Islam III: Vom 19. Jahrhundert bis heute 9783170340268, 9783170340275, 9783170340282, 3170340263

Der Islam ist heute mit ca. 1,8 Milliarden Gläubigen eine lebendige schnell wachsende weltweite Glaubensgemeinschaft. De

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Islam III: Vom 19. Jahrhundert bis heute
 9783170340268, 9783170340275, 9783170340282, 3170340263

Table of contents :
Deckblatt
Titelseite
Impressum
Inhalt
Einleitung
1 Drei Schwerpunkte
2 Richtungsvielfalt in der innerislamischen DiskussionÜnb
3 Die Wahrnehmung des Islam in der nichtislamischen Welt und Öffentlichkeit
Umschrift, Bibliographie und Dank
I Regionale Darstellungen
Europa und der Orient
1 Einleitung
2 Der Vordere Orient von 1800 bis 1870
3 Die Hochphase des Imperialismus von ca. 1870 bis ca. 1925
4 Die Zeit des Nationalismus von ca. 1925 bis 1970
5 Nach 1967: Klientelismus und Islamismus
Muslime in Afrika südlich der Sahara: Mehrheitsgesellschaften und Minderheiten
1 Einleitung
2 Der historische Kontext
3 Die Dschihad-Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts
4 Das Erbe der Kolonialzeit
5 Die Bedeutung des lokalen Kontexts für religiöse Konflikte
6 Muslimische Reformbewegungen der Gegenwart
7 Schluss
Islam in Südasien: Zwischen Kalifatsbewegung und religiöser Gewalt (ca. 1920–2018)
1 Einleitung
2 Nationalistische Forderungen und die Kalifatsbewegung
3 Gespaltene islamische Öffentlichkeit
4 Muslim Liga und politische Unabhängigkeit
5 Das Problem der nationalen Integration Pakistans und die Geburt Bangladeschs
6 Islamisierung in Pakistan und ihre Folgen
7 Muslimische Inder oder indische Muslime?
8 Ausblick
Islam in Indonesien
1 Ethische Politik und die Entstehung moderner islamischer Strömungen
2 Japanische Übergangszeit und Unabhängigkeitskampf
3 Indonesien unter Soekarno (bis 1965)
4 Die Zeit der Suharto-Diktatur (1966–1998)
5 Die 90er Jahre und Suhartos Sturz
6 Die Reformära
Islam in der Diaspora
1 Eine islamische Diaspora?
2 Islam im Westen
3 Islam in Nordamerika
4 Islam in Lateinamerika
5 Islam in Australien und Neuseeland
6 Islam in Europa
7 Ausblick
Nichtislamische Religionen in der Welt des Islam
1 Einige Eckpunkte zum Umgang des Islam mit anderen Religionen
2 Nationalismus und Umgang mit nichtmuslimischen Religionen
3 Arabische Republik Ägypten
4 Republik Irak
5 Islamische Republik Iran
6 Libanesische Republik
7 Resümee
II Theologie, Philosophie, Recht und Kultur
Islamische Theologie heute: Orte, Gesichter und Tendenzen
1 Einleitung
2 Ursprünge dessen, was sich islamische Theologie nennt
3 Traditionelle Orte, Gesichter und Tendenzen der islamischen Theologie
4 Islamische Theologie(n) nach dem Traditionsbruch: Spannungsfeld zwischen Erbe und Moderne
5 Neuausrichtung der islamischen Theologie in der Türkei
6 Wiederbelebung der Islamischen Theologie in ex-sowjetischen und ex-jugoslawischen Ländern
7 Neugeburt der Islamischen Theologie in Westeuropa und Deutschland
Muhammad als Vorbild Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert und Typen der imitatio Muhammadi
1 Einleitung: Die Erforschung der Bedeutung Muhammads im Islam
2 Muhammad als Vorbild
3 Schluss
Innerislamische und aus islamischen Kontexten hervorgegangene religiöse Minderheiten
1 Zur Problematik innerislamischer Diversität
2 Versuche der religionshistorischen Systematisierung
3 Religionsgeschichtliche Debatten um vorislamische Wurzeln
4 Arabischsprachige Gruppen
5 Gruppen aus iranisch/türkischen Kontexten
6 Religionshistorische Zusammenfassung
7 Terminologische Überlegungen
Themen und Orte nahöstlicher Philosophie (19.–20. Jahrhundert)
1 Einleitung
2 Gemeinsamkeiten der nahöstlichen Philosophie
3 Hervorstechende Entwicklungsmerkmale der nahöstlichen Philosophie
4 Ausblicke
Themen und Orte des islamischen Rechts im 20./21. Jahrhundert
1 Einleitung
2 Das 20. und 21. Jahrhundert in der Historiographie des islamischen Rechts
3 Die Transformation des islamischen Rechts in der Moderne: Probleme
4 Merkmale des islamischen Rechts im 20. und 21. Jahrhundert
5 Zeitgenössische Richtungen in der islamischen Welt
6 Schluss
Kulturgeschichte muslimischer Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert
1 Musik in islamischen Gesellschaften
2 Bildende Kunst
3 Sport in islamischen Gesellschaften
4 Fazit
III Moderne Herausforderungen
Das Verhältnis von Staat und Religion und Recht in der Moderne: Demokratie und Menschenrechte, Geschlechtergleichheit, und Religionsfreiheit
1 Einleitung
2 Die Zeit des Kolonialismus: »Wir« sind besser als »sie«
3 Die Konstituierung moderner Nationalstaaten
4 Der Islam als Lösung? Re-Islamisierung, die iranische Revolution und die Neo-Salafīa
5 Internationales Recht und Menschenrechte
6 Wo bleibt die Demokratie? Der »Arabische Frühling« und seine Nachwirkung
7 Fazit
Dschihad, Terror, Märtyrertum
1 Zur Theologie des Dschihadismus
2 Zur Geschichte des Dschihadismus
3 Dschihad neu gedacht
4 Konzeptuelle Erwägungen
Technik und Wissenschaft als Herausforderung für den Islam am Beispiel der modernen Medizin
1 Einführung
2 Diskussionen über die modernen Naturwissenschaften, Technik und Biomedizin
3 Diskussionen um die Wissensproduktion und den Wissenstransfer
4 Fazit
Grundprobleme des Islam heute im internationalen und interkulturellen Vergleich
1 Der Islam in der Moderne
2 Der Islam im Anbruch der Postmoderne
Interreligiöser Dialog
1 Einleitung
2 Der interreligiöse Dialog - ausgewählte Beispiele
3 Sufis im interreligiösen Dialog - ausgewählte Beispiele
4 Der interreligiöse Dialog an Universitäten - ausgewählte Beispiele
5 Abschließende Reflexion und Kritik
Schlusswort zu Islam I - III
Index
1 Personen
2 Stichworte

Citation preview

Die Religionen der Menschheit Begründet von Christel Matthias Schröder Fortgeführt und herausgegeben von Peter Antes, Manfred Hutter, Jörg Rüpke und Bettina Schmidt Band 25,3

Peter Antes (Hrsg.)

Islam III Vom 19. Jahrhundert bis heute

W. Kohlhammer

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1. Auflage 2022 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Abbildungshinweis: Kaaba während des Hadsch. Quelle: www.pixabay.com Print: ISBN 978-3-17-034026-8 E-Book-Formate: pdf: ISBN 978-3-17-034027-5 epub: ISBN 978-3-17-034028-2 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Antes 1 Drei Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Richtungsvielfalt in der innerislamischen Diskussion . . . . . . . . . 3 Die Wahrnehmung des Islam in der nichtislamischen Welt und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umschrift, Bibliographie und Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gewalt .........

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Regionale Darstellungen

Europa und der Orient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lutz Berger 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Der Vordere Orient von 1800 bis 1870 . . . . . . . . . . . 3 Die Hochphase des Imperialismus von ca. 1870 bis ca. 4 Die Zeit des Nationalismus von ca. 1925 bis 1970 . . . 5 Nach 1967: Klientelismus und Islamismus . . . . . . . . .

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Muslime in Afrika südlich der Sahara: Mehrheitsgesellschaften und Minderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roman Loimeier 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Der historische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die Dschihad-Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts . . . . . . . 4 Das Erbe der Kolonialzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die Bedeutung des lokalen Kontexts für religiöse Konflikte . . . . . 6 Muslimische Reformbewegungen der Gegenwart . . . . . . . . . . . . 7 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Islam in Südasien: Zwischen Kalifatsbewegung und religiöser (ca. 1920–2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jamal Malik 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Nationalistische Forderungen und die Kalifatsbewegung . 3 Gespaltene islamische Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . .

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6 4 5 6 7 8

Inhalt

Muslim Liga und politische Unabhängigkeit . . . . Das Problem der nationalen Integration Pakistans Bangladeschs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Islamisierung in Pakistan und ihre Folgen . . . . . Muslimische Inder oder indische Muslime? . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

............ und die Geburt ............ ............ ............ ............

Islam in Indonesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fritz Schulze 1 Ethische Politik und die Entstehung moderner islamischer Strömungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Japanische Übergangszeit und Unabhängigkeitskampf . . . . 3 Indonesien unter Soekarno (bis 1965) . . . . . . . . . . . . . . . 4 Die Zeit der Suharto-Diktatur (1966–1998) . . . . . . . . . . . . 5 Die 90er Jahre und Suhartos Sturz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Die Reformära . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Islam in der Diaspora . . . . . . . . . . . . . . Albrecht Fuess 1 Eine islamische Diaspora? . . . . . . . 2 Islam im Westen . . . . . . . . . . . . . . 3 Islam in Nordamerika . . . . . . . . . . 4 Islam in Lateinamerika . . . . . . . . . 5 Islam in Australien und Neuseeland 6 Islam in Europa . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nichtislamische Religionen in der Welt des Islam . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Hutter 1 Einige Eckpunkte zum Umgang des Islam mit anderen Religionen 2 Nationalismus und Umgang mit nichtmuslimischen Religionen . . 3 Arabische Republik Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Republik Irak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Islamische Republik Iran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Libanesische Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II

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Theologie, Philosophie, Recht und Kultur

Islamische Theologie heute: Orte, Gesichter und Tendenzen . . . . . . . . . 177 Ömer Özsoy 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2 Ursprünge dessen, was sich islamische Theologie nennt . . . . . . . . . . 178

7

Inhalt

3 4 5 6 7

Traditionelle Orte, Gesichter und Tendenzen der islamischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Islamische Theologie(n) nach dem Traditionsbruch: Spannungsfeld zwischen Erbe und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuausrichtung der islamischen Theologie in der Türkei . . . . . . . Wiederbelebung der Islamischen Theologie in ex-sowjetischen und ex-jugoslawischen Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neugeburt der Islamischen Theologie in Westeuropa und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . 183 . . 189 . . 197 . . 202 . . 208

Muhammad als Vorbild Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert und Typen der imitatio Muhammadi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cüneyd Yıldırım 1 Einleitung: Die Erforschung der Bedeutung Muhammads im Islam 2 Muhammad als Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . 218 . . . 220 . . . 235

Innerislamische und aus islamischen Kontexten hervorgegangene religiöse Minderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Robert Langer 1 Zur Problematik innerislamischer Diversität . . . . . . . . . . . . . . 2 Versuche der religionshistorischen Systematisierung . . . . . . . 3 Religionsgeschichtliche Debatten um vorislamische Wurzeln . . 4 Arabischsprachige Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Gruppen aus iranisch/türkischen Kontexten . . . . . . . . . . . . . . 6 Religionshistorische Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Terminologische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Themen und Orte nahöstlicher Philosophie (19.–20. Jahrhundert) Anke von Kügelgen 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Gemeinsamkeiten der nahöstlichen Philosophie . . . . . . . . . . . 3 Hervorstechende Entwicklungsmerkmale der nahöstlichen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Themen und Orte des islamischen Rechts im 20./21. Jahrhundert . . . . Hakki Arslan 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Das 20. und 21. Jahrhundert in der Historiographie des islamischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die Transformation des islamischen Rechts in der Moderne: Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Merkmale des islamischen Rechts im 20. und 21. Jahrhundert . . . . .

. 304 . 304 . 305 . 308 . 312

8

Inhalt

5 6

Zeitgenössische Richtungen in der islamischen Welt . . . . . . . . . . . . . 322 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

Kulturgeschichte muslimischer Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Heine 1 Musik in islamischen Gesellschaften . . . . . . . 2 Bildende Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Sport in islamischen Gesellschaften . . . . . . . 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III

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Moderne Herausforderungen

Das Verhältnis von Staat und Religion und Recht in der Moderne: Demokratie und Menschenrechte, Geschlechtergleichheit, und Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irene Schneider 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Zeit des Kolonialismus: »Wir« sind besser als »sie« . . . . . . . . . . . 3 Die Konstituierung moderner Nationalstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Der Islam als Lösung? Re-Islamisierung, die iranische Revolution und die Neo-Salafīya . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Internationales Recht und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Wo bleibt die Demokratie? Der »Arabische Frühling« und seine Nachwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dschihad, Terror, Märtyrertum . . . . . . Rüdiger Lohlker 1 Zur Theologie des Dschihadismus 2 Zur Geschichte des Dschihadismus 3 Dschihad neu gedacht . . . . . . . . . 4 Konzeptuelle Erwägungen . . . . . .

371 371 375 379 387 391 394 398

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Technik und Wissenschaft als Herausforderung für den Islam am Beispiel der modernen Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ilhan Ilkilic 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Diskussionen über die modernen Naturwissenschaften, Technik und Biomedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Diskussionen um die Wissensproduktion und den Wissenstransfer . 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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400 405 411 415

. 417 . 417 . 418 . 425 . 429

9

Inhalt

Grundprobleme des Islam heute im internationalen und interkulturellen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Reinhard Schulze 1 Der Islam in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 2 Der Islam im Anbruch der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Interreligiöser Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erdal Toprakyaran 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Der interreligiöse Dialog – ausgewählte Beispiele . . . . . . . . . . . . . 3 Sufis im interreligiösen Dialog – ausgewählte Beispiele . . . . . . . . . 4 Der interreligiöse Dialog an Universitäten – ausgewählte Beispiele 5 Abschließende Reflexion und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schlusswort zu Islam I – III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 1 Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 2 Stichworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482

Einleitung Peter Antes

Die Moderne, der dieser dritte Band gewidmet ist, hat tiefgreifende Veränderungen mit sich gebracht und dies nicht nur in Europa und Nordamerika, sondern weltweit. Symbolisch lässt man sie mit Blick auf die islamische Welt 1798 mit der Expedition Napoleons nach Ägypten beginnen, zutreffender ist jedoch die einsetzende Ausbreitung des europäischen Einflusses im 19. Jahrhundert. Wie grundlegend die Veränderungen waren, zeigt ein Beispiel aus der Technik. Während Napoleons Feldzug nach Italien mit der gleichen Geschwindigkeit in Pferdestärke wie der Cäsars von Italien nach Gallien vonstatten ging, ändert die Einführung der Dampflok die Fortbewegungsgeschwindigkeit so grundlegend, dass Ärzte sogar als Reaktion auf die erste Fahrt 1835 von Fürth nach Nürnberg meinten, der menschliche Körper sei für einen derart raschen Ortswechsel von ca. 60 km/h nicht geschaffen. Wie wir heute wissen, hält der menschliche Körper weit höhere Geschwindigkeiten problemlos aus: Züge fahren mit über 300 km/h, Flugzeuge erreichen noch größere Geschwindigkeiten, ganz zu schweigen von den Trägerraketen der Weltraumfahrt. Die Modernisierung erfasste alle Bereiche des menschlichen Lebens: von der Fortbewegung in der Technik, über die Naturwissenschaften und die Medizin bis in den sozialen Bereich. Auch die Religion bekam diese Veränderungen zu spüren und musste darauf reagieren. Wer weltweit mithalten wollte, hatte sich – so die allgemeine Überzeugung – auf diesen Weg zu begeben. In Europa war man daher davon überzeugt, dass alle auf der Welt, wollten sie nicht zurückbleiben, irgendwie vom europäischen Zentrum abhängig wären und seinem Beispiel zu folgen hätten. Dass diese Modernisierungen jedoch nicht überall gleich verliefen, sondern es – wie N. S. Eisenstadt sagt – zu multiple modernities gekommen ist, hat sich als Erkenntnis in der europäisch-nordamerikanischen Wissenschaft erst langsam durchgesetzt. Lutz Berger schreibt darüber in seinem Beitrag in diesem Band: »Für Eisenstadt ist die Vielfältigkeit der Moderne insbesondere ein Ergebnis des Fortlebens lokaler kultureller Traditionen, die in unterschiedlicher Weise in das ursprünglich europäische Projekt der Moderne eingebaut wurden. Die Entstehung vielfältiger Modernen ist aber genauso ein Produkt des eben erwähnten Umstandes, dass Modernen außerhalb von Westeuropa und Nordamerika exogen und im Regelfall nachholend entwickelt wurden. Zudem liefen Prozesse der Modernisierung, die in Westeuropa ineinandergriffen, in der muslimischen Welt unabhängig voneinander und zeitversetzt ab.« Dies zu dokumentieren und in seiner Vielgestaltigkeit zu zeigen, also den weltweiten Modernisierungswillen und seine lokalen Umsetzungen gleichermaßen im

12

Einleitung

Blick zu haben, ist das Anliegen dieses dritten Bandes. In Form von drei Schwerpunkten wird dies hier thematisiert. Auf ihre Darstellung anhand entsprechender Unterkapitel folgt ein kurzer Blick auf die Richtungsvielfalt in der innerislamischen Diskussion sowie auf die Wahrnehmung des Islam in der nichtislamischen Welt und Öffentlichkeit. Ein Hinweis zur Umschrift und Bibliographie sowie ein Dank schließen diese Einleitung ab.

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Drei Schwerpunkte

Der erste Schwerpunkt behandelt regionale Darstellungen: Lutz Berger konzentriert sich in seinem Beitrag: »Europa und der Orient« vornehmlich auf den türkisch-persisch-arabischen Raum. Er behandelt die Thematik in Anlehnung an S. N. Eisenstadts multiple modernities so, dass er die für die Region jeweils eigenen Entwicklungen aufzeigt, also Verstädterung ohne damit einhergehende Industrialisierung, sozialer Wandel durch Rückgang der Kindersterblichkeit, Modernisierung ohne Säkularisierung u. a.m. Er unterteilt die letzten 200 Jahre in vier Abschnitte, die für die Entwicklung typisch sind: der Vordere Orient von 1800–1870; die Hochphase des Imperialismus von ca. 1870 bis ca. 1925; die Zeit des Nationalismus von ca. 1925 bis 1970; nach 1967: Klientilismus und Islamismus. Ganz zum Schluss wird der Blick ausgeweitet: auf Afrika südlich der Sahara sowie auf Zentral-, Süd- und Südostasien bis hin nach Malaysia und Indonesien, wo ähnliche Entwicklungen stattgefunden haben, ohne dass alles einfach mit dem vorher Besprochenen gleichgesetzt werden kann und darf. Roman Loimeier behandelt den »Islam in Afrika südlich der Sahara – als Mehrheitsgesellschaft wie als Minderheit«. Er zeigt an konkreten Beispielen sehr anschaulich, wie regionale und transregionale Einflüsse zu unterschiedlichen Auseinandersetzungen unter Muslimen sowie zwischen dem Islam und anderen Religionen im Lande oder auch als Antwort der Religion auf die kolonialen und postkolonialen Nationalstaaten geführt haben. Jamal Malik führt in seinem Beitrag: »Islam in Südasien: Zwischen Kalifatsbewegung und religiöser Gewalt (ca. 1920–2018)« seine historische Abhandlung aus Band 2 zum indischen Subkontinent fort, konzentriert sich nun auf Pakistan und zeigt, wie aus einem ursprünglich für Muslime konzipierten Land ein islamischer Staat geworden ist. Zudem kommt er auch auf die anders gelagerten Umsetzungen islamischer Identität in Bangladesh und Indien zu sprechen, sodass insgesamt ein recht facettenreiches Bild des Islam in dieser Weltregion entsteht, das sich nicht auf einen einheitlichen Nenner bringen lässt. Fritz Schulze erweitert mit seinem Beitrag: »Islam in Südostasien« das Spektrum eines keineswegs homogenen Islam mit Blick auf Indonesien. Er zeigt, wie konservative Kreise, teils sogar terroristische Gruppen, einen islamischen Staat dort errichten wollten und als dies misslang, sich auf die Schariatisierung der Gesellschaft verlegten, aber am Widerstand liberaler Auslegungen des Islam gescheitert sind. Dennoch sind die Auseinandersetzungen, welcher Islam letztendlich die Richtung

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vorgeben wird, noch voll im Gange und verunmöglichen vorherzusagen, welchen Weg Indonesien zukünftig wählen wird. Albrecht Fuess rundet das facettenreiche Bild des Islam in der Gegenwart mit seinem Beitrag: »Islam in der Diaspora« ab. Je nach Weltgegend (Nord- und Südamerika, Australien und Neuseeland, Europa) stehen die Muslime vor sehr unterschiedlichen Problemen und Herausforderungen, die zu recht unterschiedlichen Antworten in den einzelnen Ländern führen. Dadurch wird die Palette islamischer Existenzformen noch vielfältiger, als es die Beiträge zu Ländern mit islamischen Bevölkerungsmehrheiten erwarten ließen, ohne dass damit die ganze Breite der Möglichkeiten vollständig abgedeckt wäre. Diesbezüglich genügt es, nur an die verschiedenen »Islame« in Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu erinnern, um weitere Ausdrucksformen von Muslim-Sein ins Gespräch zu bringen. Manfred Hutter behandelt die Religionen, die nicht aus dem Islam hervorgegangen sind. Da das Thema für die Welt des Islam jeden hier gesetzten Rahmen sprengen würde, geht er exemplarisch vor. Er spricht über Ägypten, den Irak, den Iran und den Libanon. Die von ihm erwähnten Religionen sind das Judentum, die verschiedenen regionalen wie überregionalen christlichen Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie vornehmlich nur lokal relevante Religionsgemeinschaften wie die der Yeziden, Mandäer und Zoroastrier. Es wird deutlich, dass es einerseits eine durch den Islam vorgegebene Art des Umganges mit Angehörigen anderer Religionen gibt, dass aber dieser in den einzelnen Nationalstaaten – weit über den vorderorientalischen Rahmen hinaus – durch lokale wie überregionale andere Gesichtspunkte verändert und geprägt wird, sodass die Realität weit vielgestaltiger ist als die diesbezügliche Theorie.

Der zweite Schwerpunkt ist Theologie, Philosophie, Recht und Kultur gewidmet. In »Islamische Theologie heute: Orte, Gesichter und Tendenzen« zeichnet Ömer Özsoy zunächst die Entstehung der islamischen Theologie und ihrer Disziplinen nach. Danach bietet er einen weit gespannten Überblick an ausgewählten Beispielen zum Spannungsfeld zwischen Erbe und Moderne über aktuelle Orte islamischer Theologie und ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Eingebundenheit, vor allem im indisch-pakistanischen Kontext, in der Arabischen Welt, in der Türkei, in ex-sowjetischen und ex-jugoslawischen Ländern sowie in Westeuropa und Deutschland. In dem Beitrag »Muhammad als Vorbild. Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert und Typen der imitatio Muhammadi« zeigt Cüneyd Yildirim, dass trotz aller Kritik an traditionellen Ausprägungen des Islam und an einer starken Konzentration auf den Koran Muhammad noch immer für die meisten Muslime Vorbildfunktion hat. Allerdings sind die Typen der imitatio Muhammadi recht unterschiedlich. Sie reichen von der Nachahmung des Propheten im praktischen Vollzug der religiösen Pflichten über die peinlich genaue Beachtung aller Details in Alltagssituationen bis hin zu mystischen Formen im Wunsch, mit dem Wesen des Propheten eins zu werden, oder ihn als Leitbild für politisches Handeln zu sehen, sei es als Kämpfer

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wie ʿAbd al-Wahhāb gegen jede Form »fehlgeleiteter Frömmigkeit« oder wie Tariq Ramadan als ethisches Vorbild im Einsatz für einen menschenfreundlichen Umgang mit allen Menschen, für Gewaltlosigkeit, Demokratie und den interreligiösen Dialog. Robert Langers Beitrag: »Innerislamische und Islam bezogene religiöse Minderheiten« verweist auf die sehr breit gefächerte Vielfältigkeit und Heterogenität, insbesondere hinsichtlich nicht-Scharia-orientierter Gemeinschaften einerseits und anderer »non-konformistischer« Religionstraditionen in mehrheitsislamischen Kontexten. Sie sind dort entstanden und konnten sich unter dem Dach des Islam eigen- wenn auch nur randständig entwickeln. Dies gilt für arabischsprachige Gruppen wie die Alawiten (Nusairī/ʿAlawīyūn) oder die Drusen ebenso wie für die Gruppen aus iranisch-türkischen Kontexten wie die Aleviten, Schabak, die Kākāʿi oder die Ahl-e Ḥaqq (Yāresān). Je nach Interesse und Vorkenntnissen der sie untersuchenden wissenschaftlichen Disziplinen werden sie – wie der Beitrag zeigt – unterschiedlicher religiöser bzw. weltanschaulicher Herkunft zugeordnet. Erst im 19. Jahrhundert ist es zur Bildung von sich unabhängig vom islamischen Kontext entwickelnden, aus dem Islam hervorgegangenen Religionsgemeinschaften wie dem Babismus und der Bahai-Religion sowie zur sich selbst als islamisch verstehenden, vom Mainstream des Islam aber als islamisch abgelehnten Aḥmadiyya gekommen. »Themen und Orte nahöstlicher Philosophie (19.-20. Jahrhundert)« von Anke v. Kügelgen zeigt, wie in zunehmendem Maße die Philosophie im Nahen Osten und Nordafrika an Bedeutung gewinnt und sich viele – u. a. angeregt durch ihre Studien in Europa – damit auseinandersetzen und teilweise sehr eigene Wege gehen. Diese Denkansätze sind bislang im Westen noch wenig zur Kenntnis genommen worden und verdienen eine stärkere Rezeption und Auseinandersetzung damit. »Themen und Orte des islamischen Rechts im 20./21. Jahrhundert« von Hakki Arslan geht davon aus, dass die Auseinandersetzung des Islam mit der Moderne, vor allem mit dem Kolonialismus und der neuen Realität von Nationalstaaten, sowie die Einführung westlichen Rechts und die Kodifikation des islamischen Rechts nach europäischen Vorbildern in den meisten Staaten mit islamischer Bevölkerungsmehrheit die Scharia und die islamischen Gelehrten marginalisiert haben. Die Kodifizierung hat bewirkt, dass das islamische Recht als etwas Fixes wahrgenommen wurde, was zu einer Erstarrung und Konservierung des zuvor durchaus dynamischen Rechtsstoffes geführt hat. Es kam zu einer dynamischen Auslegung der traditionellen Rechtsquellen jenseits der Rechtsschulen. Zudem machte infolge des Buchdrucks die Veröffentlichung bislang unbekannter Texte aus der Vergangenheit neue Interpretationsansätze bekannt. Der Iğtihād wurde neu belebt, die Folge waren innerislamische Rechtsvergleiche, ein kollektiver Iğtihād und die Entstehung von Fatwa-Gremien mit hoher Fachkompetenz sowie unterschiedliche Schwerpunkte für die Länder, wo die Muslime in der Minderheit sind, und die, wo sie die Mehrheit der Bevölkerung bilden. Es kam zu einer Fülle von Ansätzen wie Traditionalismus, Reformismus, Modernismus, Islamismus, Salafismus oder Liberalismus, die miteinander in Konkurrenz stehen. Abgesehen von radikalen und extremistischen Positionen sind dabei zwei Kriterien von besonderer Bedeutung, die es miteinander zu vereinbaren gilt: die Islamizität, also die Betonung des spezifisch Islamischen, bei gleichzeitiger Beachtung der Praktikabilität, d. h. der konkreten Umsetzbarkeit der Prinzipien.

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Peter Heines Beitrag: »Kulturgeschichte muslimischer Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert« behandelt Musik, Bildende Kunst (Kalligraphie und Malerei, einschließlich der Thematik Frauen als Kunstschaffende) und Sport. Er vermittelt dadurch ein Bild gelebter Wirklichkeit, das mit dem oft in der deutschen Islamdebatte vermittelten Eindruck einer ausschließlich am Koran und der Glaubenslehre orientierten Lebensweise wenig gemeinsam hat.

Der dritte Schwerpunkt behandelt moderne Herausforderungen und Bedrohungen: Irene Schneider hat »das Verhältnis von Staat und Religion und Recht in der Moderne: Demokratie und Menschenrechte, Geschlechtergleichheit, und Religionsfreiheit« als Thema. Bereits der Titel nennt alle »heißen Eisen«, die in der deutschen Öffentlichkeit – vor allem in rechtspopulistischen Kreisen – die Diskussion bestimmen. Die Ausführungen des Beitrages zeigen, dass der Streit um die richtige Auslegung nicht nur ein Streit zwischen westlichen Forderungen und dem Islam ist, sondern die Debatten unter Muslimen in gleicher Weise bestimmt, sodass eine innerislamische Meinungs- und Deutungsvielfalt zutage tritt, die jede Vorstellung vom Islam als einem homogenen Block Lügen straft. Dschihad, Terror, Märtyrertum sind Schlüsselbegriffe, die Rüdiger Lohlker behandelt. Er kommt zu dem Schluss: »Eine zielführende Analyse des Phänomens Dschihadismus darf zwar nicht den islamischen Aspekt des Phänomens vernachlässigen, kann aber nicht umhin, den Dschihadismus in all seiner Vielfalt als Teil einer globalen Ökonomie männlich geprägter Gewalt zu verstehen, die weit über den dschihadistischen Kontext hinausreicht. Charakteristika sind der Missbrauch und die Vernutzung von Körpern, sei es im Sinne des Menschenhandels, des Entführungsgewerbes, der Prostitution und Versklavung, des Mordes und der Verstümmelung, der Plünderung von Gesellschaften, des Schmuggels von vielerlei Gütern, eingebettet in die Interessen von Staatsapparaten und häufig in Verbindung mit kriminellen Unternehmungen, einer wahrhaft ›schwarzen‹ Ökonomie (mit allerdings fließenden Grenzen). In dieser Einbettung zeigt sich die erschreckende Modernität des Dschihadismus.« Ilhan Ilkiliç: »Technik und Wissenschaft als Herausforderung an den Islam am Beispiel der modernen Medizin« verweist darauf, dass der Islam in seiner klassischen Periode für naturwissenschaftliche Erkenntnisse und entsprechende Technologien stets sehr offen gewesen ist. Religion und Wissenschaft wurden als Einheit begriffen. Dementsprechend vertritt auch heute die große Mehrheit der Theologen. der Fatwas und der staatlichen Regulierungen einen prowissenschaftlich-konsequentialistischen Ansatz, der naturwissenschaftliche Forschung und Technik positiv bewertet, während akademisch-intellektuelle Kreise eher wissenschaftskritisch eingestellt sind und betonen, dass die westliche Wissenschaft nicht losgelöst von ihrem weltanschaulich säkularen Kontext gesehen werden darf und folglich aus islamischer Sicht kritisch geprüft und bewertet werden müsse. Allerdings ist der Einfluss dieser zuletzt genannten Position sehr begrenzt. Etwas ande-

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res ist dagegen der Umgang mit der Wissensproduktion und dem Wissenstransfer. Am Beispiel der Medizin wird gezeigt, welche theologischen und ethischen Probleme sich aus der Embryonen verbrauchenden Stammzellenforschung und aus der Intensivmedizin am Lebensende hinsichtlich der Bestimmung des Eintrittes des Todes ergeben und wie die Reaktionen darauf unter Naturwissenschaftlern, Ärzten und Theologen sind. Reinhard Schulze: »Grundprobleme des Islam heute im internationalen und interkulturellen Vergleich« weist darauf hin, dass durch die Entstehung der Nationalstaaten dem Islam eine völlig neue Rolle zukam. Er musste sich als Sozialform neu begründen und wie jede andere Religion in die neue nationalstaatliche Ordnung einfügen. Diese weitgehende Vergesellschaftung von Religion führte in den einzelnen Ländern zu recht unterschiedlichen Modellen und zu einer Konfessionalisierung des Islam, wie sie vorher so nicht existiert hatte. Erstmals setzte sich eine umfassende soziale Trennung aller Lebensbereiche nach sunnitischer und schiitischer Identität durch. Die Konfessionen begannen vor allem ab dem 19. Jahrhundert die sozialen Lebenswelten der Muslime entscheidend zu prägen. Sie bewirkten nach dem Prinzip »belonging without believing« eine Homogenisierung der islamischen Öffentlichkeiten, für die als Trägerschichten die Mittelschichten nicht stark genug waren, um prägend zu sein. Anders als in West- und Nordeuropa, wo eine Entflechtung der Konfessionen von den sozialen Milieus stattgefunden hat, kam es ab den 1970er Jahren in der islamischen Welt zu einer schleichenden, sich immer mehr verstärkenden Islamisierung. Die Gründe dafür sind vielfältig und ergeben mit Blick auf die Zukunft unterschiedliche mögliche Szenarien. Die Palette reicht von ultraislamistischen Vorstellungen über liberale bis zu säkularen. Was letztlich sich dominant durchsetzen wird, ist nicht mit Sicherheit vorhersehbar, zumal die Wahl des Weges nicht nur von religiösen Autoritäten abhängt, weil zunehmend die Bildungseliten in die Diskussion eingreifen und die öffentliche Diskussion beeinflussen. Erdal Toprakyaran: »Interreligiöser Dialog« zeigt die vielfältigen Versuche in Europa, zu einem Dialog zwischen Christen und Muslimen zu kommen. Der Beitrag verschweigt aber auch nicht die kritischen Einwände und Befürchtungen vieler Muslime gegenüber dem interreligiösen Dialog. Es fällt auf, dass die Länder mit islamischen Bevölkerungsmehrheiten weit weniger Anstrengungen in diese Richtung bislang unternommen haben, sei es, weil ihnen eine multireligiöse Vielfalt seit Jahrhunderten im Nebeneinander mehr vertraut ist als den Europäern oder weil ihnen das Miteinander bzw. Auf-einander-Zugehen in ihren traditionellen Milieus noch kein Anliegen ist. Es fällt sicher auf, dass einige Bereiche nicht durch eigene Kapitel vertreten sind. So fehlt im Beitrag von Peter Heine ein Abschnitt zur Architektur. Darauf wurde verzichtet, weil die Architektur sich seit der klassischen Zeit großer Beliebtheit erfreut und in der Moderne nicht umstritten war. Des weiteren fehlt ein Kapitel zur Mystik, weil sie mehrfach in den Beiträgen angesprochen wird, so dass sie nicht eigens thematisiert zu werden braucht.

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Richtungsvielfalt in der innerislamischen Diskussion

Die einzelnen Thematiken der drei Schwerpunkte haben gezeigt, wie vielgestaltig der Islam ist. Neben traditionellen Unterschieden zwischen den sunnitischen Rechtsschulen und den zur Schia zählenden Traditionen gibt es regional wie international eine Fülle anderer Auslegungsrichtungen, die zum Erscheinungsbild des Islam in der Moderne gehören. Jede Vorstellung vom Islam als homogenem Block muss daher aufgegeben werden. Es ist an der Zeit, die klassischen Stereotypen vom Islam als einer reformunfähigen, frauenfeindlichen und durch Autoritäten im Ausland gesteuerten Religion ad acta zu legen und stattdessen die vielfältigen Prozesse der Erneuerung in der innerislamischen Diskussion zur Kenntnis zu nehmen. Das soll nicht heißen, dass es die reformunwilligen Muslime oder die, die mit Gewalt für die Einführung der Scharia eintreten, nicht gäbe, aber sie sind bei weitem nicht repräsentativ für alle Muslime, deren Palette von den Extremisten über die Traditionalisten und Fundamentalisten bis zu den Reformfreudigen und Liberalen, den Kulturmuslimen und sogar in Deutschland bis zu den Ex-Muslimen reicht. Die öffentliche Debatte über den Islam in Westeuropa nimmt dagegen nur die konservativsten und aggressivsten unter ihnen zur Kenntnis. Sie gleicht daher der Debatte derer, die im 19. Jahrhundert in mehrheitlich protestantischen Ländern ähnliche Debatten über den Katholizismus geführt haben.1 Erinnert sei in diesem Zusammenhang aus noch früherer Zeit an das berühmte Diktum Friedrichs d. Gr. in Preußen, der bekanntlich schrieb: ... alle Religionen Seindt gleich und guht wan nuhr die leüte so sie profesiren Erliche leüte seindt und wen Türken und Heiden kähmen und wollten das Land Pöpliren, so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen. (Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, die sie ausüben, ehrliche Leute sind, und wenn Türken und Heiden kämen, so wollen wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen.)

»Dabei ging es dem König weder um die Muslime noch um die Heiden. Anlass zu seiner Antwort am Rand des Immediat-Berichts des General-Direktoriums vom 15.6.1740 war die Frage, ob es erlaubt sei, einem Katholiken das Bürgerrecht in Frankfurt [an der Oder] zu verleihen.«2 Die Parallele zu heutigen Debatten mit Blick auf die Integration von Muslimen in unsere Gesellschaft springt ins Auge. Wenn Integration nicht totale Assimilation meint, dann ist mit Aladin El-Mafaalani festzustellen, dass Integration nicht zu weniger, sondern zu mehr Problemen im gesellschaftlichen Aushandlungsprozess führt. Um dies verständlich zu machen, wählt er folgendes Beispiel:

1 Vgl. dazu Casanova, José: Europas Angst vor der Religion, Berlin 2009, 31–81; eine ähnliche Studie hat Samuel-Martin Behloul an der Universität Luzern 2009 in seiner Habilitationsschrift vorgelegt, in der er u. a. den heutigen Islam-Diskurs in der Schweiz mit den Katholizismus-Diskursen des 19. Jahrhunderts in den USA und im deutschen Kaiserreich vergleicht. 2 Antes, Peter: Religion und Integration. Die ambivalente Rolle der Religion, in Unimagazin. Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover, Ausgabe 03/04 2019, 8–11, hier 10 (Themenheft: Migration. Perspektiven der Forschung).

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Einleitung Die erste Generation der Einwanderer ist noch bescheiden und fleißig, beansprucht nicht volle Zugehörigkeit und Teilhabe. [...] Sie sitzen überwiegend am Boden oder am Katzentisch, während die Einheimischen am Tisch sitzen.3 Die ersten Nachkommen beginnen, sich an den Tisch zu setzen. In der zweiten Generation gelingt Integration zunehmend. Die Migrantenkinder sprechen deutsch, haben nie in einer anderen Heimat als Deutschland gelebt und sehen sich schon als Teil des Ganzen. Egal wie wir Integration definieren, hier findet sie statt. Und deshalb steigt das Konfliktpotenzial. Denn mehr Menschen sitzen jetzt am Tisch, wollen einen schönen Platz und wollen ein Stück vom Kuchen. Es geht hier also um Teilhabe an Positionen und Ressourcen. In der dritten Generation geht die Reise noch mal weiter. Die Enkel der Migranten möchten nicht nur am Tisch sitzen und ein Stück vom servierten Kuchen bekommen. Sie wollen mitbestellen. Sie wollen mitentscheiden, welcher Kuchen auf den Tisch kommt. Und sie wollen die alten Tischregeln, die sich entwickelt und etabliert haben, bevor sie dabei waren, mitgestalten. Das Konfliktpotenzial steigert sich weiter, denn nun geht es um die Rezeptur und die Ordnung der offenen Tischgesellschaft.4

Während in der Vergangenheit in der klassischen Gesellschaft die Ordnung in der Gesellschaft »von oben« (Gott, Götter, Weltordnung, Himmel) vorgegeben und durch den König durchgesetzt wurde, ist die gesellschaftliche Ordnung in modernen Gesellschaften das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses, folglich nie ein für allemal festgelegt sondern immer wieder neu auszuhandeln. Damit fallen alle göttlichen Wahrheiten unter intersubjektive Heilsvorstellungen, die der Staat sich nicht zu eigen machen darf. Er muss sie alle für sich bestehen lassen, weshalb er Toleranz üben muss und nur noch das von Menschen gemachte Recht durchsetzen kann.5 Damit sind gesellschaftliche Aushandlungsprozesse notwendig und Konflikte vorprogrammiert; sie sind aber zugleich das Movens für die Entwicklung einer Gesellschaft: Die Konflikte selbst sind es, die liberale Gesellschaften zusammenhalten. Die Vielheit in der Bevölkerung wird durch Aushandlungen und Streit zu einer Einheit. [...] Welche sozialen Innovationen oder sozialen Fortschritte wurden nicht durch Konflikte erstritten und erkämpft? Der Sozialstaat, die Demokratie, die Geschlechtergerechtigkeit, die sexuelle Befreiung, die Menschenrechte – alles, was heute wie selbstverständlich im Grundgesetz steht, ist das Ergebnis von Konflikten und ihrer – irgendwann – konstruktiven Bewältigung.6

Ziel allen Bemühens muss die Teilhabe sein: Ein Kennzeichen offener Einwanderungsgesellschaften ist es, dass alle, die wollen, zum Wir gehören können. Nicht Migration macht die offene Gesellschaft aus, auch in Russland und Saudi-Arabien findet beträchtliche Migration statt, sondern Integration und Teilhabe.7

3 El-Mafaalani, Aladin: Das Integrationsparadox: Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, Köln 2018, 77. 4 El-Mafaalani: Integrationsparadoxon, 78. 5 Vgl. dazu Gauchet, Marcel : La religion dans la démocratie. Parcours de la laïcité, Paris 1998, 13–18 [folioessais]. 6 El-Mafaalani: Integrationsparadoxon, 157. 7 El-Mafaalani: Integrationsparadoxon, 170.

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Daraus folgt für die Zukunft: Die offene Gesellschaft ermöglicht die Diskussion. Aber sie allein gibt noch keinen Sinn, kein Ziel und auch keinen Kompass vor. Sie ist die Arena, nicht das Spiel. In ihr kann über die Vergangenheit, die Gegenwart und ganz besonders intensiv über die Zukunft gestritten werden. Dabei sollte die Leitidee sein: Lieber mit etwas Neuem scheitern, als die schreckliche Vergangenheit zu wiederholen. Denn: Alles ist heute besser als früher, außer einem: die Zukunft. Und an der Zukunft kann man jetzt noch was ändern.8

Wer sich dem Ideal der Integration als Teilhabe im beschriebenen Sinne verweigert, muss sich dem Recht der Gesellschaft beugen. Dies ist das Erziehungsideal aller Schulgesetze in Deutschland und wird von der überwiegenden Mehrheit der Muslime in unserem Lande geteilt. Dass diesbezüglich noch Nachholbedarf in vielen Ländern mit islamischer Bevölkerungsmehrheit besteht, hängt sicher auch damit zusammen, dass die dortigen Gesellschaften bei weitem nicht so weltanschaulich und religiös plural zusammengesetzt sind, wie dies für West-, Mittelund Nordeuropa gilt, sodass dort noch im klassischen Sinne das Recht als »von oben« (Gott) angeordnet und durch die gesellschaftlich führenden Instanzen verordnet werden kann. Michael Blume hat allerdings darauf hingewiesen, dass es sowohl in den Ländern mit islamischer Bevölkerungsmehrheit als auch in der Diaspora eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Muslimen gibt, die damit schon längst nicht mehr übereinstimmen, sondern für sich den stillen Rückzug angetreten haben.9 Sie protestieren nicht gegen das bestehende traditionelle System in Ländern mit islamischer Bevölkerungsmehrheit noch äußern sie sich kritisch zu Islamforderungen von Islam-Verbänden in der Diaspora, sondern halten sich aus allem heraus, weshalb es unmöglich ist, ihren Prozentsatz regional wie international konkret zu bestimmen.

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Die Wahrnehmung des Islam in der nichtislamischen Welt und Öffentlichkeit

Sudhir Kakar hat die Entstehung und den Verlauf von Gewalt zwischen Hindus und Muslimen im Dezember 1990 in der südindischen Stadt Hyderabad untersucht. Nur 24 Stunden genügten, um die Spannungen eskalieren zu lassen. Nur wenn in dieser Zeitspanne die Ordnungskräfte eingreifen, lässt sich der Gewaltausbruch noch verhindern. Die Gruppen gehen dabei zuerst rhetorisch aufeinander los, indem sie sich gegenseitig als Stereotype und nicht mehr als individuelle Persönlichkeiten wahrnehmen sowie nur noch nach der Gruppenzugehörigkeit über einander sprechen: »Schaut nur, was die Hindus machen!« oder »Die Muslime haben wieder

8 El-Mafaalani: Integrationsparadoxon, 235. 9 Blume, Michael: Der Islam in der Krise. Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug, Ostfildern 2017.

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einmal alle Grenzen überschritten!«10 Hier ist ein Eingreifen notwendig, um Schlimmeres zu verhindern. Die Wurzeln von Gewalt liegen in diesen Gruppenzuschreibungen, wie wir sie oft auch bei uns in Talkshows erleben mit dem Ergebnis, dass die eine interviewte Person vom Publikum als repräsentativ für alle, die zu dieser Gruppe gehören, angesehen wird und jegliches Verhalten auf diese eine Gruppenzugehörigkeit reduziert wird. In Wahrheit hat aber jeder Mensch verschiedene Identitäten: eine als Elternteil, eine andere im Berufsleben, wieder eine andere in der Freizeit usw. Wenn all diese auf eine einzige – sei sie religiös, ethnisch oder historisch – reduziert wird, dann wird es – wie Amin Maalouf zutreffend schreibt – fatal.11 In einem Klima emotionaler Angst kann die Identifikation mit einer Gruppenzugehörigkeit auch als Folge eines Medienprinzips zum Problem werden. So hatte ich Herrn Simon Benne, einen Redakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ) darum gebeten, die Erklärung des Rates der Religionen in Hannover und insbesondere seiner muslimischen Mitglieder vom 6. November 2020 zur Verurteilung der »mutmaßlich islamistisch motivierten Terroranschläge in Nizza, Paris, Kabul, Dresden und Wien« an prominenter Stelle in der HAZ abdrucken zu lassen, um dadurch deutlich zu machen, dass nicht nur Herr Michael Fürst, der Vorsitzende des Jüdischen Landesverbandes Niedersachsen, und Herr Recep Bilgen, der Vorstandsvorsitzende der Schura Niedersachsen, des Landesverbandes der Muslime in Niedersachsen diese Terrorakte als nicht mit der Religion vereinbar ablehnen, sondern auch andere muslimische Vertreterinnen und Vertreter der Stadt dies tun. Lediglich eine kleine Notiz ist daraufhin am 7. November 2020 auf S. 23 in der HAZ erschienen, zu mehr konnte sich die Zeitung nicht durchringen. Herr Benne hat dies in einer Mail an die stellvertretende Vorsitzende des Rates der Religionen in Hannover, Frau Dr. Hamideh Mohagheghi, und an mich am 8. November 2020 folgendermaßen erklärt: Ein wenig liegt es auch im Wesen jeder Form medialer Berichterstattung, dass schlechte Nachrichten oft mehr Aufmerksamkeit erfahren als gute Nachrichten. Es ist ja unsere Aufgabe, den Finger in Wunden zu legen und Missstände anzuprangern. Hundert Muslime, die sich für Frieden einsetzen, werden nie so viel Aufmerksamkeit bekommen wie der eine Gewalttäter.

Kein Wunder, dass dadurch eine falsche Wahrnehmung in der Öffentlichkeit entsteht, die dringend einer Korrektur bedarf, wenn das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft nicht Schaden erleiden soll. Auch die wissenschaftliche Bearbeitung des Islam bedarf bisweilen noch größerer Sorgfalt hinsichtlich der Konsequenzen und Tragweite bestimmter Aussagen. So geht Florian Zimmin davon aus, dass »our language not only describes and

10 Kakar, Sudhir: Psychologische Mechanismen religiöser Gewalt, in Wunn, Ina/Schneider, Beate (Hrsg.): Das Gewaltpotenzial der Religionen, Stuttgart 2015, 203–213, hier 210 und 212. 11 Maalouf, Amin: Mörderische Identitäten, Frankfurt/M 2000.

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evaluates a given reality, but also helps to produce it.«12 Am Beispiel der Rede vom »Islamic Extremism« oder »Extremist Islam« zeigt er, dass damit jeweils ganz andere Deutungsmuster verbunden sind.13 Im Falle von »Islamic Extremism« ist der Oberbegriff der Extremismus, der auch eine islamische Variante hat, während »Extremist Islam« darauf hinweist, dass Extremismus eine Spielart von Islam ist und somit kontextuell ganz anders verortet ist als im zuerst genannten Fall. Das Beispiel zeigt, dass je nach dem Oberbegriff unterschiedliche Kontexte für die Deutung von Wirklichkeit entstehen. Sie alle vermitteln somit gedeutete Wirklichkeit, nicht aber die Wirklichkeit selbst. Deshalb ist es wichtig, sich über die Tragweite solcher Begrifflichkeiten Gedanken zu machen und zu fragen, welche Konsequenzen ihre Verwendung für die Wahrnehmung der Phänomene durch die öffentliche Diskussion haben wird und ob man diese möchte oder nicht.

Umschrift, Bibliographie und Dank Zum Schluss sei noch erwähnt, dass die Umschrift der orientalischen Begriffe, Orte und Namen nach der Umschrift der DMG erfolgt, es sei denn – was nicht selten der Fall ist – sie sind der Öffentlichkeit durch andere Umschriften vertraut. Wo dies der Fall ist, sind diese Umschriften beibehalten worden, auf eine wissenschaftlich korrekte Umschrift wurde in diesen Fällen verzichtet. Am Ende eines jeden Beitrages finden sich einige wenige Literaturhinweise, die zur Vertiefung des Gesagten anregen möchten. Belege für die Aussagen finden sich dagegen in den Anmerkungen. Ein besonderer Dank gilt dem Verlag Kohlhammer, insbesondere Herrn Dr. Sebastian Weigert und Herrn Daniel Wünsch für die gute Zusammenarbeit sowie Herrn Daniel Wünsch ganz besonders für die technische Umsetzung der Beiträge und für das Erstellen des Indexes, der nicht alle Stellen, sondern nur die inhaltsrelevanten verzeichnet, was sicher im Einzelfall die eine oder andere Inkonsequenz mit sich bringt, aber den Index vor einer verwirrenden Vielfalt von Seitenangaben bewahrt. Hannover im Dezember 2020 Peter Antes

12 Zemmin, Florian: »The Problem of Salafism, the Problem with ’Salafism’. An Essay on the Usability of an Academic Category to understand a Political Challenge«, in Hock, Klaus/ Käsehage, Nina (Hrsg.): ’Militant Islam’ vs. ’Islamic Militancy’? Religion, Violence, Category Formation and Applied Research, Contested Fields in the Discourses of Scholarship, Wien 2020, 117–141, hier 119. Als gutes Beispiel für eine solche Produktion kann die Rede vom religiösen Fundamentalismus dienen, vgl. dazu Antes, Peter: »New Approaches to the Study of the New Fundamentalisms«, in Antes, Peter/Geertz, Armin W./Warne, Randi R. (Hrsg.): New Approaches to the Study of Religion, Volume I: Regional, Critical and Historical Approaches (= Religion and Reason, vol. 42 [Paperback-Edition 2008]), Berlin-New York 2004, 437–449. 13 Zemmin: The Problem of Salafism, 118f.

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Regionale Darstellungen

Europa und der Orient Lutz Berger

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Die letzten 200 Jahre haben die Welt mehr verändert als alle Jahrhunderte zuvor seit der neolithischen Revolution, mit der die Landwirtschaft in der Menschheitsgeschichte Einzug gehalten hatte. Das gilt auch für den Nahen Osten. Die Forschung der letzten Jahrzehnte betont dabei immer wieder, dass es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Modernisierungsprozessen im Vorderen Orient und in Westeuropa gegeben habe. Die Modernisierung der Welt seit dem 19. Jahrhundert sei vielmehr ein vielfach ineinander verflochtener Prozess gewesen, an dem sowohl Westeuropa als auch alle anderen Gesellschaften der Welt ihren Anteil gehabt hätten.1 Eine derartige Sichtweise mag ihre Berechtigung haben. Sie berücksichtigt jedoch nicht ausreichend, dass in allen außereuropäischen Gesellschaften mit Ausnahme der europäischen Siedlungskolonien in Nordamerika und Ozeanien diese Prozesse im Regelfall in Abhängigkeit vom europäischen Zentrum des modernen Weltsystems ihren Anfang genommen haben. Sie wurden zudem über lange Jahrzehnte auch zu einem nicht unerheblichen Maß von diesem europäischen Zentrum und später seinem nordamerikanischen Nachfolger dominiert und gesteuert. Doch nicht allein diese Abhängigkeit vom europäischen Zentrum ist prägend für Modernisierungsprozesse in muslimischen Gesellschaften geworden. Es ist genauso der Umstand, dass jeder Schritt der Modernisierung dort immer nur als ein Nachholen dessen erschien, was in Westeuropa oder in Nordamerika, später auch in Ostasien, bereits erreicht war. Muslimische Gesellschaften, die über Jahrhunderte zu den reichsten und mächtigsten der Welt gehört hatten, waren nunmehr und sind bis heute Teil dessen, was man Dritte Welt nennt. Dies hat viele Verwerfungen ausgelöst. Wir haben es in der muslimischen Welt mit einer Variante jener multiple modernities zu tun, von denen der Soziologe S. N. Eisenstadt spricht. Dieses Konzept geht davon aus, dass Modernisierung zwar überall auf der Welt stattgefunden, sich aber außerhalb des westeuropäisch-nordamerikanischen Kernraums nach anderen, jeweils eigenen Entwicklungsgesetzen vollzogen habe. Für Eisenstadt ist die Vielfältigkeit der Moderne insbesondere ein Ergebnis des Fortlebens lokaler kultureller

1 Bayly, C.A.: The Birth of the Modern World, Oxford 2004. Im Folgenden Anmerkungen im Wesentlichen nur bei Forschungsdebatten und zum Verweis auf nicht im Literaturverzeichnis zu findenden Werken.

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Traditionen, die in unterschiedlicher Weise in das ursprünglich europäische Projekt der Moderne eingebaut wurden.2 Die Entstehung vielfältiger Modernen ist aber genauso ein Produkt des eben erwähnten Umstandes, dass Modernen außerhalb von Westeuropa und Nordamerika exogen und im Regelfall nachholend entwickelt wurden. Zudem liefen Prozesse der Modernisierung, die in Westeuropa ineinandergriffen, in der muslimischen Welt unabhängig voneinander und zeitversetzt ab. So hat eine Verstädterung ohne damit einhergehende starke Industrialisierung stattgefunden. Dies hat Auswirkungen auf weitere soziale Prozesse, etwa von Individualisierung, und auf das Funktionieren politischer Systeme. Ein typisches Beispiel eines solchen Modernisierungsprozesses, der in der muslimischen Welt zwar in gleicher Weise, aber doch langsamer verlief als im Westen, ist der demographische Wandel. Vormoderne Gesellschaften waren durch eine hohe Geburtenrate und eine ebenso hohe Sterberate geprägt, Bevölkerungswachstum fand nur schleppend statt. Obwohl Frauen viele Kinder bekamen, sorgte eine hohe Kindersterblichkeit dafür, dass nur wenige dieser Nachkommen sich ihrerseits fortpflanzten. Ein weiteres Hemmnis stellten sich regelmäßig wiederholende Katastrophen wie Hungersnöte und Seuchen dar, die dafür sorgten, dass einmal erzielte Bevölkerungsgewinne oftmals rasch wieder dahinschwanden. In Westeuropa waren Hungersnöte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts dank technischer Fortschritte in der Landwirtschaft und der Möglichkeit des Imports aus Überschussgebieten wie den USA eine meist kriegsbedingte Ausnahme. Mit gewisser Verzögerung wurde dies auch in der muslimischen Welt im 20. Jahrhundert zum Normalfall, wobei neben dem technischen Fortschritt auch hier in den letzten Jahrzehnten der Import von Lebensmitteln eine zunehmend größere Rolle spielte. Der medizinische Fortschritt, insbesondere im Bereich der Hygiene, sorgte ab dem Ende des 19. Jahrhunderts und dann vor allem ab dem Zweiten Weltkrieg auch in der muslimischen Welt dafür, dass in einem nächsten Entwicklungsschritt die Kindersterblichkeit zurückging und sehr viel mehr Kinder als zuvor ins fortpflanzungsfähige Alter kamen. In gleichem Maße nahm auch die Lebenserwartung der Erwachsenen zu. Der Abfall der Sterberate geht überall auf der Welt mit einer zunächst nach wie vor hohen Geburtenrate einher. Die Folge ist ein rapides Bevölkerungswachstum. Dieses rapide Bevölkerungswachstum nimmt schließlich langsam ab, weil die Menschen insbesondere in den Städten und da, wo sie über Zugang zu Bildungseinrichtungen verfügen, dazu neigen, weniger Kinder zu bekommen. In Westeuropa setzte dieser Prozess bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein und mündete schließlich in einem Zustand, in dem die Bevölkerung, sieht man von Wanderungszugewinnen ab, angesichts niedriger Geburtenraten sogar zu schrumpfen begann. In der muslimischen Welt können wir mit einer gewissen zeitlichen Verschiebung die gleiche Entwicklung beobachten. Der Höhepunkt des Bevölkerungswachstums lag in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Danach nahm die Zahl der Geburten merklich ab. Die Bevölkerung wächst allerdings weiterhin, da viele junge 2 Eisenstadt, S.N.: »Multiple Modernities« in: Daedalus, Vol. 129, (2000) No. 1, 1–29.

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Frauen im gebärfähigen Alter sind. Insbesondere seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts können wir aber auch in vielen Ländern des Vorderen Orients, wie etwa in Tunesien und Iran, beobachten, dass die Zahl der Geburten pro Frau kaum mehr über der Reproduktionsrate liegt, vor allem in der Stadt. Die Abnahme der Geburtenrate ist in der muslimischen Welt insbesondere in solchen Ländern zu beobachten, in denen der Bildungsgrad der Frauen besonders hoch ist. Andernorts vollzieht sich der Prozess langsamer. Die Richtung ist allerdings überall die gleiche.3 Sowohl in Westeuropa als auch in der muslimischen Welt sind Phasen besonders starken Bevölkerungswachstums geprägt durch eine hohe Auswanderungsneigung. Diese hat damit zu tun, dass die Möglichkeiten, Arbeit zu finden, für die nunmehr starke junge Generation insbesondere auf dem Lande nicht ausreichen. Junge Menschen ziehen folglich in die Stadt oder versuchen in anderen Staaten oder gar auf anderen Kontinenten ihr Glück. Die Existenz von europäisch beherrschten oder geprägten Einwanderungsländern insbesondere in Nordamerika hat dies für Europäer des 19. Jahrhunderts deutlich vereinfacht. Den Menschen in der muslimischen Welt stellte sich die Situation in der ersten Phase des rapiden Bevölkerungswachstums bis zum Beginn der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts ganz ähnlich dar wie jenen in Europa einige Jahrzehnte zuvor. Viele zogen zunächst in die Städte. Während der Zeiten der Hochkonjunktur in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg waren zudem viele westeuropäische Länder bereit, Arbeitskräfte aus den ehemaligen Kolonien und generell aus den Ländern der Dritten Welt aufzunehmen, und haben diese aktiv angeworben. Auch der Öl-Boom in den Golfstaaten hat dafür gesorgt, dass viele Menschen aus Ländern mit hohem Bevölkerungswachstum, aber geringen wirtschaftlichen Entwicklungsstandes am Golf Arbeit finden konnten. Auswanderung ist in den letzten Jahrzehnten politisch zunehmend problematisch geworden. Die Ölstaaten bevorzugen Arbeitskräfte aus Süd- und Südostasien, die weniger Forderungen nach Gleichberechtigung stellen als arabische Arbeiter. In Westeuropa hat die schwierige wirtschaftliche Lage ab den 1970er Jahren und eine Zunahme ausländerfeindlicher, insbesondere auch islamfeindlicher Ressentiments in den letzten Jahrzehnten ebenfalls dazu geführt, dass die Einwanderung von Menschen vor allem aus der Dritten Welt kritisch gesehen wird. Hier wie dort haben diese Widerstände aber nicht zu einem Ende der Einwanderungsprozesse geführt. Diese dauern fort, solange die Ungleichheit der ökonomischen Lebenschancen anhält. Da es nunmehr in allen Einwanderländern starke Diaspora-Gemeinschaften aus den Herkunftsländern gibt und die Verkehrs- und Kommunikationsbedingungen sich seit den 60er Jahren deutlich verbessert haben, ist Auswanderung trotz des eben Gesagten in mancher Hinsicht sogar einfacher geworden. Im Zusammenhang mit dem demografischen Übergang zur Moderne steht der Prozess der Verstädterung, der bereits angesprochen wurde. In vormodernen Agrargesellschaften überall auf der Welt lebte die große Mehrheit der Menschen auf dem Lande. Im Zuge der Modernisierung fand ein tiefgreifender Wandel statt, so dass schließlich überall auf der Welt die städtische Bevölkerung die Mehrheit dar3 Melanie Cammett, Melanie u. a.: A Political Economy of the Middle East, Boulder 2015, 125ff.

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stellte. Das gilt auch im Nahen Osten. Ähnlich wie der demografische Übergang zur Moderne vollzog sich der Verstädterungsprozess in der islamischen Welt deutlich später als in Westeuropa. Erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Entwicklung hier richtig Fahrt auf. Anders als in Westeuropa war sie nicht begleitet von einer raschen Industrialisierung. Obwohl viele Städte schnell an Bevölkerung gewannen, führte die fehlende Industrialisierung dazu, dass ein entsprechender Wandel der Wirtschafts- und Sozialstruktur nicht stattfand und vielfach (eine wichtige Ausnahme stellen die Türkei und die muslimischen Länder Südostasiens dar) bis heute ausgeblieben ist. Fabriken bieten nur wenigen Menschen Arbeit. Der Erwerb des Lebensunterhalts ist für die neuen Stadtbewohner schwierig. Soziale Netzwerke auf der Basis von Religion oder Herkunft spielen so für das Überleben der neuen städtischen Bevölkerung nach wie vor eine sehr große Rolle. Ohne Verwandte und andere Kontakte ist kein soziales Fortkommen möglich; Lebensrisiken wie Krankheit und Alter sind nicht zu bewältigen. Die durch die moderne Industriegesellschaft und mehr noch den Sozialstaat ermöglichten Prozesse der Individualisierung haben somit in der islamischen Welt ein deutlich schwierigeres Umfeld.4 Wenn so auch viele der Strukturen der vormodernen Gesellschaft in den Großstädten des Vorderen Orients nach wie vor lebendig sind, hat sich dennoch viel gewandelt. In der Vormoderne haben Frauen der Unterschichten auf dem Lande wie in der Stadt immer gearbeitet. Frauen der Mittel- und Oberschicht insbesondere in den Städten waren dagegen im Regelfall den größten Teil ihres Lebens im Hause. Ab den 1920er Jahren wandelte sich dies, zunächst langsam, dann ab den 50er Jahren immer schneller. Die Frauen der Mittel- und Oberschicht hatten Anteil an der Bildungsexpansion, die die Länder der muslimischen Welt nach Ende der Kolonialepoche kennzeichnete, und suchten mehr und mehr ihren Platz auch im Berufsleben. Damit gerieten traditionelle Modelle von Geschlechtertrennung, wie sie islamische Gesellschaften überall auf der Welt kennzeichnen, ins Wanken. Zunehmende westlich geprägte Bildung junger Frauen und Männer führte zudem dazu, dass sie für sich mehr und mehr moderne Formen von Familienleben wählten, die nicht auf der Verbindung zweier Familienverbände, sondern auf individueller Liebe und Partnerschaft beruhen. Nichtsdestoweniger haben sich traditionelle Muster von Familie in der muslimischen Welt stärker erhalten als im Westen. Auch ist die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt nach wie vor weniger fortgeschritten als in Westeuropa und vielen anderen außereuropäischen Kulturen. Dies gilt, obwohl das Bildungsniveau von Frauen und Mädchen in muslimischen Gesellschaften weltweit sich zunehmend an das der Männer angleicht, ja dieses sogar übertrifft. Diese Bildungsfortschritte vollziehen sich auf dem Lande und in den Unterschichten allerdings meist langsamer. Die vormodernen muslimischen Normen der Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum, die in den Städten im Laufe der ersten 70 Jahre des 20. Jahrhunderts zunehmend ins Wanken geraten waren, werden in den letzten Jahrzehnten wieder verstärkt eingefordert. In der Praxis ist die Mischung der Ge4 Ibid., 141ff. und passim.

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schlechter allerdings im städtischen Alltag heute fortgeschrittener denn je, ohne dass damit für die meisten Menschen eine Liberalisierung der Normen des Sexuallebens einhergegangen wäre. Diese Normen sind dabei oft einfach traditionell, werden von den Betroffenen aber im Regelfall mal mit, mal ohne Bezug auf Vorschriften des Gelehrtenislams religiös begründet. Ein anderer Modernisierungsprozess, der für Westeuropa in den vergangenen 200 Jahren prägend war, ist die durchgreifende Säkularisierung aller gesellschaftlichen Bereiche. Organisierte und kollektive religiöse Praxis spielen heute für die meisten Menschen in Westeuropa keine entscheidende Rolle mehr. Die religiöse Zugehörigkeit ist nur noch in den seltensten Fällen ein zentraler Marker von Identität. Dieser Säkularisierungsprozess hat sich in Europa nicht ohne Kämpfe vollzogen. Diese waren insbesondere in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg meist zentral für die politische Positionierung einer Person. Erst die Auseinandersetzung um Sozialismus (und zeitweilig Faschismus) hat die Frage nach der öffentlichen Rolle der Religion als zentralen Faktor im europäischen politischen Tageskampf an Bedeutung verlieren lassen. Nach einem zeitweiligen Aufschwung des Einflusses der Religion unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg spielt sie heute für die meisten Menschen nur noch bei der Bereitstellung von rites de passage (Taufe, Heirat, Beerdigung) eine Rolle. Die Berufung auf konkrete religiöse Normen im Kontext politischer Forderungen ist dagegen selten und stößt vielfach auf Unverständnis. Mit diesem Rückgang der Bedeutung traditioneller religiöser Strukturen geht nicht für alle eine Entzauberung der Welt (d. h. insbesondere eine Vernaturwissenschaftlichung des Weltbildes) einher. Der Glaube an Esoterik bleibt aber in Westeuropa in der Regel ein individuelles, kaum kollektiv identitätsstiftendes Phänomen. In der muslimischen Welt hat sich dieser Säkularisierungsprozess nicht in gleicher Weise vollzogen. Dass Religion in muslimischen Gesellschaften weltweit heute eine größere Rolle spielt als in Westeuropa, hat sicher zu einem guten Teil mit der eben beschriebenen Bedeutung sozialer Netzwerke in Gesellschaften der Dritten Welt zu tun. Andere Faktoren kommen aber hinzu. Kritik an Religion war und ist in muslimischen Ländern im Regelfall exogener Natur. Insbesondere in der Periode des Imperialismus und Postimperialismus war die Religion für viele Menschen einer der wenigen Ankerpunkte, der ihr eigenes Selbstbewusstsein heben konnte. Man lebte in einer Welt, die sich nicht nach den Regeln der eigenen, sondern nach denjenigen fremder Gesellschaften rapide wandelte. In den neuen Eliten fanden und finden sich immer wieder einzelne, die sich moderne westliche Konzepte von Religionskritik zu eigen machen. Für die meisten Menschen war das keine gangbare Strategie. Da die Religion auch mit den Werten von Familie und anderer Formen sozialer Gemeinschaft identifiziert wurde und wird, bot sie oft den einzigen sozialen und ideellen Halt.5 Man mochte zwar weniger mächtig als die Europäer sein, man war ihnen aber auf moralischer Ebene dank der wahren Religion überlegen.

5 https://www.fu-berlin.de/sites/gpo/int_bez/globalisierung/Politik__Islam_und_Gender_im_ Vorderen_Orient/renate_kreile.pdf.

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Es wäre freilich falsch, die besondere Bedeutung von Religion für nahöstliche Gesellschaften als dem Islam inhärent anzusehen. Zum einen hat Religion in den 50er und 60er Jahren, als man berechtigterweise die Hoffnung hegen konnte, dass es den Nationalstaaten des Vorderen Orients gelingen würde, einen Modernisierungsprozess in Gang zu setzen, der die Bedürfnisse der Menschen befriedigt, eine vergleichsweise geringere Rolle gespielt als in unserer Gegenwart. Zum anderen ist auffällig, dass auch in den USA trotz der dort in vielerlei Hinsicht sehr viel weiter fortgeschrittenen Modernisierungsprozesse Religion nach wie vor eine sehr viel größere Rolle spielt als in Westeuropa. Der Bedeutungsverlust der Religionen in Westeuropa erscheint so als ein ganz eigenes Phänomen, das unter Umständen erklärungsbedürftiger ist als die immer noch große Bedeutung von Religion in muslimischen Gesellschaften. Im Vorderen Orient ist diese zudem sowohl für Muslime wie für Christen und in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch für die jüdische Bevölkerung Israels zu konstatieren.6 Ein weiterer Modernisierungsprozess, der die muslimischen Gesellschaften in den letzten zwei Jahrhunderten geprägt hat, ist der Übergang von vormoderner, oft imperialer Staatlichkeit zu modernen Formen politischer Ordnung, die sich insbesondere im Nationalstaat manifestieren. Die heutigen Nationalstaaten gehen dabei nur in manchen Fällen auf vor dem 19. Jahrhundert bestehende politische Einheiten zurück (i. B. Ägypten, Marokko, Tunesien, in gewisser Weise auch Iran). Im Regelfall waren es die europäischen Imperialisten, die die Grundlage für die Entstehung moderner, sich antiimperialistisch gerierender Nationalstaaten im Vorderen Orient und in der übrigen muslimischen Welt gelegt haben. Es sind die Grenzen, die die imperialistischen Machthaber aus Europa gezogen haben, die heute als die natürlichen Grenzen politischer Ordnung erscheinen. Versuche, über diese nationalstaatliche Ordnung hinaus supranationale Ordnungen zu etablieren, insbesondere die Arabische Liga, dürfen als gescheitert betrachtet werden. Die auf die Kolonialzeit zurückgehenden Staaten stellen so für die Menschen der muslimischen Welt in den meisten gesellschaftlichen Kontexten die zentralen Ordnungsfaktoren dar. Über ein immerhin zu konstatierendes Mindestmaß hinaus sind sie häufig nicht in der Lage, die Ausbildung und Gesundheitsversorgung oder auch das Vorhandensein einer grundlegenden Infrastruktur auf ihrem Territorium sicherzustellen. Sie sind allerdings in aller Regel, und das seit vielen Jahrzehnten, sehr wohl fähig, Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten und damit die Fortdauer der Herrschaft der jeweils bestehenden politischen Eliten zu ermöglichen. Nichtsdestoweniger übertreffen die Leistungen des modernen vorderorientalischen Staates in Bezug auf die Daseinsvorsorge für seine Bewohner die Möglichkeiten vormo-

6 Umfassende Untersuchungen von Säkularisierungsprozessen in der muslimischen Welt fehlen noch. Ein Teilbereich wird behandelt in: Kogelmann, Franz, Die Entwicklung des islamischen Stiftungswesens im postkolonialen Staat. Prozesse der Säkularisierung in Ägypten, Algerien und Marokko, in: Meier, Astrid u. a. (Hrsg.), Islamische Stiftungen zwischen juristischer Norm und sozialer Praxis, Berlin 2009, 233–260. Hilfreiche Einblicke gewähren die Erhebungen des Pew Research Center: https://www.pewforum.org/.

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derner imperialer und nicht-imperialer Staatlichkeit in der islamischen Welt bei weitem. Das Gleiche gilt in noch stärkerem Maße für die Fähigkeit moderner Staaten der Region, ihre Bürger politisch zu kontrollieren und in ihren Alltag, ja sogar in intimste Bereiche ihres Privatlebens vorzudringen. Der folgende Überblick wird zunächst die Geschichte des Vorderen Orients in vier Etappen näher ins Auge fassen: erst die Phase der beginnenden Reform bis 1870, dann die Epoche der imperialistischen Durchdringung von 1870 bis nach dem Ersten Weltkrieg, weiter die Phase nationalistischer Ideologien und der auf Nationalstaaten beruhenden antiimperialistischen Befreiungsideologien und endlich die Zeit ab 1970. Diese ist von der Enttäuschung gegenüber nationalistischen Ideologien und über die nicht eingelösten Modernisierungsversprechen der vorderorientalischen Nationalstaaten geprägt. In dieser Phase erscheint ein stark politisiertes Verständnis von Islam als dominante Ideologie. Gleichzeitig ist fast überall die Stabilität autoritärer politischer Systeme durch klientelistische Strukturen und in vielen Staaten auch durch Renteneinnahmen, die von den Mächtigen an die Bevölkerung verteilt werden können, gewährleistet. Diese erstaunlich stabilen Strukturen sind im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert zunehmend in Frage gestellt worden, insbesondere von Seiten der gut ausgebildeten städtischen Bevölkerung. Ideologisch konnten die Oppositionellen dabei durch den politischen Islam, im frühen 21. Jahrhundert dann auch erneut durch westliche Modelle von Demokratie geleitet werden. Die Revolutionen nach 2010 haben diese politischen Systeme teils nur an der Oberfläche berührt, teils aber auch zum völligen Zusammenbruch staatlicher Ordnung geführt. Im Anschluss an diese Überblicksdarstellung vorderorientalischer Geschichte werden kontrastierend dazu die Verhältnisse sowohl auf dem indischen Subkontinent als auch in Südostasien dargestellt. Ein großer Teil dessen, was über den Vorderen Orient zu sagen ist, gilt freilich auch hier.

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Der Vordere Orient von 1800 bis 1870

Viele Jahrhunderte lang waren die muslimischen Gesellschaften den europäischen militärisch überlegen gewesen. Das Blatt wendete sich im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert, zunächst unmerklich, dann immer deutlicher. In den sogenannten Türkenkriegen gelang es den Österreichern und ihren Verbündeten, später auch Russland, die osmanische Vorherrschaft auf dem Balkan und im Bereich des Schwarzen Meeres mehr und mehr ins Wanken zu bringen. Die Briten verstanden es ab der Mitte des 18. Jahrhunderts, ihre Herrschaft über Bengalen auf immer weitere Teile des indischen Subkontinents auszuweiten und lokale Fürsten zu ihren Klienten zu machen. War dies alles für muslimische Herrscher bereits beunruhigend, so mussten die Entwicklungen während der französischen Revolutionskriege den Verantwortlichen im Vorderen Orient endgültig die Augen für die Notwendigkeit eines tiefgreifenden Wandels im militärischen Bereich öffnen. Ein französisches Expeditionskorps unter Napoleon Bonaparte eroberte im Jahr 1798 Ägypten und unterwarf den ägyptisch-syrischen Raum für einige Jahre französischer Herrschaft.

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Der osmanische Sultan wie die ägyptischen Provinztruppen standen den Ereignissen weitgehend hilflos gegenüber. Bereits ab der Mitte des 18. Jahrhunderts hatten die Osmanen versucht, sich mit Hilfe ausländischer, insbesondere französischer, aber auch ungarischer Offiziere militärtechnisch auf den neuesten Stand zu bringen. Sultan Selim III. (reg. 1789–1807) hatte nach seiner Thronbesteigung in Korrespondenz mit dem französischen König gestanden und es unternommen, eine neue, nach europäischem Muster ausgebildete Truppe aufzustellen. Dieser Versuch der militärischen Modernisierung stieß jedoch auf den Widerstand der traditionellen Kräfte innerhalb der Armee, insbesondere der wichtigsten Infanterieeinheiten, der Janitscharen. Deren Aufstand gegen den Sultan im Jahr 1807 führte zu seiner Absetzung und schließlich zu seiner Ermordung im folgenden Jahr. Der Versuch tiefgreifender militärischer Veränderungen im Zentrum des Osmanischen Reiches konnte somit zunächst als gescheitert angesehen werden. Es war nicht das Zentrum, sondern die ägyptische Provinz des Osmanischen Reiches, von der nach Abzug der Franzosen die Erneuerung im vorderorientalischen Militär ausging. Ein vom Balkan entsandter Gouverneur, Mehmet Ali Pascha, versuchte, die traditionelle militärische Elite Ägyptens, die Mamluken-Armee, die seit dem Mittelalter das Land unter osmanischer Oberherrschaft verwaltet und ausgebeutet hatte, zu beseitigen. Die Führer der Mamluken wurden hingerichtet, und Mehmet Ali Pascha begann, eine neue, zunächst aus sudanesischen Sklaven rekrutierte Truppe aufzustellen. Als dies an der hohen Sterblichkeit der neuen Sklavensoldaten scheiterte, entschied Mehmet Ali sich für Wege der Rekrutierung, wie es sie im muslimischen Vorderen Orient seit den ersten Jahrhunderten des Islams nicht mehr gegeben hatte: Er führte eine allgemeine Wehrpflicht ein, der insbesondere auch die ägyptischen Bauern unterworfen wurden. Dass die ägyptischen Bauern an ihrer Rekrutierung keine große Freude hatten und sich dieser, soweit es ging, zu entziehen suchten, tat dabei nichts zur Sache. Für die Ausrüstung seiner Truppen gründete Mehmet Ali Fabriken, in denen zum Teil sogar Dampfmaschinen eingesetzt wurden. Er entsandte Ausbildungsmissionen nach Europa, mit deren Hilfe Angehörige der politischen und militärischen Elite in modernen europäischen Wissenschaften ausgebildet werden sollten, vor allem soweit sie für das Militär von Bedeutung waren. Auf diese Weise gelang es Mehmet Ali, eine Armee aufzustellen, die deutlich stärker war als die Truppen der osmanischen Zentralregierung, als deren Gouverneur er über Ägypten herrschte. Ab dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts waren die Ägypter so für einige Zeit die stärkste Militärmacht im Nahen Osten. Sie unterwarfen 1818 im Namen des Sultans die rebellischen Wahhabiten auf der arabischen Halbinsel. Sie kämpften in den 1820er Jahren im Auftrag des Sultans gegen die griechischen Aufständischen auf der Peloponnes und wandten sich schließlich ab den 1830er Jahren gegen die Zentralregierung selbst. Die erfolgreich vorrückenden ägyptischen Truppen bedrohten sogar die Hauptstadt Istanbul. Allein dem Eingreifen der Briten und Russen war es zu verdanken, dass das Osmanische Reich diese schwere Krise unbeschadet überstand. Keine der beiden Mächte wollte ein potentiell gefährliches Ägypten an die Stelle des geschwächten Osmanischen Reiches treten sehen. Mehmet Ali wurde mit der erblichen Würde

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eines Gouverneurs über Ägypten betraut, musste aber weitergehende Herrschaftsansprüche aufgeben. Gleichzeitig erzwangen die Briten die Öffnung des ägyptischen Marktes für britische Importe. In der Forschung ist strittig, ob damit ein eigenständiger ägyptischer Weg zur Industrialisierung zunichtegemacht worden ist. Um die für seine neuartige Armee notwendigen Ressourcen zu gewinnen, hatte Mehmet Ali nämlich nicht allein den Steuerdruck auf die Landbevölkerung erhöht. Er bemühte sich gleichzeitig um eine erhöhte landwirtschaftliche Produktivität. Dies und die bereits erwähnten Fabriken haben unzweifelhaft eine gewisse wirtschaftliche Dynamik in Gang gesetzt. Anders als in den sich industrialisierenden Regionen Europas geschah dies hier aber durch den Einsatz außerökonomischen Zwangs: Nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiteten die Bauern in den Fabriken, sie wurden staatlicherseits dazu verpflichtet. Der im Vergleich zu Westeuropa geringere Bildungsstand der Bevölkerung tat ein Übriges, der Verwendung von komplexeren Maschinen Grenzen zu setzen. Insofern unterschieden sich die Versuche, in Ägypten staatlicherseits eine wirtschaftliche Modernisierung im Interesse der Armee zu organisieren, von vorneherein deutlich vom britischen Modell. Nach der Marktöffnung waren die Produkte der ägyptischen Fabriken trotz der Transportkosten der Importeure genauso wenig konkurrenzfähig wie die ägyptischen Truppen gegen das europäische Militär. Die Modernisierungsbemühungen Mehmet Alis wurden trotz aller Probleme von seinen Nachfolgern fortgesetzt. Ägypten wurde so im späten 19. Jahrhundert zum fortschrittlichsten Land des Vorderen Orients. Das galt insbesondere für die Infrastruktur, für die Weltläufigkeit der Elite und die Öffnung zum Weltmarkt, für den man insbesondere Baumwolle lieferte. Die Autonomie Ägyptens darf dabei nicht mit der Entstehung eines ägyptischen Nationalstaats gleichgesetzt werden. Die führenden Kreise des Landes, insbesondere die Umgebung des Gouverneurs, stammten häufig vom Balkan und verstanden sich als Osmanen. Arabischsprachige Ägypter (außerhalb der islamischen Gelehrtenschaft) konnten sich erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Gehör verschaffen.7 Dass der Sultan in Istanbul gegen seinen übermächtigen ägyptischen Gouverneur schließlich die Europäer zur Hilfe hatte rufen müssen, lag an der Schwäche der osmanischen Zentralregierung. Die bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts vorgenommenen Militärreformen waren entweder nicht weit genug gegangen oder – wie wir sahen – am Widerstand militärischer Interessengruppen gescheitert. In Ostanatolien, den arabischen Provinzen, aber auch auf dem Balkan, der wirtschaftlich wie politisch bedeutendsten Region des Reiches, war die Kontrolle des Sultans über weite Regionen recht eingeschränkt. Lokale Kleinfürsten bestimmten das Bild. Eine Reihe von diesen machte dem Aufstand gegen Selim III. ein Ende und setzte nach dessen Ermordung durch die Aufständischen einen neuen Sultan, Mahmud II. (reg. 1808–1839), ein. Angesichts der Umstände des Todes seines Cousins und Vorgängers

7 Die Debatte um eine ägyptische Industrialisierung unter Mehmet Ali findet sich knapp zusammengefasst bei: Fahmy, Khaled: Mehmed Ali: from Ottoman Governor to Ruler of Egypt, Oxford 2009, 120ff. Vgl. auch Anm. 8.

