Vergessene Vielfalt: Territorialität und Internationalisierung in Ostmitteleuropa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts 9783666301667, 9783525301661, 9783647301662

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Vergessene Vielfalt: Territorialität und Internationalisierung in Ostmitteleuropa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
 9783666301667, 9783525301661, 9783647301662

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Transnationale Geschichte Herausgegeben von Michael Geyer und Matthias Middell Band 2: Steffi Marung / Katja Naumann (Hg.) Vergessene Vielfalt

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Steffi Marung / Katja Naumann (Hg.)

Vergessene Vielfalt Territorialität und Internationalisierung in Ostmitteleuropa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts

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Das dieser Publikation zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UG0710 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren.

Mit 2 Abbildungen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-30166-1 ISBN 978-3-647-30166-2 (E-Book) Umschlagabbildung: Transsib. Eisenbahn / Werbeplakat von Rafael de Ochoa y Madrazo (1858–1935), Frankreich, Paris, 1900. © akg-images © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Steffi Marung, Katja Naumann Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Teil I: Vielschichtige Territorialisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Ulrike Jureit Ordnungen des politischen Raumes im Kaiserreich: Territorium, Raumschwund und Leerer Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Jörn Happel Räume in der Krise: Territorialisierungsprozesse im ausgehenden russländischen Imperium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Frank Hadler Vernetzungsimpulse aus Fernost – oder wie der 1908 in Prag zelebrierte Neoslawismus mit Russlands verlorenem Krieg gegen Japan zusammenhing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Anna Veronika Wendland Ostmitteleuropäische Städte als Arenen der Verhandlung nationaler, imperialer und lokaler Projekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Teil II: Vielfältige Internationalisierungsprojekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Heléna Tóth Biographien, Netzwerke und Narrative: Transnationale Aspekte des politischen Exils nach 1848 . . . . . . . . . . . . . . . 137 Dietlind Hüchtker Cross-mapping. Lokale Verankerungen und transnationale Netzwerke in den Narrativen ostmitteleuropäischer Frauenbewegungen um 1900 . . 166

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Inhalt

Nikolay Kamenov Globale Ursprünge und lokale Zielsetzungen: Die Anti-Alkoholbewegung in Bulgarien 1890–1940 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Adrian Zandberg »In Vorbereitung der neuen Welt«: Polnische Prohibitionisten, die frühe Internationale Temperenzbewegung und Prozesse des Transfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Internationale Organisationen und das Prinzip des Nationalen: Bündnispartner oder Gegenspieler? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Autorennotizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

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Danksagung

Zwischen den ersten Überlegungen für diese Publikation und der Drucklegung des Manuskripts sind mehr als drei Jahre vergangen, in denen wir von und mit unseren Autorinnen und Autoren viel gelernt haben. Unmöglich hätten wir diesen langen Weg beschreiten können, ohne intellektuelle, finanzielle und logistische Unterstützung. Insbesondere das GWZO Leipzig hat hier von der Ausrichtung der ersten Workshops bis zum Druckkostenzuschuss unverzichtbare praktische Hilfe geleistet. Realisiert haben wir unser Vorhaben im Rahmen der GWZO-Projektgruppe »Ostmitteleuropa transnational« unter der Leitung von Prof. Dr. Frank Hadler und Prof. Dr. Matthias Middell. Wir sind allen Kolleginnen und Kollegen nicht nur am GWZO zu großem Dank dafür verpflichtet, dass sie Zeit und Mühe in die Lektüre und das kritische Kommentieren erster, zweiter und auch dritter Fassungen investiert haben: vor allem Frank Hadler und Matthias Middell selbst, aber auch Mathias Mesenhöller, Uwe Müller, Michael G. Esch, Beata Hock und Geert Castryck seien ausdrücklich genannt. Das Hauptaugenmerk der Projektgruppe gilt der Erarbeitung einer dreibändigen Geschichte der Transnationalisierung Ostmitteleuropas, dessen erster Band 2014 erscheint. Das vorliegende Buch ist in diesem Zusammenhang entstanden, möchte aber nicht das gesamte Feld durchmessen, sondern Forschungsergebnisse in Einzelstudien präsentieren. Dass es gelungen ist, Territorialität und Internationalisierung als zwei zentrale Dimensionen transnationaler Geschichte zusammenzudenken und dies empirisch zu testen, verdanken wir unseren Autorinnen und Autoren, die sich dieser Aufgabe gestellt haben. Katja Naumann und Steffi Marung Leipzig und Dresden, im Februar 2014

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Steffi Marung, Katja Naumann

Einleitung

1. Von Ostmitteleuropa in die Welt In den Sommer- und Herbstmonaten des Jahres 1900 trafen sich in Paris diejenigen, die eine Bilanz des vergangenen Jahrhunderts ziehen – oder darüber streiten – und dabei ihre Visionen für das neue Säkulum bewerben wollten: Kosmopoliten und Nationalisten, Konservative und Revolutionäre, Ingenieure und Architekten, Intellektuelle und Künstler, Sportler und Techniker, Wissenschaftler und Journalisten, Regierungsbeamte und Militärs. Unter den etwa fünfzig Millionen Besuchern, die zur fünften Weltausstellung nach Paris reisten, mischten sich vermutlich auch einige der Protagonisten, von denen in diesem Buch die Rede ist: Beamte und Militärs der imperialen Verwaltung des Zarenreiches; Mitarbeiter des deutschen Reichskolonialamtes; deutsche und russische Geographen, Kartographen und Juristen; Angehörige der städtischen Eliten aus den urbanen Zentren Ostmitteleuropas; führende Köpfe der national-emanzipatorischen Bewegungen, ihres Zeichens häufig Parlamentsabgeordnete, Journalisten oder Historiker; Migranten und politische Flüchtlinge aus der ungarischen Hälfte der Habsburger Monarchie bzw. deren Schüler und Nachkommen, die das revolutionäre Projekt eines unabhängigen ungarischen Nationalstaats in der Diaspora weiterverfolgten; polnische und ukrainische Frauenrechtlerinnen; Abstinenzler und Prohibitionisten aus Polen und Bulgarien als Teil einer weltweiten Anti-Alkoholbewegung. Die auf den ersten Blick recht disparate Gruppe einte die Suche nach einer neuen, den gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Rechnung tragenden Ordnung des politischen Raumes in Ostmitteleuropa, die Reflexionen über ein ins Wanken geratenes internationales Gefüge befeuerte. Dabei ging es um Abgrenzung zu anderen Gesellschaften, um Strukturierungen im Inneren und Einbindung in globale Handlungsgefüge, die wiederum auf die Region zurückwirkten. Der Pariser Weltausstellung von 1900 ist in unserem Band kein eigenständiger Beitrag gewidmet, aber sie ist aus guten Gründen auf dem Cover zitiert, denn sie steht emblematisch für die massiven Umbrüche in Ostmitteleuropa im Übergang zum 20. Jahrhundert, mit denen wir uns auseinandersetzen – für die Vielfalt, Widersprüchlichkeit

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und Übergangshaftigkeit der Epoche. In den politisch-räumlichen Ordnungen, die auf der Pariser Schau zusammen kamen, lässt sie sich besonders gut greifen.1 Erstmals waren die Kolonien der (west-)europäischen Großmächte mit eigenen Pavillons vertreten. Daneben präsentierten sich mehr oder minder demokratisch verfasste Nationalstaaten mit und ohne imperiale Ergänzungsräume im Wettbewerb mit kontinentalen Imperien und deren Teil-Territorien. Neben den aufwändig gestalteten Ausstellungsräumen der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und des Deutschen Reiches fanden sich zahlreiche Einzelrepräsentanzen der Habsburgischen Doppelmonarchie: von Galizien, Bosnien, Ungarn, Serbien – allerdings nicht von Polen oder Böhmen.2 In der Anordnung der Pariser Pavillons veranschaulicht sich der Ausgangspunkt dieses Bandes, nämlich die Reibung, die durch die Gleichzeitigkeit und Verflochtenheit von Nationalisierungsprojekten mit imperialen Rahmungen und frühen Internationalisierungsprojekten entstand, die alle auf ihre Art auf die zunehmende globale Verflechtung und den Wettbewerb territorial unterschiedlich verfasster Gesellschaften reagierten. Folgt man der Sicht und dem Agieren der zeitgenössischen Akteure, trifft man auf heute unübersichtlich wirkende Zusammenhänge: Wie konnte der polnische Abgesandte aus dem Zarenreich als der »richtige« Ansprechpartner für russische Belange gelten? War der deutschsprachige Tscheche ein »richtiger« Vertreter zentralstaatlicher Interessen des österreichischen Kaiserreichs? Wie ordnete sich die transnationale Karriere eines Angehörigen der ungarischen Diaspora in das anti-slowakische Nationalisierungsvorhaben innerhalb der Habsburger Monarchie ein? In welchem Verhältnis mochten die panslawischen Projekte ukrainischer Intellektueller, die an der polnischsprachigen Universität in Lemberg tätig waren, zu den konkurrierenden Polonisierungsbestrebungen im Kronland Galizien oder den Reformbewegungen des österreichischen Adels stehen? Wie korrespondierten Hoffnungen auf eine nationale Wiedergeburt seitens bulgarischer Prohibitionisten mit dem globalen Missionsgedanken religiöser Erweckungsbewegungen, der die internationale Anti-Alkohol-Allianz angeregt und getragen hatte? Welche Wechselwirkungen bestanden zwischen dem als universal verstandenen Anliegen, die Gleichberechtigung der Geschlechter weltweit herzustellen, mit den lokal, regional oder national artikulierten Bedürfnissen nach politischer Partizipation in den jeweiligen imperialen Gesellschaften?

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Rydell u. Gwinn; Barth, Identity and Universality. Keserü u. Hudra, Gál; Székely.

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Einleitung

Diese Fragen führen direkt zu einem allgemeineren Aspekt, dem wir uns in diesem Buch zuwenden: Es ist schwierig, wenn nicht sogar unmöglich geworden, den ostmitteleuropäischen Raum nur entlang eines Modells von Territorialität zu analysieren, das auf deutlich voneinander abgegrenzten und klar geordneten Räumen beruht.3 Vielmehr zeichnet sich zunehmend ab, dass die Region von einer Virtuosität der Akteure im jeux d’echelles, im Spiel mit den räumlichen Maßstäben, geprägt war (und ist), in dem die angedeuteten parallelen Raumbezüge gar keine Widersprüche darstellten, sondern immer wieder neu arrangiert werden konnten, ohne einander auszuschließen. Darauf rekurriert der Titel, denn diese Vielfalt ist in der Forschung zwar nicht vollends vergessen, aber doch immer wieder verdrängt worden.4 Die Pluralität der Raumordnungen und ihre  – gemessen an einer nur behaupteten Normalität des nationalstaatlichen Territorialitätsregimes – Paradoxien versuchte man am Ende des Ersten Weltkrieges zu minimieren und zu entschärfen.5 Sie zu beseitigen gelang jedoch ebenso wenig wie sie zu reduzieren; die Hierarchisierung der Raumbezüge unter der Dominanz des Nationalen stieß auch in Ostmitteleuropa auf große Schwierigkeiten und bald standen sich erneut konkurrierende Raumentwürfe gegenüber. Um nur zwei Beispiele zu geben: Die blutigen Expansionsprojekte des deutschen Nationalstaates dienten der Eroberung eines neuen imperialen Ergänzungsraumes; und das anti-imperialistische Raumordnungsprojekt der Bolschewiki hatte aus dem zaristischen Erbe eine neuartige Föderation geformt und griff im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges auf neue Weise imperial aus. Gemeinsam mit den Autorinnen und Autoren versuchen wir daher in diesem Band, die Vielfalt ostmitteleuropäischer Raumordnungsprojekte empirisch und konzeptionell zu erfassen und in einen Zusammenhang mit dem globalen Wandel politischer Räume seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu stellen. Das Interesse daran entstand im Rahmen der Projektgruppe »Ostmitteleuropa transnational« am GWZO Leipzig, die Territorialisierungsprozesse als eine zentrale Dimension transnationaler Geschichte − neben wirtschaftlichen Maier, Consigning Twentieth Century to History; ders., Transformations of Territoriality 1600–2000. 4 Das liegt nicht zuletzt daran, dass transnationale Prozesse in der ostmitteleuropäischen Geschichte lange Zeit ausgeblendet wurden, dazu u. a. Ther, S. 163; Haslinger; Leiserowitz u. Brier. Zugespitzt könnte man sagen, dass entweder Prozesse der Regionenbildung, der Nationalisierung oder der grenzüberschreitenden Verflechtung thematisiert, ihr Zusammenhang und ihre Parallelität dagegen empirisch selten ausgeleuchtet wurden. Zu den Ausnahmen zählen u. a. Steffen u. Kohlrausch. 5 Manela; Adas; Fisch. 3

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Verflechtungen, Migration, kulturellen Transfers und der Rolle internationaler Organisationen – untersucht.6 In diesem Rahmen haben wir im Herbst 2010 zwei Workshops organisiert, aus denen die Aufsätze des Bandes hervorgegangen sind. In den Diskussionen hatte sich unmittelbar gezeigt, dass Territorialisierungs- und Internationalisierungsprojekte in der Region eng miteinander verflochten waren, anders gesagt: Der Wandel der Verräumlichungsmuster in Ostmitteleuropa war keine rein endogene Angelegenheit, sondern Teil eines weltweiten Umbruchs in der Verfasstheit politischer Räume und zudem vielfach unmittelbar Ergebnis von Transferbeziehungen zwischen (hoch mobilen) Akteuren und zirkulierenden Ideen. Die Protagonisten dieser Prozesse erdachten und fochten für politisch-räumliche Ordnungen und zugleich für Strukturierungen des Internationalen. Sie sammelten im transnationalen Austausch mit Gleichgesinnten aus anderen Teilen der (zumeist westlichen) Welt Erfahrungen, lernten Lösungsvorschläge kennen, eigneten sich Kompetenzen an und erwarben Prestige, die sie in ihren jeweiligen regionalen, nationalen und imperialen Kontexten für die Verwirklichung ihrer politischen Projekte einsetzen konnten. Demnach haben wir Territorialisierung und Internationalisierung – ohne einen geschlossenen theoretischen Überbau anbieten zu wollen – als zwei aufeinander bezogene heuristische Perspektiven gewählt. Die Kombination dieser Sichtachsen folgt aber weder einer schon öfter kritisierten Teleologie »from Empire to Nation«7 noch dem verbreiteten Konstrukt eines spezifisch ostmitteleuropäisches Zuspätkommens. Vielmehr öffnet dieser Zugang den Blick für die Einbindung Ostmitteleuropas in globale Zusammenhänge, womit hoffentlich auch deutlicher wird, woher mitunter im Gewand EUropäischer Modernisierung wiederkehrende Vorschläge stammen, wie der politische Raum in (Ostmittel-)Europa zu gestalten sei.8 Wir haben uns dabei auf einen zeitlichen Rahmen konzentriert, in dem die Pluralität politisch-räumlicher Ordnungsentwürfe in besonderem Maße hervortraten. Er spannt sich von der Herausbildung der »global condition«9 in der Mitte des 19. Jahrhunderts über die nur scheinbar zur territorialen Klä6

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Die Forschungsgruppe besteht seit 2006 und erarbeitet, neben Einzelstudien, ein dreibändiges Handbuch »Studien zu einer transnationalen Geschichte Ostmitteleuropas«, dessen erster Band »Globalisierung in der Mitte Europas: Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg« 2014 erscheinen wird. Wir möchten uns für die kritische Lektüre und das gemeinsame Nachdenken bei Matthias Middell, Frank Hadler, Mathias Mesenhöller, Uwe Müller, Michael G. Esch und Beata Hock bedanken. Esherick, Kayali u. van Young. Marung. Geyer u. Bright, World History in a Global Age.

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Einleitung

rung führende Zäsur 1918 bis zur erneuten Destabilisierung der nach Versailles errichteten Ordnung in den 1930er Jahren. Für diese Periode richten die Autorinnen und Autoren des Bandes ihr Augenmerk darauf, wie ostmitteleuropäische Akteure vielschichtige politische Räume schufen und sich an der Gestaltung einer globalen Ordnung beteiligten. Diese Aushandlungsprozesse beobachten wir in zwei Modi: Zum einen geht es um Prozesse des Entwerfens symbolischer Ordnungen, das heißt die Produktion von Raumsemantiken, zum anderen um institutionelle Arenen, in denen sie ausgehandelt und realisiert wurden. Der erste Teil des Bandes handelt von Territorialisierungsprojekten in Ostmitteleuropa, wobei hier zunächst von »Osten« und »Westen«, vom Russischen und Deutschen Reich auf die Region geschaut wird, womit zwei der vier imperialen Strukturen angesprochen werden, die Ostmitteleuropa im 19. Jahrhundert prägten. Mit Städten und urbanen Netzwerken sowie der transnationalen Bewegung des Neoslawismus werden zwei alternative Raumordnungen jenseits des Dualismus von Imperium und Nationalstaat thematisiert. Die Beiträge im zweiten Teil untersuchen Formen der ostmitteleuropäischen Integration in frühe internationale Organisationen. Auf den ersten Blick exklusive »nationale« Projekte werden hier als Resultat inter- und transnationalen Austausches erkennbar. Dies gilt sowohl für die Revolutionen des Jahres 1848, die vielfach zu Geburtsstunden nationaler Bewegungen in der Region stilisiert werden, während deren transnationaler Charakter seltener betont wird,10 als auch für zahlreiche Reformbewegungen (u. a. jene für die Gleichstellung von Frauen oder jene gegen Alkoholkonsum). Insgesamt sind die Studien Tiefenbohrungen in sich überlappende und mitunter fragile Schichtungen des politischen Raumes und seiner Geschichte in Ostmitteleuropa.

2. Eine Welt der Umbrüche In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren die sozialen, politischen und ökonomischen Gefüge im östlichen Mitteleuropa in Bewegung. Zum einen sorgte seit der Französischen Revolution die republikanische Idee der Volkssouveränität für Aufruhr und gewann durch die Resonanz aufklärerischen Gedankengutes bei den zentralstaatlichen Eliten wie in der Restaurationspolitik der Heiligen Allianz an Einfluss. Einen vorläufigen Höhepunkt stellten dabei die Aufstände 10 Herren, Löhr u. Prodöhl; zum Nexus von Nationalisierung und Internationalisierung in imperialen Kontexten siehe Geyer u. Paulmann,The Mechanics of Internationalism.

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und Revolutionen im Jahr 1848 dar, die als Wegmarke in dem »tiefgreifende[n] Wandel von Staat und Gesellschaft im Kontext eines konfliktträchtigen Übergangs der mitteleuropäischen Fürstenstaaten in konstitutionelle Monarchien«11 gelten. Zum anderen hatten sich mit dem Wiener Kongress 1815 die Grenzen in der Region massiv verschoben und die Reterritorialisierung wurde von einer neuen Art und Weise der Organisation interimperialer Beziehungen und des grenzüberschreitenden Austauschs begleitet. Parallel dazu brachte die sich intensivierende weltweite Integration neue Formen des Staatsaufbaus sowie Entfeudalisierungs- und Industrialisierungsprozesse, Urbanisierung und soziale Differenzierung ebenso wie technologische Innovationen hervor, die auf vielfältige Weise etablierte politische und gesellschaftliche Strukturen herausforderten. Kurz gesagt, ließen regionale und globale Dynamiken die Ordnung der Dinge aus den Fugen geraten und in Reaktion darauf wurden neue Ordnungsvorstellungen entworfen sowie in konkreten Projekten erprobt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie komplexe, mehrschichtige Handlungsräume schufen – das imperiale Zentrum stärkende Maßnahmen standen dem Zugeständnis von Autonomie an die Kronländer oder Provinzen gegenüber, nationale Bewegungen gingen mit transnationaler Verflechtung einher; überhaupt waren lokale, regionale, nationale, imperiale und großräumige Bezugsebenen oft verschränkt. Sieht man in dem dreiviertel Jahrhundert von den 1850er bis in die 1930er Jahre den Akteuren dieser Prozesse über die Schulter, stößt man auf ein faszinierendes Spiel mit den Maßstäben, das sich einer linearen Erzählung, zumal der einer unangefochtenen Auflösung der Reiche und Herausbildung von Nationalstaatlichkeit, entzieht. Es ist seit einiger Zeit populär geworden, (Ost-)Mitteleuropa wenn nicht als ein Modell, so doch als ein Laboratorium für das Management hochgradig verflochtener Vielfalt zu würdigen12 – vor allem mit Blick auf die politischräumliche Ordnung Europas nach dem Ende des Kalten Krieges. Namentlich die Geschichte der Habsburger Monarchie dränge sich »hinsichtlich des Prozesses der europäischen Einigung […] als Anschauungsmaterial«13 auf; wobei sie schon im frühen 19. Jahrhundert als ein »Europa im Kleinen« galt.14 Diese Deutung wurde aus unterschiedlichen Gründen von Politikern, Publizisten, Historikern oder Künstlern zu verschiedenen Zeiten immer wieder mobilisiert; sie hat heute nicht ihre erste Konjunktur. In jedem Falle entsprang sie einer Per11 12 13 14

von Puttkamer, S. 28. Eberhard u. Lübke. Maner; siehe auch Kaps. Csáky 2011, Heimann-Jelinek u. Feuerstein-Prasser.

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Einleitung

spektive, die nicht die Doppelzäsur 1918/45 als Fluchtpunkt wählt und damit die nationalstaatliche Organisation der Region als »Normalfall« annimmt, sondern die Komplexitäten vorheriger Zeiten betont, besonders die späten Dekaden des 19. Jahrhunderts. Gleichwohl wird die Vielfalt vor den beiden Weltkriegen oft unter dem Vorzeichen der späteren Nationalisierung beschrieben, als letztlich auf die nationale Lösung zulaufend erzählt. In den 1860er Jahren seien zwar einerseits »erstaunlich fruchtbare und konstruktive Kompromisse« zwischen der imperialen und nationalen Ordnung gefunden worden, andererseits aber »jene machtpolitischen Verhältnisse [entstanden], die die ostmitteleuropäischen Nationalbewegungen auf die Ausbildung nationalgesellschaftlicher Strukturen und Verhaltensweisen innerhalb stabiler Reichsverbände verwiesen«.15 Diesem positiven Bild der »vergessenen Vielfalt« steht eine historiographische Perspektive entgegen, die (Ost-)Mitteleuropa als blutgetränkte Zwischenzone mit einer fast pathologischen Neigung zu Gewaltexzessen erscheinen lässt.16 Die jüngste Debatte um Timothy Snyders »Bloodlands« hat ein breites Spektrum an Argumenten hervorgebracht, die diese Deutung neu befeuert haben.17 Die Vielfalt der tendenziell geodeterministischen, mentalitätshistorischen oder strukturanalytischen, externalistischen sowie internalistischen Argumente spiegelt die Komplexität der zu erklärenden Problemlage, ist aber offenkundig noch weit davon entfernt, eine befriedigende Antwort zu generieren.18 Die oben angesprochenen Kompromisse und Synchronisierungen, das Verbinden und Verflechten zeichnen wir mit den Autorinnen und Autoren für ausgewählte Problemfelder nach, denn es war bis zum Ersten Weltkrieg gar nicht ausgemacht, dass die imperiale Ordnung nicht standhalten würde, und selbst danach, als der Nationalstaat die Gesellschaften der Region und ihre politischen Versionen räumlich rahmte und lenkte, bestand die vorherige Vielfalt (konfliktreich) fort.19 Der erfinderische Umgang der historischen Akteure mit den lokalen, regionalen, nationalen und imperialen, aber auch inter- oder transnationalen Rahmungen, ihre eigensinnige Verknüpfung dieser Ebenen ist denn auch ein Zeichen der Zeit, keine Marginalie, und erklärt nicht zuletzt die 15 von Puttkamer, S. 3. Eine ähnliche Tendenz weist die Historiographie zum Osmanischen Reich auf. Zur Anpassungsfähigkeit imperialer Verwaltungsstrukturen, u. a. an Herausforderungen grenzüberschreitender Akteure, siehe Blumi. 16 Bartov u. Weitz. 17 Snyder. 18 Vgl. dazu Zarusky; siehe auch die Rezension von Troebst. 19 Barkey u. von Hagen; Geyer, Violence et expérience de la violence au XXe siècle; ders., H. Lethen u. Musner, Zeitalter der Gewalt.

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Langlebigkeit imperialer Strukturierung.20 Die Pluralität der Verräumlichungsprozesse in der Region ist in unserem Verständnis eine Antwort auf die Herausforderungen, die sich aus mehrschichtigen Wahrnehmungs- und Handlungsräume ergaben, die erstaunlich beständig waren.21 Das östliche Mitteleuropa erweist sich damit als eine Werkstatt für den Umgang mit Re- und De-Territorialisierungen, als ein Laboratorium für die Gestaltung von Globalisierung. Im folgenden möchten wir einen knappen Einblick in beide Dimensionen des Bandes, Territorialität und Internationalisierung, geben, die in den Aufsätzen anhand konkreter Projekte en detail betrachtet werden. Zunächst skizzieren wir die Herausforderungen, die zur Destabilisierung frühneuzeitlicher territorialer Formationen führten und deuten die Bandbreite von Vorschlägen für neue Arrangements an. Danach illustrieren wir das Zusammenspiel krisenhaft aufbrechender Ordnungen und globaler Dynamiken am Beispiel der Landwirtschaft samt der Reaktionen auf diese Dilemmata auf imperialer, nationaler, regionaler und internationaler Ebene. Wir haben die Agrarwirtschaft als Beispiel gewählt, um neueste Forschungsergebnisse aufzugreifen, die in die gleiche Richtung zielen wie unsere Perspektivierung, aber noch nicht vorlagen, als wir diesen Band geplant haben. Dieser exemplarische Einblick in die komplexen Verräumlichungen sozialen Handelns in der hier untersuchten Region und Zeit soll neugierig machen auf das Geschehen, von dem die Aufsätze handeln, und vor allem das übergreifende, gemeinsame Argument deutlich machen.

Krisen der alten Ordnung, Wandel politischer und gesellschaftlicher Räume In den 1850er und 1860er Jahren wurden imperiale Ordnungen in Ostmitteleuropa zunehmend von Territorialisierungsprojekten abgelöst, in denen die Reichszentren und Landstände Gestaltungsmacht in dem sich vollziehenden gesellschaftlichen Wandel zu gewinnen oder zu behalten suchten. Die Revolutionen der Jahre 1848/49 deuten diese krisenhafte Verdichtung bereits an und die neoabsolutistischen Reformen sowie die politischen und gesellschaftlichen Modernisierungsbewegungen nach den gescheiterten Revolutionen belegen, dass der Problemstau nicht aufgelöst wurde, sondern sich mit einem neuen globalen Kontext verband. Die Ansätze einer reformerischen Neugestaltung der politisch-gesellschaftlichen Ordnung waren zunächst relativ erfolgreich, gerieten aber in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts zunehmend unter 20 Burbank u. Cooper; Stoler, McGranahan u. Perdue. 21 Horel.

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Einleitung

Druck – der nicht nur von den erstarkenden Nationalbewegungen in der Region ausging, sondern im Kontext eines globalen Wandels zu sehen ist, den Michael Geyer und Charles Bright als das Entstehen der »global condition« auf den Begriff gebracht haben.22 Eindrücklich verdeutlicht sich dies, wenn etwa der »Böhme slavischen Stammes«23 František Palacký seine Teilnahme an den Sitzungen des Frankfurter Paulskirchenparlaments in seinem berühmten Brief vom 11. April 1848 absagte und dafür keineswegs nur die Konkurrenz zweier Nationalbewegungen anführte, von denen sich die eine – die tschechische – nicht von der anderen – der deutschen – vereinnahmen lassen wollte. Denn Palackýs Argumentation war vielschichtiger. Seine Absage fundierte er auch historisch-staatsrechtlich: Böhmen sei zwar Teil des Heiligen Römischen Reiches und später des Deutschen Bundes gewesen, dabei habe es sich aber um eine Beziehung »von Herrscher zu Herrscher« gehandelt, nicht »von Volk zu Volk«, die »ehemalige Souveränität und Autonomie Böhmens nach Innen«24 sei dadurch nicht angetastet gewesen. In den Paulskirchenverhandlungen gehe es nun aber um die Vertretung eines deutschen Volkes, weshalb eine politische Gemeinschaft der tschechischen und deutschen Gesellschaft in diesem Sinne durch die frühneuzeitliche staatsrechtliche Verbindung nicht begründbar sei. Zudem verwies Palacký auf das komplizierte Verhältnis von imperialen und nationalen Ordnungsprinzipien in den verschiedenen Großreichen Ost(mittel)europas und auf die inter-imperialen Konkurrenzen in der Region – als zwei zentrale Gestaltungsprinzipien der politisch-räumlichen Ordnung. Die Habsburger Monarchie war für ihn das »einige […] und feste […] Band« eines »nothwendigen Vielvölkervereins«; nur er konnte ein Gegengewicht zum autokratischen Russland bilden und die Entstehung einer »Universalmonarchie«25 im Osten Europas aufhalten. Die Existenz des österreichischen Kaiserreichs sei daher »im Interesse der Humanität«, die er »bei aller heißen Liebe zu [s]einem Volke […] über die der Nationalität« zu stellen bereit sei. Ein großdeutsches Reich würde diese Ordnung jedoch gefährden, auch deshalb verbiete sich eine böhmisch-tschechische Abordnung zum Paulskirchenparlament. Palackýs Argumentation veranschaulicht die angesprochene Vielfalt der Territorialisierungsprojekte, die in der Historiographie durch das Bemühen in den Hintergrund gedrängt wurde, die Reibung zwischen »empire« und »nation« als 22 Geyer u. Bright. 23 Palacký, S. 88. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 90.

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den zentralen räumlichen Ordnungsprinzipien durch Verzeitlichung aufzulösen, wodurch die Spannung und später die Konkurrenz zwischen dynastischen und zentralstaatlichen Prinzipien mit adelsständischen sowie kommunalen Institutionen und Interessen zu einem Vorspiel der späteren Nationalstaatlichkeit geriet. Ihren Anfang nahm diese Spannung im 18. Jahrhundert, als sich in den ostmitteleuropäischen Adelsgesellschaften aufklärerisches Gedankengut verbreitete und viele Landesfürsten der Region im Zeichen eines aufgeklärten Absolutismus ihre Staaten zu reformieren begannen – genauer: die staatliche Organisation zentralisierten, eine leistungsfähige Bürokratie mit professionellem Personal aufbauten, staatliche Tätigkeitsfelder wie Besteuerung, Rechtsprechung, Konskription und Armenfürsorge ausweiteten26 – sowie adelsständische Reformbewegungen in ihrer Ablehnung zentralstaatlicher Eingriffe befeuert wurden.27 Nachdem mit dem Wiener Kongress die territoriale Ordnung des Kontinents rearrangiert worden war, indem Grenzen neu gezogen wurden und territoriale Zugehörigkeiten sich wandelten, fand in den darauf folgenden Dekaden eine Reterritorialisierung innerhalb relativ stabiler Grenzen statt, die in der Literatur als Ablösung des frühneuzeitlichen Territorialisierungsregimes interpretiert wird, auf das auch Palacký Bezug nahm. Das viel zitierte Bild des Paketes, das den Besitzer wechselt, ohne aufgeschnürt zu werden (Ulrich Scheuner) verdeutlicht die veränderte Praxis: Wurden Grenzen neu gezogen, wechselte zwar die Oberhoheit über die Territorien, doch die innere soziale und rechtliche Organisation desselben wurde nicht angetastet. Die Stände des jeweiligen Territoriums standen dann zwar in einem neuen Lehensverhältnis, konnten aber nach innen ihre althergebrachten Privilegien wie Besteuerung und Gerichtsbarkeit weiterhin genießen. Mit dem bereits im 18. Jahrhundert beginnenden Staatsausbau sowohl im theresianischen und josephinischen Habsburgerreich, im Russischen Reich Katharinas II. und Alexanders I. als auch im friderizianischen Preußen wurde diese Balance zunehmend gestört. So verschärften absolutistische Reformen wie der josephinische Zentralismus im Habsburger Reich den Konflikt mit den Landständen, hier vor allem mit dem ungarischen und 26 Komlosy. 27 Die aufkommenden Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts haben an beides anschließen können: an die Auflehnung gegen die Zu- und Eingriffe des imperialen Zentrums und die landespatriotischen Einstellungen des ständischen Adels einerseits; an die durch einen modernisierten Staat sich eröffnenden Möglichkeiten gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Gestaltungsmöglichkeiten andererseits.

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böhmischen Adel, und trugen damit auch zur langfristigen Destabilisierung des Reiches bei. Sie legten aber gleichzeitig den Grundstein für den modernen Flächenstaat, in dem das Herrschaftszentrum sich das zu schaffen bemühte, was Charles Maier als einheitlichen »decision space« bezeichnet hat und der in seinem Modell eines modernen Territorialitätsregimes in Deckungsgleichheit zu einem »identity space« gebracht werden sollte. Diese Prozesse stellen keine ostmittel- und nicht einmal eine europäische Singularität dar, sie standen im Zusammenhang mit der Ausweitung globaler Konkurrenz und Verflechtung, in denen Staaten effizient mit ihren Ressourcen umzugehen in der Lage sein mussten, um militärisch wie wirtschaftlich erfolgreich zu sein.28 Ein antizentralistischer, aufklärerisch gesinnter Adel hatte nun besonders in Ungarn und Polen am Ende des 18. Jahrhunderts starke konstitutionalistische Bewegungen hervorgebracht, die in einem Fall an der Beharrungskraft der habsburgischen Zentralgewalt (zunächst) scheiterten, im anderen an der territorialen Auslöschung des polnischen Staates. Die Interessen dieser adeligen Reformelite trafen im beginnenden 19. Jahrhundert auf jene der im Zuge von (Proto-)Industrialisierung und Urbanisierung sich herausbildenden bürgerlichen Mittelschichten. Zusammen mit der an Schärfe gewinnenden sozialen Frage, die sich im städtischen Raum ebenso wie auf dem Land manifestierte, entstand ein erheblicher Zündstoff, dem die Kontrollmechanismen der Imperien immer weniger gewachsen waren.29 Auf diesem Nährboden breitete sich in Windeseile 1848/49 eine transnationale Revolutionswelle aus, die ihre ersten europäischen Impulse u. a. von den Erschütterungen der französischen Julirevolution 1830 sowie dem polnischen Novemberaufstand 1830/31 erhalten hatte und nun von der französischen Februarrevolution über die deutsche Märzrevolution, den großpolnischen Aufstand in der Provinz Posen, den Prager Pfingstaufstand bis zum Wiener Oktoberaufstand und einer Kette von Aufständen in den italienischen Fürstentümern von Oberitalien bis Sizilien reichte. Die europäische Dimension dieses Geschehens ist unbestritten, doch war es ebenso in den Zusammenhang weltweiter Umbrüche eingebettet, der sich in den 1850er und 1860er Jahren von China über Russland und den amerikanischen Bürgerkrieg bis zur Karibik spannte.30 Die globale Verdichtung dieser Krisen im 19. Jahrhundert stand – in Ostmitteleuropa wie in anderen Weltregionen – in einem engen 28 So auch jüngst erneut Maier, Leviathan 2.0; Osterhammel, Die Verwandlung der Welt; Bayly, The Birth of the Modern World.. 29 Leonhard u. von Hirschhausen, Comparing Empires. 30 Bright u. Geyer, Globalgeschichte und die Einheit der Welt.

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Bezug zur Herausbildung moderner Staaten sowie zur sich rapide beschleunigenden Zirkulation von Ideen über Volkssouveränität und humanistisch begründeten Grundrechten, die zunehmend in der Sprache des Nationalen artikuliert wurden. Innerhalb (Ost)Mitteleuropas waren die dabei erstarkenden Nationalbewegungen auf das engste aufeinander bezogen – teils symbiotisch, teils antagonistisch – und zwar sowohl innerhalb als auch zwischen den jeweiligen imperialen Räumen: Waren beispielsweise deutsche und polnische Liberale in der »Polenbegeisterung« der 1830er Jahre zunächst noch in ihrem Bestreben vereint, freiheitliche Staaten für selbstbestimmte Völker gegen die monarchische Unterdrückung politischer Partizipation breiter Schichten durchzusetzen, so schlug dies im Verlauf der Revolutionsmonate in erbitterte Konkurrenz zweier nationaler Projekte um. Die imperialen Zentren versuchten, sich dies zunutze zu machen, wurden von ihnen aber auch zu Reaktionen gedrängt, zu denen sie unter anderen Umständen vermutlich nicht bereit gewesen wären. So verschärfte sich das deutsch-polnische Verhältnis in der preußischen Provinz Posen beispielsweise dadurch, dass Friedrich Wilhelm IV. den polnischen Revolutionären zunächst eine »nationale Reorganisation« zugestand, von Vertretern des preußischen Militärs jedoch ein Boykott derselben organisiert wurde, für den sich die deutschen Mittelschichten der Region mobilisieren ließen. Der solchermaßen manifestierte Konflikt verschaffte der nach den 1848er Ereignissen aufgelegten Zentralisierungspolitik des preußischen Staates Rückhalt in der deutschen Bevölkerung. Die »deutsche Frage« wirkte auch in anderen Fällen wie ein Katalysator: Sie ließ zum Beispiel in Böhmen die dortigen Aufstände zu deutsch-slawischen Konflikten werden und die tschechische Nationalbewegung sich zur Habsburger Monarchie bekennen – so auch Palacký in seinem oben zitierten Brief. Und da die Existenz eines deutschen Nationalstaats den Fortbestand des österreichischen Imperiums unmittelbar berührte, erzeugte dieses Projekt den entscheidenden Druck, der die alten Eliten mit zu den Reformen und den unten auszuführenden »Verfassungsexperimenten« der post-revolutionären Dekaden bewegte.31 Nicht nur die tschechische, sondern auch die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insbesondere in Galizien entstehende ruthenische – ukrainische – Nationalbewegung artikulierten sich zwar als nationale Bewegungen für den liberalen Umbau der absolutistischen Staaten, sie zeigten sich jedoch gleichzeitig einer dynastischen Loyalität verpflichtet – bei der ruthenischen begründet in der Opposition zur polnischen 31 Puttkamer, 31 ff.

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wie bei der tschechischen in der Opposition zur deutschen. Diese Beispiele einer nationalen Konkurrenz innerhalb der ostmitteleuropäischen Reiche und über Grenzen hinweg verdeutlichen die Überlagerung verschiedener Territorialisierungsprojekte in den 1848er Revolutionen, die nicht nur aus dem Antagonismus »empire« vs. »nation state« zu verstehen sind, sondern aus der Verschränkung und Gleichzeitigkeit politisch-räumlicher Bezüge in den Krisen der Jahrhundertmitte. Diese Vielfalt entsprang auch aus der Verbindung politischer und sozialer Emanzipationsbedürfnisse, die sich in den 1848er Revolutionen immer mehr in einer nationalen Sprache artikulierten.32 Die Nationalisierung jener Bewegungen für die Ausweitung sozialer und politischer Teilhabe war keineswegs der einzig mögliche Weg – panslawische oder föderalistische Projekte beispielsweise wurden ebenfalls als Lösungen propagiert.33 Die in der nachrevolutionären Zeit entworfenen Reformen konnten dabei sowohl einem überethnischen Modell wie in der Habsburger Monarchie folgen oder einem Nationalisierungsprojekt, wie in Preußen und Ungarn, verpflichtet sein. In jedem Fall schlossen viele Vorhaben einer neuen politisch-räumlichen Ordnung der Region an die Traditionen historischer Institutionen früherer Jahrhunderte sowie an landespatriotische Symbole und konfessionelle Strukturen an:34 zum Beispiel in Ungarn mit den Komitaten, dem Kult des Hl. Stephan und der ungarischen katholischen Kirche oder in den böhmischen Kronländern mit den Landtagen, den Traditionen der Selbstverwaltung, dem Wenzelskult und der auf Landesebene organisierten katholischen Kirche.

Krisen in der Landwirtschaft und das Spiel mit den Maßstäben ostmitteleuropäischer Agrarier Das zweite Beispiel: Zu den großen Herausforderungen, mit denen die agrarischen Gesellschaften im östlichen Mitteleuropa im 19. Jahrhundert konfrontiert waren, zählt die Modernisierung der Landwirtschaft, wobei mehrere Probleme zusammenkamen: das schon länger spürbare Hemmnis feudaler Bindungen, das plötzliche Entstehen eines Weltagrarmarktes samt der Agrarkrise der 1870er und 1880er Jahre und ein zunehmender Fokus auf Industrialisierung. Wenn32 Hroch, S. 80. 33 Siehe zu letzterem u. a. die von Jana Osterkamp geleitete Forschungsgruppe »Vielfalt ordnen. Föderalismusvorstellungen in der Habsburgermonarchie und ihren Nachfolgestaaten« am Collegium Carolinum München. 34 Hroch, S. 50 ff.

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gleich die Entfeudalisierung höchst verschieden und zeitversetzt verlief, wurden in der gesamten Region tiefgreifende Agrarreformen durchgeführt, sodass in den 1860er Jahren die Bauern in großen Teilen Ostmittteleuropas weitgehend frei über ihre Höfe verfügten und aus dem Untertänigkeitsverhältnis gelöst waren.35 Damit war zwar die institutionelle Voraussetzung für eine agrarkapitalistische Entwicklung geschaffen, allerdings erschwerten eine zunehmende Verschuldung – durch die Ablösung der Feudallasten, die Liberalisierung des Grundverkehrs, die partielle Einführung der Freiteilbarkeit der Höfe sowie die Aufhebung der Wuchergesetze – und ein Kreditmangel eine effizientere Bewirtschaftung der Flächen. Hinzu kam, dass der weltweite Handel mit Getreide und anderen Agrarprodukten ab 1850 massiv anstieg und sich der Agrarmarkt globalisierte. Hatten bis 1870 vor allem Russland und die deutschen ostelbischen Gebiete Großbritannien und das westliche Europa mit Getreide versorgt, stiegen nun die USA zum führenden Agrarexportland neben Russland auf. Ab den 1890er Jahren kamen Argentinien und Ost-Indien als Teil des Britischen Imperiums als neue Getreideexporteure hinzu.36 Konnte Russland der neuen Konkurrenz, die vor allem auf den britischen und irischen Markt drängte, noch standhalten, verloren die ostmitteleuropäischen Landwirtschaften nicht nur den britischen Markt, sondern waren auch mit Gegenspielern auf den Binnenmärkten konfrontiert. Durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes erreichte russisches Getreide nun auch ehemals isolierte kleinräumige Hochpreisgebiete, wodurch die ortsansässigen, auf lokale Märkte orientierten Bauern unter massiven Druck gerieten. Beim Entstehen der Weltagrarmärkte verschob sich die Rangliste der leistungskräftigsten Landwirtschaften in entscheidendem Maße, und die meisten europäischen Agrarwirtschaften, mit Ausnahme von Großbritannien, Dänemark und den Niederlanden, begannen um ihre Konkurrenzfähigkeit zu fürchten, und überall dort, wo der größte Teil der Beschäftigten in der Landwirtschaft arbeitete, drohte diese Angst zu einem Legitimitätsverlust der politischen Ordnungen zu führen. Die Politik reagierte im östlichen Mitteleuropa sowie im Westen des Kontinents mit Modernisierungsanreizen sowie der Einführung von Schutzzöllen auf Lebensmittelimporte zur partiellen Abschottung von Weltmarkteinflüssen. Dabei war der österreichisch-ungarische Agrarprotektionismus ab 1878, der sich vor allem gegen Importe aus den südlich angrenzenden Regionen (Rumänien und Serbien) richtete, zugleich als Interessenausgleich 35 Müller, Kubů, Šouša, Lorenz, S. 43 f. 36 Siehe dazu u. a. Aldenhoff-Hübinger; Langthaler.

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zwischen den beiden Reichshälften und zur Stabilisierung der staatsrechtlichen Konstruktion von 1867 gedacht. Globale und regionale Herausforderungen stärkten in diesem Fall das Imperium. Je mehr der Agrarsektor kommerzialisiert wurde, desto stärker mussten sich jene neu orientieren, die bis dahin nur am Rande mit kapitalistischem Wirtschaften bzw. einer staatlichen Wirtschaftspolitik in Berührung gekommen waren. Sich auf diese Bedingungen einzustellen, sich marktkonform aufzustellen war für sich genommen eine große Herausforderung. Eine sich verschärfende Absatzkrise vergrößerte sie. Durch Exporte aus Übersee herrschte seit den 1870er Jahren in Europa ein Getreideüberangebot, wodurch die Preise sanken. Zudem bestimmten nun die Produzenten aus den USA, Lateinamerika und Asien den Preis im Rhythmus ihrer Ernten, mit dramatischen Folgen für die Einkünfte der ostmitteleuropäischen Bauern. Umso schwerer lasteten die teuren Investitionskredite (oft in Form von Hypothekenschulden). Eine voranschreitende Industrialisierung spitzte die Lage zu. In Böhmen und Österreich vollzog sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein gewerblicher Aufschwung mit protoindustriellen Zügen, und seit ca. 1820 nahm dort und in Polen die mechanisierte Produktion kontinuierlich zu. Bald waren Brünn in Mähren und Łódź als österreichisches bzw. polnisches Manchester bekannt.37 Das führte nicht zu einem Arbeitskräftemangel auf dem Land, aber die Tendenz zur De­ agrarisierung war deutlich sichtbar und schürte Ängste.38 In dieser Krisensituation politisierte sich die bäuerliche Agrarelite, vor allem in der Habsburgermonarchie. Zum einen schuf sie Selbstverwaltungen (Landwirtschaftskammern und Landeskulturräte) und Interessenverbände, die die etablierten Strukturen der Landwirtschaftspolitik – lokale Vereine und zentralstaatliche Institutionen – ausdifferenzierten. Beispielhaft ist die 1898 gegründet »Centralstelle zur Wahrung der land- und forstwirtschaftlichen Interessen beim Abschluss von Handelsverträgen«, die von regionalen Bauernbünden getragen war und vom Ackerbauministerium in Wien als eine Art Präsidentenkonferenz der Agrarier anerkannt wurde. Doch auch bei den ab 1900 entstehenden Bauernparteien lässt sich eine Differenzierung der Handlungsräume beobachten, die quer zur herkömmlichen Hierarchie der politischen Entscheidungsträger lag bzw. in denen Regionalisierungs- und Nationalisierungsprozesse eng verbunden waren. 1893 schlossen sich in Westgalizien mehrere Bauernvereine zur Związek Stronnictwa Chłopskiego zusammen, 1895 entstand 37 Puś u. Pytlas; Strobel. 38 Müller, Kubů, Šouša, Lorenz, S. 42 f.

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die Polskie Stronnictwo Ludowe als erste bäuerliche Volkspartei in Polen. In Böhmen wurde 1899 die Česká strana agrární geschaffen wurde, die 1905 mit der ein Jahr zuvor ge­gründeten Tschechischen Agrarpartei für Mähren und Schlesi­en zur Tschechoslowakische Agrarpartei aller Länder der Böhmischen Krone (Českoslovanská strana agrární) fusionierte.39 Zum anderen pluralisierten sich Wahrnehmungs- und Handlungsräume dadurch, dass man für eine agrarfreundliche Politik nicht nur innerhalb der Imperien und deren Außenpolitiken stritt, sondern auch auf internationaler Ebene. Mehr noch, ostmitteleuropäische Agrarier zählten zu den Urhebern einer europaweiten Bauernbewegung, die angesichts des Erfolgs der US-amerikanischen Landwirtschaft nach den eigenen Handlungsoptionen fragte.40 Da Kongresse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem gängigen Format von Austausch und Zusammenarbeit über Grenzen hinweg wurden41, lag es nahe, das Format auch für die Belange der Bauern zu nutzen. Den ersten internationalen Landwirtschaftskongress, der 1885 in Budapest stattfand, organisierte Graf Sándor Károlyi, dessen Einladung neben Vertretern der Regierung, der drei zuständigen Ministerien und der Stadt Budapest mehr als 60 Gäste aus dem Ausland und knapp 200 ungarische Agrarexperten folgten.42 Vermutlich hatte auch Jules Méline, der damalige französische Landwirtschaftsminister, von dem Budapester Kongress erfahren und ihm die Anregung entnommen, die europäischen Fachverbände erneut zu versammeln, diesmal im Rahmen der Pariser Weltausstellung 1889. Fortan jedenfalls kamen Landwirte sowie Landwirtschaftspolitiker und -experten aus allen Teilen Europas regelmäßig auf Weltausstellungen zusammen.43 Die Kongresse waren nicht die einzigen internationalen Foren, in denen sich die ostmitteleuropäischen Agrarier engagierten. 1890 war die Commission International d’Agriculture (C.I.A.) gegründet worden, der bis 1906 Vertreter aus 18 Ländern beigetreten waren, darunter aus dem Deutschen und Russischen Reich sowie der Habsburgermonarchie. Ein Jahr später wurde die Internationale Kommission zum Stand und zur Bildung der Getreidepreise geschaffen, der bald 29 Landwirtschaftsgesellschaften angehörten, darunter wiederum einige aus Ostmitteleuropa. Und noch 1898 war der Internationale Verband für Getreidestatistik geschaffen worden, der ebenfalls alle zugänglichen Daten zur Entwicklung der Getreidepreise sammeln sollte. Erfolgreich konnte dies nur 39 40 41 42 43

Bruckmüller; Gollwitzer. Sanz, Musiani u. Démier,; Vári 2009. Barth, Internationale Organisationen und Kongresse. Vári, S. 142–145. Aldenhoff-Hübinger, S. 48–60.

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durch die Mithilfe von Regierungsbehörden sein, weshalb 1905 das Internationale Landwirtschaftsinstitut in Rom durch eine Konvention ins Leben gerufen wurde, die Österreich-Ungarn, das Zarenreich und das Deutsche neben knapp 40 anderen Ländern ratifiziert hatten. Zwar bestanden diese Organisationen nur teilweise über 1918 hinaus, aber die Initiativen in Richtung einer internationalen Bauernbewegung rissen nicht ab. Im Gegenteil, vier sogenannte Grüne Internationalen wurden in den 1920er Jahren geschaffen, allesamt in Ostmittel- und Zentraleuropa – die Germanische, die Wiener, die Prager Internationale sowie die Krestintern, wobei die Prager mit ihrer Schaltstelle, dem Internationale Agrarbureau, den größten Einfluss ausübte. Geleitet von Antonín Švehla wurde sie zum Zentrum der demokratischen, ostmitteleuropäischen Agrarparteien und zu einer entscheidenden Größe des internationalen Agrarismus. Nicht zuletzt deshalb formulierte die International Labour Organisation ihre Empfehlungen für die Organisation einer Sozialversicherung und Arbeitsvermittlung für Bauern in enger Absprache mit dem Agrarbureau.44 Das Agieren auf der internationalen Bühne wirkte in die Region zurück. Keineswegs nur in dem Sinne, dass die ostmitteleuropäischen Landwirtschaftspolitiken den allgemeinen Trends folgten. Vielmehr entwickelten die Bauernvertretungen der Region eigene Modelle und Lösungen für ein (welt-)markttaugliches Gewerbe. Zu den bekanntesten Innovationen zählten die Genossenschaften, in denen erneut verschiedene räumliche Bezüge ineinandergriffen. In erster Linie lokal organisiert, waren sie in größere wirtschaftliche Zusammenhänge eingebunden, da sie die Unterstützung nationaler Eliten mobilisierten, zentralstaatliche Regelungen nach sich zogen und in Deutschland wie andernorts aufgegriffen wurden. Überhaupt gründete der ostmitteleuropäische Agrarismus in panslawischen Vorstellungen und selbst in den 1920er und 1930er Jahren, nachdem er sich (teilweise) mit den Nationalbewegungen verbunden hatte, blieben die regional integrierende Züge, wofür das Konzept der Agrardemokratie von Milan Hodža beispielhaft war.45 44 Haushofer; Rokoský; Kubů u. Šouša, Sen o slovanské agrární spolupráci; dies., Die Wiener Internationale. 45 Schulz u. Harre; Müller u. Harre. Hodžas entwarf eine Gesellschaftsordnung basierend auf bäuerlicher Agrarstruktur, Marktwirtschaft und Demokratie als drittem Weg zwischen Kapitalismus (marktbeherrschende Monopole) und Sowjetsozialismus (Kollektivlandwirtschaften), die in der gesamten Region zum Tragen kommen sollte und zugleich zu einem politisch und ökonomisch stabilen Europa beitragen sollte, weshalb manche darin auch einen europäischen Integrationsprozess vorgedacht sehen, der auf eine zunehmend globalisierte Welt reagiert.

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Was hier am Beispiel des Agrarsektors exemplifiziert und für andere Problemfelder in den Aufsätzen dieses Bandes skizziert ist, verdeutlicht, dass wir es keineswegs mit einer eindeutigen Richtung und homogenen Mustern der Raumordnung zu tun haben. In Ostmitteleuropa traf die Transnationalisierung in Wirtschaft, Migration, Kultur und Politik auf vielfältige und einander widerstrebende Trends der Verräumlichung sozialen Handelns, wie übrigens in vielen anderen Teilen der Welt auch46, weshalb »Vielfalt« in diesem Sinne nur scheinbar eine ostmitteleuropäische Eigenart par excellence ist. Gleichwohl wird die Region immer wieder und weiterhin exotisiert, auch da sie in neueren Forschungsdebatten zur Globalgeschichte kaum vorkommt, jedenfalls nicht, wenn es darum geht, aus neuen Beobachtungen theoretische Folgerungen abzuleiten. Im Ergebnis wird Ostmitteleuropa in diesen Diskussion entweder »vergessen« und an den Rand gedrängt oder zur Abweichung von andernorts postulierten Regelhaftigkeiten erklärt.47 Das Narrativ von einem beinahe teleologischen Übergang vom Imperium zur Nation ist überdies in den Nationalhistoriographien in und über Ostmitteleuropa präsent. Zwar ist die Meistererzählung brüchig geworden, aber die Nations- und Nationalstaatsbildung als Telos aller historischen Bemühungen wirkt immer noch als Leitgedanke vieler Forschungen. Die Prominenz des nationalen Containers ist ein stückweit gebrochen, aber es wird dennoch wenig untersucht, wie es sich mit der »Globalität« Ostmitteleuropas verhält. Allenfalls bleibt die Region auf Europa als Rahmen fixiert. Auf diese Weise ist dieser Forschungsstand gewissermaßen das Spiegelbild zur Ostmitteleuropa-Amnesie der Globalgeschichte.48 Das konzeptionelle Angebot, der Verflechtung von De- und Re-Territorialisierung nachzugehen und die räumliche Vielfalt der Region in den Blick zu nehmen, ist daher für uns vor allem ein heuristisches Instrument, mit dem das Ringen um politische Raumordnungen in Ostmitteleuropa in seinen globalen Bezügen sichtbar gemacht werden kann. Auf diese Weise werden auch gängige Zäsuren in der Geschichte der Region fragwürdig. Es lässt sich vor dem Hintergrund neuer globalhistorischer Deutungen argumentieren, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts Prozesse einsetzten, deren Dynamik bis weit nach 1914/18 und sogar über 1945 hinausreichte. Auch von den Migration Studies und der Wirtschaftsgeschichte wird der Erste Weltkrieg als Zäsur hinterfragt. 46 Siehe u. a. Freitag u. v. Oppen; Brahm, Epple u. Habermas; Castryck. 47 Gerade einmal für Osteuropa findet sich ein Bemühen, diese problematische Leerstelle zu füllen: Aust u. Obertreis, Osteuropäische Geschichte und Globalgeschichte. 48 Vgl. Hadler u. Middell, Auf dem Weg zu einer transnationalen Geschichte Ostmitteleuropas; dies., Einleitung.

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Die Ergebnisse dieses Bandes schließen hier an: Die hier vorgestellte Vielfalt belegt einmal mehr, dass mit der Idee Woodrow Wilsons, die Selbstbestimmung der Völker in das Zentrum einer neuen politischen Ordnung zu stellen, ein Grundprinzip zum Tragen kam, dass in Ostmitteleuropa weder vor 1918 als einzige und beste Lösung gesehen worden war noch als eine Lösung, die sich im Nachhinein als glücklich erwiesen hätte. Mehr noch, die Vorstellung stellte die Region sowie andere Teile der Welt vor eine erhebliche Herausforderung: Der politisch-räumliche Rahmen war bis dahin als ein variabler, facettenreicher begriffen worden, das Handeln hatte in ganz unterschiedlichen Bezügen stattgefunden. Dagegen hat sich nach 1918 eine Deutung verfestigt, in der dem Imperium und dem Reich als frühneuzeitliche Form gesellschaftlicher und politischer Organisation der Nationalstaat als effizientestes Format folgte, um sowohl Souveränität zu behaupten als auch die Beziehungen nach außen vorteilhaft zu gestalten. Nach dem Ersten Weltkrieg seien Anspruch und Durchsetzung absoluter Kontrolle über ein Territorium in den Grenzen einer Nation weltweit zum Modell geworden. Begleitend dazu sei der Nationalstaat zum zentralen Akteur in den internationalen Beziehungen aufgestiegen, die fortan im Wesentlichen durch zwischenstaatliche Aushandlungen geregelt wurden. Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hätten Territorialisierung und (eine von staatlichen Akteuren dominierte) Internationalisierung als Leitbilder an Plausibilität (partiell) verloren – allerdings nur mancherorts, denn in vielen Regionen der Welt sei weiter um territoriale Souveränität gerungen worden, was nicht zuletzt dazu führte, dass in der ersten Dekade nach dem Ende des Kalten Krieges zahlreiche neue Staaten entstanden sind.49 Diese Großerzählung ist allerdings nicht mehr unwidersprochen, weder ihr universalistischer Anspruch noch die empirische Überzeugungskraft finden ungeteilte Zustimmung. Die Aufsätze unseres Bandes zeichnen in gleicher Richtung die Produktion und Mischung von Raumbezügen in konkreten historischen Situationen in Mittel- sowie im östlichen Europa nach. Damit argumentieren wir, dass in Ostmitteleuropa – wir verstehen darunter eine nicht scharf umgrenzte, vielmehr variable und sich durch ihre Verflechtungen nach innen und außen abzeichnende Region – von den 1850er Jahren bis über den Ersten Weltkrieg hinaus eine weithin vergessene Vielfalt von Verräumlichun49 Zu Reinterpretation Internationaler Organisationen und der Betonung ihrer Relevanz für die internationalen Beziehungen siehe u. a. van Daele; Zimmermann; Laqua; Housden; ­Mazower; Löhr u. Wenzlhuemer.

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gen existierte, für die eine enge Verflechtung des national(staatlich)en Maßstabes mit ihn überschreitenden Raumbezügen charakteristisch ist. Sie macht die Region in der Mitte Europas unseres Erachtens zu einem Laboratorium für den Umgang mit Globalisierungsdynamiken, die sich vermutlich auch anderswo im Vergleich entdecken lassen.

Raum und Territorialisierung Raumordnungen sind in der jüngeren Forschung als historisch wandelbar beschrieben, da die zuvor als stabil angenommene Raumbezüge durch Interaktionen, Verflechtungen und Flüsse von Menschen, Ideen, Gütern und Kapital immer wieder neu erschaffen und miteinander in Beziehung gesetzt werden.50 Das betrifft übrigens auch den mitunter totgesagten, aber erstaunlich lebendigen Nationalstaat. Weder hat er jemals politischem und gesellschaftlichem Handeln undurchlässige Grenzen gesetzt, noch ist er heute als Akteur und Rahmen irrelevant geworden. Um die Vielfalt von Raumbezügen sichtbar zu machen, erscheint uns das Konzept der Territorialisierungsregime51 hilfreich, das die von Charles Maier aufgebrachte Idee eines Territorialitätsregimes52 nuanciert und erweitert. Maier hatte argumentiert, dass sich im historischen Verlauf (beginnend mit dem Westfälischen Frieden) Territorialität als Format der Kontrolle über Bevölkerung, Raum, Grenze und Identitäten durchgesetzt habe. Er sieht dieses Gehäuse der gesellschaftlichen Organisation seit den 1960er Jahren zunehmend porös werden. Im Rückblick erscheint Territorialität damit – so ließe sich kritisch einwenden – stabiler und alternativloser, als sie es in vielen Fällen gewesen ist.53 Statt der von Maier vorgeschlagenen Verzeitlichung des Verhältnisses von Territorialität und Transnationalität im Sinne einer Abfolge von dominanten Modellen, führt unser Blick auf die ostmitteleuropäischen Gesellschaften zu einer Parallelität und Verschränkung verschiedener Muster von Verräumlichung. Anders als in Frankreich, das von einer klaren Hierarchie von Nation und Region, von Nationalstaat und urbanem Raum, von Wirtschaftsregion 50 Die theoretische Diskussion begründend: Lefebvre; eine gute Übersicht über die umfangreiche Diskussion bieten nach wie vor Döring u. Thielmann; Belina u. Michel; und jüngst Jureit. 51 Middell u. Naumann, Global History and the Spatial Turn. 52 Maier, Transformations of Territoriality 1600–2000. 53 Vgl. dazu auch die Kritik an dieser »territorial trap« in der neuen politischen Geographie: Agnew; Brenner.

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und Volkswirtschaft geprägt war (dem Anspruch nach, nicht unbedingt in der Umsetzung), finden wir in Ostmitteleuropa deutlich mehr Anzeichen für eine weniger vertikal durchorganisierte Anordnung der relevanten Raummuster. Um nun beides in den Blick zu bekommen – das von Maier beschriebene Regime umfassend implementierter Territorialität und das exemplarisch an Ostmitteleuropa aufzeigbare (konfliktreiche) Nebeneinander verschiedener Raummuster – bedarf es einer Kategorie, die beides zu erfassen in der Lage ist. Der Begriff der Territorialisierungsregime hat den Vorzug, das Prozesshafte (und damit Historisierbare) der Verräumlichung einzufangen und die Komplexität der ineinander greifenden bzw. miteinander im Wettstreit liegenden Prioritäten dieser Verräumlichungsstrategien verschiedener sozialer Akteure abzubilden. Projekte der Territorialisierung können höchst verschiedene Ausprägung annehmen und waren bzw. sind niemals unangefochten. Anstatt eine uneingeschränkte Dominanz nationalstaatlicher Territorialität spätestens seit dem 19. Jahrhundert anzunehmen, lehrt der Blick auf die Akteure der Herstellung des politischen Raums, dass konkurrierende Vorstellungen über die beste Raumordnung existierten, auch in der Hochphase der Nationalstaatlichkeit, und letztere nur als eine erfolgreiche – zeitlich offene – Durchsetzung bestimmter Interessen zu begreifen ist. Daher lenkt das Konzept der Territorialisierungsregime das Augenmerk sowohl auf sich behauptende Muster in der Organisation von Raum und Macht als auch auf deren Herausforderung durch in Stellung gebrachte Alternativen. Grundlegend für die Idee von Territorialisierungsregimen ist das Argument einer fundamentalen globalen Transformation in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch eine Verdichtung und Verflechtung von Krisen, die sich nicht nur als wirtschaftliche und finanzielle Herausforderungen, militärische Innovationen und sich intensivierende ideologische Konflikte konkretisierten, sondern – damit in Zusammenhang stehend bzw. infolgedessen – in die Reorganisation politischer Räume als Grundlage, Ressource und Folge politischer und gesellschaftlicher Macht mündeten. Aus globalhistorischer Sicht unterstreicht auch Christopher Bayly54 für den Zeitraum zwischen 1815 bis 1865, dass sich hier – die Spätfolgen des vorangegangenen globalen Krisenzeitalters von 1780–1820 waren noch nicht bewältigt – »bereits neue Staats- und Wirtschaftsformen sowie Ideologien ankündigten, aber noch nicht gefestigt hatten«. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch scheiterten, so Bayly, nicht nur in Europa, sondern auch in den außereuropäi54 Bayly, The Birth of the Modern World.

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schen Kolonien Versuche, die alte Staatenordnung in einer zögerlich modernisierten Form zu stabilisieren. »Der Staat wird stark, aber nicht stark genug«, so Bayly, um einerseits auf die sich intensivierenden globalen Verflechtungen zu reagieren und gleichzeitig die Probleme »hybrider Legitimität« zwischen dynastischer und nationaler Grundlage in den Griff zu bekommen. Die »Verkettung der einzelnen Tumulte« um die Mitte des Jahrhunderts, deren Schwerpunkte nicht nur in Europa und in Nordamerika, sondern auch in Süd- und Südostasien lagen, standen am Ende eines »Zeitalter[s] der Veränderungen und Brüche«. Ab 1860 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zeige sich dann das »Paradox der Globalisierung« erneut: Die Verfestigung von Grenzen zwischen Nationalstaaten und Reichen um und nach 1860 rief verstärkt Versuche auf den Plan, über diese Grenzen hinweg Verbindungen aufzubauen, miteinander zu kommunizieren, Waren, Menschen und Ideen reisen zu lassen. Deshalb plädiert Bayly dafür, den erstarkenden Nationalismus dieser Zeit und die spezifische Form des Imperialismus jener Epoche weniger wechselseitig als Ursprünge zu deuten, sondern beide als verflochtene Phänomene, als »Facetten desselben Problems« zu untersuchen, nämlich als Streben nach einer effizienten Integration, Ausnutzung und Kontrolle sich intensivierender globaler Verflechtungen und verschränkter Konkurrenzkonstellationen. Der Nationalstaat kann also als Antwort auf eine sich beschleunigende Globalisierung verstanden werden. Aber er war eben nur eine Antwort von vielen möglichen, könnte man zuspitzen. Um 1900, so Bayly, hatte jedoch ein erheblicher Wandel stattgefunden, durch den die meisten westlichen Staaten nun in der Lage waren, ihre Territorien zu besteuern, zu kontrollieren und auszubeuten. Ebenso charakterisiert Jürgen Osthammel das 19. Jahrhundert als jenes, in dem sich Verräumlichungspraktiken, Raumentwürfe und die Strategien seiner Beherrschung grundlegend wandelten und dabei Muster ausbildeten, mit denen wir bis heute vertraut sind, die unsere Kategorien der Beschreibung und Analyse globaler Ordnung bis heute prägen.55 Allerdings betont auch er: »Im sogenannten Zeitalter der Nationalstaaten waren die größten und wichtigsten Akteure Imperien.« Jedoch habe sich nach 1860 ein Muster der Beherrschung des politischen Raums durchgesetzt, und zwar infolge neuer Strategien der staatlichen Raumgestaltung, im Rahmen derer »staatliche Herrschaft mehr als zuvor nicht bloß als Kontrolle strategischer Zentren, sondern als Dauertätigkeit von Gebietskörperschaften zu verstehen und zu organisieren« war: sprich, als ein Prozess fortschreitender Territorialisierung. Die Gleichzeitigkeit verschie55 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt.

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dener Raumordnungsprojekte betonend, argumentiert auch Osterhammel: »Solche Territorialisierung war mit der Bildung von Nationalstaaten ebenso verbunden wie mit der Reform von Imperien und der Konsolidierung kolonialer Herrschaft, die nun erstmals allgemein als Kontrolle über Land und nicht allein über Handelsstützpunkte verstanden wurde.« Die Arrondierung nationaler Räume, als eine Form der Territorialisierung, ging dabei Hand in Hand mit der Entstehung anderer Räume. Obwohl Osterhammel und Bayly als Protagonisten eines jüngeren globalgeschichtlichen Forschungsstandes auf die Komplexität und Verflochtenheit der Transformationen imperialer und nationaler Räume im 19. Jahrhundert verweisen, reduzieren beide die relevanten Verräumlichungsformen mehr oder minder auf zwei: Nationalstaat und Reich/Imperium. Dagegen betont die Idee von Territorialisierungsregimen56 erstens die Dialektik von Re- und Deterritorialisierung und zweitens eine sich erhaltende Parallelität alternativer Bezüge − Städte und Stadtnetzwerke57 beispielsweise, regionale Entwürfe (sub- sowie supranationaler Art) oder verschiedene Pan-Bewegungen. Diese hatten auf kurze Sicht vielleicht weniger Erfolg in der nachhaltigen Prägung der Ordnung des Raumes, gleichwohl erübrigt sich damit nicht die Frage, warum jene und nicht andere wirksam wurden. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bedeutete Territorialisierung die Bestimmung von Grenzen und der sie regulierenden Grenzregime sowie eine Organisation des Raumes im Inneren einschließlich seiner infrastrukturellen, wirtschaftlichen und administrativen Erfassung und Kontrolle sowie der ihm zugeordneten Ressourcen. Es handelt sich demnach um ein Zusammenspiel von Projekten symbolischer Raumaneignung, infrastruktureller Erschließungsvorhaben und institutioneller Durchdringung. Wichtiger noch: Mit der neuen Qualität globaler Vernetzung in jener Zeit ließen sich Territorialisierungsprojekte nur bei zeitgleicher, kontrollierter Vernetzung mit dem »Außen« stabilisieren. Das Konzept der Territorialisierungsregime ermöglicht in diesem Sinne die analytische Erfassung von Prozessen der Hierarchisierung von Raumebenen und ihrer Herausforderung, macht die vielfältigen Verräumlichungen von und durch soziales (und politisches) Handeln beobachtbar und kann den historischen Variantenreichtum in der Produktion und Anordnung von Raumebenen und Raumentwürfen erschließen – ohne der modernitätsfokussierten 56 Middell u. Naumann, Global History and the Spatial Turn. 57 Saunier u. Ewen.

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Teleologie der Meta-Erzählung des Übergangs vom »Empire« zum Nationalstaat zu folgen. Nach 1989 haben nun nicht nur in den nationalen Historiographien Ostmitteleuropas, sondern auch in den gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen nationale oder gar nationalistische Perspektiven, vor allem im Vergleich zu einem postulierten »post-nationalen« Westeuropa, an Stärke gewonnen. Gemeinsam ist diesen Deutungen – mit denen, die die Transnationalität der Region als deren zentrale Kennzeichen hervorheben –, dass Ostmitteleuropa immer wieder als »das Andere« gesehen wird, und zwar in doppelter Weise: als unvollständig »europäisiert« sowie als gleichzeitig »zu europäisch«, um als Teil von »Außereuropa« bzw. des »globalen Südens« gelten zu können. Auch deshalb nehmen wohl viele Globalhistoriker diese Region nicht in den Blick. Dies lässt sich jedoch in einen heuristischen Impuls verwandeln: Wenn selbst die in der westlichen Welt entwickelten Sicherheiten über die geeignete politische Raumordnung, sprich den Nationalstaat, und die Erzählungen über seine Werdung nachhaltig erschüttert worden sind, lohnt umso mehr ein Blick auf das scheinbar so inkommensurable Ostmitteleuropa, um hier Anregungen für eine konzeptionelle und narrative Neufassung für den Wandel von Raumordnungen zu erproben. Hier setzt unser Band an. Für den gewählten zeitlichen Rahmen – von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – wird in der älteren Literatur die Durchsetzung des Nationalstaates behauptet und in der jüngsten globalgeschichtlichen Diskussion ist er als die Epoche beschrieben, in der die Herausbildung einer neuen – nationalstaatlichen – Ordnung mit der Hochzeit des imperialen Wettbewerbs einherging, zwei Prozesse, die sich krisenhaft unter den Bedingungen einer zunehmend global verflochtenen Welt verdichteten. Demgegenüber befragen wir die politischen Raumvorstellungen in Ostmitteleuropa seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf deren transnationale Dimensionen, geht es uns doch darum, die Pluralität der Vorstellungen zur Gliederung, Abgrenzung und internen Organisation von Raum sichtbar machen ebenso wie die Strukturen, in denen sich Transnationalität – verstanden als dialektisches Zusammenspiel von Verflechtungen und den Versuchen ihrer zumeist räumlich materialisierten Beherrschung – entwickelte; und zwar jeweils in Hinblick darauf, welche gesellschaftlichen Gruppen daran beteiligt und welche Aushandlungen sowie Konflikte damit verbunden waren.

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Beiträge des Bandes Im ersten Teil des Bandes »Vielschichtige Territorialisierungen« sind Beiträge versammelt, die Territorialisierungsprojekte in Ostmitteleuropa näher betrachten und die drei imperialen Strukturen ansprechen, die Ostmitteleuropa im 19. Jahrhundert geprägt haben. Mit der Untersuchung von Städten und einer Studie zu panslawischen Bewegungen wurden außerdem zwei alternative Verräumlichungsprojekte jenseits von »empire« und Nationalstaat präsentiert. Alle Beiträge fragen danach, welche Imaginationen des politischen Raumes, welche Instrumente der Verräumlichung entworfen wurden und welche Raumsemantiken sich als dominant haben durchsetzen können. Und sie eruieren die Pluralität der räumlichen Bezüge imperialer, nationaler, regionaler und lokaler Art, die die Akteure vor erhebliche Herausforderungen stellte, was zu Krisen führte, in denen manche konkurrierende Versionen marginalisiert wurden. Im Beitrag von Ulrike Jureit werden die skizzierten konzeptionellen Überlegungen zu Territorialisierungsprozessen weitergeführt und mit Blick auf den Wandel von politischen Raumkonzepten in der deutschen Auseinandersetzung von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg empirisch diskutiert. Jureit argumentiert, dass infolge des gesellschaftlichen Umbaus im Zuge von Modernisierungsprozessen und der kolonialen Landnahme in Afrika neben den Entwurf eines nationalstaatlichen Territoriums die Vorstellungen und Selbstbeschreibungen vom »Raumschwund« und vom »leeren Raum« traten. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts übersetzten sich gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Reformprozesse nicht nur in eine Erfahrung von Beschleunigung, sondern auch von Verdichtung. Raum wurde neben Kapital zum entscheidenden Wirtschaftsfaktor und schien dabei zunehmend knapp zu werden. »Raumschwund« bezeichnet für das 19. Jahrhundert daher eine spezifische Verräumlichung der Weltwahrnehmung, die bis 1871 im Deutschen Reich nicht nationalstaatlich gedacht wurde, sondern erst später zu dem signifikanten Raummuster wurde. Im Zuge des imperialen Wettbewerbs um die koloniale Landnahme in Afrika kam auch für das Deutsche Reich die Fiktion vom »leeren Raum« hinzu. Die europäischen Kolonialmächte übertrugen ihre Raum- und Grenzkonzepte ins koloniale Afrika und schufen damit eine Ordnung, die zwar in weiten Teilen im Ungefähren verblieb, die jedoch den territorialen Flächenstaat als räumliche Norm voraussetzte. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert war es also nicht nur der Begriff vom staatlichen Territorium, sondern auch die Ideen von »Raumschwund« und »leerem Raum«, aus denen im 19. Jahrhundert die deutsche expansionistische Ideologie ihre Rechtferti-

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gungen entwickelte. Das Verhältnis dieser drei Raumkonzepte wandelte sich radikal, als es nicht mehr nur darum ging, die modernisierungsbedingte Wahrnehmung von Raumschwund durch koloniale Expansion in den »leeren Raum« zu kompensieren und damit den ersten deutschen Nationalstaat zu festigen bzw. seinen weltpolitischen Einfluss zu vergrößern, sondern der reale Verlust von staatlichem Territorium nach 1918 dazu führte, die von apokalyptischen Bedrohungsszenarien und klaustrophobischer Enge dominierte Vorstellung des »Raumschwundes« auf die staatspolitische Ebene zu übertragen. Nun ging es nicht mehr um koloniale Großmachtphantasien in Afrika, jetzt wurde Raum zu einer existentiellen Größe. Die Lösung des Problems schien im östlichen Europa zu liegen. Während dieser Beitrag den westlichen Rand von Ostmitteleuropa betrachtet, nähert sich Jörn Happel mit seiner Studie der Region von Osten. Er untersucht die Transformationen und Krisen des imperialen Modells im russländischen Reich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im Kontext der Expansion nach Osten wie Westen. Er argumentiert dabei, dass die Krise des imperialen Modells im russländischen Reich durch die (gescheiterte) Kolonisierung der Peripherie ausgelöst wurde. Happel zeigt zu Anfang, dass sich das russländische Reich erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Kolonialmacht mit einem expliziten kolonialpolitischen Anliegen wandelte. Die russländischen Kolonialherren versuchten dabei, ähnlich wie in anderen europäischen Imperien,58 im Sinne einer mission civilisatrice in die Lebenswelten der Kolonisierten im Osten und in Zentralasien einzugreifen und sich damit gleichzeitig als Teil des Westens zu profilieren, sprich: ihre Europäizität unter Beweis zu stellen. Entwürfe einer solchen Aneignung der kolonialen Peripherie entstanden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und wurden von verschiedenen Akteursgruppen (u. a. Beamte und Politiker, Wissenschaftler, Militärs) getragen. Die Konkretisierung dieser Entwürfe und die Ausformung der daran gebundenen Strategien stand in engem Zusammenhang sowohl mit dem Wettbewerb zwischen als auch mit der wechselseitigen lernenden Beobachtung der rivalisierenden Imperien und Staaten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. So konnte für die Zeitgenossen die Erschließung der amerikanischen frontier als ein Modell für die »Zivilisierung« des sibirischen »wilden Ostens«59 gelten oder es wurde bei der Suche nach dem »richtigen« Umgang mit den muslimischen Bevölkerungsgruppen sowohl auf das Britische als auch auf das Osmanische Reich 58 Barth u. Osterhammel, Zivilisierungsmissionen. 59 Stolberg.

