereine haben an Bedeutung gewonnen und erfüllen zunehmend ihre Funktion als organisierte Interessenvermittlung.28

21 Vgl. ebd., S. 80. 22 Vgl. http ://www.transparency.cz / index.php ?lan=cz&id=2813; http ://www.rozhlas.cz / radiozurnal / dvacetminut / _ zprava / 590345. 23 Vgl. Korupce a protikorupční politika v České republice, S. 78. 24 Vgl. Veronika Lopourová, Koncept korupce v českém transformačním kontextu. In : Politologický časopis, 11 (2004) 4, S. 354–369. 25 Vgl. Transparency International 2008 Corruption Perceptions Index. 26 Vgl. Merkel, Systemtransformation, S. 145. 27 Vgl. Fiala, Česká republika, S. 3. 28 Vgl. Vodička, Das politische System Tschechiens, S. 123–138.

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Abb. 2 : Wahlen zur Abgeordnetenkammer 1992–2006 ( in % der Wählerstimmen )29

ODS

Občanská demokratická strana / Demokratische Bürgerpartei

ČSSD KSČM

Česká strana sociálně - demokratická / Tschechische Sozialdemokratische Partei Komunistická strana Čech a Moravy / Kommunistische Partei Böhmens und Mährens KDU - ČSL Křesťansko - demokratická unie – Československá strana lidová / Christlich demokratische Union – Tschechoslowakische Volkspartei SZ Strana zelených / Die Partei der Grünen Koalice Wahlkoalition der Volkspartei ( KDU - ČSL ) mit der Freiheitsunion ( US - DEU )

Das tschechische Parteiensystem konsolidierte sich rasch.30 Die Wähler identifizierten sich zunehmend mit bestimmten Parteien und die Zahl der Parlamentsfraktionen sank. In Tschechien kristallisierte sich eine vergleichsweise stabile Konstellation mit zwei Großparteien heraus : der Tschechischen Sozialdemokratischen Partei ( ČSSD ) und der Demokratischen Bürgerpartei (ODS ). Sie wechseln sich in der Regierung ab. Im Parlament sind außerdem die linksradikale Kommunistische Partei Böhmens und Mährens ( KSČM ), die Volkspartei ( KDU - ČSL ) als eine traditionsreiche, christliche Partei der Mitte und die Partei der Grünen ( SZ ) als moderne, ökologische Partei vertreten. Die relative Stabilität des tschechischen Parteiensystems stellt im postkommunistischen Raum eher eine Ausnahme dar, da die meisten Parteiensysteme Ost29 Quelle : www.volby.cz. 30 Vgl. Fiala, Česká republika, S. 4; Lubomír Brokl, Reprezentace zájmů v politickém systému České republiky, Praha 1997, S. 70; Vodička, Das politische System Tschechiens, S. 151.

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Tschechien : Politischer Konsolidierungsprozess

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europas sich nach wie vor in einer dynamischen Entwicklung befinden. In mehreren Ländern sind fragmentierte und instabile Vielparteiensysteme entstanden, in denen es üblich ist, über die Grenzen politischer Lager hinweg heterogene Koalitionen („Regenbogenkoalitionen“) einzugehen.31

3.

Verhaltenskonsolidierung

Die dritte Konsolidierungsebene betrifft das Verhalten informeller politischer Akteure ( Militär, Finanzkapital, Unternehmer ). Die Kardinalfrage lautet, ob die informellen Akteure ihre Interessen innerhalb oder außerhalb des legitimen politischen Systems verfolgen. Die Armee verhält sich der tschechischen Tradition gemäß loyal. Der Unternehmenssektor zeichnet sich hingegen nicht selten durch die Tendenz aus, seine Interessen außerhalb der institutionellen Strukturen des Staates zu verfolgen. Viele Unternehmer kommen in Versuchung, ihre Interessen mit Hilfe illegitimer Techniken wie Bestechung und Klientelismus durchzusetzen. Insbesondere bei der Vergabe öffentlicher Aufträge werden häufig sogenannte „Provisionszahlungen“ an die politischen Entscheidungsträger gewährt.32 Dieses Verhalten schwächt die Legitimität der demokratischen Ordnung und wertet die Qualität des Wirtschaftsstandortes ab.

4.

Konsolidierung der Bürgergesellschaft

Unter der Konsolidierung der Bürgergesellschaft wird die Herausbildung einer Staatsbürgerkultur als soziokultureller Unterbau der Demokratie verstanden.33 Nach empirischen Untersuchungen zeichnen sich die Tschechen – im postkommunistischen Vergleich – durch relativ hohe Demokratiepräferenzen aus : fast neunzig Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass die Demokratie die angemessenste Regierungsform und die Idee der Demokratie auf jeden Fall gut sei.34 Der Prozentsatz der Tschechen, die die Demokratie in jedem Fall einer Diktatur vorziehen, bewegt sich seit 1990 in verschiedenen Umfragen über siebzig Prozent. In den westeuropäischen Demokratien liegt die generalisierte

31 Vgl. Ismayr, Die politischen Systeme Osteuropas im Vergleich, S. 49–50. 32 Vgl. u. a. Jan Sopóci, Ekonomické záujmové skupiny v slovenskej politike v 90. rokoch. In : Politologický časopis, 2/2001, S. 166–176, hier 174; Michal Klíma, Výročí televizní manipulace. In : Mladá fronta dnes vom 14. 3. 2003, S. 8; Jiří Pehe, Vítězství politického šíbrovství, www. pehe.cz / Zapisnik /03–11–10.htm, 2003, S. 1; Karel Vodička, Political Systems of the Czech and Slovak Republics. A Comparison of Risks and the Consolidation Process. In : Grigorij Mesežnikov / Ol’ga Gyárfášová ( Hg.), Slovakia. Ten years of independence and a year of reforms, Bratislava 2004, S. 27–48, hier 41. 33 Vgl. Merkel, Systemtransformation, S. 146. 34 Vgl. Jan Čer venka, Demokracie, lidská práva a korupce mezi politiky, CVVM - Bericht Naše společnost 2002, pd 21004, S. 3.

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Demokratieunterstützung höher, im weiteren Osteuropa aber niedriger.35 Auch unterstützt eine überwältigende Mehrheit der Tschechen den pluralistischen Parteienwettbewerb.36 Abb. 3 : Diffuse Demokratieunterstützung (2000) ( in % der Befragten )37

Demostruktur : „Die Demokratie ist die angemessenste Regierungsform“; Demoidee : „Die Idee der Demokratie ist auf jeden Fall gut“.

Mit dem konkreten Funktionieren des demokratischen Systems sind die Tschechen jedoch eher unzufrieden. In den östlicheren Ländern ist die Unzufriedenheit allerdings noch stärker ausgeprägt. Die Rückkehr zu den Verhältnissen vor dem Umbruch wünscht sich dennoch nur eine Minderheit von zwanzig Prozent.38 Eine Mehrheit der Tschechen bewertet das gegenwärtige System im Vergleich zum Kommunismus als das bessere. Die Antworten auf Fragen nach der persönlichen Lebenssituation im alten und neuen Regime fallen dagegen ambivalent aus. In einigen Bereichen, wie Reisemöglichkeiten, Zugang zu Informationen und Meinungsäußerungsfreiheit, wird das gegenwärtige System als das bessere bewertet. Gemeinsamer Nenner dieser Aspekte ist die neu gewonnene Freiheit. In der tschechischen Gesellschaft besteht ein Konsens darüber, dass das derzeitige Regime mehr Freiheiten bietet als das frühere, kommunistische. 35 Vgl. Fritz Plasser / Peter Ulram / Harald Waldrauch, Politischer Kultur wandel in Ost Mitteleuropa. Theorie und Empirie demokratischer Konsolidierung, Opladen 1997, S. 122–125; Gert Pickel / Jörg Jacobs, Einstellungen zur Demokratie und zur Gewährleistung von Rechten und Freiheiten in den jungen Demokratien Mittel - und Osteuropas, Frankfurt ( Oder ) 2001, S. 6. 36 Vgl. Plasser / Ulram / Waldrauch, Politischer Kultur wandel, S. 125–128; Pickel / Jacobs, Einstellungen zur Demokratie, S. 6. 37 Quelle : Pickel / Jacobs, Einstellungen zur Demokratie, S. 6. 38 Vgl. Agentur Median in : Mladá fronta dnes vom 11. 11. 2004, S. 1.

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Abb. 4 : Unterstützung antidemokratischer Systemalternativen (2000) ( in % der Befragten )39

Führer :

„Es ist das Beste, das Parlament loszuwerden und einen starken Führer zu haben, der die Dinge schnell entscheiden kann“. Diktatur : „Unter bestimmten Umständen ist eine Diktatur die beste Regierungsform.“ Sozialismus : „Wir sollten zur sozialistischen Ordnung zurückkehren.“

Demgegenüber gibt es aber auch Lebensbereiche, in welchen die gegenwärtige Situation als schlechter perzipiert wird. Dies betrifft insbesondere soziale Sicherheiten und das allgemeine Sicherheitsgefühl.40 Bei Fragen nach persönlichem Lebensstandard, Freizeitwert sowie nach politischen Einflussmöglichkeiten lassen sich drei etwa gleich große Gruppen identifizieren. Für die erste Gruppe war es im alten Regime besser, für die zweite im neuen, für die dritte sind die Möglichkeiten im Prinzip gleichgeblieben.41 Besonders frappant und alarmierend erscheint hierbei die Tatsache, dass die tschechischen Bürger die Chance, auf das politische Leben Einfluss zu nehmen, gegenüber der Zeit des Kommunismus unverändert einschätzen. Im Zeitraum 1996 bis 200242 nahm allerdings die positive Bewertung des gegenwärtigen Systems zu.43 39 Quelle : Pickel / Jacobs, Einstellungen zur Demokratie, S. 6. 40 Vgl. Tomáš Kostelecký / František Kalvas, Hodnocení současného vývoje v České republice veřejností. In : Grigorij Mesežnikov ( Hg.), Povolebné Slovensko, Bratislava 2003, S. 43–54, hier 53; Adéla Seidlová, Zájem občanů o politiku, CVVM - Bericht 02–01 (2002), PD 20322, S. 4. 41 Vgl. Kostelecký / Kalvas, Hodnocení, S. 52. 42 Die Umfragen wurden 1996, 1998 und 2002 durchgeführt. 43 Vgl. Adéla Seidlová, Úroveň demokracie v ČR, CVVM - Bericht Naše společnost 2002, PD 20220, S. 4; Kostelecký / Kalvas, Hodnocení, S. 53.

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Abb. 5 : Bewertung der eigenen Situation im alten und neuen Regime ( in % der Befragten )44

Wortlaut der Frage : „Wenn Sie Ihr heutiges Leben mit dem vor dem Umbruch 1989 vergleichen, würden Sie sagen, Ihre Situation ist in diesen konkreten Bereichen deutlich / eher besser; weder noch; deutlich / eher schlechter ?“

Die Abbildung Nr. 6 präsentiert den Prozentanteil der ablehnenden Antworten auf die Aussage : „Leute wie ich haben keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut“. Wie aus dieser Graphik deutlich hervorgeht, zeigen sich die Tschechen äußerst skeptisch bei der Beurteilung ihrer politischen Mitgestaltungsmöglichkeiten. In einer anderen Umfrage gaben lediglich sechs Prozent der Befragten an, sie könnten Angelegenheiten auf gesamtstaatlicher Ebene beeinflussen.45 Die Graphik verdeutlicht den Unterschied zwischen westlichen Demokratien und den postkommunistischen Ländern. Wie oft bei Umfragen dieser Art, sind die Werte in Tschechien sehr ähnlich denen in den neuen deutschen Bundesländern. 44 Quelle : Kostelecký / Kalvas, Hodnocení, S. 53. 45 Vgl. Naděžda Horáková, Uplatňování demokratických práv občanů a hodnocení politického systému u nás, CVVM - Bericht Naše společnost 2004, PD 40216, S. 1.

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Abb. 6 : „Leute wie ich haben keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut.“ ( Ablehnung in %)46

Nach der Ansicht der Bevölkerung werden die Entscheidungen der Politiker in erster Linie durch Korruption beeinflusst; die Interessen und Meinungen der Bürger spielen eine untergeordnete Rolle.47 Das hohe Maß an Skepsis ist vermutlich auch eine der Ursachen für die geringe Partizipationsbereitschaft und relativ schwache Wertschätzung des demokratischen Systems durch die Bürger. Die hier zitierten Meinungsumfragen lassen den Schluss zu, dass der Konsolidierungsprozess auf der Ebene der Bürgergesellschaft in Tschechien noch nicht abgeschlossen ist. Zwar erreichen die Tschechen im Vergleich zu anderen postkommunistischen Ländern bei verschiedenen Indikatoren der Demokratieunterstützung relativ gute Umfragewerte. Im Vergleich mit den konsolidierten westlichen Demokratien werden jedoch verschiedene Demokratiedefizite deutlich. Die allgemeine Demokratieunterstützung, die Demokratiezufriedenheit und das Vertrauen in die Institutionen sind niedriger als in konsolidierten Demokratien. Das ausgeprägte Misstrauen gegenüber Institutionen wie Parteien, Parlament, Regierung, Justiz sowie zu regionalen und örtlichen Behörden, in denen Klientelismus und Bestechung vermutlich eine noch größere Rolle spielen, wird allerdings zu einem wesentlichen Teil durch die schlechten Erfahrungen der Bürger mit diesen Institutionen verursacht. Die antidemokratischen Systemalternativen werden von den Bürgern nicht völlig abgelehnt, die Partizipationsbereitschaft ist gering. Eine Demokratie kann ohne die Zustimmung breiter Teile der Bevölkerung nicht als wirklich konsolidiert erachtet werden.48 Die Zustimmung sollte insbesondere in Form aktiver Mitwirkung zum Ausdruck gebracht werden. 46 Quelle: Plasser / Ulram / Waldrauch, Politischer Kulturwandel in Ost-Mitteleuropa, S. 166. 47 Vgl. Seidlová, Zájem občanů o politiku, S. 3. 48 Vgl. Merkel, Systemtransformation, S. 164.

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Abb. 7 : „Was beeinflusst die Entscheidungen der Politiker ?“ ( Durchschnittsbewertung von 7 = im höchsten Maße bis 1 = überhaupt nicht )49

5.

Ursachen für den Regierungssturz im März 2009

Der Sturz der tschechischen Regierung durch ein parlamentarisches Misstrauensvotum am 24. März 2009 – mitten in der EU - Ratspräsidentschaft – ist ein weiteres Zeichen dafür, dass das politische System Tschechiens noch nicht als konsolidiert gelten kann. Die Ursachen der Regierungsinstabilität, die schließlich zum Regierungssturz führten, waren wiederholte gravierende und öffentlich bekannte Rechtsverletzungen einiger Spitzenpolitiker der Regierungskoalition sowie die grassierende politische Korruption. Nach den Parlamentswahlen 2006 entstand eine Pattsituation, weil es der Wahlsieger, die Demokratische Bürgerpartei ( ODS ), strikt ablehnte, mit der zweitstärksten Partei, den Sozialdemokraten, eine große Koalition einzugehen. Ein halbes Jahr lang dauerte es, bis die von der Demokratischen Bürgerpartei geführte Regierungskoalition die Vertrauensabstimmung gewann. Zu diesem „Erfolg“ verhalfen der Demokratischen Bürgerpartei zwei Überläufer von der Sozialdemokratischen Partei, die sich auf einmal unter hoch merkwürdigen Umständen gegen ihre Partei stellten. Wie sich herausstellte, war es Marek Dalík, dem engsten Vertrauten und inoffiziellen Assistenten des ODS - Parteivorsitzenden Topolánek, gelungen, die zwei Abgeordneten durch politische Kor49 Quelle : Seidlová, Zájem občanů o politiku, S. 3.

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ruption zum Überlaufen zu bewegen. Dies wurde durch ein Gerichtsurteil im Juni 2007 amtlich festgestellt ( in einem Zivil - , nicht in einem Strafprozess ). Die höhere Gerichtsinstanz, das Obere Gericht ( Vrchní soud ), bestätigte im Widerspruchsverfahren dieses hochbrisante Urteil.50 Im September 2008 wurde durch ein weiteres Gerichtsurteil bestätigt, dass Marek Dalík bereits in der Vergangenheit versucht hatte, einen Abgeordneten zu bestechen. Der ehemalige Parlamentsabgeordnete der Freiheitsunion Zdeněk Kořistka konnte das Obere Gericht in Olomouc davon überzeugen, dass vor vier Jahren Marek Dalík sowie der Lobbyist Jan Večerek versucht hatten, ihn zu bestechen. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die beiden Kořistka Mitte 2004 zehn Millionen Kronen sowie den Posten des Botschafters in Bulgarien angeboten hatten, wenn er im Prager Abgeordnetenhaus gegen das Zustandekommen der Koalitionsregierung unter der Führung von Stanislav Gross (ČSSD ) stimmen würde.51 Das Urteil des Oberen Gerichts ist rechtskräftig. Dennoch wurde in der Folgezeit gegen den mächtigen Vertrauten des Regierungschefs kein Strafverfahren eingeleitet. Stattdessen blieb Marek Dalík weiterhin der engste Mitarbeiter des Ministerpräsidenten Topolánek. Zu gravierenden Rechtsverletzungen durch die höchsten Organe der Staatsgewalt kam es in mehreren weiteren Fällen. Das größte Entsetzen in der tschechischen Öffentlichkeit rief der Fall des stellvertretenden Ministerpräsidenten Jiří Čunek her vor. Gegen ihn sollte ein Strafverfahren wegen dringendem Korruptionsverdacht geführt werden; einen Tag vor der Übergabe an das zuständige Gericht wurde das Verfahren jedoch durch die Oberstaatsanwältin Renata Vesecká auf rechtswidrige Weise verhindert. Der stellvertretende Ministerpräsident und Minister Jiří Čunek blieb weiterhin im Amt – als Leiter des einflussreichen Ministeriums für Regionalentwicklung, durch welches EU - Mittel für die Regionalförderung in mehrfacher Milliardenhöhe verteilt werden. Durch das Vorgehen der Oberstaatsanwältin und weiterer hoher Justizbeamten sei – so urteilte ein Zivilgericht – das Recht in so gravierender Weise verletzt worden, dass von einer „Justizmafia“ gesprochen werden könne.52 Dem Richter, der dieses mutige Urteil gegen mehrere hohe Justizbeamte gefällt hatte, wurde später im Revisionsverfahren – ohne eine schlüssige Begründung – der Fall entzogen. Der Kreisstaatsanwalt von Liberec, Adam Bašný, der durch seinen Einsatz gegen die Korruption bekannt ist, äußerte auf einer Konferenz, dass das Vorgehen der

50 Vgl. epravo.cz. Výběr rozsudků Vojtěcha Cepla. ( http ://www.epravo.cz / v01/ index. php3 ? s1=3&s2= 0&s3 =0&s4 =0&s 5=0&s6=0&m= 1&typ=clanky&back[ s1] =3&back [s2]=0&back[ s3] =0&back[ s4]=0&back[ s5] =0&back [ s6]=0&recid_cl=54960). 51 Vgl. Bestechungsversuch : Vertrauter des tschechischen Premiers erleidet vor Gericht schwere Niederlage. In : Tschechien Online vom 18. 9. 2008 ( http ://www.tschechien online.org / news /13453 - bestechungsversuch - schwere - niederlage - vertrauten - tschechischen - premiers ). 52 Vgl. Gerichtsurteil erlaubt den Begriff Justizmafia – und versetzt Politiker in Aufruhr. In: Radio Praha vom 6. 6. 2008 ( http ://www.radio. cz / de / artikel /104858 http ://www. radio.cz / de / artikel /104858).

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Justizbeamten in der Rechtssache Čunek den Ruf der Justiz nachhaltig geschädigt habe. Er wurde seines Postens enthoben. Zum Misstrauensvotum gegen die Regierung führte letztlich eine weitere Affäre wegen rechtswidriger Handlungen und Eingriffen in die Medienfreiheit. Der ČSSD - Abgeordnete Petr Wolf trat aus der Sozialdemokratischen Partei aus und stimmte anschließend im Parlament für die Regierungsvorlagen. Als Gegenleistung wurde ein Strafverfahren gegen ihn wegen Betrugs in mehrfacher Millionenhöhe eingestellt. Als ein Fernsehreporter auf diesen explosiven Sachverhalt aufmerksam machen wollte, besuchte ihn – wie er ausdrücklich sagte, im Auftrag von Topolánek – der Vertraute des Regierungschefs, Marek Dalík, und versuchte, den Fernsehreporter von diesem Vorhaben mit Andeutungen möglicher schlimmer Folgen abzubringen. Dies wurde publik, weil der Journalist, nachdem er erfahren hatte, von wem er aufgesucht werden sollte, sich vorbereitete und das Gespräch insgeheim aufnahm.53 Die unzulässige und offensichtliche Einmischung der Regierung in Strafverfahren und der Eingriff in die Medienfreiheit stellten für die Opposition einen triftigen Grund dar, der Regierung – trotz der EU - Ratspräsidentschaft – das Misstrauen auszusprechen. Die Opposition warf der Regierung vor, die Medien aus der Machtposition des Ministerpräsidentenamtes heraus zu beeinflussen und Mafia - ähnliche Zustände in der Justiz zugelassen zu haben. Die tschechischen Bürger hätten kein Vertrauen mehr in den Rechtsstaat, da er von der Politik unterhöhlt werde. Die Opposition war außerdem der Auffassung, dass es auch für die EU - Ratspräsidentschaft besser sei, wenn eine neue Interimsregierung aus Fachleuten für die Restzeit der EU - Ratspräsidentschaft die Regierungsgeschäfte übernähme. Die Regierungsparteien teilten diese Auffassung nicht, verloren aber die Vertrauensabstimmung.54

6.

Zusammenfassung

Die Konsolidierung des politischen Systems Tschechiens ist auf der konstitutionellen bzw. institutionellen Ebene weit fortgeschritten. Auch das intermediäre System hat sich weitgehend konsolidiert. Als wesentlich schwieriger und langwieriger erweist sich jedoch der Mentalitätswechsel und die mit ihm zusammenhängenden Bereiche. Das Verhalten sowohl der formellen als auch der informellen politischen Akteure kann nicht als konsolidiert erachtet werden. Auch die Herausbildung einer reifen, mündigen und aktiven Zivilgesellschaft wird offenkundig noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Das Risiko einer radikalen Ent53 Vgl. Die Affäre Wolf – Wollte Topolánek Einfluss auf die Medien nehmen ? In : Radio Praha vom 17. 3. 2009 ( http ://www.radio.cz / de/artikel /114286). 54 Vgl.Novinky.cz vom 17. 3. 2009. ( http ://www.novinky.cz / domaci /164086 - snemovna bude - hlasovat - o - vysloveni - neduvery - vlade - 24–brezna.html ); welt - online vom 25. 3. 2009 ( http ://www.welt.de / welt_print / article 3438937/ Misstrauensvotum - stuerzt - tschechische - Regierung.html).

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demokratisierung kann dagegen im Hinblick auf die Einstellungen der Bevölkerung, die politische Kräftekonstellation und die institutionelle Konfiguration als extrem gering eingeschätzt werden. Die externen Rahmenbedingungen, die NATO - und die EU - Mitgliedschaft, wirken sich zusätzlich stabilisierend aus. Es kann indes nicht ausgeschlossen werden, dass der Transformationsprozess langfristig auf einem niedrigen Konsolidierungsniveau zum Stillstand kommt. Dies könnte sich in folgenden Bereichen äußern : – minimale politische Partizipation und niedriges Vertrauen der verdrossenen Bürger in den Staat, – weiterhin ineffektive öffentliche Ver waltung und Justiz, – massiv verbreitete Korruption, – niedriges Niveau der öffentlichen Dienstleistungen wie Sicherheit, Schul - und Gesundheitswesen, Verkehr und Umweltschutz. In den letzten zehn Jahren konnte in den erwähnten Bereichen kein wesentlicher Fortschritt verzeichnet werden. Zur Zeit ist es schwierig einzuschätzen, ob nach den vorgezogenen Parlamentswahlen am 9./10. Oktober 2009 der gegenwärtige Stillstand über wunden wird und erneut eine Tendenz zur weiteren Konsolidierung des politischen Systems einsetzt.

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„Let’s go west“ – Selbstbestimmte Prozesse der Demokratisierung und der Wieder vereinigung Ehrhart Neubert

Es konnte kaum ausbleiben, dass die Revolution und die Wiedervereinigung zu einem Quell von Legenden, Verschwörungstheorien und Mythen wurden. Die jüngst von der SPD angeregte neue Verfassungsdebatte spricht für sich. Beharrlich hält sich der Mythos von einer vom Runden Tisch verabschiedeten Verfassung, die die Volkskammer verschmäht habe. Dies habe zur Folge, dass die Ostdeutschen sich mit der vereinigten Bundesrepublik nicht identifizieren könnten. Die besagte Verfassung war lediglich von einer Redaktionsgruppe des Runden Tisches nach dessen Ende fertig gestellt und der Volkskammer übergeben worden. Das Parlament beschloss aber ein Verfassungsänderungsgesetz im Juni 1990, das den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik möglich machte. Der Sozialdemokrat Markus Meckel hat sich mehrfach gegen diesen Mythos ausgesprochen : „Die deutsche Einheit wurde in einem erstaunlich geordneten Prozess möglich und ich behaupte, in einem Prozess der Selbstbestimmung der Ostdeutschen.“1 Die Selbstbestimmung der Ostdeutschen betraf aber nicht nur die staatsrechtlichen Aspekte des Umbruchs. Vielmehr war die Revolution in allen ihren Aspekten ein Prozess der Selbstermächtigung und der Selbstbestimmung. Ein exemplarisches und zugleich originelles Beispiel ist das kleine Mecklenburger Dorf Rüterberg an der Elbe. Das Dorf war seit Jahrzehnten vollständig von einem Grenzsperrzaun umschlossen. Nur mit Passierschein konnten die Bewohner ein bewachtes Stahltor benutzen. Besuch durfte nicht empfangen werden. Gedemütigt und von Heimatverlust bedroht, hatten die Dorfbewohner in Angst gelebt. Angeregt durch die Revolutionsereignisse, beantragte der Schneider Hans Rasenberger am 24. Oktober 1989 eine Einwohnerversammlung, die am 8. November stattfand. Aus der Kreisstadt Ludwigslust kamen hohe Staatsfunktionäre. „Den Rüterbergern war es anzusehen – heute würden sie sprechen und nicht wie gehabt die Köpfe gesenkt den Mund halten [...] Es sprudelte heraus, was sich in Jahren angestaut hatte.“ Das streitbare Gespräch brachte nichts. Als die Einwohner unter sich waren, schritten sie zur Tat. Sie gründeten auf einmü-

1

Markus Meckel, Selbstbewusst in die Deutsche Einheit. Rückblicke und Reflexionen, Berlin 2001, S. 98.

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tigen Beschluss die „Dorfrepublik Rüterberg“. Vorbild war ihnen die Verfassung der schweizerischen Urkantone. Rastenberger war 1988 als Rentner in den Westen gereist und war Zeuge einer schweizerischen Freiheitsfeier, auf der auch Teile des „Wilhelm Tell“ von Friedrich Schiller mitsamt dem Rütlischwur aufgeführt wurden : „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern.“ Die Versammlung in Rüterberg beschloss ein von Rastenberger vorbereitetes Papier : „Der Souverän ist das Volk ( Ausspruch der Schweizer ). Das Volk bestimmt was geschieht. [...] Alle DDR - Bürger und alle BRD - Bürger, sowie alle Menschen auf der Erde dürfen uns besuchen ! Das Dorf darf nicht länger ein geschlossenes Gebiet sein. Wir fordern nicht mehr und nicht weniger, wie alle Bürger unseres Landes, normales Menschenrecht.“2 Wenig später rissen die Rüterberger die Grenzbefestigungen ab und empfingen aus anderen Ländern Besuch. Den aufbegehrenden Bewohnern von Rüterberg ging es zuerst um die Wiederherstellung der Normalität, ihre Selbstbestimmung und die Besetzung des physischen und politischen Raumes. Dazu aber brauchten sie eine Orientierung, die ihnen das schweizerische Vorbild lieferte. So ausgefallen diese Geschichte im Einzelnen ist, so typisch ist sie zugleich für die Motive und Normen der Demokratisierung. Alle damals in der DDR lebenden Generationen hatten keine eigenen demokratischen Erfahrungen. Dennoch widmeten sich Tausende freiheitsdurstige Menschen dieser Aufgabe. Die errungene Freiheit sollte konsolidiert werden. Ich möchte zur Darstellung dieser Prozesse einen Bogen spannen, der, von der revolutionären Bewegung ausgehend, die ersten verbindlichen Abmachungen in der Revolution aufspürt, die der Demokratisierung angemessenen Mittel anzeigt und die handlungsleitenden Orientierungen benennt.

1.

Rebellion für die Freiheit und ihre sanfte Selbstregulierung

Im Nachhinein konnten die Revolution und die Wiedervereinigung als ein selbstbestimmter Prozess gedeutet werden. Dies war schon in der Genese der Revolution angelegt, in der sich sofort die Selbstermächtigung der Gesellschaft gegenüber dem Herrschaftsanspruch der SED zeigte. Aus der Perspektive des Septembers 1989 betrachtet war aber das Ergebnis des beginnenden Aufbegehrens offen. Am Anfang stand die Herausforderung der Herrschaft durch öffentliche Proteste. Diese mündeten in einen offenen Machtkampf ein. Dieser Machtkampf bedeutete einen schweren Verstoß gegen die politischen Regeln, welche die Diktatur bislang allein vorgab. Jetzt bestimmte die Gesellschaft die Regeln der politischen Kommunikation selbst. Diese Selbstbestimmung verlangte die Wahl bestimmter politischer Mittel, die die Asymmetrie des Kräfteverhältnisses kompensieren konnten. Immerhin stand der revoltierenden Gesellschaft eine 2

Hans Rastenberger, Die Dorfrepublik. Aus der Geschichte des Elbgrenzdorfes Wendisch Wehningen - Broda, Rüterberger Dorfrepublik 1967–1989, Eigenverlag 1992, S. 7.

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hochgerüstete Staatsmacht gegenüber. Diese politischen Mittel durften der Staatsmacht keine Gelegenheit bieten, ihre Repressionsinstrumente zum vollen Einsatz zu bringen. Zugleich aber durften sie den Machtanspruch der Revolution nicht neutralisieren. Zum politischen Mittel, zum Vehikel der Revolution wurde aus diesen Gründen die strikte Gewaltlosigkeit. Wie die machtpolitische Auseinandersetzung und Gewaltlosigkeit in einer Revolution zusammengehört, hat Hannah Arendt mit Hilfe ihres Machtbegriffes beschrieben : „Macht aber besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammenhandeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen [...] So können Volksaufstände gegen die materiell absolut überlegenen Gewaltmittel eines Staates eine fast unwiderstehliche Macht erzeugen, und zwar gerade, wenn sie sich selbst der Gewalttätigkeit enthalten, in der sie ohnehin die Unterlegenen wären [...] Die einzige rein materielle, unerlässliche Vorbedingung der Machterzeugung ist das menschliche Zusammen selbst.“3 Das Enthalten von Gewalttätigkeiten war aber keine Selbstverständlichkeit. Bis in den Oktober 1989 war die Revolution keineswegs friedlich. Gewalt war im Kommunismus ideologisch gerechtfertigt und wurde praktisch ausgeübt. Bis zum 10. Oktober waren mindestens 3 318 Menschen festgenommen worden.4 Fast alle hatten Misshandlungen erlitten. Eine größere Anzahl war verletzt worden. Über 600 Personen wurden mit einem Ermittlungsverfahren überzogen. Bis Ende Oktober waren unzählige Menschen wegen ihres Engagements verhört, drangsaliert, beruf lich zurückgestuft und mit anderen Schikanen bedacht worden. Auf der Seite der rebellisch gewordenen Gesellschaft wurde insgesamt gewaltlos gehandelt. Aber das Aufbegehren war nicht von vornherein, nicht in seiner Logik gewaltfrei. Nur der nachträgliche, idealisierende Blick hat eine durch und durch „Friedliche Revolution“ sehen wollen. Das enorme Repressionspotential erzeugte auch Gegenwehr. Auf vielen Menschen lastete ein psychischer Druck, den sie nur mit Mühe kompensieren konnten. In extremen Situationen kam es vereinzelt zu kollektiver Gewalt. Mehrfach wurden Mützen von Volkspolizisten in die Luft geworfen. Während der Durchfahrt der Flüchtlingszüge in Dresden vom 2. bis 5. Oktober eskalierte die Gewalt. Bei den Demonstrationen gab es immer wieder Personen ohne Selbststeuerung oder Provokateure, die mit Flaschenwürfen oder Beschimpfungen auffielen. Ab Ende Oktober traten bei Demonstrationen auch lautstark Rechtsradikale auf. Staatliche Stellen, das MfS und die Polizei haben intern in den angespannten Tagen zahlreiche Drohanrufe, Briefe mit Ankündigungen von Racheakten und auch Bombendrohungen erhalten. Offensichtlich waren die Drohungen und Unterstellungen, die von den SED-

3 4

Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 8. Auf lage München 1996, S. 253. Vgl. Tobias Hollitzer / Reinhard Bohse ( Hg.), Heute vor 10 Jahren. Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution, Fribourg 2000, S. 457. Nach Angaben des Generalstaatsanwalts Günter Wendland wurden 3 456 Personen festgenommen. Vgl. Neues Deutschland vom 20. 11. 1989, S. 3.

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Medien ausgingen. Auch Pfarrern und Bürgerrechtlern wurde vorgeworfen, sie hätten zur Gewalt aufgerufen. Angesichts der tatsächlichen und der drohenden Gewalt haben verantwortliche Oppositionelle, Kirchenvertreter, Künstler immer wieder zum Gewaltverzicht aufgerufen. Solche Aufrufe galten beiden Seiten. Die Älteren wussten, dass am 17. Juni 1953 die Menge tatsächlich Gewalt ausgeübt hatte. Die Demonstranten haben von sich aus mit Sprechchören wie „Wir sind keine Rowdies“ und „Keine Gewalt !“ ihren friedlichen Charakter bekundet. Unberechenbar aber blieben die Sicherheitskräfte und der „Volkszorn“. Die moralischen Appelle zur Gewaltlosigkeit wurden aber noch durch die kulturelle Kontextualisierung des friedlichen Aufbegehrens überboten. Die Demonstranten stellten sich in drei Traditionsstränge,5 die auch die SED für sich instrumentalisieren wollte und nun gegen sich gewendet sah. Dies geschah etwa mit dem Lied der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung „We shall overcome“, mit dem Schlachtruf der Französischen Revolution von 1789 „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und schließlich mit der kommunistischen Revolutionsmystik beim Singen des Refrains der „Internationale“. Damit war die Enge der isolierten DDR, des „Sozialismus in den Farben der DDR“, gesprengt und ein weltweiter Kontext hergestellt, wie eben auch durch den Rütlischwur in Rüterberg. Auch die Wirkung der Friedensgebete beruhte auf der symbolischen Transzendierung der aktuellen Auseinandersetzung. Die religiösen Medien, das Tragen von Kerzen, Fasten - Aktionen, Rezitation religiöser Texte, Singen religiösen Liedgutes und verschiedene Fürbitteformen transzendierten und antizipierten die politischen Anliegen in Zukunftser wartungen. Die traditionellen Gesänge und die Texte des Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer, des amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King und Texte aus befreiungstheologischen Traditionen wurden zu gültigen Zeugnissen aus einer fremden und zugleich berührenden Welt. Die Gewaltlosigkeit und deren symbolische und sprachliche Repräsentation wurden zu dem Band, das die unterschiedlichsten Revolutionäre zusammen hielt und ihnen Macht zuwachsen ließ : „Mit realisierter Macht haben wir es immer dann zu tun, wenn Worte und Taten untrennbar miteinander verflochten erscheinen, wo Worte nicht missbraucht werden, um Absichten zu verschleiern, sondern gesprochen sind, um Wirklichkeiten zu enthüllen, und wo Taten nicht missbraucht werden, um zu vergewaltigen und zu zerstören, sondern um neue Bezüge zu etablieren und zu festigen und damit neue Realitäten zu schaffen.“6 Zweifellos hat die strikte Gewaltlosigkeit auch auf Polizisten, Kampfgruppenangehörige und Soldaten gewirkt, die vorher gegen die Demonstranten aufgehetzt worden waren. Die Staatsorgane gerieten in ein für sie nicht auf lösbares 5 6

Vgl. Hartmut Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993, S. 25. Arendt, Vita activa, S. 252.