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Selim war dieser jedoch zunächst sehr vorsichtig, wenn es darum ging, die Erneuerung des Militärs und des Staatsapparates voranzutreiben. Er war bemüht, keine der wichtigen Interessengruppen in der Hauptstadt vor den Kopf zu stoßen. Zunächst suchte er daher noch mit Hilfe der alten Truppen die Kontrolle über den Balkan wiederzugewinnen. Erst Mitte der 20er Jahre nahm er die Modernisierungsbestrebungen wieder auf. Wie in Ägypten begannen die Militärreformen mit der gewaltsamen Ausschaltung von potentiell renitenten Teilen der bisherigen Armee. Im sogenannten »Heilsamen Vorfall« des Jahres 1826 wurde die Janitscharen-Truppe ausgeschaltet. Ihre Angehörigen in der Hauptstadt wie in der Provinz wurden, soweit sie nicht in die neue Armee integriert wurden, verfolgt und umgebracht. Eine moderne, nach europäischen Maßstäben ausgerüstete und trainierte Truppe sollte an ihre Stelle treten. Diese war zwar zunächst nicht stark genug, Mehmet Ali und seine ägyptischen Soldaten in die Schranken zu verweisen, sie war aber sehr wohl in der Lage, sowohl auf dem Balkan als auch in Anatolien und, nach der erwähnten Unterwerfung Mehmet Alis, in den ostarabischen Provinzen Syrien und Irak der osmanischen Zentralregierung wieder zu Autorität zu verhelfen. Die Epoche der Dezentralisierung, die das Osmanische Reich seit dem 17. Jahrhundert geprägt hatte, ging zu Ende. Der hier im osmanischen Kontext beobachtete Prozess von Dezentralisierung im 17. und 18. Jahrhundert und Rückkehr der Zentralmacht im 19. Jahrhundert ereignete sich in ähnlicher, aber deutlich abgeschwächter Weise in Iran. Hier kam es im 18. Jahrhundert zum Zerfall des safawidischen Reiches unter wiederholten Angriffen nomadischer Gruppen. Dies geschah sowohl von der Peripherie her als auch aus dem Zentrum des Reiches selbst heraus. Erst ganz am Ende des 18. Jahrhunderts verstand es eine dieser nomadischen Gruppen, der Stammesverband der Kadscharen, das iranische Territorium wieder zu einen und eine neue, bis zum Jahr 1925 herrschende Dynastie zu begründen. Diese hatte ihr Zentrum nicht mehr wie die Safawiden im Südwesten des Landes, sondern in Teheran. Die Herrschaft der Kadscharen erstreckte sich zwar über das gesamte Territorium des heutigen Iran und einige Randgebiete im Norden und Osten. Die Kadscharen waren jedoch deutlich weniger als die Osmanen im 19. Jahrhundert in der Lage, das ganze Land einheitlichen Regeln zu unterwerfen. In den Provinzstädten residierten lokale Angehörige der Herrscherfamilie und herrschten im Bündnis mit lokalen Eliten. Kontakte zur Hauptstadt blieben, auch wegen der bis weit ins 20. Jahrhundert schwierigen Verkehrsbedingungen, eher selten. Im Vergleich zu den Nachbarn im Osten erschien das Staatswesen der Osmanen im 19. Jahrhunert als ein Hort der Modernität. Nachdem die Militärreformen die Autorität des Zentrums wiederhergestellt hatten, begannen in den 1830er Jahren tiefgreifende Reformen, die man »Reorganisationsmaßnahmen«, osmanisch-türkisch tanzimat, nannte. In einem sultanischen Erlass, der nicht zufällig auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen mit Mehmet Ali erging, wurde allen Untertanen Sicherheit von Leben und Eigentum zugestanden. Gleichzeitig wurde grundsätzlich die Gleichberechtigung der Nichtmuslime mit den Muslimen gewährt. Dieser Erlass war nicht allein im Interesse der Nichtmuslime, das den Europäern besonders am Herzen lag. Er diente mit der erstgenannten Bestimmung mehr noch

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den Interessen der weit überwiegend muslimischen Angehörigen der Bürokratie. Bis dahin war es für den Sultan möglich und gängige Praxis gewesen, missliebig gewordene Bürokraten nicht nur abzusetzen, sondern auch hinzurichten und ihr Vermögen einzuziehen. Nunmehr waren Leib und Leben der führenden Männer des Staates geschützt. Die Jahrzehnte zwischen 1840 und 1880 stellen den Höhepunkt bürokratischer Herrschaft im späten Osmanischen Reich dar. Die hohen Bürokraten, frei von Furcht und dank ihrer im diplomatischen Dienst und durch Lektüre erworbenen Kenntnisse europäischer Verhältnisse unverzichtbar, trieben die Reformen im gesamten Reich voran. Zu diesen Reformen gehörte insbesondere die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht nach ägyptischem Vorbild. Diese wurde allerdings nur gegenüber den Muslimen wirklich durchgesetzt. Die Christen wurden des Prinzips der Gleichberechtigung ungeachtet gegen Zahlung einer Ersatzsteuer von der Wehrpflicht ausgenommen. Man bemühte sich auch um Reformen im Steuerwesen. Diese waren für jede Modernisierung des Staates, die ja ohne eine Verbreiterung der Finanzbasis nicht möglich war, zentral. Die Steuerlast der osmanischen Untertanen war bislang geringer als die etwa der Briten gewesen. Die Eintreibung der Gelder oblag im Osmanischen Reich privaten Pächtern, die dem Staat gegenüber in Vorleistung traten und dafür das Recht der Steuererhebung erhielten. Dieses System der Steuerpacht sollte nun abgeschafft werden. Die bürokratischen Mechanismen für die Einrichtung einer umfassenden zentralisierten Steuereinnahme waren aber im Reich nicht vorhanden. Insofern wurde allen Absichtserklärungen zum Trotz auch in den folgenden Jahrzehnten ein großer Teil der Steuern weiter auf dem Wege der Steuerpacht eingenommen. Die Steuerpächter waren im Regelfall Angehörige der Großgrundbesitzerelite, die sich seit dem 18. Jahrhundert im Osmanischen Reich herausgebildet hatte. Zwar war im Prinzip aller Grund und Boden Eigentum des Sultans. In der Realität allerdings war es einigen reichen Bauern, Angehörigen der militärischen Eliten, Geldverleihern und ähnlichen Personen gelungen, in den Besitz von Grund und Boden zu kommen, indem sie Bauern Geld oder Saatgut vorstreckten. Diese agrarische Elite profitierte besonders von den Reformen und den neuen ökonomischen Bedingungen des 19. Jahrhunderts. Dies gilt in zweierlei Hinsicht: zum einen insofern, als durch das osmanische Landgesetz des Jahres 1858 der bis dahin rein informelle Grundbesitz nunmehr in reguläres Eigentum überführt wurde. Die meisten Bauern waren zu uninformiert oder, da sie Steuerforderungen in der Folge fürchteten, auch nicht interessiert daran, ihr Eigentum beim Katasteramt registrieren zu lassen. Sie waren insofern ganz froh, wenn der Steuerpächter, ein hoher Beamter oder ein Stammesoberhaupt ihnen diese Aufgabe abnahm und ihr Land in seinem Namen registrierte. Die neuen Großgrundbesitzer profitierten aber nicht alleine in rechtlicher Hinsicht von den Reformen. Sie profitierten auch insofern, als sich gleichzeitig eine Öffnung des Osmanischen Reiches gegenüber dem Weltmarkt vollzog. Dies gilt nicht zuletzt für Baumwolle, die sich dank der Industriellen Revolution in Großbritannien im 19. Jahrhundert einer ungeheuren Konjunktur erfreute. Durch den Ausfall der Lieferungen aus den USA während des Sezessionskrieges wurde diese Hochkonjunktur im Vorderen Orient noch zusätzlich angeheizt.

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Der Handel zwischen dem Osmanischen Reich und dem Rest der Welt vervielfachte sich so im Laufe des 19. Jahrhunderts. Auch nahm die Wirtschaftsleistung des Reiches in ihrer Gesamtheit deutlich zu. Neben den Großgrundbesitzern waren es insbesondere christliche, zuweilen auch jüdische Zwischenhändler, die von dieser neuen wirtschaftlichen Situation profitierten. Für viele Kleinunternehmer, insbesondere im Bereich der Teppichweberei, bedeutete der neue Zugang zum Weltmarkt sogar eine Chance. Das heißt allerdings nicht, dass es jetzt allen Menschen besser gegangen wäre: Der neue Wohlstand war ungleich verteilt. Profitieren konnten diejenigen, denen der neue Weltmarktzugang Möglichkeiten eröffnete, während Personen in Hafenstädten oder anderen verkehrsgünstig gelegenen Regionen, die bis dato von der Weberei gelebt hatten, sich wie die aus Hauptmanns Theaterstück bekannten schlesischen Weber der vollen Wucht der insbesondere britischen industriellen Konkurrenz ausgesetzt sahen. Welche Rolle in diesem Kontext das Handelsabkommen von Balta Liman spielte, das die Briten dem Osmanischen Reich im Gegenzug für ihre Hilfe gegen den ägyptischen Gouverneur Mehmet Ali im Jahr 1838 aufgezwungen hatten (s. oben), bleibt unklar. Man wird davon ausgehen können, dass auch ohne die niedrigen Zollsätze, die dieses Abkommen vorsah, ein großer Teil der günstigen britischen Industriewaren, gegebenenfalls auf dem Weg des Schmuggels, in leicht zu erreichende osmanische Städte gelangt wäre.8 Es waren so neben den hohen Bürokraten und Militärs insbesondere die Großgrundbesitzer, die von den Veränderungen profitierten. Zum anderen waren es die religiösen Minderheiten, die bis ins 19. Jahrhundert eine zwar wichtige, aber doch untergeordnete Rolle im Osmanischen Reich gespielt hatten. Angesichts der neuen Bedingungen hatte es für viele Muslime den Anschein, als seien die Christen nunmehr gar privilegiert. Sie verfügten über Kontakte zu den europäischen Mächten, die sie vor den Übergriffen der osmanischen Bürokratie schützten, sie waren gleichzeitig Mittelsmänner im sich neu formierenden, europäisch dominierten vorderorientalischen Wirtschaftsraum. Aber nicht allein die Verteilung politischer und wirtschaftlicher Macht wandelte sich; auch das kulturelle Kapital der bis dahin dominanten muslimischen Bevölkerungsgruppe wurde entwertet. Klassisches osmanisches Bildungsgut, wie es insbesondere an islamischen Medresen gelehrt und darüber hinaus an der traditionellen Hofschule des Sultans den Nachwuchskräften der Bürokratie vermittelt wurde, verlor an Wichtigkeit. Das Wissen, auf das es jetzt ankam, stammte aus Europa. Dieses Wissen erlangten wenige besonders privilegierte Angehörige der Bürokratie durch Studienaufenthalte in Frankreich oder Großbritannien, andere durch Ausbildung an wenigen neu eingerichteten Akademien wie der Militärakademie und der zivilen

8 Eine weitverbreitete Ansicht in der Geschichtsschreibung sieht in diesem Vertrag freilich einen Auslöser für die Probleme einer gescheiterten Industrialisierung im Osmanischen Reich. So etwa auch Hanioğlu, Şükrü: A Brief History of the Late Ottoman Empire, Princeton 2008, 70. Im Sinne der hier vorgenommenen Darstellung dagegen argumentieren Pamuk, Şefket: Osmanlı-Türkiye İktisadî Tarihi 1500–1914, İstanbul 2005, 208f. und Inalcik, Ḥalil/Quartaert, Donald: An Economic and Social History of the Ottoman Empire, Cambridge 1995, 826.

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Verwaltungsakademie. Die Literatur, die in diesem Milieu gelesen wurde, war zunehmend weniger die klassisch islamische Literatur arabischer, türkischer und persischer Sprache. Es war europäische Literatur, teils auf Französisch, teils in osmanischer Übersetzung. Eine neue Medienwelt entwickelte sich, für die nicht allein die Lehrbücher standen, wie sie an den Akademien benutzt wurden, sondern auch Zeitungen. Diese Medien ermöglichten es den wenigen Menschen, die in der Lage waren, zu lesen und zu schreiben, über die politischen Verhältnisse im Lande und notwendige Reformen zu diskutieren. Erstmals bildete sich im Vorderen Orient eine weite Räume, ja das ganze Reich umfassende politische Öffentlichkeit heraus. Dies ermöglichte es den Angehörigen der Elite nicht allein, die von ihnen gewünschten Reformen zu diskutieren, sondern potentiell auch Kritik an Sultan und Ministern zu üben. Diese Kritik konnte den Mangel an Reformwillen zum Gegenstand haben, genauso aber ein als übertrieben angesehenes Nachahmen westlicher Verhaltensweisen und Vorstellungen. In jedem Fall ging es den verschiedenen Seilschaften und Interessengruppen innerhalb der bürokratischen Eliten darum, ihre Position im Ringen um die Macht, aber auch um die richtigen Ideen für die Zukunft des Reiches weiter zu festigen. In den Jahren vor 1870 gelangten so zentrale Konzepte der europäischen Moderne wie politische Freiheit und Vaterland in das Osmanische Reich und von da aus in den Kadscharischen Iran.9 In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts gerieten die Reformbemühungen in eine Krise. Dies hatte einerseits mit erneuten verlustreichen Kriegen auf dem Balkan zu tun und in der Folge mit der Notwendigkeit, muslimischen Flüchtlingen aus verlorenen Territorien im verbliebenen Reichsgebiet eine Heimat zu gewähren. Es lag aber zudem vor allem daran, dass der Zwang zu militärischer Modernisierung und zur Errichtung einer das gesamte Reich durchdringenden Bürokratie mit großem finanziellem Aufwand verbunden war. Diesem waren die Finanzbürokratie, aber auch die Wirtschaft des Osmanischen Reiches im Ganzen wie seiner autonomen Provinzen Ägypten oder Tunesien nicht gewachsen. Ähnlich sah es im kadscharischen Iran aus. Es kam daher in den 70er Jahren überall im Vorderen Orient zu Finanzkrisen. Geld, das man zuvor für Modernisierungsprojekte einfach hatte leihen können, war immer schwieriger aufzutreiben. Europäische Gläubiger verlangten angesichts der wachsenden Risiken, die mit Anleihen in der Region verbunden waren, noch höhere Zinsen als zuvor. Die Staaten waren zusehends weniger in der Lage, Altschulden zu bedienen. Das galt insbesondere in Ägypten, wo durch den weitgehend unabhängigen Gouverneur, der nunmehr den Titel eines Khediven (Fürsten, Vizekönigs) trug, das aufwendigste der infrastrukturellen Modernisierungsprojekte des 19. Jahrhunderts betrieben wurde: der Bau des Suezkanals. Dieser sollte zunächst zu einem guten Teil in ägyptischem Eigentum sein. Angesichts des Umstandes aber, dass der Khedive nicht imstande war, die Schulden, die er zum Bau des Kanals aufgenommen hatte, zu bedienen, kamen seine Aktien in die Hände der britischen Regierung. Für diese war die Kontrolle über Ägypten durch den Kanal wichtiger als je zuvor. Ägypten war die zentrale Achse auf dem Weg zwischen Großbritannien und Indien. Ägyptischer 9 Chffoleau, Sylvia u. a.: Le Moyen-Orient 1876–1980, Paris 2017, 601ff.

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Widerstand gegen britische Einflussnahme auf den Khediven wurde militärisch gebrochen und das Land geriet 1882 unter informelle britische Kontrolle. Frankreich errichtete, um italienische Ansprüche abzuwehren, mit Rückendeckung Bismarcks ungefähr gleichzeitig ein Protektorat über die autonome osmanische Provinz Tunesien. Die Kernprovinzen des Osmanischen Reiches mussten in den 1870er Jahren zwar im Krieg gegen Russland und die sich aus dem Reichsverband lösenden Balkanstaaten eine schmerzliche Niederlage hinnehmen. Zudem wurde auch die Zentralregierung 1881 zahlungsunfähig. Anders als im Fall Ägyptens oder Tunesiens jedoch waren aber, was die osmanische Zentralmacht anging, die Großmächte nicht gewillt, einer Nation die Kontrolle über das Reich zu überlassen. Auch das Reich unter sich aufzuteilen war für sie keine Option. Sie richteten vielmehr eine internationale Schuldenverwaltung ein, die für die ihr auf dem Boden des Reiches zufallenden Steuern eine nicht unter osmanischer Regierungskontrolle stehende moderne Steuerbürokratie schuf. So wurden die Interessen der Gläubiger des Reiches auf Kosten der osmanischen Souveränität bedient. Die Schuldenkrisen der 1870er und 80er Jahre stellten einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte des modernen Vorderen Orients dar. Die Europäer strebten nunmehr immer offener eine direkte Beherrschung des Vorderen Orients und der übrigen noch nicht unter Kolonialherrschaft stehenden Teile der Alten Welt an.

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Die Hochphase des Imperialismus von ca. 1870 bis ca. 1925

In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts begann die Phase des Hochimperialismus. Während zuvor indirekte politische Einflussnahme und wirtschaftliche Durchdringung Ziel westlicher Mächte im Vorderen Orient und in anderen Teilen der Welt waren, kam es nun mehr und mehr zur direkten Beherrschung. Die Kolonialismusforschung unterscheidet dabei drei Formen von Kolonien: erstens die sogenannte Stützpunktkolonie, d. h. eine Kolonie, die dazu dient, in einer strategisch wichtigen Region einen militärischen, im Regelfall für die Marine nutzbaren Stützpunkt zu erlangen; zweitens die sogenannte Beherrschungskolonie, bei der die imperialistische Macht die politische und im Regelfall auch wirtschaftliche Kontrolle über ein gegebenes Territorium ausübt. Dies geschah zum Teil auf dem Weg indirekter Herrschaft, d. h. unter zumindest äußerlicher Beibehaltung lokaler politischer Strukturen. Der dritte Typ ist die sogenannte Siedlungskolonie, bei der zusätzlich zur Übernahme politischer Herrschaft Personen entweder aus dem Mutterland der Kolonie oder solche, die mit Bewohnern des Mutterlandes gleichgesetzt werden (etwa die spanischen und maltesischen Einwanderer in Algerien, denen in Algerien die französische Staatsbürgerschaft verliehen wurde) angesiedelt werden.10

10 Eine kurze Einführung in die immer unübersichtlicher werdende Literatur zum Kolonialismus geben Osterhammel, Jürgen/Jansen, Jan C.: Kolonialismus, München, 8. Aufl. 2017.

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In der älteren Imperialismusforschung wird im Regelfall, ausgehend von Überlegungen sowohl liberaler als auch marxistischer Forscher des frühen 20. Jahrhunderts, die Annahme vertreten, die Kolonisierung außereuropäischer Territorien sei in erster Linie das Ergebnis der Konkurrenz zwischen Industriemächten um Absatzmärkte und Rohstoffquellen gewesen. Dies ist nur zum Teil richtig. Zum einen war es so, dass die wichtigsten imperialistischen Mächte, insbesondere Großbritannien, bis in die 1930er Jahre in ihren Kolonien im Regelfall eine Politik der offenen Tür vertraten. Das heißt, dass auch in britischen Kolonien alle anderen europäischen und außereuropäischen Mächte zu gleichberechtigten Bedingungen Handel treiben konnten; von exklusiven Rohstoffquellen und Absatzmärkten konnte also nicht die Rede sein. Zum anderen darf der machtpolitische und militärische Aspekt kolonialer Beherrschung nicht vernachlässigt werden. An der Übernahme von Kolonien beteiligt zu sein war Ausweis des Großmachtstatus eines europäischen Staates. Die menschlichen Ressourcen der Kolonien stellten darüber hinaus gegebenenfalls einen wichtigen Grundstock für die militärische Macht des Mutterlandes dar. Das galt insbesondere für Großbritannien und Frankreich, die die großen europäischen Kriege des 20. Jahrhunderts nicht hätten führen und gewinnen können, wenn sie nicht über die Humanressourcen Indiens oder Nord- und Westafrikas verfügt hätten. Im Vorderen Orient finden sich alle drei der eben genannten Typen von Kolonien, insbesondere aber sogenannte Beherrschungs- und Siedlungskolonien. Zu den Siedlungskolonien gehörte dabei Algerien, das nach 1830 als erstes Land im Vorderen Orient unter Kolonialherrschaft geriet. Die französische Kolonialherrschaft in Algerien führte im Verlauf der folgenden Jahrzehnte zur weitgehenden Zerstörung der einheimischen algerischen Gesellschaft durch die französischen Kolonialherren. Aufstände der muslimischen Algerier hatten immer weitere Enteignungen lokaler Grundbesitzer und die Übernahme der fruchtbarsten Teile des Landes durch Siedler zur Folge. Diese stammten entweder aus Frankreich selbst oder Spanien, Italien und Malta. Die Letztgenannten wurden, anders als die muslimischen Algerier, den Franzosen gleichgestellt. Die ihrer Oberschicht weitgehend beraubte einheimische Bevölkerung wurde so zu einer Schicht von Landarbeitern, die über keine politischen Rechte verfügte. Die nördlichen Teile Algeriens wurden als Departement in das französische politische System eingegliedert. Wahlberechtigt waren dabei aber nur solche Personen, die bereit waren, sich dem französischen Zivilrecht zu unterwerfen, was für die Muslime Algeriens inakzeptabel war. Die muslimischen Algerier waren so bis zum Ende der Kolonialzeit im Jahr 1962 Bürger zweiter Klasse in ihrem eigenen Land. Die Marginalisierung der muslimischen Algerier war dabei insbesondere das politische Programm der Siedler. Durch ihren Einfluss in Paris, wo sie über Abgeordnete und Minister verfügten, sorgten diese über Jahrzehnte dafür, dass die wenigen Bestrebungen der französischen Politik, die Situation der muslimischen Algerier zu verbessern, im Sande verliefen. Die im Laufe der Zeit herangewachsene, nicht große, aber kulturell sehr stark assimilierte muslimische algerische Mittelschicht wurde so immer wieder vor den Kopf gestoßen. Mehr als anderswo im Vorderen Orient hat sich in dieser spannungsreichen Situation die Dekolonisierung Algeriens nach dem Zweiten Weltkrieg daher gewalttätig vollzo-

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gen. Die Siedler verteidigten die französische Herrschaft ohne Rücksicht auf Verluste, da sie im Falle einer Unabhängigkeit das Ende ihrer Privilegien, ja ihrer Existenz in Algerien kommen sahen. Die Dekolonisierung ist so in Algerien in den 50er und frühen 60er Jahren das Ergebnis eines langen Krieges. Dieser wurde zunächst zwischen dem französischen Staat, der europäischen Siedlerbevölkerung und ihren Verbündeten unter der muslimischen Bevölkerung auf der einen und einer nationalistischen Guerilla auf der anderen Seite ausgesprochen blutig ausgetragen. Am Ende des Krieges begannen sich innerhalb dieser Gruppen Konflikte aufzutun. Mit radikalen Siedlern verbündete Truppenteile versuchten gegen die französische Regierung zu putschen, bestimmte Gruppen innerhalb der Befreiungsarmee beseitigten Konkurrenten und monopolisierten dann die Macht im unabhängigen Algerien, das die Siedler mit wenigen Ausnahmen verließen.11 Die zweite Siedlungskolonie im Vorderen Orient war Libyen, das, bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg osmanische Provinz, ab dem Jahr 1911 von Italien beansprucht und erobert wurde. Diese Eroberung zog sich auch hier über viele Jahre hin und wurde insbesondere durch das faschistische Italien in den 1920er Jahren ausgesprochen blutig betrieben. Auch in Libyen wurde eine Siedlerbevölkerung im Lande installiert. Ähnlich wie in Algerien haben diese europäischen Siedler nach dem Ende der Kolonialzeit das Land wieder verlassen. Den dritten Fall einer Siedlungskolonie im Vorderen Orient stellt die zionistische Landnahme in Palästina dar. Anders als im algerischen und libyschen Fall gab es hier keine Kolonialmacht, die die Landnahme betrieb. Sie war vielmehr Produkt einer Nationalbewegung, die, transnational organisiert, eine Heimstatt für die nunmehr als Volk wahrgenommenen Juden Europas und des Nahen Ostens suchte. Die Gründung des Staates Israel wird uns im Weiteren noch beschäftigen. Nicht allein die Übernahme der politischen Herrschaft in weiten Teilen des Nahen Ostens durch imperialistische Mächte und die Vertreibung zehntausender Muslime vom Balkan im Zuge der Herauslösung dortiger Nationalstaaten aus dem osmanischen Reichsverband war für viele Angehörige der Istanbuler Eliten ein Schock. Es war auch der Umstand, dass die Versuche, innerhalb des Reiches zu Reformen zu gelangen, eine ganz andere Wendung nahmen, als es die führenden Bürokraten und die Angehörigen der modernen gebildeten Schichten erhofft hatten. Im Jahr 1876 wurde im Osmanischen Reich eine Verfassung erlassen. Zum Teil geschah das aus außenpolitischen Erwägungen. Man hoffte, im Krieg gegen Russland und die neuen Balkanstaaten auf diese Weise das Bündnis der Briten gewinnen zu können. Mindestens genauso wichtig aber war, dass die Einführung einer Verfassung den Interessen und Vorstellungen der einheimischen Eliten entsprach. Die Verfassung orientierte sich an zeitgenössischen europäischen Modellen, insbesondere derjenigen Belgiens. Es war ein liberales Dokument im Sinne des 19. Jahrhunderts. Das heißt, es war ausdrücklich nicht demokratisch. Das Wahlrecht sollte nur bestimmten, besonders dafür qualifizierten Männern zustehen. Dazu gehörten keinesfalls

11 Stora, Benjamin: Histoire de l’Algérie coloniale. 1830–1954, Paris, 2. Aufl. 2004 und Rivet, Daniel: Le Maghreb à l‘épreuve de la colonisation, Paris 2002.

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Personen, die aufgrund mangelnder Bildung und fehlenden Eigentums als nicht geeignet galten, an den Angelegenheiten des Gemeinwesens teilzuhaben. Die Macht des Sultans wurde zwar beschränkt, es blieben ihm aber wichtige Vollmachten. Er war berechtigt, Dekrete zu erlassen, und er konnte Angehörige der politischen Elite, die als politisch gefährlich galten, exilieren. Der im Jahr 1876 auf den Thron gelangte neue Sultan Abdülhamid II. hat diese Vollmachten, sobald sich die Lage etwas beruhigt hatte und auch der Frieden im Äußeren wiederhergestellt war, dahingehend genutzt, dass er die führenden Bürokraten, welche die Einführung einer Verfassung betrieben hatten, von der Macht verdrängte und dann, entsprechend seinen Vollmachten, die Anwendung der Verfassung vorläufig suspendierte. Von nun an regierte der Sultan selbst. Damit war die Lage eine ganz andere als in den Jahrzehnten zuvor, in denen wenig präsente Sultane die Geschäfte weitgehend den führenden Bürokraten überlassen hatten. Dass erstmals seit Beginn der Reformen die bürokratische Elite an Einfluss verlor, bedeutete nicht, dass die Veränderungsprozesse, die seit 1830 angestoßen worden waren, sich nunmehr verlangsamt hätten oder gar aufgegeben worden wären. Im Gegenteil! Auch unter der Regierung Abdülhamids II. wurde die Modernisierung des Osmanischen Reichs fortgesetzt. Das galt insbesondere für den weiteren Ausbau des Bildungssektors. Es wurden Primarschulen und weiterführende Schulen gegründet, um in der Lage zu sein, in Zukunft für den immer größeren Bedarf des Staates auf geeignetes Personal zurückgreifen zu können. Damit war es jetzt erstmals auch Muslimen in großer Zahl möglich, moderne, unter den neuen Bedingungen verwertbare Bildung zu erlangen. Bis dahin war dies weitgehend das Privileg der christlichen und jüdischen Minderheiten gewesen, die ihre Kinder in von christlichen Missionaren, im Falle der Juden auch in von der säkular orientierten Alliance Israélite Universelle betriebene Schulen schickten. In diesen Schulen lernte man nicht allein europäische Sprachen, meist Französisch. Man lernte auch moderne Naturwissenschaften und anderes mehr. Das traditionelle Schulwesen des Vorderen Orients bot dergleichen nicht und wurde auch von kritischen Muslimen als überholt empfunden. Da Muslime aus naheliegenden Gründen das moderne Schulangebot der Christen und Juden nur wenig genutzt hatten, waren sie im Laufe des 19. Jahrhunders in Bildungsdingen ins Hintertreffen geraten. Die neuen staatlichen Schulen boten hier Abhilfe. Der zweite zentrale Bereich der Modernisierung war die Infrastruktur. Eisenbahnlinien wurden gebaut, Dampfschiffe ersetzten die Segler, Telegraphenanlagen durchzogen das ganze Land und ermöglichten nie dagewesene rasche Kommunikation, sowohl für die Regierung als auch für die Kaufleute. In großen Städten wurden Uhrtürme errichtet, so dass die Zeit nunmehr nicht nach den muslimischen Gebetszeiten gemessen wurde, sondern nach »westlicher« Methode. Neue Stadtviertel entstanden nach dem damals ganz neuen Vorbild der Pariser Boulevards und boten nicht allein Europäern, sondern auch den von europäischer Mode und europäischer Lebensweise faszinierten Angehörigen der lokalen Eliten ein angemessenes Lebensumfeld. Was immer in Europa aktuell war, fand rasch begeisterte Anhänger, von den Klavierstunden für höhere Töchter bis hin zu den am Ende des 19. Jahrhunderts erstmals veranstalteten Filmvorführungen.

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Diese Infrastrukturmaßnahmen ermöglichten zum einen eine bessere Durchdringung und Kontrolle des Landes durch die Zentralregierung, in einem Ausmaß, wie das bis dahin nie möglich gewesen war. Sie erlaubten zum anderen eine immer weitere wirtschaftliche Anbindung des Reiches an den Weltmarkt. Beim Erteilen von Eisenbahnkonzessionen wurde den ausländischen Partnern, die die Eisenbahn bauten (der Staat verfügte, wie wir sahen, nicht über die Ressourcen dazu), zugestanden, die um die Bahnstrecke herum liegenden Gegenden wirtschaftlich auszubeuten. Eisenbahnen ermöglichten den Transport von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Gütern an die Küste, wo die Exporthäfen nun mehr denn je florierten. Nicht alle profitierten von diesen Veränderungen. Der Sultan bemühte sich, auch für die zahlreichen Verlierer der Modernisierungsprozesse Fokus der Loyalität zu bleiben. Er stellte sich mehr noch als seine Vorgänger als islamischer Herrscher dar und stützte die von ihm für zuverlässiger gehaltenen, nicht an der Militärakademie ausgebildeten, aus den Mannschaftsrängen aufgestiegenen Offiziere. Auch die Führer der tribalen Gruppen Anatoliens und der arabischen Provinzen suchte er an sich zu binden. Doch letztlich war das Bündnis des Sultans mit den Vertretern von zunehmend an Bedeutung verlierenden Milieus zum Scheitern verurteilt. Wirtschaftliches Wachstum, die neue Infrastruktur und Bildung hatten dafür gesorgt, dass die politisch relevanten Gegner des Sultans sich nicht mehr wie in den 1870er Jahren aus einer kleinen Schicht von Bürokraten in der Hauptstadt rekrutierten. In den Provinzen und größeren Städten waren Ratsgremien geschaffen worden, in denen die lokale Elite an der Ausübung der Macht beteiligt wurde. Zeitungen berichteten trotz massiver Zensur über Neuerungen im wissenschaftlichen, kulturellen und sozialen Denken. Die moderne Öffentlichkeit, deren Anfänge in der vorherigen Epoche lagen, nahm so an Bedeutung noch weiter zu. Es bildeten sich im In- und Ausland geheime Zirkel von Eliteangehörigen, die das autoritäre Regime des Sultans durch ein fortschrittlicheres zu ersetzen suchten. Wie dies aussehen sollte, blieb unter ihnen umstritten. Einige sahen im liberalen England das Vorbild, andere meinten, eine Modernisierung unter den schwierigen Bedingungen des Reiches sei nur durch eine starke Regierung möglich. Als der Sultan 1908/09 gestürzt wurde, waren es nach einigem Hin und Her die Vertreter einer autoritären Modernisierung im Militär, die sich durchsetzten und dann das Osmanische Reich an der Seite Deutschlands in den Ersten Weltkrieg führten. Der Krieg verlief für die Osmanen nicht durchgängig schlecht. Die Angriffe der Entente-Mächte, sei es an den Meerengen, sei es in Ostanatolien oder im Irak, konnten zunächst zurückgeschlagen werden. Erst im Jahr 1918 geriet die osmanische Militärmaschine wirklich in die Krise, ohne aber vollständig zusammenzubrechen. Insofern waren die harten Friedensbedingungen des Vertrags von Sèvres, den die Entente-Mächte nach Kriegsende der osmanischen Regierung aufzwangen, mehr noch aber der Versuch Griechenlands, sich Westanatoliens zu bemächtigen, für viele türkische Nationalisten untragbar. Von Angehörigen des jungtürkischen Geheimdienstes wurde unter der Führung von General Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk, an den sultanischen Behörden vorbei in Anatolien ein bewaffneter Widerstand gegen den Defätismus der Istanbuler Regierung organisiert. Dieser Un-

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abhängigkeitskrieg verlief schließlich, da die Entente-Mächte kriegsmüde waren und an einem für sie zweitrangigen Schauplatz keine großen Ressourcen mehr mobilisieren konnten, für die türkischen Nationalisten siegreich. Ihre neue, in Ankara angesiedelte Regierung konnte im Frieden von Lausanne 1923 die Bedingungen von Sèvres revidieren; der moderne türkische Nationalstaat war geboren. Die Gründung eines arabischen Nationalstaats in den ostarabischen Provinzen des Osmanischen Reiches war vor dem Krieg nur das Projekt einer Minderheit innerhalb der Bildungsschichten des arabischen Raums gewesen. Für die beduinischen Verbände, die im Weltkrieg unter der Führung des Scherifen von Mekka (d. h. des vom Propheten Muhammad abstammenden, erblichen osmanischen Gouverneurs der Stadt) an der Seite der Briten gekämpft hatten, war Nationalismus sicher keine Motivation. Dennoch, die osmanische Zentralregierung hatte es durch harsche Maßnahmen während des Krieges verstanden, die Bewohner der arabischen Provinzen gegen das Reich aufzubringen. Diese forderten nun, dass die von den Briten während des Krieges abgegebenen Versprechungen der Gründung eines arabischen Nationalstaats in den ehedem osmanischen Provinzen umgesetzt würden. Die Briten freilich hatten sich für die Zeit nach Kriegsende längst mit Frankreich auf eine Aufteilung des Gebietes unter den beiden Großmächten geeinigt (das berühmte Sykes-Picot-Abkommen). Zudem hatte die britische Regierung während des Krieges, in dem Glauben, die Juden verfügten überall auf der Welt über großen Einfluss, der entstehenden zionistischen Bewegung die Schaffung einer jüdischen »nationalen Heimstätte« in Palästina versprochen. Um ihren imperialistischen Absichten den Schein der Legitimität zu geben, ließen sich Briten und Franzosen nach dem Krieg vom neugegründeten Völkerbund mit der Verwaltung des späteren Palästinas, Jordaniens und Iraks einerseits, der des späteren Syriens und Libanons andererseits betrauen. Im Rahmen dieser Völkerbundsmandate sollten die genannten Territorien auf eine auf unbestimmte Zeit verschobene Unabhängigkeit vorbereitet werden. Der Erste Weltkrieg führte so zum Ende der imperialen Ordnung des Osmanischen Reiches. Diese gewaltsame Zerstörung der imperialen Ordnung begann mit den Balkankriegen unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg und endete mit dem Frieden von Lausanne. Nationalistische Ideologien, die zuvor bereits insbesondere die jüngere Generation und die nicht ganz an der Spitze der Gesellschaft stehenden Teile der Bildungsschichten erreicht hatten, setzten sich nun in der Orgie von Gewalt, die der Erste Weltkrieg auch für die Menschen des Vorderen Orients bedeutete, endgültig durch. Zu diesen Gewaltphänomenen gehörten bereits vor 1914 die fortgesetzte Vertreibung muslimischer Menschen vom Balkan, dann die harschen Maßnahmen der osmanischen Regierung zur Sicherung von Gehorsam und Mobilmachung in Großsyrien, die zusammen mit einer Seeblockade der Entente-Mächte zum Tod mehrerer hunderttausend Menschen durch Hunger und Seuchen führte, die gezielte Ermordung von womöglich über einer Million armenischer und syrischer Christen in Anatolien, denen die jungtürkische Regierung (im armenischen Fall nicht immer zu Unrecht) Kollaboration mit dem russischen Feind vorwarf, endlich gegenseitige Massaker von Muslimen und Griechen während des türkischen Unabhängigkeitskrieges und schließlich der Bevölkerungsaustausch nach Kriegsen-

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de, bei dem die Griechisch-Orthodoxen Anatoliens und die Muslime Griechenlands jeweils ihre Heimat gegen ein neues Zuhause in »ihrem« Nationalstaat eintauschen mussten. In Anatolien waren nunmehr im Wesentlichen noch sunnitische und alevitische türkisch- und kurdischsprachige Menschen zuhause. Der neue Nationalstaat setzte sich zur Aufgabe, aus diesen Menschen mit meist religiöser oder lokaler Identität Türken im Sinne des modernen Nationalismus zu machen.12 Auch in den ehemaligen arabischen Provinzen versuchten die einheimischen Eliten, teils mit Unterstützung der Kolonialmächte, teils gegen ihren Willen, aus ihren Landsleuten patriotische Bürger der neugebildeten Nationalstaaten zu machen. In Ägypten gab es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts einen lokalen ägyptischen Nationalismus, dessen Vertreter nach Ende des Krieges zum Widerstand gegen die fortgesetzte britische Beherrschung des Landes aufriefen. Es gelang dieser Bewegung, weite Teile der städtischen Bevölkerung, Muslime wie Christen, für die Idee der ägyptischen Unabhängigkeit zu begeistern und die Briten nach 1919 zu weitgehenden Zugeständnissen zu zwingen. Eine britische Garnison blieb allerdings im Lande und kontrollierte die Kanalzone. Die von Ägypten im Jahr 1936 endgültig erlangte Unabhängigkeit stand immer unter dem Vorbehalt britischer Einmischung, die insbesondere während des Zweiten Weltkrieges sehr massiv ausfallen konnte. In den französischen Mandatsgebieten im heutigen Syrien und Libanon gab es zunächst bewaffneten Widerstand gegen die neuen Herrscher. Der Versuch der lokalen Eliten, einen großsyrischen Nationalstaat zu schaffen, scheiterte unter der bewaffneten Übermacht Frankreichs. Die Mandatsmacht gründete im Libanon einen eigenen Staat, der unter der Dominanz der katholischen und frankreichfreundlichen maronitischen Volksgruppe stehen sollte. Auch im übrigen Syrien versuchte man kleine, ethno-religiös einigermaßen homogene Einheiten zu schaffen. Der syro-arabische Nationalismus der Eliten war aber so stark, dass Frankreich der Errichtung eines syrischen Einheitsstaates zustimmte. Dessen Unabhängigkeit wurde zwar versprochen, vor Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch nicht umgesetzt. Faisal, der ursprünglich von der dortigen Nationalbewegung als König Syriens ausersehene Sohn des Scherifen von Mekka, fand nach dem Scheitern dieses Projekts offene Aufnahme im britisch beherrschten Irak, wo die Mandatsmacht nach einem geeigneten König für den unter ihrer Ägide zu gründenden Staat suchte. Auch hier kam es zu Widerstand gegen die neue Kolonialherrschaft, der aber genauso wie in Syrien angesichts der militärtechnischen Überlegenheit der Briten bald gebrochen werden konnte. Die Bevölkerung Iraks war recht heterogen. Einer Masse schiitischer Landbewohner im Süden und kurdischer tribaler Gruppen im Norden stand die sunnitische Bevölkerung im Zentrum des Landes gegenüber. In osmanischer Zeit war Irak nie gemeinsam verwaltet worden. Beim Versuch, in dieser schwierigen Gemengelage einen Nationalstaat zu gründen, bedienten sich Faisal und seine britischen Protek-

12 Neben den genannten allgemeinen Werken zum Genozid an den Armeniern Akçam, Taner: The Young Turks‘ Crime against Humanity. The Armenian genocide and Ethnic Cleansing in the Ottoman Empire, Princeton 2012.

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toren der sunnitischen Bürokraten- und Offiziersschicht, die bereits in osmanischer Zeit bestimmend gewesen waren. Die religiösen Führer der Schiiten wurden, obwohl zum guten Teil schon immer oder doch seit Generationen im Lande ansässig, als Perser abgestempelt, die im neuen arabischen Irak nichts zu sagen haben sollten.13 Auf Dauer noch problematischer war das britische Agieren im palästinensischtransjordanischen Mandatsgebiet. Die Region jenseits des Jordans, das heutige Jordanien, eine damals gänzlich unterentwickelte, von beduinischen Gruppen dominierte Region, wurde Abdallah, dem Bruder Faisals, als Emirat unter weitgehender britischer Kontrolle zugestanden. Westlich des Jordans gab es Regionen vergleichsweise intensiver Landwirtschaft und zahlreiche Städte, nicht zuletzt Jerusalem. Hier nun sollte einerseits eine Unabhängigkeit des Territoriums, das genauso wenig wie Irak in den Jahrhunderten zuvor eine politische oder kulturelle Einheit dargestellt hatte, vorbereitet werden. Anderseits sollte, entsprechend den britischen Zusagen während des Krieges, eine Heimstatt für das jüdische Volk geschaffen werden. Vor 1918 lebten nur wenige Juden im Land. Die überwiegend säkulare, oftmals sozialistische zionistische Bewegung kaufte Land von palästinensischen Großgrundbesitzern und versuchte, jüdische Einwanderer aus Europa darauf anzusiedeln. Unter der arabischen Bevölkerung Palästinas entwickelte sich bald Widerstand gegen das zionistische Siedlungsprojekt. Dieser Widerstand sorgte für die Entstehung eines eigenen palästinensischen Nationalbewusstseins, das sich nach der Gründung des Staates Israel und der Vertreibung eines großen Teils der arabischen palästinensischen Bevölkerung vom Territorium des neuen Staates noch verstärkte. Dass es zu dieser Gründung kommen würde, war vor dem Zweiten Weltkrieg allerdings durchaus nicht klar. Angesichts der Deutlichkeit des palästinensischen Widerstandes gegen das zionistische Projekt versuchten die Briten in den 30er Jahren vielmehr die in Anbetracht der Lage in Europa zunehmende zionistische Einwanderung weitgehend zu unterbinden. Teilungspläne, die einen kleinen Teil des Landes den Zionisten zugesprochen hätten, wurden von der arabischen Seite abgelehnt.14 In Iran kamen im Vergleich zum Osmanischen Reich die Modernisierung von Staat und Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg nur mühsam voran. Eine wirtschaftliche Anbindung des Landes an den Weltmarkt durch Ausbau der Verkehrswege fand nicht statt. Von einer modernen Armee, die eine wirkliche Kontrolle der Regierung über die Provinzen ermöglicht hätte, konnte, anders als beim westlichen Nachbarn, nur in Ansätzen die Rede sein. Die Herrscher bemühten sich, mit der Vergabe von wirtschaftlichen Konzessionen an ausländische Finanziers ihre Ressourcenbasis zu verbreitern. Die so eingenommenen Gelder wurden aber kaum für die Modernisierung der Infrastruktur ausgegeben. Sie dienten hauptsächlich der Repräsentation, insbesondere auf kostspieligen Reisen der Herrscher nach Europa. Gegen die mit den Konzessionen verbundene ausländische Einflussnahme kam es gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu Widerstand, insbesondere von Seiten der schii-

13 Zum Irak Luizard, Jean-Pierre: La Question irakienne, Paris 2002. 14 Krämer, Gudrun: Geschichte Palästinas, München, 6. Aufl. 2015.

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tischen Geistlichkeit. In Teheran oder Täbris fanden darüber hinaus die nicht zuletzt aus dem Osmanischen Reich importierten Ideen des Nationalismus und des Konstitutionalismus Anhänger. Es bildete sich eine Oppositionsbewegung, die vorübergehend durchaus Erfolge erzielen konnte. Letztlich war sie aber zu heterogen in ihrer Zielsetzung, auch verfügte sie kaum über eine das ganze Land erfassende Infrastruktur. Endlich war der russische Nachbar nicht an einer Modernisierung Irans interessiert. Erst mit der Machtergreifung eines Offiziers der kleinen, nach europäischen Vorbildern organisierten Elitetruppe, Reza, im Jahr 1925 begann in Iran eine Epoche der beschleunigten, von oben gesteuerten Veränderungen. Angesichts des damaligen Widerstandes des schiitischen Klerus gegen eine als unislamisch angesehene republikanische Staatsform ließ er sich zum König krönen und begründete damit die Pahlavi-Dynastie, die das Land bis 1979 beherrschte. Iran und die Türkei waren nach 1920 die einzigen muslimischen Staaten auf der Welt, die nicht unter europäischer Kolonialherrschaft standen. Anders als in der Türkei stand die iranische Unabhängigkeit dabei bis in die 1950er Jahre stets unter dem Schatten der Sowjetunion und der Briten, die, soweit sie es insbesondere in der Zeit des Ersten und Zweiten Weltkrieges für nötig erachteten, jederzeit im Lande eingreifen und etwa die Regierung stürzen konnten. Dies ist im Jahr 1941 auch Reza Schah widerfahren, der aus der Sicht der Briten zu große Sympathien für das nationalsozialistische Deutschland hegte.

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Die Zeit des Nationalismus von ca. 1925 bis 1970

Die wirtschaftlich dominanten Großgrundbesitzereliten, die sich im 18. und 19. Jahrhundert herausgebildet hatten, mussten in den beiden einzigen nach dem Ersten Weltkrieg unabhängigen Ländern, Türkei und Iran, die politische Macht westlich gebildeten Militärs und Bürokraten überlassen. In beiden Ländern kam es nach 1920 zu einem deutlichen Bruch mit der vormodernen Epoche. Mustafa Kemal und Reza Schah sowie ihr Umfeld setzten alles daran, ihre Staaten nach westlichem, d. h. dem aus der Sicht der damaligen Zeit einzig modernen Vorbild, umzugestalten. Dabei sollte in beiden Fällen eine eigene Identität bewahrt werden, die weniger auf der Religion als auf einer nationalen, für manche sogar ethnisch-biologischen Eigenheit der Türken und Iraner beruhen sollte. Diese Maßnahmen standen ganz in der Tradition der weitgehend unkritischen Bewunderung für alles, was als europäisch galt, wie sie bereits im späten 19. Jahrhundert insbesondere im Osmanischen Reich weitverbreitet war.15 Die neuen Herrscher regierten ohne viel Rücksicht auf die Meinung des Volkes. Ja, die Türkei Mustafa Kemals wies in Teilen auch totalitäre Züge auf (Einparteiensystem, aktive staatliche Maßnahmen zur Formung der Bevölkerung bis in jedes Dorf). Einige seiner Vertrauten sympathisierten offen mit dem Faschismus Mussolinis, an15 Zum ideologischen Hintergrund, aus dem diese Reformen erwachsen sind Hanioğlu, Şükrü: Atatürk. An Intellectual Biography, Princeton 2011.

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dere waren sozialistischen Ideen zugetan. Für Mustafa Kemal aber war, anders als in den Diktaturen des damaligen Europa, die totalitäre Unterwerfung der Gesellschaft nicht das Endziel. Vorbild in politischer Hinsicht blieben für ihn vielmehr die demokratischen Staaten, insbesondere Frankreich. Allerdings meinten er und seine Mitstreiter, dass die türkische Bevölkerung für ein demokratisches System noch nicht reif sei, sondern erst durch staatliche Erziehung in die Lage versetzt werden müsse, über ihr Schicksal mitzubestimmen. Insofern unterschieden sich die Ansichten der Kemalisten über die Menschen im Vorderen Orient nicht wesentlich von denen der britischen und französischen Kolonialherren. In Iran folgte das Regime des Schahs im Wesentlichen dem türkischen Vorbild, wobei die Probleme der Rückständigkeit, wie wir sahen, sich hier noch stärker stellten und Infrastrukturmaßnahmen, die in Anatolien in osmanischer Zeit umgesetzt worden waren (insbesondere der Ausbau der Verkehrswege), hier erst jetzt in Angriff genommen wurden. Mit Nachdruck und, wo es nötig erschien, auch mit Blutvergießen, aber ohne die Exzesse der zeitgenössischen totalitären Diktaturen Europas wurde nun das staatliche Gewaltmonopol durchgesetzt, wurden Nomaden sesshaft gemacht und die infrastrukturellen Voraussetzungen für flächendeckende Schulbildung und wirtschaftliche Einbindung peripherer Provinzen geschaffen. Dabei war weniger als in der Zeit davor die Integration in den Weltmarkt das Ziel, sondern vielmehr die Schaffung einer in den Händen der einheimischen Muslime liegenden, möglichst autarken nationalen Wirtschaft. Ohne staatliche Eingriffe war das undenkbar. Doch derartige staatliche Eingriffe in Wirtschaft und Gesellschaft, auch die Idee der Autarkie, waren nach dem Ersten Weltkrieg weltweit diskutierte, wenn nicht akzeptierte Modelle. Sie wurden später auch in anderen Ländern der muslimischen Welt vorgenommen. Die staatliche Planung der Wirtschaft blieb in der Türkei auch nach dem Ende der kemalistischen Einparteienherrschaft auf der Tagesordnung. Dieses Ende kam in dem Moment, da nach dem Zweiten Weltkrieg das amerikanische Modell sich in den Augen vieler als das erfolgreichste Gesellschaftsmodell erwiesen hatte und amerikanischer Schutz im Angesicht der bedrohlichen Nachbarschaft einer expansiven Sowjetunion eine Anpassung an amerikanische Normen gelegen sein ließ. Die Türkei vollzog nach 1945 als einziges muslimisches Land der Region den Übergang zur pluralistischen Demokratie, einer Demokratie allerdings, die ab 1960 zunehmend unter der Kuratel des Militärs stand. Klientelistische Politik, ineffiziente Formen staatlicher Wirtschaftslenkung und gewaltbereite Gruppen am rechten und linken Rand des politischen Spektrums sorgten für Instabilität. Allein der Geldzufluss durch die sogenannten Gastarbeiterüberweisungen aus Europa hielten das Land bis Ende der 70er Jahre über Wasser. In Iran kam es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht dauerhaft zu einer derartigen politischen Öffnung. Der Versuch des linksnationalistischen Ministerpräsidenten Mossadegh, sich durch Nationalisierung der Ölindustrie von der Unterwerfung unter Großbritannien symbolisch und praktisch zu lösen, scheiterte. Im Westen hielt man Mossadegh wie Nasser für einen potentiellen Verbündeten Moskaus. Westliche Geheimdienste organisierten einen Putsch, und der sowohl im Militär wie bei vielen Geistlichen unbeliebte Mossadegh wurde gestürzt. Die Macht Muhammad Rezas,

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des Sohns des ersten Pahlavi-Schahs, der 1941 von den Briten als Nachfolger seines deutschfreundlichen Vaters eingesetzt worden war, war vorerst gesichert. Dieser Putsch ist in der iranischen Geschichtserinnerung ein einschneidendes Ereignis. Tatsächlich hat der Schah in den Folgejahren, allerdings immer im außenpolitischen Windschatten der USA, einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kurs verfolgt, der von dem linksnationalistischer Regime anderswo in der Region (etwa dem nasseristischen Ägypten) und im Zweifel auch von dem Mossadeghs gar nicht so weit entfernt war: Er verstaatlichte endgültig die Ölindustrie, führte eine moderate Landreform durch, bemühte sich um Ausweitung des Bildungswesens und verfolgte eine Politik nationaler Größe, die allerdings ganz auf seine Person zugeschnitten war. In der arabischen Welt stellte die Zwischenkriegszeit, anders als in der Türkei und Iran, in sozialer und kultureller Hinsicht nicht in gleicher Weise einen Bruch dar. Unter der Oberhoheit von Briten und Franzosen wurde die Infrastruktur weiter ausgebaut, das Bildungsniveau der Bevölkerung nahm zu, doch geschah beides, gerade auch im Vergleich zur kemalistischen Türkei, relativ zögerlich. Die wirkliche Neuerung war, dass die Großgrundbesitzereliten ihre Herrschaft nun nicht mehr im Rahmen des Osmanischen Reiches, sondern in dem neuer politischer Einheiten ausübten. Diese politischen Einheiten bestehen in Form der modernen arabischen Nationalstaaten bis heute. Auch setzte sich der Prozess der Entstehung neuer Bildungsschichten fort, die langsam Anschluss an die Elite gewannen. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs verstärkte sich zunächst noch einmal die imperiale Kontrolle über den Vorderen Orient und die islamische Welt. Die Maghreb-Länder, Westafrika und Britisch-Indien waren wie im Ersten Weltkrieg Rekrutierungsplätze für die Armeen der Franzosen und Briten. Tatsächlicher oder vermeintlicher Widerstand gegen die Einbeziehung der Kolonien und halbkolonialen Staaten in die alliierte Kriegführung wurde in Ägypten, Irak, Iran und Indien mit Gewalt gebrochen. Doch am Ende des Krieges stand der endgültige Zusammenbruch des imperialistischen Weltsystems. Dank der – wenn auch langsamen – Ausweitung der Schulbildung, die zu einer Politisierung der städtischen Jugend geführt hatte, wurde die Forderung nach Unabhängigkeit von immer breiteren sozialen Gruppen unterstützt. Die neuen Weltmächte, die USA und die UdSSR, lehnten das Prinzip kolonialer Herrschaft ohnedies ab. Die Kolonialmächte hatten nunmehr weder die militärische und wirtschaftliche Kraft noch die Idee der eigenen natürlichen Überlegenheit, die seinerzeit die Errichtung der Kolonialsysteme begleitet hatten. Eine Fortführung hätte, um moralisch gerechtfertigt werden zu können, jetzt zudem anders als zuvor eine aktive, mit finanziellen Lasten für die Kolonialmächte verbundene Entwicklungspolitik erfordert. Zu einem solchen Imperialismus, der mit großen Kosten verbunden gewesen wäre, waren die Westeuropäer nicht bereit. Innerhalb weniger Jahre nach Kriegsende wurden so fast alle europäischen Kolonien unabhängig. In der muslimischen Welt kam es in diesem Zusammenhang nur in Algerien und Niederländisch-Indien (Indonesien) zu langwierigen und blutigen Kriegen. Dies erklärte sich, wie wir sahen, im algerischen Fall mit der Rolle der Siedler, im indonesischen mit der großen Bedeutung der Kolonie für das nach dem Zweiten Weltkrieg angeschlagene niederländische Selbstbewusstsein.

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So scheiterte das älteste europäische Siedlungsprojekt im Vorderen Orient Anfang der 1960er Jahre. Ein anderes derartiges Projekt, das unter für die Siedler zunächst viel widrigeren Umständen begonnen worden war, konnte dagegen aus der Sicht seiner Protagonisten erfolgreich abgeschlossen werden: die zionistische Besiedlung Palästinas. Die Überlebenden der Shoah suchten nach dem Zweiten Weltkrieg in großer Zahl nach Palästina einzuwandern. Sie daran zu hindern erschien angesichts des Geschehenen moralisch problematischer als zuvor. Die zionistische Staatsgründung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nicht allein von den Westmächten unterstützt, die angesichts der deutschen Verbrechen, gegen die sie nichts unternommen hatten, in einer schwierigen Lage waren. Zustimmung kam auch von der Sowjetunion, deren Führung im Zionismus ein fortschrittliches Element in einem aus ihrer Sicht feudal-reaktionären nahöstlichen Umfeld sah. Es waren jedoch nicht allein diese Unterstützung, sondern auch die Organisationskraft und der Kampfgeist der israelischen Truppen, die es ihnen ermöglichten, die verbündeten arabischen Nachbarstaaten zu besiegen und die Grenzen des neuen Staates jenseits des im UNTeilungsplan für Palästina Vorgesehenen zu verschieben. Ein großer Teil der palästinensischen Bevölkerung war während des Krieges aus dem Gebiet des entstehenden Israel geflohen oder vertrieben worden. Eine Rückkehr wurde ihnen von israelischer Seite nicht gestattet. Sie lebten in der Folge als selbstbewusste palästinensische Diaspora unter nicht immer einfachen Bedingungen in den Nachbarstaaten und zunehmend auch anderswo auf der Welt. Diese Diaspora kann seitdem auf die verbal artikulierte, aber nicht immer von Taten begleitete Solidarität der muslimischen Welt zählen. Die aus ihrer Sicht vom Westen (mit)verantwortete nakba, die »Katastrophe« der palästinensischen Vertreibung, ist für Muslime weltweit seitdem ein zentraler Baustein in ihrer Wahrnehmung einer vom Westen zu Lasten der Muslime beherrschten Weltordnung. Weniger im Bewusstsein der muslimischen Welt ist der Umstand, dass in der Folge der israelischen Staatsgründung der Druck auf die jahrtausendealten jüdischen Gemeinden des Vorderen Orients, etwa in Form von Pogromen, so weit wuchs, dass sie innerhalb weniger Jahre fast gänzlich auswanderten. Nicht wenige haben in Israel eine neue Heimat gefunden und waren dort lange Zeit Opfer von Diskriminierung von Seiten der dominanten europäischen Einwanderer. Das Desaster der nakba, insbesondere das klägliche Scheitern der arabischen Armeen, delegitimierte die Machtstellung der bis dahin herrschenden Großgrundbesitzereliten und mit ihr die Dominanz der von diesen getragenen liberalen politischen Ordnungsvorstellungen in der arabischen Welt. In den Folgejahren gelangten in vielen Ländern über Militärputsche Offiziere zur Macht, die aus den Mittelschichten stammten. Sie fühlten sich zu einer grundlegenden Umgestaltung ihrer jeweiligen Länder im Interesse der einfachen Volksmassen berufen. Für Mustafa Kemal war eine Türkei wie das Frankreich der Dritten Republik Ziel all seiner Bemühungen. Die revolutionären Offiziere der arabischen Welt nach dem Zweiten Weltkrieg orientierten sich nicht mehr am westeuropäischen Modell. Für sie lag die Zukunft in einem vage definierten Sozialismus, z. T. suchten sie das Bündnis mit der Sowjetunion. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges waren die Westmächte nicht mehr unverzichtbar, wenn man Hilfe bei der Modernisierung des Landes oder zur Aufrüstung der Armee benötigte.

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Diese modernisierenden Militärregime gingen zunächst recht erfolgreich daran, mit großen symbolischen Gesten die Unabhängigkeit von den ehemaligen Kolonialmächten deutlich zu machen. Dazu gehörte nicht zuletzt die Verstaatlichung des Suezkanals in Ägypten, die mit sowjetischer und amerikanischer Unterstützung auch gegen den militärischen Widerstand Großbritanniens und Frankreichs durchgesetzt werden konnte. Auch gelang es, den Bildungssektor massiv auszuweiten und endlich den allgemeinen Schulbesuch weitgehend durchzusetzen. Vorsichtige Landreformen schwächten die alten Eliten und schufen eine neue ländliche Mittelschicht. Auf Dauer weniger glücklich waren die Versuche, auf dem Wege staatlicher Steuerung eine importsubstituierende und auf Autarkie ausgerichtete Industrialisierungspolitik zu unternehmen. Die Ergebnisse waren oft nicht effizient und rissen immer größere Löcher in die staatlichen Haushalte. Die Bevölkerungsexplosion führte schließlich zu wenig gesteuerter Verstädterung. Den Absolventen der neu geschaffenen Bildungseinrichtungen konnten zunehmend keine adäquaten Beschäftigungsmöglichkeiten mehr geboten werden. Auf diese Weise geriet das revolutionäre Modell in die Krise. Wie 1948 die Krise der monarchischen Regime durch die nakba wurde diese Krise durch ein Ereignis manifest: den Sechs-Tage-Krieg von 1967. Die revolutionären Regime der arabischen Welt, allen voran das Ägypten Nassers, erwiesen sich trotz aller Rhetorik als militärisch genauso inkompetent wie ihre Vorgänger. Israel besiegte in kürzester Zeit alle seine arabischen Nachbarn und besetzte dabei das Jordan-Westufer mit Jerusalem, die syrischen Golanhöhen und den Sinai. Am Eindruck des Scheiterns der modernisierenden Militärregime und ihrer Ideologie des panarabischen Nationalismus vermochte auch der etwas erfolgreicher verlaufende Jom-Kippur-Krieg von 1973 nichts zu ändern.

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Nach 1967: Klientelismus und Islamismus

Zur Unterstützung Ägyptens und Syriens im Jom-Kippur-Krieg beschlossen die großen arabischen Ölexporteure am Persischen Golf einen Ölboykott gegen die westlichen Verbündeten Israels. Der Ölpreis vervielfachte sich in kürzester Zeit und blieb bis Mitte der 80er Jahre auf hohem Niveau. Dieser Ölpreisschock markierte das Ende der 30-jährigen wirtschaftlichen Boomphase im Westen, aber auch in vielen Ländern der postkolonialen Welt nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Vorderen Orient und indirekt in der gesamten islamischen Welt ordnete sich das strategische Gleichgewicht neu. Die revolutionären Regime, die zuvor das Geschehen dominiert hatten, waren wirtschaftlich wie politisch angeschlagen: politisch auf Grund ihrer offenkundigen militärischen Unfähigkeit. Wirtschaftlich standen sie schlecht da, weil die bis dahin verfolgte Politik der Importsubstitution unter staatlicher Planung zwar kurzfristig erfolgreich gewesen war und viele Menschen in Beschäftigung gebracht hatte. Sie war aber letztlich auf Kredit finanziert und führte in den bevölkerungsreichen und ressourcenarmen arabischen Ländern, allen voran Ägypten, nicht zu einem selbsttragenden Aufschwung. Die hohen Ölpreise ließen nun die Golfmonarchien anstelle der revolutionären linksnationalistischen Regime zum dominanten wirtschaftlichen und politischen Faktor in der Region werden. Dies geschah zum

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einen dadurch, dass der wirtschaftliche Aufschwung in bis dahin kaum entwickelten Ländern wie Saudi-Arabien Arbeitskräfte aus den verschiedensten Regionen der muslimischen Welt, zunächst aber insbesondere aus dem arabischen Raum, anzog, zum anderen dadurch, dass islamistische Intellektuelle, die in den revolutionären Staaten oftmals verfolgt wurden, an den neuen Universitäten am Golf Anstellung fanden und von dort aus islamische und islamistische Ideen verbreiteten. Auch von Saudi-Arabien finanzierte und kontrollierte Einrichtungen wie die Islamische Weltliga sorgten nun für weltweite Verbreitung eines sehr konservativen Islam. Auch außerhalb der konservativ-islamischen Golfstaaten sahen die Regierenden die größere Popularität islamischer Ideen bald gern. Das Scheitern staatlich gelenkter Industrialisierung und die Unzufriedenheit einer gut ausgebildeten Jugend ohne Zukunftsaussichten ließen im politischen Klima der späten 60er und frühen 70er Jahre den Kommunismus als reale Bedrohung für die vormals revolutionären Regime erscheinen. Dies galt umso mehr, als ihre schwierige Finanzlage die Regime des Vorderen Orients auf einen Abbau staatlicher Subventionen für die einfachen Schichten und eine wirtschaftliche Liberalisierung setzen ließ. Die neu entstehende Privatwirtschaft war dabei meist ein sogenannter Crony-Kapitalismus, in dem wirtschaftliche Perspektiven sich vor allem denjenigen öffneten, die den Herrschern verwandtschaftlich oder politisch eng verbunden waren. Um den neuen wirtschaftlichen Kurs einer verstärkten Marktöffnung nach außen und eines Verzichts auf staatlich gesteuerte Industrialisierung durchzusetzen, war es aus Sicht der Mächtigen daher günstig, wenn gerade an den Universitäten islamistische Gruppen als Gegengewicht zu den immer noch starken Kommunisten auftraten. Der Erfolg der Islamisten ist allerdings nicht allein oder zuvörderst durch die bewusste Förderung dieser Strömung durch die Regierungen in der Region zu erklären. Vielmehr konnten sie, anders als die Kommunisten und die Vertreter von nationalistischen Ideologien des sog. tiers-mondisme, an religiöse Bilderwelten anknüpfen, die in den Gesellschaften der islamischen Welt auch über die gesellschaftlichen Eliten hinaus weit verbreitet waren. Die Religion hatte im politischen Raum und unter den Eliten zeitweise an Bedeutung verloren (wenn auch nie im gleichen Maße wie in Westeuropa). Bei der großen Mehrheit der Bevölkerung war die Gültigkeit religiöser Normen und Ideen jedoch nie wirklich hinterfragt worden. Im Zuge der raschen Verstädterung nach 1960 suchten diese Menschen den von ihnen erfahrenen sozialen Wandel für sich verständlich zu machen. Ein um Antwort auf die politischen wie sozialen Fragen der modernen Welt bemühter Islam, wie ihn die Islamisten anboten, war für sie eine große Hilfe. Die Islamisten schienen zudem vielfach von hoher persönlicher Integrität und Überzeugungskraft, was für die meisten Vertreter der Regime ab den 70er Jahren nicht mehr gelten konnte. Sehr schnell entstand so mit dem Islamismus eine Oppositionsideologie, die weitaus wirkmächtiger war als die aus Europa übernommenen Ideologien, die seit dem 19. Jahrhundert vorgeherrscht hatten. Der ideologische Wandel wird nicht allein in der Stärke islamistischer zivilgesellschaftlicher Oppositionsbewegungen deutlich, sondern auch in der politischen Ausrichtung der Militärregime, die sich ab den 70er Jahren neu etablierten: Bei den Militärputschen in Pakistan 1977 und im Sudan 1985 waren auf jeweils verschiedene Weise isla-

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mi(sti)sche Ideen zentral für die Legitimierung der neuen Machthaber. Auch die laizistischen türkischen Generäle förderten nach ihrem Putsch von 1980 zunächst islami(sti)sche politische Ideen zur ideologischen Absicherung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Eine islamistische Machtübernahme gelang (mit Ausnahme Irans) nur da, wo islamistische Militärs putschten. Doch war der Islamismus in seinen gewaltfreien wie in seinen gewaltbereiten Spielarten seit der Mitte der 70er Jahre eine dauernde Bedrohung für die Stabilität der Regime der islamischen Welt. Die Regierenden bemühten sich, die Islamisten durch konservativ-islamische Maßnahmen in für ihre Macht ungefährliche Bereichen einzubinden (Geschlechterpolitik, Moscheebau). Gewaltbereite Islamisten wurden auf andere Wirkungsfelder verwiesen. Dies war insbesondere der Dschihad in Afghanistan. Hier war die UdSSR 1979 zur Unterstützung eines instabilen kommunistischen Regimes einmarschiert. Von den USA mit Waffen unterstützt und von Saudi-Arabien finanziert, organisierte in der Folge der pakistanische Geheimdienstapparat einen islamistischen Aufstand, dessen Niederschlagung Kosten verursachte, die nicht unerheblich zum Niedergang der Sowjetunion beitrugen und an dessen Ende islamistische Warlords Afghanistan unter sich aufteilten. Meist aber kam es nicht zu einer islamistischen Machtübernahme. Beschwichtigungspolitik der Herrschenden und Repression durch allgegenwärtige Geheimdienste erwiesen sich als erfolgreiche Medizin gegen eine potentielle islamistische Revolution. Die wichtigste Ausnahme war Iran. Hier war der Schah seit den 50er Jahren gezielt gegen jede Form von Opposition oder auch nur unabhängiger politischer Betätigung vorgegangen. Eine politische Beteiligung der nicht zuletzt angesichts der Modernisierungspolitik des Schahs in den 70er Jahren recht breit gewordenen städtischen Mittelschichten war nicht erwünscht. Der Geldzufluss nach der Ölpreisexplosion hatte zudem hier nicht nur zu Wachstum, sondern auch zu Inflation und zusätzlichen sozialen Spannungen geführt. Während die Oberschicht und ein Teil der Mittelschichten vom neuen Reichtum profitierten, litten die städtischen Unterschichten unter den Preissteigerungen und traditionelle Händler unter der internationalen Konkurrenz. In dieser Situation konnten sich Teile des sehr gut organisierten schiitischen Klerus an die Spitze einer breiten revolutionären Bewegung gegen den für Korruption und Unterdrückung allein verantwortlich gemachten Schah stellen. Durch sukzessives Ausschalten anderer, kommunistischer wie linksislamistischer Kräfte gelang es dem charismatischen Ayatollah Khomeini ab 1979 in Iran ein islamistisches Regime zu etablieren. Dieses konnte sich genau auf die Schichten stützen, die unter den Veränderungen der 60er und vor allem 70er Jahre gelitten hatten und denen die kulturelle Verwestlichung der Jahrzehnte zuvor als Prozess der Entfremdung vom eigenen Erbe erschienen war. In den meisten Ländern des Vorderen Orients waren aber nicht Revolutionen (auch nicht Militärputsche) das hervorstechendste Merkmal der politischen Geschichte der Zeit nach 1970, sondern eine erstaunliche politische Stabilität. Angesichts der ideologischen Delegitimierung vieler politischer Systeme der muslimischen Welt mag das erstaunen. Eben war bereits auf die Rolle allgegenwärtiger Geheimdienstapparate verwiesen worden. Wichtiger aber noch ist der fast alle Län-

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der der Region prägende Klientelismus.16 Damit ist gemeint, dass es den Regierenden gelang, im Gegenzug für politische Loyalität soziale Wohltaten oder Privilegien unter allen potentiell für das Regime gefährlichen Gruppen der Gesellschaft zu verteilen. Dies können Lebensmittelsubventionen für die städtischen Unterschichten oder der Bau einer Schule in einem Dorf sein. Führende Militärs und Beamte erhalten nicht allein hohe Gehälter und eine weit über dem landesüblichen liegende Krankenversorgung. Sie erhalten darüber hinaus die Möglichkeit, unter Umgehung von Regelungen zollfrei Waren einzuführen, die Arbeitskraft von Rekruten für ihre privaten Zwecke auszunutzen usw. Traditionelle Führer wie Stammeschefs und Dorfoberhäupter spielen in solchen Netzwerken auf der regionalen und lokalen Ebene eine große Rolle. Ihre Macht vor Ort beruht nicht zuletzt auf ihren guten Beziehungen in die Hauptstadt, wo sie etwas für »ihre Leute« ausrichten können. Korruption ist in einem solchen Regime nicht die Ausnahme, sondern normal. Da sie aber formal illegal bleibt, sind alle, insbesondere die führenden Gruppen der Gesellschaft, potentiell durch das Regime erpressbar. Sie bleiben politisch loyal, nicht allein wegen der durch den Herrscher gewährten Vorteile, sondern auch aus Angst vor Strafverfolgung sowohl im Falle von Renitenz gegen das Regime wie im Falle seines Sturzes. Ein zentraler Bestandteil des Klientelsystems vieler Staaten der Region sind Rentengelder, über die das Regime verfügt. Dies gilt vor allem für die bevölkerungsarmen Ölstaaten am Golf, in geringerem Maße aber auch für andere Staaten. Ein Rentierstaat ist ein Staat, der über Einnahmen (sog. Renten) verfügt, die nicht auf der wirtschaftlichen Tätigkeit seiner Einwohner beruhen. Dies sind vor allem Tantiemen aus der Ausbeutung von Bodenschätzen wie Öl. Daneben spielen Einnahmen aus Gastarbeiterüberweisungen und Benutzungsgebühren für Kanäle oder Militärbasen eine Rolle. Renten können aber auch Subventionszahlungen ausländischer Regierungen (Entwicklungs- und Militärhilfe) sein, die vor allem solche Staaten erhalten, deren Stabilität für den jeweiligen Geldgeber von Bedeutung ist. Ein Beispiel in dieser Hinsicht wären die amerikanischen Zahlungen an Ägypten, nachdem das Land im Jahr 1979 Frieden mit Israel geschlossen hatte. Der Herrscher eines Rentierstaates, dem in der Regel die Renten zunächst einmal zukommen, wird so in die Lage versetzt, in größerem Umfang Gelder an die Bevölkerung zu verteilen. In einem Rentiersystem finanziert der Staat zumindest in Teilen die Bürger und erwartet dafür im Gegenzug politisches Wohlverhalten. Das Gegenmodell ist der Produktionsstaat, in dem die Bürger über Steuern den Staat finanzieren und insofern im Prinzip Mitbestimmung verlangen können. Gleichviel, welche Rolle Renten für den Staatshaushalt eines Landes spielen: Überall gilt, dass ohne Nähe zur politischen Macht große wirtschaftliche Macht in vorderorientalischen Staaten und anderen Ländern der sog. Dritten Welt nicht denkbar ist, während in westli-

16 Eine sehr gute Darstellung der Funktionsweise dieser Regime findet sich bei Willis, Michael J.: Politics and Power in the Maghreb. Algeria, Tunesia and Morocco from Independence to the Arab Spring, Oxford 2014.

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chen Industriestaaten in der Regel große wirtschaftliche Macht umgekehrt zu politischem Einfluss führt. Die Regime der meisten Länder des Vorderen Orients waren so am Ende des 20. Jahrhunderts ausgesprochen stabil. Diese Stabilität der politischen Systeme wurde allerdings fast nirgends von wirtschaftlicher Entwicklung begleitet. Ausnahmen waren die bevölkerungsarmen Ölländer. Hier reichte die Höhe der Rentenzuflüsse aus, um eine von außen finanzierte Entwicklung voranzutreiben. Die zweite Ausnahme war die Türkei. Hier erwies sich seit den 80er Jahren das Rezept des IWF als erfolgreich, auf exportgetriebene Entwicklung zu setzen. Die Türkei profitierte dabei vom Massentourismus, von der Nähe des europäischen Marktes, ihrer vergleichsweise gut ausgebauten Infrastruktur und dem Ausbildungsstand der Bevölkerung. Ob das türkische Modell anderswo in der Region wiederholbar ist, bleibt offen. Hier war die sozioökonomische Konsequenz des im Verhältnis zur geringen Dynamik der Wirtschaft hohen Bevölkerungswachstums, einer Verstädterung ohne entsprechenden Ausbau der Infrastruktur sowie schlechter Bildungsmöglichkeiten und Korruption fast überall das Gleiche: Der Abstand zu den reichen Ländern der Welt konnte nicht verringert werden. Dabei wurden die fortdauernde Unterentwicklung genauso wie politische Krisen von weiten Teilen der Gesellschaft mehr mit der unterstellten Kontinuität imperialistischer Fremdbestimmung als mit den Strukturen der vorderorientalischen Staaten erklärt. Auch wenn der politische Islam nur in den wenigsten Ländern zur Macht gekommen war, boten konservative islamische Wertvorstellungen den wichtigsten Halt in einer für die Menschen immer unübersichtlicheren Welt. Angesichts ökonomischer wie politischer Krisen verstärkte sich zudem wieder die Tendenz zum Zusammenschluss auf der Grundlage von religiöser oder ethnischer und tribaler Zugehörigkeit (zuweilen auch auf der Basis von Stammesverbänden). Die Lage nichtmuslimischer Minderheiten ist dadurch in vielen Ländern deutlich kritischer geworden. Das Gleiche gilt für die Verschärfung der Konfliktlagen zwischen Sunniten und Schiiten, für die auch das Ringen zwischen dem konservativ-sunnitischen Saudi-Arabien und dem schiitischen Iran um die regionale Vorherrschaft eine Rolle spielt. Diese Entwicklungen erscheinen den Globalisierungsprozessen in anderen Teilen der Welt entgegengesetzt. Doch zum einen führt auch im Westen die Globalisierung in den letzten Jahren vielfach zu einer Rückbesinnung auf regionale und nationale Identitäten, die als Schutzwall gegen eine unkontrollierbare Globalisierung angesehen werden. Zum anderen macht die kulturelle Globalisierung auch vor der muslimischen Welt nicht halt. Noch in den 90er Jahren haben Islamisten im Regelfall westliche Konzepte wie Demokratie und Menschenrechte als unislamisch abgelehnt. Heute sehen viele – in der Literatur oft als Postislamisten bezeichnete – Gruppen ihr politisches Engagement parallel zu demjenigen christdemokratischer Parteien in Europa. Die neuen Medien, Satellitenkanäle und das Internet ermöglichen einen transnationalen Pluralismus der Meinungen, der in den autoritär regierten Ländern der Region zwischen 1950 und 1990 unvorstellbar war. Beides hat nicht wenig zu den Unruhen seit 2011 in der arabischen Welt beigetragen. Die ursprünglich weitverbreiteten Hoffnungen auf eine Demokratisierung des Vorderen Orients haben mittlerweile einer gewissen Ernüchterung Platz gemacht. Im Gefolge der Revolutio-

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nen kam es dort, wo die Bevölkerung ethnisch-religiös stark segmentiert war, zu blutigen Bürgerkriegen, teils zu völligem Staatszerfall (Syrien, Jemen, Libyen). Anderswo, insbesondere in Ägypten, hat die Revolution nur zu einem Austausch des Personals innerhalb traditioneller Elitenmilieus, insbesondere des Militärs, nicht aber zu einer strukturellen Veränderung geführt. Ob dies in Tunesien, Algerien und Sudan dauerhaft anders sein wird, ist im Moment noch offen. Die oben beschriebenen sozioökonomischen und kulturellen Strukturen lassen sich durch eine politische Revolution jedenfalls genauso wenig von einem Tag zum anderen verändern wie der Umstand, dass konservative Deutungen von Islam und die damit einhergehende religiöse Normierung des Alltagslebens und der Kultur in den letzten Jahren stark an Boden gewonnen haben. Das lässt sich auch am Beispiel des sozioökonomisch modernsten Landes der Region illustrieren, der Türkei. In der Türkei war die Phase der modernisierenden Diktatur bereits nach dem Zweiten Weltkrieg zu Ende gegangen. An die Stelle der Einparteienherrschaft trat, wie wir sahen, hier ein pluralistisches System, das allerdings bis in das 21. Jahrhundert hinein unter militärischer Aufsicht stand. Jedoch war eine einheimische Unternehmerschicht entstanden, die vor allem mit den neoliberalen Reformen seit den 80er Jahren an Breite gewann und zunehmend auch das politische Geschehen im Lande bestimmte.17 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts konnte diese Unternehmerschicht im Bündnis mit westlich orientierten Angehörigen der Bildungseliten die Macht des Militärs brechen. Die auch in der Türkei starken klientelistischen Netzwerkstrukturen der Gesellschaft führten jedoch dazu, dass in dem Moment, als das Militär als Schiedsrichter und entscheidender Machtfaktor wegfiel, das um den gegenwärtigen, postislamistischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gruppierte stärkste Klientelnetzwerk versuchte, die politische und wirtschaftliche Macht im Land zu monopolisieren. Ob dies angesichts der vergleichsweise großen Stärke der Zivilgesellschaft und der Komplexität der politischen und wirtschaftlichen Strukturen des Landes auf Dauer gelingt, bleibt abzuwarten. Die Darstellung war in den bisherigen Abschnitten fast ganz auf den Vorderen Orient beschränkt und hat andere Teile der muslimischen Welt, insbesondere in Zentral-, Süd und Südostasien allenfalls gestreift. Das entspricht einer nicht unproblematischen Tradition in der Islamwissenschaft, die als Fach immer eng mit dem arabisch- und persischsprachigen Raum verbunden war. Angesichts des Umstandes, dass die große Mehrheit der Muslime heute in Asien lebt und auch der subsaharische Islam immer wichtiger wird, ist das bedauerlich. In Hinblick auf die Religion allerdings ist angesichts des Einflusses der Golfstaaten und des Prestiges des Arabischen der Vordere Orient noch immer von deutlich überproportionaler Bedeutung. Außerdem haben sich viele der oben beschriebenen zentralen gesellschaftlichen Entwicklungen im muslimischen Asien in ganz ähnlicher Weise vollzogen. Wir können also bei der Betrachtung des asiatischen Raums diese zentralen Prozesse noch einmal systematisch in den Blick nehmen. 17 Yankaya, Dilek: La nouvelle Bourgeoisie islamique. Le modèle turc, Paris 2013.