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geblickt.60 Die Entwürfe eines kolonialen Raumes, Expansion und Abgrenzung gleichermaßen, erwuchsen also aus der Beobachtung und aus dem kompetitiven Verhältnis zu anderen imperialen Ambitionen und waren dabei gleichzeitig sowohl eine Folge von Verflechtung und Transfers als auch von Versuchen der Exklusion und Abgrenzung. Happel erschließt dabei in seinem Beitrag verschiedene Instrumente, mit denen die Territorialisierung betrieben wurde: Zunächst den Eisenbahnbau, an dem er verdeutlicht, vor welche Schwierigkeiten sich das russländische Reich gestellt sah, seine westliche sowie seine östliche Peripherie gleichermaßen in ein kolonialpolitisches und territoriales Konzept integrieren zu wollen. Sodann stellt er der infrastrukturellen Erschließung die symbolische zur Seite, am Bespiel der imperialen Selbst- und Außendarstellung auf Weltausstellungen und Postkarten. Und schließlich bildet er mit dem polnischen Aufstand 1863/64 und der zentralasiatischen Erhebung 1916 zwei gewaltvolle Krisen der imperialen Raumbeherrschung ab und führt deren Scheitern vor Augen. Insgesamt argumentiert er dafür, den eigentlichen Austragungsort imperialer Krisen nicht im Inneren des Russischen Reiches anzunehmen, sondern in hochgradig, transkulturell wie interimperial, verflochtenen Zonen und von einem porösen Herrschaftsgebilde auszugehen, das von seiner Expansion überfordert war. Frank Hadler schlägt in seinem Beitrag die Brücke zwischen Zaren- und Habsburgerreich und wendet sich mit dem Neoslawismus einer zunächst randständig scheinenden transnationalen Bewegung zu, deren Geschichte jedoch aus mindestens drei Gründen für die Überlegungen hier aufschlussreich und im Zusammenhang der ostmitteleuropäischen Konstellation bedeutsam ist: Bei der von ihm vorgestellten Bewegung handelt es sich erstens um ein weiteres Territorialisierungsprojekt jenseits des Nationalstaats. Wieder wird empirisch deutlich, dass jener mitnichten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die einzige und prominenteste Lösung imperialer Krisen war. Zweitens, so führt Hadler vor Augen, ist diese Bewegung nicht als ostmitteleuropäische Partikularität abzutun, sie stand vielmehr im Zusammenhang eines weitreichenden globalen Wandels, der durch die russische Niederlage im Krieg mit Japan 1905 angefacht wurde. Das Bröckeln europäischer Vormacht in Asien motivierte eine Reihe von Nationalbewegungen im globalen Süden, die sich vom japanischen Sieg – als Sieg Asiens gegen Europa – inspirieren ließen. Damit zusammenhängend, drittens, ließen sich eine Reihe von Akteuren in unserer Untersuchungsregion, insbesondere aus dem Habsburger Raum, zwar ebenfalls von 60 Vgl. auch Davies; Pietrow-Ennker.

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diesen weltpolitischen Ereignissen leiten, aber, so Hadler, sie entwickelten eine spezifische Antwort: Orientiert an der Niederlage Russlands (nicht am Sieg Japans) mit einer Neujustierung slawischer Solidarität, und dies als trans- oder gar supranationalen Entwurf gedacht – nicht als nationales Projekt. Gleichwohl kurzlebig und auch durch ihren zurückhaltenden Umgang mit den drängenden machtpolitischen Fragen wenig nachhaltige Spuren hinterlassend, zeigt sich in dieser Bewegung ein »Feuerwerk transnationaler Verflechtungspläne«, in dem die Vielfalt von Raumbezügen in Ostmitteleuropa zu Tage tritt und die die globale Verankerung der Region verdeutlicht – schließlich ist die neoslawische Bewegung als Teil eines weltweiten Transnationalisierungsprozesses an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu begreifen. Imperialen und post-imperialen Territorialisierungsprojekten wird mit dem Beitrag von Anna Veronika Wendland eine dritte Perspektive auf den Wandel von Territorialisierungsregimen zur Seite gestellt: Städte und ihre Vernetzungen als Formen und Arenen politischer Raumentwürfe ostmitteleuropäischer Großstädte waren im 19. und 20. Jahrhundert, wie ihre westlichen Gegenstücke, Verdichtungsorte vieler Erscheinungen der »Moderne«: Knotenpunkte ökonomischer und administrativer Aktivität und vor allem zunehmend transnationaler Kommunikation; Konzentrationsflächen ökologischer Problemlagen; Aushandlungsorte kultureller Differenz und Austragungsorte politischer und sozialer Konflikte, welche zunehmend als ethnische interpretiert wurden. Darüber hinaus fungierten sie als Experimentierfelder für neue Lebensformen und Sozialreformen sowie als visuell-literarische Symbolorte für die Repräsentation der neuen Zeiten. In Territorialisierungsprozessen, so Wendland, spielten besonders die großen Regional- oder Landeshauptstädte eine weitere wichtige Rolle: Sie fungierten als Arenen und Resonanzräume diverser Projekte, deren jedes für eine bestimmte (Re-)Konfiguration von Machtausübung, Territorium und Raumvorstellung stand. Überformende imperiale, neu aufkommende nationale und auf tiefe lokale historische Verwurzelung zurückgreifende urbane Projekte waren insofern interdependent, als jedes in die symbolische und tatsächliche Raumverfügung der jeweils anderen ausgriff. Alle Formen von Territorialisierungsprojekten operierten mit dem Faktor Stadt, dem im jeweiligen Zusammenhang bestimmte Schlüsselfunktionen zukamen, sowohl in den symbolischen Repräsentationen als auch in konkreten sozialen und politischen Praktiken der Machtausübung, Machtstabilisierung und Machtausdehnung. Je nach Perspektive fungierte darin die Großstadt als bedrohte Insel, als Festung im Feindesland, als Vorposten im Grenzland, als Reformmotor und Wachstumskern, als europäisches Aushängeschild oder als Pfahl im Fleische der vorgeblich autoch-

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thonen Besiedler eines Territoriums. Wendland stellt diese Interdependenz vor und arbeitet den urbanen Gehalt von Territorialisierungsprozessen heraus. In der Zusammenschau machen die Beiträge dieses Teils die Vielfalt konkurrierender Projekte deutlich, ihre Kontingenz und Krisenhaftigkeit. Zudem wird sichtbar, dass sie sowohl durch gegenseitige Abgrenzung wie durch wechselseitige Beobachtung und Transfer entstanden. Die Beiträge im zweiten Teil untersuchen verschiedene Formen und Projekte der (Mit-)Gestaltung ostmitteleuropäischer Akteure an globalen Aushandlungen in transnationalen Bewegungen und Internationalen Organisationen sowie deren Aneignung für die eigenen Belange. Lern- und Transferprozesse stehen hier im Mittelpunkt, die verdeutlichen, in welch hohem Maße auf den ersten Blick exklusive »nationale« Projekte sich erst im inter- und transnationalen Austausch ausgeformt hatten. Heléna Tóths thematisiert die Bedeutung des politischen Exils für die Geschichte Ungarns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zugleich für die Position Ungarns in der Welt. Sie zeigt, dass die Netzwerke und Organisationen der ungarischen und ostmitteleuropäischen Exilanten zu transnationalen Wahrnehmungs- und Handlungsräumen wurden, die auf ihre Heimatländer zurückwirkten. Außerdem argumentiert sie, dass die 1848er Revolutionen einen Einschnitt in der transnationalen Geschichte Ostmitteleuropas darstellten, da sich zum einen typische Verläufe transnationaler Biographien und zum anderen die Strukturen und Mechanismen von Flüchtlingsnetzwerken veränderten, die in den 1830er Jahren entstanden waren. Besonders betont werden in dem Beitrag neue Handlungsmöglichkeiten, u. a. durch das Entstehen einer neuen internationalen Öffentlichkeit, von der die ungarischen Exilanten intensiv Gebrauch machten, wodurch Ungarn in globalen Zusammenhängen sichtbarer wurde. Dietlind Hüchtker setzt sich mit zwei ostmitteleuropäischen Frauenbewegungen auseinander, von denen zahlreiche seit den 1860er Jahren europaweit entstanden. Sie waren zumeist vereinsgetragen, folglich lokal organisiert, schlossen sich aber in nationalen und internationalen Verbänden zusammen. Indem sie ihre Forderungen an die jeweiligen Staaten oder Imperien richteten, waren sie Teil des jeweiligen nation building. Allerdings begriffen sie die Geschlechterfrage als weltweit relevant, als ein die politischen Grenzen eines Staates oder einer Nation überschreitendes, grundsätzliches Problem. Somit vertraten die Frauenbewegungen die Interessen einer grenzüberschreitenden Gruppe und strebten gleichzeitig die Reformierung einer spezifischen Gesellschaft an. Am Beispiel von Selbstbildern der polnischen und ukrainischen Bewegungen zeigt

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Hüchtker, wie beide Pole vermittelt wurden – in ihrer politischen Rhetorik verbanden die Protagonistinnen transnationale Konzeption und konkrete Kontextualisierung miteinander sowie spezifische (persönliche) Erfahrungen und eine kollektiv geteilte Geschichte. Gerade diese in Erfahrungsnarrativen konstruierte Transnationalität bestärkte die Bedeutung und Legitimität der Bewegungen, während ihre Übersetzung in konkrete Kontexte den Anspruch auf Deutungsmacht unterstrich. Die zu beobachtende Uneindeutigkeit oder Variabilität räumlicher Bezüge stellten Potentiale dar, aus denen der Erfolg der Rhetorik der Bewegungen erwachsen konnte. Auch die historischen Narrative, die der Legitimation der Bewegungen dienten, bezogen sich nicht auf eindeutige politische Räume, weder auf eine transnationale, universale noch auf eine europäisch verortete Menschheitsgeschichte oder ausschließlich auf die jeweilige Nationalgeschichte, die Bewegungen waren sowohl transnational als auch in einem nationalgeschichtlichen Bezugsrahmen verortet. Zudem wird deutlich, dass die ostmitteleuropäischen Bewegungen untereinander verbunden waren – durch Netzwerke und Austausch entstand eine Art gemeinsamer und geteilter Ideen-Pool, der sich über einen spezifischen Raum hinaus ausdehnte und in dem man vergeblich nach Spuren eines obsessiven Messens mit westeuropäischen Bewegungen sucht, ebenso wenig wie Wahrnehmungsmuster von Voranschreiten und Nachholen oder ein Denken in Kategorien von Zentrum und Peripherie zu finden sind. Der Prohibitionismus bietet ebenfalls ein hervorragendes Beispiel für die Inter- und Transnationalisierung sozialer Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Wie bereits Ian Tyrell u. a. betonte, wurde weltweit der Konsum von Alkohol kritisch diskutiert bzw. bekämpft.61 Organisationen wie der Independent Order of Good Templars oder die Women’s Christian Temperance Union begünstigten den Austausch von Ideen, institutionellen Modellen und Aktivisten über nationale Grenzen hinweg. Während die Forschung in diesem Zusammenhang verschiedene transnationale Aspekte der Abstinenzbewegung (wie den Einfluss der Missionsbewegung oder die Rolle, die die Prohibitionisten für die amerikanische kulturelle Expansion in der angelsächsischen Welt spielten) bereits gründlich untersucht hat, haben Entwicklungen in Ostmitteleuropa bislang viel weniger Aufmerksamkeit erfahren. Dem begegnen die Beiträge von Nikolai Kamenov und Adrian Zandberg. Kamenov skizziert die Geschichte der bulgarischen Prohibitions-Bewegung bis in die Zwischenkriegszeit in einem globalen Kontext. Er verdeutlicht dabei sowohl das Ineinandergreifen von globalen Ursprüngen und nationalen Ziel61 Blocker, Fahey u. Tyrrell; Fischer-Tiné u. Tschurenev.

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setzungen als auch die Interessen des Internationalen Ordens der Guttempler, dem Dachverband der Alkoholgegner, in Bulgarien bzw. der bulgarischen Verfechter im internationalen Kontext. Unter den bulgarischen Aktivisten wurde hitzig darüber verhandelt, ob man sich in erster Linie in den nationalen Dienst stellen, sprich für die Volksgesundheit engagieren sollte, oder aber die Abkehr vom Alkohol als universales Projekt begriff, sich also für die Menschheit im Ganzen verwenden wollte. Die Vorzeichen des Engagements – also eine primär nationale versus eine weltweite Orientierung – änderten sich nach dem Ersten Weltkrieg. War zunächst erstere leitend, setzte sich nach dem Krieg letztere durch. Grundsätzlich ungebrochen blieb aber die enge Verflechtung mit der internationalen Debatte. Der Beitrag von Adrian Zandberg widmet sich der polnischen Anti-Alkohol-Bewegung und ihren Verflechtungen mit der Internationalen Organisation für Prohibition. Er führt den beachtlichen Erfolg der Alkoholgegner in der Zwischenkriegszeit – u. a. mit der Festschreibung einer Prohibitionspolitik in das Rechtssystem des neu erstandenen polnischen Staates – auf eine Einbettung in die transnationalen Netzwerke der Vorkriegszeit zurück. Diese hatte Lernprozesse unter Gleichgesinnten an anderen Orten in Gang gesetzt, die später Früchte trugen. Andererseits war die Internationalität der Bewegung ein Trumpf, der vielfach ausgespielt wurde – selbst wenn sie damit in Konflikt mit der Katholischen Kirche geriet. Zandberg zeigt eindrücklich, wie stark die Strategien und Organisationsformen der polnischen Prohibitionisten vom International Order of Good Templars, dem zentralen Akteur in Europa, geprägt waren, wobei er zum einen den Einfluss polnischer Akteure auf den internationalen Dachverband herausarbeitet und zum anderen zeigt, dass es sich auf polnischer Seite nicht um eine unmittelbare Übernahme von Ideen und Konzepten handelte, sondern um deren Aneignung und Anpassung an die eigene Lage, die sich erheblich von der in anderen Ländern unterschied. Ferner stellt er die zentrale Rolle von Vermittlern, wie dem Gründer der ersten säkularen polnische Abstinenzvereinigung, Wincenty Lutosławski, heraus und beschreibt ihre transnationalen Lebenswege. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Geschichte nationaler prohibitionistischer Bewegungen als Ergebnis transnationaler Interaktionen heraus, die auch und gerade für den polnischen Fall bedeutsam waren. Der Band schließt mit einem Gespräch über das Verhältnis von national(staatlich)en und transnationalen Bewegungen bzw. internationalen Organisationen. Susan Zimmermann, Matthias Middell und Marcel van der Linden sind mit Fragen der transnationalen Geschichte durch eigene Forschungen bestens vertraut. Gemeinsam diskutieren sie, wie die ostmitteleuropäische

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Entwicklung in globalen Zusammenhängen zu interpretieren ist – zugespitzt formuliert: als eine Facette des verbreiteten Nationalisierungsstreben oder als eine selbstbewusste Antwort auf die Positionierung in der »global condition«. Eine erste Bestandsaufnahme der aktuellen Forschung legt nahe (ebenso wie die Beiträge hier), dass ostmitteleuropäische Akteure auf bestimmten Themengebieten besonders aktiv oder gar Vorreiter der Internationalisierung gewesen sind. Hierzu gehörten die internationale Frauenbewegung, aber auch Versuche der Regulierung von technologischen Problemen und Standardisierungsbemühungen. Zugleich finden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass internationale Organisationen das nationale Ordnungsmuster reproduziert und verfestigt haben. Ausgehend von der Beobachtung, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine große Vielfalt von internationalen Organisationen bzw. von deren Vor-Formen entstand, die sich der Typologiebildung zunächst zu verweigern scheint, wird das Problem diskutiert, inwiefern die internationalen Organisationen jener Epoche als Vorreiter einer transnationalen Ordnung gelten können oder vielmehr als Promotoren einer verstärkten Nationalisierung zu verstehen sind. Mit diesem Wechselspiel von Transnationalisierung und Nationalisierung, in dessen Zentrum gerade auch internationale Organisationen standen, ist ein zentrales Problem der transnationalen Geschichtsschreibung angesprochen. Das Gespräch kehrt damit zur übergreifenden Frage des Bandes nach Verräumlichungsdynamiken und ihren Akteuren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Ostmitteleuropa zurück. In der Gesamtschau zeigt sich, dass die historischen Protagonisten von Territorialität und Internationalisierung, die sich u. a. auf der eingangs erwähnten Pariser Weltausstellung trafen, nicht nur aus London, Berlin und Paris, sondern auch aus Prag und Wien ebenso wie aus New York oder Kapstadt kamen. Die scheinbare Unübersichtlichkeit der räumlichen Ordnungen, in denen sie lebten und die sie formten, mag verglichen mit den Gegebenheiten im westlichen Europa eine andere gewesen sein, im weltweiten Maßstab war eine solche Vielfalt vermutlich weniger ungewöhnlich; und gleichwohl historisch spezifisch steht sie womöglich der heutigen Situation in ihrer Unübersichtlichkeit in nichts nach.

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Teil I: Vielschichtige Territorialisierungen

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Ordnungen des politischen Raumes im Kaiserreich: Territorium, Raumschwund und Leerer Raum

Siegfried Kracauer verwies 1929 darauf, dass die Vorstellungen von politischer Räumlichkeit historisch variieren und Raumbilder daher wie Träume einer Gesellschaft zu lesen seien. Jeder einigermaßen typische Raum resultiere aus spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich »ohne störende Dazwischenkunft des Bewusstseins« in ihm ausdrücken.1 Auch für das Kaiserreich erweist es sich als aufschlussreich, den zeitgenössischen Raumkonzepten nachzugehen, gerade weil sie als Zwischenergebnisse eines Raumkonstituierungsprozesses verstanden werden können, der bis weit in die Vormoderne zurückreicht. Die Frühneuzeitforschung hat in den letzten Jahren durch zahlreiche Studien aufzeigen können, dass es im Übergang zum modernen Flächenstaat im Wesentlichen drei Praktiken der räumlichen Markierung waren, die sich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert veränderten: 1. die Raumerfassung im Sinne einer vollständigen Vermessung des Herrschaftsgebietes mit exakter Fixierung linearer Grenzen; 2. die administrative und damit von Experten vollzogene Grenzherstellung im Unterschied zur vormodernen Vorstellung, die durch göttliche Ordnung definierten Grenzen in der Natur aufzufinden, und 3. die kartographische Verzeichnung des politischen Raumes und ihre Professionalisierung zu dem entscheidenden Leitmedium moderner Territorialität sowie die daran orientierte Ausbildung und Einübung einer signifikanten Wissens- und Repräsentationsordnung.2 Diese drei Praktiken entwickelten sich bis ins 19. Jahrhundert zu einem komplexen System der inneren und äußeren Landnahme, wenn man es völkerrechtlich formulieren will. Sie stehen für den grundlegenden Wandel der räumlichen Ordnung, wie er sich mit der Formel Vom Ort zum Territorium verkürzt zusammenfassen ließe. Unter Territorialisierung kann somit allgemein die Herstellung politischer Räume verstanden werden, die historisch zwar nicht durchgängig, aber häufig mit Staatsbildungsprozessen verknüpft und manchmal auch mit ihnen identisch ist. Für diesen Vorgang sind einer1 2

Kracauer, S. 186. Zum Wandel räumlicher Ordnungsmuster im Übergang zur Neuzeit vgl. Jahn; Nordman; Gotthard; Landwehr; Fieseler; den Ansatz einer Kulturgeschichte der Verwaltung verfolgt Behrisch.

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seits Grenzherstellungsverfahren konstitutiv, andererseits gilt es, die unterschiedlichen Formen der administrativen, ökonomischen, institutionellen wie auch infrastrukturellen Erschließung als Territorialisierungspraktiken herauszuarbeiten und zu analysieren.3 Territorialisierung erweist sich dann als ein komplexer Vorgang der Raumaneignung, der sich an historisch wandelbaren Leitbildern der räumlichen Verfasstheit orientiert, ohne jedoch Territorialität im Sinne staatlicher Gebietshoheit zwingend zum Ziel haben zu müssen. Entscheidend ist vielmehr, dass Territorialisierungsprozesse sowohl symbolische wie auch machtpolitische Aneignungsvorgänge darstellen, die sich in Europa zwar vor allem an Konzepten nationalstaatlicher wie auch imperialer Herrschaft ausgebildet und konkretisiert, die sich aber keinesfalls ausschließlich auf diese beiden Ordnungssysteme bezogen haben oder aktuell beziehen. Ein politischer Raumbegriff, wie er für die Beobachtung von Territorialisierungsvorgängen grundlegend ist, setzt vielmehr kulturgeschichtlich das Wissen und die Fähigkeit voraus, ein bestimmtes Gebiet als geschlossene geometrische Fläche mit einheitlichem Größenmaßstab zu erfassen und zu projizieren. Die Kartographie stellt daher nicht nur irgendeine Kulturtechnik dar, sondern ist das zentrale Leitmedium räumlicher Repräsentation. Historisch hängt diese Abstraktionsleistung wiederum mit der Ausdifferenzierung einer staatlichen Herrschafts- und Verwaltungspraxis zusammen, die seit dem 17. Jahrhundert zentral gesteuerte Zugriffe auf jeden Punkt im Raum zu organisieren erlaubt. Erst der institutionelle Flächenstaat brachte geschlossene politische Räume hervor und entwickelte ein modernes Verständnis von Grenze und Territorium.4 Neben diesem überwiegend am Nationalstaat orientierten Territorialkonzept verfestigte sich im Kaiserreich darüber hinaus das Wahrnehmungsmuster eines schrumpfenden Raumes, das seine Dynamik aus den gravierenden Modernisierungs- und Technisierungsprozessen bezog. Die enge Verzahnung von Industrialisierung, Bevölkerungszunahme, Arbeitsmigration und Urbanisierung korrespondierte dabei mit einem zirkulären Verflechtungsgeschehen, das seine Stabilität aus der Intensität der ihm zugrunde liegenden Austauschprozesse gewann. Dieses Beziehungsgeflecht wurde als ein raumgreifender Strukturwandel wahrgenommen, der sich immer stärker zu verdichten schien, so dass Metaphern wie die vom Raumschwund die räumliche Dimension industriellen Wandels akzentuierten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 3 Vgl. Gottmann; Sack, Human Territoriality; Badie; Delaney; Maier, Transformations of Territoriality 1600–2000; Marung. 4 Vgl. Köster, Spalte 122.

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Ordnungen des politischen Raumes im Kaiserreich

bezog sich Raumschwund zwar noch nicht auf Konzepte politischer Territorialität, aber der gefühlte Verlust von Raum gehörte in Deutschland zu den entscheidenden Antriebskräften einer nun immer vehementer geforderten kolonialen Landnahme. Raumschwund und die für den kolonialen Kontext signifikante Fiktion des Leeren Raumes sollen daher im Folgenden als Selbstbeschreibungsformeln verstanden werden, die als Ordnungs-, Kommunikations- und Beobachtungsformen mithilfe der Differenz hier/dort den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Wandel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu markieren ermöglichten.5 Die Kategorie Raum bedient offenbar in solchen Umbruchsphasen das ungebrochene Verlangen nach Übersichtlichkeit, Ordnung und Harmonie. Vor allem in Krisensituationen scheint die Rede vom Raum zu einer Art Bewältigungsstrategie zu werden, die Komplexität reduzieren, Unsicherheiten einebnen und stabile Ordnungen suggerieren hilft. Raumschwund und Leerer Raum können daher für das Kaiserreich als handlungsleitende und – ganz im Sinne Kracauers – als gesellschaftstypische Wahrnehmungsmuster verstanden werden, deren Dynamik auch mit Blick auf das beginnende 20. Jahrhundert zu beobachten lohnt.

Raumschwund »Mit Eisenbahn und Schiff von London nach Suez 7 Tage, mit dem Schiff von Suez nach Bombay 13 Tage, mit der Bahn von Bombay nach Kalkutta 3 Tage, mit dem Schiff von Kalkutta nach Hongkong 11 Tage, mit dem Schiff von Hongkong nach Yokohama 7 Tage, nach 2 Tagen Aufenthalt mit dem Schiff von Yokohama nach San Franzisko 20 Tage, mit der Eisenbahn von San Franzisko nach New York 7 Tage und mit Schiff und Bahn von New York nach London 10 Tage, das sind zusammen 80 Tage.«6 Diese nüchterne Rechnung skizziert mehr als nur die riskante Wette britischer Gentlemen, die sich 1872 in einem vornehmen Londoner Club darauf verständigen, dass einer von ihnen in achtzig Tagen die Erde umrunden wird. 5

6

Vgl. zu diesem Ansatz Redepenning; zur sozialwissenschaftlich/gesellschaftsanalytisch orientierten Geographie vgl. unter anderem auch Sack, Conceptions of Space in Social Thought; Werlen, Gesellschaftliche Räumlichkeit; ders., Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen; Lippuner; zur Verschränkung von raum- und kommunikationstheoretischen Ansätzen vgl. auch Geppert, Jensen u. Weinhold, Verräumlichung. Verne, S. 14; auf Jules Verne verweisen auch Iris Schröder und Sabine Höhler, um Welt- und Raumgeschichte zueinander in Beziehung zu setzen, vgl. Schröder u. Höhler, Welt-Räume, S. 10; zu Jules Verne sei hier nur verwiesen auf Zimmermann; Dehs; Kuhnle; Rißler-Pipka.

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Hinter dieser Reiseroute verbergen sich nicht nur turbulente Abenteuer und exotische Begegnungen mit Büffelherden, Sioux und Mormonen, die den Roman von Jules Verne zu einem der populärsten Werke des 19. Jahrhunderts gemacht haben. Die Geschichte von Phileas Fogg ist auch ein Streifzug durch die technischen Errungenschaften der Moderne, auf deren Zuverlässigkeit man zwar noch nicht uneingeschränkt vertraute, auf die aber ein Mitglied des Londoner Reformclubs die Hälfte seines Vermögens zu wetten bereit war. Jules Verne verarbeitete in seinen Romanen die rasante Entwicklung des technischen Fortschritts, die Beschleunigung und Bewegungsdynamik modernen Lebens, aber vor allem die stets steigende Geschwindigkeit der Fortbewegung, die das 19. Jahrhundert zu einem nervösen Zeitalter werden ließ. Reinhart Koselleck hat diese Veränderungen als Denaturalisierung der bis dahin überkommenen Zeiterfahrung und damit als zentralen Indikator eines Epochenwandels herausgestellt. Beschleunigung war zwar als geschichtliche Erwartungskategorie schon vorher verfügbar, ihr wuchsen nun aber neue Inhalte zu, durch die sie »seit der industriellen Revolution zu einem gesättigten Erfahrungsbegriff werden konnte«.7 In apokalyptischen Texten hatte die Zeitverkürzung noch das Ende der Welt angekündigt, in der Moderne wird sie zur Metapher für eine neuartige Erfahrung: die Dynamik historischen Wandels. Dabei wird Modernisierung nicht nur als Fortschritt beschrieben, sondern Beschleunigung qualifiziert den Fortgang von Geschichte als eine vom Menschen und nicht mehr von Gott produzierte Zeit. Statt eschatologischer Heilserwartung steht Zeitverkürzung nun für die innerweltliche Option, in einer modernen Gesellschaft auf ein besseres Leben hoffen zu dürfen. Werner von Siemens resümierte 1886: »Dies klar erkennbare Gesetz ist das der stetigen Beschleunigung unserer jetzigen Kulturentwicklung. Entwicklungsperioden, die in früheren Zeiten erst in Jahrhunderten durchlaufen wurden, vollenden sich heute in Jahren und treten häufig schon in voller Ausbildung ins Dasein.«8 Und Wilhelm Erb, einer der führenden deutschen Neurologen, überzeichnete 1893 zwar die Möglichkeiten der modernen Technik, rekurrierte aber auf ein in Westeuropa verbreitetes Lebensgefühl: »Zeit und Raum scheinen überbrückt, wir fliegen mit der Geschwindigkeit des Windes durch ganze Weltteile, wir sprechen direkt oder indirekt mit unseren Antipoden.«9 Kosellecks Beschleunigungsbegriff ließe sich literarisch wohl kaum treffender ausgestalten als Jules Verne es in einigen seiner Romane getan hat. In 7 Koselleck, Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte?, S. 153. 8 Vgl. von Siemens, zitiert nach Koselleck, Zeitschichten, S. 178. 9 Erb, S. 3.

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Ordnungen des politischen Raumes im Kaiserreich

immer kürzeren Zeitspannen immer größere Entfernungen zu überwinden, den Aufbruch in neue, bisher unerreichbar scheinende Welten zu wagen und trotz aller Widrigkeiten und Lebensgefahren sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren – das war sein Thema und das garantierte ihm auch den Erfolg. Denn Verne erfand nicht einfach utopische Reiche und waghalsige Abenteuer, sondern er spielte mit den technischen Erneuerungen des 19. Jahrhunderts und erzeugte dadurch eine außergewöhnliche Nähe zur Gegenwart.10 Neben die zeitliche Beschleunigung trat in seinen Romanen auch die Erfahrung räumlicher Verdichtung: Es ging eben nicht nur alles schneller, es schien auch zunehmend enger zu werden. Wie der Beschleunigungsbegriff die gewandelte Zeiterfahrung beschreibt, qualifiziert Verdichtung eine veränderte Raumwahrnehmung. Beschleunigungsphänomene lassen sich nach Hartmut Rosa analytisch noch differenzieren: zum einen als technologische Beschleunigung zielgerichteter Vorgänge, zum anderen als rasanter Verfall handlungsleitender Maßstäbe (»Gegenwartsschrumpfung«) sowie als Steigerung der Handlungsund Erlebnisdichte pro Zeiteinheit.11 Verdichtungsprozesse sind mit diesen zeitlichen Dynamiken zwar eng verknüpft, zeichnen sich aber vor allem durch die zunehmende Konzentration von Personen und Objekten im physikalischen Raum, durch den rasanten und anhaltenden Umbau ihrer Anordnung, Lagerung und Platzierung sowie durch die Steigerung der kommunikativen Vernetzung und des zirkulären Austausches von Informationen und Gütern in stetig wachsenden und ineinander verschachtelten Räumen aus. Dass sich sowohl raum- als auch zeitbezogene Veränderungsdynamiken gegenseitig beeinflussten, steigerten und auch beschränkten, verweist auf einen Komplexitätsgrad von Modernisierungs­phänomenen, wie er zumindest für die Industriegesellschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennzeichnend war. Verdichtung kann somit in Anlehnung an Koselleck ebenso wie sein zeitliches Pendant als gesättigter Erfahrungsbegriff verstanden werden, der für das 19. Jahrhundert eine (westeuropa-)spezifische Verräumlichung der Wahrneh10 In diesem Gegenwartsbezug liegt sicherlich ein zentraler Grund für den enormen Erfolg der Romane. Jules Verne projizierte seine Visionen eben nicht in die Zukunft wie bspw. Louis-Sébastien Mercier, sondern entwarf sie als zeitnahe Möglichkeiten, die den Lesern angesichts des rasanten technischen Fortschritts mehr oder weniger realistisch erschienen. In Anlehnung an Kosellecks »Verzeitlichung der Utopie« ließe sich mit Blick auf Jules Verne auch von einer Verräumlichung der Utopie sprechen. Vgl. Koselleck, Die Verzeitlichung der Utopie. 11 Vgl. Rosa, zu den kategorialen Unterscheidungen, S. 71–158; den Begriff Gegenwartsschrumpfung übernimmt Rosa von Lübbe, vgl. Lübbe; zum Zusammenhang von Beschleunigungserfahrung und Neurasthenie, Radkau.

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mung von Welt bezeichnet. Um die verschiedenen Dimensionen dieses Veränderungsprozesses analytisch greifbar zu machen, soll Verdichtung nicht nur physikalisch als verändertes Verhältnis von Masse und Volumen aufgefasst, sondern darüber hinaus als eine strukturelle Kategorie verstanden werden, die sich auf Modernisierungsphänomene wie Bevölkerungswachstum, Urbanisierung, Industrialisierung und Zirkulation bezieht, und die für die Entstehung und Verfestigung gesellschaftlich dominanter Raumwahrnehmungen, wie die des Raumschwundes, eine erhebliche Relevanz besitzt.12 Dabei gilt es im Auge zu behalten, dass die Vorstellung eines nicht nur veränderten, sondern eines sich vermeintlich verringernden Raumes im 19. Jahrhundert sowohl negativ als auch positiv konnotiert war. Die Welt wirkte nicht nur kleiner und somit verfügbarer, sie hatte sich auch als räumlich veränderbar erwiesen. Versteht man Verdichtung in diesem Sinne als gesättigten Erfahrungsbegriff, ermöglicht dies, Metaphern wie die vom Raumschwund als ein Wahrnehmungsmuster zu verstehen, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die räumliche Dimension industriellen Wandels verwies.13 Die enge Verzahnung von Industrialisierung, Arbeitsmigration und Verstädterung sowie die zunehmende zirkuläre Verflechtung von Waren, Gütern und Informationen kennzeichneten den fundamentalen Wandel räumlicher Ordnungen im 19. Jahrhundert. Ein erheblicher Teil der deutschen Bevölkerung, nicht nur die mittlerweile in Industrie und Gewerbe beschäftigten Unter- und Mittelschichten in den Städten, sondern auch bürgerliche Eliten, nahmen diesen Strukturwandel als Raumschwund wahr. Wenn auch in anderen Zusammenhängen durchaus der Gewinn an Lebensqualität geschätzt wurde, in räumlicher Hinsicht herrschte der Eindruck eines Verlustes vor. Insbesondere nach 1880 schien der anhaltende Ausbau von Großbetrieben, Verkehrswegen und 12 Vgl. den Ansatz von Norbert Elias zur Eigenlogik von Zivilisierungsdynamiken, zur gesellschaftlichen Ausdifferenzierung sowie zu Interdependenzketten in neuzeitlichen Modernisierungsprozessen, Elias. Mit Rückgriff auf Elias sind Verdichtungsphänomene als zentrale Indikatoren für das gesamte Modernisierungsgeschehen aufzufassen. Elias hält hier drei Faktoren für ausschlaggebend: Bevölkerungszunahme, Ressourcenverknappung und Raumbegrenzung (im Sinne fehlender Ausweichmöglichkeiten). Verdichtung erweist sich vor diesem Hintergrund als eine, für manche sogar als die zentrale Strukturlogik selbstregulierter Zivilisationsprozesse, vgl. Lepsius; in strikter Fortführung des Elias’schen Paradigmas formuliert Kirchmann: »Verdichtungsstrukturen entwickeln sich aus nichts anderem als aus Verdichtungsstrukturen und sie führen zu nichts anderem als zu weiteren Verdichtungsstrukturen.« Kirchmann, Verdichtung, S. 198; zu einem möglicherweise bevorstehenden »Verdichtungs-Gau« vgl. Sloterdijk; eher pessimistisch blickt auch Rosa in die Zukunft, vgl. Rosa, S. 479–490. 13 Zu diesem Aspekt vgl. ausführlicher Jureit.

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städtischen Wohnsiedlungen den verfügbaren Raum wirtschaftlich zwar immer intensiver zu erschließen, zugleich aber auch zu zerstören. Für das Verständnis von Verdichtungsdynamiken kam hinzu, dass durch die Popularisierung der Malthusischen Bevölkerungstheorie die vorindustrielle Vorstellung, Einwohnerzahl und Nahrungsraum (im Sinne von landwirtschaftlicher Nutzfläche) müssten stets in Einklang stehen, um die allgemeine Versorgung der Bevölkerung und damit das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht nicht zu gefährden, im gesamten 19. Jahrhundert präsent, wenn auch umstritten blieb. Trotz dezidierter Kritik am Übervölkerungs-Diskurs, trotz anwachsendem Industriekapitalismus und der Erfahrung zunehmenden Wohlstandes war die Einschätzung weiterhin verbreitet, der zur Verfügung stehende Raum sei neben Arbeit und Kapital ein, wenn nicht sogar der entscheidende Wirtschaftsfaktor.14 Als sich bereits Mitte des Jahrhunderts abzeichnete, dass eine hoch industrialisierte Gesellschaft zukünftig eher von anderen Größen abhing und auch die landwirtschaftliche Produktion selbst einen tief greifenden Strukturwandel erfuhr, verlagerte sich der Blick zwar auf den Zusammenhang von Bevölkerungszunahme und Wirtschaftsentwicklung insgesamt, der Faktor Raum verlor aber gleichwohl kaum an Relevanz.

Leerer Raum Während also die Entstehung und Institutionalisierung des modernen Staates am Containermodell orientiert blieb, verfestigte sich im westlichen Europa des 19. Jahrhunderts ein weiteres Wahrnehmungsmuster, mit dem der epochale Gesellschaftsumbau im Zuge von Industrialisierung, Vernetzung und Technisierung als ein Verdichtungsprozess gedeutet und als Verlust von Raum emp14 Übervölkerung wird z. B. in Meyers Großem Konversations-Lexikon von 1885 angenommen, wenn eine Bevölkerung »so dicht ist, dass ein Teil derselben keine Gelegenheit zu genügendem Erwerb zu finden vermag. Allgemeine Merkmale derselben sind eine verhältnismäßig große Zahl von Armen, starke Auswanderung, Vergehen gegen das Eigentum etc. … Hiernach ist der Begriff der Übervölkerung ein durchaus relativer.« Am Begriff Übervölkerung und seiner oft apokalyptisch aufgeladenen Verwendung wird deutlich, wie die physikalische Vorstellung von Dichte und stofflicher Sättigungsgrenze die Wahrnehmung von Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklungen beeinflusst, ohne dass diese qualitative Bewertung auf einer analytisch fundierten Aussage beruht, vgl. Bevölkerung, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Spalte 852, URL: http://www.retrobibliothek.de/ retrobib/seite.html?id=102114 (Zugriff: 15. 01. 2014), sowie die beiden Artikel zu Bevölkerung, in: Das Staats-Lexikon; zum Verhältnis von Raum und Bevölkerung u. a. Heim u. Schaz; Ferdinand; Wehler, Bd. 2 und Bd. 3; Ehmer; Etzemüller.

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funden wurde. Während nationalstaatliche Territorialisierung und modernisierungsbedingte Raumverdichtung in Politik und Wissenschaft zunächst nicht systematisch aufeinander bezogen wurden, begannen sich diese Raumkonzepte im Zuge des imperialen Wettbewerbs um koloniale Erweiterungen in Afrika immer stärker zu verschränken. Die gefühlte Raumenge in Europa sollte durch koloniale Landnahme kompensiert und entschädigt werden, gerade weil sich im 19. Jahrhundert die noch zu erobernden Räume rasant zu verringern schienen. Gerechtfertigt und unterfüttert wurde diese Imperialrhetorik durch die Annahme, dass der modernisierungsbedingte Raumverlust durch Expansion in noch unentdeckte, gewissermaßen leere Gebiete ausgeglichen werden könne. Die Fiktion vom Leeren Raum untermauerte somit den Anspruch, bevölkerungsstarke, kulturell hochentwickelte Staaten verfügten allein schon wegen ihres hohen Nahrungs- und Ressourcenbedarfs über ein natürliches Recht auf koloniale Landnahme. Territorium, Raumschwund und Leerer Raum kennzeichneten daher drei Parameter einer imperialen Raummechanik, die es etwas detaillierter nachzuvollziehen gilt. Dass der koloniale Staat als territorialer Flächenstaat entstand, markierte eine tiefe Zäsur in den räumlichen Strukturen, die bis dahin in weiten Teilen Afrikas vorherrschten. Effektive Besitzergreifung, wie sie die europäischen Kolonialmächte untereinander vereinbart hatten, zielte letztlich auf die Herstellung territorialer Souveränität. Die Grenzherstellungspraktiken der europäischen Kolonialmächte erwiesen sich allerdings als aufwendige und zudem kostspielige Versuche, europäische Territorialkonzepte in den kolonialen Besitz zu übertragen. Im Ergebnis brachte dieser Transformationsprozess durchaus unterschiedliche Grenzregime hervor: Mal wurden vertraglich »vorgedachte«, in der Regel astronomische Grenzen allein kartographisch gezogen, mal einigten sich die kolonialen Konkurrenten auf einen Grenzverlauf, konnten diesen aus Geld- oder Zeitmangel jedoch nicht verwirklichen, oder aber die bilateralen Anstrengungen um eine eindeutige Grenzführung scheiterten an widerstreitenden Kolonialinteressen, am gegenseitigen Misstrauen bzw. am lückenhaften Wissen über den geographischen Raum. Aber wie erfolgreich oder erfolglos auch immer dieser Transfer im Einzelfall ausfiel, die europäischen Kolonialmächte übertrugen ihre Raum- und Grenzkonzepte ins koloniale Afrika und schufen damit eine Ordnung, die zwar in weiten Teilen im Ungefähren verblieb, die jedoch den territorialen Flächenstaat als räumliche Norm voraussetzte. Für den kolonialisierten Raum hatte das weitreichende Folgen: Das vorgefundene Gefüge wurde mit einer an den europäischen Vorstellungen von Staatsgebiet, Staatsgewalt und Staatsvolk entwickelten Ordnung überschrieben, indem auf

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dem afrikanischen Kontinent wie auf einer Art »Benutzeroberfläche« (Alexander Honold) staatliche Grenzen gezogen wurden, die in erster Linie der Abgrenzung der kolonialen Interessenzonen dienten.15 Koloniale Grenzziehung stellte daher zu einem nicht unerheblichen Teil ein allenfalls auf Karten vollzogener Akt der Inbesitznahme dar. Ein zentrales Resultat dieses Raumaneignungsprozesses war die Vorstellung vom Leeren Raum und seiner kartographischen Repräsentation als weiße Fläche. Sie verdanken ihre Entstehung einem komplexen Zusammenspiel von spezifischen Vorannahmen, Wahrnehmungsmustern und Symbolisierungsformen. Ein Faktor war dabei die rechtliche Grundkonstellation der kolonialen Eroberungen im 19. Jahrhundert. Die unter den europäischen Kolonialmächten vereinbarte Absprache, Afrika sei rechtlich als staatsfreier Raum anzusehen und daher frei zu okkupieren, ließ die dort gewachsenen Ordnungen – gleich welcher Art – als irrelevant gelten. Keine europäische Macht verstand sich als Rechtsnachfolgerin vorgefundener Systeme. Im Sinne des internationalen Rechts existierte dort, wo koloniales Land noch nicht effektiv in Besitz genommen war, Nichts. Die Vorstellung des Leeren Raumes markierte somit zunächst den rechtlichen Status Afrikas als Ort kolonialer Landnahme. Damit wurde bereits die Inbesitznahme selbst vorstrukturiert, denn Abenteurer, Forscher, Reisende und Kolonialbeamte nahmen Afrika zwar auch als unzivilisierten und dünn besiedelten Kontinent wahr (und beschrieben ihn auch in diesem Sinne als leer), ihre Karten enthielten jedoch schon die weißen Flächen, die es zu erkunden galt. Als sie zum Niger, zum Okavango oder zum Zambesi aufbrachen, war dieser Raum in ihren Köpfen bereits leer. In dieser Hinsicht ist der Leere Raum keine Metapher, sondern demonstriert die beanspruchte Überlegenheit europäischer Mächte sowie die beabsichtigte Installation des europäischen Territorial­ver­ständ­nis­ses auf einem (im staatsrechtlichen Sinne) zum rechtsfreien Raum erklärten Kontinent.16 Die rechtliche Architektur der kolonialen Landnahme und ihre Präfiguration des Leeren Raumes korrespondierten zudem mit den Anschauungs- und Beobachtungsformen der Kolonisatoren in signifikanter Weise. Die Routenauf15 Honold, Flüsse, Berge, Eisenbahnen. Honold formuliert treffend: »Die koloniale Struktur des geographischen Raumes ist Indikator einer Anschauungsweise, bei der, vergröbernd gesagt, die Erde nach alter Tradition wieder zur Scheibe wird, und diese Scheibe wiederum als eine Art ›Benutzeroberfläche‹ fungiert.« (ebd., S. 152). 16 Ders., Pfadfinder; ders., Raum ohne Volk. Zutreffend ist der bei Honold zu findende Hinweis auf Russell Bermann, der betont, dass für den deutschen Kolonialismus die räumliche Dimension entscheidender sei als die rassistische, vgl. Bermann; literarisch argumentiert Noyes.

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nahme stellte eine signifikante Kulturtechnik der kolonialen Landerschließung dar. Die Europäer erkundeten Afrika entlang von Routen, die sie detailliert beschrieben und verzeichneten. Ihr auf Karten projizierter Wahrnehmungshorizont lieferte ein – in weiten Teilen immer noch recht vages – Wegenetz, das den geographischen Raum zwar untergliederte, das in seinen Zwischenräumen jedoch leer blieb. In der kartographischen Verarbeitung dieser routenbasierten Landerschließungen ersetzte die gezeichnete Linie die Bewegung im Raum und erzeugte ein von weißen Flächen und schmalen Routen dominiertes Kartenbild, das Handeln in Lesbarkeit übersetzte. Die Konstruktion des Leeren Raumes war somit auch das Ergebnis einer Symbolisierungsleistung, dem ein sich stets reproduzierender Akt des Vergessens zugrunde lag.17

Deutscher Raum Staatliches Territorium, Raumschwund und Leerer Raum waren drei Raumkonzepte, die im 19. Jahrhundert dazu dienten, expansionistische Ideologien politisch und wissenschaftlich zu legitimieren. Obgleich der Erste Weltkrieg und somit beispielsweise auch die deutsche Herrschaft in Ober Ost weitgehend einem imperialen Raumparadigma verpflichtet blieben, markierte das nur für einen historisch kurzen Moment aufscheinende deutsche Ostimperium bereits, wie sich koloniale Territorialisierungskonzepte nach Ost- und Ostmitteleuropa verlagerten.18 Ähnlich wie zuvor in Afrika griffen die Eroberer dabei auf die Fiktion vom Leeren Raum zurück, mit der die vor Ort gewachsenen Ordnungen als koloniales Inventar ausgeblendet wurden. Raum fungierte hierbei als eine Art Beschreibungsformel, die fremdes Land in eigenes Territorium umzudeuten half. Bemerkenswert ist dabei, wie sich auch in Ober Ost trotz detaillierter Wahrnehmung des Vorhandenen die Vorstellung vom Leeren Raum entfalten konnte. Die Imagination eines unberührten, unerschlossenen Terrains erwies sich in den Visionen eines deutschen Ostens als nahezu übermächtig. Das Verhältnis von staatlicher Territorialität, Raumschwund und Leerem Raum wandelte sich in Deutschland allerdings radikal, als es nicht mehr nur darum ging, modernisierungsbedingten Raumschwund durch koloniale Expansion in den Leeren Raum zu kompensieren, den ersten deutschen National17 Vgl. de Certeau, darin vor allem der dritte Teil zu den Praktiken im Raum, S. 179–238; zur Kolonialkartographie vgl. Schelhaas u. Wardenga; Hafeneder; Schröder, Das Wissen von der ganzen Welt. 18 Zu Ober Ost vgl. Strazhas; Liulevicius.

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staat zu festigen sowie seinen weltpolitischen Einfluss zu vergrößern. Der reale Verlust von staatlichem Territorium führte nach 1918 indes dazu, die nun von apokalyptischen Bedrohungsszenarien und klaustrophobischer Enge aufgeladene Vorstellung des Raumschwundes auf die staatspolitische Ebene zu übertragen. Jetzt ging es nicht mehr um koloniale Großmachtphantasien in Afrika, jetzt wurde Raum zu einer existentiellen Größe. Raumschwund aktualisierte sich in den 1920er Jahren im Kontext der als gescheitert empfundenen politischen Territorialkonzepte. Die Ordnung nach Volk und Nation schien ihre Gültigkeit verloren zu haben, und der mit dem Versailler Vertrag einsetzende Glaubwürdigkeitsverlust völkerrechtlicher Grenzherstellungen brachte eine tiefe Krise moderner Territorialität in Deutschland hervor. Der erzwungene Verlust politischen Raumes wurde nun in den Kategorien einer klaustrophobischen Modernisierungskritik wahrgenommen, obgleich sich die ökonomischen Voraussetzungen mittlerweile grundlegend gewandelt hatten. Von Übervölkerung konnte keine Rede mehr sein, denn die Bevölkerungszahlen gingen seit 1900 real zurück, und es herrschte Ende der 1920er Jahre Inflation und Weltwirtschaftskrise. Dem Raumdiskurs war angesichts solcher Symptome sein Fortschrittsoptimismus verloren gegangen, und die Suche nach der territorialen Verfasstheit Deutschlands wurde zunehmend als Existenzfrage formuliert. Die Delegitimierung der eigenen Territorialkonzepte gehörte daher zu den Schlüsselerlebnissen einer sich in den 1920er Jahren formierenden Deutschtumsforschung.19 Nachdem nicht nur der Krieg, sondern auch der Frieden verloren war, standen Politiker und Wissenschaftler vor der Herausforderung, belastbare Konzepte der territorialen Verfasstheit zu entwickeln, mit denen sich Deutschland jenseits seiner aktuellen Territorialordnung konzipieren ließ. Unter dem Schlagwort Deutscher Raum versammelten sich Theorien, Konzepte und Ideen, die verschiedene Szenarien jenseits der seit 1919 international festgelegten Grenzen propagierten. Die als Fortschrittsnarrativ arrangierte Kulturbodentheorie ermöglichte es beispielsweise, relativ unabhängig von den aktuellen Besiedlungsverhältnissen räumliche Besitzansprüche zu rechtfertigen. Damit fügte sie sich vortrefflich in den politischen Diskurs des Grenz19 Vgl. vor allem Fahlbusch, »Wo der deutsche … ist, ist Deutschland!«; zeitgenössisch Volz, Der ostdeutsche Volksboden; ders., Der westdeutsche Volksboden; Max Hildebert Boehm rekurrierte später auf Pencks Kulturbodentheorie mit seinem begrifflichen Wandel vom »Volkswirkungsraum« zum »Volkslebensraum«, vgl. Boehm, Die deutschen Grenzlande; ders., Das eigenständige Volk; zu Boehm auch Prehn; zur Zusammenarbeit von Geographen und Historikern und ihre Bedeutung für das fachliche Profil vgl. Oberkrome. Geschichte, Volk und Theorie; einschlägig dazu Oberkromes Volksgeschichte; einen Überblick bieten Haar u. Fahlbusch.

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und Auslandsdeutschtums ein und empfahl sich einer revisionistischen, den aktuellen politischen Kräfteverhältnissen gleichwohl angepassten Außenpolitik. So kontrovers die verschiedenen Ausprägungen der Volks- und Kulturbodentheorie auch ausfielen, gemeinsam war ihnen, die Weimarer Republik als allenfalls provisorischen Staat mit einem eklatanten Raumdefizit zu entwerten.20 Nicht mehr nationalstaatliche, sondern am Volks- und Kulturboden vermessene Grenzen verwiesen auf einen zukünftigen deutschen Staat, den es alsbald zu realisieren galt. Die nach 1919 zunächst relativ strikt an Revisionsforderungen geknüpften Konzepte eines Deutschen Raumes lösten sich zunehmend von ihrem Bezugsereignis und experimentierten mit Kategorien wie »Nation«, »Volk«, »Raum« und zunehmend auch mit »Rasse«. Der politische Raumdiskurs der Weimarer Republik unterschied sich dadurch eklatant vom imperialen Getöse des Kaiserreiches, da der Verlust von Raum als Bedrohung des eigenen Gemeinwesens interpretiert wurde. Nach verlorenem Krieg, nach Gebietsabtretungen und dem Verlust der staatlichen Einheit aktualisierte sich die Wahrnehmung, Deutschland leide unter einer unerträglichen Raumenge. Dabei korrespondierten die Gebietsverluste seit 1919 mit den für hochindustrialisierte Gesellschaften typischen Verdichtungserfahrungen und beförderten ein klaustrophobisches Lebensgefühl, das für den Raumdiskurs der 1920er und 1930er Jahre symptomatisch wurde. Hier wie an anderen Kontexten transformierte sich ein existentielles Bedrohungsgefühl in einen ideologisierten Affekt, der sich schließlich mit der Formel Volk ohne Raum zu einer Art historischem Phantomschmerz steigerte.21 Mit ihm waren signifikante Gebietsansprüche, territoriale Größenphantasien und globale Herrschaftsvisionen zwar skizziert, wenn auch in Ausmaß und Gestalt noch überaus strittig.

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20 Vgl. dazu allgemein Sontheimer. 21 Zu diesem ideologisierten Affekt vgl. Jureit, S. 250–286.

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Jörn Happel

Räume in der Krise: Territorialisierungsprozesse im ausgehenden russländischen Imperium

Krisen und Räume »Die Geschichte Russlands ist die Geschichte eines Landes, das sich kolonisiert«1 – so die berühmte Formel des russischen Historikers Vladimir Ključevskij. An der Wende zum 20. Jahrhundert hatte er dabei vor allem die asiatischen Landesteile des Zarenreichs in Sibirien und Zentralasien im Blick, wohin die Ostslaven als Siedler schrittweise in wenig bewohnte Gebiete vordrangen. Während es sich für Ključevskij um einen friedlichen Landnahmeprozess handelte, verstehe ich diese Entwicklung als eine forcierte Kolonisierung von Räumen und Lebenswelten. Die Geschichte des russisch dominierten Osteuropas ist somit die Geschichte einer Region, die von Russland kartiert und erschlossen wird, um sie zu beherrschen. Im Folgenden möchte ich die mit der Kolonisierung verbundenen Transformationen des imperialen Raums seit der Mitte des 19. Jahrhunderts an den »Peripherien« der russländischen Expansion im Osten wie im Westen aufzeigen. Im Mittelpunkt steht für mich die Frage, wie es zu Herrschaftskrisen – die wie alle Krisen nicht plötzlich auftauchen, sondern eine lange Vorlaufzeit haben – in diesen Regionen kam, wie sie gelöst wurden und wie in der Folge die russische Seite den Herrschaftsraum zu reorganisieren versuchte, warum dies misslang und zu welchen Ergebnissen dies wiederum führte. Die Bezeichnung »Peripherie« steht hier für einen russisch-imperialen Blickwinkel. Es ist notwendig ihm zu folgen, will man die Kolonisierungsambitionen verstehen. Neben Petersburg und Moskau lagen wohl alle anderen Regionen des riesigen Reichs aus der Sicht der Mächtigen an der Peripherie. Warschau war zwar nach den beiden Hauptstädten – nach der endgültigen Einverleibung in das zarische Hoheitsgebiet aufgrund des gescheiterten Januaraufstands von 1863/64 – die drittgrößte Stadt des Imperiums (1901: 711 988 Einwohner). Doch lag sie so weit im Westen, dass eine periphere Lage angenommen wurde – immerhin 1152 Kilometer von St. Petersburg und 1335 Kilo1

Im Original: »История России есть история страны, которая колонизуется.« Alfred Sproede und Mirja Lecke schlagen als Übersetzung dieser Passage vor: »Die Geschichte Russlands ist die Geschichte eines Landes, das schrittweise besiedelt wird.« Sproede u. Lecke, S. 46.

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meter von Moskau entfernt. Nach dem Aufstand ihres Sonderstatus beraubt, war Warschau, und somit das gesamte russische Polen, nur noch Provinz des Zarenreichs – »Weichselland«. Doch immerhin handelte es sich hier aus der Sicht Moskaus und St. Petersburgs um »zivilisiertes«, europäisches Gebiet. Dagegen waren Zentralasien und Sibirien nicht nur in geographischer Hinsicht weit entfernt von den europäischen Zentren des Zarenreichs, sondern in der Wahrnehmung russischer Politiker auch fernab der Segnungen europäischer Kultur. Deshalb galt es, die abgelegenen Gebiete und deren Einwohner zu zivilisieren. Vom Standpunkt einer in Russland entworfenen europäischen mission civilisatrice2 ist der Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie im Zarenreich jedoch zu relativieren. Zwar definierte der Begriff »Peripherie« gleichzeitig die geographische und kulturelle Reichweite der europäischen Welt, doch ließ sich ebenso im russischen Kernland ein deutlicher Unterschied »zwischen einer schmalen, sich an europäischen Vorbildern von Aufklärung und moderner Lebensart orientierenden Elite einerseits und der großen Bevölkerungsmehrheit andererseits« erkennen.3 Eine Kolonialisierung der russischen Mehrheitskultur fand auch im Zentrum des Reichs selbst statt, so dass sich die Begriffe Metropole und Randgebiet nicht klar trennen lassen.4 Daher verstehe ich Zentrum und Peripherie, Metropole und Randgebiet hier unter geographischen Gesichtspunkten.5 Ich gehe davon aus, dass die Krise des imperialen Modells im russländischen Reich, die mit dem Zusammenbruch des alten Russlands endete, von der (gescheiterten) Kolonisierung der Peripherie ausgelöst wurde. Das zeigen verschiedene Versuche der Aneignung des Raums durch das zarische Imperium: Infrastrukturmaßnahmen wie der Bau von Eisenbahnnetzen, wissenschaftliche Untersuchungen und statistische Projekte (etwa Volkszählungen6 und das Entstehen der Ethnografie7), aber auch Ausstellungen und Darstellungen der Bevölkerung auf Bildpostkarten. Diese Prozesse der Aneignung klingen zumeist Ismail-Zade, S. 109 f.: Russland habe die gleiche »zivilisatorische Rolle in den Beziehungen zu den Völkern« wie England, Frankreich und Holland in deren Kolonien gespielt. 3 Grünewald, S. 165. 4 Sunderland, Empire without Imperialism?, S. 102. 5 Das Zarenreich sah seine Aufgabe darin, den peripheren, »zurückgebliebenen« Bewohnern die eigene, »westliche« Zivilisation nahezubringen; »rückständige« Lebensformen sollten in den Genuss der als überlegen geltenden modernen Zivilisation kommen, vgl. Osterhammel, S. 609, S. 619 f., S. 1173–1176; Baberowski, Auf der Suche nach Eindeutigkeit; Häfner, S. 28 f. 6 So die große Volkszählung von 1897, vgl. Bauer, Kappeler u. Roth. 7 Cvetkovski u. Hofmeister. 2

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nach friedlicher Durchdringung der imperialen Peripherien des Zarenreichs, sie waren es jedoch nicht; vielmehr waren sie mit Konflikten verbunden und zogen Krisen nach sich. Mit diesen Krisen stand das russische Imperium keineswegs allein da, denn im ausgehenden 19. Jahrhundert setzten auch andernorts ähnliche Krisenprozesse ein, auf die die sich gerade bildenden Nationalstaaten Antworten zu entwickeln hatten.8 Allgemein lassen sich um 1900 weltweit Krisen in der Aneignung und Ordnung von Räumen beobachten,9 die jeweils gesellschaftlichen Wandel beschleunigten und die Wahrnehmung von Reformbedarf verstärkten.10 Global betrachtet lässt sich in den Transformationen der Herrschaft in den verschiedenen Räumen sogar ein europäisches Kolonialmuster erkennen.11 Wichtig ist aber, sich vor Augen zu führen, dass die daraus resultierenden Krisen erst im Nachhinein beschreibbar werden, denn »im Moment der Krise ist alles Handeln von der Unsicherheit der Frage nach Richtig oder Falsch« geprägt. Dadurch aber kann man in den zeitgenössischen Selbstbildern und Institutionen soziale und räumliche Konstruktionen freilegen.12 In einem zweiten Schritt werde ich Krisen der Raumaneignung, Reaktionen und Vorstellungen sowie Durchsetzung von Herrschaft im Vergleich zweier Aufstände nachzeichnen: dem Januaraufstand im russischen Polen 1863/64 und dem Aufstand der Zentralasiaten 1916.13 Dabei frage ich vor allem danach, wie infolge der Krisen der Raum neu geordnet wurde, was sich unter anderem in dem sich wandelnden Umgang mit den an den Peripherien lebenden Menschen zeigt. Zunächst befasse ich mich mit den im russischen Osteuropa entwickelten Entwürfen der Aneignung und anschließend mit beteiligten gesellschaftlichen Gruppen sowie den Orten, an denen Konflikte auftraten. Es handelt sich allerdings um zu viele Ebenen, um sie in diesem Rahmen einzeln anzusprechen – selbst wenn man nur die gesellschaftlichen Gruppen umfassend erörtern würde, wären die akademische Welt, die Umgebung des Zaren, die Bauern, die Kaufleute und die einzelnen Völker zu betrachten. Ihre je verschiedenen Perspektiven können im Folgenden nicht detailliert nachgezeichnet werden, wohl aber einzelne Aspekte bestimmter Kolonisierungsprozesse.  8   9 10 11 12 13

Osterhammel, S. 610, S. 613–616, S. 667. Ebd., S. 173 f., S. 177–180, S. 584–586. Mergel, S. 13. Osterhammel, S. 234, S. 534. Mergel, S. 10. Vereinfachend fasse ich die zahlreichen Völker Zentralasiens, die an dem Aufstand gegen die zarische Kolonialmacht teilnahmen, hier zusammen. Dabei verstehe ich in Anlehnung an Yuri Bregel Zentralasien als »ausgeprägte kulturelle und historische Einheit«, Bregel, S. 3.

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Die Kolonialisierung Das russländische Reich versuchte, ähnlich wie andere europäische Imperien, im Sinne einer mission civilisatrice in die Lebenswelten der Kolonisierten im Osten und in Zentralasien einzugreifen und sich damit als Teil des Westens zu profilieren, sprich: seine Europäizität unter Beweis zu stellen. Entwürfe einer solchen Aneignung der kolonialen Peripherie entstanden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und wurden von verschiedenen Akteursgruppen, unter anderem von Beamten und Politikern, Wissenschaftlern und Militärs, getragen. Die konkrete Ausformulierung dieser Entwürfe und die daraus abgeleiteten politischen Strategien standen in engem Zusammenhang mit dem Wettbewerb zwischen den Imperien und der wechselseitigen Beobachtung der rivalisierenden Mächte des ausgehenden 19. Jahrhunderts. So konnte für die Zeitgenossen die Erschließung der amerikanischen frontier als ein Modell für die »Zivilisierung« des sibirischen »wilden Ostens« gelten14 oder es wurde bei der Suche nach dem »richtigen« Umgang mit den muslimischen Bevölkerungsgruppen das Britische und das Osmanische Reich herangezogen.15 Indem die Entwürfe eines kolonialen Raums, die Expansion und die Abgrenzung gleichermaßen, aus der Beobachtung und dem kompetitiven Verhältnis zu anderen imperialen Ambitionen entstanden, waren sie Resultate von Verflechtungen und Transferprozessen.16 Zudem war die russische Kolonialisierung von den unterschiedlichen Erfahrungen an den Rändern im Osten, Süden und Westen geprägt, und es ist zu bedenken, dass erst die tatsächliche Kolonisierung des asiatischen Raums durch russländische Bauernkolonisten oder zarische Administratoren sowie deren Anwesenheit bzw. Regentschaft in den westlichen Provinzen und dem Königreich Polen zu Problemen im Umgang mit diesen Räumen führten. Erst die konkrete (Kolonial-)Politik und die Versuche der Durchherrschung der Lebenswelten vor Ort provozierten Krisen in den Regionen17 und veranlassten weitere Transformationen des Raums. Zwei Wege der Beherrschung lassen sich dabei unterscheiden: scheinbar weiche Formen der Aneignung wie Vermessung, Kartierung oder der Eingriff in kulturelle und soziale Bereiche, wie die Bildung; 14 Als der amerikanische Historiker Frederick Jackson Turner im Jahre 1893 seine These einer nordamerikanischen frontier aufstellte, wurde diese kurz darauf auch im Zarenreich wegen ihrer Anwendbarkeit auf das russische Imperium diskutiert, vgl. Rieber, S. 41–45. 15 Der Blick war wechselseitig, vgl. Adam. 16 Vgl. einzelne Beiträge in Leonhard u. von Hirschhausen, Comparing Empires. 17 Die »Kolonialisierung von Lebenswelten« geht auf Jürgen Habermas (vgl. Habermas) zurück, vgl. Hochstrasser, S. 249–278.

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oder starke Formen wie militärische Beherrschung und die Ansiedlung landesfremder Menschen. Doch sind die Grenzen fließend, was sich etwa in der Sprachenpolitik zeigt, die darauf abzielte, einheimische Sprachen zurückzudrängen und das Russische als Sprache des Imperiums durchzusetzen.18 Eines der bedeutsamsten Instrumente der kolonialen Raumerschließung und der territorialen Integration war der Eisenbahnbau, an dem sich zeigen lässt, welche Schwierigkeiten für das russländische Reich daraus resultierten, dass die westliche und östliche Peripherie gleichermaßen in ein kolonialpolitisches und/ oder territoriales Konzept integriert werden sollten.19

Entwürfe der Aneignung: Wissenschaft, Außendarstellung und Eisenbahn Russlands imperialer Raum reichte im Selbstverständnis der zarischen Beamten und Offiziere von Warschau bis Vladivostok, von Taškent bis Aleksandrovsk. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte das Zarenreich mit einem raumgreifenden Vorstoß fast das gesamte Zentralasien erobert, den Kaukasus »befriedet« – dies glaubte 1864 zumindest Zar Alexander II.20 – und im Westen, in Polen, seine Herrschaft konsolidiert; letztlich durch auf Gewalt fußende Maßnahmen. Zur gleichen Zeit begann die Verwissenschaftlichung der Eroberungen, die wiederum ähnlich wissenschaftlichen Aneignungsversuchen in anderen, zumal imperialen Gesellschaften, etwa in Großbritannien, Frankreich oder Deutschland, glich. Es entstanden hier wie dort regional- und raumwissenschaftliche Perspektivierungen der Welt, und es wurde Raumwissen erzeugt. Anders als noch im 18. Jahrhundert, als Wissen vor allem in Russland Staatsgeheimnis und Herrschaftswissen war,21 wurde nun durchaus auf Transfer und interimperiales Lernen gesetzt, obwohl sich die Imperien im Wettlauf um Macht und Einflusssphären befanden. In Russland wurden an der Akademie der Wissenschaften, an Universitäten und von Privat- und Dienstpersonen die Sprachen des Imperiums erlernt, die unterschiedlichen Volksgruppen studiert, die alten und neuen Regionen bereist und kartiert.22 Bereits in der ersten Hälfte 18 19 20 21 22

Für die Sowjetzeit mit zahlreichen Rückverweisen Frings. Für die russischen Kerngebiete Sperling, Der Aufbruch der Provinz, S. 226 f. Kappeler, Russland als Vielvölkerreich, S. 154 f. Dahlmann, S. 116. Wenn die Universitäten dem Reich mehr Bildung und Aufbruch versprachen, war das Mehr imperialen Wissens auch gefährlich. Neben der Aneignung des Territoriums durch die neu geschaffene russische Intelligenzija förderten Universitätskreise gerade im Wes-

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des 19. Jahrhunderts hatten sich Netzwerke militärischer und ziviler Experten gebildet. Jungen Beamten und Offizieren wurde das neue akademische Wissen vermittelt, bevor man sie an der Peripherie des Reichs einsetzte. Dort stellten sie allerdings schnell fest, dass die Informationen über ihre Einsatzgebiete kaum zuverlässig und zudem höchst begrenzt waren, weshalb sie eigene wissenschaftliche Expeditionen unternahmen. Sie gründeten Institutionen wie die »Kaiserliche Geographische Gesellschaft«, in denen die gesammelten Informationen systematisiert und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten.23 Man kann davon ausgehen, dass das Zarenreich, zumindest in Zentralasien, ab 1864 als Kolonialmacht agierte24 und offensichtlich veränderte die teilweise vom Westen erlernte Kolonialpolitik die Wahrnehmung des besetzten Raums massiv. Wichtiger jedoch ist, dass die Politik zu Krisen führte – im Inneren (sichtbar etwa in den Kostendebatten25) wie im Äußeren, vor allem im Verhältnis zu Großbritannien, deutlich erkennbar im sogenannten Great Game.26 Zugleich provozierte sie Widerstand in den beherrschten Regionen. Auch darauf reagierte man wieder mit der Produktion von Wissen; die Kartographie und Ethnographie durchliefen eine Phase des Auftriebs.27 Das ist wenig verwunderlich: »Erst der vermessene Raum ist gebändigt, erschlossen, diszipliniert, zur Vernunft gekommen, zur Vernunft gebracht. Erst territorialisierter Raum ist beherrschbarer und beherrschter Raum, Herrschaftsraum.«28 Die Kartierung des Reiches in seinen neuen Grenzen war von anderen Formen kolonialer Aneignung begleitet, etwa der Darstellung des imperialen Selbstverständnisses nach außen. Im Jahre 1900 fand in Paris die Weltausstellung statt, mit 50 Millionen Besuchern.29 Russland nahm an ihr mit einem eigenen Pavillon teil. Stolz auf die asiatischen Besitzungen stellte sich das Zaren-

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ten auch die Ablehnung des Russischen. Deshalb folgte auf den polnischen Aufstand von 1830/31 die sofortige Schließung der erst 1816 gegründeten Universität in Warschau und der altehrwürdigen Universität in Wilna (gegründet 1579). Hierbei handelt es sich um die Geburtsstunde der russischen vostokovedenie, der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Asien, vgl. Tolz; Weiss. Goršenina, S. 214 f.; Baberowski, Auf der Suche nach Eindeutigkeit, S. 497; Sunderland, Taming the Wild Field, S. 225–228. Pravilova, S. 115 f., S. 135 f., S. 143. Hopkirk; Meyer u. Brysac. Postnikov; Osterhammel, S. 53–55, S. 153 f., S. 1164–1167. Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, S. 167. Osterhammel, S. 42.

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reich mit Turkestan zur Schau30, unterstützt von eigens komponierten Liedern und weiteren Ausstellungen.31 Dies lag nahe, übersetzte sich doch die erfolgreiche Kolonialisierung in Zentralasien in Ressourcen für das Wettringen mit den anderen und war doch die Weltausstellung eine erstrangige Gelegenheit, die neue Größe zu zeigen. Allerdings brauchte es spezifische Inszenierungsstrategien, denn lange Zeit waren Turkestan und seine Bevölkerung als »asiatisch« und »barbarisch« abgetan worden; nun wurden sie als zivilisiert(er) dargestellt – Dank dessen, dass die »russisch-europäische Zivilisation« Einzug gehalten hatte.32 Im Inneren, teils auch in Europa, verbreitete man den Aufstieg zur Kolonialmacht im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts besonders durch im gesamten Reich zirkulierende Postkarten mit Motiven aus den zarischen Kolonien und anderen russisch-europäischen Gebieten: Nomaden und Jurten, Städte Zentralasiens und Einwohner Bessarabiens, der europäischen Teile Russlands einschließlich Polens, die europäischen Städte Russlands, Orte und Menschen des russischen Nordens und Sibiriens. In der gesamten Welt waren Postkarten seit den 1880er Jahren vermehrt im Umlauf und trugen wesentlich zum Siegeszug des ersten globalen Bildmediums bei.33 Im Standardformat der Postkarte ließ sich das Fremde, Bedrohliche, Faszinierende und Exotische in vertraute Strukturen einfügen und unterwarf es gleichzeitig einem europäischen Bildregime. Die Karten waren nicht nur Kommunikationsmittel, sondern sie machten die ferne Welt nah und sichtbar. Gedruckt und vertrieben wurden die Bildpostkarten aus dem Zarenreich um 1900 von westeuropäischen, russischen und von zentralasiatischen Unternehmen.34 Letzteres zeigt an, dass auch einheimische Händler erkannten, dass mit ihrer Heimat und den dort lebenden Menschen im Format europäischer moderner Kommunikationsmittel Geld zu machen war. Auf diese wie auch auf andere Art und Weise interagierten Akteure aus dem »Zentrum« mit Akteuren aus der »Peripherie«. Man muss aber vorsichtig sein, 30 Turkestan war die Bezeichnung des russischen Generalgouvernements im südlichen Zentralasien, das bis auf große Teile Kasachstans fast das gesamte Gebiet der heutigen fünf zentralasiatischen Republiken abdeckte. Vgl. Sunderland, Empire without Imperialism?. 31 Kappeler, Russlands zentralasiatische Kolonien bis 1917, S. 149; vgl. zur Wahrnehmung der Turkestaner in Paris durch die europäische Öffentlichkeit Duchovskaja, S. 84 f. 32 Andererseits faszinierten und amüsierten aufgrund ihrer »Rückständigkeit« zur gleichen Zeit asiatische Untertanen des Zaren das westeuropäische Bürgertum, das Kalmücken, Tataren oder Kasachen bei Völkerschauen in Zoologischen Gärten bestaunen konnte, vgl. mit weiterführender Literatur Happel, Nomadenbilder um 1900. 33 Zu Postkarten als historische Quellen, Tropper, Medialität; dies., Kommunikationsraum. 34 Es zeigt sich eine »Karriere von Motiven« wie bspw. bei den sogenannten Typenbildern verschiedenster Kulturen, vgl. Zaugg.