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Dilemma. Je mehr sie zur Gewalt griffen und je deutlicher die Demonstranten Gewaltfreiheit aufrechterhielten, desto schneller delegitimierten sie sich selbst. Ihr Feindbild deckte die Wirklichkeit nicht mehr ab. Hätte es brennende Barrikaden gegeben, wäre es für die SED leichter gewesen. Nur der Gewaltverzicht konnte einen unmittelbaren Gesichtsverlust verhindern und einen Zeitgewinn in einer verfahrenen Lage bringen. Das geschah am 8. und 9. Oktober in Dresden und Leipzig. Aber der Gewaltverzicht war auch Ausdruck eines Machtverlustes der ratlosen SED und der orientierungslosen Obristen in konkreten Konstellationen. Gewaltanwendung hätte ihren Machtverlust verstärkt. Es gab keine weitreichenden strategischen Überlegungen, sondern nur die Einsicht, dass ein Gewaltverzicht im Moment das kleinere Übel im Machtkampf bedeutete. Dass die Gewaltlosigkeit zum Herrschaftsverlust beitrug, lag schließlich auch daran, dass sie das leninistische Prinzip „Wer wen ?“ als Gestaltungselement von Politik ad absurdum führte. Die Gewaltlosigkeit war das erste große gegenseitige Versprechen, dass sich die Revolutionäre trotz aller Unterschiede gaben. Es half die Spontaneität zu regulieren, ein Chaos zu vermeiden und im anomischen Zustand von Staat und Gesellschaft ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen aufzubauen. Das aber war der Gewinn der Macht der Gesellschaft über sich selbst. „Gerade am Machtmangel geht die Tyrannis zugrunde. Macht im echten und verlässlichen Sinne kann die Tyrannis nicht erzeugen, weil sie die Pluralität des gemeinsamen Handelns in Einstimmigkeit, das ‚acting in concert‘, im Beherrschen abgeschafft hat.“7 Dieser gesellschaftsinterne Prozess des Machtverlustes war selbstbestimmt und konnte nicht von außen implantiert oder importiert werden, er kam aus dem Zentrum der Gesellschaft. Weder die Bundesregierung, noch Gorbatschow, noch irgendwelche anderen externen Faktoren haben dazu etwas beigetragen.

2.

Der Freiheit wohnt auch in Deutschland das Recht inne

Mit dem Versiegen der Machtquellen der SED, dem Zerfall der gesteuerten und kontrollierten Organisationsgesellschaft und der offensichtlichen Unfähigkeit der Herrschenden, die Beziehungen zur Gesellschaft neu zu gründen, stand für die freigesetzte Gesellschaft die Notwendigkeit, die gesellschaftliche Kommunikation neu zu ordnen und verlässliche Beziehungen zu ermöglichen. Die Revolution beendete die Atomisierung der Gesellschaft und deren zwangsweisen Zusammenschluss unter der Führung der SED. Die Freiheit brachte neue Möglichkeiten der Assoziation der sich selbst ermächtigenden Bürger. Diese standen zwischen zwei aufeinander bezogenen Polen : Einerseits die Entwicklung bzw. die Selbstorganisation der Zivilgesellschaft und andererseits die Wiederherstel7

Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, 4. Auf lage München 1995, S. 749.

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lung des Rechtes. Beides gehört zusammen, weil die Etablierung einer pluralistischen Gesellschaft die Anerkennung gleichen Rechtes für alle voraussetzt. Hannah Arendt drückt das so aus : „Die Kraft, die diese Versammelten zusammenhält [...] ist die bindende Kraft gegenseitiger Versprechen, die sich schließlich im Vertrag niederschlägt.“8 Mit dem Begriff „Vertrag“ ist nichts anderes gemeint als klare Rechtsbeziehungen. Die Opposition hatte seit Jahren Recht und Menschenrecht gefordert. Sie hat die geringsten Ansätze innerhalb des SED - Systems aufzuspüren gesucht, um die Dominanz des Politischen vor dem Recht zu überwinden. Das führte zu einem reformerischen Legalismus, der Konfrontationsstrategien nahezu ausschloss. Und die Opposition hat zugleich zivilgesellschaftliche Elemente praktiziert, um wenigstens im Ansatz das Eigenleben der Gesellschaft zu dokumentieren. In der Revolution kam nun beides zum Tragen. Von der Opposition wurde zuerst Rechtsstaatlichkeit eingeklagt, die Blockparteien zogen nach und die Demonstranten trugen entsprechende Losungen vor : „Recht muss Recht werden“, „Links um zum Rechtsstaat“, „Mit dem Gericht zum Volke“.9 Dennoch nahm der Legalismus der Opposition manchmal geradezu konterrevolutionäre Züge an. Das Neue Forum bestand noch auf seiner Legalisierung durch die SED, als andere Bürgerbewegungen sich schon souverän erklärt hatten. Und bei der revolutionären Besetzung der MfS Zentralen gingen die Bürgerkomitees strikt legalistisch vor und antizipierten Rechtsstaatlichkeit mit Als - Ob - Strategien. Sie bezogen die höchst belastete Volkspolizei und die Staatsanwaltschaft ein, als wären diese Garanten der Rechtssicherheit. Auch die demokratisch gewählte Volkskammer und die de Maizière - Regierung frönten geradezu einem strengen Legalismus und absolvierten einen Marathon bei den Gesetzgebungsverfahren. Der Legalismus verhinderte weithin ein „Recht der Revolution“, das sich allein aus dem Umsturz begründete. Dies schlug sich sowohl in den vorsichtigen Korrekturen der DDR - Verfassung wie auch in der vorsichtigen Neuordnung der Rechtspflege nieder. Es handelte sich um weiche Übergänge zum Rechtsstaat und ein hohes Maß an Rechtskontinuität.10 Wolfgang Schäuble deklarierte diesen Umstand als Folge einer „unvollendeten Revolution“. Eine „richtige Revolution hätte das alte sozialistische Recht [...] für null und nichtig erklärt“. Das sei keine Option gewesen, da „radikale Akte für das eigentliche Ziel, die Einheit“ Gefahren heraufbeschworen hätten.11 Diese Feststellung eines Westdeutschen dokumentiert, dass auch schlechtes Recht noch geeignet erschien, Gefahren der Freiheit einzudämmen. Schäuble hatte ja auch Angst, dass die Öffnung der Stasiakten zum Chaos führen würde. 8 Arendt, Vita activa, S. 240. 9 BStU, ZA, MfS, ZAIG 17085. 10 Vgl. Wilfried Fiedler, Recht als überflüssige Dimension ? Zur Bedeutung rechtlicher Faktoren für die Wiedervereinigung Deutschlands. In : Karl Eckart / Jens Hacker / Siegfried Mampel ( Hg.), Wieder vereinigung Deutschlands, Berlin 1998, S. 285–306. 11 Wolfgang Schäuble, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart 1991, S. 16.

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Aber solche Sorgen beseelten nicht nur einen westdeutschen Politiker, sondern auch die Ostdeutschen selbst. Auch in der Revolution sollte alles geregelt werden, was sich irgendwie regeln ließ und was irgendwie in geordneten Bahnen laufen konnte. Es wurde gestreikt, aber sehr wenig. Und die Opposition schreckte vor einem Generalstreik zurück, als er Anfang Dezember gefordert wurde. Das ändert nichts an der Entschlossenheit der Gesellschaft, sich der Diktatur zu entledigen. Aber es war eben eine „Revolution nach Feierabend“.12 Dafür wurde ein hoher Preis gezahlt, denn nicht nur in den Köpfen, sondern im Recht wurde die DDR nie ganz beseitigt. Vergleichbar verlief auch die Rekonstruktion der Zivilgesellschaft. Beim Zerfall der Herrschaftsstrukturen kam es in wenigen Monaten zu einer fast explosionsartigen Entfaltung der Zivilgesellschaft, die der Revolution einen irreversiblen Charakter verlieh. Es glich einem Aufatmen nach Jahrzehnten des Erstickens aller freien gesellschaftlichen Bewegungen. Ohne die rechtlichen Regelungen abzuwarten, schlossen sich Menschen zusammen, gründeten Vereine, Bürgerinitiativen, veränderten und verselbständigten staatliche Strukturen und Organisationen, offizialisierten informelle Zusammenschlüsse, holten durch jetzt entstehende Interessengemeinschaften lange Entbehrtes nach und schufen Neues. So viele Anfänge gab es noch nie. In der Erinnerung ist dieser völlig spontane und auch nicht homogen verlaufende Prozess als „Herbstgesellschaft“ bewahrt worden, als ein kultureller und sozialer Goldgräberrausch. Die politische Voraussetzung der Rekonstruktion von Gesellschaft war die erzwungene Trennung von Partei, Staat und Gesellschaft. Eine Reihe von Massenorganisationen der SED, oft bis zur Bedeutungslosigkeit zusammengeschmolzen, verselbständigte sich, manchmal aufgepäppelt durch finanzielle Spritzen der Modrow - Regierung. Es konnten sich Seilschaften bilden, auch Selbstbedienung ist Selbstbestimmung. Ich besitze die erste Ausgabe der „Thüringer Allgemeine“ vom 15. Januar 1990, die aus der SED - Zeitung „Das Volk“ her vorgegangen war. Am Vortag hatte eine Vollversammlung der Redakteure und Verlagsmitarbeiter in einer Urabstimmung die Unabhängigkeit der Zeitung erklärt und einen neuen Redaktionsrat gewählt. Dieser Schritt war nicht leicht, denn die SED - PDS wehrte sich gegen ihre Enteignung. Darüber berichtete die Redaktion : „Mit dem Versuch, die Rechtlichkeit eines solchen Schrittes anzuzweifeln und Druck auszuüben, sollten Redaktion und Verlag vom alten Herausgeber daran gehindert werden, ihre Unabhängigkeit zu erstreiten. Die neue Zeitung wirkt für Rechtsstaatlichkeit. Aber gerade daraus erwächst das moralische Recht, das auch die große Volksbewegung im Lande für sich in Anspruch nahm, Diktate zu brechen.“13 Die revolutionäre Redaktion nahm sich die Freiheit und berief sich auf das moralische Recht der Revolution, der großen Volksbewegung, und auf die künf12 So Margot Friedrich, Eine Revolution nach Feierabend. Eisenacher Tagebuch eine Revolution. Im Anhang die vollständigen Protokolle des Runden Tisches in Eisenach, Marburg 1991. 13 Thüringer Allgemeine vom 15. 1. 1990, S. 1.

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tige Rechtsstaatlichkeit. Auch hier liegt ein Beispiel für selbstbestimmtes politisches Handeln vor, das so schnell wie möglich neue Rechtsbeziehungen stiften will.

3.

Die „Revolutionsräte“ und ihr Geist

Nach Hannah Arendt entstehen im revolutionären Zusammenhandeln ursprüngliche Zusammenschlüsse, die sie entsprechend den Erfahrungen mit der ungarischen Revolution als „Räte“ bezeichnete. Diese Räte seien gleichsam die Keimzelle neu gegründeter demokratischer Institutionen, die in die Gründung demokratischer Republiken einmünden können. Arendt unterschied zwischen der Rebellion, welche die Befreiung zu bringen vermag,14 und der Revolution, die auf die „Gründung der Freiheit“ hinausliefe,15 der Etablierung von Institutionen, die Freiheit und das Recht garantierten. Nur so können Gewalt und Chaos durch Vertrag und Recht eingedämmt werden. Tatsächlich entstand 1989 eine Vielfalt von neuen Institutionen, von den Bürgerkomitees bis zu den Runden Tischen, die nach dem demokratischen Strukturprinzip der Machtteilung arbeiteten. Es gibt ein schönes Buch mit dem Titel „Das wunderbare Jahr der Anarchie“.16 Es beschreibt an vielen einzelnen Beispielen die Selbstermächtigung der ostdeutschen Gesellschaft. Am Buch ist nur der Titel falsch. Was hier beschrieben wird, hat mit Anarchie überhaupt nichts zu tun, im Gegenteil. Hier ging es gerade darum, die diktatorische Strukturlosigkeit durch verlässliche Rechtsbeziehungen zu über winden und die Freiheit institutionell zu sichern. In wenigen Wochen beteiligten sich Tausende Menschen in allen Regionen an der Kontrolle der von der SED beherrschten Verwaltungen. Dieser Prozess zeigt die gesellschaftliche Tiefenwirkung der Revolution. Dazu wurden neue Strukturen geschaffen, für die sich schnell die Bezeichnung „Runder Tisch“ durchsetzte, obwohl sie sich unterschiedlichen Aufgaben stellten und die Zusammensetzung ebenfalls verschiedenen Modalitäten folgte. Die ersten neuen kommunalen Instanzen waren aus den Dialogangeboten bzw. Rathausgesprächen im Oktober hervorgegangen. Solche Konsultativgruppen, Bürgerkomitees, Paritätischen Kommissionen oder Dialogforen hatten noch um ihre Anerkennung ringen müssen. Schon vor dem Zentralen Runden Tisch in Berlin bildeten sich im November in den Regionen erste Runde Tische. Bald luden auch die Räte der Bezirke, der Kreise und vieler Kommunen zu Runden Tischen ein, die bis 14

Zum Bezug zwischen der Revolutionstheorie von Hannah Arendt und der Revolution 1989 vgl. Bernward Baule, Freiheit und Revolution. Die Bedeutung von 1989 für die Berliner Republik. In : ders. ( Hg.), Hannah Arendt und die Berliner Republik, Berlin 1996, S. 82–106. 15 Hannah Arendt, Über die Revolution, 2. Auf lage München 1974, S. 184. 16 Christoph Links / Sybille Nitsche / Antje Taffelt, Das wunderbare Jahr der Anarchie. Von der Kraft des zivilen Ungehorsams. 1989/90, Berlin 2004.

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Januar installiert wurden. Sie wollten damit ihrem Autoritätsverlust entgegenwirken. Bisweilen versuchten staatliche Einlader, die Runden Tische zu instrumentalisieren, stellten Bedingungen und luden nur Teilnehmer ein, die sich zum Sozialismus oder den bisherigen Strukturen bekannten. In den ersten Wochen mussten sich die Oppositionellen und Kirchenleute gegen Obstruktionen, Täuschungen, falsche Auskünfte oder die Thematisierung von Nebensächlichkeiten wehren. Der Informationsvorsprung und die fachliche Kompetenz der staatlichen Organe wurden ausgenutzt, um Zuständigkeiten und Einfluss zu wahren. Die Neuen konnten sich allerdings auf die anhaltenden Demonstrationen stützen. Es bildete sich eine machtpolitische Doppelstruktur auf allen Ebenen, in der schließlich die Runden Tische seit Januar 1990 ein Übergewicht bekamen. Nur in wenigen kleineren Städten scheiterten die Runden Tische, weil die Gegenkräfte zu schwach waren. Die kirchlichen Vertreter verschiedener Konfessionen nahmen vielfach eine her vorragende Stellung ein und beanspruchten bisweilen ein eigenes Stimmrecht. Sie verfügten über Sprachfertigkeiten und nahezu allein über Erfahrungen mit demokratischen Verfahren. Mit der Verselbständigung der Blockparteien löste sich die Polarisierung zwischen alten und neuen Kräften auf. An vielen Runden Tischen nahmen auch Vertreter der Massenorganisationen teil, etwa FDJ und FDGB, auch Vertreter der Nationalen Volksarmee, der Volkspolizei oder der Wirtschaft. Bisweilen wurden diese auch ausgeschlossen. Auf oppositioneller Seite waren neben den landesweiten Oppositionsbewegungen auch regionale und örtliche Initiativen oder Zusammenschlüsse vertreten. Freilich waren die Vorgehensweisen der neuen Kräfte sehr unterschiedlich. Die meisten Runden Tische kontrollierten effektiv die Verwaltungen. In mehreren Städten erteilten die Runden Tische den Räten der Bezirke bzw. Kreise und Städte Arbeitsaufträge. In anderen, wie in Dresden, Plauen oder Gotha, übernahmen sie die Stadtleitung oder dominierten die alten Parlamente. In mehreren Orten gab es provisorische und vorfristige Kommunalwahlen. Viele Räte und Bürgermeister traten zurück und überließen das Feld den Runden Tischen. Ein origineller Sonderfall war die Entmachtung der SED in dem katholischen Landkreis Eichsfeld. Hier stürzte die Eichsfelder CDU mit der Rückendeckung großer Demonstrationen den Vorsitzenden des Rates des Kreises von der SED. Am 7. Dezember wurde der CDU - Kandidat Werner Hennig vom Kreistag zum Vorsitzenden des Rates des Kreises Heiligenstadt gewählt. Auch weitere wichtige Posten besetzte sofort die CDU. Durch diesen „Putsch“ konnte Henning Kraft seines Amtes bald darauf alle Grenzübergänge öffnen und die letzten Machtpositionen der SED eliminieren. Die Eichsfelder CDU nannte sich nur noch „CDU Eichsfeld“ und wollte sich der West - CDU anschließen. Schließlich kündigte Hennig an, das Eichsfeld im Alleingang an das Bundesland Niedersachsen anzuschließen. Aus dem Plan wurde allerdings nichts.17 17

Vgl. Sybille Nitsche, Von einem der auszog, Verbotenes zu tun. In : Links / Nitsche / Taffelt, Das wunderbare Jahr der Anarchie, S. 115–119.

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Zu den Aufgaben der neuen Institutionen gehörten die Ordnung der Hinterlassenschaften des MfS und anderer Herrschaftsinstrumente, das Entgegennehmen von Hilfsgesuchen und Beschwerden über das tausendfach erlebte SED Unrecht, das Bearbeiten regionaler Wirtschaftsprobleme oder der Mängel des Gesundheitswesens und des Bildungssystems. Alle verfolgten das Ziel, die SED aus dem gesellschaftlichen Organisationsgeflecht zu lösen und vor allem die kommenden Wahlen vorzubereiten. Die Runden Tische sind in die Erinnerungskultur mit ambivalenten Bewertungen eingegangen. Später klagten Beteiligte, dass sie getäuscht und „über den Tisch gezogen“ worden seien. Anderen erschienen die Runden Tische in einem günstigeren Licht. Nachdem die Abwehrkämpfe der alten Machtstrukturen überwunden waren, setzte sich oft eine Konsensdemokratie mit einstimmiger Beschlussfassung durch. Die Erfahrung der Demokratisierung, die wachsenden Möglichkeiten der Selbstbestimmung und die freie Sprache wurden als Beglückung erfahren. Bei allem Ernst machte die Politik den Menschen auch Spaß. Mancherorts wollten Runde Tische weiterarbeiten, als es schon ordentliche Wahlen gegeben hatte.

4.

Wie anders, als im Westen ?

Der rasante Prozess der Selbstermächtigung hatte generell die umfassende Demokratisierung zum Ziel. Dazu brauchten die Akteure Orientierungen, zumal es bislang fast keine demokratischen Erfahrungen gab. Freilich waren Oppositionellen und Kirchenleuten die synodaldemokratischen Verfahren bekannt. Mindestens in einem Fall ist auch eine Kommunalwahl im Winter 1989/1990 analog der Wahlordnung für Gemeindekirchenräte durchgeführt worden. Zudem gab es auch idealistische basisdemokratische Konzepte, die im Neuen Forum und bisweilen an den Runden Tischen eine Rolle spielten. Die wichtigste Orientierung aber stellte die medial vermittelte bundesdeutsche Demokratie dar. Das war schon im Juni 1953 so und wiederholte sich 1989/1990. An dieser Stelle soll nur flüchtig an die starke nationale Fixiertheit der Ostdeutschen erinnert werden : Der Jubel vom 9. November 1989, die vielen neuen oder reanimierten Partnerschaften der Kommunen mit Westdeutschen und die gesamte Einheitseuphorie. Alles sollte aus dem Westen kommen. Natürlich auch das Geld. Als es soweit war, verschmähten die Ostdeutschen sogar „unser gutes altes Konsum - Einheits - Brot“ und kauften allerlei Zwiebel - Sonnenblumenkern - Bauern - Gesundheits - Brot aus dem Westen. Und selbstverständlich wollten sie auch Bananen. Aber eben nicht nur. Am Westen orientierten sich die DDR - Bürger materiell, aber auch politisch, personell und ideell. Sie haben trotz aller bald einsetzenden Wessi - Ossi - Konkurrenz unverdrossen westdeutsche Politiker geschätzt und gewählt, einen sächsischen Ministerpräsidenten oder einen Leipziger Oberbürgermeister. Und sie

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haben auch die westdeutschen Parteien haben wollen. Sie lehnten bald die klangvollen Selbsterklärungsnamen der Bürgerbewegungen ab : Neues Forum, Demokratischer Aufbruch, Demokratie jetzt. Ab Dezember gründeten sie viele kleine neue Parteien. Zuerst wurde bekannt, dass der Leipziger Pfarrer an der Thomaskirche, Hans - Wilhelm Ebeling, die CSPD ( Christlich - Sozialdemokratische Partei Deutschlands ) gegründet hatte. Das klang fast wie große Koalition. Kurz darauf wurde es eindeutiger. Etwa vierzig bis fünfzig neue Parteien entstanden. In ihren symbolträchtigen Abkürzungen mussten mindestens zwei Buchstaben an die westdeutschen Parteien erinnern : DSU, FDU, CDSU, VUS, SBU, DFU, FVP, CSV, FPT usw. Die westdeutschen Parteien haben keine Agenten geschickt, um dies anzuregen. Im Gegenteil : Anfangs gab es Sozialdemokraten im Westen, die keine Schwesterpartei im Osten haben wollten. Auch die bayrische CSU wollte zunächst im Osten kein Pendant. Später haben die westdeutschen Parteien im Osten eingesammelt, was sie fanden. Und die Ostdeutschen haben das gerne mit sich geschehen lassen. Ein westdeutscher Professor hat mich kürzlich öffentlich wegen meines angeblich romantischen Blicks auf die Revolution gescholten. Es stehe nicht einmal fest, ob das überhaupt eine Revolution war. Fest stünde nur, dass die DDR zusammengebrochen sei und dass dann die westdeutsche Politik ( und auch er ) gekommen sei. Das ist ebenso abwegig wie die These, dass der Westen die DDR kolonisiert hätte. Aber es gibt dennoch offene Fragen. Was ist aus diesem Selbstbestimmungsprozess geworden ? 94 Prozent der Ostdeutschen beteiligten sich an der ersten freien Wahl am 18. März 1990. Heute beteiligt sich nur noch die gute Hälfte an den Wahlen. Dafür gibt es viele Gründe. Ein Grund ist der, dass es damals in der Politik um mehr ging als heute. Heute geht es um die größeren Versprechungen und vielleicht auch um die besseren Konzepte. Damals ging es um die elementare Selbstbestimmung. Let’s go elect – let’s go west !

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Die Runden Tische der Bezirke in der DDR 1989/90 – Instrumente der Demokratisierung in den Regionen ? Francesca Weil

In den Umbruchsjahren 1989/90 entstanden Runde Tische in sechs von sieben ost - und mitteleuropäischen Staaten.1 Auch in der DDR konstituierten sich ein Zentraler Runder Tisch in Berlin und Hunderte Runder Tische in den Kommunen, Kreisen und Bezirken. Hinzu kamen so genannte thematische Runde Tische. Nach heutigem Kenntnisstand war das Netz der Runden Tische in den sächsischen und thüringischen Bezirken am dichtesten.2 Einige thematische Tische setzten ihre Arbeit im vereinigten Deutschland fort. Bis in die Gegenwart bildeten sich zudem zahlreiche neue Runde Tische in Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft. Gelegentlich verweisen die Teilnehmer ausdrücklich darauf, dass es sich um eine als zweckmäßig erkannte Institution handelte, die seit dem Transformationsprozess von 1989/90 in der DDR und anderen mittelosteuropäischen Staaten neue Aktualität gewonnen habe. Die Runden Tische entwickelten sich zum Synonym für einen diskursiv angelegten Politikstil.3 Mit den neuen Runden Tischen und den bis 1989 bekannten Formen von Round - Table - Gesprächen, vor allem im diplomatischen Gebrauch, haben die Runden Tische der DDR und der anderen ost - und mitteleuropäischen Staaten die Gleichberechtigung aller Beteiligten und deren Willen zur Einigung in Sachfragen trotz verschiedener Meinungen gemeinsam. Als Instrumente der Systemtransformation und der Beherrschung von gesamtgesellschaftlichen Krisensituationen stehen die Runden Tische von 1989/90 jedoch einmalig da.4 Diese Gremien verstanden sich nicht als demokratische Einrichtungen, sondern als dringend erforderliche Instrumente der Krisenbewältigung und der 1 2 3 4

Vgl. Michael Richter, Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90, Göttingen 2009, S. 1437. Vgl. Ehrhart Neubert, Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90, München 2008, S. 287. M. E. wird der Begriff „Runder Tisch“ mittlerweile inflationär gebraucht und gelegentlich für Gremien ( auch missbräuchlich ) verwendet, deren Charakter sich von dem der ursprünglichen Institutionen maßgeblich unterscheidet. Vgl. Robert Weiß, Diskussion zu den Vorträgen. In : Der Platz der Kirchen an den Runden Tischen. Hg. von der Gesellschaft zur Förderung vergleichender Staat - Kirche - Forschung e. V., Berlin 2000, S. 21–23, hier 22 f.

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Demokratisierung. Die konkordanzdemokratisch konzipierten Runden Tische trugen dazu bei, eine gewaltfreie Institutionalisierung der Demokratie zu gewährleisten. Sie halfen, Chaos und Gewalt abzuwenden, verhinderten aber – für die Zukunft nicht folgenlos – den „reinen Tisch“ mit den alten Machthabern. Ihre Bedeutung für den Demokratisierungsprozess in der DDR wird deshalb bis heute kontrovers diskutiert. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob und inwieweit die 15 Runden Tische der Bezirke zur Demokratisierung in den Regionen beitrugen. Dabei stehen die drei thüringischen Runden Tische der Bezirke Erfurt, Gera und Suhl exemplarisch im Mittelpunkt.

1.

Bezirke als staatliche Mittelinstanzen

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in der sowjetischen Besatzungszone die fünf Länder Mecklenburg, Sachsen - Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Sachsen gebildet. Aber bereits Anfang Juli 1952 proklamierte die 2. Parteikonferenz der SED den Aufbau des Sozialismus in der DDR. Damit einhergehend beschloss die Parteiführung, den Staatsaufbau dem sog. Demokratischen Zentralismus entsprechend umzugestalten.5 Durch das „Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der Deutschen Demokratischen Republik“ vom 23. Juli 1952 entstanden 217 Kreise, welche man in 14 Bezirke zusammenfasste. Am 7. September 1961 wurde Ost - Berlin durch einen Erlass des Staatsrates der DDR die Funktion eines Bezirkes übertragen und seither als 15. Bezirk mit der Bezeichnung „Hauptstadt Berlin“ geführt. Die Bezirke besaßen keine politische Autonomie wie die Bundesländer oder Selbstverwaltungsrechte wie die bundesdeutschen Kommunen. Es handelte sich um Mittelinstanzen einer hierarchisch - zentralistischen Staatsstruktur, über die die Partei - und Staatsführung der DDR umfangreiche Aufgaben wahrnahm. Oberste Gremien der Staatsmacht in den Bezirken sollten die regionalen „Volksvertretungen“, die Bezirkstage, sein.6 Die Zusammensetzung der Abgeordneten ergab sich durch Wahlen per Einheitslisten. Gewählt wurden Kandidaten der in der Nationalen Front zusammengeschlossenen Blockparteien und Massenorganisationen. Von demokratisch gewählten und damit auch legitimierten Volksvertretungen konnte demnach keine Rede sein. Die Aufgabe der Bezirkstage war es, über Vorlagen, die von der Exekutive, dem Rat des Bezirkes, eingebracht 5

6

Demokratischer Zentralismus bezeichnet ein von Lenin entwickeltes Führungsprinzip kommunistischer Parteien, nach dem a ) Staat und Partei hierarchisch - zentralistisch aufzubauen sind, b ) das Führungspersonal von Partei und Staat von unten nach oben gewählt wird, die Auswahl der zu wählenden Kandidaten jedoch von oben nach unten erfolgt, c ) die Beschlüsse der höheren Organe für die unteren bindend sind und d ) Minderheiten sich einer straffen Parteidisziplin unterordnen müssen. Vgl. Klaus Schubert / Martina Klein, Das Politiklexikon, 4. Auf lage Bonn 2006, S. 125. In Ost - Berlin handelte es sich um den aus Oberbürgermeister und Stadträten bestehenden Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung.

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wurden, abzustimmen. Theoretisch hatten die Abgeordneten der Bezirkstage auch das Recht, eigene Anträge vorzulegen, wovon sie aber kaum Gebrauch machten. Der Rat des Bezirkes wurde vom Bezirkstag gewählt. Die Behörde leitete zwar ein Vorsitzender, die zentrale Person war jedoch der Sekretär des Rates, da er die Kontakte zur SED - Bezirksleitung hielt. Letztere hatte mit ihrem ersten Sekretär, dessen Position weitaus einflussreicher war als die der Ratsmitglieder, die eigentliche Führung bzw. Entscheidungshoheit in allen gesellschaftlichen Bereichen des Bezirkes inne. In der Folge der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 beschloss die Volkskammer am 22. Juli 1990 das Ländereinführungsgesetz, das am 14. Oktober des Jahres in Kraft treten sollte und durch das die Bezirksstruktur aufgelöst und die fünf Länder ( Mecklenburg - Vorpommern, Brandenburg, Sachsen - Anhalt, Sachsen und Thüringen) neu errichtet werden sollten. Durch den Beitritt zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 wurden die Länder allerdings bereits zu diesem Zeitpunkt wieder gegründet. Ost - Berlin, das sich erst kurz zuvor als Stadt eine eigene Verfassung gegeben hatte, vereinigte sich am gleichen Tag mit West - Berlin.7 Die Struktur der Bezirke und ihr Zuschnitt blieb jedoch über die deutsche Wiedervereinigung hinaus bis zur Länderbildung im Spätherbst 1990 unverändert. Im Gegensatz zu den Wahlen zur Volkskammer im März 1990 sowie in den Kreisen und Kommunen im Mai 1990 fanden aufgrund der zu erwartenden Länderbildung in den Bezirken der DDR keine demokratischen Wahlen mehr statt. Lediglich die Bezirkstage lösten sich am 30. Juni 1990 auf. Die Räte der Bezirke nannte man in Bezirksverwaltungsbehörden um. Somit führten die DDR - und kurzzeitig auch die bundesdeutsche Regierung die Bezirksbehörden und ihre Bürokratie mit einigen personellen Veränderungen als eine Art Auftragsverwaltung bis zur Bildung der Länder und ihrer Institutionen fort.

2.

Merkmale der Runden Tische der Bezirke

2.1

Bildung, Initiatoren und Impulsgeber

Seit dem 20. November 1989, als die Diskussion über die Bildung eines Zentralen Runden Tisches der DDR öffentlich wurde, begannen in verschiedenen Kommunen, Kreisen und Bezirken ebenfalls Vorbereitungen zur Bildung Runder Tische.8 Bis Januar 1990 entstanden Hunderte dieser Institutionen auf allen 7

8

Nach den ersten freien Kommunalwahlen nahm am 30. Mai 1990 in Ost - Berlin der neue Magistrat seine Arbeit auf. In der Folgezeit wurde die Verwaltung in den beiden Stadthälften vereinheitlicht. Nach der Wiedervereinigung amtierten für eine Übergangsphase bis zu den ersten Gesamtberliner Wahlen am 2. Dezember 1990 die Parlamente und der Senat von Westberlin sowie der Magistrat von Ostberlin weiter. Der neue Gesamtberliner Senat nahm am 11. Januar 1991 seine Arbeit auf. Der Runde Tisch von Ostberlin beendete seine Tätigkeit Ende Mai 1990. Vgl. Richter, Die Friedliche Revolution, S. 982; Neubert, Unsere Revolution, S. 286.

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staatlichen Ebenen. Die 15 Runden Tische der Bezirke bildeten sich erst nach der Konstituierung des Zentralen Runden Tisches, zwischen dem 7. und 21. Dezember 1989. Der Runde Tisch des Bezirkes Gera tagte das erste Mal am 9. Dezember, die der Bezirke Erfurt und Suhl vier Tage später. Die Bildung dieser Tische ist nicht in jedem Fall als Reaktion auf den Zentralen Runden Tisch, sondern auch auf die Situation vor Ort zu sehen. Zu diesem Zeitpunkt versuchte mancher regionale Funktionär von SED und Staatsapparat – wie beispielsweise in Erfurt –, die Macht auf diese Weise erhalten zu können. Vertreter der neuen Gruppierungen favorisierten dagegen die Runden Tische, weil sie sich selbst nicht für regierungsfähig hielten. Initiatoren waren häufig Kirchenvertreter, Mitglieder der neuen Gruppierungen, aber auch Funktionäre der Altparteien oder der Bezirksräte. So riefen beispielsweise in den Bezirken Erfurt und Suhl Kirchenvertreter die Runden Tische ins Leben. In Erfurt verhinderte deren Einladung, dass die SED - Bezirksleitung die Initiative zu ihren Gunsten an sich riss.9 Die Einladung der Kirchenvertreter in Suhl überschnitt sich wiederum mit einer gleichen Offerte der CDU. Allerdings erreichte das Schreiben der Kirchenvertreter die Eingeladenen eher, so dass die Parteien und Gruppierungen dieser Aufforderung nachkamen. In Suhl spielte außerdem der Bezirksstaatsanwalt als Impulsgeber eine nicht unmaßgebliche Rolle.10

2.2

Zusammensetzung

An den Runden Tischen der Bezirke gestaltete sich die Zusammensetzung der teilnehmenden Parteien und Gruppierungen sehr unterschiedlich. Gemeinsam ist allen Tischen, dass die jeweiligen Akteure Zusammensetzung und Umfang selbst aushandelten. An den meisten Tischen war man um Ausgewogenheit bemüht; SED - PDS und Blockparteien sollten keine Stimmenmehrheit besitzen. Das traf aber nicht auf jeden Bezirkstisch zu. In seiner Zusammensetzung wich der Runde Tisch des Bezirkes Erfurt sowohl vom Vorbild des Zentralen Runden Tisches als auch von dem Aufbau anderer Runder Tische ab. Auf eine paritätische Verteilung der Sitze zwischen etablierten und neuen Kräften war von den Kirchen in der Einladung nicht geachtet worden.11 So erhielten während der 1. Sitzung des Runden Tisches des Bezirkes Erfurt am 13. Dezember 1989 vorerst die Bürgerinitiative „Frauen für Veränderung“, der Demokratische Aufbruch, das Neue Forum, die SDP von den neuen Gruppierungen und Parteien und CDU, DBD, LDPD, NDPD und SED als etablierte Parteien das Stimm9 Vgl. Stephan Schnitzler, Der Umbruch in der DDR auf kommunalpolitischer Ebene. Eine empirische Studie zum Demokratisierungsprozess von 1989/90 in der Stadt Erfurt, Göttingen 1996, S. 205 ff.; Inter view der Autorin mit Dr. Heino Falcke am 4. 3. 2009 ( Slg. HAIT, S. 1). 10 Vgl. Der Runde Tisch des Bezirkes Suhl. Persönliche Aufzeichnungen von Erhard Kretschmann, Manuskript, S. 1 f. 11 Vgl. Schnitzler, Umbruch, S. 206.

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recht.12 Kurz darauf gestand das Gremium noch der Grünen Partei und der ab dem 19. Dezember als thüringische Regionalgruppe präsenten Vereinigten Linken den Status stimmberechtigter Teilnehmer zu.13 Von einer gewissen Ausgewogenheit in der Zusammensetzung konnte dennoch die Rede sein : Immerhin saßen von Beginn der Gespräche an sechs moderierende Kirchenvertreter am Tisch, die alle über ein Stimmrecht verfügten. Bei den Vertretern der neuen Oppositionsgruppen gab es – wie an vielen Runden Tischen – eine personelle Nähe zum Bürgerkomitee.14 Wie in allen Bezirksstädten arbeiteten die hiesigen Bürgerkomitees ansonsten jedoch sehr eigenständig. Verbindungen waren generell wenig institutionalisiert, sondern gingen häufig auf persönliche Beziehungen zurück. Abgesehen von der Personalunion einiger Teilnehmer, existierten weder feste Bindungen der drei Bürgerkomitees an die Runden Tische der Bezirke noch Formen der Unterordnung. Es gab in erster Linie einen Konsens und Zusammenarbeit bei Fragen, welche die Auf lösung der Behörden des MfS / AfNS in den Regionen betrafen.15 An den Runden Tischen stellte sich aber auch schnell heraus, dass eine ausgewogene Zusammensetzung für die zu treffenden Entscheidungen weniger relevant als erwartet war. Zum einen veränderte sich die politische Positionierung der ehemaligen Blockparteien rasant; an den Tischen wurden alte Funktionäre der Blockparteien durch neue, reformwillige ersetzt.16 Zum anderen ging es in den Debatten in erster Linie um eine gemeinsame Konsensfindung. Das bedeutete, dass die Teilnehmer so lange diskutierten, bis alle oder die meisten den jeweiligen Beschlüssen zustimmen konnten. Darüber hinaus achteten die Moderatoren vieler Tische darauf, dass „die neuen Initiativen, d. h. die basisdemokratischen Kräfte zum Zuge“ kamen und die Zahl der Stimmberechtigten übersichtlich blieb.17 An den Bezirkstischen, an denen kein Augenmerk auf eine sinnvolle Begrenzung der Stimmberechtigten gelegt wurde, war die Arbeit angesichts der Vielzahl von vertretenen Parteien bzw. Gruppierungen eher als konfus zu bezeichnen. Im Gegensatz zum Zentralen waren an den regionalen Tischen die staatlichen Verantwortlichen zumeist von Anfang an anwesend. In Erfurt verfügte ein Vertreter des Rates des Bezirkes sogar über ein Stimmrecht.18 Hierbei handelte 12 Vgl. Protokoll der Sitzung des Runden Tisches des Bezirkes Erfurt vom 13. 12. 1989, S. 1 ( Slg. Stephan Schnitzler, Bonn ). 13 Vgl. Protokolle der Sitzungen des Runden Tisches des Bezirkes Erfurt vom 19. 12. 1989, S. 2, vom 3. 1. 1990, S. 1 f., und vom 31. 1. 1990, S. 1 f. ( ebd.). 14 Vgl. Schnitzler, Umbruch, S. 207. 15 Vgl. Interview der Autorin mit Dr. Heino Falcke am 4. 3. 2009 ( Slg. HAIT, S. 2). 16 Vgl. Wilfried Glöde, Zeitzeugeninterviews mit und Berichte von Mitgliedern des Runden Tisches Erfurt. Interview mit Christine Lieberknecht. In : Die „Runden Tische“ der Bezirke Erfurt, Gera und Suhl – als vorparlamentarische Gremien im Prozess der Friedlichen Revolution 1989/90. Hg. vom Thüringer Landtag, Erfurt 2009, S. 201–224, hier 215. 17 Vgl. Interview der Autorin mit Dr. Heino Falcke am 4. 3. 2009 ( Slg. HAIT, S. 1). 18 Vgl. Protokolle der Sitzungen des Runden Tisches des Bezirkes Erfurt vom 14. 2. 1990, S. 4 ( Slg. Stephan Schnitzler, Bonn ).