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Imperiale Herrschaft im engeren Sinne hat vor der Kolonialzeit in Asien nur im zentralasiatischen und indischen Raum eine Rolle gespielt. Überall allerdings waren diese Imperien zum Zeitpunkt der Kolonisierung bereits zerfallen und hatten kleineren, regionalen Herrschaften Platz gemacht. Es war die Kolonialherrschaft, die die Grundlage für die heutigen Nationalstaaten gelegt hat. Indonesien und Malaysia sind als Nationen schlicht Fortsetzungen der niederländischen und britischen Kolonialstaaten und haben keine gemeinsame politische Tradition, die in die vorkoloniale Epoche zurückreicht. Wir haben es hier mit dem gleichen Phänomen zu tun, das wir bereits in der ostarabischen Welt beobachten konnten. Im Moment der Unabhängigkeit war eine auf das Territorium der Kolonie fixierte einheimische Elite herangewachsen, die kein Interesse daran hatte, die Kontrolle über das nunmehr unabhängige Territorium mit Personen von außerhalb zu teilen oder auf die Kontrolle über das gesamte ehedem koloniale Territorium zu verzichten. In Zentralasien haben die Zaren zunächst eine indirekte Herrschaft über die zentralasiatischen Khanate ausgeübt. Es gab eine gemeinsame, allerdings wenig normierte türkische Schriftsprache; die Stadtbevölkerung sprach überall auch persisch. Es waren die Sowjets, die dann in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts relativ willkürlich neue Verwaltungseinheiten schufen und für diese jeweils eine eigene Schriftsprache normierten. Diese Sowjetrepubliken waren es, die sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR als unabhängige Nationen wiederfanden, die sich nun eine jeweils eigene, im Regelfall bis ins Mittelalter zurückreichende Geschichte erfanden. In Indien war die Lage schwieriger. Bis ins 18. Jahrhundert hatten die Muslime dominiert und auch später herrschten vielerorts Muslime über eine nichtmuslimische Mehrheit. Diese politische Dominanz kam mit der Kolonialepoche an ihr Ende. Die Forderungen der indischen Nationalbewegung seit dem späten 19. Jahrhundert, ein autonomes, schließlich unabhängiges Indien aus der britischen Kronkolonie und den zahlreichen mit ihr verbundenen Fürstenstaaten zu schaffen, war für viele Muslime inakzeptabel. Sie hatten die politische Kontrolle verloren, waren weit weniger als die Hindus in moderne Sektoren von Wirtschaft und Verwaltung integriert und drohten als Minderheit in einem unabhängigen Indien in eine noch schwächere Position zu geraten. So entstand eine eigene muslimisch-indische Nationalbewegung, die die Muslime Indiens als eigene Nation begriff und für diese einen eigenen Staat forderte. Ein solcher entstand dann 1947 in den Gebieten mit muslimischer Mehrheit in Gestalt von Pakistan. Dabei stellte die Staatsgründerelite zunächst eher kulturelle als glaubensmäßige Zugehörigkeit zur islamischen Religion in den Mittelpunkt der nationalen Identität. Im Laufe der Zeit spielte die religiöse Praxis und Überzeugung dann eine immer größere Rolle. Diese dominiert heute in einer für individuelle Freiheitsrechte nicht unproblematischen Weise. Ähnliche Phänomene beobachten wir in Malaysia (und im Vorderen Orient in Israel oder der Türkei). In all diesen Ländern ist die Zugehörigkeit zur jeweils dominanten Religion konstitutiv für die Zugehörigkeit zur Nation: Die durch Religion (und Sprache) markierten Malaien sind in Malaysia das Staatsvolk und gegenüber chinesisch- und indischstämmigen Bürgern rechtlich privilegiert. Ein »wahrer« Türke ist Muslim, ein Armenier hat allenfalls die türkische Staatsbürgerschaft. Im Fall des von säkularen

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Zionisten gegründeten Israel ist dieses Phänomen noch deutlicher: Nur in einem sozialen, nicht religiösen Sinne jüdische Personen sind Staatsbürger mit allen Rechten. Auch wenn der politische Einfluss der Religion sowohl in Israel wie in der Türkei heute größer ist als 1950, erscheint die Macht konservativer Religion in beiden Fällen bei weitem nicht so dominant wie in Pakistan. Neben der Religion war im pakistanischen Fall auch die Frage problematisch, welche Rolle den jeweils sehr unterschiedlichen Sprachgruppen innerhalb dieser Nation zukommen sollte. Die Diversität der Bevölkerung war in dieser Hinsicht sehr viel größer als andernorts, zudem gab es keine von vorneherein dominante Gruppe. Viele bengalische Muslime sahen ihre Interessen im pakistanischen Staat nicht ausreichend gewahrt, so dass es 1971 zu einem der wenigen Fälle kam, in dem postkoloniale Eliten einer Veränderung der in oder am Ende der Kolonialzeit gezogenen Grenzen zustimmen mussten. In einem blutigen Krieg machte sich Bangladesch von Pakistan unabhängig. In den asiatischen muslimischen Ländern fanden, was die innere politische Ordnung und die dominanten sozialen Gruppen angeht, ähnliche Prozesse statt wie im Vorderen Orient. In der Kolonialzeit vor 1920 dominierten lokale Grundeigentümer und traditionelle Eliten, in Niederländisch-Indien (Indonesien) und in Zentralasien mehr oder weniger bedrängt von der Kolonialmacht oder Siedlern mit ihren Ansprüchen. An diese Phase schloss sich eine der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft an. Am radikalsten geschah dies im sowjetischen Zentralasien, das von 1920 bis 1991 beim Versuch des Aufbaus des Kommunismus alle Wechselfälle der Geschichte der UdSSR bis hin zu furchtbaren Gewalthandlungen und Hungersnöten miterlebte. Der Kommunismus verlor dann in der sogenannten Stagnationsepoche vor der Perestroika seine Glaubwürdigkeit ganz. Das hinderte die kommunistischen Parteichefs der zentralasiatischen Sowjetrepubliken nicht daran, als Präsidenten auf Lebenszeit die nunmehr unabhängigen Nationalstaaten mit genau den Mitteln zu regieren, die oben für vorderorientalische klientelistische, autoritäre Regime beschrieben wurden. In Pakistan und Indonesien lag die Phase der revolutionären Umgestaltung später und ging auch keineswegs so weit wie in der UdSSR. Ähnlich wie in vielen Ländern der zeitgenössischen arabischen Welt regierten auch hier nach der Unabhängigkeit in den 50er und 60er Jahren linksnationalistische autokratische Reformer, deren Ideen und Maßnahmen mit denen Nassers in Ägypten zu vergleichen sind. Nach deren Scheitern finden wir hier genauso wie im Vorderen Orient oder Zentralasien klientelistische Regime, die nur in Pakistan zeitweilig islamistisch aufgeladen waren. Malaysia und Indonesien haben seit den 1990er Jahren Anteil am Wirtschaftsaufschwung in Ostasien. Dabei gibt es durchaus Parallelen zur Entwicklung in der Türkei. Pakistan, Bangladesch und die meisten Länder in Zentralasien dagegen scheinen wirtschaftlich den Anschluss an die entwickelte Welt im Westen wie in Ostasien immer weiter zu verlieren. In politischer Hinsicht scheinen sowohl offene Militärdiktatur wie islamistische Utopien in Süd- und Südostasien im Moment keine Konjunktur zu haben. Pluralistische Demokratie geht einher mit Klientelismus, und immer wieder kommt es zu

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Versuchen, die Macht der Opposition mit problematischen Methoden zu beschränken. Die sozialwissenschaftliche Forschung hat in den letzten Jahrzehnten die Rolle der Religion im Kontext der Probleme von Unterentwicklung und Autoritarismus als eher gering oder inexistent veranschlagt.18 Diese Frage kann hier nicht weiter diskutiert werden. Dass zwischen den Gesellschaften der mehrheitlich von Muslimen bewohnten Länder der Welt in Hinblick auf politische Systeme und wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsstand bei allen Unterschieden auch zahlreiche Gemeinsamkeiten bestehen, ist in diesem knappen Überblick hoffentlich deutlich geworden. Diese Gemeinsamkeiten erklären sich, selbst wenn man die Rolle der Religion nicht gänzlich in Abrede stellen will, nicht allein aus dieser, sondern insbesondere auch aus dem im Vergleich mit Europa oder Ostasien zu konstatierenden sozioökonomischen Entwicklungsrückstand und – in Hinblick auf politische Debatten und Haltungen – aus gemeinsamen (post)kolonialen Erfahrungen.

Literatur zum Weiterlesen Allgemeines zur islamischen Welt und dem Vorderen Orient insgesamt: Buresi, Pascal: Histoire des pays d’Islam 1453 à nos jours, Paris 2018 (auch zu Süd- und Südostasien). Cammett, Melanie e.a.: A Political Economy of the Middle East, Boulder 2015. Krämer, Gudrun: Der Vordere Orient und Nordafrika ab 1500. Neue Fischer Weltgeschichte Bd. 9, Frankfurt 2016. Lapidus, Ira: A History of Islamic Societies, 2. Aufl. Cambridge 2002. Robinson, Francis/Hefner, Robert W. (Hg.): The New Cambridge History of Islam, Bde. 5 & 6, Cambridge 2010.

Zu einzelnen Reichen und Regionen: Amanat, Abbas: Iran. A Modern History, New Haven 2017. Daly, M. W. (Hg.): The Cambridge History of Egypt, Bd. 2, Cambridge 1998. Findley, Carter V.: Turkey, Islam, Nationalism, and Modernity. A History, 1789–2007, New Haven 2010. Haarmann, Ulrich (Hg.): Geschichte der arabischen Welt, 4. Aufl., München 2001. Hanioğlu, Șükrü: A Brief History of the Late Ottoman Empire, Princeton 2008. Hourani, Albert: A History of the Arab Peoples, London 1991. Keddie, Nikkie R.: Modern Iran. Roots and Results of Revolution, 2. Aufl. 2003. Paul, Jürgen: Zentralasien. Neue Fischer Weltgeschichte Bd. 10, Frankfurt 2012. Quataert, Donald: The Ottoman Empire 1700–1922, Cambridge 2. Aufl. 2005. Roy, Olivier: L’Asie centrale contemporaine, Paris 4. Aufl. 2010.

18 So Oliver Schlumberger: Autoritarismus in der arabischen Welt, Baden Baden 2018, S. 18.

Muslime in Afrika südlich der Sahara: Mehrheitsgesellschaften und Minderheiten Roman Loimeier

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Einleitung

In den europäischen und nordamerikanischen Forschungstraditionen hat sich bei der Darstellung muslimischer Gesellschaften seit der Kolonialzeit die Idee etabliert, die Gebiete südlich der Sahara gesondert zu betrachten und sogar von einem »afrikanischen Islam« zu sprechen,1 der sich gegenüber dem »arabischen Islam« (in Nordafrika und auf der arabischen Halbinsel) durch seine heterodoxen Praktiken auszeichne. Obwohl muslimische Gesellschaften südlich und nördlich der Sahara (wie auch in der Sahara), im Niltal, in Äthiopien und an der ostafrikanischen Küste historisch auf mannigfaltige Weise sowohl miteinander, wie auch mit den muslimischen Gesellschaften der arabischen Halbinsel verbunden waren, hat sich die Vorstellung eines »afrikanischen Islam« in der Literatur hartnäckig gehalten2 und wurde erst in jüngerer Zeit grundlegend in Frage gestellt.3 Die Vielzahl muslimischer Gesellschaften in Afrika, ihre vielfältige geographische, ethnische und kulturelle Einbettung, ihr unterschiedliches historisches Erbe und ihre verschiedenen Erfahrungen der Interaktion mit christlichen Kirchen, dem Judentum und afrikanischen Religionen machen es außerordentlich schwer, allgemeingültige Aussagen über »die Muslime« in Afrika zu machen. Dazu kommt, dass sich im 20. Jahrhundert im subsaharischen Afrika zahlreiche Salafi-orientierte Reformbewegungen (s. unten) entwickelt und – mit unterschiedlichem Erfolg – etabliert haben.4 Die Salafi-orientierten Reformbewegungen haben zudem die Entwicklung von »gegenreformistischen« Bewegungen aus dem Kreis der Sufi-Bruderschaften angestoßen. In der Folge kam es in vielen muslimischen Gesellschaften des subsaharischen Afrika in den letzten Jahrzehnten zu erbitterten Auseinandersetzungen um Fragen der »rechten Lebensführung« und religiös-politische Deutungshoheit. Die Entwicklung des Islams im subsaharischen Afrika war zum einen von der Tatsache geprägt, dass Muslime in unterschiedlichen Teilen Afrikas ganz unterschiedliche lokale Kontexte vorfanden und sich mit diesen arrangierten, sodass es 1 S. Monteil, Vincent: L’Islam noir: Une religion à la conquête de l’Afrique, Paris 1980 oder O’Brien, Donald B. Cruise/Coulon. Christian (Hrsg.): Charisma and Brotherhood in African Islam, Oxford 1988. 2 S. hier Westerlund, David/Rosander, Eva Evers (Hrsg.): African Islam and Islam in Africa: Encounters between Sufis and Islamists, London 1997. 3 S. hierzu die Texte in der Literaturliste. 4 S. Loimeier, Roman: Islamic Reform in 20th Century Africa, Edinburgh 2016.

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im Laufe einer langen Geschichte zur Ausprägung zahlreicher lokaler und regionaler muslimisch-afrikanischer »Kulturen« kam.5 Zum anderen haben Muslime im Laufe dieser Geschichte in diesen verschiedenen lokalen und regionalen Kontexten Modelle des Zusammenlebens mit nicht-muslimischen Mehrheiten und Minderheiten entwickelt, die bis heute für viele Teile des subsaharischen Afrika Gültigkeit bewahrt haben. Ganz allgemein kann gesagt werden, dass sich Muslime zunächst immer als Minderheit in nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaften fanden, oder, wie John Hunwick in Bezug auf die Islamisierungsgeschichte des subsaharischen Sahel- und Sudangebiets formulierte: Die Muslime bildeten Inseln in einem Meer von nichtMuslimen (»islands in a sea of pagans«).6 Im Laufe dieser Zeit entwickelten sich diese »Inseln« zu Archipelen und schließlich kehrten sich die Zahlenverhältnisse um, zum Teil erst nach vielen Jahrhunderten der Koexistenz mit nicht-Muslimen: Im subsaharischen Sahel- und Sudangebiet waren die Muslime so im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Mehrheit, die nicht-Muslime zu »islands in a sea of Muslims« geworden. In anderen Regionen des subsaharischen Afrika begannen Prozesse der Islamisierung – die im subsaharischen Sahel- und Sudangebiet im 8. und 9. Jahrhundert begonnen hatten – häufig (aber nicht immer) später und dauerten meist (aber nicht immer) länger, bzw. sind bis heute nicht abgeschlossen. In einigen Regionen Afrikas – wie im nordafrikanischen Maghreb – kam es zu einer vergleichsweise schnellen Ausbreitung des Islams, in anderen Regionen – wie an der ostafrikanischen Küste – blieb der Islam fast eintausend Jahre auf die Küstenorte beschränkt und dehnte sich nicht weiter aus.7

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Der historische Kontext

Lebten die Muslime in den meisten Teilen Afrikas bis zum späten 19. Jahrhundert noch weitgehend in autonomen lokalen Gemeinschaften, oft unter der Autorität eines Imams, eines Emirs oder eines Sultans, so fanden sie sich im frühen 20. Jahrhundert in neuen politischen Kontexten wieder, in denen die hegemoniale Macht

5 S. Loimeier, Roman: Muslim Societies in Africa: A Historical Anthropology, Bloomington 2013. 6 Hunwick, John: Secular Power and Religious Authority in Muslim Society: The Case of Songhay, in: JAH, 37 (1996), 175–194, hier 181. Hier soll ergänzend festgehalten werden, dass mit den »nicht-Muslimen« zunächst – nämlich bis zum 19. Jahrhundert – die Anhänger einer Vielzahl afrikanischer Religionen gemeint sind – mit der Ausnahme Äthiopiens und des Nil-Sudans, wo die ersten Muslime christliche Bevölkerungsmehrheiten vorfanden. Erst im 19. und 20. Jahrhundert trafen Muslime an der ost- und westafrikanischen Küste auf Anhänger unterschiedlicher christlicher Denominationen in nennenswerter Zahl. Eine Ausnahme stellt die Kapkolonie (Kapstadt) dar, wo Muslime und Christen bereits seit der Mitte des 17. Jahrhunderts miteinander koexistierten. Angesichts der Tatsache, dass afrikanische Religionen ganz unterschiedliche Gestalt hatten und haben, verbietet sich ein generalisierender Blick auf diese Religionen. 7 S. Loimeier: Muslim Societies in Africa, 2013.

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an neue, nicht-muslimische Herren übergegangen war. Im Kontext der kolonialen Aufteilung Afrikas wurden aber nicht nur zahllose neue Grenzlinien geschaffen, die nur zum Teil historischen Grenzzonen entsprachen, sondern es wurden auch Gebiete zusammengeschlossen, die bis zu diesem Zeitpunkt kein besonders ausgeprägtes gemeinsames historisches Erbe aufzuweisen hatten. Kamen so die Gebiete an der Guineaküste seit dem 16. Jahrhundert immer stärker in den Einzugsbereich europäischer Handelsmächte und des transatlantischen Sklavenhandels, so entwickelten die »sudanischen« Regionen des westafrikanischen Binnenlandes (arab.: bilād assūdān, »die Länder der Schwarzen«) im Rahmen der Herausbildung islamischer Emirate im Gefolge der Dschihad-Bewegungen in dieser Region seit dem 18. Jahrhundert (s. unten) ein vollkommen anderes historisches Erbe. Während die Dschihad-Bewegungen die bilād as-sūdān grundlegend verwandelt haben, blieben die Gesellschaften des tropischen Waldgürtels an der Guineaküste von diesen strukturellen Veränderungen weitgehend unberührt. Im Kontext der Entstehung französischer, britischer und deutscher Kolonien in Westafrika im späten 19. Jahrhundert wurden die mehrheitlich nicht-muslimischen Gesellschaften der tropischen Waldregionen aber mit muslimischen Mehrheitsgesellschaften des Sudangürtels in neuen kolonialen Territorien wie Elfenbeinküste (Côte d’Ivoire), Gold Coast (Ghana), Togo, Dahomey (Benin), Nigeria oder Kamerun zusammengeschlossen. Konflikte in diesen Territorien konnten leicht in religiösen Kategorien ausgedrückt werden und wurden als historisches Erbe in die koloniale und postkoloniale Geschichte dieser Länder eingeschrieben. Die langfristigen Folgen kolonialer Grenzziehungen lassen sich aber nicht nur für das heutige Westafrika feststellen, sondern auch für andere Gebiete Afrikas, so etwa für den Nilsudan (die Republik Sudan) oder die ostafrikanischen Länder (Kenia, Tansania und Uganda), in denen ebenfalls Bevölkerungen mit ganz unterschiedlichen historischen Traditionen in neuen kolonialen und postkolonialen Verwaltungsgemeinschaften zusammengeschlossen wurden. In der Kolonialzeit entstand so eine Reihe von Konfliktfeldern, die von Auseinandersetzungen zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen geprägt waren und die bis heute Entwicklungsprozesse beeinflussen. Jedoch entwickelte sich die Religion (der Islam) nur in einigen Ländern zu einer Differenzkategorie, die aktiviert wurde, um partikulare Identitäten zu betonen, um die Abgrenzung zu Christen oder zum säkularen Staat zu verschärfen und um angesichts bestehender innerreligiöser Streitigkeiten eine übergreifende Solidarität der Muslime einzufordern. Ganz allgemein lassen sich im gegenwärtigen Afrika drei Gruppen von Ländern mit muslimischen Bevölkerungsgruppen unterscheiden: 1. Länder wie Senegal (Mali, Niger, Somalia, Gambia), in denen die Muslime eine klare und unangefochtene Mehrheit der Bevölkerung stellen. Die Religion (der Islam) ist ein akzeptierter Teil des alltäglichen Lebens aller Menschen, auch der Nicht-Muslime. Es gibt keine nennenswerten religiösen Konflikte zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, obwohl es Klagen von Seiten der Nicht-Muslime hinsichtlich des Grades ihrer Integration (oder Nicht-Integration) in die nationale Gesellschaft geben kann. Existierende Konflikte sind vor allem ökonomischer,

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politischer, sozialer, ethnischer oder kommunaler Natur und nehmen nicht notwendigerweise religiöse Konnotationen an. Konflikte unter Muslimen sind hingegen sehr wohl mit Fragen des religiösen Rituals und Fragen der religiösen Deutungshoheit verbunden, wobei sowohl einzelne Gelehrte, wie auch unterschiedliche religiöse Gruppierungen miteinander konkurrieren. 2. Länder wie Südafrika (Namibia, Botswana, Angola, Togo), in denen die Muslime eine eindeutige Minderheit der Bevölkerung darstellen. Der »Islam« ist kein relevanter Teil des Alltagslebens der Bevölkerungsmehrheit und es gibt wiederum keine nennenswerten religiösen Konflikte zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, obwohl es Klagen von Seiten der Muslime hinsichtlich des Grades ihrer Integration (oder Nicht-Integration) in die nationale Gesellschaft geben kann. Existierende Konflikte beziehen sich auf ökonomische, politische, soziale, ethnische oder kommunale Fragen und nehmen nicht notwendigerweise religiöse Konnotationen an. Konflikte unter Muslimen sind hingegen erneut mit Fragen des religiösen Rituals und Fragen der religiösen Deutungshoheit verbunden, wobei sowohl einzelne Gelehrte, wie auch unterschiedliche religiöse Gruppierungen miteinander konkurrieren. 3. Länder wie Nigeria (Äthiopien, Tansania, Kenia, Tschad, Sudan, Elfenbeinküste, Ghana, Burkina Faso, Kamerun), in denen die Muslime (bzw. Christen) einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung stellen, vielleicht sogar die Bevölkerungsmehrheit, auf jeden Fall aber die Mehrheit in einem oder in mehreren Landesteilen. Falls die Muslime (Christen) im Gesamtstaat oder in einzelnen Landesteilen eine Minderheit darstellen, sind sie so stark, dass sie die Politik und die Entwicklung eines Landes maßgeblich beeinflussen können. Konflikte in diesen Ländern haben multiple ökonomische, soziale, ethnische, politische und kommunale Dimensionen und können jederzeit religiöse Bedeutung erhalten. Die Religion (Islam, Christentum) stellt somit in diesen Ländern eine wichtige Plattform für die politische, soziale, ökonomische, kommunale und ethnische Mobilisierung der Menschen dar.

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Die Dschihad-Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts

Die im 18. und 19. Jahrhundert bestehenden religiösen, politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse im subsaharischen Afrika, insbesondere im subsaharischen Westafrika, wurden in dieser Zeit durch eine Reihe von Dschihad-Bewegungen grundlegend und nachhaltig verändert. Die Ursache für die Dschihad-Bewegungen in den bilād as-sūdān8 lag in der zunehmenden Unsicherheit der sozialen und politischen Verhältnisse in der Region begründet, die wiederum mit der Zunahme des 8 Der Vollständigkeit halber sollte hier angeführt werden, dass es auch in anderen Teilen des subsaharischen Afrika Dschihad-Bewegungen gab, die hier aber aus Platzgründen nicht diskutiert werden können. Dabei handelte es sich zum einen um den Dschihad von Imām

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Sklavenhandels und der Herausbildung einer »predatorial mode of production« (»Raubwirtschaft«)9 verbunden waren. Die Rebellionen gegen die »ungerechte Fürstenherrschaft«, wurden von islamischen religiösen Gelehrten geführt, die in den ihnen zur Verfügung stehenden Texten eine Legitimationsgrundlage für den Widerstand gegen ungerechte Herrschaft fanden. So erklärte der maurische religiöse Gelehrte Nāṣir ad-Dīn im Jahre 1673: »Gott hat es den Fürsten nicht gestattet, ihre Untertanen zu versklaven, zu berauben, oder zu töten. Er hat ihnen im Gegenteil aufgetragen, sie zu beschützen, denn die Völker sind nicht für die Fürsten da, sondern vielmehr die Fürsten für die Völker«.10 Mit dieser Erklärung legitimierte Nāṣir ad-Dīn im Jahre 1673 nicht nur den »Tuubenaan«-Aufstand gegen die Fürsten des Senegaltals, sondern nahm auch eine Kernforderung späterer islamischer Rebellionen voraus, in deren Gefolge im 18. und 19. Jahrhundert im gesamten Sudangürtel Westafrikas neue Staatswesen entstanden, die, zum ersten Mal in der Geschichte des subsaharischen Westafrika, unter der Führung islamischer Gelehrter standen. Diese neuen Staatswesen, häufig Imamate genannt, wurden islamisch-religiös legitimiert und beendeten in weiten Teilen der bilād as-sūdān die bis dahin bestehende Koexistenz von Islam und nicht-islamischen Kulten an den Fürstenhöfen. Nicht-muslimische Bevölkerungsgruppen, die im 18. Jahrhundert noch die Mehrheit der Bevölkerung in den bilād as-sūdān darstellten, wurden im 19. Jahrhundert eine Minderheit. Zur gleichen Zeit erfuhren die Muslime in den bilād assūdān eine neue Phase der Entwicklung des Islam, die als »zweite Konversion« oder als »zweite Islamisierung« bezeichnet wurde,11 und zwar deshalb, weil nun das islamische Recht der maßgebliche Rahmen für die Organisation des Alltagslebens wurde. Die Entwicklung der Dschihad-Bewegungen in den bilād as-sūdān und der aus ihnen erwachsenden islamischen Imamate zeigt jedoch, dass es kein einheitliches »Modell« eines Dschihad gab, sondern unterschiedliche lokale Rahmenbedingungen und, daraus resultierend, eine breite Palette unterschiedlicher islamischer Herrschaftsformen: so wie jeder Dschihad seinen eigenen Charakter hatte, so entwickelte auch jedes Imamat seine eigenen Herrschaftsformen, vom Modell eines nahezu

Aḥmad »Granj« al-Ghāzī in Äthiopien in der Mitte des 16. Jahrhunderts, der sich gegen die Vormachtsbestrebungen der christlichen Kaiser im äthiopischen Hochland richtete (und scheiterte), sodann der Dschihad von Muḥammad Aḥmad, dem »Mahdī« im osmanisch-ägyptischen Sudan, der sich Ende des 19. Jahrhunderts gegen die Fremdherrschaft der »Türken« richtete; schließlich der Dschihad von Sayyid Muḥammad ʿAbdille Ḥassan am Horn von Afrika zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der sich als inner-somalische Reformbewegung verstand, sich aber rasch zu einer anti-kolonialen (anti-britischen) Widerstandsbewegung entwickelte (s. Loimeier: Muslim Societies in Africa, 2013). 9 Reyna, Stephen: Wars Without End: The Political Economy of a Precolonial African State, Hanover 1990, 67. 10 Barry, Boubacar: La Sénégambie du XVème siècle. Traité négrière, Islam et conquête coloniale, Paris 116. 11 Fisher, Humphrey: The Juggernaut’s apologia: Conversion to Islam in Black Africa. In: Africa, 55/2 (1985),153–173, hier 166.

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»idealen islamischen Staates« in Masina bis hin zum Reich Samori Turés, das erst nach zahlreichen Eroberungskriegen einen islamischen Charakter annahm. Zwischen diesen beiden Extremen finden sich andere Modelle islamischer Herrschaft wie das Kalifat von Sokoto, das Sultanat Bornu oder das Tukulóór-Reich von alḤāǧǧ ʿUmar Taal. Die Entwicklung dieser islamischen Staatswesen, die nicht notwendigerweise miteinander verbunden waren, kann in drei Phasen gegliedert werden:12 Eine Serie von frühen Dschihad-Bewegungen im senegambischen Raum, die sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in direkter Reaktion auf den transatlantischen Sklavenhandel entwickelten und die nach dem Scheitern der »Tuubenaan«-Bewegung Nāṣir ad-Dīns am mittleren und unteren Senegal im Jahre 1677 zur Gründung der Imamate von Bundu (ab c. 1690) am oberen Senegal, von Fuuta Jalon (ab 1725) im Hochland Guineas und von Fuuta Tooro (ab 1776) am mittleren Senegal führten. Seit dem frühen 19. Jahrhundert kam es zu einer zweiten Serie großer DschihadBewegungen in den Weiten der sudanischen Savanne, die weniger mit den Auswirkungen des trans-atlantischen Sklavenhandels verbunden waren, als mit der Destabilisierung und Krise in den bilād as-sūdān selbst. Diese großen Dschihad-Bewegungen und die aus ihnen resultierenden Kalifate und Imamate wie Sokoto (ab 1804, bestand bis 1903), Bornu (ab 1808, bestand bis 1893), Masina (ab 1818, bestand bis 1864) oder das Reich von al-Ḥāǧǧ ʿUmar Taal (ab 1852, bestand bis 1893) entwickelten sich unabhängig von europäischer Einflussnahme und kamen in einigen Fällen, wie etwa Masina oder Bornu, noch vor dem Beginn der europäischen Kolonisation Westafrikas zu Ende: Im Falle Masinas im Rahmen eines Krieges gegen einen anderen Dschihad-Führer, al-Ḥāǧǧ ʿUmar Taal; im Rahmen Bornus im Rahmen des Eroberungszugs des arabisch-sudanischen »Conquistadors« Rābiḥ b. Faḍl Allāh. Schließlich kann eine dritte Serie von späten Dschihad-Bewegungen identifiziert werden, die sich erneut vor allem im senegambischen Raum und am oberen Niger entwickelte, und die sich direkt mit der europäischen Kolonisation Westafrikas auseinandersetzten. Die von Ma Ba Jaxu (ab 1860-c.1890), Ahmadu Sexu Ba (1870–1875), al-Ḥāǧǧ Mamadu Lamin Dramé (1885–1887), Fodé Kaba (1890–1901) oder Samori Touré (ab 1875–1888) begründeten Imamate waren aber vergleichsweise kurzlebig und letztendlich nicht in der Lage, dem europäischen Vordringen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen. Dennoch begründeten auch sie in ihren jeweiligen Gebieten eine neue Tradition einer islamisch-religiösen Herrschaftslegitimation, die in der Kolonialzeit fortbestand. In der Literatur werden die Dschihad-Bewegungen in den bilād as-sūdān und die mit ihnen verbundenen Staatsgründungen häufig mit dem Sklavenhandel und dem Widerstand gegen diesen Handel in Verbindung gebracht.13 Dieses Argument trifft zwar für die frühen Dschihad-Bewegungen des küstennahen Raumes, insbesondere Senegambien, zu, darüber sollten aber die inneren Beweggründe für die

12 S. Loimeier: Muslim Societies in Africa, 2013. 13 S. hierzu Curtin, Philip D.: The Atlantic Slave Trade, Madison 1969, und Lovejoy, Paul: Transformations in Slavery: A History of Slavery in Africa, Cambridge 1983.

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Entwicklung dieser Bewegungen nicht vernachlässigt werden. Gerade die DschihadBewegungen des frühen 19. Jahrhunderts waren in erster Linie sozialrevolutionäre Bewegungen, die sich gegen ungerechte Herrschaftsverhältnisse, ökonomische Ausbeutung und soziale Missstände in den Hausa-Ländern und den Ländern am Niger richteten. Die Entstehung und der Erfolg der Dschihad-Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts in den bilād as-sūdān müssen so im Kontext der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Wandlungsprozesse gesehen werden, welche die Entwicklung des subsaharischen Westafrika seit dem 16. Jahrhundert geprägt haben. Die meisten Führer der frühen Dschihad-Bewegungen des späten 17. und des 18. Jahrhunderts wie auch der großen Dschihad-Bewegungen des frühen 19. Jahrhunderts waren, mit der Ausnahme der Reichsgründung von al-Ḥāǧǧ ʿUmar Taal, mit der Sufi-Bruderschaft (arab. ṭarīqa) der Qādirīya verbunden, während die Staatsgründung von al-Ḥāǧǧ ʿUmar Taal und die meisten der spätereren senegambischen Dschihad-Bewegungen, mit der Ausnahme der Reichsgründung Samori Turés, mit der Sufi-Bruderschaft der Tiǧānīya verbunden waren. Aber obwohl die Verbindung mit einer Sufi-Bruderschaft ein wichtiges Merkmal aller Dschihad-Bewegungen und in einigen Fällen wie Sokoto die Affiliation mit einer ṭarīqa sogar als eine Art von »corporate identity«14 der religiösen Elite Sokotos gesehen wurde, blieb die Affiliation mit einer Sufi-Bruderschaft ein Merkmal der neuen Gelehrten-Eliten. Erst im 20. Jahrhundert sollten sich die Qādirīya und die Tiǧānīya in einigen Teilen des sub-saharischen Westafrika zu Massenbewegungen entwickeln.

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Das Erbe der Kolonialzeit

Die koloniale Eroberung des subsaharischen Afrika durch die europäischen Kolonialmächte, insbesondere Frankreich und Großbritannien, aber auch Deutschland (in Gestalt der Kolonien Togo und Kamerun, sowie Deutsch-Ostafrika) und Italien (in Gestalt der Kolonien Eritrea und Somalia), setzte der weiteren Entwicklung der aus den Dschihad-Bewegungen entstandenen islamischen Staaten ein Ende. Trotz der Gräuel der kolonialen Eroberung und Unterwerfung muslimischer Bevölkerungen präsentierten sich aber alle Kolonialmächte als »Schutzmächte der Muslime« und versuchten ihre muslimischen Untertanen als Verbündete in zwei Weltkriegen zu gewinnen. Diese Politik war zumindest teilweise erfolgreich, weil die europäischen Kolonialmächte weder in ihren kolonialen Eroberungen noch in ihrer Verwaltung auf eine einheitliche »muslimische« Antwort trafen. Die muslimischen Gemeinschaften vom Atlantik bis zum Indischen Ozean und vom Mittelmeer bis zum Sambesi waren vielmehr durch vielfältige Fragmentierungen und zahlreiche lokale Auseinandersetzungen gekennzeichnet. In der Folge war es für die Kolonialmächte häufig einfach, ihre Kolonialherrschaft unter der Devise des divide et impera zu 14 Brenner. Louis: Concepts of ṭarīqa in West Africa: The Case of the Qādiriyya. In: O’Brien, Donald B. Cruise/Coulon, Christian (Hrsg.): Charisma and Brotherhood, Oxford 1988, 47f.

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errichten und zu betreiben und diejenigen lokalen Führer als Mittelsmänner in die Kolonialverwaltung zu integrieren, die bereit waren, mit der Kolonialverwaltung zu kooperieren. Die Errichtung der kolonialen Herrschaft und die koloniale Verwaltung Afrikas brachte jedoch verschiedene »paths of accommodation«15 hervor, die in der postkolonialen Gegenwart fortbestehen: vom Dschihad zum Rückzug und zur Verstellung (taqīya) oder Emigration (Hidschra) bis hin zur partiellen Kooperation, zur vollständigen Unterwerfung und Kollaboration und Allianz, eine politische Option, die in islamischen theologischen Begriffen als muwālāt, »Freundschaftsbeziehung« legitimiert wurde. Diese »paths of accommodation« waren niemals statisch, sondern veränderten sich in der Kolonialzeit und der Postkolonialzeit ständig: einige religiöse Gelehrte waren willens, mit dem Staat zusammenzuarbeiten, während andere versuchten, sich der Vereinnahmung durch den Staat zu entziehen und sich in politische Abstinenz und Neutralität oder Isolation zurückzuziehen. Die politische Rolle muslimischer religiöser Bewegungen war dabei immer kontextabhängig, unterlag daher situationsgebundenen Aushandlungsprozessen und rangierte in einem breiten Spektrum von Positionen, die beschrieben werden können als »an der Macht sein« über »nahe an der Macht sein«, zu Akzeptanz der fremden Herrschaft und Zusammenarbeit mit dem Staat, bis hin zu Rückzug, Quietismus und letztendlich, wenn auch selten, Widerstand und aktiven Kampf gegen den kolonialen und postkolonialen Staat – beispielsweise in Nordnigeria im Fall der Maitatsine-Bewegung 1981–1986 und der Boko Haram-Bewegung nach 2004.16 Das Erbe der Kolonialzeit, das die Muslime in den unterschiedlichen Ländern Afrikas bis heute beschäftigt, ist ein zentrales Thema für die Analyse der politischen Entwicklung Afrikas seit den Unabhängigkeiten der 1960er Jahre. Eine genauere Analyse zeigt jedoch, dass Konfliktursachen vielfältig sind und dass Begründungen, Form und Verlauf von Konflikten veränderlich sind. Der Fokus auf die Bedeutung des kolonialen Erbes für die Muslime in Afrika verdeutlicht, dass die Unabhängigkeiten der 1960er Jahre keineswegs zum Bruch mit kolonialen Entwicklungstraditionen geführt haben. Erst seit den späten 1970er und frühen 1980er Jahren kam es in vielen afrikanischen Staaten mit muslimischen Bevölkerungsgruppen zur Entwicklung neuerer Salafi-orientierter muslimischer Reformbewegungen (s. unten), die damit begannen, koloniale und postkoloniale Entwicklungstraditionen in Frage zu stellen. Aber anders als Samuel Huntington behauptet, war und ist »der Islam« in Afrika keineswegs die wichtigste oder gar die einzige treibende Kraft in postkolonialen Konflikten. Am Ende der Kolonialzeit hatten sich in vielen Kolonialgebieten vielmehr neue muslimische Eliten gebildet, die sich nun anschickten, entweder selbst die Macht in den neuen Staaten Afrikas zu übernehmen, oder sie mit anderen Gruppen zu teilen. Dennoch verlangte kein einziger muslimischer Politiker nach der Unabhän-

15 Robinson, David: Paths of Accomodation: Muslim Societies and French Colonial Authorities in Senegal and Mauritania 1880–1920, Athens 2000. 16 S. Loimeier: Islamic Reform, 2016.

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gigkeit die Einführung eines »islamischen Staates«. Politiker unterschiedlicher religiöser Denominationen (Mamadou Dia, Leopold Sédar Senghor, Kwame Nkrumah, Julius Nyerere, Yomo Kenyatta, Modibo Keita, Sekou Touré u. a.) vertraten vielmehr verschiedene Modelle eines »afrikanischen Sozialismus«. Es stellte sich jedoch die Frage, ob die neuen politischen Führer Afrikas nach der Unabhängigkeit in der Lage sein würden, die Versprechungen einer besseren Zukunft für eine Mehrheit ihrer Bevölkerungen und Nationen zu erfüllen und moderne Institutionen zu entwickeln, die dazu beitragen würden, aus unterschiedlichen ethnischen Gruppierungen und Religionen eine Nation zu formen und das koloniale Erbe der Teilung und Neuordnung Afrikas zu überwinden. Zudem stellte sich die Frage, wie die Muslime angesichts ihres historischen Erbes mit ihrer Rolle als Minderheit oder Mehrheit im postkolonialen Staat umgehen würden. In vielen afrikanischen Ländern ist es den politischen Eliten in der Nachkolonialzeit nicht gelungen, grundlegende strukturelle Entwicklungsprobleme zu lösen, die ihrerseits in vorkolonialen historischen Erfahrungen und in den in der Kolonialzeit etablierten Strukturen der Macht- und Ressourcenverteilung begründet sind. Damit blieb einem breiten Spektrum der Bevölkerung der Zugang zu Ressourcen und politischen Führungspositionen versperrt. Diese Verteilungsungerechtigkeit verschärfte strukturelle Entwicklungsungleichgewichte, die bis heute einen zentralen Motivationshintergrund für Konflikt darstellen. Angesichts der Unfähigkeit vieler post-kolonialer Regierungen, das Erbe der Kolonialzeit zu überwinden und einer breiten Bevölkerung Zugang zu Mitsprache und Ressourcen zu gewähren, konnte sich der Islam in einigen afrikanischen Ländern zumindest zeitweise zu einer zentralen Differenzkategorie und zu einem Mobilisierungsfaktor entwickeln. Es ist jedoch auffallend, dass bis heute in keinem einzigen afrikanischen Staat mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit ein islamisches Imamat proklamiert wurde oder der Islam zur alleinigen Legitimationsgrundlage des Staates erhoben wurde, obwohl dies im Falle des Sudan nach 1989 und Somalias nach 1991 zeitweilig möglich erschien. Dies zeigt, dass die aus der Kolonialzeit ererbten europäischen Staatskonstruktionen von erstaunlicher Resilienz waren und die Religion bislang vorrangig ein Mittel der politischen Mobilisierung und nicht Grundlage für eine Umgestaltung von Gesellschaft und Staat war.

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Die Bedeutung des lokalen Kontexts für religiöse Konflikte

Besonders deutlich treten religiös konnotierte Konflikte in denjenigen Kontexten hervor, in denen der Islam eine zentrale gesellschaftliche und politische Rolle zu spielen scheint, etwa in Senegal, in der Elfenbeinküste, in Nigeria oder in der Republik Sudan: In Senegal entwickelte sich seit den frühen 1980er Jahren in der südlichsten Landesregion, der Basse Casamance (Region Ziguinchor), eine lokale Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegung, die sich gegen muslimische Zuwanderer und die Vormachtstellung (muslimischer) Verwaltungskader aus dem Norden des

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Landes wandte und die in den Medien als eine Rebellion der nicht-muslimischen und teilweise christlichen Bevölkerung der Basse Casamance gegen die Vormacht des muslimischen Nordens beschrieben wurde.17 In der Elfenbeinküste hatten sich die Muslime in der Kolonialzeit zur stärksten religiösen Gruppe des Landes entwickelt, dennoch wurde die muslimische Bevölkerung der Elfenbeinküste unter der Herrschaft der Präsidenten Houphouët-Boigny (reg. 1960–1993), Bédié (reg. 1993–1999) und Gbago (reg. 2000–2010) zunehmend marginalisiert und aus dem politischen Leben des Landes ausgegrenzt. Diese Entwicklung zeigte sich im Ausschluss des aus dem Norden des Landes stammenden Politikers Alassane Ouattara von den nationalen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen der 1990er Jahre. Der Ausschluss Ouattaras erfolgte über eine entsprechende Veränderung der Verfassung, wodurch vorgeschrieben wurde, dass beide Elternteile eines Präsidentschaftskandidaten aus der Elfenbeinküste zu stammen hatten – der Vater von Alassane Ouattara stammte zwar aus Kong in der Elfenbeinküste, seine Mutter kam jedoch aus Burkina Faso, dem kolonialen Haute Volta (Obervolta).18 In Nigeria nutzten die nicht-muslimischen Bevölkerungen des »Middle Belt« – die zentralen Landesteile zwischen dem mehrheitlich muslimischen Norden und dem mehrheitlich christlichen Süden19 – die Freiheit des postkolonialen Nationalstaats, um sich aus der Bevormundung durch die muslimische Aristokratie des Nordens zu lösen. Seit den 1980er Jahren kam es dort zu einer Reihe blutiger Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen, die durch die aggressive Missionstätigkeit charismatischer Kirchen verschärft wurden. Als es einem charismatischen Christen aus dem Süden, Obasanjo, im Jahre 1998 gelang, in freien Präsidentschaftswahlen die Mehrheit der Stimmen im Land zu erringen, wurde dies von den muslimischen Eliten im Norden als Bestätigung ihrer schlimmsten Befürchtungen gesehen, dass nämlich nunmehr das alte dār al-Islām im Norden unter die Vorherrschaft der christlichen Eliten aus dem Süden und der »Middle Belt«-Region kommen würde. Im Sudan wehrten sich die weitgehend nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen des Südens seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1956 gegen die Gleichschaltung mit dem weitgehend muslimischen Norden und führten in der Folge einen fast 50-jährigen Befreiungskrieg, der 2011 mit der Unabhängigkeit des Südsudan endete – und bald darauf in einen blutigen Bürgerkrieg zwischen den verfeindeten Milizen der Dinka und der Nuer überging. Die Regierungen des Senegal, der Elfenbeinküste, Nigerias und des Sudan scheiterten so letztlich an der Aufgabe, nach der Unabhängigkeit eine überzeugende nationale Integrationspolitik zu betreiben. In der Folge kam es in diesen Ländern zu den geschil-

17 S. Fall, Mar: Sénégal: L’État Abdou Diouf ou les temps des incertitudes, Paris 1986. 18 Mitteilung Robert Launay, 13. April 2011. 19 Die gängige Dreiteilung Nigerias in den »Middle Belt«, den muslimischen Norden und den christlichen Süden ist etwas irreführend: Zum einen gibt es beträchtliche christliche Minderheiten im Norden, zum anderen ist insbesondere der Südwesten des Landes, das Yoruba-Gebiet, von der weitgehend friedlichen historischen Koexistenz des Christentums, des Islams und der Yoruba-Religion geprägt.

Muslime in Afrika südlich der Sahara: Mehrheitsgesellschaften und Minderheiten

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derten Konfliktkonstellationen, die sich auf Grund ihrer vorkolonialen Wurzeln als religiöse Konflikte zwischen Nicht-Muslimen und Muslimen präsentieren lassen. Diese Konflikte scheinen die These Huntingtons von den »blutigen Grenzen« des Islam (»Islam’s bloody borders«)20 zu bestätigen. In der Tat bestätigen die hier genannten Konflikte scheinbar die Existenz einer historischen Bruchlinie zwischen dem »Islam« und nicht-muslimischen Territorien, die durch die Dschihad-Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts begründet worden war: Der Senegal (nördlich des Gambia) kann so auf eine lange Tradition der Islamisierung seit dem 11. Jahrhundert verweisen, während die Region der Basse Casamance erst seit den 1870er Jahren in den Einflussbereich eines muslimischen Emirates, Fuladu, kam.21 Erst in der Kolonialzeit wurde die nicht-muslimische Bevölkerung der Basse Casamance zu einer Minderheit in der von Muslimen dominierten Kolonie Senegal. Auch die nördliche Elfenbeinküste kann auf eine lange Geschichte islamischer Lehrzentren verweisen, die mit der ins 16. Jahrhundert zurückreichenden SuwareTradition verbunden waren. Ende des 19. Jahrhunderts wurden weite Gebiete des Nordwestens zudem Teil eines von Samori Touré begründeten Staates, in dem der Islam eine wichtige einigende Rolle spielte und Samori Touré als Förderer der Muslime auftrat, obwohl er selbst seine Kriege niemals als Dschihad legitimierte. In der Kolonialzeit verloren die muslimischen Bevölkerungsgruppen des mittleren Voltagebiets aber ihre regionale Vormachtstellung an neue christliche Eliten aus dem Süden der Kolonie, die auf Grund ihrer besseren Ausbildung rasch die Führung im Wirtschaftsleben, in der Politik und in der Verwaltung übernahmen.22 In Nordnigeria wurde im Gefolge eines von Usman dan Fodio geführten Dschihads nach 1804 das bereits genannte Sokoto-Kalifat begründet, das sich im 19. Jahrhundert zum größten islamischen Flächenstaat des westlichen Afrika überhaupt entwickelte. Dabei expandierte das Sokoto-Kalifat auch in seine südlichen Grenzregionen, die vor allem der Sklavenjagd dienten. Diese »slave hunting fringes« – die »Middle Belt«-Gebiete des heutigen Nigeria – wurden als »a boundary of terror and hostility« beschrieben.23 Die islamischen Emirate des Nordens und das Sokoto-Kalifat schufen so im 19. Jahrhundert ein historisches Erbe, das bis heute die islamische Identität der muslimischen Bevölkerungsgruppen Nordnigerias entscheidend prägt und das als eine ideale Zeit erinnert wird, in der die Muslime die Macht hatten. Die heutigen Bevölkerungen der »slave hunting peripheries«, die in der Kolonialzeit überwiegend Christen geworden sind und heute häufig charismatischen Pfingstkir-

20 Huntington, Samuel: The Clash of Civilisations and the Remaking of World Order, London 1996, 254ff. 21 S. Diouf, Mamadou : Histoire du Sénégal, Paris 2001 und Roche, Christian: Histoire de Casamance: Conquête et résistance, 1850–1920, Paris 1985. 22 S. Hanretta, Sean: Islam and Social Change in French West Africa: History of an Emancipatory Community, Cambridge 2009 und Launay, Robert: Beyond the Stream: Islam & Society in a West African Town, Long Grove 2004. 23 Levtzion, Nehemia: Slavery and the Slave Trade in the Early States of the Bilād al-Sūdān, 2003, in: Levtzion, Nehemia (Hrsg.): Islam in Africa and the Middle East: Studies on Conversion and Renewal, Aldershot 2007, 1–16, hier 3.

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chen folgen, erinnern sich jedoch ganz anders an die Zeit der Emirate und bestreiten den Muslimen nationale Vormachtansprüche. Die Emanzipationsbemühungen der christlichen Bevölkerungsgruppen des »Middle Belt« begründeten wiederum Konflikte mit den etablierten muslimischen Eliten des Nordens, die sich nach der Unabhängigkeit immer wieder in blutigen Auseinandersetzungen entluden.24 Im Sudan brach 1885 die 1820/1821 begründete ägyptische Kolonialherrschaft zusammen und wurde von einem islamisch legitimierten Staat abgelöst, der in der Literatur meist als das »Reich des Mahdi« bezeichnet wird und der sich wie die ägyptische Herrschaft durch eine aktive Expansionspolitik in den nicht-muslimischen Süden auszeichnete.25 Aber auch nach der Zerschlagung des »Reiches des Mahdi« 1898 durch die Briten wurden die nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen der Länder am oberen Nil von muslimischen Verwaltungskadern aus dem Norden majorisiert, eine Herrschaftstradition, die sich auch nach der Unabhängigkeit des Landes 1956 fortsetzte und letztendlich in den bereits genannten Sezessionsund Bürgerkrieg mündete. An dieser Stelle muss jedoch eine argumentative Umkehr erfolgen, die zeigt, dass Huntingtons dictum der »blutigen Grenzen des Islam« kein weiterführendes Argument darstellt: Konflikte müssen vielmehr als Prozesse gesehen werden, deren Bedingungen und Motivationen sich ständig verändern. Zum einen haben die genannten »religiösen« Konflikte zahlreiche weitere Konnotationen, die es zulassen, diese Konflikte auch als ethnische, ökonomische und politische Konflikte zu interpretieren, selbst wenn der Religion eine Rolle als Mobilisierungsfaktor zukommt. In der Tat wäre es sinnvoller, in allen vier Ländern von einem Cocktail an Konfliktursachen zu sprechen, in welchem sich die Gewichtung der einzelnen Bestandteile konjunkturell immer wieder verändert hat und scheinbar klare Zuschreibungen von heute schon morgen nicht mehr gelten. Konflikte konnten zudem im Laufe der Zeit ganz unterschiedliche Eigenschaften annehmen und durch eine Reihe von Entwicklungsstadien gehen, die es letztendlich unmöglich machen, von ausschließlich religiösen Konflikten zu sprechen: Die Auseinandersetzungen in der Basse Casamance beispielsweise begannen in den frühen 1980er Jahren als Protest gegen die gewaltsame Unterbrechung einer Diola-Initiationszeremonie in einem heiligen Hain durch senegalesische Sicherheitskräfte. Dieser zunächst begrenzte Disput vor dem Hintergrund lokaler religiöser Traditionen veränderte seither vielfach seinen Charakter und geriet zeitweise, phasenweise sogar gleichzeitig, zu einem Kampf für die politische Autonomie der Basse Casamance, zu einem Kampf für die Bürgerrechte der Diola der Region, zu einem Bandenkrieg zwischen verschiedenen (auch muslimischen) Kriegsherren, zu einem Kampf um die Kontrolle des Drogenhandels an der Grenze zu Guinea-Bissau und die Kontrolle der Bodenschätze (Erdöl) in der Region.26 Die Zusammensetzung

24 S. Loimeier, Roman: Islamic Reform and Political Change in Northern Nigeria, Evanston 1997. 25 S. Collins, Robert O.: A History of the Modern Sudan, Cambridge 2008. 26 S. Diop, Momar Coumba/Diouf, Mamadou: Le Sénégal sous Abdou Diouf, Paris 1990 und Wane, Almamy Mamadou: Le Sénégal entre deux nauvrages? Le Joola et l’alternance, Paris 2003.

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des Konflikt-Cocktails und auch die Gruppe der Akteure veränderten sich somit in den letzten dreißig Jahren ständig. Auch das Beispiel der Elfenbeinküste zeigt, dass die Religion nicht immer und nicht automatisch zu einer entscheidenden Differenzkategorie in einem Konflikt geraten muss: In der Elfenbeinküste ergab sich im Kontext des Bürgerkrieges von 2002/2003 eine faktische Teilung des Landes in einen muslimischen Norden und einen christlichen Süden. Nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahre 2002 erwies sich jedoch rasch, dass die Religion kein entscheidender Mobilisierungsfaktor im Bürgerkrieg sein würde: So war der Führer der muslimischen Rebellen des Nordens, Guillaume Soro, ein ehemaliger Seminarist, und im Kontext des Bürgerkriegs in der Elfenbeinküste kam es zudem bald zur Fragmentierung der unterschiedlichen Konfliktparteien im Norden wie im Süden des Landes.27 Dazu gab es beträchtliche muslimische Bevölkerungsgruppen im Süden des Landes, die in der Berichterstattung über den Konflikt meist unterschlagen wurden, die aber ebenso wie die muslimischen Gruppen des Nordens eine religiöse Interpretation der Auseinandersetzung ablehnten.28 Selbst die Zerstörung einiger Moscheen in der Region Abidjan und der damit verbundene Versuch einer Polarisierung der Lager wurde von den Muslimen als eine politische Strategie erkannt und verurteilt und verfehlte ihr Ziel.29 Der Sieg des »Muslim« Alassane Ouattara bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 2010 und die Entmachtung des »Christen« Laurent Gbagbo im April 2011 war ein weiterer Beleg für die Schwäche des Mobilisierungsfaktors Religion. Im Falle der Konflikte in Nordnigeria und insbesondere im »Middle Belt« erweist sich ebenfalls bei näherem Hinsehen, dass häufig nicht die Religion, sondern Streitigkeiten um Land- und Weiderechte oder Spannungen zwischen ethnischen Gruppen einen unmittelbaren Hintergrund für Auseinandersetzungen darstellten: Was sich auf einer lokalen Ebene als ein Konflikt um Weiderechte oder um das Recht um den Zugang zu Ressourcen wie Wasser und Land abbildete, konnte sich auf einer regionalen Ebene als Teil eines historisch angelegten ethnischen Konflikts zwischen alteingesessenen Bauernbevölkerungen, beispielsweise zwischen den Birom-Bauern des Jos-Plateaus und zuwandernden FulBe-Viehhirten, darstellen. Auf einer nationalen Interpretationsebene konnten diese Auseinandersetzungen schließlich zu einem religiösen Konflikt zwischen Muslimen und Christen eskalieren.30 Weil diese Auseinandersetzungen in komplexen lokalen Strukturen begründet waren, die als solche genuin und damit nicht mit anderen Ländern und Konfliktfeldern vergleichbar waren, wurden sie von interessierten Parteien und vielen Medien auf nationaler oder internationaler Ebene häufig vereinfacht als religiöse oder politische Konflikte präsentiert.

27 28 29 30

S. Höttler, Lutz: Côte d’Ivoire: Geteiltes Land, Bad Honnef 2007. S. Miran, Marie: Islam, histoire et modernité en Côte d’Ivoire, Paris 2006. Mitteilung Marie Miran, 8. März 2011. S. Hock, Klaus: Der Islam-Komplex. Zur christlichen Wahrnehmung des Islams und der christlichmuslimischen Beziehungen in Nordnigeria während der Militärherrschaft Babangidas, Hamburg 1996 und Loimeier, Roman: Die Dynamik religiöser Unruhen in Nord-Nigeria, in: Afrika Spectrum, 1 (1992), 59–80.

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Ähnliches gilt für den Sudan, wo christliche und andere nicht-muslimische Gruppen aus partikularistischen Gründen immer wieder bereit waren, sich mit den Truppen der Zentralregierung gegen die jeweils dominierende regionale Autonomiebewegung zu verbünden. Der Unabhängigkeitskrieg des Südsudan seit seinen Anfängen in den 1950er Jahren hatte daher immer den Charakter eines Bürgerkriegs der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen des Südens, insbesondere der Dinka und der Nuer,31 auch dies eine Tradition, die nach der Unabhängigkeit des Südsudan 2011 fortgeführt wurde. Die Beispiele der Basse Casamance, der Elfenbeinküste, des »Middle Belt« in Nigeria, aber auch des Sudan zeigen, dass sich die Analyse eines Konfliktes und die Berichterstattung über eine Auseinandersetzung vor allem an der Frage orientieren sollten, wie sich die Rahmenbedingungen eines Konflikts und die Motivationen der Akteure in einem Konfliktfeld im Lauf der Zeit verändert haben und was die spezifischen Beweggründe für Veränderungen in einem Konfliktcocktail waren. Schließlich haben nicht alle Konflikte, an denen Muslime als Akteure beteiligt sind, religiöse Konnotationen: Im Darfur-Konflikt der 2000er Jahre etwa führten die Rebellen der (muslimischen) Autonomiebewegung ihre Autonomie-Forderungen gegenüber der Zentralregierung in Khartoum auf die historische Eigenständigkeit des Sultanats von Darfur zurück;32 die Rebellionen der Tuareg in Niger und Mali in den 1980er und 1990er Jahren richteten sich gegen Regierungen, die ihrerseits eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung vertraten; die anhaltenden Spannungen in Mauretanien sind Ausdruck der historischen Marginalisierung der sesshaften afrikanischen (»schwarzen«, muslimischen) Bevölkerungen des Südens durch die (»weiße«, arabische) politische Elite des Nordens. Zudem gibt es eine Reihe von Staaten, die ebenso wie Senegal, die Elfenbeinküste, Nigeria und der Sudan auf historischen Bruchlinien liegen, die es aber verstanden haben, die in der Kolonialzeit angelegten Ungleichgewichte zu überwinden, eine weitgehend erfolgreiche nationale Integrationspolitik zu betreiben und für eine gerechtere nationale Macht- und Ressourcenverteilung zu sorgen: In Westafrika stellen Ghana, Burkina Faso und – mit Einschränkungen – Kamerun33 erfolgreiche Modelle für nationale Integration dar: Obwohl sich die muslimischen Bevölkerungen dieser Länder mit muslimischen vorkolonialen staatlichen Traditionen identifizieren können, sind sie heute weitgehend in die nationale Politik ihrer Länder integriert, die Religion stellt weder in Ghana, noch in Burkina Faso noch in Kamerun ein primäres Identifikationsmodell dar. Ähnliches gilt für die ostafrikanischen Länder Kenia und Tansania und selbst für die Republik Senegal nördlich des Gambia.34

31 S. Warburg, Gabi: Islam, Sectarianism and Politics in Sudan since the Mahdiyya, Madison 2003 und Le Monde diplomatique, Février 2011. 32 S. Prunier, Gérard: Darfur: Der »uneindeutige« Genozid«, Hamburg 2006. 33 In Kamerun gibt es zwar anhaltende Spannungen zwischen dem ehemals französischen und dem ehemals britischen Landesteil, aber diese Konflikte haben keine religiöse Konnotation. 34 Auch im muslimisch geprägten nördlichen Teil Senegals gibt es eine christliche Minderheit, vor allem Sereer in der Region Sine, die aber im Gegensatz zu den Joola in der Basse Casamance gut in den Nationalstaat integriert sind: Senegals erster Präsident, Leopold Sédar Senghor (reg. 1960–1980) war ein christlicher Sereer.

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Umgekehrt zeigt der Zerfall Somalias und der Bürgerkrieg in diesem Land seit 1991, der in der autoritären Politik des Diktators Siad Barre (reg. 1969–1991) begründet war, dass selbst in ethnischer wie religiöser Hinsicht außerordentlich homogene Staaten wie Somalia35 nicht à priori stabiler waren als ethnisch heterogene Länder wie Tansania, und zwar insbesondere dann, wenn der Rekurs auf die Religion als identity marker von den Konfliktparteien bewusst getroffen wurde: Aus einer theologischen Argumentation ließ sich die Legitimität des eigenen Handelns und die Illegitimität des Handels der »Anderen« immer wieder gut ableiten. In Somalia nutzte nach 2005 insbesondere die Ittiḥād al-Maḥākim al-islāmīya (»Vereinigung der islamischen Gerichte«), die bald in mehrere rivalisierende Fraktionen zerfiel, zu denen auch die Šabāb (»Jugend«)-Milizen gehörten, die Religion als Legitimierungsgrundlage ihres eigenen Handelns und zur Delegitimierung der somalischen warlords, die sich unfähig erwiesen hatten, den Bürgerkrieg in Somalia zu beenden. Dies zeigt, dass sich Religion zwar in bestimmten historischen Gemengelagen für die Austragung und das politische Management von Konflikten instrumentalisieren lässt, und in bestimmten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Konstellationen auch ein wichtiger Mobilisierungsfaktor ist, dass diesem Rekurs auf die Religion in Konflikten aber keine Automatik zu Grunde liegt. Vielmehr muss in jedem einzelnen Konfliktfall untersucht werden, wie sich der entsprechende lokale Konflikt-Cocktail zusammensetzt. Der fragmentierte Charakter muslimischer Gesellschaften Afrikas und ihre zahlreichen inneren Konflikte verhindern zudem die Entwicklung einer überzeugenden »islamischen Alternative« für eine neue politische und gesellschaftliche Ordnung und zwar auch auf Grund der Tatsache, dass die muslimischen Gesellschaften Afrikas im Bereich der Rechtsentwicklung, der sozialen Beziehungen, der Generationendynamik, des Erziehungswesens und selbst der religiösen Praxis ganz unterschiedlichen und zum Teil widerstreitenden Modellen folgen. Die Muslime des subsaharischen Afrika können daher zwar in bestimmten Konfliktkontexten als Muslime mobilisiert werden, dennoch stellt »der Islam« keine zuverlässige Grundlage für die Entwicklung tragfähiger Identitäten dar, weil es letztendlich die Gruppe »der Muslime« nicht gibt: die muslimischen Bevölkerungen des subsaharischen Afrika zeichnen sich vielmehr durch ihre außerordentlich unterschiedlichen lokalen, regionalen, nationalen und transnationalen Verankerungen und Verflechtungen und dementsprechend unterschiedliche Interessen und Solidaritäten aus.

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Muslimische Reformbewegungen der Gegenwart

Die soeben genannten Rahmenbedingungen für die Entwicklung muslimischer Gesellschaften in Afrika änderten sich weder in der Kolonialzeit noch in der Postkolonialzeit wesentlich. Bedeutender für den gesellschaftlichen, politischen und religiö35 Zu Somalia s. Menkhaus, Ken: Somalia: State Collapse and the Threat of Terrorism, London 2004.

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sen Wandel waren die Bemühungen der Muslime, eigenständige Wege in der kolonialen und postkolonialen Moderne zu finden und zu gehen. Diese Bemühungen führten im 20. Jahrhundert zu zahlreichen Konflikten zwischen etablierten religiösen und politischen Autoritäten und muslimischen Reformern und zum Entstehen einer neuen Generation von Salafi-orientierten Reformbewegungen seit den 1970er und 1980er Jahren.36 Im Kontext dieser Entwicklungen mussten sich muslimische Reformer immer wieder gegenüber den etablierten Gelehrten positionieren. Damit wurde eine Dialektik inner-muslimischer religiöser Auseinandersetzungen begründet, die auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern ausgetragen wurden und dabei erneut die Besonderheiten des lokalen Kontextes widerspiegelten. Diese Tatsache erklärt, warum es sich bei Konflikten im postkolonialen Afrika nicht nur um Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen handelt, sondern auch um inner-muslimische Konflikte um Fragen der religiösen Deutungshoheit und des gesellschaftlichen Einflusses. In diesen Konflikten standen sich häufig muslimische Reformer unterschiedlicher couleur gegenüber. Bei der Betrachtung muslimischer Reformbewegungen im subsaharischen Afrika ist zunächst zu beachten, dass »Reform«37 auch im subsaharischen Afrika auf einer langen Tradition reformerischer Bemühungen beruht, die im 18. und 19. Jahrhundert beispielsweise in den Dschihad-Bewegungen von Usman dan Fodio oder al-Ḥāǧǧ ʿUmar Taal im westafrikanischen Sahel- und Sudanraums ihren Ausdruck fanden. Die historischen Reformbewegungen waren in der Regel mit Sufi-Bruderschaften verbunden, meist Qādirīya und Tiǧānīya, und beschrieben ihre Reformbemühungen in der Regel mit dem arabischen Begriff taǧdīd (Erneuerung). Im 20. Jahrhundert traten neben diese Sufi-orientierten Reformbewegungen, neue, Salafi-orientierte38 Reformer, die ihre Reformbemühungen mit dem arabischen Begriff iṣlāḥ (Reinigung) beschrieben. Diese iṣlāḥ- oder salafi-orientierten Reformbewegungen kritisierten – wie auch in Nordafrika oder in Ägypten – populäre Bräuche und Glaubenspraktiken als »unislamische Neuerungen« (bidaʿ, sg. bidʿa). Sie propagierten eine stärker literalistische Lesart der heiligen Texte und einen ausgeprägten »anti-iconic turn«: Sie kritisierten Formen der Heiligenverehrung bis hin zur völligen Ablehnung des Sufismus in all seinen Ausprägungen, die Wallfahrten (ziyārāt) und Prozessionen zu den lokalen Heiligtümern und Heiligengräbern, die Rituale und Festlichkeiten der Sufis, besonders ihre Meditationspraktiken (ḏikr), die Feier des Prophetengeburtstages (maulid an-nabī) und die damit verbundenen Festlichkeiten. Darüber hinaus zeichneten sich die muslimischen Reformbewegungen durch assoziative (vereinsähnliche) Organisationsformen und neue Konzepte von moderner islamischer Bildung aus. Muslimische Reformbewegungen hatten jedoch nicht überall den gleichen Erfolg. Es stellt sich daher die Frage, wie sich der unterschiedliche

36 S. Loimeier: Islamic Reform, 2016. 37 Ich definiere den Begriff »Reform« hier als einen »Wandel mit einem Programm« (»change with a programme«, Loimeier: Islamic Reform, 2016, 17ff). 38 Eine ausführliche Debatte des Begriffes »Salafi-orientiert« s. bei Loimeier, Islamic Reform, 2016, 31ff.

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Erfolg Salafi-orientierter Reformbewegungen im subsaharischen Afrika erklären lässt. Ich werde diese Frage im Folgenden am Beispiel von drei regionalen Kontexten (Senegal, Nordnigeria und die ostafrikanische Küste) diskutieren und dabei erneut auf die Bedeutung des lokalen Rahmens verweisen. Senegal (nördlich des Gambia) hatte seit der Mitte des 19. Jahrhundert zumindest zwei größere Reformschübe zu verzeichnen, die allerdings von unterschiedlicher gesellschaftlicher Tragweite waren: Zum einen die Dschihad-Bewegungen der 1850–1880er Jahre, die sich gegen die etablierten Feudalfürstentümer der Wolof und Sereer wandten und die überwiegend von religiösen Gelehrten geführt wurden, die mit der Sufi-Bruderschaft der Tiǧānīya verbunden waren. Angesichts des Vordringens der französischen Kolonialmacht waren diese Dschihad-Bewegungen letztendlich nicht in der Lage, dauerhafte neue gesellschaftliche und politische Strukturen aufzubauen. Erst im Jahre 1953 entstand unter der Führung von Cheikh Touré (gest. 2005) mit der »Union Culturelle Musulmane« (UCM) eine iṣlāḥ-orientierte Reformbewegung. Die UCM zeichnete sich durch ihre Ablehnung der Sufi-Bruderschaften und volksreligiöser Praktiken aus und bezog sich dabei auf die in Senegal mächtigen Führer (Marabouts) der Tiǧānīya und der Muriden. Ebenso setzte sich die UCM für die baldige Unabhängigkeit des Landes ein, während sich die führenden Vertreter der Sufi-Bruderschaften mit der Ausnahme von Ibrāhīm Niass (Tiǧānīya) und Cheikh Aḥmad Mbakke (Muriden) gegen eine rasche oder gar sofortige Unabhängigkeit aussprachen. In den 1960er und 1970er Jahren wurde die UCM politisch gleichgeschaltet und erst seit dem Ende der 1970er Jahre entwickelte sich eine zweite Generation iṣlāḥ-orientierter Reformgruppierungen wie die Ǧamāʿat ʿibād ar-Raḥmān oder die ḥarakat al-Falāḥ, welche die Forderungen der UCM aufgriffen und weiterführten. Die iṣlāḥ-orientierten Reformer traten für neue moderne Formen islamischer Erziehung ein, betonten die Bedeutung der Grundlagen der Religion (uṣūl ad-dīn), vor allem Koran und Sunna des Propheten, unterstützten aber auch die Übersetzung arabischer heiliger Texte in die lokalen Verkehrssprachen und in das Französische und predigten in Wolof oder Fulfulde. Sie bedienten sich der Möglichkeiten moderner Medien, waren vor allem in den städtischen Ballungsräumen präsent und setzten sich für die Integration der Jugendlichen und Frauen in »islamische« Sozial- und Bildungsprogramme ein. Bereits im frühen 20. Jahrhundert waren aber auch unter den Sufi-Bruderschaften Reformströmungen entstanden, die sich für die Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Umbruchsituation der Kolonialzeit einsetzten. In den ländlichen Regionen entwickelte sich so die Sufi-Bruderschaft der Muriden unter der Führung von Scheich Aḥmad Bamba zu einer sozial-religiösen Bewegung, die es verstand, die Bauern der Region Baol in religiös-ökonomischen Kooperationsverbünden zu organisieren und an sich zu binden. Ähnliches gelang der Tiǧānīya in der Region Saloum unter der Führung der Niass-Familie. Die führenden Marabouts der Muriden wie Aḥmad Bamba und der Tiǧānīya wie al-Ḥāǧǧ Malik Sy, ʿAbdallāh Niass oder Ibrāhīm Niass waren so maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich die Muriden und die Tiǧānīya im Senegal des 20. Jahrhunderts zu religiösen Massenbewegungen entwickelten. Diese Massenbewegungen zeichneten sich durch ihr starkes und religiös sanktioniertes Engagement in der modernen Kolonialwirtschaft

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(Erdnuß-Produktion) aus. Im Lauf der Zeit wurden sie zentrale Stützen des kolonialen und später auch postkolonialen Staates. In religiöser Hinsicht verwiesen die Führer der Muriden und der Tiǧānīya auf die Notwendigkeit der Umsetzung der Normen des islamischen Rechts im Alltagsleben. Daneben betonten sowohl die Führer der Muriden wie der Tiǧānīya bestimmte Aspekte des Rituals.39 Seit den frühen 1980er Jahren entwickelte sich aus den Kreisen der Sufi-Bruderschaften eine Reihe neuer religiöser Massenbewegungen wie die Dāʾirat al-Mustaršidīn wa-l-Mustaršidāt (DMM) für die Tiǧānīya oder die Hizbu Tarkhiya (eigentlich: Ḥizb at-tarqīya, die »Partei des Fortschritts«) für die Muriden, die zum einen Inhalte und Organisationsformen der UCM und ihrer Nachfolgeorganisationen aufgriffen, zum anderen aber auch die Öffnung der Sufi-Bruderschaften für eine globalisierte Moderne propagierten und sich dabei für neue Bildungskonzepte sowie für die Interessen der Jugend und der Frauen einsetzten. Der Erfolg dieser taǧdīd-orientierten Reforminitiativen innerhalb der Sufi-Bruderschaften in Senegal erklärt, warum die iṣlāḥ-orientierte Reformbewegung in Senegal bislang keine größere Breitenwirkung entfalten konnte, wenngleich die Ǧamāʿat ʿibād ar-Raḥmān in den städtischen Zentren einige Anhänger gewinnen konnte.40 Während im Senegal des 19. Jahrhunderts die etablierte Gesellschaftsordnung zerbrach, bevor sich ein islamisches Emirat bilden konnte, kam es in den Hausakönigreichen des heutigen Nordnigeria zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu der von Usman dan Fodio geführten Dschihad-Bewegung, die zwischen 1804 und 1808 zur Etablierung des sogenannten Sokoto-Kalifats führte.41 Trotz der Niederlage des Sokoto-Kalifats gegen die Briten im Jahre 1903 bestimmt das religiös-politische Erbe des Kalifats die Gedankenwelt der Muslime Nordnigerias bis heute. Dies gilt insbesondere für die beiden großen Sufi-Bruderschaften, Qādirīya und Tiǧānīya. Die Qādirīya und die Tiǧānīya sind freilich im 20. Jahrhundert in rivalisierende Familiennetzwerke zerfallen, aus denen wiederum einige taǧdīd-orientierte Reformgruppierungen hervorgegangen sind, die von Ibrāhīm Niass (gest. 1975, Tiǧānīya) und Nasiru Kabara (gest. 1996, Qādirīya) geführt wurden. Dabei beriefen sich die Reformer innerhalb der Qādirīya vor allem auf das Erbe des Sokoto-Kalifats, während sich die Reformer innerhalb der Tiǧānīya auf das Erbe des mit der Tiǧānīya verbundenen Dschihad-Führers al-Ḥāǧǧ ʿUmar Taal bezogen. Die Reformbemühungen von Ibrāhīm Niass und Nasiru Kabara waren seit den 1950er Jahren von

39 Ein Zweig der Niass-Familie der Tiǧānīya propagierte beispielsweise die Praxis des qabḍ statt des etablierten sadl beim rituellen Gebet: die Praxis des qabḍ zeichnet sich dadurch aus, dass beim Gebet die Arme vor der Brust verschränkt werden, beim sadl bleiben die Arme am Körper ausgestreckt. Die Muriden propagierten die Rezitation von Lehr- und Preisgedichten (arab.: qaṣāʾid, sg. qaṣīda) in besonderen Gebetszirkeln (arab.: dāʾira). 40 S. Loimeier, Roman: Säkularer Staat und Islamische Gesellschaft – Die Beziehungen zwischen Staat, Sufi-Bruderschaften und Islamischer Reformbewegung in Senegal im 20. Jahrhundert, Hamburg, 2001 und ders.: Dialectics of religion and politics in Senegal, In: Diouf, Mamadou/ Leichtman, Mara (Hrsg.): New Perspectives on Islam in Senegal: Conversion, Migration, Wealth, Power and Femininity, New York 2009, 237–256. 41 S. Last, Murray: The Sokoto Caliphate, London 1967.

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der Öffnung des Rituals und der Popularisierung der esoterischen Lehren der Bruderschaften gekennzeichnet. Die Öffnung des Rituals wurde symbolisch untermauert durch die Einführung neuer ritueller Elemente (qabḍ statt sadl bei der Tiǧānīya, der bandiri-ḏikr und der maukib ʿAbd al-Qādir bei der Qādirīya),42 mit denen sich die Reformer der Tiǧānīya und der Qādirīya von den etablierten Gelehrten beider Bruderschaften abgrenzten. Seit dem Ende der 1970er Jahre hat sich aber auch in Nordnigeria eine Salafiorientierte Reformbewegung entwickelt, die, wie die Ǧamāʿat ʿibād ar-Raḥmān in Senegal, assoziativ verfasst ist, die die Übersetzung der heiligen Texte in die Vernakularsprachen, insbesondere das Hausa, propagiert, neue Bildungsmodelle vertritt und sich für die Integration der Jugendlichen und Frauen in islamische Sozialprogramme ausspricht. Diese sozialrevolutionäre aber politisch konservative Reformbewegung ist die Ǧamāʿat Izālat al-bidʿa wa-iqāmat as-sunna (Hausa: Yan Izala). Wie die Union Culturelle Musulmane in Senegal so wandten sich auch die Yan Izala gegen die bidaʿ der Sufi-Bruderschaften. Die Yan Izala betrieben jedoch überaus erfolgreich den weitflächigen Ausbau eines modernen islamischen Bildungswesens, das sich gezielt den muslimischen Frauen öffnete. Sie bekämpften zudem die in der Hausagesellschaft Nordnigerias verbreiteten und kostenintensiven Traditionen sozialen Schenkens, etwa im Kontext von Eheschließungen, und sie waren bereit, die Rebellion der Jugend und der muslimischen Frauen gegen die Autorität der etablierten religiösen Gelehrten zu unterstützen.43 Die sozialpolitischen Bemühungen der Yan Izala erklären, warum sich diese Reformbewegung in Nordnigeria – in Gegensatz zur Ǧamāʿat ʿibād ar-Raḥmān in Senegal seit den 1970er Jahren zu einer religiösen Massenbewegung entwickeln konnte. In Gegensatz zu Nordnigeria und Senegal kannte die ostafrikanische Küste im 19. Jahrhundert keine Tradition der radikalen Reform, etwa in Gestalt eines Dschihads. Vielmehr kam es unter der Vorherrschaft des Sultanats Oman, das seit 1840 von Sansibar aus regiert wurde, in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Reihe von taǧdīd-orientierten Reforminitiativen, die mit Gelehrten der Sufi-Bruderschaften der Qādirīya und der ʿAlawīya verbunden waren. Führende Gelehrte der ʿAlawīya (wie Aḥmad b. Sumaiṭ oder ʿAbdallāh Bā Kaṯīr al-Kindī) und der Qādirīya (wie Muḥammad Uwais al-Barāwī und ʿAbd al-ʿAzīz b. ʿAbd al-Ġānī al-Amawī) setzten sich dabei für die Öffnung des Rituals ein und betonten dies symbolisch mit der Propagierung neuer ritueller Praktiken wie der Feier des Prophetengeburtstages (maulid) für die ʿAlawīya und neuer Formen des ḏikr bei der Qādirīya. Einige Gelehrte der ʿAlawīya bemühten sich zudem um die Entwicklung neuer Formen islami-

42 Der bandiri-ḏikr ist eine Meditationspraxis (arab.: ḏikr), bei der bandiri-Trommeln zur Unterstützung der Meditationsrhythmik eingesetzt werden. Der maukib ʿAbd al-Qādir ist die alljährliche Prozession zu den Gräbern der Heiligen der Qādirīya in Kano anlässlich des Geburtstages des Begründers der Sufi-Bruderschaft, ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī. 43 S. Loimeier: Islamic Reform and Political Change, 1997 und ders.: Nigeria: The Quest for a Viable Religious Option. In: Miles, William (Hrsg.): Political Islam in West Africa. State-Society Relations Transformed, Boulder 2007, 43–72.