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davon abzuleiten, dass die »Peripherie« auf das »Zentrum« einwirkte, indem Jurten und Kasachen in Paris »ausgestellt« oder auf Postkarten gebracht wurden. Denn in den Zentren bediente man sich dieser Repräsentationen auch, um eine neue, am Kolonialen orientierte Öffentlichkeit zu schaffen.35 Die Männer und Frauen in Petersburg und Moskau waren die Damen und Herren über die fremden Territorien. Sie vergewisserten sich ihrer Superiorität und machten ihre Herrschaft all ihren Untertanen und dem Ausland bewusst. Zugleich sollte die Besitznahme des Ostens und Südens unter dem Deckmantel einer mission civilisatrice von den westlichen Teilen des Reichs und der Besatzungspolitik, etwa in Polen, ablenken. Dennoch findet man auch dort kulturelle Annexion und Transfers. Neben den Postkarten aus dem russischen Polen inspirierten polnische Walzer und Romanzen russische Komponisten, beschrieben russische Literaten wie Petr A. Vjazemskij den »polnischen Stolz«.36 Diesen besonderen und facettenreichen russisch-polnischen Austausch gab es also nicht nur in der Romantik, sondern er hielt bis zur Revolution 1917 und darüber hinaus an.37 Fragt man nach den Akteuren dieser kulturellen Raumaneignung und Integration treten meines Ermessens drei Gruppen zu Tage: Erstens handelt es sich um die herrschenden Akteure des Zentrums, um den Zaren und seine Berater sowie Militärs, die das Reich militärischen und/oder wirtschaftlichen Aspekten unterwarfen. Zweitens sind es Akteure in den Kolonialgebieten, die die Landnahme organisierten und trugen − Bauernfamilien, Landvermesser, Bauarbeiter, Gouverneure und nicht zu vergessen deren Gattinnen. Drittens schließlich gehören, nicht ganz freiwillig, die Kolonisierten selbst dazu. Höchst interessant ist es in diesem Zusammenhang Grenzgänger zwischen den jeweiligen Kulturen zu untersuchen, geben sie doch Aufschluss über die Vielfalt imperialer Identifikationsangebote.38 Ein viertes Instrument imperialer Politik, das in der öffentlichen Debatte des Zarenreichs besonders nach dem verlustreichen Krimkriegsdesaster diskutiert wurde,39 war die Eisenbahn. Sie war in der Mitte des 19. Jahrhunderts 35 Mit weiterführender Literatur Kusber, Zwischen Europa und Asien; ders., Koloniale Expan­ sion. 36 Vgl. u. a. sein wunderbares Gedicht »Stancija« (1825) in Vjazemskij, S. 171–178; auch Kjun [Kühn], Russkaja i pol’skaja romantičeskaja poėzija o putešestvii; Grob. 37 Genannt seien lediglich zwei prägnante Beispiele: die literarischen Verbindungen beider Völker hinsichtlich des berühmten Briefs Wiktor Gomulickis (1895) oder die Frage nach der Stellung Russlands in der Selbstbeschreibung des polnischen Katastrophismus, siehe Salden; Herlth. 38 Happel u. Rolf, Die Durchlässigkeit der Grenze. 39 Siefert, S. 90–93; Schenk, Imperiale Raumerschließung, S. 39–40, S. 42–45.

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weltweit maßgebend für die Erschließung des Raums.40 Im russischen Falle ist sie sowohl in den inneren wie den äußeren Reichsteilen als Kolonialisierungsprojekt zu verstehen. Während sie in den innerrussischen Gebieten der Zarenmacht direkten Eingriff ermöglichte, war die Anwesenheit der Schienen in den äußeren, von Russland eroberten Gebieten primär ein Symbol für die Präsenz der russischen Herrschaft. Ökonomisch gesehen wuchsen durch die Eisenbahn Regionen zusammen, die ohnehin aufeinander angewiesen waren: Transporthäfen mit landwirtschaftlichen Anbauflächen oder Industriezentren. Daneben dienten Eisenbahn und Telegraf militärischen Belangen, konnte doch mit ihnen auf innere und äußere Bedrohungen schneller reagiert werden.41 Besonders rege wurde über die Anbindung der westlichen Provinzen diskutiert. In den Jahren 1851 bis 1855 begann das Zarenreich mit dem Bau einer Schienenverbindung von Petersburg nach Warschau, die Ende 1862 in Betrieb genommen wurde. Nicht von ungefähr hatte der Januaraufstand 1863/64 den russischen Militärs doch die Nützlichkeit der Eisenbahn für die Niederschlagung von inneren Unruhen vor Augen geführt. Gleichzeitig hatte die Erhebung für viele Beobachter die besondere Gefährdung der Westgrenze des Zarenreichs offengelegt. Der Bau von strategischen Eisenbahnnetzen in den westlichen Gebieten schien führenden Militärplanern die geeignetste Antwort auf die veränderte Sicherheitslage zu sein.42 Dabei bezog die Eisenbahn als Raumerschließungsinstrument alle Akteursgruppen mit ein. Das zeigt sich in einem Zitat des Generals der Infanterie Sergej Buturlin aus dem Jahre 1865, das auf die Ereignisse des Januaraufstands anspielt: »Eisenbahnen haben eine große strategische Bedeutung als Mittel der Landesverteidigung sowohl gegen äußere als auch gegen innere Feinde. [Die gilt insbesondere für jene] Staaten, die Länder erobert haben, die von Stämmen unterschiedlicher ethnischer Herkunft bewohnt werden und die in moralischer Hinsicht noch nicht mit dem erobernden Volk verschmolzen sind. Integration und Akkulturation kann und muss mit Hilfe rechtlicher und politischer Mittel erreicht werden. … Falls es dort jedoch Elemente gibt, die offen oder im Geheimen die moralische Integration aller Teile des politischen Körpers, zu dem sie gehören, hintertreiben, … muss die Regierung 40 Osterhammel, S. 345, S. 378, S. 425, S. 437 f., S. 446, S. 472, S. 502, S. 534, S. 618, S. 701, S. 1035. 41 Schenk, Die Neuvermessung des Russländischen Reiches im Eisenbahnzeitalter, S. 34. 42 In Polen entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das dichteste Eisenbahnnetz des gesamten Reichs, so Schenk, Russlands Fahrt in die Moderne, S. 335.

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ihre Herrschaft in den revoltierenden Gegenden auf militärische Institutionen gründen. Zu diesen zählen unter anderem die permanente Stationierung von Streitkräften, die Errichtung von Festungen und der Bau von Verkehrswegen, die es der Armee erleichtern, ohne Hindernisse und schnell zu jedem Ort zu gelangen, …«43 Hier wird deutlich, dass sich ganz unterschiedliche Befürworter des Projekts einer ganzen Klaviatur von Argumenten bedienten. Zum einen scheinen Akteure aus dem »Zentrum« durch. Buturlin nimmt die Perspektive der Militärs und wohl auch der Regierung ein, wenn er von der notwendigen Beherrschung eroberter Gebiete spricht. Koloniale Muster thematisiert er, wenn er betont, dass sich die Völker und Stämme mit dem russischen Volk verschmelzen müssten – dies entsprach nach den Reformen Zar Alexanders II. in den 1860er Jahren der Vorstellung, wonach in allen Regionen Russlands die Bevölkerung im Sinne eines europäisch orientierten Modernisierungsanspruchs zivilisiert werden sollte; man träumte davon, die Fremdstämmigen mit dem russischen Volk zu verschmelzen.44 Greifbar werden in Buturlins Äußerung auch die Ausführenden vor Ort – die an den Rändern des Imperiums stationierten Soldaten und die Bautrupps der Eisenbahnnetze, die durch ihren Einsatz den Schutz der Heimat garantieren oder zumindest erleichtern. Schließlich werden auch die Beherrschten selbst erwähnt, als Objekte der Russifizierung. Wenngleich Buturlins Sichtweise durchaus umstritten war, ist sie doch aufschlussreich. Sie zeigt, wie die Aneignung des Raums von einzelnen Akteuren und mittels der Eisenbahn betrieben wurde, wie sich die Territorialisierung vollzog, womit die lokale Bevölkerung konfrontiert war. Im Übrigen verband sich mit der Eisenbahn sowohl die Idee einer besseren Binnenintegration als auch die der Vernetzung über die Reichsgrenzen hinaus, wobei letztere immer auch Abgrenzung bedeutete, weshalb man fehlgeht, Eisenbahnen nur in ihrer verbindenden Funktion zu sehen. Ähnlich wie im Westen verlief die koloniale Besitznahme über den Eisenbahnbau im Osten und Süden des Imperiums. Im Jahre 1888 erreichte die Transkaspische Eisenbahn, eine reine Militärbahn, nach einer Erweiterung Samarkand.45 »[S]owohl russische als auch westeuropäische Beobachter [feierten] die Transkaspische und die Zentralasiatische Eisenbahn als Ausdruck 43 Zitiert nach Schenk, Die Neuvermessung des Russländischen Reiches im Eisenbahnzeitalter, S. 29 f. 44 Brower, S. 17; Häfner, S. 36, S. 39 f. 45 Schenk, Russlands Fahrt in die Moderne, S. 93.

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einer erfolgreichen mission civilizatrice des ›Westens‹ in Asien.«46 Nicht nur in Samarkand freuten sich die lokalen Kolonisatoren, auch im etwa 350 Kilometer entfernten Taškent begrüßten sie den Eisenbahnanschluss, der 1906 geschaffen wurde. In einem Glückwunschtelegramm betonten die russischen Taškenter, die in der nun nahen Eisenbahnlinie eine Verteidigungsmöglichkeit und die Strecke als Anbindung an die Reichszentren sahen, die Schiene trage zur Aufklärung Asiens bei, schaffe eine dauerhafte Verbindung zwischen den »halbwilden Nomaden« und Europa und fördere deren Vereinigung in einer großen »russischen Familie«.47 Zudem verband die Eisenbahnlinie die Kolonie mit den Baumwolle verarbeitenden Textilfabriken im russischen Polen. Der gesamte Raum wurde wirtschaftlichen Besitzansprüchen des Zarenreichs untergeordnet. Mit jedem Zug kamen Waren nach Turkestan, die das Nomadenleben verändern sollten: Geschirr, Steingut, Nähmaschinen. Umgekehrt führten Züge in der Gegenrichtung die Baumwolle in das europäische Russland aus, wo diese zu Kleidungsstücken verarbeitet wurde und dadurch unter anderem zum Reichtum der polnischen Industriellen, beispielsweise in Łódz, beitrugen, die die Erzeugnisse in den Westen oder zurück in die russischen Kerngebiete verkauften.48 Wie die Eisenbahn intensivierte auch der Telegraf die Raumaneignung. Er sorgte für schnellere Kommunikationswege, unter anderem bei lokalen Ausschreitungen, die umgehend gemeldet und daher ohne Zeitverlust mit Truppen beantwortet werden konnten. In kürzester Zeit errichteten zarische Ingenieure Telegrafenleitungen quer durch das Imperium: Ab den 1860er Jahren stand die transsibirische Querung im Mittelpunkt.49 Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren alle Provinzhauptstädte (auch und vor allem die des kolonialen Zentralasiens und des Kaukasus), alle Häfen und Industriezentren sowie auch viele Kleinstädte Russlands an das Telegrafennetz angebunden – alle wichtigen Orte waren fortan von Petersburg und Moskau aus bequem zu erreichen.50 Wenngleich Eisenbahn und Telegraf von vielen als sichtbares, hörbares und fühlbares Zeichen ökonomischen und technischen Fortschritts gesehen wur46 Ebd., S. 95. 47 Zitiert nach ebd., S. 97; vgl. Sahadeo, S. 120–124. 48 Ein Warschauer Presseartikel aus den frühen 1860er Jahren hielt über Łódz fest: »Der Faden ist die Seele von Lodz, und das Motto ihrer Einwohner: Baumwolle!«, zitiert nach Hofmann, Imageprobleme einer Antimetropole, S. 239; vgl. Pietrow-Ennker, Wirtschaftsbürger und Bürgerlichkeit, S. 174 f., S. 183 f., S. 200. 49 Siefert, S. 97–98, S. 100–101. 50 Ebd., S. 101–103.

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den, auch in den Regionen selbst, waren sie in erster Linie Instrumente der Beherrschung und Kontrolle. Die angesprochenen Infrastrukturmaßnahmen zeigen, dass sich das Zarenreich als einen integrierten politischen Raum entwarf, für den schnellstmöglich die Distanzen zwischen den Machtzentren von St. Petersburg und Moskau und den Gebieten der Peripherie reduziert werden sollten, um den inneren Zusammenhalt zu stärken. Man darf dabei aber nicht übersehen, dass die Eisenbahn auch die Lebens- und Erfahrungswelten veränderte. Viel unmittelbarer als zuvor waren die Größe und Konflikthaftigkeit des Reichs zu spüren.51 Reisenden konnten die Wandkarten der Eisenbahnlinien in den Bahnhöfen des Zarenreichs studieren, dessen Ausmaß sich darauf besonders gut zeigte. Sie konnten aber auch anhand dieser Karten Anschläge auf Militärzüge oder den Zaren planen.52 Sie konnten als Unternehmer ihre Güter in einen größeren Umkreis transportieren oder als Sträflinge die lange Fahrt in die Katorga antreten. Alle – ob Zar, General, Terrorist, Unternehmer, Sträfling, Reisender, Soldat oder Tourist – waren Teil der imperialen Durchdringung des Raums, die durch Eisenbahn und Telegraf in die entlegensten Winkel des Reichs vorstoßen sollte. Dieser Prozess begeisterte viele, verschreckte manche und führte an bestimmten Orten zu Krisen.

Krisen und Konfliktorte: Polen 1863/64 und Zentralasien 1916 Das Zarenreich – so wie andere Reiche auch – versuchte seine Einwohner zu kontrollieren, wenn nötig mit Gewalt.53 Besonders nach dem geglückten Attentat auf Zar Alexander II. im Jahre 1881 nahm die Überwachung der Bevölkerung zu, um die etablierte Ordnung zu sichern. Bedienstete und Spitzel des Staates wurden gezielt eingesetzt, um mutmaßlich staatsfeindliche Kreise zu unterwandern.54 Im Grunde kann man selbst die skizzierte Erforschung, Beschreibung und Kartierung des Imperiums als Teil dieser Kontrollversuche

51 Vgl. die Kritik bei Tschechov. 52 Vgl. u. a. Hilbrenner, Gewalt als Sprache der Straße. 53 Inwiefern Gewalt und Kontrolle auch einem gewissen Minderwertigkeitskomplex dem »Westen« gegenüber und einem Gefühl des stetigen Zuspätkommens entstammen, kann hier nicht beantwortet werden, vgl. Utz, S. 251 f., S. 256; Zink, S. 81 (und ebd. Fußnote 245). 54 Zu den Aspekten Terrorismus und Staatsschutz, vgl. Prajsman; Peregudova; Dietze u. Schenk; Hilbrenner u. Schenk, Modern Times?

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ansehen, umso mehr als sie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts massiv ausgebaut wurden.55 Diese Kontrolle rief Widerstand in den Regionen hervor und löste Konflikte aus. Sie sind ein Anzeichen dafür, dass die imperiale Macht porös war, denn in Aufständen zeigt sich der Verlust von Ordnung.56 Herrschaft wird unmittelbar in Frage gestellt und soll verändert werden, wobei Herrschaft als ein in der Krise geborener Ordnungs- und Reformversuch zu denken ist, der ungeordnete und nicht-regulierte Zustände überwinden soll.57 Aufstände zeigen eindrücklich, wie die etablierte zarische Kolonialordnung verlorengehen konnte. Illustrativ dafür sind zwei Aufstände, die an den Peripherien des Zarenreichs stattfanden − der Januaraufstand der Polen 1863/64 und der Aufstand der Zentralasiaten 1916. Sie dienen mir als Brenngläser einer Krisen- und Transformationszeit in der Geschichte des Russländischen Reichs, in der die Herrschaft des Zaren und seiner Mittelsmänner weniger anerkannt waren. Hier wie dort, 1863 wie 1916, gelang es Alexander II. und Nikolaj II. durch Gewalt, die Aufstände zu unterdrücken, aber nicht ihren Herrschaftsanspruch im gleichen Maße wie zuvor durchzusetzen. Wenn ich 1863/64 und 1916 gegenüberstelle, bin ich mir der problematischen Implikationen historischer Vergleiche bewusst. Oft werden höchst verschiedene Entwicklungen in einen Kontext gebracht, in dem die spezifischen zeitgenössischen Bedingungsgefüge und Logiken untergehen.58 Streng genommen ist dies auch hier der Fall. Nicht nur die in den Vergleichsregionen angebauten Früchte unterschieden sich in Polen und Zentralasien massiv, auch in der Art und Weise der russischen Verwaltung, der Infrastruktur, den geographischen, ökonomischen und kulturellen Gegebenheiten, dem Bildungsniveau, der Religionen, der Einstellung der Menschen zum Imperium gab es grundlegende Unterschiede – weshalb man einwenden kann, dass die Aufstände aus so verschiedenen Gegebenheiten resultierten, dass sie unvergleichbar sind. Aller-

55 Schlögel führt aus: »Die Territorialisierung von Macht wird auf Karten abgebildet, … Wer Karten hat, weiß mehr über die Organisation eines Raumes. Der Kartentisch ist fast so etwas wie ein Insignium von Macht.« ders., Im Raume lesen wir die Zeit, S. 249; vgl. auch Seegel, Blueprinting Modernity; auszugsweise veröffentlicht als »Ukraine under Western Eyes«; zu Formen der Gewalt im kolonialen Kontext Holquist; Baberowski, Auf der Suche nach Eindeutigkeit. 56 Löwe; Osterhammel, S. 584 f. 57 Leggewie, S. 252. 58 Werner u. Zimmermann; und zur Problematik sowie den Chancen des Vergleichs in den Geschichtswissenschaften vgl. Haumann, Von Pocahontas zu Pylmau; Emeliantseva.

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dings zeigen sich in der Gegenüberstellung von Unruhen und Konflikten verschiedener Reichsteile Muster der Krisenbewältigung im Zarenreich. Polen 1863/64: Zur imperialen Aneignung der Gebiete diente im Zuge der Reformen Zar Alexanders II. auch die Wehrpflicht, die auf die nichtrussische männliche Bevölkerung ausgedehnt wurde. Zunächst waren die Zentralasiaten davon noch befreit gewesen. Doch in Zeiten des Kriegs, außenpolitischer Zwänge und unmittelbarer Bedrohungen griff das Imperium zur Aushebung dieser Männer, um sich nach außen zu schützen und um innere Spannungen zu kanalisieren.59 Wenn in Polen 1863 und in Zentralasien 1916 die Einberufung von Männern in den Militärdienst der berühmte Tropfen war, der die jeweiligen »Konfliktfässer« zum Überlaufen brachte, darf nicht vergessen werden, dass sich das Zarenreich hierbei doch nur eines Standardinstruments von Herrschaftsausübung seit der Französischen Revolution in Nationalstaaten wie in Imperien bedient hatte.60 In Polen kam noch eine andere Komponente hinzu. Die besondere Herausforderung, vor der das Zarenreich im Königreich und in der Auseinandersetzung mit der polnischen Bevölkerung stand, war eine transnationale polnische Nationalbewegung, die europaweit nicht nur in den Teilungsgebieten lebte, sondern besonders im Ausland gegen Russland agitierte, so etwa von Frankreich oder der Schweiz aus.61 Eine solche Bewegung ist viel schwerer einzuhegen, weil sie Imperien de facto auch gegeneinander ausspielen konnte. Mit Alexander II. war 1855 jedoch ein Zar auf den Thron gekommen, der als reformwillig galt und so bei einigen Polen die Erwartungen weckte, Freiheiten zurückzuerlangen, die aufgrund des gescheiterten Novemberaufstands 1830/31 verloren worden waren. Andere, radikalere Kreise glaubten, die Zeit eines neuen Aufstands zur Erlangung der Selbstständigkeit sei nach dem Zarenwechsel günstig. Bereits 1861 kam es zu ersten Zusammenstößen zwischen Polen und russischen Soldaten sowie Kosaken. Fünf tote Polen wurden anschließend in einer Prozession zu Grabe getragen.62 Die Proteste der Polen rissen daraufhin nicht mehr ab. Zwar wurden die Repressionen gegen nationale Demonstrationen erhöht, 59 Vgl. in einem internationalen Rahmen die Studie von Hartmann, S. 11, S. 29–33; und für Russland, gleichwohl in der Zeit zwischen beiden hier interessierenden Aufständen, vgl. Benecke. 60 Leonhard u. von Hirschhausen, Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, S. 62 f., S. 102–105. 61 Bednarz; Florkowska-Frančić; Landgrebe. 62 Haumann, Jüdische Nation.

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doch die Zarenregierung war andererseits zu Zugeständnissen bereit, um die Einheit der Opposition gegen sie aufzuspalten: Eine polnische Zivilregierung wurde eingesetzt, ein Ausgleich mit der katholischen Kirche gesucht, für die Bauern Reformmaßnahmen eingeleitet – sogar ihre vollständige Befreiung in Aussicht gestellt (1861 waren die Bauern in Russland bereits befreit worden) – und die zahlreich in Polen lebenden Juden erhielten am 5. Juni 1862 ihre rechtliche Gleichstellung.63 Diese Maßnahmen brachten jedoch nicht den gewünschten Erfolg – die radikaleren Kreise in Polen entschieden sich im Januar 1863 zum Aufstand. Doch anders als 1830 waren sie schlecht ausgerüstet, schlecht organisiert und zahlenmäßig den russischen Truppen um ein Vielfaches unterlegen. Der Aufstand wurde für die Polen ein Desaster, auch wenn sie im Partisanenkampf den zarischen Verbänden bis Mitte 1864 empfindliche Niederlagen zufügten.64 Anschließend rechnete das Zarenreich mit den Aufständischen hart ab: Die Strafmaßnahmen waren drakonisch und dem Adel wurde die ökonomische und soziale Stellung weitgehend genommen. Wenig verwunderlich wurde die russische Herrschaft nach den beiden gescheiterten Aufständen (1830/31, 1863/64) noch stärker als zuvor, nun von weiten polnischen Kreisen, als feindlich angesehen. Das zeigt sich nicht zuletzt in den deutlichen Worten zahlreicher Wissenschaftler und Literaten, die mit massiven Reglementierungen konfrontiert waren. Die polnische Schriftstellerin Maria Konopnicka (1842–1910) etwa kritisierte öffentlich die Zensur des Wortes »polski«, das immer in »krajowy« (einheimisch, inländisch) oder »nasz« abzuändern war,65 um – so ihre sicher berechtigte Mutmaßung − den Staatsbegriff Polen für immer von den Landkarten verschwinden zu lassen und aus den Köpfen zu drängen. Doch reagierten die Polen natürlich nicht homogen auf die Zentralmacht, weder vor noch während und auch nicht nach dem Januaraufstand: Zum einen lebten im russischen Teil des ehemaligen Polens neben Polen viele andere Ethnien, waren doch dort viele Religionen und Stände zuhause; zum anderen waren nicht alle gleichermaßen russophob. Das zwang die zarische Verwaltung zum Differenzieren, bot aber auch die Chance zur partiellen Kooperation mit möglichen Unterstützern. Die angesprochene Einberufung hatte z. B. ein Pole verfügt: Aleksander Wielopolski (1803–1877), Chef einer aus Polen bestehenden Zivilregierung, hatte, um einen Aufstand zu vermeiden, 10 000 potentielle 63 Ebd., S. 448. 64 Kurz und knapp Hoensch, S. 216–220. 65 Fita, S. 11; vgl. auch Kuehn [Kühn], Ciemięzcy, ustawodawcy, kolonizatorzy.

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Aufständische in die Zarenarmee einberufen lassen.66 Mit gegenteiligem Effekt – die Ausgehobenen erhoben sich und er selbst fiel in des Zaren Ungnade. Zentralasien 1916: Gehen wir nach Zentralasien: Während des Ersten Weltkriegs gingen den Generälen des Zaren Nikolajs II. die Soldaten aus. Die Einberufung der bislang von der Wehrpflicht befreiten Männer Zentralasiens zum Dienst in der Etappe sollte eine Wende auf den Schlachtfeldern herbeiführen. Tatsächlich kam es aber zu einem der größten Aufstände in der Geschichte Russlands. Im Spätsommer 1916 wehrten sich Hunderttausende Zentralasiaten, vor allem Nomaden, gegen die Einberufung und gegen die in den letzten Jahren erfahrene zarische Kolonialherrschaft.67 Wohl 100 000 bis 200 000 Einheimische starben im Kampf oder auf der Flucht vor dem überlegenen russischen Militär; Tausende russische und ukrainische Siedler wurden von den Aufständischen ermordet.68 Anders als in Polen war das Zarenreich hier nicht mit einer nationalen bzw. transnationalen Protestbewegung konfrontiert. Vielmehr standen die zarischen Kolonialherren zum einen einer weitgehend fremden Lebensform, den Nomaden, gegenüber, die nicht in das auf Sesshaftigkeit beruhende System europäischer Herrschaftsmodelle zu passen schienen; zum anderen sahen sich die orthodoxen Ostslaven einer sesshaften Bevölkerung gegenübergestellt, die nicht wie in Polen einer anderen christlichen Religion anhingen, sondern Muslime waren. Zur Durchsetzung zarischer Ordnung griffen die Kolonialherren zu für sie selbstverständlichen Maßnahmen – Implementierung russischer Rechte und Verwaltungsstrukturen, Festsetzung von Steuerabgaben, den Bau von Kirchen und Dörfern usw. –, die jedoch bei beiden Bevölkerungsgruppen auf Ablehnung stießen. Die Nomaden verstanden nicht, was die Landvermesser von ihnen und ihrem Land wollten, und die städtisch-muslimische Bevölkerung kämpfte unter anderem gegen den Befehl, Zarenportraits in ihren Moscheen aufhängen zu lassen.69 Weite Bevölkerungsteile waren unzufrieden mit der russischen Kolonialmacht, die für die weißen Siedler die besten Wei66 67 68 69

Hoensch, S. 217. Vgl. die Dokumentensammlungen: Pjaskovskij; Bermachanov u. Sadyķov. Happel, Nomadische Lebenswelten und zarische Politik, S. 125–160. Der Generalgouverneur in Turkestan Samsonov hatte 1910 verfügt, dass in den muslimischen Schulen und sogar in den Moscheen Turkestans Zarenportraits aufgehängt werden sollten. Der Aufschrei war groß. In den Presseorganen der Russlandmuslime wurde von einem notwendigen Aufstand der Zentralasiaten gesprochen. Eine Einigung schien in der »Portrait-Frage« nicht in Sicht. Russische Behörden vor Ort verzichteten aus Angst vor Revolten auf die Ausführung des Befehls, Adam, S. 286–288.

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degründe nahm, die gegen islamische Rechte vorging, die Baumwollplantagen anlegte und einheimische Interessen ignorierte. Doch auch hier waren manche durchaus auf der russischen Seite aktiv, setzten sich für den Ausgleich mit dem Imperium ein, träumten von einer friedvollen Zukunft. Wenngleich einige Veränderungen zugunsten der Region und ihrer einheimischen Bewohner eingetreten waren, war 1916 das Maß voll: Gegen Landnahme, stetiges Zurückdrängen einheimischer Lebensweisen, Korruption und Ausbeutung wehrten sich sesshafte wie nomadische Zentralasiaten in einem spontanen und kaum organisierten, doch umso gewaltvolleren Aufstand. Das Aufbegehren wurde blutig niedergeschlagen. Die zarischen Militärs setzten sich durch und verhängten drakonische Strafen – ähnlich wie in Polen 1864 (Todesurteile gegen die Anführer), doch in einem weitaus »kolonialerem« Ausmaß, denkt man an die Vertreibung von 200.000 bis 300.000 Nomaden nach China, deren Hunger- und Kältetod wissentlich in Kauf genommen wurde.70 Herrschaft durch Gewalt: Im Vergleich beider Aufstände zeigen sich mehrere Gemeinsamkeiten: zum einen die Gewalt, mit der sowohl russische Expeditionskorps als auch die Aufständischen vorgingen; zum anderen die Härte, mit der die zarische (Militär-)Verwaltung auf die Aufstände reagierte. Unmissverständlich sollten Polen wie Zentralasiaten bewusst gemacht werden, dass die Zeit der Aufstände vorbei war71, dass sie sich dem Willen des Imperiums zu unterwerfen hatten. Zudem lehnten sich beide unterlegenen Seiten trotz gewisser Verbesserungen im Vorfeld – die Polen dank einiger Erleichterungen nach den Restriktionen des Novemberaufstands; die Zentralasiaten aufgrund ihrer ökonomischen und kulturellen Besserstellungen (hier vor allem: medizinischen72) – gegen das Imperium auf; lehnten die »Segnungen« des Zarenreichs bewusst ab. Ferner kamen Eisenbahn und Telegraf bei beiden Niederschlagungen eine große Bedeutung zu. Aufständische Nomaden und aufständische Polen hatten gezielt die Telegrafenmasten zerstört, um das russische Militär zu schwächen.73 Die russischen Verbände nutzten Kabel und Schienen, um die Einheiten zu koordinieren und schnellstmöglich zum Einsatzort bringen 70 Happel, Nomadische Lebenswelten und zarische Politik, S. 125–127, S. 142 f., S. 315–318. 71 In Polen wären hier die Aufstände und Unruhen 1830/31, 1846 bzw. 1848 zu nennen; in Zentralasien vor allem die russische Erinnerung an den Aufstand von Andižan 1898, aber auch an zahlreiche regionale Unruhen. 72 Vgl. die weitgehend verlässlichen Angaben in dem von der Umsiedlungsbehörde herausgegebenen Werk Glinka, S. 280–284, S. 361–387. 73 Schenk, Russlands Fahrt in die Moderne, S. 381–384; Happel, Nomadische Lebenswelten und zarische Politik, S. 130; beim indischen Aufstand von 1857 hatten indische Soldaten

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zu können. Schließlich zeigt die jeweilige (gescheiterte) Aushebung von Soldaten aus den Reihen der betroffenen Völker und die Partizipation von Polen und Zentralasiaten, dass das Imperium durchaus auch angenommen worden war und die Lebenswelten derjenigen beeinflusst hatte, die bereitwillig zum Militär gegangen wären. Die Zukunft sahen viele in Petersburg und Moskau, weniger in Warschau bzw. in der Steppe oder in den früher bedeutenden zentralasiatischen Chanaten. Auf die Aufstände folgte keineswegs die Auflösung nationaler Zugehörigkeiten von Polen und – wenn man bereits vereinfachend von Nationen sprechen will – von Turkmenen, Usbeken, Kasachen oder Kirgisen. Doch die Bevölkerungen in beiden »Peripherien« fügten sich nun mehr oder weniger in das Imperium ein, auch weil ihnen kaum etwas anderes übrig blieb. Umso bemerkenswerter ist es, dass der parallele imperiale Durchgriff – Stationierungen von Soldaten, Zurückdrängung von einheimischen Sprachen, Religionen, Kulturen – die Krisen des Reichs in seinen Kolonien nicht löste; im Zuge des Zusammenbruchs des Imperiums 1917/18 traten sie deutlicher denn je zu Tage. Es zeigt sich überdies, dass das imperiale Projekt nicht nur von Nationalbewegungen, wie im polnischen Fall, herausgefordert wurde, die häufig von Akteuren mit trans-imperialen Biographien getragen wurden (und damit mitunter im Vorteil waren), sondern auch von nomadischen Bevölkerungsgruppen wie in Zentralasien, die sich erst später das Prinzip des Nationalen zu eigen und nutze machten. Beide setzten sich gegen das Zarenreich und dessen Kolonialisierung zur Wehr, worauf das Imperium mit eingeübter Gewalt reagierte.

Transformationen des imperialen Raums Die hier jeweils nur skizzierten Konfliktfelder sind vielfältig: Sie sind militärischer, ökonomischer, emanzipatorischer und kultureller Natur; aber vor allem sind sie grenzüberschreitend. Der eigentliche Austragungsort imperialer Konflikte liegt nicht im inneren des Imperiums, sondern hat zahlreiche transnationale, transkulturelle, interimperiale Bezüge. An den Aufständen verdeutlicht sich das eindrücklich, denn sie sind Teil eines generell fehlgeschlagenen Arrangements zwischen Autonomie und Beherrschung zwischen Russen und Polen, zwischen imperialen Beamten und ihrem »Kolonialvolk« in Zentralasien. Die nach ihrer Niederlage auf die Frage, warum sie verloren hätten, auf die Telegrafenmäste gezeigt, Rothermund, S. 5.

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Reaktionen auf beide Krisen, zuerst im Umgang mit den Peripherien, dann bei der Bekämpfung der jeweiligen Aufständischen, wurden zudem international kommentiert,74 worauf wiederum das Zarenreich reagierte. Es konnte sich nach außen eine Schwäche im Verhältnis zu seinen Untertanen nicht erlauben und musste seine Herrschaft im imperialen Rahmen wiederherstellen. Gleichzeitig wollte es im interimperialen Rahmen vor den Augen der anderen europäischen Mächte nicht als Unterdrücker dastehen. In dieser Spannung agierten die zarischen Militärs, Beamten und beide Zaren, und die Aufständischen waren sich dieses Herrschaftsproblems sehr bewusst. In dieser Hinsicht schwächten sie das Imperium, auch wenn es ihnen nicht gelang, es zu besiegen. Interessant scheint mir die Frage, ob sie solches überhaupt vorhatten? Mir stellt es sich so dar, dass sich die Aufstände im Grunde nicht gegen das Imperium als Ganzes richteten, sondern nur gegen die örtlichen imperialen Territorialisierungsprozesse. Rhetorisch und wohl auch zunehmend aus Überzeugung wurde das Imperium abgelehnt, imperiale Macht und Ordnungsvorstellungen als den eigenen Interessen zuwiderlaufend bewertet.

Schluss Als Fazit möchte ich deshalb die skizzierten Beispielbereiche im Hinblick auf die Krisen in Räumen diskutieren. Worin sind die Transformationen (und Paradoxien) bei allen drei Untersuchungsfeldern zu sehen: bei Postkarten und kulturellen Repräsentationen, beim Eisenbahnbau und der Infrastruktur sowie bei den Aufständen und der Krisenbewältigung? Die Frage nach dem Einsatz und der Verbreitung der Postkarten im Zarenreich und in Europa, ja weltweit, sowie die Repräsentation des russischen Imperiums als Kolonialmacht, etwa bei der Weltausstellung in Paris, habe ich als weiche Faktoren der imperialen Ordnung und der zarischen Aneignung der Peripherien und deren Bewohner charakterisiert. Transformation und Paradoxon liegen hier nahe beieinander. Einerseits machte die gleichzeitige Verbreitung der Typenbilder die Einwohner des Zarenreichs gleich, indem Mitglieder der Zarenfamilie ebenso abgebildet wurden wie russische Handwerker, kasachische Nomaden, sibirische Kolonisten, bessarabische Frauen oder polnische Bauern. Der »russische Raum« und fast alle seine Bewohner wurden im Medium der Postkarte zu einer Einheit umgestaltet. Andererseits dienten Post74 Hoensch, S. 217–219; Kieser; Adam.

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karten wie Völkerschauen der Versicherung von Differenz, der Betonung der Unterschiede zwischen Russen und Nicht-Russen (den anderen Lebensweisen, Häusern, Kleidung usw.). Der Aneignungs- oder Kolonialisierungsprozess ist also zweischneidig. Als Großrusse, noch dazu als Angehöriger der das Imperium verwaltenden Oberschicht konnte man sich im Hinblick auf die Anderen der eigenen Stellung bewusst werden. Die Einführung der Eisenbahn zeigt, wie sich Transformation und Krise verbanden: Sie brachte Polen einen gewissen Fortschritt, indem Warschau 1862 an das russische Schienennetz angebunden wurde. In Industriestädten wie Łódz entstanden Arbeitsplätze durch das Gewinnen neuer Absatzmärkte – multikonfessionell und international waren Beschäftigte und Chefs dieser Unternehmen.75 Gleichzeitig transportierte die Eisenbahn das Militär, das zur Niederschlagung der Freiheit nach Polen geschickt worden war. Die Territorialisierung durch die Transformation der Verkehrsinfrastruktur führte in die Krise: Wenn Polen auch unterlag, so konnte das Imperium im Westen seine Herrschaft nicht mehr ohne starke Militärpräsenz sichern. Es kommt wohl noch ein Aspekt zum Tragen: Mir scheint, dass die Infrastrukturmaßnahmen des Russländischen Reichs sehr deutlich machen, dass dieses Imperium eine Herrschaft über die Städte war, nicht eine Herrschaft auf dem Land, noch weniger in den Grenzregionen – ganz unabhängig davon, dass das Imperium den Anspruch erhob, überall wirkmächtig zu sein. Jedenfalls sind es die Krisen – besonders die großen Aufstände –, die über die Transformation des imperialen Raums dann Auskunft geben können. In den Aufständen bricht die koloniale Macht vor Ort zusammen, ohne dass sie all ihren Rückhalt verliert. Nicht alle Polen, nicht alle Zentralasiaten unterstützten den Aufstand. Und unter den Aufständischen forderten nicht alle die politische Unabhängigkeit. Manche liefen einfach mit, weil sie sich bereichern wollten, andere wollten nur die Korruption und die Landenteignung bekämpfen und wiederum andere waren zur Teilnahme am Aufstand gezwungen worden. Trotz der unterschiedlichen Motive verdichten diese Aufstände die gescheiterten Territorialisierungsprozesse. Nationale Argumente wurden nicht immer gegen das Imperium in Stellung gebracht, vielmehr Protest gegen Entrechtung erhoben. Spezifisch für die imperiale Konstellation im Zarenreich war, dass sie an der Komplexität und Gleichzeitigkeit höchst unterschiedlicher Anforderungen scheiterte: Die europäisch-russischen Richtlinien, wie viel Land ein Mensch 75 Ein literarisches Denkmal hat Władysław Stanisław Reymont mit seinem Roman »Das gelobte Land« (Ziemia obiecana, 1898) dieser Epoche mit dem Blick auf Łódz gesetzt.

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brauche, ignorierten z. B. vollkommen, dass ein nomadischer Viehzüchter in Zentralasien andere Raumvorstellungen besaß.76 Die zarisch-russischen Vorstellungen einer Reichssprache ließen vollkommen außer Acht, dass Sprachen wie das Polnische oder Ukrainische durchaus auch dem Reichszusammenhalt hätten dienlich sein können, während das Zurückdrängen dieser Sprachen zu Konflikten mit den jeweiligen Ethnien führte. Und es wurde ein imperialer Machtanspruch erhoben, der übersah, dass Russland im inter-imperialen Wettbewerb, vor allem in ökonomisch-militärischer Hinsicht, kaum mithalten konnte – man denke nur an den Ausgang des Kriegs gegen Japan 1904/05. Sicher bestand im Sinne Ključevskijs der Anspruch einer Durchdringung des gesamten Russlands mit der zarischen Herrschaftsideologie durch die Kolonisierung der Randgebiete. Doch ist es dem Imperium in den letzten Jahrzehnten seines Bestehens nicht gelungen, seine westlichen und östlichen Peripherien in ein geschlossenes territoriales Konzept zu integrieren, das von den Beherrschten zumindest so weit anerkannt worden wäre, dass keine offenen Unruhen ausbrachen und das den lokalen Herrschern – den Gouverneuren, Generälen und Beamten – einigermaßen Sicherheit im Umgang mit der einheimischen Bevölkerung gegeben hätte. Das Russländische Reich zeigt sich auf den ersten Blick als ein erfolgreiches Imperium, auf den zweiten Blick als ein poröses Herrschaftsgebilde, das von seiner eigenen Kolonialisierung überfordert war, lange bevor es zusammenbrach.

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Vernetzungsimpulse aus Fernost – oder wie der 1908 in Prag zelebrierte Neoslawismus mit Russlands verlorenem Krieg gegen Japan zusammenhing Am Vorabend des Ersten Weltkrieges sorgte der Neoslawismus in Ostmittelund Südosteuropa kurzzeitig für politische Aufregung. Idee und Bewegung des Neoslawismus entstanden im Jahre 1906, erreichten ihren Höhepunkt im Sommer 1908 mit dem in Prag abgehaltenen Neoslawisten-Kongress und verschwanden 1910 nach dem Sofioter Folgekongress von der Weltbühne. Verstanden als Phänomen transnationaler Nicht-Regierungs-Außenpolitik ist seine Geschichte höchst aufschlussreich für das Verständnis von regionalen Raumordnungsprojekten jenseits des häufig als alternativlos gedachten Weges hin zum Nationalstaat. Vorderhand stellte der Neoslawismus den Versuch dar, unter dem Motto slawischer Solidarität und Wechselseitigkeit eine Brücke zwischen dem orthodox-russlandfixierten Panslawismus (aufgekommen in den 1830er Jahren und politikwirksam während der Türkenkriege 1877/78) einerseits und dem katholisch-kaisertreuen Austroslawismus (entstandenen im europäischen Revolutionsjahr 1848) andererseits zu schlagen. Mit größerem Abstand betrachtet, hing er – wie hier zu zeigen sein wird – als planvolle regionale Vernetzungsaktion im Osten Europas mit einer im Fernen Osten veränderten geopolitischen Großwetterlage zusammen, was für die These spricht, dass der Wandel von Weltordnungen neue bzw. erneuerte Entwürfe grenzüberschreitender Integration hervorbringen kann. Das neoslawische Unternehmen war eine Melange von transnationaler Bewegung im Beziehungsfeld zwischen Staaten (Österreich-Ungarn, Russland, Serbien, Bulgarien), von nationalemanzipatorischer Politik innerhalb dieser Staaten (der Tschechen, Slowaken, Kroaten, Slowenen, Polen und Ukrainer) sowie von individuellen Aktivitäten nationaler »Agenten« wie des Tschechen Karel Kramář (1860–1937), des Slowenen Ivan Hribar (1851–1941), des galizischen Russophilen Nikolaj P. Glěbovickij (1873–1918), des Polen Roman Dmowski (1864–1939) oder der Russen Vsevolod Svatkovskij (1862–1937) und Piotr B. Struve (1870–1944). Als Parlamentsabgeordnete oder Journalisten in Wien bzw. St. Petersburg legten sie es unter den Bedingungen einer sich im Zeichen des Vorkriegsimperialismus rapide verändernden globalen Machtkonstellation darauf an, die Handlungsrahmen ihrer eigenen nationalen Container zu verlassen und sie gemeinsam durch einen größeren, slawischen

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Container zu ersetzen, wodurch sie gleichzeitig im nationalen wie im transnationalen Raum agierten. Fragt man mit Blick auf eine transnationale Geschichte Ostmitteleuropas danach, warum der Neoslawismus gerade im Jahre 1906 auf die Bühne der internationalen Politik trat und begreift man ihn nicht allein – wie in der einschlägigen Literatur1 allgemein üblich – als regionales, in Ostmittel- und Südosteuropa entstandenes Phänomen »Slawischer Politik«, wird es auch als vernetzungsgeschichtliches Produkt eines machtpolitischen Konstellationswandels in globalem Maßstab erkennbar, der sich fernab Europas, bedingt durch den militärischen Erfolg Japans gegen Russland im Jahre 1905, vollzogen hatte. Diesen weltpolitischen Implikationen des Neoslawismus wird im ersten Abschnitt nachgegangen. Der zweite Abschnitt ist der Rekonstruktion der Initialphase des Neoslawismus gewidmet. Das neoslawistische Programm sowie die unmittelbaren Planungen und Vorbereitungen des Prager Neoslawistenkongresses von 1908 werden in Abschnitt drei behandelt. Es folgen viertens Ausführungen über die neoslawistische Verhandlungsagenda von Prag,2 und im Schlussteil wird die These formuliert, dass der Neoslawismus als vergessener Teil einer transnationalen Geschichte des Russisch-Japanischen Krieges zu begreifen ist.

Voraussetzungen des Neoslawismus im Windschatten einer unerwartet veränderten globalen Mächtekonstellation im Fernen Osten 1904/05 führten Russland und Japan einen Krieg, für den sich in der zuletzt anlässlich des Centenariums stark intensivierten internationalen Forschung das Label eines »Nullten Weltkrieges« zu etablieren scheint.3 Der Bostoner Historiker Bill Keylor nannte diesen ersten nach 1870/71 von einer europäischen Großmacht und zudem fern der Alten Welt geführten Krieg eine »watershed in modern history«.4 Sein Bielefelder Kollege Klaus Hildebrand sprach unter Verwendung zeitgenössischer Aussagen vom Beginn »eine[r] neue[n] Ära der 1 2 3 4

Zeitgenössische Informationen und Einschätzungen bietet der »Die Zeit des Neoslawismus« überschriebene Schlussabschnitt in Fischel, S. 491–581; grundlegend, da auf breiter Quellen- und Literaturbasis, sind nach wie vor Zeil; Vyšný; Ferenczi; Giza; Jaworski. Die in den Abschnitten zwei bis vier gemachten Ausführungen basieren auf einem Vortrag, der 2010 auf dem Amsterdamer Weltkongress der Historischen Wissenschaften gehalten wurde und erschienen ist als Hadler. Eine kritische Würdigung von insgesamt 14 Neuerscheinungen bietet Krebs; die ältere Literatur behandelt Kusber, Der russisch-japanische Krieg. Keylor, S. 17.

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Weltgeschichte«5, und auf den Covern der dem Russisch-Japanischen Krieg in der »History of Warfare«-Buchserie gewidmeten Bände 29 und 40 ist von »World War Zero« die Rede.6 Tatsächlich bedeutete die Niederlage des Zarenreiches das vorläufige Ende einer russischen Expansionsgeschichte im Fernen Osten, die bald nach dem erfolgreichen militärischen Engagement gegen das Osmanische Reich (auf dem Balkan 1877/78) klare Konturen gewonnen hatte. Bereits 1860 hatte Russland von China die Ussuri-Region erworben und mit Vladivostok eine Hafenstadt am Pazifik gegründet, die man durch die 1891 mit französischen Krediten in Bau gegangene Transsibirische Eisenbahn an den europäischen Teil des Großreiches anbinden wollte. Doch ließ die mangelnde Eisfreiheit von Vladivostok die St. Petersburger Strategen weiter südwärts schauen, nach Port Arthur, als mögliches neues Tor zum Pazifik. Die Ernsthaftigkeit solcher Aspirationen war dann im Jahre 1900 daran abzulesen, dass man Truppen zur Niederschlagung des Boxeraufstandes nach China entsandte, von denen ein Kontingent von hunderttausend Mann in der Mandschurei zur Verteidigung der russischen Interessen verblieb.7 Genau hier aber waren bereits 1894/95 japanische Truppen nach einem siegreichen Krieg gegen China gelandet,8 und hier brach auch der militärische Konflikt Japans mit Russland eine Dekade später aus – endend mit dem Sieg Tokyos über St. Petersburg, dessen aus der Ostsee in einer neun Monate andauernden Überfahrt nach Ostasien verlegten Marineeinheiten vernichtend geschlagen wurden – dies war eine »der größten Tragödie der russischen Flotte«.9 Dass diese Ereignisse als Vorgänge von globaler Bedeutung eingeschätzt wurden, hat natürlich vor allem mit der Tatsache zu tun, dass in der neu entstandenen Konstellation eine weitere Dekade später der Erste Weltkrieg ausbrach. Als klassische Argumente für einen solchen Konnex gelten einerseits, dass Japan infolge des Sieges von 1905 zur Großmacht aufstieg (1910 wurde Korea japaHildebrand. Steinberg u. a.; Wolff u. a.. Zum russischen Engagement im Fernen Osten vgl. Kusber, Siegeserwartungen und Schuldzuweisungen, S. 100–106; Stollberg, S. 188–204; die These von der Bedeutung Asiens als »Herzland« für Russland behandelt Hauner. 8 Der Krieg zielte auf die Absicherung der japanischen Militärkontrolle über die koreanische Halbinsel und endete 1895 mit dem am 17. April unterzeichneten Vertrag von Shimonoseki, vgl. Tatsuo, S. 517. 9 So der Untertitel eines unlängst in Moskau erschienen Bandes, in dem die verlorene Schlacht bei Tsushima vom 14./15.(27./28.) Mai 1905 in eine Reihe mit welthistorischen Niederlagen wie Trafalgar, Waterloo oder Stalingrad gestellt wird, vgl. Bol’nych, S. 5.

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nische Kolonie), und sich Russland andererseits auf seine Stellung als einzige slawische Großmacht besann und »gewissermaßen sein Gesicht Europa wieder zuwandte«, wie es der Berliner Politiker und Professor für Osteuropäische Geschichte Otto Hoetzsch als Zeitzeuge vermerkte und zugleich betonte, dass »damit […] zunächst die asiatische Expansion Rußlands [endete]«.10 Die in dem vom amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt vermittelten Friedensvertrag von Portsmouth besiegelte Niederlage gegen Japan stellte ein Menetekel für das Zarenreich dar. Innenpoltisch manifestierte sich dies als revolutionäre Umwandlung der autokratischen Selbstherrschaft in eine konstitutionelle Monarchie mit der als Parlament im Frühjahr 1906 eröffneten Duma, außenpolitisch vollzog sich eine rasche strategische (Re-)Orientierung vom Fernen auf den Nahen Osten. Es ging vor allem um die Sicherung der Meerengen zwischen Schwarzem und Mediterranem Meer für die eigene Kriegsflotte, womit der Balkan als Portal nach Europa und überhaupt die »Orientalische Frage« wieder stärker in den russischen Blick geriet.11 Die Halbinsel aber war in den Jahrzehnten der St. Petersburger Fernostkonzentration zum Expansionsgebiet der europäischen Mittelmächte Deutschland (Stichwort Bagdad-Bahn) und Österreich-Ungarn (Angliederung Bosnien-Herzegowinas) geworden. Ein erneuertes Engagement Russlands in Europa mit einer möglichen Wiederbelebung der 1877/78 zur Unterstützung der Bulgaren zuletzt erfolgreich praktizierten Politik des Panslawismus lag vor allem im Interesse der Südslawen. Schon während des fernöstlichen Krieges wurden in Bulgarien »für den Erfolg der russischen Waffen […] im ganzen Land Gottesdienste abgehalten«. In Serbien, wo 1903 der Wechsel zu einer russlandfreundlichen Dynastie mit mörderischer Gewalt über die Bühne gegangen war, konnte man bei einer Parlamentsdebatte vernehmen, »daß jeder russische Erfolg im Fernen Osten eine Stärkung der slavischen Sache darstelle.«12 Unter den Westslawen gab es sowohl ähnliche als auch konträre Ansichten. Zum Beleg seiner Solidarität mit Russland machte sich der tschechische Reichstagsabgeordnete und Führer der national-sozialen Partei Václav Klofáč im Herbst 1904 auf den Weg in die Mandschurei. Er wollte die russischen Truppen siegen sehen und schrieb im Januar 1905 nach Böhmen: »Russland geht aus dem Krieg ganz sicher als Sieger hervor«.13 Mit mehr oder weniger gegen Russland gerichteten Sentiments begaben sich unabhängig voneinander die damals führenden Aktivisten der polnischen Sozialisten bzw. 10 11 12 13

Hoetzsch, S. 424, S. 422. Binder-Iijima. Ebd., S. 5. Doubek, S. 234.

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Nationaldemokraten Josef Piłsudski und Roman Dmowski nach Japan, um zu sondieren, wie Tokyo für die polnische Frage zu sensibilisieren war.14 Piłsudski offerierte das Angebot einer polnischen (auch militärischen) Unterstützung gegen Russland. Sein Memorandum für das japanische Verteidigungsministerium von Mitte Juli 1904 endete mit dem Ausdruck der Überzeugung, dass die Situation, in der sich Polen befinde, »in a natural way leads to an alliance between Japan and Poland. The former can find in Poland an ally experienced in battles with Russia, the latter can find in Japan support and assistance in achieving our plans.«15 Die derart knapp entworfene Allianz kam aber nicht zustande. Nach dem Russisch-Japanischen Krieg mehrten sich dann rasch überall in der slawischen Welt jene Stimmen, die auf die neue globale Situation reagierten. Betont wurde nun vor allem die für die Slawen vom »Deutschen Drang nach Osten« ausgehende Gefahr, auf die mit einer Neujustierung der innerslawischen Beziehungen zu reagieren wäre. Zudem wurde der »Gleichberechtigung aller slawischen Völker im Zeichen der Freiheit und Brüderlichkeit« das Wort geredet, was gleichwohl, wie bereits Alfred Fischel in seinem 1919 veröffentlichten Panslawismus-Buch festhielt, »nicht in das Credo des bisher in Rußland gepredigten Panslawismus mit einer Sprache, einer Religion, und einem unumschränkten Herrscher [paßte]«.16 Auch in Russland selbst veröffentlichte Überlegungen in besagter Richtung nahmen auf die gerade erlebte fernöstliche Kriegsniederlage Bezug und waren mit einer Absage an den alten Panslawismus verbunden. Im progressiven, nicht regierungsnahen Journal »Russkaja mysl« war 1906 als eine Art »Todesanzeige« zu lesen: »Mit der Zerschlagung des bürokratischen Rußland auf den mandschurischen Feldern … verschwand der Panslawismus in seiner ursprünglichen Gestalt unwiederbringlich von der politischen Szene.« Es entwickle sich, so wurde weiter ausgeführt, stattdessen etwas neues, »die Idee der allslawischen Solidarität, die Idee der Vereinigung aller slawischen Stämme zu einem kulturellen Ganzen«. Hierbei würde »dem neuen Rußland« eine wichtige Aufgabe zukommen, denn hier »können alle slawischen Stämme von den Polen bis zu den Tschechen und Bulgaren ein Bollwerk gegen Anschläge auf ihre nationale Kultur finden, woher diese Anschläge auch kommen mögen. Rußland steht jetzt vor der 14 Vgl. Hausmann; Thackeray. 15 Zitiert nach Labuda u. Michowicz, S. 451. 16 Fischel, S. 520.

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kolossalen Aufgabe, den gesamten slawischen Osten unter dem Dach einer slawischen Union zu vereinen, die nicht auf Gewalt und Unter-drückung, sondern auf geistig-kultureller Übereinstimmung gegründet ist. In dieser kulturellen Union können die slawischen Stämme ihre nationale Eigenart in völliger Freiheit weiter-entwickeln, was im Resultat zur Entstehung eines harmonischen Ganzen führen wird.«17 Wenn man sich die multiplen innerslawischen Unterdrückungskonstellationen, vor allem im damaligen Zarenreich, vor Augen führt – die Polen und Ukrainer unter den Russen im russischen Teilungsgebiet, die Ukrainer unter den Polen ebendort, aber auch im österreichischen Teilungsgebiet –, fragt man sich indes schon, wie ernsthaft der seinerzeit populäre Slogan »Der ist kein Slawe, der andere Slawen unterdrückt« gemeint war. Auf einen fruchtbaren Boden fielen solche Verlautbarungen gleichwohl gerade bei den Slawen in der österreichischen Hälfte der Doppelmonarchie, deren politische Abgeordnete kurze Zeit später infolge der Wahlrechtsreform von 1907 über eine knappe Mehrheit im Wiener Reichsrat verfügten. Es war vor allem Karel Kramář, der Führer der Jungtschechischen Partei, der die Renaissance der slawischen Gefühle in Russland als Ergebnis der auf den fernöstlichen Schlachtfeldern erlebten Katastrophe nachdrücklich begrüßte. Der verlorene Krieg und die Revolution hätten Russland gelehrt, die Sympathien und die Unterstützung der anderen Slawen anzuerkennen, um »die Isolation in einem Meer von Feinden zu verhindern«. Russland und Österreich seien die beiden größten slawischen Staaten, die sich in Frieden gegen Deutschland als gemeinsamen Feind einigen sollten.18 Dieses Statement von Kramář aus dem Januar 1908 gehört aber bereits in die Phase der direkten Vorbereitung des Prager neoslawistischen Kongresses, auf den weiter unten näher eingegangen wird, nach einem Blick ins Gründungsjahr des Neoslawismus.

Zwei printmediale Setzlinge von 1906, aus denen der Neoslawismus erwuchs Früh im Jahre 1906 veröffentlichte der in Wien wirkende russische Journalist Vsevolod Svatkovskij unter dem vielsagenden Pseudonym »Nestor« in der ersten Nummer der Pariser »La Revue Slave« seine Überlegungen zur Bildung 17 Ferenczi, S. 64. 18 Vyšný, S. 69.

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einer »Slawischen Union«.19 Er beschrieb darin die Gefahr einer deutschen Ostexpansion, der effektiv nur durch ein gemeinsames slawisches Vorgehen begegnet werden könne und dies nicht nach dem alten Panslawischen Prinzip, das heißt der Russischen Dominanz, sondern auf der Basis der Gleichheit aller slawischen Nationen. Grundvoraussetzung dafür sei eine Verständigung zwischen Russen und Polen, die dann zu einem besseren Verhältnis zwischen St. Petersburg und Wien führen würde. Svatkovskij glaubte, dass die Slawen engere Beziehungen zueinander entwickeln sollten, indem sie Besuchs- und Austauschprogramme sowie Kongresse organisieren und durch engere wirtschaftliche Kontakte eine Zollunion von Zarenreich und Habsburgermonarchie auf den Weg bringen. Für diese auf Forderungen nach kompletter Toleranz aller religiösen Gruppen, politischer Autonomie aller slawischen Nationen und Gleichheit aller nationalen Rechte basierende »neue slawische Politik« setze sich wenig später der Begriff Neoslawismus durch. Das Copyright für den rasch in vielen Sprachen adaptierten Ausdruck schrieb Fischel dem »Schriftleiter des Petersburger ›Slowo‹ M. M. Fedorow« zu20 und merkte an, dieser habe »vor jeder Überstürzung« gewarnt und »zuerst die Bildung eines neoslawischen Vereins in Rußland« empfohlen, »dem die Aufgabe zufiele, unter Beteiligung aller Parteien den Boden einer Annäherung zwischen Polen und Russen vorzubereiten«.21 Quasi als Parallelaktion startete die tschechische Literaturwochenschrift »Máj« im Frühjahr 1906 eine Meinungsumfrage über die künftige slawische Politik inklusive der Frage, ob es eine neue slawische politische Bewegung in den Grenzen Österreichs geben solle, die über den alten Austroslawismus hinausginge.22 Neben den mehrheitlich von Tschechen eingesandten Antworten meldete sich auch der slowenische Abgeordnete des Wiener Reichsrates Ivan Hribar zu Wort. Er brachte die südslawische Komponente ins Spiel und schlug vor, die Arena künftiger slawischer Partnerschaften über die Grenzen der Doppelmonarchie hinaus zu erweitern. Hribar umriss drei Felder einer neuen innerslawischen Kooperation: a) in der Politik, begrenzt auf die österreichische Reichshälfte und basierend auf einer gemeinschaftlichen slawischen parlamentarischen Organisation im Reichsrat; b) in der Wirtschaft: ausgreifend auf ganz 19 Svatkovskij, S. 4–5. Die Bedeutung dieses Textes als Initialzündung betonen gleichermaßen Zeil, S. 36; Ferenczi, S. 65; Vyšný, S. 55; Giza, S. 39 f. 20 »Das Wort Panslawismus war anrüchig, man ersetzte es durch den Ausdruck ›Neoslawismus‹, der zuerst … vom Schriftleiter Fedorow gebraucht worden war.« Fischel, S. 520. 21 Ebd., S. 514. 22 Ausführlich behandeln die Umfrage Zeil, S. 41;Vyšný, S. 56; Fischel, S. 515; zum Austroslawismus vgl. den Sammelband Moritsch.

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Österreich-Ungarn, basierend auf einer Union slawischer Finanzinstitutionen, und c) in der Kultur: über die Monarchie hinausgehend und basierend auf einer konzertierten Aktion von Organisationen, die das nationale Bewusstsein der einzelnen slawischen Nationen stärken sollten.23 Als Ergebnis der Umfrage bat die Redaktion von »Máj« den in Prag ansässigen Tschechischen Nationalrat (Národní rada česká), die Idee zu diskutieren, im Jahre 1908 einen Kongress der slawischen Völker zu veranstalten, die an den berühmten Prager Slawenkongress von 1848 erinnern sollte: »Der unterzeichnete Redaktionsausschuss des ›Máj‹ hat im vorigen Jahr in den Spalten seiner Zeitschrift eine Enquete über die Frage eines gemeinsamen national-kulturellen Vorgehens der Slawen im Reiche veranstaltet. Hervorragende Vertreter diverser Zweige slawischer Kulturarbeit haben sich ums Wort gemeldet. Der Erfolg der Enquete war ein anregender: Der gemeinsame Vorgang ist nicht nur möglich, sondern im Interesse des gemeinsamen Vorteils sogar notwendig. Eine Menge von Gründen, welche aus dem praktischen Leben geschöpft sind, ist zusammengetragen. Und übereinstimmend lautete die Ansicht: Den Tschechen fällt die Aufgabe zu, die Initiative zu ergreifen. Im nächsten Jahr ist der 60jährige Gedenktag des großen slawischen Kongresses des Jahres 1848. Nach unserer Meinung kann die Erinnerung an dieses bedeutungsvolle Datum nicht passender gefeiert und zugleich einer dringenden Aufgabe gedient werden, als durch entsprechende Erfassung des Moments, der sich anbietet.«24 Der »löbliche Ausschuss« des Nationalrates nahm sich der Sache an und formulierte im Entwurf eines Einladungsschreibens, dass er bei aller Jubiläumsrhetorik auf eine neue slawische Politik aus war, auch ohne explizit den Begriff des Neoslawismus zu verwenden: »Haben wir uns, wir Slawen, an diesem denkwürdigen Datum etwas Ernsthaftes zu sagen oder nicht? Vor 60 Jahren endete der Versuch eines gemeinsamen slawischen Vorgehens resultatlos. Damals konnte es nicht anders sein! Die Verhältnisse der Völker waren unentwickelt, die nationale Arbeit war kaum in den Anfängen. Heute ist es anders! Heute streben die slawi23 Vgl. Vyšný, S. 56. 24 Zitiert aus den gedruckten »Materialien zur Begründung des Todesurteils gegen Karel Kramář, Alois Rašin, Vinzenz Červinka und Josef Zamazal«, vgl. Urteil gegen Dr. Karel Kramář und Genossen S. 211–212.

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schen Nationen mit Recht nach einer besseren Zukunft, indem sie auf die gegangenen Wege ihrer Lebenskraft und Fähigkeiten blicken.«25

Das neoslawische Programm Als Ende November 1907 in Wien ein Treffen von slawischen Abgeordneten des Reichsrates zusammentrat, die sich für die Prager Kongressidee interessierten, waren Vertreter aller »Slawenvölker« Österreichs anwesend, bis auf die Polen. Kramář legte ihnen sein Programm der neoslawischen Bewegung dar: eine Ersetzung des panslawischen Prinzips »Orthodoxie, Autokratie, Nationalität« durch die demokratische Prinzipientrias »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«. Als Grundvoraussetzung jeglichen Fortschritts in Richtung einer neuen innerslawischen Verständigung sah auch er die Klärung der bilateralen Verhältnisse zwischen den Russen und Polen an. In diesem Sinne trat der kroatische Abgeordnete Ante Tresić-Pavičić dafür ein, den geplanten Kongress in St. Petersburg abzuhalten. Sein in einem Brief formulierter Vorschlag wurde kurz vor einer zweiten Sitzung in der russischen Zeitschrift »Novoje vremija« veröffentlicht. Hierin begründete er das Vorhaben – erneut unter direktem Bezug auf die veränderte globale Machtkonstellation – mit dem Argument, durch ein großes slawisches Zusammentreffen in Russland, dessen Interesse an den Westslawen zu stimulieren und der Welt zu signalisieren, dass die Slawen trotz des desaströsen Ausgangs des Russisch-Japanischen Krieges weiterhin Stärke zeigen.26 In Russland vollzog sich zeitgleich eine Reaktivierung der Slawischen Wohltätigkeitsgesellschaften, die in den Russisch-Türkischen Kriegen der 1870er Jahre entstanden waren. Ihnen gesellten sich neue Organisationen hinzu, wie die in Moskau entstandene »Gesellschaft der slawischen Kultur« (Občestvo slavjanskoj kul’tury) oder wie die im April 1908 gegründete Petersburger »Gesellschaft der slawischen Wissenschaften« (Občestvo slavjanskoj nauky). Die auf der Gründungsversammlung der Letzteren vom konstitutionellen Demokraten S. A. Kotljarevskij in seiner Eröffnungsrede vorgetragenen Überlegungen machten einmal mehr den Konnex von russischer Kriegsniederlage gegen Japan und russischer Hinwendung zu einer neuen slawischen Politik mit Zielrichtung Balkan deutlich. Caspar Ferenczi fasste diese paraphrasierend so zusammen:

25 Ebd., S. 212. 26 Vgl. Vyšný, S. 63 f.

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»Die ›Lektion‹, die das autokratische Rußland im Fernen Osten erhalten habe, habe zu einer Generalrevision der gesamten auswärtigen Politik gezwungen. Die Schwächung in Ostasien habe sich auch auf den Nahen Osten ausgewirkt, wo sich die Gewichte zugunsten Österreich-Ungarns und des hinter ihm stehenden Deutschen Reiches verschoben. Zurückgeschlagen im Fernen Osten, mußte sich die Aufmerksamkeit Rußlands um so mehr auf den Balkan richten.«27 Bereits im März hatte man in St. Petersburg über den geplanten Slawenkongress debattiert und namens der »Gesellschaft der Vertreter des öffentlichen Lebens« beschlossen, den ehemaligen General und Professor an der Militärakademie M. V. Volodomirov nach Prag und Wien zu entsenden, um den politischen Führern der österreichischen Slawen eine Einladung nach St. Petersburg zu überbringen. Nach Fischel sprach Volodimirov in Prag »von der slawischen Idee, die in Böhmen entstanden sei, und verkündete, daß die Russen und die Tschechen der Welt beweisen wollten, daß zwei slawische Nachbarstaaten friedlich nebeneinander leben können. Ein Kongreß zum Zwecke der Annäherung und Vereinigung der slawischen Nation auf dem Gebiete der Wissenschaft, der Literatur, des Handels und Gewerbes sowie auch der körperlichen Erziehung sei notwendig, nicht minder eine slawische Liga oder ein so gearteter Bund zur Verwirklichung seiner Beschlüsse und zur Vorbereitung der Beratungsgegenstände für solche künftigen Versammlungen.«28 In Wien einigte man sich wenig später darauf, eine Delegation von drei slawischen Reichsratsabgeordneten zu bilden, die von der Donau an die Newa reisen sollten. Ihr gehörten, neben dem Tschechen Kramář, der Slowene Hribar sowie der aus Galizien stammende Glěbovickij an. Das slawische Trio brach Ende Mai 1908 nach Russland auf – nicht ohne die Zustimmung des Wiener Außenministers Graf Aehrenthal und des Regierungschefs Baron Beck. Ersterem wurde Anfang Juni vom Botschafter Graf Berchtold aus Petersburg berichtet: »Die Idee, in deren Diensten sich Dr. Kramář gestellt, hätte, im richtigen Bette eingedämmt, gewiß etwas Gesundes an sich, namentlich in Bezug auf

27 Ferenczi, S. 73. 28 Fischel, S. 514.

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das Verhältnis Österreich-Ungarns zum russischen Nachbarstaat«.29 Der Chef vom Wiener Ballhausplatz reagierte darauf mit einem Schreiben, in dem er das Bemühen der Slawen um ihre Einheit als vorteilhaft für die Beziehungen zu Russland darstellte und festhielt, es sei nicht unmöglich, dass der Neoslawismus den Interessen Österreichs auf dem Balkan in die Hände spielen könnte.30 Auf der russischen Seite war mit Piotr Struve bereits im Januar 1908 der führende Politiker der konstitutionellen Demokraten, also der Kadettenpartei, mit einem in der Reihe »Russkaja mysl« veröffentlichten programmatischen Artikel hervorgetreten.31 Unter dem Titel »Velikaja Rossija (Großrussland)« redete er der strategischen Hinwendung Russlands in Richtung Naher Osten das Wort32 und plädierte für eine neue Haltung gegenüber den Polen, wodurch eine Annäherung an Österreich erreicht werden könnte, das »jetzt im Prinzip eine slawische Macht« sei.33 Graf Grigorij Trubeckoj hatte im März in »Slovo« verlauten lassen, Russland als Großmacht müsse auf dem Balkan »Hand in Hand mit den Slawen« handeln und dafür sorgen, »die Interessen das Slawentums (zu) europäisieren«.34 Unter solchen atmosphärischen Bedingungen veranstaltete man in St. Petersburg eine »Slawische Woche«35 zu Ehren der slawischen Dreierdelegation aus Wien. Neben gesellschaftlichen Banketts und Empfängen ist mit Blick auf das transnationale Neoslawismus-Projekt der Besuch in der Duma zu erwähnen, wo Roman Dmowski der polnischen Fraktion vorstand. Dieser hatte kurz zuvor eine bald auch ins Französische übersetzte Schrift über Deutschland, Russland und die Polenfrage veröffentlicht, in der er den Polen eine Funktion als Schutzwall gegen das deutsche Expansionsstreben zuwies: »Diese heutige 29 Zitiert nach Zeil, S. 43. 30 Vgl. Vyšný, S. 72. 31 Struve. 32 Mit dem Hinweis auf den von Struve eingedenk der fernöstlichen Niederlage von 1905 stark gemachten Punkt einer strategischen Neuorientierung Russlands beginnt auch das Neoslawismus-Kapitel einer kleinen Schrift, die unmittelbar nach der militärischen Niederschlagung des Prager Frühlings erschien und in einem klarem ideologischen Zusammenhang mit der Neuorientierung der sowjetischen Außenpolitik unter Brežnev zu werten ist. Herman u. Sládek, S. 25–37. 33 Der Artikel wurde später in Auszügen von »The Russian Review« englisch veröffentlicht. Die entsprechende Passage lautet: »Our Polish Policy should serve to draw us nearer to Austria, which is now principally a Slavonic power. A liberal Polish policy will enormously raise our prestige in the Slavonic world and psychologically will quite naturally create for the first time in history a moral tie between us and Austria as a state. Economically, we shell ever be in competition in the Near East; but this be softened and smoothed if there is between us a moral and political solidarity.« Zitiert nach Vyšný, S. 75 f. 34 Nach Ferenczi, S. 77. 35 Vgl. den Abschnitt »Die Petersburger Slawenwoche vom Mai 1908« in ebd., S. 79–91.

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Rolle unserer Nation muß bewirken, daß die polnische Frage in naher Zukunft zu einer der wichtigeren europäischen Fragen wird.« Und als Dmowski dann mit den österreichischen Handlungsreisenden in Sachen Neoslawismus Kramář, Hribar und Glěbovickij zusammentraf, erklärte er: »Die slavische Frage ist unser ohne Bedingungen, ohne Vorbehalt«.36 Wie erwähnt, war den höchsten Vertretern der Wiener Außenpolitik an einer Ausnutzung des Neoslawismus zur Verbesserung der bilateralen Beziehungen mit Russland gelegen. Entsprechend wurde bereits von den Zeitgenossen besonders hervorgehoben, dass die slawische Reichsrats-Delegation von Premier Stolypin empfangen wurde. Eine Unterredung mit Außenminister Izvolskij hingegen fand nicht statt. Letzterer reiste Mitte September 1908 nach Mähren, wo er auf Schloss Buchlau seinen Amtskollegen Aehrenthal traf, womit der diplomatische Annährungsversuch kulminierte, zugleich aber auch schon das Ende aller austro-russischen Allianzbestrebungen markiert und das machtpolitische Interesse beider Seiten am Neoslawismus obsolet geworden war.37

Ein Prager Feuerwerk transnationaler Verflechtungspläne und das Scheitern des Neoslawismus-Projektes Die Entscheidung, in Prag Mitte Juli einen »vorbereitenden« neoslawistischen Kongress abzuhalten, dem dann eines Tages der »richtige« in Russland folgen würde, war Anfang Juni während der Petersburger »Slawischen Woche« gefallen. Hatte es im weiter oben zitierten Schreiben der »Máj«-Redaktion an den Tschechischen Nationalrat, mit dem die allslawische Kongress-Idee in die Welt gelangt war, noch geheißen: »Ein Jahr Arbeit ist hierfür keine zu lange Frist«,38 blieben den Organisatoren an der Moldau schließlich ganze sechs Wochen Zeit zur Vorbereitung des Prager Neoslawisten-Kongresses. Aus Anlass seiner Eröffnung am 13. Juli 1908 brachte die in Brünn erscheinende Tageszeitung »Lidové Noviny« einen Artikel, in dem das neoslawische Programm in einer Art umrissen wurde, wie es knapper kaum ging: »Das Ziel des Neoslawismus ist die Organisation der praktischen slawischen Wechselseitigkeit, ein Versuch, wie aus der slawischen Wechselseitigkeit, 36 Zitiert nach Feldmann, S. 380, 382. 37 Bridge. 38 Urteil gegen Dr. Karel Kramář und Genossen, S. 212.

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welche bisher eine Sache des Gefühls war und ist, ein Hebel zur wirtschaftlichen und kulturellen und dadurch auch des politischen Fortschritts der slawischen Völker zu machen wäre. Es ist dies ein unerläßlicher Versuch; denn zur Wechselseitigkeit bewegen die Slawen nicht bloß die Gefühls-und Rassenbande, welche sie verknüpfen, sondern die realen Verhältnisse und die internationale Weltlage.«39 Der Kongress selbst begann im Ratssaal des Altstädter Rathauses unter hoher Medienaufmerksamkeit. Nach der Begrüßung der 83 Delegierten durch den Prager Bürgermeister war es Kramář, der »im Namen der Arrangeure« und unter Nutzung der tschechischen, slowenischen, serbokroatischen, bulgarischen, polnischen und russischen Sprache die angereisten Delegationen willkommen hieß – den nicht anwesenden Polen aus dem deutschen Teilungsgebiet sowie den Slowaken und Lausitzer Sorben wurden Grußbotschaften gesandt. In seinem Hauptreferat legte er es darauf an, die politische Bedeutung des Prager Treffens möglichst herunterzuspielen: »Auf unserem Kongresse wollen und dürfen wir uns in die Angelegenheiten eines anderen Staates nicht mischen. Alles, was wir können und machen dürfen, ist, daß sich die Idee der slawischen Reziprozität und der slawischen Brüderlichkeit durch unsere Verhandlungen festige, vertiefe und in den Herzen aller Slawen feste Wurzeln fassen möge. Wir wollen die Mittel finden, welche das slawische Einvernehmen im praktischen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben durchführen würden. … Wir wollen keine Throne stürzen, wir wollen keine Reiche und Staaten vernichten, nein, wir wollen nur ein Großes und Ganzes fühlen, verbunden durch gemeinsame kulturelle Interessen, damit wir zerteilt, uneinig einer nach dem anderen unter dem Drucke der mächtigen, organisierten und planmäßigen kulturellen und wirtschaftlichen Expansion nicht verfallen.«40 Die Agenda der folgenden drei Konferenztage41 war dann vor allem von Themen bestimmt, wie sie der Slowene Hribar bereits in seinem Beitrag zur »Máj«Enquete von 1906 mit dem Ziel einer breiten Zusammenarbeit auf den Feldern 39 Deutsche Übersetzung in Fischel, S. 524. 40 Zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Urteil gegen Dr. Karel Kramář und Genossen, S. 20. 41 1910 erschien in Prag ein Protokollband »Jednání I. připravného slovanského sjezdu v Praze 1908«.