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es sich um eine Entscheidung, die an sehr wenigen Runden Tischen getroffen wurde. Die dauerhafte Vollmitgliedschaft wurde einem Erfurter Ratsvorsitzenden zugestanden, der nach dem plötzlichen Tod seines Vorgängers die Funktion amtierend inne hatte und als pragmatisch und reformwillig galt.19 An den Sitzungen der Bezirkstische nahmen darüber hinaus die Regierungsbeauftragten zur Auf lösung der Staatssicherheit der Modrow - Regierung und später die Bezirksbevollmächtigten der de Maizière - Regierung teil. Aber – ähnlich wie beim Zentralen Runden Tisch – führten erst der Autoritätsverlust staatlicher Institutionen und der Zerfall der Handlungsfähigkeit der Räte und „Volksvertretungen“ auf allen Ebenen im Januar 1990 dazu, dass die Modrow Regierung die Tätigkeit von Runden Tischen in den Regionen tatsächlich anerkannte. Von der de Maizière - Regierung erfuhren sie allerdings nur wenig bzw. keine Akzeptanz mehr. Im Zusammenhang mit den am 2. Mai 1990 beschlossenen strukturellen Veränderungen der Bezirksbehörden veranlasste die de Maizière - Regierung schließlich, Beschlüsse der letztlich noch verbliebenen Runden Tische in den Bezirken nicht mehr als verbindlich anzusehen. Außerdem verließen spätestens zu diesem Zeitpunkt Parteivertreter der Wahlsieger zahlreiche Runde Tische oder blockierten wie z. B. die CDU im Bezirk Suhl die Weiterarbeit des Runden Tisches.20

2.3

Selbstverständnis und Legitimation

Nur wenige Runde Tische der Bezirke übernahmen die Grundsatzerklärung des Zentralen Runden Tisches. Einige regionale Tische – wie der des Bezirkes Suhl – formulierten eigenständig ein Selbstverständnis,21 andere beschränkten sich auf eine in der Geschäftsordnung enthaltene Präambel, die sich in erster Linie auf ihre Funktionen vor Ort bezog. Für andere wiederum war das prinzipielle Selbstverständnis überhaupt kein Diskussionsgegenstand. Am Bezirkstisch von Erfurt verabschiedeten die Teilnehmer am 19. Dezember 1989 einstimmig ein später veröffentlichtes „Wort“, das „in unverkennbar kirchlichem Duktus“22 einem Selbstverständnis sehr nahe kam : „Die Konflikte unserer Gesellschaft sind am Runden Tisch vertreten und werden an ihm thematisiert. Wir machen die Erfahrung, dass ihre ehrliche und sachliche Bearbeitung weiterführt. Trotz gegensätzlicher Positionen in vielen Fragen können wir in der konkreten politischen Verantwortung für unseren gemeinsamen Alltag zusammenwirken. Das ermutigt uns, und diese Ermutigung wollen wir weiter19 Vgl. Thüringer Allgemeine vom 5. 2. 1990. Zit. in Schnitzler, Umbruch, S. 256. 20 Vgl. Peter Wurschi, ... und sie wachten auf in Nordrhein - Westfalen ! Die Entwicklung der Opposition in Suhl und ihr Wirken im Herbst 1989, Zella - Mehlis 2002, S. 92. 21 Vgl. Festlegungsprotokoll über die Beratung des Runden Tisches des Bezirkes Suhl vom 19. 12. 1989 ( Thüringisches Staatsarchiv Meiningen, Bezirkstag / Rat des Bezirkes Suhl, Nr. K 1399, Bl. 39). 22 Schnitzler, Umbruch, S. 209.

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geben. Alle Mitbürgerinnen und Mitbürger fordern wir auf, den Weg der gewaltfreien Erneuerung unserer Gesellschaft gewaltfrei und konstruktiv fortzusetzen, auch da, wo er mühsam wird, wo noch altes Denken und die Folgen der Vergangenheit zu überwinden sind. Die demokratische Ordnung, die wir aufbauen wollen, müssen wir jetzt schon in praktizierter politischer Alltagsverantwortung vorwegnehmen. Dazu gehört auch die faire Zusammenarbeit zwischen den Bürgern und den staatlichen Stellen und der Volkspolizei.“23 Demnach verstanden die Teilnehmer des Runden Tisches des Bezirkes Erfurt ihr Gremium vor allem als Plattform für Gespräche zwischen den etablierten Parteien und den neuen Parteien und Initiativen. Dadurch wollte man dazu beitragen, das Machtvakuum zu überbrücken und den politischen Umbruchsprozess vor allem friedlich mit zu gestalten. In diesem Kontext galt es, Probleme vor Ort, in der Region ( wenn auch nur ansatzweise oder vorübergehend ) zu lösen, um mitzuhelfen, „die Republik durch den Winter zu bringen“.24 Wenn auch nur indirekt, kann man dem Text auch entnehmen, dass sich der Runde Tisch des Bezirkes Erfurt als Übergangsinstitution bis zur Schaffung demokratischer Strukturen verstand. Er sollte diese Funktion lediglich bis zu den demokratischen Wahlen übernehmen und in der krisenhaften Situation helfen, das Alltagsleben zu sichern.25 Heino Falcke meinte rückblickend : „Wir wollten nicht Macht ausüben, sondern es sollten Konflikte bearbeitet werden. Es sollten Gespräche stattfinden, bei denen man zu Lösungen kommt.“26 Letztendlich ging es nicht nur um die Formulierung eines Selbstverständnisses an sich, sondern darum, ob die Teilnehmer ein solches überhaupt verinnerlicht hatten und danach handelten. So schränkte beispielsweise die lange Suche nach der „Selbstfindung“ am Runden Tisch des Bezirkes Suhl seine Handlungsmöglichkeiten gegenüber dem Rat des Bezirkes ein und ließ diffizilen Machtkämpfen am Tisch freien Raum.27 Die Frage nach ihrer Legitimation stellte sich nicht an allen regionalen Tischen, obwohl den meisten Beteiligten dieses Defizit bewusst war. An einigen Tischen wurde diese Frage gar nicht angesprochen. Manche Akteure meinten, sie hätten zwar keine formale, aber eine innere Legitimation gehabt.28 Außerdem fühlten sie sich durch die Veränderungen fordernde Bevölkerung legitimiert, auf die Entscheidungen der Administration Einfluss zu nehmen. Aber vor allem dabei spielte die fehlende demokratische Legitimation eine nicht zu unterschätzende Rolle. 23 „Wort“ des Runden Tisches vom 19. 12. 1989 ( Slg. Stephan Schnitzler, Bonn ). 24 Heino Falcke, Ohne Zögern für die Fortsetzung des kirchlichen Amtes entschieden. In: Menschen zur Wendezeit in Thüringen. Hg. vom Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Bad Berka 2004, S. 47–51, hier 50. Vgl. Interview der Autorin mit Dr. Heino Falcke am 4. 3. 2009 ( Slg. HAIT, S. 4). 25 Vgl. Das Volk vom 15. 12. 1989, S. 2. 26 Interview der Autorin mit Dr. Heino Falcke am 4. 3. 2009 ( Slg. HAIT, S. 2). 27 Vgl. Peter Wurschi, Akteure an den Runden Tischen der Bezirke 1989/90. Tagung in Dresden, 19. April 2008. In : Deutschland Archiv, 41 (2008), S. 715–718, hier 716. 28 Vgl. Interview der Autorin mit Erhard Kretschmann am 18. 4. 2008 ( Slg. HAIT, S. 5).

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Arbeitsweise und Aufgaben

Die regionalen und lokalen Runden Tische kamen im Laufe ihres Bestehens durchschnittlich neun - bis zwanzigmal zusammen und tagten in der Regel zwischen acht bis zwölf Stunden.29 Viele dieser Gremien arbeiteten wie der Zentrale Runde Tisch mittels einer Geschäftsordnung. Während beispielsweise am Bezirkstisch von Erfurt die Geschäftsordnung des Zentralen Runden Tisches übernommen wurde, entwarf man in Gera eine eigene.30 Die Bezirkstische schufen außerdem analog zum Berliner Gremium Arbeitsgruppen oder setzten für bestimmte Themen eigene Tische ein, so beispielsweise in Erfurt die Runden Tische zu Bildungsfragen und zur Ökologie. Gera wies in Hinblick auf seine Arbeitsweise eine Besonderheit auf. Hier hatte sich parallel zur Konstituierung des Tisches eine so genannte Vorbereitungsgruppe – aus sechs Personen bestehend – zusammengefunden. Ihr gehörten der Vorsitzende des Rates des Bezirkes, der Chef der Bezirksdirektion der Volkspolizei und der Leiter der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit an. Hinzu kamen der von Modrow eingesetzte Regierungsbevollmächtigte sowie je ein Vertreter der CDU und der SDP. Die Gruppe tagte regelmäßig vor den Sitzungen des Runden Tisches und „schaute, was notwendig ist, was machbar ist und was zu erfolgen hat“. Sie verständigte sich im Vorfeld und ohne Wissen der anderen Rundtischteilnehmer darauf, was am Runden Tisch beschlossen werden sollte. Dafür entschieden sie nicht nur über die Tagesordnungspunkte, sondern aus taktischen Gründen auch über den Verlauf der Sitzungen.31 Ihre Vorüberlegungen begründeten sie damit, dass die staatliche Verwaltung am Runden Tisch nur durch das Protokoll vertreten gewesen sei, kein Stimmrecht und dadurch nur einen begrenzten Einfluss besessen habe. Was „verwaltungsseitig wichtig und notwendig“ gewesen sei, habe man deshalb im Vorfeld klären müssen, damit es am Runden Tisch nicht „durchfalle“.32 Die Zeit von drei bis maximal sieben Monaten war ein knapper Zeitraum, in dem viele Themen und Probleme diskutiert, jedoch oft nicht kurzfristig oder endgültig gelöst werden konnten. Die wichtigsten Aufgaben der 15 Bezirkstische bestanden in der dringend erforderlichen Begleitung der Arbeit der Bürgerkomitees zur Auf lösung der Bezirksstrukturen des Amtes für Nationale Sicherheit (der Nachfolgeinrichtung des MfS ),33 in der Diskussion bezirkspezifischer Themen und der Vorbereitung der Wahlen. 29 Vgl. Friedrich Winter ( Hg.), Die Moderatoren der Runden Tische. Evangelische Kirche und Politik 1989, Leipzig 1999, S. 18. 30 Vgl. Entwurf zur Geschäftsordnung des Runden Tisches ( Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt, Persönlicher Bestand Tilo Wetzel, Nr. 5). 31 Vgl. Interviews der Autorin mit Dr. Helmut Luck und Tilo Wetzel am 21. 4. 2008 ( Slg. HAIT, S. 5). 32 Vgl. ebd. 33 Vgl. Tobias Hollitzer, Der Rollen - und Funktionswandel von Aufarbeitungsinitiativen seit der friedlichen Revolution 1989/90 am Beispiel des Bürgerkomitees Leipzig. In : Materialien der Enquete - Kommission „Überwindung der Folgen der SED - Diktatur im

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Die Initiativen und Vorarbeiten des Runden Tisches des Bezirkes Suhl für das Gelingen demokratischer Wahlen unterschieden sich weitreichend von denen der anderen 14 Gremien. Hier initiierten die Teilnehmer im Februar 1990 ein „Wahlforum“, auf dem alle Parteien vertreten waren und öffentlich ihre Standpunkte präsentierten.34 Da viele Bürger aufgrund der Parteienvielfalt nicht gewusst hätten, wen sie wählen sollen, hatte der Vertreter der Evangelischen Kirche am Runden Tisch, Erhard Kretschmann, bereits Ende Januar vorgeschlagen, themenbezogene Foren zu veranstalten, auf denen sich alle Parteien Bürgerfragen stellen konnten. Der mit drei Stimmenthaltungen angenommene Vorschlag wurde schließlich vom Runden Tisch auf den Weg gebracht.35 Darüber hinaus stellte das am Suhler Runden Tisch angesiedelte Bürgerkomitee beim Rat des Bezirkes den regionalen Wahlleiter sowohl für die Volkskammer - als auch für die Kommunalwahl.36 Im Gegensatz zum Verlauf in allen anderen Bezirken nahm man hier dem Rat des Bezirkes die Führungsrolle bei den Wahlvorbereitungen aus der Hand. Einigen regionalen Tischen kam außerdem eine besondere Bedeutung beim Übergang von der zentralstaatlichen Verwaltung der SED - Diktatur zur föderativen Struktur des vereinten Deutschland zu. Das traf auf die Bezirkstische von Gera, Suhl und Erfurt in diesem Ausmaß nicht zu, auch wenn vor allem in Erfurt daran Interesse bestanden hat und Initiativen geplant wurden. Am Runden Tisch des Bezirkes Suhl kam der Gedanke, sich an den Vorbereitungen zur Gründung des Landes Thüringen zu beteiligen, nach Ablehnung der ersten Erfurter Initiative im Januar 1990 offenbar nicht mehr auf.37 Ebenso erinnern sich Akteure vom Runden Tisch des Bezirkes Gera, dass das Thema Länderbildung erst mit der Gründung des Politisch - Beratenden Ausschusses zur Bildung des Landes Thüringen in ihren Focus geriet.38 Hinzu kam, dass sich der CDU Landesvorstand nach der Volkskammerwahl und dem Wahlsieg der „Allianz für Deutschland“ deutlich gegen einen von den Bezirkstischen avisierten Runden Tisch Thüringen, der die Landesbildung vorbereiten sollte, aussprach.39

34 35 36 37 38 39

Prozess der deutschen Einheit“. Hg. vom Deutschen Bundestag, Baden - Baden 1999, Band VII, S. 228–687, hier 305 ff. Vgl. Interview der Autorin mit Ehrhard Kretschmann vom 18. 4. 2008 ( Slg. HAIT, S. 2). Vgl. Festlegungsprotokoll über die Beratung des Runden Tisches des Bezirkes Suhl am 30. 1. 1990 im Rathaussaal des Rates der Stadt Suhl ( Thüringisches Staatsarchiv Meinigen, Bezirkstag / Rat des Bezirkes Suhl, K 1399, S. 3). Vgl. Brigitta Wurschi, Das Bürgerkomitee des Runden Tisches des Bezirkes, Manuskript eines Vortragstextes, S. 5. Vgl. Wurschi, Akteure an den Runden Tischen, S. 716. Vgl. Interview der Autorin mit Dr. Helmut Luck und Tilo Wetzel am 21. 4. 2008 ( Slg. HAIT, S. 8 f. ). Fortsetzung der Thematik unter 2.7 : Das Ende der Tätigkeit.

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Atmosphäre und Moderation

Zum einen demonstrierten die Rundtischteilnehmer auf überzeugende Art und Weise die Geltungskraft parlamentarischer Regeln.40 Zum anderen waren an den Tischen – wie am Zentralen Runden Tisch und entgegen allen Mythen – auch alle potentiellen Schwächen des Parlamentarismus wie z. B. hoch differenzierte Machtkämpfe, mangelnde Transparenz, ungenügende Zurechenbarkeit von Entscheidungen sowie Lobbyismus anzutreffen.41 In Gestalt ehemaliger inoffizieller Mitarbeiter ( IM ) und „Offiziere im besonderen Einsatz“ ( OibE ) saß das Ministerium für Staatssicherheit bzw. seine Nachfolgeeinrichtung in vielen Gremien mit am Tisch. Vertreter am Runden Tisch mit besonderem MfS - Hintergrund hat es auch in Thüringen gegeben, beispielsweise den Erfurter Regierungsbeauftragten zur Auf lösung der Staatssicherheit der Modrow - Regierung Bernhard Schenk. Er war seit dem 5. Dezember 1989, dem Tag der Besetzung der MfS - Bezirksverwaltung, in Erfurt und laut eigener Aussage direkt vom DDR - Landwirtschaftsministerium gekommen. Schenk – seit der zweiten Sitzung als Dauerteilnehmer am Runden Tisch des Bezirkes Erfurt präsent – gab sich kooperativ. Die Protokolle des Tisches belegen sein „nicht unbeachtliches Agieren“ in der „Stasi - Frage“. Wie in anderen Fällen auch wurde den Bürgerrechtlern erst später bekannt, dass Schenk selbst „Offizier im besonderen Einsatz“ gewesen war.42 An den meisten Runden Tischen der Bezirke moderierten Kirchenvertreter. Ihre Akzeptanz als Gesprächsleiter resultierte vor allem aus ihren Erfahrungen im demokratischen Dialog und ihrer Schulung in Konsensbildung, die sie gewinnbringend bei der Moderation einbringen konnten. Die Moderatoren waren nicht Vertreter eigener Interessen, sondern „Vermittler in Verantwortung für das Ganze“, „Helfer zum Gespräch“ und „Mahner zur Friedfertigkeit“.43 Der christlich geprägte Wille nach Konsens und Ausgleich am Runden Tisch hat aber mitunter auch wichtige oder intensivere Auseinandersetzungen verhindert. Es gab aber ebenfalls eine Reihe von Tischen, an denen die Gesprächsleitung rotierte und die Kirchenvertreter als stimmberechtigte Vertreter teilnahmen. Dazu zählten auch die Runden Tische der Bezirke Erfurt, Gera und Suhl. Kirchenrechtlich fiel der Bezirk Erfurt in die Zuständigkeitsbereiche der Kirchenprovinz Sachsen und der Evangelisch - Lutherischen Kirche in Thüringen. Des40 Vgl. Uwe Thaysen, Der Runde Tisch oder : Wo blieb das Volk ? Der Weg der DDR in die Demokratie, Opladen 1990, S. 174. 41 Vgl. Uwe Thaysen / Michael Kloth, Der Runde Tisch und die Entmachtung der SED. Widerstände auf dem Weg zur freien Wahl. In : Materialien der Enquete - Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED - Diktatur in Deutschland“. Hg. vom Deutschen Bundestag, Baden - Baden 1995, Band VII /2, S. 1706–1852, hier 1798 f. 42 Vgl. Andrea Herz, Bedrängte Staatssicherheit und Ancien Régime. Zum Tapet und Hinterraum der Runden Tische. In : Die „Runden Tische“ der Bezirke Erfurt, Gera und Suhl, S. 177–200, hier 182. 43 Martin Ziegler, Runder Tisch und politische Kultur in Europa. In : Der Platz der Kirchen, S. 68–71, hier 69.

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halb stellten die protestantischen Kirchen gleich vier Delegierte. Zusammen mit den beiden Abgesandten des katholischen Bischofs nahmen somit sechs Kirchenvertreter regelmäßig und mit Stimmrecht an den Rundtischgesprächen teil.44 Heino Falcke meinte, dass er sich selbst als Teil der Opposition verstanden habe, zumal er Mitglied des Demokratischen Aufbruchs gewesen sei. Insofern habe er nicht nur moderieren, sondern sich als stimmberechtigter Teilnehmer auch in der Sache engagieren wollen.45 Eine Besonderheit weist allerdings der Runde Tisch des Bezirkes Erfurt auf : Die sechs Kirchenvertreter stellten abwechselnd den Gesprächsleiter – und zwar ausschließlich sie.46 Eine fortwährende Rotation der Tischleitung unter allen Teilhabenden – wie in Suhl und Gera – konnte mitunter auch die erforderliche Stringenz im Ablauf behindern.

2.6

Verhältnis der Runden Tische zu den staatlichen Institutionen und ihre Funktionen

Auf Bezirksebene verstanden viele Akteure die Runden Tische als Beratungs und Kontrollgremien gegenüber den „Volksvertretungen“ und ihren Räten. Die „Volksvertretungen“ sahen sich spätestens in Umsetzung zentralstaatlicher Anordnungen seit Januar 1990 ihrerseits veranlasst, Vertreter der an den Runden Tischen präsenten neuen politischen Gruppierungen in die Arbeit der „Volksvertretungen“ einzubeziehen. Die Zusammenarbeit der Runden Tische mit den Bezirkstagen sowie mit den Räten der Bezirke war zum einen geprägt von der unterschiedlichen Bereitschaft der staatlichen Institutionen, Mitarbeit zuzulassen, und zum anderen von den konkreten Ansprüchen der Mitglieder der Runden Tische an die Mitarbeit. Die meisten Tische entließen die Volksvertretungen und Räte bewusst nicht aus ihrer Verantwortung für die Bewältigung des Alltags,47 eine Reihe von ihnen verweigerte zudem absichtlich und – anders als der Zentrale Runde Tisch – bis zum Schluss die Teilhabe an deren nicht demokratisch legitimierter Macht.48 Das Spektrum der Zusammenarbeit reichte vom Austausch von Informationen zwischen Räten bzw. „Parlamenten“ einerseits und Runden Tischen andererseits bis hin zur Einbeziehung von Vertretern der Runden Tische in die Tätigkeit der „Volksvertretungen“ durch die Bildung basisdemokratischer Fraktionen oder in die Arbeit der Räte mittels Mitglieder ohne Geschäftsbereich. Es gab aber auch eine Reihe von Sonderfällen.

44 Vgl. Schnitzler, Umbruch, S. 206 f. 45 Vgl. Interview der Autorin mit Dr. Heino Falcke am 4. 3. 2009 ( Slg. HAIT, S. 2). 46 Vgl. Protokoll der Sitzung des Runden Tisches des Bezirkes Erfurt vom 13. 12. 1989 bis 25. 4. 1990 ( Slg. Stephan Schnitzler, Bonn ). 47 Vgl. Reinhardt Richter, Es ging um eine enge Verflechtung. In : Winter ( Hg.), Die Moderatoren, S. 86–93, hier 91. 48 Vgl. Interview der Autorin mit Steffen Reiche am 11. 2. 2008 ( Slg. HAIT, S. 2).

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In den Bezirken Suhl, Gera und Erfurt wählten die Runden Tische analog zur Entscheidung des Zentralen Runden Tisches Vertreter, die als Ratsmitglieder ohne Geschäftsbereich in die Räte der Bezirke kooptiert wurden. Der damalige Bezirksratsvorsitzende von Gera erinnerte sich : „Dann sind Ratsmitglieder zunächst ohne Geschäftsbereich berufen worden. [...] Das waren außerordentlich aktive und auch sachkundige Personen, die auf diese Weise mit in die politische und in die Ver waltungstätigkeit eintraten und sie auch mit gestaltet haben.“49 Eines dieser ehemaligen Ratsmitglieder bestätigte dieses Urteil. Man habe an den Sitzungen teilgenommen und auch alle Unterlagen, die dort verhandelt wurden, erhalten und – wenn notwendig – mit abgestimmt.50 Ratsmitglieder ohne Geschäftsbereich zu stellen, wurde auch im Bezirk Suhl in Erwägung gezogen, allerdings erst im April 1990.51 Von den vier gewählten Räten – einer von ihnen war der bereits oben genannte Wahlleiter – wurden schließlich drei per 1. Juli d. J. in die „neue“ Bezirksverwaltung übernommen.52 Die Teilnehmer des Runden Tisches des Bezirkes hatten sich jedoch bereits am 16. Januar 1990 für eine besondere Variante entschieden und ein Bürgerkomitee beim Rat des Bezirkes ins Leben gerufen. Auf Grundlage eines vom Neuen Forum vorgelegten Arbeitspapiers gegründet, sollte es als exekutives Arbeitsinstrument eingesetzt werden, das den Räten des Bezirkes jeweils unabhängige Bürger zuordnete, die deren Arbeit kontinuierlich überwachten.53 Der Rat des Bezirkes bestätigte im Februar 1990, dass sich dieses Komitee als „außerparlamentarische Gruppe mit beratendem und kritisch begleitendem Charakter gegenüber dem Rat“ verstehe und aus je zwei Mitarbeitern der am Runden Tisch vertretenen neuen Parteien und Bürgerbewegungen zusammensetze. Man schlug vor, dass der Ratsvorsitzende und je ein Ratsmitglied der im Rat vertretenen Parteien dem Bürgerkomitee 14tägig jeweils unmittelbar vor den planmäßigen Sitzungen des Rates zur „Erläuterung der Entscheidungsvorlagen und zur Beantwortung der vom Bürgerkomitee im Auftrag ihrer Bewegungen gestellten Fragen“ zur Verfügung stehen würden. Dazu ermögliche der Rat die Einsichtnahme in die Dokumente ab dem dritten Tag vor der jeweiligen Ratssitzung, wodurch eine Einflussnahme auf die Ratsentscheidungen gegeben sei.54 Das Bürgerkomitee traf sich nach Aussage von Brigitta Wurschi im Zeitraum vom 24. Januar bis zum 2. Mai 1990 insgesamt acht Mal. Seine Mitglieder hät49 Interview der Autorin mit Tilo Wetzel und Dr. Helmut Luck am 21. 4. 2008 ( Slg. HAIT, S. 3). 50 Vgl. ebd. 51 Vgl. Festlegungsprotokoll über die Beratung des Runden Tisches des Bezirkes Suhl am 3. 4. 1990 ( Thüringisches Staatsarchiv Meiningen, Bezirkstag / Rat des Bezirkes Suhl, Nr. K 1399, Bl. 115). 52 Vgl. Wurschi, Bürgerkomitee des Runden Tisches des Bezirkes Suhl, S. 7. 53 Vgl. Festlegungsprotokoll über die Beratung des Runden Tisches des Bezirkes Suhl am 16. 1. 1990 im Rathaussaal des Rates der Stadt Suhl ( Thüringisches Staatsarchiv Meiningen, Bezirkstag / Rat des Bezirkes Suhl, Nr. K 1399, Bl. 63 f. ). 54 Vgl. Tätigkeitsbericht des Rates des Bezirkes zur 16. Tagung des Bezirkstages vom 13. 2. 1990 ( ebd., Nr. 2633, S. 1 f. ).

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ten an den Ratssitzungen teilgenommen und vorab die zu beschließenden Vorlagen studiert. Trotz Zeitmangels bei den Vorbereitungen sei es mitunter gelungen, Vorlagen des Rates des Bezirkes abzusetzen bzw. zu verändern. Die Hauptleistung der Mitglieder des Bürgerkomitees habe jedoch darin bestanden, die Ratsmitglieder durch ihre bloße Anwesenheit zu verunsichern und damit stetig auf die sich verändernden Verhältnisse hinzuweisen.55 Allerdings wurden die Räte damit nur vordergründig entmachtet und in den Demokratisierungsprozess eingebunden. Im Hintergrund arbeiteten die alten Kader fast wie gewohnt weiter.56 Anfang Mai 1990 erklärte sich das Bürgerkomitee beim Rat des Bezirkes, das nach Ansicht der Lokalpresse „im Auftrag des bezirklichen Runden Tisches die staatliche Arbeit zur Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens zwischen Rennsteig und Rhön kritisch begleitet“ habe, für aufgelöst. Dies geschah, weil auch der bezirksrunde Tisch im Ergebnis der Volkskammerwahlen und der durch die Regierungserklärung angekündigten Auf lösung der Bezirkstage seine Arbeit eingestellt hatte.57 Die Kooperationsvarianten zeigen die vielfältigen Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Runden Tischen mit den Bezirksbehörden und ihre daraus entstandenen Chancen, die Entwicklung in ihren Regionen zu beeinflussen. Doch die zu Beginn von den Teilnehmern der Runden Tische formulierten Ziele dieser Kooperation konnten sich im Laufe ihrer Tätigkeit auch durchaus verändern. So hatte sich z. B. der Runde Tisch des Bezirkes Suhl zum Ziel gesetzt, Entscheidungen der Bezirksräte mitzutragen. Das Selbstverständnis des Runden Tisches des Bezirkes Suhl vom 19. Dezember 1989 enthält folgende Funktionszuweisung : „Der Runde Tisch ist eine außerparlamentarische Gruppe mit beratendem und kritisch begleitendem Charakter, die die Entscheidungen des Rates des Bezirkes mit vorbereitet und mitträgt.“58 In der Praxis reduzierte sich diese Intention jedoch weitgehend auf eine Kontrollfunktion. Andere Tische wiederum ließen sich – ähnlich wie der Zentrale Runde Tisch – entgegen den anfänglich gestellten Zielen auf Regierungsfunktionen ein. Das trifft vor allem auf Erfurt, weniger auf Suhl zu. Die im April 1990 in Suhl gewählten Vertreter für eine Ratsfunktion ohne Geschäftsbereich können hier wohl nicht mehr in Betracht gezogen werden, da sich der Runde Tisch des Bezirkes kurze Zeit später auf löste. Andere Runde Tische besaßen wiederum vorrangig Informationscharakter und erzielten lediglich eine gewisse Außenwirkung. Hierfür steht exemplarisch der Bezirktisch von Gera, dem die Vorbereitungsgruppe Entscheidungen gewissermaßen vorwegnahm.

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Vgl. Wurschi, Bürgerkomitee des Runden Tisches des Bezirkes Suhl, S. 4. Vgl. Wurschi, Akteure an den Runden Tischen, S. 716 f. Vgl. Bürgerkomitee aufgelöst. In : Freies Wort vom 3. 5. 1990, S. 1. Festlegungsprotokoll über die Beratung des Runden Tisches des Bezirkes Suhl vom 19. 12. 1989, Bl. 39 ( Thüringisches Staatsarchiv Meiningen, Bezirkstag / Rat des Bezirkes Suhl, Nr. K 1399).

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Mit Sicherheit war es wichtig, den Entscheidungsträgern in den Räten der Bezirke zu signalisieren, dass sie kontrolliert würden. Auch haben nicht alle Räte diese Kontrollen unterlaufen, sondern sahen sich aufgrund ihres Autoritätsverlustes und ihrer eigenen Verunsicherung gezwungen, zumindest weitreichend zu informieren. An manchen Tischen beobachteten Vertreter der neuen Gruppierungen ein ehrliches Bemühen der Staatsfunktionäre, in die Debatte zu kommen. Heino Falcke erinnert sich im Rückblick, dass er das Gefühl gehabt habe, die Bezirksvertreter hätten sich der veränderten Situation angepasst und seien bereit gewesen, mit dem Runden Tisch zusammenzuarbeiten. Das sei selbstverständlich nicht ohne Konflikte abgelaufen, was vor allem die geschönten Berichte der Funktionäre gezeigt hätten.59 Thomas Pecher, Teilnehmer am Runden Tisch in Erfurt, war darüber hinaus erstaunt gewesen, wie wenig Gegenwehr die „Vertreter der alten Macht“ am Runden Tisch gezeigt hätten. Sie seien auf die Forderungen der neuen Initiativen eingegangen, hätten kaum widersprochen und auch Aufträge des Runden Tisches erfüllt.60 Dieses Engagement legten jedoch nicht alle Bezirksfunktionäre an den Tag. Einige Räte akzeptierten zwar die Zusammenarbeit mit den Runden Tischen und nahmen ihre Informationspflicht wahr, empfanden aber zumindest anfänglich – z. B. in Suhl – ihre Handlungs - und Entscheidungsfreiheit durch die Arbeit mit den Runden Tischen eingeschränkt.61

2.7

Das Ende der Tätigkeit

Mit Ausnahme des Dresdner Gremiums lösten sich alle Runden Tische der Bezirke spätestens im Mai 1990 auf. Die Bezirkstische in Gera, Suhl und Erfurt zählten zu den ersten, deren Delegierte beschlossen, ihre Tätigkeit zu beenden. Das hing zum einen und hauptsächlich damit zusammen, dass die de MaizièreRegierung ein weiteres Mitwirken der Runden Tische ablehnte und die Räte der Bezirke und ihre Bürokratie mit einigen personellen Veränderungen ab 1. Juli 1990 als eine Art Auftragsverwaltung bis zur Länderbildung Ende des Jahres fortführen wollte. Darüber hinaus verstanden die meisten Delegierten die Runden Tische als Übergangsinstitutionen und hatten ihre Mitarbeit von Beginn an als zeitlich begrenzt betrachtet. Zum anderen standen die jeweiligen Beschlüsse, die drei Tische aufzulösen, in engem Zusammenhang mit Vorhaben des neu gegründeten thüringischen CDU - Landesvorstandes. Als sich dessen Vorsitzender Uwe Ehrich gegen die 59 Vgl. Interview der Autorin mit Dr. Heino Falcke am 4. 3. 2009 ( Slg. HAIT, S. 3). 60 Vgl. Wilfried Glöde, Zeitzeugeninterviews mit und Berichte von Mitgliedern des Runden Tisches Erfurt. Interview mit Thomas Pecher. In : Die „Runden Tische“ der Bezirke Erfurt, Gera und Suhl, S. 221. 61 Vgl. Schreiben des Bezirksinstrukteurs Suhl an den Ministerrat der DDR vom 1. 2. 1990 ( Thüringisches Staatsarchiv Meinigen, Bezirkstag / Rat des Bezirkes Suhl, Nr. 2609, Bl. 2).

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Etablierung eines Runden Tisches Thüringen wandte, berief er sich darauf, dass die neue DDR - Regierung allen Tischen die Legitimation entziehen werde. Landesbischof Leich zog daraufhin bereits vorbereitete Einladungen zur Gründung eines Thüringer Gremiums zurück.62 Er hatte Ende März 1990 geplant, alle an den Runden Tischen der Bezirke Gera, Suhl und Erfurt tätigen Mitglieder für den 18. April nach Weimar einzuladen, und auch die Ansicht vertreten, die bestehenden Runden Tische danach noch nicht aufzulösen, sondern in ihren Bereichen – wenn nötig – weiterarbeiten zu lassen.63 Gegenüber der Presse rechtfertigte Ehrich sein Vorgehen mit dem Argument, dass ein Runder Tisch Thüringen „mit einer gleichberechtigten Zusammensetzung von Parteien und Organisationen, die über einen sehr großen Stimmenanteil verfügen [...], gleichberechtigt mit anderen, die nur einen verschwindend geringen Anteil des Wählervotums haben, nicht gangbar ist“.64 Daraufhin entschied die Mehrheit der am Runden Tisch des Bezirks Erfurt vertretenen Parteien und Gruppierungen, einen „Regionalausschuss zur Vorbereitung des Landes Thüringen“ zu gründen. Geplant war, dass sich dieses Gremium paritätisch nach dem Vorbild des Runden Tisches zusammensetzen sollte. Zur Begründung wiesen die Delegierten darauf hin, „dass das Volkskammerergebnis nicht einfach auf Thüringen übertragen werden kann. Zudem seien die mit der Bildung des Landes Thüringen entstehenden Fragen so komplex, dass die Mitarbeit aller Parteien und Vereinigungen gefordert werden müsse.“ Auf der letzten Sitzung des Runden Tisches des Bezirkes Erfurt legten die Vertreter des Neuen Forum folgenden Text zur Beschlussfassung vor : „Die Bildung eines Regionalausschusses zur Neugründung des Landes Thüringen ist schnellstmöglich zu vollziehen. Die Zusammensetzung sollte paritätisch durch alle Parteien und Vereinigungen erfolgen. Dieser Regionalausschuss soll die Grundlage für die Sach - und Fachgruppen bilden.“ Der Runde Tisch nahm den Antrag letztendlich mit sieben Jastimmen, bei drei Neinstimmen und vier Enthaltungen an. Widerspruch meldeten vor allem die Parteien an, die zu den Siegern der Volkskammerwahl gehörten.65 Die beiden CDU - Vertreter brachten zum Ausdruck, dass sie sich unter diesen Voraussetzungen vermutlich nicht am Regionalausschuss beteiligen würden.66 Es kam auch nicht mehr zur Konstituierung des Regionalausschusses in der vor allem von den kleineren Parteien und Gruppen gewünschten Form. Statt62 Vgl. Protokoll der Sitzung des Runden Tisches des Bezirkes Erfurt vom 11. 4. 1990, S. 3 ( Slg. Stehphan Schnitzler, Bonn ). 63 Vgl. Zur Initiative des Landesbischofs Werner Leich für einen Runden Tisch „Land Thüringen“. Aus dem Protokoll des Landeskirchenrates über einen Runden Tisch „Land Thüringen“ und den Runden Tisch Bildungswesen Erfurt (9. April 1990). In : Jürgen John (Hg.), Thüringen 1989/90. Quellen zur Geschichte Thüringens, Erfurt 2001, Band II, S. 337–343, hier 338. 64 Schnitzler, Umbruch, S. 264. 65 Vgl. ebd., S. 263 f. 66 Vgl. Protokoll der Sitzung des Runden Tisches des Bezirkes Erfurt vom 25. 4. 1990, S. 2 ( Slg. Stephan Schnitzler, Bonn ).