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scher Bildung, die an entsprechenden Reformschritten im jemenitischen Hadramaut orientiert waren.44 Die Genese einer iṣlāḥ-orientierten islamischen Reformbewegung an der ostafrikanischen Küste begann in der frühen Kolonialzeit. Insbesondere in Sansibar gab es im späten 19. Jahrhundert eine arabophone Gelehrtenschicht, die direkt mit den Zentren der islamischen Welt verbunden war. Mehrere Gelehrte aus Sansibar waren Ende des 19. Jahrhunderts in Istanbul, im Ḥiǧāz und in Kairo und hatten den ägyptischen Reformer Muḥammad ʿAbduh persönlich getroffen und lasen die wichtigste Zeitschrift der arabischen Reformer, al-Manār. Ab 1910 gab es aber auch eine erste reformistische Organisation namens Ḥizb al-iṣlāḥ, die von Nāṣir b. Sulaimān al-Lamkī und Nāṣir b. Sālim ar-Ruwāḥī begründet worden war.45 Zunächst blieben die Bemühungen der Ḥizb aliṣlāḥ aber auf die arabophone Intelligenzia beschränkt, die sich weniger zur kolonialen Beherrschung Ostafrikas als vielmehr zu Fragen kolonialer Bildungspolitik äußerte und dabei vor allem die Pflege der arabischen Sprache forderte. Seit den 1930er Jahren entwickelte sich an der ostafrikanische Küste eine zweite Generation iṣlāḥ-orientierter Reformer, die sich unter der Führung von Scheich alAmīn b. ʿAlī al-Mazrūʿī (gest. 1947) und ʿAbdallāh Ṣāliḥ al-Farsī (gest. 1982) stärker an die muslimische Öffentlichkeit wandte, etwa in Gestalt der 1932 publizierten Zeitung al-iṣlāḥ oder mit der Übersetzung arabischer heiliger Texte, insbesondere des Koran, ins Kiswahili. Die Vertreter der zweiten Generation iṣlāḥ-orientierter Reformer kooperierten jedoch eng mit der Kolonialmacht: Scheich al-Amīn b. ʿAlī al-Mazrūʿī war von 1937 der Chief Qāḍī Kenyas und ʿAbdallāh Ṣāliḥ al-Farsī arbeitete seit 1934 als Lehrer und Schulinspektor in den Diensten der britischen Protektoratsmacht in Sansibar.46 Die Gegenwart Ostafrikas ist geprägt von einem Spektrum muslimischer Reformer, die häufig ob ihrer ausgeprägten Agitation gegen die »unislamischen Neuerungen« (bidaʿ) der Sufi-Bruderschaften als watu wa bidaa (Leute der bidaʿ) bezeichnet werden, obwohl sie sich selbst als Anṣār as-sunna bezeichnen, und damit ihre Ablehnung all derjenigen religiösen Strömungen unter den Muslimen Ostafrikas deutlich machen, die sich nicht ihrer spezifischen Interpretation der Sunna verbunden fühlen. Wie die jüngeren Reformströmungen in Nordnigeria und in Senegal stehen die Anṣār as-sunna Ostafrikas für eine Popularisierung des arabischen Texte-Kanons in Kiswahili, für neue Formen islamischer Bildung und die Integration von Jugendlichen und Frauen in islamisch gefasste gesellschaftliche Programme. Sie sind politisch radikal und attackieren den von »Christen« (insbesondere der katholischen Kirche) kontrollierten Staat (Tansania), setzen sich aber auch mit den evangelikalen Kirchen auseinander, die, ähnlich wie in Nordnigeria, als eine besondere Bedrohung der Muslime gesehen werden. Im Gegen-

44 S. Bang, Anne K.: Sufis and Scholars of the Sea. Family Networks in East Africa, 1860–1925, London 2003 und Loimeier, Roman: Between Social Skills and Marketable Skills. The Politics of Islamic Education in 20th Century Zanzibar, Leiden 2009. 45 Hoffman, Valerie: Ibadi Muslims in Oman and Zanzibar: The Impact of Local Context on a Translocal Tradition. Unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 2007, 23. 46 S. Loimeier, Roman: Between Social Skills and Marketable Skills, 2009.

Muslime in Afrika südlich der Sahara: Mehrheitsgesellschaften und Minderheiten

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satz zu den Yan Izala in Nigeria oder selbst zur Ǧamāʿat ʿibād ar-Raḥmān in Senegal haben die gegenwärtigen muslimischen Reformer an der ostafrikanischen Küste bislang aber kein umfassendes soziales Reformprogramm entwickelt.47 Der historisch variierende take-off der iṣlāḥ-orientierten Reformbewegungen im subsaharischen Afrika und ihr ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Erfolg kann nur vor dem Hintergrund unterschiedlicher lokaler Kontexte verstanden werden: Weder in Senegal noch in Nigeria noch an der ostafrikanischen Küste gab es vergleichbare politische und gesellschaftliche Strukturen oder vergleichbare historische Erfahrungen. Die besonderen sozialen und politischen Rahmenbedingungen eines Landes, historische Fragmentierungen, wirtschaftliche Krisen und Umbrüche förderten somit entsprechende Dynamiken gesellschaftlicher Entwicklung und bedingten die Entwicklung und Ausformung eines bestimmten Typus von Reform als auch den Zeitpunkt des take-off einer iṣlāḥ-orientierten Reformbewegung. Im Kontext dieser Entwicklungen mussten sich muslimische Reformer immer wieder gegenüber den etablierten Gelehrten positionieren. Damit wurde eine Dialektik religiöser Auseinandersetzungen begründet, die auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern ausgetragen wurden und dabei erneut die Besonderheiten des lokalen Kontextes spiegelten. Dies galt auch und insbesondere für die Frage, unter welchen spezifischen Bedingungen iṣlāḥ-orientierte Reformbewegungen Rückhalt in der Bevölkerung erlangen konnten. Die Beispiele Nordnigeria, Senegal und Ostafrika haben gezeigt, dass iṣlāḥ-orientierte Reformbewegungen nur dann religiöse Massenbewegungen werden konnten, wenn es ihnen gelang, über ihre theologisch-dogmatische Botschaft hinaus ein überzeugendes soziales Programm zu entwickeln. Die Salafi-orientierten Gruppierungen an der ostafrikanischen Küste waren hierzu bislang nicht in der Lage, die Ǧamāʿat ʿibād ar-Raḥmān in Senegal nur ansatzweise, die Yan Izala in Nordnigeria hingegen sehr wohl. Bemerkenswerterweise gab es aber sowohl in Nordnigeria wie in Tansania immer wieder Zeiten, in welchen Salafi-orientierte Reformbewegungen bereit waren, sich gemeinsam mit Sufiorientierten Gruppierungen gegen die vorgebliche Vormacht christlicher Kirchen (insbesondere Pfingstkirchen) oder den »von Christen dominierten Staat« zu stellen. Vergleichbare inner-muslimische »ökumenische« Bestrebungen sind typisch für Länder, in welchen die Muslime keine eindeutige Mehrheit der Bevölkerung stellen, sie sind hingegen unbekannt in Ländern wie Senegal, in welchen die Christen eine klare Minderheit (und somit keine politische Bedrohung der Muslime) darstellen.

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Schluss

Die besonderen sozialen und politischen Rahmenbedingungen eines Landes, historische Fragmentierungen, wirtschaftliche Krisen und Umbrüche förderten in entscheidender Weise die Dynamiken gesellschaftlicher Entwicklung. Die Frage der

47 Loimeier, Roman: Perceptions of Marginalization. Muslims in Contemporary Tanzania. In: Otayek, René/Soares, Benjamin (Hrsg.): Islam and Muslim Politics in Africa, London 2007, 137–156.

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Integration der Muslime in die Politik und Gesellschaft der kolonialen und postkolonialen afrikanischen Nationalstaaten sowie die Frage der Entwicklungen innermuslimischer Beziehungen und Auseinandersetzungen sind zudem eng miteinander verflochten und bedingen in der Qualität ihrer Verflechtung den spezifischen Charakter lokaler, regionaler und nationaler Konflikte. Die religiöse Kohärenz muslimischer Gemeinschaften und ihre Fähigkeit, sich in modernen kolonialen und postkolonialen Kontexten mit dem »Anderen« in Gestalt konkurrierender muslimischer Gruppierungen, christlicher Kirchen oder des säkularen Staates auseinanderzusetzen, ist wesentlich von der Art und Weise gekennzeichnet, wie dicht und wirkmächtig muslimische Gemeinschaften in nationale und transnationale, in lokale und translokale Bezüge und Diskussionsnetzwerke integriert sind. Im postkolonialen und zeitgenössischen Afrika überlagern sich somit unterschiedliche Integrationsebenen mit ihren jeweiligen Konfliktfeldern. Innermuslimische Debatten ebenso wie regionale und nationale Auseinandersetzungen beeinflussen sich wechselseitig und verändern dabei immer wieder ihren Charakter. Die Zeiten der »klaren« Verhältnisse, so wie sie zur Zeit des Propheten scheinbar bestanden hatten, sind vorbei.

Literatur zum Weiterlesen Bang, Anne K.: Sufis and Scholars of the Sea. Family Networks in East Africa, 1860–1925. London 2003. Launay, Robert: Beyond the Stream: Islam & Society in a West African Town, Long Grove 2004. Levtzion, Nehemia/Pouwels, Randall: The History of Islam in Africa, Oxford 2000. Loimeier, Roman: Islamic Reform and Political Change in Northern Nigeria, Evanston 1997. —: Säkularer Staat und Islamische Gesellschaft – Die Beziehungen zwischen Staat, Sufi-Bruderschaften und Islamischer Reformbewegung in Senegal im 20. Jahrhundert, Hamburg 2001. —: Between Social Skills and Marketable Skills. The Politics of Islamic Education in 20th Century Zanzibar, Leiden 2009. —: Muslim Societies in Africa: A Historical Anthropology, Bloomington 2013. —: Islamic Reform in 20th Century Africa, Edinburgh 2016. Otayek, René/Soares, Benjamin (Hrsg.): Islam and Muslim Politics in Africa, New York 2007. Robinson, David: Muslim Societies in African History, Cambridge 2004.

Islam in Südasien: Zwischen Kalifatsbewegung und religiöser Gewalt (ca. 1920–2018) Jamal Malik

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Einleitung

Im Anschluss an den ersten Teil, der die frühen geopolitisch und ökonomisch bedingten muslimischen Expansionen nach Südasien und die Konsolidierung muslimischer Herrschaft, deren anschließende Heterogenisierung und die erneute Zentralisierung unter den Mogulen, die sukzessive Übernahme des Subkontinentes durch die Briten und die folgenden neuen Islamidentitäten in den Fokus nahm, widmet sich dieser zweite Teil den aufkommenden nationalistischen Bestrebungen, die in den 1920er Jahren in die Kalifatsbewegung mündeten (Kap. 2). Am Vorabend der politischen Unabhängigkeit ließ sich eine bunte islamische Öffentlichkeit erkennen, die trotz verschiedener Kolonialisierungsversuche zur Schaffung eines muslimischen Territorialstaates beitrug (Kap. 3 und 4). Die Integrationsprobleme dieses neuen Staates und die Verfassungsdebatten sowie dessen Desintegration und Schaffung Bangladeschs gingen allesamt auf die Interessen des »kolonialen Bereiches« zurück – also einheimische, in kolonialer Tradition stehende Machteliten (Kap. 5). Ein Blick auf die Entwicklung im reduzierten Pakistan seit 1971 und die verschiedenen Islamisierungsmaßnahmen (Kap. 6) sowie auf Probleme der Muslime in einem zunehmend Hindu-nationalistisch auftretenden Indien (Kap. 7) werden durch einen knappen Ausblick (Kap. 8) abgerundet.

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Nationalistische Forderungen und die Kalifatsbewegung

Nach der Niederschlagung des Aufstandes von 1857 und der folgenden Einverleibung Südasiens in das britische Imperium konnte die Politik der Kolonialherren in legitimer Weise an Repression zunehmen. Jede Art von Emanzipationsprozess wurde daher durch neue Gesetzgebungen oder auch militärischer Interventionen im Keim erstickt. Die einheimischen Foren der politischen und religiösen Eliten boten den Muslimen kaum die Möglichkeit, die Interessen der breiten Bevölkerung und auch nicht die des Gelehrtentums adäquat zu vertreten. Sie blieben weiterhin exklusive Zirkel der Unternehmer, Großgrundbesitzer und Islamgelehrten, meist aus der Provinz im Nordwesten, den United Provinces, die erst allmählich zu Zentren des muslimischen Separatismus heranwuchsen. Dabei spielten die qasbahs eine wichtige mobilisierende Rolle, denn dort verfügte der muslimische Adel noch über

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sozio-kulturelles Kapital,1 auch wenn die 1906 gegründete Muslim Liga (s. u.) zwischen 1915 und 1924 – also während der Kalifatsagitation – ihre Popularität fast völlig einbüßte, während es den Gelehrten und einigen muslimischen Intellektuellen gelang, breite Bevölkerungsgruppen anzusprechen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich nämlich ein pan-islamisches Gemeinschaftsgefühl zu Gunsten des Sultans ʿAbd al-Majid I. (reg. 1839–61) entwickelt, hervorgerufen durch gemeinsame koloniale Erfahrung und forciert durch gleiche Ideographie und Druckerzeugnisse. Dies ermöglichte zeitweise, an eine muslimische, ja sogar eine trans-muslimische Gemeinschaft oder umma zu denken. Als identitätsstiftendes Souveränitätssymbol wirkte dabei das – wenn auch politisch ohnmächtige – osmanische Kalifat. Die Bedrohung des osmanischen Kalifen durch die Briten und die Aufteilung des Osmanischen Reiches unter den Alliierten im Zuge des ersten Weltkrieges (Vertrag von Sèvres 1920) konnten indische Islamgelehrte, Sufis und auch Intellektuelle nicht hinnehmen. Sie verbanden das Symbol des Kalifats und nationalistische Ideologie gekonnt zu einer Hindu-Muslim Entente. Deobandis hatten schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Verbindungen zum osmanischen Herrscher hergestellt und zu diesem Zweck 1909 die »Vereinigung der Helfer« (Jamiʿat al-Ansar) gegründet, und damit wirkungsmächtig an die frühislamische medinensische Zeit angeknüpft. Im Folgenden wurde das Kommunikationsnetz der Deobandi Madresen bis nach Sindh und Afghanistan ausgeweitet, wo sich sogar eine Schattenregierung unter Leitung sozialistischer Kräfte bildete.2 In Lucknow wurde 1913 zur Unterstützung des Kalifen die »Vereinigung der Diener der Kaʿba« (Anjuman-e Khuddam-e Kaʿba) begründet. Diese Bestrebungen fanden schließlich 1919 ihren institutionellen Ausdruck in der »Vereinigung der Islamgelehrten Indiens« (Jamiʿat-e ʿUlama-ye Hind; JUH) , die Gelehrte aus Deoband, Farangi Mahall und der Ahl-e Hadith ins Leben riefen, und die sich weiterhin für die nationalistische Politik des Indian National Congress einsetzten.3 Im selben Jahr kam es in Bombay zum Aufbau des All-India Caliphate Committee, anfänglich eine rein urbane Institution, getragen von Intellektuellen und Großunternehmern. Es gelang beeindruckend rasch den traditionellen Gesellschaftsbereich durch Nutzung der vorhandenen sufischen Infrastruktur und jener der Kon1 Robinson, Francis: Separatism Among Indian Muslims; The Politics of the United Provinces' Muslims 1860–1923, Cambridge 1974. Hasan, Mushirul: From Pluralism to Separatism: Qasbas in Colonial Awadh, New Delhi 2004. 2 Minault, Gail: The Khilafat-Movement: Religious Symbolism and Political Mobilization in India, New York 1982; vgl. dazu auch die detailierte Studie von Qureshi, Naeem M.: Pan-Islam in British Indian Politics: A Study of the Khilafat Movement 1918–1924, Leiden 1999; Ansari, K.H.: Pan Islam and the Making of the Early Muslim Socialists, in: Modern Asian Studies 20 (1986), 509–537; Ansari, Sarah F.D.: Sufi Saints and State Power; The Pirs of Sind, 1843–1947, Cambridge 1992; Hasan, Mushirul/Pernau, Margrit (Hrsg.): Regionalizing Pan-Islamism: Documents on the Khilafat Movement, Delhi 2005. 3 Robinson, Francis: Separatism among Indian Muslims; Hardy, Peter: The Muslims of British India, Cambridge 1972; Friedmann, Yohanan: The Attitude of the Jamʿiyyat al-ʿUlamaʾ-i Hind to the Indian National Movement and the Establishment of Pakistan, in: Asian and African Studies 7 (1971), 157–180; Friedmann, Yohanan: The Jamʿiyyat al-ʿUlamaʾ-i Hind in the Wake of Partition, in: Asian and African Studies 11 (1976), 181–211.

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gresspartei anzusprechen. Zur Schaffung einer gemeinsamen Identität von ländlichen und städtischen Bevölkerungsschichten waren Zeitschriften gleichermaßen wichtig wie Riten und patriotische Urdu-Poesie. Der Salafite ʿAbu al-Kalam Azad (1888–1958) hatte schon 1913 die Gründung einer »Partei Gottes« (Hizb Allah) angekündigt; er war seit 1912 durch seine weit rezipierte Urdu-Zeitschrift al-Hilal bekannt geworden. Azad postulierte während der Wirren sogar den bewaffneten Widerstand (Dschihad); da dieser nur von einem islamischen Territorium ausgeführt werden konnte, bot die Auswanderung (Hidschra) nach Afghanistan 1920 eine weitere Alternative des anti-kolonialen Kampfes, wozu Azad auch eine Fatwa verfasste: Nachdem ich alle Gründe untersucht habe, die in der Scharia enthalten sind, die gegenwärtigen Ereignissen, die Interessen der Muslime und die einschlägigen Ratgeber befragt habe, bin ich vollkommen überzeugt davon, dass es für die Muslime Indiens keine islam-rechtliche Alternative gibt außer auszuwandern. Für all jene Muslime, die heute ihre größte islamische Verpflichtung in Indien erfüllen möchten, ist die Auswanderung (Hidschra) unerlässlich, und diejenigen, die dazu nicht sofort in der Lage sind, sollten den würdigen Auswanderern (muhajirin) auf eine solche Art und Weise helfen, als ob sie selbst auswanderten. Das heißt, die tatsächliche Angelegenheit der Scharia, mit der [die Muslime] jetzt konfrontiert sind, ist die Hidschra. Es gibt nichts anderes. Vor dem Krieg war die Hidschra aus Indien verdienstvoll. Jetzt ist sie entsprechend dem Geiste der Scharia verpflichtend geworden.4

Nachdem viele muslimischen Bauern ihre Habseligkeiten zu Wegwerfpreisen verkauft hatten, machten sie sich im Sommer 1920 auf den Weg zur afghanischen Grenze. Da jedoch nicht alle muhajirin nach Afghanistan einreisen durften, kehrten mehrere Tausend desillusioniert und mittellos ins indische Hinterland zurück; viele starben während der Reise. Die meisten derjenigen, die nach Afghanistan einreisen durften, waren bald Entbehrungen und Hungersnöten ausgesetzt, da das Land nicht bereit war, ihnen Nahrung, Wasser und Unterkunft zukommen zu lassen. Die Hidschra mündete in einem Desaster.5 Auf der Seite der Hindus setzte sich M.K. Gandhi (1869–1948), der viele Jahre als Rechtsanwalt in Südafrika gewirkt hatte, durch programmatische Kampagnen des zivilen Ungehorsams für den indischen Unabhängigkeitskampf ein. Er verstand es, durch die Zusammenarbeit mit Ulama und Sufis einen Teil der islamischen Öffentlichkeit für seinen gewaltlosen Widerstand zu gewinnen und sich dementsprechend an die Spitze der Kalifatsbewegung zu setzen; er wurde gewissermaßen zum letzten Propheten der Muslime. Auf diese Weise schufen nationalistische Inder in dieser Bewegung kurzfristig eine Gegenkraft zur britischen Ethnifizierungspolitik. Mit dem Grad steigender Radikalität verließen jedoch viele Muslime die Agitation, besonders jene, die in hohem Maße im kolonialen System verankert waren, wie z. B. Vertreter der Muslim Liga. Die schiitische Minderheit hielt sich aus dogmatischen

4 Qureshi, M. Naeem: Pan-Islam in British Indian Politics, 188f (Übersetzung JM); siehe auch Reetz, Dietrich: Hidschrat: The Flight of the Faithful, Berlin 1995. 5 Vgl. Minault, Gail: Urdu Political Poetry during the Khilafat Movement, in: Modern Asian Studies 8 (1974), 459–471; Douglas, Ian Henderson/Azad, Abdul Kalam: An intellectual and Religious Biography. Minault, Gail/Troll, Christian W. (Hrsg.), Delhi 1988; Reetz, Dietrich: Hidschrat.

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Gründen zunächst von der Agitation fern. Weil Briten aber angeblich ihre Kultzentren im Iraq bombardiert hatten, beteiligte sie sich schließlich ebenfalls; die Barelwis hingegen hielten sich fern, weil die Kalifatsbewegung deobandisch dominiert war. Die Abschaffung des osmanischen Kalifats 1924 durch Mustafa Kemal (1881–1938) nahm der Kalifatsbewegung schließlich den Wind aus den Segeln. Muslim-HinduGegensätze flammten wieder auf, zumal vielen Muslimen Gandhis hinduistisch durchsetzte Semantik und politische Propaganda unheimlich erschien und der Congress zunehmend unter den Einfluss der 1922 gegründeten Hindu Mahasaba geriet, deren Führer selbst die Teilung Indiens zwischen Hindus und Muslimen vorschlugen. Das so entstandene Solidaritätsvakuum wurde von neuen Gruppierungen gefüllt, von denen nur wenige ein unabhängiges muslimisches Territorium forderten.6 Sie verdeutlichten die Spaltung der islamischen Öffentlichkeit, von einer Einheit konnte keine Rede sein.

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Gespaltene islamische Öffentlichkeit

Neben der etablierten muslimischen Öffentlichkeit, die aus Deobandis, Barelwis, Ahl-e Hadith, Aligarhis und Nadwis sowie Schiiten und zahlreichen lokalen und volksreligiösen Gruppierungen bestand, drängte sich nun eine Reihe neuer, ganz verschiedener Vereinigungen in den Vordergrund – chiliastische, quietistische, faschistoide, islamistische, säkularistische, traditionalistische und modernistische, die hier natürlich nicht alle beschrieben werden können. Die Gemengelage forderte zunächst die Bildung7 • der millenarischen Aḥmadiyya unter Führung ihres charismatischen Führers Ghulam Ahmad (1835–1908) aus Qadian/Ost-Punjab. Durch seine Selbsterklärung zum Propheten zog er den Zorn der Orthodoxen und vieler Intellektueller auf sich, obschon seine häretischen Ideen – er widersprach dem Gedanken des Siegels der Propheten, Muhammad – weite Verbreitung fanden. Ein eigenes muslimisches Territorium hatten Ahmadis allerdings (noch) nicht im Sinn.8 • Im Gegensatz zum Hadith-Fundamentalismus der Ahl-e Hadith standen die Ahl-e Quran für einen koranischen Skriptualismus. Sie stellten die Validität der aus der Sunna hervorgegangen Normen und Praktiken in Frage. Ähnlich wie die Ahmadis erklärten sie den Koran als einzige gültige Quelle islamischer Normativität. Daher

6 Qasmi, Ali Usman/Robb, Megan Eaton (Hrsg.): Muslims against the Muslim League: Critiques of the Idea of Pakistan, Cambridge 2017. 7 Smith, Wilfred Cantwell: Modern Islam in India; a social analysis, Lahore, Neuaufl. 1969. 8 Friedmann, Yohanan: Prophesy Continuous: Aspects of Ahmadi Religious Thought and Its Medieval Background, Berkeley 1988; Kennedy, Charles H.: Towards the Definition of a Muslim in an Islamic State: The Case of Aḥmadiyya in Pakistan, in: Vajpeyi, Dhirendra/Malik, Yogendra (Hrsg.): Religious and Ethnic Minority Politics in South Asia, New Delhi 1989, 71–108. Ahmed, Munir D.: Studien zu Aḥmadiyya. Ein Fall religiöser Diskriminierung in Pakistan, Books on Demand 2012.

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forderte ʿAbd Allah Chakralawi (gest. 1930) auch eine intra-textuelle Koraninterpretation (Tarjumat al-Qurʾan bi Āyāt al-Furqan; 1906).9 • Es brauchte eine Weile, bis sich eine weitere populäre Bewegung 1927 konstituierte: Die heute einflussreiche »Missionsgemeinschaft« (Tablighi Jamaʿat).10 Die Strategien und Aufforderungen zu moralischem Handeln dieses Deobandi-Zweiges aus der Region bei Delhi (Mewat) wurden bald vom »Rat der Gelehrten« (Nadwat al-Ulama) übernommen und weiterverwandt. Ihren quietistischen Charakter drückte der Begründer wie folgt aus: Die Ziele der modernen politischen Autorität und des Islam decken sich nicht, und wenn der Islam als Glaubensform irgendeinen Fortschritt machen sollte, müsste er von der Politik getrennt werden.

• Mit dem Ende der Kalifatsbewegung stieg auch der in Europa promovierte und für seine persische Dichtung bekannte Dichterphilosoph Muhammad Iqbal (1873–1938) auf die politische Bühne. Er begann damit, Prinzipen einer ontologischen Dynamik zu politisieren und auf die Notwendigkeit muslimischer Autonomie in Südasien hinzuweisen. Ihm gemäß war Geschichte evolutionär und musste ethisch interpretiert werden. Anlässlich der Jahresversammlung der Muslim Liga Ende Dezember 1930 formulierte er erstmals die Idee eines »consolidated North Western Muslim State«:11 … der Islam ist […] der wichtigste formative Faktor in der Lebensgeschichte der Muslime Indiens gewesen [... und] hat sie in ein wohl definiertes Volk geformt. [...] die muslimische Gesellschaft, mit ihrer bemerkenswerten Homogenität und inneren Einheit, [ist] unter dem Druck der unlösbar zur Kultur des Islam gehörigen Gesetze und Institutionen zu dem geworden […], was sie ist. [...] Ist es möglich, den Islam als ethisches Ideal beizubehalten und ihn als Regierungsform zugunsten nationaler Herrschaftsformen, in denen die religiöse Haltung keinerlei Rolle spielen darf, aufzugeben? Diese Frage wird ganz besonders wichtig in Indien, wo die Muslime in der Minderheit sind. [...] Ich möchte [daher] den Pandschab, die nordwestliche Grenzprovinz, Sindh und Baluchistan in einen einzigen Staat verschmolzen sehen. […] die Bildung eines konsolidierten nordwest-indischen muslimischen Staates scheint mir die endliche Bestimmung der Muslime, zumindest derer in Nordwest-Indien, zu sein […] Ich fordere daher die Bildung eines konsolidierten muslimischen Staates im besten Interesse Indiens und des Islam. Für Indien bedeutet dies Sicherheit und Frieden, die sich aus einem inneren Kräfteverhältnis

9 Qasmi, Ali Usman: Revisioning Islam: The Ahl al-Quran Movements in Punjab, New York 2011. 10 Masud, Muhammad Khalid (Hrsg.): Travellers in Faith: Studies of the Tablīghī Jamāʿat as a Transnational Islamic Movement for Faith Renewal, Leiden 2000; Sikand, Yoginder: The Origins and Development of the Tablighi Jamaʿat, New Delhi 2002; Reetz, Dietrich: Global Islam ›Made in South Asia‹: The Tablighi Jamaʿat and its Universalized Preaching Mission; und Gugler, Thomas K.: Daily Piety Drills for Lay Preachers in South Asia: The Tablighi Jamaʿat and Daʿwat-e Islami, in: Weismann, Itzchak/Malik, Jamal (Hrsg.), Culture of Daʿwa: Islamic Preaching in the Modern World, Logan, UT 2020. 11 Iqbal, Muhammad: Presidential Address, in: Speeches and Statements of Iqbal, Lahore, 2. Aufl. 1948, 3–6, 8, 13, 15, 34–36; Iqbal, Muhammad: Pakistan-Rede, in: ders.: Botschaft des Ostens. Ausgewählte Werke, übersetzt und herausgegeben von Schimmel, Annemarie, Tübingen 1977, 54–64.

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I Regionale Darstellungen ergeben, für den Islam ist es eine Gelegenheit, sich von dem Stempel des arabischen Imperialismus zu befreien, um sein Recht, seine Bildung, seine Kultur zu mobilisieren und ihn enger mit seinem eigenen ursprünglichen Geist und dem Geist der Neuzeit in Kontakt zu bringen. Damit ist klar, dass mit Blick auf Indiens unendliche Vielfalt an Klimata, Rassen, Sprachen, Religionen und Gesellschaftssystemen die Schaffung autonomer Staaten, die sich auf die Einheit von Sprache, Rasse, Geschichte, Religion und Gleichheit der wirtschaftlichen Interessen gründet, der einzig mögliche Weg ist, eine stabile verfassungsmäßige Struktur in Indien zu schaffen.

Ganz offenbar hatte sich die Gemengelage zwischen Muslimen und Hindus dermaßen zugespitzt, dass die Rede von einem unabhängigen muslimischen Territorium immer lauter wurde, und zwar zunächst in der Region der nord-westlichen muslimischen Mehrheitsregionen. Östliche muslimische Mehrheitsregionen – Bengalen – waren hier noch gar nicht benannt. Allerdings wurde die Rede zu einem Meilenstein im Kampf um einen unabhängigen Staat, obwohl ihr Text eher die Frustration städtischer Berufsgruppen im Punjab zum Ausdruck zu bringen schien als ein gut durchdachtes Schema. Deshalb schenkte ihm die Muslim Liga anfangs auch nicht viel Aufmerksamkeit. Außerdem konnte sich nur eine kleine Zahl dieser Gruppierungen für einen muslimischen Staat erwärmen, nicht aber folgende Kräfte: • eine der Aḥmadiyya vergleichbar gewaltlose aber anti-koloniale Vereinigung pakhtunischer Stämme im Nordwesten unter Leitung ʿAbd al-Ghaffar Khans (1890–1988). Seine »Gottesdiener« (Khudaʿi Khidmatgar) – auch »Rothemden« genannt – sympathisierten mit den Methoden und Inhalten Gandhis (daher wurde Ghaffar Khan auch Frontier Gandhi genannt), und lehnten daher Iqbals Idee vom »consolidated North Western Muslim State« ab.12 • 1931, kurz nachdem Iqbal seine Idee verkündet hatte, gründete der Naturwissenschaftler ʿInayat Allah Khan al-Mashriqi (1888–1963) im Punjab die para-militärische Vereinigung der »Demütigen« (Khaksar). Auch er lehnte die Zusammenarbeit mit Muslim Liga (s. u.), Islamgelehrten und Sufis ab. Stattdessen strebte er eine unabhängige totalitäre islamische Regierung in Gesamt-Indien an, die sich von Demokratie und Kommunismus gleichermaßen abgrenzte. Ideologisch und institutionell orientierte er sich an den deutschen Nationalsozialisten. Obgleich er mystische Inhalte ablehnte, nutzte er sufische Ordnungsprinzipien, um weite Bevölkerungskreise anzusprechen. Während der Weltwirtschaftskrise gelang es al-Mashriqi in kürzester Zeit, städtische Kleinhändler sowie Binnenmigranten zusammenzuführen.13 • Auch die Islamgelehrten unterstrichen nochmals ihre Position, als der Deobandi Husain Ahmad Madani 1938 in einer Debatte mit Iqbal den territorialen Nationa12 Shah, Sayed Wiqar Ali: Ethnicity, Islam and Nationalism: Muslim Politics in the North-West Frontier Province 1937–1947, Karachi 1999; Arbab, Safoora: Nonviolence, Pukhtunwali and Decolonization: Abdul Ghaffar Khan and the Khuda’i Khidmatgar Politics of Friendship, in: Qasmi, Ali Usman/Robb, Megan Eaton (Hrsg.): Muslims against the Muslim League. 220–254. 13 Malik, Jamal: Die Khaksar Bewegung. M.A. Universität Bonn 1982; Daechsel, Markus: Visionary of Another Politics: Inayatullah Khan ‘al-Mashriqi’ and Pakistan, in: Qasmi, Ali Usman/Robb, Megan Eaton (Hrsg.): Muslims against the Muslim League, 190–219.

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lismus für Muslime ablehnte und stattdessen einen »gemeinsamen/zusammengesetzten Nationalismus« (muttahida qawmiyyat) vertrat; d. h. Muslime würden in einem gemeinsamen Territorium eine religiöse Vereinigung unter mehreren konstituieren: Mit zusammengesetztem Nationalismus meine ich hier einen ›Nationalismus‹, dessen Grundlage der Prophet Muhammad in Medina gelegt hat. Das heißt, dass das indische Volk als Inder, als eine Nation (trotz religiöser und kultureller Vielfalt) vereint, eine solide Nation werden und Krieg gegen die fremde Macht führen sollte, die deren natürliche Rechte an sich gerissen hat. Es ist für jeden Inder verpflichtend, gegen solch ein barbarisches Regime anzukämpfen und die Fesseln der Sklaverei abzulegen. Es ist (dabei) wichtig, sich nicht in die Religion eines anderen einzumischen – vielmehr ist es allen in Indien lebenden Nationen (Gemeinschaften) freigestellt, ihre Religion auszuüben, nach ihren moralischen Werten zu leben und gemäß ihren religiösen Traditionen zu handeln: Während sie Frieden und Ruhe bewahren, sollten sie ihre jeweilige Ideologie verbreiten und ihrer Kultur folgen, die Zivilisation fördern und ihr Personenstandsrecht schützen. Weder sollte sich eine Minderheit in die persönlichen Angelegenheiten anderer Minderheiten oder der Mehrheit einmischen, noch sollte die Mehrheit danach streben, die Minderheit zu assimilieren. Dies ist es, was (auch) der indische Nationalkongress seit seiner Gründung anstrebt.14

Das Konzept eines gemeinsamen, zusammengesetzten Nationalismus, der die Zusammenarbeit mit Polytheisten vorsah, war einmalig in der islamischen Ideengeschichte. • Ebenfalls in den dreißiger Jahren formulierte Abu al-Aʿla al-Maududi (1903–1979) aus Aurangabad im Dekkan seine staatspolitischen Ideen, die bald großen Einfluss auch auf die arabische Welt ausübten und z. B. von den Muslimbrüdern rezipiert wurden. Ähnlich wie die Deobandische »Vereinigung der Gelehrten Indiens« (JUH) lehnte auch Maududi die Idee Muhammad Iqbals von einem muslimischen Staat ab; aber auch die Idee von einem gemeinsamen Nationalismus war ihm nicht geheuer. Er begann stattdessen, den politischen Diskurs der Nationalisten zu islamisieren: Muslime stellten keine Nation dar. Vielmehr sollte die Partei Gottes als Agent oder Repräsentant (Kalifen) auf Erden wirken. Voraussetzung dafür sei eine Selbstreinigung oder Wiedergeburt (in diesem Punkt entsprach er den Postulaten früherer Pietisten). Ende der dreißiger Jahre war er überzeugt davon, dass die Verfechter der Schaffung eines Staates für Muslime – wie ihn Iqbal vorsichtig formuliert hatte – nicht den Idealen eines guten Muslims entsprachen und daher auch keinen islamischen Staat herstellen könnten. Zur Umsetzung seiner Ideen gründete Maududi 1941 die »Islamische Gemeinschaft« (Jamaʿat-e Islami) und postulierte bald die Idee von der Souveränität Gottes auf Erden in einer universalen, ideologisch-islamischen Nation. Diese imaginierte Nation versuchte er ab 1947 in Pakistan verfassungsmäßig durchzusetzen (s. u.), wohin er und der Großteil seiner »Gemeinschaft« nach

14 Madani, Maulana Hussain Ahmad: Composite Nationalism and Islam, aus dem Urdu ins Englische übersetzt von Mohammad Anwer Hussain und Hasan Imam, New Delhi 2005, 118f.

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der Teilung Indiens schließlich auswanderten.15 Seither hat seine »Gemeinschaft« an Einfluss gewonnen, hauptsächlich unter jungen Intellektuellen und in der Mittelschicht. • Die Schia war gespalten zwischen den traditionellen Gelehrten mit Zentrum in Lucknow und neuen gesellschaftlichen Formationen sowie Gutsherren. Die Schaffung einer einheitlichen schiitischen Gemeinschaft (qaum) wurde besonders für die All India Shiʿa Conference bedeutsam, nicht zuletzt weil die koloniale Volkszählung Schiiten nicht als separate Einheit anerkannte. Auf dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten während der Tabarra-Agitation in Lucknow 1938–39 begannen Schiiten vermehrt darüber nachzudenken, ob sie die hinduistische Mehrheit in Indien zugunsten eines sunnitisch dominierten Pakistans verlassen sollten. Nicht nur zeigte sich Jinnah (s. u.) gegenüber der Wahrung schiitischer Rechte in einem muslimischen Territorium indifferent. Auch träumten Pakistan-freundliche Deobandis von einer Inkarnation der vier »rechtgeleiteten Kalifen«. Während schiitische Gelehrte aus Lucknow die Muslim Liga als sunnitisch unterwandert betrachteten und an der Idee eines zusammengesetzten Nationalismus festhielten, unterstützten schiitische Magnaten und Unternehmer die Liga, da sie für sich eine glänzende Zukunft im neuen muslimischen Territorium wähnten. Politisch mobilisierend wirkte die traditionelle schiitische Semantik; ähnlich wie 1857 wurde die Märtyrologie um die Ereignisse von Karbala besungen. Der Groß-Ayatullah aus Lucknow, ʿAli Naqi Naqwi (1905–1988), entwickelte eine Husainologie, die den Sohn ʿAlis und Enkel Muhammads zum politischen und sozialen Paradigma stilisierte: im ›säkularen‹ Indien [...] ist dieses Opfer [von Husain] eine Richtschnur für jede Sekte und regionale Gemeinschaft (qawm); selbst wenn sie ›säkular‹ sind, können die Inder nicht aus ihrer [besonderen] Sekte und regionalen Gemeinschaft austreten. Deshalb gleicht das Gedenken an das Opfer von Husayn b. ʿAli den Ansprüchen auf ein freies Indien jenen anderen Sekten und regionalen Gemeinschaften ... [Daher] gehört Husain keiner bestimmten Gemeinschaft oder Religion an, sondern zur Menschheit.16

In den späten 1930er Jahren und während der Quit-India Bewegung 1942 wurden die Tugenden eines solchen transkommunalen und transreligiösen Paradigmas angewandt, um Satyagraha (ziviler Ungehorsam) mit Shahada von Husain (Selbstaufopferung) symbolisch zusammenzuführen. Die von überwiegend Zwölfer

15 Nasr, Seyyed Vali Reza: The Vanguard of Islamic Revolution: The Jamaʿat-i Islami of Pakistan, London 1994; Nasr, Sayyed Vali Reza: Maududi and the Making of Islamic Revivalism, New York 1996; Hartung, Jan-Peter: A System of Life: Maududi and the Ideologisation of Islam, London 2013; Qasmi, Ali Usman: Differentiating between Pakistan and Napakistan: Maulana Abul Ala Maududi’s Critique of the Muslim League and Muhammad Ali Jinnah, in: Qasmi, Ali Usman/Robb, Megan Eaton (Hrsg.), Muslims Against the Muslim League. 109–114. 16 Zamir, Syed Rizwan: Rethinking, Reconfiguring and Popularizing Islamic Tradition: Religious Thought of a Contemporary Indian Shi‘ite Scholar. PhD University of Virginia 2011. Zitat S. 183, Anm. 17 und S. 219, Anm. 69.

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Schiiten angeführte All India Shiʿa Conference hielt sich im Gegensatz zu den mächtigen Ismaʿilis aber zurück.17 • Die prominenteste der muslimischen Vergemeinschaftungsformen wurde allerdings die Muslim Liga, als sie sich kurz vor der politischen Unabhängigkeit für die Schaffung des souveränen Staates Pakistan einsetzte:

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Muslim Liga und politische Unabhängigkeit

Ihr langjähriger Führer M.A. Jinnah (1876–1948)18 hatte schon 1913 durch seinen Einsatz für die Reprivatisierung islamischer Stiftungen von sich reden gemacht und war im selben Jahr in die Liga eingetreten, gleichzeitig aber Mitglied der Kongresspartei geblieben. Er war für Selbstbestimmungsrechte aller Inder eingetreten, hatte sich aber wegen des zunehmenden Einflusses der Hindu Mahasaba vom Indian National Congress zurückgezogen, um sich ausschließlich für die Belange der Liga einzusetzen. Als die Simon Commission 1927 den Gedanken eines Dominion-Status für Indien erörterte, wurden Überlegungen für ein exklusiv muslimisches Territorium wach; Jinnah formulierte 1928 seine 14 Punkte.19 In Cambridge traf er auf das Pakistan National Movement und dessen Anführer Rahmat ʿAli (gest. 1951),20 der vom Vorschlag Iqbals aus dem Jahre 1930 (s. o.) inspiriert worden war und diesen 1933 konkretisierte, indem er der vorgestellten Nation einen Namen verlieh: Pakistan, das bedeutet »Land der Reinen« und soll Akronym sein für Punjab, Afghania (North-West Frontier Province), Kaschmir, Sindh und Baluchistan. Rahmat ʿAlis Idee

17 Fuchs, Simon Wolfgang: In a Pure Muslim Land: Shi'ism between Pakistan and the Middle East. Chapel Hill 2019, Kap. 1; Rieck, Andreas: The Shias of Pakistan: An Assertive and Beleaguered Minority, London 2015, 31–54; Jones, Justin: The Pakistan that is Going to be Sunnistan’. Indian Shiʿa Responses to The Pakistan Movement, in: Qasmi, Ali Usman/Robb, Megan Eaton (Hrsg.): Muslims against the Muslim League, 350–380; Jones, Justin: Shi`ism, humanity and Revolution in Twentieth-century India. Selfhood and Politics in the Husainology of `Ali Naqi Naqvi, in: Jones, Justin/Qasmi, Ali Usman (Hrsg.): The Shiʿa in Modern South Asia, 80–104. 18 Jinnah, ein brillanter Anwalt, anglisiert und säkular eingestellt, gehörte einer schiitischen Gruppe (Khoja) an, und hatte in eine Parsi Familie eingeheiratet. Islamgelehrte betrachteten ihn daher mit Argwohn; vgl. Jalal, Ayesha: The Sole Spokesman: Jinnah, the Muslim League and the Demand for Pakistan, Cambridge 1985; Ahmed, Ishtiaq: Jinnah: his successes, failures and role in history, Gurgaon 2020. 19 Dies war Jinnahs Reaktion auf den Nehru-Report vom August 1928, in dem einige muslimische Interessen zurückgewiesen worden waren. Jinnahs 14 Punkte verlangten u. a. nach Religionen getrennte Wahlen, Provinzautonomie, föderative Regierung, Verfassung; von einem separaten muslimischen Staat war aber noch keine Rede. 20 Aziz, Khursheed Kamal: Rahmat Ali: A Biography, Lahore 1987; Kamran, Tahir: Choudhary Rahmat Ali and his Political Imagination: Pak Plan and the Continent of Dinia, in: Qasmi, Ali Usman/Robb, Megan Eaton (Hrsg.): Muslims against the Muslim League: Critiques of the Idea of Pakistan, Cambridge 2017, 82–108.

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von einem souveränen Staat vernachlässigte jedoch die Muslime der Minderheitsprovinzen und auch Bengalens:21 Im Namen unserer 30 Millionen muslimischen Brüder, die in »pakstan«22—womit wir die fünf nördlichen Einheiten Indiens, also Punjab, North-West Frontier Province (afghanische Provinz), Kashmir, Sind, und Baluchistan meinen—leben […] Unsere Religion und Kultur, unsere Geschichte und Tradition, unser Sozialgesetzbuch und unser Wirtschaftssystem, unsere Erb- und Ehegesetze unterscheiden sich grundlegend von denen der meisten im Rest Indiens lebenden Völker. Die Ideale, die unser Volk dazu bewegen, die höchsten Opfer zu bringen, unterscheiden sich wesentlich von denen, die die Hindus dazu inspirieren, dasselbe zu tun. Diese Unterschiede beschränken sich nicht auf allgemeine Grundprinzipien. Im Gegenteil, sie reichen bis in die kleinsten Details unseres Lebens. Wir essen nicht miteinander; wir heiraten nicht untereinander. Unsere nationalen Bräuche und Kalender, sogar unsere Ernährung und Kleidung sind unterschiedlich.23

Damit forderte Rahmat ʿAli – ähnlich wie Iqbal – ein Herderisches Konzept von Volk: Menschen mit einer eigenen Kultur gehörten auch räumlich zusammen. Jinnah, selbst ein Diaspora-Muslim aus Bombay, sah nun seine Stunde gekommen. Anfänglich getragen von Großgrundbesitzern, später von Unternehmern und Wirtschaftsmagnaten, sah sich die Muslim Liga jetzt unter seiner Federführung als einzig legitime Vertreterin der muslimischen Gemeinde Indiens. Sie begann Ende der 1930er Jahre ihre Interessen mit dem Slogan durchzusetzen, in einem unabhängigen, demokratisch regierten Indien würden Muslime stets unterdrückt werden. Ein Gedanke, dessen Keim die koloniale Politik gesät hatte und der in Aligarh zur Entfaltung gekommen war. Der überwältigenden Mehrheit der muslimischen Inder waren diese Ideen jedoch zunächst fremd. Daher konnte die Liga selbst durch verschiedene Bündnisse mit politischen Parteien in den muslimischen Mehrheitsprovinzen, wie Punjab und Bengalen, in denen sie kaum Popularität genoss, ihre Niederlage in den allgemeinen Wahlen von 1937 auch nicht verhindern – sie erhielt nur knapp über 20% der für Muslime reservierten Sitze. Nach diesem Debakel zielte die Muslim Liga auf die Schwächung der indischen Nationalisten ab, Jinnah sprach ab 1938 öffentlich von einer gemeinschaftlichen muslimischen Identität und von nationalen Zielen der Muslime, ließ sich als »Großer Führer« feiern und verlangte schließlich im März 1940 in Lahore einen muslimischen Staat, allerdings ohne ihn Pakistan zu nennen. »Die Geschichte der letzten zwölfhundert Jahre hat es nicht geschafft, eine Einheit herzustellen, und im Laufe der Jahrhunderte war Indien immer geteilt in hinduistisches und muslimisches Indien.« Die Erklärung wurde später als die »Pakistan Resolution« bzw. die Zwei-Nationentheorie bekannt.24

21 Darauf angesprochen, trat Rahmat ʿAli 1942 entsprechend auch für Bangistan ein. 22 Rahmat ʿAli ersetzte »pakstan« durch Pakistan in seiner zweiten Überarbeitung seines Pamphletes, um dem muslimischen Raum eine finale Bezeichnung zu geben – auch für die All India Muslim League. 23 Allana, Ghulam Ali: Pakistan Movement Historical Documents, Karachi 1969, 103ff; Aziz, Khursheed Kamal: Rahmat Ali: a biography, Wiesbaden 1987, 494ff. 24 Die Aussagen der Resolution waren vage. So blieb die Problematik muslimischer Minderheiten und der Außenpolitik offen. Die Resolution glich eher einem Arbeitspapier für die Verhandlungen mit den Briten und dem Congress.

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Die Muslim Liga verstand es, das Potential der Zeitschriften und des Populismus sowie der religiösen Institutionen, Symbolik und Terminologie kommunalistisch zu nutzen und dadurch eine imaginierte brüderliche Gemeinschaft hervorzubringen: Der Islam sei in Gefahr, Muslime stellten in jeder Hinsicht eine eigene Volksgemeinschaft dar, die der Existenz einer eigenen Nation bedürfte. Mit dieser religiösen Identitätspolitik wurde die Ethnifizierung des Islams fortgeschrieben, der Zugehörigkeit zum arabisch-persischen Kulturkreis Nachdruck verliehen und die Spaltung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen – ob Hindus oder andere – zementiert. Einem Teil der islamischen Orthodoxie und Sufis, den jungen Intellektuellen, Unternehmern, Arbeitslosen und auch Bauern, deren Bedürfnisse islamisch formuliert wurden, stellte die Liga religiöse, soziale und politische Gleichheit und wirtschaftliche Expansionsmöglichkeiten in einem exklusiven muslimischen Territorium in Aussicht. Wesentliche Unterstützung fand dieser Separatismus beim muslimischen Bürgertum, welches sich in Bombay, Kalkutta, und insbesondere in den Städten und qasbahs der United Provinces gebildet hatte, sich aber gegenüber dem aufstrebenden Hindu-Bürgertum zunehmend benachteiligt fühlte. Die nationalistischen Forderungen erhielten Rückenwind durch ernsthafte Debatten der Briten über ein unabhängiges Indien ab 1935 (Government of India Act). Die »Atlantikcharta« vom August 1941 eröffnete dann allen Völkern eine Perspektive auf Selbstbestimmung. Und als die Liga in den Wahlen 1945–46 endlich ihre Legitimität unter Beweis stellen konnte, sahen sich die Kolonialherren gezwungen, im März 1946 den Cabinet Mission Plan vorzulegen: Die Errichtung eines muslimischen Staates innerhalb eines föderativen Indiens. Da der Congress unter Jawaharlal Nehru (1889–1964) aber in Aussicht stellte, sich nach der Machtübergabe nicht mehr an die Vorgaben zu halten, zog sich die Liga vom Vorhaben zurück.25 Als der Vizekönig den Plan dennoch durchsetzen wollte, rief Jinnah am 16. August 1946 zum Tag der direkten Aktion auf, der zu grausamen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Hindus in Kalkutta führte. Um Schlimmeres zu verhindern, wurde unter Leitung des im März 1947 neu ernannten Vizekönigs Mountbatten (1900–1979) rasch ein Teilungsplan ausgearbeitet, der keine Einheit Indiens mehr vorsah, sondern muslimische Mehrheitsprovinzen und die Teilung Punjabs und Bengalens. Aus divide and rule wurde divide and run; überhastet wurden im August 1947 West- und Ostpakistan von Indien abgeteilt. Die folgenden Migrationen (etwa 18 Millionen Menschen) wurden von Massenpogromen begleitet, deren Wunden bis heute nicht verheilt sind; die zeitgenössische Literatur hat sich mit diesen Themen intensiv auseinandergesetzt.26

25 Insofern ist die Behauptung zutreffend, dass »it was the Congress that insisted on partition. It was Jinnah who was against partition«. Jalal, Ayesha: The Sole Spokesman, 262. Jinnah hatte sich jedoch schon 1943 gegen eine Föderation ausgesprochen; vgl. Ahmad u. a. (Hrsg.): Selfstatement, 155. 26 Bhalla, Alok: Stories about the Partition of India, 3 Bände, Delhi 1994; Cowasjee, Saros/Duggal, Kartar Singh (Hrsg.): Orphans of the Storm: Stories on the Partition of India, Delhi 1995; Hasan, Mushirul (Hrsg.): India Partitioned: The Other Face of Freedom, 2 Bände, Delhi 1995; Menon, Ritu/Bhasin,

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Als sich das Fürstentum Haidarabad im Dekkan mit einer Hindu-Mehrheit ebenfalls für Unabhängigkeit aussprach, wurde es von Indien in einer Police Action 1948 kurzerhand einverleibt. In Kaschmir unterstützte Pakistan die Unabhängigkeitsbestrebungen der muslimischen Mehrheitsbevölkerung. Als der herrschende Sikh-Fürst die indische Regierung um Unterstützung bat, besetzte diese das Gebiet. Der Kaschmirkonflikt führte zu mehreren militärischen Auseinandersetzungen zwischen Pakistan und Indien und stellt gegenwärtig einen besonderen Krisenherd in Südasien dar.27

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Das Problem der nationalen Integration Pakistans und die Geburt Bangladeschs

Die Schaffung Pakistans war ein Höhepunkt der kolonialen Ethnifizierungspolitik. Der neue Staat wurde zum einen aus der Furcht eines schwachen muslimischen Bürgertums geboren, durch ein starkes hinduistisches Bürgertum in Indien unterdrückt zu werden – Jinnah sprach 1943 gar von einer »Entmannung der gesamten muslimischen Nation ... (und) Etablierung der Hindu-Mehrheitsregierung auf diesem Subkontinent«. Zum anderen wurden die Befürworter durch die naive Hoffnung angetrieben, einen exklusiven und geschützten Markt für und von Muslimen zu finden. Viele Muslime hatten sich für den von Religionspolitikern präsentierten Islam entschieden, jedoch wirtschaftliche Emanzipation und gesellschaftliche Selbstgestaltung gemeint. Die Träger des neuen Staates – Militär, Verwaltung, Großgrundbesitzer und Industrie – setzten die koloniale Tradition in dem abgegrenzten Territorium fort, ein Integrationsprozess erwies sich als mühselig, ja unmöglich.28 Der Großteil der Muslime war im neuen Indien zurückgeblieben, da seine wirtschaftliche Grundlage in der einen oder anderen Form an das Land gebunden war – als Landarbeiter oder -besitzer. Kennzeichnend waren Indifferenz gegenüber der Teilung, oder die Forderung nach einem multi-religiösen, säkularen Indien, wofür sich die meisten Islamgelehrten aussprachen, die traditionsgemäß noch über Ländereien in den qasbahs verfügten. Verflechtungsgeschichte oder Isla-

Kamla (Hrsg.): Borders and Boundaries, New Delhi 1998; vgl. auch Hasan, Mushirul (Hrsg.): Inventing Boundaries: Gender, Politics and the Partition of India, Delhi 2000; Kaul, Suvir (Hrsg.): The Partitions of Memory: The Afterlife of the Division of India, Delhi 2001; Khan, Yasmin: Asking New Questions about Partition of the Indian Subcontinent, in: History Compass 2/1 (2004), 1–10. 27 Vgl. Pernau-Reifeld, Margrit: Verfassung und politische Kultur im Wandel: Der indische Fürstenstaat Hyderabad 1911–48. Stuttgart 1992; Madan, T.N.: Religious Ideology in a Plural Society: The Muslims and Hindus of Kashmir, in: Contributions to Indian Sociology 6 (1972), 106–141; Snedden, Christopher: The Untold Story of the People of Azad Kashmir. London 2012; Rai, Mridu: Hindu Rulers, Muslim Subjects: Islam, Rights, and the History of Kashmir, Princeton 2004. 28 Jahan, Rounaq: Pakistan: Failure in National lntegration, New York 1972; Frey, Hans: Der indisch-pakistanische Konflikt in den Jahren 1958–1968, Wiesbaden 1978; Jaffrelot, Christophe: The Pakistan Paradox, Oxford 2015; Talbot, Ian: Pakistan, London 1998.

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micate culture im Sinne Marshall Hodgsons mit ihren verschiedenartigen Traditionen mag für eine solche Haltung ebenfalls eine wirkungsmächtige Rolle gespielt haben. Westpakistan zog den Großteil des know-how und des Kapitals an: 90% der Migranten (muhajirin) stellten ein Fünftel der dortigen Bevölkerung, die restlichen 10% nur 2% der Bevölkerung Ostpakistans. Über 30% der Migranten ließen sich in Städten nieder, in Westpakistan bildeten sie nahezu die Hälfte der urbanen Bevölkerung. In Karachi begannen muslimische Händlergemeinden aus dem Punjab, aus Bombay und Gujarat sowie aus den United Provinces, den neuen und geschützten Markt zu ihren Gunsten zu monopolisieren. Entsprechendes geschah in Ostbengalen, welches vor der Teilung noch als landwirtschaftliches Hinterland für Kalkutta bedeutsam war: Die nach Indien ausgewanderten hinduistischen Großgrundbesitzer, Großhändler, Finanziers und Beamten wurden zügig durch Urdu-sprachige muhajirin aus den United Provinces, Bihar und Punjab ersetzt. Diese hatten durch ihre Sprache mehr Gemeinsamkeiten mit der Führungsschicht Westpakistans als mit der bengalischsprechenden Bevölkerung. So sahen sie sich schon früh in der hegemonistischen Position, durch die Einführung des Urdu und neuer Zölle den 1500 km entfernten ostpakistanischen Markt, der sich vom westpakistanischen ethnisch und sprachlich stark unterschied, beherrschen zu können.29 Obgleich Urdu die Muttersprache von nur knapp 2% aller Pakistanis war, forderte Jinnah, selbst des Urdu kaum mächtig, im März 1948 dessen Einführung als Landessprache. Diese Schieflage legte den Keim für bengalische Bestrebungen nach Selbstbestimmung, die sich schon 1949 in der Awami League artikuliert hatten.30 1952 kam es zu ersten ethnischen und rassistischen Krisen, denn nicht nur wurde den Bengalis eine islamische Identität abgesprochen, die muhajirin machten auch keine Anstalten, sich den örtlichen Bedingungen anzupassen. Dies spiegelte die traditionellen Ressentiments nordindischer ashraf gegenüber den ansässigen »niederen Schichten und Barbaren«, den ajlaf, wider.31 Dem Islam sollte also weiterhin eine wichtige, wenn auch zweifelhafte Rolle zukommen.

29 In Ostbengalen lebten 1955 über 55% der Gesamtbevölkerung Pakistans, repräsentierten aber auf höheren Ebenen des Militärs nur knapp 4%, auf höheren Ebenen der Verwaltung auch nur knapp 7%. Bis 1960 erzielte Ostpakistan 60% der Devisen, erhielt jedoch nicht einmal 30% der Importe. 30 Die Awami Muslim League wurde zum Vehikel bengalischer Abspaltungspolitik. Sie gewann die Wahlen 1954 und konnte kurzzeitig eine eigene Provinzregierung stellen. Ihre Umbenennung in Awami League 1955 symbolisierte die Abgrenzung von westpakistanischer und islamischer Tradition. Sie wurde angefeuert durch ʿAbd al-Hamid Khan Bhashani (1880–1976), der sogenannte »Rote Islamgelehrte«, weil er kommunistische Idee mit islamischen zu verbinden suchte. 31 Kabir, M.G.: Religion, Language and Politics in Bangladesh, in: Ahmed, Rafiuddin (Hrsg.): Religion, Nationalism and Politics in Bangladesh, New Delhi 1990, 35–49; Roy, Asim: The Interface of Islamization, Regionalization and Syncretization: The Bengal Paradigm, in: Dallapiccola, Anna Libera /Zingel-Ave Lallemant, Stephanie (Hrsg.), Islam and Indian Regions, Stuttgart 1993, 95ff.

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Islamischer Staat oder Staat für Muslime? In den Verfassungsdebatten wurden die Gegensätze zwischen staatlicher Ideologie (urbane Eliten) und sozialer Basis (Agrargesellschaft), zwischen Muslim Liga und kulturellen Nationalismen, zwischen Säkularisten und Islamisten deutlich. M.A. Jinnah, der die Pakistan-Bewegung mit islamischen Postulaten legitimiert hatte, verlangte nun eine eindeutige Trennung zwischen Religion und Politik. In seiner ersten Rede anlässlich der Konstituierenden Versammlung Pakistans (11. August, 1947) sagte er:32 Sie mögen einer Religion, einer Kaste oder einem Glaubensbekenntnis angehören – das hat nichts mit dem Geschäft des Staates zu tun […] Hindus würden aufhören, Hindus zu sein, und Muslime würden aufhören, Muslime zu sein, nicht im religiösen Sinne, weil dies der persönliche Glaube eines jeden Einzelnen ist, sondern im politischen Sinne als Staatsbürger.

Diese Säkularisierungspostulate brachte die Verfassungsväter in Legitimationsprobleme; die Auseinandersetzungen zwischen jenen, die das koloniale Erbe streng fortsetzen, und jenen, die dem Islam mehr Raum zubilligen wollten, nahmen ihren Anfang. Die Polarisierung zwischen traditionellem und kolonialem Gesellschaftsbereich konnte nicht deutlicher zutage treten: Maududi war einer der ersten, die sich für eine islamische Konstitution einsetzten. Auch die Pakistan-freundliche Fraktion der deobandischen »Vereinigung der Gelehrten Indiens« (JUH), die 1945 eine Tochtergesellschaft, die »Vereinigung der Gelehrten des Islam« (Jamiʿat-e ʿUlama-ye Islam) gegründet hatte, und die 1947 von migrierten Barelwis ins Leben gerufene »Vereinigung der Gelehrten Pakistans« (Jami'at-e Ulama-ye Pakistan) bekundeten ihr Interesse an einer islamischen Verfassung. Diese Islamparteien und andere Würdenträger hatten Sympathisanten der Pakistan-Bewegung mobilisiert und forderten augenblicklich einen islamischen Staat, einen Staat, der eine Vielzahl sich widersprechender islamischer Identitäten, Ethnien und Sprachgruppen repräsentieren sollte.33 Premierminister Liyaqat ʿAli Khan (ermordet 1951) kam der Forderung entgegen: Laut Objectives Resolution von 1949 sollte sich Pakistan als islamischer Staat ausweisen, Staatsordnung und Gesetze sollten Koran und Sunna nicht widersprechen. Wer dies festlegte und wie, blieb allerdings offen, was zu einer weitreichenden verfassungsmäßigen Ambiguität führte. Die Vorschläge eines »Ulama Board« aus demselben Jahr wurden nämlich von den säkularen Regierungskräften abgelehnt. Stattdessen wies ein Verfassungskomitee dem Islam sekundäre Bedeutung zu und diskriminierte darüber hinaus die bengalische Mehrheit, was zu Unruhen führte. Erst neun Jahre nach der Staatengründung – 1956 – wurde die erste Verfassung verabschiedet. Erneut behielten darin die ökonomischen und sozialen Interessen des politisch dominanten kolonialen Bereiches, der zunehmend Bündnisse mit den USA ein-

32 Allana: Pakistan Movement Historical Documents, S. 407–411. 33 Zur Verfassungsdebatte immer noch wegweisend Binder, Leonard: Religion and Politics in Pakistan, Berkeley 1961.

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ging, die Oberhand.34 Dem Islam kam weiterhin primär herrschaftslegitimierende Funktion zu; er wurde aber der Präsenz westlicher Militärstrukturen und Wirtschaftsberater, die eher dem Prinzip des laissez faire folgten als eine wie auch immer geartete islamisch sanktionierte soziale Gleichheit anzustreben, wenn nicht untergeordnet so doch angeglichen. Ayyub Khan (1907–1974), der 1958 das Militärrecht ausgerufen hatte (s. u.), versuchte, die Geistlichen und ihre Einrichtungen – religiöse Schulen und islamische Stiftungen – einer zentral gelenkten Politik zu unterwerfen und damit potentiell selbstständige Kräfte an den Staat zu binden. Um sich gegen derlei staatliche Übergriffe zu wehren und ihre Infrastruktur zu festigen, formierten die Geistlichen ihre religiösen Schulen entlang ihrer Denkrichtungen – Deobandis, Barelwis, Ahl-e Hadith, Schiiten – in mächtige Dachverbänden. Ayyubs Verhältnis zur islamischen Öffentlichkeit, die er bisweilen auch zu spalten in der Lage war, verhärtete sich schließlich anlässlich der Verkündung der Muslim Family Law Ordinance 1961, die eine modernistische Interpretation des Personenrechts und damit auch die Auflösung des Monopols der Islamgelehrten forderte, und der Verfassung von 1962, die in Koran und Sunna nicht mehr die einzigen Inspirationsquellen für Recht und Gesetz sah. Dies verstärkte die Aktivitäten der Islamparteien und die der »Islamischen Gemeinschaft« (Jamaʿat-e Islami) , vorzugsweise in den Kleinstädten des Punjabs, in denen die Modernisierungs- und Zentralisierungspolitik einen gewaltigen sozialen Wandel hervorgerufen hatte, der auf Kosten unterer Schichten ging. Unter diesen Umständen hatte eine nationale Integration kaum Aussichten auf Erfolg.

Gescheiterte nationale Integration Die Regierung konnte in ihrem Versuch, den offiziellen Nationalismus fortzusetzen, weder eine fruchtbare Beziehung zwischen staatlicher Ideologie und sozialer Basis herstellen, noch eine Integration des linguistisch, ethnisch, religiös und sozial heterogenen Landes erreichen; anstelle des föderativen Zusammenschlusses wurde 1955 eine Zentralregierung (One-Unit) verfügt. Die damit verbundene Sprachenpolitik zielte auf die Begünstigung eines auf Städte konzentrierten Marktes ab, und sie favorisierte zudem Punjabis und muhajirin. Während der Großteil der Gesellschaft (meist Landbevölkerung) weiterhin verarmte, schottete sich der Staat zunehmend ab; beispielhaft in der Verlagerung der Hauptstadt von Karachi in die Retortenund Reißbrettstadt Islamabad (wörtl.: Islambewohnt), die konsequenterweise am Punkt Null – Zero-Point – beginnt. Doch konnte Ayyub Khan den Aufstieg der Opposition 1964 nicht abfangen, die sich schon seit 1957 gegen die Integrationspolitik gewehrt hatte: Die Awami League im Ostflügel des Landes forderte Selbstbestimmung. 1966 bekräftigte der staatssozialistische bengalische Nationalist Mujib al-Rah34 Dies wurde begründet durch innenpolitische Probleme, die Angst vor indischer Aggression und das Aufkommen sozialistischer und kommunistischer Kräfte in der Nachbarschaft; 1954 ging Pakistan eine militärische Allianz mit den USA ein, 1956 trat es dem Bagdad Pakt bei und 1958 der CENTO (Pakistan, Türkei, Iran und Irak). Seither ist das Land fest in das westliche Bündnissystem eingebunden.

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man (1922–1975) diese Forderung in seinem sechs-Punkte-Programm; der Staat drohte auseinanderzubrechen.

Sezession und die Geburt Bangladeshs Mujib al-Rahmans Forderungen, der Krieg mit Indien um Kaschmir 1965, sowie die Entlassung Z.A. Bhuttos (1928–1979) aus dem Amt des Außenministers, verschärften das Unruhepotential, das Bhutto geschickt in seiner Ende 1967 gegründeten Pakistan People's Party zusammenführte. Diese verstand sich als islamisch-sozialistische Partei und sprach die verarmte Landbevölkerung, Kleinunternehmer und Industriearbeiter, sowie Studenten an. Militär und Bürokratie waren natürlich bestrebt, Bhuttos Feldzug gegen Ungleichheit und Ausbeutung – die These von den mächtigen 22 Familien, die Pakistans Wirtschaftspotential unter sich aufteilten, kam ihm zupass – durch Wahlversprechungen und die Ankündigung von Selbstbestimmung zu unterlaufen. Bhuttos Kampagne brachte erneut die Awami League Ost-Pakistans auf den Plan, die 1968 ihrem Begehren Nachdruck verlieh. In dieser Lage trat der erkrankte Ayyub Khan zurück (März 1969). Ihm folgte General Yahya Khan als Präsident, der gezwungenermaßen 1970 das One-Unit auflöste und die bengalische Mindestforderung nach verhältnismäßiger Repräsentation annahm. Für die Nationalversammlung bedeutete das: 169 ostpakistanische Mandate, 144 für die vier Provinzen Westpakistans; das Wahlergebnis war präjudiziert. In den ersten Gesamtwahlen (erst!) im Dezember 1970 unterlag Bhutto mit 60% der westpakistanischen Sitze (Jamaʿat-e Islami und andere Parteien wurden vernichtend geschlagen) der Awami League, die mit 98% der ostpakistanischen Mandate die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung errang. Dieses Wahlergebnis bedrohte die Herrschaft des west-pakistanischen Establishments, das seine ostbengalischen Ressourcen in Gefahr sah. Eine Politik der Vermittlung war damals nicht mehr möglich. In Ostpakistan kam es zum Aufstand und zu Gräueltaten, u. a. zwischen einerseits Biharis und Punjabis, die immer noch leitende Posten besetzten, und andererseits unterrepräsentierten Bengalis; muslimische Parteien wie Jamaʿat-e Islami spielten hierbei eine dubiose Rolle. Die Flutkatastrophe im November 1970, während der jegliche Hilfe aus Islamabad erst spät kam, förderte die Missstimmung. Der Aufstand wurde einstweilen von west-pakistanischen Elitetruppen blutig niedergeschlagen, der Guerillakrieg der Bengalis sowie die Unterstützung durch Indien im November 1971 führten nach erbarmungslosen Auseinandersetzungen aber schließlich zur Kapitulation der Regierungstruppen am 16. Dezember 1971. Bilanz: Weit über eine Million Tote, über 10 Millionen Flüchtlinge, 90.000 Kriegsgefangene in indischen Gefängnissen. Unter Blut und Tränen rief Mujib al-Rahman nach seiner Freilassung aus dem pakistanischen Gefängnis im Januar 1972 das souveräne sozialistische Bangladesch aus, »das Land der Bengalisprecher«.35

35 Zur Geschichte Bangladeschs siehe Ahmed, Rafiuddin (Hrsg.): Religion, Nationalism and Politics in Bangladesh, New Delhi 1990; Ziring, Lawrence: Bangladesh: From Mujib to Ershad: An

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Die Schaffung des neuen Staates war Ausdruck armseliger materieller Bedingungen, die in Verbindung mit einer linguistisch-kulturellen Identitätspolitik mobilisierend wirkte und vom lokalen Bürgertum geführt wurde. Und wieder hatten die Eliten ihrer (bengali-sprechenden) Bevölkerung eine bessere Zukunft versprochen. Aber war die Mehrheit der Bengalis einst von Briten, dann von Hindus, dann von Westpakistanis ausgebeutet worden, so bereicherte sich nun der einheimische koloniale Sektor an ihr. Denn auch in Bangladesch blieb Politik eine Angelegenheit der Eliten. Religiöse Parteien wurden per Gesetz verboten36 und Bereiche der Wirtschaft verstaatlicht, an den Besitzverhältnissen änderte sich indes wenig. Die Hungersnot 1974 verschärfte die Krawalle, die 1975 Mujib das Leben kosteten und zu Putsch und Gegenputsch führten. Das Militär unter Zia al-Rahman (1936–1981) bot der islamischen Öffentlichkeit nunmehr Mitspracherecht, nicht zuletzt durch seine Kontakte mit der arabischen Welt. Nach einem weiteren Putsch unter H.M. Ershad (geb. 1930) 1982 wurde der Islam sogar zur Staatsreligion erhoben und 1986 fragwürdige Parlamentswahlen zugelassen, in denen Ershad zum Präsidenten gewählt wurde. Wie Zia ul-Haq in Pakistan (s. u.), versuchte auch Ershad in Bangladesch, sich mittels staatlich gelenkter Islamisierung zu legitimieren. Während das Bürgertum dies durch Koalitionen mit dem Militär unterstützte, setzte sich die Jamaʿat-e Islami, die schon während der Sezession aktiv war und seither steten Zulauf verzeichnete und mehr Partizipation forderte, dagegen ab und schloss sich den Oppositionsparteien unter Leitung von Mujibs Tochter Shaikh Hasina (geb. 1947) (Awami League) an. Seitdem gibt es regelmäßige Führungswechsel zwischen Khaleda Zia (geb. 1945), Ehefrau des Zia al-Rahman und Anführerin der rechtslastigen Bangladesh National Party, und Shaikh Hasina. Gleichzeitig nimmt die Macht des konservativen sunnitischen Islams immer weiter zu, wie etwa die Verfolgung von Taslima Nasrin (geb. 1962), Autorin von »Schande«, oder die landesweite islamistisch formulierte Gewalt zeigen. Säkulare und pluralistische Kräfte, seien es die Intellektuellen und Künstler, die ihre Botschaften und Ästhetik aus ihrer lokalen Kultur schöpfen wie etwa der Märchenschreiber ʿAbdul Ġafur Hali (gest. 2016),37 haben in solch einem Umfeld schlechte Karten.

Interpretive Study, Karachi 1992. Die Abspaltung/Teilung/Unabhängigkeit wurde auch literarisch aufgearbeitet; siehe Memon, Muhammad Umar: Pakistani Urdu Creative Writing on National Disintegration: The Case of Bangladesh, in: Journal of Asian Studies 43 (1983/84), 105–127; Memon, Muhammad Umar: Partition Literature: A study of Intizar Husain, in: Modern Asian Studies 14 (1980), 377–410. 36 Die Betonung des Säkularismus ging auf die Legitimierung der Brutalität der Armee durch die Jamaʿat-e Islami zurück. Bald war aber auch Mujib gezwungen, islamischen Parteien Zugeständnisse zu machen, nicht nur im Hinblick auf die Unterstützung reicher Ölstaaten, die den neuen Staat nur zögerlich anerkannten. 37 Vgl. Harder, Hans: Der verrückte Gofur spricht. Mystische Lieder aus Ostbengalen, Heidelberg 2004.

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Islamisierung in Pakistan und ihre Folgen

Im übriggebliebenen (West-)Pakistan versuchte Z.A. Bhutto den sogenannten islamischen Sozialismus einzuführen, konnte damit die anstehenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes allerdings nicht lösen:38 Die Verfassung von 1973 definierte den Islam als Staatsreligion und legte Gewaltenteilung zwischen föderativen Provinzen und Regierung fest. Auf Druck islamischer Kräfte machte Bhutto das Zugeständnis, den Staat binnen neun Jahren zu islamisieren. Die Verstaatlichungspolitik führte jedoch zur Verarmung großer Teile der unteren Mittelschicht, die sich 1970 für die Partei Bhuttos eingesetzt hatten; gesellschaftliche Spannungen äußerten sich in politischer Opposition, die gewaltsam unterdrückt wurde. In solch angespannter Situation schienen Islamparteien mit ihrem Ruf nach der Schaffung eines sogenannten »Muhammadanischen Systems« (nizam-e mustafa) eine Alternative zu bieten. Islamisierung allenthalben war ihr Schlagwort; sie strebten keine radikale Lösung aus der Staatsökonomie an, sondern eher eine Koordinierung von überliefertem islamischem Brauchtum und moderner Wirtschaft. Die Unzufriedenheit war in wirtschaftlich entwickelten Gebieten aufgekommen, dort nämlich, wo sich die Kluft zwischen Tradition und Moderne am deutlichsten zeigte. Die Islamparteien wurden zu Sammelbecken dieser unzufriedenen Kräfte – Mittelschicht, Kleinhändler, Industriearbeiter, viele Intellektuelle – und bemühten sich um eine Alternative zum Bhutto-System, das ihnen daraufhin 1977 gezwungenermaßen weitere Zugeständnisse machte; u. a. die Einführung des Freitags anstelle des christlichen Sonntags als Feiertag und die »Exkommunizierung« der Aḥmadiyya sowie die erstmalige staatliche Anerkennung der Urkunden einiger religiöser Schulen. Darüber hinaus waren die USA beunruhigt über Bhuttos Außenpolitik, da er sich für die Belange der »Dritten Welt« engagierte und mit dem Bau einer nuklearen Waffe drohte. Trotz der weitgefächerten Opposition (Pakistan National Alliance: ein Konglomerat von neun Parteien, von ganz links bis ganz rechts) setzte sich Bhuttos Partei in den Wahlen 1977 überraschenderweise durch. Die Opposition pochte wegen angeblichen Wahlschwindels auf Neuwahlen, woraufhin sich die Unruhen verstärkten. Der Slogan des Tages, den die politische Partei der Barelwis, die »Vereinigung der Gelehrten Pakistans« (Jamaʿat-e 'Ulama-ye Pakistan), schon 1970 eingeführt hatte, wirkte erneut mobilisierend und solidaritätsstiftend. Als der ohnehin instabile Staat erneut auseinanderzufallen drohte, intervenierte das Militär, das – nach der »Tragödie« von 1971 in den Hintergrund gedrängt – die Rufe nach einem »Muhammadanischen System« bereitwillig aufgriff. Der Oberbefehlshaber des Militärs, Zia ul-Haq (reg. 1977–1988) versprach baldige Wahlen, verzögerte sie aber um mehrere Jahre, ließ Bhutto verhaften und schließlich hängen (1979). Fortan stabilisierte er seine Macht

38 Zu folgendem Burki, Shahid Javed: Pakistan Under Bhutto, New York 1979; Ziring, Lawrence: Pakistan: The Enigma of Political Development, Boulder 1980; Malik, Jamal: Islamisierung in Pakistan 1977–1984, Stuttgart 1989; Zaman, Muhammad Qasim: Islam in Pakistan, Princeton 2018.

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durch verschiedene Verfassungsänderungen unter dem Deckmantel, ein islamisches Gesellschaftssystem herzustellen, und ließ sich in einem ominösen Referendum 1984 als einzig legitimer Herrscher bestätigen. Die Wahlen von 1985 fanden nur auf der Basis individueller Parlamentssitze statt, nicht auf Parteibasis; eine ernsthafte Opposition war daher ausgeschlossen. Eine unheilige Allianz zwischen Militär, Bürokratie und islamistischen Führern stützte die Islamisierungsbestrebungen Zias, während sich die meisten sunnitischen Gelehrten sowie die schiitische Minderheit (etwa 14%) gegen eine solche Politik aussprachen, nicht weil sie im Grad der Islamisierung nicht weit genug ginge, sondern weil sie ihren islamischen Grundsätzen nicht entsprach. Durch Schaffung finanzieller Abhängigkeiten – vornehmlich durch das seit 1980 verstaatlichte islamische Almosensystem (zakat) – und durch die offizielle Anerkennung der Urkunden aller in Dachverbänden organisierten religiösen Schulen (dini madaris) gelang es dem Regime jedoch, die Geistlichen eine Zeitlang zum Einlenken zu bringen. Dies führte zu vermehrter Gründung islamischer Institutionen und zum spektakulären Anstieg der Anzahl ihrer Absolventen. Gleichzeitig wurde eine Regionalisierung des Islam deutlich: Jede muslimische Gruppe (Deobandis, Barelwis, Ahl-e Hadith, Schiiten und Jamaʿat-e Islami) dominiert in spezifischen Regionen und sozialen Kreisen. Die Durchsetzung einer universalisierenden Islamisierung hat schon deshalb keine Chance. Fatal ist jedoch, dass die Vertreter des kolonialen Bereichs und die staatlichen Islamisierungsagenten keine programmatische Eingliederung für die nun aus den verschiedenen Gebieten in den urbanzentrierten Arbeitsmarkt strömenden Islamgelehrten trafen – ein Problem, das sich in den kommenden Jahren noch verstärken sollte. Statt dessen versuchten sie, die bestehenden autonomen und autochthonen Strukturen durch eine Vielzahl islamistisch sanktionierter Maßnahmen aufzulösen, die staatliche Gewalt in noch unberührte Regionen einzuführen, den nationalen Markt durch eine islamische Nomenklatur (z. B. islamisches Wirtschaften) zu konsolidieren und damit die eigenen Interessen zu legitimieren und zu erweitern. Eine ideologisierende Geschichtsschreibung, die Stärkung des arabisierten Urdu, sowie der Aufbau einer weitgreifenden Administration waren dafür probate Mittel. Mit der Einführung von Blasphemiegesetzen konnten unliebsame Kräfte – allen voran religiöse Minderheiten sowie die Ahmadis – sogar mit Todesstrafe konfrontiert werden. Zudem versuchten die Mujahidin ihre Unabhängigkeit durch den Sturz des von Moskau gestützten linken afghanischen Regimes wiederherzustellen. Dschihad wurde zum Hauptthema in den Lehrbüchern, das zwischen 1986 und 1994 in einem mit USAID Geldern in Höhe 50 Millionen US-Dollar gesponserten Programm für Madresen in Pakistan entworfen wurde.39 Gleichzeitig sahen westliche Unternehmen und Konzerne in Allianz mit dem kolonialen Bereich neue Absatz- und Expansionsmöglichkeiten. Dadurch erhielt das Zia-Regime notwendige internationale Legitimation. Die kurzsichtige Islamisierungspolitik hat innerhalb einer noch teilweise funktionierenden traditionellen Gesellschaft allerdings große unvorhergesehene,

39 Mamdani, Mahmood: Good Muslim, Bad Muslim: Islam, the USA, and the Global War Against Terror, New Delhi 2004, 136f.

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jedoch vorhersehbare Probleme geschaffen. Sie steuert zur Eskalation des bestehenden Konfliktpotentials bei, zumal auch nach dem rätselhaften Tod Zias 1988 die demokratisch gewählten Regierungen eine aktive Partizipation regionaler Kräfte, insbesondere der im Vormarsch befindlichen religiösen Würdenträger, mit Argwohn betrachten. Insofern hat sich die Islamisierungspolitik als ein schwer abzufangender Bumerang erwiesen, denn mit diesen Problemen haben die staatlichen Agenten eines Islamismus am wenigsten gerechnet: »die Geister, die ich rief...«. Statt der Schaffung der versprochenen, wie auch immer harmonisierenden Islamisierung und der postulierten egalitären Gesellschaftsordnung erwachten neue, einander befehdende islamische Gruppierungen, die sich zunehmend radikalisierten, so auch die schiitische Minderheit. Kämpfe um wirtschaftliche und politische Vormacht zwischen verschiedenen Ethnien und Sprachgruppen werden oft religiös legitimiert, greifen allmählich von den Städten auf das Hinterland über, lancieren Regionalismen und bedrohen so die Stabilität der Reste des kolonialen Staates. Auch wenn nach Zias Tod die PPP unter Führung von Benazir Bhutto (reg. 1988–1990, 1993–1997; ermordet 2007) und die Muslim Liga unter Nawaz Sharif (reg. 1990–1993, 1997–1999) in einem auch von Taliban heimgesuchten Land einen Demokratieprozess in Gang setzte, intervenierte das Militär unter dem Vorwand der Korruption. Der Militär-Coup Parvez Musharrafs 1999 mündete in eine repressive Politik des »Enlightened Moderation«. Tatsächlich setzte er sich – mit eiserner Hand – für Modernisierung auch des islamischen Rechts ein, war aber nach dem 11. September 2001 im Zuge des »Kampfes gegen den Terror« (War on Terror) gezwungen, die USAmerikaner zu unterstützen. Musharraf trat schließlich 2008 zurück und bot der PPP die erneute Möglichkeit, an die Macht zu gelangen, dieses Mal unter Asif Zardari (reg. 2008–2013). In dessen Amtszeit fallen religiös motivierte Morde an zwei führenden Staatsrepräsentanten (2011), die sich für die Freilassung einer wegen angeblicher Blasphemie zum Tode verurteilten Christin eingesetzt haben. Dass Lynchjustiz und Zelebrieren dieser Morde durch Zeloten auch in die erneute Regierungszeit Nawaz Sharifs (reg. 2013–2017) fallen, zeigt die wachsende Straßenmacht (street power) unzufriedener Gesellschaftssegmente, wie sich aus den jüngsten Ereignissen um das Blasphemiegesetz ablesen lässt. So findet auch der anfangs in Teil 1 genannte Ausruf al-Hajjajs »Ya Labbaik« in der 2015 ins Leben gerufenen »Tahrik-e Labbaik Pakistan« (TLP) seine Aktualisierung. Bei den Wahlen 2018 konnte sich TLP überraschend als dritt-größte Partei etablieren, weil sie sowohl in städtischen Ballungszentren ihre Wählerschaft aus niedrigen Einkommensgruppen und der Arbeiterklasse – bäuerliche Städter sozusagen –, als auch aus Handelsgesellschaften rekrutiert, die unter den Auswirkungen der Globalisierung gelitten haben. Auch wenn der mit Hilfe des starken Militärs 2018 an die Macht gekommene ehemalige Cricket-Spielführer Imran Khan (geb. 1952) und dessen Pakistan Tahrik-e Insaf (PTI; »Pakistan Gerechtigkeitsbewegung«) ein wie auch immer geartetes Medina-ähnliches »Neues Pakistan« (Naya Pakistan) zu schaffen versprechen, sind sie von den Drohungen der Befürworter der Blasphemie-Gesetze nicht verschont geblieben. Der jahrelange Machtwechsel zwischen denselben Parteien gleicht der politischen Kultur Bangladeschs, das, ebenso wie Pakistan, zwischen 2008 und 2017 von Selbstmordattentaten und steigenden inner-muslimischen Kämpfen heimgesucht

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wurde. Ob diese Auswüchse den blutigen Weg hin zur Demokratie zeigen, über dem stets das Damoklesschwert des Militärs hängt, bleibt offen. Allerdings gibt es eine reichhaltige und bunte Religionslandschaft, die sich hier wie dort durch alltagsreligiöse Veranstaltungen an Heiligtümern und Mystik niederschlägt, während alternative Islam- und Säkularismusinterpretationen weit verbreitet sind. Javed Ghamidi (geb. 1951) und Khalid Masud (geb. 1939) etwa setzen sich mit traditionellen Mitteln des Islamdiskurses für eine Humanisierung der Gesellschaft ein, der Sufi-Rock der international bekannten Musikgruppe Junoon besingt nationale Identität, Freiheit und Liebe.40 Solche Stimmen sind aber stets dem Zorn der Straße ausgesetzt, der jederzeit sein grausames Gesicht zeigt, wie zahlreiche tödliche Attentate auf Minderheiten und weitverbreitete Lynchjustiz deutlich machen.