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von Wirtschaft und Kultur umrissen hatte. Die aktuelle Politik wurde, wie von Kramář im Vorhinein angekündigt, dezidiert ausgeklammert. Gleichwohl war es gerade diese Politikferne, die bereits von den Zeitgenossen als Schwäche des in Prag zelebrierten neoslawistischen Projektes diagnostiziert wurde. Ihm fehle, wie der als »tschechenfreundlich« geltende Fürst Schwarzenberg im November 1910 bemerkte, besonders »ein Moment: das der Stabilität. … Der Neoslawismus leidet aber noch an einem anderen Fehler, der von Dr. Kramarč [sic!] gerade als ein Vorzug hingestellt wird: dem Mangel einer politischen Bedeutung«.42 In dieselbe Richtung argumentierte Edvard Beneš noch sehr viel später in seinen während des Zweiten Weltkrieges als tschechoslowakischer Exilpräsident in London verfassten »Erwägungen über das Slawentum«. Ein ganzes Kapitel dieser mit Blick auf die zu erwartende starke Rolle der Sowjetunion im Nachkriegseuropa verfassten Schrift hatte Beneš dem Novoslovanství gewidmet. Der neoslawischen Bewegung attestierte er eine »starke Halbherzigkeit«: »über die kulturelle Einheit und die wirtschaftliche Zusammenarbeit der Slaven zu reden und dabei zu verkünden, die Bewegung solle nicht politisch sein, kann man nicht als aufrichtig bezeichnen. Eine historische Erforschung des Problems der slawischen Solidarität zeigt, dass es überall dort, wo man den Grundsatz allein der ›kulturellen‹ Gemeinsamkeit und Zusammenarbeit ohne politische Erwägungen und Konsequenzen zum Ausdruck brachte, immer mit einem Misserfolg endete. Als man nämlich nach den Kongressbeschlüssen begann, das Problem der kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit weiter zu verfolgen und zu untersuchen, wurde augenfällig, dass das Problem eminent politisch und international war«.43 Aus der Perspektive von 1908 aber konnte es keinen Zweifel geben, dass für die gastgebende tschechische Seite mit Blick auf die industrielle Fortschrittlichkeit der böhmischen Länder vor allem die ökonomische Agenda des Prager Neoslawistentreffens von größtem Interesse war. Dies betraf namentlich die Planungen zur Gründung einer slawischen Bank sowie zur Veranstaltung einer slawischen Industrieausstellung. In Bezug auf den Banken-Plan wurden auf dem Kongress verschiedene Varianten präsentiert: der kleinere, mit einem Stammkapital von vierzig Millionen Rubel nach dem Vorbild der Deutschen 42 Zitiert in von Sosnovsky, S. 246 f. 43 Kursivierungen wie im tschechischen Original, Beneš, S. 195.

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Bank, stammte vom Direktor der größten tschechischen Bank (Živnostenská banka), Jaroslav Preiss.44 Mit 37 Jahren galt der unlängst in einem Buchtitel als »Banker der Ersten Republik«45 betitelte Finanzfachmann auch in jenen Tagen als jung. Er zählte zu den engsten Vertrauten von Kramář.46 Der andere, größere Plan stammte von dem bereits mehrfach erwähnten Slowenen Hribar und ging von fünfzig Millionen Rubel Stammkapital aus, welches nach zwei Jahren verdoppelt werden sollte. Beide Pläne sahen Filialen in Paris und London vor, der von Hribar ebenso in Konstantinopel, Alexandria und Kairo. Obgleich die russischen Delegierten die Bank-Idee eigentlich für eine pure Phantasie hielten, stimmten sie letztlich der Bildung eines Bank-Komitees zu, das sich künftig in Warschau treffen sollte – was allerdings nie zustande kam.47 Was den Ausstellungsplan betraf, so griff man damit eine ältere Idee auf, die 1901 mit dem Ziel einer in St. Petersburg abzuhaltenden Exposition slawischer Volkskunde und Kunst entwickelt, aber wegen des Russisch-Japanischen Krieges nicht verwirklicht worden war. Namentlich die tschechische Delegation trachtete danach, den ursprünglichen Kulturfokus um einen Wirtschaftsschwerpunkt zu erweitern. Das Ziel war klar: es bestand darin, eine Bühne für die Präsentation tschechischer Industrieprodukte zu bekommen und diese auf dem aus politischen Gründen schwer erreichbaren russischen Markt zu platzieren. Von Seiten der Delegierten aus Russland wurde der Plan einer zwischen 1911 und 1915 zu realisierenden Ausstellung nicht a limine abgelehnt – was daran gelegen haben mochte, dass man als Ort dafür Moskau in den Blick nahm. Einer der nach Prag gereisten Russen fasste die Vorteile so zusammen, dass man sich mit der slawischen Industrieproduktion vertraut machen sowie zugleich die Möglichkeit bekommen könne, Felder für einen erfolgreichen Wettbewerb mit deutschen, englischen und vielleicht auch amerikanischen Produkten auszumachen.48 Bezüglich der neoslawischen Kooperation auf den Feldern von Kultur und Bildung wurden in Prag im Sommer 1908 Planungen diskutiert, die nach den Vorhaben der Europäischen Gemeinschaft in ihren frühen Tagen klangen: der Transfer von wissenschaftlichem und technologischem Know-how, der Austausch von Wissenschaftlern und Studenten, der Tausch von Büchern, die Bil44 Die tschechischen Vorschläge wurden in einem gedruckten Bericht zusammengefasst: Slovenská banka. 45 Kosatík. 46 Kubů u. Šouša. 47 Vgl. Vyšný, S. 102–105. 48 Ebd., S. 106.

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dung gemeinsamer Organisationen von Journalisten und Sportlern sowie die gezielte Beförderung des Tourismus – alles in allem äußerst modern anmutende Ideen, aber eben bewusst begrenzt auf die slawischen Länder und Völker. In dem Bestreben einer möglichst raschen Realisierung einigte sich der Kongress auf die Bildung eines Exekutivkomitees. Dieses stand natürlich unter der Leitung von Kramář und hatte die Aufgaben, die nächsten Kongresse vorzubereiten und Komitees für slawische Wechselseitigkeit mit gesonderten Sektionen für Kultur, Wirtschaft, Tourismus, Sport und Journalismus zu schaffen.49 Das Prager Feuerwerk der hier kurz erwähnten Planungen aber blieb, wie es einer der russischen Delegierten offen sagte, ein Strohfeuer. Gleichwohl waren es die russischen Delegierten, die eingedenk des oben beschriebenen und an der Moldau wiederholten Einschwenkens des Polen Dmowski auf die neoslawistische Linie eine Deklaration durchsetzten, in der es hieß: »Die slavische Konferenz erkennt die Lebensfähigkeit und Fruchtbarkeit der Idee einer allgemeinen slavischen Vereinigung an, auch hält sie es für diesen Zweck für unumgänglich notwendig, daß Unstimmigkeiten und Mißverständnisse unter den slavischen Völkern beseitigt werden, was einzig und allein erreicht werden kann durch allgemeine Anerkennung und Anwendung der Grundsätze der Gleichberechtigung und der freien Entwicklung jedes Volkes, durch Anerkennung seiner kulturellen und nationalen Besonderheit.«50 Scharfe Kritik seitens der Polen im russischen Teilungsgebiet ließ nicht lange auf sich warten. Im September 1908 betonte die radikale Zeitschrift »Krytyka«: »Die polnische Frage ist eine polnische und nicht eine slavische Frage, und wir müssen uns mit aller Kraft von allen möglichen Tribünen dagegen verwahren, daß die polnische Frage im slavischen Meer ertränkt werde.«51 Als Indiz dafür, dass der Prager Kongress international auch außerhalb der slawischen Welt wahrgenommen wurde, spricht der Bericht des britischen diplomatischen Vertreters in Wien an das Foreign Office, wo zu lesen war: »nevertheless, a great theatrical exhibition of Slav solidarity«.52 Und in der Tat, die Aufrechterhaltung einer wirklichen und belastbaren Solidarität sollte zur Herausforderung und zum Prüfstein der neoslawischen Bewegung werden. 49 50 51 52

Vgl. ebd., S. 109. Deutsche Übersetzung in Feldmann, S. 383. Ebd., S. 384. Zitiert nach Vyšný, S. 120.

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Als Österreich-Ungarn im Oktober 1908 Bosnien-Herzegowina annektierte und zum territorialen Bestandteil der Habsburgermonarchie erklärte, stellten sich die slawischen Deputierten des Reichsrates, inklusive Kramář und seiner Abgeordnetenkollegen, hinter die Annexion – mit dem Argument, durch diesen Schritt sei der slawische Anteil im Reiche vergrößert worden. Das offizielle Russland indes protestierte, wie auch Serbien, auf das Heftigste. Mit dieser von Belgrad sekundierten St. Petersburger Reaktion auf die Wiener Annexionstat war das Machtgefüge in der slawischen Welt wieder in ein von Russland bestimmtes Gleichgewicht gekommen. Seine militärische Niederlage im Fernen Osten hatte das Zarenreich mit diplomatischer Großmachtstärke in Europa wettgemacht. Unter diesen mächtepolitischen Rahmenbedingungen währte das transnationale Vernetzungsprojekt des Neoslawismus eigentlich nur einen Sommer. Kaum einer der auf dem Prager Kongress diskutierten Pläne eines gesamtslawischen Zusammenwirkens, das wie beschrieben von der Prämisse der Gleichheit aller slawischen Nationen ausging, wurde realisiert – auch wenn 1910 in Sofia noch ein zweiter »vorbereitender« slawischer Kongress stattfand.53 Einzig die in den verschiedenen nationalen Sokol-Verbänden organisierten slawischen Sportler trafen sich weiterhin zu gemeinsamen Leibesübungen. Zum Prager Sokol-Treffen (Sokolský Slet) von 1912 kamen dann slawische Turner aus Frankreich, England und den USA.54 Über die Ursachen für das Scheitern der neoslawistischen Planungen stellte der bereits erwähnte Otto Hoetzsch noch vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges sehr scharfsichtige Überlegungen an. Dabei reflektierte er weniger die globalen als die europäischen machtpolitischen Bezüge. Dem Gesamtprojekt bescheinigte Hoetzsch, dass es »durchaus demokratisch« gewesen sei, »denn dieser Neupanslawismus geht von dem Gedanken der Gleichberechtigung aller slawischen Nationalitäten aus«. Ohne sie als solche zu benennen, machte er indes zugleich klar, dass Raumordnungsvorstellungen jenseits der bestehenden Imperien keine realen Chancen auf Realisierung gehabt haben, denn diese ließen sich nur »in einem lockeren Staatenbunde oder Bundesstaate selbständiger, lokaler Autonomien unter Auflösung des [russischen] Gesamtstaates von heute [verwirklichen].« Zwar habe sich die Außenpolitik Russlands »auch des Neupanslawismus bedient«, aber eben immer nur da, »wo er ihr nützte und für ihre Ziele verwendet werden konnte«. In der Innenpolitik »hat die Regierung diese Bewegung nicht nur nicht [gefördert], sondern sie hat sich sogar an ihre 53 Ausführlich dazu das Kapitel »The 1910 Sofia Neo-Slav Congress« in: ebd., S. 164–209. 54 Dieses sportliche Großereignis ist dokumentiert in: Památnik šestého sletu všesokolského.

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Konsequenzen in der inneren Politik immer weniger gekehrt, je mehr sie sich wieder festigte.« Hoetzsch schloss mit der nachvollziehbaren Einschätzung, dass »der Neopanslawismus wohl ein mächtiges und tiefgewurzeltes Gefühl« gewesen sei, das »zuzeiten elementar hervorbrechen und im bestimmten Moment zu bestimmter Stellungnahme zwingen« konnte, letztlich jedoch für Russland eine »gefährliche Situationen« geschaffen habe, denn »er reißt den russischen Staat, wie er heute besteht, in Stücke«.55

Der Neoslawismus als Teil einer transnationalen Geschichte des Russisch-Japanischen Krieges von 1904/05 Wie neuere internationale Forschungsergebnisse belegen, wurde mit dem Sieg Japans über Russland weltweit ein Prozess nationaler Emanzipationen in Gang gesetzt. Ablesbar ist dies an der Revolution in Persien 1905, der Jungtürkischen Erhebung 1908 und nicht zuletzt an der Absetzung des Kaisers von China 1911. Russlands Niederlage galt in Asien als erster erfolgreicher Schlag gegen die europäischen Großmächte. In Indien, wo »Japan um 1904/05 zum großen Vorbild wurde«, führte diese Einschätzung zu einer ungeahnten national-emanzipatorischen Begeisterung.56 Während man in Japan selbst panasiatische Phantasien pflegte, entstand in China ein »nationalism of a new type, directly related to the war«,57 in Ägypten begann sich ein arabischer Nationalismus zu entwickeln.58 Was in Bezug auf diese transnationale (Nach)Geschichte des RussischJapanischen Krieges hier nur in aller Kürze Erwähnung finden kann, führt zu der These, dass genau in diesem fern von Europa geführten Krieg die globalen Rahmenbezüge des in Prag 1908 zelebrierten Neoslawismus zu finden sind – nur eben mit umgekehrten Vorzeichen: Nicht auf das siegreiche Japan, wie die Inder und Araber in den Britischen Kronkolonien, oder wie auch die Perser und Jungtürken, waren die Neoslawisten orientiert, sondern auf das unterlegene Russland. Nimmt man also die parallelen Bezüge auf beide fernöstlichen Kombattanten von 1904/05 in den Blick, wirkte die im Gefolge des Krieges begonnene Neujustierung im Rahmengefüge der imperialistischen Weltmächte nicht nur direkt nach Asien, sondern auch indirekt nach Ostmittel- und Südosteuropa. Der Unterschied bei aller strukturellen Ähnlichkeit bestand aber 55 56 57 58

Hoetzsch, S. 447–449. Dharampal-Frick, S. 262. Anshan, S. 492 Marks.

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Vernetzungsimpulse aus Fernost

darin, dass in Indien und in China (und auch in Ägypten) neue Nationalismen auf den Plan traten, während man in der slawischen Welt daran ging, alte Nationalismen transnational zu bündeln. Wenn man sich zudem vor Augen hält, dass den Neoslawisten bei ihren hier geschilderten Planungen die seinerzeit boomenden Weltkongresse ebenso wie die Weltausstellungen als Modell dienen konnten, kann es keinen Zweifel geben, dass ihre kurzlebige Vernetzungsbewegung als integraler Teil jener Vielfalt behandelt werden muss, von der die weltweiten Transnationalisierungsprozesse an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gekennzeichnet waren.

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Vernetzungsimpulse aus Fernost

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Ostmitteleuropäische Städte als Arenen der Verhandlung nationaler, imperialer und lokaler Projekte

Städte gelten als Vielfaltsorte par excellence. Es macht ihr Faszinosum aus, dass diese Vielfalt sich im historischen Wandel immer wieder anders äußerte, aber an der Stadt als Ort der Zurschaustellung, Aushandlung, auch der konflikthaften Austragung von Differenzen nichts änderte. Ob wir die korporatistisch-konfessionelle Organisation von Vielfalt in der vormodernen europäischen Stadt betrachten, wo Stand, Rechtsstatus und Bekenntnis das Kriterium der Abgrenzung (aber auch die Grundlage der Koexistenz) darstellten, oder ob wir uns mit der wachsenden Bedeutung von sprachlich-kulturellen Identitätskonstruktionen beschäftigen, welche im Zeitalter der Hochmoderne die althergebrachten Konfliktlinien verschoben: Stets ist die Stadt als sozialer Organismus und als materielle gebaute Umgebung ein Ort extremer Verdichtung solcher Erscheinungsformen von Vielfalt. Auch heutige Diskussionen über Vielfalt im städtischen Raum stehen letztlich in dieser Tradition: Ob es um die uralten Anpassungsstrategien der Neuankömmlinge in den heutigen arrival cities geht oder um die Zukunft urbanen Zusammenlebens in heutigen polykulturellen Stadtlandschaften, welche durch ethnokratische Regimes1 und partikulare Identitätspolitiken bedroht scheinen – alle Beteiligten berufen sich auf vorher gemachte historische Erfahrungen, und zeitgenössische Probleme scheinen historische Erfahrungen wiederaufleben zu lassen. Es kann beispielsweise beobachtet werden, dass in den Städten Ostmittel- und Südosteuropas im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert der Wechsel von imperialen zu ethnokratischen Regimes massive Auswirkungen auf die Aushandlungsformen von kultureller Differenz im urbanen Raum hatte.2 1 2

Yiftachel; Yiftachel u. Roded. Der von dem isrealischen Geografen Oren Yiftachel entwickelte Begriff der Ethnokratie stammt aus der Diskussion um Identitätspolitik und Territorialansprüche im Zusammenleben von jüdischen und arabischen Israelis bzw. arabischen Bewohnern der Westbank und des Gaza-Streifens. Er bezeichnet hegemoniale Regimes, die in Territorien ethnischer Diversität Rechtsstatus und Rechtsansprüche der Bürger bzw. Bewohner in ihrem Machtbereich an deren ethnische Zugehörigkeit koppeln. Städte, insbesondere solche mit hohem religiösen und historischen Symbolwert wie Jerusalem sind dann Fokus und Arena der Austragung von Konflikten, denen oft Versuche eines »urban colonialism« seitens der hege­­ monialen Gruppe zugrunde liegen. Yiftachel u. Roded bezeichnen den Ansatz als »rather

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Ostmitteleuropäische Städte als Arenen der Verhandlung

Im Zeitalter nationaler Vergesellschaftungsangebote, das in Ostmitteleuropa Ende des 18. Jahrhunderts mit dem polnischen Konstitutionalismus einsetzte und in der 1848er Revolution einen ersten Höhepunkt erfuhr, trat der neue Faktor der nationalen Identität neben die bis dahin bedeutenden Faktoren der ständischen und der konfessionellen Verfasstheit. In Öffentlichkeit und Forschung sind die Großstädte Ostmitteleuropas vor allem als Aushandlungsorte »ethnischer« bzw. »kultureller« Vielfalt des 19. und 20. Jahrhunderts wahrgenommen worden, wobei man häufig voreilig das eine mit dem anderen gleichsetzt(e). Das Vorhandensein ethnischer, das heißt an die Herkunft und Sprache gebundener »Identitäten« im urbanen Raum wurde und wird dabei implizit vorausgesetzt. Gleichwohl fordert gerade der städtische Ort, an dem doch vordergründig die propagandistische Integration und soziale Kommunikation der werdenden ostmitteleuropäischen Nationsgesellschaften ihren Anfang nahm, unser kritisches Nachdenken über den Zusammenhang von »Vielfalt«, »Kultur« und »Identität« heraus. Seit Beginn der 1990er Jahre hat die Diskussion verschiedener Konzeptionen kollektiver Identität auch eine grundsätzliche Infragestellung des Begriffs und die Kritik seines inflationären Gebrauchs hervorgebracht und mündete unter anderem in den Versuch, seine »heimlichen Quellen« (Niethammer) offenzulegen oder die Entstehung von Identitätskonstruktionen stärker an die lebensweltlichen Erfahrungen der Akteure anzubinden (Geertz).3 In diesem Zusammenhang wurde auch versucht, dem Phänomen urbaner Identitätsbildung und ihrem Verhältnis zu national(staatlichen)en, imperialen oder ethnokulturellen Identitätskonstruktionen auf die Spur zu kommen. Vor allem die Literatur zu Imagebildung, Touristifizierung und städtischer Selbstvermarktung ist hier zu nennen.4 Für die historische Forschung richtungwei­send war die Umorientierung der Perspektive, die – wie es die Vertreter der »New Urban History« und später der »Urban Anthropology« gefordert haben – den städtischen Schauplatz nicht mehr nur wegen der gut eingrenzbaren Datenbasis als bequemen Untersuchungsrahmen der Sozialgeschichte in den Blick nahm. Hier ging es vielmehr um die Besonderheit des urbanen Raums und die Analyse der aimed at a ›meso‹ level of generalization, relevant mainly to states forcefully promoting ›ethnocratic‹ projects«. Er lässt sich modifiziert auf einige Aspekte der »Nationalitäten­ konflikten« des 20. Jahrhunderts in Ostmittel- und Südosteuropa anwenden, ­Yiftachel; Yiftachel u. Roded. 3 Niethammer; Geertz. 4 Kiecol; Reulecke u. Zimmermann, Die Stadt als Moloch?; Deriu; Brunn u. Reulecke; Cocks; Judd u. Fainstein; Philo u. Kearns; Ward, Selling places; Buse; Engman; Konrad.

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Wechselwirkungen städtischer Schauplätze und urbaner Raumstrukturen mit Lebenswirklichkeit und Wir-Gefühl der Stadtbewohner.5 Ein Großteil der Untersuchungen europäischer Städte behandelt allerdings unter Gleichsetzung »bürgerlicher« und »urbaner« Identitäten bzw. Leitkulturen letztlich nur ein Segment urbaner Identitätsproduktion, eines, das oft die städtischen Arenen, vor allem den bespielbaren öffentlichen Raum für sich monopolisierte: den bürgerlichen Stadtpatriotismus und die vom städtischen Bürgertum geprägten Formen und Felder von Urbanität, deren räumliche Orientierungspunkte mit der Konstellation Rathaus/Salon/Stadttheater beschrieben werden könnten. Meist liegt der Schwerpunkt solcher Untersuchungen auf dem »langen« 19. Jahrhundert und dem ihm eigenen Formen städtischer Selbstdarstellung, wie wir sie von bürgerlichen Repräsentationsbauten wie Stadttheatern, Opernhäusern und Denkmälern kennen.6 Die Straßen, Höfe, Märkte und Spelunken als Räume der Konstitution alternativer, fluider oder devianter Teilöffentlichkeiten sind aber erst in neuerer Zeit ins Blickfeld der Forschung geraten. Es gibt einige aufschlussreiche Einzelstudien, die den Untersuchungszeitraum vom bürgerlichen Zeitalter auf die Kriegs- und Zwischenkriegszeit erweitern und Einblick in die Genese neuartiger großstädtischer kultureller Praktiken, Freizeit- und Konsummuster7 oder in die Neuformierung urbaner Identitäten unter den Bedingungen exogener Krisen und Umwälzungen8 gewähren. In solchen Zusammenhängen treten auch andere Akteure als Produzenten und Konsumenten urbaner Kultur in das Interesse der Untersuchung. Im Mittelpunkt stehen hier allerdings meist die europäischen Hauptstädte wie Berlin, Paris, Wien oder London.

Ostmitteleuropäische Städte als Arenen der Verhandlung von Identitäten und Raumkonzepten Auch die Städte Ost- und Ostmitteleuropas sind vorwiegend als urbane Schauplätze des bürgerlichen Zeitalters, also der Epoche vor dem »Katastrophen5

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Vgl. auch die aus verschiedenen disziplinären Blickwinkeln (Geschichtswissenschaft, Lite­ raturwissenschaft, Kunstgeschichte) ansetzenden GWZO-Forschungsprojekte zu urbanen Identitätsformen und ihrer Medialisierung in Ostmitteleuropa. Grundlegende ältere W ­ erke sind Hershberg; Rodger; Bommer. Lees; Roth; Kannonier u. Konrad; Uhl, Leipzig und Laibach/Ljubljana; dies., Urbane Identität und Politik; Haas u. Stekl; Sprengnagel; Mannová; Melinz u. Zimmerman; Ther. Neuere Studien zu urbanen Konsumpraktiken und Werbung als neue Form von urbaner Kultur sind Borscheid u. Wischermann; Schwartz; Fritsche; Jelavich. Winter u. Robert.

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Ostmitteleuropäische Städte als Arenen der Verhandlung

zeitalter« 1914–1945 (Hobsbawm),9 gewürdigt worden. Dies trifft auch auf viele Geschichten der jüdischen Gemeinschaften in den ostmitteleuropäischen Metropolen zu.10 Integrierte und epochenübergreifende Ansätze sind seltener. Auch eine andere interessante Frage wird selten gestellt, nämlich inwieweit Erfahrungen des späten 19. Jahrhunderts das 20. Jahrhundert der Stadt präfigurierten. Sie könnte durch Untersuchungen beleuchtet werden, welche über Krise und Untergang der polykulturellen Stadtgesellschaften Ostmitteleuropas 1930–1947 hinausgreifen; auch die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges, welche durch Wiederaufbau, scheinbar unbegrenztes Wachstum und neue Formen kultureller Differenz das andere Extrem in Eric Hobsbawms Konzept des »Zeitalters der Extreme« repräsentiert, wird seltener diskutiert. Dabei ist gerade im Falle der ostmittel- und osteuropäischen Städte zu fragen, inwiefern nach den Epochenbrüchen 1914 und 1945 neue Urbanitätsformen dem durch Bevölkerungsaustausch und Systemwechsel bedingten Traditionsabbruch zum Trotz entstehen konnte, und welche Rolle die Erinnerung an das 19. Jahrhundert dabei gespielt haben mag.11 Gleichwohl repräsentieren die jeweiligen nationalen Forschungsstände häufig die Identitätspolitiken der Zeit nach 1989, die sich bewusst auf die positiv besetzte Zeit vor den Katastrophen beziehen. Die Nationalismusforschung, welche sich der urbanen Zentren in der Regel als Aggregations- und Entfaltungsort nationaler Bewegungen angenommen hat, wurde bereits erwähnt. Der spezifisch urbane Faktor in der nationalen Mobilisierung (denn es gab gerade in den agrarisch geprägten Gesellschaften, beispielsweise der Polen oder Ukrainer, eben auch den bedeutsamen ruralen Faktor)12 bzw. des Einflusses nationaler oder auch imperialer Territorialisierungspolitiken auf Urbanitätsvorstellungen ist hingegen noch wenig erforscht. Vor diesem Hintergrund sind die neueren Versuche, Städte über Epochengrenzen hinweg zu betrachten und bisher vernachlässigte Aspekte der Stadt 9 Hobsbawm. 10 Neuere Untersuchungen zu einzelnen Städten in Mittel- und Osteuropa sind Ledvinka u. Pešek; Purchla; Heppner; Hamm; Herlihy, Odessa; Berelovitch; Volkov; Ruble; Fäßler, Held u. Sawitzki; Karolczak u. Żaliński. Die sich ausschließlich auf die jüdische ­Stadtgeschichte konzentrierende Literatur kann hier aus Platzgründen nicht einzeln referiert werden, ver­ wiesen sei exemplarisch auf Minczeles; vgl. dagegen Guesnet; Hensel; van Rhaden. Eine Literaturübersicht zu Litauen bietet Schmidt, Neue Literatur zur Geschichte der Juden in Litauen. 11 Vgl. die respektiven Kapitel in Thum, Die fremde Stadt; Kuzmany; Ackermann; Koeltzsch, Geteilte Kulturen. 12 Stauter-Halsted; Struve.

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geschichten Ostmitteleuropas ins Blickfeld zu rücken, zu sehen. So kann man die Städte nicht nur als Orte besonderer Verdichtung politischer Trends wie der Nationalisierung oder der Massenpolitik, sondern vielmehr als spezifische Arenen der Aushandlung (und auch des Scheiterns) unterschiedlicher, sogar sich scheinbar gegenseitig ausschließender Integrationsangebote bzw. Raumkonzepte wahrnehmen. Der Erklärungsansatz der »Arena« legt nahe, dass es bestimmte Räume gibt, in denen die Kommunikation in besonderer Weise abläuft, in denen es »Akteure« und »Publika« gibt, und die bestimmte Rahmenbedingungen für die Interaktion festlegen. Meist wird aber der ArenenBegriff weniger zur Abgrenzung eines Interaktionsraumes im engeren Wortsinne, sondern synonym zum Systembegriff gebraucht: Holste, Hüchtker und Müller beispielsweise unterscheiden in ihrem Sammelband über Elitenwandel und Elitenstrategien des 19. Jahrhunderts Arenen des »Staatlichen«, »Ökonomischen«, »Politischen«, »Kulturellen« (und meinen offenbar die Systeme Politik, Wirtschaft, Kultur mit ihren unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten oder Luhmannschen Codes); auch werden »Politik«, »Markt«, »Zivilgesellschaft« – also Teilsysteme der Gesellschaft – als »Arenen« bezeichnet, in denen sich soziales Handeln manifestiert bzw. deren Regeln es gehorcht.13 An dieser Stelle soll die ostmitteleuropäische Stadt in einem direkteren Sinne als »Arena« verstanden werden, nämlich als gebauter und politischer Raum, der sich von anderen Ordnungen und ihren Territorialisierungsstrategien – dem Imperium, dem Nationalstaat oder der ethnisch definierten Gemeinschaft − unterscheidet, in dem aber diese unterschiedlichen Ordnungsformen und Identitätsangebote verhandelt wurden. Städte waren nicht die ausschließlichen Räume, in denen jene Angebote dann in politisches und symbolisches Handeln umgesetzt wurden. Auch Dorfgesellschaften und das »platte Land« waren keinesfalls leere und ereignislose Räume, sondern unterlagen denselben Prozessen. Aber in städtischen öffentlichen Räumen kamen in hoher Verdichtung oft konkurrierende oder koexistierende Projekte bzw. semiotische Markierungen zum Tragen. Um im Bild zu bleiben, waren die »Banden« der städtischen Arenen durch die Besonderheiten des städtischen Raums definiert. Dazu gehören sowohl die besondere Kommunikationsverdichtung in der Stadt – und ihre Voraussetzung, nämlich die gebaute Umgebung sowie im 19. und 20. Jahrhundert die städtetechnische Revolution; dazu gehören urbane Konsum- und Festpraktiken, die signifikante Dichte und gegenseitige Überlagerung von Erinnerungsort-Netzen unterschiedlicher Reichweiten in Städ13 Holste, Hüchtker u. Müller; Graf Strachwitz.

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Ostmitteleuropäische Städte als Arenen der Verhandlung

ten (insbesondere im Gefolge von Gewalterfahrung und Herrschaftswechseln), die kulturelle Ausdifferenzierung von sozio-ethnischen Milieus im Zeitalter der Massenkultur und -kommunikation; die Bedeutung von Akteuren an der Schnittstelle städtischer, staatlicher und privater Initiativen wie Universitäten oder Unternehmen.14 Viele dieser Teilaspekte sind nicht nur in Großstädten nachweisbar, denn kulturelle Differenzformen, Akteure unterschiedlicher Systeme gab es auch in Dörfern und Kleinstädten Ostmitteleuropas. Sie alle zusammen findet man aber nur dort.15

Identitäre und räumliche Konzepte zwischen Stadt, Nation, Region und Imperium Der Zeitraum vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg und seiner bis 1989 reichenden »Nachkriegs«zeit umfasst die Epoche des Trium­phes nationaler über transnationale Identitätskonstrukte in Mittelund Osteuropa. Nicht nur bestimmte die »nationale Frage« die politischen Tagesordnungen der Vielvölkerreiche, sondern es gelang nach dem Zusammenbruch der Imperien im Gefolge des Ersten Weltkrieges auch diversen nationalen Bewegungen, ihr erklärtes Ziel, die Errichtung eines Nationalstaates, durchzu­setzen. In den neu entstandenen Staaten wurde das Projekt der nationalstaatlichen Integra­tion zumeist mit der Durchsetzung kultureller und politischer Hegemonie der nun eine Mehrheit bildenden Titularnationen verbunden. In jenen Territorien, häufig Grenzterritorien, in denen die Titularnation nicht die Mehrheit stellte, war diese Durchsetzung mit einer Politik der Homogenisierung und Kontrollverschärfung, letztlich mit der Etablierung der eingangs erwähnten »ethnokratischen« Regimes verbunden. Ein Beispiel ist die Zweite Republik Polen, die in der Zwischenkriegszeit eine parlamen14 Schlögel, Jenseits des Großen Oktober; ders., Mariampole oder Europas Wiederkehr; ders., Moskau lesen; ders., Promenade in Jalta und andere Städtebilder; ders., Das Wunder von Nizhnij; Binder, Making and Defending a Polish Town; Chase; Hausmann, Universität und städtische Gesellschaft in Odessa 1865–1917; von Hirschhausen, Die Grenzen der Gemeinsamkeit; Hofmann u. Wendland, Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa 1900–1939; Hofmann, Peasant metropolis; Hrytsak u. Susak; Marek; Mick, Nationalisierung in einer multiethnischen Stadt; Penter; Venclova; Wendland. 15 Uhl, Zwischen »Habsburgischem Mythos« und (Post-)Kolonialismus; Bhatti; Csáky, Kury u. Tragatschnig; Mick, Kriegserfahrungen in einer multiethnischen Stadt; ders., Wer verteidigte Lemberg im November 1918?; Bohn, Das »Phänomen Minsk«: Stadtplanung und Urbanisierung; vgl. für Südosteuropa auch Brunnbauer.

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tarische Demokratie war, in den 1930er Jahren aber zunehmend autoritär und ethnokratisch regiert wurde: politische Partizipation und Zugriff auf Ressourcen wurden zunehmend zu einer Angelegenheit der Polen, also der Bürger polnischer Muttersprache und römisch-katholischer Konfession, was rund ein Drittel der Staatsbürger, vor allem Juden, Ukrainer und Belarussen, von ebenjener Teilhabe ausschloss.16 Selbst in der Sowjetunion, dem einzig dauerhaften imperialen System des 20. Jahrhunderts auf dem europäischen Kontinent, das mit – zumindest theoretischem − übernational-internationalistischem Anspruch agierte, wurden ethnische Kategorien zur Grundlage der territorialen Untergliederung. Sowohl die vordergründige Ethnisierung von Territorium als auch die faktische Hegemonialisierung durch die russische, als »allgemeinsowjetisch« bezeichnete Sprache und Kultur spielten in sowjetischen Integrationsprojekten bis zum Zusammenbruch der Union eine bedeutende Rolle. Der marxistische Klassenbegriff als Leitkategorie der Integration wurde dabei zunehmend ethnisiert.17 Gleichzeitig gab es immer auch komplementäre bzw. konkurrierende Identitätsangebote zu nationalstaatlichen und imperialen Projekten, die beispielsweise aus der Verbundenheit mit historischen Landschaften oder anderen Regionsbildungen sowie mit Städten als deren Zentren entstanden.18 In diesem Beitrag wird davon ausgegangen, dass urbane Identität und urbaner Raum als konkurrierendes, aber möglicherweise auch ergänzendes Element vor allem des Nationalen für die Aushandlungsprozesse in der städtischen »Arena« zum Tragen kam. Wichtig ist der Faktor der Ergänzung: Das städtische Element hat womöglich im Prozess der Territorialisierung des 19. und 20. Jahrhunderts eine größere Rolle gespielt, als es die in der Forschung häufig betonte Funktion des städtischen Raums als Gegenpol des zentralisierten Nationalstaats nahelegt. Auch heutige emphatische Definitionen der Stadt und der städtischen Öffentlichkeit betonen den transnationalen Charakter der Stadt, die Ambivalenzen und die Polykulturalität des städtischen Schauplatzes sowie den für das 20. Jahrhundert konstitutiven neuen psychologischen Typus des Großstädters. Das Konzept der »Urbanität« als besondere und höchste Form von Zivilität hat immer eine große Anziehungskraft gehabt und erscheint der Integration des städtischen Raumes in den Zentral- und Nationalstaat diametral entgegen16 Hensche u. Stach; Schenke. 17 Zur schleichenden Substitution des marxistischen Klassen-Begriffes durch einen stalinistischen Ethnos-Begriff als soziale Kategorie in stalinistischen und poststalinistischen sozialistischen Systemen Deneckere u. Welskopp. 18 Dazu am Beispiel der deutschen Länder Langewiesche u. Schmidt, Föderative Nation.

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gesetzt. Aus dieser Perspektive sind moderne Städte vor allem Laboratorien der Reform, Experimentierfelder der Interessenaushandlung und der letztlich doch konsensualen Problemlösung. Als tonangebend und stilprägend in der Stadt erscheint keine ethnische Gruppe und keine Nation, sondern eine soziale Formation, das (oft) liberale Stadtbürgertum, das mit seinen politischen, kulturellen und Konsum-Praktiken die urbane Leitkultur bestimme. Urbanität wird hier verstanden als Gegenentwurf zur nationalen oder kulturellen Identität – als Konzept, das den Individualismus und eine hohe Toleranzschwelle gegenüber den in der eigenen Lebensumgebung vorgefundenen Differenzen betont, grundsätzlich die Gültigkeit bzw. Existenz monolithischer kollektiver Identitäten in Frage stellt und entsprechend von kulturellen Identitätspolitiken gefährdet wird.19 Es muss aber die Frage gestellt werden, ob es ein gegen die genannten Integrationstendenzen relativ resistentes, in einem anderen Sinne integrierendes20 Bewusstsein von der eigenen Stadt jemals so gab: Im Sinne eines gelassenen Umgangs mit kultureller Differenz, welcher deren Existenz zur Kenntnis nimmt, ihr Räume zur Entfaltung gibt, aber ihr, wo nötig, auch Grenzen aufzeigt – u. a. dort, wo Verfassungsgrundsätze tangiert werden. Wurde Urbanität nicht vielmehr im Zusammenspiel urbaner und anderer sozialer Identitäten erodiert bzw. transformiert und instrumentalisiert? Ist »Urbanität« am Ende in unserem Zusammenhang als positiv besetzter Begriff nicht mehr haltbar, da sich auch die Projekte der nationalstaatlichen Homogenisierung und des Ethnozentrismus urbaner Zeichensysteme bedienten und heute noch bedienen? Hatten nicht gerade urbane Akteure einen bedeutenden Anteil daran? Oder muss je nach Zeitabschnitt und Herrschaftsform von unterschiedlichen Formen und Funktionen der Urbanität bzw. der Vorstellungen von ihr gesprochen werden? Dies muss jeweils am Einzelbefund, am besten im Vergleich städtischer Gesellschaften, geklärt werden.

19 Zur Frage der urbanen Identität – und zwar auf das Individuum, nicht das Kollektive bezogen – siehe Simmel; Wirth; Urbanität als Gegenkonzept zur »kulturellen Identität« der »dörflichen Stammesgemeinschaften« bei Brock; Bernhardt; Lenger; Schubert, S. 287 f. 20 Zum Begriff der Integration (im Gegensatz zur Assimilation) als Bezeichnung für die Verankerung einer Gruppe in einer Gesellschaft, die kulturelle Verschiedenartigkeiten anerkennt, ohne sie einebnen zu wollen siehe Schmidt, Zur Typologie jüdischer Integration in West und Ost; dazu auch die Projekte im Exzellenzcluster 16, Universität Konstanz, »Kulturelle Grundlagen von Integration«, wo unter anderem auch nach der Stabilisierungswirkung ausgehandelter Grenzziehungen gefragt wird, vgl. Kratochvil, Makarska, Schwitin u. Werberger.

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Urbane Identität ist eine Ausformung sozialer Identität, die aus menschlicher Kommunikation und Vergesellschaftung hervorgeht und historischer Veränderung unterliegt. Das sozialpsychologische Konzept der »sozialen Identität« ist laut Henri Tajfel das Selbstkonzept eines Individuums, das aus der Kenntnis des Individuums über seine Teilhabe an einer sozialen Gruppe erwächst.21 Es regelt das Verhältnis zwischen dem Individuum und den Gruppen, welchen dieses angehört. Soziale Identität enthält kognitive, bewertende und affektive Komponenten, das heißt Individuen wissen sich einer Gruppe zugehörig, bewerten diese Zugehörigkeit und verbinden damit bestimmte Emotionen. Sind diese Bewertungen und Gefühle ausgeprägt positiv, gewinnen die entsprechenden Gruppen an Kohärenz durch gegenseitige Verpflichtungen der Mitglieder. Gleichzeitig sind für die Kohärenz bestimmte Kategorisierungsprozesse von zentraler Bedeutung, vor allem die Konstruktion einer Eigengruppe in Abgrenzung von Fremdgruppen und die »Salienz«, das heißt die Sichtbarkeit der Eigengruppe. Zur sozialen Identitätsbildung gehören auch die Wahrnehmung eines gemeinsamen Schicksals (in Bezug auf die Vergangenheit) und die Definition gemeinsamer Ziele (in Bezug auf die Zukunft). Jedes Individuum gehört dabei zu mehreren Eigen- und Fremdgruppen: zur In- oder Outgroup eines jeweils definierten Familien- oder Nachbarschaftsverbands, einer Stadtbewohnerschaft, einer Nation. Dabei kommt es immer wieder zu Koexistenzen, Überschneidungen, hierarchisierenden Einschließungen, aber auch Konflikten unterschiedlicher sozialer Identitäten. Urbane Identität ist in diesem Zusammenspiel sozialer Identitäten eine Beziehung mittlerer Reichweite: Die Selbsteinordnung in die Stadtgesellschaft und das Leben in der Stadt als gebauter Umgebung ist stärker von individueller Erfahrung geprägt als jene zur »vorgestellten Gemeinschaft« (Anderson)22 der Nation. Die städtische Zugehörigkeit schließt wiederum mehr Individuen in das Kollektiv mit ein als die erlebte Gemeinschaft der Familie, der Verwandtschaft und der Freundes- oder Nachbarschaftskreise.23 Sie umschließt das Selbstverständnis und Wir-Gefühl von Städtern als Bewohner eines besonderen Raumes und Teilhaber spezifischer sozialer, kultureller und symbolischer Praktiken, die von ihnen selbst als städtisch definiert werden. Im Ostmitteleuropa des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts bedeutete dies 21 Tajfel u. Turner, The Social Identity Theory; Tajfel, Human Groups and Social Categories. 22 Anderson, Imagined communities. 23 So begründen u. a. Jay Winter und Jean-Louis Robert die Wahl ihrer Untersuchungsobjekte mit den vorgefundenen Kriegshistoriographien, die zumeist Nationalhistorien waren: Winter u. Robert, S. 3–24.

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vor allem, dass Städter und Städterinnen sich von den Landbewohnern durch Kleidung, Essgewohnheiten, Zeitmanagement und Freizeitgestaltung unterschieden. Zum städtischen Selbstbewusstsein gehört, wie es bei kollektiven Identitätskonstruktionen grundsätzlich der Fall ist, auch die Exklusion von als nichtstädtisch, provinziell, ländlich empfundenen Gruppen und Praktiken. Urbane Identität, wie sie hier definiert werden soll, ist daher nahe an der von Clifford Geertz vorgeschlagenen Konzeption der »primordial loyalty«, die die Perspektive des Akteurs auf seine Lebenswelt zum Maßstab nimmt und »aus dem Gefühl der Gegebenheiten der sozialen Existenz auf Seiten des Subjekts, nicht des Beobachters, herrührt«.24 Für Neuankömmlinge vom Land waren vor allem die Kleidung und der unterschiedliche Lebensrhythmus die wesentliche Markierung städtischen Lebens. Wollte man dazugehören, musste man die ländlichen Gewohnheiten ablegen oder verbergen. Dies gelang aber häufig nicht, weil die Zuwanderer von den Alteingesessenen nicht ohne weiteres integriert und akkulturiert wurden oder werden wollten. Stadtbewohner der ersten Generation in den Vor- und Trabantenstädten oder Saisonmigranten, die gerade im Falle Ost- und Ostmitteleuropas bis weit in das 20. Jahrhundert hinein vielfach noch beständige soziale Verbindungen in die Welt des Dorfes unterhielten – alle jene Personen, die bei der Erhebung von Makrodaten (»ortsanwesende Bevölkerung«25) sowohl vor 1939 als auch in sozialistischer Zeit der Stadtbevölkerung zugeordnet wurden – hatten diese Anhänglichkeit an die städtische Umgebung noch nicht entwickelt, waren also auch über lange Perioden des betrachteten Zeitraums noch keine Träger urbaner Identität. Erst ihre Kinder wurden zu echten Städterinnen und Städtern.26 Auf der anderen Seite kann urbane Identität als soziale Identität aber auch unter alteingesessenen Städtern an Integrationskraft verlieren. Die betreffenden Personen sehen sich dann nicht mehr vorrangig als Mitglied der Gruppe »Städter« – beispielsweise »Lwowiane«, »Wilniane«, die Zugehörigkeit zu ihr wird ggf. weniger prioritär eingeordnet, und es werden weniger starke Emotionen mit der Zugehörigkeit verbunden. Dies kann dann der Fall sein, wenn äußere Faktoren (z. B. Gewalterfahrungen) auf das Kollektiv einwirken oder wenn konkurrierende soziale Identitäten und neu konstruierte Eigengruppen (z. B. die ethnisch-nationale) an Bindungskraft gewinnen, sich unter Umstän24 Geertz, S. 395. 25 So die Bezeichnung in den österreichischen Statistiken. 26 Dazu mit Blick auf die russischen Großstädte Baberowski, Die Entdeckung des Unbekannten, S. 25–31.

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den auch Bestandteile urbaner Identitäten anverwandeln. Gerade stadtpatriotische Mythen erwiesen sich als überaus anschlussfähig an nationale. Dies kann auch zur Exklusion vorher inkludierter Individuen aus einer vormals anders definierten Eigengruppe und in der Folge zu einem eliminatorischen Umgang mit von ihnen gesetzten Zeichen in der Stadt führen. Ein Beispiel ist der Ausschluß von Nichtpolen bzw. -katholiken aus dem »polnischen Lwów« während des polnisch-ukrainischen Folgekonflikts des Ersten Weltkriegs (1918/20), von Polen aus dem »litauischen Vilnius« (1940, 1946 ff. und dem »ukrainischen L’viv« (1946 ff.) oder von Deutschen aus dem »polnischen Wrocław« – Aktionen, die im städtischen Raum immer mit der Umbenennung von Straßen, der Entfernung von Denkmälern und Aufschriften sowie der Enteignung, Umwidmung, gezielten Vernachlässigung oder Zerstörung von Gebäuden einherging. Ein Sonderfall der »Herausdefinition« ist jene der Juden aus den ost(mittel-)europäischen Stadtgesellschaften unter deutscher Besatzung, welche sich zunächst in symbolischen, auf Partizipation am und im städtischen Raum zielenden Aktionen manifestierte. Das Verbot, den Bürgersteig zu benutzen, hatte ja keinen praktischen Grund, sondern sollte symbolisieren, dass die Juden keine Bürgerrechte mehr genossen und keine Nutzungsrechte am öffentlichen Raum besaßen. Diese symbolischen Exklusionen gipfelten in der fast flächendeckenden Zerstörung des jüdischen kulturellen Erbes und der Ermordung seiner Träger, der jüdischen Menschen. Im Gegensatz zum Schicksal westeuropäischer Juden wurde aber der städtische Ort nicht von der Mordtat getrennt. Die Ermordungen erfolgten oft noch im Stadtgebiet oder in dessen unmittelbarer Nähe: in den überall errichteten Ghetto- und Lagerbezirken sowie an stadtnahen Erschießungsstätten wie Ponary/Paneriai bei Wilna oder Babij Jar/Babyn Jar in Kiew. Umgekehrt kann das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit wiederbelebt und auf neue Gruppen übertragen (oder auf alte rückübertragen) werden und somit eine neu definierte urbane Eigengruppe entstehen; dieser Prozess dürfte im Falle der Nachkriegsentwicklung von Städten mit Bevölkerungsaustausch bis zum heutigen Tage von Bedeutung sein. Die Herausbildung oder auch die Transformation bzw. Zersetzung urbaner Identität(en) muss also in ihrem Spannungsverhältnis zum Prozess, insbesondere der nationalen Integration, aber auch anderer zwischen 1870 und 1980 relevanter Integrationsprojekte (imperialer, faschistisch-eliminatorischer, sowjetisch-pseudotransnationaler) verfolgt werden. Dabei stellt sich die methodische Aufgabe, wie urbane Identitätsbildungen und Praktiken in den vorliegenden Quellenzeugnissen fassbar gemacht werden können und in welchem

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Zusammenhang oder Spannungsverhältnis sie mit anderen Konzepten stehen.27 Einige ihrer Komponenten sollen hier exemplarisch benannt werden: im Wesentlichen handelt es sich um soziale, kulturelle und kommunikative Herrschaftspraktiken sowie semiotische Praktiken. 1. Die sozialen, kulturellen und kommunikativen Praktiken in Städten wurden bereits erwähnt. Das sichtbare Anderssein des städtischen Lebens war auf sie zurückzuführen, und diese Praktiken zu erlernen oder sie sich irgendwie anzueignen war die wichtigste Voraussetzung für die Verwandlung vom Migranten zum Städter. Nun waren diese Praktiken aber überlagert durch sprachliche oder konfessionelle Ordnungen – oder sie wurden durch Herrschaftswechsel außer Funktion gesetzt. So war das ostmitteleuropäische bürgerliche urbane Vereinswesen – abgesehen von den politischen Vereinen der Linken – zumeist nach Konfessions- und/oder Sprachgruppen gegliedert, was aber noch keinen Rückschluss auf den tatsächlichen Alltagssprachgebrauch in den Vereinen zulässt; der Pressekonsum wiederum war stark von Sprachpraktiken bestimmt; andere »typisch städtische« Praktiken wie Polyglossie, Benutzung eines Stadtdialektes, ein hoher Akzeptanzgrad einer lingua franca wie Deutsch, Russisch oder Polnisch28 (z. B. in der Kommunikation der Schüler/innen an staatlichen Schulen) waren wiederum durch imperiale und – Beispiel Galizien – zunehmend nationale Integration bedingt. Gleichwohl konnten sie eine übergreifende urbane Identitätsbildung fördern. Beispiele für urbane soziale Praktiken, die Herrschaftswechseln zum Trotz selbst unter Extrembedingungen weiterbestanden, sind die seit 1939 häufig im Untergrund oder im privaten Raum praktizierten Aktivitäten. Ein berühmtes Beispiel ist das jüdische Kulturleben im Wilnaer Ghetto,29 das wiederum von Joshua Sobol in seinem berühmten Theaterstück »Ghetto« re-medialisiert wurde. Aber auch die geheime Religionsausübung der griechisch-katholischen Lemberger Städterinnen und Städter nach dem Verbot ihrer Kirche 1946 und die Verlegung von früher öffentlichen Festpraktiken in den privaten Raum kann hier als Beispiel angeführt werden. 27 Zerlegung und Historisierung der Faktoren bei Geertz, S. 396: »Der Vorteil eines solchen Konzepts angestammter Bindungen vor den verschiedenen Abkömmlingen der Diskurse mit Bezug auf Nation, Nationalität oder Nationalstaat liegt darin, dass es die bis ins Detail hinabreichende Zerlegung und Unterscheidung der Faktoren erlaubt, ja fordert, die Identitätspolitik der Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit in einer Region und Periode im Gegensatz zur nächsten ausmachen.« 28 Ptashnyk. 29 Kostanian-Danzig; zum kulturellen Hintergrund dieser Aktivitäten siehe Kassow.

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2. Herrschaftspraktiken waren an die Ausübung von Macht gebunden. Sie war auf gewisse Gruppen in der Stadt beschränkt: die städtischen Exekutiven und die wachsenden Expertengruppen in der Leistungsverwaltung, aber auch nicht städtische Akteure wie Regional- und Zentralbehörden, die Kirche und das Militär sind hier anzusprechen. Gerade die letztgenannten, nicht genuin urbanen Akteure waren häufig bestimmend bei der Aufrüstung ostpolnischer Städte der Zwischenkriegszeit zu Festungen der Polonizität wider generationenlange anderslautende städtische Erfahrung. Besatzungsregimes oder temporär machtausübende Kriegsparteien wiederum ließen althergebrachte städtische Herrschaftspraktiken zum Erliegen kommen, oder sie schufen ihrerseits neue Praktiken. So wurden in der sozialistischen Epoche ostmitteleuropäischer Städte nach 1945 die vorher von privaten (und seit 1900 zunehmend auch städtisch-öffentlichen) Akteuren beherrschte Bereiche zur Sache des Staates. Ein gutes Beispiel ist die Organisation des Zugangs zu den Ressourcen Wohnraum und Freizeit, die zunehmend in die Hände von Zentralbehörden oder neu angesiedelten großen Industriebetrieben überging. In Zeiten knappen Wohnraums wurden die Wohnungsvergabe und die Zusammenstellung der Wartelisten zu einer zentralen Herrschaftspraxis in der sozialistischen Stadt. Wohnraumpolitik führte wiederum zu neuen Phänomenen kultureller Segregation in den Städten: so entstanden durch Zuwanderung und betriebliche Ressourcenallokation neue russisch-, ukrainisch-, belarussisch- und litauischsprachige Milieus in den Neubaugebieten der sowjetischen Großstädte (Lemberg, Wilna, Kiew oder auch Minsk), die aber häufig einer allmählichen Russifizierung unterlagen. 3. Wichtige Hinweise auf Urbanität und urbane Identität im Wandel gibt auch die Analyse der semiotischen Praktiken: Hier wird der Umgang mit Zeichen und Erinnerungen im städtischen Raum relevant. Multiethnische Städte sind auch Räume sich überlagernder Zeichensysteme und Erinnerungsorte. Auch die Gesamtstadt kann als Zeichen, so z. B. als Symbol in Erinnerungspolitiken und patriotischen Diskursen, zum Tragen kommen – solche häufig religiös überhöhten Symbolstädte spielen in ethnokratischen Regimes und urbanen Kolonialisierungsprojekten eine wichtige Rolle. Eng mit den semiotischen Praktiken verknüpft sind mnestische Praktiken – Praktiken der Erinnerung. Für die Nachkriegsepochen des Ersten und Zweiten Weltkrieges ist bedeutend, welche Ökonomien des Erinnerns, Vergessens und Nichtwissen(wollen)s für die alten und neuen Stadtbewohner relevant waren, und welche Zeichen entsprechend aus dem städtischen Raum entfernt wurden oder durch Nichtachtung dem Vergessen anheimfielen. In der Zwischenkriegszeit waren die patriotischen Erin-

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nerungsformen an die unmittelbar vorangegangenen Konflikte im städtischen öffentlichen Raum von großer Bedeutung, für die Zeit nach 1945 folgt auf eine Epoche des organisierten oder freiwilligen Vergessens und Missachtens der Zeichenwelten vorheriger Stadtbewohner schließlich die Wiederentdeckung von Wissen und Zeichen aus der Zeit vor 1939 und vor 1918. Auch diese Wiederentdeckung hat zur Genese neuer urbaner Identitäten (in neuen Bevölkerungen) beigetragen. Interessant ist dabei, dass bei der Wahrnehmung der gebauten Umgebung Wissensbestände aus imperialem oder sogar noch früherem Kontext in urbane Identitätsbildungen überführt werden konnten. Beispiele sind die Wahrnehmung des vor-polnischen »Breslau« oder des vor-sowjetischen Lemberg und Wilna seit den 1970er und 1980er Jahren. Erinnerungspraktiken in den sozialistischen (polnischen, sowjetukrainischen bzw. –litauischen) Städten beruhten also auf überkommenen Zeichen-Ensembles und traten gleichzeitig in Interaktion mit neuartigen Erinnerungspraktiken (beispielsweise der aus dem ländlichen Raum oder aus anderen Landesteilen stammenden Neubewohner) im städtischen Raum. Daneben steht das fast totale Vergessen(wollen) des jüdischen Erbes und der wenigen jüdischen Artefakte in diesen Städten, das erst durch bürgerschaftliches Engagement einiger Weniger und durch Initiativen von außen wieder in den Blickpunkt rückte – Kontroversen um die Wichtigkeit solcher Erinnerungen in den heutigen Städten inklusive.

Überlegungen zu einer Typologie von Identitätsund Raumkonzepten in Städten Die vergleichende Sicht auf ostmitteleuropäische und osteuropäische Städte erlaubt es, zu verallgemeinerbaren Aussagen über städtische »Arenen« zu kommen, in denen sowohl urbane Identität(en) als auch nationale Integrationsprozesse und Territorialisierungsregimes zum Tragen kamen. Strukturelle Gemeinsamkeiten und Vorbedingungen moderner Stadtgeschichte (gemeinsame Vergangenheiten und ähnliche städtische Verfassungstraditionen in frühneuzeitlichen Herrschaftsverbänden, z. B. Polen-Litauens) lassen auch die vorhandenen Unterschiede in deutlicherem Licht erscheinen. Solche für die Genese urbaner Identität relevanten Unterschiede betreffen z. B. die Bedeutung der vom imperialen politischen Verband bis 1918 (Österreich-Ungarn bzw. Russländisches Reich, aber auch Preußen-Deutschland) und durch die Staatsbildungen (z. B. Tschechoslowakei, oder die »Zweite Republik« Polen) in der Zwischenkriegszeit vorgegebenen politisch-administrativen Rahmenbedingungen, die

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Rolle imperialer Eliten bzw. deklassierter Eliten, den Integrationsgrad der städtischen Judenheiten sowie deren Bedeutung für die städtische Gesamtkultur; im Falle der Nachkriegsstädte die Rolle sozialistischer Städtebau- und Nationalitätenpolitik oder die Bedeutung des Anteils »alteingesessener« Städter mit Verbindungen zur Vorkriegsgeschichte im Verhältnis zu den zugewanderten Eliten bzw. aus dem ländlichen Raum stammenden Neubürgern. So brachten z. B. Lemberg und Wilna nach den Teilungen Polens ein vergleichbares politisches, ökonomisches und kulturelles Kapital in ihre jeweiligen imperialen Zusammenhänge ein. Lemberg durchlief dann aber aufgrund seiner neuen Funktion als Kronlandhauptstadt eine andere Entwicklung als Wilna, das seiner alten Funktionen als Kulturhauptstadt der (Ost-)Polen verlustig ging; in der Zweiten Republik war die Fallhöhe Lembergs Richtung Provinzialisierung und Peripherielage folglich höher als jene Wilnas, das sich in der relativen Peripherie der Gouvernementshauptstadt bereits eingerichtet hatte. Die Entwicklung nach 1945 führte Wilna über die Sowjetrepublik- zur Landeshauptstadt eines unabhängigen Staates, während Lemberg im Status des Regionalzentrums verblieb und dagegen eine »gefühlte« Hauptstadtfunktion und Nähe zu Europa ausspielte. Lemberg war eines unter vielen Zentren aufgeklärten Judentums in Ostmitteleuropa, während Wilna als geistige Hauptstadt schlechthin, als »Jerusalem« jüdischer Orthodoxie und geistlicher wie später auch weltlicher Gelehrsamkeit anerkannt war; das Judentum und das jüdische Viertel spielen heute bei der Touristifizierung und im Stadtmarketing Wilnas wieder eine Rolle (ähnlich wie in Krakau),30 während es in Lemberg eine wahrnehmbare, aber keine bedeutende Rolle spielt. Eine Typenbildung kann in solchen hochkomplexen Feldern diachroner Stadtentwicklungstrends Aussagen über das Spannungsverhältnis unterschiedlicher Formen sozialer Identität, aber auch über Wahrnehmungsformen von Räumen idealtypisch darstellen. Verschiedenen Städten und Zeiträumen können auch unterschiedliche Idealtypen zugeordnet werden. Befunde liefern die Diskussionen über Urbanität und Europäizität der jeweiligen Städte im Spiegel der Stadtplanung und des Stadtmarketings; die medialen Formen städtischer Festkulturen, die Politiken des gelenkten Blicks bei der Ausstattung öffentlichen Raums mit Erinnerungsorten und Straßennamen, die kognitive Kartierung der Stadt aus der Sicht unterschiedlicher Gemeinschaften sowie die genann-

30 Lipphardt.

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ten sozialen und kulturellen Alltagspraktiken der Stadtbewohner.31 Denkbar sind folgende Idealtypen im Spannungsfeld Stadt/Region/Nation/Imperium: –– der antagonistische: Urbane Identitätspolitiken treten als Gegenspieler nationaler oder imperialer Integra­tionstendenzen auf. Ein Beispiel sind alle Selbstaussagen, welche Urbanität einer als provinziell empfundenen Ethnisierung bzw. Folklorisierung entgegensetzen. Das war in allen Diskussionen um die »Zugehörigkeit« ostmitteleuropäischer Städte zwischen 1880 und 1939 häufig eine Minderheitenposition – und häufig die Position polyglotter Intellektueller, häufig auch die Position jüdischer Akteure. Es gibt aber auch moderne Erscheinungsformen urbaner Identität, welche nationale und imperiale Projekte unterlaufen, z. B. in den Hippie-Subkulturen Lembergs und Wilnas der 1970er Jahre.32 –– der komplementäre: Ergänzung bzw. Koexistenz nationaler, imperialer und urbaner Identitäten. Ein Beispiel ist die Stadt Lemberg vor 1914, wo situationsabhängig von denselben städtischen und regionalen Akteuren lokale, galizisch-regionale, polnisch-nationale oder imperiale Loyalitätsformen abgerufen wurden.33 –– der transformative: Überkommene urbane Identitätskonstruktionen werden nationalisiert oder ethnisiert. Ein Beispiel ist die Nationalisierung frühneuzeitlicher, eigentlich vornationaler Stadtmythologien oder Gründungsgeschichten, aber auch defensive Urbanität gehört dazu: die Abwehr konkurrierender nationaler Projekte als bäuerlich, beschränkt und anti-urban. So stellte sich z. B. das ukrainische Projekt der Zwischenkriegszeit in den Augen polnischsprachiger Lemberger dar, die angesichts des ukrainischen Bevölkerungszuwachses in der Stadt befürchteten, in Zukunft womöglich majorisiert zu werden. –– der generative: Neu formierte urbane Identitätskonstruktionen entstehen als Folge- und Nebenprodukte nationaler Identitätsbildungen und historischer Brüche. Ein Beispiel ist die Neuschaffung von Stadtmythen, z. B. Heldenstadtmythen im Gefolge des Ersten und Zweiten Weltkriegs. –– der adaptive: Neu formierte urbane Identitätskonstruktionen erscheinen als Aneignungsform vorgängiger bzw. vor-vorgängiger, das heißt 31 Einzeluntersuchungen für Lemberg und Wilna: Wendland, Stadtgeschichtskulturen; dies., »Europa« zivilisiert den »Osten«; dies., Kulturelle, nationale und urbane Identitäten in Wilna; dies., Nachbarn als Verräter; dies., Post-Austrian Lemberg; dies., Region ohne Nationalität, Kapitale ohne Volk; dies., Semper fidelis. 32 Lemko, The Ukrainian West; Risch, Soviet »Flower Children«; Mikailienė. 33 Wendland, Eindeutige Bilder, komplexe Identitäten.

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aus imperialem Kontext stammender Stadt- und Landespatriotismen. Ein Beispiel ist die Nachkriegszeit im Zeichen der Entspannungspolitik, besonders aber seit 1990. In Städten wie Lemberg, Wilna, Danzig, Warschau, Breslau, Tallinn oder Königsberg äußerte sich diese adaptive urbane Identität in einem wiederaufgelebten, nun auch über Expertengruppen hinausreichenden Interesse an Denkmalpflege und Innenstadtsanierung. Auch in sozialistischer Zeit oder kurz nach ihrem Ende, und oft unter großen Schwierigkeiten, entstanden Buchprojekte, welche das zerstörte oder vernachlässigte Bauerbe der Städte zu popularisieren suchten. Auch die spielerische Aneignung von Bezeichnungen und Eigennamen aus der Vorkriegszeit gehört dazu – die augenfälligste ist vielleicht die umgangssprachliche Bezeichnung Kaliningrads als »Kenig« – von Königsberg, offensichtlich analogbildend zu »Piter«-Petersburg – durch die russischsprachigen Kaliningrader. Solche Wiederentdeckungen förderten auch das Fortleben von stadtpatriotischen Mythen sowie die Wiederentdeckung oder Adaptation von Stadtdialekten und Autostereotypen. Ein augenfälliges Beispiel ist hier der Bezug auf die Lemberger Kaffeehaus- und Kneipenkultur, die die Sowjetzeit in Form einiger kultiger Kellerlokale überlebte und seit den 1990er Jahren durch junge Unternehmerinnen und Unternehmer reinszenierend wiederaufgebaut wurde. Auch der Stadtdialekt und die mit ihm eng verbundene Liedkultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfuhren eine Renaissance, diesmal nicht in der ostpolnischen, sondern der westukrainischen Varietät, oder in Nachdichtungen. Letztlich sind auch die modernen, an den Bedürfnissen der Touristifizierung angepassten Vermarktungsformen imperial konnotierter Stadtbilder (z. B. Rekurs auf das österreichische Lemberg-Лемберґ mit Kaffeehäusern und Kaiserbildern) oder die »Preußen-Renaissance« in gegenwärtigen polnischen Stadtkulturen und Lokalpatriotismen Zeichen dieser adaptiven Form urbaner Identität.34 Diese möglichen Formen der Parallel-Existenz oder Interferenz nationaler, imperialer, regionaler und urbaner Identitätskonstruktionen werden ergänzt durch bestimmte Formen von Raumvorstellungen, die sich um Städte zentrieren, die im 20. Jahrhundert aber ohne – in der Regel – nationale Integra34 Ein Beispiel für ein aus sozialistischer Zeit stammendes, in jahrzehntelanger Arbeit zusammengetragenes popularisierendes Bauerbe-Projekt ist das Werk über das »Verschwundene Wilna« des Kunsthistorikers Drėma; zu Wiederaneignungsformen vorher verpönten historischen Erbes Thum, »Preußen – das sind wir!«.

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tions- und Territorialisierungsprojekte bzw. nationalizing states undenkbar sind, weil sie in direktem funktionalem Zusammenhang mit ihnen stehen oder als Reaktion auf diese entstanden. Die Dominanz des national-urbanen Spannungsfeldes, das die daneben existierenden Spannungsverhältnisse zum Imperialen, Regionalen oder heute auch EU-Europäischen häufig überlagert und an dem sich die historischen wie gegenwärtigen Akteure abarbeiten, ist hier besonders greifbar – abschließend exemplifiziert am Beispiel einiger ostmitteleuropäischer Großstädte und vierer möglicher Raumkonstruktionen im 20. Jahrhundert: Die »gefühlte Hauptstadt«: Eine Stadt wird von einer Mehrheit ihrer Bewohner oder von außen trotz zeitweiliger Peripherielage oder territorialen Verlusts als gefühlte Hauptstadt und urbanes Symbolkapital der Nation inszeniert. Beispiele sind Krakau – auf der Ebene eines städtischen Identitätskonstrukts als historische Hauptstadt Polens; Wilna als das litauische »unser Vilnius« jenseits der Grenze in Zwischenkriegslitauen, dessen tatsächliche Hauptstadt Kaunas nur als »provisorische« Kapitale wahrgenommen wurde; Lembergs gefühlte Hauptstadtfunktion für die galizischen Ukrainer, die auf ein ukrainisches Hauptstadtangebot im engeren Sinne erst mit der Eingliederung in die Sowjetukraine 1939/44 reagieren konnten, bis heute aber ein starkes »gefühlte-Hauptstadt«-Bewusstsein mit Bezug auf die echte Hauptstadt Kiew pflegen. Sicherlich hing auch die Verlegung der sowjetukrainischen Hauptstadt von Charkiv nach Kiew-Kyïv im Jahre 1934 – ungeachtet des russozentrischen Kalküls der stalinistischen Ethnopolitik und der parallel laufenden Massenrepression der ukrainischen Bevölkerung – mit einem solchen, auf vornationalen und vorimperialen Mythen-Kapital beruhendem »gefühlte-Hauptstadt«-Raumkonstrukt in der sowjetischen Ukraine zusammen. Hier wurde eine zentrale Komponente des national-ukrainischen Narratives (Kiew und die Ukraine als legitime Erbinnen der Rus’, nicht Moskau/Petersburg) in die politische Hauptstadtfunktion überführt. Diese Ausnutzung der gefühlten Hauptstadt sorgte − genauso wie die als »Wiedervereinigung« der Westukraine mit der Sowjetukraine deklarierte Angliederung der ehemals polnischen Teile von Ostgalizien, Wolhynien und Polesien – zu einem erheblichen Legitimitätszuwachs für das sowjetische Regime bei patriotischen Ukrainern. Die »Stadt- als- Festung«: Eine Stadt wird von der Mehrheit ihrer Bewohner oder von außen (durch nicht städtische Akteure wie Regionalbehörde, Kirche, Militär) als Grenz-, Front- und Festungsstadt wahrgenommen, oft infolge von Kriegserfahrungen. Beispiel ist Lemberg und seine in der Zwischenkriegszeit neu erworbene Erinnerungs- und Festkultur rund um die »Obrona Lwowa«

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1918.35 Die Stadt wurde zunehmend als Festung und Wachtturm der Polonizität in einem teilweise feindlichen, aber auch von sowjetischer Infiltration bedrohten Grenzland inszeniert; ältere, nur zum Teil damit kompatible Stadtmythologien wurden auf diesen Neomythos zugeschnitten. Lemberg erfüllte damit gleichzeitig eine wichtige Funktion innerhalb eines genuin nicht urbanen Territorialisierungs- und Raumkonzeptes: jenem des unsicheren und daher besonderer Stabilisierung und Kontrolle bedürfenden kresy-Gebiets, das sich von Wilna im Norden über die weißrussischen Gebiete nach Wolhynien und Galizien erstreckte. Die Stadt-als-Insel steht als Raumbild in enger Korrespondenz zur Stadt-alsFestung. Die Stadt wird hier zum Projektionsraum demographischer Minorisierungsängste der Titularnation im Grenzgebiet. Diese Minorisierungsangst richtete sich z. B. in Lemberg und Wilna in Form antisemitischer Politiken gegen signifikante innerstädtische Gruppen wie die Juden sowie, im Falle Lembergs, gegen die Minderheitsmehrheit der polnischen Ukrainer: diese stellten zwar in der Stadt eine alteingesessene, leicht wachsende Minderheit dar, befanden sich in der ostgalizischen Umgebung aber in der überwältigenden Mehrheit; Land-Stadt-Migration barg also aus polnischer Perspektive die Gefahr des Untergangs der polnischen Insel. Solche modernen Vorstellungen von der Stadt als »Insel« der polnischen Kultur im »Meer« der Anderen (der demographisch zulegenden ostslawischen und jüdischen Bevölkerungen) erwiesen sich als anschlussfähig an ältere Stadtüberlieferungen (antemurale-Mythologien, Erinnerungen an Belagerungen durch die Schweden, Tataren und Kosaken in der Frühneuzeit) und Vorstellungen von der Stadt als »treue« Sachwalterin der Krone Polens (Leopolis semper fidelis). Sie überlagerten gleichzeitig die ebenfalls in der Vormoderne verankerten Vorstellungen vom kulturell differenten, aber als Stadt »dreieinigen« Lemberg (Leopolis triplex), welches die drei christlichen Konfessionen von Polen, Ruthenen und Armeniern meinte, im 20. Jahrhundert aber generell auf die Multikonfessionalität der Stadt bezogen wurde.36 Alle Überlegungen zur ethnischen »Bereinigung« der Grenzgebiete gingen immer auch von der Vermeidung solcher Insellagen aus, seien es die Überlegungen der polnischen Nationaldemokraten in der Zwischenkriegszeit, seien es jene, die der »Repatriierung«, das heißt Vertreibung der galizischen und wolhynischen Polen nach 1944, zugrunde lagen.

35 Ausführlich dazu Mick; Wendland, Nachbarn als Verräter. 36 Tazbir; Hein-Kircher; Wendland, Stadtgeschichtskulturen; dies., Semper fidelis.

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Ostmitteleuropäische Städte als Arenen der Verhandlung

Die Stadt-als-Fenster nach Europa: Im Nachgang der großen Umwälzungen und Gewalterfahrungen des »Zeitalters der Extreme« kam es seit den 1960er Jahren in vielen ost(mittel)europäischen Städten, die nicht oder nicht stark kriegszerstört waren, zu Entwicklungen, welche für die spätere Stadtgeschichte und bis zum heutigen Tage von großer Bedeutung sein sollten: eine nach dem Traditionsabbruch in der »fremden Stadt« (so Gregor Thum über Breslau) zunächst kaum wahrnehmbare, dann sich verstärkende Kontinuitätslinie urbaner Identitätsbildung bzw. urbaner Überlieferung, in welcher der städtische Schauplatz selbst zum bedeutenden Faktor wurde. In Städten wie Lemberg, Wilna, Danzig und Breslau stellte die Stadt nicht nur ein Ensemble überkommener Bausubstanz dar, sondern fungierte als bauliche Umrahmung einer neuen Arena zur Verhandlung urbaner und zunehmend auch neuer transnationaler, nämlich europäischer, Identitätsangebote. Es wirkte gleichsam »die Menschlichkeit des Raums« (Tomas Venclova über Vilnius) in den Zentren auf die Stadtbewohner zurück, welche sich, oft unter dem Dach der Diskussion um Kulturdenkmäler und ihre Erhaltung bzw. Rekonstruktion, auch wieder für die europäische, übernationale oder anders-nationale Kontextualisierung der eigenen Lokalgeschichte zu interessieren begannen.37 Die hier skizzierten urbanen Raumbilder des 20. Jahrhunderts und der Jetztzeit sind ohne Rekurse auf das nationale 19. Jahrhundert und häufig auch auf frühere Quellen urbaner Identitätsangebote nicht verstehbar. Sie zeigen, wie sehr sich solche Kontinuitäten und Erfahrungen im Umfang mit Diversität selbst in Landschaften ausprägen, die von extremen Gewalterfahrungen, Grenzverschiebungen und demographischen Umwälzungen betroffen waren. Eine interessante Vergleichsperspektive ergibt sich hier sowohl zu den fast vollständig zerstörten, aber nicht in diesem extremen Maße von Traditionsabbruch und Bevölkerungsaustausch (abgesehen von der Vertreibung und Ermordung der Juden) betroffenen deutschen Großstädten wie Köln oder Dresden, als auch zu den weitgehend kriegszerstörten, komplett neu aufgebauten und mit neuer Bevölkerung besiedelten sowjetischen Städten wie Minsk oder Volgograd, oder zu den in der Mitte dieses Kontinuums (zwischen Zerstörung/Traditionsbruch und Erhalt) stehenden Städten wie Kiew oder Odessa. Auch das Weiterleben von Erinnerungen und sozialen Praktiken in den Minderheiten der Altbewoh37 Venclova, S. 230; zu Breslau mit ähnlichem Befund vgl. Thum, Preußen – das sind wir!; von großer Bedeutung ist das Engagement von Kunsthistorikern und Denkmalschützern wie des im Oktober 2010 verstorbenen Andrzej Tomaszewski (mit Blick auf Städte wie Danzig und Breslau).