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dessen tagte auf Einladung des CDU - Landesvorsitzenden Uwe Ehrich am 16. Mai 1990 erstmalig der Politisch - Beratende Ausschuss zur Bildung des Landes Thüringen.67 Nach einer langen Debatte gelangte das Gremium zu folgender Mandatsverteilung : CDU 13 Sitze, SPD sechs Sitze, PDS drei Sitze; Neues Forum, Deutsche Soziale Union und Bund Freier Demokraten je zwei Sitze; Demokratischer Aufbruch, Demokratische Bauernpartei, Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe, Demokratischer Frauenbund und Grüne / Unabhängiger Frauenverband je ein Sitz.68 Unter den Vertretern befanden sich auch ehemalige Delegierte der Runden Tische der Bezirke.69 In seiner Geschäftsordnung definierte der Ausschuss den Zweck seiner Tätigkeit. Seine Aufgabe sei es, „die strukturelle und technisch - organisatorische Vorbereitung der Bildung des Landes Thüringen zu sichern“. Seine Beschlüsse würden Empfehlungscharakter tragen, sein Adressat sei der künftige Landtag bzw. die Landesregierung.70 Nach Aussage Tilo Wetzels, der dem Runden Tisch in Gera angehörte, beschäftigte sich der Ausschuss über Wochen hinweg intensiv mit den Verwaltungsstrukturen eines zukünftigen Landes Thüringen. Für diese Tätigkeit hätten die Bezirksinstitutionen Zuarbeiten geliefert und erforderliches Personal nach Erfurt delegiert. Außerdem sei der Ausschuss von den Bezirksbehörden finanziell unterstützt worden. Im Endeffekt hätten sich diese zu „Vollzugsorganen dieses Ausschusses“ entwickelt. Insgesamt sei ein hoher Aufwand betrieben worden.71 Später hätten die Arbeitsergebnisse dieses überparteilichen Gremiums, so Christine Lieberknecht, jedoch keine Rolle mehr gespielt.72

3.

Anteile der Runden Tische der Bezirke am Demokratisierungsprozess

Ohne den prinzipiellen Wert der Arbeit der Runden Tische schmälern zu wollen, muss man auch darauf hinweisen, dass viele Teilnehmer der neuen Gruppierungen ihrem Anspruch mangels Sach - und Verwaltungskompetenzen nicht wie gewünscht und erforderlich gerecht werden konnten. Ursache hierfür war, dass es ihnen an einer ausreichenden Anzahl kompetenter Fachleute mangelte, die eine wirksame Kontrolle auch tatsächlich hätten durchführen können.73 Eine 67 Vgl. Schnitzler, Umbruch, S. 264. 68 Vgl. Aus dem Protokoll der konstituierenden Tagung des Politisch - Beratenden Ausschusses zur Bildung des Landes Thüringen (16. Mai 1990). In : John ( Hg.), Thüringen 1989/90, Band II, S. 358 ff. 69 Vgl. Interview der Autorin mit Christine Lieberknecht am 4. 3. 2009 ( Slg. HAIT, S. 1); Interview der Autorin mit Dr. Helmut Luck und Tilo Wetzel am 21. 4. 2008 ( Slg. HAIT, S. 8). 70 Vgl. Schnitzler, Umbruch, S. 264. 71 Interview der Autorin mit Dr. Helmut Luck und Tilo Wetzel am 21. 4. 2008 ( Slg. HAIT, S. 8). 72 Interview der Autorin mit Christine Lieberknecht am 4. 3. 2009 ( Slg. HAIT, S. 1). 73 Die Protokolle des Runden Tisches des Bezirkes Suhl dokumentieren die Suche nach mehr ( hauptamtlichen ) Mitarbeitern für das Bürgerkomitee beim Rat des Bezirkes Suhl.

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Die Runden Tische der Bezirke in der DDR

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ganze Reihe von ihnen fühlte sich den alten Machthabern, was Sach - und Verwaltungskompetenz anging, „unterlegen“.74 Andere geben heute selbstkritisch zu, die dezentralen Befugnisse der DDR - Bezirksinstitutionen und ihre daraus resultierende Machtfülle schlichtweg unterschätzt zu haben.75 Außerdem ließen sie 1989/90 zu, dass die nach wie vor von SED - Funktionären dominierte staatliche Bürokratie in den Regionen nicht oder nicht vollends entmachtet wurde. Letztendlich unterstützten sie sogar die Stabilisierung der meisten Bezirksbehörden, die sich nicht nur mit einer Krisensituation, sondern unter der ModrowRegierung auch mit einer zunehmenden ungewohnten Eigenständigkeit konfrontiert sahen. Eine Reihe ehemaliger Rundtischteilnehmer betrachtet deshalb die Funktionen und die Arbeit der Runden Tische in den Bezirken rückblickend weniger als Beitrag zur Demokratisierung in den Regionen, sondern eher als Demokratieerfahrung.76 Die Runden Tische der Bezirke unterschieden sich in ihren Zielen, Ansprüchen und Herangehensweisen. Hinzu kamen die Verschiedenartigkeit der Machtsstrukturen vor Ort und die handelnden Personen mit ihren jeweiligen Motivationen. In ihrer Gesamtheit bewirkten diese Bedingungen, dass sich die 15 Runden Tische in ihrer Kontroll - und Beratungstätigkeit in den Bezirksinstitutionen und damit in ihrer Einflussnahme auf die Entwicklung in den Bezirken maßgeblich voneinander unterschieden. Trotz aller Einschränkungen und Grenzen gestalteten alle 15 Runden Tische der Bezirke den Prozess der Befreiung und Demokratisierung in den Regionen mit. Ihre Arbeitsergebnisse, aber vor allem ihre Verfahrensweisen zeichneten sie als wirkungsvolle Instrumente der „Demokratisierung von unten“ bzw. der „Selbstdemokratisierung“ aus. Allerdings war der Anteil der einzelnen Bezirkstische am Demokratisierungsprozess nicht gleich groß, was die drei Thüringer Gremien hinreichend exemplifizieren.

Vgl. Festlegungsprotokoll über die Beratung des Runden Tisches des Bezirkes Suhl am 20. 3. 1990 ( Thüringisches Staatsarchiv Meiningen, Bezirkstag / Rat des Bezirkes Suhl, Nr. K 1399, Bl. 105). 74 Vgl. Interview der Autorin mit Dr. Harald Terpe am 14. 2. 2008 ( Slg. HAIT, S. 3); Interview der Autorin mit Katrin Rohnstock am 20. 2. 2008 ( Slg. HAIT, S. 1). 75 Vgl. Interview der Autorin mit Michael Weber am 20. 6. 2008 ( Slg. HAIT, S. 8, 12). 76 Vgl. Wurschi, Akteure an den Runden Tischen, S. 718.

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Die demokratische Konsolidierung der neuen Bundesländer Eckhard Jesse

1989 war ein Epochenjahr, das in seiner Bedeutung 1789 nicht nachsteht. Der Kommunismus mit der Sowjetunion an der Spitze, dem „Vaterland aller Vaterländer“, brach jedenfalls in Europa wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Ein Land nach dem anderen nahm Abschied von einem inhumanen Experiment, ohne dass Blut floss, von Rumänien einmal abgesehen.1 Territoriale Neugliederungen waren die Folge. Aus der Sowjetunion entstanden ebenso mehrere Staaten wie aus Jugoslawien. Während die Tschechoslowakei in zwei Staaten zerfiel, trat die DDR kein Jahr nach dem Fall der Mauer der Bundesrepublik Deutschland bei. Der Beitrag will die Leitfrage beantworten, ob die neuen Bundesländer 20 Jahre nach der deutschen Einheit demokratisch konsolidiert sind. In welchen Bereichen sind sie es ? Wo gibt es Schwächen ? Warum ist dies so ? Dabei orientiert sich der Verfasser an der Transitions - bzw. Systemwechselforschung, die durch den Untergang des „realen Sozialismus“ einen großen Aufschwung erlebt hat.2 Die Zahl der Systemwechsel nahm Anfang der 90er Jahre nahezu weltweit zu : und zwar in der Regel von einer Diktatur zu einer Demokratie. Samuel P. Huntington sprach von einer dritten Welle der Demokratisierung.3 Die wichtigste einschlägige Studie stammt von Wolfgang Merkel. Sie bietet ebenso einen umfassenden Überblick zur Theorie wie zu den Demokratisierungswellen in den verschiedenen Erdteilen.4 In Anlehnung an andere Autoren unterscheidet Merkel drei Transformationsphasen : das Ende des autokratischen Systems, die Institutionalisierung des demokratischen Systems und seine Konsolidierung. Bei der 1 2

3 4

Vgl. György Dalos, Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa, München 2009. Eine Schwäche besteht darin, dass sie sich fast ausschließlich auf den Übergang von einer Diktatur zu einer Demokratie bezieht, bedingt durch die Entwicklung Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre. Der umgekehrte Verlauf ist freilich ebenso zu erfassen, wie etwa die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt. Vgl. Eckhard Jesse, Systemwechsel in Deutschland. 1918/19 – 1933 – 1945/49 – 1989/90, Köln 2010. Vgl. Samuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization in the late Twentieth Century, London 1991. Vgl. Wolfgang Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, 2. Auflage Wiesbaden 2010.

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Konsolidierung wird nach vier Ebenen differenziert : der konstitutionellen Konsolidierung, der repräsentativen Konsolidierung, der Verhaltenskonsolidierung und der Konsolidierung der demokratischen Bürgergesellschaft.5 Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut : Nach einem Überblick zur SED - Diktatur und ihrem so schnellen wie abrupten Ende folgt ein knapper Abriss zur ersten und zur zweiten Transformationsphase, ehe die Konsolidierungsphase näher in Augenschein genommen wird – jeweils aufgefächert nach den genannten vier Ebenen. In gewisser Weise bauen sie aufeinander auf. Vor allem die beiden ersten Ebenen verdienen eine ausführliche Erörterung. Abschließend findet sich einerseits ein kurzes Fazit und andererseits eine Erklärung für die Unterschiede zu anderen ehemals kommunistischen Staaten, deren demokratischer Verlauf, entgegen manchen Annahmen, ohnehin besser ausfällt als ursprünglich angenommen.6

1.

Die Diktatur der DDR

Die Geschichte der DDR bis zum Herbst 1989 zerfällt in zwei lange Phasen.7 An sie schließt sich eine kurze Periode an : die etwa einjährige Zeit von der friedlichen Revolution bis zur deutschen Einheit. Sind die ersten beiden Phasen, ungeachtet mancher zeitweiliger ideologischer Lockerungen, durch diktatorische Prinzipien gekennzeichnet,8 schüttelten im letzten Jahr der DDR die Bürger die ihnen oktroyierte Einparteienherrschaft binnen Kurzem ab. Erst der Niedergang des kommunistischen Systems in Europa ermöglichte die Selbstbefreiung von der kommunistischen Diktatur, die Teil dieses weltumspannenden Systems war. In der Ära von Walter Ulbricht, der 1945 aus Moskau zurück gekommen war und 1950 das Amt des Generalsekretärs der SED übernommen hatte, errichtete die Einheitspartei eine kommunistische Diktatur nach sowjetischem Vorbild. 1952 stand gemäß den Vorgaben der SED der „planmäßige Aufbau des Sozialismus“ an. Eine Folge war die Auf lösung der Länder und die Bildung von 14 Bezirken. Die Niederschlagung der Volkserhebung vom 17. Juni 1953 verhinderte den Sturz des Systems; die Abriegelungsmaßnahmen am 13. August 1961 mit dem Bau der Mauer sicherten das Land nach innen und führten zu einer gewissen Stabilisierung, war doch so der „Abstimmung mit den Füßen“ die Grundlage entzogen. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung hielt freilich an. Die ersten beiden Jahrzehnte der DDR sind gekennzeichnet durch repressive Maßnahmen auf allen Gebieten. Eine vorsichtige Aktion des Bürgers rief eine 5 6 7 8

Vgl. ebd., S. 110–127. Vgl. Wolfgang Merkel, Gegen alle Theorie ? Die Konsolidierung der Demokratie in Ostmitteleuropa. In : Politische Vierteljahresschrift, 48 (2007) 3, S. 413–433. Zum Forschungsstand vgl. Rainer Eppelmann / Bernd Faulenbach / Ulrich Mählert (Hg.), Bilanz und Perspektiven der DDR - Forschung, Paderborn 2003. Vgl. Günther Heydemann, Die Innenpolitik der DDR, München 2003.

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Die demokratische Konsolidierung

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unnachsichtige Reaktion des Staates hervor. Die DDR war in dieser Phase totalitär strukturiert. Jeglicher Pluralismus wurde unterbunden, die Mobilisierung der Bevölkerung erzwungen und die Ideologie des Marxismus - Leninismus propagiert. Die Ära von Erich Honecker, die von 1971 bis 1989 dauerte, zeichnete sich im Vergleich zur vorherigen Zeit durch eine größere Flexibilität aus. Insofern ist es nicht mehr so einfach, diese Phase als durch und durch totalitär zu klassifizieren.9 Nicht, dass die politische Führung den ideologischen Alleinvertretungsanspruch des Marxismus - Leninismus in Frage stellte; aber durch die Kontakte mit dem Westen war eine gewisse Lockerung unumgänglich geworden, etwa durch das Nachlassen der Massenmobilisierung für „die“ Partei oder den Marxismus - Leninismus. Die „Einheit von Wirtschafts - und Sozialpolitik“ funktionierte ungeachtet bescheidener Fortschritte nicht; die DDR lebte immer mehr über ihre Verhältnisse. Der sowjetischen Reformpolitik unter Michail Gorbatschow stand die politische Führung reserviert gegenüber. Sie wusste, eine zu große Liberalität würde die Büchse der Pandora öffnen und damit den eigenen Untergang besiegeln. Innen - , außen - und wirtschaftspolitische Überlegungen zwangen die DDR - Führung in den 70er Jahren zu einer Kurskorrektur. Die Überwachung durch die nahezu flächendeckend operierende Staatssicherheit, die vor „Zersetzungsmaßnahmen“ nicht Halt machte, kennzeichnete den entkräfteten DDR - Kommunismus der 70er und 80er Jahre.10

2.

Das Ende der Diktatur der DDR

Die Systemwechselforschung nach Wolfgang Merkel unterscheidet zwischen sechs Verlaufsformen : der langandauernden Evolution; von alten Regimeeliten gelenkter Systemwechsel; von unten erzwungener Systemwechsel; ausgehandelter Systemwechsel; Regimekollaps; Zerfall und Neugründung von Staaten.11 Die erste und letzte Form ist vernachlässigenswert. Eine langdauernde Evolution ist schwerlich ein Systemwechsel, ein Zerfall bzw. eine Neugründung von Staaten hingegen eine Folge eines Systemwechsels. Dieser Kategorie kommt mithin keine eigenständige Bedeutung zu. Der Glaube an die Ideologie des Marxismus - Leninismus wurde in der DDR im Laufe von vier Jahrzehnten selbst bei der politischen Führung immer mehr entkräftet. Die Sowjetunion spielte beim Aufbau der SED - Diktatur ebenso eine 9 Vgl. Eckhard Jesse, War die DDR totalitär ? In : Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40/1994, S. 12–23. 10 Vgl. Sandra Pingel - Schliemann, Zersetzen. Strategie einer Diktatur, Berlin 2002; Johannes Raschka, Zwischen Überwachung und Repression. Politische Verfolgung in der DDR 1971 bis 1989, Opladen 2001; Babett Bauer, Kontrolle und Repression. Individuelle Erfahrungen in der DDR (1971–1989). Historische Studie und methodologischer Beitrag zur Oral History, Göttingen 2006. 11 Vgl. Merkel, Systemtransformation, S. 101–104.

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tragende Rolle wie bei deren Abbau. Entgegen mancher Legenden12 hat es offenkundig keinen von alten Regimeeliten gelenkten Systemwechsel gegeben, auch nicht inspiriert durch die Sowjetunion, wiewohl etwa die dubiose Rolle Markus Wolfs hinter den Kulissen bisher nicht vollständig geklärt zu sein scheint.13 Hingegen sind alle anderen Kategorien der Verlaufsformen präsent : Der Systemwechsel war von unten erzwungen – durch ein komplexes Zusammenspiel von Flucht - und Demonstrationsbewegung. Den „alternativen Kräften“, wie schwach sie auch immer waren, kam anfangs mit ihren Maximen von einem „dritten Weg“ und unbedingter Gewaltfreiheit eine zentrale Rolle zu. Daneben bestimmten ebenso Elemente der Implosion ( die Friedlichkeit der Proteste wurde nach anfänglicher Gegenwehr respektiert ) wie solche des ausgehandelten Systemwechsels die revolutionären Ereignisse. Dazu gehören etwa die vielen Runden Tische und die Einbeziehung Oppositioneller in Hans Modrows „Regierung der nationalen Verantwortung“, so die vollmundige Titulierung. Auf diese Weise gerieten die „feindlich - negativen Kräfte“, um die Terminologie der Staatssicherheit zu nutzen, immer mehr in einen Gegensatz zur Masse der Bürger, die das System ohne Wenn und Aber beseitigen wollten. Die soziale Kontrolle der öffentlichen Meinung durch die Herrschenden bröckelte zusehends.14 Die Revolution in der DDR zeichnete sich im Gegensatz zum Umbruch in anderen Staaten Ostmitteleuropas durch eine „doppelte Demokratisierung“15 aus – zum einen die Selbstbefreiung von der Diktatur, zum anderen die demokratische Hinwendung zur Bundesrepublik Deutschland, die schließlich schnell in die deutsche Einheit mündete. Wer die Implosion des diktatorischen Systems in den Vordergrund rückt, spielt den „zähen Machtkampf“16 der DDR - Regierungen unter Honecker, Krenz und Modrow herunter, die – keineswegs auf Kapitulation erpicht – den Systemwechsel später geschickt aushandelten. Dieser ist weitaus stärker durch externe als durch interne Umstände bestimmt ( z. B. ökonomische Probleme ).

12 Vgl. etwa Ralf Georg Reuth / Andreas Bönte, Das Komplott. Wie es wirklich zur Deutschen Einheit kam, München 1993. 13 Die KGB - Akten sind der wissenschaftlichen Forschung nicht zugänglich. 14 Vgl. Nicole Weisheit - Zenz, Öffentliche Meinung im Dienste des Regimes ? Soziale Kontrolle und „Opposition“ in der DDR in den letzten Jahren ihres Bestehens, Münster 2010. 15 Vgl. Michael Richter, Die doppelte Demokratisierung. Eine ostdeutsche Besonderheit der Transition. In : Totalitarismus und Demokratie, 3 (2006) 1, S. 79–98. 16 So Uwe Backes, Hybrides System des untergehenden Staates : Die DDR 1989–1990. In: Jerzy Maćków ( Hg.), Autoritarismus in Mittel - und Osteuropa, Wiesbaden 2009, S. 57–85, hier 60. Ausführlich und überzeugend dazu Ilko - Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, insbes. S. 411–419.

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Die demokratische Konsolidierung

3.

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Die Institutionalisierung des neuen Systems

Mit der Institutionalisierung des neuen Systems ist gemäß der Systemwechselforschung die Phase zwischen dem Ende des alten und der Konsolidierung des neuen Systems gemeint.17 Diese Definition räumt beträchtliche Interpretationsspielräume ein. Denn es ist bei der friedlichen Revolution in der DDR nicht klar ausgemacht, wann das alte System verschied und die Konsolidierung der neuen Ordnung anfing. Die Institutionalisierung des neuen Systems in der Herbstrevolution 1989 begann in gewisser Weise am 1. Dezember. An diesem Tag strich die nicht demokratisch legitimierte Volkskammer die „Suprematie der SED“ ( Siegfried Mampel ) aus dem Art. 1 der sozialistischen Verfassung von 1968 – ohne Gegenstimmen bei fünf Enthaltungen. Runde Tische in den Bezirken und den Kreisen traten unter Einschluss der Repräsentanten des alten Systems in Konkurrenz zu den alten, ihrerseits an Vitalität und Eigenständigkeit gewinnenden Repräsentativkörperschaften.18 Die bisherigen politischen Kräfte machten unter dem Druck der aufbegehrenden Massen den Weg für eine demokratische Volkskammerwahl frei (18. März 1990). Der Zentrale Runde Tisch hatte bei seinem ersten Zusammentreten am 7. Dezember 1989 die eigene Existenz bis zur Durchführung freier Wahlen beschränkt.19 Danach ging die „demokratische“ Phase der Revolution in die „nationale“ Phase der Revolution über, ohne ihren demokratischen Charakter in Frage zu stellen. Eine neue Verfassung blieb ungeachtet mancher Bestrebungen aus. Dem Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs - , Wirtschafts - und Sozialunion, der am 1. Juli 1990 in Kraft trat, folgte der Beschluss der Volkskammer, der Bundesrepublik Deutschland beizutreten, sowie der „Einigungsvertrag“. Am 23. August 1990 morgens gegen 3.00 Uhr beschloss die Volkskammer auf einer turbulenten, quälend langen, immer wieder durch Auszeiten unterbrochenen Sondertagung den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Dieser Tag beendete damit das nicht zuletzt parteipolitisch bedingte wochenlange Tauziehen über den Zeitpunkt der deutschen Einheit. Verschiedene Termine standen in der Vergangenheit zur Diskussion. Dies hing einerseits mit parteitaktischen Finessen zusammen, andererseits mit drei bisher noch nicht definitiv geregelten Punkten von zentraler Bedeutung : dem Einigungsvertrag, dem Zweiplus - Vier - Vertrag und der Länderneubildung. Der 3. Oktober wurde gewählt, weil die KSZE - Außenministerkonferenz, die am 1. und am 2. Oktober tagte, das Ergebnis der Zwei - plus - Vier - Verhandlungen mitgeteilt bekommen sollte. 17 Vgl. Merkel, Systemtransformation, S. 105–109. 18 Vgl. Francesca Weil, Die Runden Tische. In : Klaus - Dietmar Henke ( Hg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 316–328; dies., Die Runden Tische der Bezirke – Ungleiche Ziele, ungleiche Chancen. In : Totalitarismus und Demokratie, 6 (2009) 1, S. 49–68. 19 Vgl. Uwe Thaysen, Der Runde Tisch. Oder : Wo blieb das Volk ? Der Weg der DDR in die Demokratie, Opladen 1990.

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Der von den Fraktionen der CDU / DA, der DSU, der FDP und der SPD schließlich eingereichte Abänderungsantrag lautete wie folgt : „Die Volkskammer erklärt den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990. Sie geht dabei davon aus, dass die Beratungen zum Einigungsvertrag zu diesem Termin abgeschlossen sind, die 2+4 - Verhandlungen einen Stand erreicht haben, der die außen - und sicherheitspolitischen Bedingungen der deutschen Einheit regelt, die Länderbildung soweit vorbereitet ist, dass die Wahl der Länderparlamente am 14. Oktober 1990 durchgeführt werden kann.“20 Die für das Beitrittsgesuch notwendige Zweidrittelmehrheit wurde klar erreicht : 264 Abgeordnete votierten mit Ja, 62 mit Nein, sieben enthielten sich. Alle Abgeordneten der CDU / DA, der SPD ( bis auf vier ), der DSU und des DBD / DFD stimmten zu, alle Vertreter der PDS dagegen. Das Stimmverhalten von Bündnis 90/ Grüne war gespalten : Zwei ( Joachim Gauck und Konrad Weiß) gaben eine Ja - Stimme ab, sieben eine Nein - Stimme ( u. a. Marianne Birthler, Gerd Poppe, Jens Reich und Werner Schulz ), fünf enthielten sich ( u. a. Günter Nooke und Vera Wollenberger ). Viele der engagierten Demokraten fühlten sich von der Schnelligkeit des Prozesses überrumpelt. Der ansonsten eloquent - wirkungsmächtige PDS - Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi löste mit seinem Einwurf direkt nach der Abstimmung laut Protokoll „jubelnden Beifall bei der CDU / DA, der DSU, teilweise bei der SPD“ aus. Pathetisch und bedauernd hatte er erklärt: „Frau Präsidentin ! Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 beschlossen.“21 Gysi ahnte in diesem historischen Moment keineswegs die Wirkung seiner Worte. Solch ein Fauxpas ist ihm später nicht mehr unterlaufen. Der „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“ ( Einigungsvertrag ) wurde erst am 31. August 1990 unterzeichnet. Dieser umfassende, unter großem Zeitdruck ausgehandelte Vertrag – Verhandlungsführer auf ostdeutscher Seite war Günther Krause, auf westdeutscher Wolfgang Schäuble22 – ist eine beachtliche Leistung, unabhängig von manchen Fehlern, die bei dem ungeheuren Zeitdruck als unvermeidbar angesehen werden müssen. In diesem Vertragswerk ist der in der Praxis später modifizierte Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ festgeschrieben worden. Der Zwei - plus - Vier - Vertrag vom 12. September 1990 regelte die Souveränität Deutschlands und beseitigte außenpolitische Hindernisse auf dem Weg zur deutschen Einheit. Ein Jahr und einen Tag nach Streichung der führenden Rolle der „marxistisch - leninistischen Partei“ aus der DDR - Verfassung fanden die ersten gesamtdeutschen Wahlen statt (2. Dezember 1990). 20 Protokolle der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik, 10. Wahlperiode (5. April bis 2. Oktober 1990). Hg. vom Deutschen Bundestag, Band 3, Opladen 2000, S. 1380. 21 Ebd., S. 1382. 22 Vgl. Wolfgang Schäuble, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte. Hg. und mit einem Vorwort von Dirk Koch und Klaus Wirtgen, Stuttgart 1991.

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Die demokratische Konsolidierung

4.

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Die konstitutionelle Konsolidierung

Die Systemwechselforschung versteht unter der konstitutionellen Konsolidierung wesentlich die Frage der Verfassungsgebung.23 Die eine wissenschaftliche Richtung präferiert in einer parlamentarischen Demokratie eine größere Stabilität, die andere in einem präsidentiellen System. Da die DDR der Bundesrepublik Deutschland beitrat, löste sich die konstitutionelle Konsolidierung recht einfach, freilich nicht ganz so simpel, wie vielfach gemeint. Jedenfalls war evident: Die sozialistische Verfassung von 1968 mit ihrer Verfassungsrevision von 1974, die alle Anklänge an die Einheit der Nation gestrichen hatte, würde keine Zukunft haben. Das Ergebnis der ersten demokratischen Volkskammerwahl vom 18. März 1990 – die CDU siegte im Rahmen der „Allianz für Deutschland“ klar; auf die SPD entfiel gut jede fünfte, auf die PDS nicht einmal bzw. immerhin ( je nach Perspektive ) jede sechste Stimme – bestimmte maßgeblich die Entwicklung in der Verfassungsfrage. Laut Art. 5 des Einigungsvertrages empfahlen die Regierungen der beiden Vertragsparteien den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschland, „sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen, insbesondere – in Bezug auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern entsprechend dem Gemeinsamen Beschluss der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 1990, – in Bezug auf die Möglichkeit einer Neugliederung für den Raum Berlin / Brandenburg abweichend von den Vorschriften des Artikels 29 des Grundgesetzes durch Vereinbarung der beteiligten Länder, – mit den Überlegungen zur Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz sowie – mit der Frage der Anwendung des Artikels 146 des Grundgesetzes und in deren Rahmen einer Volksabstimmung“.24 Diese vage Formulierung ließ sich eher eng oder eher weit interpretieren. Die „Gemeinsame Verfassungskommission“ von je 32 Mitgliedern des Bundestages und Bundesrates, die Ende 1991 zusammengetreten war, „ein Musterstück Bonner Arithmetik“,25 legte zwei Jahre später ihren Bericht vor. Regierungs - und Oppositionsparteien erzielten in vielen Bereichen keine Einigung. Um dies nur an einem zentralen Punkt zu erläutern : SPD und Bündnis 90 wollten Volksab23 Vgl. Merkel, Systemtransformation, S. 113–118. 24 Zit. nach Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands ( Einigungsvertrag). In : Klaus Stern / Bruno Schmidt - Bleibtreu ( Hg.), Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit. Band 2 : Einigungsvertrag und Wahlvertrag mit Vertragsgesetzen, Begründungen, Erläuterungen und Materialien, München 1990, S. 93. 25 Tilman Giesen, Die Vorbereitung der Grundgesetzänderungen nach der deutschen Wiedervereinigung. Zur Rechtmäßigkeit von Organisation und Verfahren der Gemeinsamen Verfassungskommission, Berlin 1997, S. 241.

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stimmungen auf Bundesebene einführen. Sie trügen dazu bei, die Entfremdung zwischen Wählern und Gewählten abzuschwächen. Die repräsentative Demokratie werde dadurch gestärkt, nicht geschwächt. Das Volk sei in der Lage, auch komplexere Sachverhalte zu erfassen. CDU / CSU und FDP hingegen sahen in der Aufnahme plebiszitärer Elemente eine Störung des parlamentarischen Gefüges. Solche Elemente würden aktive Minderheiten privilegieren und den Abbau von Parteiverdrossenheit wohl nicht fördern. Da Verfassungsänderungen einer Zwei - Drittel - Mehrheit bedurften, war die Position des Status quo im Vorteil. Die Frontstellungen verliefen in den entscheidenden Fragen nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen den beiden großen parteipolitischen Lagern (Union und FDP versus SPD und Grüne ). Wer die verfassungsrechtliche Situation Revue passieren lässt, wird erkennen, dass die Parallele zur „kleinen Vereinigung“ – zum Saarland im Jahre 1957 – in vielfacher Hinsicht so nicht stimmt. Zwar ging die Einheit über den Weg des Artikels 23 GG, doch gibt es eine Reihe fundamentaler Unterschiede. Erstens : Ein Einigungsvertrag wurde, vor allem von ostdeutscher Seite, als sinnvoll angesehen. Beim Votum der Volkskammer für den Beitritt zur Bundesrepublik gingen die Abgeordneten von der vorherigen Unterzeichnung des Einigungsvertrages aus. Auf diese Weise – durch einen völkerrechtlichen Vertrag – erkannte die Bundesrepublik Deutschland die Rolle der demokratisch legitimierten DDR an. Der Vertrag bedurfte der entsprechenden Mehrheiten in beiden Parlamenten. Zweitens : Im Einigungsvertrag war, wie bereits erwähnt, eigens die Notwendigkeit bestimmter Änderungen des Grundgesetzes vorgesehen. Diese mussten vom Bundestag und vom Bundesrat verabschiedet werden und traten am 29. September 1990 in Kraft, also noch vor dem Beitritt der DDR. Drittens : Eigens wies der Einigungsvertrag auf die Möglichkeit künftiger Verfassungsänderungen hin, auch auf Art. 146 GG und eine Volksabstimmung. Die „Gemeinsame Verfassungskommission“ kam der Empfehlung nach und schlug vereinzelte verfassungsrechtliche Reformen vor. Viertens : Art. 146 GG wurde durch den Einigungsvertrag nicht gestrichen, sondern ( durch einen Relativsatz) ergänzt. „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Die Formulierung lässt damit die Frage nach einer neuen Verfassung weiterhin offen. Es kann also nicht die Rede davon sein, eine solche sei nun nicht mehr möglich. „Die Erledigung der Wiedervereinigungsfrage bedeutete nicht zugleich die Erledigung der Verfassungsfrage.“26 Insofern war der 1991 vorgelegte Verfassungsentwurf des „Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder“27 wohl politisch 26 So die überzeugende Argumentation bei Horst Dreier, Das Grundgesetz – eine Verfassung auf Abruf ? In : Aus Politik und Zeitgeschichte, B 18–19/2009, S. 19–26, hier 24. 27 Kuratorium für einen demokratischen Bund deutscher Länder, Vom Grundgesetz zur deutschen Verfassung. Denkschrift und Verfassungsentwurf, Baden - Baden 1991. Siehe dazu Bernd Guggenberger / Tine Stein ( Hg. ), Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit. Analysen – Hintergründe – Materialien, München 1991.

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aussichtslos, aber rechtlich durchaus gangbar. Die Bundesrepublik Deutschland hat das Recht, nicht die Pflicht, sich eine neue Verfassung zu geben. Eine ersatzlose Streichung von Art. 146 GG ist unangebracht. Insofern schlossen sich Art. 23 GG ( in seiner alten Form ) und Art. 146 nicht aus. Die normative Kraft des Faktischen sagt jedoch noch nichts über die demokratische Legitimität des Vorgehens aus. Gemäß der faktischen Kraft des Normativen wäre die eine wie die andere Lösung möglich gewesen. Die Gründe für ein Anstreben der Einheit nach Art. 23 GG waren weitaus plausibler als ein Vorgehen gemäß Art. 146 GG. Die Menschen in der DDR wollten offenkundig eine schnelle Einigung. Durch sie – man denke an die massenhafte Übersiedlung in den Westen oder an das Votum bei der ersten und zugleich letzten demokratischen Volkskammerwahl – war die Einheit auf eine nicht für möglich erachtete Weise beschleunigt worden. Art. 23 GG erschien als der weitaus einfachere, schnellere und sicherere Weg zu diesem begehrten Ziel. Schließlich hatte sich das Grundgesetz in seiner über 40 - jährigen Geschichte überaus bewährt und längst seinen Übergangscharakter verloren. Warum sollte das nicht bewahrt werden ? Überzeugende Argumente, eine neue Verfassung zu verabschieden, gab es nicht. Und wer das Grundgesetz behalten wollte, konnte doch nicht ernsthaft dafür plädieren, eine Verfassungsdebatte zu initiieren und danach mehr oder weniger dieselbe Verfassung zu verabschieden. Das wäre auf einen Etikettenschwindel hinausgelaufen. Die Anhänger einer Lösung nach Art. 146 GG verwiesen auf den einheitsstiftenden Charakter einer neuen Verfassung. Auf diese Weise werde den Menschen in der DDR ein Angebot bereitet, dass der Westen ihre Bedürfnisse anerkenne. Was die Politik jahrzehntelang gepredigt hatte, sei nun aus Gründen der Glaubwürdigkeit umzusetzen. Ansonsten werde ein Verfassungsauftrag nicht erfüllt. Ein bloßer Beitritt schaffe zweierlei Bürger. „Die Entscheidung für Art. 23 habe die nationalstaatlichen Interessen den republikanischen Belangen vor - und übergeordnet.“28 Mit den Worten von Ulrich K. Preuß : „Erst der Prozess der gemeinsamen Verfassungsgebung erzeugt, was die Verfassung voraussetzt, nämlich sich wechselseitig als Gleiche anerkennende Bürger und die daraus resultierenden Solidarpflichten.“29 Es gab nach dem Grundgesetz zwei gleichberechtigte Varianten, nicht eine mit einer höheren und eine mit einer niederen Legitimität. Wie man es dreht und wendet : Für die Herbeiführung der deutschen Einheit durch den Art. 146 GG sprach wenig. Sollte das Grundgesetz prinzipiell beibehalten werden, bestand kein Anlass, eine Nationalversammlung einzuberufen. Dieser hätte es nur bei gravierenden Verfassungsänderungen bedurft. Aber da solche mehrheitlich offenkundig nicht erwünscht waren, entfiel so auch die Notwendigkeit einer Volksabstimmung. Vieles spricht für die Auffassung, dass das zuweilen recht 28 Tilman Evers, Volkssouveränität im Verfahren. Zur Verfassungsdiskussion über direkte Demokratie. In : Aus Politik und Zeitgeschichte, B 23/1991, S. 3–15, hier 11. 29 Ulrich K. Preuß, Die Chance der Verfassunggebung. In : Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49/1991, S. 12–19, hier 13.

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abstrakte Thema den „Normalbürger“ weitaus weniger interessierte als seine unmittelbare soziale oder ökonomische Situation. Zumal eine niedrige Beteiligung bei einer Abstimmung die Legitimität unserer Demokratie selbst bei einem klaren Votum für die neue Verfassung wohl nicht gestärkt hätte. Wären Unzufriedenheit und Verdruss, Zufriedenheit und Hochstimmung unter den Bedingungen einer neuen Verfassung schwächer bzw. stärker ? Die Frage präjudiziert bereits ihre Antwort. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein „Staat der Mitte“ ( Jörn Ipsen ). Und die „Mitte des Staates“ ist durch das von allen tragenden gesellschaftlichen Kräften akzeptierte Grundgesetz gekennzeichnet. Am 23. Mai 1949, als die Menschen andere Probleme hatten, war nicht vorherzusehen, das Grundgesetz werde einmal die Verfassung aller Deutschen sein. Der Geltungsrang des Grundgesetzes nahm mit der Entfernung von seiner Verabschiedung zu. Auch wenn es etwas pathetisch klingen mag : Die Verfassung ist in einer guten Verfassung. Die Probleme, die Deutschland hat, gehen überwiegend nicht auf deren Defizite ( z. B. Finanzverfassung ) zurück, auch nicht auf die Art der Wiedervereinigung im Jahre 1990. Wir erlebten keine „feindliche Übernahme“ des Ostens durch den Westen.30 Dreimal ist der Versuch unternommen worden, eine neue Verfassung in Gang zu setzen : erstens durch die Initiative, etwa vom Zentralen Runden Tisch, eine eigene DDR - Verfassung zu installieren;31 zweitens durch den Weg über Art. 146 GG zur Wiedervereinigung zu gelangen; drittens schließlich durch die Möglichkeit des Einigungsvertrages, eine neue Verfassung gemäß Art. 146 GG ins Leben zu rufen. Dreimal scheiterten solche Aktivitäten an den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen.

5.

Die repräsentative Konsolidierung in den neuen Bundesländern

Die repräsentative Konsolidierung betrifft nach der Systemwechselforschung die politischen Akteure, insbesondere die Parteien. Nach 1945 hatte die SED, gestützt auf die Sowjetunion, ihr Machtbewusstsein nachhaltig und schnell unter Beweis gestellt.32 Die Blockparteien hatten nichts zu sagen, unterstützten aber „das System“. Durch die Revolution 1989/90 wurde dieses faktische Monopol der SED beseitigt.