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Muslimische Inder oder indische Muslime?

Im säkularen Indien hat sich die Situation der Islamgelehrten wie auch des Großteils der vorwiegend urbanen Muslime (etwa 14% der Bevölkerung oder ca. 175 Millionen) ähnlich desolat entwickelt. Die Teilung Indiens 1947 (Partition) beseitigte weder die kommunalistischen noch die wirtschaftlichen Probleme der verbliebenen Muslime. Da es ihnen nach dem Exodus von 1947 an wirtschaftlichen Ressourcen fehlte (viele der kapitalstarken Unternehmer waren nach Pakistan ausgewandert), sie wegen der Restrukturierung des indischen Verwaltungsdienstes weiterhin ins Hintertreffen gerieten und weil es ihnen an einer politischen Führung mangelte, verfolgten Muslime gezwungenermaßen politisch eher zurückhaltende Positionen. Die Muslim Liga wurde verboten, das Vakuum füllte anfänglich die »Vereinigung der Islamgelehrten Indiens« (JUH). Als alleinige Vertreterin muslimischer Interessen setzte sie sich zunächst für soziale und religiöse Reformen ein. Ebenso waren die Anhänger Maududis »Islamische Gemeinschaft« zur Kompromissbereitschaft genötigt. Während Maududi etwa 3/4 seiner Mitglieder nach Pakistan führte, gründeten die zurückgebliebenen knapp 200 Mitglieder die »Islamische Gemeinschaft Indiens« (Jamaʿat-e Islami Hind). Zwar wünscht sich die hierarchisch aufgebaute Gemeinschaft auch in Indien die Herstellung der Souveränität Gottes, allerdings auf politisch quietistische Weise: Annehmlichkeiten und Erfolg werden im Jenseits entgolten. Die Landreformen Ende der 1950er Jahre, sowie die Isolierung von Muslimen von politisch und militärisch sensiblen Positionen infolge des indisch-pakistanischen Krieges um Kaschmir, verschärften deren wirtschaftliche Probleme. Auf diesem Hintergrund fanden die »Islamische Ge40 Zu Ghamidi siehe Masud, Khalid M.: »Rethinking shariʿa: Javed Ahmad Ghamidi on hudud,« in: Die Welt des Islams 47 (3–4) (2007), 356–375; Amin, Husnul: »Post-Islamist Intellectual Trends in Pakistan: Javed Ahmad Ghamidi and His Discourse on Islam and Democracy,« in: Islamic Studies 51/2 (2012), 169–192; zu der Rock-Gruppe Junoon siehe Asani, Ali S.: »Transmitting and Transforming Traditions: Salman Ahmad and Sufi Rock,« in: Malik, Jamal/Zarrabi-Zadeh, Saeed (Hrsg.): Sufism East and West: Mystical Islam and Cross-cultural Exchange in the Modern World, in Memory of Professor Annemarie Schimmel (1922–2003), Leiden 2019, 259–272.

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meinschaft Indiens« (JIH) und die »Vereinigung der Islamgelehrten Indiens« (JUH) verstärkten Zulauf. Beide sind im Gegensatz zu anderen regionalen Organisationen gegenwärtig auf breiter indischer Ebene vertreten. Insbesondere im Kleinhandel und in höheren Bildungsinstitutionen ist die »Islamische Gemeinschaft Indiens« (JIH) – wie in Pakistan und Bangladesch – äußerst populär und agiert wie die »Vereinigung der Islamgelehrten Indiens« (JUH) durch Mission, sozialen Dienst, Publikationen, Predigten in Moscheen. Mystische Orden, die jahrhundertelang Träger islamischer Kultur waren, treten dort wie auch in Pakistan kaum mehr öffentlich in Erscheinung. Dies tut aber der Popularität der Heiligenverehrung und Alltagsfrömmigkeit keinen Abbruch; allerdings versucht die auf internationaler Ebene wirkende »Missionsgemeinschaft« (Tablighi Jama'at) diese Erscheinungen durch Forderung nach konservativer Neugestaltung der Sitten zu bekämpfen. Lange Zeit fehlte den vielfältigen Identitäten indischer Muslime eine Integrationsfigur. Lediglich dem ehemaligen Rektor des »Gelehrtenrates« (Nadwat al-ʿUlama), Abu al-Hasan ʿAli Nadwi (gest. 1999), kam diese charismatische Rolle zu. Wegen der spezifischen Minderheitensituation in Indien hatte Nadwi, der enge Verbindungen sowohl zur Mystik und zur »Missionsgemeinschaft«, als auch zu muslimischen Organisationen arabischer Staaten unterhielt, öffentlich die islamistischen Vorstellungen Maududis kritisiert: Einer gesellschaftlichen Änderung im Sinne des Islam müsse ein Wandel auf individueller Ebene vorausgehen – Islam sei also eher eine verinnerlichte Botschaft Gottes an den Menschen. Auch wenn Nadwi immer wieder (gezwungenermaßen) zu harmonisierenden Postulaten bereit war und auf die Wichtigkeit nationaler Integration hinwies, so waren seine Ausführungen doch geprägt von der Idee einer islamischen Vormachtstellung: Muslime hätten jedes Land, also auch Indien, aus einem tiefen Schlaf geweckt und es zu den Höhen der Zivilisation geführt. Es erinnert an den im ersten Teil des Beitrags zitierten Ausschnitt aus Baburs Memoiren: Indien hatte seine Kultur und Sozialstruktur ohne einen erkennbaren Wandel für mehr als tausend Jahre halten können, mit dem Ergebnis, dass in fast jedem Lebensbereich Stagnation und Verfall eingesetzt hatten. […] es gab keine sichtbaren Anzeichen für einen Wandel in der Entwicklung der Ressourcen, weder in der Landwirtschaft noch in anderen Bereichen kreativer Bemühungen. Schließlich betraten die Muslime dieses traditionsbehaftete Land und beschenkten es mit dem teuersten Geschenk, das sie hatten – dem Glauben an den reinen und unverdorbenen Monotheismus, menschlicher Würde und Gleichheit, einem Sozialsystem frei von Klasse und Kaste, einer außergewöhnlichen Kultur, die durch den vollendeten Intellekt und die Kreativität verschiedener Völker verfeinert und bereichert worden war, sowie einem klaren und effektiven Verwaltungssystem, welches sich aus langen und mannigfaltigen Erfahrungen entwickelt hatte und gereift war. Kurzum, es war ein neuer frischer Wind, der verschiedene Gedankenströme und Wissenschaften, Künste und Kultur belebte und zusammenführte und so zu einem sagenhaften humanistischen Pulsieren in den verschiedenen Gesellschaftssphären sowie im intellektuellen und politischen Leben des Landes führte.41

41 Aus der Einleitung Abu al-Hasan ʿAli Nadwis zu: Hai, Syed Abdul: India During Muslim Rule. übers. von Ahmad, Mohiuddin, Lucknow 1977, 7.

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Interessanterweise sah Nadwi auch in der Islamisierungspolitik Zia ul-Haqs, welche die »Islamische Gemeinschaft« tatkräftig unterstützte, hoffnungsvoll eine »islamische Revolution«. Quietistische Positionen konnten dementsprechend nicht von allen indischen Muslimen konsequent durchgehalten werden. Erneut wurde dies 1986 deutlich, als der Oberste Gerichtshof das muslimische Personenrecht ändern wollte, um einer geschiedenen Muslima Unterhaltszahlungen zu garantieren. Die »Vereinigung der Islamgelehrten Indiens«(JUH) und andere muslimische Kräfte, wie der dem All-India Muslim Personal Law Board vorsitzende Nadwi, traten erfolgreich als islamisch-patriarchalische Interessenvertreter auf, mit der Begründung, der Islam würde andernfalls staatlicher Willkür zum Opfer fallen. Andere Positionen sind z. B. die eines Wahiduddin (1925–2021), der einen absoluten Idschtihad – also die kreative Anwendung des islamischen Rechts, um der Herausforderung zu begegnen, die sozialen Bedingungen über die Grenzen der eigenen Rechtsschule hinaus neu zu lesen und anzuwenden – befürwortet. Infolgedessen spricht er sich gegen eine erzwungene Scharia und für eine Trennung von Religion und Politik aus.42 Auf diese Weise entwickelt Wahiduddin interessante Ideen und Strategien, wie Muslime als Minderheit in einer mehrheitlich hinduistischen Demokratie mit einer modernen Verfassung gedeihen können. So befürwortet der Gelehrte auch friedliche Missionstätigkeit, verhärtet aber gleichzeitig die Idee einer religiösen Einheit indischer Muslime. Grundsätzlich repräsentieren die Muslime Indiens aber eine Vielzahl gesellschaftlicher Identitäten, die religiöse Affinitäten neutralisieren. Dennoch, die gegenseitige Assimilation von Hindus und Muslimen43 hat ihre Grenzen. Der militante Hinduismus ist, und dabei ist die Rolle des legendären Marathenführers Shivaji (gest. 1680), der Aurangzeb eine Zeitlang die Stirn geboten hatte, genauso prägend wie das Beschwören des hinduistischen Pantheons. Die Postulate der Religionspolitiker, die auf Wählerfang aus sind, drängen die in jeder Hinsicht heterogene muslimisch-indische Gemeinschaft politisch zusammen, so dass man geneigt sein könnte, von einem einheitlichen indischen Islam zu sprechen. Muslim-sein wird aber nur relevant in Gegenwart eines propagierten Hindu-seins; Identität entsteht stets im

42 Absoluter Idschtihad ergibt sich aus praktischer Notwendigkeit. So wird die Notwendigkeit der Abrogation und Neuinterpretation des koranischen Textes, so argumentiert Wahiduddin, durch den sich ändernden sozialen Kontext bestimmt und ist als solche eine Art Anpassung zwischen idealen Vorstellungen und praktischen Bedingungen, und zwar vor dem Hintergrund von Fragen zu Pluralismus, religiösem Dialog und Frieden. Voraussetzung ist jedoch die Wiedereinführung von Toleranz gegenüber Kritik. Vgl. Sikand, Yoginder: Peace, Dialogue and Daʿwa: An Analysis of the Writings of Maulana Wahiduddin Khan, in: Islam and Christian-Muslim Relations 14/1 (2003), 33–49. 43 Vgl. die wegweisenden Arbeiten von Ahmad, Imtiaz (Hrsg.): Caste and Social Stratification among the Muslims in India, Delhi 2018; Ahmad, Imtiaz (Hrsg.): Family, Kinship and Marriage among Muslims in India, New Delhi 1976; Ahmad, Imtiaz (Hrsg.): Ritual and Religion among Muslims of tbc Subcontinent, Lahore, Neuaufl. 1985; Ahmad, Imtiaz (Hrsg.): Modernization and Social Change among Muslims in India, New Delhi 1983. Im Süden des Subkontinentes ist der Grad der Assimilation interessanterweise wesentlich höher als im Norden.

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Kontext. Gleichzeitig rufen muslimische Identitätspolitiker nach Minderheitsrechten und Verbesserung der Lage von Minderheiten, wie sie auch von zahlreichen Ausschüssen gefordert werden: so z. B. das Sachar Committee 2006, dessen Empfehlungen vom Kabinett angenommen, jedoch von der Oppositionspartei Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei; BJP) abgelehnt wurden; das 15-Punkte-Programm des Premierministers (2006), das das Wohl von Minderheiten zum Ziel hat, ist kaum umgesetzt worden; der Bericht der Rangnath Misra-Commission (Nationale Kommission für religiöse und sprachliche Minderheiten) 2008 sah eine 10% Quote für Muslime und 5% für andere Minderheiten in Regierungsämtern und Bildungseinrichtungen sowie wichtige Rechte für Dalit-Gemeinschaften, sogenannte Scheduled Tribes, vor. Auch dies wurde von der BJP abgelehnt und somit Muslimen der Dalit-Status verweigert. Die seit 2014 fest im Sattel sitzende hinduistische BJP hat durch gezielte religiöse Identitätspolitik das Bild eines verfemten Muslims verhärtet. Tatsache ist, dass Nebenwirkungen einer solchen Politik nicht nur in der zunehmenden Anzahl von grausamen Unruhen beispielsweise in Muzaffarnagar im Westen von United Provinces im Jahr 2013 sichtbar werden. Auch Fälle des MobLynchens im Jahr 2015, oder in einer von pro-BJP-Gruppen ins Leben gerufenen aggressiven Kuhschutzbewegung (cow vigilantism) verschärft die Lage. Seit 2016 wird dies durch Angst vor demographischem Wandel verstärkt. Deshalb will man zum einen zum Islam konvertierte Hindus zurückführen (ghar wapsi, zurück nachhause), zum anderen inter-religiöse Heiraten untersagen (love-jihad), was auch in den neuesten Historienfilmen aus Bollywood Niederschlag findet. Zudem werden auf die Verabschiedung eines Gesetzes zum Schutze der Rechte verheirateter muslimischer Frauen und zum Verbot der Scheidung durch das Aussprechen von dem dreifachen Scheidungsspruch (triple talaq) ihrer Ehemänner heftige Reaktionen konservativer Muslime erwartet. Hier wie dort geht es erneut um profane Interessen, die religiös semantisiert werden. Dass zusätzlich die den indischen Muslimen nachgesagte exterritoriale Loyalität gegenüber muslimischen Staaten, allen voran Pakistan, Wirkung zeigt, kann nicht erstaunen.44

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Ausblick

In den muslimischen Mehrheitsstaaten wird über die Bedeutung des Islams in verschiedene Richtungen diskutiert, es gibt auch Islamparteien, die bisweilen einflussreich sind, eine solche Partei ist von den Wählerinnen und Wählern in der islamischen Republik Pakistan aber nicht mit einem politischen Mandat bedacht worden.

44 Hassan, Zoya: Politics of Inclusion: Castes, Minorities, and Affirmative Action, Delhi 2009; Hassan, Zoya: Co-opting the Minorities, in Hassan, Zoya: Congress after Indira. Policy, Power, Political Change (1984–2009), New Delhi 2012; Ahmed, Hilal/Kaviraj, Sudipta: Indian Democracy and World’s Largest Muslim Minority, in: Stepan, Alfred (Hrsg.): Democratic Transition in the Muslim World: A Global Perspective, New York 2018, 201–226; Ahmed, Hilal: Siyasi Muslims: A Story of Political Islam(s) in India, New York 2019.

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Im säkularen Indien hingegen trifft eine religiös-politische Partei, die BJP, auf großen Zuspruch und hat bei den Wahlen 2019 sogar die absolute Mehrheit errungen. In einer Region, in der die überwältigende Mehrheit der Menschen unter der Armutsgrenze lebt, haben utopische Forderungen Konjunktur; sie wirken solidaritätsstiftend und aufwiegelnd, die »Revolution der steigenden Erwartungen« kann dann nur kurzfristig durch radikale Maßnahmen zerschlagen oder neutralisiert werden. Fälle wie Salman Rushdie und Taslima Nasrin, sowie die zunehmende Zahl konfessioneller Ausschreitungen, die Zerstörung der Babri Moschee in Ayodhya 1992 und die Pogrome in Gujarat 2002 sowie die steigende Anzahl von Selbstmordattentaten, sind Ausdruck zunehmender innergesellschaftlicher Konflikte, die religiös artikuliert werden. Dass die Gewalttätigkeiten nicht vor den eigenen Grenzen Halt machen und sogar von Hegemonialinteressen fremder Regime beeinflusst werden, zeigen jüngste Auseinandersetzungen zwischen Schiiten und Sunniten in Pakistan.45

Literatur zum Weiterlesen Ahmad, Imtiaz (Hrsg.): Caste and Social Stratification among the Muslims in India, Delhi 2018. Fuchs, Simon Wolfgang: In a Pure Muslim Land: Shi'ism between Pakistan and the Middle East. Chapel Hill 2019. Hartung, Jan-Peter: A System of Life: Maududi and the Ideologisation of Islam. London 2013. Malik, Jamal: Islam in South Asia. Revised, Enlarged and Updated Second Edition. Handbook of Oriental Studies, Leiden 2020. Minault, Gail: The Khilafat-Movement: Religious Symbolism and Political Mobilization in India. New York 1982. Qasmi, Ali Usman/Robb, Megan Eaton (Hrsg.), Muslims against the Muslim League. New York 2017. Reetz, Dietrich: Islam in the Public Sphere: Religious Groups in India 1900–1947, Oxford University Press 2006. Südasien, Zeitschrift, Südasienbüro e.V., Bonn.

45 Zaman, Muhammad Qasim: The Ulama in Contemporary Islam, Princeton 2002. 118ff; Zaman, Muhammad Qasim: Islam in Pakistan, 189f; Zaman, Muhammad: Sectarianism in Pakistan: The Radicalization of Shi‘i and Sunni Identities, in: Modern Asian Studies 32 (1998), 689–716; Fuchs: In a Pure Muslim Land, Kap. 5, untersucht die Dynamik inner-muslimischer Auseinandersetzungen seit den 1970ern und führt aus, dass die Iranische Revolution eine Bedrohung für die sunnitischen Vorstellungen eines islamischen Staates darstellt und daher die Idee kolportiert, pakistanische Schiiten wären so etwas wie eine Fünfte Kolonne.

Islam in Indonesien Fritz Schulze

An1 der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert befand sich Niederländisch-Indien in einer Zeit des Umbruchs. Dies betraf alle gesellschaftlichen Bereiche einschließlich der Religion. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden Weichen gestellt, die ihre Wirksamkeit bis heute beibehielten. Eine übergreifende Geschichte des indonesischen Islams dieser Periode gab es in europäischen Sprachen bis vor kurzem nicht. Dem gegenüber stand aber eine Reihe von Einzeluntersuchungen, die spezifische Themenbereiche mehr oder weniger gründlich abdeckten. Ansonsten blieb die Möglichkeit, aus allgemeinen Werken zur Geschichte Indonesiens die den Islam betreffenden Teile herauszufiltern.2 Seit 2017 gibt es Kerstens Werk über die Geschichte des indonesischen Islams, von dem ca. die Hälfte die Zeit seit 1900 abdeckt.3 Für die Zeit nach Suhartos Sturz verbleiben zwar nur 5 Seiten. Allerdings behandelt derselbe Autor diesen Zeitraum sehr ausführlich in seinem umfassenden Werk zum kontemporären indonesischen Islam.4

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Ethische Politik und die Entstehung moderner islamischer Strömungen

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war der Veränderungsdruck in der niederländischen Kolonie so groß geworden, dass Modernisierungsschritte unausweichlich wurden. Zu einer modernen Ökonomie gehörte eine Inwertsetzung möglichst großer Teile des einheimischen Potentials einschließlich des Aufbaus einer einheimischen verarbeitenden Industrie. Die Öffnung der Märkte erforderte darüber hinaus eine Konkurrenzfähigkeit im Innern und auf dem Weltmarkt. Um diese Ziele zu erreichen musste das Potential an einheimischen Arbeitskräften ausgeschöpft werden. Dies betraf auch die immer komplexere Infrastruktur. Ohne eine einheimische qualifizierte Schicht war dies unmöglich. Die Einheimi-

1 Soweit von arabischen Begriffen und Namen etablierte einheimische oder europäische Schreibweisen existieren, werden diese benutzt. 2 Dazu zählt unter anderem Ricklefs, Merle C.: A history of modern Indonesia since c. 1200, 4. ed., Stanford/Cal. 2008. 3 Kersten, Carool: A history of Islam in Indonesia. Unity in diversity, Edinburgh 2017. 4 Kersten, Carool: Islam in Indonesia – the contest for society, ideas and values, London 2015.

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schen wandelten sich vom reinen Objekt der Ausbeutung5 zu einem integralen Bestandteil einer modernen Kolonie. Der niederländische Staat verkaufte diese neue Politik als »ethische Politik«. Zu den wichtigen Änderungen gehörte die Einführung eines Bildungssystems für Einheimische einschließlich Elemente einer höheren Bildung. So wurde 1900 eine Schule für einheimische Beamte gegründet (OSVIA) und etwa zur gleichen Zeit eine Akademie für Ärzte (STOVIA). Ethische Politik und Einbeziehung der Einheimischen in das koloniale System bedeuteten aber keineswegs einen Schritt zur Gleichberechtigung. Im Gegenteil ging die Modernisierung einher mit dem Aufbau eines Apartheid-Systems, das unterschiedliches Recht für die einzelnen Teile der Bevölkerung schuf. Es wurde klar unterschieden, ob jemand Europäer war (Japaner waren gleichgestellt), Chinese, Araber oder eben Einheimischer. Politische Partizipation war nicht vorgesehen. Bis zum Einmarsch der Japaner 1942 gab es keine Mitbestimmung. Der 1918 eingerichtete Volksraad war nie ein Instrument der Interessenvertretung oder gar Kontrolle. Es war von niederländischer Seite eine Illusion zu glauben, dass sich eine herausbildende Schicht einheimischer Fachkräfte und auch einfacher Arbeiter auf Dauer mit diesem Verhältnis zufrieden geben würden. Diese neuen Schichten waren anders als die alten Aristokraten. Sie waren offen für neue Ideen, seien es nun nationalistische oder religiöse. Zu Beginn waren die entstehenden Bewegungen regional und ethnisch ausgerichtet. Dazu zählten protonationalistische Bewegungen wie der javanische Budi Utomo, der sich hauptsächlich für Bildung einsetzte, daneben aber auch schon islamische Bewegungen, die modernistische Ideen aus dem Nahen Osten aufgriffen. Die erste regelmäßig erscheinende modernistische islamische Zeitschrift war die von Haji Abdullah Ahmad gegründete Al-Munīr (1911–16) in Padang. Sie hatte die ägyptische Al-Manār zum Vorbild und war damit ein wichtiger Faktor zur Verbreitung modernistischer islamischer Ideen. Bewegungen im politisch-sozialen Bereich hatten es wesentlich schwerer, da sie stets den Verboten und der Kontrolle der Behörden ausgesetzt waren. Wichtig waren hier die Gewerkschaften, zuerst jene der »weißen« Arbeiter, zu denen die Einheimischen auch Zugang hatten, wenn auch unter Einschränkungen. Die im engeren Sinn politischen Bewegungen starteten ebenfalls im wirtschaftlich-sozialen Bereich. Hier war die Sarekat Dagang Islam (Islamische Handelsgesellschaft) ganz zentral.6 Gegründet am 16. Oktober 1905 als Antwort einheimischer Tuchhändler gegen die chinesische Konkurrenz, machte sie in der Folgezeit eine rasche Wandlung durch. Nachdem sie bereits auf dem ersten Kongress 1906 ihren Namen zu Sarekat Islam (SI, Islamische Gesellschaft) geändert hatte, wurde sie unter ihrem charismatischen Führer Raden Hadji Oemar Said Tjokroaminoto (1882–1934) emi-

5 1802 stand noch im Bericht der so genannten Nederburgh-Komussion zu lesen: »Die Kolonie existiert für das Mutterland und nicht das Mutterland für die Kolonie.«. 6 Eine detaillierte Beschreibung der Entwicklung der SI gibt es von Noer, Deliar: The modernist Muslim movement in Indonesia 1900–1942, Kuala Lumpur 1973, insbesondere Kap. 3.

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nent politisch. Tjokroaminoto träumte von der Befreiung des Volkes von der kolonialen Unterdrückung. In der ersten Phase der Organisationsentwicklung, die bis 1916 währte, hatte die SI noch kein akzentuiertes Programm. Und sogar der Vorsitzende Tjokroaminoto orientierte seine Positionen oft an politischer Opportunität. So war er in manchen Fällen für die Kooperation mit den Holländern, bei anderen Gelegenheiten machte er Front gegen sie. Die zweite Phase umfasst die Zeit von 1916–1921. In dieser Zeit bildete sich die nationale Zielrichtung klar heraus, obwohl nicht eindeutig geklärt wurde, ob darunter Selbstverwaltung oder volle Unabhängigkeit zu verstehen sei. In einer Prinzipienerklärung wurde der Islam als Grundlage der Demokratie erklärt. Der Staat sollte sich nicht in religiöse Dinge einmischen und alle Religionen gleich behandeln. Ferner wandte sich die SI gegen den, wie sie sagte, sündhaften Kapitalismus. Die Arbeitsgesetze sollten im Interesse der Arbeiter verbessert werden. Das Aktionsprogramm forderte unter anderem die Einrichtung regionaler Volksvertretungen neben dem Volksraad. Der Volksraad sollte in eine repräsentative Körperschaft umgeformt werden, die über legislative Funktion verfügte. Für alle Bevölkerungsgruppen sollte einheitliches Recht geschaffen werden. Industriezweige von lebenswichtigem Charakter sollten sozialisiert werden. Kontroversen gab es um die Mitarbeit im Volksraad. Während die gemäßigte Fraktion die Mitarbeit befürwortete, um sich artikulieren zu können, war der linke Flügel unter Semaun (1899–1971) dagegen, weil jener nur eine Schwatzbude sei, die die Interessen des Kapitals vertrete. Da die SI die einzige legale politische Organisation war, war sie zum Sammelbecken geworden, in dem sich auch die Sozialisten und seit 1917 auch die Kommunisten wiederfanden. Die Gemäßigten setzten sich indes durch, und Tjokroaminoto und Abdoel Moeis, ein weiterer Führer, machten den Volksraad zu ihrem Forum, ihre Forderungen zu formulieren. In dieser Phase war der Riss in der SI schon deutlich sichtbar. Auf ihrem Surabaya-Kongreß 1921 beschloss dann die SI, Doppelmitgliedschaften nicht mehr zuzulassen. Damit waren die Kommunisten praktisch ausgeschlossen. Die Auseinandersetzung war der SI nicht gut bekommen. Seit dem Höhepunkt ihrer Mitgliedszahlen in 1919, als sie 2,5 Mio. Mitglieder vertrat, gingen die Mitgliedszahlen beständig zurück. In der Folgezeit bewegte sich die SI immer mehr in eine Position zunehmender Isolierung. Zum einen ist die kompromisslosere Haltung gegenüber den Kolonialbehörden zu nennen. 1927 folgte der Beschluss zum Ausschluss aller MuhammadīyaMitglieder (s. u.), was ihr viele Mitglieder kostete. Im selben Jahr wurde die von Soekarno geführte nationalistische Partai Nasional Indonesia (PNI) gegründet, die auch einen islamischen Flügel hatte. Mit der Gründung der Partai Islam Indonesia (PII) 1933, in der sich viele Muhammadīya-Mitglieder wiederfanden, verlor die SI auch noch ihren Ausschließlichkeitsanspruch als islamische Partei. Die Zersplitterung des politischen Islam setzte sich fort und verhinderte bis zur japanischen Besatzung 1942 die Herausbildung einer politischen, antikolonialen Schlagkraft. Längerfristig Wirkung zeigen sollten aber andere Bewegungen und Organisationen, die sich im gesellschaftlichen Mainstream verankerten. Zum einen war das die modernistische Muhammadīya, zum anderen die traditionalistische Nahdlatul Ula-

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ma (NU, Wiedererwachen der Rechtsgelehrten), die beide bis heute existieren und den islamischen Diskurs ganz wesentlich bestimmten. Die Muhammadīya wurde am 18. November 1912 von Ahmad Dahlan (1868–1923) in Yogyakarta gegründet. Inspiriert vom nahöstlichen Modernismus der Prägung Rašīd Riḍās, sollte sie die indonesischen Muslime von »Aberglauben« und nicht erlaubten Traditionen, bidʿa, befreien und so für einen reinen Islam öffnen, der auch fortschrittsfähig sei. Dazu gehörte auch die Neuinterpretation der islamischen Quellen, also Koran und Sunna. Die vier sunnitischen Rechtsschulen wurden zwar nicht grundsätzlich abgelehnt, verloren aber ihre alleinige Autorität. Fortschrittsfähig hieß in erster Linie, dass die Muslime der kolonialen Modernisierung ihre eigene entgegensetzen mussten, um die islamische Identität der Bevölkerung zu bewahren. Neben der Propagierung eines »reinen« Islams gehörte dazu an vorderster Stelle die Bildung in Form der Einrichtung von Schulen. Über das moderne Bildungswesen hatte die Kolonialmacht entscheidenden Zugriff auf die Formung der zukünftigen Generationen. Dem galt es etwas entgegen zu setzen. Nicht unerwähnt bleiben soll in diesem Zusammenhang auch die Errichtung anderer, eher nationalistisch orientierter privater Schulen, der Taman Siswa, die ebenfalls als Gefahr für die islamische Identität empfunden wurden. Neben dem Bildungswesen engagierte sich die Muhammadīya auch in anderen relevanten gesellschaftlichen Bereichen wie Gesundheitsversorgung, Errichtung von Waisenhäusern usw. Die Muhammadīya nahm eine rasante Entwicklung. Sie verfügte 1938 über 852 Zweigorganisationen und unterhielt u. a. 834 Moscheen, 31 öffentliche Bibliotheken und 1774 Schulen. Sie sah sich nicht als politische Organisation, was die Reibungsflächen zur Kolonialmacht gering hielt. Politisches Engagement außerhalb der Orgaisation wurde aber toleriert. 1917 wurde die Aisyiyah als Frauenorganisation der Muhammadīya gegründet, geleitet von Ahmad Dahlans Ehefrau Siti Walidah (1872–1946), um Frauen den Zugang zu Bildung und sozialen Aktivitäten zu eröffnen. Bemerkenswerterweise gingen Einheimische und arabische Zuwanderer getrennte Wege. Während die Muhammadīya sich als indigen verstand, obschon sie sich nie exklusiv definierte, gründeten modernistisch orientierte Araber 1915 die alIrsyad (Al- ǧamʿiya al-Iṣlāḥ wal-Iršād al-Islāmīya) auf Initiative von Ahmad Surkati (1875–1943). Sie verfolgten Ziele, die analog zu denen der Muhammadīya waren.7 Während die Gründung von Muhammadīya und al-Irsyad Reaktionen auf die Kolonialherrschaft und den damit verbundenen Modernisierungsdruck waren, erfolgte die Institutionalisierung des traditionellen Islams primär als Reaktion auf die Etablierung der Modernisten. Die NU wurde am 31. Januar 1926 in Surabaya gegründet und bestimmte Hasjim Asy’ari zu ihrem Führer. Im Gegensatz zur Muhammadīya war für die NU die Anerkennung der vier sunnitischen Rechtsschulen, insbeson-

7 Zur arabischen Reformbewegung (nahḍa) in Indonesien siehe Mobini-Keshah, Natalie: The Hadrami awakening – community and identity in the Netherlands East Indies, 1900–1942, Ithaca/ N.Y. 1999.

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dere die schafiitische, unverzichtbar. Sie suchte auf dem Gebiet der Theologie einen Mittelweg, der für die meisten Muslime akzeptabel sein sollte. Auch der Sufismus wurde akzeptiert, solange er mit der Scharia vereinbar war. Die soziale Basis der NU befand sich in den ländlichen Gebieten Javas, vor allem Ostjavas. Die Organisation wurde ganz wesentlich von den Kyai bestimmt. Das waren die Leiter der Pesantren, der traditionellen muslimischen Internatsschulen.8 Insgesamt hatte die NU eine schwächere Organisationsstruktur als die Muhammadīya. Frauen wurden in der NU erst relativ spät sichtbar, welche anfangs eine reine Männerorganisation war. 1938 wurden erstmals Frauen zu einem NU-Kongress zugelassen. Und erst 1946 wurde eine eigene Frauenorganisation gegründet, die Nahdlatoel Oelama Muslimat. 1950 erhielt sie Autonomiestatus. Ebenfalls 1950 wurde die Fatayat gegründet, eine Organisation für junge Frauen. Resümierend kann man für die Vorkriegszeit sagen, dass sich die drei wichtigen Strömungen herausgebildet hatten. Muhammadīya und NU standen für die zivilgesellschaftliche Formierung und die SI sowie weitere Parteien für den politischen Islam. Dem politischen Islam war letztlich keine große unmittelbare Wirkung beschieden. Dagegen konnten sich die beiden anderen Strömungen in der Gesellschaft dauerhaft verankern. Alle anderen Strömungen wurden marginal.

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Japanische Übergangszeit und Unabhängigkeitskampf

Der japanische Angriff auf Niederländisch-Indien am 1. März 1942 und die nachfolgende Besatzung zogen weitere entscheidende Entwicklungen nach sich.9 Die Japaner lösten die nicht genehmen einheimischen Parteien und Organisationen auf. Andererseits musste die einheimische Bevölkerung kontrolliert und zur Kooperation gebracht werden. Dazu schufen sie Organisationen, die ganz in ihrem Sinne agierten. Eigenständige politische Ambitionen und vor allem Debatten über eine Unabhängigkeit waren streng verboten. Neben den Nationalisten unter Soekarnos Führung waren das die islamisch-religiösen Kräfte, die im November 1943 zum Majelis Syuro Muslimin Indonesia (Masyumi, Konsultativrat der Muslime Indonesiens) zusammengefasst wurden. Hauptbestandteile waren NU und Muhammadīya. Vorsitzender wurde Hasyim Asy’ari, ein NU-Führer. Insgesamt vertrauten die Japaner mehr der ländlich-basierten NU als der urbaneren Muhammadīya. Daneben wurde später analog zu den Nationalisten auch bei den Muslimen eine militärische

8 Zum islamischen Erziehungswesen, das in diesem Aufsatz nicht näher thematisiert wird, siehe u. a. Hefner, Robert W.: Introduction – The politics and cultures of Islamic education in Southeast Asia, in: Hefner, Robert W. (Hrsg.): Making modern Muslims – The politics of Islamic education in Southeast Asia, London 2005, 1–54. 9 Zum Islam während der japanischen Besatzungszeit siehe ausführlich Benda, Harry B.: The Crescent and the Rising Sun – Indonesian Islam under the Japanese occupation 1942–1945, The Hague-Bandung 1958.

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Jugendeinheit aufgestellt, die Hizbullah, die der Verteidigung der japanischen Kolonie gegen allierte Angriffe dienen sollte. Letztlich schenkten die Japaner den Nationalisten das größere Vertrauen. Das vergrößerte die Reichweite und den Einfluss der Nationalisten beträchtlich und verschaffte ihnen Vorteile im folgenden Unabhängigkeitsprozess. Als die militärische Position der Japaner immer hoffnungsloser wurde, ergriffen sie Schritte, Indonesien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Ein entsprechendes Vorbereitungskomitee wurde gegründet. Dort hielt am 1. Juni 1945 Soekarno seine berühmte Rede, in der er die indonesischen Staatsprinzipien, die Pancasila (Fünf Grundlagen), entwickelte. Von den fünf Prinzipien waren vier weitgehend unstrittig: Nationalismus; Internationalismus; Konsensdemokratie; und soziale Gerechtigkeit. Probleme bereitete das fünfte Prinzip: Glaube an Gott. Die Muslime in dem Komitee waren weder damit einverstanden, dass die Religion Platz fünf einnahm, noch hielten sie es für angemessen, den Islam als Religion der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung keine Sonderstellung zuzusprechen. Einige gingen sogar noch weiter und forderten den islamischen Staat. Das Ergebnis war ein Kompromiss, nach dem die Religion an die erste Stelle rückte, in den »Glauben an den Einen Gott« (ketuhanan yang maha esa) umgeändert und schließlich durch den Halbsatz »mit der Verpflichtung für die Muslime, die islamische Scharia zu befolgen« ergänzt wurde. Diese Formulierung wurde als Jakarta-Charta bekannt. In einer Sitzung des Komitees, an der nicht alle muslimischen Mitglieder anwesend waren, wurde dieser Halbsatz aber wieder gestrichen, weil er den zukünftigen Staat in einen religiös-islamischen verwandelt hätte. Dagegen hatten nicht nur die Nationalisten Bedenken, sondern es bestand auch die Gefahr, dass die nicht-muslimischen Regionen sich einem solchen Staat verweigert hätten.10 Seither betrachten viele Muslime die Streichung des Halbsatzes als Putsch, den es rückgängig zu machen gelte. Die Diskussion um dieses Thema ist bis heute nicht verstummt. Vor allem in den ersten zehn Jahren der Unabhängigkeit wurde der Staatscharakter zum wichtigsten Thema der parlamentarischen Auseinandersetzungen. Davor hatte Indonesien allerdings andere Probleme. Die Unabhängigkeitserklärung von Soekarno am 17. August 1945 wurde erwartungsgemäß von den Holländern nicht anerkannt. Damit entbrannte ein blutiger Unabhängigkeitskrieg, der erst Ende 1949 mit der Anerkennung der Unabhängigkeit durch die ehemalige Kolonialmacht sein Ende fand. Im Krieg entwickelten sich die Kräfteverhältnisse erneut. Die republikanische Armee wurde hauptsächlich durch nationalistische Kräfte gestellt. Die ebenfalls am Krieg beteiligten muslimischen Kräfte waren, wie die Kommunisten, weitgehend

10 Hier ist zu bemerken, dass zwar ca. 87 % der Indonesier formell dem Islam angehören. Allerdings sind die religiösen Minderheiten – vor allem Christen und Hindus – an bestimmte Ethnien und Regionen gebunden. Dies betrifft und betraf z. B. Bali, die weiter östlich gelegenen Kleinen Sundainseln mit Ausnahme von Ost-Lombok und Sumbawa, weiterhin Nord-Sulawesi, Nord-Sumatra, West-Kalimantan usw. Ein Wegbrechen dieser Regionen hätte einen Rumpfstaat übrigbleiben lassen.

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autonom. Die Nationalisten konnten als Revolutionsregierung ihren Einfluss immer weiter ausbauen und waren auch Verhandlungspartner auf dem internationalen Parkett. Je mehr sich der Krieg dem Ende näherte, desto stärker wurden die Bestrebungen der Nationalisten, ihre politischen Gegner auszuschalten. Die kommunistischen Kräfte wurden im Zuge einer Militäraktion im September 1948 liquidiert.11 Bei den radikalislamischen Verbänden handelte es sich vorgeblich um eine Demobilisierung überdimensionierter Streitkräfte. Im Allgemeinen konnten diese sich nicht dagegen wehren. In einigen Gebieten blieben sie aber dominant und widersetzten sich der Nationalarmee. Das war der Beginn des so genannten Negara Islam Indonesia (NII, Islamischer Staat Indonesien). Im Zuge all dieser Ereignisse verschwand die politische Macht der traditionellen muslimischen Herrscher, also der Sultane und Radschas. Diese hatten sich dem Unabhängigkeitskampf gegenüber passiv verhalten und/oder gar auf die Wiederkehr der Holländer gehofft. Dies wurde ihnen teilweise direkt zum Verhängnis. Die Revolution in den Plantagengebieten Nordsumatras fegte die kleinen Fürstentümer hinweg.12 In den anderen Regionen wurden die Fürsten politisch bedeutungslos. Einzige Ausnahme war Yogyakarta, dessen Sultan den Unabhängigkeitskampf aktiv unterstützt hatte und deswegen als Sultanat mit Sonderrechten bis heute erhalten blieb. Mit der Unabhängigkeit fand somit der Radscha-zentrierte Islam sein Ende.

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Indonesien unter Soekarno (bis 1965)

Noch bevor der Staat endgültig von den Niederlanden in die Unabhängigkeit entlassen wurde, proklamierte Kartosoewirjo am 7. August 1949 den islamischen Staat mit sich selbst als Imam. Alle, die seinen Anspruch auf Führung ablehnten, wurden zu Ungläubigen erklärt. Mit diesem auf takfīr beruhenden Anspruch war ein Ausgleich unmöglich. Der NII hatte sein Zentrum in Westjava. Es schlossen sich dann weitere Gruppen in Süd-Sulawesi und Süd-Kalimantan an. Weitere Regionen folgten zeitweise aus politischen Gründen, wie Aceh und West-Sumatra. Das zögerliche Vorgehen der Regierung, vor allem ihren islamischen Komponenten geschuldet, bescherte dem NII eine relativ lange Lebensdauer. Kartosoewirjo wurde 1962 gefangen genommen, zum Tode verurteilt und hingerichtet.13 Derweil ging auf anderer Ebene die Auseinandersetzung um den Staatscharakter weiter. Während des Unabhängigkeitskampfes und danach hatte sich die Parteienlandschaft wieder erheblich diversifiziert. Auf der islamischen Seite hieß das unter anderem auch, dass die NU sich 1952 aus der Masyumi zurückzog und sich als

11 Die so genannte Madiun-Affäre. 12 Ausführlich hierzu Reid, Anthony: The blood of the people – Revolution and the end of traditional rule in Northern Sumatra, Oxford 1979. 13 Zum NII, auch unter dem Namen Darul Islam bekannt, siehe Dijk, Cornelis van: Rebellion under the banner of Islam – the Darul Islam in Indonesia, The Hague 1981.

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eigenständige politische Partei konstituierte. Am Ende war Masyumi im Wesentlichen der politische Arm der Muhammadīya. Die islamischen Kräfte setzten große Hoffnung auf die ersten freien Wahlen 1955. Der Glaube, dass sich bei 87 % Muslimen im Staat die große Mehrheit für islamische Parteien entscheiden würde, erwies sich aber als Illusion. Nationalisten und Kommunisten bildeten die stärkste Fraktion. Diese und die Muslime blockierten sich gegenseitig, auch in der neu gebildeten verfassungsgebenden Versammlung. Das parlamentarische System, das bei Unabhängigkeit eingeführt worden war, diskreditierte sich durch die gegenseitige Blockade selbst. Diese Blockade, ökonomische Schwierigkeiten und diverse Rebellionsversuche veranlassten Soekarno dann, 1957 eine so genannte gelenkte Demokratie unter seiner Führung einzuführen. Parteien, die sich widersetzten, wurden verboten. Nationalisten, Kommunisten, NU und Militärs, die ihn unterstützten, konnten dagegen ihren Einfluss ausbauen. 1959 erfolgte die Rückkehr zur Präsidialverfassung von 1945 einschließlich der Auflösung der verfassungsgebenden Versammlung, und 1963 ließ sich Soekarno zum Präsidenten auf Lebenszeit wählen. Zu den verbotenen Parteien gehörte auch die Masyumi, was automatisch den Einfluss der konservativen NU stärkte. Entscheidend geprägt wurde die politische Landschaft allerdings vom wachsenden Widerspruch zwischen den Kommunisten und dem Militär. Es war die Zeit des Vietnamkriegs. Die Partai Komunis Indonesia (PKI) war zu jener Zeit die mitgliederstärkste kommunistische Partei außerhalb der sozialistischen Welt. Und Soekarno suchte den Kontakt zur Volksrepublik China. Auf der anderen Seite sympathisierte das Militär mit den USA. Ein Showdown wurde damit unvermeidlich. Er begann am 30. September 1965 mit einem provozierten Putschversuch von Soekarnos Palastwache und einiger linker Militärs. Das Militär war gut vorbereitet und holte unmittelbar zum Gegenschlag aus. Am Ende standen die Zerschlagung der PKI und die Entmachtung Soekarnos. Als Putschgeneral etablierte sich Suharto an der Spitze des Staates, an der er bis 1998 blieb. Die islamischen Parteien und Organisationen stellten sich auf die Seite des Militärs. Sie beteiligten sich aktiv und teilweise an vorderster Front an den Massakern und riefen sogar zum Dschihad auf. Ihr Kalkül war, dass nun die Rolle des Islams in Indonesien gestärkt würde.

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Die Zeit der Suharto-Diktatur (1966–1998)

Dieses Kalkül ging allerdings nicht auf. Suharto benutzte sie zwar als Stoßtrupp, war aber nicht bereit, irgendwelche Macht mit ihnen zu teilen. Diese verblieb vollständig in den Händen des Militärs. Nicht einmal die Masyumi-Partei wurde wieder zugelassen. Deren ehemaliger charismatischer Führer, Mohamad Natsir, zog die Konsequenz und gründete eine Zivilorganisation, den Dewan Dakwa Islamiyah Indonesia (DDII, Rat für Islamische Mission). Der DDII machte in den Folgejahrzehnten durch antisemitische und antichristliche Propaganda auf sich aufmerksam. Natsir pflegte sehr gute Kontakte zu Saudi-Arabien, das ihn und sein DDII zum Einfallstor wahhabitischer Ideen machte. Der noch unter Soekarno weitgehend zerschlagene

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NII blieb in Resten im Untergrund erhalten und wurde in der Nach-Suharto-Zeit zur Keimzelle dschihadistischer Gruppen. Der Mainstream-Islam konnte solche Manöver naturgemäß nicht vollziehen und musste sich den politischen Vorgaben anpassen oder sich zumindest arrangieren. 1973 wurden die bestehenden islamischen Parteien im Zuge einer Reform des Parteiensystems zu einer einzigen zusammengeschlossen, der Partai Persatuan Pembangunan (PPP, Vereinigte Entwicklungspartei). Sie bildete neben der Partai Demokrasi Indonesia (PDI, Demokratische Partei Indonesiens), in der sich die alten nationalistischen Elemente sowie christliche Gruppierungen wiederfanden, und Golongan Karya (Golkar, Funktionale Gruppen), die die Militärs vertrat, das islamische Element. Sämtliche Wahlen wurden selbstredend von Golkar gewonnen. Die Suharto-Ära hatte einen gravierenden Einfluss auf die intellektuelle und politische Entwicklung des Islams in Indonesien. Zum einen ist die Kontrolle zu nennen, die das Regime über die islamischen Organisationen auszuüben versuchte. Dazu gehörte auch die Einrichtung des Majelis Ulama Indonesia (MUI, Ulama-Rat Indonesiens) 1975. In ihm waren die wichtigen Organisationen neben ebenso wichtigen Persönlichkeiten vertreten. Formal sollte er den Islam repräsentieren. In Wirklichkeit funktionierte er eher als Kontrollinstitution der Regierung. So wurde als Zielsetzung unter anderem formuliert, einen Pancasila-gemäßen Islam zu entwickeln, also einen staatstragenden. Zum Entschluss zur Gründung des MUI hatte sicherlich auch die Erfahrung muslimischer Unruhen im Jahr 1973 beigetragen. Anlass war ein neues Ehegesetz, das vielen Muslimen zufolge zu sehr von islamischen Prinzipien abwich. Es war einer der wenigen Fälle, in denen das Regime nicht Dissens unmittelbar mit Brachialgewalt beendete. Nach Konsultationen mit islamischen Organisationen und Parteien wurde das Gesetz reformiert und trat 1974 in Kraft. Der politische Druck hatte erheblichen Einfluss auf die islamischen Organisationen.1983 führte das Regime das so genannte asas-tunggal14-Prinzip ein. Es besagt, dass politische Organisationen keine andere ideologische Grundlage mehr haben durften als die Pancasila. Das galt auch für die PPP, die nun unter anderem auch die Kaaba aus ihrem Emblem entfernen musste. Die NU erklärte daraufhin ihren Rückzug aus der PPP und ihre Rückkehr zur »Khittah15 1926«. Das bedeutete, dass die Organisation zu ihrem ursprünglichen Charakter als nicht politische Zivilorganisation zurückkehrte. Ähnliche Entwicklungen gab es, mutatis mutandis, in der Muhammadīya. Eine dritte Entwicklungslinie neben den Modernisten und Traditionalisten ergab sich aus dem Entstehen eines modernen Islam im islamischen Bildungswesen, namentlich dem islamischen Hochschulwesen. Bis zum Putsch 1965 und die ersten Jahre danach waren die islamischen Hochschuleinrichtungen konservativ orientiert. Doch schon zu jener Zeit entwickelte sich eine junge Generation islamischer Intellektueller, die erkannten, dass eine Modernisierung des Islams jenseits des Traditio-

14 asas tunggal = alleinige Grundlage. 15 arab. ḫuṭṭa = Kurs, vorgezeichnete Linie.

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nalismus und des eher fundamentalistisch ausgerichteten Modernismus unabdingbar war. Der Islam musste in Einklang gebracht werden mit moderner Staatlichkeit. Letztlich führte auch kein Weg darum herum angesichts der politischen Verhältnisse in Indonesien. Der erste junge Intellektuelle, der von sich reden machte und später weit über Indonesien bekannt werden sollte, war Nurcholish Madjid (1939–2005). Er war bereits als Student sehr aktiv. Von 1966 bis 1971 war er Vorsitzender des Himpunan Mahasiswa Islam (HMI, Vereinigung Islamischer Studenten). Eine Rede im Jahr 1970 war wie ein Paukenschlag. Darin gab er die Losung aus: »Islam yes, partai Islam no!«. Damit stellte er das bis dato existierende Mantra in Frage, dass Indonesien ein islamischer Staat sein sollte. Nurcholish differenzierte scharf zwischen einem säkularen und sakralen Bereich, dunyawī versus uḫrawī. Der Staat gehöre zu ersterem, womit die Forderung nach einem islamischen Staat absurd sei. Er stieß anfangs auf breite Ablehnung. Das hinderte ihn aber nicht daran, seine Ideen in zahlreichen Büchern und Artikeln weiter zu entwickeln und zu einem Vorreiter modernen islamischen Denkens zu werden. Höhepunkte waren die Gründung der Stiftung Paramadina als think tank, die schließlich in der Gründung seiner eigenen Universität Paramadina 1998 mündete. Nurcholish war einer der Begründer des islamischen Neo-Modernismus.16 Über das Religionsministerium setzte der Suharto-Staat eine umfassende Modernisierung der höheren islamischen Bildung in Gang. Ziel war es, die höhere Bildung aus der fiqh-Orientierung herauszuführen und Pancasila-tauglich zu machen. Der richtige Mann dafür war Mukti Ali (1923–2004), der von 1971 bis 1978 Religionsminister war. Er setzte 1973 Harun Nasution17 (1919–1998) als Rektor der Islamischen Akademie Syarif Hidayatullah in Jakarta ein. Harun Nasution war ebenso wie Mukti Ali Absolvent der McGill Universität in Montreal und bekennender Mu’tazilit und damit der Rationalität zugewandt. Er veröffentlichte mehrere Lehrbücher, die trotz des Widerstandes der Konservativen zu Standardwerken der höheren islamischen Bildung wurden. Die Wirkung kann man kaum überschätzen. Denn an den Akademien wurden Religionslehrer ausgebildet, die eine entscheidende Stellung in der Formung des islamischen Selbstbewusstseins im Land hatten. Daneben wurden auch Kleriker für den öffentlichen Dienst einschließlich der Armee ausgebildet sowie Richter und Anwälte. In einem speziellen Programm wurde die Elite der Akademien ins Ausland geschickt, aber nicht in den Nahen Osten, sondern über ein mehrjähriges Programm an die erwähnte McGill-Universität. Individuell bestanden auch gute Beziehungen zur University of Chicago, wo Fazlur Rahman lehrte. Unter anderem Nurcholish Madjid promovierte bei ihm. Fazlur Rahman, der wegen seiner Ansich-

16 Zu Nurcholish Madjid siehe Kersten, Carool: Cosmopolitans and heretics – New Muslim intellectuals and the study of Islam, New York 2011. Kap. 3, 4 und 5. Zum indonesischen Neomodernismus allgemein siehe Barton, Gred: The emergence of neo-modernism – a progressive, liberal movement of Islamic thought in Indonesia. Dissertation Monash University/Melbourne 1995. 17 Zu Harun Nasutions Ideen siehe Saleh, Fauzan: Modern trends in Islamic theological discourse in twentieth century Indonesia, Leiden 2001. Kap. IV A.

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ten aus seiner Heimat Pakistan hatte fliehen müssen, vertrat einen Islam, der die klassische Exegese mit ihrer fiqh-Orientierung ablehnte und stattdessen einen in Raum und Zeit kontextualisierten Islam favorisierte. Gemäß ihm galt es, die ethische Dimension von Koran und Sunna zu ergründen und in der modernen Zeit umzusetzen. In den Folgejahren führten diese Netzwerkbindungen zu einer intensiven Befassung mit den internationalen modernen Denkern, unter anderem Ḥasan Ḥanafī, Mohammed Arkoun, Muḥammad Šaḥrūr, ʿĀbid al-Ğābirī, Nasr Hamid Abu Zaid und anderen. Damit wurde der moderne islamische Diskurs in Indonesien zum freiesten, offensten und intensivsten in der ganzen islamischen Welt. An den staatlichen islamischen Hochschulen hatte der Staat die direktesten Einflussmöglichkeiten. Daher ging das Kalkül des Regimes grundsätzlich auf. Die Entwicklung eines staatskonformen Islams wurde so entscheidend gefördert. Auf der anderen Seite bildete sich damit aber auch gleichzeitig ein Islam heraus, der für religiöse Toleranz stand und offen für die Moderne war. Daher war er auch nicht notwendigerweise auf das Regime festgelegt, denn religiöse Toleranz und Säkularität sind auch in anderen politischen Organisationsformen operabel. Damit unterschied sich die Entwicklung in Indonesien spürbar von der in der weiteren islamischen Welt, wo gerade in den siebziger Jahren eine Hinwendung zum Fundamentalismus und dann auch zum Dschihadismus stattfand. Während der Staat einen direkten Zugriff auf die staatlichen islamischen Hochschulen hatte, war sein Einfluss auf NU und Muhammadīya nur begrenzt. Vor allem in der NU nahm unter ihrem Vorsitzenden Abdurrahman Wahid (1940–2009) eine inhaltliche Neuausrichtung ihren Lauf. Wahid, auch Gus Dur genannt, besaß als Enkel des NU-Gründers Mohammad Hasjim Asy’arie (1871–1947) hohes Ansehen. Von 1984 bis 1998 führte er die Organisation von einer sehr konservativen Ausrichtung – fiqh-orientiert auf der Basis der schafiitischen Rechtsschule – hin zu einer inklusiv orientierten und weltoffenen. Für Wahid war die Pluralität der indonesischen Gesellschaft Bereicherung und nicht Gefahr, wie von vielen anderen Muslimen geglaubt. Demokratie sei der natürliche Ausdruck dieser Vielfalt. Damit füllte Wahid mit der NU das Staatsprinzip der Pancasila mit Leben, während das Regime es für den reinen Machterhalt missbrauchte. Analoge Entwicklungen gab es in der Muhammadīya, wenn auch nicht ganz so konsequent. Aber beide versuchten, sich vom Regime nicht vereinnahmen zu lassen.

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Die 90er Jahre und Suhartos Sturz

Diese Politik war natürlich mit Risiken verbunden. Diese wurden in den 90er Jahren virulent. Zu Beginn der 90er Jahre begann Suharto sich stärker dem Islam zuzuwenden. Ob dies vermehrter Frömmigkeit geschuldet war, die er zum Beispiel durch eine pressewirksam inszenierte Pilgerfahrt nach Mekka 1991 demonstrierte, mag dahingestellt sein. Auf jeden Fall passte es in sein politisches Kalkül. Seinen nachlassenden Rückhalt im Militär versuchte er mit dem Aufbau einer neuen Machtbasis aufzufangen. Zielgruppe war der Islam und hier insbesondere die muslimische städtische Mittelschicht.

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Aus diesen Erwägungen heraus wurde unter der Führung von Suhartos engem Berater und Technologieminister Bacharuddin Jusuf Habibie (1936–2019) im Dezember 1990 die Ikatan Cendekiawan Muslim Indonesia (ICMI, Vereinigung Muslimischer Intellektueller Indonesiens) gegründet. Einige muslimische Intellektuelle sahen dies als Chance, den Einfluss des Islams auf die Politik zu vergrößern und begrüßten die von ihnen als genuin angesehene Hinwendung Suhartos zum Islam. Letztlich ging ihre Rechnung nicht auf. Wirklich einflussreiche Posten wurden ihnen verwehrt. Gleichzeitig machten sie sich durch ihre enge Bindung mitverantwortlich für die Taten des Regimes. Nicht alle muslimischen Intellektuelle machten diese Wendung mit. Für islamische Führer wie Wahid war es unerträglich, dass nun der Islam zur Stütze des Regimes werden sollte. Er verweigerte sich, was bedeutete, dass auch die größte muslimische Organisation des Landes18 sich dieser Umarmungsstrategie entzog. Im Gegenteil gründete Wahid kurz darauf das Forum Demokrasi, in dem verschiedene Organisationen, nicht nur muslimische, vertreten waren. Das Regime reagierte mit großem Druck. Auf dem Nationalkongress 1994 versuchte das Regime mit Druck, Drohungen und Stimmenkauf die Wiederwahl Wahids zu verhindern, aber vergeblich. Der Druck zeitigte aber insofern Wirkung, als Wahid sich gezwungen sah, seine offene Opposition zu beenden, um nicht völlig unterzugehen. Das gleiche widerfuhr im Übrigen auch Sukarnoputri Megawati, Tochter Soekarnos und Führerin der Partai Demokrasi Indonesia (PDI). Da auch sie in Opposition zum Regime stand, versuchte jenes, ihre Wiederwahl 1996 zu verhindern. Der dem Regime genehme Gegenkandidat Soeryadi wurde durchgesetzt, woraufhin Megawati sich zur Führerin des abgespaltenen Flügels PDI – Perjuangan (perjuangan = Kampf) erklärte. Auf diese Weise verschob sich eine wichtige Bruchlinie in der Gesellschaft hin zu demokratisch versus nicht-demokratisch. Die Entwicklung hatte einige wichtige Konsequenzen. Zum einen schien plötzlich politischer Islam wieder möglich. Zum zweiten ergaben sich durch die Existenz von ICMI wieder Freiräume des Diskurses vor allem an Hochschulen, die vorher verboten gewesen waren. In diesem Umfeld bildeten sich Studiengruppen, halaqah (Studienzirkel, arab. ḥalqa). Sie waren in der Regel fundamentalistisch ausgerichtet, zu jener Zeit aber noch quietistisch. Viele standen politisch den ägyptischen Muslimbrüdern nahe. Auf diese Weise wurden die Grundlagen für spätere Entwicklungen gelegt. Die politischen Manöver nutzten Suharto nichts mehr. Nach der Finanzkrise in Asien 1997 entstanden soziale Unruhen, und sogar innerhalb des eigenen Lagers mehrten sich die Stimmen, die seinen Rücktritt forderten. Am 21. Mai 1998 trat er dann gezwungenermaßen zurück. Sein Nachfolger wurde der schon erwähnte seinerzeitige Vizepräsident Habibie. Auf die Ära der Neuen Ordnung (Orde Baru) folgte nun die bis heute andauernde reformasi-Ära.

18 Die Mitgliederzahl der NU wird auf 30 Mio. geschätzt. Damit ist sie die größte muslimische Organisation der Welt, gefolgt von der Muhammadīya mit ca. 20 Mio. Mitgliedern.

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I Regionale Darstellungen

Die Reformära

Ziel war für viele ein demokratischer Staat. Für andere war die Demokratie aber nur ein Mittel zur Machtergreifung. Die freien Wahlen 1999 gerieten für den politischen Islam einmal mehr zur großen Enttäuschung. Die best platzierte islamische Partei landete auf dem dritten Platz. Gleichzeitig gründeten sich zahlreiche islamische Organisationen und Parteien. Der politische Islam aus den Nahen Osten fand ein breites Eingangstor. Politische Kontrolle gab es de facto nicht mehr. Darunter befanden sich auch viele, die den demokratischen Staat ablehnten und sich durch das Wahlergebnis bestätigt sahen. Zu den Parteien, die den islamischen Staat forderten, gehörten die international organisierte Hizbut Tahrir Indonesia (HTI, Partei der Befreiung, Indonesien), welche das Kalifat anstrebte und die Partai Keadilan Sejahtera (PKS, Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei), zu Beginn Partai Keadilan, welche sich an den Muslimbrüdern orientierte. Daneben entstanden dschihadistische Gruppen, die den bewaffneten Kampf nicht nur forderten, sondern auch begannen. Eine davon war der Laskar Jihad (Armee des Dschihad). In den Molukken und auf Sulawesi fanden langanhaltende bewaffnete Auseinandersetzungen statt. Vorwand waren angebliche Übergriffe gegen Muslime und eine christlich-jüdische Verschwörung. Die entsprechenden Fatwas, die den Dschihad rechtfertigten, kamen aus Saudi-Arabien. Zu dieser Zeit war der Staat sehr schwach. Er konnte sich nicht auf seine Sicherheitskräfte verlassen, die noch im Geiste der Suharto-Zeit verharrten. Weder die Armee noch der zivile Staatsapparat waren bereit, ihre alten Privilegien abzugeben. Die alten Eliten in Gesellschaft und Wirtschaft waren immer noch in ihren Positionen. Eine juristische Aufarbeitung der Suharto-Zeit war undenkbar. Auf vielen Ebenen boykottierten die alten Kräfte nicht nur den Wandel, sondern schürten aktiv Chaos. Dies betraf auch den Dschihad. Die Dschihadisten nutzen die militärische Infrastruktur, um auf die Inseln zu gelangen. Und es waren Militärs, die sie mit Waffen versorgten. Bei Bogor in Westjava wurden sie sogar vom Militär trainiert. In den großen Städten einschließlich Jakarta konnte der Laskar Jihad ungestört Geld für seinen Bürgerkrieg sammeln. Dieser kostete von 2000 bis 2002 mehr als 9000 Menschen das Leben, hunderttausende wurden Binnenflüchtlinge. Ein Eingreifen von Sicherheitsbehörden, geschweige denn eine juristische Aufarbeitung, fanden nicht statt. Auf der Ebene unterhalb des Dschihads gab es radikale islamische Organisationen, die ebenfalls versuchten, mit Gewalt und Einschüchterung die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen umzukrempeln. Die bekannteste ist der FPI (Front Pembela Islam, Front zur Verteidigung des Islams). Ziel der Attacken waren neben Christen im Allgemeinen, denen man Christianisierungsversuche und eine versuchte Machtübernahme vorwarf, auch Muslime anderer Ausrichtung, die man der Häresie und Apostasie bezichtigte. Übergriffe auf Nachtclubs, Diskotheken und Kulturveranstaltungen gehörten zum Standardrepertoire. Hauptangriffsziel dieser und anderer radikaler Gruppen wurde der liberale Islam, der sich aus dem Neomodernismus entwickelt hatte und die Gleichberechtigung der Religionen vertrat. Vor allem auf lokaler Ebene ist der FPI bis heute eng mit lokalen politischen Entscheidungsträgern und Eliten verbunden.

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Auch der MUI wandelte sich nun. Von einer Organisation, die sich ständig an politische Vorgaben halten musste, wurde er zunehmend explizit und fordernd. Auch hier ging die Tendenz klar hin zu einer Stärkung des Islams im Staat. Der Schwerpunkt lag auf der Durchsetzung von Rechtgläubigkeit, also Kampf gegen abweichende Strömungen, islamisches Verhalten im Alltag und Druck auf Amtsträger, sich in ihren Entscheidungen islamkonform zu verhalten. Im MUI waren Vertreter der wichtigen islamischen Organisationen vertreten, allerdings in der Regel jene, die den jeweils konservativen Flügel repräsentierten. Wahid, der 1999 zum Präsidenten gewählt worden war, scheiterte als tragische Figur, weil er einerseits die staatlichen Institutionen nicht in den Griff bekam und andererseits, weil er sich weigerte, sich auf Vetternwirtschaft und Klüngel einzulassen. Ideologisch waren die neomodernistischen und gemäßigten Kräfte in der Defensive. Formen des skripturalistischen Islams gewannen mehr und mehr die diskursive Oberhoheit und trieben die anderen Kräfte vor sich her. Die Folgen waren gravierend. Sowohl NU wie auch Muhammadīya änderten ihren Kurs und wurden selbst immer konservativer. Die neomodernistischen Eliten wurden aus den Führungspositionen entfernt und durch konservative ersetzt. Beide Organisationen fassten Beschlüsse, die unter anderem den Säkularismus als unvereinbar mit der jeweiligen Organisation erklärten. Auch der liberale Islam wurde als nicht kompatibel explizit abgelehnt. Auf der anderen Seite gab es keine substantielle Abgrenzung zu radikalen Gruppen. Der Primat der islamischen Gemeinschaft, der umma, stand ganz im Vordergrund. Man wollte niemanden ausgrenzen. Außenpolitische Ereignisse stützten diese Entwicklungen. Der Terrorangriff am 11. September 2001 wurde als Verschwörung aufgenommen oder sogar als »Lehre« für die USA bezeichnet. Die folgende Attacke auf Afghanistan galt allgemein als unbegründeter Angriff auf ein islamisches Land. Für Indonesien galt es, sich der amerikanisch-jüdischen Weltverschwörung entgegenzustellen. Hinweise aus dem Ausland, dass Indonesien sich zu einer Terroristenbasis entwickele, wurden schroff zurückgewiesen. Der Bombenanschlag 2002 auf Bali, der 202 Menschen das Leben kostete, wurde zum Gegenbeweis. Seit dieser Zeit unternahm der Staat Anstrengungen, auch mit Hilfe des Auslands, um gegen terroristische Aktivitäten vorzugehen. Dennoch wurden die Attentäter, Anhänger der Gruppierung Jemaat Islamiyah, von vielen ganz offen als Helden und Märtyrer verehrt. Indonesien hat bis heute mit Terrorismus zu kämpfen, ist aber, was den Sicherheitsapparat anbetrifft, inzwischen recht gut aufgestellt. Die konservative Welle erreichte ihren Höhepunkt 2005, als der MUI am 29. Juli dieses Jahres elf teils folgenschwere Fatwas verfasste. Eine davon richtete sich gegen religiösen Pluralismus, Liberalismus und Säkularismus. Damit waren bei weitem nicht nur Auffassungen innerhalb der religiösen Organisationen gemeint, sondern sie zielte auch auf den Staat, der in eine religiösere Position hineingezogen werden sollte. Für die islamischen Organisationen war es ein willkommenes Argument, die Reste neomodernistischen Denkens aus ihren Reihen zu entfernen. In der Muhammadīya wurde ihr Leiter Syafii Maarif, der die Organisation seit 1995 geführt hatte, kaltgestellt. Radikale Gruppen attackierten Einrichtungen liberaler islamischer Or-

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ganisationen. Mindestens ebenso folgenschwer war die Fatwa gegen die Aḥmadiyyah. Sie wurde zu Häretikern erklärt, und der Staat wurde aufgefordert, Maßnahmen gegen sie zu ergreifen. Die unmittelbare Folge waren massive Angriffe gegen Angehörige und Einrichtungen der Aḥmadiyyah durch radikale Gruppen. Seit dieser Zeit kam es immer wieder zu Übergriffen und Verfolgungen einschließlich Todesopfern. Diese Aktionen wurden in der Folgezeit auch auf andere als häretisch angesehene Gruppen ausgedehnt. Der Staat unternimmt in der Regel nichts oder kaum etwas dagegen. Im Gegenteil werden oft die Opfer zu Tätern gemacht, da sie durch ihre Häresie ja der Anlass für den Aufruhr seien. Akte der Intoleranz beschränken sich keineswegs nur auf so genannte Häretiker, sondern auch auf Andersgläubige, vor allem Christen, Säkularisten usw. Man unterstellt ihnen, dass sie durch Christianisierung den Islam zerstören wollten. Zudem sei Indonesien ein islamisches Land und Nichtmuslime demzufolge nur eine Minderheit. Oft entzünden sich Konflikte um den Bau von Kirchen, den die radikalen Gruppen mit allen Mitteln zu verhindern suchen. Hinzu kommen die hohen Auflagen, die die Regierung vorgibt, um Baugenehmigungen zu erteilen.19 Ein weiteres Mittel zur Durchsetzung religiöser Intoleranz ist der Blasphemieparagraf im indonesischen Strafrecht. Alle Äußerungen, die gegen den MainstreamIslam gerichtet sind, können mit dem Vorwurf der Blasphemie belegt werden, ebenso Äußerungen, die sich kritisch mit spezifischen Positionen islamischer Organisationen auseinandersetzen. Blasphemievorwürfe wurden hier zum Mittel der Politik (dazu s. auch weiter unten). Ein weiterer Faktor sind die seit der reformasi-Zeit eingeführten erweiterten Kompetenzen der regionalen Körperschaften. Diese sollten dazu dienen, regionale Besonderheiten, insbesondere kulturelle, zu bewahren. Kompetenzen in religiösen Fragen zählen eigentlich nicht dazu und sind der Zentralregierung vorbehalten. Oft werden aber religiöse Aspekte in diese Kategorie verschoben, d. h. religiöse Ausprägungen als kulturelle Besonderheiten. Auf diese Weise gibt es viele regionale Verordnungen, die religiöse Dinge regeln. Dazu gehören Kleidervorschriften sowie Vorschriften zur öffentlichen Moral usw. Vor allem in Westjava, Westsumatra und Südsulawesi sind solche Verordnungen weit verbreitet. Zwar hatte die Zentralregierung das Recht, ungesetzliche regionale Verordnungen zu kassieren. Das tat sie aber aus politischen Gründen nicht. Inzwischen musste sie dieses Recht zudem an die Gerichte abgeben. Die Versuche, Indonesien in Richtung auf einen islamischen Staat zu bringen, scheiterten ebenso wie der Versuch islamischer und islamistischer Parteien, Dominanz in den Volksvertretungen zu erlangen. Zwar wurden zahlreiche islamische Parteien gegründet. Aber weder konnte eine einzelne von ihnen zur Stärke der großen eher säkular orientierten Parteien aufschließen noch bildeten sie in ihrer Summe genügend Masse, um die Parlamente zu dominieren. Weder NU noch Muhammadīya ließen sich dazu hinreißen, erneut als Parteien aktiv zu werden. Das

19 Zu religiöser Gewalt im heutigen Indonesien siehe u. a. Human Rights Watch: In religion’s name – Abuses against religious minorities in Indonesia, o. O. 2013.

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verhinderte allerdings nicht die Gründung von Parteien durch Mitglieder derselben mit dem Ziel, die jeweilige Klientel anzusprechen. Aber auch diese Parteien sprachen nur einen kleineren Teil der beiden großen Organisationen an. Wahid selbst gründete die Partai Kebangkitan Bangsa (PKB, Nationale Erweckungspartei), und Amien Rais, ein ehemaliger Vorsitzender der Muhammadīya, die Partai Amanat Nasional (PAN, Nationale Mandatspartei). Der islamische Staat scheiterte ebenso wie der Versuch, die Jakarta-Charta wieder in die Verfassung aufzunehmen. Alle relevanten Parteien und die beiden großen Organisationen erkannten die Pancasila als endgültiges Staatsprinzip an. Nach 2005 wurde immer deutlicher, dass die großen Organisationen ideologisch gegenüber den Radikalen immer mehr in die Defensive gerieten. So gelang es radikalen Kräften mehr und mehr, Moscheen von NU und Muhmmadiyah zu übernehmen. Es begannen nun Gegenreaktionen, einschließlich Abgrenzungen zu radikalen Organisationen und Bekenntnisse zu Menschenrechten und Demokratie. Nachdem die Versuche gescheitert waren, einen islamischen Staat zu errichten, verlagerten sich die Aktivitäten radikaler Gruppen auf die Schariatisierung der Gesellschaft, sowohl auf der grassroot-Ebene wie auch durch Gesetzgebungen. Auf der grassroot-Ebene ging es um den Aufbau eines öffentlichen Druckes und die Formung einer Identität, die als islamisch angesehen wurde. Ziel waren in diesem Zusammenhang in erster Linie die Mittelschichten. Auf diese Weise nahm die Präsenz des Islam im öffentlichen Raum immer mehr zu. Die zunehmende Islamisierung blieb den säkularen Parteien nicht verborgen, die nun versuchten, auch diese Klientel zu bedienen, um deren befürchtetes Abwandern zu islamischen Parteien zu vermeiden. Man könnte somit von einer Islamisierung sprechen, um den Islamisten entgegen zu treten. Die Ergebnisse waren leicht zu erkennen. Im öffentlichen Raum gingen Politiker kaum gegen Übergriffe von Radikalen vor, wenn diese ihre Aktionen mit islamischer Moralität und dem Wohl des Volkes begründeten. Einerseits wollten sie nicht selbst zur Zielscheibe dieser Gruppen werden, andererseits ging es um Wählerstimmen. Und Eintreten für Minderheiten war dem nicht unbedingt dienlich. Für die Radikalen zahlte es sich aus, immer neue Themen zu finden, die auf Kosten von Minderheiten gingen und mit denen man mobilisieren konnte. Dies betraf Minderheiten im Islam selbst, z. B. Ahmadis oder Schiiten, daneben aber indigene Formen des Islams. Es betraf auch die christlichen Minderheiten. Dann aber auch gesellschaftliche Minderheiten, z. B. solche mit abweichender sexueller Orientierung. Auf der parlamentarischen Ebene funktionierte diese Politik ähnlich. Man bringt Gesetzesvorschläge ein, die den islamischen Charakter der Gesellschaft stärken sollen. Die anderen Parteien sind dann unter Zugzwang, weil sie nicht als anti-islamisch gelten wollen. Bestes Beispiel hierfür ist das so genannte Antipornographiegesetz, das am 30. Oktober 2008 nach langer Beratung verabschiedet wurde. Pornographie war davor auch schon verboten. Darum ging aber auch weniger. Es ging vielmehr darum, angeblich islamische Ideen von Moral verbindlich für das ganze Volk festzulegen. Das betraf auch Verhalten in der Öffentlichkeit, Kleidervorschriften usw. Es handelte sich um eine Attacke auf indonesische Traditionen. Denn es beinhaltete auch die Ablehnung traditioneller, zu leichter Kleidung, die nach

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Auffassung des MUI eher in ein Museum gehören würde. Gegenargumente waren schwierig vorzubringen, weil jedem, der sich gegen das Gesetz aussprach, unterstellt wurde, er oder sie sei für Pornographie oder zumindest nicht konsequent genug dagegen. Dass es bei diesem Gesetz in erster Linie auch um den Körper der Frau ging, liegt auf der Hand. Vor allem der Widerstand der nicht mehrheitlich islamischen Regionen war massiv. Schließlich wurde das Gesetz zwar abgeschwächt, aber dennoch mit großer Mehrheit im Parlament verabschiedet.20 Diese Taktik wiederholte sich auch bei anderen Gesetzesvorhaben bis in die Gegenwart. Sie ist nicht nur ein Mittel der Mobilisierung radikaler Kräfte, sondern auch ein Mittel zur Schariatisierung der Gesellschaft und nicht zuletzt der Parteien. Die lange Amtszeit von Präsident Susilo Bambang Yudhoyono (geb. 1949; reg. 2004–2014) brachte in gewisser Weise eine Konsolidierung im Land. Der Kampf gegen islamischen Terrorismus wurde nun konsequenter geführt, auch wenn es politisch nicht einfach war, die geistigen Brandstifter dahinter zur Rechenschaft zu ziehen. Ein Beispiel dafür war der Hassprediger Abu Bakar Ba’syir, der hinter den Bali-Bombenanschlägen stecken soll und der lange Zeit ungestört seine radikale islamische Internatsschule (pesantren) im Ort Ngruki betrieb. Bezüglich der islamistischen Organisationen und Parteien blieb Yudhoyono aber zurückhaltend. Keine wurde verboten trotz zahlreicher illegaler Aktionen. Bezüglich der islamischen und islamistischen Parteien verfolgte er die Taktik der Einbindung in Regierungsverantwortung. Dort war ihre Möglichkeit der Kritik an der Regierung begrenzt, aber dafür wuchs auch ihr Einfluss auf politische Entscheidungen (s. Pornographiegesetz). Durch die Präsidentschaft in der Zeit nach Yudhoyono änderte sich die Politik partiell. Im Wahlkampf 2014 positionierten sich die islamistischen Organisationen zu Gunsten eines Prätendenten, nämlich Prabowo Subianto, dem enge Beziehungen zum alten Regime Suhartos nachgesagt werden. Er verlor aber, und an die Macht kam Joko Widodo (geb. 1961), genannt Jokowi. Jokowi sah den Islamismus nicht als vorrangiges Problem und konzentrierte sich auf Infrastruktur, Wirtschaftsförderung usw. Das ließ sich in dieser Form aber nicht durchhalten, denn die islamistischen Töne wurden immer schriller und militanter. Auch der FPI wurde immer radikaler, so dass eine Verlängerung der Zulassung im Raum stand. Hizbut Tahrir wurde 2017 per Verordnung des Justizministers verboten. Das war ein Novum, da der Staat eingedenk der autoritären Vergangenheit bis dahin immer vor Verboten zurückgeschreckt war. Der Wahlkampf 2019 wurde noch heftiger von islamistischer Seite geführt, die wieder Prabowo unterstützten. Auch diesmal ergebnislos. Jokowi setzte dann in seiner zweiten Amtszeit die Taktik der Inklusion fort. Er band nicht nur seinen Kontrahenten Prabowo ins neue Kabinett ein, sondern auch die meisten

20 Zu Entwicklung des islamischen Rechts in Indonesien siehe Lindsey, Tim: Islam, law and the state in Southeast Asia, vol. 1: Indonesia, London 2012. Dort sind auch wichtige Hinweise zur Entwicklung des islamischen Rechts in Aceh, das als einzige Provinz über separates Recht, einschließlich Strafrecht, verfügt. Im Gesamtstaat gibt es kein islamisch begründetes Strafrecht.

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islamischen Parteien im Parlament. Daneben gab es Bemühungen, den radikalen Islam in seine Schranken zu weisen, statt, wie zuvor, zu beschwichtigen. Nachdem der Anführer des FPI, Muhammad Rizieq, aus seinem selbst gewählten Exil in SaudiArabien zurückgekehrt war, versuchte der FPI unter seiner Leitung Parallelstrukturen zu errichten und forderte damit den Staat heraus. Im Ergebnis wurde der FPI am 30. Dezember 2020 wegen Verfassungsfeindlichkeit aufgelöst. Die großen Organisationen waren in dieser Zeit ebenfalls einmal mehr im Wandel begriffen. Die Loslösung von radikalen Positionen hatte sich fortgesetzt und orientierte sich wieder mehr und mehr an Inhalten, die mit der Zivilgesellschaft kompatibel waren. Am deutlichsten kam dies in der Position des Islam Nusantara (wörtl. archipelagischer Islam) innerhalb der NU zum Ausdruck. Damit ist indigener Islam gemeint mit der Anschauung, dass es einen spezifisch indonesischen Islam gebe, also einen Islam, der in Zeit und Raum zu verorten sei. Mehr noch sahen sich führende Vertreter sogar in einer Vorbildfunktion für eine islamische Welt, die im Chaos zu versinken drohte. Die Muhammadīya ging nicht ganz so weit, pflegte jetzt aber einen so genannten Islam Berkemajuan (wörtl. fortschrittlicher Islam). Bis zur Drucklegung dieses Werkes schien indes die Ausdifferenzierung des indonesischen Islams ebenso wie die politische Entwicklung des Landes bei weitem noch nicht abgeschlossen.

Literatur zum Weiterlesen Boland, Bernard Johan: The struggle of Islam in modern Indonesia, The Hague 1982. Hefner, Robert W.: Civil Islam – Muslims and democratization in Indonesia, Princeton/N.J. 2000. Kersten, Carool: A history of Islam in Indonesia. Unity in diversity. Edinburgh 2017. Kersten, Carool: Islam in Indonesia – the contest for society, ideas and values. London 2015. Saeed, Abdullah: Approaches to the Qur’an in contemporary Indonesia, Oxford 2005. Saleh, Fauzan: Modern trends in Islamic theological discourse in twentieth century Indonesia. Leiden 2001. Sidel, John T.: Riots, pogroms, jihad – Religious violence in Indonesia, Ithaca/N.Y. 2006.