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ner (z. B. in Wilna und Lemberg litauische und ukrainische Städter sowie Polen, die aufgrund familiärer Verflechtungen für die sowjetische Staatsbürgerschaft votiert hatten); der Wunsch nach Traditionsbildung in den neuen urbanen Generationen der Nachgeborenen; die Nähe zur sowjetischen Westgrenze im Falle Lembergs und Wilnas bzw. zu Deutschland im Falle Breslaus; der Kontakt zu den sich seit der Ära der Entspannungspolitik verstärkenden Besucherströmen aus den »alten« Vaterländern der jeweiligen Städte und das im Vergleich liberalere stadtkulturelle Leben – all diese Faktoren trugen zu verdeckten Kontinuitäten der Stadtgeschichte und zur Genese neuer urbaner, wenn auch beständig bedrohter Öffentlichkeitsformen bei. Auch Zuwanderer ländlicher Herkunft waren weniger direkte Antagonisten solcher urbaner Kontinuitäten als vielmehr eine zusätzliche Akteursgruppe, welche die Absichten des Regimes und die Versuche zur Schaffung einer »sozialistischen Stadt« von einer anderen Seite her (z. B. durch bestimmte soziale und religiöse Praktiken) unterlief.38 Im Ergebnis entstanden in Ostmitteleuropa, besonders in den östlichen Grenzgebieten, spezifische neue Stadtkulturen mit überaus beharrungsfähigen Wurzeln.

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Teil II: Vielfältige Internationalisierungsprojekte

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Heléna Tóth

Biographien, Netzwerke und Narrative: Transnationale Aspekte des politischen Exils nach 1848

In seinen Memoiren fasste Ferenc Pulszky die Bedeutung des politischen Exils für Ungarn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf folgende Weise zusammen: »Unsere Odyssee verschaffte dem ungarischen Namen auch jenseits des Ozeans Achtung, wenn wir gelitten haben, so blieben unsere Leiden doch nur individuelle, während die ungarische Nation durch unser Missgeschick auch dort bekannt wurde, wo man bis dahin nicht einmal ihren Namen gekannt hatte.«1 Pulszky verwendete die Metapher der Odyssee, um sein Leben im Exil in England und Italien nach der Niederlage im ungarischen Unabhängigkeitskrieg gegen das Habsburger Imperium im August 1849 zu beschreiben.2 Der ungarische Unabhängigkeitskrieg war der letzte einer ganzen Reihe von politischen Aufständen, die den politischen Status quo in Europa 1848/49 in Frage stellten, und Pulszky war einer von Tausenden politischen Flüchtlingen, die in der Folge in Europa, im Osmanischen Reich oder auf der anderen Seite des Atlantiks Asyl suchten.3 Die Historiker dieser Epoche warnen zu Recht davor, einen europäischen Gründungsmythos in die Revolutionen von 1848 hineinzuprojizieren; allerdings sind sie sich darüber einig, dass dieser historische Moment ein starkes transnationales, kollektives Element enthielt.4 Obwohl der Januaraufstand auf Sizilien, die Februarrevolution in Frankreich, die »Märztage« in den deutschen Ländern und im Habsburgerreich auf politische Reformbewegungen zurückgingen, die in jedem dieser Staaten ihren eigenen Ursprung und ihre eigene Dynamik hatten, waren sie doch auch miteinander verbunden. Es gab mehrere gemeinsame Nenner, die diese Revolutionen über ganz Europa miteinander verknüpften: Im Zentrum standen immer Fragen der Repräsentation und des Konstitutionalismus, und in allen betroffenen Staaten war ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung von der Notwendigkeit politischer Reformen überzeugt. Darüber hinaus fanden die Revolutionen von 1848, angesichts der Entwicklung 1 2 3 4

Pulszky, Meine Zeit, mein Leben, S. 3. Eine Biographie Ferenc Pulszkys bietet Kabdebó. Eine Gesamtübersicht des ungarischen politischen Exils nach 1848 findet sich in Lukács, Chapters. Koselleck, How European was the Revolution of 1848/49?, S. 213; Tacke, S. 13.

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der Reise- und Informationsinfrastrukturen, in einem gemeinsamen Informationsraum statt. Informationen über die Wahlen zu den repräsentativen Körperschaften im Frühjahr 1848 verbreiteten sich rasch, und obschon die Reformer ihre Programme innerhalb eines lokalen politischen Rahmens formulierten, waren sie sich bewusst, dass sie an einem europaweiten Phänomen Anteil hatten.5 Ebenso wie sich die Reformbewegungen zunächst im Frühjahr 1848 über die Staatsgrenzen hinweg gegenseitig verstärkten, war die erneute Festigung der monarchischen Gewalt über Europa ein Prozess, in dem die einzelnen Ereignisse zwar nur teilweise in direkter Kausalität miteinander verbunden waren, wo aber jedes Ereignis Auswirkungen hatte, die über die Staatsgrenzen hinausreichten. Die militärischen Siege des Marschalls Radetzky gegen die Aufstände in den italienischen Besitzungen des Habsburgerreichs im Frühling und Sommer 1848, die Auflösung des preußischen Parlaments und das Oktroyieren einer Verfassung durch Friedrich Wilhelm IV. im November 1848, die Auflösung des Frankfurter Parlaments im April 1849, die Niederschlagung der Reichsverfassungskampagne im Rheinland, der Pfalz und in Baden im Sommer 1849 sowie schließlich die Niederschlagung des ungarischen Unabhängigkeitskampfs durch habsburgische und russische Truppen im August 1849 fügten sich zusammen zu einem Narrativ über eine graduelle, europaweite Konsolidierung monarchischer Gewalt in Zentraleuropa. Eine der Konsequenzen dieses Prozesses war die Entstehung eines Spiegelbilds der revolutionären Bewegungen im Exil. In ganz Europa überschritten tausende Flüchtlinge die Grenzen ihrer Heimatländer auf der Flucht vor realer oder empfundener Verfolgung. Sie waren hinsichtlich ihrer nationalen Herkunft, des sozialen Hintergrunds und der politischen Programme, die sie vertraten, eine heterogene Gruppe. Durch das Zusammentreffen der politischen Flüchtlinge auf der Suche nach einem Asyl in Frankreich, England, der Schweiz, dem Osmanischen Reich oder den Vereinigten Staaten wurden die transnationalen Elemente der Revolutionen von 1848 erst zur greifbaren Realität.6 Die zentrale Frage der Herausgeberinnen dieses Bandes lautet: Wie veränderten sich die Anwesenheit osteuropäischer Akteure und ihre Wahrnehmungen in einem transnationalen Kontext über die Zeit? Dieser Aufsatz will am Beispiel von Migranten und politischen Flüchtlingen aus der ungarischen 5 6

Langewiesche, Kommunikationsraum Europa, S. 11–35. Sabine Freitag drückt dies so aus: »Das Exil und die Emigration der politischen Flüchtlinge demonstriert in exemplarischer Weise die internationale Dimension der europäischen Revolutionen von 1848/49.«, vgl. Freitag, Introduction, S. 1.

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Biographien, Netzwerke und Narrative

Hälfte des Habsburgerreichs das Ausmaß und die Grenzen der Wirksamkeit transnationaler Netzwerke und Verbindungen in der Folge der Revolutionen von 1848 deutlich machen. Die drei Abschnitte des Beitrags – Biographien, Netzwerke, Narrative – entsprechen drei miteinander verknüpften Fragen, die die verschiedenen Facetten des Themas in den Blick nehmen: 1. In welcher Weise veränderte die Revolution von 1848 Biographien, die bereits transnationale Elemente aufwiesen? 2. In welchem Maße übersetzte sich die nationale und politische Heterogenität des politischen Exils nach den Revolutionen von 1848 in eine Kooperation zwischen politischen Flüchtlingen aus verschiedenen Herkunftsländern und in die Herausbildung transnationaler Netzwerke im Exil? 3. Auf welchen Wegen waren die politischen Flüchtlinge im Einzelnen in der Lage, als Vermittler zwischen ihren Heimatländern und den Aufnahmeländern zu fungieren? Diese drei Fragen nehmen unterschiedliche Dynamiken in den Blick, die in enger Wechselbeziehung stehen: die Politisierung (und Repolitisierung) transnationaler Biographien als Konsequenz der Revolutionen von 1848; die Interaktion der politischen Flüchtlinge aus unterschiedlichen Herkunftsländern im Exil untereinander sowie die Interaktion zwischen den politischen Flüchtlingen und den Aufnahmegesellschaften. Die Zusammenschau dieser Themenbereiche ermöglicht ein komplexes Bild des Einflusses der Revolution von 1848 auf die Teilhabe osteuropäischer Akteure an transnationalen Netzwerken. Das Zitat von Pulszky zu Beginn dieses Aufsatzes ist insofern zutreffend und gleichzeitig ein wenig irreführend. Obwohl die Revolutionen von 1848 und ihre Nachwirkungen sicherlich als wichtige Phase in der Geschichte transnationaler Netzwerke verstanden werden müssen, bedeutet dies natürlich nicht, dass osteuropäische bzw. ungarische Akteure vorher in solchen Netzwerken völlig abwesend gewesen wären. Der erste Abschnitt dieses Beitrags setzt die Bedeutung von 1848 daher in einen weiteren historischen Kontext – sowohl hinsichtlich der persönlichen Netzwerke als auch hinsichtlich der Revolutionsgeschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ausgehend von dieser revolutionären Tradition konzentriert sich der zweite Abschnitt insbesondere auf Exilorganisationen und zeigt, dass die Zeit unmittelbar nach den Revolutionen von 1848 hinsichtlich der Bildung transnationaler Netzwerke eher als das Ende einer Ära verstanden werden muss denn als Beginn einer neuen Phase. Sabine Freitag argumentiert: »Wenn es zutrifft, dass es eine gemeinsame europäische Revolutionskultur gegeben hat, in der politische Überzeugungen über nationale Grenzen und Interessen hinweg geteilt wurden, dann ist das politische Exil der Ort, an dem dieses Spektrum geteilter politischer und sozialer Auffassungen und gemeinsamer politi-

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scher Erfahrungen am besten untersucht werden kann.«7 Der zweite Abschnitt zeigt, dass es zwar Hinweise auf eine Solidarität zwischen den Flüchtlingen verschiedener Nationalitäten gab, die das Alltagsleben im Exil prägte, dass aber das traumatische Erbe einer gescheiterten Revolution und – ebenso wichtig – die logistischen Aspekte eines politischen Exils, das in seinen Ausmaßen alle vorangegangenen und folgenden Exilbewegungen des 19. Jahrhunderts überstieg, nicht geeignet waren, ein günstiges Umfeld für die Gründung transnationaler Exilorganisationen zu schaffen. Der dritte Teil nimmt Pulszkys Feststellungen über die Rolle der politischen Flüchtlinge als Vermittler zwischen ihren Heimatländern und den Gastgesellschaften als Ausgangspunkt, um zu zeigen, welche Faktoren diese Vermittlerfunktion in der Mitte des 19. Jahrhunderts besonders wirksam machten.

Das politische Potential transnationaler Biographien: Auguste de Gerando, Emma Teleki und Károly Krajtsir Auch wenn die politischen Flüchtlinge die sinnbildlichste und sichtbarste Gruppe derer waren, deren Lebensläufe die Revolutionen des Jahres 1848 beeinflussten, hatten die politischen Erhebungen auch Auswirkungen auf solche Biographien, die bereits vor 1848 transnational gewesen waren. Die Ereignisse von 1848/49 schufen einen Rahmen, innerhalb dessen der Herkunftsort von Migranten eine neue Bedeutungsebene erlangte. Migration aus Osteuropa erfolgte vor 1848 aus zahlreichen Gründen, darunter Heirat, Arbeitsmigration oder in früheren Auswanderungswellen aufgrund politischer Verfolgung. Während und nach den Revolutionen von 1848 konnte jede solche transnationale Biographie potentiell eine zusätzliche politische Dimension annehmen, unabhängig von den ursprünglichen Motiven für die Migration. Dabei handelte es sich nicht um einen automatisch ablaufenden Prozess. Mehrere Faktoren bestimmten, ob die Biographie eines Migranten sich zu den Revolutionen von 1848 in Beziehung setzte und in welchem Umfang dies erfolgte. Zwei solcher Faktoren waren von besonderer Bedeutung. Der erste war, ob der betreffende Migrant die revolutionären Bewegungen in seinem Heimatland überhaupt befürwortete. Es stand keineswegs von vornherein fest, dass alle Migranten aus Ostmitteleuropa die Revolutionen guthießen, insbesondere nicht, als diese sich in militärische Ereignisse verwandelten. Zweitens hing die Dimension, in dem 7 Ebd.

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Biographien, Netzwerke und Narrative

die Revolutionen von 1848 eine transnationale Biographie beeinflussten, davon ab, in welchem Maße die Revolution für die Aufnahmegesellschaft von Bedeutung war, in der der Migrant lebte. Die folgenden beiden Fallstudien illustrieren zwei unterschiedliche Wege, auf denen die 1848er Revolution transnationalen Biographien eine politische Dimension hinzufügte: im ersten Fall durch eine Politisierung bereits bestehender personaler Netzwerke, im zweiten Fall in Form eines zusätzlichen Kapitels in der Biographie eines politischen Flüchtlings älterer Generation. Emma Teleki, Tochter einer politisch engagierten ungarischen Adelsfamilie, heiratete 1840 den französischen Schriftsteller Auguste de Gerando. Es war kein Zufall, dass der Neffe Joseph Maria de Gerandos die Nichte Teréz von Brunswicks zur Gattin wählte. Joseph Maria de Gerando, ein international geschätzter französischer Philosoph, hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausführlich über Grundprinzipien der Erziehung geschrieben; unter seinen begeisterten Leserinnen befand sich auch Teréz von Brunswick, eine Anhängerin Giuseppe Pestalozzis, die den ersten Kindergarten in der ungarischen Hälfte des Habsburgerreichs gründete. Teréz von Brunswick nahm ihre Nichte auf eine Reise nach Paris mit, wo sie den französischen Philosophen aufsuchte, und bei diesem Besuch lernte sich das spätere Paar kennen. Nach wenigen Monaten heirateten die beiden, gegen den Willen der Eltern.8 Inspiriert von seiner Frau entwickelte der junge Auguste de Gerando ein reges Interesse für ungarische Geschichte und publizierte umfassend zu diesem Thema in Frankreich.9 Zwar nahm die Ungarische Akademie de Gerando als korrespondierendes Mitglied auf, der Einfluss seines Werkes blieb jedoch bis 1848 begrenzt. Mit der Revolution von 1848 und ihren Folgen kamen de Gerandos Büchern, seinem akademischen Interesse an Ungarn und bei manchen Gelegenheiten seiner Ehe eine politische Relevanz zu. Sein »Essai historique sur l’origine des Hongrois« (1844), das zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung allenfalls Interesse unter Akademikern erregt hatte, fand 1848 und danach als eine der wenigen zugänglichen Arbeiten über die Geschichte Ungarns eine breite Leserschaft. De Gerando berichtete ab Mai 1848 regelmäßig in »Le National« über Ungarn und setzte dies bis zu seinem Tod im Dezember 1849 fort. Es war die Absicht seiner Artikel, politische Unterstützung für die Ungarische Revolution in Frankreich herzustellen. Infolge der Revolution weitete sich de Gerandos 8 9

Adriaenssen, S. 33; Rubin, Teleki Emma és Auguste de Gerando házassága kapcsán, S. 725– 729. Ders., Francia barátunk Auguste de Gerando, S. 70–75.

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Leserschaft nicht nur in Frankreich, sondern auch jenseits des Atlantischen Ozeans, insbesondere in Neuengland, aus. Mary Lowell Putnam, die Schwester des berühmten Dichters Robert Lowell und selbst eine nicht unbedeutende Autorin, verwendete de Gerandos Arbeiten als Quelle für ihre eigenen Schriften zur Ungarischen Revolution.10 Putnam war vom Werk ebenso wie vom Leben de Gerandos fasziniert und hielt es für wesentlich zum Verständnis der ungarischen Geschichte; sie veröffentlichte daher auch in den 1850er Jahren einen ausführlichen biographischen Essay über ihn im »The Christian Examiner«.11 Durch Putnam kam de Gerandos Werk ins Scheinwerferlicht des öffentlichen Interesses, als sie es als Hauptquelle in einer akademischen Kontroverse mit Francis Bowen, einem Professor für Geschichte an der Harvard Universität, heranzog. In zwei Aufsätzen zur Ungarischen Revolution hatte Bowen argumentiert, eines der Motive hinter der politischen Reform im Wunsch des ungarischen landbesitzenden Adels habe darin bestanden, seine Macht über die slawische Bevölkerung zu bewahren und zu stärken.12 Bowen war weder der einzige noch der erste Autor, der eine solche Kritik an der Ungarischen Revolution formulierte, aber erst sein Aufsatz leitete eine hitzige Debatte ein, die in den damaligen Zeitungen als »Ungarische Kontroverse« (Hungarian Controversy) betitelt wurde.13 Es gab mehrere Gründe dafür, warum eine akademische Diskussion über die Ungarische Revolution solche Wellen in den Bostoner Zeitungen schlug. Die amerikanische zeitungslesende Öffentlichkeit folgte den sich entfaltenden Revolutionen von 1848 mit wachem Interesse. Zum einen unterhielten die Einwanderer aus Europa immer noch enge Bindungen an ihre Heimatländer und waren am Entfaltungsprozess der politischen Reformen interessiert. Zudem verstanden viele Amerikaner – auch solche »ohne Bindestrich« – die Ereignisse in Europa als eine nachholende Variante der Amerikanischen Revolution, in der die Frage der politischen Repräsentation die Schlüsselrolle gespielt hatte. Dies wiederum generierte beträchtliche politische Unterstützung für die europäischen Revolutionen beim amerikanischen Publikum und regte die Amerikaner zudem dazu an, sich über ihre eigene Vergangenheit und Gegenwart

10 Über Mary Lowell Putnam und ihre Beziehung zu Auguste de Gerando siehe Tóth, S. 33–48. 11 Putnam, Auguste de Gerando. 12 Bowen, War of Races in Hungary; ders., Rebellion of the Slavonic, Wallachian and German Hungarians. 13 Der Begriff wurde geprägt von dem Journalisten Robert Carter.

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Biographien, Netzwerke und Narrative

Gedanken zu machen.14 Innerhalb eines umfassenderen Narratives über die Revolutionen mochte dem amerikanischen Publikum der Aufstand im Königreich Ungarn besonders vertraut erscheinen. In vereinfachter Form ließ sich die Geschichte der Ungarischen Revolution nämlich als nationale Erhebung gegen ein konservatives, katholisches Imperium lesen, die mit Lajos Kossuth von einer charismatischen Figur geführt wurde, die den Geist des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs in einer Weise zu verkörpern schien, die sie einer breiten amerikanischen Öffentlichkeit nahebrachte.15 Der Freiheitskampf, den Kossuth verkörperte, erschien auch als inspirierend und direkt bedeutsam für die Abolitionisten.16 Die Geschichte (und das Narrativ) der Ungarischen Revolution war also nicht nur für Gelehrte von Interesse. Für politische Flüchtlinge, die Asyl in den Vereinigten Staaten suchten, erlangte das Erzählen der Geschichte der Ungarischen Revolution eine zusätzliche Ebene politischer Bedeutung. Als Mary Lowell Putnam Francis Bowens Interpretation der Erhebung in Ungarn zurückwies, kritisierte sie ihn in zwei Punkten. Erstens warf sie ihm vor, seine Quellen falsch zu lesen und zu interpretieren, und zweitens wies sie darauf hin, dass seine so negative Darstellung der Ungarischen Revolution die Chancen der politischen Flüchtlinge schmälerte, finanzielle Unterstützung in den Vereinigten Staaten zu erhalten. Putnam fürchtete, Bowens Artikel in der hochgeschätzten »North American Review« werde private Wohltätigkeitsorganisationen davon abbringen, den revolutionären Flüchtlingen zu helfen. Dieser Punkt war von enormer Bedeutung. Anders als die Schweiz oder Frankreich bot die Regierung der Vereinigten Staaten politischen Flüchtlingen keine finanzielle Unterstützung. Es oblag also vollständig privaten Organisationen, Gelder zu sammeln und unter den Emigranten zu verteilen. Mary Lowell Putnam sorgte sich daher: »da dies mit der Autorität eines unserer ältesten und respektiertesten Periodika erfolgt, es eine weite und tiefe Wirkung entfaltet. Sein Einfluss war möglicherweise größer auf diejenigen, die lediglich aus zweiter Hand gehört hatten, der North American habe die ungarische Sache der Sympathie unwert erklärt, als auf die, die den fraglichen Artikel gelesen hatten. … Die Teile der Gemeinschaft, die möglicherweise die großzügigsten und mit14 Zur Rezeption der 1848er Revolutionen in Amerika und ihrer Bedeutung in den Diskussionen über die Abschaffung der Sklaverei siehe Roberts. 15 Zu Kossuths Wahrnehmung in den USA, Komlos; Spencer. Jüngere, gegensätzliche Interpretationen bieten Deák und Frank, To Fix the Attention. 16 Roberts, 146–168.

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fühlendsten sind – diejenigen, die im aktiven Leben stehen –, sind gerade diejenigen, die die geringste Muße haben, um sich der Erforschung historischer Fragen zu widmen, und die am ehesten geneigt sind, ihr Vertrauen auf das zu setzen, was sie als gesicherte Autoritäten betrachten.«17 Es ließe sich argumentieren, dass der Einfluss des Werks de Gerandos weitaus größer wurde als es der Autor je gehofft hatte. Durch die Artikel Mary Lowell Putnams trug de Gerando in maßgeblicher Weise dazu bei, wie die Amerikaner über die Ungarische Revolution dachten – und infolgedessen beeinflusste de Gerando das Ausmaß, in dem politische Flüchtlinge in ihrer neuen Heimat unterstützt wurden. Die »Ungarische Kontroverse« hatte nicht nur Konsequenzen für die Flüchtlinge, sondern auch für Francis Bowen. Was als gelehrte Diskussion begann, ruinierte zumindest zeitweise Bowens akademische Karriere. Offensichtlich als Reaktion auf seine Rolle in dieser Debatte weigerte sich der Aufsichtsrat (Board of Overseers), seine Anstellung zu bestätigen.18 Die Revolutionen von 1848 und ihre Folgen setzten nicht nur de Gerandos Werke in einen neuen politischen Kontext, sondern auch das persönliche Netzwerk seiner Frau. Mary Lowell Putnam bewunderte nicht nur de Gerandos Arbeiten, sie war auch mit seiner Familie bekannt. Diese persönliche Verbindung wiederum erlangte in den frühen 1850er Jahren größere Bedeutung. Die erhaltenen Quellen erlauben es nicht, das erste Zusammentreffen zwischen der Lowell- und der de Gerando-Familien zu rekonstruieren. Die Lowells waren eine wohlhabende Familie in Neuengland, deren Mitglieder häufig nach Europa reisten. Vermutlich wurde auf einer dieser Reisen der direkte Kontakt hergestellt. Um 1850 bestand bereits ein reger Austausch zwischen de Gerandos Witwe Emma Teleki und mehreren weiblichen Angehörigen der weiteren Lowellschen Familie.19 Emma Teleki, die sich nach der Revolution von 1848 in Paris niederließ, schickte Anna Lowell, einer Kusine Mary Lowell Putnams, eine Sammlung von Zeichnungen ihrer Schwester sowie einige Bücher als Geschenk.20 Diese Zeichnungen und Bücher beschäftigten sich unmittelbar mit der Geschichte der Ungarischen Revolution. Emma Telekis Schwester Blanka wurde unter dem Vorwurf der Verschwörung gegen das habsburgische Imperium verhaftet und verbrachte mehrere Jahre in Kufstein in Festungshaft.21 17 18 19 20 21

Putnam, North American Review on Hungary, S. 418 und 422. Story, S. 141; Morison, S. 290–293. Zu Emma Teleki: Bajomi Lázár, S. 919; Borbíró, S. 69 f. Teleki. Sáfrán, S. 3–20.

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Biographien, Netzwerke und Narrative

Während dieser Zeit hatte sie die Erlaubnis, zu lesen und zu zeichnen; Emma Teleki hatte einige dieser Zeichnungen in einem schönen, grünen Album mit geprägtem Einband zusammengefasst. Zeichnungen und Bücher fanden ihren Weg von Anna Lowell in Mary Lowell Putnams Büchersammlung und nach deren Tod in die Bestände der Widener Library an der Harvard Universität. In der Widener Library wurden viele der Bücher neu eingebunden, was bedeutete, dass die Seiten neu beschnitten wurden, und es besteht kein Zweifel, dass manche handgeschriebenen Widmungen auf diese Weise verloren gegangen sind. Gleichwohl sind einige handgeschriebene Notizen bis zum heutigen Tag erhalten und belegen eine direkte Beziehung zwischen Emma Teleki und den Lowells.22 Zudem wird Mary Lowell Putnam in einem der Bücher Emma Telekis als Hauptfigur einer Kurzgeschichte erwähnt. Im zweiten Band des »Buchs von Antonina und Attila«, einer Sammlung kurzer Geschichten mit Moral für Kinder, stellt jedes Kapitel eine bestimmte Tugend dar. In der Geschichte über »Mária« sind die Unterstützung der Revolutionen in Europa und die tiefe Empathie für die politischen Flüchtlinge die Tugenden, die im Zentrum stehen. Die biographischen Details in der Geschichte lassen keinen Zweifel daran, dass Mary Lowell Putnam das Vorbild für »Mária« gewesen ist.23 Emma Teleki stellte in ihren Werken auf diese Weise eine Art Reziprozität her: So wie Mary Lowell Putnam sich auf Auguste de Gerando stützte, um die Ungarische Revolution als eine Sache darzustellen, die in den Vereinigten Staaten der Unterstützung wert sei, so pries Emma Teleki die Großherzigkeit »Márias« als Tugend, an der sich ihre eigenen Kinder ein Beispiel nehmen sollten. Das Beispiel der de Gerando-Teleki-Familie zeigt einige schmale und doch bedeutsame Wege, auf denen die 1848er-Revolutionen eine Zäsur in den Biographien herstellten, die bereits ein transnationales Element enthielten. Die Biographie des Sprachlehrers von Mary Lowell Putnam, Károly Krajtsir, macht einen ähnlichen Punkt deutlich, indem sie illustriert, wie sich die Revolution von 1848 in die Biographien politischer Flüchtlinge der vorangegangenen Generationen einfügte.24 Károly Krajtsir wurde in Galizien im Habsburgerreich geboren. Er studierte Medizin in Pest und zog nach dem Abschluss des Studiums (1829) nach Eperjes, heute Prešov in der Slowakei, wo er eine Arztpraxis eröffnete. Der Aufstand im russischen Gebiet des geteilten Polens 1830/31 stieß auf große Sympathien für die polnische Sache in Ostmitteleuropa; auch Krajtsir 22 Teleki, Bd. 2., S. 4–5. 23 Ebd., Bd. 2, S. 104. 24 Es gibt mehrere Schreibweisen des Namens: Károly oder Charles, Krajtsir oder Krajcsik.

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sammelte Geld und leistete andere Formen von Unterstützung für verwundete polnische Soldaten in Eperjes. Mehr noch begab er sich persönlich in das Russische Reich, wo er sich als Militärarzt der polnischen Armee anschloss.25 Nach der Niederschlagung des polnischen Novemberaufstands ging Krajtsir mit der Großen Emigration nach Paris. Dort wurde er Anhänger des Polnischen Nationalkomitees (Polski Komitet Narodowy).26 In seinem selbstgewählten Pariser Exil schrieb Krajtsir verschiedene Pamphlete und Briefe auf Ungarisch und Lateinisch (z. B. »poloni ad hungaros«), die er mit der Bitte um Geld für die polnischen Flüchtlinge in die ungarische Reichshälfte sandte.27 Es ist kaum festzustellen, welche Wirkung Krajtsirs Pamphlete insgesamt hatten, aber wir können zeigen, dass Krajtsirs Schriften handschriftlich kopiert wurden und weit zirkulierten, insbesondere unter denjenigen, die am ungarischen Vormärz teilnahmen und später wichtige Figuren in der Ungarischen Revolution werden sollten. Der Historiker Géza Závodszky betont, dass Lajos Kossuth, der später seinerseits eine Symbolfigur der Ungarischen Revolution wurde, die Kopie eines der Briefe Krajtsirs unter seinen Papieren hatte.28 Krajtsir siedelte 1833 nach Amerika über. Er fasste diesen Entschluss nach einem Treffen in Paris mit Peter Duponceau, dem Vorsitzenden der Amerikanischen Philosophischen Gesellschaft in Philadelphia. Jenseits des Atlantiks wurde Krajtsir ein Sprecher der polnischen politischen Flüchtlinge, die unmittelbar nach dem Novemberaufstand 1830/31 in die Vereinigten Staaten flüchteten. Diese Flüchtlinge waren meist Offiziere, die in das Habsburgerreich geflohen und von dort über Triest ins amerikanische Exil geschickt wurden.29 Krajtsir verfolgte auch den Gedanken, eine eigenständige Ansiedlung polnischer Flüchtlinge in Amerika zu gründen. Zu diesem Zweck ersuchte er sogar um finanzielle Unterstützung seitens der amerikanischen Regierung. Der ambitionierte Plan scheiterte letztlich aus zwei Gründen: weil die Flüchtlinge weder die erforderliche Erfahrung noch die Kenntnisse hatten, um Land zu bestellen, und weil die amerikanische Regierung zwar bereit war, die polnischen Flüchtlinge symbolisch zu unterstützen, nicht aber finanziell.30 Nachdem Krajtsirs Experiment einer polnischen Kolonie in bitterer Enttäuschung Závodszky, Egy magyar amerikai a XIX. században, S. 33. Ebd., S. 34. Gömöri, S. 367. Závodszky, Egy magyar amerikai a XIX. században, S. 34. Zur Ausweisung polnischer Offiziere durch das Habsburgerreich nach Amerika, Klemke, S. 88 f. 30 Krajtsir pulizierte die Geschichte seiner bitteren Erfahrungen im Flugblatt »The Poles in the United States«.

25 26 27 28 29

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Biographien, Netzwerke und Narrative

endete, widmete er seine Energien der Gründung von Schulen und dem Verfassen theoretischer Schriften zur Pädagogik. Krajtsir schrieb mehrere Studien über Linguistik und erlangte Berühmtheit als talentierter Sprachlehrer. Zu seinen talentiertesten Schülerinnen gehörte Mary Lowell Putnam, die bei ihm Polnisch und Ungarisch lernte.31 Die Revolution von 1848 eröffnete ein neues Kapitel in Krajtsirs Biographie als politischer Flüchtling. Als er 1848 von den Ereignissen in Europa hörte, verließ Krajtsir die Vereinigten Staaten und begab sich nach Ungarn. Es gibt keinen Nachweis dafür, dass er jemals dort ankam, und im Dezember 1849 war er bereits auf dem Rückweg nach Nordamerika, mit dem gleichen Schiff, das auch die ersten ungarischen Flüchtlinge der 1848er Revolution über den Atlantik brachte. Die Flüchtlingsgruppe bestand hauptsächlich aus Offizieren mit ihren Familien, die gegen ihre Kapitulation in der Festung Komárom (Komarno) einen Auswanderungspass der habsburgischen Regierung erhalten hatten.32 Krajtsirs Erfahrungen als Migrant in Amerika und insbesondere seine Erfahrung als Sprecher der polnischen politischen Flüchtlinge war unmittelbar bedeutsam für die Flüchtlinge aus der ungarischen Hälfte des Habsburgerreichs.33 Krajtsir schloss sich dem Führer der kleinen Gruppe, László Újházy, auf dessen Reise nach Washington als Übersetzer und Berater an. Újházy schlug – möglicherweise auf Anregung Krajtsirs – vor, die ungarischen Flüchtlinge in einer eigenen Kolonie anzusiedeln.34 Dieses Neu-Buda-Projekt hatte eine längere Lebensdauer als die polnische Initiative 15 Jahre zuvor, es scheiterte aber ebenfalls am mangelnden Interesse seitens der ungarischen Flüchtlinge und an finanziellen Problemen. In den Folgejahren galt Krajtsir weiterhin als Experte für ungarische Angelegenheiten in Amerika, obwohl er nicht als offizieller Sprecher für die Emigrantengemeinschaft diente.35 Als Sprachlehrer Mary Lowell 31 Obwohl Géza Závodszky in seinem Aufsatz über Krajtsirs amerikanische Kontakte davon ausgeht, dass Mary Lowell Putnam die Ehefrau von George Palmer Putnams, des Herausgebers des Spätwerks Krajtsirs, gewesen sei, spricht die Genealogie der Lowell-Familie dafür, dass sie mit Samuel Putnam verheiratet war. Das wird auch von der Tatsache gestützt, dass die beiden auf der gleichen Grabstätte auf dem Mount Auburn Friedhof in Boston beerdigt sind, vgl. Lowell, The Lowell Genealogy, S. 120. 32 Gál, S. 60. Es gibt verschiedene Schreibweisen des Namens Újházy, ich verwende die Variante mit y. 33 Závodszky, Az Amerika-motívum és a polgárosodó Magyarország a kezdetektől 1848-ig, S. 123. 34 Gál, S. 69. 35 Im Herbst 1849, nach seiner Rückkehr aus Europa, hielt Krajtsir eine Reihe von Vorträgen über ungarische Geschichte und Kultur in Boston, siehe Boston Evening Gazette, August 11 1849, 1.

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Putnams blieb er – wenn auch indirekt – am öffentlichen Diskurs über politische Emigranten beteiligt. Das Maß, in dem Krajtsir außerdem zum Inhalt der Artikel, die Mary Lowell Putnam in den frühen 1850er Jahren berühmt machen sollten, beigetragen hat, ist nicht feststellbar. Der Verfasser des Nachrufs auf Krajtsir vermutete, dass Krajtsir für seine Hilfe in der »Ungarischen Kontroverse« nicht hinreichend gewürdigt wurde.36 Krajtsirs Biographie ist einzigartig, wie es jede Biographie ist, aber sie zeigt in beispielhafter Weise wichtige Eigenheiten dessen, was sich als revolutionäre Tradition im 19. Jahrhundert bezeichnen ließe: eine Wechselwirkung zwischen historischen Ereignissen, die sich zu einer starken Identitätsressource politischer Flüchtlinge zusammenfügten. Für Krajtsir waren der Aufstand von 1830/31 und später die Revolution von 1848 Teile der gleichen Geschichte. Zwar schaffte es Krajtsir 1848 nicht ganz bis nach Ungarn, verschiedene andere Flüchtlinge der 1830er Jahre, insbesondere polnische Offiziere, schlossen sich aber 1848/49 der ungarischen Armee an, um gegen das Habsburgerreich zu kämpfen. Als angesichts der militärischen Niederlage die Reste der ungarischen revolutionären Armee die Grenze zum Osmanischen Reich überschritten, waren nicht wenige Flüchtlinge Mitglieder der polnischen und italienischen Legionen, die wiederum aus Berufsoffizieren sowie jungen Revolutionären bestanden hatten, die am ungarischen Unabhängigkeitskrieg gegen das Habsburgerreich teilnehmen wollten.37 Die meisten größeren militärischen Konflikte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie der Krimkrieg, der Sardinische Krieg und später der Amerikanische Bürgerkrieg, waren Ereignisse, mit denen sich die politischen Flüchtlinge stark identifizierten und an denen sie in großer Zahl teilnahmen.38 In einigen Fällen bestimmten Flüchtlinge ihre Partizipation an solchen Ereignissen in Kategorien der Realpolitik: Die Unterstützung Piemonts z. B. diente dazu, die Habsburgische Herrschaft in anderen Reichsteilen zu schwächen. In anderen Fällen beruhte die Identifikation der Flüchtlinge mit einer Sache auf ihren Prinzipien: Viele 1848er-Flüchtlinge glaubten, der Kampf 36 »Unter der Anleitung und unterstützt vom historischen und linguistischen Wissen Krajtsirs wies eine Dame aus Boston (Frau Putnam) die Irrtümer und Unterstellungen, die in [Bowens] Artikel enthalten waren, triumphal zurück und umgab ihren Namen mit einem Heiligenschein von Humanität und Gelehrsamkeit. Aber Krajtsir erfuhr nur Undankbarkeit von denen, denen er seine Zeit gewidmet hatte und für deren literarischen Ruhm er die Grundlagen gelegt hatte.« Karoly (sic.) Krajtsir, An obituary, [n. p. 186–?], vi–vii. 37 Zu den polnischen Soldaten und Offizieren in der Ungarischen Revolution siehe Kovács. 38 Zu den ungarischen Flüchtlingen im amerikanischen Bürgerkrieg, Vida; zu jene in den italienischen Unabhängigkeitskriegen bzw. ihrem Verhältnis zum Risorgimento, Lukács, Az olaszországi magyar légió; Nyulásziné Straub.

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Biographien, Netzwerke und Narrative

für die Abschaffung der Sklaverei im Amerikanischen Bürgerkrieg vertrete die gleichen Werte, für die sie 1848 in ihren Heimatländern gekämpft hatten.39 Die Revolution von 1848 fügte sich in eine lange Reihe von Ereignissen ein, welche jede Biographie politisierte (und repolitisierte), die bereits transnationale Aspekte aufwies. Krajtsir verkörperte eine revolutionäre Tradition, die sich über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg spannte.

Exilorganisationen in der Folge der 1848er Revolutionen: Das Ende einer Ära Die Revolutionen in der Mitte des 19. Jahrhunderts brachten die Tatsache zum Vorschein, dass die individuellen Nationsbildungsprojekte, die die Emigranten ohne Bewusstseinskrise konsekutiv unterstützen konnten (wie Krajtsir zuerst den polnischen, dann den ungarischen Aufstand), fast unausweichlich miteinander in Konflikt gerieten, wenn sie sich simultan manifestierten. Exilorganisationen, die in der Folge der 1848er Revolutionen gegründet wurden, spiegelten die Prekarität der Solidarität zwischen revolutionären Bewegungen über die Grenzlinie nationaler Zugehörigkeit hinweg wider. Die Blütezeit transnationaler Exilorganisationen, die sich vor allem über politische Programme definierten, waren die Jahrzehnte gewesen, die zu den Revolutionen von 1848 hingeführt hatten, und nicht ihre unmittelbare Folgezeit.40 Die beiden maßgeblichsten Beispiele solcher transnationaler Organisationen der 1830er und frühen 1840er Jahre waren der Geheimbund um Giuseppe Mazzini und der Arbeiterbildungsverein. Es ist kein Zufall, dass das einzige Experiment größeren Umfangs, eine transnationale Exilorganisation unmittelbar nach den Revolutionen von 1848 aufzubauen, das Zentraleuropäische Demokratische Komitee, ebenfalls ein Geisteskind Mazzinis, war. Mazzini, der seit den 1830er Jahren im Londoner Exil lebte, gründete das Komitee im Juni 1850. Die Aufgabe des Komitees sollte darin bestehen, als Steuerungskörperschaft für die republikanischen Bewegungen in ganz Europa zu dienen. Seine Mitglieder sollten die jeweiligen nationalen Interessen in einer gemeinsamen Arbeit hin zu einem europaweiten republikanischen Projekt verteten. Nationale Repräsentation war in diesem Falle eher eine symbolische denn praktische Angelegenheit, da die Komiteemitglieder nicht offiziell von ihren Heimatländern delegiert wer39 Vida, S. 1–10; zum gleichen Phänomen unter deutschen politischen Flüchtlingen, Honeck. 40 Zur Spannung zwischen Solidarität und Konkurrenz zwischen Exilgruppen vor der Revo­ lution, Diaz.

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den würden: Ihr Mandat beruhte auf ihrer Glaubwürdigkeit als Republikaner. Mazzini repräsentierte die italienischen Länder, Arnold Ruge stand für die deutschen Gebiete, Alexandre Ledru-Rollin für Frankreich und Albert Darasz für die polnische Nation ohne Staat. Mazzinis Konzeption für dieses Komitee beschränkte sich nicht auf republikanische Flüchtlinge in London. Er nahm auch Kontakt zur charismatischen Zentralfigur der Ungarischen Revolution, Lajos Kossuth, auf, der sich zurzeit in Küthaya im Osmanischen Reich (heute in der Türkei) aufhielt, und lud ihn ein, dem Komitee beizutreten.41 Mazzini lud Kossuth in zwei verschiedenen Briefen ein. Diese Briefe zeigen das Spannungsfeld zwischen den transnationalen Dimensionen des mazzinischrepublikanischen Projekts und seiner inter-nationalen Struktur. In seinem ersten Brief lud Mazzini Kossuth als republikanischen Gesinnungsgenossen zum Mitteleuropäischen Demokratischen Komitee ein. Er legte den Akzent auf den Umstand, dass kein republikanisches Projekt in Mitteleuropa für sich alleine gelingen könne: »Zwar ist die Revolution in Europa materiell unterlegen; aber niemals ist die revolutionäre Idee stärker gewesen, lebendiger, universeller … Was braucht sie noch, um zu triumphieren? Das, was ihr 1848 und 1849 gefehlt hat: Eine Organisation, einen umfassenden Plan, eine gemeinsame Richtung, die Gleichzeitigkeit der Aktion«.42 In einem zweiten Brief, den Mazzini einige Tage später abschickte, lud er Kossuth nicht als republikanischen Herzens­ genossen ein, sondern als Repräsentanten der ungarischen Nation im Exil. In diesem Brief legte Mazzini den Akzent nicht auf die enge Verbindung zwischen den republikanischen Projekten in ganz Europa, sondern betonte realpolitische Motive. In anderen Worten: Er zeigte, warum Kossuths Mitgliedschaft dem ungarischen nationalen Projekt ungeheuer hilfreich sein würde. »Nur in Wien können wir Buda und Rom, Pesth (sic) und Mailand befreien. Unsere beiden Vaterländer sollten sich über die Adria hinweg die Hände reichen.«43 Mazzini beendete diesen Brief mit der Vision einer »freien Konföderation« der »Italiener, Slawen und Ungarn«, die in der Lage sein solle, die Herrschaft des Hau41 Mazzini an Kossuth, 7. August 1850 und August 15. 1850; beide Briefe im Original in Kastner, S. 3–7. 42 »Si la révolution a succombé matériellement en Europe, jamais l’idée révolutionnaire n’a été plus robuste, plus vivace, plus universelle … Qui lui faut-il donc pour triompher? Le seule chose qui lui a manqué en 1848 et en 1849: une organisation, un plan d’ensemble, une direction commune, la simultanéité d’action.« Mazzini an Kossuth, London 7. August 1850, ebd., S. 3. 43 »C’est á Vienne que nous pouvons émanciper Buda et Rome, Pesth (sic.) et Milan. Nos deux Patries doivent se tendre la main par-dessus l’Adriatique.« Mazzini an Kossuth, London 15. August 1850, ebd., S. 6.

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ses Habsburg über Ostmitteleuropa zu stürzen. Er unterzeichnete diesen Brief bezeichnenderweise nicht als Leiter des Komitees, sondern als dessen italienischer Vertreter. Kossuth wurde also in zweierlei Funktion eingeladen: Weil er große republikanische Glaubwürdigkeit besaß – in guter republikanischer Manier nennt Mazzini ihn in beiden Briefen »Bruder« – und außerdem weil er als Exilvertreter einer Nation handelte, die das Potential hatte, eine strategisch bedeutsame Rolle im Kampf gegen die habsburgische Herrschaft über Mitteleuropa insgesamt zu spielen. Nach einigem Zögern wies Kossuth die Einladung in beiden Funktionen zurück, da er sich zu diesem Zeitpunkt Optionen für die politische Verbindung mit anderen Gruppen offenhalten wollte.44 Diese doppelte Einladung lässt sich eher als Erbe der 1830er und 1840er Jahre lesen denn als Produkt der Revolutionen von 1848. Das Mitteleuropäische Demokratische Komitee markierte das Ende und nicht den Beginn einer neuen Ära. Es sollte als Fortsetzung und letzte der Mazzinischen Großorganisationen vom Typ des Jungen Europa (1834) oder des Europäischen Demokratischen Komitees (1846) betrachtet werden, als eine Organisation, die nie über den Planungsstand hinauskam.45 Um die Mitte der 1840er Jahre war Mazzini davon überzeugt, dass die Ära der Geheimorganisationen vorbei war und dass nur effektiv koordinierte Anstrengungen der verschiedenen nationalen Bewegungen, die sich öffentlich zusammenschlossen, eine in ganz Europa erfolgreiche Revolution durchführen könnten. Mazzini formulierte dieses Ziel bereits 1846 in seinem Essay »Thoughts upon Democracy in Europe«.46 Er stand mit dieser Vision nicht allein. George Julian Harney initiierte als Angehöriger der englischen Brüderlichen Demokraten eine Assoziation mit dem Deutschen Arbeiter-Bildungsverein und der Polnischen Demokratischen Gesellschaft (einer Organisation, die aus dem polnischen politischen Exil der 1830er Jahre hervorgegangen war). Infolgedessen veröffentlichte die chartistische Zeitung »The Northern Star« 1846 einen gemeinsamen Appell an die »Demokraten 44 Lukács, Magyar politikai emigráció, S. 56. 45 Mastellone, S. 98. 46 »Wenn wir von Nationalität sprechen, dann meinen wir Nationalität, wie die Völker, frei, brüderlich und assoziiert, sie auffassen werden […] Der Kosmopolitismus wird sein Werk dann vollendet haben. Ein anderes wird beginnen. Dies ist das der Assoziation der Länder; die Allianz der Nationen, damit diese in Frieden und Liebe ihre Mission in der Welt erfüllen können; die Organisation der freien und gleichen Völker, die sich gegenseitig helfen, alle für Zivilisation und Fortschritt von den Ressourcen profitieren, die die anderen besitzen, und die voranschreiten frei von allen Fesseln zur Verwirklichung dieses Kapitels der göttlichen Vorsehung, das in die Orte ihrer Geburt, in ihre Traditionen, in ihre nationalen Idiome und auf ihre Stirn eingeschrieben ist.« Mazzini, Thoughts upon Democracy in Europe, S. 198–200.

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aller Nationen, die Rechte und Interessen der Massen zu unterstützen«.47 Diesen Appell unterzeichneten Vertreter aus Großbritannien, den deutschen Ländern, Frankreich, Polen, Skandinavien, der Schweiz und Ungarn. Das Mandat dieser Vertreter beruhte eher auf ihrem Selbstverständnis, sowohl hinsichtlich ihrer Nationalität als auch ihrer politischen Orientierung, als auf irgendeiner Form öffentlicher Unterstützung in ihren Heimatländern oder -regionen. Gleichwohl brachte auch dieser Appell die tiefe Überzeugung zum Ausdruck, dass die Lösung für Europas politische und soziale Probleme nur eine transnationale sein konnte. Am Vorabend der Revolutionen von 1848 hatte der französische Maler Frédéric Sorrieu sogar visualisiert, wie diese Freundschaft der Nationen aussehen würde, nämlich in seinem Kupferstich »Traum von einer universalen demokratischen Republik« aus dem Jahre 1848. Aus dem Bildhintergrund nähert sich dem Betrachter eine Prozession der Völker und defiliert vor einer Freiheitsstatue auf der linken Seite des Bildes, auf dem Weg zum Parnass der Demokratie. Die Prozession wird angeführt von den Vereinigten Staaten von Amerika und der Schweiz (also bestehenden Republiken), gefolgt von einer langen Reihe der Nationen Europas, einschließlich Frankreichs, der italienischen und deutschen Länder, Polens und auch Ungarns. Für den Fall, dass die Symbolik des Bildes selbst nicht hinreichend deutlich machen sollte, dass Sorrieu eine neue Grundlage für internationale Beziehungen darstellen wollte, formulierte er es in der Bildunterschrift noch einmal ausdrücklich: Unter Bezugnahme auf das System der internationalen Beziehungen, wie sie nach den Napoleonischen Kriegen eingerichtet worden waren, schrieb Sorrieu: »Völker, schafft eine Heilige Allianz und reicht einander die Hände!«48 Diese neue Heilige Allianz schloss nicht nur Europa ein, sondern hatte auch eine transatlantische Dimension. Die europaweite Revolution, die so viele in den 1840er Jahren erwartet und 1848 so euphorisch begrüßt hatten, wurde solchen Hoffnungen und Erwartungen nicht gerecht. Die transnationale Solidarität gegen Unterdrückung, die sich die Reformer vor den Revolutionen vorgestellt hatten, zeigte sich weder während der Ereignisse noch im Exil auf der Ebene der Organisationen. Mazzinis Zentraleuropäisches Demokratisches Komitee zerfiel im Jahre 1850, noch bevor es die Arbeit aufnehmen konnte. Darüber hinaus führten weitere Organisationen, die tatsächlich vor 1848 auf transnationaler Ebene tätig gewesen 47 »To the democrats of all nations in defence (sic.) of the rights and interests of the masses«, in ebd., S. 101. 48 von Plessen, S. 345–346.

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waren, wegen der überwältigenden Zahl an politischen Flüchtlingen, die sich ihnen anschließen wollten, restriktive Aufnahmebedingungen ein. Das beste Beispiel ist vielleicht der Deutsche Arbeiter-Bildungsverein in London, der vor der Revolution Mitglieder aus verschiedenen europäischen Staaten und sogar aus dem Osmanischen Reich gehabt hatte. Bis 1848 basierten die Aufnahmebedingungen des Arbeiter-Bildungsvereins auf sozialer Herkunft, politischer Zugehörigkeit und der Fähigkeit, Deutsch zu sprechen; nach der 1848er Revolution verlor die Organisation jedoch ihr transnationales Element. Von einer kleinen Verkörperung proletarischer Solidarität über nationale Grenzen hinweg verwandelte sich diese Organisation – wie so viele andere – in eine Wohltätigkeitsorganisation für Emigranten aus einem bestimmten Herkunftsgebiet. Wie Christine Lattek in ihrem Buch über den deutschen Sozialismus im Exil schrieb, »war der Gipfel des sozialistischen Internationalismus für das nächste Jahrzehnt überschritten.«49 Die neuen Exilorganisationen, die in der Folge der Revolutionen von 1848 entstanden, legten typischerweise zwei Aufnahmebedingungen fest: Herkunftsort und Teilnahme an der Revolution. Anders gesagt: Die prekäre Solidarität, die die revolutionären Bewegungen über die Grenzen hinweg miteinander verbunden hatte, wurde im Exil, wo die Revolutionäre aus den verschiedenen Herkunftsgebieten mit dem Erbe der Niederlage zu Rande kommen mussten, nicht stärker.50 Dabei sollte nicht übersehen werden, dass, obwohl die Exilorganisationen ihre Ressourcen selten miteinander teilten, die Dynamiken ihrer Tätigkeit jedoch ähnlich waren. Erstens verstanden sie sich alle als Repräsentanten einer nationalen Bewegung. Wenn also beispielsweise Carl Mayer, ein deutscher Flüchtling, der für die zentrale deutsche Exilorganisation in der Schweiz tätig war, eine Spende aus Heilbronn mit der Bestimmung erhielt, diese solle nur für Emigranten aus Heilbronn verausgabt werden, lehnte er dieses Ansinnen mit dem Hinweis ab, dass auch wenn kein vereinter deutscher Staat bestehe, die deutsche Einheit wenigstens im Exil Wirklichkeit werden müsse.51 In ähnlicher Weise diente die von Ferenc Pulszky geleitete »Association of Hungarian Exiles« (oder »Hungarian Association«) in London als Verrechnungsstelle für die Verteilung finanzieller Unterstützung seitens wohltätiger Organisationen 49 Lattek, S. 33; eine detaillierte Analyse der Beziehung zwischen der republikanischen Bewegung und den Arbeitervereinen bietet Claeys. 50 Zur Prekarität der Prinzipien Brüderlichkeit und Solidarität im Exil in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Aprile; Brice. 51 Carl Mayer an den Verein Heilbronner Jungfrauen zur Unterstützung der Heilbronner Flüchtlinge, 13. September 1849, in: BA Berlin, N 2185/26, S. 20, siehe auch Jansen, S. 113.

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für die politischen Flüchtlinge aus dem Königreich Ungarn.52 Der Herkunftsort allein qualifizierte noch nicht für eine Mitgliedschaft, was der zweite gemeinsame Nenner bei durchweg allen Exilorganisationen gewesen ist: Sie weigerten sich kategorisch, Migranten finanzielle Hilfe zu leisten, die aus anderen Gründen als aus politischer Verfolgung ihre Heimatländer verlassen hatten. Anders gesagt: Obwohl Károly Krajtsir und Emma Teleki wichtige Rollen dabei spielten, das Bild Ungarns im öffentlichen Imaginativ herauszubilden, und Funktionen bekleideten, die denen der politischen Flüchtlinge vergleichbar waren, hätten sie vom Ungarischen Bund keine finanzielle Unterstützung erhalten, wenn sie um solche nachgesucht hätten. Die genaue Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Migration, die die Exilorganisationen verkörperten, resultierte aus zwei Faktoren: erstens ihrem spezifischen Nationsverständnis, in dem das revolutionäre Ereignis und die Umrisse der politischen Gemeinschaft eng miteinander zusammenhingen.53 Exilorganisationen verkörperten ein partizipatorisches Konzept der Nation, in der die Teilnahme an der Revolution eine Vorbedingung dafür war, Mitglied der nationalen Gemeinschaft werden zu können. Daneben resultierten die Einschränkungen hinsichtlich der Mitgliedschaft auch daraus, dass die Größe der politischen Exilgruppe bereits eine einschüchternde Herausforderung darstellte. Letzten Endes war das primäre Ziel dieser frühen Exilorganisationen dem der Unterstützungsnetzwerke, die um die Migrationsnetzwerke herum entstanden, sehr ähnlich: Es ging um die Bereitstellung finanzieller Hilfen, damit die politischen Flüchtlinge eine Anstellung finden oder sich in ihren neuen Wohnungen einrichten konnten. So gab der Ungarische Bund beispielsweise Flüchtlingen in London Geld zum Kauf von Werkzeugen, mit denen diese sich in ihrem alten Beruf niederlassen konnten, oder er gab ihnen Startkapital für die Gründung eines neuen Unternehmens. Die meisten dieser Organisationen waren bereits 1850 auseinandergefallen. Dies hatte zum Teil praktische Gründe. Exilorganisationen erschöpften ihre Mittel in der Regel sehr rasch. Stiftungen, die Exilorganisationen aus humanitären Gründen unterstützten, fanden neue Anliegen, die ihrer Unterstützung würdig erschienen, und Stiftungen, die aus politischen Sympathien heraus handelten, trockneten ebenfalls aus, nachdem deutlich wurde, dass es in absehbarer Zukunft keine neue Welle von Revolutionen geben würde. Wichtiger ist noch, 52 Kabdebó, S. 34–35; zum größeren Kontext siehe Frank, Lajos Kossuth and the Hungarian Exiles in London. 53 In der Praxis teilten Wirtschaftsmigranten und politische Flüchtlinge oft die gleichen Räume und Ressourcen; ihre Geschichte war verwoben, vgl. Sundermann, S. 12–16; allgemeiner bei Steidl, Ehmer, Nadel u. Zeitlhofer.

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dass auch das Organisationsprinzip, das sich auf die imaginierte Gemeinschaft der Nation stützte, im Exil zerfiel. Es gab kein vereintes politisches Exil für die deutschen Gebiete oder für das Königreich Ungarn.54 Im ungarischen Fall wurde zwar die Person eines Lajos Kossuth wie keine andere öffentliche Figur mit der Revolution von 1848 und dem folgenden Exil identifiziert, aber nicht alle politischen Flüchtlinge waren von seiner alles überstrahlenden öffentlichen Präsenz begeistert oder stimmten seinem politischen Programm zu.55 Tatsächlich wurde die Fragmentierung des politischen Exils für den zeitgenössischen Betrachter eines seiner auffälligsten Merkmale.56 Damit soll nicht gesagt werden, dass das Gewahrsein von Transnationalität, das von den Revolutionen des Jahres 1848 begünstigt worden war, nun verschwand. Wenn eine der bitteren Erfahrungen der Revolution von 1848 in der Begrenztheit transnationaler Solidarität bestand, dann war eine der Lektionen, die die Revolutionäre daraus gelernt hatten, die, dass ihr zentrale Bedeutung zukam.57 Zum Ende der 1850er Jahre gründete gar Ignác Helfy, ein ungarischer politischer Flüchtling, der in Mailand lebte, die Zeitschrift »L’Alleanza«, in der er die Notwendigkeit einer regionalen Kooperation der »kleinen Nationen« in Ost- und Südosteuropa hervorhob.58 Diese Überzeugung hatte praktische Konsequenzen, die über das Reich der Bücher hinausreichten: Sie bot auch eines der Schlüsselmotive für die Beteiligung politischer Flüchtlinge am Krimkrieg oder später im Sardinischen Krieg zwischen Piemont und dem Habsburgerreich. Allerdings gab es einen Bereich, in dem die Revolutionen von 1848 in direkt messbarem Maße zu einem hohen Grad transnationalen Austauschs führte: Als Ironie der Geschichte drängte die Furcht vor Exilorganisationen großen Maßstabs die Geheimpolizeien ganz Europas dazu, effektiver zusammenzuarbeiten als jemals zuvor.59 Der Umfang der Bedrohung, den die Restaurationsregierungen darin sahen, dass eine Organisation wie Mazzinis Zentraleuropäisches Demokratisches Komitee tatsächlich zustande kommen könnte, zeigt, dass die Zeitgenossen dem politischen Exil ein beträchtliches »transna54 Freitag, Introduction, S. 3. 55 Einer der wahrnehmbarsten Kritiker Kossuths aus dem ungarischen Exil war Bertalan Szemere, vgl. Hermann, Bertalan Szemere, S. 10; zu den verschiedenen politischen Orientierungen, Lukács, Chapters, S. 43–44. 56 Brice, S. 37. 57 Siemann, Asyl, Exil und Emigration, S. 70–75. 58 In dieser Zeitschrift wurde Lajos Kossuths Plan für eine Donauföderation veröffentlicht, allerdings aufgrund eines Missverständnisses zwischen Kossuth und Helfy vorzeitig, vgl. Csorba, S. 163. 59 Siemann, Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung, S. 320.

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tionales Potential« zuschrieben. Der Umstand, dass keine solche Exilorganisation erfolgreich gegründet werden konnte, belegt, dass dieses Potential in der Realität stark beschränkt war.

Exil: Das Einschreiben Ungarns in die Landkarte In einem Aufsatz über Lajos Kossuths Vortragsreise in den USA argumentierte der Historiker Tibor Frank, erst dieser Besuch habe Ungarn auf der mentalen Landkarte der amerikanischen Öffentlichkeit eingezeichnet.60 Lajos Kossuth, der nach der Absetzung des Hauses Habsburg im April 1849 Regierungspräsident wurde, befand sich im Exil im Osmanischen Reich, als ihn der amerikanische Senat 1851 zu einer Vortragsreise in die Vereinigten Staaten einlud.61 In Vorbereitung seines Besuchs und während der Reise wurden ungarische Geschichte, Kultur und die gegenwärtige politische Lage in Ungarn fast täglich in den amerikanischen Zeitungen behandelt.62 Anderthalb Jahre nachdem die ersten ungarischen Flüchtlinge in den Vereinigten Staaten eingetroffen waren und fast ein Jahr nachdem sich Mary Lowell Putnam und Francos Bowen in eine Kontroverse über die Bedeutung der Ungarischen Revolution verwickelt hatten, wurde Ungarn erneut ein populäres Thema in den amerikanischen Zeitschriften. Zwar war die öffentliche Aufmerksamkeit, die Kossuth umgab, außergewöhnlich; gleichwohl war es die öffentliche Wahrnehmung, die den Emigranten im Allgemeinen folgte und teilweise von ihnen wachgerufen wurde, die zu einer internationalen Präsenz ihrer Heimatländer beitrug. Es war diese Tätigkeit, das Handeln als öffentliche Person, die auch Ferenc Pulszky in seinen Erinnerungen als seine größte Leistung als politischer Flüchtling ansah.63 Zwar trugen in Pulszkys Fall auch spezifische biographische Gründe dazu bei, warum er diesen bestimmten Aspekt seines Lebens als den bedeutsamsten identifizierte; es ist aber sicherlich zutreffend, dass die Revolutionen von 1848 ein signifikantes Interesse an Ungarn sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten generierten. Als die militärische Seite der Revolutionen allmählich in ganz Europa zu ihrem Ende kam, fokussierte sich die öffentliche Aufmerksamkeit immer mehr auf Ungarn, wo die Kämpfe bis in den August 1849 andauerten und wo die Festung Komárom (Komarno) bis zum 27. September 60 61 62 63

Frank, To Fix the Attention, S. 58. Zur Geschichte dieser Vortragsreise siehe Freitag, The Begging Bowl of the Revolution. Roberts, S. 146–150. Pulszky, Meine Zeit, mein Leben, S. 3.

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1849 in den Händen der Revolutionäre blieb. Zudem gehörte Lajos Kossuth zu den wenigen Auserwählten, den »großen Exilierten« des 19. Jahrhunderts; er baute sich bewusst zur öffentlichen Person auf und zog sowohl als Person, die zur Symbolfigur eines historischen Ereignisses wurde, als auch als äußerst charismatische Figur das Interesse auf sich. Es ist vielleicht ein aussagekräftiges Detail, dass der Istanbuler Korrespondent des »Schwäbischen Merkur« noch im Herbst 1850 regelmäßig über das Schicksal der ungarischen Flüchtlinge im Osmanischen Reich berichtete. Die Ereignisse in Ungarn in einem breiteren europäischen Kontext hatten den Rahmen gebildet, in dem de Gerandos Werk eine neue Bedeutungsebene zugekommen war, aber im Nachgang der Revolution wurde ein ganzer Chor neuer Stimmen und Geschichten für die zeitungslesende Öffentlichkeit zugänglich, als die politischen Flüchtlinge begannen, ihre Erfahrungen selbst mitzuteilen. Geschichten wundersamer und abenteuerlicher Fluchten füllten die Buchläden in Europa, aber auch jenseits des Atlantiks. Es handelte sich um ein wahrhaft globales Phänomen. Ebenso wie die Ankunft der ungarischen Flüchtlinge in den Vereinigten Staaten und später Kossuths Reise Ungarn erstmals auf die mentale Landkarte jenseits des Atlantiks gebracht hatte, kam es vermutlich erst im Nachgang der 1848er Revolutionen dazu, dass beispielsweise die schwedische Öffentlichkeit erstmals in den Schriften des Flüchtlings Samuel Manovill Detailliertes über Ungarn erfuhr. Manovill veröffentlichte die Geschichte seiner abenteuerlichen Flucht aus Ungarn in den letzten Tagen der Revolution sowohl als Buch als auch als Artikelserie in der Zeitung »Aftonbladet«.64 Während die Revolutionen, die in ganz Europa stattfanden, Sachkenntnissen über das östliche Europa eine neue politische Wichtigkeit und Bedeutung verliehen, besaßen die persönlichen Erfahrungen der Revolutionäre beträchtlichen zusätzlichen Wert. Wie Lucy Riall in »Garibaldi: The Invention of a Hero« gezeigt hat, erfanden politische Akteure, und unter ihnen auch Flüchtlinge, bewusst ihr öffentliches Image, kultivierten es mit den damals verfügbaren Mitteln der Massenmedien und nutzten es als Quelle politischen Kapitals.65 Politik und Unterhaltung waren um die Mitte des 19. Jahrhunderts in engerer Weise miteinander verzahnt als jemals zuvor. In diesem Kontext bauten sich Symbolfiguren des Exils wie Garibaldi, Kossuth oder selbst Mazzini ein charismatisches Image auf, in dem sie ihre persönlichen Biographien an die »Biogra64 Ich bin Michael L. Miller äußerst dankbar, dass er seine Forschung über Samu Manovill mit mir geteilt hat. Manovill veröffentlichte seine Memoiren im Jahre 1851 auf Schwedisch, vgl. Manovill. 65 Riall, S. 16–30.

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phien« ihrer Nationen banden. Mit der Geschichte der Revolution zu handeln war jedoch kein Privileg, das nur einigen gefeierten Exilanten zukam: Sie bildete eine wichtige Einkommensquelle für einen beträchtlichen Teil der Exilgemeinschaften. Was die Geschichte der Revolution anging, lechzte das Publikum beiderseits des Atlantiks nach Authentizität. Als daher Károly Krajtsir, der zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Revolution in Europa bereits seit zehn Jahren in den Vereinigten Staaten lebte, in Boston eine Vortragsreihe über ungarische Geschichte und Geographie hielt, gab ihm die »Boston Evening Gazette« eine schlechte Kritik, weil er langweilig sei.66 Seine Vorträge boten ebenso wie de Gerandos Bücher nützliche allgemeine Hintergrundinformationen und spielten eine wichtige Rolle in der gelehrten Debatte über die Revolutionen von 1848. In der breiteren Öffentlichkeit hatten jedoch Berichte über die Revolution aus erster Hand größeren Erfolg und wurden in großem Umfang in den frühen 1850er Jahren publiziert. Diese Berichte deckten hinsichtlich Inhalt, Stil und Motivationen ein breites Spektrum ab. Wilhelmine Becks »Memoiren einer Dame während des letzten Unabhängigkeitskrieges in Ungarn« beispielsweise erzählte die fesselnde Geschichte der abenteuerlichen Flucht einer Frau aus Ungarn in den letzten Tagen der Revolution, während Philipp Korns Memoiren sich auf die militärische Geschichte der Revolution aus der Perspektive eines deutschen Offiziers fokussierten, der in der ungarischen Armee gedient hatte, und auch einen umfänglichen Abschnitt über die Erfahrungen der Flüchtlinge im Osmanischen Reich enthielten.67 Die Veröffentlichungen reichten von fesselnden Erzählungen, die eine mehr oder minder kohärente Geschichte erzählten, die sich teilweise wie ein Abenteuerroman las, bis zu bitteren Polemiken, die allenfalls innerhalb der Exilgemeinschaft von Bedeutung waren.68 Diese Spannweite resultierte unter anderem aus dem Umstand, dass das Verfassen von Memoiren im Leben der Flüchtlinge mehrere Aufgaben erfüllte: Erinnerungen waren gleichzeitig eine wichtige Einkommensquelle und eine Art, mit der Niederlage und der eigenen Rolle in der Revolution fertig zu werden. Der Markt für Narrative über die Revolution war lukrativ, kompetitiv und in gewissem Maße begrenzt. Als daher der ehemalige ungarische Justizminis66 Boston Evening Gazette, August 11 1849, 1. 67 Einige Erinnerungen enthielten ausführliche Reisebeschreibungen. Zum Beispiel bezogen sich die Erinnerungen von Ludwig Simon, einem Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, die die Geschichte seines Exils in der Schweiz wiedergeben, ausdrücklich auf einen Reiseführer, vgl. Simon. 68 Im ungarischen Fall sind wohl die Erinnerungen Bertalan Szemeres das wichtigste Beispiel für die zweite Art von Veröffentlichungen, vgl. Szemere.

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ter Bertalan Szemere 1850 Nachforschungen über den Buchmarkt in England für seine hochpolemischen Memoiren anstellte, teilten ihm seine Bekannten in England mit, er solle sein Glück in den Vereinigten Staaten versuchen, da der englische Markt noch nicht wieder für einen weiteren Band mit Erinnerungen zu diesem Thema aufnahmefähig sei.69 Nicht nur bestand bald kein Bedarf mehr daran, die gleiche Geschichte nochmals zu erzählen, es stellten sich zudem einige Memoiren, die im Nachgang der Revolution erschienen, als Fälschungen heraus. So erwiesen sich Wilhelmine Becks oben erwähnte Beschreibungen ihrer Abenteuer weitgehend als Fiktion, was es für weitere Memoiren umso schwerer machte, in England publiziert zu werden.70 Was den amerikanischen Buchmarkt angeht, hatten Memoiren dort 1851, in Erwartung des anstehenden Besuchs Lajos Kossuths, bessere Chancen auf Veröffentlichung als 1850, als Szemere versuchte, sein Buch zu verkaufen. Die Flüchtlinge fanden allerdings verschiedene Wege, auf denen sie aus der Neugier des Publikums an der Revolution Kapital schlagen konnten, indem sie Informationen über den kulturellen und politischen Hintergrund ihrer Heimatländer anboten. Die Ehefrau Ferenc Pulszkys, Theresa Pulszky, publizierte beispielsweise auf Deutsch und Englisch über eine große Bandbreite an Themen. Zunächst veröffentlichte sie die Geschichte ihrer Flucht aus Ungarn (1850), es folgte ein Buch über ungarische Volkstraditionen und -sitten (1852), schließlich brachte sie einen Bericht über ihre Reise in die Vereinigten Staaten 1851/52 heraus, auf der sie Kossuth auf seiner Vortragsreise begleitet hatte (1853).71 Als daher Ferenc Pulszky das literarische und journalistische Wirken der Flüchtlinge als deren Hauptbeitrag zur Beeinflussung des internationalen Status ihrer Heimatländer identifizierte, dachte er auch an die Arbeiten seiner Frau, die er teilweise mitverfasst hatte. Selbstverständlich spielten auch politische Erwägungen dabei eine Rolle, wenn Pulszky diesen besonderen Aspekt seines Lebens als wichtigsten Bei69 Ernő Simonyi to Bertalan Szemere, London, 26. August 1851, Országos Széchenyi Könyvtár (OSZK), Levelestár. 70 Beck, Personal Adventures. Der Titel wurde 1851 auf Deutsch als »Memoiren einer Dame während des letzten Unabhängigkeitskrieges in Ungarn« veröffentlicht, auf Ungarisch als »Egy hölgy emlékiratai«. Die Baronin wurde von der Polizei verhaftet und unter dem Vorwurf des Betrugs vor Gericht angeklagt. Sie starb unter tragischen Umständen kurz vor Prozessbeginn, zu ihren Erinnerungen: Nagy, S. 31–33. 71 Pulszky, Aus dem Tagebuch einer ungarischen Dame; zeitgleich auf Englisch (»Memoirs of Hungarian Lady«); dies., Sagen und Erzählungen aus Ungarn; ein Jahr später auf Englisch (»Tales and Traditions of Hungary«); dies. u. Pulszky, White, Red, Black; im gleichen Jahr in deutscher Übersetzung („Weiss, Roth, Schwarz.)

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trag der politischen Flüchtlinge zur internationalen Präsenz ihrer Heimatländer bezeichnete. Pulszky hatte zahlreiche Möglichkeiten, was er aus seiner eigenen Biographie hätte wählen können. Er war in vielfacher Funktion eine zentrale Figur der Exilgemeinschaft: Unmittelbar nach der Revolution stand er »Hungarian Association« vor, der finanzielle Mittel unter den Flüchtlingen verteilte – ein Kapitel seines Lebens, an das er in seinen Memoiren mit besonderer Bitterkeit erinnerte –, er reiste viel mit Kossuth und fungierte als dessen Sekretär. Anders als Kossuth war Pulszky bereit, einen Modus Vivendi für das Königreich Ungarn innerhalb des Habsburgerreichs zu akzeptieren, und genau dies bestimmte, was er als wichtigstes Element seiner Biographie als politischer Flüchtling ansah. Bereits 1861, als Pulszky in das erste ungarische Parlament seit der Revolution von 1848 gewählt wurde, schrieb er, die wichtigste Aufgabe des politischen Exils bestehe nicht darin, als alternative politische Elite zu agieren, sondern darin, die internationalen Erfahrungen der Flüchtlinge in den Dienst eines gewählten ungarischen Parlaments zu stellen.72 Im Jahre 1861 war dies eine bedeutsame Feststellung, denn Pulszky war nicht in der Lage, sein Mandat im Ausland anzutreten, und das Parlament wurde aufgelöst, bevor es seine Arbeit aufnehmen konnte; diese Auffassung prägte Pulszkys Handeln aber auch, nachdem er 1866 die Erlaubnis erhielt, nach Ungarn zurückzukehren.

Schlussfolgerungen In seiner Betrachtung über die Eigenschaften des Exils der 1830er Jahre und den Ort der Revolutionen von 1848 in der Geschichte des politischen Exils im Allgemeinen schrieb der Historiker Wolfgang Siemann: »Der Internationalismus des europäischen Exils beruhte auf der Vision eines kommenden ›Völkerfrühlings‹ […] Der letzte Versuch, diese Vision zu verwirklichen, ist in der deutschen Reichsverfassungskampagne zu erkennen, als Deutsche, Polen, Ungarn, Franzosen im deutschen Südwesten im militärischen Kampfe der scheiternden Revolution doch noch zum Erfolg verhelfen wollten.«73 Wenn wir den Blick auf die Geschichte formalisierter politischer Organisationen eingrenzen, ist diese Analyse sicherlich zutreffend: Das Zeitalter der transnationalen Exilorganisationen, wie derer Mazzinis, war im Nachgang der 1848er Revolutionen zumindest vorläufig vorbei. Allerdings gibt es zwei Punkte, an denen sich Siemanns Fest72 Pulszky, Meine Zeit, mein Leben, S. 87 f. 73 Siemann, Asyl, Exil und Emigration, S. 71.

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Biographien, Netzwerke und Narrative

stellung leicht modifizieren ließe. Erstens: So niederschmetternd die Enttäuschung angesichts der gescheiterten Revolutionen von 1848 auch sein mochte, die Solidarität zwischen den revolutionären Bewegungen verschwand doch nicht völlig. 1859 schloss sich eine ungarische Legion dem italienischen Einigungskampf an, mit dem doppelten Ziel, bei der Schaffung eines neuen Nationalstaates mitzuhelfen und gleichzeitig das Habsburger Imperium zu schwächen, da dieses seine Besitzungen in den italienischen Gebieten verlieren würde. Mit nur leichter Überspitzung könnte man selbst die umfangreiche Teilnahme politischer Flüchtlinge aus ganz Europa (einschließlich Ostmitteleuropas) am amerikanischen Bürgerkrieg als Teil dieser Tradition sehen. Das Engagement der politischen Flüchtlinge von 1848 auf der Seite der Union erfolgte aus komplexen Motiven einschließlich einer Demonstration von Loyalität gegenüber dem neuen Asylland. Gleichwohl rechtfertigt der Umstand, dass sie den amerikanischen Bürgerkrieg in ähnliche Begriffe fassten wie die Revolution von 1848, das historische Ereignis jenseits des Atlantiks in eine Reihe mit dem italienischen Einigungskrieg zu stellen. Zwar materialisierte sich die Solidarität nicht in Form transnationaler Exilorganisationen, wohl aber zweifellos bei spezifischen Gelegenheiten. In der Tat, wie Michael L. Miller in seiner Fallstudie Simon Deutsch eindrucksvoll zeigte, konnte sich ein »kosmopolitischer Patriotismus« in einigen Fällen zum Leitmotiv der eigenen Exilbiographie entwickeln.74 Zweitens: Obwohl im unmittelbaren Nachgang der Revolutionen von 1848 keine transnationale Exilorganisation entstand, schufen die Revolutionen doch viele kleine, aber wichtige Verbindungen zwischen Akteuren aus dem östlichen Europa und ihren Aufnahmegesellschaften (und darüber hinaus). Im Falle Emma Telekis könnte man argumentieren, dass erst die Revolution von 1848 ihre nationale Herkunft bedeutsam machte. Nach 1848 kam ihren Familienverbindungen (ihrer Heirat, die ihren Ehemann dazu anregte, sich mit ungarischer Geschichte und Kultur zu befassen, und ihren Kontakten mit ihrer inhaftierten Schwester) und ihrem weiteren persönlichen Netzwerk ebenfalls eine Schicht politischer Bedeutung zu. Insgesamt schufen die Revolutionen von 1848 im Falle Ungarns einen Rahmen, in dem die Geschichte der Revolution in Ungarn und darüber hinaus Mitteilungen über Themen der ungarischen Geschichte und Kultur ein breites und interessiertes Publikum in Europa sowie jenseits des Atlantiks gewannen. An der Oberfläche weist dieser historische Moment viele Ähnlichkeiten mit der Lage der polnischen politischen Flüchtlinge nach dem Novemberaufstand 74 Miller.