30 Vgl. eindrucksvoll zu solchen Legenden Richard Schröder, Die wichtigsten Irrtümer über die deutsche Einheit, Freiburg i. Brsg. 2007. 31 Vgl. Michael Rogner, Der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR, Berlin 1993. 32 Vgl. u. a. Mike Schmeitzner, „Die Kommunistische Partei will nicht Oppositionspartei sein, sondern sie will Staatspartei sein.“ Die KPD / SED und das politische System der SBZ / DDR (1944–1950). In : Andreas Hilger / Mike Schmeitzner / Clemens Vollnhals (Hg.), Sowjetisierung oder Neutralität ? Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945–1955, Göttingen 2006, S. 271–311.

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Die Bundesrepublik Deutschland ist die erste Parteiendemokratie in der Geschichte Deutschlands. Die Weimarer Republik war dies nur partiell. Die Parteien bestimmen maßgeblich die politische Willensbildung. Hatten sie in früheren Epochen zu wenig Einfluss, so gehen ihr Allzuständigkeitsdenken und ihre Ämterpatronage nun zu weit. Kritiker wie Hans Herbert von Arnim warnen gar vor einem „Parteienkartell“.33 Die Bindung an die ( Volks - )Parteien hat in den letzten Jahren nachgelassen. Davon zeugt u. a. der höhere Nichtwähleranteil, eine gestiegene Zahl an Wechselwählern und die gesunkene Parteiidentifikation. Die neuen Bundesländer mit einem bemerkenswerten Repräsentationsdefizit haben ihren Anteil daran. Auch mussten die großen Parteien in den letzten 20 Jahren beträchtliche Mitgliederverluste hinnehmen, die CDU über 250 000 ( Stand Ende 2009 : 521 000), die SPD über 400 000 (Stand Ende 2009 : 513 000).34 Auch wenn eine gewisse Verdrossenheit vorherrscht und der Glaube an die Problemlösungskompetenz schwächer ausfällt als früher, wissen die Bürger gleichwohl : Eine angemessene und legitimierbare Alternative gibt es nicht. Das gilt ebenso für die neuen Bundesländer. Die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen der Art der Entmachtung der SED und den späteren Erfolgen der PDS besteht, ist nicht einfach zu klären. Verschiedene Antworten sind bei „Was wäre gewesen, wenn“ - Fragen möglich. Jedenfalls ist die verbreitete Auffassung nur bedingt zutreffend, dass die Erfolge der PDS weitgehend auf Fehler, Fehlgriffe und Fehlentscheidungen nach 1989 zurückgehen. Schließlich ist durch die Art des Verlaufs der Revolution die SED in gewisser Weise „rehabilitiert“ worden. Das musste Konsequenzen für die spätere Zeit haben. Durch den fließenden Übergang zur parlamentarischen Demokratie, den die SED wohl be - , aber schließlich nicht verhindert hat, kann ihr die Verteidigung des Machtmonopols um jeden Preis bis zum bitteren Ende nicht vorgehalten werden. Durch den friedlichen Verlauf und den gleitenden Übergang von der Diktatur zur Demokratie35 setzte eine von der SED gewollte Fixierung der Öffentlichkeit auf die Staatssicherheit als die Inkarnation des Bösen ein. Dabei fungierte die Staatssicherheit lediglich als Befehlsempfänger der SED, auch wenn Erich Mielke in Zusammenarbeit mit anderen für Honeckers Sturz eingetreten war. Diese ist heute nicht annähernd in gleichem Maße delegitimiert wie jene. Das Paradoxe besteht darin, dass wohl nur so – in einem schleichenden Übergang – überhaupt die Aussicht bestand, die SED von den Schalthebeln der Macht zu entfernen. Ein stärkerer Bruch mit der kommunistischen Vergangen33 Vgl. statt vieler Publikationen Hans Herbert von Arnim, Das System : Die Machenschaften der Macht, München 2001; ders., Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Politik, München 2009. Siehe dazu Eckhard Jesse, ( Über ) Scharfe Kritik am „Versagen der Politik“. Hans Herbert von Arnims „Volksparteien ohne Volk“. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 19 (2009) 3, S. 421–436. 34 Vgl. Oskar Niedermayer, Die Entwicklung der Parteimitgliedschaften von 1990 bis 2009. In : Zeitschrift für Parlamentsfragen, 41 (2010) 2, S. 421–437. 35 Vgl. u. a. Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow ( Hg.), Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR, Göttingen 1999.

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heit wäre 1989 nötig, aber kaum möglich gewesen. Der heutige Preis ist eine verbreitete Haltung, welche die DDR nicht als das sieht, was sie war : eine menschenverachtende Diktatur, wenngleich die offene brachiale Repression in den 70er und 80er Jahren nachgelassen hatte. Das Parteiensystem ist durch Wandel und Kontinuität gleichermaßen gekennzeichnet. Bei den meisten Parteisystemeigenschaften – Fragmentierung, Asymmetrie, Polarisierung, Legitimität, Volatiliät, Segmentierung, Regierungsstabilität – fallen unterschiedliche Werte in den neuen und den alten Bundesländern auf.36 So ist die Fragmentierung im Osten stärker, ebenso die Polarisierung, hingegen die Legitimität schwächer ( höhere Parteienverdrossenheit ). Das Parteiensystem ist durch das Aufkommen einer fünften Kraft ( erst als PDS, dann als Linkspartei, jetzt als Die Linke ) modifiziert worden – im Osten mehr als im Westen. Solange die Linke im Bund nicht als regierungsfähig gilt, kann es weder für das eine Lager noch für das andere Lager zu einer Regierungsmehrheit reichen wie 2005. Das höhere Maß an Segmentierung kann die Regierungsstabilität gefährden und neue Koalitionsvarianten begünstigen. Nicht alle Veränderungen sind wieder vereinigungsbedingt. So nahm bereits vor der deutschen Einheit in der Bundesrepublik die Fragmentierung ebenso zu wie die Volatilität. Die deutsche Einheit hat allerdings manchen Trend verschärft. Nun ließe sich die Meinung vertreten, der „kleine“ Osten werde den „großen“ Westen nicht stark beeinflussen, aber die Erfolge der Linken im Westen sprechen eine andere Sprache. Sah es zunächst danach aus, als gleiche sich das ostdeutsche Parteiensystem mit der Wiedervereinigung dem im Westen an, so ist das nicht eingetroffen.37 Die Parteien, die stärker auf Gleichheit setzen, schneiden im Osten bei Bundestagswahlen besser ab, „bürgerliche“ im Westen. Postmaterialistisches Denken ist in den neuen Ländern angesichts der ökonomischen Herausforderungen ( noch ) schwächer, grüne und liberale Milieus sind weniger ausgeprägt. Dieser Befund dürfte auch ein Grund für die geringere Verankerung der Parteiendemokratie sein. Das Parteiengefüge mag im Umbruch sein. Sorgen bereitet weniger die Auffächerung des Parteiensystems als vielmehr der beträchtliche Rückhalt für die Linke – eine Partei, die die „Systemfrage“ stellt und die in ihrem Programmentwurf von 2010 offen für einen „Systemwechsel“ eintritt. Und das in Deutschland, in dem der letzte Systemwechsel – von der Diktatur zur Demokratie – erst 20 Jahre zurückliegt. Das Nachlassen des antiextremistischen Grundkonsenses ( vor allem im intellektuellen Milieu ) ist weniger eine Folge der Wiedervereinigung, war vielmehr schon vorher evident. Innere Stabilität, auch im Bereich der Wirtschafts - und Sozialpolitik, sowie äußere Verlässlichkeit gehören zwei Jahrzehnte nach der so unerwarteten wie unverhofften deutschen Einheit weiterhin 36 Vgl. Oskar Niedermayer, Das fluide Fünfparteiensystem nach der Bundestagswahl 2005. In : ders. ( Hg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2005, Wiesbaden 2008, S. 9–35. 37 Vgl. u. a. Eckhard Jesse / Roland Sturm ( Hg.), Bilanz der Bundestagswahlen 2009. Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen, Wiesbaden 2010.

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zu den Grundfesten der zweiten deutschen Demokratie. Die tragenden politischen Kräfte – das gilt für die Union und die FDP ebenso wie für die SPD und die Grünen – wollen an ihnen nicht rütteln.

6.

Verhaltenskonsolidierung in den neuen Bundesländern

Bei der Verhaltenskonsolidierung geht es nach der Systemwechselforschung um informelle politische Akteure. Je stärker die Konsolidierung auf den ersten beiden Ebenen funktioniert, umso schwerer haben es Vetomächte, Gegenpositionen aufzubauen.38 In einem diktatorischen System wie der DDR, das über vier Jahrzehnte bestand, bildeten sich um die politischen Akteure Kräfte, die diesen Unterstützung gewährten oder sich mit ihnen arrangierten. Die Gleichschaltung funktionierte. Am wenigsten galt dies für die Kirchen. Durch die Vereinigung des Landes wurden manche wichtigen informellen Akteure entmachtet. Bei anderen wiederum setzte sich „der Westen“ durch. Im militärischen Bereich etwa gelang die Integration der Reste der Nationalen Volksarmee in die Bundeswehr gut. Häufig gelangten westliche Eliten an die Spitze der informellen politischen Akteure, etwa im wirtschaftlichen Sektor. In einigen gesellschaftlichen Bereichen ist ein Elitenwechsel weithin ausgeblieben ( z. B. in der kommunalen Hierarchie und anderen Verwaltungszweigen). Wer früher „oben“ stand, wurde nicht zwangsläufig abgehalftert, und wer heute bestimmte Qualifikationen nicht besitzt ( etwa deshalb, weil er damals keine politischen Konzessionen machte ), ist erneut „der Dumme“. Ein Gefühl der Ohnmacht bemächtigt sich vieler. Die Linke als Nachfolgepartei der SED ist durch ihre Mitglieder, die überwiegend nicht mehr im Arbeitsprozess stehen, gesellschaftlich nach wie vor gut und fest verankert, z. B. als „Kümmererpartei“. Das gilt für Mieterinitiativen ebenso wie für Sportvereine. Sie unterstützt auch extremistische Vereinigungen mit harmlos - wohlklingenden Namen ( etwa : „Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrechten und Menschenwürde“ oder „Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung“)39; diese diffamieren die Oppositionellen von einst und gerieren sich als Kämpfer gegen die West - „Kolonisatoren“, ohne das marode Erbe des SED - Sozialismus zur Sprache zu bringen. Allerdings geht von den informellen politischen Akteuren keine Gefahr für die demokratische Ordnung aus, zumal in den neuen Bundesländern eine Konsenskultur über wiegt. So weist beispielsweise die „Volkssolidarität“, eine aus der DDR übernommene Massenorganisation, die sich um Kranke und sozial Schwache kümmert, zwar eine gewisse Nähe zur Partei Die Linke auf, ohne dass dies in der Praxis eine sonderliche Rolle spielt.40 38 Vgl. Merkel, Systemtransformation, S. 122–124. 39 Vgl. Norman Bock, Postkommunistischer Geschichtsrevisionismus. Die Verklärung der SED - Diktatur. In : Gesellschaft – Wirtschaft – Politik, 58 (2009) 3, S. 377–386. 40 Zum Selbstverständnis : Ernst - Günter Lattka, „Hurra, wir leben !“ 60 Jahre Volkssolidarität, Berlin 2005.

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7.

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Konsolidierung der Bürgergesellschaft

Die Konsolidierung der Bürgergesellschaft, die auf die Masse der Bevölkerung zielt, ist in gewisser Weise das letzte Glied der demokratischen Konsolidierung.41 Die politische Kultur der DDR war stark durch obrigkeitliche Traditionen geprägt. Eine diktatorische Erfahrung von fast 60 Jahren musste Spuren hinterlassen. Für manche galt die DDR als das „rote Preußen“ ( Wolfgang Venohr ). Solche Traditionen ändern sich nicht von heute auf morgen. Die empirischen Befunde über die Kontinuität und den Wandel der politischen Kultur fallen differenziert aus.42 Die Systemakzeptanz ist im Westen stärker als im Osten, das Vertrauen in die Institutionen ebenso. Westdeutsche fühlen sich im Vergleich zu den Ostdeutschen eher als Deutsche ( und nicht als West- oder Ostdeutsche ), wobei starke Angleichungstendenzen auszumachen sind. Größere Unterschiede bestehen bei der Frage nach dem Sozialismus - Verständnis ( im Osten gilt der Sozialismus einer großen Mehrheit ununterbrochen seit 1990 als gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde; im Westen halten sich Befürworter und Gegner die Waage ) und – damit zusammenhängend – bei dem Gleichheits - bzw. Freiheitsverständnis. Nach den neuesten Zahlen geben 36 Prozent der Westdeutschen der Gleichheit den Vorzug und 36 Prozent der Ostdeutschen der Freiheit.43 Die Soziale Marktwirtschaft findet in den neuen Bundesländern nicht so viel Unterstützung wie in den alten. Zum einen hängt dies mit der Sozialisation zusammen ( Prägung durch den DDR - Sozialismus ), zum anderen mit der gegenwärtigen Situation ( fast doppelt so hohe Arbeitslosigkeit im Osten ). Die Differenzen zwischen Ost und West sind nirgendwo so hoch wie bei der Einschätzung der DDR. Während unter den Westdeutschen weniger als zehn Prozent der DDR mehr gute als schlechte Seiten zubilligen, ist dies bei Ostdeutschen gänzlich anders. Wenn diese Aussage mehr Bürger bejahen als verneinen, so spielt Nostalgie eine gewisse Rolle, nicht der Wunsch nach einer Rückkehr zu DDR - Verhältnissen.44 Es kann keine Rede davon sein, Deutschland sei zwar politisch vereinigt, aber mental geteilt. Wer pauschal die weltoffene Bürgerkul41 Vgl. Merkel, Systemtransformation, S. 124–127. 42 Vgl. etwa Jürgen W. Falter / Oscar W. Gabriel / Hans Rattinger ( Hg.), Wirklich ein Volk? Die politischen Orientierungen von Ost - und Westdeutschen im Vergleich, Opladen 2000; dies. ( Hg.), Wächst zusammen, was zusammen gehört ? Stabilität und Wandel politischer Einstellungen im wiedervereinigten Deutschland, Baden - Baden 2005; dies. (Hg.), Der gesamtdeutsche Wähler. Stabilität und Wandel des Wählerverhaltens im wiedervereinigten Deutschland, Baden - Baden 2007; dies./ Harald Schoen ( Hg.), Sind wir ein Volk ? Ost - und Westdeutschland im Vergleich, München 2006. 43 Vgl. Renate Köcher ( Hg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 2003–2009. Band 12, Berlin 2009, S. 132 f. 44 Vgl. Katja Neller, DDR - Nostalgie. Dimensionen der Orientierungen der Ostdeutschen gegenüber der ehemaligen DDR, ihre Ursachen und politischen Konnotationen, Wiesbaden 2006; Armin Fuhrer, Von Diktatur keine Spur ? Mythen und Fakten über die DDR, München 2009; Thomas Großbölting ( Hg.), Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR - Legenden auf dem Prüfstand, Berlin 2009.

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tur der alten Bundesländer gegen die Obrigkeitskultur des Osten ausspielt,45 bedient Klischees. Das Ausmaß an „Political Correctness“ ist in den neuen Bundesländern offenkundig geringer – einfach deshalb, weil im Osten manche „Korrektheit“ als Luxusproblem erscheint. Für beide Landesteile gilt : Das Verhältnis zu den nationalen Symbolen hat sich allmählich normalisiert, ist weniger verkrampft, nicht zuletzt dank der deutschen Einheit. Patriotismus ist heute geachtet, Nationalismus hingegen weiter geächtet.

8.

Schluss

Die Friedliche Revolution in der DDR im Zusammenhang mit den Erosionserscheinungen im gesamten Ostblock führte nach den ersten und letzten demokratischen Volkskammerwahlen schnell zur deutschen Einheit dank des mehrheitlichen Willens ihrer vielfach auf den Westen ausgerichteten Bürger. Die mutigen Oppositionellen der ersten Stunde gerieten bald ins gesellschaftliche Abseits. Nach Öffnung der Mauer trafen sich deren Repräsentanten mit denen der PDS in dem Wunsch nach einem „dritten Weg“, obwohl prinzipielle Unterschiede zwischen ihnen bestanden.46 Die Schaffung einer neuen Verfassung blieb angesichts der Geltungskraft der Bundesrepublik Deutschland aus. Durch diesen Sonderweg47 wurde das westdeutsche Parteiensystem auf den Osten übertragen, wobei eine gewisse Linksverschiebung nicht nur bei den Stärkeverhältnissen, sondern auch in der programmatischen Ausrichtung erkennbar ist. Die informellen Akteure wie Gewerkschaften und Unternehmer bevorzugen angesichts schwieriger Umstände offenkundig ein höheres Maß an Konsens, pflegen keine Polarisierung ohne Substanz. Die politische Kultur in den neuen Bundesländern weist wohl Unterschiede zu den alten auf ( z. B. geringeres Institutionenvertrauen ), aber das Wort von einer gesellschaftlich „gespaltenen Nation“ in einem politisch geeinten Land stimmt so nicht und kultiviert einen Pseudogegensatz. Gleichwohl ist der harte Extremismus der NPD ( etwas ) und der weiche Extremismus der Linken ( viel ) stärker als in den alten Bundesländern. Beides fußt auf situations - und sozialisationsbedingten Ursachen. Es gibt, was die Bewertung der diktatorischen Ver45 In diese Tendenz ging die erste größere Studie zur politischen Kultur im vereinigten Deutschland : Martin und Sylvia Greiffenhagen, Ein schwieriges Vaterland. Zur politischen Kultur im vereinigten Deutschland, München 1993. 46 Vgl. Dirk Rochtus, Zwischen Realität und Utopie. Das Konzept des „dritten Weges“ in der DDR 1989/90, Leipzig 1999; Rainer Land / Ralf Possekel, Fremde Welten. Die gegensätzliche Deutung der DDR durch SED - Reformer und Bürgerbewegungen in den 80er Jahren, Berlin 1998; Markus Trömmer, Der verhaltene Gang in die deutsche Einheit. Das Verhältnis zwischen den Oppositionsgruppen und der ( SED - )PDS im letzten Jahr der DDR, Frankfurt a. M. 2002. 47 Vgl. Klaus von Beyme, Der kurze Sonderweg Deutschlands zur Vermeidung eines erneuten Sonderweges. Die Transformation Ostdeutschlands im Vergleich postkommunistischer Systeme. In : Berliner Journal für Soziologie, 6 (1996) 3, S. 305–316.

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gangenheit betrifft, gewisse Parallelen zur politischen Kultur in der Bundesrepublik bis Mitte der 60er Jahre. Wer die Konsolidierung des neuen Systems betrachtet, hat Ex - post - Konstruktionen zu vermeiden. Das Ende einer politischen Ordnung muss nicht in jedem Fall mit dem gescheiterten Anfang zusammenhängen, sondern kann andere Ursachen haben. Der Begriff „Konsolidierung“ suggeriert Stabilität. Diese mag trügerisch sein, wie nicht nur die Geschichte der DDR zeigt. Noch kurz vor der Friedlichen Revolution galt sie als ein zwar nicht demokratisch legitimierter, doch weithin gefestigter Staat. Die verbreitete Annahme der Konsolidierungsforschung, es bestehe ein Zusammenhang zwischen dem Grad der Konsolidierung des Staatsgebildes und der Spezifik des alten, gilt weder für den Systemwechsel 1945/49 noch für den 1989/90 in Deutschland. Die folgende Aussage ist zwar prinzipiell einleuchtend: „Am schwierigsten erscheint der Übergang vom extremen Autokratietyp Totalitarismus zum voll entwickelten, konsolidierten demokratischen Verfassungsstaat.“48 Wenn die Entwicklung nach 1945 im Westen Deutschlands und nach 1989 in ganz Deutschland aber derart erfreulich verlief, hat das folgende Gründe : Das NS - Regime war so diskreditiert, dass kaum jemand seine Rückkehr anstrebte. Zudem betrieben die argwöhnischen Westmächte eine „Reeducation“- Politik. Sie hätten nichts anderes als einen demokratischen Verfassungsstaat akzeptiert, die sowjetischen Kommunisten nichts anderes als eine Diktatur. Insofern kommt bei der Konsolidierungsforschung der externe Aspekt vielfach zu kurz. Und die Konsolidierung der neuen Länder bereitete deshalb weniger Probleme als die Konsolidierung anderer einstiger Diktaturen, weil der schnelle Beitritt zur größeren Bundesrepublik ihre Integration förderte. „Deutschlands totalitäre Tradition“49 – sie ist offenkundig Geschichte.

48 Uwe Backes, Totalitarismus und Transformation – Eine Einführung. In : ders./ Tytus Jaskułowski / Abel Polese ( Hg.), Defizite der Demokratiekonsolidierung in Mittel - und Osteuropa, Göttingen 2009, S. 13–26, hier 21. 49 Vgl. Hans Wilhelm Vahlefeld, Deutschlands totalitäre Tradition. Nationalsozialismus und SED - Sozialismus als politische Religionen, Stuttgart 2002.

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Die kulturelle Prägung macht den Unterschied ! Zur Regimeentwicklung postkommunistischer Staaten Steffen Kailitz

„I will be blunt : Without a deep understanding of time, you will be lousy political scientists, because time is the dimension in which ideas and institutions and beliefs evolve.“1

Wenn wir vom Wunderjahr 1989 ausgehen, dann ist das Schlüsselereignis die Über windung der kommunistischen Autokratien. Die Grundgesamtheit aller Fälle sind, ausgehend vom „kritischen Ereignis“, aus einer systematischen Perspektive heraus alle postkommunistischen Staaten, und nicht etwa lediglich die ostmitteleuropäischen Staaten. Es handelt sich um insgesamt 30 Staaten, die aus weit weniger kommunistischen Staaten, z. T. durch Staatszerfall, hervorgegangen sind. Allein die Hälfte dieser Staaten war vorher Teil der Sowjetunion, fünf gehörten zum ehemaligen Jugoslawien. Ich untersuche mit Blick auf diese Länder zwei Fragen : Welche Regime haben wir 20 Jahre nach dem Umbruch in den postkommunistischen Staaten vor uns? Und : Welche Gründe sind dafür ( mit - )verantwortlich, dass sich in einigen Staaten rasch eine liberale Demokratie etablierte, während andere Staaten weiter oder erneut in autokratisches Fahrwasser gerieten ? Wer sich daran macht, diese Fragen zu beantworten, kann sich inzwischen auf die Schultern von einer Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen stellen, die bereits an dem Thema gearbeitet und viele bedeutsame Erkenntnisse zusammengetragen haben.2

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Douglass C. North, In Anticipation of the Marriage of Political and Economic Theory. In : James E. Alt / Margaret Levi / Elinor Ostrom ( Hg.), Competition and Cooperation : Conversations with Nobelists about Economics and Political Science, New York 1999, S. 316. North zählt wie die Herausgeberin Ostrom zu den Nobelpreisträgern aus dem Bereich der Politikwissenschaften ( konkret dem Teilbereich Politische Ökonomie ), die einen Nobelpreis für Ökonomie erhielten. Vgl. nur folgende kleine Auswahl : Uwe Backes / Tytus Jaskulowski / Abel Polese ( Hg.), Totalitarismus und Transformation. Defizite der Demokratiekonsolidierung im Mittel und Osteuropa, Göttingen 2009; Timm Beichelt, Demokratische Konsolidierung im postsozialistischen Europa. Die Rolle der politischen Institutionen, Opladen 2001; Frank Bönker / Klaus Müller / Andreas Pickel ( Hg.), Postcommunist Transformation and the Social Sciences : Cross - Disciplinary Approaches, Lanham 2002; Karen Dawisha / Bruce Parrott ( Hg.), The Consolidation of Democracy in East - Central Europe, Cambrid-

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Steffen Kailitz

Tabelle 1 : Postkommunistische Staaten3 Albanien Kroatien Armenien Lettland Aserbaidschan Litauen Bosnien-Hercegovina Mazedonien Bulgarien Moldawien Estland Mongolei

Serbien Slowakei Slowenien Tadschikistan Tschechien Turkmenistan

Deutschland-Ost ( nur Teilstaat: Montenegro daher Sonderfall!)

Ukraine

Georgien Kasachstan Kirgistan

Ungarn Usbekistan Weißrussland

Polen Rumänien Russland

Die postkommunistischen Staaten zeichnen sich dadurch aus, dass die Regimewechsel vom gleichen Regimetypus ( kommunistische Einparteiautokratien ) im gleichen Zeitraum in einem geographisch zusammenhängenden Gebiet ( allerdings mit sehr unterschiedlicher Kulturkreiszugehörigkeit ) ausgingen. Zumindest die bedeutenden Variablen Zeit und Vorgängerregime sind also für alle Fälle annähernd gleich. Wegen der gemeinsamen kommunistischen Vergangenheit weisen alle postkommunistischen Staaten ein gemeinsames Erbe auf, das sie von den neuen oder erneuerten Demokratien in Lateinamerika, Afrika und Asien unterscheidet.4 Als „leninistische Erbschaft“ gelten dabei etwa eine

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ge 1999; Larry Diamond / Marc F. Plattner ( Hg.), Democracy After Communism, Baltimore 2002; Grzegorz Ekiert / Stephen E. Hanson ( Hg.), Capitalism and Democracy in Central and Eastern Europe. Assessing the Legacy of Communist rule, Cambridge 2003; Graeme J. Gill, Democracy and Post - Communism. Political Change in the Post - Communist World, London 2002; Derek S. Hutcheson / Elena A. Korosteleva ( Hg.), The Quality of Democracy in Post - Communist Europe, London 2006; Michael McFaul / Kathryn Stoner - Weiss ( Hg.), After the Collapse of Communism. Comparative Lessons of Transition, New York 2004; Valerie Bunce / Michael McFaul / Kathryn Stoner - Weiss ( Hg.), Democracy and Authoritarianism in the Post - Communist World, Cambridge 2010; Jørgen Møller, Post - Communist Regime Change. A Comparative Study, London 2009; John D. Nagle / Alison Mahr, Democracy and Democratization. Post - Communist Europe in Comparative Perspective, London 1999; Friedbert W. Rüb, Schach dem Parlament. Regierungssysteme und Staatspräsidenten Osteuropas in den Demokratisierungsprozessen Osteuropas, Wiesbaden 2001; Svend - Erik Skaaning, Democracy besides Elections : An Inquiry into the ( Dis )Respect for Civil Liberty in Latin American and Post - Communist Countries after the Third Wave, Aarhus 2006; David Stark / Laszlo Bruszt, Postsocialist Pathways. Transforming Politics and Property in East Central Europe, Cambridge 1997. Der Kosovo wurde wegen der ausgesprochen kurzen Zeit der Unabhängigkeit nicht berücksichtigt. Zum Erbe des Kommunismus vgl. u. a. Ken Jowitt, New World Disorder : The Leninist Extinction, Berkeley 1992.

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Die kulturelle Prägung macht den Unterschied

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fehlende Kompromissfähigkeit der zentralen Akteure, ein starker Nationalismus, ein stark verbreiteter Egalitarismus und Etatismus, ein Mangel an Eigeninitiative und ein Misstrauen gegenüber politischen Visionen.5 Nicht alle Punkte des „Erbes“ sind dabei als negativ für die Demokratisierungschancen anzusehen. So wiesen alle postkommunistischen Staaten zum Zeitpunkt der Demokratisierung bis hin zu der Mongolei und den zentralasiatischen Republiken durchweg einen im Vergleich zu anderen Weltregionen hohen Bildungsstand und eine relativ geringe soziale Ungleichheit auf. Aus der totalitären Anlage des kommunistischen Herrschaftsanspruchs waren aber zudem alle diese Staaten bei ihrem Regimewechsel im Unterschied zu nicht - postkommunistischen Staaten nach dem Umbruch mindestens mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert : Die postkommunistischen Staaten mussten zugleich den Übergang von einer Diktatur zu einer Demokratie und von einer zentralen Plan - und Kommandowirtschaft zu einer Marktwirtschaft bewältigen.6 Zudem gab es in weiten Teilen des postkommunistischen Raums Probleme im Zuge einer Auf lösung alter Staaten wie Jugoslawien und der Sowjetunion.7

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6

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Vgl. zu diesen Punkten u. a. Grzegorz Ekiert, Peculiarities of Post - communist Politics : the Case of Poland. In : Studies in Comparative Communism, 25 (1992), S. 341–361; Barbara Geddes, A Comparative Perspective on the Leninist Legacy in Eastern Europe, In : Comparative Political Studies, 28 (1995), S. 239–274; Jowitt, New World Disorder; Juan Linz / Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America, and Post - communist Europe, Baltimore, Md. 1996, S. 244–254; Piotr Sztompka, Civilizational Incompetence : The Trap of Post - Communist Societies. In : Zeitschrift für Soziologie, 22 (1993), S. 85–95. Die Betonung der Faktoren des „leninistischen Erbes“ in Ostdeutschland spielt etwa eine bedeutende Rolle in der Diskussion um die Frage der unterschiedlichen Ausgestaltung der politischen Kultur in Ost - und Westdeutschland. Für die Sozialwissenschaften ist umgekehrt die vergleichende Untersuchung west - und ostdeutscher Einstellungsmuster die einzige methodisch überzeugende Möglichkeit, Konturen des „leninistischen Erbes“ in den Einstellungen der Bevölkerung herauszuarbeiten. Vgl. u. a. Alberto Alesina / Nicola Fuchs Schündeln, Good bye Lenin ( or not ?) : The Effect of Communism on People’s Preferences, 2006, http ://www.nber.org / papers / w11700 (15. 2. 2010). Vgl. u. a. Jon Elster, The Necessity and Impossibility of Simultaneous Economic and Political Reform. In : Piotr Ploszajski ( Hg.), Philosophy of Social Choice, Warsaw 1990, S. 309–316; Claus Offe, Das Dilemma der Gleichzeitigkeit. Demokratisierung und Marktwirtschaft in Osteuropa. In : Merkur, 45 (1991), S. 279–292, Claus Offe, Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation im Neuen Osten, Frankfurt a. M. 1994. Vgl. u. a. Valerie Bunce, The National Idea : Imperial Legacies and Post - Communist Pathways in Eastern Europe. In : East European Politics and Societies, 19 (2005), S. 406– 442; Taras Kuzio, Transition in Post - Communist States : Triple or Quadruple ? In: Politics, 21 (2001), S. 168–177.

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1.

Voraussetzungen der Regimeentwicklung in den postkommunistischen Staaten

1.1

Kulturelle Prägung

Obgleich alle postkommunistischen Staaten in einem geographisch abgrenzbaren Raum zu finden sind, hatten Gebiete wie Tadschikistan und Ostdeutschland eine gänzlich andere kulturelle, soziale, politische und ökonomische Tradition in der präkommunistischen Zeit und damit auf der Grundlage der Annahme einer pfadabhängigen Entwicklung8 auch in der kommunistischen Zeit.9 Bereits Max Weber machte das Argument stark, dass die kulturelle Prägung eines Staates einen entscheidenden Einfluss auf seine Entwicklung hat.10 Bis heute argumentieren bedeutende Forscher wie Ronald Inglehart, dass ein Zusammenhang zwischen der Kulturkreiszugehörigkeit und der Regimeentwicklung besteht.11 Kulturelle Prägungen können demnach die Etablierung und Stabilisierung von Demokratie begünstigen oder behindern. Diese kulturalistische Sichtweise, die in den letzten Jahren zunehmende Verbreitung in der Transformationsforschung gefunden hat, sucht die transformationsbegünstigenden und - behindernden Faktoren im langfristigen – in den verschiedenen Gebieten des 8 Der Begriff „pfadabhängig“ entstammt dem Vokabular des historischen Institutionalismus und wird hier in einem weiten Sinne benutzt. Vgl. ausführlich zum Konzept der „Pfadabhängigkeit“ in den Sozialwissenschaften Paul Pierson, Increasing Returns, Path Dependence, and the Study of Politics. In : The American Political Science Review, 94 (2000), S. 251–267, und James Mahoney / Daniel Schensul, Historical Context and Path Dependence. In : Robert E Goodin ( Hg.), The Oxford Handbook of Political Science, Oxford 2009, S. 454–471. Vgl. als hervorragendes Beispiel der Analyse einer pfadabhängigen Entwicklung James Mahoney, The Legacies of Liberalism. Path Dependence and Political Regimes in Central America, Baltimore 2001. 9 Vgl. etwa Andrew C. Janos, East Central Europe in the Modern World. The Politics of the Borderlands from Pre - to Postcommunism, Stanford 2000. 10 Vgl. u. a. Shmuel Noah Eisenstadt, The Axial Age. The Emergence of Transcendental Visions and the Rise of Clerics. In : European Journal of Sociology, 23 (1982), S. 294– 314; Lawrence E. Harrison / Samuel P. Huntington ( Hg.), Culture Matters. How Values Shape Human Progress, New York 2001; Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996; Ronald Inglehart / Wayne E. Baker, Modernization, Cultural Change, and the Persistence of Traditional Values. In : American Sociological Review, 65 (2000), S. 19–51; Deepak Lal, Unintended Consequences : The Impact of Factor Endowments, Culture, and Politics on Long - Run Economic Performance, Cambridge 1998; Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [1920], München 2004. Mit Blick auf den Verweis auf Huntington ist anzumerken, dass es hier lediglich um die bereits von Max Weber behauptete Existenz von Kulturzonen geht und nicht um die im Anschluss an Huntingtons Werk sehr emotional diskutierte Frage, ob die Weltpolitik künftig von einem Konflikt der Kulturen geprägt sein wird. Im Unterschied zur Triftigkeit einer Kulturzonenunterteilung steht diese These Huntingtons auf höchst wackligen Beinen. 11 Kulturelle Prägungen können demnach die Demokratisierung begünstigen oder behindern. Vgl. Ronald Inglehart, Culture and Democracy. In : Lawrence E. Harrison / Samuel P. Huntington ( Hg.), Culture Matters. How Values Shape Human Progress, New York 2001, S. 82–96.