Islam in der Diaspora Albrecht Fuess

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Eine islamische Diaspora?

Der Begriff der Diaspora hat im Laufe der Jahrhunderte Umdeutungen und Erweiterungen erfahren. Ursprünglich verwendete man ihn in Hinsicht auf die jüdische Religionsgemeinschaft. Das griechische Wort »Diaspora« mit seiner wörtlichen Bedeutung »Zerstreuung« umfasste dabei den Vorgang der Vertreibung des Judentums von seinem religiösen Zentrum und die Ansiedlung seiner Religionsangehörigen außerhalb des historischen Palästinas. Die Bezeichnung wird dabei auf eine Aussage im Alten Testament zurückgeführt, wonach das Volk Gottes wegen des Bruchs des Bundes in alle Welt zerstreut werden würde. Nach der Vertreibung des Judentums aus Jerusalem nach der römischen Eroberung im Jahre 70 n. Chr. wurde der Zustand der Diaspora in der jüdischen Tradition als Prüfung gedeutet, der aber auch eine glückliche Rückkehr beinhalten sollte. Im Laufe der Zeit entwickelte sich dann Diaspora auch zu einer Bezeichnung für christliche Minderheiten. Dies geschah vor allem nach den Religionskriegen der Frühen Neuzeit und bezeichnete auch kleine religiöse Gruppen, die in andere Regionen auswanderten. Hier stand die Begriffsbedeutung der Wanderung bereits im Vordergrund. Im zwanzigsten Jahrhundert sollte sich der Begriff gänzlich aus dem religiösen Kontext herauslösen und wurde in einem transnationalen Sinn verstärkt für Auswandergruppen angewandt, die vor allem ethnische Gemeinsamkeiten aufweisen konnten, etwa die italienische Diaspora in den USA, die libanesische in Südamerika, usw. Hinsichtlich der Wanderungen islamischer Religionsgemeinschaften findet der Begriff der Diaspora dahingegen erst seit kurzem Verwendung. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass muslimische Einwanderung in den Westen erst nach dem zweiten Weltkrieg in großen Zahlen stattfand und zu Beginn eher ethnisch definiert wurde, also die südasiatische Diaspora in Großbritannien, die maghrebinische in Frankreich und die türkische in Deutschland. In dem Maße wie ethnische Zugehörigkeiten anfingen, sich zu verwischen, etwa durch Heiraten oder nach zwei und mehr Generationen im Aufnahmeland, ist zu bemerken wie der Begriff der Diaspora zunehmend übergreifend auch für die Gruppe der Muslime Anwendung fand. Dabei ist es auf den ersten Blick verwunderlich wie diese Gruppe, die sich sehr divers darstellt in einen einheitlichen Diasporabegriff gefasst werden kann, der ursprünglich eine kulturell, ethnisch und/oder religiöse in sich geschlossene Minderheit bezeichnete. Zudem sind die Muslime der Gegenwart nicht vertrieben worden und hatten durch die Geschichte hinweg ungehinderten Zugang zu ihren religiösen Stätten.

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Was also verbindet einen libanesischstämmigen schiitischen Südamerikaner mit einem Black Muslim in den USA, eine algerischstämmige sunnitische Französin oder einen Schweden südasiatischer Herkunft, der sich zur Aḥmadiyya Muslim Jamaʿat bekennt? Manche Muslime sehen sich darüber hinaus als säkular an und fühlen sich nur noch kulturell dem Islam zugehörig. Hinzu gesellt sich eine wachsende Zahl von Einwanderern aus islamischen Ländern, die mit Islam gar nichts zu tun haben will, was die Mehrheitsgesellschaft der westlichen Länder aber nicht daran hindert, alle gerade genannten Gruppen unter dem Label islamische Diaspora zu subsumieren. Ein wesentlicher Beitrag hängt bei dieser Entwicklung mit den Terroranschlägen des 11. September 2001, den nachfolgenden Kriegen und weiteren extremistischen Akten zusammen, argumentieren hier die Autoren des Buchs »Diaspora by Design«. Erst die mit diesen Auseinandersetzungen verbundene Diskussion um die Gefährlichkeit des Islams habe zu einer stärkeren Vereinheitlichung unter den Muslimen im Westen geführt. So sei aus »imaginierten Attributen«, die man theoretisch mit Muslimen in Verbindung gebracht habe, eine »soziale Realität« geworden.1 Eine ähnliche Wirkung hat die an Muslime im Westen oft herangetragene Forderung, sich von Vorgängen im Nahen Osten zu distanzieren, auch dies schafft eine interne Gruppensolidarität, die den orthodoxen türkischen Imam mit dem hippen arabischen DJ im Westen zusammenbringen kann. Insofern haben Marginalisierungserfahrungen und äußere Zuschreibungen dazu geführt, dass sich trotz aller Unterschiede so etwas wie eine islamische Diaspora herausgebildet hat, die sich darüber bewusst ist, dass sie als neu hinzugekommene Minderheit noch einen weiten Weg bis zu einer kompletten Anerkennung durch die Mehrheit vor sich hat und dass es noch lange dauern wird, bis Diskussionen hinsichtlich der Kompatibilität des Islams mit westlichen Gesellschaften keine Rolle mehr spielen werden.

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Islam im Westen

Bevor im Folgenden die Lage des Islams im Westen nach verschiedenen dem Westen zugeordneten Weltregionen erörtert werden soll, sollen an dieser Stelle allgemeine Überlegungen zur Thematik »Islam im Westen« angesprochen werden. Dabei muss sich der Leser aber bewusst sein, dass »der Westen« und »der Islam« im Folgenden nur Hilfskonstrukte sein können, um verallgemeinernd Phänomene diskutieren zu können. Denn genauso wenig wie es »den Islam« gibt, gibt es »den Westen«. Wir haben es auch im Westen mit sehr unterschiedlichen Staaten mit oft sehr heterogener Bevölkerung zu tun. Die Frage wäre auch, wer wirklich alles dazugehört? Würde man Japan miteinbeziehen, wegen der Ähnlichkeit der aktuellen Lebensverhältnisse, oder sich auf Länder beschränken wollen, die traditionell eine (west-)christliche Mehrheit, bzw. eine ausschließlich (west-)christliche Bevölkerung hatten. Zudem 1 Haideh Moghissi, Saeed Rahnema, Mark Goodmann: Diaspora by Design: Muslim Immigrant in Canada and Beyond, Toronto 2009, 11.

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hinkt ein Vergleich, in dem eine Religion (»der Islam«) mit einer Region (»der Westen«) in Beziehung gesetzt wird, immer, es sei denn man setzt beide Begriffe kulturalistisch ein, aber auch dann bleibt einfach ein Schiefstand bestehen. Für den weiteren Verlauf des Artikels soll gelten, dass er sich auf die westlichen Gesellschaften beschränkt, in die Muslime erst seit dem neunzehnten Jahrhundert und vor allem nach dem zweiten Weltkrieg migriert sind. Damit scheiden beispielsweise die muslimischen Bosnier aus, obwohl sie seit Jahrhunderten eine sehr lebendige, große Gemeinschaft in Europa sind, ähnliches gilt auch für die Albaner, die nur betrachtet werden, wenn sie in westliche Gesellschaften eingewandert sind. Generell kann man aus der Sicht des Autors das heutige Islambild des Westens nicht ohne den historisch gewachsenen Zusammenhang erklären. Daher soll hier dazu eine kurze Einführung erfolgen. Die frühislamischen Eroberungen des siebten Jahrhunderts hinterließen ein deutliches Echo in der christlichen Geistesgeschichte, das bis heute nachklingt. Unter den Kalifen, den Nachfolgern des Propheten als Führer der muslimischen Gemeinde, griffen die muslimischen Heere über die arabische Halbinsel hinaus und begannen riesige Gebiete zu erobern, die vorher unter christlicher, vor allem byzantinischer Herrschaft gestanden hatten. In nur knapp hundert Jahren hatten sich damit die Machtverhältnisse rund um das Mittelmeer gewaltig verschoben und große Gebiete gingen der Christenheit unwiderruflich verloren. Die Christen in den nun eroberten Gebieten wurden dabei keineswegs gezwungen, den neuen Glauben anzunehmen. Als Besitzer einer monotheistischen Offenbarungsschrift (Buchbesitzer = ahl al-kitāb) konnten sie ihren Glauben gegen die Zahlung der Kopfsteuer (ğizya) weiterhin ausüben, wenn sie die generelle Vorrangstellung des Islams akzeptierten. Damit entstand unter islamischer Herrschaft ein Gesellschaftssystem, in dem die Existenz von religiösen Minderheiten, vorerst Christen und Juden, später dann auch weitere Religionsgemeinschaften wie Zoroastrier und Hindus als Teil der göttlichen Ordnung und der islamischen Gemeinschaft (umma) angesehen wurden, solange man grundsätzlich die Herrschaft des Islams nicht in Gefahr sah. Die sich hier abzeichnende Toleranzpolitik gegenüber religiösen Minderheiten war im siebten Jahrhundert noch nicht komplett ausgebildet und für die Christen Mitteleuropas noch nicht ersichtlich, vielmehr lösten die gewaltigen islamischen Eroberungen Verlustängste aus. Man erwartete einen Angriff der Araber auch auf Mitteleuropa und bemerkte nicht, dass die Expansionskräfte des islamischen Reichs erschöpft waren und sich das neue Herrschaftsgebilde nicht mehr zentral regieren ließ. Zudem organisierte sich im fränkischen Europa ein kraftvoller Widerstand, der seinen narrativen Ausdruck in den mythischen Erzählungen um die Abwehrschlacht bei Tours und Poitiers im Jahre 732 fand, durch die der fränkische Hausmeier Karl Martell zum sogenannten »Retter des Abendlandes« verklärt wurde. Das Gebiet des Islam (dār al-islām) breitete sich vorerst nicht mehr zu Lasten der Christenheit aus. Muslime mussten sich mit der übrigen damals bekannten Welt, dem sogenannten Gebiet des Krieges (dār al-ḥarb) arrangieren und taten dies mit sogenannten befristeten Friedensverträgen, (hudnāt), weil es eigentlich keine endgültigen Friedensverträge geben sollte, solange die Vorherrschaft des Islams weltweit gelten würde. Doch erwies sich dieses Prinzip im weiteren Verlauf der gemein-

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samen christlich-islamischen Geschichte als nicht praktikabel und wurde immer wieder den Realitäten angepasst. Die militärische Bedrohung, die Europa durchaus mit Furcht und Angst wahrgenommen hatte, bestimmte im Westen im Folgenden die Wahrnehmung der islamischen Welt. Die massiven militärischen Niederlagen der Christen prägten das Bild des Islam als aggressiver Religion und sorgten auch für ein sehr negatives Image des Religionsstifters. Man hielt Muhammad für den Verkünder einer christlichen Irrlehre. Wahlweise bezeichnete man ihn als Antichristen, Ketzer, Epileptiker und gerne auch als Betrüger. Einer der frühesten christlichen Polemiker gegen den Islam fand sich dabei in Johannes von Damaskus (gest. 750). Muhammad sei, so meinte er, ein falscher Prophet, ein Pseudoprophet und Häretiker. Der Islam sei eine christliche Irrlehre und Muhammad der Vorläufer des Anti-Christen, der dem kommenden Weltende und dem jüngsten Gericht vorausgehe. Da Elemente aus der Bibel auch im Koran auftauchen, schlossen christliche Kritiker, Muhammad habe die Bibel verfälscht. In den christlichen Heldenliedern (chansons de geste) zur Zeit der arabischen Invasion Spaniens wird Muhammad sogar als Gott der Sarazenen bezeichnet. Die Sarazenen seien Polytheisten und neben Muhammad gebe es in ihrem Pantheon auch noch Apollo und Belzebub als weitere Götter2. Auch auf sein Sexualleben, das eines Propheten nicht würdig gewesen sei, – Muhammad soll über ein Dutzend Mal verheiratet gewesen sein – wird in abendländischen Quellen ausgiebig hingewiesen. Damit zementierte sich bis heute das Bild eines kriegerischen, lüsternen Muhammad, der einem pazifistischen, reinen Jesus Christus gegenübergestellt wird. Auch die Kreuzzüge und weitere militärische Auseinandersetzungen durch die Jahrhunderte haben diese Einschätzungen am Leben gehalten und wirkmächtig in die Moderne tradiert. Erschwerend für das Verständnis des christlichen Europas für die Muslime und deren Religion kam hinzu, dass im Bereich des Christentums keine Muslime lebten und es auch kein legales Niederlassungsrecht für sie gab. Sie waren im Rahmen christlicher Mehrheitsgesellschaften nicht vorgesehen, die allenfalls noch Juden tolerierten. Die einzige historische Situation von Muslimen unter christlicher Herrschaft in Europa nach dem Fall von Granada in Spanien im Jahre 1492 wurde zuerst durch Zwangskonversionen und ab Anfang des 16. Jahrhunderts durch Ausweisung dieser Zwangskonvertierten und ihrer Kinder nach Nordafrika gelöst. Als Rechtfertigung für diese Ausweisung argumentieren zeitgenössische Quellen mit der fehlenden Integration und der zu hohen Kinderzahl im Vergleich zu den »Altchristen«. Aber auch schon vorher hatte man Muslimen nicht die Möglichkeit gegeben, nach Europa zu reisen. Der berühmte islamische Reisende Ibn Baṭṭūṭa konnte im 14. Jahrhundert die gesamte islamische Welt von Marokko nach Indonesien betreten, aber wer hätte ihn zur selben Zeit als Muslim in Europa frei einreisen lassen? Welchen Schutz hätte er als Reisender genossen, wenn er beispielweise den Kölner Dom hätte besichtigen wollen? 2 Hartmut Bobzin: Mohammad, München 2000, 9–20.

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Es ist zwar nicht per se gesagt, dass Reiseberichte ein ausgewogenes Bild der besuchten Region zeichnen, sondern wichtig scheint in diesem Zusammenhang zu sein, dass der Westen die Präsenz muslimischer Einwanderer und Besucher nicht kannte, bzw. strikt ablehnte. Dies ist für den Autor auch wichtig, um das heutige Zusammenleben und die Diskussionen darüber besser einordnen zu können. Ein weiterer wichtiger Faktor liegt im Zeitalter des Kolonialismus begründet, als die militärische Überlegenheit des Westens dazu führte, dass er in der Lage war, den Rest der Welt zu kolonisieren und die dort herrschenden Lebensweisen als rückständig aufzufassen. Ein gängiges Urteil aus dieser Epoche ist der herrschende Despotismus, den man nur mit europäischer Hilfe überwinden könne und auch die dortigen Länder könnten sich nur unter europäischer Verwaltung richtig entwickeln. Der Vorwurf des orientalischen unproduktiven Despotismus, den es abzuschaffen gelte, wurde im europäischen 18. Jahrhundert laut Osterhammel »zu einem wenig theoriefähigen, aber propagandistisch nützlichen modernisierten Barbarenklischee zusammengepackt.«3 Die landesübliche Verschleierung stieß bei den französischen Soldaten beim Ägyptenfeldzug 1798 auf strikte Ablehnung. Napoleon schreibt dazu ans Direktorium: »An diese Landessitte kann sich die Armee nur sehr schwer gewöhnen«. In Frankreich hatte man auch schon vor der Expedition Napoleons die Unterdrückung der ägyptischen Frau durch männliche Tyrannei angeprangert. Nicolas Sigisbert Sonnini de Manoncourt, der Ägypten 1777 bereist hatte, weiß über das ägyptische Geschlechterverhältnis folgendes zu berichten: Die Frauen seien reserviert für einen einzigen tyrannischen Mann, der sie in Gefangenschaft halte. (»Pour un seul homme, pour un tyran qui les tient en captivité«). Nirgendwo sonst sei Eifersucht so unerbittlich.4 Damit soll die Darstellung historischer Analogien beendet werden, aber man sieht, dass aktuelle Debatten zum islamischen Patriarchat und zur fehlenden Aufklärung islamischer Gesellschaften und von Muslimen so neu nicht sind und eine lange europäische Vorgeschichte haben, die auf Zeiten zurückgeht, als Muslime noch gar nicht im Westen lebten, bzw, leben durften.

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Islam in Nordamerika

In den USA und Kanada setzte eine größere islamische Einwanderung erst zu Beginn der 1990er Jahre ein und ebbte nach dem 11. September 2001 und damit einhergehenden schärferen Einwanderungsbestimmungen für Muslime wieder deutlich ab. In Nordamerika wanderten die Muslime direkt in die Mittelschicht, weil die USA und Kanada für Einwanderer hohe ökonomische und bildungsrelevan-

3 Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche, München 1998, 308. 4 C.S. Sonnini: Voyage dans la Haute et Basse Egypte, Bd.1. Paris 1798, 280.

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te Hürden ansetzten. Dadurch ergab sich auch eine höhere ethnische Ausdifferenzierung der muslimischen Gruppen in Nordamerika. So erreicht die höchste Einwanderungsgruppe in den USA, nämlich Araber unterschiedlichster Nationalität, gerade mal 35 % der muslimischen Einwanderer, während in Europa die größte ethnische Gruppe oft über 70 % der muslimischen Einwanderer im jeweiligen Land repräsentiert. Eventuell führt auch dieses Phänomen dazu, dass sich Muslime in Nordamerika stärker als amerikanische oder kanadische Staatsbürger begreifen als in Europa.

USA Da man in den USA laut Gesetz nicht nach Religionszugehörigkeit fragen darf, ist man für die genaue Zahl der dortigen Muslime auf grobe Schätzungen angewiesen. Man findet hier Zahlen, die ca. 2,5 bis 3,4 Millionen betragen, was ungefähr 1 % der Gesamtbevölkerung beträgt. Hinzu kommen noch mehrere hunderttausend Anhänger der afro-amerikanischen »Nation of Islam«, die seit den dreißiger Jahren in den USA besteht, aber mit ihrem speziellen Islamverständnis den neu-eingewanderten Muslimen bisher oft suspekt geblieben ist. Die USA kennen seit ihrer Gründung die starke Präsenz religiöser Sekten, viele von ihnen, gerade aus dem christlichen Bereich, sind in der Neuzeit aus Europa geflohen. Die europäischen Aversionen gegen visuelle Zeichen des Islams wie Kopftuch oder Minarette stoßen in Amerika daher meist auf Unverständnis, da man sich einer liberalen religiösen Toleranz verpflichtet sieht. Es gibt in den USA keine dominanten Kirchen wie in Europa, vielmehr herrscht eine große Vielfalt von Religionen vor, die sich aber ohne staatliche Unterstützung selbst tragen müssen. In diesem religiösen Markt befinden sich Religionsgemeinschaften in einem offenen Wettbewerb um Mitglieder. Diese Freiheit in Glaubensfragen führt, obwohl in den USA Staat und Religion viel stärker getrennt sind als in europäischen Ländern, laut Meinung von Beobachtern dazu, dass die Gesellschaft insgesamt religiöser ist und ein aus ihrer Sicht unverkrampfteres, aus europäischer Sicht fast schon naives, Verhältnis zu Religion hat. 85% der Amerikaner gehören einer Religionsgemeinschaft an. In den USA hört man selten das Argument einer möglichen Überfremdung durch Muslime. Deutlich mehr Kinder wachsen dort in evangelikalen Familien auf als in islamischen. Die Mehrheit der Muslime in den Vereinigten Staaten bekennt sich zum sunnitischen Islam, daneben finden sich auch schiitische Gemeinschaften, Gruppierungen, die aus der »Nation of Islam« hervorgegangen sind und die Aḥmadiyya Muslim Jamaʿat. Laut der Studie The American Mosque von 2011 hat sich die Anzahl der Gebetshäuser von 1.209 im Jahre 2000 auf 2.106 Gebetsstätten im Jahre 2011 erhöht, was auf eine stärkere interne Organisation der Muslime der zweiten und dritten Generation hinweist.5

5 Jonathan Curiel: Islam in America, London 2015, 68 f.

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Auf der sunnitischen Seite, die über 50 % der amerikanischen Muslime ausmacht, gilt die Islamic Society of North America (ISNA) als größte institutionalisierte Interessenvertretung. Die Organisation wurde 1982 von der Muslim Student Association (MSA) ins Leben gerufen, die sich ihrerseits 1963 in einer Zeitperiode größerer studentischer Aktivitäten an amerikanischen Universitäten in Minnesota Illinois gegründet hatte. Diese Organisation begann als Vertretung frommer junger Männer aus Südasien und dem Nahen und Mittleren Osten, die sich zuerst noch zu modernistischen, islamischen Denkern der damaligen Zeit wie Sayyid Qutb in Ägypten, der seine Jahre als Student in den USA als das Leben in einem Sündenpfuhl erinnerte, und dem Pakistaner al-Maududi hingezogen fühlten. Beides waren Gelehrte, die als Ideologen der Muslimbruderschaft galten, aber den Islam modernisieren, bzw. purifizieren wollten, was für die jungen Studierenden, die von der politischen Lage in den Heimatländern schwer enttäuscht waren, aber noch nicht den Weg in die amerikanische Gesellschaft gefunden hatten, sehr attraktiv war. Am Anfang beteiligte sich noch Saudi-Arabien stark an der Finanzierung der Gemeinschaft. Im Laufe der Zeit fand dann aber verstärkt eine Öffnung in die Umgebung statt. Frauen wurden zugelassen und das Programm sehr viel stärker auf das Leben in Amerika ausgerichtet, heute sind ein Drittel der Mitglieder von ISNA weiblich. 2006 wurde mit Ingrid Mattson sogar eine Konvertitin an die Spitze des Verbandes gewählt. Heute fühlen sich der ISNA 3000 Moscheen verbunden, es gibt 20.000 aktive Mitglieder und zur Jahresversammlung kommen 40.000 Menschen. Jonathan Curiel argumentiert, dass die ISNA sich vermutlich auch wegen der starken ethnischen Diversität der Muslime in den USA öffnen mussten, da sie sich nicht auf eindeutige Heimatländer zurückziehen konnten. Momentan wird die Organisation eindeutig von Personen geprägt, die in Amerika geboren und aufgewachsen sind.6 Aus der Muslim Student Association ging auch der Islamic Circle of North America (ICNA) hervor, der kleiner als die ISNA ist und als konservativer gilt, so werden dort die Jahrestreffen nach Geschlechtern getrennt abgehalten und eine Nähe zum politischen Islam (etwa der Muslimbruderschaft) ist dort noch präsenter. Im sunnitischen Bereich haben sich auch sufistische Organisationen gebildet, deren Dachverband das Islamic Supreme Council of America (ISCA) darstellt. Sufismus ist in Nordamerika und Kanada eine populäre und wachsende Gruppierung, da es Konvertiten eine spirituelle Alternative anbietet und mit seiner Betonung des Erreichens einer inneren Balance gerade im New Age Bereich erfolgreich ist. Es ist auch interessant zu sehen, wie sich in der Diaspora Sufismus und Mainstream Sunnitentum zum Teil noch mehr auseinander bewegen, als dies in der islamischen Welt seit dem 19. Jahrhundert der Fall ist, als sufische Praktiken zunehmend als Übertreibung und Aberglaube in Verruf kamen. Eine weltweite Besonderheit des US-amerikanischen Islams besteht in der schwarz-islamischen Protestbewegung, der »Nation of Islam«. Wallace Fard Muhammad und Elijah Muhammad gründeten sie in den dreißiger Jahren. Die »Nation of 6 Ibid., 36–41.

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Islam« betrachtete den Islam als »genuin schwarze Kultur«, die sie dem weißen Rassismus gegenüberstellte. Die teilweise vom normalen Islam sehr stark divergierenden Glaubensauffassungen führten dazu, dass sich Gelehrte der islamischen Welt sehr schwer mit der »Nation of Islam« taten, die man auch als »Black Muslims« bezeichnete. Die Popularität der Bewegung nahm durch den Bürgerrechtler Malcom X als Sprecher noch weiter zu. Malcolm X trat für einen gewaltbereiteren Widerstand gegen die weiße Vorherrschaft ein, als dies der Führer der Bürgerrechtsbewegung Martin Luther King tat. Nach internen Querelen verließ Malcolm X 1964 die »Nation of Islam«, blieb aber Muslim und intensivierte bis zu seiner Ermordung 1965 die Bürgerrechtsdebatte. Als Elijah Muhammad 1975 starb, führte dies zu einem Nachfolgestreit. Sein Sohn Warith Deen Muhammad führte die Bewegung als »American Society of Muslims« fort, die sehr viel stärker Anschluss an den sunnitischen Mainstream suchte und Rassenfragen in den Hintergrund rückte. Als Unterschied zu anderen Sunniten kann man anführen, dass sich Warith Deen für regionale Rechtsschulen aussprach, also eine Rechtspraxis, die stärker mit der Lebenswirklichkeit der Muslime im lokalen Kontext verbunden ist und die traditionellen Rechtsschulen als weniger bedeutend einschätzte. Die »American Society of Muslims« verfügte über knapp 20% der Moscheen und die Mitgliedschaft setzte sich mehrheitlich noch aus schwarzen Muslimen zusammen. Als Muhammad Warith Deen 2008 starb, erlahmte die Organisation und lebte vor allen in der Hilfsorganisation »The Mosques Cares« weiter, die sein Sohn M.W. Deen II weiterführt. The Mosques Cares war ihrerseits Gründungsmitglied des U.S. Council of Muslim Organizations, der den jährlichen National Muslim Advocacy Day on Capitol Hill in Washington, D.C. abhält und eine starke politische Agenda für Muslime verfolgt, Einflussnahme auf Kongressentscheidungen, Registrierungen der muslimischen Wähler (»Join the Million«, »Muslim voter registration drive«), usw. Aber auch die ursprüngliche rassentrennende Sichtweise der »Nation of Islam« blieb aktuell. 1981 ließ ein Schüler von Elijah Muhammad, Louis Farrakhan, die »Nation« wieder auferstehen und setzte die Widerstandsagenda fort. Für die amerikanische Lage ist auch bezeichnend, dass sich der wahhabitische Salafismus nicht groß hat ausbreiten können. Nur 1% der Moscheegemeinden sollen Anhänger der saudi-arabischen Staatsdoktrin und ihrer Ausläufer sein. Diese Aufzählung im sunnitisch-religiösen Spektrum der USA verdeutlicht bereits, wie unklar sich selbst für einen Kenner der Szene, aber auch für die Muslime in den USA selbst die Lage darstellt. Es ist eine konstante Geschichte von Gründung, Neugründung, Abspaltung etc., die ethnische aber auch persönliche Hintergründe haben kann. Hier merkt man ganz deutlich das Fehlen von verbindlichen religiösen Hierarchien und Lehrmeinungen, wie sie die christlichen Kirchen kennen und auch in die Mission übertragen können. Der Islam ist da in vieler Hinsicht eher ein individueller Setzbaukasten. Als Beispiel einer hybriden Erscheinung im amerikanischen Islam soll hier die islamische Punkszene im den USA angeführt werden. »I am an Islamist! I am the anti-Christ« singt die Bostoner Punk band »the Kominas« und artikuliert damit ein islamisches Punkverständnis, das auf den Roman von Michael Muhammad Knight

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von 2003 »Taqwacores« zurückgeht, in dem er das Leben in einer fiktiven muslimischen Punk WG beschreibt. Das Buch traf anscheinend ein Lebensgefühl bei jungen Muslimen aus der Punk Szene, so dass sich »Taqwa-core« als Musikgenre, zusammengesetzt aus arab. taqwā (Gottesfurcht) und Hardcore, in den letzten Jahren mächtig entwickelte. Frauenbands wie Secret Trial Five singen »Hey, Hey Guantanomo«. Headbangende Frauen mit Kopftuch sind bei solchen Konzerten keine Seltenheit. Der Dokumentarfilm »Taqwa-Core: The Birth of Punk Islam« von 2009 wurde auf mehreren Filmfestivals gezeigt und verschaffte der Szene internationale Popularität. Im schiitischen Spektrum sind in Amerika vor allem iranisch-stämmige Personen unterwegs. Diese iranischen Amerikaner sollen 8% der Muslime Amerikas ausmachen und leben in Los Angeles in der Nähe der University of California in Los Angeles und dem Westwood Boulevard in einer Gegend, die der Volksmund als Tehrangeles bezeichnet.7 Innerhalb der amerikanischen Muslime ist der Anteil der Konvertiten mit ca. 20% verglichen mit anderen globalen Diasporagemeinden sehr hoch. Dies mag zum einen damit zusammenhängen, dass im amerikanischen »religiösen Markt« ebenfalls eine hohe Fluktuation innerhalb der christlichen Gemeinden herrscht und Religionswechsel nichts Ungewöhnliches ist und zum anderen an der hohen Attraktivität der »Nation of Islam« und ihrer Folgeorganisationen für schwarze Amerikaner, die über 60% der Konvertiten stellen. Da es für Amerika relativ viele Untersuchungen hinsichtlich seiner Muslime gibt, wissen wir auch, dass ca. 20 % der Muslime nicht praktizieren und sich eigentlich nur 40% wirklich an die vorgeschriebenen 5 Säulen halten. Aber auch der Rest betrachtet sich als Muslime, nur eben nicht als »in-die-Moschee-geher-Muslim«.8 Die Frage, ob »der Islam« mit dem Westen kompatibel ist, scheint von Autoren in Europa und anderen Diasporagesellschaften sehr viel intensiver diskutiert zu werden als in Amerika. Dies mag an der oben beschriebenen größeren Bandbreite des amerikanischen »religiösen Marktes« liegen, in dem sich niemals eine Staatskirche ausbildete, sondern das Mit- und Gegeneinander von religiösen Sekten die Regel war. Die Forderung nach der Entstehung eines »amerikanischen Islams« hörte man daher bisher noch nicht oft. Die europäischen Aversionen gegen visuelle Zeichen des Islams wie Kopftuch (französischer Burka-Bann) oder Minarette (schweizer Minarettverbot) stoßen in Amerika meist auf Kopfschütteln. Offizielle Stellen reagieren, wie ein Forschungsbericht des Kongresses zeigt, sogar mit Besorgnis auf die Lage in Europa. Die europäischen Staaten, heißt es da, seien wegen ihrer falschen Integrationspolitik und der starken sozialen Benachteiligung der Muslime zu einer Brutstätte für islamischen Extremismus geworden. Europäische Länder hätten es versäumt, aus Muslimen loyale Staatsbürger zu machen.9

7 Ibid., 76. 8 Ibid., 77f. 9 Jocelyne Cesari: »Islamophobia in the West: A Comparison between Europe and the United States«, in: Esposito, John L./Kalin, Ibrahim (Hrsg.): Islamophobia. The Challenge of Pluralism in the 21st Century, Oxford 2011, 23.

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Allerdings lassen sich hier, gerade unter der Regierung Trump auch Gegenargumente finden. Seine Einwanderungsregelungen, die auch als »Muslim Ban« bekannt wurden und sein auf Twitter geführter Kleinkrieg gegen die beiden muslimischen Kongressabgeordneten Rashida Tlaib und Ilhan Omar führen dazu, dass Trump unter den Muslimen die geringsten Zustimmungswerte hat und sich viele Muslime fragen, wieso er bei großen Teilen ihrer Landsleute so beliebt ist.

Kanada In Kanada kam eine Umfrage der Environics Research Group 2007 zu dem Ergebnis, dass kanadische Muslime das Gefühl haben, es gehe ihnen viel besser als europäischen Muslimen sowohl im Alltag als auch in religiösen Fragen. In Kanada seien nur ca. 17 % der Bevölkerung negativ gegen Muslime eingestellt, in Europa aber deutlich über 30 %, wobei die kanadischen Muslime Deutschland als Wohnort für Muslime am schlechtesten einschätzten. Sie gaben an, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung in ihren Augen islamfeindlich sei. 2010 lag die Zahl der Muslime bei geschätzten 940.000 und betrug somit 2,6 % der Bevölkerung. Auch in Kanada muss man sich mit Schätzungen behelfen, denn dort dürfen Behörden zwar nach Religionszugehörigkeit fragen, doch stammt die letzte Erhebung bereits von 2001, wonach 580.000 Muslime in Kanada lebten. Der Höhepunkt muslimischer Einwanderung lag ebenfalls in den Jahren zwischen 1990 und 2000 und ähnelt insgesamt der amerikanischen Entwicklung, wonach es keine Mehrheitsgruppe innerhalb der islamischen Gemeinde gibt. Eine kleine Besonderheit mag aber darin liegen, dass viele nordafrikanische, libanesische und syrische muslimische Araber wegen ihrer französischen Sprachkenntnisse in die frankophone Provinz Québec gelangten. Zwei Drittel der kanadischen Muslime sind Sunniten und ca. 15% sind Schiiten. Der Rest teilt sich auf weitere islamische Gruppierungen und Sufibewegungen auf. Eine Besonderheit Kanadas ist die Möglichkeit, religiöse Schiedsgerichte einzusetzen, weil dies im Gesetzesrahmen des früheren britischen Mutterlandes möglich ist. So wurde 1991 ein System von religiösen Schiedsstellen vor allem im Eherecht eingeführt. Sobald beide Ehepartner zustimmten, waren die Ergebnisse dieser Schlichtung bindend. Dieses Vorgehen stieß in der kanadischen Öffentlichkeit auf Widerstand. Die Fronten verliefen selbst quer durch die islamische Gemeinde in Kanada. Der größte islamische Verband, der Canadian Islamic Congress, befürwortete sogar die Einrichtung spezieller Scharia-Gerichtshöfe, die über die bis dahin praktizierte Schlichtung hinausgingen. Der Muslim Canadian Congress sprach sich offen dagegen aus. Letztendlich wurde nach einer Welle von Protesten 2005 das gesamte Verfahren der staatlichen religiösen Schlichtung auch für Juden und Christen eingestellt. Die Diskussion erreichte auch die benachbarte frankophone Provinz Québec. Dort wurde sie aber ebenfalls 2005 rasch vom Provinzparlament durch eine Resolution beendet, die sich der Einrichtung »de tribunaux dits islamiques au Québec et au Canada« widersetzte. Der nationalistische Bloc Québécois unter Premierministerin Pauline Marois verfolgte außerdem seit 2013 mit dem Slogan »un Etat neutre au service de tous« (Ein

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neutraler Staat im Dienst der Allgemeinheit) das Projekt, ähnlich wie in Frankreich sämtliche »überdimensionierte« religiöse Zeichen (»signes religieux ostentatoires«), vor allem das islamische Kopftuch, aus öffentlichen Einrichtungen zu verbannen. Die anglophonen Provinzen sehen dies allerdings sehr skeptisch, auch in der Provinz Québec regt sich Widerstand. »›Québec ist nicht Frankreich, es lebe die Vielfalt!‹, rufen die Demonstranten im Frühjahr 2019 auf dem Platz Émile Gamelin im Herzen Montreals – eine Anspielung auf die in Frankreich herrschende strikte Trennung von Kirche und Staat.«10 Neben den betroffenen religiösen Minderheiten wie Muslimen, Sikhs und Juden, reagieren auch die anglophonen Provinzen irritiert auf das Gesetzesvorhaben in der frankophonen Provinz. Der frankophone Regierungschef der Provinz, François Legault, sieht sich aber im Recht: »Laizität steht nicht im Gegensatz zur Religionsfreiheit. Jeder kann die Religion seiner Wahl weiter so praktizieren, wie er es will, aber es braucht Regeln.« Dies ist ein sehr französischer Ansatz und erklärt sich aus der Verbundenheit der Québécois zu ihrem, oft auch nur »imaginierten«, Mutterland Frankreich. Das Gesetz sieht das Verbot religiöser Kleidung bei Staatsbediensteten vor. Die Regierung zählt dazu unter anderem Polizisten, Staatsanwälte und Lehrer. Professoren, Erzieher oder Verwaltungsbeamte betrifft das Gesetz hingegen nicht. Warum Québec unbedingt diesen Sonderweg im religiös doch sehr liberalen und toleranten Kanada gehen möchte, erklärt sich laut dem Philosophen Charles Taylor mit der speziellen Geschichte der Provinz: »Es ist eine Gesellschaft, die immer dafür kämpfen musste, ihre Identität zu bewahren. Das französischsprachige Québec ist wie eine kleine Insel in einem riesigen anglophonen Meer. Das führt zu einer verständlichen Angst vor dem Verlust der eigenen Identität; davor, dass die Gesellschaft sich unwiederbringlich verändern könnte. Das erklärt, warum wir hier dieses spezielle Problem haben und andere Gesellschaften in Amerika nicht.«11 Die eigene Situation als frankophone Minderheit in einer anglophonen Umgebung führe also dazu, die eigenen Minderheiten stärker dirigieren zu wollen. Eine andere Sicht könnte auch sein, eben vor allem Frankreich kopieren zu wollen und sich damit eine machtvolle Unterstützung von außen zu sichern. Im Sommer 2019 wurde das Gesetz vom Parlament verabschiedet und auch von Provinzgerichten bestätigt. Die Mehrheit der frankophonen Bevölkerung steht klar hinter dem Vorhaben. Die kanadische Zentralregierung schließt nicht aus, sich weiteren Klagen gegen das Gesetz anzuschließen. Die frühere Premierministerin von Alberta twitterte, es sei ein trauriger Tag für Kanada, an dem der Rassismus zum Gesetz geworden sei. Der Premierminister von Manitoba wird zitiert, dass dieses Gesetz »gefährlich und nicht kanadisch sei und es sei es wert, sich dem zu widersetzen«. Außerdem lud er alle Beamten Québecs, die sich jetzt dort unwohl fühlten, ein, nach Manitoba ein, weil man dort zweisprachige Beamte brauche.

10 https://www.deutschlandfunk.de/religioese-symbole-quebec-provoziert-mit-laizitaetsgese tz.799.de.html?dram:article_id=446213. 11 Ibid.

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Was an dieser Geschichte rund um das Laizitätsgesetz von Québec, das sich in der Tat mehrheitlich gegen Muslime richtet, bemerkenswert ist, ist, dass in Kanada somit der französische und der englische Ansatz zum Umgang mit Religion frontal aufeinanderstoßen und dies zu Lasten der islamischen Diasporagemeinde geht, die eigentlich mit der grundsätzlich sich dahinter verbergenden Problematik wenig zu tun hat.

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Islam in Lateinamerika

Nur verhältnismäßig wenige Muslime sind in die Länder Mittel- und Südamerikas eingewandert. Nur drei Länder: Brasilen, Argentinien und Surinam haben einen nennenswerten Anteil an muslimischer Bevölkerung. Er liegt bei allen anderen Ländern bei meist unter einem Prozent der Bevölkerung. Muslime sind dabei nach Südamerika in zwei Phasen gekommen. Die erste Phase einer Einwanderung fand durch die Sklaventransporte von Schwarzafrika nach Südamerika ab dem sechzehnten Jahrhundert statt. Wie hoch dabei der Anteil an Muslimen war, ist schwer nachzuvollziehen. Die Religionsausübung in der Sklaverei wurde zudem von den Sklavenhaltern eingeschränkt und es fand durch katholische Priester eine starke Missionierung mit Zwangskonversionen statt, die dazu führte, dass sich selbst in Staaten wie Haiti, in denen die Mehrheitsbevölkerung von Sklaven abstammt, heute nur noch ca. 1 % zum Islam bekennen, die zudem erst in den letzten Jahrzehnten zum Teil aus Marokko eingewandert sind. Die zweite Einwanderungswelle begann im 19. Jahrhundert, als viele Libanesen und Syrer nach Südamerika emigrierten. In der Regel handelte es sich bei ihnen um Christen, aber die arabische Einwanderung der damaligen Zeit brachte auch Muslime mit. Da die Einwanderer bis zum ersten Weltkrieg offiziell als Staatsbürger des Osmanischen Reichs galten, bezeichnete man sie umgangssprachlich als »Turcos«. Eine Bezeichnung, die auch heute noch Verwendung findet. Dabei bildeten die Einwanderer auch säkulare überkonfessionelle gemeinsame Organisationen wie den »Arab Club« in Ecuador.

Argentinien Die Religionszugehörigkeit kann in Argentinien mangels akkurater Untersuchungen nur geschätzt werden. 1 bis 2 % der 44 Millionen Einwohner sollen dabei Muslime sein, was ca. 400.000 bis 800.000 Personen wären. Meist handelt es sich hier um Nachkommen syrisch-libanesischer Einwanderer. Bekanntester Repräsentant dieser Gruppe ist der frühere argentinische Präsident Carlos Menem (Spitzname »el turco«), der aber für seine Wahl zum Präsidenten auf Grund der damaligen Gesetzeslage zum Katholizismus übertrat, da die römisch-katholische Kirche Verfassungsvorrang genießt. Im neunzehnten Jahrhundert kamen vor allem christliche Libanesen und Syrer ins Land, man schätzt die Zahl der Nachkommen der Araber heute auf ca. 3.5 Millionen. Der Islam in Argentinien findet sich sowohl in seiner sunnitischen als

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auch in seiner schiitischen Richtung, was die Lage in den Herkunftsländern reflektiert. Diese Unterschiede wurden und werden auch von außen gefördert. Die Republik Iran finanzierte die schiitische Tauhid-Moschee im Jahre 1983 und Saudi-Arabien eröffnete ein großes Kulturzentrum mit der größten Moschee des Landes für die Sunniten im Jahr 1996. Erwähnenswert ist noch, dass die bedeutendste Organisation für Muslime in Südamerika, die »Organización Islámica Para América Latina (OIPAL)« ihren Hauptsitz in Buenos Aires hat. Wie ähnliche Organisationen in der islamischen Diaspora hat sie nach eigener Aussage das Ziel, das Verständnis des Islams in der Mehrheitsbevölkerung zu verbessern und zu einem friedlichen Zusammenleben beizutragen. Dazu bietet sie eine Reihe von Veranstaltungsreihen in Gesamtlateinamerika an.12 Wie in anderen Weltgegenden scheinen finanzielle Institutionen, die solche Aktivitäten fördern, meist aus den Golfstaaten zu kommen. In diesem Fall laut Homepage Saudi-Arabien und Kuwait. Dies sollte man aber nach Erfahrung des Autors nicht als konkrete Einflussnahme verstehen, sondern es ist erst einmal ein Zeichen dafür, wer in der islamischen Welt Geld hat und es für religiöse Zwecke einsetzen will und es lässt auch Rückschlüsse darauf zu, dass sich für den Islam nicht genügend einheimische Geldgeber finden lassen.

Brasilien Auch in Brasilien sollen schwarzafrikanische Sklaven den Islam seit dem sechzehnten Jahrhundert ins Land gebracht haben. Als es aber im Jahr 1835 zu einem erfolglosen Aufstand mehrheitlich islamischer Sklaven (Malê-Aufstand) kam, wurden Zwangskonversionen durchgeführt, so dass heute nur noch wenige schwarzafrikanische Muslime zu finden sind. Sehr viel zahlreicher sind die Nachkommen der libanesischen, syrischen und palästinensischen Einwanderer der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert. Insgesamt sollen es ca. 11 Millionen arabischstämmige Brasilianer sein, 2 Millionen unter ihnen werden dem Islam zugeordnet, womit sie ein Prozent der Bevölkerung ausmachen. Auch in Brasilien findet sich die Aufteilung der islamischen Gemeinde in einen schiitischen und einen sunnitischen Strang. Vor allem die Schiiten, die oft libanesischer Herkunft sind, nehmen noch großen Anteil an Ereignissen im Libanon und an den Auseinandersetzungen mit Israel. Emblematisch ist dafür die Person Akil Merheij, eines Brasilianers und Präsident der brasilianisch-libanesischen Pfadfinderschaft, der 2006 im Libanon bei einem israelischen Angriff getötet wurde und der in schiitischen Kreisen Brasiliens als Märtyrer des brasilianischen Schiitentums gilt.13 Hinweise auf die Verbindung zur ursprünglichen Heimatregion finden sich auch in den Bauweisen der Moscheen von Campinas und Foz do Iguaçu, die sich beide architektonisch sehr eng an den Jerusalemer Felsendom anlehnen. 12 Marco Gallo: »Muslims in Southamerica«, in: Roberto Totolli (Hrsg.): Routledge Handbook of Islam in the West, London 2018, 178. 13 Hilu da Rocha Pinto, Paulo Gabriel: »Muslim Identities in Brazil«, in: Paul Amar (Hrsg.): The Middle East and Brazil. Perspectives on the New Global South, Bloomington 2014, 252–253.

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Surinam Surinam stellt innerhalb Lateinamerikas eine Ausnahme hinsichtlich seiner muslimischen Bevölkerung dar, weil es bis 1975 eine niederländische Kolonie war. Das führte dazu, dass Muslime aus anderen niederländischen Kolonien vor allem Indonesien nach Surinam kamen und dort eine bedeutende Minderheit darstellen. Geschätzt wird daher, dass von den dort lebenden ca. 550.000 Menschen deutlich mehr als 10 % dem sunnitischen Islam zugehörig sind und der Islam dort deutliche südostasiatische Züge trägt.

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Islam in Australien und Neuseeland

Australien Laut einem Australischen Zensus haben sich im Jahr 2016 600.000 Personen, also ca. 2,5 % der Gesamtbevölkerung als Muslime bezeichnet. Wie bei vielen dieser Untersuchungen bleibt die Frage, was damit ausgesagt wird. Man kann davon ausgehen, dass sich hier ein großer Anteil an nicht praktizierenden »Kulturmuslimen« befindet, auch beim Rest wird von einem sehr diversen Spektrum der individuellen Glaubenspraxis und Frömmigkeit auszugehen sein. Dies trifft umso mehr auf Australien zu, da sich hier eine sehr heterogene muslimische Gemeinschaft findet. Erste Kontakte mit Muslimen sollen Australische Ureinwohner schon vor und während der britischen Kolonisierung an der Nordküste gemacht haben, als es zu Handelsaustauschen mit indonesischen Händlern aus Sulawesi gekommen sei. Als erste richtig greifbare muslimische Einwanderergruppe kamen dann im neunzehnten Jahrhundert afghanische Kameltreiber nach Australien, als die britische Verwaltung beschloss, das Kamel als Nutztier nach Australien zu bringen. Diese Kameltreiber sollen auch schon Gebetshäuser genutzt haben. Nach 1900 führte Australien eine Einwanderungspolitik ein, die ausschließlich die Einwanderung von weißen Europäern vorsah, um nicht durch Asiaten, und hier vor allem Chinesen, überfremdet zu werden. Hinsichtlich der Einwanderung von Muslimen bedeutete dies, dass zuerst Albaner, später auch Bosnier als »weiße europäische« Muslime nach Australien kamen, da sie dem ethnisch zulässigen Raster entsprachen. Erst als nach dem zweiten Weltkrieg weitere Arbeitsmigranten benötigt wurden, lockerte sich die Einwanderungspolitik. Ende der 60er Jahre konnten sich nach einem Abkommen mit der Türkei mehrere Tausende Türken Down Under ansiedeln. Nach 1975 ließ man während des libanesischen Bürgerkriegs auch eine erhebliche Zuwanderung von christlichen und muslimischen Libanesen zu. Dazu kamen über die Jahre noch weitere Ethnien mit muslimischen Gläubigen gerade aus Süd- und Südostasien hinzu, was zu einer sehr diversen Gemeinschaft führt. Die beiden relativ größten Gruppen sind dabei libanesischstämmige und türkischstämmige Muslime, die aber wohl zusammen noch nicht einmal 40% aller Muslime in Australien ergeben. Die größte religiöse Ausrichtung stellen dabei die Sunniten dar.

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In diesem Kontext hat sich schon 1964 mit der Australian Federation of Islamic Councils (AFIC) eine Dachorganisation gegründet, die alle Sunniten in Australien repräsentieren und Partner des Staates sein möchte. Sie betreibt mit staatlicher und ausländischer Hilfe auch eine Anzahl von Projekten und Schulen und verfügt daher über einige finanzielle Mittel. 2017 berichteten australische Zeitungen dann, dass sich die Führung des Verbandes heillos über finanzielle Fragen und Projektverantwortlichkeiten zerstritten habe, ein Vorgang, der sich im Diaspora Kontext relativ häufig findet, gerade wenn Staaten keine Strukturen ausbilden, um mit eingewanderten Religionen institutionell in Kontakt zu treten oder wenn unklar ist, wen und wieviele Muslime eine Organisation vertritt. Die deutlich kleinere schiitische Gemeinde besteht vor allem aus libanesischen und syrischen Schiiten und hat daher eine sehr arabische Ausprägung. Daneben ist auch die Aḥmadiyya Gemeinde präsent. In den letzten Jahren kam es zu einigen Kontroversen rund um den Islam in Australien, bei denen es 2005 in Cronulla Beach auch zu Ausschreitungen gegen Muslime kam. Dies geschah zum Zeitpunkt der Attentate in London und nach dem Bali-Attentat 2002, bei dem australische Staatsbürger getötet wurden. Im Zuge der Attentate und der Kontroversen, ob Muslime überhaupt bereit sind, sich in die »weiße« multikulturelle Gesellschaft zu integrieren, kam es zu offenen Diskussionen, ob man Migration von Muslimen nach Australien nicht ganz verbieten solle. Australien hat sich dann unter der Regierung von John Howard (1996–2007) zu einer rigiden Flüchtlingspolitik entschlossen, bei der Flüchtlinge das Land nicht mehr betreten dürfen, sondern zuerst auf Lagerinseln verbracht werden, die Australien zu dem Zweck von Inselstaaten anmietet. Für Aufregung sorgte Howard auch, als er die Amerikaner warnte Obama zu wählen. Hauptargument war dessen angebliche muslimische Herkunft. Gerade muslimische Beobachter kommentieren die Entwicklung der letzten Jahre, in dem sie ausführen, dass die »White Australia Policy« wohl noch stark in den Köpfen existiere und damit dann ihrerseits islamischen Extremisten in die Hände spiele, die unter den marginalisierten Jugendlichen nun neue Anhänger suchen könnten.

Neuseeland Auch Neuseeland griff nach 1900 auf eine restriktive Einwanderungspolitik zurück, die Asiaten von der Einwanderung ausschloss. Bis dahin hatten sich auch nur vereinzelte südasiatische Muslime in Christchurch niedergelassen. Erst ab 1950 kamen daher wieder Muslime dauerhaft ins Land. Die Herkunft der Muslime ist dabei sehr gemischt aus verschiedenen Weltregionen, mit größeren Gruppen aus dem Nahen Osten und Südasien. In den letzten Jahrzehnten hat Neuseeland regelmäßig Flüchtlinge aufgenommen, was die Anzahl der Muslime vergrößerte, dennoch sind nur 1 % der Neuseeländer Muslime, nämlich ca. 50.000 Personen. Die Mehrzahl der Muslime sind Sunniten mit schiitischen und Aḥmadiyya Minderheiten. Als Dachorganisation dient seit 1979 Federation of Islamic Associations of New Zealand (FI-

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ANZ), die durch einen Zusammenschluss lokaler Organisationen von Canterbury, Wellington und Auckland zustande kam. Die Diskussionen zur Kompatibilität des Islams in westlichen Gesellschaften finden sich auch im öffentlichen Diskurs in Neuseeland, aber das Verhältnis zu den Muslimen wurde durch das Attentat gegen zwei muslimische Moscheen, bei dem im März 2019 51 Menschen starben, auf eine neue Probe gestellt. Der Attentäter, ein islamophober australischer Anhänger des Prinzips der weißen Vorherrschaft, sah in diesem Angriff eine Verteidigung der westlichen Welt vor der drohenden Islamisierung. Dem stellte die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern eine Woche später eine kraftvolle Geste der gesellschaftlichen Trauer entgegen, als sie zusammen mit 20.000 Neuseeländern im Freitagsgebet die getöteten Mitbürger beweinte.

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Islam in Europa

Die überwiegende Zahl der Muslime kam nach dem zweiten Weltkrieg, vor allem zwischen 1965 und 1980 als Arbeitsmigranten nach Europa. Weite Teile dieser Migration folgten dabei dem Weg früherer Kolonialverhältnisse. Die Einwanderung fand oft in fast geschlossen ethnischen Kohorten statt, die im Aufnahmeland die eindeutige Mehrheit der Muslime stellten, etwa Türken in Deutschland, Südasiaten in England und Nordafrikaner in Frankreich. Dieses »doppelnationale« Phänomen führte dazu, dass sich Muslime bis heute nur sehr vereinzelt in übergreifenden europäischen Vereinigungen wiederfinden, sondern sich vor allem auf nationaler Ebene organisieren. In der Europäischen Union leben somit ca. 17 Millionen Muslime unter 500 Millionen Nichtmuslimen, was 3–4 % der Bevölkerung ausmacht. Über 90 % von ihnen sind Sunniten. Weitere bedeutende Gruppierungen sind vor allem Schiiten iranischer oder libanesischer Herkunft und türkischstämmige Aleviten. Wenn man konkrete Zahlen zu muslimischen Bevölkerungsanteilen in Europa nennen möchte, steht man vor einem großen Dilemma. Es existieren nur sehr grobe Schätzungen, da die meisten Länder Religionszugehörigkeit nicht statistisch erfassen. Daher erklären sich auch die sehr großen Schwankungen in der Sekundärliteratur. In einigen Ländern vor allem Südeuropas lebt zudem eine hohe Dunkelziffer von illegalen Migranten muslimischen Glaubens. In Italien sind aber 2002 ca. 500.000 muslimische Migranten (vor allem aus Marokko und Albanien) legalisiert worden, wenn sie einen gültigen Arbeitsvertrag vorweisen konnten. Momentan findet eine nennenswerte Zuwanderung von Muslimen noch über Südeuropa, vor allem Spanien und Italien statt. Hier handelt es sich um einen Teil der Bootsflüchtlinge, die aus Nordafrika nach Europa streben. Als im Rahmen des Arabischen Frühlings Anfang des Jahres 2011 die Anzahl der Flüchtlinge gerade aus Tunesien sprunghaft anstieg, stellte ihnen Italien damals bereitwillig Schengenvisa aus, denn viele der Flüchtlinge wollten ohnehin nach Frankreich. Durch diese großzügige Visavergabe verärgerte Italien Frankreich dann auch nachdrücklich und man kann darin schon einen Vorboten für die unkoordinierte europäische

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Politik von 2015 sehen, als syrische Flüchtlinge zu Hunderttausenden ungeordnet über die Balkanroute nach Europa kamen und die Frage der offenen Grenzen und der Verteilung von Flüchtlingen zu großen innereuropäischen Zerwürfnissen führte. In der öffentlichen Debatte wird gerade von Rechtspopulisten die Frage nach einer angeblichen Islamisierung Europas hochgehalten, die an latente Eroberungsängste seit dem siebten Jahrhundert anknüpft. Man denke in diesem Zusammenhang an Bat Ye’ors Buch »Eurabia« oder ähnliche Argumentationsstränge bei europäischen anti-islamischen Politikern wie dem Niederländer Geert Wilders oder Marine le Pen in Frankreich. Hierzu kann man klar anführen, dass eine demographische Islamisierung unter den jetzigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ein Ding der statistischen Unmöglichkeit darstellt. Aktuelle Studien zeigen zudem, dass sich die eingewanderten Muslime nach einer Generation im Geburtsverhalten der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung anpassen, d. h. in Frankreich haben Musliminnen mehr Kinder als in Deutschland, da sie dem nationalen Landestrend von ca. 2,0 folgen. Soziale und gesamtgesellschaftliche nationale Rahmenbedingungen hinsichtlich allgemeiner Kinderförderung, bzw. Mütterunterstützung, scheinen in diesem Zusammenhang deutlich wichtiger als Verhaltensweisen des früheren Heimatlands oder einer islamischen Grundierung. Dies gilt umso mehr für die dritte Generation. So waren laut Zahlen des Baden-Würtembergischen Landesamts im Jahre 2010 türkische Frauen in Baden-Württemberg beispielsweise schon bei unter 1,72 Geburten pro Frau angelangt, nachdem die Zahl 1980 noch bei 3,79 Geburten pro Frau lag. Jetzt bewegen sie sich auf die 1,35 Geburten der deutschen Durchschnittsfrau zu. Die muslimische Bevölkerung wird in den Jahren bis 2030 daher in der EU ohne regelmäßige Zuwanderung voraussichtlich nur noch moderat auf voraussichtlich 6% ansteigen, um danach konstant zu bleiben oder sogar eher abzunehmen, denn ein weiterer bisher kaum beachteter Gesichtspunkt sind Personen, die sich, trotz eines islamisch-kulturellen Hintergrundes, nicht zum Islam zugehörig fühlen. Diese werden in bisherigen Schätzungen wegen ethnischen Zugehörigkeiten komplett der Zahl der Muslime zugeordnet. In Deutschland bezeichnen sich laut der BAMF Studie Muslimisches Leben in Deutschland ca. 20 % der bisher als Muslime gezählten Personen ausdrücklich als nichtgläubige Atheisten. Grob geschätzt sind dies 750.000 Personen. In anderen europäischen Ländern bewegt sich die Anzahl von Ex-Muslimen sicherlich auf ähnlichem Niveau. Statistisch könnte dies bald sogar zu fallenden Prozentzahlen von Muslimen in Europa führen. Die Flüchtlingszahlen des Jahres 2015 haben im gesamteuropäischen Kontext keine große Auswirkung, da die meisten Länder nur sehr wenige Flüchtlinge aufgenommen haben. Nur in Deutschland könnte eine Auswirkung spürbar sein. Dort sind seit Ausbruch des Bürgerkrieges ca. 500.000 Syrer gekommen, doch ist die Zahl nicht amtlich bestätigt und beinhaltet auch noch offene Fragen, wie etwa nach einer möglichen Rückkehr nach einem Frieden in Syrien und dem Anteil der syrischen Christen und Atheisten an der Gesamtzahl. Insgesamt könnte es aber dazu führen, dass der bisher sehr dominante deutsch-türkische Islam etwas deutsch-arabischer wird.

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Die Mehrzahl der Muslime kam aber in den letzten Jahrzehnten nicht illegal nach Europa, sondern in den großen, oft staatlich geförderten Einwanderungswellen, seit den 60er Jahren. Im Folgenden soll diese Entwicklung in den Ländern West-, Mittel-, und Nordeuropas thematisiert werden, wobei Großbritannien, Frankreich und Deutschland besonders skizziert werden.

Großbritannien Im Jahre 2010 schätzt man die Zahl der Muslime in Großbritannien auf 2,9 Millionen, was 4,6 % der Bevölkerung beträgt. 70% davon haben einen südasiatischen Hintergrund und knapp 80% bezeichnen sich als Sunniten, Schiiten liegen bei 8%.14 Schätzungen für 2017 liegen bei über 3 Millionen Muslimen. Großbritanniens Situation unterscheidet sich insofern vom Rest des Kontinents, als es nicht der wirtschaftliche Aufschwung der 50er Jahre war, der muslimische Arbeitskräfte ins Land holte. Erstens spürte man diesen Aufschwung auf den Inseln deutlich weniger als in Mitteleuropa und zweitens kamen viele Muslime schon zuvor auf die Inseln, da Bewohner des britischen Commonwealth, der nach dem Zweiten Weltkrieg ungefähr ein Viertel der Weltbevölkerung umfasste, bis 1962 ungehindert nach Großbritannien einreisen konnten. Viele islamische Einwanderer versuchten in London und den englischen Industriestädten Nord- und Mittelenglands ihr Glück und bekamen meist umgehend die Staatsbürgerschaft, ansonsten wurden ihre Kinder Briten durch Geburt in England, was dazu führt, dass fast alle Muslime in Großbritannien Briten sind und am politischen Leben voll teilhaben können. Mit dem »Immigration Act« von 1972 verloren Einwohner des Commonwealth dann diese Einreiseprivilegien. Die Auseinandersetzungen im Rahmen des Dekolonisierungsprozesses in Südasien prägen aber bis heute das Gesicht des britischen Islams. Ebenso sind mit den Südasiaten die theologischen Auseinandersetzungen zwischen den modernistischen Deobandis, die sufische Praktiken und Heiligenverehrung ablehnen, und den Barelwis, die die Heiligenverehrung vor allem südasiatischer Heiliger in den Glaubensmittelpunkt stellen und eine sehr ausschweifende Verehrung für den Propheten Muḥammad pflegen, miteingewandert. In Großbritannien ist die Königin Staatsoberhaupt und Kopf der anglikanischen Kirche. Andere Religionsgemeinschaften treten also mit einem anglikanischen Staat in Kontakt, der sie administrativ immer als nachrangig behandeln muss. Gleichzeitig erlaubt das britische Model gerade auf dem Schulsektor ein großes Maß an Privatinitiative. Erste islamische Vereine gründeten sich so als Elterninitiativen für islamische Privatschulen. Auch im individuellen Bereich ist Großbritannien sehr liberal. Polizistinnen mit Kopftuch oder Beamte mit Turban sind dort ohne weiteres anzutreffen. Die Kopftuchfrage, die sonst die europäischen Länder so beschäftigt, wird in Großbritannien als sehr nachrangig gesehen, wobei es auch eine negative Einstellung hinsichtlich der Vollverschleierung gibt.

14 Tahir Abbas: Muslim Britain, Communities under Pressure, London-New York 2005, 20.

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Da die Institutionen in Großbritannien hinsichtlich islamischer Vereine eine Politik der Kooperation und auch des Neben-einander-her-lebens einschlugen, entfachte die öffentliche Verbrennung der »satanischen Verse« von Salman Rushdie im Jahr 1988 in Bradford eine öffentliche Diskussion, was denn zum Teufel in der einheimischen islamischen Diaspora los sei und warum ein Roman im 20. Jahrhundert als blasphemisch wahrgenommen werden kann. Die Unruhen in britischen Städten durch pro- und anti-Rushdie-Demonstrationen sowie der offene Mordaufruf durch den iranischen Revolutionsführers Khomeini veranlassten staatliche Stellen, intensivere Kontakte zu Muslimen und ihren Verbänden zu suchen, um nicht mehr von solchen Entwicklungen innerhalb der islamischen Gemeinschaft überrascht zu werden. 1992 rief Kalim Siddiqui das Muslim Parliament of Great Britain ins Leben. Die Mitglieder des Parlamentes formulierten muslimische Standpunkte gegenüber der britischen Öffentlichkeit, die dort als sehr rückwärtsgewandt empfunden wurden und nach wenigen Jahren schwand dessen Bedeutung wieder. Als New Labour 1997 die lange regierenden britischen Konservativen ablöste, ging man im Sinne eines aufgeschlosseneren Englands auf islamische Verbände zu. New Labour begann damit, ausgewählte islamische Privatschulen zu finanzieren und unterstützte tatkräftig die Arbeit des Muslim Council of Britain (MCB), der ein Jahr zuvor aus dem Zusammenschluss von 250 britischen islamischen Vereinen entstanden war. In den Folgejahren erhielt der Muslim Council of Britain für Projekte mit britischen Muslimen regelmäßig beträchtliche staatliche Zuwendungen. Mit dem britischen Eintritt in den Irak-Krieg 2003 endete vorerst die gute Zusammenarbeit. Britische Politiker warfen dem MCB in Folge der Attentate auf die U-Bahn in London vom Juli 2005 vor, zu wenig für die Terrorismus-Aufklärung zu tun. Der Muslim Council kritisierte seinerseits heftig die britische Nahost- und Afghanistanpolitik. Ende 2006 kündigte Staatssekretärin Ruth Kelly von New Labour schließlich an, die Verbindung mit dem Muslim Council zu überdenken, staatliche Gelder würden in Zukunft neu verteilt. Einer der Hauptnutznießer der Geldneuverteilung sollte unter anderem der Sufi Council of Britain sein, dessen Sprecher Haras Rafiq für sich in Anspruch nahm, für die schweigende Mehrheit der Muslime in Großbritannien, nämlich die Sufis zu sprechen.15 Da der Muslim Council aber eine viel höhere Legitimation auf Grund seiner hohen Mitgliedszahl und seiner demokratischen Strukturen hat, stellt er bis heute den offiziellen Ansprechpartner des Staates dar und ist auch beim Einwerben von staatlichen Geldern erfolgreich. 2018 startete der MCB so beispielsweise auch ein sechsmonatiges Mentorinnenprogramm für Frauen, um sie als Gemeindeleiterinnen auszubilden. Großbritannien lässt einen starken privaten Aspekt in Bildungsfragen zu. Staatliche Schulen existieren neben teilfinanzierten Modellen oder ganz privat finanzier-

15 John Ware: MCB in the dock. The government is finally starting to notice that the Muslim Council of Britain is in denial about Islamic extremism in Britain, (24.11.2006)/ftp://212.111. 50.100/smo/MCB%20in%20the%20dock%20%20Prospect%20Magazine%20%2012.06.pdf.

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ten Schulen. Alleine in England und Wales finden sich so laut Angaben der Association of Muslim Schools über 160 islamische Lehreinrichtungen vom Kindergarten bis zum College, das angehende islamische Theologen ausbildet.16 Nur eine Handvoll davon erhält dabei staatliche finanzielle Unterstützung. Die Finanzierung erfolgt über Schulgeld und Spenden. Da die muslimische Bevölkerung eher in der Unter- und Mittelschicht anzutreffen ist, sind gute Examensergebnisse schwer zu erreichen, weil die Ausstattung und das Lehrpersonal der Schulen nicht gut finanziert sind. Auch sind vielfältige Formen individueller muslimischer Glaubenspraxis möglich, die staatliche Anerkennung finden. So können muslimische Paare in rund einem Viertel der Moscheen auf den britischen Inseln staatlich anerkannt heiraten. Im Jahr 2008 schlug darüber hinaus der damalige anglikanische Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, öffentlich vor, in manchen Aspekten des Privatrechts, etwa im Eheund Scheidungsrecht, auch die Scharia gelten zu lassen. Anglikanisches Recht sei diesbezüglich Staatsrecht, und daher sollten auch für Juden und Muslime im Sinne der Gleichberechtigung religiöse Gerichtshöfe in Privatrechtsangelegenheiten erlaubt werden. Kurze Zeit später bestätigte die Sunday Times, dass fünf Scharia-Gerichtshöfe bestimmte Fragen nun rechtsverbindlich entscheiden könnten und dass britische Behörden diese Gerichtsbeschlüsse durchsetzen müssten. Die Kompetenz dieser Gerichte erstrecke sich vom Zivilrecht bis hin zu Fällen häuslicher Gewalt. Voraussetzung sei aber, dass die beteiligten Parteien zuvor die Kompetenz dieser Gerichte anerkennen würden. Kritische Stimmen sprachen sich gegen diese Praxis aus, da Frauen gezwungen werden könnten, vor diese Gerichte zu treten, die sie rechtlich, zum Beispiel in Erbschaftsangelegenheiten, nicht gleichstellten. Das Medieninteresse an den Scharia-Gerichtshöfen war auch im fünften Jahr ihres Bestehens unvermindert hoch. Doch für John Bowen, Professor für soziokulturelle Anthropologie an der Washington University in St. Louis, kommt diese offene Kritik vor allem dadurch zustande, dass alle Gerichte ihre Türen für externe Berichterstatter weit geöffnet hätten. Er selbst sei bei der Untersuchung der Gerichtshöfe andauernd auf französische, englische und amerikanische Filmcrews getroffen. Generell sehe er aber innerhalb der muslimischen Gemeinschaft eine sehr hohe Akzeptanz für die Gerichte. Es werde dort seiner Ansicht nach nicht gegen englische Gesetze verstoßen und die wachsende Präsenz von Frauen als Mitarbeiter in den Gerichten würde mittelfristig dazu führen, die bisherige Schieflage von Entscheidungen zu Gunsten von Männern zu beheben.17 Eine Besonderheit des Islams in Großbritannien ist die Anwesenheit des Kalifen der Aḥmadiyya Muslim Jamaʿat in London. Die Aḥmadiyya Muslim Jamaʿat bezieht sich auf die Lehren des südasiatischen Gelehrten Mīrzā Ġulām Aḥmad (gest. 1908 in Lahore). Seine Anhänger sehen in ihm den Verheißenen (Mahdi/Messias), der

16 Association of Muslim Schools/ www.ams-uk.org. 17 John R. Bowen: Panorama's exposé of sharia councils didn't tell the full story, http:// www.theguardian.com/commentisfree/belief/2013/apr/26/panorama-expose-sharia-coun cils-balance.

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die Endzeit einleitet und den Rang eines Muḥammad nachgeordneten Propheten einnimmt. Sie unterscheiden sich auch in ihrem Jesusverständnis, den Muslime als Propheten betrachten, aber die Ahmadis sind der Überzeugung, Jesus sei von Palästina nach den Ereignissen um seine Scheinkreuzigung und Entrückung, die andere Muslime annehmen, nach Indien gewandert und in Srinagar begraben. Diese beiden Punkte bringen sie in starken Gegensatz zu sunnitischen Gemeinschaften, die Muhammad für den letzten Propheten halten, den Gott den Menschen sandte. In Pakistan ist die Gemeinschaft in den Siebzigern dann offiziell verboten worden, daher wanderten viele Anhänger nach Europa aus. Die Nachfolger (»Kalifen«) des Mīrzā Ġulām Aḥmad residieren in London und alle Anhänger der Gemeinschaft müssen ihm die Gefolgschaft (baya) schwören. Zudem sehen sie in dem Auftreten des Messias das Zeichen des nahenden Weltuntergangs. Da ihre Anhänger aus dem gebildeten Mittelstand kommen, waren sie in Einwanderungsgesellschaften dann oft deutlich schneller in der Lage, mit staatlichen Institutionen zu kommunizieren als andere deutlich heterogenere und ungebildetere Gemeinden. In Großbritannien leben ungefähr 30.000 von ihnen. Erst spät merkten Repräsentanten der Mehrheitsbevölkerung, dass die Aḥmadiyyas innerhalb des Islams sehr umstritten waren. Die Lage in Großbritannien hat sich in letzter Zeit innerhalb der Gesellschaft hinsichtlich der islamischen Diaspora durchaus entspannt. Dies war nach den Anschlägen von London 2005 noch anders, als sich im Anschluss daran und weiteren Attentaten die rechtsradikale English Defence League gründete und durch Städte paradierte. Eventuell hängt die jetzige Entspannung mit dem Ende britischer Kampfeinsätze im Irak, in Afghanistan und Pakistan zusammen. Es gab aber auch prominente britische Kämpfer beim IS (»Jihadi John«) und 2017 sprengte sich ein lybischer Einwanderer mit Kontakten zum IS in Manchester bei einem Konzert von Ariana Grande in die Luft und riss 40 Menschen in den Tod. Dieses schlimme Verbrechen führte aber augenscheinlich nicht zu einer massiven Diskursverschiebung gegen Muslime in Großbritannien, auch weil sich die führenden Vertreter der britischen Muslime sofort und ausgiebig mit den Opfern solidarisierten. Innenpolitisch schien 2019 aber einfach auch kein Thema, noch nicht einmal der Islam, gegen den Brexit eine Chance zu haben.

Frankreich In Frankreich belastet die Auseinandersetzung mit seinem kolonialen Erbe bis heute das Verhältnis des Staates zu seiner muslimischen Bevölkerung. Besonders schmerzhaft empfanden Franzosen und Algerier den Unabhängigkeitskrieg von 1954 bis 1962, nach dessen Beendigung zehntausende von algerisch-arabischen Kollaborateuren, sogenannte Ḥarkīs, aber auch ca. 1 Millionen pieds-noirs, algerisch-französische Siedler nach Frankreich übersiedeln mussten und sich dort gesellschaftlich erst einmal schlecht zurechtfanden. Wegen der guten wirtschaftlichen Situation der sechziger Jahre kamen dann noch weitere Arbeiter aus dem Maghreb nach Frankreich. 1972 führte die globale

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Wirtschaftskrise dazu, dass die Einwanderung aus ehemaligen Kolonien erheblich erschwert wurde und sich anschließend auf die Familienzusammenführung beschränken sollte. Belastbare Zahlen für die Größe der muslimischen Gemeinde in Frankreich sind unmöglich zu erhalten, seit das Gesetz »Informatique et Liberté« im Jahre 1978 verbot, ethnische und religiöse Zugehörigkeit zu erheben. Das französische Innenministerium schätzte für 2000 grob 3 Millionen, das Pew Forum schätzt für 2010 die Zahl von 4,7 Millionen, was 7.5% der Bevölkerung wäre.18 Diese haben wegen des französischen Staatsbürgerschaftsrechts fast alle die französische Staatsbürgerschaft. In Frankreich benutzte man lange den Begriff der Assimilation als das Endziel eines Integrationsprozesses. Die Franzosen erwarteten von den muslimischen Migranten, dass sich die Religionsausübung der Muslime strikt auf deren Privatsphäre beschränken sollte. Angestrebt wurde eine »Laizisierung« des Verhaltens der muslimischen Einwanderer. So nahmen offizielle Stellen bis weit in die neunziger Jahre die Frequenz der täglichen Gebete als Index der bereits erfolgten Assimilation an die französische Gesellschaft. Je weniger man betete, desto besser war man demnach integriert.19 Erst nach und nach sah man die Sinnlosigkeit solcher Überlegungen ein. Der neutrale laizistische Staat tritt bei Bedarf mit ausgesuchten religiösen Partnern, etwa der französischen Bischofskonferenz, in Kontakt. Seit 2004 besitzen die Muslime durch aktive Mithilfe des damaligen Innenministers Sarkozy eine offizielle Vertretung, den Conseil Français du Culte Musulman (Französischer Rat des Islamischen Kultus/CFCM). Die Anzahl der Wahlmänner für den CFCM richtete sich nach der Quadratmeterzahl der 995 wahlberechtigten Moscheegemeinden, da man die Mitgliederzahl nicht kannte. Zu Beginn seines Bestehens zeichnete sich der CFCM dadurch aus, dass er selten funktionierte. Entweder weil sich die islamischen Verbände Frankreichs gegenseitig blockieren oder interne Querelen innerhalb eines Verbandes zur Wahl eines internen Gegenpräsidenten führten. 2008 boykottierte die algeriennahe »Grande Mosquée de Paris« die Wahl, weil sie sich mit ihren kleinen Moscheen besonders von der Wahlregelung der Quadratmeterzahl benachteiligt sah, es gab aber auch Gerüchte, dass der algerische Staat sich eine größere Rolle im CFCM erhoffte und darauf bestand, dass der CFCM, unabhängig vom Wahlergebnis, vom Rektor der großen Moschee in Paris, Dalil Boubakeur, geführt werden soll. Die Wahl ging dann an die marokkonahe Organisation Rassemblement des Musulmans de France (Vereinigung der Muslime in Frankreich/ RMF), in dem sich die marrokkonahen Muslime organisiert haben. Die RMF erhielt 43 % der Stimmen. Die »Union des organisations islamiques de France« (Union islamischer Organisationen

18 Ministère de l’Intérieur: Le point sur l’islam en France, Paris 2000, 20–21; PEW 2011: The Future of the Global Muslim Population/ www.pewforum.org. 19 John R. Bowen: Islam in/of France: Dilemmas of Translocality, [read at the 13th International Conference Europeanists, Chicago, March 14–16, 2002]/ http://www.ceri-sciencespo.com/ archive/mai02/artjrb.pdf, 6.

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in Frankreich/ UOIF), die den Muslimbrüdern nahe steht, lag bei 30,2% und die türkischen Muslime bei 12,7%. Seit 2013 scheint man aber ein Miteinander gefunden zu haben, als Dalil Boubakeur wieder die Sitzung übernehmen durfte, obwohl der RMF die Wahlen gewann, was er auch 2015 und 2017 tat. Man ist sich aber wohl einig geworden, den Vorsitz zwischen den Marokkanern, den Algeriern und Türken (Comité de coordination des musulmans turcs de France) rotieren zu lassen, deren Vorsitzender Ahmet Ogras die letzten zwei Jahre den Vorsitz führte. Die einzige Organisation, die keinen Staat hinter sich im Rücken weiß, die »Union des organisations islamiques de France« scheint hier dauerhaft leer auszugehen. Zu den Aufgaben des CFCM gehören die Pflege des Kontakts zwischen Staat und Muslimen, die Koordinierung des Baus von Moscheen, die Regelungen der Speisevorschriften, die Extremismusprävention und die Gefangenenseelsorge. Der Conseil legt zudem für Frankreich den genauen Beginn des Ramadans fest, oft ein Streitpunkt zwischen den Muslimen in der Diaspora. Neben dem nationalen Conseil existieren auf ähnliche Weise gewählte muslimische Regionalräte, die augenscheinlich vor Ort im lokalen Zusammenspiel mit den Kommunen besser funktionieren. Der zentrale Conseil krankt aber daran, dass er kaum Finanzmittel sein Eigen nennt. 2005 hatte der französische Staat eine von der öffentlichen Finanzverwaltung verwaltete »Islamische Stiftung« ins Leben gerufen und als Startguthaben 800.000 € eingezahlt. Man hoffte dann auf weitere Spenden, die sich aber nicht realisierten. Der Vorgang stieß bei einigen Muslimen auf Kritik. So warf Fouad Alaoui, der Sekretär der »Union des Organisations Islamiques de France« dem damaligen Innenminister Dominique de Villepin vor, mit diesem Stiftungsprojekt den Islam nationalisieren und damit kontrollieren zu wollen.20 Da das ursprüngliche Stiftungsprojekt ins Stocken kam, versuchte es der sozialistische Innenminister Bernard Cazeneuve auf ein Neues und gründete 2016 die Fondation de l’islam de France als Körperschaft des öffentlichen Nutzens (établissement d’utilité publique). 2018 übernahm Ghaleb BenCheikh, bekannt durch seine Informationssendungen zum Islam im französischen Fernsehen, den Vorsitz. Die neue Stiftung soll bei französischen Unternehmern mehrere Millionen eingesammelt haben und einen humanistischen Islam in Frankreich im Geiste der Werte der Republik fördern, der sich vom salafistischen Islam abgrenzt. Frankreich hat in den letzten Jahren, vor allem 2015, die heftigsten Attentate von Islamisten erlebt. Zudem haben sich deutlich über 1000 Staatsbürger dem IS angeschlossen. Dies führte zu starken innenpolitischen Auseinandersetzungen, in denen sich der Front National unter Marine Le Pen gegen jede Unterstützung des Islams aussprach und dem Islam gar sein Wesen als Religion absprach. Islamische Organisationen in Frankreich fühlten sich schnell unter Generalverdacht. Neben dem Verbot des Kopftuchtragens in öffentlichen Schulen führte das Land 2011 ein Niqab- und Burkaverbot ein (also Verbot jeder Art des Gesichtsschleiers). Die Kritik richtete sich hier darauf, ob ein solches Verbot angesichts weniger hundert Träge20 Valérie Amiraux: CFCM. A French Touch, ISIM-Newsletter 12/2003/ 24 f.

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rinnen in Frankreich noch verhältnismäßig sei und die Muslime nicht insgesamt vor den Kopf stoße, weil jeder einzelne von ihnen sich de facto mitgemeint fühlen könnte. In der Atmosphäre der letzten Jahre war es für die Muslime, vor allem für die Imame in Frankreich daher nicht leicht, sich auf ihre eigentliche seelsorgerische Arbeit zu konzentrieren. Die islamische Diaspora leidet unter der hohen politischen Aufmerksamkeit, der chronischen Unterfinanzierung und der starken Einmischung der nordafrikanischen Herkunftsstaaten. Frankreich kommt in diesem Bereich nicht zu der gesellschaftspolitischen Ruhe, die nötig wäre, um das Verhältnis zwischen Staat und Muslimen neu und dauerhaft zu justieren. Eine sehr große Baustelle, die der französische Staat dabei nachhaltig und glaubwürdig angehen muss, ist das Verhältnis zu seinen Vorstädten, in denen es regelmäßig zu großen Unruhen kommt. Diese werden wegen der Häufung der dort lebenden muslimischen Araber mit islamischem Extremismus gleichgesetzt, berühren aber im Kern eine soziale Frage, die Frankreich auf Dauer für sich lösen muss. Die hohe Frustration, die in den Vorstädten in jeder Generation wieder von Neuem entsteht, bringt gewaltige Herausforderungen hervor, vor denen auch sehr engagierte lokale Imame immer wieder kapitulieren müssen. Denn der französische Staat erfüllt den jungen Menschen in den Vorstädten gegenüber seine Versprechen nach »Liberté, Fraternité, Egalité« nicht. Khaled Kelkal der algerisch-französische Terrorist, der 1995 von der französischen Polizei erschossen wurde, hatte vor seinem Abtauchen in die Illegalität noch dem deutschen Wissenschaftler Dietmar Loch ein Interview gegeben, in dem er sagte: »Ich hatte die Fähigkeiten, es zu etwas zu bringen, aber es gab da keinen Platz für mich«.21 Die französisch-arabische Band Zebda aus Toulouse formulierte auch schon 1995: »Ich bin zugeschüttet worden von der Angst, die ich in den Augen von denen gesehen habe, die dreimal nichts haben und dies dennoch für kostbar halten. Als ich das Gesetz verstanden habe, musste ich meine Niederlage eingestehen. »Integriert Euch!« sagte es, doch dies war doch schon längst geschehen«, lautet eine Strophe in ihrem Lied »Le Bruit et L’Odeur« (»Der Lärm und der Gestank«), das Bezug auf die Rede des damaligen Präsidentschaftskandidaten von 1991 Jacques Chirac nimmt, in der dieser den »Lärm und Gestank« bei den islamischen Einwanderern beklagte.