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1830/31 im russischen Teilungsgebiet auf. In der Tat diente die Erfahrung der polnischen Flüchtlinge – meist adlige Offiziere (sowie einige Unterstützer wie Károly Krajtsir), die in den deutschen Gebieten, Belgien, Frankreich und auch den Vereinigten Staaten in den frühen 1830er Jahren beträchtliche öffentliche Unterstützung erfuhren – den Flüchtlingen aus der ungarischen Hälfte des Habsburgerreichs als Bezugspunkt und prägte ihre Erwartungen an das Exil. Allerdings hatten sich die Zeiten in den 18 Jahren zwischen den beiden Revolutionen geändert. Wie Dieter Langewiesche in seiner Studie über die deutschen Reaktionen auf den polnischen Aufstand festgestellt hat, waren deutsche Wohltätigkeitsorganisationen um 1830 noch in der Lage, polnische Flüchtlinge in erster Linie auf der Grundlage humanitärer Erwägungen zu unterstützen, aber zur Zeit der 1848er Revolutionen war die Flüchtlingsfürsorge bereits in neuer Weise politisiert.75 Mehr noch hatte sich der Charakter des Exils als solches geändert: Möglicherweise mehr als in jeder anderen Revolution des 19. Jahrhunderts verschränkten sich Prozesse von Migration und politischem Exil nach 1848.76 In gewissem Maße lässt sich die »Nationalisierung« von Organisationen, die vor der Revolution ein funktionierendes transnationales Element aufgewiesen hatten (so etwa der Deutsche Arbeiter-Bildungsverein), mit den bis dahin unbekannten Dimensionen der Emigration erklären, die die Revolutionen von 1848 verursachten.

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75 Langewiesche, Humanitäre Massenbewegung und politisches Bekenntnis. 76 Levine.

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Cross-mapping. Lokale Verankerungen und transnationale Netzwerke in den Narrativen ostmitteleuropäischer Frauenbewegungen um 1900 Seit den 1860er Jahren formierten sich Frauenorganisationen und -initiativen zu politischen Bewegungen. Zunächst engagierten sie sich für Frauenbildung und Erwerbsarbeit, u. a. für die Zulassung zu einem regulären Universitätsstudium.1 Es folgten Forderungen nach Gleichheit in Zivil- und Staatsrecht sowie bei der politischen Repräsentation, flankiert von Debatten über die Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Die Bewegungen waren vereinsgetragen, folglich lokal organisiert, und schlossen sich in nationalen und internationalen Verbänden zusammen. Sie richteten ihre Anliegen an Städte und Gemeinden, wenn sie beispielsweise sozialreformerische Initiativen anregten, oder an Staaten, wenn sie Zugang zu höherer Bildung forderten. Dezidiert verstanden sie sich als deutsche, österreichische, französische, englische, polnische oder ukrainische2 Bewegungen, und waren damit Teil des nation building.3 Mit den internationalen Organisationen hoben sie die globale Relevanz der Forderungen und Anliegen wie Wahlrecht, Bekämpfung des Frauenhandels, Sozialreform hervor; diese lösten aber auch selbst Konflikte aus, die aus dem Prinzip resultierten, ausschließlich nationalstaatliche Dachverbände aufzunehmen und damit nationale Bewegungen in Imperien wie beispielsweise in der Habsburgermonarchie auszuschließen.4 Grundsätzlich allerdings begriffen die Bewegungen die Geschlechterfrage als eine universale Herausforderung, als ein die politischen Grenzen eines Staates oder einer Nation überschreitendes, prinzipielles Problem von Erziehung, »sozialer Frage« und Moral. Sie gingen davon aus, dass Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ein überall anzutreffendes Problem und in seinen Auswirkungen weltweit ähnlich vorzustellen sei.

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Bock, S. 169; Paletschek u. Pietrow-Ennker, Women’s Emancipation Movement, S. 312–314; Offen, S. 108–143. Ukrainisch war im 19. Jahrhundert keine eindeutige Sprach- oder Nationsbezeichnung, sondern ein politischer Begriff, der auf die Bildung einer Nation in Galizien zielte, vereint mit den ukrainischsprachigen Konnationalen der unter zarischer Herrschaft stehenden Ostukraine. Zeitgenoss/innen in Galizien verwendeten vielfach »ruthenisch (rus’kyj)«, gelegentlich »ukrainisch«. Der Klarheit willen benutze ich ukrainisch, vgl. Himka. Paletschek u. Pietrow-Ennker, Concepts and Issues, S. 4 f.; Planert; Malečková. Rupp; Zimmermann; Schüler.

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Cross-mapping

Somit vertraten die Frauenbewegungen die Interessen einer Gruppe, die nicht an nationale Grenzen oder lokale Gegebenheiten gebunden war, und strebten gleichzeitig die Reformierung einer spezifischen Gesellschaft an, weshalb sie ihre Anliegen sowohl an die Gesetzgeber, an den politischen Raum eines Staates, als auch an alle Frauen und Männer richteten. Daraus resultierte ein Dilemma: Die Bewegungen beanspruchten, für ein Kollektiv zu sprechen, das sich einerseits aus spezifischen zeitlich und räumlich gebundenen Erfahrungen konstituierte, andererseits als allgemeingültig und transnational begriff, als »Wir Frauen«. Wie mit diesem Dilemma umgegangen wurde, möchte ich im Folgenden anhand von Selbstdarstellungen der polnischen und der ukrainischen Frauenbewegung untersuchen und dabei Darstellungen aus den deutschsprachigen österreichischen Kernlanden der Habsburgermonarchie und dem Deutschen Reich vergleichend hinzuziehen. Die Analyse der Texte erfolgt in zwei Schritten: Im ersten werde ich ausgehend von einem brieflichen Erfahrungsbericht einer Protagonistin der polnischen Frauenbewegung zeigen, wie die Motive persönlichen Engagements zu erzählstrategischen Topoi wurden, die in unterschiedlichen Texten nachweisbar sind, von Briefen über Erzählungen bis hin zu Handbuchartikeln. Im zweiten werde ich die Selbstdarstellungen im Hinblick auf die Entstehungsnarrative der Bewegungen und ihre Einordnung in nationale und transnationale Geschichten Europas und der Menschheit untersuchen. Es ist durchaus unüblich, eine Analyse von der Peripherie her zu beginnen, jedoch zeigt ein solches Vorgehen, dass die ostmitteleuropäischen Bewegungen in transnationale Netzwerke und Kommunikation integriert waren. Nicht Voranschreiten und Nachholen oder Zentrum und Peripherie strukturierten die Beziehungen zwischen den Bewegungen, sondern eine Art gemeinsamer und geteilter Ideen-Pool. Er vernetzte sie über einen spezifischen Raum hinaus und konnte gleichzeitig in konkrete Kontexte übersetzt werden. Das war von zentraler Bedeutung, denn die polnische Frauenbewegung konstituierte und organisierte sich über die Grenzen dreier Imperien hinweg, war Polen doch seit Ende des 18. Jahrhunderts zwischen Preußen bzw. dem Deutschen Reich, Russland und der Habsburgermonarchie geteilt. An die Stelle eines zentralstaatlichen Dachverbands traten, wie Natali Stegmann gezeigt hat, gesamtpolnische Kongresse, die konstitutiv für die Bewegung waren. Auch Publikationen kursierten über die Teilungsgrenzen hinweg, wenngleich sie, insbesondere im russischen Teilungsgebiet, Zensur und Verboten ausgesetzt waren und daher vielfach geschmuggelt werden mussten.5 Im österreichischen Teilungsgebiet 5 Siehe Stegmann, Die Töchter der geschlagenen Helden; Czajecka.

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dagegen, in Galizien, konnte aufgrund der habsburgischen Versammlungs- und Publikationsgesetzgebung eine vereinsgetragene Bewegung entstehen.6 Ukrainische Initiativen gründeten sich daher ebenfalls primär in Galizien und waren um grenzüberschreitende Kontakte und Verbindungen in die zum Russischen Reich gehörende Ostukraine bemüht. Meine These ist, dass die politische Rhetorik der Frauenbewegungen zwei miteinander korrespondierende Spannungsverhältnisse verknüpfte, das zwischen transnationaler Konzeption und konkreter Kontextualisierung und das zwischen persönlicher Erfahrung und kollektiv geteilter Geschichte. Das heißt, die Bewegungen waren nicht entweder national oder transnational, sie konstituierten sich gleichzeitig als national und transnational, begründet in universal gültiger Benachteiligung und gebunden an Staaten, Imperien und Nationalgeschichten. Raum und Zeit funktionierten als mobile Konstruktionen, abhängig von Rhetorik, Perspektive und Kontext.7 Die Uneindeutigkeit oder Variabilität räumlicher Bezüge und die Historisierung von Erfahrung stellten Potentiale dar, aus denen der Erfolg der Bewegungen erwachsen konnte. Universalität bestärkte ihre Bedeutung und Legitimität, Übersetzung in konkrete Kontexte eröffnete Anknüpfungspunkte und unterstrich den Anspruch auf Gestaltungskompetenz. Transnationalität entstand somit nicht erst mit internationalen Organisationen, sondern resultierte aus dem Dilemma, gleichzeitig ein universal vorgestelltes Kollektiv zu vertreten und sich an eine konkret lokalisierte, meist national imaginierte Gesellschaft zu richten. Allerdings stellt sich die Frage, wie die Bande zwischen Vorstellungen, Geschichte und Erfahrung geschmiedet wurden. Die Bewegungen benötigten ein Narrativ – nicht nur, um die eigenen Leistungen hervorzuheben, einen Pantheon ihrer Held/ innen zu kreieren und das Kollektiv zu stärken,8 sondern auch, um überhaupt eine Beziehung herzustellen zwischen Erfahrung, Kollektiv und Geschichte. Reinhart Koselleck hat die im 19. Jahrhundert in Gebrauch kommenden »Bewegungsbegriffe« als ein »politisch-soziale[s] Sprachfeld« beschrieben, das »von der progressiv aufgerissenen Spannung zwischen Erfahrung und Erwartung induziert« worden sei.9 Ganz ähnlich hat Joan Scott im Hinblick auf die Frage, wie Menschen zu der Überzeugung kommen konnten, Erfahrungen zu teilen und daraus eine gemeinsame Identität abzuleiten, Phantasie ins Spiel gebracht. Sie versteht unter Phantasie die Inszenierung von Wünschen, beispielsweise 6 7 8 9

Olechowski; Najdus. Appaduraj. Grever. Koselleck, S. 373 f.

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Cross-mapping

nach gesellschaftlicher Partizipation. Phantasie führe über die gegebenen Normen oder Regeln hinaus.10 Der Begriff betont das Kreative der Zukunftsvisionen und gleichzeitig das Individuelle als Voraussetzung für Engagement. Die Narrative der Bewegungen konstruierten eine spezifische Beziehung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie stellten eine gemeinsame Unterdrückungserfahrung her, historisierten sie als kollektive Geschichte und leiteten aus der Vergangenheit eine bessere Zukunft ab. Dies geschah sowohl im Bezug auf konkrete politische Räume, als auch in transnationaler Perspektive. Das Kollektiv und der Raum mussten daher ebenso wie die Unterdrückungs- oder Benachteiligungserfahrungen immer wieder neu erzählt werden. Raphael Samuel hat darauf aufmerksam gemacht, dass historisches Wissen nicht nur als akademisches Wissen zu beschreiben ist. Es umfasst Lebenserfahrung, aber auch Phantasie, Mythos, Erinnerung und Begehren. Vor allem ist es sozial, an seiner Produktion sind viele beteiligt. Geschichte sollte man sich, so Samuel, eher als Aktivität von unzähligen Akteuren/innen vorstellen, denn als das Ergebnis von Professionalität.11 Elizabeth Bronfen versteht unter Geschichte einen Akt des Transvestismus: Die Gegenwart legitimiert sich durch das Anlegen von Kleidern aus der Vergangenheit. Bronfen spricht von crossmapping, mit dem sie das »Aufeinanderlagern und Kartografieren von Denkfiguren« beschreibt und von intertextuellen Beziehungen oder expliziten Einflüssen unterscheidet.12 An der Inszenierung einer Bewegungsgeschichte waren viele beteiligt, ihre Denkfiguren lagerten als cross-mapping aufeinander und in unterschiedlichen Räumen. Bei dieser Art der sozialen Produktion von Wissen geht es nicht um konkrete Autoren/innen oder folgende, nachweisbare Stationen von Narrativen, sondern um Topoi und Erzählstrukturen, die als Alltagsmythen im Sinne von Roland Barthes13 in das Wissen über die Bewegungen eingehen und es formen.

Die Selbstdarstellungen Die Entstehung der Frauenbewegungen wurde von Beginn an vielfach kommentiert und legitimiert. Zu den zentralen Texten der polnischen Bewegung gehörte die erstmals 1873 erschienene Erzählung »Marta« von Eliza Orzesz10 11 12 13

Scott, Phantasie und Erfahrung. Samuel, S. 3–27. Bronfen, S. 9–19. Barthes, S. 85–151.

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kowa (1842–1910),14 einer der bekanntesten polnischen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts. Die Formierung einer ukrainischen Bewegung betrieb insbesondere Natalja Kobryns’ka (1855–1929), eine Schriftstellerin und Publizistin aus Galizien, die sich für den Zusammenschluss der ukrainischsprachigen Frauen stark machte, einen Frauenverein gründete und Kindergärten sowie Gemeinschaftsküchen auf dem Dorf propagierte.15 Mehrere Erzählungen von Kobryns’ka werden als Bewegungsliteratur, als motivierend für die ukrainischen Frauen angesehen, so beispielsweise »Zadlja kusynka chliba [Für ein Stück Brot]«.16 1887 erschien unter dem Titel »Ruch kobiecy [Die Frauenbewegung]« ein mit der Entstehung der polnischen Frauenbewegung in den 1860er Jahren befasster Beitrag von Maria Wysłouchowa (1858–1905), einer aus den kresy, den nach den Teilungen Polens als Westgouvernements in das Zarenreich eingegliederten Gebieten Polen-Litauens, stammenden, in Galizien im Exil lebenden polnischen Bauern- und Frauenbewegungsaktivistin.17 Kobryns’ka brachte ebenfalls mehrere Publikationen heraus, in denen die Geschichte der Frauenbewegungen thematisiert wurden, so 1887 den Frauenalmanach »Peršyj Vinok [Der erste Kranz]«18 und 1893–1896 »Naša Dolja [Unser Schicksal]«, eine dreibändige Sammlung von Texten zur »Frauenfrage«.19 Im Beitrag »Pro ruch žinočyj v novijšych časach [Über die Frauenbewegung in neueren Zeiten]«20 diskutierte sie die historischen Gründe für die Entstehung der Frauenbewegungen im Allgemeinen; »Žinoča sprava v Halyčyni [Die Frauenfrage in Galizien]«21 behandelt das Aufkommen und die Bedeutung von Frauenthemen, -forderungen und -initiativen in Galizien. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert wurde eine Reihe von Handbüchern über Geschichte und Wirkung der Frauenbewegungen publiziert. Das mehrbändige »Handbuch der Frauenbewegung«, von den führenden Köpfen der deutschen Frauenbewegung Helene Lange (1848–1930) und Gertrud Bäumer (1873–1954) herausgegeben, stellt im ersten, 1901 erschienen Band die Bewe-

14 Zu Orzeszkowa siehe Jankowski, Orzeszkowa z Pawłowskich Eliza. 15 Bohachevsky-Chomiak; Malančuk-Rybak. 16 Kobryns’ka, Zadlja kusynka chliba (engl. Kobrynska, For a Crust of Bread); zur Publikationsgeschichte, Moroz, S. 393. 17 Wysłouchowa, Ruch kobiecy, S. 25 f., S. 156 f.; zu Maria Wysłouchowa siehe Bryll. 18 Kobryns’ka u. Pčilka, Peršyj vinok. 19 [Kobryns’ka], Naša Dolja. 20 Kobryns’ka, Pro ruch žinočyj. 21 Dies., Žinoča sprava.

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gungen der europäischen und amerikanischen Staaten vor.22 Den Beitrag zur polnischen Frauenbewegung hat die aus dem preußischen Teilungsgebiet stammende und in Warschau lebende Publizistin und Aktivistin Iza Moszczeńska (1864–1941)23 verfasst, den zum Deutschen Reich Gertrud Bäumer selbst.24 Eine vom »Stowarzyszenie pomocy naukowej dla Polek imienia J. I. Kraszewskiego [J. I. Kraszewski-Verein für die Unterstützung von Polinnen in der Wissenschaft]« organisierte Vortragsreihe, an der sich im polnischen Kontext einschlägig bekannte Frauen mit allen in den Frauenbewegungen damals diskutierten Themen von Bildung über Erwerbsarbeit und Recht bis zu Geschlechterbeziehungen, Frauenhandel und Kunst beteiligt hatten, wurde 1903 unter dem Titel »Głos kobiet w kwestyi kobiecej [Die Stimme der Frauen in der Frauenfrage]« gedruckt.25 Der Artikel zur Geschichte der Frauenbewegung stammt von Paulina Kuczalska-Reinschmit (1895–1921)26 aus Warschau, ebenfalls eine der führenden Frauen der polnischen Frauenbewegung.27 1930 wurde vom »Österreichischen Frauenbund« das Werk »Frauenbewegung, Frauenbildung und Frauenarbeit in Österreich«28 herausgegeben, gleichermaßen Nachschlagewerk und Bericht, eingeführt von Marianne Hainisch (1839–1936),29 einer der bekanntesten Vertreterinnen der deutsch-österreichischen Frauenbewegung. In den Beiträgen stellten die Chronistinnen die wichtigsten Personen der Bewegung vor und fassten deren Arbeit zusammen. Die Texte dienten der Übergabe der Staffel – des Werks, der Deutungsweisen und Ziele – an nachfolgende Generationen sowie der Legitimation nach außen, der Einschreibung in eine interessierte Öffentlichkeit, und nach innen, der Schaffung von eigenen Traditionen.30 Die Intention und die Adressat/innen kann man den Vorworten der Handbücher entnehmen. Lange sprach im »Handbuch der Frauenbewegung« von den »Fernerstehenden«, den Männern, sowie den »in- und ausserhalb der Bewegung stehenden Frauen«.31 Das österreichische Handbuch kombinierte den 22 Lange u. Bäumer, Handbuch der Frauenbewegung; zu den Biografien der Autorinnen siehe Schaser, S. 29–76. 23 Gawin; Rzepecki. 24 Moszczeńska; Bäumer, Geschichte der Frauenbewegung. 25 Bujwidowa, S. V. 26 Zu Kuczalska-Reinschmit siehe Krzywiec; Hulewicz, Kuczalska-Reinschmit Paulina. 27 Kuczalska-Reinschmit. 28 Braun u. a. 29 Zu Hainisch vgl. Zaar. 30 Cowman, S. 146. 31 Lange, Vorwort, S. V.

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Wunsch, zu informieren und Erfahrungen an die junge Generation weiterzugeben.32 Das Vorwort zur »Stimme der Frauen« stammt von Kazimiera Bujwidowa (1867–1932),33 einer Aktivistin der polnischen Frauenbewegung in Galizien. Sie betonte: »Aber wir machen all das [die Ungleichheit der Geschlechter im Recht, in der Bildung, in der Berufsauswahl, in der Moral darzulegen] nicht, um den Männern den Kampf anzusagen.«34 Die Intention des Buches sei es, die Männer zu informieren, um gemeinsam mit ihnen aktiv werden zu können. Bujwi­dowas »Wir« meinte konkret die Autorinnen des Buchs, spielte dabei aber auch auf ein kollektivierendes »wir Aktivistinnen der Frauenbewegung« an. Schon in diesen Einführungen wird ein komplexes Ensemble von rhetorischen Strategien verwendet: Formuliert wird das Innen und Außen eines Kollektivs, Dazugehörende und nicht Dazugehörende werden benannt. Es kann angenommen werden, dass die von ihren Autorinnen und Herausgeberinnen gewünschte Rezeption in der Mobilisierung bestand, im Eintreten für das Kollektiv »Frauen« und für eine bessere Zukunft. Die Vorworte betonen die bestehende Geschlechterdifferenz und das gemeinsame Engagement, Hinweise auf konkrete politische Räume fehlen. Zwar wurde die Vorstellung der Bewegungen nach Nationen gegliedert, die Zusammenstellung in einem »Handbuch der Frauenbewegung« (im Singular) vereinte sie jedoch wieder zu einer – transnationalen – Bewegung. Die meisten Artikel beziehen sich allerdings auf nationale Kontexte – oder, wie zu zeigen sein wird, auf universale Entwicklungen.

Wandernde Topoi Die oben erwähnte polnische Bewegungsaktivistin Maria Wysłouchowa pflegte eine umfassende Korrespondenz mit ihren Mitstreitern/innen. Dazu gehörten Frauen (und Männer) aus den drei Teilungsgebieten und aus Böhmen, unter anderem die in der tschechischen Frauenbewegung aktive Schriftstellerin Vilma Sokolová-Seidlová (1859–1941). Dieser schilderte Wysłouchowa ihre Erfahrungen mit Orzeszkowas Erzählung »Marta«: »Ein sehr schönes, wenn auch bereits älteres unter den Werken, die sich mit der Frauenfrage beschäftigen, ist ›Marta‹. Das ist die Geschichte einer jungen 32 Hainisch, Geleitwort. 33 Zu Bujwidowa vgl. Kałwa; Hulewicz, Bujwidowa Kazimiera z Klimentowiczów. 34 »A zrobiłyśmy to nie tylko dla tego, by wypowiedzieć mężczyźnie walkę.« Bujwidowa, S. VII.

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Frau, die eine weltliche, oberflächliche Erziehung erhalten hat und nach dem Tod des Ehemanns gezwungen ist, für sich und ihr kleines Kind erwerbstätig zu werden. Sie kommt nicht zurecht und nach einem verzweifelten, tragischen Kampf stirbt sie auf erbärmliche Weise. Dieser vor ungefähr 20 Jahren geschriebene Roman machte einen überwältigenden Eindruck. Ich hörte von mehreren Frauen, die die Autorin segneten und feststellten, dass sie sich nach der Lektüre bestärkt fühlten, sich grundlegend zu vervollkommnen, um Mittel zu einem eigenständigen Leben zu finden. Auch mir selbst – einem damals sehr jungen Mädchen – öffnete Marta die Augen, dass die Studien, wie ich sie zu Hause betrieb, wo das Hauptaugenmerk auf fehlerfreies Französisch, Klavierspiel und so weiter gelegt wurde, nicht ausreichten; und ich kämpfte (vor gut 20 Jahren!) so lange mit der Voreingenommenheit meiner Umgebung, bis es mir erlaubt wurde, ein Gymnasium zu besuchen.«35 Wysłouchowas Erzählung ist die Geschichte eines Kampfs gegen Benachteiligung. Aufgerüttelt von einem sozialkritischen Roman, der sich dem Mangel an Erwerbsmöglichkeiten für Frauen der inteligencja widmet, habe sie für sich höhere Bildung, den Besuch eines Gymnasiums, gefordert und durchgesetzt. Die Erzählerin (des Briefes) macht eine Erfahrung und erweitert ihren Handlungsspielraum. Diese Erfahrung wird kollektiviert – nicht nur sie, viele Frauen hätten sich durch das Lesen von »Marta« animiert gefühlt, eine Ausbildung anzustreben, die ein »eigenständiges Leben« ermögliche: Die Erzählerin macht Geschichte. Wysłouchowa verortete sich in einem bedeutsamen Kontext, dem der zeitgenössischen Frauenbewegungen; sie legitimierte deren zentrale Forderungen nach höherer Bildung und Erwerbsmöglichkeiten. Der Brief changiert sowohl als Genre als auch im Hinblick auf die Erzählweise zwischen historisch-kollektivem und individuellem, erfahrungsbezogenen Narra35 »Z utworów, odnoszących się do kwestyi kobiecej, piękną, chociaż dawną jest ›Marta‹. Jest to historya młodej kobiety, która otrzymuje światowe, powierzchowne wychowanie, a po śmierci męża, zmuszona pracować na chleb dla siebie i malutkiego dziecka, nie umie dać sobie rady i po rozpaczliwej, tragicznej walce marnie ginie. Powieść ta, napisana przed dwudziestu mniej więcej laty, wywarła ogromne wrażenie. Słyszałam od kilku kobiet, jak błogosławiąc autorkę, mówiły, że po jej przeczytaniu usiłowały wydoskonalić się w czemś gruntownie, zdobyć sobie środki do samotnego życia. Nie daleko szukając i mnie samej, wówczas bardzo młodej dziewczynce, Marta otworzyła oczy, że nauki, jakie pobierałam w domu, gdzie główną uwagę zwracano na poprawną francuzczyznę, grę na fortepianie i t. d. nie wystarcza i póty walczyłam z uprzedzeniami mego otoczenia (było to przed 20 z górą laty!) aż mi pozwolono wstąpić do gimnazyum.« Maria Wysłouchowa an Vilma Sokolová-Seidlová, 5. Juni 1894, in: Památník národního písemnictví, Praha, f. SokolováSeidlová Vilma 33/44.

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tiv.36 Indem Wysłouchowa eine historische Deutung der Frauenbewegung in Briefform fasste, und eine eigene Geschichte einbezog, stellte sie einen Zusammenhang her zwischen Geschichte, Erfahrung und Politik. Eliza Orzeszkowa war eine der wenigen polnischsprachigen Schriftstellerinnen und Publizistinnen des 19. Jahrhunderts, die nach anfänglichen Schwierigkeiten von ihrer Arbeit leben konnten, wobei sie mit »Marta« einen Grundstein für ihre materielle Unabhängigkeit gelegt hatte. Sie war schon zu Lebzeiten und ist bis heute eine der bekanntesten Vertreterinnen des Warschauer Positivismus. »Marta« beginnt mit einem Prolog, der die Sinnlosigkeit einer auf das Heiraten ausgerichteten Lebensplanung zum Thema hat: »Das Leben der Frau ist eine ewige brennende Liebe […] ist Mutterschaft […] ist ein Spiel.«37 Orzeszkowa charakterisiert den Lebensentwurf als hohl und leer: »(W)enn wir schließlich keinen lieben, dann begehren wir zu lieben … wir verdorren, bekommen die Schwindsucht.«38 Im Laufe der Ausführungen hat sich der Kollektivsingular »die Frau« in ein »Wir« verwandelt. Damit stellt Orzeszkowas Prolog nicht nur die folgende Geschichte über Martas Unglück in den Kontext eines gesellschaftlichen Problems. Der Übergang vom Kollektivsingular zum »Wir« konstruiert auch eine soziale Kategorie »Frau« und vereinnahmt anschließend die Leserinnen für dieses Kollektiv »Wir Frauen«. Der Prolog leitet zu der eigentlichen Erzählung mit den Worten über: »Vielleicht verrät uns dies ein Blatt, herausgerissen aus dem Lebensbuch einer Frau.«39 Damit ist der Charakter der Erzählung bestimmt. Mit dem Begriff »Lebensbuch« wird ein biographischer Hintergrund angedeutet, die Erzählung verspricht, als Erfahrung gelesen werden zu können. Diese Erfahrung illustriert, so die Aussage, das Problem, das der Prolog angerissen hat. Man könnte Philippe Lejeunes autobiographischen Pakt dahingehend übertragen, dass mit dem »Wir« des Prologs ein Pakt zwischen Autorin und Leserin geschlossen wird, die Geschichte Martas als von Frauen geteilte Erfahrung zu verstehen.40 36 Hämmerle u. Saurer; Ebert; Chartier u. Hébrard. 37 »Życie kobiety to wiecznie gorejący płomień miłości […] to macierzyństwo […] to igraszka.« Orzeszkowa, Marta. Powieść, S. 5. Deutsche Übersetzungen, auch im Folgenden aus: dies., Marta, Berlin, S. 5. 38 »(J)eżeli zrestą nie kochamy żadnego, to kochać pragniemy … usychamy, suchot dosta­ jemy.« Orzeszkowa, Marta. Powieść, S. 7; dies., Marta, Berlin, S. 6 f. 39 »Powie nam to może karta wydarta z życie kobiety.« Orzeszkowa, Marta, Powieść, S. 7; dies., Marta, Berlin, S. 7. 40 Lejeune. Der Pakt, der zwischen Leser/innen und Autor/in geschlossen wird, besteht darin, den Text als Autobiographie zu lesen. Notwendig sind dazu eine Reihe von Schreibstrategien, bspw. das Vorwort oder die Namensidentität zwischen Autor/in und Erzähler-Ich.

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Nicht das Lebensbuch »verrät« demnach etwas, sondern der Prolog, nämlich diese spezifische Lesart. Das Thema von »Marta« ist die Not alleinstehender Frauen aus besseren Schichten, denen es an Berufsausbildung und unabhängigen Existenzmöglichkeiten mangelt. Die Erzählung handelt von einer Beamtenwitwe, deren Mann keine Rücklagen hinterlassen hat, auf der Suche nach einem Erwerb, um sich und ihr Kind zu ernähren. Sie wird überall abgelehnt, da es ihr, trotz der für Mädchen typischen Bildung, an Ausbildung, Berufserfahrung und Kompetenz fehlt. Sie weigert sich, sich aushalten zu lassen, verelendet immer mehr, das Kind wird krank, und am Ende bringt sie sich vor Verzweiflung um. »Marta« wurde zuerst 1873 im »Tygodnik Mód i Powieści (Wochenblatt für Moden und Romane)« als Fortsetzungsroman publiziert, noch im selben Jahr als Buch und 1885 erneut aufgelegt – diesmal in einer in Warschau herausgegebenen illegalen Sammlung von Romanen.41 Das Werk stieß sofort auf starken Widerhall und wurde in den folgenden Jahren mehrfach übersetzt. Auf Russisch erschien »Marta« 1886, auf Deutsch unter dem Titel »Ein Frauenschicksal« 1887, auf Schwedisch 1888, auf Tschechisch 1891, auf Holländisch 1898, auf Esperanto 1910, auf Jiddisch und Hebräisch 1927.42 Die deutsche Übersetzung vom Dresdner Heinrich Minden-Verlag, der sich auf soziale Romane spezialisiert hatte, gehörte zur Standardausstattung der Bibliotheken der Frauenbildungsvereine der deutschen Frauenbewegung.43 Die Erzählung war, so muss man konstatieren, über die polnischsprachige Leserschaft hinaus ein großer Erfolg. Von den Protagonistinnen der Frauenbewegungen wurde »Marta« als eindringliche Behandlung der Frauenerwerbsarbeitsproblematik rezipiert.44 Vergleichbar ist seine Wirkung wohl mit Henrik Ibsens Theaterstück »Nora oder ein Puppenheim« (1879), das europaweit eine ähnliche Resonanz als aufrüttelnder Initiationstext erfuhr. Auf einem 1907 in Warschau stattfindenden Frauenkongress zu Ehren des vierzigjährigen Schaffens Orzeszkowas betonte Kuczalska-Reinschmit den großen Einfluss, den die Erzählung auf die Forderungen der Bewegung gehabt habe. »Marta« habe viele Mädchen dazu gebracht, in

41 Der »Tygodnik« erschien seit 1860 in Warschau und verband praktische Ratschläge, Literatur, Mode, populärwissenschaftliche, soziale und pädagogische Themen. Siehe dazu Dormus, S. 59; Franke, S. 79–91. 42 Siehe Gacowa, S. 22; Kraśniewska, S. 155, FN 9. 43 Ebd., S. 152 f. 44 Siehe Stegmann, Die Töchter der geschlagenen Helden, S. 170–179.

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ihren Familien »Bildungsmöglichkeiten oder berufliche Spezialisierungen« zu erkämpfen.45 Auch die Chronistin Cecylja Walewska (1859–1940), ebenfalls in der Frauenbewegung aktiv, bezeichnete »Marta« als einen der ersten Anstöße für deren Entstehung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.46 Nicht nur im Allgemeinen, auch für die konkreten Pläne von Frauen sei die Lektüre ausschlaggebend gewesen: »Wenn man die Beichten der ersten unserer Doktorinnen, Naturwissenschaftlerinnen, Philosophinnen, bedeutenden Leiterinnen höherer Forschungsinstitute hören würde, würde es sich zeigen, dass die Mehrheit Vollkommenheit in irgendeinem beruflichen Bereich unter dem Einfluss von Marta gesucht hatte.«47 Die Botschaft wurde nicht nur insofern verstanden, als sich die Leserinnen mit dem Schicksal Martas identifizierten, sie nahmen die Erzählung offenbar auch zum Anlass, die an sie gerichteten Erwartungen infrage zu stellen, »Marta« erregte ihre Phantasie und wurde trotz des fiktionalen Genres als Aufforderung gelesen, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Die Ausstrahlung des Romans war nicht auf Polen beschränkt, über die Grenze hinweg ließen sich, so Walewska, auch die Frauen in Deutschland beeindrucken: »Der Schrei Martas traf in eine schmerzende Wunde der Gesellschaft; er war die Folge solcher lange geheimen, schweren Nöte des Lebens, so dass sein Echo nicht nur in unserem ganzen Land zu hören war, sondern auch im benachbarten Deutschland, wo sich eine Übersetzung des Romans von Orzesz­ko­wa ungewöhnlich schnell verbreitete.«48 1911 organisierten die führenden Köpfe der polnischen Frauenbewegung sogar eine Umfrage zum Einfluss Orzeszkowas auf Leben und Ansichten von Frauen. 45 Ster I (1907) 4, S. 174, zitiert nach Stegmann, Die Töchter der geschlagenen Helden, S. 172; siehe auch Jankowski, Eliza Orzeszkowa, S. 151 f. 46 Walewska, Ruch kobiecy, S. 15. 47 »Gdyby wysłuchać spowiedzi pierwszych naszych doktorek, przyrodniczek, filosofek, ­wybitnych kierowniczek wyższych zakładów naukowych, okazałoby się, że większóść pod wpływem Marty szukała doskonałości w jakimś dziale pracy.« Ebd., S. 17; dies., W walce o równe prawa, S. 10: »Orzeszkowa ›Martą‹, jak wielkim dzwonem, zbudziła ze snu kobiety [Mit ›Marta‹ riss Orzeszkowa die Frauen wie mit einer großen Glocke aus dem Schlaf].« 48 »Krzyk Marty trafił w jądro takiej bólnej rany społecznej; był wynikiem takich długo ­tajonych ciężkich potrzeb życia, że echem jego rozbrzmiał nietylko kraj nasz cały, ale i Niemcy sąsiednie, gdzie powieść Orzeszkowej w tłumaczeniu rozeszła się niezwykle ­szybko.« Walewska, Ruch kobiecy, S. 16.

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Die Adressat/innen sollten die Umstände, unter denen die Leserinnen auf die Werke der Schriftstellerin getroffen waren, ihre Leseerfahrungen und deren Auswirkungen auf persönliche Unabhängigkeitsbestrebungen schildern, wobei »Marta« explizit hervorgehoben wurde. Die Umfrage wurde in einschlägigen Periodika in den Teilungsgebieten, der Diaspora und den kresy publiziert. Fragen und Antworten wurden in Auswahl als Broschüre gedruckt. Sie bestätigten und bestärkten die Rolle »Martas« als Initiationserzählung.49 Auch Wysłouchowas Geschichte wird dort als typisch wiedergegeben.50 Dennoch teilte kaum eine der beeindruckten Frauen persönlich die dramatischen Erfahrungen von Marta. Nicht das soziale Elend an sich führte zu politischem Engagement, sondern seine Erzählbarkeit. Das heißt nicht, dass der Mangel an Ausbildung und Selbstständigkeit keine sozialen Probleme gewesen wären, nur, dass die Relevanz der Erzählungen für die politischen Forderungen nach Erwerbsarbeit und Ausbildung für Frauen nicht auf Erfahrung, sondern auf Deutung beruhte.51 Das, was Koselleck und Scott als Auseinanderbrechen von Erfahrung und Erwartung bzw. Phantasie bezeichnet haben, beschrieben die Frauen als Leseerlebnis. Dafür, dass die Rezeptionsgeschichte »Martas« nicht einfach »gemachte Erfahrungen« einer Frauengeneration in den polnischen Teilungsgebieten oder in Europa widerspiegelte, sondern als ein Narrativ funktionierte, das neue Erwartungen hervorrief, spricht die strukturelle Ähnlichkeit der in diversen Kontexten der Frauenbewegungen auftauchenden Erzählung des Aufbruchs. Hainisch schilderte in »Frauenbewegung, Frauenbildung und Frauenarbeit in Österreich« ihren Weg zum Engagement folgendermaßen: »An einem schönen Sommertag kam eine junge Freundin zu mir, deren kranker Mann die Familie nicht mehr ernähren konnte. Sie wollte Brot schaffen und holte sich bei mir Rat. Aber obwohl wir beide uns von mor49 Die Frauen wurden gebeten, bis zum Stichtag ihre schriftlichen Antworten zu schicken. Diese kamen aus den Teilungsgebieten, aus Wien, aus den kresy, sogar aus Omsk in Sibirien, Walewska, Ankieta dla uczczenia Orzeszkowej, S. 9. 50 Zitiert wird ein Brief von Wysłouchowa an Kuczalska-Reinschmit, eine Mitinitiatorin der Umfrage: »Gdy miałam lat 13 ukradkiem przeczytana ›Marta‹ wywarła na mnie wrażenie tak potężne, że nie ustałam w prośbach i naleganiach, dopóki nie wysłano mnie na naukę do gimnazjum, pomimo oburzenia całej okolicy [Als ich 13 war, machte das heimliche Lesen von ›Marta‹ einen so mächtigen Eindruck auf mich, dass ich nicht aufhörte zu bitten und zu fordern, bis man mich trotz Empörung der ganzen Umgebung zum Lernen auf ein Gymnasium schickte].« Ebd., S. 8. 51 Siehe auch Kraśniewska, S. 149–194.

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gens bis abends den Kopf zermarterten, konnten wir für die Frau, die mehrere Sprachen sprach und sehr musikalisch war, keine Erwerbsmöglichkeiten ausfindig machen. Dies erschütterte mich. Denn unsere Arbeiterinnen konnten sich und ihre Kinder ernähren, wenn sie Witwen wurden. Warum konnten wir Bürgerliche nichts erwerben? Freilich handelt es sich um Erwerbsgelegenheiten, die höheren Lohn und eine der sozialen Stellung des Mannes entsprechende Position gewähren sollten. Nun wurde mir plötzlich klar, daß bürgerliche Mädchen für den Erwerb vorbereitet werden müssten. Ich war tief ergriffen und wurde an diesem Tag zur FrauenVorkämpferin.«52 Dieses Erlebnis habe sie, so Hainisch, dazu gebracht, sich für Frauenbildung zu engagieren. Mehrere Aspekte an dieser Erzählung sind bemerkenswert – entsprechen sie doch dem Thema in »Marta« und in Wysłouchowas Brief. Wie Orzeszkowa erzählt Hainisch eine tragische Geschichte über eine talentierte und gebildete Frau aus der Mittelschicht, deren Ernährer ausfällt und für die sich keine Erwerbsmöglichkeiten finden lassen. Wie bei Wysłouchowa wurde die gehörte oder gelesene Geschichte zu einer einschneidenden Erfahrung. Beide stellen die Geschichte als Erweckungserlebnis dar. Dass Hainisch Orzesz­ kowas Roman kannte, zumindest von ihm gehört hatte, kann man vermuten, wenn man an seine Verbreitung in den frauenbewegten Kreisen denkt, wobei das aber noch nicht den Genrewechsel vom Roman zur Erinnerung erklärt. Interessant ist die Parallelität der Geschichte, weil sie in verschiedenen Genres benutzt wurde und in unterschiedlichen Kontexten stand: der Brief als Mittler zwischen persönlichen und allgemeinen Erfahrungen, der realistische Roman als Beitrag zum im Positivismus diskutierten Reformbedarf und das Handbuch, das die Leistungen und Errungenschaften der Frauenbewegung der österreichischen Erblande und der nachfolgenden Republik Österreich dokumentierte. Die Not lag nicht im Charakter oder der Geschichte einer einzelnen Person begründet, sondern in der sozial gegebenen Situation eines Kollektivs, hier der Frauen. Die Erwerbsnot war zu einem Topos mit festen Erzählelementen geworden, zu einem im transnationalen Milieu engagierter Frauen verbreiteten Wissen. Er konzipierte Not oder Benachteiligung gleichzeitig als persönliche Erfahrung und als soziale Tatsache.53 52 Hainisch, Zur Geschichte der österreichischen Frauenbewegung, S. 14 f. 53 Erfahrung ist demnach als Konstruktion, als zu Erzählendes zu verstehen, nicht als ein einer Erzählung Vorausgegangenes. Siehe Scott, »Experience«; kontrovers dazu Canning.

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Die Adressatinnen verstanden die Erzählung als Identifikations- und Legitimationsmöglichkeit für ihr frauenbewegtes Engagement, als ein Gründungsund Begründungsnarrativ der Frauenbewegungen. Die Spannung zwischen individueller Erfahrung und kollektiver Deutung entstand nicht nur aus der Verortung des autobiographischen Ichs im historisch relevanten Kontext, sondern auch aus der Verbreitung des Topos als Erweckungserlebnis. Im entsprechenden Kontext wird die Erfahrung zu Erwartung oder Phantasie. Damit soll nicht behauptet werden, »Marta« wäre die Ursprungserzählung, eher im Gegenteil zeigt der Topos, insbesondere seine Nutzung in einem Handbuch, das crossmapping, über- und nebeneinander lagernde Denkfiguren, eine durch Texte konstituierte Vernetzung der Bewegungen. In allen drei Narrativen, dem des Briefs, des Handbuchs und des Romans, wurde durch eine persönliche Erzählung die Kollektivierbarkeit und Politisierbarkeit von Erfahrung konstituiert. Dass Hainisch eine Periodisierung mit sich selbst an der Spitze der Bewegung prägte, dass mithin diese Art der Vermittlung von Erfahrung und Geschichte auch den Anspruch auf persönliche Deutungshoheit implizierte, darauf sei hingewiesen. Ein zweiter Topos war das Warten, das sich ebenfalls in verschiedenen Texten als Motiv für Engagement nachweisen lässt. Natalja Kobryns’ka erachtete Literatur als ein besonders geeignetes Mittel, unterschiedliche Frauen zu erreichen und zu einer gemeinsamen Politik zu veranlassen: »Frauen, die von den allgemeinen und öffentlichen Angelegenheiten ausgeschlossen sind, die in der Gesellschaft keine Position besetzen, von der aus sie Einfluss ausüben können, die keine Gelegenheit haben, um die gemeinsamen Bedürfnisse ihres Lebens auszudrücken, sollten sich umso mehr mit Literatur beschäftigen und in ihr Ansichten über diese Bedürfnisse und Forderungen finden.«54 Kobryns’ka sah einen logischen Zusammenhang zwischen politischer Bedeutungslosigkeit in der Gesellschaft und der Beschäftigung mit Belletristik: »Denn wenn Literatur im Allgemeinen die ideale Geschichte der ganzen Gesellschaft darstellt, dann kann man Belletristik kühn die Geschichte der Frauen nennen.«55 Belletristik überwinde den Ausschluss der Frauen, denn dort 54 »Žinoctvo, kotre vyključeno z zahal’nych i publyčnych sprav, kotre ne zajmaje žadnoho stanovyska, na kotrim mohlo by maty vplyv na zahal i sposibnist’ zajavyty spil’ni potreby svoho žytja, povynno tym bil’še trymaty sja literatury i vidšukuvaty v nij vyraz tych potreb i vymohiv.« Kobryns’ka, Pro pervisnu cil’ tovarystva ukraïns’kych žinok, S. 461. 55 »Bo jesly literatury vzahali ideal’na istorija ciloï suspil’nosty, to baletrystyku smilo nazvaty možna istorijeju ženščyny.« Prohrama tovarystva rus’kych ženščyn [Programm des Vereins ruthenischer Frauen], in: Instytut literatury im. T. H. Ševčenka, f. 3, 1602; Ohonovs’kyj, S. 1273.

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könnten sie etwas über ihre Bedürfnisse als Kollektiv und über ihre gemeinsame Geschichte lernen. Dabei argumentierte Kobryns’ka nicht essentialistisch, sondern historisch. Nicht das weibliche Wesen und der Roman entsprechen sich, sondern die Geschichte, das Kollektiv und das Genre. Kobryns’kas Erzählung »Für ein Stück Brot« galt den Zeitgenossen/innen wie »Marta« als eine Initiationserzählung für das Engagement der Frauen, die deren Anspruch auf ein eigenes selbstbestimmtes Leben artikulierte.56 Die Erzählung behandelt die Schwierigkeiten einer griechisch-katholischen Popenwitwe in der galizischen Provinz, der es an Erwerbsmöglichkeiten fehlt und die ihren Kindern daher keine angemessene Ausbildung und Heirat ermöglichen kann. Ihre Töchter warten auf den »Richtigen«, sind abhängig von der Heiratspolitik ihrer Familie und deren gesellschaftlichem Ansehen. »Die Jahre fliegen wie ein Pfeil vorbei, und je mehr, desto weniger Hoffnung besteht für die Mädchen zu heiraten.«57 Das »Warten« ist ein der »Erwerbsnot« ähnlicher, ebenfalls in der Literatur und als Argument verwendeter Topos. Alice Salomon (1872–1948),58 eine der bekanntesten Vertreterinnen der sozialreformerisch tätigen Frauen und die Begründerin der »Sozialen Frauenschule« in Berlin, hob in ihrem Bericht »Zwanzig Jahre soziale Hilfsarbeit« ebenfalls darauf ab: »Die Mädchen blieben daher eben zu Hause und lagen brach. Man fütterte Kanarienvögel, begoß Blumentöpfe, stickte Tablettdecken, spielte Klavier und ›wartete‹«.59 Erst die Aktivitäten in den sozialreformerischen Vereinen erlösten die Frauen aus der Langeweile, so Salomon.60 Im literarischen wie im historisch-politischen Diskurs steht das Metonym »Warten« für eine als leer und sinnlos empfundene Lebensphase, der Suche nach dem passenden Ehemann. Diese proklamierte Sinnlosigkeit begründete den Anspruch auf standesgemäße Ausbildung und Erwerbsmöglichkeiten für Frauen. Beide Themen, die Not und die Langeweile, sind nicht einfach Stereotype oder spiegeln Tatsachen wider, sondern es sind Topoi einer auf einer historischen Argumentation beruhenden politischen Rhetorik. Sie konstruieren ähnliche historische Begründungen für die Entstehung der Frauenbewegungen; eine zur Erwartung gewendete Erfahrung, ein Erweckungserlebnis. Mit den 56 O. Kysilevs’ka, Spohad pro Natalju Kobryns’ku [Erinnerung an Natalja Kobryns’ka], in: Žinoča dolja 1930, S. 4, zitiert nach Knyš, S. 35. 57 »Lita letjat’ striloju, a čym dal’še, tym dlja koždoï divčyny menše nadiï viddatycja.« ­Kobryns’ka, Zadlja kusynka chliba, S. 63. 58 Zur Biografie siehe Schüler, S. 187–348. 59 Salomon, S. 3. 60 Siehe auch Kessel, S. 118–122.

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Topoi ließ es sich sowohl auf konkrete Räume, wie Galizien oder den habsburgischen Staat, bezogen erzählen als auch grenzüberschreitend, aus den Hierarchien zwischen den Geschlechtern resultierend.

Cross-mapping Solche Parallelen in der strukturellen Konstruktion lassen sich in den Entstehungsgründen, Aktivitäten, Erfolgen gewidmeten Texten zu den Frauenbewegungen (und zur »Frauenfrage«) ebenfalls ausmachen. Sie erzählen deren Geschichte als Geschichte eines Kollektivs und ordnen sie in eine Menschheitsgeschichte, in naturgeschichtliche und ethnologische Entwicklungsnarrative oder in Nationalgeschichten ein. Die Kombination unterschiedlicher Bezüge verknüpft konkrete politische Handlungsräume, wie Staaten, Imperien oder Regionen, in denen die Bewegungen agierten, an die sie ihre Forderungen richteten, mit einer grundlegenden universalen Bedeutung und Legitimation. Dazu griffen die Autorinnen auf ähnliche rhetorische Strategien zurück: Alle formulierten auf die ein oder andere Weise das Motiv einer fundamentalen historischen Wende, um die Entstehung der Frauenbewegungen zu motivieren. In Wysłouchowas Aufsatz »Die Frauenbewegung« ist die Gleichberechtigung der Geschlechter der »natürliche Zustand« einer zivilisierten Gesellschaft, den zu erreichen die Frauenbewegung angetreten war, indem sie die »künstlichen Hemmungen« beseitigen würde, darunter den im Herzogtum Warschau eingeführten Code Napoléon, der die Geschlechtsvormundschaft für Frauen nicht abgeschafft und die ehelichen Rechte zuungunsten der Frauen geregelt hatte.61 Wysłouchowa sah die Frauenfrage in einer allgemeinen, in ihren Bezügen aber europäischen oder westlichen Ideengeschichte verankert, verbunden mit »einer Demokratisierung der Gesellschaft«; sie sei, so die Autorin, »ein Kriterium der Zivilisation«.62 Sie führte dafür John Stuart Mill (1806–1873), Henry Thomas Buckle (1821–1862) und Montesquieu (1689–1755) an, aber auch weniger bekannte, in Vergessenheit geratene bedeutende Frauen wie die Mathema61 Die von den Rechtsdiskursen der Aufklärung beeinflussten Gesetzeswerke wie der Code Napoléon, aber auch das Allgemeine Landrecht für Preußen und das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für Österreich regelten unter anderem die Prozess- und Geschäftsfähigkeit von Frauen bzw. die Geschlechtsvormundschaft sowie das eheliche Güterrecht. Keiner der Kodizes stellte Frauen als Staatsbürgerinnen gleich; der Code Napoléon blieb sogar hinter dem österreichischen Kodex zurück. Vgl. Holthöfer, S. 429–432; Vogel. 62 »sztucznych hamulców«; »z … demokratyzacją społeczeństwa«; »kryterjum cywilizacji«. Wysłouchowa, Ruch kobiecy, S. 25 f.

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tikerin Sophie Germain (1776–1831) und die Astronomin Caroline Lucretia Herschel (1750–1848) sowie die mit Waffen kämpfenden Frauen Jeanne d’Arc (1412–1431) und Emilia Plater (1806–1831) als Beweise für weibliche Tapferkeit. Eine entscheidende Wende hin zu einer Frauenbewegung sei die Französische Revolution gewesen, die »weitreichende Bürgerrechte eroberte, wenn nicht immer in der Praxis, so doch wenigsten in der Theorie«.63 In diesem Kontext verortete Wysłouchowa ihren eigentlichen Gegenstand, die polnische Frauenbewegung, die sich aufgrund der »schwierigen Bedingungen der Gesellschaft« – womit die Teilungen gemeint waren – nicht in »all ihrer Fülle entwickeln kann«.64 Wichtige Schritte zur Entstehung der Bewegung seien die Schriften von Klementyna Tańska-Hofmanowa (1789–1845),65 die um 1820 die Notwendigkeit einer umfassenden Bildung für Frauen begründet hatte, und die sogenannten Enthusiastinnen gewesen, eine Gruppe von Warschauer Frauen, die in den 1840er Jahren Freiheit und Glück gefordert hatten.66 Als entscheidend erachtete Wysłouchowa jedoch die von der zarischen Reformpolitik der 1860er Jahre ausgelösten Veränderungen, die die früher geäußerten Ideen um einen ökonomischen Faktor ergänzten. Durch die Reformen habe sich die sozioökonomische Situation der polnischen Mittelschicht, der inteligencja, so gewandelt, dass eigenständiger Erwerb der Frauen notwendig geworden sei. Aus dieser Notwendigkeit sei die polnische Frauenbewegung mit ihren Forderungen hervorgegangen – auch gegen die vielen Widerstände, die ihr entgegenstehen würden. Wysłouchowa führte sowohl sozioökonomische Entwicklungen als auch einzelne Vorbilder als Gründe für das Entstehen der Bewegung an. Sie verknüpfte eine allgemeine, in der europäischen Ideenwelt verankerte Geschichte mit transnationaler Gültigkeit mit der polnischen im Besonderen, weshalb sie zwei Zäsuren konstatierte, die der Französischen Revolution und die der Reformen des zarischen Russlands. Kobryns’ka verband ebenfalls eine als allgemein gedachte, europäisch-amerikanische mit einer nationalen, in diesem Fall ukrainischen Geschichte. Sie entwickelte die Geschichte der Bewegungen vor dem Hintergrund eines historisch-materialistischen Schnelldurchlaufs durch die Menschheitsgeschichte: 63 »zdobyła sobie szerokie prawa obywatelstwa, jeżeli nie zawsze w praktyce, to przynajmniej w teorji«. Ebd., S. 156. 64 »trudne warunki społeczne«; »w całej jego pełni«. Ebd., 26. 65 Klementyna Tańska-Hofmanowa schrieb Novellen und publizierte zur Frauenfrage wie zur patriotischen Bildung. Außerdem war sie an der Gründung eines Instituts für höhere Frauenbildung beteiligt, Borkowska, Czermińska u. Phillips, S. 42–45. 66 Pietrow-Ennker, Women in Polish Society, S. 19 f.

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»In früheren Jahrhunderten beschäftigte sich der Mann mit keiner anderen Aufgabe als dem Schwert. Die Sorge um das Feld, das Haus und das Vieh wurde den Frauen überlassen, die mit den Kindern und dem Gesinde die Landwirtschaft führten.«67 Auch als der Mann zum Feldarbeiter geworden war und sich Handwerksbetriebe aus den geschlossenen Hauswirtschaften gelöst hatten, sei ein Großteil der Arbeit für die häuslichen Bedürfnisse und den Lebensunterhalt in den Händen der Frauen geblieben. Die entscheidende Wende stelle die »moderne kapitalistische Ordnung« dar, die die Arbeitsteilung ausdifferenziert und die Produktion von Lebensmitteln aus dem Haus ausgelagert habe. Die Bedürfnisse des Lebens, die wirtschaftliche Verfassung der Gesellschaft begannen, die Frauen aus dem Haus zu drängen und für sie eine andere Rolle in der gemeinsamen menschlichen Arbeit zu definieren.68 Kobryns’ka konstatierte mit dieser, sozialistischen Geschichtsinterpretationen entlehnten Auffassung eine Veränderung der Frauenrolle aufgrund einer neuen Form der Arbeitsorganisation und einen vorherigen Zustand als Norm, die Arbeit im Haus. Um die Entstehung von ukrainischen Fraueninitiativen in Galizien zu begründen, wechselte sie die Ebene: Nicht einen historischen Wandel in der Arbeitsorganisation führte sie an, sondern den Polnischen Aufstand von 1863 und die habsburgische Verfassung von 1867. Sie argumentierte also nicht mehr sozioökonomisch, sondern – ohne nähere Begründung für den Wechsel – nunmehr politisch. Die aus dem Aufstand resultierende Zuspitzung eines Gegensatzes zu den Pol/innen habe die Frauen der ukrainischen inteligencja, die Frauen und Töchter der griechisch-katholischen Geistlichkeit, aufgerüttelt. So seien erste Initiativen für höhere Mädchenbildung entstanden. Zum eigentlichen Beginn der ukrainischen Frauenbewegung machte sie die von ihr selbst angeregte Gründung des »Tovarystvo ruskich žinok v Stanislavovi [Verein ruthenischer Frauen in Stanislau]«. Wie Hainisch setzte sie sich damit an die Spitze der Bewegung.69 Beide, Wysłouchowa und Kobryns’ka, verbanden eine westlich situierte, allgemein gedachte Menschheitsgeschichte mit nationalen Narrativen. Beide 67 »V davnijšych vikach muščyna ne zvažav na žadni inši zanjatja krim meča. Staranje o pole, dim i chudobu polyšene bulo žinkam, kotri z dit’my-dolitkamy i piddanymy provadyly hospodarstvo.« Kobryns’ka, Pro ruch žinočyj, S. 7. 68 »Potreby žytja, ekonomične položenje ciloi suspil’nosty začalo vypychaty žinok po za ­domašnij porih i vyznačuvaty ïm inšu rolju v spil’nij ljudskij praci.« Ebd. 69 Kobryns’ka, Žinoča sprava, S. 1 f.

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beschrieben die Entstehung der Frauenbewegungen als Folge eines allgemeinen historischen Wandels, beide betonten die Hindernisse, die dem Aufbruch der Frauen in den Weg gelegt würden. Die Begründungszusammenhänge erscheinen allerdings auf den ersten Blick unterschiedlich: Wysłouchowa argumentierte ideengeschichtlich, Kobryns’ka dagegen sozioökonomisch. Wenn es um die spezifisch polnische oder ukrainische Situation ging, wechselten beide jedoch die Ebene: Wysłouchowa hob für den Aufbruch der polnischen Frauen einen durch die Reformpolitik ausgelösten ökonomischen Wandel hervor, während Kobryns’ka für die ukrainischen Frauen in Galizien politische Veränderungen geltend machte: den Aufstand, die Verfassung und nationale Konflikte. Die Wende in der Darstellungsebene ist keine Spezifik der beiden Autorinnen oder der vor allem im peripheren Galizien aktiven Bewegungen. Gertrud Bäumer suchte in ihrem Handbuchbeitrag »Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland« ebenfalls nach Vorläuferströmungen, nach Spuren in den »Tiefen« der Geschichte. Die Renaissance habe eine Individualisierung des Menschen gebracht, eine neue, Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen ermöglichende Beziehung zwischen Subjekt und Welt.70 Die eigentliche Frauenbewegung sei jedoch Folge der »geistigen wie wirtschaftlichen Not« von Frauen im 19. Jahrhundert, denen es an sinnvoller Beschäftigung und an Geld mangele. Die Geschichte der Frauenbewegung wurde als Teil einer gesamteuropäischen Entwicklung begriffen, deren eigenständige Bedeutsamkeit aus dem Zusammentreffen verschiedener Faktoren (kritischer Ideen und wirtschaftlicher Verhältnisse) resultierte. Der teleologische Entwurf einer Entwicklung zwischen Renaissance und 19. Jahrhundert verband nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, er hob gleichzeitig Differenzen und Widersprüchlichkeiten zwischen Frauen unterschiedlicher Herkunft wie auch zwischen Frauengeschichte und allgemeiner Geschichte auf und diente der Einschreibung in eine spezifische – hier deutsche – Nationalgeschichte. Damit ist der Entwurf ähnlich strukturiert wie Wysłouchowas und Kobryns’kas mit ihren Wechseln zur polnischen bzw. ukrainischen Geschichte, denn auch Bäumer verschiebt die Ebene der Argumentation von den »Tiefen der Geschichte« zu den wirtschaftsund sozialgeschichtlich begründeten »äußeren Errungenschaften«.71 Sie selbst leitete den Übergang folgendermaßen ein:

70 Bäumer, Geschichte der Frauenbewegung, S. 4. 71 Ebd., S. 165.

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»Übersieht man die Geschichte der deutschen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert als ein Ganzes, so gehören ihr alle bisher berührten Erscheinungen nur insofern an, als sie eine gewisse symptomatische Bedeutung haben, aber untereinander stehen sie nicht in direktem Zusammenhang von Ursache und Wirkung.«72 Eine Verschiebung von symptomatischer Bedeutung zu einem direkten Zusammenhang sah sie in den 1860er Jahren gegeben, da die Frauenfrage zu einer wirtschaftlichen geworden sei. Bäumer übersetzte nicht nur die Erfahrungstopoi »Langeweile« und »Erwerbsnot« in historische Argumente, wie Kobryns’ka und Wysłouchowa wechselte sie von einer transnationalen Geistesgeschichte in ein nationales Narrativ. Alle drei übertrugen das Erweckungserlebnis in einen narrativen Bruch und verbanden so Universalität und Spezifik. In Kuczalska-Reinschmits »Geschichte der Frauenbewegung« gibt es ebenfalls einen solchen Bruch. Er besteht in einem Wechsel von Unterdrückung zu Teilhabe. Ähnlich wie Kobryns’ka ging Kuczalska-Reinschmit von einer historisch-naturgesetzlichen Entwicklung aus. Zunächst trug sie eine Reihe von ethnologischen und anthropologisch-historischen Erkenntnissen über die vielfältigen Arbeitsbereiche und Fertigkeiten von Frauen zusammen, um stereotypen Geschlechterdichotomien wissenschaftlich nachgewiesene Argumente entgegenzusetzen: »Bisherige schablonenhafte Ansichten über eine homogene psycho-physische Persönlichkeit des Menschen werden durch die Entdeckungen der Biologie korrigiert. Sie zeigen die weitere und divergierende Rolle, die die Geschlechter in verschiedenen Zeiten der Entwicklung erfüllten.«73 Kuczalska-Reinschmit hob auf unwiderlegbare, da naturwissenschaftliche Erkenntnisse ab, die beweisen würden, dass Frauen in der Vergangenheit nicht auf Heim, Herd und sexuelle Dienstleistungen festgelegt gewesen seien. Während Kobryns’ka auf die Stammesgesellschaft zurückgriff, um den fundamentalen Wandel in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung deutlich zu machen, nutzte sie ethnologische und anthropologische Argumentationen, um deutlich zu machen, dass weibliche Häuslichkeit keine naturgegebene Tatsache darstelle. Die Unterdrückung der Frauen sei das Ergebnis von Zwang und Gewalt, sei historisch. Die Entstehung einer Frauenfrage begründete sie mit der Entwicklung der Zivilisation und der Arbeitsteilung seit der Industrialisierung. 72 Ebd., S. 33. 73 »Dotychczasowe pojęcia szablonowe o jednolitej psychofizycznej osobowości człowieka, prostują odkrycia biologii. Wykazują one kolejną i różnorodną rolę, jaką spełniały płcie w różnych okresach rozwoju«. Kuczalska-Reinschmit, S. 233.

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Die eigentliche Wende zur Herausbildung der Frauenbewegungen resultierte nach Kuczalska-Reinschmit aus der Teilnahme der Frauen an Kämpfen für grundlegende Gesellschaftsreformen, an der Französischen Revolution, am Kampf um die Abschaffung der Sklaverei in Amerika, an den Ereignissen von 1848 in Deutschland; »bei uns« (gemeint ist das Königreich Polen, das mit ganz Polen gleichgesetzt wird) sei eine solche grundlegende Reform die 1861 dekretierte Aufhebung der Leibeigenschaft gewesen. Auch Kuczalska-Reinschmit wechselte die Ebene hin zu einem ereignispolitischen Begründungszusammenhang. Sie konstruierte eine politische Wende überall in (West-)Europa und Nordamerika, in die sie die Frauenbewegungen einschrieb. Damit konstituierte sie diese als historisch bedeutend. Allerdings war die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht unmittelbare Folge eines Kampfes, wiederum ein Beispiel für Brüche in den Narrativen. Die im »Handbuch der Frauenbewegung« von 1901 erschienene »Geschichte der polnischen Frauenbewegung« beginnt mit der Feststellung, dass die Bewegungen überall gleichermaßen aus einem politisch-sozialen und wirtschaftlichen Wandel hervorgegangen seien. Moszczeńska europäisierte die polnische in einer gemeinsamen Geschichte der Frauenbewegungen, um direkt anschließend die außerordentliche Bedeutung der Teilungen Polens hervorzuheben. Die Frau sei durch die Härte der Teilungspolitik dazu veranlasst, »dem Manne zur Seite zu stehen als Gefährtin seines Mißgeschicks, seiner Verbannung, seiner Einsamkeit in der Fremde«.74 Gemeint sind der Aufstand von 1863 im russischen Teilungsgebiet und die anschließende Verbannung beteiligter Familien nach Sibirien. Moszczeńskas Erzählstrategie macht das Dilemma deutlich, das all den Historisierungen gemeinsam ist: Es gilt, der Enthistorisierung der Frauenfrage als naturgegebene Geschlechterbeziehungen ihre Historisierung (und damit Veränderbarkeit) entgegenzusetzen. Historische Relevanz aber resultierte aus der Einschreibung in ein als jeweilige Nationalgeschichte erkennbares Narrativ. Diese Gleichzeitigkeit spiegelt sich in den zwei »Urszenen« wider, einer universalen und einer polnischen, erweist sich aber ähnlich Wysłouchowas Wendepunkten als ein erzählstrategisches Paradox: Moszczeńska verortete die polnische Frauenbewegung zwar in einem universalen Kontext, erzeugte aber gleichzeitig mit der zweiten Szene Differenz zu ihm. Diese Ebene der Ambivalenz erschwert die Traditionsbildung, die Etablierung einer eigenständigen Frauengeschichte: Obwohl der Begriff »Gefährtinnen« suggeriert, Frauen ständen gleichberechtigt 74 Moszczeńska, S. 350.

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neben Männern, bleiben allein diese Subjekte der Geschichte, sie handeln und sie leiden, während die Frauen ihnen beistehen. Moszczeńska gelang es allerdings, das Dilemma zweier Urszenen durch eine relativ unübliche territoriale Verschiebung wieder aufzulösen. Sie konstatierte, im Königreich Polen habe es angesichts der dort vorherrschenden Repressionen eine eigentliche Frauenbewegung gar nicht gegeben, diese verortete sie in Galizien mit seinen weitaus größeren Publikations- und Organisationsmöglichkeiten. Damit konnte sie die Geschichte der Frauenbewegung unabhängig vom vor allem im Königreich angesiedelten Aufstandsnarrativ der polnischen Nationalgeschichte erzählen und ihr eigenständige Bedeutung verleihen. Die räumliche Verschiebung nach Galizien verankerte die Entstehung der Frauenbewegung gleichzeitig in einer europäischen Geschichte der Bewegungen und im polnischen Kampf um Unabhängigkeit. Die Frauenfrage war historisch legitimiert, ohne das für die Nationalgeschichte konstitutive Aufstands- und Leidensmotiv zu relativieren. Moszczeńskas Narrativ ist insofern ungewöhnlich, als zumeist die Geschichte der polnischen Frauenbewegung mit Tańska-Hofmanowa und den Warschauer Enthusiastinnen beginnt; die Wende wird entweder in den zarischen Reformen, wie bei Wysłouchowa, oder in der nachaufständischen Repressionspolitik verortet, da der Niederschlagung des Aufstands von 1863 folgenden Verbannungen und Konfiszierungen der Güter die Zahl der männlichen Ernährer entscheidend dezimiert und die Grundlagen des Lebensunterhalts zerstört habe, weshalb die Frauen (vor allem des mittleren und niederen Adels) gezwungen gewesen wären, sich Erwerbsmöglichkeiten zu erkämpfen.75 Das divergierende aber sich kreuzende Denken resultiert aus einer grundsätzlichen Ähnlichkeit: Alle Texte konstruieren zunächst Frauen als ein Kollektiv, indem sie ihm eine gemeinsame Geschichte geben, eine Kontinuitätslinie zwischen der geschlechtlichen Arbeitsteilung von Stammesgesellschaften zu derjenigen der inteligencja ziehen oder zwischen Ideen von Montesquieu bis Tańska-Hofmanowa. Sie legitimieren die Frauenbewegungen und ihre Forderungen, indem sie sie in einen historischen Kontext stellen und von einer Gesetzmäßigkeit historischer Fortschrittsentwicklung ausgehen. Und sie akzentuieren die Entstehung einer Frauenbewegung als eine historische Wende, indem sie die Argumentationsebene wechseln.

75 So bspw. Walewska, W walce o równe prawa, S. 5 f.; siehe zur »kaum hinterfragten Grundfigur zahlreicher Darstellungen zur Genese des polnischen Feminismus« auch Stegmann, Zwischen feministischem Kampf und nationalem Opfer, S. 20.

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Schluss Die Narrative über die Entstehung der Frauenbewegungen bezogen sich nicht auf eindeutige politische Räume, weder auf einen transnationalen, universalen noch auf eine europäisch verortete Menschheitsgeschichte oder ausschließlich auf die jeweilige Nationalgeschichte. Die Bewegungen waren transnational und verorteten sich in einem nationalgeschichtlichen Bezugsrahmen. Dieser Befund bleibt unberührt von den Fragen, ob der sozialhistorische Wandel in den europäischen Gesellschaften ähnlich verlief und welche historiographische Relevanz die Darstellungen hatten oder haben. Dass sich die Entwürfe historischer Legitimation auf zeitgenössische historiographische, philosophische oder naturgeschichtliche Werke bezogen, ist nicht überraschend; dass die Überlegungen fundiert waren und manches Argument seine Gültigkeit bis heute nicht verloren hat, ebenso wenig. Allerdings, und das ist hier entscheidend, stellen diese Erklärungszusammenhänge keine Abbilder polnischer, ukrainischer, europäisch-nordamerikanischer oder menschheitsgeschichtlicher sozialer und historischer Verhältnisse dar, keine Abbilder gegebener Realität, sondern konstituierten, wie die Topoi der Erfahrung, eine fundamentale Wende hin zu neuen Erwartungen. Die Wende stellte den Zusammenhang zwischen einer Essenzialisierung des Kollektivs »Frauen«, seiner Historisierung und des Potentials der Veränderung her. In dieser Konstituierung eines selbstverständlichen historischen Wissens, eines Alltagsmythos ohne Ursprung oder Autor/in glichen sich die Frauenbewegungen, unabhängig von dem politischen Raum und seinen den historischen Konstellationen. Sie bezogen sich auf einen transnationalen Ideen-Pool und übersetzten ihn in die jeweiligen konkreten Zusammenhänge. Die polnische Frauenbewegung machte den Prozess der Konstituierung eines solchen Wissens explizit, indem sie »Marta« als Abbild, Initiation und Auslöser eines Engagements inszenierte. Dass eine solche Explikation erforderlich erschien, lag an dem Anspruch auf eine gesamtpolnische Frauenbewegung, die die Teilungsgebiete, die Diaspora und die kresy verband oder verbinden sollte. Die ukrainische Frauenbewegung dagegen konkurrierte mit der polnischen Dominanz in Galizien um eine eigene nationale Geschichte. Kobryns’ka betonte daher die transnationale Perspektive ihres Engagements und reihte es ein in eine universale Geschichte. Die rhetorischen Strategien, die Topoi und die historiographischen Wenden glichen sich, trafen aber auf divergierende Kontexte – hier Nationalgeschichten, die sie formten und von denen sie geformt wurden. Grundsätzlich unterschieden sich die Bewegungen demnach nicht, vielmehr begriffen sie sich als Teil nationalpolitischer Ziele für ihre nationale

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Gruppe und konstruierten dazu eine Universalität der Frauenfrage in einer nationalen Geschichte. Die identischen Topoi, wandernde Denkfiguren, verbanden Individuum und Kollektiv, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch ein Erweckungserlebnis oder eine Wende. Sie machten die Bewegungen zu einer unhintergehbaren historischen Entwicklung. So entstand eine gemeinsame Struktur der Legitimation, ein narratives Netzwerk, nämlich die Entstehung der Frauenbewegung als einen fundamentalen Bruch zu erzählen. Das cross-mapping dieser Erzählstrategie vereinte die Bewegungen über Staaten und Imperien hinweg und verankerte sie gleichzeitig in den jeweiligen Nationalgeschichten und lokalen Kontexten.

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Dietlind Hüchtker

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Nikolay Kamenov

Globale Ursprünge und lokale Zielsetzungen: Die Anti-Alkoholbewegung in Bulgarien 1890–1940

Globale Anfänge und breite Internationalisierung1 Der Konsum alkoholischer Getränke ist in der Geschichte menschlicher Gesellschaften nahezu allgegenwärtig. Ebenso allgegenwärtig ist die Existenz von Regeln, nach denen sich der Konsum richtet; das Trinken ist häufig normiert, seine Folgen werden sorgfältig beobachtet. In einem einschlägigen Artikel über die Vielfalt von Trinkpraktiken kommentiert David Mandelbaum: »In many societies, drinking behavior is considered important for the whole social order, and so drinking is defined and limited in accordance with fundamental motifs of the culture«.2 Eine solche Beschränkung und Normierung des Trinkens hat oft die Gestalt alkoholgegnerischer Kampagnen angenommen. Was sich jedoch im Verlaufe der Neueren und Neuesten Geschichte verändert hat, sind die technologischen und medialen Kanäle und die entsprechende Reichweite solcher Kampagnen. »Moderne« Formen des Kampfes gegen den Alkoholkonsum sind auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zu datieren.3 Wie andere gesellschaftliche Wandlungsprozesse in dieser Periode waren auch alkoholgegnerische Kampagnen beträchtlich auf erschwingliche Druckereien angewiesen. Diesen Punkt kann man insbesondere im Kontext dieses Bandes nicht genug betonen. Druckereien haben im Prozess der Territorialisierung eine wichtige Rolle gespielt – indem sie beispielswiese zur Standardisierung von Sprachen oder der Erziehung nationaler Bildungseliten beitrugen, worauf Benedict Anderson mit dem Terminus »print capitalism« aufmerksam gemacht hat.4 Sie stellten aber auch wesentliche Elemente von Internationalisierungsbewegungen dar, weil sie mit einer zunehmend auch grenzüberschreitenden Zirkulation gedruckter 1

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Ich rekurriere im Folgenden auf mein Promotionsprojekt, das an den Lehrstuhl für Geschichte der modernen Welt, ETH Zürich, angebunden ist. Ich danke Jana Tschurenev für die Unterstützung beim Verfassen dieses Aufsatzes sowie für die kollegiale Zusammenarbeit. Mandelbaum, S. 281. Des umstrittenen analytischen Wertes der Begriffe ›modern‹ und ›Modernität‹ bin ich mir bewusst, ich benutze das Wort hier, um neue Formen und Kanäle der Kommunikation zu beschreiben. Anderson.