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kommunistischen Raums unterschiedlichem – historischen Erbe.12 Aus dem Blickwinkel dieses Ansatzes lassen sich die postkommunistischen Staaten grob fünf unterscheidbaren Regionen zuordnen :13 12 Vgl. u. a. Sten Berglund / Joakim Ekman / Frank H. Aarebrot, The Challenge of History in Central and Eastern Europe. In : Sten Berglund / Joakim Ekman / Frank H. Aarebrot (Hg.), The Handbook of Political Change in Eastern Europe, Cheltenham 2004, S. 13– 56; Frank Bönker / Timm Beichelt / Jan Wielgohs, Kulturelle Determinanten postsozialistischer Gesellschaftsentwicklung. Ein Diskussionsüberblick. In : Berliner Debatte Initial, 15 (2004) 5/6, S. 4–12; Frank Bönker / Jan Wielgohs, Kultur als Transformationsbarriere : Entwicklungslinien einer Diskussion. In : Petra Stykow / Jürgen Beyer (Hg.), Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung ? Die ungewisse Aussichtslosigkeit rationaler Politik, Wiesbaden 2004, S. 223–237; Zbigniew Brzezinski, The Primacy of History and Culture. In : Larry Diamond / Marc F. Plattner ( Hg.), Democracy After Communism, Baltimore 2002, S. 194–200; Carsten Goehrke, Transformationschancen und historisches Erbe : Versuch einer vergleichenden Erklärung auf dem Hintergrund europäischer Geschichtslandschaften. In : Carsten Goehrke / Seraina Gilly ( Hg.), Transformation und historisches Erbe in den Staaten des europäischen Ostens, Frankfurt a. M. 2000, S. 653–741; Herbert Kitschelt, Accounting for Outcomes of Post - Communist Regime Change : Causal Depth or Shallowness in Rival Explanations ? ( Paper presented at the annual meeting of the American Political Science Association in Atlanta, GA), 1999, https ://netfiles.uiuc.edu / fesnic / fspub /1_Kitschelt_1999_Mechanisms.pdf (18. 1. 2010); Herbert Kitschelt, Accounting for Postcommunist Regime Diversity : What Counts as a Good Cause ? In : Grzegorz Ekiert / Stephen E. Hanson ( Hg.), Capitalism and Democracy in Central and Eastern Europe. Assessing the Legacy of Communist rule, Cambridge 2003, S. 49–86; Herbert Kitschelt, Political Democratization and Economic Liberalization in Postcommunist Polities. On Innovation Beyond Historical Path Dependence. An Update, Durham 2005; Stephan Panther, Kulturelle Faktoren in der Transformation Osteuropas. In : Thomas Eger ( Hg.), Kulturelle Prägungen wirtschaftlicher Institutionen und wirtschaftspolitischer Reformen, Berlin 2002, S. 95–118; Martin Raiser, Trust in Transition. In : Frank Bönker / Klaus Müller / Andreas Pickel ( Hg.), Postcommunist Transformation and the Social Sciences: Cross-Disciplinary Approaches, Lanham 2002, S. 77–96. Diese Perspektive ist nicht zu verwechseln mit der – oben angesprochenen – ebenfalls existierenden Perspektive, die sich auf die Auswirkungen des kommunistischen Erbes bezieht. Dies ist ebenfalls eine bedeutsame Perspektive, aber sie ist für den Binnenvergleich der postkommunistischen Staaten weit weniger relevant, da alle postkommunistischen Staaten diese Merkmale haben und unterschiedliche Transformationserfolge durch diese Faktoren daher nicht erklärt werden können. 13 Die kulturelle Abgrenzbarkeit dieser Regionen legen auch zahlreiche andere Publikationen dar. Vgl. u. a. Sten Berglund / Joakim Ekman / Frank H. Aarebrot, The Diversity of Post - Communist Europe. In : Sten Berglund / Joakim Ekman / Frank H. Aarebrot (Hg.), The Handbook of Political Change in Eastern Europe, Cheltenham 2004, S. 1–12, hier 5; Kitschelt, Political Democratization and Economic Liberalization in Postcommunist Polities, S. 6. Weiterhin wird der Kulturraum in vergleichenden Studien als erklärende Variable genutzt. Vgl. u. a. Svend - Erik Skaaning, Corruption in Post - Communist Countries. In : Uwe Backes / Tytus Jaskulowski / Abel Polese ( Hg.), Totalitarismus und Transformation. Defizite der Demokratiekonsolidierung im Mittel - und Osteuropa, Göttingen 2009, S. 223–238, hier 234 f. Analog wäre auch mit Blick auf Westeuropa eine Ausdifferenzierung der Regionen notwendig. So unterscheidet sich etwa die kulturelle Prägung der südeuropäischen Länder etwa deutlich von jener Skandinaviens. In eine Mittelkategorie Zentraleuropa zwischen eher westlich und eher östlich orientierten Staaten würden in einer Kategorisierung von Gesamteuropa neben Deutschland und Österreich auch Tschechien gehören. Innerhalb dieser Staaten prallten unterschiedliche Staatsvorstellungen aufeinander. In Deutschland war etwa die Rheinschiene klar von westlichen Kulturmustern geprägt, Ostelbien dagegen deutlich

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1. Ostmitteleuropa : Tschechien, Slowakei, Slowenien, Ungarn, Polen, Ostdeutschland ( ehemals DDR ); 2. Baltikum : Estland, Lettland, Litauen; 3. Südosteuropa : Albanien, Bosnien - Hercegovina, Bulgarien, Kroatien, Mazedonien, Moldawien, Montenegro, Rumänien, Serbien; 4. Osteuropa : Georgien, Russland, Ukraine, Weißrussland, Georgien; 5. Zentralasien und Kaukasus : Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgistan, Mongolei, Tadschikistan, Usbekistan. Bei der Abgrenzung dieser Räume geht es wohlgemerkt um die kulturelle Prägung und nicht bloß um eine territoriale Abgrenzung. Unter einer Region verstehe ich eine Gruppe von – in aller Regel geographisch benachbarten – Ländern, die über gemeinsame kulturelle, soziale, politische und ökonomische Traditionen verfügen, die sie von anderen Regionen unterscheiden. Die obige Abgrenzung funktioniert relativ gut. Vormoderne kulturelle und religiöse Traditionsbestände spielen in den Ländern Ostmitteleuropas, die durch Renaissance, Reformation und Aufklärung geprägt sind, trotz möglicher relativierender Argumente eine weit geringere Rolle als etwa in den zentralasiatischen Republiken oder der Mongolei. Die Staaten der ersten und zweiten Gruppe sind katholisch oder protestantisch geprägt. In der dritten Gruppe mischen sich die Einflüsse. Wenn in Europa mit Samuel P. Huntington eine Grenzlinie zwischen einer östlichen und westlichen Kulturzone gezogen wird, würden Kroatien und Rumänien mit ihrer katholischen Prägung noch zum Westen zählen. Die Staaten der vierten Gruppe sind durch das orthodoxe Christentum geprägt, die zentralasiatischen und kaukasischen Staaten durch den Islam. Moldawien ist ein Grenzfall zwischen Osteuropa und Südosteuropa, das aber eher der Region Südosteuropa zugerechnet werden kann. Die kulturelle Entwicklung weist grundlegende Gemeinsamkeiten mit der rumänischen auf. Moldawien wurde auch erst zusammen mit den baltischen Staaten 1940 von der Sowjetunion annektiert.14 Das katholisch geprägte Kroatien ist wiederum als ein Grenzfall zwischen Ostmitteleuropa und Südosteuropa anzusehen. Aufgrund der historisch klar dominanten regionalen Verflechtungen wurde Kroatien im Unterschied zu Slowenien Südosteuropa zugerechnet. Mit Blick auf die Frage der Regimeentwicklung wird vor allem der vorherrschenden religiösen Prägung ( wegen des damit verbundenen Grads der Säkularisierung ) und der Staatstradition Bedeutung zugeschrieben.15 Die obigen fünf stärker von östlichen. In die Kategorie Ostmitteleuropa würden bei dieser Einteilung dann nur noch die übrigen Staaten der obigen Kategorie fallen. 14 Vgl. zur kulturellen Prägung Moldawiens Willian Crowther, The Politics of Democratization in Post - Communist Moldova. In : Karen Dawisha / Bruce Parrott ( Hg.), Democratic Changes and Authoritarian Reactions in Russia, Ukraine, Belarus, and Moldova, Cambridge 1997, S. 282–329, hier 284 f. 15 Die Annahme einer Prägekraft der Säkularisierung und der Staatstradition wurzelt im sozialstrukturellen Ansatz : Stein Rokkan, Citizens, Elections, Parties : Approaches to the Comparative Study of the Processes of Development, Oslo 1970. Der Grad der

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Regionen werden in diesem Beitrag als eine Ordinalskala von einer demokratieförderlichen hin zu einer demokratiehinderlichen kulturellen Prägung interpretiert. Die konkreten Unterschiede liegen in folgenden Punkten : Die Fundierung politischer Autorität unterscheidet sich in den legal - rational orientierten ostmitteleuropäischen Staaten deutlich von den traditional - personalistisch orientierten osteuropäischen Staaten, die nicht zuletzt durch das orthodoxe Christentum geprägt sind.16 Die Frage der religiösen Prägung ist vor also allem deshalb mit Blick auf das historische Erbe interessant, weil ein Zusammenhang zwischen der religiösen Prägung und der Staatstradition plausibel erscheint. Mit Blick auf den Grad der Säkularisierung lässt sich dabei davon ausgehen, dass dieser direkt die Staatstradition beeinflusst. So argumentiert etwa in der Tradition von Max Weber Daniel Treisman, dass die vor allem im Protestantismus angelegte Trennung von Kirche und Staat zu einer Zivilgesellschaft führe, die den Staat effektiv kontrolliere und konkret die Neigung fördere, den Amtsmissbrauch von Angestellten des Staats zu beobachten und aufzudecken.17 Umgekehrt lässt sich mit Blick auf den Islam argumentieren, dass in dieser Religion traditionell keine Trennung von Kirsche und Staat angelegt ist und sich daher so etwas wie eine Zivilgesellschaft, die den Staat effektiv kontrolliert, nicht entwickeln kann. Die Trennung zwischen Staat und Kirche ist bis in die Gegenwart in muslimisch geprägten Staaten ( Ausnahme : Türkei ) am geringsten ausgeprägt. Die in der Regimeforschung vertretene These lautet daher, dass demokratische Strukturen in islamisch geprägten Staaten deutlich geringere Chancen haben, sich zu etablieren und zu stabilisieren als in christlich geprägten Staaten.18 Deutlich schwächer als im westlichen Christentum war allerdings traditionell die Trennung zwischen Staat und Kirche im orthodoxen Christentum ausgeprägt. Dies ist der IstStand und kein ehernes Gesetz für alle Zeiten. Religionen können Einstellungen über das Verhältnis von Staat und Kirche sowie über die Bevorzugung bestimmter Herrschaftsordnungen im Zeitverlauf ändern.19 So markierte das Zweite Vatikanische Konzil den Wendepunkt des Katholizismus im Verhältnis zur Demokratie. Dennoch lässt sich noch bis heute eine Dominanz der katholischen Kultur in einem Land im Vergleich zur Dominanz einer protestantischen Kultur mit guten empirischen Gründen als weniger demokratiezuträglich interSäkularisierung lässt sich – etwas simplizistisch – über die vorherrschende Religion erheben. 16 Vgl. Andrew C. Janos, The Politics of Backwardness in Continental Europe, 1780–1945. In : World Politics, 41 (1989), S. 325–358, Janos, East Central Europe in the Modern World. 17 Vgl. Daniel Treisman, The Causes of Corruption. In : Journal of Public Economics, 76 (2000), S. 399–457, hier 403. Die berühmte Originalargumentation findet sich bei Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. 18 Vgl. u. a. M. Steven Fish, Islam and Authoritarianism. In : World Politics, 55 (2004) 1, S. 4–37; Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order; Michael L. Ross, Does Oil Hinder Democracy ? In : World Politics, 52 (2001), S. 325– 361. 19 Vgl. mit Blick auf die katholische Kirche Paul E. Sigmund, The Catholic Tradition and Modern Democracy. In : The Review of Politics, 48 (1987), S. 530–548.

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pretieren.20 Einen vergleichbaren Umschwung mit Blick auf das Verhältnis von der Neutralität gegenüber Herrschaftsordnungen zur Befürwortung der Demokratie wie im Falle der katholischen Kirche gab es im Fall der orthodoxen Kirche und im Fall des Islam bislang nicht.21 Daher wird die pfadabhängige autokratische Prägung Russlands etwa von Tim McDaniel mit folgendem Argument untermauert : „Where Western Tradition has given rise to pluralism, power sharing and argumentation, Russia’s Orthodox tradition has rested on posing absolute alternatives, with no room for compromise.“22 Bei dem Argument geht es lediglich darum, dass das orthodoxe Denken die in dem kulturellen Raum vorherrschende „Idee“ der Staatsgestaltung historisch geprägt hat. Es ist also zweitrangig, welche politische Bedeutung etwa die orthodoxe Kirche nach der Unterdrückung durch die kommunistischen Regime in den postkommunistischen Staaten noch hat.23 Die Nachwirkungen einer Prägung halten noch lange vor. So war etwa trotz der klaren Demokratieunterstützung der katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Demokratie in Staaten mit katholischer Prägung weniger dauerhaft als in Staaten mit einer protestantischen Prägung.24 Mit Blick auf die vorherrschende Staatstradition erodieren gemäß George Schöpf lin die Beschränkungen der Staatsmacht, je weiter wir nach Osten blicken, weil zunehmend die Idee vorherrscht, dass die Herrschenden alles tun dürfen, was nicht direkt durch ein Gesetz verboten ist.25 In einer Situation, in der die Herrschenden unkontrolliert durch andere Organe die Gesetze beschließen können, führt dies zu einer unkontrollierten patrimonialen Herrschaft.26 20 Empirisch ist es zutreffend, dass in katholischen Ländern in der Zwischenkriegszeit die Demokratie weit seltener als in protestantischen Ländern überlebte. Vgl. Steffen Kailitz, Necessary and Sufficient Conditions for the Breakdown and Survival of Electoral Regimes and Fascist Takeover / Non - Takeover in the Interwar Years ( Draft paper prepared for presentation at the Santiago 2009 World Congress of Political Science, Santiago de Chile, July 12–16 2009), 2009, http ://paperroom.ipsa.org (18. 1. 2010). Die letzten Autokratien auf westeuropäischen Boden waren zwei katholische Länder ( Spanien, Portugal ). Auch in Griechenland ( orthodoxes Erbe ), das eher zu Südosteuropa als zu Westeuropa zu zählen ist, endete die Autokratie erst in den 70er Jahren. 21 Vgl. Aristotle Papanikolaou, Byzantium, Orthodoxy, and Democracy. In : Journal of the American Academy of Religion, 71 (2003), S. 75–98. 22 Tim McDaniel, The Agony of the Russian Idea, Princeton 1996. 23 Das Argument, dass auch Nicht - Religiöse oder nicht der vorherrschenden Religion Angehörige von den Werten geprägt sind, beruht darauf, dass die traditionell protestantischen, katholischen, orthodox - christlichen oder muslimischen Wertmuster vom Bildungssystem und den Massenmedien, unabhängig von der Frage der konkreten Religionszugehörigkeit des Einzelnen, weitervermittelt werden. Vgl. Jonathan Fox, A World Survey of Religion and the State, Cambridge 2008, S. 29. 24 Ohne dieses kleine Teilergebnis aus meinem Projekt zu den Demokratiezusammenbrüchen in vergleichender Perspektive detailliert auszuführen, sei auf die notorisch hohe Zahl der Demokratiezusammenbrüche in den katholisch geprägten Ländern Lateinamerikas noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwiesen. 25 Vgl. George Schöpf lin, Politics in Eastern Europe 1945–1992, Oxford 1993, S. 11 f. 26 Vgl. zu dieser Herrschaftsform Samuel Noah Eisenstadt, Traditional Patrimonialism and Modern Neopatrimonialism, Beverly Hills 1973.

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Der östliche Pol lässt sich also mit einer Tradition der Machtkonzentration verbinden, der westeuropäische Pol, historisch durch Großbritannien verkörpert, besitzt dagegen eine Tradition der Machtteilung und der Machtkontrolle. Auf dieser West - Ost - Achse können wir die fünf Regionen abtragen.27 Demnach sind historisch Elemente der Machtteilung und der Machtkontrolle am stärksten in Ostmitteleuropa verankert, während solche Elemente in Zentralasien und im Kaukasus keine Rolle spielten. Eine grundlegende historische Grenzlinie verläuft zwischen jenen Staaten, die im Russischen und Osmanischen Reich organisiert waren ( byzantinisches Erbe ) und den west - und zentraleuropäischen Staaten, die in der Tradition des Reichs Karls des Großen mit Elementen wie dem Feudalismus und der römischen Rechtstradition stehen.28 Die Staaten der vierten Gruppe im äußersten Osten Europas haben z. T. allenfalls eine halbeuropäische Prägung. Das gilt vor allem für Russland. Sowohl im Zarenreich und der Sowjetunion als auch im postkommunistischen Russland verstand und versteht sich dieses Land zugleich als Teil der „zivilisierten Welt“ ( so die populäre russische Bezeichnung für die westlichen Industriestaaten ), aber auch als eine Art eigener russischer Zivilisation, die sich deutlich von der westlichen unterscheidet.29 Mit Blick auf Russland, das als repräsentativ für die osteuropäische Region ( Region 4) angesehen werden kann, lässt sich die pfadabhängige kulturelle Prägung der Staatsvorstellung mit James Warhola folgendermaßen auf den Punkt bringen : „Public authority is viewed ( and exercised ) as essentially a ) monocratic in nature; b ) autocratic in practice, if not also in theory; c ) ideally centralized in form and practice; d ) embodied in a strong state“.30 Diese Staatsvorstellung herrscht im Kern auch in Zentralasien und im Kaukasus ( Region 5) vor. Hinzu kommt in Zentralasien und im Kaukasus eine noch deutlich stärkere 27 Vgl. zu diesem mit Blick auf die West - Ost - Unterschiede entscheidenden Punkt etwa Berglund / Ekman / Aarebrot, The Challenge of History in Central and Eastern Europe, S. 14. 28 Vgl. Frank Aarebrot / Sten Berglund, Statehood, Secularization, Cooperation : Explaining Democratic Survival in Inter - War Europe. Stein Rokkan’s Conceptual Map Revisited. In : Historical Social Research, 20 (1995), S. 210–225. Dem Faktor des historischen Erbes kommt etwa auch bei den Gründen für die Demokratiezusammenbrüche in der Zwischenkriegszeit eine erstaunlich hohe Bedeutung zu. Vgl. Kailitz, Necessary and Sufficient Conditions. Zur Ausgestaltung des Erbes des Reichs Karls des Großen vgl. u. a. Paul Leo Butzer / Max Kerner / Walter Oberschelp ( Hg.), Karl der Grosse und sein Nachwirken. 1200 Jahre Kultur und Wissenschaft in Europa, Turnhout 1998. 29 Vgl. Steffen Kailitz / Andreas Umland, Why the Fascists Won’t Take Over the Kremlin (for Now ). A Comparison of Democracy’s Breakdown and Fascism’s Rise in Weimar Germany and Post - Soviet Russia. ( Paper presented at the Annual Meeting of the Midwest Political Science Association ), 2009, http ://www.allacademic.com (18. 1. 2010), S. 13. 30 James Warhola, The Redux of Russian Autocracy : Path Dependency and the Modern State. ( Paper presented at the Midwest Political Science Association Annual Meeting ), 2009, www.allacademic.com (18.1. 2010), S. 18 f. Bei dem letzen Punkt Warholas ist hervorzuheben, dass in Osteuropa die Orientierung an einem starken Staat mit einem real strukturschwachen und damit auch ökonomisch im Vergleich zum westeuropäischen Staat eher schwachen Staat einherging.

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Ausprägung des Patrimonialismus und die Prägung durch eine vormoderne Clan- Kultur. Mit Blick auf den bedeutenden Punkt einer vorrangig individualistisch oder kollektivistisch geprägten Gesellschaft lässt sich argumentieren, dass sich historisch in den orientalischen Zivilisationen eine kollektive, in Westeuropa aber eine individualistische Agrarökonomie entwickelt hat.31 Noch heute lässt sich feststellen, dass mit Blick auf das Gegensatzpaar Individualismus - Kollektivismus ein West - Ost - Trend besteht. Demnach sind die Bürger Sloweniens und Ostdeutschlands weit individualistischer orientiert als etwa jene Usbekistans.32 Die präkommunistische Entwicklung spricht dabei für einen Zusammenhang zwischen Kultur und Demokratie. Alle Staaten der ersten und zweiten Gruppe sammelten bereits in der Zwischenkriegszeit demokratische Erfahrungen.33 Von den Staaten der vierten und fünften Gruppe verfügte dagegen vor dem Fall der kommunistischen Regime kein Staat über größere Erfahrungen mit der Demokratie.34 In den Staaten der dritten Gruppen bestanden in den meisten Staaten in der Zwischenkriegszeit ausgesprochen schwach ausgeprägte Demokratisierungsansätze. Die Variable der politischen Institutionen wurde mit Blick auf den postkommunistischen Raum lange als eine gänzlich unabhängige Variable diskutiert. Dabei gelten entsprechend der Präsidentialismuskritik von Juan Linz u. a. präsidentielle Systeme als demokratiehinderlich, parlamentarische Systeme dagegen als demokratieförderlich.35 Empirisch fällt im postkommunistischen Raum aber ins Auge, dass sich Regierungssysteme mit einer starken Dominanz des Präsidenten nur in Osteuropa, in Zentralasien und im Kaukasus finden.36 Der 31 32 33 34

35

36

Vgl. Christian Welzel, Fluchtpunkt Humanentwicklung. Über die Grundlagen der Demokratie und die Ursachen ihrer Ausbreitung, Wiesbaden 2002, S. 237–250. Vgl. dazu die Umfragedaten des World Value Survey : http ://www.worldvaluessurvey.org (19. 1. 2010). Vgl. Dirk Berg - Schlosser / Jeremy Mitchell ( Hg.), Conditions of Democracy in Europe, 1919–39. Systematic Case - Studies, New York 2000. Zur Bedeutung der präkommunistischen „Erbschaften“ für die Regimeentwicklung vgl. etwa Kitschelt, Accounting for Postcommunist Regime Diversity, und Svend - Erik Skaaning, ( Dis )Respect for Civil Liberties in Post - Communist Countries. ( Paper presented at the annual meeting of the The Midwest Political Science Association 2006), 2006, http://www.allacademic.com / meta / p139973_index.html (26. 7. 2009), sowie ausführlicher Grigore Pop - Eleches, Historical Legacies and Post - Communist Regime Change. In : Journal of Politics, 69 (2007), S. 908–926. Vgl. Juan Linz, Presidential or Parliamentary Democracy : Does it Make a Difference ? In : Juan J. Linz / Arturo Valenzuela ( Hg.), The Failure of Presidential Democracy, Baltimore 1994, S. 3–87. Für eine umfassende Prüfung der Strukturen und Konsequenzen der Regierungsformen vgl. Steffen Kailitz, Parlamentarische, semipräsidentielle und präsidentielle Demokratien. Strukturen und Konsequenzen. Unveröffentlichte Habilitationsschrift, Chemnitz 2004. Mit Blick auf den postkommunistischen Raum wurde die Tragfähigkeit der Argumentation von Linz in Frage gestellt : John T. Ishiyama / Matthew Velten, Presidential Power and Democratic Development in Post - Communist Politics. In: Communist and Post - Communist Studies, 31 (1998), S. 217–233. Vgl. Beichelt, Demokratische Konsolidierung im postsozialistischen Europa, S. 123– 175; Gerald M. Easter, Preference for Presidentialism : Postcommunist Regime Change in Russia and the NIS. In : World Politics, 49 (1997), S. 184–211.

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institutionelle Faktor ist im postkommunistischen Raum bereits selbst sehr stark beeinflusst von der kulturellen Prägung.37 In Tabelle 2 unterscheide ich zwischen der klar demokratieabträglichen institutionellen Anlage eines superpräsidentiellen Systems38 ohne ausreichende Machtkontrolle und allen anderen Regierungssystemen ( parlamentarische Systeme sowie andere Varianten bipolarer Exekutive ). Tabelle 2 : Superpräsidentielle Regierungssysteme im postkommunistischen Raum 1. Ostmitteleuropa : Tschechien, Slowakei, Slowenien, Ungarn, Polen, Ostdeutschland ( ehemals DDR ) 2. Baltikum : Estland, Lettland, Litauen 3. Südosteuropa : Albanien, Serbien, Kroatien, Mazedonien, Moldawien, Montenegro, Bosnien-Hercegovina, Rumänien, Bulgarien 4. Osteuropa : GEORGIEN, RUSSLAND, UKRAINE ( BIS 2006), Ukraine ( ab 2006), WEIßRUSSLAND 5. Zentralasien und Kaukasus : ARMENIEN, ASERBAIDSCHAN, KASACHSTAN, KIRGISTAN, Mongolei, TADSCHIKISTAN, USBEKISTAN Quelle : Eigene Einstufungen. Vgl. auch die ähnlichen Klassifizierungen von Matthew Søberg Shugart.39 In Kapitälchen gesetzt sind Staaten mit superpräsidentiellen Regierungssystemen, kursiv gesetzt Staaten mit zeitweiligen superpräsidentiellen Tendenzen.

37 Diesen Punkt betont etwa sehr stark Brzezinski, The Primacy of History and Culture. Generell setzt sich in der Präsidentialismus - Parlamentarismusdebatte inzwischen die Ansicht durch, dass die Institutionenwahl nicht als Variable gesehen werden kann, die unabhängig von soziökonomischen und kulturellen Voraussetzungen betrachtet werden kann. „[ I ]t may be that it is only countries with certain characteristics that make democracies successful that in turn choose successful institutional rule ( e.g. federal parliamentarianism ).“ Carles Boix / Alícia Adserá, Constitutions and Democratic Breakdowns. In: Jose Maria Maravall / Ignacio Sanchez - Cuenca ( Hg.), Voters, Institutions, and Accountability 2008, S. 247–301, hier 289. Im Unterschied zu Adsera / Boix würde ich aber stark betonen, dass kein deterministischer Zusammenhang besteht und die Akteure zumindest die Chance haben, in „kritischen Augenblicken“ der Geschichte durch eine geschickte Institutionenwahl den künftigen Weg zu beeinflussen. 38 Vgl. u. a. Michael Steven Fish, Democracy Derailed in Russia. The Failure of Open Politics, Cambridge 2005, S. 193–245. Im Rahmen meiner eigenen Typologie demokratischer Regierungsformen bezeichne ich diesen Typus, bei dem der Präsident alle Macht und der Premierminister in aller Regel keine Macht hat ( Ausnahme : Putin ), ausgehend vom Konzept einer bipolaren Exekutive als quasi - präsidentiell in Abgrenzung zu quasi- parlamentarischen Regimen und Regimen mit tatsächlich bipolarer Exekutive. Vgl. Steffen Kailitz, Zur Typologisierung der Regierungsformen – eine Antwort auf die Replik Frank Deckers. In : Zeitschrift für Politikwissenschaft, 19 (2010), S. 47–77. 39 Matthew Søberg Shugart, Semi - Presidential Systems : Dual Executive and Mixed Authority Patterns. In : French Politics, 3 (2005), S. 323–351, hier 337.

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Die Hinwendung zu einem parlamentarischen System in der Mongolei lässt sich dabei als eine Lösung von einer patrimonialen Staatstradition in einem „kritischen Augenblick“ der historischen Entwicklung interpretieren. Ein machtkontrollierendes parlamentarisches Regierungssystem ermöglicht nämlich nicht den gleichen Spielraum für Klientelismus und Personalismus wie ein superpräsidentielles Regime40, sondern setzt diesen wirksame institutionelle Schranken.41

1.2

Modernisierungsstand

Die Modernisierungstheorie unterstellt einen Zusammenhang zwischen der sozio - ökonomischen Modernisierung eines Landes und den Erfolgsaussichten der Etablierung und Stabilisierung einer Demokratie. Die von Seymour Martin Lipset bereits 1959 propagierte Annahme lautet, dass eine höhere wirtschaftliche Wohlfahrt zu einem höheren Bildungsstand der Bevölkerung führt. Dadurch entstünden tolerantere und rationalere Einstellungen, die die Etablierung und Stabilisierung einer Demokratie begünstigten.42 Die ökonomische und gesell40 Zur Problematik, die aus der spezifischen institutionellen Anlage des Superpräsidentialismus erwächst, vgl. u. a. Fish, Democracy Derailed in Russia, S. 193–245. 41 Aus der Rational - Choice - Perspektive haben Adsera und Boix die Folgen der institutionellen Regelungen überzeugend durchdekliniert : „As a result, the space for unchecked appropriation of wealth and power by the prime minister [ in parliamentarianism ] is much smaller [ than by the president in presidentialism ].“ Boix / Adserá, Constitutions and Democratic Breakdowns, S. 298. 42 Siehe zur ersten Ausformulierung der Theorie in der Politikwissenschaft Seymour Martin Lipset, Political Man : The Social Basis of Politics, London 1960. Mit multivariaten Analysen wurde der Kern der Theorie bereits vielfach bestätigt. Vgl. u. a. Kenneth A. Bollen, Political Democracy and the Timing of Development. In : American Sociological Review, 44 (1979), S. 572–587; Larry Diamond, Economic Development and Democracy Reconsidered. In : American Behavioral Scientist, 35 (1992), S. 450–499; Seymour M. Lipset, The Social Requisites of Democracy Revisited. In : American Sociological Review, 59 (1994), S. 1–22; Edward N. Muller, Economic Determinants of Democracy. In : American Sociological Review, 60 (1995), S. 966–996; Adam Przeworski, Democracy and Development. Political Institutions and Well - being in the World, 1950–1990, Cambridge 2000. Eine neuere Variante der Modernisierungstheorie, die Überlegungen des soziostrukturellen Ansatzes ( Stein Rokkan etc.) integriert, stammt von Tatu Vanhanen. Vgl. ders., Prospects of Democracy. A Study of 172 Countries, London 1997, ders., Democratization : A Comparative Analysis of 170 Countries, London 2003. In der „Theorie der Humanentwicklung“ als jüngster Variante der Modernisierungstheorie fließen kulturelle und sozioöknomische Erklärungsmuster zusammen : Ronald Inglehart / Christian Welzel, Modernization, Cultural Change and Democracy : The Human Development Sequence, New York 2005; Christian Welzel / Ronald Inglehard / Hans Dieter Klingemann, The Theory of Human Development : A Cross - Cultural Analysis. In : European Journal of Political Research, 42 (2003), S. 341–379; Welzel, Fluchtpunkt Humanentwicklung. Einen guten Überblick über die Entwicklung und Ergebnisse der Modernisierungstheorie bietet Wolfgang Muno, Demokratie und Entwicklung, Mainz 2001. Für eine Betrachtung der Modernisierungstheorie und ihrer aus historischer Perspektive starken Vereinfachungen vgl. Hans - Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte. In : Hans - Ulrich Wehler ( Hg.), Die Gegenwart als Geschichte. Essays, München 1995, S. 13–60.

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schaftliche Modernisierung wird also als Vorbedingung der Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur angesehen. Ein großer Teil der Studien konzentriert sich dabei auf den wirtschaftlichen Entwicklungsstand : Reichere Staaten haben es demnach leichter, eine funktionierende Demokratie aufzubauen als arme Staaten. Aus gutem Grund lässt sich vermuten, dass im kommunistischen Herrschaftsraum verschiedene Staaten einen unterschiedlichen Entwicklungsstand aufwiesen. Als Variable, um die ökonomischen Startbedingungen der postkommunistischen Regime zu messen, ver wende ich die Daten zum Bruttoinlandsprodukt pro Kopf des Jahres 1985. Grob lässt sich zwischen einem hohen, einem mittleren und einem niedrigen Entwicklungsstand unterscheiden. Tabelle 3 : Wirtschaftlicher Entwicklungsstand der kommunistischen Staaten 198543 Vergleichsweise guter wirtschaftlicher Entwicklungsstand ( BIP kaufkraftbereinigt > 8000 USD: DDR, Estland, Tschechien, Lettland, Slowenien Mittlerer wirtschaftlicher Entwicklungsstand ( BIP 4000–8000 USD ): Armenien, Aserbaidschan, Bulgarien, Georgien, Kasachstan, Kroatien, Litauen, Moldawien, Montenegro, Polen, Serbien, Slowakei, Russland, Turkmenistan, Ukraine, Ungarn, Weißrussland Schlechter wirtschaftlicher Entwicklungsstand ( BIP < 4000 USD ): Albanien, Bosnien-Hercegovina, Kirgistan, Mazedonien, Mongolei, Rumänien, Tadschikistan, Usbekistan Vor der kommunistischen Periode war der Modernisierungsstand sehr stark kulturell geprägt. Das gilt nicht nur für das Bruttoinlandsprodukt, sondern auch für die Faktoren Alphabetisierung, Industrialisierung und Urbanisierung. Die Tabelle 4 konzentriert sich auf die Faktoren Urbanisierung und Industrialisierung.

43 Quelle : Kitschelt, Political Democratization and Economic Liberalization, S. 28. Für die DDR gibt es bei Kitschelt keine Angaben. Aus anderen Quellen stammt aber die Information, dass die DDR das wirtschaftsstärkste Land im postkommunistischen Raum war. Einen Vergleich zur Relation des BIP der kommunistischen Staaten bietet Andrew C. Janos, Continuity and Change in Eastern Europe : Strategies of Post - communist Politics. In : East European Politics and Societies, 8 (1993), S. 1–31.

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Tabelle 4 : Grad der Industrialisierung und Urbanisierung vor der Machtübernahme durch die Kommunisten44 Industriegesellschaft Teilweise industrialisiert Agrargesellschaft Landwirtschaftliche Landwirtschaftliche Landwirtschaftliche Beschäftigung Beschäftigung 40–60 % Beschäftigung über 60 % unter 40 % Urbane Mittelschicht Urbane Mittelschicht und starke und mäßig umfangmobilisationsfähige reiche Arbeiterschicht Arbeiterschicht Hoher Grad der Verstädterung

Kaum urbane Mittelschicht und schwache Arbeiterschicht

Mittlerer Grad der Verstädterung

Tschechoslowakei, Ostdeutschland, Slowenien

Geringer Grad der Verstädterung Armenien, Aserbaidschan, Albanien, BosnienHercegovina, Bulgarien, Georgien, Kasachstan, Kirgistan, Kroatien, Estland, Lettland, Mazedonien, Moldawien, Litauen, Polen, Ungarn Montenegro, Rumänien, Russland, Serbien, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine, Usbekistan, Weißrussland

Im Bildungsbereich konnte der enge Zusammenhang zwischen kultureller Prägung und Modernisierungsstand deutlich verringert werden. In bedeutendem Maße, wenn auch keineswegs vollständig, wurden die Bildungsdefizite der östlichen Regionen im Vergleich zu den westlichen Regionen ausgeglichen. So sind inzwischen die Unterschiede bei der Alphabetenquote im postkommunistischen Raum ausgesprochen gering. Diese lag in der Transformationsphase zwischen 96,1 Prozent ( Mazedonien ) und 99,9 Prozent ( Estland ). Generell war aber mit Blick auf den Modernisierungsstand am Ende der kommunistischen Herrschaft noch immer ein deutlicher West - Ost - Trend zu erkennen. Die am stärksten industrialisierten und verstädterten Regionen waren und sind Deutschland und vor allem der tschechische Teil der Tschechoslowakei. Die am schwächsten modernisierten Regionen liegen in der präkommunistischen, der kommunistischen und postkommunistischen Zeit in Zentralasien und im Kaukasus. Bei der Betrachtung aller klassischen Modernisierungsfaktoren ergibt sich damit ein Bild, das weitgehend der Gruppierung nach Kulturräumen entspricht. Trotz der sehr hohen Alphabetisierungsquote sind dabei die Staaten in 44 Quelle : Herbert Kitschelt, Accounting for Outcomes, S. 31 f.

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Zentralasien und im Kaukasus im Kern während des Kommunismus und danach weiterhin als prämoderne traditionelle Gesellschaften einzustufen.45 Die oben skizzierte Argumentation von Max Weber und Daniel Treisman bietet eine – allerdings sehr grobe – Möglichkeit, den empirischen Zusammenhang zwischen kultureller Prägung und sozioökonomischer Entwicklung logisch zu begründen.46 Letztlich bleibt noch weiterer Klärungsbedarf, warum spätestens seit der „Entdeckung“47 Amerikas die sozioökonomische Entwicklung Osteuropas deutlich hinter jener Westeuropas zurückblieb.48 Dieses nunmehr seit Jahrhunderten zu beobachtende Modernisierungsgefälle gilt selbst innerhalb von Staaten. So lagen die sozio - ökononomisch rückständigsten Gebiete im Deutschen Kaiserreich im Osten des Landes, die sozioökonomisch fortgeschrittensten Gebiete des Russischen Kaiserreichs und des heutigen Russlands dagegen im Westen.

1.3

Transitionsmodus

Eine ganze Reihe bedeutender Vertreter der Transformationsforschung wie Juan Linz, Guillermo O’Donnell, Philippe C. Schmitter und Laurence Whitehead49 haben nahe gelegt, dass der Typus des abgelösten autoritären Regimes und der Transitionsmodus bedeutend für die Entwicklungschancen der Demokratie sind.

45 Vgl. zur Entwicklung der Region Pauline Jones Luong ( Hg.), The Transformation of Central Asia. States and Societies from Soviet rule to Independence, Ithaca 2004. 46 Vgl. Treisman, The Causes of Corruption, S. 399–457; Weber, Die protestantische Ethik. 47 „Entdeckung“ setze ich in Anführungszeichen, weil Amerika zum Zeitpunkt der Landung von Kolumbus bereits weithin besiedelt war, nicht zuletzt von frühen Hochkulturen wie den Azteken ( Eigenname : Mexica ). 48 Einen Erklärungsversuch bietet Daniel Chirot ( Hg.), The Origins of Backwardness in Eastern Europe. Economics and Politics from the Middle Ages until the Early Twentieth Century, Berkeley 1991. 49 Vgl. u. a. Giuseppe Di Palma, To Craft Democracies : An Essay on Democratic Transitions, Berkeley 1990; Richard Gunther / Hans - Jürgen Puhle / P. Nikiforos Diamandouros, Conclusion. In : Richard Gunther / Hans - Jürgen Puhle / P. Nikiforos Diamandouros (Hg.), The Politics of Democratic Consolidation. Southern Europe in Comparative Perspective, Baltimore 1995, S. 389–415; Samuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, Norman 1993; Terry L. Karl / Philippe C. Schmitter, Modes of Transition in Latin America, Southern and Eastern Europe. In : International Social Science Journal, 128 (1991), S. 269–284; Linz / Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation; Guillermo A. O’Donnell / Philippe C. Schmitter, Transitions from Authoritarian Rule. Tentative Conclusions about Uncertain Democracies, Baltimore 1986; Adam Przeworski, Democracy and the Market : Political and Economic Reforms in Eastern Europe and Latin America, Cambridge 1991. In den frühen 90er Jahren dominierte die „Transitologie“ mit ihrer Konzentration auf die zentralen Akteure die Regimewechselforschung. Den Grundstein für den Ansatz legte folgender Beitrag : Dankwart A. Rustow, Transitions to Democracy. In : Comparative Politics, 2 (1970), S. 327–363.