Deutschland In Deutschland nahm die Zahl der Muslime in vier Jahrzehnten um das Zweihundertfache zu. Lebten noch 1961 knapp 15.000 Muslime in Deutschland, so zählte man 2002 über 3,3 Millionen, davon 500.000 mit deutscher Staatsbürgerschaft. In den letzten zehn Jahren hat sich eine steigende Anzahl von muslimischen Bürgern, trotz

21 Dietmar Loch: Jugendliche maghrebinischer Herkunft zwischen Stadtpolitik und Lebenswelt, Berlin 2005, 354.

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des als Einbürgerungshemmnis geltenden Verbots der doppelten Staatsbürgerschaft, einbürgern lassen, so dass heute 45 % der mittlerweile etwa vier Millionen Muslime die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. In den 1960er Jahren begünstigte das Wirtschaftswunder die Rekrutierung vor allem türkischer Arbeitskräfte, ehe 1973 ein Anwerbestopp erfolgte. Eingewanderte Türken und ihre Nachfahren machen bis heute etwa zwei Drittel aller Muslime in Deutschland aus, was dem deutschen Islam eine eindeutig türkische Färbung verleiht. Eine Besonderheit dieses deutsch-türkischen Islams stellen die ca. 400.000 Aleviten dar. Viele Aspekte ihrer Glaubenspraxis sind nicht mit traditionellen sunnitischen und zwölferschiitischen Vorstellungen kompatibel.22 Daher wird innerhalb der alevitischen Gemeinde stark diskutiert, inwieweit das Alevitentum überhaupt zum Islam gehört. Deutschland gewährt einer anerkannten religiösen »Körperschaft des Öffentlichen Rechts« sehr weitreichende Privilegien. Sie umfassen u. a. die Erhebung der Kirchensteuer für die Religionsgemeinschaften durch den Staat sowie die Dienstherrenfähigkeit (d. h. Körperschaften können Beamte einstellen, deren Arbeitsverhältnis, sich am staatlichen Beamtenrecht orientiert). Darüber hinaus wirken Staat und Religionsgemeinschaften gemäß Artikel 7 Abs. 3 des Grundgesetzes beim bekenntnisorientierten Religionsunterricht an öffentlichen Schulen zusammen. Die wachsende Anzahl muslimischer Schüler in staatlichen Schulen führte dazu, dass von Lehrer- und Elternschaft ein zunehmender Druck auf die Politik ausgeübt wurde, die Frage des bekenntnisorientierten Unterrichts für Muslime auf die politische Agenda zu setzen. Diese schulpolitische Frage bildete einen wichtigen Hintergrund für die Einberufung der ersten Deutschen Islamkonferenz (DIK) im Jahre 2006 durch den damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble. Die Islamkonferenz sollte laut Schäuble dazu beitragen, dass sich die Muslime in Deutschland mehr und mehr als »deutsche Muslime« begreifen. Man erwartete sich durch die Einführung des Islamischen Religionsunterrichts auch Fortschritte im Bereich der Integration und der Terrorbekämpfung. Im Verlauf der ersten DIK schlossen sich die vier großen deutschen Islamverbände – der Islamrat (als türkisch-nationaler Verband, der lange in Opposition zum laizistischen türkischen Staat stand), der deutsche Ableger der staatlichen türkischen Religionsanstalt (DITIB), der traditionell sufisch orientierte Verein islamischer Kulturzentren (VIKZ) und der die arabischen und/oder schiitischen Muslime repräsentierende Zentralrat der Muslime – zum gemeinsamen Koordinationsrat der Muslime (KRM) zusammen. Geredet wurde während der DIK I über Integration, Terrorismus, aber zunehmend eben auch über praktische Fragen des alltäglichen Zusammenlebens. In diesem Kontext stand vor allem der Religionsunterricht im Mittelpunkt. Da der Schulunterricht in der Hoheit der Bundesländer liegt, empfahl ihnen die DIK die flächendeckende Einführung eines islamischen Religionsunterrichts. Vor allem Nordrhein-Westfalen mit seinem zehnprozentigen

22 Die Aleviten verehren Ali, den Schwiegersohns und Cousin des Propheten Muhammad, in weit stärkerem Maße als andere islamische Gruppierungen. Aleviten fasten nicht wie Sunniten im Ramadan und beten auch nicht in Moscheen, sondern treffen sich in sogenannten Gemeinschaftshäusern (»Cem«-Häusern).

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muslimischen Bevölkerungsanteil und einer entsprechend großen muslimischen Schülerzahl nahm eine Vorreiterrolle ein. Die bereits an 150 Schulen vorhandenen Schulprojekte, die bisher »Islamkunde« genannt wurden, sollten möglichst rasch in bekenntnisorientierten Unterricht überführt werden. Im Februar 2012 stand dann ein Beirat für den »Islamischen Religionsunterricht« fest, den zur Hälfte der KRM stellt und dessen übrige vier muslimische Mitglieder von der Landesregierung nominiert werden. Diesem Beirat wird das Recht zugestanden, ähnlich wie bei den Kirchen, eine Lehrbefähigung zu erteilen; ein ähnliches Beiratsmodell gilt in Niedersachsen. Die Tatsache, dass staatliche Stellen sich sehr aktiv in die Konzeption des islamischen Religionsunterrichts und die Zusammensetzung der Beiräte einmischen, stößt aber auch auf Kritik. Hessen ging einen anderen Weg und hat 2012 zwei islamische Verbände (Aḥmadiyya und DITIB) als offizielle Religionsgemeinschaft mit den damit verbundenen Rechten anerkannt. In Hessen ist zudem mit der Aḥmadiyya Muslim Jamaʿat der erste Verband des islamischen Spektrums als »Körperschaft des öffentlichen Rechts« anerkannt worden. Doch noch tun sich staatliche Stellen sehr schwer bei der Anerkennung von Mitwirkungsrechten von islamischen Verbänden. In allen Fällen, in denen bisher die Türkeinahe DITIB als Partner im Religionsunterricht anerkannt war, ist diese Mitwirkung nach der Verschlechterung der politischen Situation in der Türkei hinsichtlich demokratischer Grundrechte unter Präsident Erdoğan, vor allem nach dem gescheiterten Putsch 2016, seit 2017 sukzessive auf Eis gelegt worden und man prüft in NRW, Hessen und Niedersachsen die Alternativen. Dies sollte den deutschen Institutionen insgesamt zu denken geben, ob man sich nicht zu früh an einen defacto »ausländischen« Partner gebunden hat, weil man dachte, ihn vermutlich mit Hilfe der Türkei leichter kontrollieren zu können, als die übrigen sperrigen, konservativen lokalen deutschen islamischen Verbände. Nun versucht seit 2018 die vierte Phase der DIK IV unter der Leitung von Innenminister Horst Seehofer das Spektrum der Teilnehmer wieder zu weiten, um Alternativen zur Zusammenarbeit mit den Verbänden zu finden. Diesmal nahmen über 200 muslimische Persönlichkeiten aus allen gesellschaftlichen Bereichen an der Auftaktveranstaltung teil. Die DIK IV möchte somit auch andere Muslime in die Verantwortung nehmen und sie bitten, sich hinsichtlich ihrer Diaspora zu engagieren. Auch sollen der liberale Islam und seine Vertreter gestärkt werden. Ein weiterer Schwerpunkt soll auf der Imamausbildung in Deutschland liegen. Eine gewisse Skepsis bleibt, denn die liberalen Gemeinden verfügen über nur sehr wenige Gotteshäuser, der organisierte Islam über ca. 2000. In diesen Gemeinden engagieren sich Menschen ehrenamtlich seit Jahren für ihre Mitmenschen. Eventuell sollte man dies auch einmal stärker würdigen, auch wenn einem der islamische Konservatismus missfällt. Etwas naiv scheint auch der Wunsch, dass sich Kulturmuslime oder die nur teilweise praktizierende Mehrheit stärker einbringen würden. Denn diesen Gruppen ist der Islam, bzw. die Glaubensausübung nicht so wichtig, als dass sie selbst eine Gemeinde gründen würden. Man wird sich also mit den vorhandenen Vereinen arrangieren müssen und darüber nachdenken müssen, wie man in Kooperation mit der Türkei die DITIB zu einem Verband des deutschen Islams umbaut.

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Hinsichtlich staatlich geförderter Einrichtungen von islamischen Theologien hat Deutschland eine Vorreiterrolle inne. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat im November 2010 Universitätsstandorte in den fünf Flächenländern mit dem höchsten Anteil an Muslimen ausgewählt, um dort das Fach Islamische Theologie neu anzusiedeln oder weiterzuentwickeln. Das Ministerium stellt dafür bis 2015 knapp 18 Millionen Euro bereit, denn für die ca. 700.000 muslimischen Schüler bundesweit werden in den nächsten Jahren etwa 3000 Lehrer benötigt. Damit verfügt Deutschland innerhalb Europas über die mit weitem Abstand größte staatlich finanzierte Islamische Theologie. Diese Finanzierung wurde 2015 weiter verlängert und soll in Zukunft verstetigt werden. An sieben deutschen Universitäten lehren im Wintersemester 2019/20 bereits fünfundzwanzig muslimische Professor(innen) und sechs weitere sollen am neuen Standort in Berlin noch hinzukommen. Das deutsche Staatskirchenrecht hat es parallel zu dieser Entwicklung auch ermöglicht, dass sich eine Religion »neu gegründet« hat. Während die österreichischen Aleviten im islamischen Spektrum verblieben sind, hat sich in Deutschland der bedeutendste alevitische Verband daraus gelöst. Er positioniert das Alevitentum als unabhängige eigenständige Religion, obwohl sich drei Viertel der deutschen Aleviten laut aktueller Untersuchung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge eigentlich als Muslime sehen. Die Alevitische Gemeinde in Deutschland e. V. gab 2004 mit ihrer Schrift: »Das Alevitentum. Eine Glaubens- und Lebensgemeinschaft in Deutschland«, eine Art Gründungsurkunde heraus, in der die Grundlagen ihres Glaubens und ihre Unabhängigkeit vom Islam geschildert werden.23 Im Sommer 2005 erkannten nach Berlin auch die Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Hessen, Bayern und Baden-Württemberg das Alevitentum als eine eigenständige Glaubenslehre an, seit 2008 gibt es folgerichtig in einigen Bundesländern alevitischen Religionsunterricht.

Weitere Länder der europäischen Union In den restlichen Ländern der europäischen Union beträgt der Anteil der Muslime meist deutlich unter 3 %. Nur bei den Beneluxländern, der Schweiz und Österreich sowie Dänemark und Schweden finden sich Angaben von 4 bis 5 % Skandinavien und die Niederlande In den skandinavischen Staaten und den Niederlanden kennt man generell eine hohe Religionsfreiheit und eigentlich eine starke liberale Haltung. In diesen Ländern existiert meist die Möglichkeit, religiöse Privatschulen und Universitäten zu gründen, die vom Staat ko-finanziert werden können. In Dänemark und Schweden

23 Siehe hierzu: Andreas Gorzewski: Das Alevitentum in seinen divergierenden Verhältnisbestimmungen zum Islam, (= Bonner Islamstudien; Bd. 17), Schenefeld 2010.

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finden sich daher private islamische Schulen, die in Partnerschaft mit dem Staat betrieben werden und staatlich anerkannte Abschlüsse vergeben. In Holland entstanden schon in den 1980er Jahren über 30 islamische Privatschulen, die der Staat komplett finanzierte. 1992 beschloss man wegen dieser sprunghaften Zunahme, die Gründung von religiösen Schulen zu erschweren. Als der Mord an dem Filmemacher Theo van Gogh durch einen niederländischen Muslim im Jahr 2004 Holland erschütterte, verstärkten sich die Diskussionen, wie man die Integration gerade der jungen in Holland geborenen Muslime verbessern könne. Wie in anderen europäischen Ländern kam man darauf, die religiöse Bildung der jungen Muslime stärker in den staatlichen Kontext einzubetten. Imame und Theologen sollten auch an holländischen staatlichen Hochschulen ausgebildet und staatlich alimentiert werden. Da sich der holländische Islam aber in einen marokkanischen und einen türkischen Zweig aufteilt, gibt es nun an der Universität Leiden einen »marokkanischen« und eine »türkischen« Master für Islamische Theologie. Daneben bietet auch die private »Islamische Universität Rotterdam« Imamkurse an, deren Akzeptanz seitens des holländischen Staates noch umstritten ist. Wie in Holland sind die Mehrzahl der Muslime auch in Belgien marokkanischer und türkischer Herkunft. In Belgien erfolgte die offizielle Anerkennung des Islams im Jahre 1974, seitdem gibt es auch Islamunterricht an staatlichen Schulen. 1998 wählten belgische Muslime einen repräsentativen Rat der Muslime in Belgien (Exécutif des Musulmans en Belgique), der jedoch bei der operativen Arbeit ähnliche Probleme kennt wie das gesamte Land: Auch er teilt sich an der belgischen Sprachgrenze in eine marokkanisch-wallonische und eine türkisch-flämische Fraktion, die einander das Arbeiten schwer machen. So unterrichten die 700 Lehrer für den Islamischen Religionsunterricht in staatlichen Schulen mit unterschiedlichen franko-marokkanischen oder flämisch-türkischen Lehrplänen. Seit 2004 werden in Belgien Imame (ebenso wie christliche Geistliche) staatlich finanziert, wenn eine Moscheegemeinde nachweisen kann, über mehr als 250 Gläubige zu verfügen. Mittlerweile werden auf diese Weise die Imame von 64 belgischen Moscheen alimentiert. Sie erhalten mangels islamischer Lehrstätten in Belgien ihre Ausbildung aber nach wie vor im Ausland, was in Belgien heftig kritisiert wird. Österreich Österreich hatte bereits als habsburgischer Vielvölkerstaat im Jahre 1912 den Islam offiziell als gleichberechtigte Religion anerkannt. Lange Zeit blieb das sogenannte »Islamgesetz« inaktiv, doch mit der zunehmenden Einwanderung türkischer und bosnischer Muslime besannen sich österreichische Offizielle wieder darauf. Auf Grundlage des Gesetzes kam es 1979 durch die Kooperation des Staates mit muslimischen Persönlichkeiten zur Gründung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ). Diese fungiert seitdem als offizieller Partner des Staates und beansprucht, sämtliche Muslime in Österreich zu vertreten. Im Auftrag des österreichischen Staates und durch ihn finanziert, bildet die IGGiÖ in der Islamisch Religionspädagogischen Akademie in Wien die momentan ca. 400 Islamlehrer für den

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Islamunterricht an staatlichen Schulen aus. Von ihrem Recht, wie die katholische und evangelische Kirche eine sogenannte »Kultussteuer« zu erheben, macht die IGGiÖ keinen Gebrauch und beschränkt sich stattdessen auf einen kleinen jährlichen Mitgliedsbeitrag. Umstritten bleibt die IGGiÖ aber, weil sich viele Muslime von ihr nicht repräsentiert sehen. Offiziell anerkannt ist in Österreich nämlich seit K.-u.-K.-Zeiten die hanafitische Rechtsschule, wie sie mehrheitlich auf dem Balkan vertreten ist. In den letzten Jahren ist es zwar zu Modifikationen gekommen, aber vor allem schiitische Einwanderer folgen meist nur ungern der hanafitischen Richtung. Im Jahr 2010 erkannte der österreichische Staat die Islamisch Alevitische Glaubensgemeinschaft als eigene Bekenntnisgemeinschaft innerhalb des Islams an; demnächst wird es also islamisch-alevitischen Unterricht in den Schulen des Landes geben. Spanien Spanien hat den Islam per Vertrag mit der Islamischen Gemeinde Spaniens (Comisión Islámica de España) im November 1992 den bisherigen Konfessionen gleichgestellt, was beispielsweise Rechte bei der Ausbildung und Bezahlung von Lehrern für den islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen bedingt. Italien In Italien bildet die katholische Kirche, der über 80% der Italiener angehören, den offiziellen Ansprechpartner des Staates in Religionsfragen. Andere Religionsgemeinschaften, selbst des christlichen Spektrums wie die orthodoxe und protestantische Gemeinde, werden nachrangig behandelt. Islamische Organisationen werden bislang von staatlichen Stellen oft ignoriert. Moscheen, wie die von Saudi-Arabien bezahlte große Moschee von Rom, benötigen daher ausländische Finanzierung. Privatinitiativen von Muslimen werden blockiert. 2005 argumentierte Innenminister Giuseppe Pisanu, dass er für einen »Italienischen Islam« eintrete und islamische Privatschulen für ungeeignet auf dem Weg dahin halte. Griechenland Griechenland mit seiner orthodoxen Staatskirche ignorierte ebenfalls lange das Vorhandensein einer islamischen Gemeinde, obwohl in Nordgriechenland seit Jahrhunderten eine einheimische muslimische Minderheit lebt und sich in den letzten Jahren eine Anzahl von Muslimen rund um Athen neu ansiedelte. Lange zog sich daher die Bewilligung eines Moscheebauprojekts durch das griechische Parlament hin. Erst 2007 wurde der innenpolitische Streit beigelegt und der gesetzliche Rahmen so weit geändert, dass der Bau der Athener Moschee auf den Weg gebracht werden konnte, indem das Parlament 15 Millionen Euro an Staatsgeldern freigab.

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Im Juni 2019 erfolgte die offizielle Eröffnung. Der griechische Staat hat danach einen Vorstand und einen Imam eingestellt und im September 2019 erfolgten die ersten Gebete in der ersten Moschee in Griechenland seit dem Ende des Osmanischen Reiches.

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Ausblick

Einige zentrale Punkte bestimmen das Leben und Wirken der islamischen Diaspora im Westen. Sie führen dazu, dass sich diese so unterschiedlichen Gemeinschaften in ganz unterschiedlichen Kontexten doch in gewissen Schnittmengen zusammenfinden. Dies geschieht bisher aber vor allem über negative Zuschreibungen und Ereignisse. An erster Linie stehen hier Terroranschläge und die Frage des islamistischen Extremismus. Und obwohl die gewaltbereiten Extremisten maximal nur 1 % der islamischen Diaspora ausmachen und de facto bedeutungslos für das aktuelle Gemeindeleben der islamischen Diaspora sind, bestimmen sie doch als Negativfolie oft den Diskurs. Sei es, weil Mehrheitsgesellschaften die Extremisten als pars pro toto für alle Muslime ansehen oder sei es, weil Angehörige der islamischen Diaspora andauernd aufgefordert werden, sich von Terrorakten oder undemokratischen Regelungen in islamischen Ländern zu distanzieren, für die sie keinerlei Verantwortung tragen. Umgekehrt fehlt den aktiven Muslimen die Anerkennung dafür, was sie für die spirituelle und soziale Versorgung ihrer Gemeindemitglieder leisten, dazu gehören auch zahlreiche Projekte zur Gewaltprävention. Hier wäre ein gemeinsames Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Gruppen gegen den Extremismus vermutlich sinnvoller, als die Verantwortung nur der islamischen Diaspora zuzuschieben. Innerhalb der Extremisten liegt zudem der Anteil der Konvertiten deutlich höher, als in der islamischen Diaspora, wo man von ca. 2 % der Gläubigen ausgeht. Die eigentliche Frage sollte also lauten, wieso verlieren westliche Gesellschaften Menschen an den gewaltbereiten Extremismus und was sollte man gemeinsam dagegen tun. Diese jungen Menschen haben sich von der Welt abgewandt. Sie sind vom Westen, ihren Herkunftsländern, aber auch von ihren Eltern enttäuscht und suchen einen eigenen modern-archaischen Islam mit einfachen Schwarz-Weiß Lösungen, der ihre Gewaltbereitschaft legitimiert. Ein anderer Hauptdebattenpunkt, der westliche Gesellschaften noch dauerhaft beschäftigen wird, sind die Fragen um das Frauenbild in der islamischen Diaspora, das als rückwärtsgewandt und patriarchalisch eingeschätzt wird. Daher wird auch die Kopftuchfrage weiterhin eine große Rolle spielen, weil sie wie das Minarett ein islamisches Zeichen darstellt, das neu im öffentlichen Raum auftaucht und die Mehrheit zwingt, diesen für die Einwanderer freizumachen. Auch hier gilt es aber die Gesamtheit der islamischen Diaspora in den Blick zu nehmen, denn hier ist die Tendenz zu spüren, nur die kopftuchtragenden Frauen als Musliminnen wahrzunehmen und dieses Verhalten dann auf den Rest der islamischen Frauen zu übertragen, obwohl die kein Kopftuch tragen. Eine Studie des Exzellenzclusters »Religion und Politik« der Universität Münster hat 2016 herausge-

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arbeitet, dass unter türkeistämmigen Frauen das Tragen des Kopftuches innerhalb von einer Generation von 40% auf 20 % zurückgegangen ist. Auch in anderen Ländern des Westens sind ähnliche Phänomene zu beobachten. Das Kopftuchtragen nimmt in der zweiten und dritten Generation deutlich ab und wird auch theologisch in die Umgebung neu eingeordnet. Diese Entwicklung kann auch auf andere Lebensbereiche der islamischen Diaspora übertragen werden. Das Leben im Westen und das Aufwachsen hier verändert die Einstellung des Zusammenlebens der Geschlechter deutlich. Frauen mit oder ohne Kopftuch nehmen eine deutlich größere Rolle in den islamischen Gemeinden ein, als noch vor 20 Jahren. Unterstützt wird dies heutzutage auch von den Männern der Gemeinde. Aus eigener Erfahrung kann der Autor dieser Zeilen aber berichten, dass die statistisch nachweisbaren Zahlen zum Rückgang des Kopftuchtragens und des Self-Empowerments islamischer Frauen von vielen Vertretern der Mehrheitsgesellschaft als unwahr abgetan werden, weil sie nicht bereit sind, ihren negativen Erwartungshorizont ziehen zu lassen. In der erwähnten Studie findet sich aber auch ein bemerkenswertes Paradox. So bezeichnen sich mehr Angehörige der zweiten und dritten Generation als religiös als noch bei ihren Eltern, wobei sie aber gleichzeitig deutlich weniger beten und die Moschee besuchen als die Elterngeneration. Die Vermutung wäre, dass hier in der islamischen Diaspora eine Verschiebung vom Islam als gelebte Religion hin zum Islam als »Identität« stattgefunden hat. Da man den Islam in der Fremdbeschreibung ohnehin nicht los wird, kann man sich auch gleich deutlich stärker öffentlich dazu bekennen. Eine tatsächliche Glaubensausübung wird von der Mehrheitsgesellschaft nicht überprüft, sondern nur unterstellt, also muss man sie auch nicht ausüben. Auch andere Aspekte der islamischen Diaspora sind im Fluss und dabei sich neu zu justieren. Zu vermuten wäre in Zukunft eine weniger konservativere Ausrichtung vieler islamischer Gemeinden und auch Kooperationen mit Gruppierungen, die in Ländern der islamischen Mehrheitsgesellschaft niemals mit ihnen in Kontakt treten würden. Durch die Unabhängigkeit von islamischen Theologen an theologischen Schulen und Universitäten im Westen besteht auch die Möglichkeit, dass neue theologische Impulse entstehen werden und ein neuer Blick auf die Quellen geworfen wird. Ansätze erkennt man beispielsweise schon in der deutschen Situation, in der das Buch »Gott ist Barmherzigkeit« des Münsteraner Theologen Mouhanad Khorchide kontroverse Diskussionen mit den islamischen Verbänden in Deutschland nach sich gezogen hat, die ihn kritisierten, er wolle das islamische Gottesbild umformen. Sie wollten den strafenden Gott, für den es im Koran auch Belege gibt, gerne auch noch thematisieren können. Wie eben dargestellt gibt es genügend Beispiele, die zeigen, dass es sich bei der islamischen Diaspora im Westen um eine Gruppe von höchst unterschiedlichen Menschen handelt, deren Glaubensinhalte und Glaubenspraxis in einem konstanten Prozess der Neubewertung ist und die in diesen Diskussionen eigentlich eher der Unterstützung der Mehrheitsgesellschaft bedarf, als des manchmal auch von staatlichen Stellen wehenden Gegenwindes. Gemeinsamer Nenner aller Gruppen muss aber sein, gewalttätigen Extremismus in jeder Form auszugrenzen.

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Zum Abschluss sollen noch ein paar Gedanken dazu folgen, ob es einen speziellen westlichen Islam gibt oder ob sich ein solcher geprägt von den Werten der Aufklärung und Toleranz, die sich in westlichen Gesellschaften nach dem zweiten Weltkrieg erfreulicherweise dauerhaft etabliert haben, in Zukunft ausbilden wird. Dies ist an erster Stelle eine Frage, die Muslime zu beantworten haben, denn es ist ihr Islam. Aber man sieht an vielen Stellen, dass das Leben in der westlichen Diaspora den Blick auf die eigene Religion sehr stark beeinflusst hat. Muslimen vorzuschreiben, wie sie ihre eigene Religion zu leben haben, ist dabei nicht hilfreich. Was es aber nicht geben wird, sind Konstrukte wie ein »europäischer Islam« oder ein »nordamerikanischer Islam«. Da der Westen Religion in erster Linie nationalstaatlich organisiert, werden Homogenisierungsprozesse immer nur innerhalb eines Landes stattfinden, so wird man am ehesten noch so etwas wie einen deutschen Islam sehen, der sich dann einem französischen gegenübersieht. Wenn man dann aber tiefer schaut, wird man erkennen, wie solche nationalen Islame sich wieder in unzählige institutionell und individuell verschiedene Stränge aufteilen werden. So ist er, der Islam im Westen.

Literatur zum Weiterlesen Jocelyne Cesari, The Oxford Handbook of European Islam (Oxford Handbooks in Religion and Theology), Oxford 2014. Jonathan Curiel, Islam in America, London 2015. Jorgen Nielsen/ Jonas Otterbeck, Muslims in Western Europe. Edinburgh 2015. Frank Peter/ Rafael Ortega (Hgg), Islamic Movements of Europe (Library of European Studies), London 2014. Mathias Rohe, Der Islam in Deutschland: Eine Bestandsaufnahme, München 2018. Riem Spielhaus, Wer ist hier Muslim?: Die Entwicklung eines islamischen Bewusstseins in Deutschland zwischen Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung, Würzburg 2011. Routledge Handbook of Islam in the West, hrsg. von Roberto Tottoli, London 2018. Egdunas Racius/ Jörn Thielmann/Niels Valdemar Vinding (Hgg.), Exploring the Multitude of Muslims in Europe: Essays in Honour of Jørgen S. Nielsen (Muslim Minorities, Band 27), Leiden 2018.

Nichtislamische Religionen in der Welt des Islam Manfred Hutter

Der Titel des Beitrags erfordert eine thematische Einschränkung sowohl hinsichtlich der Religionen als auch der geographischen Verbreitung des Islam. Daher werden nur folgende Religionen berücksichtigt: In geographischer Hinsicht beschränkt sich die Darstellung auf Ägypten, Irak, Iran und Libanon, woraus sich auch eine Einschränkung auf dort verbreitete Religionen ergibt, d. h. auf Christentum, Judentum, Mandäismus, Yezidentum und Zoroastrismus. In allen vier Ländern haben diese Religionen quantitativ, ethnisch und kulturell in unterschiedlicher Weise die Gesellschaft jeweils mitgestaltet. Dadurch zeigen sich unterschiedliche Positionen »des« Islam hinsichtlich dieser Religionen, die teilweise schon zu Lebzeiten Muhammads im Blickfeld des Koran standen, in anderen Fällen erst durch die Verbreitung des Islam die Fragen nach dem Umgang mit ihnen aufgeworfen haben. Auch wenn sich der Beitrag auf die Situation des Verhältnisses des Islam zu nichtislamischen Religionen in der Gegenwart beschränkt, so reichen theologische Begründungen weit in die Tradition bis zum Koran zurück. Mit dem Aufkommen des Nationalismus und der Politik der Nationalstaaten im 20. und 21. Jahrhundert hat sich die klassische Situation jedoch verändert, woraus sich Neubestimmungen des Verhältnisses von Staat, Islam und nichtislamisch-religiösen sowie meist auch ethnischen Minderheiten ergeben haben. Beginnend mit der »Religionstheologie des Islam« und der Rolle des Nationalismus als zwei grundlegenden Kapiteln ist danach anhand von vier »Länderprofilen« die jeweils konkrete Situation der Religionen zu behandeln, bevor ein Resümee den Beitrag abschließt.

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Einige Eckpunkte zum Umgang des Islam mit anderen Religionen

Grundsätzlich versteht sich der Islam als eine für alle Menschen gültige Religion und damit verbundene Rechtsordnung. Eine Diskriminierung aus ethnischen Gründen, aufgrund von Herkunft oder Geschlecht ist daher religiös nicht begründbar. Die Grundlagen eines solchen Verständnisses anderer Religionen aus islamischer Perspektive sind auf zwei Stränge festzulegen: Ausgehend von Sure 2:256f. wird häufig betont, dass eine Zwangsbekehrung oder die Androhung von physischer Gewalt gegenüber Andersgläubigen verboten ist, weil Gott erst im jüngsten Gericht sein Urteil über Nichtmuslime fällen wird. Ferner rechnet Sure 109:6 (vgl. u. a. 5:19.48; 14:4; 35:24) damit, dass es mehrere Religionen gibt, so dass Anhängern

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nichtislamischer Religionen eine (eingeschränkte) Kultausübung erlaubt wird (Sure 9:29). Diese Akzeptanz des frühen Islam betrifft lediglich die so genannten »Schriftbesitzer« (ahl al-kitāb; Sure 2:136), zu denen zunächst Juden, Christen und Sabier, später auch Zoroastrier gezählt werden. Ebenfalls ist zu erwähnen, dass z. B. die späte medinische Sure 5:82 zwischen Juden, Polytheisten und Christen insofern einen Unterschied in der Bewertung macht, als letztere positiver gesehen werden, weil sich eventuell bereits Christen dem Islam angeschlossen hatten.1 Die scharfe Ablehnung der so genannten Polytheisten (mušrikūn), die dem einen Gott »andere Götter beigesellen« (vgl. Sure 4:48.116), wird an mehreren Stellen formuliert. Somit zeigen solche Koranstellen, dass es in Fragen des Umgangs mit Nichtmuslimen nicht möglich ist, aus dem Koran nur eine einzige Regelung des Verhältnisses zu ihnen abzuleiten.2 Dadurch eröffnet(e) sich für islamische Religionsgelehrte im Laufe der Geschichte immer eine Bandbreite von Möglichkeiten exklusivistischer und abgestufter pluralistischer Interpretationen des Umgangs mit Religionen. Ein frühes historisches und wirkungsvolles Instrument war dabei der so genannte cUmar-Vertrag, auch wenn er wahrscheinlich nicht unter dem namengebenden Kalifen erstellt wurde, sondern Verhältnisse von Toleranz und Intoleranz aus späterer Zeit in die Anfänge des Islam rückdatierte. Dennoch waren dadurch für die vormoderne islamische Geschichte Richtlinien festgelegt, die den »Schutzbefohlenen« (dimmī) unter der Auflage der Bezahlung einer Individualsteuer (ğizya) die freie Ausübung ihrer Religion ermöglichten. Zunächst betraf diese Regelung nur Juden und Christen, wurde aber im Laufe der islamischen Zeit auch auf andere Nichtmuslime angewandt – in unterschiedlicher Weise in den verschiedenen Rechtsschulen der Sunniten sowie Schiiten. Letztere hielten Andersgläubige häufig für »unrein«, was zu stärkeren gesellschaftlichen Ausschließungsprozessen von Nichtmuslimen führte, als dies beispielsweise in der sunnitischen Rechtsposition der Hanafiten und im Osmanischen Reich mit dem so genannten Millet-System der Fall war. Letzteres gab manchen nichtmuslimischen Gemeinden eine eigenständige ethnoreligiöse Akzeptanz, die sich teilweise bis heute in Ägypten, Irak und Libanon auf deren Stellung auswirkt. Solche mit der Rechts- und Theologiegeschichte verbundenen Vorstellungen wirken sich auch auf die Verfassungen der verschiedenen Länder mit einer stark muslimisch geprägten Gesellschaft aus, wenn es um die Regelung der Religionsfreiheit und des Umgangs mit religiösen Minderheiten geht. In fast allen solchen Staaten spielt dabei der Islam eine prägende Rolle für grundlegende verfassungsbedingte Aspekte der Gesellschaft.

1 Pink, Johanna: Islam und Nichtmuslime, in: Rainer Brunner (Hrsg): Islam. Einheit und Vielfalt einer Weltreligion, Stuttgart 2016, 481–500, hier 483. 2 Pink 2016, 486. Zum Umgang des frühen Islam mit anderen Religionen vgl. z. B. auch Waardenburg, Jacques: Muslims and Others. Relations in Context, Berlin 2003, 87–109 sowie SchmidtLeukel, Perry: Wahrheit in Vielfalt. Vom religiösen Pluralismus zur interreligiösen Theologie, Gütersloh 2019, 77–86, der besonders die verschiedenen Möglichkeiten eines islamischen theologischen Pluralismus diskutiert.

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Diese Verbindung von Religionsfreiheit, islamischem Recht und Menschenrechten ist dabei ebenfalls ein Aspekt, der im vorliegenden Zusammenhang wenigstens kurz erwähnt werden muss.3 Seit vier Jahrzehnten haben unterschiedliche islamische Einrichtungen Stellungnahmen in Bezug auf Menschenrechte veröffentlicht, erstmals die 1981 vom Islamrat für Europa erstellte »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam«. Charakteristisch für solche Stellungnahmen ist die Betonung des Islam und der Scharia als Bewertungsmaßstab für Menschenrechte, was jedoch Rechte für Nichtmuslime einschränkt. Erst in der überarbeiteten Fassung der »Arabischen Menschenrechtscharta« durch die 22 Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga wurde dabei die Rolle der Scharia insofern etwas relativiert, als die Charta betont, dass auch die Vorstellungen der anderen offenbarten Religionen in der Toleranz zu berücksichtigen seien. Diese Charta ist – nach der Ratifizierung durch sieben Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga – im Jahr 2008 in Kraft getreten und wurde inzwischen von weiteren arabischen Staaten ratifiziert. Dennoch muss hinsichtlich der Religionsfreiheit einschränkend betont werden, dass diese weiterhin nur innerhalb eines engen Rahmens gegeben ist, indem sie nur auf die »Buchreligionen« angewandt wird und durch staatliche Gesetze zugunsten der islamischen Gemeinschaft eingeschränkt werden kann. Daher ist die Arabische Menschenrechtscharta zwar ein wichtiger Text zugunsten nichtmuslimischer Religionen in arabischen Staaten, allerdings gewährleistet sie weder die Umsetzung von Religionsfreiheit noch verhindert sie, dass durch staatliche Gesetze Nichtmuslime in ihrer religiösen Praxis beschränkt werden (können).

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Nationalismus und Umgang mit nichtmuslimischen Religionen

Als Gegenströmung zu europäischen Expansionsbestrebungen im Laufe des 19. Jahrhunderts in den Bereich des Nahen Ostens entstand in den dortigen islamischen Gesellschaften nationalistisches Gedankengut, das gegen den angestrebten Einfluss des »Westens« gerichtet war. Dies war im Qāğāren-Reich besonders gegenüber England und Russland der Fall, innerhalb des ethnisch vielfältigen Osmanischen Reiches zusätzlich durch Bewegungen, die diese flächendeckende Herrschaft über weite Teile des Orients in Frage stellten und politische Selbstständigkeit als ethnisch definierte Staaten anstrebten – Prozesse, die als Folge des Ersten Weltkriegs und des Zusammenbruches des Osmanischen Reiches schrittweise in die politische Unabhängigkeit für die Türkei, Ägypten, Irak, Syrien und Libanon führten. Dabei wurde dieser aufkommende Nationalismus – zunächst in unterschiedlicher Dichte – mit dem sunnitischen bzw. schiitischen Islam (und im Libanon – in einer Sonderstellung – 3 Vgl. für einen Überblick zu diesen islamischen Menschenrechtsdokumenten Wittinger, Michaela: Christentum, Islam, Recht und Menschenrechte. Spannungsfelder und Lösungen, Wiesbaden 2008, 56–70; Knüppel, Katharina: Religionsfreiheit und Apostasie in islamisch geprägten Staaten, Frankfurt 2010, 176–194.

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zusätzlich auch mit dem maronitischen Christentum) als kulturelle Basis kombiniert. Daraus resultiert aber zugleich eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Islam, nichtmuslimischen Religionen und Staatsbürgerschaft.4 Im Rahmen dieses politischen Nationalismus gerieten Angehörige nichtmuslimischer Religionen in einen »Legitimierungszwang«, ihre loyale nationale Gesinnung unter Beweis zu stellen, was im bisherigen dimmī-Modell nicht notwendig war. Die daraus resultierende Konsequenz im Umgang mit nichtmuslimischen Religionen kann man mit der Frage zusammenfassen, wie viel »Islam« im jeweiligen Staat als ein Definitionsmerkmal des Staates vorhanden ist. Die darauf möglichen Antworten betreffen im Allgemeinen zunächst die Stellung von Nichtmuslimen als gleichberechtigte bzw. untergeordnete Bürger eines Staates mit gegebenenfalls eingeschränkten Rechten. Genauso resultiert daraus die Exklusion einzelner ethnisch-religiöser Gruppen aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben, was bis zur Verfolgung bzw. Flucht von Angehörigen solcher religiösen Gemeinschaften führt – beispielsweise der Griechen und Armenier in der entstehenden Türkei in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts oder der Verfolgung von Bahā’ī im Iran. Aber auch die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 ist im Lichte eines religiösen Nationalismus zu betrachten, da dieser Staat einerseits die Einwanderung (caliyā) von Juden aus muslimischen Ländern des Nahen Ostens ermöglicht, andererseits die in diesen Ländern – in geringer Zahl – zurückgebliebenen Juden als potenzielle »Parteigänger« oder (zionistische) Sympathisanten im islamisch-nationalistisch gefärbten politischen Diskurs an den Rand der Gesellschaft bringt. Da der Nationalismus auch eine – zumindest latente – antiwestliche Komponente besaß, konnte er sich aber auch auf Christen in den einzelnen Ländern nachteilig auswirken, indem diese als »Handlanger« des Westens – und damit im staatlichen Diskurs als unzuverlässig – bewertet wurden. Der Status von Nichtmuslimen als dimmīs ist durch den aufkommenden Nationalismus geschwunden, was mit der wachsenden Einflussnahme islamischer Werte und Normen aber auch die gesellschaftliche Position dieser Religionen mindert. Im Einzelnen soll dies beispielhaft an vier Ländern gezeigt werden.

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Arabische Republik Ägypten

Die aktuelle Einwohnerzahl Ägyptens beträgt rund 99,5 Millionen, von denen etwa 90 Prozent sunnitische Muslime sind. Statistisch unbedeutend sind andere muslimische Richtungen wie Schiiten oder Aḥmadiyya-Muslime, wobei jedoch aus schiitischen Kreisen betont wird, dass rund 1% der Bevölkerung des Staates Schiiten sind. Obwohl das Judentum seit der Antike in Ägypten verbreitet war, leben aktuell wahrscheinlich weniger als 50 Juden in der ägyptischen Republik. So lebten 1947 noch rund 75.000 Juden in Ägypten, doch nach der Gründung des Staates Israel und den daraus folgenden Spannungen und militärischen Auseinandersetzungen 4 Vgl. Pink 2016, 495–498 für die Veränderungen bzw. Wechselwirkungen zwischen dimma und Staatsbürgerschaft im 19. und 20. Jahrhundert sowie Knüppel 2010, 288–293.

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zwischen den beiden Staaten sind viele nach Israel ausgewandert bzw. wurden vertrieben.5 Die wenigen nach dem Friedensschluss zwischen Ägypten und Israel 1979 noch im Land lebenden Juden können jedoch seither ihre Religion praktizieren. Rund 10 Prozent (andere Angaben nennen höhere Werte) der ägyptischen Bevölkerung sind Christen, in der überwältigenden Mehrheit Angehörige der KoptischOrthodoxen Kirche. Auch Gläubige anderer so genannter altorientalischer Kirchen haben Gemeinden, so die Armenisch-Apostolische (ca. 15.000) und die Syrisch-Orthodoxe Kirche (ca. 500). Zahlenmäßig wichtiger sind die 200.000 Gläubigen der Griechisch-Orthodoxen Kirche von Alexandria. Die Koptisch-Evangelische Kirche mit etwa 300.000 Personen, die Römisch-Katholische Kirche mit rund 50.000 Angehörigen sowie weitere orientalische mit der katholischen Kirche unierte Kirchen (z. B. die große Koptisch-Katholische Kirche mit rund 165.000 Mitgliedern) tragen zur konfessionellen Vielfalt des Christentums bei. Erwähnenswert sind auch die – seit 1960 – offiziell verbotene Kirche von Jehovas Zeugen (15.000) und SiebentenTags-Adventisten mit weniger als 1.000 aktiven Mitgliedern. Die Verfassung der Arabischen Republik Ägypten6 vom Jahr 2014, die die aus dem Jahr 1971 stammende Verfassung ablöste, definiert den Islam als Religion des Staates und die Scharia als prinzipielle Grundlage der Rechtsprechung (Art. 2). Christentum und Judentum werden in Art. 3 mit einer auf ihrer eigenen »Scharia« fußenden Rechtsprechung in Bezug auf Personenstandsrecht, religiöse Angelegenheiten und die Wahl religiöser Führer genannt. Religionsfreiheit und die Errichtung von Kultstätten sind in Art. 64 garantiert – allerdings nur für die offenbarten Religionen, was im Blick auf Art. 2 und 3 Religionsfreiheit auf die drei dort genannten monotheistischen Religionen reduziert. Für die rechtliche Praxis bedeutet dies jedoch, dass alle Ägypter sich theoretisch einer dieser drei Religionen zuordnen müssen, so etwa Jehovas Zeugen zum Christentum. Für Judentum und Christentum eröffnet diese Verfassung größere Autonomie als in den vergangenen Jahr(zehnt)en, andere Nichtmuslime werden jedoch nicht anerkannt, was innerhalb der Religionsdemographie des Landes v. a. Bahā’ī betrifft; weitere »nichtmuslimische« Religionen sind unter Ägyptern nicht vorhanden. Positiv zu bemerken ist, dass ein früherer Verfassungsartikel, der die Beleidigung Muhammads oder anderer Propheten verboten hat, 2014 nicht mehr beibehalten wurde. Welche Konsequenzen ergeben sich aufgrund dieser Basis für den direkten Umgang mit nichtmuslimischen Religionen, d. h. konkret für Juden und Christen?7 Auf-

5 Dass der Krieg zwischen Israel und Ägypten im Jahr 1967 auch Auswirkungen auf die Christen hatte, zeigt Raheb, Mitri: Die Geschichte des Christentums im Nahen Osten zwischen 1917 und 2017, in: Schjørring, Jens H./Hjelm, Norman A./Ward, Kevin (Hrsg.): Geschichte des globalen Christentums. Teil 3: 20. Jahrhundert, Stuttgart 2018, 577–608, hier 597–599. 6 Vgl. Müller, Hannelore: Religionen im Nahen Osten 2: Türkei, Ägypten, Saudi-Arabien, Wiesbaden 2015, 213–225. 7 Um den Beitrag nicht mit einzelnen Fußnoten zu überladen, sei hier – wie in den folgenden Abschnitten – lediglich auf grundlegende und detailreiche aktuelle Literatur verwiesen: Müller 2015: 254–314 bietet einen Überblick zur geschichtlichen Entwicklung von Kopten und Juden in Ägypten, wobei sie ein besonderes Augenmerk auf die Verflechtungen mit

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grund der geringen Zahl von Juden seit einigen Jahrzehnten ist diese – praktisch auf Kairo beschränkte – Religion von muslimischer Seite kaum kultischen Beschränkungen unterworfen; die geringe Anzahl verhindert aber oft ein aktives religiöses Leben, wobei hervorzuheben ist, dass jüdische Frauen sich stärker als Männer um die Weiterexistenz der Religion im islamischen Umfeld bemühen. Aus öffentlicher Perspektive gerät das Judentum durch anti-semitische Äußerungen und Aktivitäten jedoch unter Druck, wenn Medien, aber auch akademische Kreise anti-jüdische Stereotypen verbreiten, denen zufolge die Juden in 50 Jahren die ägyptische Wirtschaft dominieren würden, oder wenn behauptet wird, die Aggressionspolitik Israels sei genetisch in Juden verankert. Diese gesellschaftliche Stimmung, die sich trotz des Friedensschlusses von 1979 mehr gegen den Staat Israel als gegen die Juden Ägyptens richtet, beeinträchtigt aber die Zukunftsperspektiven der noch wenigen Juden dort. Das Verhältnis der Muslime zu den Christen muss differenziert gesehen werden. Aufgrund der allgemeinen gesetzlichen Situation ist zunächst zu betonen, dass – nach dem arabischen Frühling und dem Sturz von Präsident Mursi durch das Militär – die politischen Autoritäten versuchen, die Rechte der Christen zu schützen, um dadurch muslimischen radikalen Gruppen zu verdeutlichen, dass deren exklusivistische Islaminterpretation, die Andersdenkenden keinen Raum lässt, politisch nicht akzeptiert wird. Dadurch funktioniert auf einer offiziellen Ebene in den letzten Jahren die Zusammenarbeit zwischen hochrangigen muslimischen Vertretern aus dem Bereich der al-Azhar-Universität als islamisch-theologisches Zentrum, der koptischen Kirchenführung und dem staatlichen Büro für Religionsangelegenheiten besser als während der Präsidentschaft von Anwar as-Sadat und den Anfangsjahren von Präsident Mubarak. Das 2011 gegründete »Haus der ägyptischen Familie« als interreligiöse Initiative, deren Vorsitz abwechselnd der Scheich der al-Azhar-Universität und der koptische Papst (seit 2012 Tawadros II.) innehaben, ist dafür ein symbolträchtiger Ausdruck. Zugleich zeigt diese Kooperation, dass sich Kopten, die sich als die »echten« Ägypter verstehen, leichter in nationalistisches Denken einordnen können, als dies bei Christen in anderen Ländern der Fall ist. Dieser aktuell positiven politischen Zusammenarbeit stehen aber gesellschaftliche Widerstände entgegen, die durch Vertreter der Muslimbruderschaft sowie durch unterschiedliche islamistische Gruppierungen eine prekäre Situation für Christen schaffen. Denn die politische Zusammenarbeit der Christen mit dem Staat wird von ihnen als Ver-

der jeweiligen politischen Situation legt. Oehring, Otmar: Religionsfreiheit Ägypten, 2. aktualisierte Aufl., hrsg. vom Internationalen Katholischen Missionswerk missio e.V., Aachen 2013 fokussiert bei seiner Darstellung auf die Gewährung bzw. Einschränkung von Religionsfreiheit, wobei er dies anhand konkreter Beispiele illustriert. Für aktuelle Fälle der Einschränkung von Religionsfreiheit siehe auch den jährlich vom US State Department herausgegebenen »International Religious Freedom Report«, für 2018 siehe https://www.state.gov/ reports/2018-report-on-international-religious-freedom/egypt/ (Stand: 16.12.2019); die Webseite ermöglicht auch den Zugriff auf die Berichte früherer Jahre. Zur Situation der Christen siehe ferner Vogt, Matthias: Christen im Nahen Osten. Zwischen Martyrium und Exodus, Darmstadt 2019, bes. 429–450.

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such gedeutet, dass Christen den ägyptischen Staat nicht nur schwächen wollen, sondern auch einen eigenen koptischen Staat errichtet möchten. Dadurch fördern solche muslimischen Kreise eine breite antichristliche Stimmung, die immer wieder zu Gewalttaten gegen Christen führt. Beispiele der jüngsten Zeit sind etwa Bombenanschläge auf Kirchen in Kairo, Alexandria und Tanta in den Jahren 2016 und 2017 mit mehr als 80 Todesopfern. Ermordung von Christen oder Überfälle auf Christen durch radikale Muslime sowie Versuche, Kirchen zu demolieren, sind weitere Zeugnisse solcher anti-christlicher Aktionen. Die Strafverfolgung geschieht dabei nicht immer mit letzter Konsequenz. Solche Beispiele illustrieren – trotz rechtlich zugesicherter Religionsfreiheit – die zunehmende Marginalisierung der Christen, was sich auch in den bis zu 15.000 Konversionen von Christen zum Islam jährlich widerspiegelt. In vielen Fällen liegt der Konversion die Motivation zugrunde, dadurch eine bessere gesellschaftliche und wirtschaftliche Basis für ein würdiges Leben zu finden.

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Republik Irak

Der Irak hat derzeit 40 Millionen Einwohner. Davon sind 97% Muslime, von denen bis zu 60% Schiiten und etwa 40% Sunniten sind, wobei fast alle muslimischen Kurden im Irak dem sunnitischen Islam angehören. Solche religiösen und ethnischen Differenzierungen sind auch bei den Beziehungen zwischen Islam und nichtmuslimischen Minderheiten zu beachten. Kaum noch sichtbar ist die Präsenz der inzwischen wohl kaum mehr als 20 Personen zählenden, jedoch bis Mitte des 20. Jahrhunderts blühenden jüdischen Gemeinde im Irak. Konfessionell äußerst vielfältig stellt sich das Christentum dar, wobei als genuin mit dem Irak verbundene Kirchen die Apostolische Kirche des Ostens (Assyrische Kirche) sowie die Chaldäisch-Katholische Kirche zu nennen sind; erstere mit rund 50.000 Gläubigen noch im Irak vertreten, letztere mit etwa 250.000. Die Hauptsiedlungsgebiete dieser Christen liegen vor allem in der Ninive-Ebene. In beiden Fällen ist aber unübersehbar, dass zwischen dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 und der Gegenwart ein massiver Mitgliederschwund zu verzeichnen ist, da sich aufgrund von Auswanderung und Flucht wegen der unstabilen Situation des Landes seit damals die Zahl der Angehörigen beider Kirchen jeweils mindestens halbiert hat. Zum katholischen Spektrum Iraks gehören ferner die Syrisch-Katholische Kirche (40.000) sowie die ArmenischKatholische Kirche und die Römisch-Katholische Kirche. Auch von diesen Kirchen haben nach 2003 sehr viele Mitglieder den Irak verlassen. Im ersteren Fall haben viele ethnische Armenier in der politischen Unsicherheit keine Zukunft mehr gesehen, im Fall der Römisch-Katholischen Kirche bestand ein Großteil der Gläubigen im Irak immer aus Ausländern, die wegen der bürgerkriegsartigen Situation bzw. der Kampfhandlungen im Land während der letzten Jahrzehnte in ihre Heimatländer zurückgekehrt sind. Die drittgrößte Religion Iraks sind die Yeziden im Kurdengebiet Nordiraks (ca. 1% der Bevölkerung). Ebenfalls auf Kurden beschränkt ist die Religion der Kākā’ī (auch als Ahl-e Haqq bzw. im Iran als Yāresān bezeichnet), die gewisse Glaubensvorstellungen mit den Yeziden teilen. Die Zahl der Angehörigen

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dieser Religionsgemeinschaft liegt zwischen 100.000 und 150.000. Eine Besonderheit der religiösen Demographie Iraks (und Irans) stellen die Mandäer dar, von denen bis in die späten 1970er Jahre rund 60.000 bis 70.000 ursprünglich im Süden des Landes lebten: Aufgrund des Krieges des Irak mit dem Iran (1980–1988) und den danach folgenden westlichen Militärinterventionen haben etwa 90% der Mandäer das Land verlassen, so dass nach seriösen Schätzungen heute nur noch mehrere Tausend Angehörige der Religion – fast alle als Binnenflüchtlinge in der Autonomen Region Kurdistan – leben. Ein rezenter, auf die Autonome Region Kurdistan beschränkter Trend ist die Konversion von v. a. kurdischen Muslimen zum Zoroastrismus, ohne dass hierzu verlässliche Zahlen benannt werden könnten. Zur religiösen Demographie gehören auch die maximal 2.000 Bahā’ī. Die aktuelle Verfassung8 des Irak wurde im Jahr 2005 durch einen Volksentscheid angenommen. Art. 2 (1) nennt den Islam als offizielle Religion des Staates und Art. 2 (2) garantiert der Bevölkerungsmehrheit die Bewahrung ihrer islamischen Identität sowie volle Religionsfreiheit für Christen, Yeziden und Mandäer. Ebenfalls erwähnenswert ist Art. 43A, in dem ausdrücklich auch die Durchführung schiitischer religiöser Zeremonien genannt wird. Vergleicht man diese Verfassung mit der älteren aus dem Jahr 1990, so ist als Neuerung zugunsten der religiösen Pluralität die Nennung von Christen, Mandäern, Yeziden und Schiiten zu konstatieren, da in Art. 25 der Verfassung von 1990 nur vom allgemeinen Recht auf Religionsausübung die Rede war, ohne einzelne Religionen zu benennen. Anders stellt sich die rechtliche Situation in der Autonomen Kurdischen Region dar, deren Regionalparlament im Jahr 2009 eine eigene Verfassung beschlossen hat. Bezüglich der Religionen unterscheidet sich die regionale Verfassung insofern vom übrigen Irak, als der Islam nicht als offizielle Religion genannt ist und neben dem Islam sieben weitere Religionen offiziell registriert sind: Christen, Yeziden, Juden, Mandäer, Zoroastrier, Yāresān (Kākā’ī) und Bahā’ī. Die Umsetzung dieser verfassungsmäßig verbrieften Religionsfreiheit ist aber nur teilweise gelungen. Die Situation in der kurdischen Region ist jedoch deutlich günstiger als in Zentral- und Südirak, sowohl in Bezug auf die allgemeine Sicherheitslage als auch auf den rechtlich besseren Status verschiedener Religionsgemeinschaften: Denn die in Kurdistan anerkannten Zoroastrier9, Yāresān und Bahā’ī haben im restlichen Irak diesen Status nicht und die Zugehörigkeit zur Bahā’ī-Religion ist dort auch unter Strafe gestellt. Dies führt bis zur Gegenwart auch zur Binnenmigration von nichtmuslimischen Minderheiten in den kurdischen Raum.

8 Vgl. Müller, Hannelore: Religionen im Nahen Osten 1: Irak, Jordanien, Syrien, Libanon, Wiesbaden 2009, 53–57. – Zur Verfassung und weiteren Hinweisen siehe auch den »International Religious Freedom Report« (https://www.state.gov/reports/2018-report-on-international-religi ous-freedom/iraq/, Stand: 16.12.2019). 9 Vgl. dazu Barber, Matthew Travis: Kurdish Zoroastrians. An Emerging Minority in Iraq, in: Sevdeen, Bayar M./Schmidinger, Thomas (Hg.): Beyond ISIS. History and Future of Minorities in Iraq, London 2019, 229–236; Hutter, Manfred: Iranische Religionen. Zoroastrismus, Yezidentum, Bahā’ītum, Berlin 2019, 44.

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Blickt man wiederum auf die Situation einzelner Religionen, so ist hinsichtlich des Judentums10 zu sagen, dass die wenigen Juden in Bagdad durch die anti-semitische Rhetorik sowohl muslimischer als auch christlicher Religionsführer in Sorge sind. Auch gibt es Übergriffe auf den jüdischen Friedhof in Sadr City, einem schiitisch dominierten Stadtteil von Bagdad, die jedoch von der jüdischen Bevölkerung nicht weiter bei den Behörden angezeigt werden, um nicht zusätzlich Aufmerksamkeit zu erregen und dadurch eventuell weitere Zerstörungen hervorzurufen. Aus dem Irak stammende Juden in Westeuropa bzw. den Vereinigten Staaten von Amerika bemühen sich seit rund einem Jahrzehnt um finanzielle Entschädigungen für ursprünglich jüdischen Besitz im Irak, bislang weitgehend erfolglos. Etwas günstiger stellt sich die Situation für die »kurdischen Juden« dar, zumal Israel das kurdische Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2017 unterstützt hat. Dieses hat die Zentralregierung in Bagdad jedoch abgelehnt, wodurch Juden im irakischen Gebiet sowie in der Autonomen Region Kurdistan auch in die Spannungen der Außen- und Innenpolitik Iraks hineingezogen werden. Der Sturz von Saddam Hussein im Jahr 2003 war ein gravierender Einschnitt für das Christentum,11 als sich dadurch der zwar höchst repressive, aber den Christen auch relativ große Sicherheit bietende Staat in einen zunehmenden Strudel von Chaos und Terror manövrierte. Zwar hatte bereits in den 1990er Jahren eine Auswanderungsphase von Christen aus dem Irak eingesetzt – aufgrund einer stärkeren politisch notwendigen Orientierung Saddam Husseins am Islam, vor allem aber aufgrund der zunehmend desaströsen wirtschaftlichen Lage Iraks als Folge des Kriegs mit dem Iran sowie der Sanktionen des Westens nach Iraks Einmarsch in Kuwait. Jedoch hat erst das politische Vakuum nach 2003 mit innermuslimischen Anfeindungen, mit Terrorismus sowie ethnischen Spannungen zwischen Arabern und Kurden, wobei auch eine zunehmend nationalistisch orientierte Türkei mehrfach widerrechtlich in die Kurdengebiete Iraks vordrang, ein Gemisch geschaffen, das den Christen das Gefühl vermittelte, stärker als andere Minderheiten bedroht zu sein. Auch gegen Vorwürfe, mit den USA zusammenzuarbeiten, müssen sich Christen wehren. Als Folge davon hat in diesen Jahren die Hälfte der noch im Irak lebenden Christen das Land verlassen. Die instabile Lage Iraks hat dem so genannten Islamischen Staat (IS) ein Areal geboten, um alle Andersdenkenden auszurotten, was Christen, aber auch Yeziden und Mandäer veranlasste, unter Zurücklassung von Hab und Gut, wenigstens Leib und Leben durch Flucht zu retten – entweder in die Autonome Region Kurdistan oder über die Türkei nach Europa. Trotz der militärischen Zurückdrängung des IS haben zwischen 2015 und 2017 nochmals ein Drittel der irakischen Binnenflüchtlinge das Land verlassen. Auch wenn der Chaldäische

10 Vgl. Müller 2009, 96–105; Ammann, Birgit: The Jews of Iraq, in: Sevdeen/Schmidinger 2019, 33–56; Hosseini, S. Behnaz: Forced Migration and Displacement of Iraqi Minorities in Austria, Wien 2018, 66–70. 11 Vgl. Müller 2009, 86–90; Vogt 2019, 173–226; Hosseini 2018, 72–80 sowie die verschiedenen Beiträge von Schmidinger, Thomas / Schmidinger, Emmanuell Youkhan bzw. Seda D. Ohanian in: Sevdeen/Schmidinger 2019, 113–164.

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Patriarch Louis Raphaël Kardinal Sako – gemeinsam mit den Führern anderer christlichen Kirchen – für das Bleiben der Gläubigen im Land plädiert, finden diese Aufforderungen nur eingeschränkte Zustimmung, weil viele Christen im Alltag ungerechtfertigte Diskriminierung durch lokale Behörden sowie staatlich nicht kontrollierbare private muslimische Aktivisten erfahren. Die Zentren der Religion der Yeziden12 liegen im kurdischen Bergland nördlich von Mosul, vor allem im Laliş-Tal mit dem Grabmal ihres »Religionsstifters« Şêxadî (gest. 1061), d. h. außerhalb der Autonomen Region Kurdistan, was hinsichtlich der Situation der Yeziden gegenwärtig ein doppeltes Spannungspotenzial entfaltet. Formal wird dadurch dieses Gebiet von der Zentralregierung in Bagdad »kontrolliert«, die – trotz der verfassungsmäßigen Anerkennung der Religion – sie als Kurden gegenüber (sunnitischen) Arabern benachteiligt. Auch der Anspruch – und die teilweise Kontrolle – auf das Gebiet durch die Autonome Region Kurdistan ist nicht nur positiv für die Yeziden, die durch den zu großen Einfluss der kurdischen Autonomieregierung befürchten, ihre eigene yezidisch-ethnische Identität auf Kosten einer kurdischen Identität zu verlieren. Zusätzlich ist das Verhältnis zwischen Yeziden und der Autonomen Region Kurdistan dadurch belastet, dass sich die Peşmerga-Truppen der Autonomen Region Kurdistan nach dem Überfall des IS auf die Yeziden-Gebiete im Şengal-Gebirge (arab. Sinğār-Gebirge) im August 2014 nicht entschieden genug an der Rettung der Yeziden aus der Gewalt des IS beteiligt haben. Dadurch herrscht – trotz der Akzeptanz des Yezidentums als anerkannter Religion im Autonomiegebiet und der derzeit auch unbehinderten Möglichkeit, die Religion zu praktizieren – auf Seiten der Yeziden ein Misstrauen sowohl gegenüber der Regierung des Zentralstaates als auch gegenüber der kurdischen Lokalregierung. Trotz dieser unsicheren Situation ist aber – anders als bei Christen – derzeit damit zu rechnen, dass Yeziden in ihrem Kerngebiet weiter wohnen bleiben. Prekär hingegen ist die Situation der Mandäer,13 die seit rund 1500 Jahren im Südirak heimisch waren. In diesen traditionellen Wohngebieten gibt es keine Mandäer mehr, da bereits in den 1970er Jahren viele Mandäer aus wirtschaftlichen Gründen in die Hauptstadt Bagdad zogen, aber auch, um in der Großstadt dem Druck der Arabisierungspolitik Saddam Husseins weniger ausgesetzt zu sein. Die im Süden verbliebenen Mandäer gerieten ab 1980 in die zentralen Kampfgebiete des Irak-Iran-Krieges, so dass sie entweder nach Bagdad oder soweit möglich ins ausländische Exil geflohen sind. Obwohl nach dem Sturz von Saddam Hussein in der neuen irakischen Verfassung die Mandäer als eigenständige ethnische Minderheit

12 Zu den Traditionen der Yeziden in Geschichte und Gegenwart siehe Omarkhali, Khanna: The Yezidi Religious Textual Tradition. From Oral to Written, Wiesbaden 2017; Hutter 2019, 101–153; zur Situation im Irak ferner Hosseini 2018, 51–58. 13 Zur mandäischen Religion vergleiche den Überblick bei Hutter, Manfred: Die Mandäer. Geschichte, Lehre und Migration, in: Religionen Unterwegs 23/4 (Dezember), 11–17 mit Hinweisen auf die einschlägige Forschung sowie Müller 2009, 121–124. Zur aktuellen Situation siehe Lefort, Claire: Les Sabéens-Mandéens. Premiers baptistes, derniers gnostiques, Paris 2017; ferner Hosseini 2018, 89–92; Salloum, Saad: John the Baptist’s Water: Extinction of a Millennial Culture, in: Sevdeen/Schmidinger 2019, 71–98.

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I Regionale Darstellungen

anerkannt sind, machen Übergriffe von muslimischen Nachbarn, Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten und damit verbundene Anschläge die Situation in Bagdad so unsicher, dass zur Gemeinde im Westen von Bagdad, die von Migranten aus dem Süden des Landes in den 1970er Jahren gegründet wurde, inzwischen kaum noch Personen gehören. Denn die rund 5.000 Mandäer, die wahrscheinlich derzeit noch auf dem Staatsgebiet des Irak wohnen, haben als Binnenflüchtlinge in Erbil in der Autonomen Region Kurdistan Zuflucht gesucht. Fasst man die Situation im Irak kurz zusammen, so kann positiv gesagt werden, dass in der Autonomen Region Kurdistan die Regierung einigermaßen erfolgreich gewaltsame konfessionelle bzw. religiöse Auseinandersetzungen unterbindet, allerdings gibt es auch Klagen, dass Diskriminierungen von Minderheiten nicht verhindert werden. Dennoch muss im Vergleich mit den von der Zentralregierung in Bagdad verwalteten Teilen des Staates die kurdische Region als verhältnismäßig sicheres Gebiet für die dort anerkannten religiösen Minderheiten gelten, wohingegen der verfassungsmäßig garantierte Schutz für Christen, Yeziden und Mandäer in den arabischen Landesteilen kaum vorhanden ist.

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Islamische Republik Iran

Die Bevölkerungszahl Irans betrug bei der Volkszählung im Jahr 2011 insgesamt 75.149.669 Personen, wobei die Zahl inzwischen auf 82,5 Millionen Personen geschätzt wird. Laut Volkszählung machen dabei Muslime 99,4 Prozent der Bevölkerung aus. Mindestens 90% der Muslime gehören der Zwölfer-Schia an, während der sunnitische Islam auf ethnische Gruppen wie Kurden, Azeri und Balutschen beschränkt bleibt. Die weiteren bei der Volkszählung erhobenen Religionsdaten sind folgende: 117.704 Christen, 8.756 Juden, 25.271 Zoroastrier, 49.101 Andere. 265.899 Personen haben keine Angabe über ihre Religion gemacht. Gegenüber der detaillierteren Fragestellung in Bezug auf das Christentum unterlässt die Auswertung die genauere Differenzierung. Die überwältigende Mehrheit der Christen sind Armenier, während Chaldäer und Assyrer kaum mehr als 10.000 Personen ausmachen; auch etwa 10.000 Protestanten dürften im Iran leben.14 Die meisten Christen leben heute in der Hauptstadt Teheran; eine größere armenische Bevölkerung gibt es auch im Stadtteil Ğolfā in Isfahan, während die assyrischen und chaldäischen Christen traditionell in der Umgebung des Urmia-Sees und der Stadt Täbris wohnten. Auch die Mehrheit der Zoroastrier lebt aktuell in der Hauptstadt Teheran. Eine

14 Hutter 2019: 207f. Ältere Zahlen (Uphoff, Petra: Untersuchung zur rechtlichen Stellung und Situation von nichtmuslimischen Minderheiten in Iran, Frankfurt 2012, 314, 320, 325f.; Sanasarian, Eliz: Nationalism and Religion in Contemporary Iran, in: Longva, Ann Nga/ Roald, Anne Sofie (Hg.): Religious Minorities in the Middle East. Domination, Self-Empowerment, Accommodation, Leiden 2012, 309–324 hier 313f.) dürften eher etwas zu hoch sein; vgl. ferner den Bericht zur Religionsfreiheit in https://www.state.gov/reports/2018-report-oninternational-religious-freedom/iran/ (Stand: 16.12.2019).

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größere Gemeinde existiert noch im traditionellen Zentrum Yazd, während die Zahl der zoroastrischen Familien in den Dörfern in der Umgebung von Yazd in den letzten Jahrzehnten durch Umzug nach Yazd bzw. Teheran gravierend abgenommen hat. Die offizielle Staatsbezeichnung »Islamische Republik Iran« drückt programmatisch die Zusammengehörigkeit von Religion und der Herrschaftsform des Staates aus, was sich auch auf die Stellung der religiösen Minderheiten auswirkt. Denn statistisch werden nur die in den »Religionsparagraphen 12–14« der Verfassung der Islamischen Republik Iran genannten Religionen erfasst.15 Dazu gehört an erster Stelle die Zwölfer-Schia als offizielle Religion des Iran. Genauso sind die vier sunnitischen Rechtsschulen und die Rechtsschule der Zaidīya anerkannt, aber nachgeordnet gegenüber der Zwölfer-Schia. Ebenfalls religiös anerkannt sind jüdische, zoroastrische und christliche Iraner, wobei jedoch Paragraph 64 hinsichtlich des Christentums zumindest eine indirekte Einschränkung vornimmt, da nur das armenische Christentum mit zwei Abgeordneten und das assyrische und chaldäische Christentum mit einem gemeinsamen Abgeordneten im iranischen Parlament vertreten sind. Somit spiegeln die in der Verfassung genannten – und somit legalen – Religionen keineswegs die religiöse Heterogenität Irans wider, da zumindest die wenigen tausend Yeziden in der Umgebung von Kermānšāh16, die kurdische Religion der Yāresān (Ahl-e Haqq) und die Bahā’ī17 dadurch außerhalb des verfassungsmäßig garantierten Rechtsstatus stehen, so dass man vermuten kann, dass Angehörige dieser Religionen beim Zensus 2011 entweder ihre Religion nicht angegeben bzw. sich in der Kategorie »andere Religionen« verortet haben. Dies führt wiederum zur Frage des Umgangs des Staates mit den Minderheiten: Nach der Staatsgründung Israels sind – wie in allen Teilen der islamischen Welt – Juden in zwei Auswanderungswellen zwischen 1947 und 1951 nach Israel ausgewandert, wodurch ein Drittel der jüdischen Bevölkerung den Iran verlassen hat. Die im Lande verbliebenen Juden bildeten bis 1979 die – außerhalb Israels – reichste jüdische Gemeinschaft Asiens, deren Mitglieder der gehobenen Mittelschicht angehörten. In den ersten Jahren der Islamischen Revolution verließen drei Viertel der verbliebenen jüdischen Bevölkerung das Land. Die gegenwärtig im Iran lebenden Juden nehmen gesellschaftlich eine marginale Stellung ein, wobei sie immer wieder ihre Loyalität zum iranischen Staat und ihre Distanzierung vom Staat Israel gegenüber der Islamischen Republik beweisen müssen. Da ihnen dies weitgehend gelingt, ist positiv zu erwähnen, dass die jüdische Gemeinschaft – trotz der politischen Feindschaft zwischen den beiden Staaten – verhältnismäßig sichere Lebensbedingungen in der islamisch-iranischen Umgebung erfährt. Die Lage der Christen ist differenziert zu betrachten. Einerseits stellen manche iranisch-muslimische Theologen das Christentum deutlich abwertend dar und in-

15 Vgl. zur verfassungsgemäßen Stellung der Religionen Uphoff 2012, 105–108; Sanasarian 2012, 311f. 16 Vgl. Uphoff 2012, 353, 361f. 17 Siehe Hutter 2019, 195–198; Sanasarian 2012, 315.

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I Regionale Darstellungen

formieren mit Broschüren, wie das Christentum am besten theologisch überwunden werden könnte,18 was zu sozialer Marginalisierung von Christen führt. Daher haben v. a. assyrische Christen in den letzten Jahrzehnten entweder den Iran verlassen bzw. suchen Schutz in der Anonymität der Hauptstadt Teheran; günstiger stellt sich die Lage der – auch zahlenmäßig größeren – Armenisch-Orthodoxen Kirche dar. Die Wallfahrt zum Thaddäus-Kloster (armenisch: Surb Tadeosi Vank’) im Nordwesten Irans dient jährlich im Juli mehreren tausend Pilgern dazu, die eigene christliche Identität öffentlich zu propagieren, um so einer gesellschaftlichen Marginalisierung entgegenzuwirken. Ein brisantes Thema ist die Konversion von iranischen Muslimen zu (westlichen) christlichen Konfessionen, die von muslimisch-fundamentalistischen Kreisen als »Glaubensabfall« bewertet werden. In diesem Konfliktbereich kam es mehrfach zu Morden (z. B. am evangelikalen und missionarisch aktiven Bischof Haik Hovsepian Mehr im Januar 1994) oder zur Verhängung langjähriger Gefängnisstrafen für Konvertiten. Solche Fälle zeigen die aktuelle Spannung mit zunehmender Missionstätigkeit von hauptsächlich (kleinen) protestantischen Freikirchen, die ihre Aktivitäten auch kaum verbergen, um Muslime als Zielgruppe anzusprechen, die sich wegen der Islam-Interpretation durch die Islamische Republik Iran politisch und religiös vom Islam entfremdet haben. Von Seiten der staatlichen Behörden erfahren Prediger und Pastoren massive Restriktionen bis hin zur Verfolgung. Als Sonderfall ist die Lage der Mandäer19 im Zusammenhang mit dem Christentum zu nennen, da diese im religionspolitischen Kontext Irans meist als christliche Gruppe bewertet werden. Im Jahr 2009 hat Ayatollah Ali Khamenei in einer Fatwa sogar erklärt, dass die Mandäer »wie ein Volk des Buches« (ahl-e ketāb) zu bewerten seien. Dieses Urteil der höchsten religionsrechtlichen Autorität des Landes gibt den Mandäern dabei einen bis zu einem gewissen Grad gesicherten Status. Die Situation des Zoroastrismus20 als legaler Religion spiegelt grundsätzlich eine positive Verknüpfung dieser Religion mit der historischen iranischen Kultur wider. Wegen der Einbeziehung der Religion in die »Nationalisierungspolitik« unter Mohammad Reẓā Schah seit den 1960er Jahren entstand in muslimisch-fundamentalistischen Kreisen jedoch eine Skepsis gegen diese vorislamische Religion. Dies führte während der ersten Jahre der Islamischen Revolution zu einigen schwerwiegenden Übergriffen auf Zoroastrier, was zur Flucht von Religionsangehörigen zunächst nach Mumbai – und danach weiter in die USA und nach Kanada – führte. Seit etwa 1983/84 haben sich im Iran die Beziehungen zwischen Muslimen und Zoroastriern im alltäglichen Leben wiederum verbessert, wodurch für manche Iraner auch die 18 Vgl. Stümpel-Hatami, Isabel: Das Christentum aus der Sicht zeitgenössischer iranischer Autoren. Eine Untersuchung religionskundlicher Publikationen in persischer Sprache. Berlin 1996. – Zur Situation der christlichen Kirchen im Iran siehe auch die zahlreichen aktuellen Details bei Vogt 2019, 129–172. 19 Motika, Raoul: Die aktuelle Lage der iranischen Mandäer und die Verfassung der Islamischen Republik, in: Münchner Materialien und Mitteilungen zur Irankunde 4 (1999), 125–141. 20 Zum Zoroastrismus allgemein siehe Hutter 2019, 28–100, sowie v. a. 92–96 für Entwicklungen im 20. und 21. Jahrhundert.

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Auswanderung aus dem Land in organisatorischer Hinsicht erleichtert wurde. Dass im Jahr 1996 der 6. Zoroastrische Weltkongress erstmals in Teheran abgehalten wurde und die iranische Regierung die Patronanz darüber übernahm, zeigt trotz des Propagandawertes für die Islamische Republik Iran, dass die Zoroastrier nicht nur als religiöse Minderheit in der Verfassung (§ 13) anerkannt sind, sondern dass sie als »Iraner« eine gewisse politische Akzeptanz besitzen. Ungleich schwieriger stellt sich die Situation für die kurdischen Yāresān21 dar, die die größte nichtmuslimische Minderheit Irans sind, auch wenn die Eigenangabe von zwei bis drei Millionen Anhängern im Iran viel zu hoch sein dürfte: Realistischer sind wohl eine halbe Million Angehörige. Ein Problem der Zahlenangaben ist dabei die unterschiedliche Selbstwahrnehmung der Yāresān in Bezug auf ihr Verhältnis zur Schia. Während »traditionelle« Yāresān westlich von Kermānšāh betonen, eine vom Islam unabhängige Religion zu sein, charakterisieren »moderne« Religionsangehörige – auch auf Druck islamischer Behörden – ihre Religion als schiitische Richtung, wodurch sich bei der Volkszählung andere Auswahlmöglichkeiten bezüglich der Religionszugehörigkeit ergeben. Dieses unterschiedliche Selbstverständnis zeigt die schwierige Situation, mit der offiziell nicht anerkannte religiöse Minderheiten im Iran konfrontiert sind. Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Verbindung von Staat und Religion, d. h. schiitischer Islam, wesentlich die Stellung von nichtmuslimischen Religionen prägt. Denn diese Verbindung schafft einen schiitisch-iranischen Nationalismus,22 so dass sich alle Religionen als national »loyal« erweisen müssen bzw. sich auch – im Fall von Christentum und Judentum – Vorwürfen der Kooperation mit westlichen Nationen oder mit Israel23 bzw. der Verletzung ihrer »national-iranischen« Gesinnung ausgesetzt sehen. Günstiger stellt sich aus der politischen Perspektive dieses Nationalismus lediglich die Situation des Zoroastrismus als »iranischer« Religion dar.

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Libanesische Republik

Mit nur 6,1 Millionen Einwohnern, von denen mehr als eine Million Flüchtlinge v. a. aus Syrien, Irak und Palästina sind, ist die Libanesische Republik der kleinste Staat, der hier behandelt wird. Insgesamt sind 18 Religionsgemeinschaften im Land

21 Für einen Überblick zu den religiösen Vorstellungen der Yāresān siehe Kreyenbroek, Philip G.: The Yāresān of Kurdistan, in: Khanna Omarkhali (Hg.): Religious Minorities in Kurdistan. Beyond the Mainstream, Wiesbaden 2014, 3–12. Zur Problematik von exakten Zahlenangaben siehe Uphoff 2012, 340. 22 Zum schiitisch-iranischen Nationalismus – mit den Implikationen auf andere Religionen – vgl. Sanasarian 2012, 321–323. 23 Der Vorwurf, »Parteigänger« des Staates Israel zu sein, wird massiv auch immer wieder den Bahā’ī von Seiten der iranischen politischen Autoritäten als Begründung der Verfolgung dieser Religion gemacht.

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anerkannt:24 vier muslimische Richtungen (30,6% Sunniten, 30,5% Schiiten, Ismaeliten, Alawiten), zwölf christliche Konfessionen (insgesamt 33,7%; die größte Gruppe sind die 20% Maroniten, gefolgt von 7% Griechisch-Orthodoxen Christen, 3,9% Melkitisch-Griechischen Katholiken und 1,4% Armenisch-Orthodoxen Christen; die übrigen Gruppen machen jeweils weniger als 1% der Bevölkerung aus: ArmenischKatholische Christen, Syrisch-Orthodoxe und Syrisch-Katholische Kirche, Assyrer, Chaldäer, Kopten, Protestanten, Römisch-Katholische Christen. Ebenfalls zu nennen sind Drusen (5,2%) und Juden (maximal 100 Personen). Damit ist der Libanon zwar noch immer der Staat mit dem prozentuell höchsten Anteil an Christen im Nahen Osten und in Nordafrika, allerdings hat sich die Demographie des Staates in den letzten Jahrzehnten deutlich verschoben. Bei der letzten offiziellen Volkszählung im Jahr 1932 machten die Christen 53% der Bevölkerung aus, die Muslime (mit einer deutlichen sunnitischen Mehrheit) rund 41%. Diese Zahlen sind dabei jedoch nicht nur von historischem Interesse, sondern sie bilden bis zur Gegenwart die Grundlage eines religiösen Proporzes für viele politische Prozesse, wobei dieser Proporz nicht mehr der aktuellen religiösen Demographie entspricht. In der Verfassung25 aus dem Jahr 1926 in der geltenden Fassung von 1999 (als Umsetzung des so genannten Ṭā’if-Abkommens von 1989) wird dabei die religiöse Verteilung von Ämtern festgelegt: Das Staatsoberhaupt muss Maronit, der Parlamentspräsident Schiit und der Regierungschef Sunnit sein. Auch in der Verteilung der Parlamentssitze sind den Christen noch immer etwas mehr Sitze garantiert als den Muslimen, obwohl in Art. 24 und Art. 95 der Verfassung die gleiche Repräsentanz von Christen und Muslimen als Ziel angestrebt wird. Diese Verteilung von Ämtern und Abgeordnetensitzen wird aufgrund des Verlusts des demographischen Mehrheitsstatus des Christentums und der Zunahme der Zahl der Schiiten in Frage gestellt, was zu (religions-)politischen Spannungen führt, aber zugleich auch – im Unterschied zu anderen islamisch geprägten Ländern – zumindest offiziell größere Religionsfreiheit ermöglicht. Auch hier seien einige Details genannt. Die Zahl der Juden könnte aus quantitativen Gründen im politischen Diskurs unberücksichtigt bleiben, allerdings werden sie unmittelbar in den politischen Konflikt zwischen Israel, dem Libanon, den Palästinenser- und Hizbollāh-Milizen hineingezogen. In den 1970er Jahren organisierten die palästinensischen Flüchtlinge vom Südlibanon aus ihre Terrorangriffe auf Israel, was zu militärischen Vergeltungsschlägen Israels gegen das libanesische Staatsgebiet und 1982 zum Einmarsch israelischer Truppen (bis 2000) in den Libanon führte. Für Muslime resultierte daraus auch eine Ablehnung der Juden im Libanon sowie von Christen. Aber auch das Verhältnis zwischen Muslimen und den unterschiedli-

24 Siehe https://www.state.gov/reports/2018-report-on-international-religious-freedom/le banon/ (Stand: 16.12.2019); vgl. auch Müller 2009, 243. 25 Vgl. Müller 2009, 237–242. – Zur negativen Haltung gegenüber dem Ṭā’if-Abkommen durch Christen siehe Deeb, Marius: The Christians of Lebanon: Surviving amidst Chaos, in: John Eibner (Hg.): The Future of Religious Minorities in the Middle East, Lanham 2018, 179–192, hier 184f., 190f.