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Globale Ursprünge und lokale Zielsetzungen

Aufklärungs-, Werbe- und Propaganda-Materialien betrieben wurden, beispielhaft ist hier die sogenannte protestantische Internationale.5 So erwies sich die globale alkoholgegnerische Bewegung mit dem Siegeszug des »Leviathan 2.0«6 als zeitlich koextensiv. Zu den ersten alkoholgegnerischen Organisationen zählt die 1826 in Boston gegründete American Temperance Society.7 Ihre Mäßigungs-Kampagnen ebenso wie die anderer US-amerikanischer Prohibitionsvereinigungen waren von einem religiösen Sittlichkeitsdenken motiviert, das seine Inspiration aus der evangelikalen Erweckungsbewegung gewann. Illustrativ für diese Beweggründe ist Francis Murphy, der einen irisch-katholischen Hintergrund hatte, jedoch während einer Gefängnisstrafe wegen illegalen Alkoholverkaufs zum Protestantismus konvertierte und bald darauf die Blue Ribbon-Bewegung gründete, die als »a leading force in the larger Gospel Temperance Movement and one of the most successful and wide-reaching branches of the broader late-nineteenth-century temperance movement in general«8 gilt. Ähnliches vollzog sich in Großbritannien. So war etwa die Bewegung des Teetotalism, die die vollständige Enthaltung predigte, an der Entstehung der evangelikalen Erweckungsbewegung beteiligt: »Teetotal work played an integral part in the revivals which enlisted many hearers as full members«.9 Obwohl religiöse Erweckungsund Reformbewegungen sowie die Temperance-Bewegung in den 1820er bis 1870er Jahren nicht unmittelbar auseinander hervorgingen, ist davon auszugehen, dass sie sich gegenseitig bedingten und verstärkten.10 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts existierte die Antialkoholbewegung weltweit und in verschiedenen Formen,11 flankiert von einer Vielzahl internationa 5 Clark u. Ledger-Lomas, The Protestant International; für die steigenden Zahlen bei der globalen Zirkulation von Druckmaterialien siehe besonders, ebd., S. 30.  6 Maier, Leviathan 2.0.   7 Harrison, American Temperance Society, in: Blocker, Fahey u. Tyrrell, S. 40–41.   8 Yates, Blue Ribbon Movement, in: Blocker, Fahey u. Tyrrell, S. 107.  9 Harrison, S. 171; siehe auch ebd., S. 179–195. 10 Billington; McKean u. Olsen, Evangelical Temperance (United Kingdom), in: Blocker, ­Fahey u. Tyrrell, S. 225–227. 11 Es ist wichtig, auf die Nomenklatur aufmerksam zu machen. Im englischsprechenden Raum sind drei Begriffe zentral: Die ersten Teetotalers haben sich in den 1830er Jahren in England organisiert. Die Etymologie des »Teetotalism« ist umstritten. Abstinence und Temperence unterscheiden sich sprachlich – Abstinence weist auf absolute Enthaltung hin, während Temperance Mässigung bedeutet. Im deutschsprachigen Raum gab es ebenso eine Diskussion um die Frage, ob ›Mässigkeit oder Abstinenz‹ – so hieß nämlich ein von Auguste Forel (siehe unten) veröffentlichtes Buch über das Thema – angemessener ist. Sprachliche Ausdrücke und Nuancen weisen auf tiefere Wahrnehmungen hin – so beschreibt der Begriff Трезвость, Nüchternheit, die Antialkoholbewegung in Russland bzw. in der

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ler Organisationen, die ihre alkoholgegnerischen Ideen global verbreiteten. Im Unterschied zu Internationalisierungsdynamiken in anderen Bereichen, z. B. in der Standardisierung von Maß- und Zeiteinheiten oder der Regelung von Postverkehr und Telegraphie,12 zielte die frühe Antialkoholbewegung vor allem auf das individuelle Verhalten und dessen Veränderung ab, wobei es auch Organisationen gab, die sich für grenzüberschreitende Normen und Beschränkungen einsetzten. Insbesondere ab 1900 stand die Prohibition auf der Agenda vieler Verbände: 1919 wurde die World League Against Alcoholism (WLAA) geschaffen, als Kooperation zwischen der US-amerikanischen Anti-Saloon League und der kanadischen Dominion Temperance Alliance. Die League ist ein eindrückliches Beispiel für den globalen Charakter der Bewegung – sie arbeitete mit Antialkoholgruppen aus allen Regionen der Welt zusammen und schuf sich dafür eine komplexe Kommunikationsstruktur. Teil dessen war Robert Hercods International Bureau against Alcohol (IBAA), das sein Hauptquartier in Lausanne hatte, über ein beeindruckendes Netzwerk in Europa verfügte und sich auf die Verbreitung von Lehr- und Unterrichtsmaterialien konzentrierte.13 Die World Women’s Christian Temperance Union (World WCTU), die 1884 von dem US-amerikanischen WCTU Verband und ihrer Partnerorganisation in England initiiert worden war und unter anderem in der Idee der äußeren Missionsarbeit wurzelte, verfügte in den 1890er Jahren bereits über Branchen in vielen Ländern, darunter auch Bulgarien.14 Zu den bedeutenden internationalen Organisationen gehören zudem die Guttempler. Der International Order of the Good Templars (IOGT) ging aus einer 1851 gegründeten brüderlichen Vereinigung an der US-amerikanischen Ostküste hervor. Trotz der Rhetorik der Bruderschaft waren auch Frauen als Mitglieder zugelassen. Darüber hinaus zeigte sich die inklusive Ausrichtung in der Öffnung der Mitgliedschaft gegenüber ärmeren Schichten. Das Leben der Bruderschaft drehte sich um Versammlungen und Rituale, die den Zeremonien der Freimaurer ähnelten. In den 1870er Jahren entstanden Guttempler-Logen in England, später in Schweden und nach 1900 war der IOGT in vielen Ländern Europas präsent.

Sowjetunion (трезвенное движение). In Bulgarien hieß es Въздържателно движение, und obwohl die Bewegung sich in der Regel für absolute Enthaltsamkeit einsetzte, bedeutet Въздържание eigentlich Mässigung auf Deutsch. 12 Siehe z. B. Iriye, S. 9–36. 13 Tyrell, Prohibition; Spöring. 14 Tyrell, Woman’s World; siehe auch Gusfield.

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Globale Ursprünge und lokale Zielsetzungen

Besonders wichtig für die Antialkoholbewegung Bulgariens erwies sich die schweizerische Groß-Loge. Der berühmte Psychiater, Anatom, Entomologe und Esperantist Auguste Forel – der wegen seiner »rassenhygienischen« Sichtweisen inzwischen sehr umstritten ist15 – hatte 1892 die erste schweizerische Loge, die »Helvetia N. 1«, in Zürich eröffnet. In Reaktion darauf, dass der religiöse Hintergrund mancher Zeremonien die Verbreitung des Ordens erschwert hatte, führte er 1905 ein neues konfessionsübergreifendes Ritual ein.16 Diese Entscheidung führte zum Bruch mit der Mutterorganisation. Es handelte sich dabei nicht um die erste Abspaltung, der IOGT hatte sich bereits in den 1870er Jahren, angesichts der kontroversen Haltungen gegenüber den »Rassen«-Praktiken der IOGT Verbände, in den amerikanischen Südstaaten gespalten.17 Die neue schweizerische religiös-neutrale Loge jedenfalls expandierte mit Hilfe von Auguste Forel nach Bulgarien, wo die Guttempler in den 1920er Jahren sehr aktiv waren, worauf ich aber später noch eingehen werde. Zahlreiche weitere Temperance-Organisationen hatten um die Jahrhundertwende einen internationalen Aktionsradius. Um nur zwei zu nennen, die noch immer aktiv sind: Zum einen handelt es sich um die Fédération Internationale de la Croix-Bleue, die 1877 in Genf gegründet worden war;18 zum anderen um die noch stärker verzweigte Salvation Army, die Catherine und William Booth 1865 in England etabliert hatten.19 Dass die Antialkoholbewegung von Anfang an global aufgestellt war, spiegelt sich auch darin wider, dass sich selbst kleinere Organisationen mit begrenzten Ressourcen sich sobald wie möglich im internationalen Rahmen engagierten und dort durchaus einflussreich waren. Beispielhaft hierfür ist die World Prohibition Federation.20 Aus Mangel an finanziellen Ressourcen konnte die Federation nicht mit der World League Against Alcoholism konkurrieren. Gleichwohl setzte sie sich beim Völkerbund für Antialkoholgesetze und andere Normierungen ein. Ihre internationalen Ambitionen verdeutlicht ein Brief aus dem Jahre 1922, der im »League of Nations Official Journal« erschien: »The World Prohibition Federation, representing more than 40 countries assembled in Lausanne (Switzerland), respectfully urges upon the League of Nations and its Council to take all possible steps to protect small nations against all attempts 15 16 17 18 19 20

Tanner, Auguste Forel; Spode, Hasso, in: Blocker, Fahey u. Tyrrell, S. 244–246. Forel, Der neutrale Guttempler-Orden. Fahey, Temperance and racism, S. 81–104. Beck, Sie wagten Nächstenliebe; Tanner, Die ›Alkoholfrage‹. Fischer-Tiné, Global Civil Society and the Forces of Empire. Fahey, Temperance Internationalism.

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to have the alcohol traffic forced upon them against their will by strong and powerful nations.«21 Die Abstinenzbewegung breitete sich wohl auch deshalb weltweit aus und verfügte bald über verschiedene internationale Interessenverbände, da sie von politischen Aktivisten als Forum genutzt wurden, deren primäres Anliegen nicht in der Lösung der »Alkoholfrage« bestand, sondern die aus der Popularität des Antialkoholdiskurses einen Nutzen ziehen wollten. Vor allem nationale und antikoloniale Bewegungen, aber auch die Frauenrechtsbewegung stellten sich den Alkoholgegnern zur Seite, um die eigene Position zu stärken. Die immensen Staatseinkünfte aus Alkoholsteuern und Zöllen in den Kolonien – David Courtwright nennt sie »the chief financial prop of European colonial regimes«22 – boten offensichtlich einen Ansatzpunkt für antikoloniale Rhetorik und Opposition. Bekanntlich widmete sich Mohandas Karamchand Gandhi dem Kampf gegen Alkohol mit dem Argument, dass Trinken von Spirituosen der indischen Kultur fremd sei.23 Sicher tat er das mit dem Wissen um die Gewinne des britischen Reiches aus dem Alkoholgeschäft, und seine Haltung ist in diesem Sinne auch als eine swadeshi-Praktik, eine Boykott-Maßnahme gegenüber den Briten interpretiert worden.24 Ähnliche (proto-)nationalistische Argumente lassen sich auch im organisierten Widerstand gegen importierte Alkoholgetränke aus Europa (Wein und Brandy), aber auch gegen selbst gebrautes Kaffir-Bier in Südafrika beobachten.25 Da der Diskurs über Alkoholgenuss und Enthaltsamkeit auch um Geschlechterfragen kreiste, schloss sich die Frauenbewegung der Forderung nach Abstinenz an und unterstützte sie engagiert. Mehr noch wurden in der alkoholgegnerischen Propaganda in den USA in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts neue Frauenbilder kreiert: die betrunkene, vom Rum verführte und ruinierte Frau; das Opfer häuslicher Gewalt, ausgelöst durch den Alkohol verfallenen Männern; und die tugendhafte, abstinente Frau, die als Vorbild und Leitfigur

21 Unterschrieben von Larsen-Ladet (1921), League of Nations Official Journal, January 1922, vol. 3, S. 74. 22 Courtwright, S. 5. 23 David Hardiman hat diesen Elite-Diskurs treffend kritisiert: »they [middle-class social ­reformers] adapted the [temperance] movement to India by arguing that drink was alien to Indian culture. In this they confused their own élite values with Indian culture as a whole.«, vgl. Hardiman, S. 167. 24 Fahey u. Manian, Poverty and Purification; Guha. 25 Mills. Zu beachten ist, dass der Autor offen die Existenz einer starken Gegenbewegung zugibt.

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der Reformierung von Trinksitten entworfen wurde.26 In der Antialkoholbewegung wurden nicht nur Geschlechtsmodelle konstruiert, sondern sie bot auch eine frühe Gelegenheit für die politische Organisation von Frauen. Obwohl zunächst nicht alle Antialkoholaktivistinnen die Forderung nach dem Frauenstimmrecht unterstützten, erwies sich das Nachkriegsamerika rezeptiver für das Frauenwahlrecht.27 Und auch im spätzaristischem Russland griffen Aktivistinnen die Alkoholfrage für ihren Kampf um politische Rechte auf.28 Die Antialkoholbewegung war auch mit sozialistischen und kommunistischen politischen Anstrengungen verknüpft. Tektonische gesellschaftliche Transformationen, wie Industrialisierung und Urbanisierung, aber auch neue Destillationstechniken hatten den Alltag und damit auch die Trinksitten grundlegend verändert. Verarmte Kreise der Gesellschaft litten unter einem verbreiteten »Elendsalkoholismus«, wie Jakob Tanner es ausdrückt.29 Ähnlich klingt die sprichwörtliche Beschreibung der Flasche Gin von William Bolitho als »dem kürzesten Weg raus aus Manchester«. In vielen Ländern verankerte sich die Alkoholfrage in der Arbeiterbewegung. Abstinenz und die damit verbundene Sparsamkeit wurden oft als Instrumente gesellschaftlicher »Hebung« dargestellt. Allerdings gab es auch Gegenströmungen in der Linken. Trinken galt dieser als unentbehrlicher Teil der Arbeiterkultur oder als Katalysator gesellschaftlicher Gärung, um mit dem Wort zu spielen. Alternativ wurde der Alkoholismus als Nebenprodukt der Verelendungstendenzen des Kapitalismus beschrieben, und folglich konnte man erwarten, dass sich das Problem in der Zukunft bzw. nach der Revolution30 von selbst lösen würde. Karl Kautsky vertrat letztere Position in seinen politischen Aktivitäten in Deutschland.31 Karl Marx’ Spott für die »Mäßigkeits-Vereinsstifter« als obskure »Winkelreformer« im Kommunistischen Manifest32 half auch nicht besonders, das Anliegen der Antialkoholbewegung in der radikalen Linken zu verankern. Im spätzaristischen Reich löste diese Spannung dann auch heiße Diskussionen aus.33 Es lässt sich festhalten, dass die globale Verbreitung der Abstinenzbewegung im Wesentlichen daraus resultierte, dass sich die Alkoholfrage leicht mit 26 27 28 29 30 31 32 33

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anderen politischen oder gesellschaftlichen Reformanliegen verknüpfen ließ.34 Offen bleibt, ob bzw. in welchem Maße die Verbindung der Interessen das Entstehen einer breiten alkoholkritischen Haltung begünstigt hat, so wie sich schwer ausmachen lässt, ob die Antialkoholbewegung überhaupt erst entstehen konnte, weil in der öffentlichen Meinung Alkoholkonsum für gefährlich erachtet wurde. Wichtiger ist die Dynamik von sich wechselseitig bedingenden, international zirkulierenden und lokal angeeigneten bzw. eigens formulierten Ideen. Mit diesen Gedanken möchte ich mich dem Fall Bulgariens zuwenden und diskutieren, wie er sich zu den internationalen Entwicklungen verhielt.

Die Antialkoholbewegung im Prozess der Nationsbildung Das 19. Jahrhundert wurde in der traditionellen bulgarischen Geschichtsschreibung als die Zeit des »nationalen Wiedererwachens« bzw. der »Wiedergeburt (Vŭzrazhdane)« beschrieben. Es war aber auch die Periode, in der das Osmanische Reich zerfiel und an dessen Stelle auf dem gesamten Balkan Nationalstaaten gegründet wurden.35 Im bulgarischen Fall gilt der Aprilaufstand von 1876 als Höhepunkt der Wiedergewinnung der nationalen Souveränität.36 Zwar wurde er schnell und gewalttätig niedergeschlagen, erzeugte aber eine erhebliche internationale Resonanz, vor allem in Russland und Großbritannien, wo die öffentliche Meinung zunehmend die bulgarische Emanzipation unterstützte. Der folgende Russisch-Osmanische Krieg endete 1878 mit dem Frieden von San-Stefano und der folgenden Konferenz in Berlin. Bulgarien hatte nun den Status eines unabhängigen Staates, dessen Grenzen sich jedoch in einer Reihe von Kriegen in den nächsten vierzig Jahren immer wieder verschieben sollten. Es scheint, dass während des »nationalen Wiedererwachens« das Alkoholproblem dem gebildeten Teil der bulgarischen Bevölkerung bewusst war. Sie legt aber auch nahe, dass die Behauptung späterer Befürworter der Nüchternheit, unter der osmanischen Herrschaft habe es in Bulgarien keinen Alkoholismus gegeben, eine Fiktion war. Spekulation bzw. orientalisierende Projektion war wohl auch die Idee, es habe im osmanischen Reich aus religiösen Gründen keinen Alkoholkonsum gegeben. François Georgeon zeichnet in seiner Studie über die Trinkkultur im Istanbul des 19. Jahrhunderts ein komplexeres Bild, das 34 Eisenbach-Stangl. 35 Bideleux u. Jeffries, S. 97–108. 36 Crampton, Concise history of Bulgaria, S. 45–85; ders., The Oxford History of Modern Europe, S. 41–95.

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vermutlich auch auf andere Teile des Reiches zutrifft.37 Wenngleich weder der Alkoholkonsum noch die alkoholgegnerische Bewegung im bulgarisch-sprachigen Raum in dieser Periode eingehend erforscht sind, deuten zahlreiche Hinweise darauf hin, dass National- und Abstinenzbewegung (oder mindestens alkoholgegnerische Ideen) frühzeitig miteinander verflochten waren. In ihrer historisch-anthropologischen Studie des »Wiederwachens« kommt Raina Gavrilovazu zu dem Schluss, dass der Weinkonsum akzeptabel war, soweit er kein gesellschaftliches Aufsehen erregte. Während der Periode der Nationsbildung, ca. 1850 bis 1880, haben jedoch Intelektuelle die Gründe für gesellschaftliche Probleme und den »Niedergang des Volkes« teilweise dem Alkoholkonsum zugeschrieben. Ferner verschreibt Gavrilova zwei Berufsgruppen, deren Trinksitten besonders aufmerksam beobachtet bzw. kritisiert wurden – nämlich Lehrer und Pfarrer. Der Grund für die Stigmatisierung des Trinkens bei ausgerechnet diesen zwei Berufsgruppen liegt der Autorin zufolge darin, dass Lehrern und Pfarrern im Nationsbildungsprozess eine wichtige Funktion zugeschrieben wurde.38 Dazu muss man bemerken, dass sich schon frühzeitig bulgarische Intelektuelle mit dem Alkoholproblem beschäftigten. Zahari Knyazheski, der ethnologische Sammlungen von Liedern und Sitten schrieb, veröffentlichte 1842 in Smyrna ein Werk, dessen Titel sich als etwa »Wurzeln der Trunkenheit und ihrer Nutzen für jene, die viel Trinken« übersetzen lässt. Ich möchte im Folgenden Beispiele für den alkoholgegnerischen Diskurs in der zeitgenössischen Literatur aufzeigen, um eine breitere Perspektive des Alkoholproblems anzubieten und die gesellschaftliche Meinung über die großen Antialkoholkampagnen etwas zu erleuchten. Im Gegensatz dazu skizziere ich im nächsten Abschnitt die Kampagnen, die einen protestantischen Kern hatten und ab ca. 1890 geführt wurden, im Detail. In seiner berühmten Chronik der bulgarischen Aufstände von 1875/1876 (»Zapiski po Bŭlgarskite Vŭstaniya«) verweist Zahari Stoyanov mehrmals auf Betrunkene und zitiert einen Entwurf der provisorischen Gesetze für die Waldrebellen, die Georgi Rakovski beschrieben hatte: »Jeder Woiwode hat seine Schar zu verteidigen und zwar mit folgender Aufzählung ihrer heiligen Pflichten: Wer gewillt ist, freiwillig in die Reihen der Nationalen Bulgarischen Freischaren einzutreten, verpflichtet sich durch seinen Eid: a) die Trunkenheit zu meiden […]«.39 Zudem hat Ivan Vazov die Vorbereitungen des Aprilaufstands 37 Georgeon. 38 Gavrilova, S. 303–307. 39 Stojanov,, S. 74.

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in einem Kapitel seines einflussreichsten Romans »Unter dem Joch (Pod Igoto)« unter der Überschrift »Ein Volk ist berauscht« beschrieben. Den allgegenwärtigen Enthusiasmus der Bevölkerung nennt er »revolutionäre Gärung« und »allgemeine[n] Rausch«.40 Die »Erinnerungen aus den Jahren der Kämpfe und Siege (Spomeni iz Godini na Borbi i Pobedi)« von Ivan Geshov sind ein erhellendes Beispiel für die Thematisierung des »Alkoholproblems« noch vor der Unabhängigkeit. Geshov hatte am Owen’s College in Manchester (später: Victoria University) studiert, wo er stark von der Lehre Stanley Jevons, der gemeinsam mit Léon Walras und Carl Menger als Entdecker des Wertparadoxons gilt, beeinflusst wurde. Während seines Aufenthalts in England schrieb Geshov Leserbriefe an die »Pall Mall Gazette«, in denen er die Idee eines unabhängigen bulgarischen Nationalstaates verteidigte.41 Während des Russisch-Osmanischen Kriegs befand sich Geshov in Plovdiv (damals Philippopolis). Dort wurde er von der türkischen Polizei wegen Verdachts auf subversive Tätigkeiten verhaftet und in ein Arrestlokal gebracht. Die dortige Lage skizzierte er wie folgt: »[…] in dem Zimmer, das ungefähr 12 Meter in der Länge und 6 Meter in der Breite hatte, befanden sich ein paar Gendarmen und Arrestanten, der Abfall der Straßen Plovdivs, unbescheidene Müßiggänger, die den Weg der Sünde eingeschlagen hatten und das Arrestlokal erreichten, aufgequollene Säufer, die auf der Straße eingeschlafen waren und im Gefängnis wieder aufwachten.«42 Neben den Schriftstellern setzte sich offensichtlich auch die orthodoxe Kirche, die eine führende Rolle in der bulgarischen »Wiedergeburt« spielte, mit dem Alkoholproblem auseinander. Im Osmanischen Reich waren die christlich-orthodoxen Aktivitäten auf dem Balkan durch das sogenannte MilletSystem (und dort in der Kategorie Rum) geordnet, eine auf dem islamischen Recht beruhende Rechtordnung, die unter anderem den Status nichtmuslimischer Religionsgemeinschaften regelte.43 Die Hierarchie innerhalb der einzelnen Millets (orthodoxe, armenische und jüdische) wurde jeweils separat festgelegt, sodass religiöse Freiheiten und partielle juristische Autonomie unterschiedlich zum Tragen kamen. Im Rum-Millet lag die Macht in den Händen des griechischen Klerus, und die frühe bulgarische Opposition richtete sich vor allem gegen diese »Phanariote«. Ein Meilenstein der Konstruktion einer nationalen bulgarischen Identität war die »Slawo-bulgarische Geschichte« von Païssi von 40 Wazov, S. 338–341. 41 The Pall Mall Gazette (1866), Sept. 26. 42 Geshov, S. 57. Diese und die folgenden Übersetzungen von Quellen aus dem Bulgarischen stammen von mir. 43 Kia, S. 111–131.

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Hilandar, die in den 1760er Jahren geschrieben, jedoch erst 1844 in Budapest gedruckt worden war, und die damit beginnende Standardisierung der bulgarischen Volkssprache darstellte.44 1870 wurden diese Anstrengungen belohnt: mit einem Dekret des Sultans wurde das bulgarische Exarchat ausgerufen. Im Zusammenhang mit diesem Artikel ist interessant, dass das Erste Statut des Exarchates vorsah, dass wenn eine Seite einer potentiellen Ehe unter regelmäßiger Betrunkenheit litt, die Kirche der Ehe nicht zustimmen könne.45 Das Alkoholproblem war auch der Klosterkultur nicht fremd. Die Wandmalerei im Rila-Kloster z. B. stellt eine Höllen-Szene dar, in der die Gestalt eines Gastwirts zu erkennen ist. Die Überschrift warnt vor dem Verkauf von Alkohol. Die ersten breiten Kampagnen gegen den Alkohol wurden jedoch wie in anderen Teilen der Welt von Evangelikalen organisiert.46 Es soll aber betont werden, dass ihre alkoholgegnerischen Tätigkeiten in einem komplizierten Verhältnis zur Nationsbildung standen. Die ersten, die die Idee einer organisierten Mäßigkeitsbewegung in Bulgarien eingeführt haben, waren Missionare aus den Vereinigten Staaten. Zoe Ann Marinda Locke (geb. Noyes) zog 1868 mit ihrem Mann nach Bulgarien, um in Absprache mit Frances Willard, der Präsidentin der amerikanischen WCTU, die ersten bulgarischen Frauentemperenzgruppen ins Leben zu rufen.47 Die erste Männer-Gesellschaft wurde später von George Marsh organisiert,48 während seine Frau 1882 die erste Gruppe für Kinder im Umfeld der evangelischen Kirche in Plovdiv gründete.49 Schnell nahm die Zahl dieser Gruppen zu, sodass 1893 entschieden wurde, ein offizielles Treffen alkoholgegnerischer Vereine einzuberufen. Am 31. März versammelten sich die Alkoholgegner – vor allem neulich bekehrte bulgarische Protestanten – in Samokov und diskutierten, ob eine landesweite Abstinenzunion (Въздържателен съюз) gegründet werden solle. Einwände dagegen wurden im Wesentlichen durch den Verweis auf die ohnehin schwierige finanzielle Lage der lokalen Gruppen begründet. Die Mehrheit sprach sich gleichwohl für die Gründung eines Landesverbandes aus, und sogar ein Statut wurde verabschiedet. Der festgelegte Zuständigkeitsbereich der Temperenzunion erstreckte 44 Crampton, The Oxford history of modern Europe, S. 30–2, 55–8. 45 Promitzer, Taking care of the national body, S. 223–224; für die Rolle dieses Gesetzes in den eugenischen Diskussionen der 1930er Jahre siehe auch ebd., S. 233–240. 46 Der einzige mir bekannte Text zu diesem Thema ist Kulichev, Заслугите, S. 265–275. Es handelt sich um ein Kapitel in einem Buch aus der Perspektive eines Geistlichen, dessen Titel sich als »Beiträge der Protestanten zum bulgarischen Volke« übersetzen lässt. 47 Clarke, S. 3. 48 CSA, 1027 K, a. 1. 49 Kulichev, Заслугите, S. 267.

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sich auf das gesamte Gebiet der neuen Nation (bzw. was als Nation konzipiert wurde) – ich komme auf diese Überschneidung noch zurück. Das Gründungsdokument beginnt mit folgender Passage: »[d]ie Temperenzgruppen in Bulgarien schließen einen Bund unter dem Namen ›Bulgarische Temperenzunion‹. Anmerkung. Jede Temperenzgruppe in Bulgarien, Männer- oder Frauengruppe, kann Mitglied der Union werden, wenn sie ihre Bitte schriftlich der Verwaltung der Union schickt, wobei die formale Annahme auf dem nächsten Jahres treffen erfolgt.«50 Am 1. Januar 1894 erschien die erste Ausgabe der Unionszeitschrift »Bŭlgarsko Vŭzdŭrzhatelno Zname (Bulgarische Abstinenzfahne)«, die später in »Vŭzdŭrzhatel (Abstinenzler)« umbenannt wurde. (siehe Abbildung 1)

Abb. 1. Bŭlgarsko Vŭzdŭrzhatelno Zname 1 (1894) 1.

In ihr wurde unter anderem die religiös offene bzw. überkonfessionelle Position der Union hervorgehoben: »Wir bitten alle, die sich für Temperenz interessieren, gleichgültig welche Religion sie ausüben, sich um neue Temperenzgruppen zu bemühen, wo solche noch nicht existieren … und für einen schnellen Beitritt sämtlicher solcher Gruppen in die Union zu sorgen.«51 Tatsächlich listete das 50 CSA, 1027 K, a. 1. 51 Bulgarische Temperenzfahne 1 (1894) 1, S. 4.

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Jahrbuch für 1912 nicht nur evangelikale, sondern z. B. auch eine orthodoxe Temperenzgruppe aus Etropole.52 Um die Position der evangelikalen Alkoholgegner zur Frage der Territorialisierung festzustellen oder, in anderen Worten, ihre Rolle im Prozess der Konstruktion der neuen Nation zu bestimmen, sollen drei Punkte näher untersucht werden. Zuerst ist es wichtig auf die Fülle der Literatur und Druckmaterialien, die die Evangelikalen veröffentlicht haben, hinzuweisen. Die Antialkoholkampagnen waren vor allem auf das schriftliche Wort angewiesen. Die Evangelikalen hatten Zugang zu einer kyrillischen Druckerei in einer Zeit, als diese noch wenig verbreitet waren. Der zweite Punkt, der sich eng auf den ersten bezieht, ist die Rolle der Evangelikalen bei der Standardisierung der bulgarischen Sprache. Schließlich soll die praktische Hilfe bei Aufständen vor der Unabhängigkeit und bei Militärkampagnen danach näher betrachtet werden. Eine ausführliche Analyse der Frage von den politischen und strategischen Gründen der Missionare im Bezug auf ihre Arbeit in Südosteuropa würde den Rahmen dieser Studie sprengen, es reicht wohl hier zu bemerken, dass ihre Tätigkeiten nicht immer geradlinig und unumstritten waren. Die protestantische Mission in Plovdiv wurde mit einer ganzen Anzahl von Problemen konfrontiert, nicht zuletzt mit Vorwürfen von russischen Botschaftern, dass die Protestanten fremde Interessen vertraten. 1860 hat die orthodoxe Kirche in Plovdiv einen Kirchenbann über die Missionare verhängt. Diese schwierigen Umstände haben zu zwei wichtigen Entscheidungen geführt – erstens entschieden die Missionare, sich vor allem auf Bildung und nicht auf Bekehrungsaktivitäten zu konzentrieren und zweitens hat die Isolation in Plovdiv zu einem Umzug der Mission nach Samokov geführt.53 1881 wurde das erste Buch über das Alkoholproblem im nunmehr unabhängigen Staat Bulgarien mit dem Titel »Poterja protiv Pijanstvoto (Bataillon gegen die Trunkenheit)«, in Sofia und Plovdiv veröffentlicht. Der Autor, Ivan Tondzhorov, hatte in den 1860er Jahren an der evangelischen Schule in Plovdiv studiert und später in Bansko gepredigt.54 Allmählich erhöhte sich die Zahl der Publikationen inklusive der oben erwähnten Zeitschrift »Vŭzdŭrzhatel«. Um 1900 war der Pfarrer James Clarke besonders aktiv im »Kampf gegen den Alkohol«. Clarke, der sich aufgrund einer Erweckungserfahrung entschieden hatte, sich statt des Goldrauschs in Kalifornien der Missionarsarbeit zu wid52 CSA, 1027 K, a. 1. 53 Genchev, S. 406–14. 54 Tondzhorov.

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men, kam 1859 nach Bulgarien. Während er an verschiedenen Orten predigte, engagierte er sich besonders in den Antialkoholkampagnen und investierte sogar privates Geld in den Druck von Pamphleten.55 Laut Clarke wurden um 1900 rund 100 000 Kopien von sieben Plakaten und Traktaten gedruckt, was einer Menge von ca. 540 000 Druckseiten entsprach. Einige dieser Veröffentlichungen erreichten kurz vor 1900 den Bildungsminister, der daraufhin versprach, sich für deren Verbreitung an Schulen einzusetzen, ohne sich freilich daran zu halten.56 Glaubt man Clarke, hatte der Gebrauch von Druckereien bei den Evangelikalen eine feste Tradition. In einem Brief, der 1872 im »Missionary Herald« veröffentlicht wurde, gab Clarke an, dass 60000 Kopien verschiedener Teile der Heiligen Schrift gedruckt und verbreitet worden seien, während hunderte Kopien der vollständigen Bibel verkauft wurden.57 Die Notwendigkeit für eine standardisierte bulgarische Sprachform für ihre Rolle bei der Formation einer bulgarisch sprechenden Elite wurde schon in den 1820er Jahren erkannt. Mit dem allmählichen Wachstum der bulgarischen Literatur wurde dies um 1840 mit zunehmender Dringlichkeit als Problem formuliert. Zu diesem Zeitpunkt verfügten die literarischen Werke über keine einheitliche Grammatik, manche Autoren verfolgten sogar innerhalb eines Werkes keine konsistenten Regeln. In den 1840er Jahren definierten sich zwei Schulen – eine wurde von Yuri Venelin geleitet und versuchte sich für eine komplizierte Grammatik mit Fällen durchzusetzen; die andere, die sich um Ivan Bogorov gruppierte, befürwortete eine praktischere Grammatik und konnte sich schließlich durchsetzen.58 Mit ihrer regen Publikationstätigkeit waren auch die Missionare praktisch am Prozess der Standardisierung der Sprache beteiligt.59 Elias Riggs etwa arbeitete zusammen mit Konstantin Fotinov in Smyrna an der ersten Übersetzung des Neuen Testaments ins Bulgarische und wurde dabei in die lebhafte Debatte um die neue bulgarische Sprache involviert. »When the Eastern dialect began to rise in importance [Bogorov’s Schule], Riggs was among the first to adopt it for his translation of the whole Bible, but previous to the sixties, Neophytos’ New Testament and Riggs’ religious and ethical tracts formed the basis of all other literary form.«60 Der Anteil der evangelischen Schulen als Kulichev, Заслугите, S. 267. Clarke, S. 3. The Missionary Herald (1872), 68:11, S. 362. Crampton, Concise History of Bulgaria, S. 61–62; ders., The Oxford History of Modern Europe, S. 55–56. 59 Für eine ausführliche Diskussion über Druckerpresse und Sprache, Kulichev, Заслугите, S. 45–104. 60 Wiener, S. 38. 55 56 57 58

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Bildungsinstitutionen an der Sprachstandardisierung ist kaum zu überschätzen. Die bessere Ausstattung und Lernbedingungen an den protestantischen Schulen zogen häufig die Kinder der bulgarischen Elite an bzw. brachten eine neue Elite hervor.61 Theodor und Margaret Byington gründeten z. B. 1863 eine Missionsschule in Eski Zağra (das heutige Stara Zagora). Die Absolventinnen der Schule sollten, so die Hoffnung der Missionare, eine wichtige Rolle für die künftige Nation spielen – »The young women would shape the spiritual regeneration of the Bulgarian nation through their influence as teachers.«62 Besonders wichtig ist das Konzept des Sprachraums, das die US-amerikanischen protestantischen Missionare auf dem Balkan anwandten. Die Missionare wurden als »secondary actors in the construction of Balkan nationalisms« charakterisiert.63 Bulgarien nahm dabei eine besondere Stelle ein: »Bulgarians were the missionaries’ most favoured nation in the Balkan region«64, so Ömer Turan in einem Artikel über Monastir in den Jahren 1912 bis 1917. Weiter schreibt er: »American missionaries did not consider the Macedonians to be a distinct nation from the Bulgarians and thought their language was simply a dialect of Bulgarian. In this view, all of Macedonia was merely a part of a greater Bulgaria.«65 Diese Anschauung findet sich in den Temperenzaktivitäten der Evangelikalen wieder. 1907 z. B. stellt das Jahrbuch die zwanzig Gruppen von Bulgaren und Makedoniern als Mitglieder der bulgarischen Temperenzunion dar.66 1910 fand das jährliche Treffen der Union in der Stadt Drama statt, die sich damals in der Türkei (heutiges Griechenland) befand. Andersherum wurde auch diskutiert, ob der Name der Union geändert werden sollte, um die »Landsleute« im Ausland zu erreichen, denn die Behörden in der Türkei und Griechenland konnten auf ihrem eigenen Staatsgebiet keine bulgarische Temperenzunion gestatten.67 Aufschlussreich für die Bedeutung, die die evangelikalen Temperenzler der Nation zuschrieben, ist schließlich die Titelseite des »Vŭzdŭrzhatel«, die eine Fahne mit dem Schriftzug »Für Gott, Heim und Vaterland« zierte.68 Die praktische Hilfe der Evangelikalen für die Unabhängigkeit der neuen Nation ist auch kaum zu übersehen. Nach dem Ilinden-Aufstand von 1903 ver61 Daskalova, Грамотност, S. 52. 62 Reeves-Ellington, S. 146. 63 Turan. 64 Ebd., S. 134. 65 Ebd. 66 CSA, 1027 K, a. 1. 67 Ebd. 68 Siehe Fig. 1.

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sorgten Missionare, unter anderem auch Clarke, Flüchtlinge mit Nahrung und Kleidung. Zudem wurde ein Krankenhaus für Verletzte in Bitola eröffnet. Allgemein wandte die amerikanische Mission rund 20000 Dollar für die Unterstützung von mehr als 61000 Menschen auf. Mit englischen Geldern wurde ein Waisenhaus gegründet.69 Solche Kampagnen hatte Clarke schon nach dem Aprilaufstand geführt, als er finanzielle Hilfe aus England und den USA in Bulgarien verteilte.70 Zudem führten die Missionare Korrespondenz und informierten die englischsprachige Öffentlichkeit über die Schwierigkeiten, in die die lokale Bevölkerung geraten war. Türkische Behörden verdächtigten Pfarrer subversiver Tätigkeiten. Der erwähnte Tondzhorov wurde sogar unter dem Verdacht revolutionärer Bestrebungen verhaftet.71

Die ›Zweite Welle‹ Die bulgarische Antialkoholbewegung erlebte eine Art Wiedergeburt in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Dieses Animieren verwirklichte sich vor allem durch den Eintritt internationaler Organisationen in Bulgarien, die sich für die weltweite Bekämpfung des Alkohols einsetzten und in der Regel ein säkulares Etikett trugen. In diesem Abschnitt diskutiere ich über die Tätigkeiten solcher Organisationen in Bulgarien und über die Akteure, die die treibende Kraft in diesen Institutionen waren. 1891 reiste Auguste Forel zum ersten Mal als Teil seiner Forschungsreise nach Bulgarien. 1910 kam er zum zweiten Mal und initiierte die ersten Guttemplerlogen in Sofia und Plovdiv.72 Bei der Loge in Sofia stechen einige Mitglieder hervor, wie etwa Alexander Balan, der erste Rektor der Sofioter Universität, Stoyan Danev, der an der Ruprecht-Karls Universität Heidelberg in Jura promoviert hatte und später Außenminister und Premierminister Bulgariens wurde, und Dr. Zŭbov, Vorsitzender des Kassationsgerichts. Diese beeindruckende Reihe prominenter Personen deutet auf den elitären und einflussreichen Charakter der Loge hin.73 Dennoch scheiterte dieser erste Versuch komplett. Angeblich strömten zahlreiche enthusiastische Mitglieder zu den ersten Treffen der Loge, aber mit der Zeit waren nur noch vier Leute anwesend.74 Es 69 70 71 72 73 74

Tzokova, S. 267–282. Kulichev, Заслугите, S. 237. Kulichev, Heralds of the truth S. 247. CSA, 1272 K, a. 2, S. 16; Борба с алкоолизма [Borba s Alkoolizma] 6 (1927) 3, S. 33. CSA, 1272 K, a. 2, S. 20. Ebd., S. 23.

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ist schwierig einzuschätzen, was die Gründe dafür waren, insbesondere angesichts der Tatsache, dass diese Organisation in den 1920er und 1930er Jahren geradezu aufblühte. Dass der erneute Versuch, eine aktive Loge ins Leben zu rufen, glückte, hatte viel mit Hristo Dimchev und seinen Netzwerk zu tun. Dimchev, der in der bulgarischen Abstinenzbewegung eine tragende Rolle spielte, wurde 1887 in Prilep, Mazedonien, geboren. In seinen Memoiren beschreibt Dimchev, dass er 1898 oder kurze Zeit später erstmals mit Gegnern von Spirituosen in Kontakt kam, nachdem er zwei Jahre in Strumica (Mazedonien) verbracht hatte, wo seine Schwester als Lehrerin arbeitete. Mit seinen eigenen Worten: »Dort lebten mehrere evangelikale Familien. Da hörte ich zum ersten Mal, dass die Protestanten keinen Wein, keinen Rakia [Schnaps] und auch keine anderen alkoholischen Getränke trinken und keinen Tabak rauchen – nur das.«75 Wenige Jahre später, nun selbst als Lehrer tätig, erhielt Dimchev ein Rundschreiben vom Bildungsministerium, das alkoholgegnerische Broschüren von James Clarke enthielt.76 Das ist insofern interessant, da Clarkes Idee, Streitschriften über das Ministerium zu verbreiten, zunächst gescheitert war.77 1906 reiste Dimchev nach Genf, um ein Jurastudium aufzunehmen, das er nach einer Pause an der Universität Neuchâtel fortsetzte. Dort schloss er sich, nach einer enttäuschenden Erfahrung mit dem Blauen Kreuz, den Guttemplern an.78 1914 besuchte er Auguste Forel in Yvorne. In einem persönlichen Gespräch erklärte Forel den vorübergehenden Misserfolg der Guttempler in Bulgarien gegenüber Dimchev mit den Kriegen.79 Tatsächlich befand sich Bulgarien zwischen 1912 und 1918 drei Mal im Krieg, und von 1912–1913 unterbrach Dimchev selbst sein Studium, um sich der Armee anzuschließen. Nach seinem Gespräch mit Forel kehrte Dimchev nach Bulgarien zurück. Seine Aufgabe war es, die Guttempler dort wiederzubeleben. In Sofia traf er Dr. Chavov, der bei Forel in Zürich studiert und sich bereits der ersten Loge angeschlossen hatte. Im privaten Gespräch bot Chavov eine andere Erklärung für den Misserfolg. »Sie meinen, dass ›Opa‹ Forel die Kriege, die alles zerstören, für den Untergang der Loge Vitosha verantwortlich macht. Er weiß nicht, der Arme, dass wir Bulgaren sind. Wir sind wie Heu – leicht zu entflammen, aber auch leicht wieder zu löschen. […] Nach seinen indirekten und überzeugenden Vorträgen […] sind 80 Leute geblieben, 75 76 77 78 79

Ebd., S. 1. Ebd., S. 7. Clarke, S. 4 f. CSA, 1272 K, a. 2, S. 11–17. Ebd., S. 22.

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um eine Loge zu gründen, einfach so, um dem berühmten Professor aus dem Ausland eine Freude zu machen.«80 Chavovs Bemerkung kann als Beispiel eines Diskurses gelesen werden, der sich zu dieser Zeit nicht nur in Bulgarien entwickelte: es lässt sich eine Art Selbstorientalisierung beobachten, eine Verortung des Selbst in einer exotischen oder gar unterwürfigen Position innerhalb einer Beziehung zwischen (»westlichem« oder sogar präziser »modernem«) Zentrum und Peripherie. Aleko Konstantinov, der berühmte bulgarische Schriftsteller und ein scharfer zeitgenössischer Beobachter, kritisierte dieses Phänomen bei seinen Landsleuten: »In den Kneipen und Cafés, unter dem Einfluss von Suchtmitteln und Alkoholgetränken wirst du […] das schöne Bulgarien mit stereotypischen Phrasen schimpfen: ›Oh, eine bulgarische Schaffung‹, ›Bulgare-Wilder, kennst du die nicht‹, ›Bulgarien-Wildheit‹…Aber weder Bulgarien, noch die Bulgaren sind überhaupt wild, wir [die solche Aussagen machen] sind wild und profan, Leute, die nur schimpfen kennen, um zu zeigen, dass wir vermeintlich viel gesehen haben […]«81 Sebastian Conrad beschreibt ein ähnliches Phänomen in Japan als Zivilisierung des Selbst: »[…] Japan übernahm am Ende des 19. Jahrhunderts diesen Diskurs [einer westlichen ›Mission civilisatrice‹], zu dem es angesichts der machtpolitischen Verhältnisse keinerlei Alternative gab. […] Die japanische Modernisierungspolitik, die Japan aus einem ›halb-zivilisierten‹ Gemeinwesen zu einem ›zivilisierten‹, souveränen Staat formen sollte, stand seit den 1870er Jahren explizit im Kontext dieses Zivilisationsdiskurses.«82 Dieses diskursive Instrument, die Idee, dass weniger »zivilisierte« Länder ihren Rückstand aufholen müssen, ist auch häufig in der bulgarischen Temperenzliteratur präsent. An Dimchevs und Neichevs Beiträgen zur Antialkoholbewegung wird deutlich, was sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts kennzeichnete – institutionelle Konsolidierung und Erweiterung einerseits, internationale Öffnung andererseits. Dimchev engagierte sich vor allem in der Gründung von Schülerassoziationen und deren Zusammenführung in einer Schülerabstinenzunion. 1919 entstanden unter seiner Federführung zwei Gruppen in Sliven. Ein Jahr später existierten bereits 13 Schülergruppen, die zu einem Unionsgründungskongress in Sliven zusammenkamen.83 Zunächst wurde die Organisation der Guttempler von Haralampi Neichev wieder zum Leben erweckt. Neichev war 1879 in Russe an der Donau geboren, wo er das Gymnasium absolvierte und auch – 80 81 82 83

Ebd., S. 23. Konstantinov. Conrad, S. 249. Dimchev, S. 10–12.

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wie Dimchev – als Lehrer arbeitete. Später ging er nach St. Petersburg, wo er an der Militärakademie Medizin studierte. Während des Studiums arbeitete er für verschiedene Zeitungen, unter anderem für die »Severnii Vestnik«, und übersetzte Artikel für die bulgarische Leserschaft. 1907 hatte er sein Studium abgeschlossen.84 Es ist recht wahrscheinlich, dass Neichev dabei das erste Mal mit alkoholgegnerischen Ideen in Berührung kam. Es war eine Zeit, in der die »Попечительства о народной трезвости (Guardianship of Public Sobriety)«, eine staatlich unterstützte Organisation, am aktivsten war, während die Kirche eigene Gruppen, wie etwa die »Trezvenniki (Nüchterner)«, organisierte. Vor allem war das eine Periode, in der laut Patricia Herlihy Ärzte ihre Autorität im Diskurs über den Alkoholismus geltend machten.85 Zurück in Bulgarien begann Neichev die Zeitschrift »Obshtestveno Zdrave (Öffentliche Gesundheit)« herauszugeben, und wenig später, während des Ersten Weltkrieges, las Dimchev wohl dort über das Alkoholproblem und kontaktierte Neichev. Letzterer wiederum veröffentlichte kurz darauf ein Programm zur »Sanitär-sozialen Politik der ›Bulgarischen Sozialdemokratischen ArbeiterPartei‹«, in dem er die Schaffung eines Ministeriums für öffentliche Gesundheit propagierte und dabei auch auf den Alkoholismus verwies. »Er wird durch die schlechte Wohnung und die schlechte Werkstatt befördert, durch den Müßiggang und den Reichtum, durch die Gier, die schlechten Arbeitsbedingungen, die Unterernährung und das Leid, durch das wenig entwickelte Bewusstsein und die Unwissenheit der Masse.«86 Unter den möglichen Lösungen, die der Autor vorschlug, findet man als ersten Punkt die Empfehlung eines staatlichen Alkoholmonopols. 1920 war Neichev bei der Gründung der Schülerabstinenzunion anwesend und hielt einen Vortrag. 1921 leisteten Dimchev und Neichev der Einladung Robert Hercods, dem Leiter der WLAA, Folge und reisten zusammen nach Lausanne. Da besuchten sie zunächst den internationalen Kongress über Alkohol. Obwohl Neichev zuerst skeptisch war, was die Zeremonien der Guttempler angeht, war er von dieser Organisation in Lausanne sehr beeindruckt, und nach einem Besuch bei Forel in Yvorne entschied er sich, weitere Logen in Bulgarien zu gründen. Kurz nach der Rückkehr nach Sliven wurde Dimchev durch ein Telegramm darüber in Kenntnis gesetzt, dass Neichev eine neue Loge – Auguste Forel Nr. 2 – in Sofia gegründet hatte. Offensichtlich war das eine große Ent84 CSA, 713 K, Историческа Справка. 85 Herlihy, The alcoholic empire. 86 Neichev, S. 50.

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täuschung für Dimchev – die Regeln der Guttempler waren in zwei Punkten gebrochen worden. Neichev war selbst nie dem Orden beigetreten, durfte demzufolge keine Loge gründen. Zudem verbot die Satzung der Guttempler explizit, Logen nach lebenden Personen zu benennen.87 Schnell folgten ihr weitere und schließlich wurde noch eine bulgarische Hauptloge gegründet – genehmigt von Forel, wobei sich darin das Engagement von Dimchev nicht erschöpfte, denn parallel dazu motivierte er den Aufbau einer Lehrerunion in Shumen.88 Parallel zu dieser prompten Gründung von Vereinen in der Antialkoholbewegung verbreitete sich ein Schrifttum, das sich quasi als Fachliteratur bezeichnen lässt. Obwohl eine abschliessende Klärung der Gründe dieses Erfolges an dieser Stelle noch nicht möglich ist, lassen sich im Kontrast zur »ersten Welle« einige Aspekte festhalten. Die »zweite Welle« entfaltete sich zumeist in einer städtischen Umgebung – Großstädte wie Sofia, Sliven und Varna verfügten alle über verschiedene Abstinenzorganisationen und Kampagnen. Obwohl es evangelikale Gruppen in vielen Städten gab, waren diese in kleineren Zentren wie etwa Samokov und Bansko am stärksten vertreten. Dazu betonten die neuen Abstinenzakteure oft die »wissenschaftliche« Natur ihrer Argumente und distanzierten sich so von den angeblich »religiösen« und »moralisierenden« Argumenten der Evangelikalen. Darüber hinaus lässt sich eine grobe Tendenz der Säkularisierung der alkoholgegnerischen Bewegung erkennen. Die Frage, inwieweit religiöse Gruppen einen wissenschaftlichen Diskurs bedient haben und – vice versa – inwieweit »wissenschaftliche« Diskussionen von älteren, moralisch-religiösen Debatten bedingt wurden, kann auf Grund der räumlichen und thematischen Beschränkungen hier nicht entfaltet werden. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass sich die Etikettierung der jeweils führenden Institutionen der Bewegung und die formelle Assoziation ihres Leitungspersonals mit der Zeit säkular ausrichtete. Die historische Analyse zeigt jedoch, dass es sich hier nicht um einen einfachen Säkularisierungsprozess handelt. Die Evangelikalen haben selbst »wissenschaftliche« Artikel veröffentlicht, während sich manche Erklärungen der Ursachen des Alkoholproblems in den »wissenschaftlichen« Zeitschriften einer stark moralisierenden Sprache bedienen. Nichtsdestotrotz ist eine »tiefere« Ebene der Säkularisierung auf der Seite der Rezipienten der Antialkoholliteratur zu erkennen – Zeitschriften die das »Wissenschaftslabel« nutzten, lockten eine neue professionelle, städtische Schicht der Bevölkerung an, während die 87 CSA, 1272 K, a. 2, S. 108. 88 Dimchev, S. 14–15.

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Temperenzliteratur für Kinder von dem Ausbau der Elementarschulbildung und von der damit verbundenen allmählich wachsenden Alphabetisierung profitierte.89 Neben der »Vŭzdŭrzhatel« wurden jetzt mehrere Antialkoholzeitschriften herausgegeben. »Borba s Alkoholizma (Kampf gegen Alkoholismus)« erschien monatlich zwischen 1922 und 1941 mit einer Auflage von bis zu 3000 Kopien. Diese Zeitschrift widmete sich wissenschaftlichen Artikeln und wurde von Neichev und Iosif Isakov herausgegeben. Die Lehrerunion hatte ihr eigenes Organ – »Protivoalkoholen List (Antialkoholblatt)« –, das zwischen 1923 und 1937 monatlich erschien. Besonders wichtig waren die Publikationen für Kinder und Schüler, etwa »Spirtomrazec (Spirtuosenhasser)«, 1924–1941 mit einer Auflagenstärke von bis zu 3500 Ausgaben, und »Vŭzdŭrzhatelche (Der kleine Abstinenzler)«, 1927–1950 mit einer Auflage von bis zu 25000 Ausgaben. Die Vervielfältigung von Zeitschriften verstärkte auch die Tendenz einer Säkularisierung des Antialkoholdiskurses. Ein bedeutender, wenn auch peripherer Zweig der Antialkoholbewegung in der Zwischenkriegszeit waren die Rassenhygieniker. 1926 formierte sich eine Gruppe Wissenschaftler, die eugenische Ideen teilten. Die Gesellschaft für Rassenhygieneforschung (Obštestvo za rasovo-higienični proučavanija) diskutierte unter anderem häufig das Problem des Alkoholismus.90 Stefan Konsulov, der ebenfalls im Ausland studiert hatte und eine enge Beziehung zur deutschen »Rassenhygiene« pflegte,91 war eines der aktivsten Mitglieder dieser Gesellschaft. In einem Artikel über Vererbung und Alkoholismus schrieb er: »Es wird denjenigen Völkern schwerfallen, die mit den sozialen Übeln – der Schattenseite der Kultur – nicht zurechtkommen können. Im Wettbewerb zwischen den Völkern wird die Zukunft denjenigen gehören, die ihre eigene Kultur heben können, ohne deren negativen Einflüssen zu erliegen.«92 Für viele ähnlich denkende Wissenschaftler und Ärzte waren die Antialkoholkampagnen ein Mittel zur Erziehung einer gesünderen Nation. Und obwohl die Eugeniker in der Antialkoholbewegung eher randständig waren, hatten sie vermutlich einen großen Anteil an dem 1929 vom bulgarischen Parlament verabschiedeten Gesetz über die öffentliche Gesundheit, das Maßnahmen für die Beschränkung des Alkoholkonsums vorsah.93 89 Zur Professionalisierungsfrage z. B. Daskalov, insbesondere S. 62–66 im Kapitel über das Gesundheitssystem in Bulgarien; zur Alphabetisierung, Daskalova, Грамотност. 90 Promitzer, Taking care of the national body, S. 229; siehe auch ders., Degeneration. 91 Turda u. Weindling, S. 9. 92 Konsulov, S. 148. 93 Promitzer, Taking Care of the National Body, S. 232; Stenographische Protokolle der Gewöhnlichen Volksversammlung. [Стенографски Дневници на 22рото Обикновено Народно Събрание], 22. Versammlung, 1923–34 Sofia, S. 161.

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Die Mehrheit der Abstinenzverfechter lehnte eugenische Positionen ab. Beispielhaft ist die Zeitschrift »Trezva Misŭl (Nüchterner Gedanke)«, in der in den 1930er Jahren in deutlichen Worten gegen die Ideen der »Rassenhygiene« polemisiert wurde, etwa in dem in Esperanto verfassten Artikel »Rassismo kaj la nuntempa sociala vivo de la popoloj (Rassismus und das zeitgenössische Leben der Gesellschaft)«94 oder in dem Beitrag von Nikolai Iovchev, der sich kritisch mit Konsulov auseinandersetzt und mit der Warnung endet, dass Konsulov, hätte er die Macht, Sterilisationen einführen würde.95 Vermutlich verstärkte die klare Opposition der meisten Abstinenzverfechter zu rassischen Argumenten die internationale Orientierung der Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg. Jedenfalls zielte man zunehmend weniger auf die Gesundung der Nation ab, sondern verstand sich als Teil eines grenzüberschreitenden Reformanliegens, verfolgte man die Arbeit der internationalen Dachverbände und beteiligte sich an der internationalen Kooperation. Zwar bediente man sich auch in dieser Phase nationalisierender Argumente, denn wie eingangs beschrieben, sind De- und Re-Territorialisierungsprojekte bzw. deren Aneignung für die eigene Sache zumeist miteinander verflochten. Gleichwohl lässt sich eine Verschiebung beobachten, von der Stilisierung des Alkohols als »Feind der Nation« zu einem universalen Problem, auf das die Menschheit gemeinsam reagieren muss. Neichevs eigene Arbeit illustriert diese Entwicklung. Er schrieb 1912 zusammen mit Racho Angelov ein Programm für die Assoziation der Ärzte, in dem Hinweise für die Bekämpfung des Alkoholismus, aber auch Empfehlungen in Bezug auf Ehe und Vererbung gegeben wurden.96 In den 1920er und 1930er Jahren wies Neichev (bzw. seine Zeitschrift) häufig auf die Beziehung zwischen »Entartung« und Alkohol hin, schlug aber statt eugenischer Lösungen staatliche Maßnamen, wie etwa die Verbesserung der sanitären Verhältnisse der Arbeiterquartiere zur Beschränkung des Alkoholkonsums, vor.97 Dazu muss betont werden, dass Nationalismus, Rassismus und »Rassenhygiene« nicht miteinander gleichgesetzt werden können. Tatsächlich kann man festhalten, dass Verschiebungen und konkurrierende Interpretationen des Konzeptes der »Rasse« – Раса auf Bulgarisch – verschiedene Nuancen des Territorialisierungsprozesses erhellen können. Die Idee der »Rasse« entwickelte sich im Fall der bulgarischen Antialkoholbewegung zum Teil zu einem universalistisch-kosmopolitischen Konzept. ­Christian ­Geulen 94 95 96 97

Трезва борба [Trezva Borba] 3 (1938) 6–7, S. 8 f. Трезва борба [Trezva Borba] 1 (1936) 4, S. 9 f. Promitzer, Degeneration, S. 53–54. Siehe z. B. Борба с алкоолизма [Borba s Alkoolizma] 2 (1923) 9, S. 135–136.

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Abb. 2. Trezvače 13 (1936–7) 6.

beschrieb diese zunächst erstaunliche Seite der »Rassen«-Idee als »common grounds for conflict«.98 In gewisser Hinsicht wirkte das Konzept der »Rasse« einigend: Alle gehörten einer solchen an und die wissenschaftliche Fundierung einer bestimmten Kategorisierung bzw. Hierarchie konnte letztendlich diskutiert werden. Ein ähnliches Phänomen kann im Fall der Antialkoholbewegung beobachtet werden.99 In diesem spezifischen Diskurs wurde »Rasse« als Gegenpol zum Trinken konstruiert – der Alkoholkonsum führt zur »Ent98 Geulen. 99 Siehe z. B. Борба с алкоолизма [Borba s Alkoolizma] 3 (1924) 5, S. 68–70.

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artung« der gesamten »menschlichen Rasse« (human race). Abbildung 2 illustriert dieses Konzept und die Art der Territorialisierung, die dahinterstand, sehr anschaulich. Sie findet sich auf der Titelseite einer Auflage der jugendlichen Zeitschrift »Trezvače (Der kleine Nüchterne)«, erschienen in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre. Ein begleitendes Gedicht skizziert die Idee des Bildes: »Kinder aller Welt/ vereinigt Bruder mit Bruder/Hand in Hand/Schaffen eine neue Welt …«.100 Das Bild stellt eine Kette von Kindern unterschiedlicher »Herkunft« dar – ein »spectacle of races«, um einen Begriff von Lilia Schwarcz auszuleihen –, die im Kreis um den Weltglobus tanzen. Ein I.O.G.T. Abbreviaturstempel dehnt sich über Afrika, Europa und Asien aus. Die Bruderschaft, die sich um den Kampf gegen den Alkohol vereinigt, überschreitet so Kontinente und »Rasse«-Grenzen und schafft damit eine neue Welt.

Schluss Dieser Artikel hat die Geschichte der Antialkoholbewegung in Bulgarien grob umrissen. Es wurden zwei Wellen unterschieden und die jeweils prägenden Aktivisten vorgestellt. Zwischen 1890 und 1920 hatten protestantische US-amerikanische Missionare und die von ihnen initiierten Organisationen geradezu einen Monopol auf die Temperenzbewegung. Die Anzahl der Antialkoholorganisationen wuchs aber explosionsartig in der Zwischenkriegszeit, wobei gleichzeitig Ärzte und Wissenschaftler in den Vordergrund traten. Damit gingen auch Verschiebungen im Antialkoholdiskurs einher: dieser säkularisierte sich bzw. wurden nun moralische Urteile über den Alkohol unter das Banner der Wissenschaft gestellt. Zudem hat sich gezeigt, dass es während der ersten Welle vor allem um ein nationales Projekt ging, aber die Begriffe sich in Bezug auf die Territorialisierung nach 1920 deutlich änderten. Die alltägliche Arbeit verschiedenster Abstinenzorganisationen in Bulgarien blieb zwar lokal begrenzt, viele hatten aber eine internationale Orientierung. Ihre Publikationen berichteten von Entwicklungen aus der ganzen Welt und betrachteten das Alkoholproblem als eine universale menschliche Angelegenheit. Diese Entwicklung kann nicht zuletzt auf die Beziehungen und den bedeutenden Einfluss von internationalen Organisationen wie den Guttemplern zurückgeführt werden. Schließlich prägten linke politische Tendenzen eine eigene Branche der Temperenz100 Трезваче [Trezvače] 13 (1937) 6, S. 1.

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bewegung und führten zur Propagierung von Frieden und Antirassismus, wie die von Nikolai Iovchevs Kritik an der »Rassenhygiene« zeigt. Die Geschichte der Antialkoholkampagnen in Bulgarien erstreckt sich über einen politisch ereignisreichen Zeitraum. So wäre z. B. die Beziehung zwischen der Antialkoholbewegung und der in Bulgarien einsetzenden Entwicklung einer Zivilgesellschaft ein durch weitere Forschungen beleuchtendes Thema. Die Geschichte der Antialkoholbewegung in Bulgarien weist aber auch auf ein beeindruckendes Maß an freiwilliger Assoziation hin.101 Nichtsdestoweniger besteht hier eine Gefahr, die Zwischenkriegszeit als eine blühende liberal-gekennzeichnete Gesellschaft zu beschreiben. In den 1920er Jahren, insbesondere nach dem Septemberaufstand und dem Sveta Nedelia-Bombenanschlag, fand in Bulgarien eine politische und soziale Radikalisierung statt. Die Presse wurde nach verschiedenen Gesetzen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zensiert.102 Viele freiwillige Assoziationen waren darüber hinaus politisch geprägt.103 Selbst die Schülerabstinenzunion wurde im Kontext dieser Entwicklungen zusammen mit der Esperantobewegung Ende der 1920er Jahre temporär verboten, und zwar aufgrund ihrer linken und internationalistischen Tendenzen.104 Eine zweite Forschungsfrage könnte sich mit den weiteren gesellschaftlichen und kulturellen Ergebnissen dieser Kampagnen beschäftigen. Eine quantitative Einschätzung des Konsums ist aufgrund der Quellenlage zwar kaum möglich, es gibt jedoch Anhaltspunkte, die auf eine breite gesellschaftliche Resonanz der Bewegung hinweisen. Die sogenannte »lokale Lösung«105 wurde auch in Bulgarien ausprobiert. Ein Dokument der Hauptabteilung für öffentliche Gesundheit von 1931 spricht von über 540 nach Referenda geschlossenen Kneipen.106 Zudem bleibt die Frage nach dem Einfluss internationaler Organisationen und Diskurse auf diese Entwicklungen für die weitere Analyse der Antialkoholbewegung äußerst relevant.

101 Valkov 102 Daskalov, S. 486–487. 103 Ebd., S. 496–504. 104 Siehe die offizielle Zeitung der regierenden Partei: Demokraticheski Sgovor. Organ na demokračeskiya sgovor. [Демкратически Сговор. Орган на демократическия сговор] 5 (1928) 20. April, S. 2 f. 105 Für eine Diskussion der »lokalen Lösung« in Polen siehe den Beitrag von Adrian Zandberg in diesem Band. 106 CSA, 372 K, a. 2292. Ich bin Christian Promitzer für den Hinweis auf diese Quelle dankbar.

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»In Vorbereitung der neuen Welt«: Polnische Prohibitionisten, die frühe Internationale Temperenzbewegung und Prozesse des Transfers Frühe polnische Prohibitionisten und ihre Bewegung, die noch in der Teilungszeit im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstanden war, erwiesen sich als außerordentlich effektiv in ihrer Einflussnahme auf die Alkoholpolitik, nachdem Polen im Jahre 1918 die Unabhängigkeit wiedererlangt hatte. Einer der Gründe dafür sehe ich in den internationalen Kontakten der polnischen Anti-Alkohol-Aktivisten in der Gründungsphase vor dem Ersten Weltkrieg und darin, dass sie aus den Erfahrungen ähnlich Gesinnter jenseits der Grenzen, die ihre Konzepte und Strategien tief geprägt hatten, lernten. Dieser Prozess verlief nicht ohne Schwierigkeiten: Der Transfer von Vorstellungen und Organisationsformen schließt in aller Regel Ambivalenzen, Unsicherheiten, Versuche und Irrtümer ein; mitunter stößt er auf Widerstände, meist geht er einher mit Aushandlungen und Kompromissen jeglicher Art. Jedenfalls bietet der Prohibitionismus ein aussagekräftiges Beispiel für die Internationalisierung sozialen Aktivismus im späten 19. und 20. Jahrhundert. Organisationen wie der Unabhängige Orden der Guttempler oder die Christliche Frauen-Temperenzunion transferierten Ideen, Institutionen und Aktivisten über nationale Grenzen hinweg. Das polnische Beispiel zeigt, dass dieser Transfer auch Aneignung bedeutete, ein Ausbalancieren zwischen den spezifischen lokalen Problemen und den allgemeinen Ideen. Zwar sind zahlreiche transnationale Aspekte der Temperenzbewegung ausführlich analysiert worden, die Historiker haben jedoch bislang weniger Interesse für deren Aktivitäten in Ostmitteleuropa gezeigt. Möglicherweise lässt sich dieses Desinteresse mit dem (verglichen mit den Vereinigten Staaten, Russland, Finnland oder Norwegen) gleichsam geringeren Einfluss der osteuropäischen Prohibitionisten auf die internationale Bewegung erklären sowie damit, dass es ihnen nicht gelang, eine vollständige nationale Prohibition gegen Alkohol durchzusetzen. Gleichwohl spielten sie eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung der Politik gegenüber dem Alkohol in ihren Gesellschaften. Das wiedererstandene Polen ist hier ein Musterbeispiel: Die Erlangung der nationalen Unabhängigkeit – und damit der Prozess der Vereinheitlichung des Rechtssystems, während die alten politischen Eliten vom Krieg hinweggefegt worden waren und die neuen Staaten eifrig bemüht waren, ihre Politik von der

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der früheren Teilungsmächte abzusetzen – bot vielversprechende Aussichten für die Befürworter einer »trockenen Gesetzgebung«. Obwohl die Anti-Alkohol-Aktivisten 1919 in der Parlamentsabstimmung über eine nationale Prohibition unterlagen, gelang es ihnen am Ende, die »lokale Option«, das heißt eine lokale Alkoholprohibition, in das Rechtssystem des wiederhergestellten Landes einzuführen. Im Jahre 1919 war der polnische Prohibitionismus eine noch relativ junge Bewegung. Zwar hatten die polnischen Gebiete in den 1840er und 1850er Jahren eine Welle katholischer Nüchternheitsbruderschaften erlebt;1 zum Ende des Jahrhunderts waren diese größtenteils aber wieder verschwunden, und es lassen sich keine direkten Kontinuitäten zwischen ihrer Organisationsstruktur und der späteren säkularen Temperenzbewegung feststellen. Diese setzte in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts ein. Ein erster prohibitionistischer Verein wurde in Krakau von dem dortigen exzentrischen Philosphen Wincenty Lutosławski gegründet.2 Seine Gründung beleuchtet, wie und in welchem Umfang sich Ideen und Organisationsmodelle des späten 19. Jahrhunderts über nationale Grenzen hinweg verbreiteten und unterstreicht die Bedeutung von Vermittlern, von wohlhabenden Einzelpersonen und ihren persönlichen Erfahrungen. Im Jahre 1900 begann Lutosławski, seine Vorträge in ungewöhnlicher Form und an ungewöhnlichen Orten zu halten. In der traditionellen, pittoresken Kleidung des polnischen Bergbewohners erklomm er Lampenpfähle im Stadtpark und sprach zur Menge über Plato, Dante und die historische Berufung der Polen. Psychiater, die seine öffentlichen Aktivitäten beobachteten, hielten den Inhalt seiner Reden für ebenso krankhaft wie sein Kostüm und regten an, ihn in eine Anstalt zu schicken. Lutosławski, der von einem Freund gewarnt wurde, floh ins Ausland. In einem Versuch, seinen »Verfolgern« zu beweisen, dass er zu Vorträgen geistig in der Lage sei, wandte sich der Philosoph an den berühmten Schweizer Psychiater Auguste Forel.3 Forel war nicht nur als medizinischer Praktiker bekannt, sondern auch als sozialer Aktivist. Neben der Lehrtätigkeit und dem Betrieb eines Asyls unterstützte Forel eine beeindruckende Zahl an Reformbewegungen. Die Liste umfasste unter anderem Paneuropäismus, Pazifismus, Eugenik, Frauengleichberechtigung, Abolitionismus, Freiheit für Lettland, den Bahá’i-Glauben, 1 2 3

Bielewicz; Nogajec; Kracik. Zu Lutosławskis Biographie siehe Czeżowski, S. 153–156; Jaworski, Eleuteryzm i mesjanizm; Jadacki; Zaborowski; Lutosławski, Jeden łatwy żywot. Podgórska, S. 22; Niesiołowski; Lutosławski, Jeden łatwy żywot, S. 250 ff.; Pigoń, S. 199, S. 280.

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»In Vorbereitung der neuen Welt«

Sexualerziehung und Esperanto.4 Zu der Zeit, als Lutosławski in die Schweiz kam, beschäftigte sich Forel mit der Alkoholfrage. Dieses aus medizinischer Praxis entstandene Interesse entwickelte sich rasch zu einem voll ausgebildeten Aktivismus: 1892 trat Forel in den »Unabhängigen Orden der Guttempler« (»Independent Order of Good Templars« [IOGT]) ein und gründete deren Schweizer Landesverband. Die »Guttempler«, der Behemoth unter den frühen Prohibitionistenvereinigungen, mischte das Propagieren strikter Abstinenz mit einer Reihe quasi freimaurerischer Rituale und Hierarchien, wie sie für angelsächsische wohltätige Gesellschaften typisch waren. Gegründet 1851 in Utica, New York, verbreitete sich der IOGT im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts über den Atlantischen Ozean hinweg und entwickelte starke Zweige in Großbritannien, Schweden und Deutschland, aber auch in Jamaica, Nigeria und Südafrika. Zur Jahrhundertwende änderte die Organisation ihren Namen in »Internationaler Orden der Guttempler« (»International Order of Good Templars«), um ihren globalen Charakter und ihre globalen Ambitionen zu unterstreichen. Sie war einer der einflussreichsten Befürworter einer globalen Alkoholprohibition.5 Forel wurde rasch zur treibenden Kraft der Guttempler in Kontinentaleuropa (siehe Nikolay Kamenovs Aufsatz über seine Rolle in der bulgarischen Anti-Alkohol-Bewegung im vorliegenden Band). Da er bestrebt war, seine medizinische Praxis mit der Werbung für Temperenz zu verknüpfen, ist es wenig überraschend, dass er in seinem neuen polnischen Patienten einen nützlichen Rekruten für die eigene Sache sah. Lutosławski stammte aus einer wohlhabenden Familie (die einen großen Teil ihres Reichtums ironischerweise der von seinem Vater gegründeten und betriebenen Drozdowo-Brauerei verdankte6). Seine akademische Stellung und eine Gruppe ergebener Studenten versprachen einen leichten Start für einen polnischen IOGT-Zweig, zudem unterhielt seine Familie gute Kontakte zu einflussreichen nationalistischen Politikern (später in den 1920er Jahren wurde sein Bruder, seinerseits ein Befürworter des Prohibitionismus, Mitglied des Parlaments, in dem er mit Fraktionskollegen parlamentarische Lobbyarbeit für Prohibition initiierte und einen Antrag auf Einführung nationaler Prohibition unterzeichnete). Auf Einladung Forels schloss sich Lutosławski dem Orden an und beteiligte sich – gemeinsam mit Forel – an dessen internationaler Arbeit. 1901 reisten beide nach Brüssel, wo sie der Gründung der ersten Loge Belgiens beiwohnten. Im Folgejahr nahm 4 5 6

Meier; Spode; Haymaker, S. 35–38; Forel, Rückblick auf mein Leben; Rollestone. Fahey, Good Templars (IOGT); ders., Temperance Internationalism; Turnbull. Boy-Żeleński, S. 366.

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Lutosławski an der Sitzung der Internationalen Obersten Loge in Stockholm teil; diese beauftragte ihn damit, den Orden nach Polen zu bringen. Der geplante IOGT Polen hatte keine Konkurrenten – weder im österreichisch-ungarischen Galizien, wo Lutosławski operierte, noch im deutschen oder russischen Teilungsgebiet. Es gab keine lebendige Tradition, auf die Lutosławski hätte aufbauen können, als er nach Polen zurückkehrte, um die Bewegung aufzubauen. Seine frühe Legitimationsstrategie beruhte daher vollständig auf der internationalen Glaubwürdigkeit der Prohibitionsbewegung. Im Rahmen seiner Unternehmung veröffentlichte Lutosławski die Broschüre »Z dziejów wstrzemięźliwości« (»Zur Geschichte der Temperenz«), die trotz ihres historischen Titels im Wesentlichen aus einer Selbstdarstellung des IOGT bestand, flankiert von einer Einladung, sich den Reihen des neu gegründeten polnischen Zweigs anzuschließen.7 Wiederholt unterstrich er die Bedeutung der lokalen Bewegung, indem er sie als Bestandteil einer erfolgreichen, starken internationalen Bewegung darstellte. Es gab allerdings ernste Probleme mit dieser Strategie, namentlich dem am Freimaurertum angelehnten Namen und den Gebräuchen des IOGT. Gerade sie erwiesen sich bald im überwiegend katholischen Polen als hinderliche Eigenschaften. Im frühen 20. Jahrhundert blickte die katholische Kirche auf eine lange Geschichte päpstlicher Bullen gegen die Freimaurer zurück, bis hin zu »In Eminenti Apostolatus« (1738), die von Clemens XII. erlassen worden war und Katholiken die Mitgliedschaft in Freimaurerlogen untersagte. Erfolge von Antiklerikalen im späten 19. Jahrhundert, insbesondere die Säkularisierung der Erziehung in Italien (1882), führten zu einem Wiederaufleben antifreimaurerischer Stimmungen im katholischen Klerus, wie sie beispielhaft in der Bulle »Ab Apostolici« Leos XIII. (1890) zum Ausdruck kamen. Lutosławski versuchte, Freimaurerbezüge herunterzuspielen, indem er die mittelalterlichen Templer als »notorische Trinker, die verpflichtet waren, den Tempel in Jerusalem zu beschützen, aber scheiterten, weil sie zu viel tranken« hinstellte – im Gegensatz zu den Guttemplern, die »den Namen rehabilitieren wollen, indem sie den Tempel der Menschheit, der von der Degeneration der Rasse bedroht ist, schützen«.8 Als die Organisation jedoch schließlich gegründet wurde, nahm sie den 7 Das Büchlein enthielt einen englischsprachigen Umschlagtext, der »die Brüder und Schwestern im IOGT« darüber informierte, dass die Publikation »einen Abriss der Gründung und des Fortschritts des Ordens« enthalte und forderte sie dazu auf, »das Pamphlet in Städten zu verteilen, in denen polnische Arbeiter tätig sind«. Vgl. Lutosławski, Z ­dziejów wstrzemięźliwości. 8 Lutosławski, Z dziejów wstrzemięźliwości, S. 14–15.