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Diese stark vereinfacht als „kreativistischer Optimismus“50 bezeichnete Position geht davon aus, dass die zentralen Akteure während des Zusammenbruchs des Kommunismus die Möglichkeit hatten, in entscheidender Weise die Weichen für die Zukunft zu stellen. Aus dieser Sicht war es für die folgende Regimeentwicklung von entscheidender Bedeutung, wie im entscheidenden historischen Moment des Regimewechsels die Kräfte zwischen den zentralen Akteuren verteilt waren. Grundsätzlich wird – leicht variiert – unterschieden zwischen Regimewechseln, die zwischen den Herrschenden und der Opposition ausgehandelt werden, zwischen Regimezusammenbrüchen und von oben gelenkten Systemwechseln. Die Wirklichkeit ist in der Regel komplexer, als es die Schubladen von Sozialwissenschaftlern glauben machen wollen, daher weisen die realen historischen Prozesse häufig Merkmale mehrerer Formen auf.51 Eine Zuordnung aufgrund der vorherrschenden Prägung der Transition erscheint dennoch möglich. Tabelle 5 : Form des Systemwechsels52 Ausgehandelter Systemwechsel : baltische Staaten, Polen, Ungarn, Slowenien Mischung aus ausgehandeltem Systemwechsel und Regimezusammenbruch : DDR ( Sonderfall! ), Slowakei, Tschechien Von alten Eliten kontrollierter Systemwechsel : Albanien, Bulgarien, Nachfolgerepubliken Jugoslawiens ( außer Slowenien und Bosnien-Hercegovina ), Nachfolgerepubliken der Sowjetunion ( außer baltische Staaten ), Mongolei, Rumänien Von außen ( nach Krieg ) eingeleiteter Systemwechsel : Bosnien-Hercegovina Als Pflasterstein auf dem Weg zu einer funktionsfähigen liberalen Demokratie gilt den Transitologen eine ausgehandelte Transition zwischen den Regime und den Oppositionskräften.53 Die Staaten mit einem ausgehandelten Systemwechsel sind – wie Polen und Ungarn – durch eine recht schwache Stellung der kommunistischen Partei und eine recht starke Stellung der Opposition gekenn50 Vgl. etwa Bönker / Beichelt / Wielgohs, Kulturelle Determinanten postsozialistischer Gesellschaftsentwicklung, S. 4–12, hier 4. Siehe auch Martin Krygier, Institutional Optimism, Cultural Pessimism and the Rule of Law. In : Martin Krygier / Adam Czarnota (Hg.), The Rule of Law after Communism : Problems and Prospects in East - Central Europe, Aldershot 1999, S. 77–105. 51 So auch Samuel P. Huntington, Democracy’s Third Wave. In : Journal of Democracy, 2 (1991), S. 3–25, S. 115. 52 Quellen : Wolfgang Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, 2. Auflage Wiesbaden 2010, S. 340–367, und ergänzend Freedom House, How Freedom is Won : From Civic Resistance to Durable Democracy, Washington D. C. 2005. 53 Vgl. u. a. O’Donnell / Schmitter, Transitions from Authoritarian Rule; Wolfgang Merkel / Hans - Jürgen Puhle, Von der Diktatur zur Demokratie. Transformationen, Erfolgsbedingungen, Entwicklungspfade, Wiesbaden 1999, hier 50 f.

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zeichnet gewesen. Zur Schwächung der kommunistischen Partei in Polen und Ungarn trugen auch Differenzen zwischen reformunwilligen und reformbereiten Kräften in der kommunistischen Partei selbst bei. So gab es in diesen Staaten bereits vor der Systemtransformation Parteiflügel, die sich in Richtung der Sozialdemokratie bewegten. Die Aushandlung des Systemwechsels in den baltischen Staaten und in Slowenien unterschied sich vom Systemwechsel in Polen und Ungarn darin, dass er mit einer Neugründung von Staaten einherging. Die Oppositionsbewegung war zugleich eine Unabhängigkeitsbewegung und nicht zuletzt durch einen nationalen Impuls angetrieben.54 Der Systemwechsel in der DDR lässt sich am besten als eine Mischform zwischen einem ausgehandeltem Systemwechsel und einem Regimekollaps beschreiben. Zwar gab es im Vergleich etwa zu Ungarn und Polen nur eine eher schwache Opposition, aber in der Endphase verhandelte die Bevölkerung durch ihre Parolen ebenso mit dem Regime wie die Regierung der Bundesrepublik.55 Der Übergang in der Tschechoslowakei lässt sich ebenfalls als eine Mischung zwischen Regimezusammenbruch und ausgehandeltem Übergang interpretieren. So gab es in der Tschechoslowakei, nachdem die Herrschenden den Willen zur Aufgabe ihres Machtmonopols verkündet hatten, wie in Polen, Ungarn und der DDR einen Runden Tisch, an dem die Herrschenden und die Opposition Platz nahmen. In den weitaus meisten kommunistischen Staaten kontrollierten die alten Eliten den Systemwechsel zu einem postkommunistischen Regime. Zu den Fällen, in denen die Transition von oben kontrolliert und nicht mit der Opposition verhandelt wurde, gehört dabei auch Rumänien. Am Beispiel Rumäniens mit seinem hohen Maß an – teils gewaltsamen – Auseinandersetzungen zwischen Opposition und Staatsgewalt zeigt sich, dass eine Einordnung in diese Kategorie nicht bedeutet, dass etwa die Bürger keine Bedeutung beim Regimesturz gehabt hätten ( siehe etwa auch die Vorgänge in Aserbaidschan oder der Mongolei56). Mit Blick auf die nicht - baltischen Ex - Teilstaaten der Sowjetunion ist in Rechnung zu stellen, dass diesen nach dem Scheitern des Putsches gegen Gorbatschow 1991 durch den Zerfall der Sowjetunion ein von oben kontrollierter Systemwechsel in die Wiege gelegt wurde.

54 Vgl. zur Transition der baltischen Staaten etwa Merkel, Systemtransformation, 361– 367. 55 Vgl. u. a. Michael Richter, Die friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90, Göttingen 2009. 56 Vgl. dazu die Kurzporträts der Transitionsprozesse in Freedom House, How Freedom is Won : From Civic Resistance to Durable Democracy, Washington D. C. 2005.

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2.

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Regimeentwicklung in den postkommunistischen Staaten

Wer die Transformationserfolge der postkommunistischen Staaten verglich, arbeitete über lange Zeit in der Regel mit dem Begriff der „demokratischen Konsolidierung“. Inzwischen kommt die Forschung zu den Transformationsstaaten immer stärker von der Frage ab, wie weit die Länder auf ihrem Weg zu einer „Konsolidierung“ der Demokratie57 vorangeschritten sind. Die Frage nach der „Konsolidierung“ der Demokratie impliziert nämlich mit Blick auf den postkommunistischen Raum allzu stark, dass nach 1989 alle Länder zumindest willens waren, sich auf einen direkten Weg von einer Autokratie hin zu einer funktionierenden liberalen Demokratie zu machen. Diese Grundannahme ist aber unrealistisch. Es wird damit ein Konsens der Akteure über die Zielrichtung der Transformation vorausgesetzt, den es so keineswegs in allen postkommunistischen Ländern gab. Mit guten Gründen wurde daher bereits 2002 von Thomas Carothers unter dem Beifall vieler Kollegen das „Ende des Transitionsparadigmas“58 verkündet. Aus dieser Perspektive sehe ich in diesem Beitrag die Transformationen der kommunistischen Autokratien als ergebnisoffene Prozesse an, die sowohl in einer liberalen oder defekten Demokratie als auch einer Autokratie oder einem Hybridregime zwischen Demokratie und Autokratie münden konnten.59 Bei der folgenden Betrachtung unterscheide ich schlicht zwischen funktionierenden liberalen Demokratien, defekten Demokratien, hybriden Regimen und Autokratien.60 Eine Demokratie werte ich in diesem Beitrag, ausgehend von der in der vergleichenden Demokratieforschung inzwischen nahezu konsensualen Überlegungen von Robert Dahl zur Definition der Demokratie,61 dann als funk57 Trotz einiger Skepsis gegenüber dem etwas schwammigen Konsolidierungsbegriff, der nicht zuletzt die Problematik aufweist, zu suggerieren, dass es so etwas wie eine gegen alle Krisen sichere Demokratie gibt, wird er in diesem Beitrag bei der Referierung der Ergebnisse des „Economist“ pragmatisch weiter verwendet. 58 Vgl. Thomas Carothers, The End of the Transition Paradigm. In : Journal of Democracy, 13 (2002), S. 5–21. Als Beispiel für die in dem Beitrag kritisierte Perspektive vgl. etwa folgende in Variation in der Postkommunismusforschung zunächst häufig zu findende Aussage : „Postcommunist Transitions however ‚troubled‘, may still be regarded as transitions to democracy.“ So Ghia Nodia, How Different are Postcommunist Transitions ? In : Larry Diamond / Marc F. Plattner ( Hg.), Democracy After Communism, Baltimore 2002, S. 3–17, hier 3. 59 Ich danke Friedbert Rüb für den Hinweis, dass dieser Punkt in der Vortragsfassung noch nicht ausreichend deutlich wurde. 60 Vgl. ausführlicher Steffen Kailitz, Varianten der Autokratie im 20. und 21. Jahrhundert. In : Totalitarismus und Demokratie, 6 (2009), S. 209–251. Zum Begriff der „defekten Demokratie“ vgl. Aurel Croissant / Peter Thiery, Defekte Demokratie. Konzept, Operationalisierung und Messung. In : Hans - Joachim Lauth / Gert Pickel / Christian Welzel (Hg.), Demokratiemessung. Konzepte und Befunde im internationalen Vergleich, Wiesbaden 2000, S. 89–111; Wolfgang Merkel, Embedded and Defective Democracies. In : Democratization, 11 (2004), S. 33–58. 61 Vgl. Robert Alan Dahl, Polyarchy. Participation and Opposition, New Haven 1971, S. 1–16; Robert Dahl, Democracy and Its Critics, New Haven 1989, S. 13–21.

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tionstüchtig, wenn 1. die Wahlen frei und fair sind und 2. die Bürgerrechte nahezu vollständig gewährleistet sind. Ich messe die Erfüllung beider Kriterien mit den Daten des „Economist Intelligence Unit ( EIU ) Democracy Index“.62 Der Demokratieindex des „Economist“ ist eine recht neue Demokratiemessung, bei der die Staaten erstmals 2006 und in einer zweiten Welle 2008 in fünf Bereichen bewertet wurden : 1. Wahlprozess und Pluralismus, 2. Funktionstüchtigkeit der Regierung, 3. Politische Partizipation, 4. Politische Kultur, 5. Bürgerrechte. Die Einstufung der Länder erfolgte dabei auf der Grundlage eines Bogens von 60 Fragen zu den fünf Bereichen, überwiegend auf der Grundlage der Einschätzung von Länderexperten, es wurden aber auch Umfragedaten ( aus dem World Value Survey ) und „harte“ Daten in die Bewertung einbezogen. In allen fünf Bereichen vergibt der „Economist“ einen Wert zwischen 0 und 10. Einbezogen in diese Regimemessung sind alle Länder mit mehr als 500 000 Einwohnern und damit alle postkommunistischen Staaten. Ein Vorteil des EIU Democracy Index gegenüber dem konkurrierenden Bertelsmann Transformations Index63 ( BTI ), der eine ähnlich differenzierte Einschätzung der Regimeentwicklung vornimmt, liegt darin, dass im Unterschied zum BTI ein Vergleich zur Entwicklung etwa der westeuropäischen Staaten möglich ist. Beim BTI wurden dagegen keine Daten für die etablierten Demokratien erhoben, so dass nicht gesagt werden kann, ob die Regimequalität in einem bestimmten Bereich in diesem oder jenem postkommunistischen Land inzwischen als besser einzuschätzen ist als die Regimequalität in dieser oder jener etablierten westlichen Demokratie. Bei der folgenden Betrachtung konzentriere ich mich, um die Definitionsmerkmale einer funktionierenden Demokratie zu erfassen, auf die Bereiche Wahlprozess und Pluralismus sowie Bürgerrechte. Die genauen Einschätzungen der Messungen des EIU mit zwei Nachkommastellen sind zweitrangig, da sie eine Messgenauigkeit vorspiegeln, die die Daten schlicht nicht haben. Interessant sind also lediglich die groben Einordnungen. Bei der folgenden Darstellung wurde – auch innerhalb der Regimekategorien – aber zumindest eine Rangordnung von dem höchsten Ergebnis hin zum niedrigsten Wert gebildet, der im „Economist Index of Democracy“ 2008 in den Teilbereichen „Wahlprozess und Pluralismus“ und „Bürgerliche Rechte“ gemessen wurde.64 Die Rangordnung wurzelt dabei ebenso wie bereits die Konzeption der Demokratiemessung des EIU in der normativen Grundannahme, dass eine demokratische einer autokratischen Herrschaftsordnung vorzuziehen ist.65 62 Vgl. The Economist’s Intelligence Unit’s Index of Democracy 2008, London 2009 . 63 Vgl. Bertelsmann Stiftung, Transformation Index 2010. Politische Gestaltung im internationalen Vergleich, München 2010. 64 Die Grundlage für die Einordnung in beiden Bereichen ist dargelegt in : The Economist’s Intelligence Unit’s Index of Democracy 2008. 65 Diese in der Vergleichenden Politikwissenschaft dominante normative Grundposition wird neuerdings wieder verstärkt attackiert. Vgl. Holger Albrecht / Rolf Frankenberger, ‚Bringing Authoritarianism back in‘. Kritische Anmerkungen zur Vergleichenden Ana-

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Steffen Kailitz

Tabelle 6 : Regimeklassfikation auf der Grundlage der Qualität des Wahlprozesses und der Bürgerrechte66 Einstufung mit Blick auf Wahlprozess und Bürgerrechte Freie und faire Wahlen und Bürgerrechte voll gewährleistet

Freie und faire Wahlen und leichte Defekte bei Bürgerrechten Leichte Defekte bei Wahlen und Bürgerrechten

Regimeklassifikation Liberale Demokratien ( DeutschlandOst, Tschechien, Litauen, Polen, Lettland, Ungarn, Slowenien, Slowakei, Estland, Rumänien, Bulgarien, Kroatien, Mongolei, Mazedonien ) Demokratien mit leichten Defekten im Kernbereich ( Ukraine, Moldawien, Serbien, Montenegro ) Demokratien mit leichten, aber multiplen Defekten im Kernbereich (Bosnien-Hercegovina, Albanien, Georgien )

Schwere Defekte bei Wahlen und Bürgerrechten

Hybride Regime ( Russland, Kirgistan, Armenien )

Keine freien Wahlen und / oder keine Bürgerrechte

Autokratien (Aserbaidschan, Kasachstan, Weißrussland, Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan )

14 postkommunistische Staaten sind als liberale Demokratien anzusehen, 16 nicht. Sechs Staaten lassen sich dabei zumindest als defekte Demokratien ansehen. In Russland, Kirgistan und Armenien sind die Defekte so groß, dass sie als hybride Regime zwischen Demokratie und Autokratie einzustufen sind. Bei immerhin sechs der 30 Staaten müssen wir inzwischen – wie in Weißrussland und Turkmenistan – sogar von einer Etablierung der Autokratie sprechen. lyse politischer Systeme. Manuskript für den Autorenworkshop „Autoritarismus Reloaded“, Bad Urach 2009. 66 Quelle : The Economist’s Intelligence Unit’s Index of Democracy 2008. Anmerkungen: Die Werte wurden folgendermaßen in eine Klassifikation umgesetzt. Bei Werten für das Teilregime zwischen 10 und 8,01 wurde das Teilregime als funktionierend bewertet. Bei Werten zwischen 8 und 6,01 wurde von einem leichten Defekt in dem Teilbereich und bei Werten zwischen 6 und 4,01 von einem schweren Defekt in dem Teilbereich ausgegangen. Bei Werten unter 4 wurde das Teilregime als ( nahezu ) ausgefallen gewertet. Die Werte der beiden Teilregime wurden nicht aggregiert, vielmehr ergibt sich die Einordnung aus der spezifischen Wertekombination. Die verwendeten Daten für Ostdeutschland des EIU beziehen sich auf das gesamte Deutschland. Mit Blick auf die Kriterien gibt es aber nach Kenntnis des Verfassers keine unterschiedliche Qualität der Wahl und der Bürgerrechte in West - und Ostdeutschland, so dass die Werte für Deutschland als ostdeutsche Werte genutzt werden können.

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Die kulturelle Prägung macht den Unterschied

3.

Erklärungspotential der Voraussetzungen für die Regimeentwicklung

Wie steht es nun um die Erklärungskraft der drei vorgestellten Ansätze ? Zunächst präsentiere ich, um einen besseren Vergleich zu ermöglichen, eine einfache Übersicht, in der aufgrund von kultureller Prägung, Modernisierungsstand und Transitionsmodus den postkommunistischen Staaten Plus - und Minuszeichen für die aus den Hypothesen erwachsende Prognose der Regimeentwicklung nach dem Untergang des Kommunismus angeheftet werden. Tabelle 7: Regimeentwicklung und die Faktoren Kulturraum, Modernisierung und Transition Albanien Armenien Aserbaidschan Bosnien-Hercegovina Bulgarien Estland Deutschland-Ost ( nur Teilstaat: daher Sonderfall! ) Georgien Kasachstan Kirgistan Kroatien Lettland Litauen Mazedonien Moldawien Mongolei Montenegro Polen Rumänien Russland Serbien Slowakei

Regime 0 – – 0 + + + 0 ( lange Zeit – und heute Grenzfall zu – ) – – + + + + 0 + 0 + + – 0 +

Kulturraum67 Modernisierung Transition 0 – – – – – – – – 0 – – 0 – – + + + +

+

0







– – 0 + + 0 0 – 0 + 0 – 0 +

– – – + 0 – – – – 0 – – – +

– – – + + – – – – + – – – 0

67 Da die Versehung von Kulturräumen mit Plus - und Minuszeichen missverständlich sein könnte, bedarf es einer Erläuterung : Bei dieser Betrachtung geht es nicht um kulturelle Errungenschaften der Räume, sondern lediglich um die Verträglichkeit der historischen kulturellen Prägung mit einer demokratischen Entwicklung.

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Slowenien Tadschikistan Tschechien Turkmenistan Ukraine Ungarn Usbekistan Weißrussland

Steffen Kailitz Regime Kulturraum Modernisierung Transition + + + + – – – – + + + 0 – – – – 0 ( lange Zeit – – – – und heute Grenzfall zu –) + + 0 + – – – – – – – – 24 Treffer + vier weitere 17 Treffer 17 Treffer „beste Prognosen“ im Vergleich

Kategorisierung in der Spalte „Regime“ : Klassifikation gemäß der obigen Regimeklassifikation nach Wahlprozess und Bürgerrechten 2008 : Autokratie oder hybrides Regime = - , defekte Demokratien = 0, liberale Demokratien = +; Kategorisierung in der Spalte „Kulturraum“: Ostmitteleuropa und Baltikum = +, Südosteuropa = 0, Osteuropa sowie Zentralasien und Kaukasus = - ; Kategorisierung in der Spalte „Regime“ : Kombinierte Werte aus BIP und Grad der Industrialisierung : hohes BIP 1985 = +, mittleres BIP 0, niedriges BIP = - und präkommunistische Industriegesellschaft = +; teilweise industrialisiert = 0, Agrargesellschaft = - ; die Kombinationen ++, +0 und 0+ wurden als + gewertet; die Kombinationen - -, - 0 und 0- als - . Kategorisierung in der Spalte „Transition“ : ausgehandelter Systemwechsel = +, Regimezusammenbruch und Elemente des Aushandelns = 0; durch alte Eliten gelenkter Systemwechsel sowie Demokratisierung von außen = - .

Der Kulturansatz trägt erstaunlich weit. Es finden sich ausschließlich funktionierende liberale Demokratien in Ostmitteleuropa und im Baltikum und keine einzige im postsowjetischen Zentralasien und im Kaukasus. Der große Sonderfall ist im postkommunistischen Raum die Mongolei.68 Die Resultate in Südosteuropa sind gemischt. Vereinfacht können wir sagen : Je stärker ein Land von der Renaissance an in die Entwicklung der liberalen westlichen Kulturtradition eingebunden war, desto wahrscheinlicher entwickelte es eine funktionierende liberale Demokratie.69 Auch wenn Abweichungen vom kulturellen Muster erkennbar sind, so gibt es keinen einzigen Fall mit einer alternativen Erklärung, die nicht auch durch die kulturelle Prägung erklärt werden könnte. In immerhin 25 von 30 Fällen 68 Vgl. Steven M. Fish, Mongolia : Democracy without Prerequisites. In : Journal of Democracy, 9 (1998) 3, S. 127–141; M. Steven Fish, The Inner Asian Anomaly. Mongolia’s Democratization in Comparative Perspective. In : Communist and Post - Communist Studies, 34 (2001), S. 323–338. 69 In diese Richtung gehen auch die Ergebnisse zahlreicher anderer Forscher. Vgl. u. a. Jerzy Maćków, Zu diesem Buch : Über Konzept, Inhalt und Verfasser. In : Jerzy Maćków (Hg.), Autoritarismus in Mittel - und Osteuropa, Wiesbaden 2009, S. 44–53, hier 45, und die Grafik auf S. 46.

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(83,3 %) stimmt die kulturelle Prognose mit der Entwicklung überein. In vier weiteren Fällen – Bulgarien, Kroatien, Mazedonien und Rumänien ( alle in Südosteuropa, der „mittleren“ der fünf Regionen ) – verlief die Entwicklung zwar etwas besser als aufgrund der kulturellen Prägung zu erwarten war. Im Vergleich zu den beiden anderen Erklärungsmöglichkeiten kann aber auch bei diesen Ländern am ehesten der kulturelle Ansatz als tragfähig angesehen werden. Bei der positiven Bilanz aus Sicht des Jahres 2009 sollte auch nicht vergessen werden, dass gerade die Balkanstaaten mit Ausnahme Sloweniens durch die Balkankriege zunächst keine positive Regimeentwicklung nahmen. Mit Blick auf die Einschätzung des ukrainischen und vor allem des georgischen Regimes lässt sich weiterhin sehr darüber streiten, ob es sich um defekte Demokratien oder nicht doch eher um hybride Regime handelt. Über die meiste Zeit der letzten zwanzig Jahre war das georgische Regime sogar schlichtweg als Autokratie anzusehen,70 das ukrainische zumindest nicht als Demokratie.71 Dies würde die Bilanz sehr guter und passabler Vorhersageleistungen auf stolze 29 von 30 Fällen (96,7 %) erhöhen. Die einzige wirklich große Abweichung von der kulturellen Prognose ist der Fall Mongolei. Bei dieser Abweichung vom kulturellen Muster ist ein Bruch mit der Resistenz gegen die machtkontrollierende Herrschaftstradition festzustellen. Im Unterschied zu den anderen Ländern der Region wurde kein „superpräsidentielles“ Herrschaftssystem gewählt. Der Sonderfall Mongolei legt also nahe, dass in kritischen Augenblicken durch eine kanalisierende Wirkung der Institutionenwahl mit einer historischen Traditionslinie – zumindest in bedeutendem Maße – gebrochen werden kann. In Übereinstimmung mit dieser kreationistisch - optimistischen Annahme entwickelte sich die Ukraine, nachdem sie sich 2006 durch Verfassungsänderung von einem superpräsidentiellen System zu einem System bipolarer Exekutive reformierte, von einem hybriden Regime zu einer defekten Demokratie. Allerdings steht in der Ukraine die Demokratie wegen unüberwundener Konflikte der zentralen Akteure auf sehr wackligen Füßen. Es gibt also empirische Argumente dafür, dass ein Drängen auf eine parlamentarische Demokratieform in den Staaten Osteuropas sowie Zentralasiens und dem Kaukasus die erfolgversprechendste Option gewesen wäre, eine ( zumindest etwas ) bessere Bilanz der Demokratisierungsprozesse in diesen Regionen zu erreichen.72 Die parlamentarische Regierungsform errichtet nämlich bedeutende Barrieren gegen die Fortführung einer 70 Vgl. Margarete Klein, Autoritarismus in Georgien : 1990–2003. In : Jerzy Maćków ( Hg.), Autoritarismus in Mittel - und Osteuropa, S. 217–240; Margarete Klein, Nicht vollzogene Demokratisierung : Georgien nach der „Rosenrevolution“ 2003. In : ebd., S. 289– 305. 71 Vgl. u. a. Ilya Prizel, Ukraine between Proto - Democracy and Soft Authoritarianism. In: Karen Dawisha / Bruce Parrott ( Hg.), Democratic Changes and Authoritarian Reactions in Russia, Ukraine, Belarus, and Moldova, Cambridge 1997, S. 330–370. 72 Zu einer klaren Empfehlung für die parlamentarische Regierungsform in historischen Umbruchsituationen aufgrund einer Analyse der Strukturen und Konsequenzen der Regierungsform kommt Kailitz, Parlamentarische, semipräsidentielle und präsidentielle Demokratien.

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partimonialistischen, machtkonzentrierenden Staatstradition, während der „Superpräsidentialismus“ im Kern eine modernisierte Form des Patrominialismus ( Variante des Neopatrimonialismus ) darstellt.73 Wie in der Ukraine, aber auch in der Mongolei zu sehen ist, bedeutet die Wahl einer nicht - neopatrimonialen Regierungsform keinen Eingang ins Paradies. Die kulturellen Traditionen wirken weiter und erschweren daher auch die Funktionstüchtigkeit einer parlamentarischen Regierungsform (etwa durch Korruption) erheblich. Auch besitzt ein externes Drängen von Demokratiehelfern aufgrund der kulturellen Traditionen nur sehr begrenzte Erfolgsaussichten. Bedeutende Mächte wie Russland lassen sich ohnehin kaum von außen in ihrer Institutionenwahl beeinflussen. Da in diesem Beitrag auf den gegenwärtigen Demokratiestand abgehoben wurde, ist zu ergänzen, dass es seit Mitte der 90er Jahre größere Veränderungen der Regimeentwicklung fast ausschließlich in Südosteuropa gegeben hat. Seither haben sich in Kroatien, Mazedonien, Bulgarien und Rumänien die Regime günstig entwickelt. Die Präzision der kulturellen Prognose war etwa mit Blick auf die Daten von 1999 sogar noch etwas höher als 2009, da die inzwischen nur noch passablen Vorhersagen zu diesem Zeitpunkt noch sehr gut passten.74 Der Modernisierungsansatz schneidet im Vergleich schlechter als der Kulturansatz ab, hilft aber durchaus bei der Frage, warum sich die Demokratie in bestimmten Staaten etabliert. Die Staaten mit den besten Ausgangsvoraussetzungen – das waren Ostdeutschland, Tschechien, Estland, Slowenien und Lettland – haben auch den besten Konsolidierungsstand nach der Messung des EIU. Das zeigt sich vor allem dann, wenn wir die Messlatte hoch legen und auch Kriterien, wie etwa die Funktionstüchtigkeit der Ver waltung, mit einbeziehen. Schlechte sozioökonomische Ausgangsvoraussetzungen erschweren die Etablierung einer liberalen Demokratie, müssen sie aber nicht verhindern. Dies zeigt sich am Beispiel von Rumänien und der Mongolei. Der Versuch, den Transformationserfolg mit der Art der Transformation zu erklären, schneidet ebenfalls schlechter als der Kulturansatz ab. Eine Treffer wahrscheinlichkeit mit 17 von 30 Fällen (56,7 %) ist letztlich etwas dünn, um weitreichende Theoriegebilde darauf aufzubauen. Die Erklärung, dass ein „ausgehandelter Pakt“ die Etablierung der Demokratie begünstigt, überzeugt dabei durchaus, wenn wir nur auf die Länder mit ausgehandeltem Pakt blicken. In all diesen Staaten hat sich zumindest eine funktionierende liberale Demokratie etablieren können. Eine Mischung aus Pakt und Regimekollaps wie in der DDR oder der Tschechoslowakei konnte aber ebenso zu einer erfolgreichen Konsolidierung führen. Ein von oben gelenkter Regimewechsel stand der schnellen Etablierung einer liberalen Demokratie zwar entgegen, schloss diese aber län73 Vgl. Christian Timm, Transition from Neopatrimonial Rule. Zur Funktionslogik posttransformatorischer Regime und ihrer Dynamiken. Papier für den Autorenworkshop „Autoritarismus Reloaded“, Bad Urach 2009. 74 Vgl. Adrian Karatnicky, The 1999 Freedom House Survey : A Century of Progress. In : Journal of Democracy, 11 (2000), S. 187–200, hier 195.

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gerfristig nicht aus. Das zeigen Bulgarien, Rumänien, Mazedonien und die Mongolei.

4.

Schlussbetrachtung

Ob der Betrachter der postkommunistischen Regime darüber jammert, dass das Glas halb leer ist, oder sich freut, dass es halb voll ist, hängt – wie stets – von der Perspektive ab. Philippe C. Schmitter und Carsten Schneider stellten etwa erfreut fest, dass die ostmitteleuropäischen und baltischen Länder ihre Demokratien schneller gefestigt hätten, als die südeuropäischen oder lateinamerikanischen Staaten nach ihrer ( Re - )Demokratisierung.75 Angesichts der beträchtlichen Probleme, vor denen die postkommunistischen Staaten angesichts der gleichzeitigen Herausforderung einer vollständigen politischen und ökonomischen Umwälzung standen, erscheint es manch kundigem Beobachter wie Wolfgang Merkel wiederum, als sei die Konsolidierung der Demokratie in den Staaten Ostmitteleuropas „gegen alle Theorie“76 erfolgt. Andere Beobachter sehen dagegen Grund zur Klage : „Contrary to early optimistic expectations, democracy has not become ‚the only game in town‘ among the ex - communist countries.“77 Nicht vergessen werden darf bei beiden Urteilen, dass die Staaten Ostmitteleuropas durchaus mit aller Theorie in wesentlichen Bereichen ( vor allem kulturelles Erbe, zu einem bedeutenden Teil aber auch Modernisierungsstand und Transitionsmodus ) sehr gute Voraussetzungen aufwiesen, während eine Konsolidierung der Demokratie etwa in den Staaten des Kaukasus und Zentralasiens wirklich gegen alle Theorie erfolgt wäre. Der Vergleich mit den Ergebnissen etablierter Demokratien zeigt, wie erstaunlich gut etwa die Entwicklung in Tschechien und Ostdeutschland verlaufen ist. Geradezu sensationell ist der Konsolidierungsstand der Tschechischen Republik bei einer Berücksichtigung aller fünf gemessenen Bereiche. Hier liegt Tschechien nach den Daten des EIU inzwischen noch vor etablierten Demokratien wie Belgien, Großbritannien und Frankreich. Italien schaffte im Unterschied zu Tschechien beispielsweise 2008 nur ganz knapp die Kriterien für eine konsolidierte Demokratie, 2006 galt es sogar als defekte Demokratie. Eine ganze Reihe bereits sehr langlebiger Demokratien wie Israel und Indien liegen bei der Messung des „Economist“ im Unterschied zu Tschechien sogar deutlich unter der Hürde einer konsolidierten Demokratie. 75 Vgl. Philippe C. Schmitter / Carsten Schneider, Liberalization, Transition and Consolidation : Measuring the Components of Democratization. In : Democratization, 11 (2004), S. 59–90. 76 Vgl. Wolfgang Merkel, Gegen alle Theorie ? Die Konsolidierung der Demokratie in Ostmitteleuropa. In : Politische Vierteljahresschrift, 48 (2007) 3, S. 413–433. 77 Vgl. Pop - Eleches, Historical Legacies and Post - Communist Regime Change, S. 908–926, hier 924. Vgl. auch Charles H. Fairbanks, Disillusioment in the Caucasus and Central Asia. In : Larry Diamond / Marc F. Plattner ( Hg.), Democracy After Communism, Baltimore 2002, S. 224–231.

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Mit Blick auf die „dunkle Seite“ der Medaille, die hybriden Regime und Autokratien in Osteuropa, Zentralasien und im Kaukasus sollte das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden. Zwar haben sich diese Staaten nicht zu liberalen Demokratien entwickelt, aber es finden Wahlen mehr oder minderer Qualität statt. Im Unterschied zur präkommunistischen Zeit beruhen die gegenwärtigen Regime der Region auf Partizipation und – beschränkter – Kompetitivität. Von der Regimeform einer elektoralen Autokratie ist der Weg zu einer liberalen Demokratie aber deutlich kürzer als von einem nicht - partizipativen, nicht kompetitiven Regime, also jener Herrschaftsform, die in diesen Regionen vor dem Kommunismus vorherrschte.78 Das Jahr 2000 markierte mit der Übergabe der Präsidentschaft von Boris Jelzin an Wladimir Putin sicher keinen großen Tag für die Demokratie, aber es war doch immerhin das erste Mal in der russischen Geschichte, dass auf der Grundlage der Stimmabgabe der Russen der Machthaber im Kreml wechselte.79 In historischer Perspektive hat die Modernisierungstheorie also gerade dann, wenn sie auch kulturelle Faktoren berücksichtigt, ein sehr hohes Erklärungspotential.80 In dieser Perspektive ist zudem durchaus vorsichtiger Optimismus angebracht. Nach der südosteuropäischen Region würde sich demnach die liberale Demokratie auch in Osteuropa und mit weiterem zeitlichem Abstand auch in Zentralasien und im Kaukasus entwickeln.81 Beim Vergleich der Erklärungskraft der drei behandelten Ansätze wäre theoretisch zu erwarten gewesen, dass Faktoren, die dem Ereignis zeitlich näher sind ( Art der Transition ), mehr erklären können, als zeitlich ferne und recht allgemein gehaltene Faktoren ( kulturelle Prägung ).82 Es ist daher erstaunlich, dass die Form der Transition weit weniger als das präkommunistische kulturelle Erbe der Staaten erklärt.83 Die an Westeuropa angrenzenden Staaten sind die post78 Vgl. zur Unterscheidung verschiedener Autokratieformen auf der Grundlage von Partizipation, Kompetivität und der Gewährleistung von Bürgerrechten wie der Beschränkungen der Exekutive vgl. Kailitz, Varianten der Autokratie im 20. und 21. Jahrhundert, S. 209–251. Speziell zur Herrschaftsform der elektoralen Autokratie vgl. Andreas Schedler ( Hg.), Electoral Authoritarianism : The Dynamics of Unfree Competition, Boulder 2006. 79 So etwa auch Michael McFaul, One Step Forward, Two Steps Back. In : Larry Diamond / Marc F. Plattner ( Hg.), Democracy After Communism, Baltimore 2002, S. 179–193, hier 179. 80 Vgl. Kailitz, Varianten der Autokratie im 20. und 21. Jahrhundert, S. 209–251. 81 Diese Perspektive hat dabei für manchen Staat auch einen pessimistischen Beigeschmack. Aus der Perspektive der Modernisierungstheorie wäre etwa ein autoritärer Rückfall in der Mongolei weit wahrscheinlicher als in Tschechien. 82 Zur Unterscheidung in ereignis - „nahe“ und -„ferne“ Erklärungsfaktoren vgl. Kitschelt, Accounting for Postcommunist Regime Diversity; Carsten Schneider / Claudius Wagemann, Reducing Complexity in Qualitative Comparative Analysis ( QCA ) : Remote and Proximate Factors and the Consolidation of Democracy. In : European Journal of Political Research, 45 (2006) 5, S. 751–786; Jørgen Møller / Svend - Erik Skaaning, The Three Worlds of Post - Communism : Revisiting Deep and Proximate Emxplanations. In: Democratization, 16 (2009), S. 298–322. 83 Zu diesem Ergebnis kommt auch Pop - Eleches, Historical Legacies and Post - Communist Regime Change, S. 908–926.

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kommunistischen Länder, die zu liberalen Demokratien wurden und heute eine recht entwickelte Marktwirtschaft aufweisen. Je weiter wir nach Süden, vor allem aber je weiter wir nach Osten gehen, umso schlechter ist es um Demokratie und Marktwirtschaft bestellt.84 Von dem Muster, das sich auf der Grundlage einer kulturalistischen Sichtweise ergibt, weicht lediglich die Mongolei als große Ausnahme ab.85 Daran hat sich auch nach den „bunten Revolutionen“ als zweiter Welle der Demokratisierung im postkommunistischen Raum nichts geändert.86 Tatsächlich entwickelten sich dabei die Staaten auch in der kommunistischen Zeit pfadabhängig weiter. So wäre es falsch zu glauben, die kommunistischen Autokratien seien von der DDR bis nach Tadschikistan identische Herrschaftsregime gewesen. Die kommunistische Herrschaft etwa im Baltikum unterschied sich grundlegend von der in Zentralasien, obgleich beide Territorien zur Sowjetunion gehörten. Herbert Kitschelt hat in dieser Hinsicht zwischen vier Formen „kommunistischer Erbschaft“ unterschieden : zwischen einem bürokratischautoritären Kommunismus ( Tschechoslowakei, DDR und Slowenien87), einem national angepassten Kommunismus ( Ungarn, Polen und baltische Staaten ), einem patrimonialen Kommunismus ( Albanien, Bulgarien, Georgien, Kroatien, Mazedonien, Moldawien, Montenegro, Rumänien, Russland, Serbien, Ukraine und Weißrussland ) und der „kolonialen Peripherie“ des kommunistischen Herrschaftsraums mit vollständig patrimonialen Verwaltungsstrukturen ( Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan, Tadschikistan und Usbekistan ).88 Die Typen lassen sich mit Blick auf den bedeutenden Aspekt des Grads der legalen Rationalität der Herrschaft und der Abwesenheit von Klientelismus und Korruption so charakterisieren :

84 Zum analogen Ergebnis kommen etwa Jeffrey Kopstein, 1989 as a Lens for the Communist Past and Post - Communist Future. In : Contemporary European History, 18 (2009), S. 289–302; Møller / Skaaning, The Three Worlds of Post - Communism : Revisiting Deep and Proximate Explanations, S. 298–322, und zahlreiche andere Forscher. 85 Dieses Ergebnis setzt sich derzeit als allgemeiner Kenntnisstand durch. Siehe u. a. folgendes Zitat : „With the sole exception of Mongolia, democracy has not made inroads outside of East - Central Europe, which means that it is reasonable to doubt whether this outcome has really been actor - induced.“ So Møller, Post - Communist Regime Change, S. 93. 86 Vgl. Henry E. Hale, Democracy or Autocracy on the March ? The Colored Revolutions as Normal Dynamics of Patronal Presidentialism. In : Communist and Post - Communist Studies, 39 (2006), S. 305–321; Abel Polese / Donnacha Ó Beacháin, From Roses to Bullets – The Rise and Decline of Post - Soviet Colour Revolutions. In : Uwe Backes / Tytus Jaskulowski / Abel Polese ( Hg.), Totalitarismus und Transformation, S. 63–100. Die Welle führte konkret zum Sturz der Diktatoren in Kroatien, Serbien, Georgien und der Ukraine. In anderen Ländern wie Kirgistan scheiterten „bunte Revolutionen“. 87 Slowenien habe ich aufgrund der starken bürokratischen Traditionen im Unterschied zu Kitschelt statt in die Kategorie des national angepassten Kommunismus in die Kategorie des bürokratisch - autoritären Kommunismus eingeordnet. Slowenien hob sich in dieser Hinsicht deutlich von den anderen Teilstaaten Jugoslawiens ab. 88 Vgl. Kitschelt, Accounting for Outcomes, S. 31.