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Namen »Eleuterya« an; eine Zwillingsorganisation namens »Eleusis« wurde für diejenigen Mitglieder gebildet, die bereit waren, vierfache Abstinenz zu geloben: von Alkohol, Zigaretten, Glücksspiel und sexueller Ausschweifung.9 Obwohl »Eleuterya« also auf dem »Guttempler«-Modell aufbaute, stellte sie ihre Verbindungen zum IOGT nicht offen dar. Gleichwohl wurde die Organisation von Priestern und katholischer Presse als freimaurerisches und antireligöses Unternehmen denunziert.10 Diese Angriffe dauerten, ungeachtet Lutosławskis öffentlicher Bekenntnisse zum katholischen Glauben, weiter an. Als die Gesellschaft öffentliche Mittel beantragte, wurden Eleuterya sogar ihre Verbindungen zu einer anscheinend freimaurerischen Organisation sowie Broschüren, »die mit den Dogmen der katholischen Kirche nicht vereinbar sind«, in einer Debatte im regionalen Sejm des österreichisch-ungarischen Galizien vorgeworfen.11 Trotz der Tatsache, dass sich die internationalen Verbindungen als belastend erwiesen, war Eleuterya nicht bereit, diese zu opfern, um das katholische Publikum zufriedenzustellen: Sachkenntnis und die schiere Zahl der amerikanischen und westeuropäischen Prohibitionisten waren wichtig für den jungen polnischen Verband. Die polnischen Temperenzaktivisten zogen es daher vor, die behaupteten Verbindungen zum Freimaurertum zu widerlegen. Ein Artikel von Augustyn Wróblewski, der 1905 in »Przyszłość« (»Zukunft«) veröffentlicht wurde, bietet ein gutes Beispiel dafür, wie die frühen polnischen Prohibitionisten sich bemühten, ihre katholischen Leser zu beruhigen: »Die Guttempler haben nichts gemein mit dem Freimaurertum. Auch wenn Name, Terminologie und manche Gebräuche ähnlich scheinen, beweist dies keine Verbindungen zum Freimaurertum. Es gibt eine christliche Wohltätigkeitsorganisation, die Heilsarmee, die Terminologie usw. mit dem Militär teilt. Dies belegt aber nicht, dass die Heilsarmee ein militaristisches Unternehmen wäre. Es gibt katholische Bruderschaften, die eine ähnliche Struktur aufweisen wie Freimaurerlogen […] Haben sie Verbindungen zu den Freimaurern?« Wróblewski machte recht unverblümt deutlich, dass ein Bruch der Verbindungen zum IOGT eine internationale Isolierung der jungen polnischen Bewegung bedeuten würde: »In zwei Jahren wird der Kongress gegen den Alkoholismus in Schweden statt 9 Podgórska, S. 27. 10 Lutosławski, Jeden łatwy żywot, S. 271; Majewski; Brzęk, S. 347; Lew, S. 3. 11 Protokół 59 posiedzenia II sesyi VIII peryodu Sejmu Krajowego Królestwa Galicyi i Lodo­ meryi z Wielkim Księstwem Krakowskim, z dn. 22 listopada 1905, S. 22 Protokół stenograficzny z rozprawy o Eleuteryi w Sejmie dnia 22 listopada 1905 r. [Stenographisches Protokoll der Debatte über Eleuterya im Sejm am 22. November 1905], in: Przyszłość 2 (1906) 1, S. 7–9.

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finden. Wer will uns dort aufnehmen? 150.000 Guttempler. Wir wollen mit der schweizerischen, deutschen, französischen Bewegung zusammenarbeiten: In Frankreich wird die Bewegung von Prof. Legrain angeführt, in der Schweiz von Prof. Forel und Prof. Hercod, in Deutschland von Prof. Hähne. Sie alle sind Guttempler. In Belgien und Finnland ist die Situation die gleiche, ganz zu schweigen von Kanada, den Vereinigten Staaten, Dänemark oder Norwegen, wo […] 6 % der Bevölkerung den Guttemplern angehören.«12 Auch als Lutosławski selbst den Guttemplern gegenüber immer kritischer wurde (nach einem religiösen Erweckungserlebnis ließ sein Interesse an antialkoholischem Aktivismus nach), verteidigten andere wichtige Mitglieder konsequent ihre internationalen Partner. Als auf dem Polnischen Abstinenzlerkongress 1905 eine kritische Bemerkung über Guttempler eine hitzige Debatte auslöste, warf die Mehrheit der Teilnehmer dem Sprecher vor, »die Leute durch den Schmutz zu ziehen, von denen er sein gesamtes Abstinenzwissen empfangen hat« und protestierte gegen »despektierliche Bemerkungen über Forel«.13 Quasi freimaurerische Riten waren nicht das einzige Hindernis im Prozess der Verpflanzung des IOGT in katholischen Boden. Die Guttempler entstammten einem protestantischen Hintergrund. Und obwohl die Organisation zum Ende des 19. Jahrhunderts in hohem Maße internationalisiert war und ihre Tochtergesellschaften in verschiedenen kulturellen und religiösen Umgebungen tätig waren, enthielten die Riten des Ordens immer noch protestantische Elemente. In Ländern, in denen sich die Guttempler einer mehrheitlich katholischen oder gemischt religiösen Bevölkerung gegenübersahen, forderten lokale Abteilungen die Säkularisierung, was allerdings von den Angelsachsen abgelehnt wurde. 1906 führten diese Spannungen zu einer Spaltung des IOGT in zwei Gesellschaften.14 Die nichtkonfessionelle Minderheit unter Forel (Logen aus der Schweiz, Belgien, Frankreich, Süddeutschland und Ungarn) gründete die »neutrale« IOGT. Obwohl die Eleuterya seit ihrer Gründung religiös indifferent war, schloss sie sich diesen »Neutralen« nicht an. Ihre Zeitschriften verfolgten aber deren Entwicklung. Sie veröffentlichten Korrespondenzen befreundeter schweizerischer Abspalter und beschrieben den Fortschritt der nichtkonfessionellen Fraktion bei der Verwurzelung der neuen Organisationsform im Ausland.15 Artikel betonten immer wieder, der nichtkonfessionelle Charakter werde 12 Wróblewski, Międzynarodowy Zakon Dobrych Templariuszy; ders., Massoni. 13 II Zjazd Abstynentów Polskich. Dokończenie [II. Kongress der Polnischen Abstinenzler. Schluss], in: Przyszłość 2 (1906) 3, S. 7–9. 14 Fahey, Good Templars (IOGT), S. 271. 15 Huber; Kronika [Chronik], in: Wyzwolenie. Organ Eleuterii 2 (1906) 4, S. 8.

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dabei helfen, »Katholiken und Juden ebenso wie Freidenker für die Abstinenz zu gewinnen«.16 Eine der Leiterinnen Eleuteryas stellte fest, dass »das Herauslassen religiöser Fragen aus der Organisation dabei helfen wird, sie von jenem Odium zu befreien, das die Katholiken abgeschreckt hat und zu Verboten seitens des Papstes und einiger [katholischer] Regierungen geführt hat«. Sie verwies auf das Beispiel der österreichischen Guttempler-Loge »Nefalia«, die unter der Schirmherrschaft von Forels »neutraler« IOGT gegründet und – anders als ihre Vorgängerinnen – von der österreichischen Regierung legalisiert worden war. Der Artikel brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass der nichtkonfessionelle Charakter den Konflikt zwischen IOGT und katholischem Klerus beenden helfen und den Weg für eine künftige Zusammenarbeit anstelle von Konkurrenz im Bereich des antialkoholischen Aktivismus ebnen werde.17 Trotz der religiösen Dispute mit der katholischen Hierarchie wuchs die ursprüngliche Gruppe rasch und zog namhafte lokale Mitglieder an, etwa den Abgeordneten der Bauernpartei Jan Stapiński18 oder die berühmte Schriftstellerin Maria Konopnicka.19 1904 vereinigte sie sich mit einer von Zofia Daszyńska-Golińska geleiteten sozialistischen Abstinenzlergruppe.20 1907 erklärte die Organisation, sie zähle 6000 Mitglieder.21 Die Gründung von Eleuterya regte zudem die Entstehung antialkoholischer Gesellschaften in den anderen Teilungsgebieten an. Hier gab es eine Mischung aus Zusammenarbeit und Wettbewerb, der aus politischen Differenzen resultierte (so waren die Gesellschaften in Russland aggressiv säkular und links orientiert, während sie in Posen stärker zum Nationalismus und enger Kooperation mit der Kirche tendierten). Dessen ungeachtet trafen sie sich zu teilungsgebietsübergreifenden Kongressen, tauschten Zeitschriften aus, beschrieben teilnahmsvoll die jeweiligen Aktivitäten gegen den Alkohol und betrachteten sich selbst als Teil einer breiteren, wenn auch nicht vereinheitlichten Bewegung. Zur gleichen Zeit frischte die katholische Kirche ihre eigenen Abstinenzaktivitäten wieder auf, unter der Leitung der »Union Abstinenter Priester« (»Związek Księży Abstynentów«) und dem in Posen ansässigen Verband

16 17 18 19 20 21

Kronika [Chronik], in: Wyzwolenie. Organ Eleuteryi 1 (1906) 6–7, S. 15. Daszyńska-Golińska, W odpowiedzi krytykom z za maski. Jan Stapiński, Czystość 4 (1908) 11, S. 177 f. Kronika, in: Wyzwolenie. Organ Eleuteryi 1 (1906) 2, S. 7. Leonhard, Kalendarium dziejów idei trzeźwości w ruchu robotniczym, S. 6. Glass; Wyzwolenie [Befreiung], in: Wyzwolenie. Organ Eleuteryi 1 (1906) 1, S. 3; ­Podgórska, S. 130.

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»Befreiung« (»Wyzwolenie«).22 Und nach 1905 trat die Revolution eine Welle von Temperenzaktivismus im russischen Teilungsgebiet los.23 Der Antialkoholismus war besonders populär unter den »Ethikern«, Zirkeln linksorientierter Intelligenz, die von dem sozialistischen Denker Edward Abramowski inspiriert waren. Auch sein Interesse am Alkoholproblem hing möglicherweise mit einer persönlichen Bekanntschaft mit Forel zusammen. Einige Jahre vorher hatte Abramowski nach dem Tod seiner geliebten Frau einen Nervenzusammenbruch erlitten. Seine Freunde versuchten, ihm mit Morphium zu helfen; infolgedessen litt er nun sowohl an andauernden mentalen Störungen als auch an Opiumsucht. Nicht in der Lage im sozialistischen Untergrund tätig zu bleiben, reiste er in den sicheren Hafen der osteuropäischen Revolutionäre, in die Schweiz. Auch hier war es Forel, der Abramowski half, seine Nervenkrankheit und Depression zu überwinden.24 Obwohl Abramowski nicht versuchte, die polnische Loge aufzubauen (möglicherweise wegen seiner anhaltenden Gewöhnung an Opium, die zu seinem Tod im Jahre 1918 beitrug), befürworteten seine Artikel für die »ethischen Gesellschaften« Temperenz und aktive Teilnahme an der Propaganda gegen den Alkohol.25 Diese Gruppen, in denen sich meist die progressive urbane Intelligenz des russischen Teilungsgebiets versammelte, hofften, dass der Sozialismus das Ergebnis einer ethischen Transformation der Massen und des Aufbaus einer parallelen egalitären Gesellschaft sein werde, die sich den offiziellen staatlichen Strukturen entgegenstelle. Die Popularität der Temperenz unter den »Ethikern« hatte gewichtige Konsequenzen für die Alkoholpolitik nach 1918, da einige von ihnen leitende öffentliche Ämter in der staatlichen Verwaltung und in den medizinischen Gesellschaften bekleiden sollten.26 22 Strzeszewski, S. 83 f.; Nowacki, S. 743; Nowa placówka polskiej abstynencyi [Eine neue Einrichtung der polnischen Abstinenz], in: Wyzwolenie. Organ Eleuteryi 1 (1906) 1, S. 8. 23 Węglański; Odezwa wydana w Warszawie po rozpoczęciu bojkotu rządu [Warschauer Aufruf zum Beginn des Regierungsboykotts], in: Przyszłość 1 (1905) 6, S. 5 f.; X-me Congrès international contre l’alcoolisme, tenu à Budapest, 11 au 16 septembre 1905. Rapports et compte-rendu des séances et des réunions, Budapest 1906, S. 9. 24 Krzywicki, S. 322–323; Dąbrowska, S. 6; Stanisław Wojciechowski, S. 87; Nasierowski, S. 153– 154; Giełżyński, S. 28, S. 33. 25 Abramowski, Ustawa stowarzyszenia »Komuna«, S. 323; ders., Projekt ustawy związków przyjaźni, S. 372; ders., Szkic programu, S. 351; siehe auch die Mitteilung über eine geplante Serie zu »Ethischem Fortschritt«, die Abramowski gemeinsam mit dem Temperenzaktivisten Augustyn Wróblewski herausgeben sollte: Wiadomości bieżące [Laufende Mitteilungen], in: Przyszłość 3 (1907) 6, S. 62 f. 26 Rafał Radziwiłłowicz ist ein gutes Beispiel für eine solche Karriere: Er war mit Abramowski befreundet und war in zahlreichen sozialen Initiativen aktiv (insbesondere in der Genossenschaftsbewegung); nach 1918 wurde er Direktor der psychiatrischen Abteilung des

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»In Vorbereitung der neuen Welt«

Die polnischen prohibitionistischen Organisationen traten in eine lebhafte internationale Temperenzkultur ein. Die wichtigsten Werkzeuge zur Verbreitung prohibitionistischer Ideen in Europa waren die Presse und die Organisierung internationaler Kongresse. Ab 1885, als anlässlich der Weltausstellung von 1885 das erste »Treffen gegen den Missbrauch Alkoholischer Getränke« in Antwerpen von einem belgischen Komitee ausgerichtet wurde, wurden alle zwei Jahre Kongresse abgehalten, die es hunderten Aktivisten gegen den Alkoholismus ermöglichten, Wissen und wirkungsvolle Kampagnetechniken auszutauschen.27 Die Bewegung profitierte stark vom öffentlichen Interesse, das von solchen Treffen wachgerufen wurde, jedoch handelte es sich um alles andere als friedvolle Veranstaltungen: Der breite Charakter der Bewegung führte zu heftigen Debatten zwischen den Befürwortern moderaten Konsums und Abstinenzlern. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts dominierte der prohibitionistische Flügel gegenüber den immer mehr schwächelnden Vertretern moderaten Konsums. Der Eintritt der polnischen Delegierten verstärkte diesen Trend. Geformt an der Literatur und Presse der Guttempler schlossen sie sich dem radikalen, von IOGT-Aktivisten angeführten Flügel an. Im Jahre 1903 griff Lutosławski auf dem Kongress in Bremen die Moderaten scharf an. Er bezeichnete die Nichtabstinenzler als »moralisch minderwertig« und kam zu dem Schluss, sie sollten gar nicht an den Diskussionen über Alkoholpolitik teilnehmen, da sie (als Trinker) nicht uneigennützig seien.28 Es ist wichtig festzuhalten, dass der Internationalismus der Kongresse gegen den Alkoholismus beschränkt war. Die meisten Teilnehmer kamen aus Europa. Da die Mehrheit der Teilnehmer aus dem jeweiligen Gastgeberland stammte, war es die französische, englische oder schweizerische Perspektive, die auf den in Basel, Zürich, Paris und London abgehaltenen Treffen dominierte. Mit der Ausnahme von Wien 1901 und Budapest 1905 fanden alle anderen zwölf Kongresse in Westeuropa statt. Fernreisen waren weder einfach noch preisgünstig; Kosten und Zeitprobleme taten daher ein Übriges, die Zahl der polnischen Aktivisten, die bereit waren, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen, zu senGesundheitsministeriums (das u. a. für die staatliche Alkoholpolitik zuständig war), vgl. Biuletyn Dyrekcji Służby Zdrowia Publicznego [Bulletin der Direktion des Öffentlichen Gesundheitsdienstes], 6/1918, S. 66; Nasierowski, S. 179; zum Einfluss der »Ethiker« auf die Herausbildung von Strukturen im unabhängigen Polen sowie zu ihren Verbindungen zum Freimaurertum und zur Genossenschaftsbewegung vgl. Giełżyński, S. 64–79, S. 95–106. 27 Snow, International Congresses on Alcoholism, S. 318 f., International Temperance Congresses, in: Standard encyclopedia, Bd. 3, S. 1343–1345. 28 Bericht über den IX. Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus. Bremen vom 14.–19. April 1903, Jena 1904, S. 113–114.

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ken.29 Die Geographie spielte eine wichtige Rolle: Aktivisten aus Galizien und Schlesien dominierten in Budapest, während der Kongress in Stockholm polnische Delegierte aus Warschau und den nördlichen Regionen des preußischen Teilungsgebiets aufwies.30 Es war weitaus einfacher, Kontakte innerhalb der Grenzen der Imperien aufrechtzuerhalten, wodurch es für Redner aus Ljubljana möglich wurde, einen Vortrag für die Eleuterya in Krakau zu halten31 oder für den finnischen Autor Matti Hellenius, in Warschau für sein Buch über Alkohol zu werben.32 Es war nichts Ungewöhnliches, polnische Delegierte auf antialkoholischen Kongressen in Österreich33 oder Finnland34 anzutreffen. Tatsächlich hatten Polen bereits im 19. Jahrhundert an antialkoholischen Kongressen teilgenommen, wobei die erste Person, die als polnischer Delegierter bezeichnet wird, Graf Ludwik Skarżyński, als Beamter der russischen Regierung entsandt worden war.35 Häufig handelte es sich um praktizierende Mediziner, die keine Organisationen, sondern lediglich sich selbst repräsentierten. Einige Polen lieferten kurze und wenig kontroverse Beiträge (so etwa Zofia Daszyńska-Golińska mit einem Papier über Alkoholkonsum im österreichischungarischen Galizien auf dem Treffen in Wien 190136), waren aber nicht in die Rivalität zwischen Abstinenzlern und dem moderaten Flügel der Bewegung einbezogen. 29 Im Jahre 1907 dauerte eine Reise von Krakau nach Stockholm 48 Stunden, vgl. Między­ narodowy kongres przeciw alkoholizmowi w Sztokholmie [Der Internationale Kongress gegen den Alkoholismus in Stockholm], in: Wyzwolenie. Organ Eleuteryi 2 (1907) 6, S. 3 f.; tatsächlich traten auf einigen Kongressen (etwa in London 1909) überhaupt keine polnischen Redner auf, vgl dazu XII. Kongres międzynarodowy dla zwalczania alkoholizmu [Der XII. Internaitonale Kongress zum Kampf gegen den Alkoholismus], in: Czystość 5 (1909) 35/36, S. 558 f. 30 X-me Congrès international contre l’alcoolisme, tenu à Budapest du 11 au 16 septembre 1905. Rapports et compte-rendu des séances et des réunions, Budapest 1906, S. 486–503; Bericht über den XI. Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus. Abgehalten in Stockholm vom 28. Juli-3. August 1907, Stockholm 1908, S. 169–187. 31 Lenard. 32 Sprawozdanie Zarządu krakowskiego oddziału »Eleuteryi« za czas od 22 stycznia 1905 do 28 stycznia 1906 r. [Bericht des Vorstands der Krakauer Abteilung der »Eleuterya« für die Zeit vom 22. Januar 1905 bis zum 28. Januar 1906], in: Wyzwolenie. Organ Eleuteryi 1 (1906) 2, S. 11. 33 Bspw. Sprawozdanie z wiedeńskiej konferencyi delegatów tow. abstynenckich w Austryi [Bericht der Wiener Konferenz der Delegierten der Abstinenz-Ges. in Österreich], in: ­Wyzwolenie. Organ Eleuteryi 2 (1907) 7–9, S. 16 f.; Eisenberg. 34 Wróblewski, Ze zjazdu abstynentów fińskich. 35 Snow, International Congresses on Alcoholism, S. 318; siehe auch Prus, S. 158; 36 Bericht über den VIII. internationalen Congress gegen den Alkoholismus: abgehalten in Wien, 9.-14. April 1901, Leipzig 1902, S. 129 ff.

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»In Vorbereitung der neuen Welt«

Nach der Gründung polnischer Temperenzorganisationen nahmen deren Delegierte am Bremer Kongress 1903 teil, wo sie sich – wie bereits erwähnt – dem radikalen Flügel anschlossen. Häufig versuchten sie, den Kongress zu nutzen, um ihre nationale Unabhängigkeitsidee zu propagieren. So weigerten sich die Mitglieder der Eleuterya beispielsweise in Bremen, sich zu erheben und an einem Toast auf den Kaiser teilzunehmen, wobei ihre Demonstration möglicherweise unbeachtet blieb, da die Gruppe ziemlich klein war.37 Zwei Jahre später in Budapest machte sich eine große polnische Delegation sowohl durch einen kleinen diplomatischen Skandal, den die ungarischen Gastgeber verursachten – das Orchester spielte bei der Abschlusszeremonie des Kongresses die polnische Nationalhymne38 – als auch durch ihre Beiträge, die durchsetzt waren mit Bezugnahmen auf die polnische Frage, bemerkbar.39 Zofia Daszyńska-Golińska, die Vorsitzende von Eleuterya, gelang es, 1907 die Aufmerksamkeit des Kongresses auf die nationale Frage zu richten, als sie einen hitzigen Streit mit der deutschen Delegation lostrat, indem sie den »Kulturkampf« als Beispiel für eine deutsche Brutalität bezeichnete, die aus der vorherrschenden »Bierkultur« resultiere.40 Man sieht hier, wie eng nationale Anliegen, internationale Aktivitäten und universelle Fragen miteinander verflochten waren. Es ließe sich kaum belegen, dass Polen eine einflussreiche Rolle bei der Ausrichtung solcher Veranstaltungen gespielt hätten. Ihr einziger belegbarer Beitrag war die Gründung eines Internationalen Büros gegen den Alkoholismus als permanente Einrichtung, die für das Sammeln und Verteilen von »Dokumenten mit Bezug auf die Alkoholfrage« zuständig war. Allerdings befand sich, obwohl die polnische Delegation den Antrag auf dem Budapester Kongress mit eingebracht hatte, in der Geschäftsführung schließlich nicht ein einziger polnischer Aktivist.41 Während polnische Organisationen prohibitionistische

37 Leonhard, Kongresy niosące nadzieję; vgl. die Liste der Teilnehmenden: Bericht über den IX. Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus. Bremen vom 14.-19. April 1903 (Jena 1904), S. 505–533. 38 Turowski; Leonhard, Kongresy niosące nadzieję. 39 X-me Congrès international contre l’alcoolisme, tenu à Budapest, 11 au 16 septembre 1905. Rapports et compte-rendu des séances et des réunions, Budapest 1906, S. 289 f., S. 352 f., S. 429–43; siehe auch Giedroyć. 40 Kostrzewski, S. 44; Glass; Daszyńska-Golińska, XI kongres międzynarodowy przeciw alkoholizmowi. 41 Wróblewski, Międzynarodowy Sekretaryat Abstynencki; Biuro międzynarodowe dla zwal­ czania alkoholizmu, S. 147 f.; Bericht über den XI. Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus. Abgehalten in Stockholm vom 28. Juli – 3. August 1907, Stockholm 1908), S. 390–392.

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Gedanken eifrig aufnahmen, brachten sie selten eigene Strategien in die internationalen prohibitionistischen Netzwerke ein. Dagegen lässt sich der intellektuelle Einfluss der internationalen Bewegung in der polnischen Presse leicht ausmachen. Symbolträchtig war es ein Artikel Forels mit dem Titel »An die Polen«, der die erste Nummer der Temperenzzeitschrift »Przyszłość« (»Zukunft«) einleitete.42 Diese und andre Zeitschriften verbreiteten Strategien und Entwürfe für Rechtsreformen, darunter auch die Überzeugung, lokale Alkoholverbote (»lokale Option«) würden auf dem Weg zu einer nationalen Prohibition eine entscheidende Rolle spielen. Die Idee hierzu stammte aus der angelsächsischen Welt, in der das Rechtssystem Prohibition in kleinen territorialen Einheiten zuließ. So speisten Kämpfe um lokale Prohibition beispielsweise die US-Temperenzbewegung vor der Annahme des 18. Verfassungszusatzes, außerdem waren sie aus Schottland, Kanada, Australien und Neuseeland bekannt.43 Die polnischen Prohibitionisten verfolgten den Fortschritt der lokalen Prohibition in den USA sehr aufmerksam, da ihnen dies als ein vielversprechendes Modell erschien und die Übertragung nach Polen eine ernstzunehmende Option war, um die eigene Sache in der Gesellschaft voranzutreiben, auch wenn die politische Gesamteinheit weitaus kleiner war. Die Inspiration von jenseits der Grenze reichte vom Repertoire der Gesetzentwürfe bis hin zu praktischen Formen von Kampagnen.44 Besonderes Interesse bestand auch am Transfer der »lokalen Option« in andere Teile der Welt.45 Für die Polen war kein Land zu klein, wenn es darum ging, solche Entwicklungen zu verfolgen, und eine der intellektuellen Säulen der Bewegung, Daszyńska-Golińska, widmete sogar der Einführung der lokalen Option auf den dänischen Färöer-Inseln einen ausführlichen Artikel.46

42 Forel, Do Polaków; Brzęk, S. 345. 43 Eine nützliche Zusammenfassung bietet Dupré, The Prohibition of Alcohol Revisited: The US Case in International Perspective, »Cahiers de recherche« IEA-04–11, HEC Montréal (2004), URL: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=615723, S. 6–15 (Zugriff: 15. 01. 2014) 44 Etwa Prohibicya [Prohibition], in: Przyszłość 1, (1905) 2, S. 11; Prohibicya [Prohibition], in: Czystość 4 (1908) 1, S. 16; Partya polityczna prohibicyonistów w Stanach Zjedn. Ameryki [Die politische Partei der Prohibitionisten in den Verein. Staaten von Amerika], in: Czy­stość 4 (1908) 6, S. 88–90; Polityka abstynentów [Die Politik der Abstinenzler], in: Czy­ stość 5 (1909) 4, S. 49–54; Walka z alkoholizmem w Stanach Zjednoczonych, [Der Kamp gegen den Alkoholismus in den Vereinigten Staaten], in: Przyszłość 4 (1908) 1, S. 12. 45 Wróblewski, Prohibicya i lokalopcya; ders., O zwalczaniu alkoholizmu drogą prawodawczą; Glass, Pierwsze Prawo Prohibicyjne w Europie. 46 Daszyńska-Golińska, Opcya lokalna na wyspach Faroer.

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Das Interesse an der lokalen Option blieb bis 1918 weitestgehend theoretisch, da der Einfluss der polnischen Prohibitionisten auf die gesetzgeberischen Institutionen aus offensichtlichen Gründen sehr beschränkt war. Diese Situation änderte sich grundlegend in den ersten Jahren der polnischen Unabhängigkeit. Da es keine offiziellen Institutionen gab, die ein Recht auf die Festlegung der Alkoholpolitik reklamierten, wurden Temperenzaktivisten, legitimiert durch die Unterstützung, die sie von ausländischen Akademikern und internationalen Organisationen erfuhren, häufig die einzig verfügbaren und somit unangefochtenen Fachleute. Prohibitionisten hatten bedeutenden Einfluss auf die Tätigkeit des Ministeriums für Öffentliche Gesundheit. 1918 richtete das Ministerium eine besondere Anti-Alkohol-Abteilung unter der Leitung Jan Stapiński ein47 – ein Eleuterya-Aktivist der Vorkriegszeit und Präsident einer ethischen Gesellschaft in Krakau, der für die Organisierung von Kampagnen zur Schließung von Kneipen an Sonntagen bekannt war,48 und nicht der einzige Temperenzaktivist, der nun Regierungsbeamter wurde. Prohibitionisten waren auch die ersten Gesundheitsminister Tomasz Janiszewski und Witold Chodźko. Im Mai 1919 gründete eine Gruppe ehemaliger Eleuterya-Mitglieder, unterstützt von einigen Abgeordneten und Ärzten, die »Gesellschaft zum Kampf gegen den Alkoholismus ›Nüchternheit‹« (»Towarzystwo Walki z Alkoholizmem ›Trzeźwość‹«). Leiterin der Organisation war die Abgeordnete Maria Moczydłowska, treibende Kraft aber war der bereits erwähnte Jan Szymański, der später der Herausgeber der offiziellen Verbandszeitschrift wurde. Es ist nicht verwunderlich, dass die Prohibitionisten großzügige finanzielle Unterstützung seitens der Regierung (nämlich von der Anti-Alkohol-Abteilung, die von Szymański selbst geleitet wurde) erhielten.49 Das Ministerium war infiltriert von ehemaligen Mitgliedern der Eleuterya und der »ethischen Zirkel« – wobei Abramowskis enger Freund Radziwiłłowicz die psychiatrische Abteilung unter Kontrolle hatte. Unter Chodźko und Janiszewski stellte das Gesundheitsministerium nicht nur Mittel für die Aktivitäten der Prohibitionisten zur Verfügung,

47 Glass, Polskie ustawodawstwo przeciwalkoholowe. 48 Jan Stapiński, Czystość 4 (1908) 11, S. 177 f.; Reforma Eleuteryi, Czystość 5 (1909) 10, S. 154 f. 49 Archiwum Akt Nowych [Archiv Neuer Akten], Polskie Towarzystwo Walki z Alkoholizmem »Trzeźwość« [Polnische Gesellschaft zum Kampf gegen den Alkoholismus ›Nüchternheit‹] 785/1, inbesondere: J. Szymański, »Sprawozdanie z Działalności Referatu 1919– 1922« [Bericht über die Tätigkeit des Referats], S. 365–369.

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sondern richtete mit ihnen gemeinsam auch »Alkohologiekurse« aus, womit es die von »Nüchternheit« propagierten Ideen legitimierte.50 Dementsprechend gelang es den Anti-Alkohol-Aktivisten 1920, die »lokale Option« einzuführen – jenes Lieblingskind der angelsächsischen Prohibitionsbewegung, das sich inzwischen in den USA, Kanada, Australien, Neuseeland, Dänemark und Schweden niedergelassen hatte.51 Artikel 4 des Gesetzes vom 23. April 1920 legte fest, dass sich Gemeinden selbst als trocken erklären konnten, indem sie ein vollständiges Verbot des Verkaufs von alkoholischen Getränken innerhalb ihrer Grenzen anordneten; eine solche Entscheidung konnte mit einfacher Mehrheit in einer Volksabstimmung getroffen werden. Das Gesetz bestimmte außerdem, dass Verbote, die in zwei Dritteln der Gemeinden eines Bezirks (in denen mindestens die Hälfte seiner Bevölkerung lebte) erlassen wurden, zur Prohibition des Alkoholverkaufs im gesamten Bezirk führten.52 In der Folge dieser Gesetzesoption waren die Prohibitionisten auf der lokalen Ebene relativ erfolgreich: Bis 1930 wurde der Alkoholverkauf in 227 Gemeinden verboten, darunter im »trockenen Gürtel« in der polnischen Tatra sowie in der Warschauer Arbeitervorstadt Pruszków.53 Dieser Erfolg wurde international durchaus wahrgenommen: Auf dem Höhepunkt der prohibitionistischen Bewegung, während des 15. Internationalen Kongresses gegen den Alkoholismus, der 1920 in Washington stattfand, hielt der Schweizer Aktivist Robert Hercod solche Regelungen sogar für »mehr als lokale Option[en]« und verglich sie mit den Fortschritten der amerikanischen Bewegung vor der Ankunft der nationalen Prohibition.54 Der Einfluss der Prohibitionisten beschränkte sich nicht auf das Rechtssystem. Sie durchdrangen vielmehr auch wichtige Erziehungsinstitutionen. 1911 übersetzte das »Eleusis«-Mitglied Andrzej Małkowski »Scouting for Boys« (die deutsche Fassungen erschien zuletzt unter dem Titel: »Pfadfinder«) von Robert Baden-Powell. Diese Veröffentlichung wird traditionell als Ausgangspunkt der polnischen Pfadfinderbewegung der Jungen gesehen. Es handelte sich um eine durchaus eigentümliche Übersetzung: Baden-Powell selbst war 50 Kilka słów o stanie sprawy zwalczania alkoholizmu w Polsce, [Einige Worte zum Stand der Sache der Bekämpfung des Alkoholismus in Polen], in: Walka z alkoholizmem 3 (1920) 7, S. 227–229. 51 Schrad; Lyckow. 52 Ustawa z dn. 23 kwietnia 1920 r. o ograniczeniach w sprzedaży napojów alkoholowych [Gesetz vom 23. April 1920 über Beschränkungen beim Verkauf alkoholischer Getränke], Dz.U. 1920 nr. 37 poz. 210. 53 Rocznik statystyki Rzeczypospolitej Polskiej, 1930, S. 485. 54 Proceedings of the Fifteenth International Congress Against Alcoholism, S. 259–260.

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kein Freund von Alkohol und Zigaretten, aber Małkowski machte die Abstinenz zum Hauptpunkt des Pfadfinderprogramms. Er veränderte den Inhalt des Buches, wo dieser ihm zu gemäßigt erschien (als Baden-Powell beispielsweise mitteilte, dass »in Japan kein Junge unter 20 Jahren die Erlaubnis hat, zu rauchen, und wenn er es tut, werden seine Eltern zur Rechenschaft gezogen und müssen eine Strafe zahlen«, behauptete Małkowskis Übersetzung, »wenn der Junge raucht, werden seine Eltern getötet«55). 1914 dominierten Temperenzbefürworter die Leitungsorgane des neu gegründeten Pfadfindertums: Sie kontrollierten die Zeitschrift »Der Pfadfinder« (»Skaut«) und verfügten über die Mehrheit im nationalen Kommando der Pfadfinder.56 1912 erreichten AntiAlkohol-Aktivisten die Einführung einer Abstinenz von Alkohol und Zigaretten in die Pfadfindergesetze; ein Pfadfinder, der trank oder Zigaretten rauchte, konnte aus der Bewegung ausgeschlossen werden.57 Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass ein derart striktes Abstinenzregime in der Pfadfinderbewegung der Zwischenkriegszeit eine Ausnahme bildete.58 Als sich die Pfadfinder nach 1918 zu einer Massenbewegung entwickelten, die vom Staat finanziert und in das Erziehungssystem integriert wurde, waren sie bereits eine abstinente Organisation, die von Prohibitionisten kontrolliert wurde und der mit Tadeusz Strumiłło ein ehemaliges »Eleusis«-Mitglied vorstand.59 Wie Mark Schrad jüngst gezeigt hat, bietet das »edle Experiment« der Prohibition ein gutes Beispiel für die internationalen Verbreitungswege von Politik.60 Transnationale Akteure vermochten in Ländern wie Polen, wo der geopolitische Wandel alte politische und administrative Eliten an den Rand gedrängt hatte, einen vergleichsweise stärkeren Einfluss auf die Gesetzgebung ausüben, wenn diese alten Eliten von neuen ersetzt wurden, die bemüht waren, von ausländischen Beispielen zu lernen. Soziale Aktivisten, die von einem internationalen Netzwerk unterstützt und legitimiert wurden, konnten dieses Vakuum leicht füllen, indem sie sich in Fachleute, Gesetzgeber und einflussreiche Regierungsfunktionäre verwandelten. Dieser starke Einfluss schwächte sich aber schritt55 Baden-Powell, S. 198; Małkowski, S. 155 (zitiert nach Skolimowski, S. 9); Gawęda obozowa [Lagergeschichte], in: Skaut 1 (1911) 3, S. 2–4. 56 Skolimowski, S. 12 ff.; zur Beteiligung von »Eleuterya«-Mitgliedern an der Gründung des polnischen Pfadfundertums Sikorski, S. 14 f., S. 18; Potkański. 57 Urzędowe, [Amtliches], in: Skaut 3 (1913) 10, S. 15. 58 Nach Skolimowski, abgesehen von Polen, waren Pfadfinder nur in den baltischen Staaten und Jugoslawien verpflichtet, sich von Alkohol und Zigaretten zu enthalten. Siehe Skolimowski, S. 4. 59 Jachowski, Harcmistrz Rzeczpospolitej; Gaj. 60 Schrad, The Political Power of Bad Ideas.

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weise ab, sobald andere soziale Akteure (u. a. Alkoholproduzenten und -händler) lernten, wie sie ihre Interessen innerhalb der neuen staatlichen Strukturen verteidigen konnten. Dies war in Polen der Fall, da sich der Einfluss der Prohibitionisten allmählich verringerte. Die anfänglichen Erfolge wurden allmählich im Verlauf der 1930er Jahre wieder zurückgenommen. Ironischerweise sollte die internationale Erfahrung ein gern verwendetes Argument gegen den Prohibitionismus werden, als die lokale Option 1934 wieder abgeschafft wurde.61

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Internationale Organisationen und das Prinzip des Nationalen: Bündnispartner oder Gegenspieler? Ein Gespräch der Herausgeberinnen mit Susan Zimmermann, Marcel van der Linden und Matthias Middell Die jüngere Forschung zeigt ebenso wie die Beiträge in diesem Band, dass Akteure aus Ostmitteleuropa an vielen Internationalisierungsprojekten beteiligt waren oder sie selbst initiierten. Das gilt beispielsweise für die internationale Frauenbewegung, aber auch für die Regulierung im Bereich von Technik und Technologie oder für das Bemühen um national-grenzüberschreitende Standardisierungen der Längen- und Zeitmessung, in der Telegrafie und Schifffahrt, bei der Etablierung des Goldstandards oder bei den universalsprachlichen Projekten wie dem Esperanto. Doch machte die Internationalisierung den Nationalstaat nicht überflüssig, im Gegenteil, internationale Organisationen haben offenkundig auch das nationale Ordnungsmuster reproduziert, verfestigt oder gar, wie in einem Durchlauferhitzer, zur vollen Wirksamkeit gebracht. Gehören die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem Boden schießenden internationalen Organisationen zu den Vorreitern einer transnationalen Ordnung oder waren sie Promotoren einer verstärkten Nationalisierung? Das nachfolgende Gespräch nimmt diese Spannung, die zu den zentralen Problemen einer transnationalen Geschichte gehört, zum Ausgangspunkt. Steffi Marung/Katja Naumann: In Bezug auf die Frühphase internationaler Organisationen (IO) wird momentan kontrovers erörtert, welche Rolle sie in Nationalisierungsprozessen und im Entstehen einer neuen globalen Ordnung spielten, die zunehmend von Nationalstaaten dominiert wurde, von denen einige über imperiale Ergänzungsräume verfügten und andere nicht. Die Gleichzeitigkeit von Aufschwung internationaler Organisationen und Stärkung des nationalstaatlichen Prinzips legt eine Verbindung zwischen beiden Tendenzen nahe. Eine Forschungslinie betont die Rolle von internationalen Organisationen als Agenten oder Ausdruck eines neuen Kosmopolitismus. Eine andere stellt sie als Arenen des Austauschs zwischen Nationalstaaten und Imperien dar. Kurz gesagt: Die einen sehen sie als Elemente einer sich langsam herausbildenden post-territorialen Ordnung, die anderen als Helfer und Hüter nationaler und imperialer Macht. Wie interpretieren Sie die Spannung zwischen diesen Argumenten? Worum geht es Ihrer Meinung nach in der Diskussion und sehen Sie einen Weg, wie sich diese beiden empirischen Eindrücke konzeptionell zusammenbringen lassen?

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Marcel van der Linden: Internationale Organisationen sind nicht notwendigerweise Resultate des Austauschs zwischen Nationalstaaten. Die Geschichte der Arbeiterbewegung verdeutlicht dies. Die Erste Internationale (die Internationale Arbeiterassoziation oder IAA, 1864–1876) wurde als grenzüberschreitende Allianz lokaler Arbeitergesellschaften städtischer Prägung gegründet, nachdem britische Arbeitgeber in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts mehrfach versucht hatten, Streikbrecher vom europäischen Kontinent zu importieren. Im Jahr 1863 hatten einige Londoner Gewerkschaftler den Aufruf »To the Workmen of France from the Working Men of England« formuliert, in dem folgendermaßen argumentiert wurde: Die Solidarität zwischen den Völkern sei im Interesse der Arbeiterschaft, da immer dann, wenn die britische Arbeiterschaft ihre sozialen Bedingungen zu verbessern sucht und beispielsweise die Reduzierung der Arbeitszeit oder die Erhöhung des Stundenlohns forderte, ihnen die Arbeitgeber drohten, Franzosen, Deutsche, Belgier oder andere Arbeiter einzustellen, die bereit wären, ihre Stellen zu einem noch geringeren Lohn zu übernehmen. Acht Monate nach diesem Aufruf hatte sich die Erste Internationale formiert. Die IAA war eine internationale Föderation sub-nationaler Organisationen. Da es zu dieser Zeit noch keine Gewerkschaften auf nationaler Ebene gab, handelte es sich dabei um ein Netzwerk lokaler Vereinigungen. Erst als sich eine stabile nationale Gewerkschaftsbewegung herausgebildet hatte – zunächst in Großbritannien mit der Gründung des Trades’ Union Council (TUC) im Jahr 1868, und dann mit einiger Verspätung auch in den meisten anderen europäischen und nordamerikanischen Ländern –, wurden neue Formen internationaler Arbeiterorganisationen möglich, wie die Internationalen Gewerkschaftssekretariate (Föderationen nationaler Gewerkschaften, die bestimmte Berufe vertraten), die sogenannte Zweite Internationale (ab 1889) und das Internationale Sekretariat der gewerkschaftlichen Landeszentralen (ab 1903). Bei den internationalen Arbeiterorganisationen jener zweiten Gründungswelle handelte es sich tatsächlich um den Ausdruck eines »Inter/Nationalismus«, da sie auf dem Zusammenschluss nationaler Organisationen beruhten. Mit anderen Worten: Im Fall der Arbeiter wurden internationale Organisationen erst zu »Hütern nationaler und imperialer Macht«, waren es ursprünglich aber nicht. Ich bin, nebenbei gesagt, nicht so ganz überzeugt, dass solche Entwicklungen tatsächlich mit der Gegenüberstellung von »Kosmopolitanismus« versus »nationalstaatliche Orientierung« gefasst werden können. Mitunter standen IOs ganz außerhalb dieser Opposition, und in anderen Fällen wurden beide Orientierungen von den Zeitgenossen als zwei Seiten derselben Medaille ver-

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standen. Deutsche Arbeiterführer, die das deutsche Modell der sozialdemokratischen Arbeiterorganisation propagierten, dachten vermutlich, sie seien echte Internationalisten (oder Kosmopoliten). Ähnliches mag für die Mitglieder der englischen Fabian-Gesellschaft wie Sidney Webb gegolten haben, der versuchte, das britische Gewerkschaftsmodell in die britischen Kolonien zu exportieren. Matthias Middell: Auch ich denke, dass es häufig gefährlich ist, solche Dichotomien aufzustellen, um eine bestimmte Systematik gegenüber der Vielfalt der historischen Phänomene voranzutreiben. Es könnte eher hilfreich sein, nach einer Historisierung der dahinter liegenden Problemlage zu fragen. Zunächst haben wir es mit einer weiter zurückreichenden Tradition zu tun, deren Vertreter sich im Laufe des 18. Jahrhunderts in Europa mehr und mehr als Anhänger eines kosmopolitischen Denkens verstanden. Dies enthielt einerseits eine Kritik an der konfliktreichen Konkurrenz von Staaten und andererseits an der Gegenüberstellung von (ausgesprochen oder unausgesprochen: europäischer) Zivilisation und nicht-zivilisierten Völkern (außerhalb bzw. an den Rändern Europas). Einige europäische Intellektuelle des 18. Jahrhunderts versuchten auf diese Weise, die neu entdeckte Möglichkeit des Politischen auf den Erdball insgesamt auszudehnen – manche taten das in Form utopischer Entwürfe, andere in Kommentierung realer Begegnungen in Übersee. Zugleich ging es aber darum, eine gottgewollte und gottgelenkte Ordnung auf den Boden der irdischen Aushandlungsprozesse zwischen Individuen und Staaten zu holen und nach den Regeln zu fragen, die angesichts der offensichtlichen Imperfektibilität des Menschen den sozialen Zusammenhang steuern sollten. Dies erschien zunächst eine Frage des sittlichen Handelns oder der Moral zu sein. Kosmopolitismus ging von der Vorstellung aus, dass Angehörige unterschiedlicher Kulturen, Zivilisationen, Völker usw. gemeinsame moralische Vorstellungen und Handlungsmaximen teilen könnten. Gemeinsame, gewissermaßen globale Herausforderungen galt es dafür noch kaum zu meistern. Die Welt war nicht unverflochten, aber diese Verflechtungen waren doch derart, dass sie für die Europäer zwar zuweilen hochprofitabel, aber eben nicht entwicklungsentscheidend waren. Dies sah an anderen Stellen der frühneuzeitlichen Weltwirtschaft – etwa in den Plantagenwirtschaften der Karibik − anders aus, aber der dortige Leidensdruck blieb vorerst in Europa weitgehend unbeachtet. Im 19. Jahrhundert hatte sich die Situation verändert: Nicht zufällig entstanden die ersten internationalen Organisationen als Antwort auf konkrete Problemlagen, die innerhalb einzelner Staaten nicht mehr lösbar schienen: Vorsorge gegen die Gefahr von Epidemien, Schaffung einer neutralen Instanz,

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die sich um die Opfer auf den Schlachtfeldern kümmern sollte, Organisation der schneller werdenden und weiter reichenden Kommunikation, Schutz des geistigen Eigentums usf. Gegenüber dem Kosmopolitismus des 18. Jahrhunderts würde ich wenigstens die folgenden drei Gesichtspunkte zur Unterscheidung geltend machen: Es ging nicht mehr um eine Regulierung allein auf der Grundlage geteilter moralischer Vorstellungen, sondern um deren Verrechtlichung. Mit der Idee der (Volks-)Souveränität, die in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Verfassung zur wirkmächtigen Grundlage des Gesellschaftsdenkens geriet, wurde die Unterscheidung zwischen innerstaatlicher und internationaler Regulierung zementiert. Und drittens schließlich wandelte sich die Steuerung grenzüberschreitender Prozesse vom utopischen Entwurf bzw. wenig reflektierten Alltagshandeln in Randzonen zu einer Praxis, die mehr und mehr die Aufmerksamkeit der Eliten in vielen Ländern fand. Ich würde vorschlagen, das Ergebnis dieser drei Prozesse in Unterscheidung zum Kosmopolitismus des 18. Jahrhunderts als Internationalismus zu bezeichnen, der im Laufe des 19. Jahrhunderts entstand und im 20. Jahrhundert an Gewicht gewann. Dabei hat dieser Internationalismus eine enorme Spannbreite. Diese reichte von der forcierten Akkulturation bis zum kulturellen Relativismus, wenn wir nur die Beispiele des liberalen Internationalismus in den USA des späten 19. Jahrhunderts, wie ihn Frank Ninkovich1 analysiert hat, oder des skandinavischen Rechtspositivismus der Zwischenkriegszeit, für den etwa Axel Hägerström steht, miteinander vergleichen. Es ist natürlich richtig, dass sich die Praxis internationaler Zusammenschlüsse nicht auf die nationalisierten Eliten der beteiligten Staaten beschränkt, man denke nur an die Frauenbewegung, an die vielen kulturell inspirierte Zusammenschlüsse wie etwa die Esperanto-Anhänger. Aber es gilt zu bedenken: Die Probleme, die diese Organisationen adressierten, wurden als universelle oder wenigstens transnationale verstanden, die Art und Weise, wie man den Zusammenschluss organisierte, folgte dagegen einem Territorialisierungsregime, in dem sich das Nationale allen anderen räumlichen Konfigurationen unterwarf, vom Lokalen, also dem Ortsverein, bis zum Internationalen, also der gemeinsamen Zentrale mit ihrer Legitimation aus der Präsenz von Vertretern aller oder wenigstens der wichtigsten Länder. Versuche, im Namen des einen oder anderen Anliegens, der einen oder anderen Ideologie, die Wirkung dieses Territorialisierungsregimes abzuschütteln, gerieten alsbald an ihre Grenzen. 1

Ninkovich.

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Denken wir nur an den Enthusiasmus vieler Kommunisten im Umfeld der Russischen Revolution und der Gründung der Kommunistischen Internationale, in deren Statuten ausdrücklich die Unterordnung jedes nationalen Anliegens unter die gemeinsame Sache bei Strafe des Ausschlusses festgelegt war. Zur Frustration vieler erwies sich jedoch in kürzester Zeit, dass die Organisation sehr wohl den außenpolitischen Zielen eines Landes und seiner Führung nachgeordnet wurde und auch in den Beziehungen zwischen den anderen nationalen Abteilungen eine klare Hierarchie existierte. Die katholische Kirche, zweifellos die Organisation mit der längsten durchgehenden Erfahrung in der Koordinierung von Länder und Erdteile umspannender Aktion, sah sich nach den Kulturkämpfen des späten 19. Jahrhunderts damit konfrontiert, dass eine einseitige Verpflichtung (des Ultramontanismus) auf die von Rom artikulierten Interessen ihre Mitglieder in den einzelnen Ländern zu isolieren drohte. Eine andere Frage ist, wie lange dieser Internationalismus dominierte. Internationale Organisationen entwickelten teilweise rasch wachsende Apparate, die den einfachen Mitgliedern häufig als weit entfernte Bürokratien fremd wurden. Für die Mitglieder dieser Apparate entwickelte sich beinahe mit Notwendigkeit ein Loyalitätskonflikt: Entweder verstanden sie sich weiterhin als Abgesandte ihres jeweiligen Landes (und die Rituale der zunehmenden Zahl von Kongressen und Abstimmungen konnten sie daran hartnäckig erinnern) oder entwickelten eine Art ökumenischen Elitismus, aus dem heraus sie sich – durchaus mit rhetorischem Rückgriff auf den Kosmopolitismus des 18. Jahrhunderts – als Vertreter des globalen Gemeinwohls gegenüber dem nationalen Eigennutz verstanden. Die Katastrophe der beiden Weltkriege tat das Ihrige, um dieses Selbstverständnis zu befeuern. Entscheidend scheint mir aber auch hier der Umschlag vom Elitendenken zur Alltagspraxis. Das überaus schnell wachsende Netz der IOs und der INGOs (Internationalen Nichtregierungsorganisationen) mobilisierte immer mehr Mitarbeiter, die das Anliegen der Organisation über das Interesse ihres Herkunftsstaates zu stellen begannen – ihre Biografien wurden transnationaler, auch ihre Ausbildungen. Wann und ob dies in eine Kultur umschlug, die manche als »transnationale Kultur« oder »transnationale Zivilgesellschaft« (im Falle INGOs) bezeichnen, ist offen. Hierüber haben wir erstaunlich wenige Studien. Susan Zimmermann: Aus meiner Sicht gehören die beiden genannten Dimensionen der Geschichte der internationalen Organisationen – also ihr Beitrag

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zur Entwicklung von supranationaler2 governance und von Reichen bzw. Nationen – zusammen, es handelte und handelt sich dabei in vieler Hinsicht um Entwicklungen, die eng miteinander verflochten sind. Unter anderem wäre es darum auch falsch, supranationale Autorität als nicht-territorial und nationale bzw. imperiale Souveränität als territorial zu charakterisieren. Für all das gibt es viele Beispiele. Die Studie von Craig Murphy zu jener Epoche, in der neben England weitere europäische Industrienationen aufstiegen und ein industriell geprägter europäischer Wirtschaftsraum entstand, kann als Ausgangspunkt für ein entsprechendes Argument dienen.3 Murphy zeigt, dass die Entstehung eines grenzüberschreitenden industriellen Wirtschaftsraums eine entscheidende Triebkraft für die Schaffung internationaler Koordinationsmechanismen darstellte. Sieht man sich die Organisationen, die in diesem Zusammenhang entstanden, und von denen viele als Infrastrukturinternationalismen bezeichnet werden könnten, genauer an, wird klar, dass sie beide eingangs genannten Funktionen erfüllten. Indem Länder und Reiche Mitglied solcher Organisationen wurden, trugen sie zur Entstehung neuer Strukturen im internationalen System bei, und diese Strukturen verdoppelten gleichsam die bestehenden Staats- bzw. Reichsgrenzen, repräsentierten und vergegenständlichten die existierenden Entitäten auf einer neuen und zusätzlichen, nämlich der politisch-juridisch verfassten Plattform des Internationalen. Selbst dort, wo abweichende Vertretungsmodalitäten gefunden wurden – etwa die selbständige Repräsentation einer Kolonie –, kam die Internationalisierung der Unterstreichung von territorialer Gliederung der Welt gleich. Zugleich ging es bei dieser internationalen Organisierung darum, Kooperation zustande zu bringen und zwar eben dadurch, dass man sich international auf bestimmte Maße oder Gewichte, bestimmte Regeln für den grenzüberschreitenden Postverkehr usw. verständigte und zur Einhaltung dieser Regelungen verpflichtete. Dies bedeutet eine Verlagerung souveräner Rechte auf die internationale Ebene, wie minimal diese auch immer gewesen sein mag, und auch wenn die Beteiligten diesen Vorgang rein rechtlich gesehen jederzeit wieder rückgängig machen konnten. Ein anderes Beispiel ist die Rolle internationaler Organisationen im Prozess der Dekolonialisierung, mit der sich Antony Anghie mit Blick auf die Mandatsgebiete des Völkerbundes4 und Frederick Cooper mit Blick auf die Zeit nach 19455 beschäftigt haben. Auch in diesen Fällen bedeutete Internationalisierung bei2 3 4 5

Damit meine ich alle Formen grenzüberschreitender governance. Murphy. Anghie. Cooper.

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des: den Ausbau von internationaler governance, die auf der internationalen Repräsentation souveräner und semisouveräner, territorial gefasster Entitäten beruhte und bei der es zugleich um Aufsicht über und Einflussnahme auf die Entwicklung dieser Territorien ging. In beiden Fällen war diese Aufsicht und Einflussnahme in verschiedenen Weltregionen unterschiedlich stark spürbar; in beiden Fällen speiste sich diese Entwicklung in hohem Maße aus dem Interesse der »Mächte« bzw. der starken Staaten an der Sicherstellung transnationalisierter – und damit in gewisser Weise indirekter – Einflussnahme auf die Mandatsgebiete bzw. die neuen Staaten im Süden. Dass bedeutende Kräfte im globalen System »Zuflucht« zur Internationalisierung nahmen, war also im späten 19. ebenso wie im kurzen 20. Jahrhundert deren ureigensten Interessen an einer grundsätzlich offenen Weltökonomie und an einem politischen Institutionensystem geschuldet, das diese unterstützte. Diese Internationalisierung brachte »weichen« Souveränitätsverzicht ebenso mit sich wie die Verfestigung des territorialisierten Unterbaus des internationalen Systems und die Übertragung von Strukturen dieses Unterbaus in die Welt des Internationalen, die zunehmend an Bedeutung gewann. Wir brauchen mehr konkrete historische Forschung und einen offenen Dialog mit kritischen bzw. konstruktivistischen VölkerrechtlerInnen und TheoretikerInnen der internationalen Beziehungen, wenn wir diese Prozesse – und die Zusammenhänge zwischen den zu ihrer Beschreibung von mir oben eher spontan benutzten Begriffen – präzise und allgemein fassen wollen. Steffi Marung/Katja Naumann: Bei der Erforschung Internationaler Organisationen haben sich viele Historiker und Historikerinnen gegenüber Ansätzen aus den post-colonial und global studies geöffnet und dabei zunehmend die außereuropäische Welt entdeckt, das heißt sowohl den sich erweiternden Aktionsradius der Institutionen als auch die Beteiligung aus nicht-europäischen Regionen verfolgt. In diesem Zusammenhang jedoch wurde Ostmitteleuropa – als eine Region, die sich weder in einer hegemonialen Position befand noch als Kolonie gelten mochte, zumindest nicht im gleichen Sinne wie Teile Afrikas – wenig Beachtung geschenkt. Polnische, tschechische, slowakischen und ungarische Akteure erscheinen im besten Fall zufällig und am Rande, und dann meist als Repräsentanten des Habsburger, Deutschen oder Russischen Reiches. Es bleibt dabei offen, ob sie sich zunehmend bzw. zugleich als »nationale« Vertreter »ihrer« Imperien verstanden – imperiale und nationale Raumordnungen also ineinander griffen. Worin – mit Blick auf eine allgemeine Frühgeschichte des organisierten Internationalismus – läge Ihrer Meinung nach der spezifi-

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sche Gewinn einer Aufmerksamkeitsverschiebung zugunsten ostmitteleuropäischer Akteure? Wie würden Sie die imperialen, kolonialen und semi-peripheren Akteure und Bezüge jener Zeit zueinander in Beziehung setzen? Susan Zimmermann: Die Vernachlässigung von Ostmitteleuropa und Osteuropa in der Internationalismusforschung – einschließlich kritischer Varianten dieser Forschung – ist mehr als alles andere ein Teil zweier viel umfassenderer Trends in der kritischen Forschung von HistorikerInnen, VölkerrechtlerInnen und anderen zu Fragen von empire und post-empire. Überspitzt gesagt: Die postkoloniale Forschung interessiert sich nicht für diese Region, und die Forschung zu dieser Region nicht für den Postkolonialismus. In jüngerer Zeit sind von Seiten der Osteuropaforschung zwar vermehrt Versuche zu verzeichnen, Geschichte und Gegenwart der Region durch eine postkoloniale Brille zu betrachten – die Ergebnisse sind aber bislang nicht sehr überzeugend: Oft erscheinen sie einseitig auf konzeptuelle Fragen ausgerichtet oder theoretisch wenig ausgereift, selten beruhen sie auf originärer Forschung, welche die Region schon vom Ansatz her als eine seit vielen Jahrhunderten vielfältig dominierte sowie asymmetrisch in größere Zusammenhänge eingebundene Weltregion begreifen würde. Doch könnte gerade die Internationalismusforschung, ginge sie von einem solchen Ansatz aus, eine echte Chance darstellen, Osteuropa in globale Konzepte einer postkolonialen oder entkolonialisierenden Forschung zu integrieren und dabei diese Forschung sowie die Osteuropaforschung selbst produktiv weiterzuentwickeln. Sie könnte sich dieser Aufgabe – mangels bestehender Forschungsergebnisse – vergleichsweise unbeschwert und – weil sie die Geschichte der Region unausweichlich mit einer recht »greifbaren« Dimension des Internationalen in Zusammenhang bringt – vergleichsweise geradlinig widmen. Welche konzeptuellen Eckpunkte müssen dabei berücksichtigt werden? Von großer Bedeutung ist auf jeden Fall eine angemessene begriffliche und theoretische Bestimmung von empire als zentralem Faktor in der Geschichte der Region und der Beziehungen der Region zu den internationalen Organisationen. Vereinfacht gesagt geht es dabei unter anderem um die Einsicht, dass die empires, die das Geschick der Region unmittelbar (mit-)bestimmten – also die Habsburgermonarchie, Russland (und später die Sowjetunion) sowie das Osmanische Reich –, in der Neuzeit zumeist dominierend und nicht-dominant zugleich waren. Oft handelte es sich dabei um absteigende oder zweit- bzw. drittrangige empires, um solche, die mühsam, mit oder ohne Erfolg, ihre Position gegenüber den ganz Großen zu verteidigten suchten oder die im globalen System vergeblich um einen Durchbruch nach ganz oben kämpften – im Falle der Sowjetunion

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mit dem Ziel, dieses System deutlich zu verändern. Diese Auseinandersetzungen wiederum beeinflussten die inner- und auch die intra-imperiale Politik in der Region in hohem Maße. Hinzu kam und kommt der unmittelbare Einfluss der »ganz Großen«, also der dominanten Großmächte, auf die Geschicke der Region, der sich vielfach mit den Politiken der lokalen Imperien vermengte oder diese überlagerte. Und hinzu kamen und kommen die Politiken der kleineren Protonationen und Nationen sowie ihre Auseinandersetzung mit den lokalen Reichen, den »ganz Großen« und den zum Teil bis heute Subalternen (also jenen, die den Sprung in die Nationalstaatlichkeit nicht schafften). Wenn die Internationalismusforschung danach fragen würde, wie sich internationale Organisationen mit diesen komplexen Verhältnissen auseinandersetzten und welchen Einfluss sie auf deren historische Transformationen hatten, und umgekehrt auch danach fragen würde, welche Beziehungen zu internationalen Organisationen die regionalen Akteure im Rahmen dieser komplexen Verhältnisse entwickelten, könnte sie ihre oben angesprochene spezifische Chance in akzentuierter Weise nützen. Marcel van der Linden: Die meisten internationalen Organisationen beruhten auf grenzüberschreitenden Ungleichheiten, also Ungleichheiten zwischen Staaten. Diese Grenzüberschreitungen – oder die Beziehungen zwischen Staaten – waren wiederum ungleich in sich selbst. Während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurden vermutlich alle internationalen Organisationen von den Repräsentanten der »großen« westlichen Länder – Deutschlands, des Habsburger Reiches, Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten – dominiert, aber auch von Vertretern einiger kleinerer Staaten wie der Schweiz, Belgien und den Niederlanden. Nicht nur Osteuropa, sondern auch das Osmanische Reich, China und die Kolonien waren gar nicht oder unterrepräsentiert. In diesem Sinne spiegelt das mangelnde wissenschaftliche Interesse an Ostmitteleuropa die realen Machtverhältnisse wider. Eine besondere Schwierigkeit ist natürlich, dass sich in der hier interessierenden Epoche Nationalstaaten in vielen Fällen noch nicht oder erst in Ansätzen herausgebildet hatten, da eine Reihe von Nationalitäten geteilt oder Teil großer multi-nationaler Reiche waren. Der »Wilsonian Moment« stand noch bevor. Die Vernachlässigung von Ostmitteleuropa ist aus mehrerlei Gründen misslich, aber insbesondere deshalb, weil ein Blick von der »Semi-Peripherie« unsere Aufmerksamkeit auf die blinden Flecken bei den Teilnehmern in den »Kernländern« lenken kann.

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Matthias Middell: Es liegt zunächst in der Natur der Sache, dass ein Blick »von den Rändern« auf andere Dinge fokussiert bzw. sichtbar werden lässt als der Blick aus dem Zentrum. Auf diese Weise erscheint vieles, was eben noch als natürlich oder logisch begriffen wurde, als Bestandteil einer Machtbeziehung. Dies ist inzwischen eine Binsenweisheit. Was nun die Betrachtung aus einer Perspektive angeht, die als »semi-peripher« bezeichnet wird, so lassen sich von ihr über diese allgemeine Infragestellung einer banalen hegemonialen Optik auch Strategien der Aufwertung oder der Solidarität unter den Marginalisierten genauer beobachten. Sahen sich die Vertreter ostmitteleuropäischer Länder als »Europäer« und »Westler«, wenn es um die Bewältigung globaler Herausforderungen in den IOs ging, oder haben sie nach Möglichkeiten gesucht, der strukturellen Abhängigkeit von den großen Mächten zu entkommen, indem sie neue Bündnisse geschmiedet haben? Die Geschichte der Nichtpaktgebundenen beispielsweise kann in diesem Sinne als eine Gegengeschichte zu der simplen Behauptung gelesen werden, dass die Spannungen des Kalten Krieges an die Peripherie exportiert worden seien, und verdient eine nähere Untersuchung gerade mit Blick auf die führende Rolle, die Titos Jugoslawien in diesem Prozess gespielt hat. Zugleich dienen IOs nicht nur der Lösung weltweiter Probleme und der Diskussion universeller Prinzipien, sondern auch dem Etablieren regionaler Koalitionen. War also das Mitwirken ostmitteleuropäischer Akteure in IOs eher auf die Herausbildung einer Politik gerichtet, die sich gegen die gemeinsame Betroffenheit von imperialen und Großmachtkonfigurationen richtete sowie einheitsstiftend wirkte, oder war es eher andersherum, dass die Idee nationaler Repräsentation in verschiedenen IOs eher das Trennende zwischen den Ländern Ostmitteleuropas betonte und gerade jeglicher Regionalisierung zuwiderlief? Dies mag als eine Variation der Idee des Nationalismus der kleinen Völker erscheinen, die Miroslav Hroch6 so eingehend studiert hat, aber es wäre doch ein neues Feld, in dem diese Fragestellung bisher nur ungenügend ausprobiert worden ist. Steffi Marung/Katja Naumann: In der Mitte des 19. Jahrhunderts intensivierten sich globale Verflechtungen und Interdependenzen, und zwar sowohl durch neuartige Technologien als auch durch eine Folge regionaler Krisen. Die Beziehungen zu anderen effektiv zu organisieren als auch auszuweiten und auf glo6

Unter anderem Hroch, Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas; ders., Das Europa der Nationen.

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bale Prozesse reagieren zu können – sei es die immer komplexer werdenden weltwirtschaftlichen Zusammenhänge, die Wellen von Migranten oder die großräumige Zirkulation von Ideen – wurde dabei zur zentralen Voraussetzung für Entwicklung. Gleichwohl sind die Beziehungen zwischen Gesellschaften ungleich geblieben. Asymmetrische Machtbeziehungen und ungleiche Potentiale zur Einflussnahme haben sich eher verschärft als dass sie abgenommen hätten. Daraus ergibt sich die Frage, ob das Entstehen internationaler Organisationen globale Hierarchien verändert hat. Markierte ihr Erscheinen auf der historischen Bühne eine Zäsur, einen qualitativen Wendepunkt in der weiter zurückreichenden Geschichte globaler Ungleichheiten? Matthias Middell: Es fallen einem dazu auf den ersten Blick zwei mögliche Antworten ein: Die IOs waren eine weitere und immer bedeutsamere Bühne, auf der sich diese Ungleichheiten manifestierten. Der unterschiedliche Zugang zum Völkerbund und sein Mandatssystem drängen sich dabei sofort auf, und wir können das bis in die Gegenwart verfolgen, in der sich das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges noch immer in einen Sonderstatus der Siegermächte innerhalb des UN-Systems übersetzt. Andererseits glaubten viele Aktivisten, die sich für die Gründung neuer IOs einsetzten, daran, dass diese ein Mittel der Überwindung oder wenigstens der Dämpfung globaler Ungleichgewichte sein würden: entweder durch ein gleichberechtigtes Mitwirken der einzelnen Staaten oder durch eine Abschwächung der nationalen Identifizierung in dem bereits beschriebenen Sinne einer transnationalen Identität der Mitarbeiter und Mitglieder von IOs. Marcel van der Linden: Es ist ausgesprochen schwierig, den Einfluss von IOs zu »messen«. Meine Vermutung ist, dass dieser relativ gering, wenn nicht gar ganz zu vernachlässigen ist. Die spezifische Wirkung, die die Aktivitäten von IOs auf globale Ungleichheiten haben, ist wahrscheinlich zu einem hohen Grad von der relativen Macht der Organisationen innerhalb eines bestimmten historischen Kontexts abhängig – ihr Einfluss mag in einem armen, von Krisen zerrüttetem Land größer sein als in einem reichen und stabilen Staat. Die Macht der Organisationen selbst hängt vermutlich sowohl von den finanziellen und organisatorischen als auch (para-)militärischen Mitteln der Organisation ab, vom verfügbaren Wissen über eine bestimmte Situation und vielem mehr. IOs können auch nachteilige Effekte verursachen und (oftmals unbeabsichtigt) Ungleichheiten verschärfen. INGOs aus dem globalen Süden rekrutieren beispielsweise häufig die talentiertesten Führungskräfte sozialer Bewegungen

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und berauben diese Bewegungen damit ihrer fähigsten Eliten, was langfristig Ungleichheiten zementiert. Susan Zimmermann: In meinem 2010 erschienenen Buch zu »Reforminternationalismen« und globaler Ungleichheit7 komme ich zu dem Ergebnis, dass dem Beitrag dieser Internationalismen zu »wenig emanzipatorischen Transformationen des internationalen Systems sowie zu internationalistischen Politiken, die auf eine Kritik bestehender Ungleichheiten in diesem System verzichteten oder letztere sogar unterstrichen, eine nicht zu unterschätzende historische Bedeutung zukam«. Auf lange Sicht lässt sich auf jeden Fall der Aufstieg dessen beobachten, was Anne Orford »international authority«8 nennt, und dominante Elemente der in diesem Rahmen betriebenen Politik rund um Menschenrechte, Antisklaverei, Frauenrechte usw. können unzweifelhaft als Internationalisierung von Politiken globaler Ungleichheit gelesen werden. Internationale Organisationen machten und machen also tatsächlich »einen Unterschied«, und zwar indem sie den Politiken der globalen Ungleichheit eine neue, bedeutende Ebene hinzufügen, und damit neue Formen und Dynamiken der Transformation globaler Ungleichheit ermöglichen und hervorbringen. Demgegenüber denke ich nicht, dass wir die allumfassende Frage, ob insgesamt (auch nur) die Reforminternationalismen zu so etwas wie einer Verringerung oder Vertiefung globaler Ungleichheit beigetragen haben, abschließend beantworten können, selbst wenn wir noch so viel darüber forschen würden. Unverkennbar scheint mir aber, dass historisch nur jene Internationalismen, die sich gegenüber der globalen Ungleichheit sehr bewusst kritisch positionierten und die auch ihre Agenda und Politik vor Ort in diesem Kontext reflektierten, Strategien und Praktiken hervorbrachten, die darauf abzielten, einer Vertiefung globaler Ungleichheit entgegenzuarbeiten. Steffi Marung/Katja Naumann: Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Literaturverzeichnis Anghie, A., Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law, Cambridge 2004. Cooper, F., Decolonialization and African Society. The Labor Question in French and British Africa, Cambridge 1996. 7 8

Zimmermann. Orford.

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Hroch, M., Das Europa der Nationen: die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich, Göttingen 2005. Ders., Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas: Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen, Prag 1968. Murphy, C., International Organization and Industrial Change: Global Governance since 1850, Cambridge 2004. Ninkovich, F., The Global Dawn: The Cultural Foundations of American Internationalism, 1865–1890, Cambridge 2009. Orford, A., International Authority and the Responsibility to Protect, Cambridge 2011. Zimmermann, S., GrenzÜberschreitungen: internationale Netzwerke, Organisationen, Bewegungen und die Politik der globalen Ungleichheit vom 17. bis zum 21. Jahrhundert, Wien 2010.

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Abkürzungsverzeichnis

BA Bundesarchiv Bd./Bde. Band/Bände bswp. beispielsweise bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise ca. circa CSA Central State Archive Sofia ders. derselbe dies. dieselbe/n Diss. Dissertation ebd. ebenda FN Fußnote geb. geboren GG Geschichte und Gesellschaft ggf. gegebenenfalls GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht ha. Hektar Hrsg. Herausgeber m. E. meines Erachtens Mio. Millionen ÖZG Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft S. Seite/n u. und u. a. unter anderem/und andere unv. unveröffentlicht unv. Diss. unveröffentlichte Dissertation usf. und so fort usw. und so weiter vgl. vergleiche vs. versus z. B. zum Beispiel ZfG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

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Autorennotizen

Frank Hadler, Fachkoordinator Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und Projektleiter am GWZO Leipzig; Honorarprofessor an der Universität Leipzig; Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Transnationalisierung Ostmitteleuropas; Kultur- und Historiographiegeschichte Jörn Happel, Wissenschaftlicher Assistent am Departement Geschichte der Universität Basel; Forschungsschwerpunkte: Geschichte Russlands bzw. der Sowjetunion sowie Polens im 19. und 20. Jahrhundert, besonders in Bezug auf Nationalitätenpolitik, sowjetisch-amerikanisch-deutsche Beziehungen, Stalinismus, Kalten Krieg, Diplomatiegeschichte, Geschichte kognitiver Karten, Kolonialgeschichte Dietlind Hüchtker, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am GWZO Leipzig; PD an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Schwerpunkte: Geschlechterforschung, Sozial- und Kulturgeschichte vom 18. bis 20. Jahrhundert; mit Yvonne Kleinmann und Martina Thomsen Herausgeberin von »Reden und Schweigen über religiöse Differenz. Tolerieren in epochenübergreifender Perspektive« (2013), Autorin von »Geschichte als Performance. Politische Bewegungen in Galizien um 1900« (2014) Ulrike Jureit, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung; Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Erinnerungskultur und Gedächtnisforschung, Raum als politischer Ordnungsbegriff Nikolay Kamenov, Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für die Geschichte der modernen Welt an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich; Forschungsschwerpunkte: Akteure kultureller Globalisierungsprozesse, bulgarische Temperenz-Bewegung 1890–1940

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Autorennotizen

Steffi Marung, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Area Studies der Universität Leipzig; Forschungsschwerpunkte: Geschichte von Grenz- und Territorialisierungsregimen seit dem Ende des 19. Jahrhundert, Europäische Integrationsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, insbesondere der Regionalwissenschaften Matthias Middell, Professor am Global and European Studies Institute der Universität Leipzig und dessen Direktor; Forschungsschwerpunkte: Globalgeschichte und ihre Methodologie, Kulturtransferforschung, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte Katja Naumann, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am GWZO Leipzig; Forschungsschwerpunkte: Geschichte Internationaler Organisationen, mit Fokus auf die ostmitteleuropäischen Länder, Entwicklung des (Neo-)Liberalismus, Historiographie- und Universitätsgeschichte Heléna Tóth, post-doctoral fellow im Internationalen Graduiertenkolleg »Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts« der Ludwig-Maximilians-Universität München; Forschungsschwerpunkte: Geschichte des politischen Exils, Rituale im Staatssozialismus Marcel van der Linden, Professor am International Institute of Social History Amsterdam und dessen Forschungsdirektor; Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Arbeitergeschichte, Globalgeschichte, Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung Anna Veronika Wendland, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Herder-Institut in Marburg, Lehrbeauftragte an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Forschungsschwerpunkte: Nationalismus, Stadt- und Regionalgeschichte, Visuelle Geschichte, Transnationale Geschichte, Historiographiegeschichte, Raumordnungen und Kartografie, Umwelt- und Technikgeschichte; vor allem für die Ukraine, Polen, Russland und die Baltischen Länder  Adrian Zandberg, Assistenzprofessor an der Akademie für Politikwissenschaften, Kommunikation und Internationale Beziehungen (WSKPiSM) in Warschau; Forschungsschwerpunkte: Konsumgeschichte und soziale Bewegungen, Sozialgeschichte des Alkohols und Drogen in Polen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Geschichte der Gesundheitspolitik

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Autorennotizen

Susan Zimmermann, University Professor, Department of Gender Studies und Department of History, Central European University, Budapest; Forschungsschwerpunkte: Geschichte von Internationalismen und globaler Ungleichheit mit Schwerpunkt Geschlechtergeschichte und Geschichte der Arbeit, zentraleuropäische Frauenbewegungen, vergleichende Geschichte der Sozialpolitik

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