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Tabelle 8 : Regimevarianten im kommunistischen Herrschaftsbereich89 bürokratischautoritärer Kommunismus

Nationalangepasster Kommunismus

Patrimonialer Kommunismus

Patrimoniale Peripherie

Hohe Professionalität der Bürokratie, geringe Korruption

Mittlere Professionalität der Bürokratie, mittlere bis geringe Korruption

Eher geringe Professionalität der Bürokratie, hohes Maß an Korruption

Sehr geringe Professionalität der Bürokratie, sehr hohes Maß an Korruption

Nach dem epochalen Umbruch der Jahre 1989–1991 waren es weiterhin keineswegs nur direkt die historischen Traditionen, die es für die Staaten je nach Nähe zu Westeuropa leichter machten, eine funktionierende Demokratie zu entwickeln. Von 1989 an gab es in Ostmitteleuropa und bald auch im Baltikum einen sehr starken Anziehungseffekt der Europäischen Union. Je realistischer die Beitrittsperspektive aufgrund der kulturellen Nähe zu Brüssel war, desto stärker waren die Bemühungen der EU bei der Demokratiehilfe.90 Je größer die Möglichkeit in die EU zu gelangen, desto stärker waren die Bemühungen, den Vorgaben der EU – vor allem auch an die Ausgestaltung eines demokratischen Regimes –zu entsprechen. Die exakte Reihung des Regimeerfolgs im Vergleich zum EU - Beitrittsdatum ist also auch die Frucht einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.91 Tschechien wurde im Transformationsprozess von der EU weit stärker unterstützt als etwa Tadschikistan. Der historische Faktor wurde also konkret durch eine im historischen Erbe der Länder wurzelnde Erwartungshaltung der Europäischen Union verstärkt.92 Hinzu kommt der Diffusionsfaktor, wenn sich in einer Region bereits die meisten Länder in eine Regimerichtung bewegen, übt dies einen Anziehungseffekt auf die anderen Länder der Region aus. So kommen und fallen Demokratien gerade regional ( siehe etwa Lateinamerika nach dem Zweiten Weltkrieg oder Europa in der Zwischenkriegszeit ) 89 Die Zusammenstellung ist angelehnt an Kitschelt, Accounting for Outcomes, S. 32. 90 Vgl. Marcus Kurtz / Andrew Barnes, The Political Foundations of Post - Communist Regimes : Marketization, Agrarian Legacies, or International Influences. In : Comparative Political Studies, 35 (2002), S. 524–553. Zur Demokratisierungspolitik der EU vgl. Marianne Kneuer, Demokratisierung durch die EU. Süd - und Ostmitteleuropa im Vergleich, Wiesbaden 2007. 91 Bereits 2004 wurde die Güte der Regimeentwicklung in Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn damit prämiert, dass sie in die EU aufgenommen wurden. 2007 nahm die EU – mit Auf lagen – auch Bulgarien und Rumänien in den Kreis ihrer Mitglieder auf. Kroatien und Mazedonien sind offizielle Kandidaten für den Beitritt, wobei die Chancen einer recht zeitnahen Aufnahme weit größer sind als beim Dauerkandidaten Türkei. 92 Es wird allerdings auch – etwas simplizistisch – mit der geographischen Distanz zur europäischen „Doppelhauptstadt“ Brüssel und Wien als entscheidendem Faktor argumentiert. Vgl. Jeffrey S. Kopstein / David A. Reilly, Geographic Diffusion and the Transformation of the Postcommunist World. In : World Politics, 53 (2000), S. 1–37.

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in der Regel in Wellen.93 Indem etwa die EU stark auf Bulgarien und Rumänien einwirkte, erhöhte sie aus dieser Perspektive auch die Demokratisierungschancen in den anderen Staaten der Region. Der Schlüssel zur Demokratisierung der osteuropäischen Region würde aus dieser Perspektive in einer Demokratisierung Russlands liegen. Mehr als zwanzig Jahre nach dem Beginn des Zusammenbruchs der kommunistischen Regime lässt sich klar sagen, dass die Erwartungen der „Transitologen“, die von einer unbegrenzten Gestaltungskraft des stets rational handelnden homo oeconomicus ausgingen,94 der ganz rational seine Institutionen wählt, zugunsten der Einsicht aufgegeben werden sollte, dass es in keinem Land eine Stunde Null gibt. Länder bewegen sich in der Regel – ob gut, ob schlecht – pfadabhängig in den Bahnen des langfristigen historischen Erbes. Dies schließt positive historische Überraschungen ( Demokratie in der Mongolei ) ebenso wenig aus wie negative ( nationalsozialistische Diktatur in Deutschland ). Kulturelle Prägungen sind einflussreich, aber sie determinieren das Geschehen nicht. In Erinnerung zu behalten ist zudem, dass wir mit einem kulturalistischen Erklärungsmuster die Notwendigkeit der Begründung von Entwicklungen in die historische Tiefe verschieben, aber nicht auf lösen. So ist bislang noch wenig erforscht, warum sich überhaupt verschiedene kulturelle Pfade ausgeprägt haben, die nur an kritischen Punkten der Entwicklung überhaupt wieder verlassen werden können.95 Trotz aller Pfadabhängigkeit der Geschichte ist es durchaus erklärungsbedürftig, warum gewaltige historische Weichenstellungen in den Regionen, konkret die Machtergreifung der Kommunisten und die Überwindung der kommunistischen Herrschaft, so wenige Züge nachhaltig umgelenkt haben.96 Selbst 93 Vgl. u. a. Scott Mainwaring / Aníbal Pérez - Liñán, Why Regions of the World are Important : Regional Specificities and Region - Wide Diffusion of Democracy ( Kellogg Institute University of Notre Dame, Working Paper 322), Notre Dame 2005; Harvey Starr, Democratic Dominoes. Diffusion Approaches to the Spread of Democracy in the International System. In : Journal of Conflict Resolution, 35 (1991), S. 356–381. 94 Hier handelt es sich nicht um einen „Pappkameraden“. Vgl. als Vertreter dieser in der Transformationsforschung einflussreichen Perspektive etwa Stephan Haggard / Robert R. Kaufman, The Political Economy of Democratic Transitions, Princeton 1995. 95 Zu den Ausnahmen zählt Chirot, The Origins of Backwardness in Eastern Europe; Philip Longworth, The Making of Eastern Europe : from Prehistory to Postcommunism, 2. Auflage Basingstoke 1997; David Turnock, The Making of Eastern Europe. From the Earliest Times to 1815, London 1988. Direkt mit dem Instrumentarium des historischen Institutionalismus arbeitet die folgende sehr gute, auf Russland beschränkte Studie : James Warhola, The Redux of Russian Autocracy : Path Dependency and the Modern State ( Paper presented at the Midwest Political Science Association Annual Meeting ), 2009, www.allacademic.com. Mit Blick auf Gesamteuropa hat folgende Studie, die den Zeitraum von 990 bis 1990 in den Blick nahm, sehr gut die Wegscheiden herausgearbeitet, an denen sich die Wege von Staaten mit einer liberaleren und einer autokratischeren Entwicklung trennten : Charles Tilly, Coercion, Capital and European States. Ad 990 – 1990, 2. Auflage Cambridge, Mass. 1992. 96 Vgl. zu den historischen Versuchen, die „östlichen“ Züge nach „Westen“ umzulenken : Dieter Segert, Die Grenzen Osteuropas. 1918, 1945, 1989 – drei Versuche im Westen anzukommen, Frankfurt a. M. 2002.

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an den kritischen Punkten97 der Geschichte gibt es dennoch eine strukturelle Beharrungskraft, die ein Weiterfahren in der pfadabhängigen Spur wahrscheinlicher macht als ein Umsetzen des Zugs auf neue Gleise.98 Mit Blick auf die Prägekraft des kulturellen Erbes kommt man inzwischen wohl kaum an der Erkenntnis vorbei, dass an dem auf dem ersten Blick sehr simplizistisch wirkenden Argument „etwas“ dran ist. Die Vorstellungen, welche Elemente der Tradition aber wie genau wirken, sind bei der kulturalistischen Argumentation noch recht unscharf und bedürfen einer Präzisierung. Der Ansatz beruht noch auf recht vagen und damit gewagten Pauschalisierungen über die kulturelle Entwicklung ganzer Regionen und Religionen, die einer Ausdifferenzierung bedürfen, die nur Experten für die historische Entwicklung der Regionen leisten können.99 Am Ende des Beitrags möchte ich meine Ergebnisse in das Gesamtbild des Bandes einpassen. Mit Blick auf die hauptsächlichen Vergleichsfälle dieses Buchs lautet mein Fazit : In allen vier Staaten – DDR, Polen, Ungarn, Tschechoslowakei – erklärt bereits die Zugehörigkeit dieser Länder zum westlichen Kulturkreis, also ihr historisches Erbe, wesentlich mit, warum die Demokratie erfolgreich etabliert werden konnte. Der Kommunismus ist in diesen Ländern als eine fremdbestimmte Unterbrechung der Entwicklung dieser Länder zu interpretieren. Nur der Zwang der Sowjetunion konnte demnach ein Beschreiten des pfadabhängigen Regimewegs in Richtung mehr Machtkontrolle und Demokratie verhindern. Wer sich konkret die ersten zehn Staaten in der obigen Rangliste liberaler Demokratien im postkommunistischen Raum betrachtet, findet dort Staaten, in denen es – wie in der DDR (1953), Ungarn (1956), Tschechien und der Slowakei (1968) sowie in Polen (1956, 1970, 1976, 1980–1989) – zu Aufständen gegen das kommunistische Regime und / oder gegen die Fremdbestimmung durch Moskau kam.100 Weiterhin finden sich dort die baltischen Staaten, 97 Zum Konzept der „kritischen Augenblicke“ im Rahmen des Konzepts des historischen Instiutionalismus vgl. eindrucksvoll die Arbeit von Ruth Berins Collier / David Collier, Shaping the Political Arena. Critical Junctures, the Labor Movement, and Regime Dynamics in Latin America, Newcastle 2002. Das Konzept der „kritischen Punkte“ steht dabei durchaus in Einklang mit der folgenden Kernaussage aus der akteursorientierten Transformationsforschung, die den grundlegenden Einfluss struktureller Faktoren in der Transformationssituation nicht leugnet : „Those [ structural ] mediations are looser, their impacts more indeterminate, than in normal circumstances.“ So O’Donnell / Schmitter, Transitions from Authoritarian Rule, S. 5. 98 Dabei ist für globale Vergleiche im Unterschied zum regionalen Vergleich der postkommunistischen Staaten ein Punkt zu bedenken : Bei einem Binnenvergleich kommen nur die Unterschiede, nicht aber die Gemeinsamkeiten der postkommunistischen Staaten zur Sprache. So kann etwa die Bedeutung der Prägung des Erbes der kommunistischen Herrschaft nur im Vergleich postkommunistischer Transformationsstaaten mit den nicht- kommunistischen Transformationsstaaten deutlich werden. 99 Vgl. mit Blick auf eine Kritik an der Vagheit der Überlegungen zu den Unterschieden der regionalen Identität im postkommunistischen Raum : Ellen Comisso / Brad Gutierrez, Eastern Europe or Central Europe ? Exploring a Distinct Regional Identity, San Diego 2002. 100 Vgl. Grzegorz Ekiert, The State against Society. Political Crises and their Aftermath in East Central Europe, Princeton 1996.

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die stets mit der Annektierung durch die Sowjetunion in den 40er Jahren haderten. Die wiederkehrende gewaltsame Unterdrückung der Rebellionen wurzelte in der berechtigten Befürchtung der Sowjetunion, dass eine Freigabe der Entwicklung in einem Land in Ostmitteleuropa zu einem Dominoeffekt führen würde. Bis 1989 hielt die Sowjetunion daher gemäß der Breschnew - Doktrin die Dominos eisern fest. Erst im Zuge der Perestroika in der Sowjetunion konnte der Erfolg der Solidarność, der im August 1989 in der ersten nicht - kommunistischen geführten Regierung mündete, die ostmitteleuropäische Kettenreaktion in Gang setzen, die bald auf das Baltikum übergriff.

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IV. Anhang

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Abkürzungsverzeichnis AfNS ASt AWS

Amt für Nationale Sicherheit Außenstelle Akcja Wyborcza Solidarność ( Wahlaktion Solidarność )

BArch BStU

Bundesarchiv Bundesbeauftragte( r ) für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Bertelsmann Transformations Index Bezirksverwaltung

BTI BV CDU CDSU COCOM

CSV

Christlich Demokratische Union Christlich - Demokratische Soziale Union Consultative Group - Coordinating Committee (Koordinationsausschuss für mehrseitige Ausfuhrkontrollen ) Christlich - Sozialdemokratische Partei Deutschlands Česká strana sociálně demokratická ( Tschechische Sozialdemokratische Partei ) Christlich Soziale Vereinigung

DA DBD DDR DFD DFU DSU

Demokratischer Aufbruch Demokratische Bauernpartei Deutschlands Deutsche Demokratische Republik Demokratischer Frauenbund Deutschlands Deutsche Friedensunion Deutsche Soziale Union

EIU

Economist Intelligence Unit ( Democracy Index )

FAZ FDGB FDP FZZ FKGB FPT FVP

Frankfurter Allgemeine Zeitung Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Demokratische Partei Forum Związków Zawodowych ( Forum Gewerkschaftsbund ) Független Kisgazda - , Földmunkás - és Polgári Párt ( Unabhängige Partei der Kleinlandwirte, der Landarbeiter und des Bürgertums ) Forum - Partei Thüringen Fortschrittliche Volkspartei

GG

Grundgesetz

KDU - ČSL

Křesťansko - demokratická unie – Československá strana lidová (Christlich - demokratische Union – Tschechoslowakische Volkspartei) Komitet gosudarstvennoj bezopastnosti ( Komitee für Staatssicherheit ) Klub Inteligencji Katolickiej ( Klub der Katholischen Intelligenz Kommunista Ifjúsági Szövetség ( Kommunistischer Jugendbund )

CSPD ČSSD

KGB KIK KISZ

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396 KLD Koalice KOR KPTsch KSČM

Anhang Kongres Liberalno - Demokratyczny ( Liberal - Demokratischer Kongress ) Wahlkoalition der Volkspartei ( KDU - ČSL ) mit der Freiheitsunion (US - DEU ) Komitet Obrony Robotnikňw ( Komitee zur Verteidigung der Arbeiter ) Kommunistische Partei der Tschechoslowakei Komunistická strana Čech a Moravy ( Kommunistische Partei Böhmens und Mährens )

LDPD LPR

Liberal - Demokratische Partei Deutschlands Liga Polskich Rodzin ( Liga Polnischer Familien )

MDF MfS MIÉP

Magyar Demokrata Fórum ( Ungarisches Demokratisches Forum ) Ministerium für Staatssicherheit Magyar Igazság és Élet Pártja ( Partei für ungarisches Recht und Leben ) Magyar Szocialista Munkáspárt ( Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei )

MSZP NDPD NVA

Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nationale Volksarmee

ODS OKP OPZZ

Občanská demokratická strana ( Demokratische Bürgerpartei ) Obywatelski Klub Parlamentarny ( Parlamentarischer Bürgerklub ) Ogólnopolskie Porozumienie Związków Zawodowych (Gesamtpolnischer Gewerkschaftsverband )

PC PD PDS PiS PO PPS PSL PVAP PZPR

Porozumienie Centrum ( Zentrumsallianz ) Polscy Demokraci ( Polnische Demokraten ) Partei des Demokratischen Sozialismus Prawo i Sprawiedliwość ( Recht und Gerechtigkeit ) Platforma Obywatelska ( Bürgerplattform ) Polska Partia Socjalistyczna ( Polnische Sozialistische Partei ) Polskie Stronnictwo Ludowe ( Polnische Bauernpartei ) Polnische Vereinigte Arbeiterpartei Polska Zjednoczona Partia Robotnicza ( Polnische Vereinigte Arbeiterpartei ) Powszechny Zakład Ubezpieczeń ( größte Versicherungsgruppe Polens )

PZU RP

Samoobrona ( Selbstverteidigung der Republik Polen )

SBU SDP SdRP

Sozial - Bürgerliche Union Sozialdemokratische Partei in der DDR Socjaldemokracja Rzeczypospolitej Polskiej ( Sozialdemokratie der Republik Polen ) Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

SED

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Abkürzungsverzeichnis SLD Slg. SN SND

397

SP SPD SWOT SZ SZDSZ

Sojusz Lewicy Demokratycznej ( Bund der Demokratischen Linken ) Sammlung Stronnictwo Narodowe ( Nationalpartei ) Stronnictwo Narodowo - Demokratyczne ( Nationaldemokratische Partei ) Stronnictwo Pracy ( Partei der Arbeit ) Sozialdemokratische Partei Deutschlands „strenghts“, „weaknesses“, „opportunities“, „threats“ Strana zelených ( Die Partei der Grünen ) Szabad Demokraták Szövetsége ( Bund Freier Demokraten )

TSP TVP

Tschechoslowakische Sozialistische Partei Tschechoslowakische Volkspartei

UD UdSSR USAP UW

Unia Demokratyczna ( Demokratische Union ) Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei Unia Wolności ( Freiheitsunion )

VUS

Volksunion Sachsen

ZK ZNP

Zentralkomitee Związek Nauczycielstwa Polskiego ( Gewerkschaft der polnischen Lehrerschaft ) Zjednoczone Stronnictwo Ludowe ( Vereinigte Bauernpartei )

ZSL

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Personenverzeichnis Abalkin, Leonid 36, 38 Aczél, György 73, 296 Adamec, Ladislav 98, 189, 195, 196–201 Almond, Gabriel 89 Andreotti, Giulio 22 Andropow, Jurij Wladimirowitsch 80 Antall, Józef 293, 294 Arendt, Hannah 145, 317, 320, 322 Armin, Hans Herbert von 355 Ash, Timothy Garton 63, 180 Bahr, Egon 20 Bajnai, Gordon 293 Balcerowicz, Leszek 58, 60, 277 Barths, Karl 17 Bartončik, Josef 193 Bartuška, Václav 190 Bašný, Adam 311 Battěk, Rudolf 95 Becher, Johannes R. 20 Beichelt, Timm 299 Belka, Marek 272 Benda, Václaw 95 Berecz, János 63 Berlusconi, Silvio 169 Biłak, Vasil 189 Birthler, Marianne 350 Bleiker, Roland 204, 214 Bohley, Bärbel 125, 224, 238 Bonhoeffer, Dietrich 27, 318 Boross, Péter 293 Borowski, Marek 279 Brandt, Willi 20, 22 Breschnew, Leonid Ilitsch 66, 114 Brunner, Georg 159 Buchheim, Hans 159 Buzek, Jerzy 272, 278 Čalfa, Marián 197 f., 200 Canetti Elias 243 Carothers, Thomas 378 Ceauşescu, Nicolae 36, 41, 43, 153 Chrzanowski, Wiesław 61 Ciosek, Stanisław 180, 182 Císař, Čestmír 199

Csengey, Dénes 64 Csoóri, Sándor 64, 68 Csurka, István 64, 68 Čunek, Jiří 311 f. Czyrek, Jósef 182 Dąbrowski, Jerzy 182 Dahls, Robert Alan 299, 378 Dahrendorf Ralf 88 Dalík, Marek 310–312 Dickel, Friedrich 137 Dubček, Alexander 199 f. Dudek, Antoni 48 Ebeling, Hans - Wilhelm 325 Ehrich, Uwe 340–342 Enzensberger, Hans Magnus 188 Falandysz, Lech 270 Falcke, Heino 333, 337, 340 Falin, Valentin 235 Fejti. György 74 Fiala, Petr 299 Fischbeck, Hans - Jürgen 127 Fischer, Werner 125 Fister, Rolf 115 Fojtík, Jan 192 Friedheim, Daniel 213 f. Friedrich, Carl - Joachim 159 Friedrich, Walter 136 Garlicki Andrzej 48 Gauck, Joachim 350 Genscher, Hans Dietrich 22 Geremek, Bronisław 177, 183–185, 251, 277 Gerlach, Manfred 226, 241 Gern, Christiane 205 Giertych, Roman 278 f. Glemp, Józef 183 Gomułka, Władysław 152 Göncz, Árpád 290 Gorbatschow, Michail Sergejewisch 9, 11, 21, 24, 36, 39, 44 f., 52, 55, 73, 76 f., 97 f., 112–114, 123, 139, 145 f., 153 f., 161, 184, 196, 213 f.,

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400

Anhang

216, 220 f., 226, 229, 231, 241 f., 319, 347, 377 Götting, Gerald 241 Grass, Günter 20 Grósz, Károly 63, 76 f. Gueffroy, Chris 115 Gunther, Richard 166 f. Gutzeit, Martin 127 Gwiazda, Andrzej 52 Gysi, Gregor 233, 235, 237, 240, 350 Gyurcány, Frenec 86 f., 290, 293, 295, 297 Hackenberg, Helmut 137 f. Hájek, Jirí 95 Hájek, Petr 190 Havel, Václav 14, 36, 96 f., 99, 192, 198–201, 301 Heine, Heinrich 21 Hempel, Johannes 133 Henning, Werner 323 Hermann, Joachim 137 Hirsch, Ralph 125 Hirschmann, Albert 206 f. Hoffman, Karel 192 Honecker, Erich 19, 20 f., 25, 30, 35 f., 103, 106, 108–110, 112 f., 116, 129, 135–137, 139, 153, 222, 226 f., 240, 241, 347 f., 355 Horn, Gyula 293 Horváth, István 63 Hübl, Milan 95 Huntington, Samuel P. 299, 345, 366 Husák, Gustáv 36, 95, 97, 192, 199 Indra, Alois 192 Ingelhart, Roland 364 Ipsen, Jörn 354 Irmler, Wolfgang 112 Jakeš, Milouš 97 f., 189, 192 f. Jaruzelski, Wojciech 35, 48, 51 f., 56 f., 177, 180, 182–184, 252, 267– 270, 287 Jelzin, Boris 38 f., 386 Johannes Paul II. 283 f.

Kaczyński, Jaroslaw 52, 278, 284 Kaczyński, Lech 52, 272, 274, 278 f., 284 Kádár, János 63, 66, 70, 73 f., 76, 79, 150, 156 Kaiser, Jakob 23 Kálmán, Ghyczy 75 Karl der Große 369 Kende, Pierre ( Péter ) 67, 70–72 Kenedi, János 68 Kessler, Heinz 137 Kielmansegg, Peter Graf 159 Kincl, František 192 King, Martin Luther 318 Kis, János 68. 86 Kiszczak, Czesław 48, 56–58, 175, 177, 180, 182–184 Klaus, Václav 197 Klich, Bogdan Adam 283 Klier, Freya 125 Knabe, Hubert 232 Kohl, Helmut 22 f., 230, 234–237, 241 Komárek, Valter 199 Kořistka, Zdeněk 311 Kowalczuk, Ilko - Sascha 214 Kozłowski, Krzysztof 57 Krause, Günther 350 Krenz, Egon 19, 24, 106, 116, 135– 138, 228, 232, 240, 348 Kretschmann, Ehrhard 335 Krzaklewski, Marian 277 f. Kubát, Michal 299 Kulcsár, Kalman, 75 Kuns, Béla 150 Kuron, Jacek 183, 186 Kwaśniewski, Aleksander 178, 251 f., 278 Łaba, Roman 176 f. Lafontaine, Oskar 23, 237 Lenárt, Jozef 194 Lendvai, Ildikó 296 Leo, Heinrich 143 Lepper, Andrzej 278 f. Leuschner, Andreas 212 Lieberknecht, Christine 342

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Personenverzeichnis Linz, Juan J. 100, 146, 148 f., 153 f., 166 f., 174, 181, 189, 369, 375 Lipset, Seymour Martin 372 Lipski, Jan Józef 277 Löwenthal, Richard 146 Maier, Charles S. 230 Maizière, Lothar de 233, 235, 241 Marcinkiewicz, Kazimierz 272 Martens, Wilfried 296 Masur, Kurt 217 Mazowiecki, Tadeusz 35 f., 58, 60, 175, 252, 269– 271, 277 McDaniel, Tim 368 Meckel, Markus 127, 315 Medgyessy, Péter 86 f., 290, 293 Merkel, Wolfgang 173, 189, 299, 303, 345, 347 Mezník, Jaroslaw 95 Michnik, Adam 47, 56, 183, 186 Mielke, Erich 19, 112 f., 115, 136 f. Miller, Leszek 272 Miodowcz, Alfred 178, 183 Mitterrand, Francois 22 Mladenov, Petar 256 Mlynář, Zdeněk 95 Modrow, Hans 228, 230–233, 235, 237, 240, 334 f. Mohorita, Vasil 194 Moore, Barrington 177 Müller, Heiner 225 Müller - Enbergs, Helmut 223 Mussolini, Benito 159 Nagy, Imre 75–79, 175 Navratíl, Augustin 98 Németh, Miklós 77, 81 f. Neubert, Ehrhart 126 Nooke, Günter 350 Nyers, Rezsö 156 O’Donnell, Guillermo 166, 375 Olechowski, Andrzej 278 Ondráčka, David 303 Opletal, Jan 190 Opp, Karl - Dieter 205, 208 Orbán, Viktor 86, 293, 295 f. Orszulik, Alojzy 183

401

Palach, Jan 191 Pastuchov, Vladimir 166 f. Pecher, Thomas 340 Pieck, Wilhelm 136 Pithart, Petr 96 Plaschke, Herbert 43 Poppe, Gerd 225, 350 Poppe, Ulrike 225 Pożoga, Władysław 177, 180 Pozsgay, Imre 63, 69, 74–77, 156 Preuß, Ulrich K. 262, 353 Przeworski, Adam 112, 181, 185 Putin, Wladimir Wladimirowitsch 386 Rajk, Lásló 68 Rákosis, Mátyás 151 Rakowski, Miectysław 183 f. Rasenberger, Hans 315 f. Rawls, John 181 Reagan, Ronald 163 Reich, Jens 28, 258, 350 Reid, Thomas 182 Richter, Frank 209, 212 Rohwedder, Detlev 26 Sacharow, Andrei 40 Sacher, Richard 194, 198 Schabowski, Günter 19, 103, 135 f. Schäuble, Wolfgang 320, 350 Schelew, Scheljew 256 Schenk, Bernhard 336 Schiller, Friedrich 316 Schiwkow, Todor 35, 255 Schmidt, Helmut 22 Schmitter, Phillippe C. 166, 375, 385 Schneider, Carsten 385 Schult, Reinhard 225 Schulz, Werner 350 Sharp, Gene 204, 205 Siła - Nowicki Władysław 277 Simon Gerhard 164 f. Sindermann, Horst 215 Siwicki, Florian 184 Skrzypczak, Waldemar 283 Smolar, Aleksander 186

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Anhang

Solschenizyn, Alexander Issajewitch 65 Sólyom, Lászlo 290, 292 Soros, George 67 Stalin, Josef 27, 145, 147, 151 Stelmachowski, Andrej 182 Stepan, Alfred 148 f., 153, 166 f., 174, 181 Stěpán, Miroslav 190, 192, 194 Stoph, Willi 231 Štrougal, Lobumír 98 Süß, Walter 122 Szacki, Jerzy 187, 276 Szolományi, Soňa 299 Szűrös, Mátyás 63 Templin, Wolfgang 125, 237 Tesař, Jan 95 Timmer, Karsten 208 f. Tökés, Rudolf 70 Tomášek, František 99 Topolánek, Mirek 310–312 Treisman, Daniel 367, 375 Tschiche, Hans Jochen 126 Tusk, Donald 272, 274, 278 Tyminski, Stanisław 177 Uhl, Petr 95 Ulbricht, Walter 21, 136, 346 Urbánek, Karel 194

Vacek, Miroslav 198 Václavík, Milan 194 Večerek, Jan 311 Venohr, Wolfgang 358 Verba, Sidney 89 Vesecká, Renate 311 Voß, Peter 205 Wajda, Andrzej 183 Wałęsa, Lech 52 f., 56, 60, 175, 177 f., 182 f., 186, 252, 270, 277 Warhola, James 369 Weber, Max 364, 367, 375 Weiß, Konrad 350 Weizsäcker, Richard von 161 Wetzel, Tilo 342 Whitehead, Laurence 375 Wiatr, Lerzy J. 250 Wiegand, Joachim 116 Wielgus, Stanisław 284 Władyka, Wiesław 60 Wolf, Markus 348 Wolf, Petr 312 Wolle, Stefan 223 Wollenberger, Vera 350 Wurm, Petr 95 Wurschi, Brigitta 338 Zalewski, Pawel 280 Zavadil, Miroslav 192, 194 Ziobro, Zbigniew 274

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Biogramme der Autoren Helmut Altrichter, Dr. phil., Jg. 1945, Studium der Geschichte, Germanistik, Politikwissenschaft und des Russischen, 1982 Habilitation, 1985 Professor für Neuere und Osteuropäische Geschichte an der Universität Augsburg, 1987 Gastprofessur an der Universität Pittsburgh ( USA ), seit 1990 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Erlangen, 2001/02 Stipendiat des Historischen Kollegs München. Uwe Backes, Dr. phil., Jg. 1960, Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Germanistik, 1988–1994 Akademischer Rat an der Universität Bayreuth, 1997 Habilitation, seit 1999 stellvertretender Direktor am Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden und seit 2004 zugleich apl. Professor an der Philosophischen Fakultät der TU Dresden. Stanislav Balík, PhDr. Ph.D., Jg. 1978, Studium der Politikwissenschaft und Geschichte, 2002 Assistant Professor für Politikwissenschaft an der Masaryk Universität in Brünn, seit 2008 Leiter der Abteilung für Politikwissenschaft an der dortigen sozialwissenschaftlichen Fakultät. Dieter Bingen, Dr. phil., Jg. 1952, Studium der Politikwissenschaft, Verfassungs-, Sozial - und Wirtschaftsgeschichte, Soziologie und Erziehungswissenschaft, 1981–1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien Köln, seit 1999 Direktor des Deutschen Polen - Instituts in Darmstadt, seit 2004 Honorarprofessor für das Gebiet „Kultureller Wandel und gesellschaftliche Transformationsprozesse in Europa“ am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Hochschule Zittau / Görlitz. Matthias Damm, M. A., Jg. 1976, Studium der Politikwissenschaft, Neueren und Neuesten Geschichte und Soziologie, Doktorand am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Erlangen. Jan Holzer, PhDr. Ph.D., Jg. 1969, Studium der Politikwissenschaft und Geschichte, 2000 Vize - Dekan für Internationale Beziehungen an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Masaryk - Universität Brünn, seit 2004 Vize - Dekan für Bildung, seit 2004 Assoziierter Professor für Politikwissenschaft an der dortigen sozialwissenschaftlichen Fakultät. Tytus Jaskułowski, Dr. phil., Jg. 1976, Studium der Politikwissenschaft, Sozial und Wirtschaftswissenschaften, 2002 Projektleiter am Osteuropa - Zentrum Berlin, 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Polnischen Institut für Internationale Angelegenheiten, seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am HannahArendt Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden.

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Anhang

Eckhard Jesse, Dr. phil., Jg. 1948, Studium der Politikwissenschaft und Geschichte, 1978–1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter, Hochschulassistent und Hochschuldozent an der Universität Trier, 1989 Habilitation, 1990–1993 verschiedene Lehrstuhlvertretungen, seit 1993 Professor für Politikwissenschaft an der TU Chemnitz. Steffen Kailitz, Dr. phil., Jg. 1969, Studium der Politikwissenschaft und Ostslavistik, 1998 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Politische Systeme, politische Institutionen an der TU Chemnitz, 2005 Habilitation und Privatdozent, seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden. Jerzy Maćków, Dr. phil., Jg. 1961, Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und Neueren Geschichte, wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr Hamburg, 1998 Habilitation, seit 2002 Professor für Vergleichende Politikwissenschaft ( Ost - und Mitteleuropa ) an der Universität Regensburg. Ehrhart Neubert, Dr. phil., Jg. 1940, Studium der Evangelischen Theologie, 1964–1984 Pfarrer und Studentenpfarrer in Weimar, ab 1984 Referent in der Theologischen Studienabteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR, 1989 Gründungsmitglied des Demokratischen Aufbruchs und stellvertretender Vorsitzender ( Oktober 1989 – Januar 1990), 1997–2005 Fachbereichsleiter in der Abteilung Bildung und Forschung der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. Sándor Pesti, Ph.D., Jg. 1966, Studium der Geschichte, Geographie und des Lateinischen, 1999 wissenschaftlicher Assistent am Politikwissenschaftlichen Institut der Eötvös - Loránd - Universität Budapest, 2003 Oberassistent, 2008 Habilitation, seit 2009 Dozent am Politikwissenschaftlichen Institut der EötvösLoránd - Universität Budapest. Detlef Pollack, Dr. theol., Jg. 1955, Studium der Theologie und Religionswissenschaften, 1994 Habilitation, 1994 Professor für Religions - und Kirchensoziologie an der Universität Leipzig, 1995 Professor für vergleichende Kultursoziologie an der Europa - Universität Viadrina Frankfurt ( Oder ), seit 2009 Professor für Religionssoziologie an der Universität Münster. Michael Richter, Dr. phil., M. A., Jg. 1952, Studium der Evangelischen Theologie, Geschichte und Politikwissenschaft, 1986 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Archiv für Christlich - Demokratische Politik Sankt Augustin, 1989 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn, seit 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden.

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Biogramme der Autoren

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Friedbert W. Rüb, Dr. phil., Jg. 1953, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte, 1999 Habilitation, 1997–2002 verschiedene Gastprofessuren und Lehrstuhlvertretungen, 2003 Professor für Regierungslehre und empirische Policyanalyse an der Universität Hamburg, seit 2009 Professor für Politische Soziologie und Sozialpolitik an der Humboldt - Universität Berlin. Richard Schröder, Dr. theol., Dr. h.c., Jg. 1943, Studium der Theologie und Philosophie, 1973 Pfarrer in Wiederstedt ( Harz), 1977–1991 Dozent für Philosophie an den Kirchlichen Hochschulen Berlin ( Ost ) und Naumburg, 1990 Mitglied der Volkskammer und Fraktionsvorsitzender der SPD ( bis 21. 8.), 1991 Habilitation, seit 1993 Professor für Philosophie in Verbindung mit Systematischer Theologie an der Humboldt - Universität Berlin, 1991–1997 Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, 1993–2009 Verfassungsrichter des Landes Brandenburg. Walter Süß, Dr. phil., Jg. 1947, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und osteuropäischen Geschichte, 1974–1982 Mitarbeit an zwei Forschungsprojekten zur sowjetischen Geschichte an der FU Berlin, 1984–1989 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich DDR - Forschung und - Archiv am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der FU Berlin, 1989–1992 Redakteur bei der „taz“ und freier Journalist, seit 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Leitungsfunktionen in der Abteilung Bildung und Forschung der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. Máté Szabó, Dr. Ph.D., Jg. 1956, Studium der Staats - , Rechts - und Politikwissenschaft, 1984 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Eötvös - Loránd - Universität Budapest, 1990 Dozent für Politikwissenschaft, 1995 Habilitation, seit 1995 Professor für Politikwissenschaft an der Eötvös - Loránd - Universität Budapest, seit 2007 Bürgerbeauftragter für Menschenrechte des ungarischen Parlaments. Mark R. Thompson, Ph.D., Jg. 1960, Studium der Politikwissenschaft in den USA, 1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr München, 1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter der TU Dresden, 1995 Senior Lecturer an der University of Glasgow, seit 1997 Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Erlangen. Karel Vodička, Dr. jur., Jg. 1949, Studium der Rechtswissenschaften, 1978 Jurist, 1987 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Collegium Carolinum in München, 1990 an der Universität Erlangen, 1992 an der Gesamthochschule Siegen, 1997 an der Universität der Bundeswehr Hamburg, 1997–2003 Lehrauftrag am Institut für Politikwissenschaftliche Studien der Karls - Universität Prag, 2006 Senior Consultant bei Tschechien Consult Heidelberg, seit 2010 wissenschaftli-

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Anhang

cher Mitarbeiter am Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden. Clemens Vollnhals, Dr. phil., MA., Jg. 1956, Studium der Geschichte, Sozial und Wirtschaftsgeschichte und Politikwissenschaft, 1989 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München, 1992 Fachbereichsleiter in der Abteilung Bildung und Forschung der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, seit 1998 stellvertretender Direktor des Hannah - Arendt - Instituts für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden und Lehrbeauftragter für Zeitgeschichte. Francesca Weil, Dr. phil., Jg. 1962, Studium der Geschichte und Germanistik, 1988–1995 wissenschaftliche Assistentin an der Pädagogischen Hochschule Leipzig und am Historischen Seminar der Universität Leipzig, 1996 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Leipzig, 2003 Stipendiatin und seit 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden. Klaus Ziemer, Dr. phil., Jg. 1946, Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und des Lateinischen, 1973–1986 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg, 1985 Habilitation, 1986– 1991 verschiedene Lehrstuhlvertretungen, seit 1991 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier sowie seit 1998 auch an der Kardinal - Stefan Wyszyński - Universität Warschau, 1998–2008 Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Warschau.

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