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chen christlichen Konfessionen war davon betroffen:26 Während Griechisch-Orthodoxe und Melkiten – so in erster Linie Grégoire Haddad27, von 1968 bis 1975 Erzbischof von Beirut – eher auf Seiten der Palästinenser standen und eine positive Zusammenarbeit mit Muslimen erhofften, vertrat die maronitische Kirche einen anderen Kurs, da man von einer Zusammenarbeit anderer Konfessionen mit Muslimen um die eigene Vormachtstellung fürchtete. Diese innerchristlichen Konflikte schwächten bis in die 1990er Jahre dabei das Christentum zumindest genauso stark wie muslimische Machtinteressen in dem vom Bürgerkrieg zerrütteten Staat sowie das Aufkommen der Hizbollāh im Süden des Landes. Als ab 2004 zunächst Flüchtlinge aus dem Irak und ab 2011 Flüchtlinge aus Syrien in großer Zahl das Mittelmeerland überfluteten, geriet der offiziell noch immer bestehende religiös-politische Proporz völlig aus dem Gleichgewicht. Versuche, dem durch Aktivitäten zur Förderung der interkulturellen Verständigung entgegenzuwirken, sind zwar vorhanden,28 ohne dass es bislang gelungen wäre, ein – der Demographie entsprechendes – neues Verhältnis der Machtbefugnisse von Christen, Sunniten und Schiiten zu schaffen, in dem Muslime wie Nichtmuslime gemeinsam die Interessen des Landes und der Gesellschaft und nicht diejenigen der eigenen religiösen Tradition in den Mittelpunkt für den Aufbau des Staates stellen.

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Resümee

Das klassische Modell der »Schriftbesitzer« als Parameter für den Umgang des Islam mit nichtmuslimischen Religionen bildet zwar eine theoretische Grundlage, allerdings zeigt sich bei allen vier berücksichtigten Ländern, dass die Politik mit unterschiedlich ausgeprägtem Nationalismus dieses theologische Modell deutlich überlagert und staatlich manchmal nur halbherzig kontrollierte Islamisten und fundamentalistische Richtungen die traditionell Nichtmuslimen zugestandene Religionsfreiheit beschränken. Das Judentum spielt dabei außerhalb Irans in keinem der Länder mehr eine zahlenmäßig nennenswerte Rolle, und auch im Iran hängt die Situation der Juden deutlich von den politischen Spannungen zwischen der Islamischen Republik und Israel (und indirekt auch den USA) ab. Die verschiedenen christlichen Konfessionen haben – abgesehen von den »nationalen« Kopten in Ägypten – nur wenig Zukunftschancen,29 weil aufgrund der konfessionellen Zersplitterung eine interne quantitati-

26 Vgl. Vogt 2019, 253–267; Raheb 2018, 599. 27 Als sozial engagierter Befreiungstheologe zog er sich die Kritik des Vatikans zu, so dass er 1975 als Erzbischof der Melkiten zurücktrat, vgl. zu seinem Wirken Antes, Peter: Die Befreiungstheologie des Erzbischof Ḥaddād, in Voigt, Wolfgang (Hg.): XIX. Deutscher Orientalistentag vom 28. September bis 4. Oktober 1975 in Freiburg im Breisgau. Vorträge, Wiesbaden (= Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Supplement 3), 1977, 194–199. Siehe ferner Antes, Peter: Konkreter Katholizismus im Libanon, in: Theologische Zeitschrift 32 (1976), 207–214. 28 Vogt 2019, 283–285. 29 Vgl. Raheb 2018, 607.

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I Regionale Darstellungen

ve Schwächung besteht, und Migrationschristen im Westen ihrerseits den »Konversionsdruck« zu Formen des »westlichen« Christentum erst bewältigen müssen, um im Fall einer Etablierung im Westen positiv stärkend auf die Kirchen im Nahen Orient zurückwirken zu können. Äußerst pessimistisch ist dabei auch die Lage der Mandäer im Irak und Iran aufgrund der schon jetzt fast völligen Nicht-Existenz zu beurteilen. Lediglich für Yeziden und die ihnen religiös nahe verwandten Yāresān sowie für die Zoroastrier scheint die Lage für ein mittelfristiges Überleben in der islamischen Umgebung im irakisch-kurdischen und iranischen Raum günstiger zu sein – auch, weil diese Religionen als Kurden bzw. Iraner in nationalistische Strömungen einbezogen werden können. Hinsichtlich der Yeziden trägt dabei auch deren Etablierung in Europa, vor allem in Deutschland, positiv dazu bei, dass die im Ansatz schon bestehenden Verbindungen zwischen der Diaspora und den Gemeinden im kurdischen Raum den Yeziden im Kurdengebiet Rückhalt geben können und so die Religion auch in der muslimisch geprägten Umgebung zu stärken vermögen. Ähnliches gilt für die Zoroastrier, die durch die Verbindung mit den Parsen in Indien und den Religionsgruppen in der westeuropäischen und nordamerikanischen Diaspora ebenfalls Netzwerke zur Bewahrung der eigenen Identität innerhalb einer muslimischen Mehrheitsgesellschaft besitzen. Wenn der Beitrag sich hier – vor allem aus pragmatischen Umfangsgründen – auf vier Länder beschränken musste, versuchte er zu verdeutlichen, dass die Stellung »nichtislamischer Religionen« jeweils länderspezifisch zu betrachten ist, d. h. andere Länder, andere Sitten – und Fragestellungen. Denkt man etwa an die Islamische Republik Pakistan30, so beschränkt die Radikalisierung von Muslimen in diesem südasiatischen Staat die Religionsfreiheit und Rechte für Christen massiv. Blickt man beispielsweise nach Indonesien,31 so ist dort einerseits zu beachten, dass die lokalen Ausprägungen des Islam ihrerseits durch vorislamische Traditionen beeinflusst sind, aber auch mit Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus – neben dem Christentum – im Kontakt mit anderen »nichtmuslimischen« Religionen stehen. Nimmt man als weiteres Beispiel etwa Nigeria, so ergeben sich neue Fragen, da auch Traditionelle Afrikanische Religionen in den Diskurs des Islam mit nichtmuslimischen Religionen einbezogen werden müssten.32 In solchen Fällen sowohl Indonesiens als auch Nigerias ist aber das eingangs genannte Modell der »Schriftbesitzer« zumindest nicht im klassischen Sinn anwendbar.

30 Siehe zur Situation etwa den aktuellen Überblick von Evers, Georg: Religionsfreiheit: Pakistan, hrsg. vom Internationalen Katholischen Missionswerk missio e.V., Aachen 2019. Die international Aufsehen erregende (Selbst-)Tötung von John Joseph, Bischof von Faisalabad, im Mai 1998 sei als bekanntes Beispiel der massiven Marginalisierung von Andersgläubigen erwähnt; vgl. Evers 2019: 36f. sowie die detaillierte Studie von Walbridge, Linda S.: The Christians of Pakistan. The Passion of Bishop John Joseph, London 2003. 31 Franke, Edith: Einheit in der Vielfalt. Strukturen, Bedingungen und Alltag religiöser Pluralität in Indonesien, Wiesbaden 2012. 32 Vgl. z. B. Gilliland, Dean S.: African Religion meets Islam. Religious Change in Northern Nigeria, New York: Lanham 1986; Eltantawi, Sarah: Shari’ah on Trial. Northern Nigeria’s Islamic Revolution, Berkeley 2017.

Nichtislamische Religionen in der Welt des Islam

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Literatur zum Weiterlesen Eibner, John (Hg.): The Future of Religious Minorities in the Middle East, Lanham 2018, 179–192. Hutter, Manfred: Iranische Religionen. Zoroastrismus, Yezidentum, Bahā’ītum, Berlin 2019. Knüppel, Katharina: Religionsfreiheit und Apostasie in islamisch geprägten Staaten, Frankfurt 2010. Omarkhali, Khanna (Hg.): Religious Minorities in Kurdistan. Beyond the Mainstream, Wiesbaden 2014. Raheb, Mitri: Die Geschichte des Christentums im Nahen Osten zwischen 1917 und 2017, in: Schjørring, Jens H./Hjelm, Norman A./Ward, Kevin (Hg.): Geschichte des globalen Christentums. Teil 3: 20. Jahrhundert, Stuttgart 2018, 577–608. Sevdeen, Bayar M./Schmidinger, Thomas (Hg.): Beyond ISIS. History and Future of Minorities in Iraq, London 2019. Vogt, Matthias: Christen im Nahen Osten. Zwischen Martyrium und Exodus, Darmstadt 2019.

II

Theologie, Philosophie, Recht und Kultur

Islamische Theologie heute: Orte, Gesichter und Tendenzen Ömer Özsoy

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Einleitung

Die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIZ) hat 57 Mitgliedsstaaten sowie fünf Beobachterstaaten, deren muslimischer Bevölkerungsanteil zwischen 99,9% (z. B. Somalia, Afghanistan und Algerien) und 6,4% (Guyana) variiert, wobei Indonesien mit ungefähr 230 Millionen Muslimen (Gesamtbevölkerung: 260 Millionen) die größte muslimische Bevölkerung hat.1 Auch außerhalb der OIZ gibt es Länder, in denen Muslime die Mehrheit (wie Tschad mit 55,3%) oder die größte Minderheit (wie Tansania 35,2%) bilden. Außerdem leben in über 100 Ländern muslimische Minderheiten mit unterschiedlichem Bevölkerungsanteil von 176 Millionen in Indien (14,2%) bis weniger als 10.000 in Vanuatu (etwa 0,01%).2 Nach dem Europalexikon »leben offiziellen Schätzungen zufolge zwischen 35 und 53 Mio. Muslime in Europa, also 5–8 % der Gesamtbevölkerung Europas, ca. ein Drittel davon in Russland, 16 Mio. in der EU und knapp 6 Mio. im europ. Teil der Türkei.«3 Wenn wir uns diese globale Verteilung der Muslime vor Augen führen, wird ersichtlich, dass eine umfassende Darstellung von gegenwärtigen Orten, Gesichtern und Tendenzen der islamischen Theologie im Rahmen eines Artikels nicht möglich ist. Denn so vielfältig wie Muslime selbst, sind beinahe auch die Orte und Themen der islamischen Theologie. Fast überall, wo Muslime leben, gibt es Einrichtungen für religiöse Bildung bzw. theologische Ausbildung. Außerdem ist es in manchen Teilen der islamischen Welt noch keine Selbstverständlichkeit, dass die Theologie primär zum universitären Betrieb gehört. Die theologisch relevanten Themen werden deshalb an unterschiedlichen Orten behandelt, von öffentlichen und zivilgesellschaftlichen akademischen Institutionen bis hin zu staatlich nicht anerkannten Einrichtungen mit sektenähnlichen Strukturen und gar illegalen Organisationen, die ebenfalls religiöses Wissen und Denken produzieren. Diese Lage erschwert wiederum eine umfassende Darstellung, da es an Möglichkeiten, korrekte und aktuelle Informationen hierüber zu finden, mangelt. Einerseits gibt es keinen Katalog bzw. kein umfassendes

1 https://www.oic-oci.org/states/?lan=en (letzter Abruf: 27.10.2020). 2 Liste der Länder nach muslimischer Bevölkerung: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_ Länder_nach_muslimischer_Bevölkerung (letzter Abruf: 27.10.2020). 3 Renger, A.-B.: Islam und Europa, in: Große Hüttmann, Martin/Wehling, Hans Georg (Hrsg.): Das Europalexikon, Bonn, 3. Aufl. 2020 (alphabetisch abrufbar unter: https://www.bpb.de/nach schlagen/lexika/das-europalexikon/177068/islam-und-europa (letzter Abruf: 27.10.2020).

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II Theologie, Philosophie, Recht und Kultur

Register von islamisch-theologischen Einrichtungen und andererseits weichen die verfügbaren Informationen in der einschlägigen Literatur und im Internet stark voneinander ab – sicher auch aufgrund der kontinuierlichen Entwicklungen. In Bezug auf die in diesem Artikel aufzuführenden Informationen über die aktuelle Lage wurde daher stets Rücksprache mit Kolleginnen und Kollegen gehalten und ihre Expertisen konsultiert – an dieser Stelle sei ihnen allen herzlich gedankt. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden versucht, nach einer kurzen Darstellung der Entstehung und Etablierung von theologischen Diskursen und ihrer Plattformen zeitgenössische Orte, Gesichter und Tendenzen der islamischen Theologie anhand von repräsentativen Modellen zu skizzieren, wobei der Fokus auf universitäre Einrichtungen gelegt wird. Eine detaillierte Übersicht der erfassten Entwicklungen kann auch helfen, die Perspektiven der sich in Deutschland entwickelnden islamischen Theologie zu erweitern.

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Ursprünge dessen, was sich islamische Theologie nennt

Wie die islamische Tradition berichtet, tat der Prophet nach der Auswanderung nach Medina die neuen Offenbarungen und seine Erklärungen in seiner Moschee kund und behandelte die Fragen seiner Gemeinde dort. Er ermutigte insbesondere Frauen, die Moscheeangebote in Anspruch zu nehmen und bot ihnen auf ihren Wunsch einen separaten Wochentag für religiöse Bildung in der Moschee an.4 In frühen Geschichtswerken ist übrigens von einigen Einwanderern die Rede, die sich mangels Unterkunft in der Prophetenmoschee aufhielten – weshalb sie als »Leute des Schattendachs« (aṣḥāb aṣ-ṣuffa) bezeichnet werden – und sich dem asketischen Leben sowie dem Erwerb von religiösem Wissen widmeten.5 Viele Korankommentatoren sehen u. a. in Sure 2, 273 (»Die Armen, die auf dem Weg Gottes Behinderung erleiden…«) eine Anspielung auf diese Menschen. ʿAbdullāh Ibn Masʿūd (gest. 653), Abū Ḏarr al-Ġifārī (gest. 653), Ḥuḏaifa Ibn al-Yamān (gest. 656), Salmān al-Fārisī (gest. 656) und Abū Huraira (gest. 678) sind nur einige bekannte Prophetengefährten, die dieser Gruppe angehörten. Dass weitere für ihre Frömmigkeit bekannte Gefährten zu dieser Gruppe gezählt werden, dürfte eine spätere Mutmaßung mystisch inspirierter Autoren gewesen sein, die in diesen Personen die ersten Verkörperungen der muslimischen Askese sehen wollten.6 Dass neben vielen Gefährten, die den aṣḥāb aṣ-ṣuffa Unterricht erteilt haben sollten, ʿUbāda Ibn aṣ-Ṣāmit (gest. 654) als Schreiblehrer und ʿAbdallāh Ibn Saʿīd Ibn al-ʿĀṣ (gest. 678) als Weisheitslehrer erwähnt werden, zeigt, dass die Bildungstätigkeiten in der Prophetenmoschee nicht auf religiöse Unterweisung beschränkt waren.7 Ferner soll der Prophet – das 4 5 6 7

al-Buchārī: al-Ǧāmiʿ aṣ-ṣaḥīḥ, K 3, B 35, H-Nr. 101–102. Ibn Saʿd: Kitāb aṭ-Ṭabaqāt al-kabīr, ed. M. ʿAbdalqādir ʿAṭāʾ, Beirut 1990, Bd. 1, 196–197. Vgl. Abū Nuʿaim: Ḥilyat al-auliyāʾ, Beirut 1996, Bd. 1, 337 ff. Abū Dāwūd: Sunan, K 22, B 37, H-Nr. 3416.

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aber wird von manchen Forschern in Zweifel gezogen – den armen Kriegsgefallenen bei der Schlacht von Badr 624 die Möglichkeit eingeräumt haben, sich loszukaufen, wenn sie zehn Muslimen die Schrift beibringen.8 In manchen biographischen Werken9 ist im Kontext der Biographie Ibn Umm Maktūms (gest. 636) von einem »Haus der Koranleser« (dār al-qurrāʾ) in Medina die Rede, die von vielen Autoritäten mit dem Haus von Maḫrama Ibn Naufal (gest. 674) identifiziert wird.10 Dennoch ist weder über die Funktion dieses Ortes noch über Personen, die sich dort mit Koranunterricht beschäftigt haben sollen, Zufriedenstellendes zu finden. Mit gewisser Sicherheit kann man aber sagen, dass die vom Propheten verkündeten Offenbarungspassagen, die entsprechend der oralen Kultur grundsätzlich mündlich weitergegeben und in Gedächtnissen aufbewahrt wurden, bereits zu seinen Lebzeiten als Gedächtnisstütze auch schriftlich fixiert wurden. Dies geschah allerdings nicht – wie muslimischerseits oft angenommen – zentral aufgrund einer koranischen oder prophetischen Anweisung, sondern aus eigener Initiative schriftkundiger Gefährten, die bestrebt waren, eine jeweils eigene vollständige Niederschrift anzufertigen, wie Ibn Masʿūd, Ubaiy Ibn Kaʿb (gest. 654), alMiqdād Ibn al-Aswad (gest. 654) und Abū Mūsā al-Ašʿarī (gest. 662). Die immer noch gepflegte Vielfalt in der Koranlesung hängt neben vielen anderen Faktoren, wie z. B. der Uneindeutigkeit der damaligen Schrift, mit diesem individuellen Charakter der ersten Koranexemplare zusammen. Sie wiesen nämlich nicht nur Differenzen in der Schreibweise auf, sondern enthielten auch Synonyme für manche Wörter und eigene Notizen der Schreiber.11 Die ersten zwei Kalifen Abū Bakr (reg. 632–634) und ʿUmar Ibn al-Ḫaṭṭāb (reg. 634–644) haben diese Vielfalt zugelassen, obwohl sie sich gleich nach dem Ableben des Propheten vom Korankenner Zaid Ibn Ṯābit (gest. 665) ein kritisches Koranexemplar erstellen ließen. Die zentrale Intervention in Richtung Standardisierung der Koranschrift ist eine spätere Entwicklung, die sich der Entschlossenheit einer Reihe von umayyadischen Kalifen von ʿUṯmān (reg. 644–656) bis zu ʿAbdalmalik Ibn Marwān (reg. 685–705) sowie dem Engagement zahlreicher Korangelehrten und Sprachwissenschaftler, wie Abū al-Aswad ad-Duʾalī (gest. 688) und Naṣr Ibn ʿĀṣim (gest. 707), verdankt.12 Als der erste Religionslehrer gilt im muslimischen Kollektivgedächtnis Muṣʿab Ibn ʿUmair (gest. 625), den der Prophet nach dem Treueeid von ʿAqaba im Jahre 621 mit dem Auftrag nach Medina entsandte, die interessierten Medinenser über die Botschaft des Korans zu unterrichten.13 Bekanntlich hatten auch die bei Biʾr Maʿūna Getöteten im Jahre 625, die ausschließlich Korankenner gewesen sein und

8 9 10 11

Ibn Saʿd: Bd. 2, 16. Bspw. Ibn ʿAbdalbarr: al-Istīʿāb fī maʿrifat al-aṣḥāb, ed. ʿĀdil Muršid, Amman 2002, 380. Bspw. Ibn Saʿd. Bd. 4, 155. Ibn Abī Dāwūd: Kitāb al-Maṣāḥif, ed. Arthur Jeffery, Ägypten 1936, 50ff; vgl. Nöldeke, Theodor: Geschichte des Qorāns (von Friedrich Schwally bearbeitete 2. Auflage), Leipzig 1919, Bd. 2, 27 ff. 12 Sezgin, Fuad: Geschichte des arabischen Schrifttums, Leiden 1967, Bd. 1, 3 ff.; al-Aʿẓamī, Muṣṭafā: The History of the Qurʾānic Text from Revelation to Compilation, Riad 2003, 115 ff. 13 Ibn Saʿd. Bd. 3, 118.

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überwiegend zu den oben erwähnten aṣḥāb aṣ-ṣuffa gehört haben sollen, den Auftrag, die koranische Botschaft in Nadschd zu verkünden. Der Prophet hatte auch anderen im Umland lebenden Stämmen Lehrer bzw. Boten geschickt.14 Das prominenteste Beispiel dafür liefert der Bericht über die Entsendung von Muʿāḏ Ibn Ǧabal (gest. 638) nach Jemen: Der Prophet habe ihn ermutigt, weder vom Koran noch von ihm behandelten Probleme dort nach eigenem Gutdünken zu lösen, ohne Rücksprache mit ihm halten zu müssen.15 Die Legitimität des islamischen Prinzips zur eigenen Meinungs- bzw. Urteilsbildung, also Idschtihad (iǧtihād), wird bekanntlich u. a. aus dieser Anregung des Propheten abgeleitet. Auch die sog. rechtgeleiteten Kalifen pflegten die prophetische Tradition und sandten in die Provinzen und eroberten Gebiete vorzüglich gelehrte Gefährte als Gouverneure (ʿāmil bzw. wālī), die sich dort neben Verwaltung und Steuererhebung auch um religiöse Unterweisung kümmerten und bei Bedarf Spezialisten als Richter bzw. Lehrer beauftragten.16 Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass sich bereits im Frühislam schulähnliche Kreise um gelehrte Prophetengefährten herausbildeten, die neben Mekka und Medina in Großmoscheen in Aleppo, Jerusalem, Alexandria, al-Fusṭāṭ, Basra und Kufa etc. Vorlesungen hielten.17 So lassen sich z. B. anhand von historischen Daten frühe exegetische Schulen um einige Prophetengefährten rekonstruieren, die in einzelnen Provinzen mit Lehrtätigkeit beschäftigt waren, so etwa ʿAbdallāh Ibn ʿAbbās (gest. 687) in Mekka, Ubaiy Ibn Kaʿb in Medina, ʿAbdallāh Ibn Masʿūd im Irak und Abū Mūsā al-Ašʿarī in Basra.18 Dass die ältesten Korankommentare von ihren Schülern aus der Folgegeneration, wie etwa Muǧāhid Ibn Ǧabr (gest. 704), Qatāda Ibn Diʿāma (gest. 735), as-Suddī (gest. 754), ʿAlī Ibn Abī Ṭalḥa (gest. 760) und Muqātil Ibn Sulaimān (st. 767), verfasst wurden, bestätigt diese Entwicklung. Auch die etablierten Rechtsschulen werden mit Lesezirkeln um bestimmte Prophetengefährten in Verbindung gebracht, wie z. B. die hanafitische Schule, die in Irak entstand, mit Ibn Masʿūd und seinen Schülern sowie die malikitische Schule mit dem theologischen Kreis in Medina. Da der Koran als arabische Manifestation des Wortes Gottes galt, stand sehr früh auch die sprachwissenschaftliche und -philosophische Auseinandersetzung mit dem Offenbarungsdokument im Zentrum der theologischen Reflexion. Das älteste arabische Wörterbuch, Kitāb al-ʿAin von al-Ḫalīl Ibn Aḥmad (gest. 791), sowie die früheste grammatikalische, morphologische und phonetische Darstellung des Arabischen, al-kitāb von seinem persischen Schüler Sībawaih (gest. 793), haben offenbar darauf abgezielt, die Sprache des Korans verständlich zu machen. Ihnen folgten Schriften, die sich mit rhetorischen Beschaffenheiten des Korans befassten, wie Maʿānī al-Qurʾān-Werke von al-Farrāʾ (gest. 822) und al-Aḫfaš (gest. 830) sowie Maǧāz al-Qurʾān von Abū ʿUbaida (gest. 825?) und Ġarīb al-Qurʾān von Ibn Quṭaiba (gest. 889). Auf der anderen Seite diente die Sprache

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Siehe Pedersen, J. u. a.: Medrese, in: Encyclopedia of Islam, Second Edition, Brill, 2010. Abū Dāwūd: K 19, B 11, H-Nr. 3592; at-Tirmiḏī, Sunan: K 15, B 3, H-Nr. 1327. Hallaq, Wael B.: The Origins and Evolution of Islamic Law, Cambridge 2005, 29–79, 178–194. Ṭalas, M. Asʿad: at-Tarbīya wa-t-taʿlīm fi-l-islām, Beirut 1957, 147. al-Almaʿī, Zāhir: Madāris at-tafsīr fī ʿaṣr aṣ-ṣaḥāba wa-t-tābiʿīn wa-ašhar riǧālihā, Beirut 2018.

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den Juristen als objektivierbare Grundlage zur Normderivation bzw. Konsensfindung, so dass sehr früh juristisch-hermeneutische Debatten geführt19 und Regeln für die Normableitung aus den Texten, Koran und Hadith, gelegt wurden.20 Zu bemerken ist an dieser Stelle, dass diese natürliche Entstehung theologischer Kreise damals – wohl wegen des Fehlens einer zentralen theologischen Instanz – nicht als eine Gefahr betrachtet wurde, die zur Teilung der muslimischen Gemeinschaft hätte führen können. Die erste Spaltung der muslimischen Urgemeinde war politischer Natur. Sie geht auf die Ermordung des dritten Kalifen ʿUṯmān im Jahre 656 und die daran anschließenden Bürgerkriege um Bestrafung seiner Mörder sowie Bestimmung seines Nachfolgers zurück: Die Kamelschlacht im selben Jahr zwischen ʿAlī (gest. 661) und Aischa (gest. 678) und die Schlacht von Ṣiffīn im Folgejahr zwischen ʿAlī und Muʿāwiya (gest. 680).21 Die große Masse war durch das Trauma, Mord unter den Prophetengefährten erleben zu müssen, einer verzweifelten Neutralität, einer Art Pazifismus ausgesetzt, weshalb sie auch muʿtazila (Sich-Fernhaltende) genannt wurden. ʿAlīs hilflose Zustimmung, die Lösung des Konflikts mit Muʿāwiya einem Schiedsrichter zu überlassen, um zu verhindern, dass mehr Blut fließt, stieß auf keine absolute Akzeptanz bei seinen Anhängern. Die Gegner argumentierten religiös, »die Entscheidung steht Gott allein zu« (Sure 12, 40: in al-ḥukm illā li-llāh), und verließen die Partei ʿAlīs (Schia) – deshalb werden sie als Ḫawāriǧ (Ausziehende bzw. Rebellen) genannt. Auch die Parteilosen rechtfertigten ihren Pazifismus wohl mit demselben Vers, den sie dennoch in eine andere Richtung interpretierten: Man solle, anstatt Partei zu ergreifen, die Entscheidung darüber, wer im Recht ist, Gottes Urteil im Jenseits zu überlassen. Diese Interpretation und die damit gerechtfertigte politische Neutralität der Murǧiʾa ([das Urteil auf Gott] Aufschiebende) markierte zugleich den passivistischen und autoritätshörigen Charakter der muslimischen Orthopraxie (ahl as-sunna).22 Die von der gelebten Realität aufgeworfenen praktischen Fragen, wie etwa »Bleibt ein Muslim gläubig, wenn er schwere Sünde begeht?« bzw. »Ist der Glaube bloße Überzeugung oder schließt er die Taten mit ein?«, hatten großes Potenzial, theologisch reflektiert zu werden. Es war unvermeidbar, dass eben diese Disputation gerade in den eroberten Gebieten auf die in der Spätantike prominente theologisch-philosophische Dichotomie um Willens- und Handlungsfreiheit des Menschen hinauslief. Die Kontrahenten bildeten die Fatalisten (Ǧabrīya), die aus Reihen der Murǧiʾa kamen und deren Schicksallehre entschärft in der ašʿaritischen Theologie überleben konnte, und Leugner der

19 Tillschneider, Hans-Thomas: Die Entstehung der juristischen Hermeneutik (uṣūl al-fiqh) im frühen Islam, Würzburg 2006. 20 Kurnaz, Serdar: Methoden zur Normderivation im islamischen Recht. Eine Rekonstruktion der Methoden zur Interpretation autoritativer textueller Quellen bei ausgewählten islamischen Rechtsschulen, Berlin 2016. 21 Endreß, Gerhard: Der Islam. Eine Einführung in seine Geschichte, München 1991, 47ff; Nagel, Tilman: Die islamische Welt bis 1500, München 1998, 33 ff. 22 Für eine kritische Betrachtung des Begriffspaars Orthodoxie-Heterodoxie siehe: Langer, Robert/Simon, Udo: The Dynamics of Orthodoxy and Heterodoxy. Dealing with Divergence in Muslim Discourses and Islamic Studies, in: Die Welt des Islams, Nr. 48 (2008), 273–288.

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Prädestination (Qadarīya), deren Gedankengut später von Muʿtaziliten systematisiert und für ihre Argumentation herangezogen wurde.23 Im Zuge der Unzufriedenheitswelle unter der Umayyaden-Dynastie (661–750) hielt sich die geistige und religiöse Führung in Medina von jeder Art politischen Widerstands fern und widmete sich insbesondere der Hadith- und Fiqh-Forschung, teilweise mit tatkräftiger Unterstützung des Kalifats. Der irakische Gelehrte Saʿīd Ibn Ǧubair (gest. 714) soll z. B. im Auftrag von ʿAbdalmalik Ibn Marwān einen Korankommentar geschrieben haben, der im Staatsarchiv aufbewahrt und später von ʿAṭāʾ Ibn Dīnār (gest. 744) weitertradiert wurde.24 Ebenfalls wird allgemein angenommen, dass die Erfassung (tadwīn) und Anordnung (taṣnīf) der bis dahin hauptsächlich mündlich tradierten und teilweise als Unterrichtsnotizen mancher Gefährten und ihrer Schüler aufbewahrten Hadith-Materialien vom umayyadischen Kalifen ʿUmar Ibn ʿAbdalʿazīz (reg. 717–720) veranlasst und gefördert wurde.25 Neben solchen zentral initiierten Tätigkeiten entwickelten sich in Provinzen wie Syrien, Basra, dem Irak, dem Iran, Ägypten und Bagdad theologische Kreise auch um apolitische bzw. oppositionäre Spezialisten, die sich auch unter der Abbasiden-Dynastie aufrechthielten.26 Zwei Tendenzen machen hier auf sich aufmerksam: Die vom Medinenser Mālik Ibn Anas (gest. 795) vertretene Schule von Ḥiǧāz, die aus Hadith-Anhängern (ahl al-ḥadīṯ) bestand, und die vom Iraker Abū Ḥanīfa (gest. 767) vertretene Schule von Irak, die Befürworter der Spekulation (ahl ar-raʾy) ausmachten. Während die ahl al-ḥadīṯ den Luxus hatten, sich im Geburtsort des Islams mit der Aufbewahrung der Tradition zu begnügen, waren die Eliten in kosmopolitischen Metropolen wie Kufa und Basra der Herausforderung ausgesetzt, den Islam in neuen Kontexten entsprechend zu interpretieren und nach Außen zu repräsentieren. Die andauernde Spannung zwischen diesen Haupttendenzen wurde in Unterrichtskreisen vertieft und mündete in der Entwicklung von konkurrierenden Rechts- und theologischen Schulen. Als die erste tragische Konsequenz einer ebenfalls nachhaltigen Kontroverse ist die erste muslimische Inquisition (miḥna, d. h. Prüfung/Verfolgung) zu erwähnen, die zwischen 833–849 von abbasidischen Kalifen, die sich der muʿtazilitischen Lehre von der »Erschaffenheit des Korans« (ḫalq al-Qurʾān) bekannten, gegen den traditionalistischen Gelehrten Aḥmad Ibn Ḥanbal (gest. 855) und seine Anhänger, die damals die ahl al-ḥadīṯ verkörperten, praktiziert wurde.27 Diese Verfolgung, der die Traditionalisten wegen ihrer Ansicht, der Koran sei unerschaffen, ausgesetzt wurden, hat schließlich dafür gesorgt, dass sich diese Ansicht unter den großen Massen unerschütterlich etabliert hat und bis heute Mainstream geblieben ist.

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Rahman, Fazlur: Islam, Chicago, 2nd Ed. 1979, 85 ff. Sezgin: Bd. 1, 28. Sezgin: Bd. 1, 56–57. van Ess, Josef: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, Berlin – New York 1991 (6 Bde). 27 Zaman, Muhammad Qasim: Religion and Politics under the Early ʿAbbāsids. The Emergence of the Proto-Sunnī Elite, Leiden-New York-Köln 1997, 106 ff.

Islamische Theologie heute: Orte, Gesichter und Tendenzen

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Bis Ende des dritten Jahrhunderts des Islams (etwa Mitte des 10. Jahrhunderts) bildeten sich so im Schatten facettenreicher theologischer wie politischer Auseinandersetzungen und in Interaktion mit ganz unterschiedlichen neuen Kulturen, Glaubens- und Wissenschaftstraditionen fast alle theologisch relevanten Richtungen heraus.28 Auch die ältesten erhaltenen schriftlichen Quellen der Muslime, die ihr Islambild, ihre Vorstellung von der Entstehung des Islams sowie seinen frühen Entwicklungen bestimmen, lagen bereits vor – wie die erste, von Ibn Hišām (gest. 833?) überarbeitete Prophetenbiographie Ibn Isḥāqs (gest. 769?), die großen HadithSammlungen von al-Buchārī (gest. 870), Muslim Ibn al-Ḥaǧǧāǧ (gest. 875), Abū Dāwūd (gest. 888), at-Tirmiḏī (gest. 892) und an-Nasāʾī (gest. 915) sowie die exegetischen Kompilationen von aṭ-Ṭabarī (gest. 923) und Ibn Abī Ḥātim (gest. 938). Es gibt keinen Anlass, diesen Gelehrten vorsätzliche Manipulationen in ihren Darstellungen vorzuwerfen, allerdings ist die Tatsache nicht unbedeutend, dass sie bestimmten theologischen und politischen Richtungen angehörten bzw. eigene Positionen hatten. Daraus ergeben sich zwei Kernaufgaben bzw. Existenzvoraussetzungen auch einer heutigen islamischen Theologie, wenn sie sich als Wissenschaft ernst nimmt: 1. Ansätze zur Erklärung und Strategien zur Überwindung dieser Kluft zwischen den erhaltenen schriftlichen Quellen, deren ältesten aus der Mitte des zweiten Jahrhundert stammen, und den in diesen Quellen beschriebenen Ereignissen zu entwickeln. 2. Denkbare Rückprojektionen der späteren Entwicklungen auf den Frühislam erkennbar zu machen, um mögliche Entwicklungslinien innerhalb des religiösen Denkens herauszuarbeiten.

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Traditionelle Orte, Gesichter und Tendenzen der islamischen Theologie

In den ersten drei Jahrhunderten vollzogen sich die Produktion und der Transfer von Wissen in den Bereichen Recht, Hadith, Theologie, Koranlesung und -auslegung sowie Sprachwissenschaft grundsätzlich dezentral und hauptsächlich in Moscheen und Privathäusern von Gelehrten. Den historiographischen und biographischen Werken ist zu entnehmen, dass sich diese Tradition der Gelehrsamkeit jahrhundertelang aufrechterhielt. Die ältesten Bildungseinrichtungen der Muslime, die an die frühe Form der Moschee-Schule-Tradition anschlossen, waren die Großmoscheen im muslimischen Osten (mašriq). Eine Reihe von Gelehrten aus Nordafrika, Andalusien und Zentralasien, die in Moschee-Kreisen in Kairo, Bagdad, Damaskus, Mekka, Medina etc. studiert hatten, hat eine bewundernswerte Transferarbeit geleistet und die Grundsteine für eigenständige Theologietraditionen in ihren Heimatregionen gelegt. Da die Araber, die nach der Eroberung nach Spanien einwanderten, überwiegend syrischen Ursprungs waren, wurde in Andalusien anfänglich die damals in Syrien verbreitete Rechtsschule al-Auzaʿīs (gest. 774) befolgt. Erst nachträglich wur-

28 Antes, Peter: Der Islam als politischer Faktor, Hannover 2001, 25–30.

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de sie durch die malikitische Schule ersetzt, nachdem diese unter Hišām I. (reg. 788–796) als offizielle Rechtschule etabliert worden war.29 So konnte sich die malikitische Schule in Andalusien und Nordafrika entfalten – dies durch Verdienste von Gelehrtengenerationen aus dem muslimischen Westen (maġrib), die selbst bei Mālik Ibn Anas oder seinen Schülern studiert hatten, wie Ziyād Ibn ʿAbdarraḥmān Šabṭūn (gest. 809) in Cordoba und Saḥnūn Ibn Saʿīd (gest. 854) in Kairouan. Ab der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts traten in Andalusien große Gelehrte auch auf dem Gebiet Koranexegese wie Baqī Ibn Maḫlad (gest. 889) hervor. In den folgenden Jahrzehnten sollte Andalusien zu einem Zentrum der islamischen Wissenschaften werden und große Gelehrte hervorbringen, so etwa Qāsim Ibn Aṣbaġ (gest. 951), Makkī Ibn Abī Ṭālib (gest. 1045), Abū ʿAmr ad-Dānī (gest. 1053), Abū al-Walīd al-Bāǧī (gest. 1081), Ibn ʿAṭīya (gest. 1147) und al-Qāḍī ʿIyāḍ (gest. 1149). Auch in Zentralasien ist eine ähnliche Transferarbeit bereits in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts zu erkennen. Die in Kufa entstandene hanafitische Schule hat ebenfalls über Gelehrte, die bei hanafitischen Gelehrten studiert hatten, ihre Blütezeit in Chorasan und Transoxanien erreicht. Zu erwähnen wäre als Beispiel Abū Sulaimān al-Ǧūzǧānī (gest. 816), der u. a. von den berühmtesten Schülern von Abū Ḥanīfa, Abū Yūsuf (gest. 798) und Muḥammad Ibn al-Ḥasan aš-Šaibānī (gest. 805), unterrichtet wurde und die Lehrer von Abū Manṣūr al-Māturīdī ausbildete.30 Den Moschee-Medresen folgten im 10. Jahrhundert weitere Medresen in östlichen Zentren wie Nischapur, Tadschikistan, Merw, Buchara und Chorasan. Erwähnenswert sind die spezifischen Ausbildungsstätten für die prophetische Tradition, die unter dem Titel »Haus der Sunna« (dār as-sunna) in Nischapur und unter dem Titel »Haus des Hadithes« (dār al-ḥadīṯ) in Damaskus auftauchten und die späteren Hadith-Häuser inspirierten.31 Ebenfalls ab dem 10. Jahrhundert entstanden spezifische Ausbildungsstätten für die juristische Ausbildung, insbesondere von šāfiʿitischen und hanafitischen Rechtsschulen. Obwohl bereits im 10. Jahrhundert Dutzende Ausbildungsorte verschiedener Art zu verzeichnen waren, wird allgemein angenommen, dass die Gründung der ersten von Moscheen unabhängigen Medresen auf die Initiative des seldschukischen Wesirs Niẓām-al-mulk (amt. 1063–1092) zurückgeht. Er gründete zunächst 1067 in Bagdad und später in anderen Großstädten wie Isfahan, Rey, Nischapur, Merw und Basra Medresen, die nach ihm genannt werden, die sog. Nizamiyya-Medresen. Sie dienten bis zum Ende des osmanischen Reichs als Modell für fast alle späteren Medresen der sunnitischen Welt. Unter den einflussreichsten Gelehrten, die an der Nizamiyya als Rektor (mudarris, d. h. Lehrer) tätig waren, sind Abū Isḥāq aš-Šīrāzī (gest. 1083), Imām al-Ḥaramain al-Ǧuwainī (gest. 1085), Abū Ḥāmid al-Ġazālī (gest. 1111) und Muḥammad Ibn Aḥmad aš-Šāšī (gest. 1114) zu erwähnen. Eine zweite Medrese-Welle ist auf die Anfänge des 12. Jahrhunderts zu datieren, nachdem die Sunniten die Einflussbereiche der schiitischen Fatimiden, vor allem Kairo, eroberten. Als Beispiel sind die Nūrīya-Medre-

29 Özdemir, Mehmet: Endülüs, in: TDV İslam Ansiklopedisi, Bd. 11, 221–222. 30 Rudolph, Ulrich: Al-Māturīdī & die sunnitische Theologie in Samarkand, Leiden 1997, 25 ff. 31 Ḥāfiẓ, M. Muṭīʿ: al-Maḥāsin as-sulṭānīya fī dār al-ḥadīṯ an-nūrīya, Damaskus 2006.

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sen zu nennen, die 1168 vom seldschukischen Atabeg Nūraddīn Zengī (reg. 1154–1174) in Damaskus gegründet und später durch Niederlassungen bis Ägypten verbreitet wurden.32 Die Motivation dieses explosiven Aufschwungs der von Sunniten gegründeten Medresen, den ismailitisch-schiitischen und esoterischen Expansionismus auch theologisch zu bekämpfen, brachte eine allmähliche Homogenisierung der sunnitischen Theologietraditionen zugunsten der šāfiʿitisch-ašʿaritischen Lehre mit sich, die programmatisch dem Lehrkanon dieser – von Hanafiten geförderten – Medresen zugrunde gelegt wurde. Die Periode vom Ende der Herrschaft der ismailitischen Buyiden durch den seldschukischen Sultan Tugrul Beg (reg. 1037–1063) im Jahr 1055 bis zur Entmachtung der Abbasiden-Dynastie mit der Eroberung und Zerstörung Bagdads durch den mongolischen Khan Hülegü (reg. 1256–1265) im Jahre 1258 wird in mancher Literatur als sunni revival33 oder sunni recentering34 hervorgehoben. So erkennen einige muslimische wie orientalistische Betrachterinnen und Betrachter in dieser Periode eine wissenschaftliche Regression in der Geisteswelt der Muslime. Viele machen für diesen von ihnen diagnostizierten Rückgang insbesondere alĠazālī verantwortlich, da er mit seinem Vorwurf an die muslimischen Philosophen, durch die Übernahme der gottlosen metaphysischen Gedanken der griechischen Philosophie den wahren Glauben des Islams verdorben zu haben, die Philosophie kategorisch diskreditiert hätte. Doch sehen andere bei ihm die Suche nach einer philosophischen Theologie.35 Unumstritten zu sein scheint allerdings die Feststellung, dass das grundlegendste Verdienst al-Ġazālīs darin bestand, die Integrität des muslimischen Geistes zu rekonstruieren, der zwischen Rationalismus, Traditionalismus und Sufismus fragmentiert war.36 Neben innerislamischen Faktoren sorgten offenbar auch die Kreuzzüge für eine gewisse Abkapselung innerhalb des theologischen Denkens der Muslime. Auf jeden Fall kann festgehalten werden, dass in dieser Periode die Traditionalisten (ahl al-ḥadīṯ) die Oberhand über die Rationalisten (ahl ar-raʾy) gewannen und die Schriften, insbesondere die Lehrbücher, »die den sunnitischen Islam für viele Jahrhunderte formen sollten und die in Kurzfassungen, Kommentaren und Überarbeitungen oft bis in die Gegenwart an den Hochschulen studiert werden«37, in dieser Epoche entstanden. Eine sich parallel dazu ereignende Entwicklung ist die Berührung der Muslime mit hellenistischen, persischen, indischen und anderen Kulturen, deren Anfang bereits auf das 7. Jahrhundert zurückreicht. Das dadurch ausgelöste Interesse und

32 Berkey, Jonathan: The Transmission of Knowledge in Medieval Cairo. A Social History of Islamic Education, New Jersey 1992. 33 Azzam, Abdel Rahman: Sources of the Sunni Revival: Nizam u‐Mulk & the Nizamiyya: An 11th Century response to Sectarianism, in: The Muslim World 106 (2016), Special Issue: Overcoming Sectarian Faultlines After the Arab Uprisings: Sources, Symptoms and Solutions, 97–108. 34 Berkey, Jonathan: The Formation of Islam: Religion and Society in the Near East, 600–1800, Cambridge 2003, 189–202. 35 Rudolf, Ulrich: Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2004, 60. 36 Rahman, Fazlur 106 ff. 37 Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011, 22.

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die Neugier für diese Kulturen und insbesondere für die in der Antike gepflegten Wissenschaften bewegte bspw. bereits den umayyadischen Prinzen Ḫālid Ibn Yazīd (gest. 704?) dazu, Übersetzungen griechischer und koptischer Werke zu veranlassen. So wurde die Rezeption bzw. Assimilation fremder Kulturen und Wissenschaften im 7. und 8. Jahrhundert unter der Schirmherrschaft von wissenschaftlich begeisterten Fürsten und Kalifen wie Marwān Ibn al-Ḥakam (reg. 684–685), ʿUmar Ibn ʿAbdalʿazīz und al-Manṣūr (reg. 754–775) fortgesetzt. Dass die Übersetzung der ersten drei Bücher des Organon von Aristoteles sowie des Isagoge von Porphyrios bereits unter dem abbasidischen Kalifen al-Manṣūr von Ibn al-Muqaffaʿ (gest. 759) angefertigt wurde, zeigt die Breite dieses Interesses. Diese Übersetzungsbewegung wurde im »Haus der Weisheit« (bait al-ḥikma) die im Jahr 825 vom abbasidischen Kalifen alMaʾmūn (reg. 813–833) in Bagdad gegründet wurde, systematisch fortgesetzt, so dass bis in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts »fast die gesamte wissenschaftliche Literatur der Antike (Philosophie; Medizin und Pharmakologie; mathematische Wissenschaften einschließlich Optik, Mechanik, Astronomie, Astrologie und Musiktheorie; Naturkunde; Agrikultur; Geheimwissenschaften) auf Arabisch zugänglich wurde.«38 Dabei spielten sicherlich das Verantwortungsbewusstsein der jeweiligen Staatsmänner für die Bedürfnisse des Staates – nicht nur, aber vor allem im Bereich Finanzen und Militär – eine unverkennbare Rolle.39 Das bait al-ḥikma, welches im Zuge der Mongolen-Belagerung im Jahre 1258 zerstört wurde, brachte nicht nur namhafte Wissenschaftler und Philosophen wie al-Ḫwārizmī (gest. zw. 835–850) und al-Kindī (gest. 873) hervor, sondern ebnete auch den Weg für weitere Häuser der Weisheit in folgenden Jahrhunderten – wie das von Aghlabiden in Raqqada (bei Kairouan) errichtete bait al-ḥikma und das unter Fatimiden in Kairo gegründete dār al-ḥikma. Die Rezeption des antiken sowie spätantiken geistigen Erbes schuf eine Grundlage für die eigenen wissenschaftlichen Errungenschaften der Muslime, die im Mittelalter die sog. Blütezeit des Islams im Nahen Osten, Zentralasien und Andalusien hervorbrachte und mittelbar auch den Horizont und Standard des Theologiebetriebs mitbestimmte. Als ein bedeutendes Reflexionsfeld, das durch diese Konfrontation übernommen und an einheimische Bedürfnisse angepasst wurde, fallen die Debatten über grundlegende erkenntnistheoretische Probleme ins Auge. Erwähnenswert sind insbesondere die Bemühungen der Philosophen wie Ǧābir Ibn Ḥaiyān (gest. 815), al-Kindī, al-Fārābī (gest. 950) und Ibn Sīnā (gest. 1037) zur Klassifikation der Wissenschaften, die später Theologen wie Ibn Ḥazm (gest. 1064) und al-Ġazālī aufgreifen und erweitern sollten, um die religiösen Wissenschaften in den universalen Kanon der Wissenschaften einzubeziehen.40 Auch in diesem intellektuellen Klima ausgebildete Pioniere des theologischen Denkens scheinen die Herausforderung,

38 Rudolph, Ulrich: 12; Rahman, Fazlur 120 ff. 39 Saliba, George: Islamic Science and the Making of the European Renaissance, London 2007, 73 ff. 40 al-ʿĀmirī, ʿAbdassattār: Taṣnīf al-ʿulūm ʿinda-l-ʿarab ḥattā nihāya al-qarn aṯ-ṯāmin al-hiǧrī, Bagdad 2013; Türker, Ömer: İslam Düşüncesinde İlimler Tasnifi, in: Sosyoloji Dergisi, Bd. 3 (2011), Nr. 22, 533–556.

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sich nach den gängigen wissenschaftlichen Standards zu artikulieren bzw. Eigenes im Lichte des Anderen zu reflektieren, angenommen zu haben, um überhaupt die islamische Sicht konsequent reflektieren und ihre Überlegenheit demonstrieren zu können. Selbst bei den Gründern der sunnitischen Theologieschulen, Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī (gest. 935) und Abū Manṣūr al-Māturīdī (gest. 944), ist die Bereitschaft nicht zu verkennen, sich der wissenschaftlichen Erkenntnisse ihrer Zeit sowie der philosophischen Argumentation bzw. Beweisführung zu bedienen.41 Das heißt aber nicht, dass diese inklusive Gesinnung gegenüber den fremden Wissenschaften die vorherrschende Haltung in den Gelehrtenkreisen repräsentierte, die sich mit textbezogenen Religionswissenschaften befassten. Die östlichen Medresen litten im 13. Jahrhundert unter den Mongolenstürmen, bis sie im persischen Gebiet vom zum Islam konvertierten mongolischen Ilchan Maḥmūd Ġāzān (Casanus, reg. 1295–1304) wiederbelebt und zum Normalbetrieb zurückgebracht wurden.42 Auf der anderen Seite griffen die Osmanen das seldschukische Medrese-System auf und setzten es fort, beginnend mit der OrhaniyeMedrese, die 1331 von Orhan I. (reg. 1326–1359) in Nicäa gegründet wurde und in der auch große Gelehrte wie etwa Dāwūd al-Qaiṣarī (gest. 1350) gelehrt haben.43 Die schleichende Spannung zwischen dem Rationalismus der Theologen (mutakallimūn) und der Frömmigkeit der Hadithgelehrten (muḥaddiṯūn) erreichte im 14. Jahrhundert ihren Höhepunkt und es entwickelte sich in Damaskus durch die Bemühungen des scharfsinnigen Theologiekritikers Ibn Taimīya (gest. 1328) und seines Schülers Ibn Qaiyim al-Ǧauzīya (gest. 1350) eine neue theologische Tendenz, die Salafīya. Der Einfluss der umfassenden Islaminterpretation Ibn Taimīyas blieb jahrhundertelang auf kritisch denkende, erneuerungsorientierte Theologen eingeschränkt, bis sie im 18. Jahrhundert als Grundlage der neosalafistischen WahhābīBewegung diente und ab dem 19. Jahrhundert fast alle Reformanstrengungen inspirierte.44 Obwohl die Medresen im Laufe des Mittelalters eine Reihe von bedarfsorientierten Transformationen und Reformen durchlaufen haben, wurde die erste bedeutende Bildungsreform unter dem osmanischen Sultan Mehmed II. (reg. 1451–1481) durchgeführt. In diesem Rahmen wurde in Istanbul eine u. a. vom Universalgelehrten Ali Kuşçu (ʿAlī Ibn Muḥammad al-Qūšǧī, gest. 1474) entworfene Hochschuleinrichtung, Sahn-ı Semân (ṣaḥn ṯamān, d. h. Acht Innenhöfe), eingerichtet, um die benötigte zivil-politische (mülkiye, ar. mulkīya), militärische (askeriye, ar. ʿaskarīya) und wissenschaftliche (ilmiye, ar. ʿilmīya) Elite auszubilden. Wegen der schwachen Stellung der Naturwissenschaften in Sahn-ı Semân gründete Süleyman I. (reg.

41 Rudolph, Ulrich: 22; insbesondere für die Anstrengung al-Māturīdīs, eine eigene Erkenntnislehre zu entwickeln, siehe: Kam, Hureyre: Das Böse als Gottesbeweis: Die Theodizee alMāturīdīs im Lichte seiner Epistemologie, Kosmologie und Ontologie, Berlin 2019, 40 ff. 42 Amitai-Preiss, Reuven: Ḡāzān Khan, Maḥmūd, in: Encyclopaedia Iranica, Bd. 10–4, 383. 43 Bilge, Mustafa: İlk Osmanlı Medreseleri, İstanbul 1984; Demiralp, Yekta: Erken Dönem Osmanlı Medreseleri (1300–1500), Ankara 1999. 44 Rahman, Fazlur 109–115.

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1520–1566) in Istanbul die Süleymaniye-Medrese, um die Ausbildung in naturwissenschaftlichen Bereichen wieder zu stärken.45 Neben den traditionellen Wissenschaften (ʿulūm naqlīya) wie Koranexegese (tafsīr) und -wissenschaften (ʿulūm al-qurʾān), Hadithwissenschaften (ʿulūm al-ḥadīṯ), systematische Theologie (kalām), Recht (fiqh), Rechtsmethodik (uṣūl al-fiqh) und Erbteilungslehre (farāʾiḍ) fanden auch arabische Sprachlehre (naḥw), Logik (mantiq) und Mathematik (riyāḍa) sowie teilweise Naturwissenschaften (ʿulūm ṭabīʿīya) als rationale Wissenschaften (ʿulūm ʿaqlīya) ihren Platz im Lehrkanon der etablierten Medresen im Verlauf ihrer mittelalterlischen und späteren Geschichte.46 Die Kurse bestanden aus der Lektüre bestimmter Hauptwerke und gegebenenfalls ihrer Kommentare im Rahmen jeder Disziplin. Exemplarisch sollen hier die Lehrinhalte der religiösen Hochschulbildung anhand der Studienrichtlinien, die unter Mehmed II. (reg. 1451–1481) erlassen worden sein sollen, angeführt werden. Dort heißt es: Die Rektoren sollten hoch angesehene Bücher wie Şerḥ-i ʿAḍuḍ47, Hidāye48, Keşşāf49 und ähnliches eigener Wahl unterrichten; andere Lehrer niedrigeren Ranges sollten bis zu Telvīḥ50 unterrichten; die noch niedrigeren Ranges sollten bis zu Miftāḥ51 unterrichten und die restlichen Lehrer noch niedrigeren Ranges sollten Şerḥ-i Ṭavāliʿ52, Şerḥ-i Meṭāliʿ53, Muṭavvel54 und Ḥāşiye-yi Tecrīd55 unterrichten«56

Die osmanischen Medresen, deren Anzahl auf 350 geschätzt wird57, konnten ihr Bildungsmonopol und ihre wissenschaftliche Autorität bis zur Einführung einer

45 İnalcik, Halil: The Ottoman Empire. The Classical Age: 1300–1600, London 1973, 166 ff. 46 Für eine Übersicht siehe Bakker, Jens: Normative Grundstrukturen der Theologie des sunnitischen Islam im 12./18. Jahrhundert, Berlin 2012. 47 Šarḥ al-Mawāqif, das Kommentar des maturiditischen Theologen al-Ǧurǧānī (gest. 1413) zu al-Mawāqif, einem Kalām-Werk des ašʿaritischen Theologen ʿAḍuḍaddīn al-Īǧī (gest. 1355). 48 al-Hidāya, der Kommentar des hanafitischen Gelehrten al-Marġinānī (gest. 1197) zu seinem eigenen Rechtswerk Bidāya al-mubtadiʾ, in dem er Themen aus al-Muḫtaṣar al-Qudūrīs (gest. 1037) und al- ǧāmiʿ aṣ-ṣaġīr aš-Šaybānīs zusammenführt. 49 al-Kaššāf, der Korankommentar des muʿtazilitischen Gelehrten az-Zamaḫšarī (gest. 1144). 50 at-Talwīḥ, at-Taftāzānīs (gest. 1390) Annotation zu Tanḳīḥ al-uṣūl von Sadraššarīʿa (gest. 1346), einem Kommentar zu Kanz al-wuṣūl, dem rechtsmethodischen Werk des hanafitischen Rechtsgelehrten al-Pazdawī (gest. 1089). 51 Miftāḥ al-ʿulūm von as-Sakkākī (gest. 1229) zur arabischen Grammatik und Rhetorik. 52 Maṭāliʿ al-anẓār fī šarḥ Ṭawāliʿ al-anwār, ein Kommentarwerk des ašʿaritischen Gelehrten Šamsaddīn al-Isfahānī (gest. 1349) zum ašʿaritischen Kalām-Werk Ṭawāliʿ al-anwār von alQāḍī al-Baiḍāwī (gest. 1286). 53 Lawāmiʿ al-asrār šarḥ Maṭāliʿ al-anwār, das Kommentarwerk von Quṭbaddīn ar-Rāzī (gest. 1365) zum Logikwerk Maṭāliʿ al-anwār von Sirāǧaddīn al-Urmawī (gest. 1283). 54 al-Muṭawwal, die Annotation at-Taftāzānīs (gest. 1390) zu Talḫīṣ al-Miftāḥ, einem Kommentar von al-Ḫaṭīb al-Qazwīnī (gest. 1338) zum Rhetorik-Kapitel des Miftāḥ al-ʿulūm von as-Sakkākī. 55 Ḥāšiya at-Taǧrīd, die Annotation al-Ǧurǧānīs zum Kommentar von Šamsaddīn al-Isfahānī, Tašyīd al-qawāʿid fī šarḥ Taǧrīd al-ʿaqāʾid, zu Taǧrīd al-ʿaqāʾid, einem Kalām-Werk von Nāṣiraddīn aṭ-Ṭūsī (gest. 1274). 56 Atay, Hüseyin: Osmanlılarda Yüksek Din Eğitimi, İstanbul 1983, 80. 57 İhsanoğlu, Ekmeleddin: Osmanlı Eğitim ve Bilim Müesseseleri, İstanbul 2002, Bd. 2, 244.

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alternativen, modernen Bildungseinrichtung (mektep, ar. maktab) durch Mahmud II. (reg. 1808–1839), die die Medresen aus dem System verdrängte, bewahren. Auch die stabile Struktur der schiitischen Medresen brach mit der Eröffnung der ersten modernen Universität, Dāru l-Funūn, unter dem Kadscharen-Sultan Nāser ad-Din Schah (reg. 1848–1896) im Jahre 1851 in Teheran zusammen und die Medresen wurden zu ausschließlich religiösen Lehrzentren.58

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Islamische Theologie(n) nach dem Traditionsbruch: Spannungsfeld zwischen Erbe und Moderne

In Zentralasien waren die muslimischen Gebiete ab Mitte des 16. Jahrhunderts Stück für Stück unter die Herrschaft des russischen Zarentums geraten. Das Osmanische Reich begann sich mit dem Friedensvertrag von Karlowitz (1699), der zugleich die Erklärung des Reiches zum »kranken Mann am Bosporus« bedeutete, aus seinen Hoheitsgebieten allmählich zurückzuziehen, bis es nach dem 1. Weltkrieg alle Gebiete unter seiner Herrschaft in Osteuropa, Afrika, dem Kaukasus und im Nahen Osten verließ. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Indien von Briten besetzt und zur Kronkolonie erklärt. Der französische Kolonialismus nahm bis Anfang des 20. Jahrhunderts den großen Teil Afrikas unter seine Kontrolle. In solch einem sozio-politischen Kontext wurden in fast allen muslimisch geprägten Regionen Stimmen laut, die als religiöse Reformforderungen betrachtet werden können. An diesen angesichts der verschiedentlich, aber allesamt konflikthaft ergangenen Konfrontation mit der Moderne formulierten Ansätzen sind zwei Grundmotivationen zu erkennen: Zum einen die Überwindung der eingestandenen Rückständigkeit der Muslime und zum zweiten die Befreiung der jeweiligen Bevölkerung und somit des Islams von fremden Herrschaften. In Indien unter britischer Besatzung forderte z. B. Schah Walī Allāh ad-Dihlawī (gest. 1762) die Erneuerung (taǧdīd) des religiösen Denkens, die eine ganze Reihe von Theologen und Denkern inspirierte, wie seinen Schüler Murtaḍā az-Zabīdī (gest. 1791) sowie später Siddiq Hasan Khan (gest. 1890), Muhammad Iqbal (gest. 1938) und ʿUbaidallāh as-Sindī (gest. 1944). Im vom Osmanischen Reich kontrollierten Arabien entwickelte Muḥammad Ibn ʿAbdalwahhāb (gest. 1792) das einflussreichste fundamentalistische Reformprogramm, das nicht nur seit 1932 die Staatsideologie des saudischen Königreichs bildet, sondern seitdem alle islamischpuritanistischen Bewegungen beeinflusst. In Kasan unter russischer Invasion hat Şihābeddīn Mercānī (gest. 1889) eine Reformbewegung angestoßen, die von einer beträchtlichen Anzahl von Gelehrten wie Ismail Bej Gasprinskij (gest. 1914) und Mūsā Ǧārallāh (gest. 1949) befolgt wurde – bekannt als Dschadidismus (tr. Cedîdcilik, d. h. Revisionismus). In den zentralen Regionen Afrikas – z. B. Uṯmān Ibn Fūdī (gest. 58 Karadeniz, Yılmaz/Sadri, Manizheh: İran'da Yenileşme Hareketleri Kapsamında Darülfünun Medresesi’nin Kurulması, in: Gedikli, Fikret (Hrsg.): Medrese Geleneği ve Modernleşme Sürecinde Medreseler, Bd. 1, 394–404.

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1817) – und im osmanischen Gebiet wie Ägypten – Ǧamal ad-Din Afghani (gest. 1897) und Muḥammad ʿAbduh (gest. 1905) – sowie in Nordafrika – z. B. Ibn Bādīs (gest. 1940) und aṭ-Ṭāhir Ibn ʿĀšūr (gest. 1973) – waren ebenfalls Reformbestrebungen im Bereich der Religion zu beobachten.59 Der gemeinsame Nenner all dieser Ansätze war, dass sie für den aktuellen Missstand der Muslime die degenerierte muslimische Tradition verantwortlich gemacht und die Lösung in einer Neulektüre der Tradition bzw. ihrer Befreiung von Lasten, die sie im Laufe der Jahrhunderte angehäuft habe, gesehen haben. Nach vielen Reformisten sollte man gegen jede tadelnswerte Neuerung (bidʿa) innerhalb der Religion kämpfen, um die authentische und reine Tradition des Propheten und seiner Urgemeinde (sunna) wiederherzustellen.60 Da dabei die herausragende Vorbildrolle des Propheten als gesellschaftliches Rollenmodell stärker zur Geltung kam, nahmen Hadithe im Denken und Lebensentwurf vieler Reformbewegungen einen wichtigen Platz ein, bis auf die Koranisten (ahl al-Qurʾān), die beginnend mit Sayyid Ahmad Khan (gest. 1898) die Zuverlässigkeit der Überlieferungen kategorisch anzweifelten und zur Rückbesinnung auf den Koran aufforderten, um auch die authentische Sunna wiederzubeleben.61 Nicht zuletzt ist zu erwähnen, dass die zentrale Forderung auch vieler von einer neuen mystischen Pietät inspirierter Sufi-Bewegungen taǧdīd war.62 Die muslimische Moderne war und ist allerdings keinesfalls, wie oft dargestellt, mit diesen Reformdiskursen chrakterisiert, sondern vielmehr von der geistlichen Gesinnung der traditionalistischen Mehrheit der Gelehrsamkeit, die es schaffte, die große Masse der Gläubigen zu überzeugen und hinter sich zu bringen – nach der Devise »Enthüllung des Althergebrachten (kašf al-qadīm) vs. Erfindung des Neuartigen (waḍʿ al-ǧadīd)«. Die muslimische Moderne ist natürlich auch damit gekennzeichnet, dass die traditionellen Institutionen der religiösen Bildung und theologischen Ausbildung unter den angesprochenen Umständen kaum zentrale Kontrolle und Unterstützung mehr genossen und allmählich zu Orten einer zunehmenden Entartung wurden. Viele wurden geschlossen, manche wurden wegen Lehrpersonalmangel allmählich eingestellt und einige wenige versuchten mit Mitteln der lokalen Bevölkerung bzw. des jeweiligen Staates fortzubestehen, jedoch ohne großen Erfolg. Nach der Gründung des modernen türkischen Nationalstaats wurde 1924 im Rahmen der Nationenbildungsmaßnahmen das Medrese-System gänzlich

59 Kuraiyim, Sāmiḥ: Mausūʿat aʿlām al-muǧaddidīn fi l-islām, 3 Bände, Kairo 2010; Amīn, Aḥmad: Zuʿamāʾ al-iṣlāḥ fī l-ʿaṣr al-ḥadīṯ, Beirut o. J.; Rahman, Fazlur: Islamic Modernism. Its Scope, Method and Alternatives, in: International Journal of Middle East Studies, Bd. 1 (1970), Nr. 4, 317–333. 60 Reichmuth, Stefan: The Prophet in a Muslim Age of Revolution (ca. 1775–1850), Vortrag bei der Internationalen Konferenz Historicity and Islamicity an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, 12.-14.12.2019: https://www.theofunk.de/muslim-age-revolutions-reichmuth (letzter Abruf: 27.10.2020). 61 Troll, Christian W.: Sayyid Ahmad Khan. A Reinterpretation of Muslim Theology, Aligarh, 2nd Ed. 2020. 62 Dallal, Ahmad S.: Islam without Europe: Traditions of Reform in Eighteenth-Century Islamic Thought, Chapel Hill 2018, 94–139.

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abgeschafft und durch ein neues Bildungskonzept ersetzt.63 In vielen Ländern außerhalb des osmanischen Herrschaftsgebiets wie Indien, Indonesien und Pakistan blieben Medresen trotz der Kolonialisierung teilweise bestehen.64 An dieser Stelle sollen die pakistanischen Medresen näher unter die Lupe genommen werden, da sie einerseits mit ihrer Vielfalt und Komplexität zeigen, dass es ein Irrtum wäre, heutige Medresen als Einheitlichkeit zu betrachten bzw. auf bloßen Traditionalismus zu reduzieren, und andererseits über Pakistan hinaus sehr einflussreich, weil international vernetzt, sind. Die Wirkungskraft der Medresen in Pakistan hängt eng mit der Entstehungsgeschichte des Landes zusammen. Es entstand bekanntlich 1947 durch die Abspaltung von Britisch-Indien und erklärte sich 1956 zu einer Islamischen Republik, weshalb es eine islamische Sinngebung und Legitimation benötigte. 1962 wurde unter der Regierung von Ayub Khan der Rat für Islamische Ideologie als ein Verfassungsorgan gegründet, welches das Parlament bei der Islamisierung der Gesetze und sonstigen islamischen Fragen beraten sollte.65 Unterstützt wurde der Rat von einem Institut für Islamforschung66, das ebenfalls 1962 als ein Verfassungsorgan gegründet wurde und »islamische Forschung und Unterweisung durchführen soll, um den Wiederaufbau der muslimischen Gesellschaft auf einer islamischen Basis zu gewährleisten«.67 In diesem politischen Zusammenhang versuchte Ayub Khan (reg. 1958–1969) die zahlreichen dezentral operierenden Medresen unter staatliche Kontrolle zu bringen und ihr Bildungssystem zu modernisieren.68 Auch nach ihm gab es mehrere ähnliche Versuche, insbesondere 1979. Gerade nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gerieten die pakistanischen Medresen in scharfe Kritik und unter Vorwürfe der Radikalisierung, so dass die Militärregierung unter Pervez Musharraf (reg. 1999–2008), der bereits kurz davor die Gründung eines staatlich kontrollierten Medrese-Modells verordnet hatte, sich gezwungen sah, neue Reforminitiativen zu ergreifen.69 Trotz der erlassenen Gesetze zur Registrierung und Modernisierung der

63 Agai, Bekim: Islam and Education in Secular Turkey, in: Hefner, Robert W./Zaman, Muhammad Qasim (Hrsg.): Schooling Islam: The Culture and Politics of Modern Muslim Education, Princeton 2007, 150. 64 Zaman, Muhammad Qasim: The Ulama in Contemporary Islam: Custodians of Change, Princeton 2002, 62. 65 Masud, Muhammad Khalid: Role of the Council of Islamic Ideology in the Islamisation of Laws in Pakistan, International Centre for Muslim and non-Muslim Understanding Working Paper 3, 2013, 1–10. 66 Ahmed, Manzooruddin/Sharif, S. M.: Islamic Aspects of the New Constitution of Pakistan, in: Islamic Studies, Islamabad 1963, Bd. 2, Nr. 2, 249 ff. 67 https://iri.iiu.edu.pk/index.php/about-2/historical-chronology/ (letzter Abruf: 27.10.2020). 68 Malik, Jamal: Colonialization of Islam: Dissolution of Traditional Institutions in Pakistan, Manohar 1996, 123; Zaman, Muhammad Qasim: Religious Education and the Rhetoric of Reform: The Madrasa in British India and Pakistan, in: Comparative Studies in Society and History, Cambridge 1999, Bd. 41, Nr. 2, 311. 69 Malik, Jamal: Madrasas in South Asia: Teaching Terror?, New York 2008; Rehman, Misbahur: Reforms in Pakistani Madrasas: Voices from Within, in: Reforms in Islamic Education: International Perspectives, London 2014, 97–116.

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Medresen gelang dem Staat bislang nicht einmal die Erfassung der Anzahl der tätigen Medresen im Land. Die staatlichen Initiativen bewirkten nur die Gründung einer Union (Ittehad Tanzimat Madaris-e-Deeniya), in der sich die muslimischen Organisationen für gemeinsame Interessen und Unabhängigkeit von staatlichen Eingriffen zusammenschließen. In dieser Union sind die großen islamischen Bewegungen Pakistans vertreten, welche die Medresen im Lande leiten: Barelwis, Deobandis, Ahl-e Hadīth, Jamaʿat-e-Islami und Schiiten. Die älteste religiöse Bewegung Pakistans bilden die Deobandis. Diese Bewegung geht auf die 1866 in der indischen Stadt Deoband gegründete Darul Uloom Deoband zurück, die als weltweit zweitgrößte sunnitische Hochschule nach der Azhar-Universität gilt.70 Die Deobandis vertreten das Islamverständnis der vom Schah Walī Allāh ad-Dihlawī inspirierten puristischen Bewegung Ṭarīqa-yi Muḥammadīya und befolgen strikt die hanafitische Rechtsschule. Sie verwalten ihre Medresen seit 1959 durch die Föderation arabischer Schulen (Wafaq ul Madaris Al Arabia). Der Einflussbereich der Deobandis geht über die Grenzen Indiens und Pakistans hinaus und reicht über Bangladesch, Afghanistan, Malaysia, Südafrika und Indonesien bis hin nach Großbritannien.71 Die größte religiöse Gruppierung in Pakistan ist jedoch die Barelwi-Bewegung, die vom paschtunischen Qādirī-Gelehrten Ahmad Riza Khan Barelwī (gest. 1921) gegründet wurde und in Opposition zu den Deobandis steht.72 Die Barelwis gelten ebenfalls als strenge Anhänger der hanafitischen Rechtsschule, folgen aber auch der mystischen Lehre Ibn ʿArabīs (gest. 1240). Aufgrund ihrer Nähe zum Volksislam ist die Bewegung über Pakistan hinaus im gesamten südasiatischen Raum sehr einflussreich. Ihre Medresen werden von der 1960 in Lahore gegründeten Organisation der Schulen von Ahl as-Sunna (Tanzeem Ul Madaris Ahl-e Sunnat Pakistan) verwaltet.73 Die drittgrößte Gruppierung, die Ahl-e Hadīth-Bewegung, wurde 1864 von Siddiq Hasan Khan im britischen Indien gegründet.74 Wie die Eigenbezeichnung andeutet, vertreten ihre Anhänger in Anlehnung an die ahl al-ḥadīṯ aus dem 2. Jahrhundert ein salafitisches Islamverständnis und lehnen alle späteren religiösen Entwicklungen wie Rechts- und Theologieschulen sowie den Sufismus als Neuerung (bidʿa) strikt ab. Aus diesem Grund werden sie von ihren Gegnern als Wahhabiten bezeichnet. Ihre Medresen werden von der Salafitischen Föderation der Schulen (Wafaq ul Madaris Al Salafiyyah) verwaltet, die 1955 in Faisalabad gegründet wurde.75

70 Metcalf, Barbara D.: Islamic Revival in British India: Deoband, 1860–1900, Princeton 2014; Abbas, Tahir: Islamic Radicalism and Multicultural Politics: The British Experience, New York 2011, 33. 71 Reetz, Dietrich: The Deoband Universe: What Makes a Transcultural and Transnational Educational Movement of Islam? in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East, Bd. 27 (2007), Nr. 1, 145, 154; ders., Travelling Islam – Madrasa Graduates from India and Pakistan in the Malay Archipelago, ZMO Working Papers 8 (2013), 2. 72 Sanyal, Usha: Ahmad Riza Khan Barelwi. In the Path of the Prophet, London 2012. 73 Bano, Masooda: The Rational Believer: Choices and Decisions in the Madrasas of Pakistan, IthacaLondon 2012, 87. 74 Reetz, Dietrich ibid. 75 Saleem, Raja M. Ali: Islamization and Religious Education, in: ders. (Hrsg.): State, Nationalism, and Islamization: Historical Analysis of Turkey and Pakistan, Cham 2017, 199–236.

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Die letzte sunnitische Bewegung Jamaʿat-e Islami wurde 1941 von Sayyid Abul Ala Maududi (gest. 1979) als eine politische Partei gegründet und vertritt einen puristischen Reformislam. Ihre Medresen werden von der Liga der islamischen Schulen (Rabitatul Madaris Al Islamiah) verwaltet, die 1983 gegründet wurde.76 Laut der Website des Ministeriums für allgemeine und berufliche Bildung gibt es im Land schätzungsweise 35.000 Medresen, von denen 26.160 registriert sind.77 Die Imame und teilweise religiöse Lehrkräfte für Schulen werden in diesen Medresen ausgebildet. Das Kerncurriculum aller Medresen bildet ein im 18. Jahrhundert von Mullah Nizam ud Din Sehalvi (gest. 1747) standardisiertes Curriculum, das Dars e Nizami.78 Neben den Medresen gibt es in Pakistan fast an allen Universitäten theologische Einrichtungen (etwa 130 an der Zahl), die besonders MA-Studiengänge für Islamische Studien anbieten, die überwiegend von Absolventen der Medresen in Anspruch genommen werden. Auch die Internationale Islamische Universität Islamabad bietet seit 1985 dreimonatige Trainingskurse und Stipendien für die bereits tätigen Imame an.79 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang das von Jamal Malik initiierte Projekt, in dessen Rahmen Madrasa-Studenten und -Lehrer sich zwei Wochen lang in Erfurt aufhielten – es war das erste Mal, dass sie die Möglichkeit hatten, eine europäische Universität zu besuchen.80 Da über Pakistan und andere Länder hinaus, in denen Medresen aktiv sind, außeruniversitäre Religionsdiskurse den akademischen Theologiebetrieb nicht nur als Forschungsgegenstand interessieren, sondern auch inhaltlich und methodisch herausfordern, gar diskursiv beeinflussen, ist die Universitätstheologie nicht vom Medrese-Diskurs isoliert zu erschließen. Umgekehrt gilt auch, dass die Medresen die Entstehung der Universitätstheologie als eine neue Herausforderung erlebt und auf ihre Art und Weise darauf reagiert haben. Außerdem ist offensichtlich, dass ein nicht unwichtiger Teil von Studierenden und Lehrenden der universitären Einrichtungen einen MedreseHintergrund haben bzw. über Organisationen wie die Internationale Union Muslimischer Gelehrter, die 2004 durch die Initiative des ägyptischen Gelehrten Yūsuf al-Qaradāwī in London gegründet wurde, in Kontakt zu Medresen stehen. Die Union

76 Bano, Masooda ibid. 77 http://mofept.gov.pk/ProjectDetail/YzYxNjUwNDktMjgzMi00YmU3LTkxMzItYWRiZWZjNm U4MDM3 (letzter Abruf: 27.10.2020). Außerdem gibt es einzelne Studien, die verschiedene Schätzungen zur Anzahl der Medresen in Pakistan angeben: Siehe bspw.: Andrabi, Tahir u. a.: Religious School Enrollment in Pakistan: A Look at the Data, in: Comparative Education Review, Bd. 50 (2006), Nr. 3, 446–477. 78 Preckel, Claudia: Islamische Bildungsnetzwerke und Gelehrtenkultur im Indien des 19. Jahrhunderts: Muḥammad Ṣiddīq Ḥasan Ḫān (gest. 1890) und die Entstehung der Ahl-e ḥadīṯ-Bewegung in Bhopal, Bochum 2015, 64–79; Malik, Jamal: Islam in South Asia: A Short History, LeidenBoston 2008, 198. 79 Training of Imam Program at Da'wah Academy of International Islamic University, Islamabad, Pakistan https://dawah.iiu.edu.pk/training/national-programs/ (letzter Abruf: 27.10.2020). 80 https://www.uni-erfurt.de/en/philosophische-fakultaet/seminare-professuren/religionswi ssenschaft/professuren/islamwissenschaft/research/religious-pluralism-religious-pluralitytowards-an-ethics-of-peace (letzter Abruf: 27.10.2020).

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ist nicht nur international, sondern auch konfessionsübergreifend konzipiert. Eine ähnliche Organisation, die spezifisch zur Annäherung der islamischen Rechts- und Theologieschulen (taqrīb al-maḏāhib) bereits in 1990 vom religiösen Führer des Iran Ali Khamenei initiiert wurde, ist die Weltversammlung für die Annäherung der islamischen Denkschulen.81 Als die älteste erhaltene muslimische Hochschule ist die Zitouna-Moschee bzw. Großmoschee (al-ǧāmiʿ al-aʿẓam) in Tunis zu verzeichnen, die 737 erbaut und 1956 in eine moderne Universität umgewandelt wurde.82 Die 784 vom umayyadischen Emir erbaute Moschee von Cordoba war auch ein Wissenschaftszentrum, das mit der Weihung der Moschee zur Kirche im Zuge der Reconquista geschlossen wurde. Dadurch ist die zweitälteste erhaltene Bildungseinrichtung die Universität al-Qarawīyīn in Fès, die sich auf die Gründung der Qarawīyīn-Moschee im Jahr 859 zurückführen lässt, auch wenn ihre Umwandlung in eine moderne Universität erst 1957 erfolgte.83 In Fachkreisen ist bekannt, dass sie für sich beansprucht, die älteste Universität zu sein, weil sie den Lehrbetrieb kontinuierlich fortsetzte, während der Lehrbetrieb der Zitouna mehrfach Unterbrechungen erleben musste. Die drittälteste erhaltene Universität der islamischen Welt, die Azhar-Universität, geht auf die im Jahre 972 von Fatimiden gegründete Azhar-Moschee zurück, die ebenfalls seit ihrer Gründung auch als Bildungsstätte gedacht war.84 Auch wenn sich die drei genannten Universitäten derzeit freilich nicht in ihrem goldenen Zeitalter befinden, sind sie zurecht stolz auf ihre Vergangenheit, die jeweils mit großen Namen verbunden ist, so etwa ʿImrān al-Fāsī (gest. 1039), Ibn ʿArabī, Ibn Ḫaldūn (gest. 1406), Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī (gest. 1449), Muḥammad ʿAbduh oder aṭ-Ṭāhir Ibn ʿĀšūr. Neben diesen alten Universitäten, die es nicht nur zeitlich geschafft haben, in klassischen wie in modernen Zeiten zu bestehen, sondern zugleich darum bemüht sind, auch inhaltlich einen Spagat zwischen Erbe und Moderne zu meistern, gibt es in der muslimischen Welt jüngere Universitäten, die sich den islamischen Wissenschaften widmen, wie bspw. die Islamische Universität Imam Muhammad Ibn Saud (Riyad), die Umm-al-Qurā-Universität (Mekka) sowie die Islamische Universität zu Medina in Saudi Arabien, die Internationale al-Mustafa-Universität (Ghom) im Iran und die Sultan Sharif Ali Islamische Universität in Brunei Darussalam.85 An diesen Universitäten werden neben einheimischen auch Studierende aus der ganzen Welt ausgebildet. Außerdem gibt es in manchen muslimischen Ländern wie Pakistan (Islamabad), Malaysia (Kuala Lumpur), Bangladesch (Kumira), Indonesien (Yogyakarta), Aserbaidschan (Baku), Usbekistan (Tashkent), Jordanien (Amman), Palästina (Gaza), Libanon (Khalde), Uganda (Mbale), Sudan (Omdurman) und Nigeria (Say) Universitä81 Offizielle Webseite: https://www.taghrib.com/fa (letzter Abruf: 27.10.2020). 82 Abbas, Nabila: Das Imaginäre und die Revolution. Tunesien in revolutionären Zeiten, Frankfurt 2019, 144. 83 ʿAbdalḥaiy, Muḥammad: Māḍī al-Qarawīyīn wa-mustaqbaluhā, ed. ʿAbdalmaǧīd al-Bukkārī, Beirut 1971; at-Tāzī, ʿAbdalhādī: Ǧāmiʿ al-Qarawīyīn. Al-masǧid wa-l-ǧāmiʿa bi-madīna Fās, Beirut 1972. 84 ʿInān, Muḥammad ʿAbdallāh: Tārīḫ al-Ǧāmiʿ al-Azhar, Kairo 1958. 85 https://ar.wikipedia.org/wiki/‫( قائمة_الجامعات_العربية‬letzter Abruf: 27.10.2020).

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ten, die sich ebenfalls als (Internationale) Islamische Universitäten bezeichnen und deren Studienangebote in der Tat international in Anspruch genommen werden. Diese Universitäten haben oft ein fächerübergreifendes islamisches Curriculum. Als Beispiel ist die Islamische Universität Indonesien (Universitas Islam Indonesia) zu erwähnen, die ein fakultätsübergreifend obligatorisches, spezifisch islamisches Zusatzcurriculum hat.86 Auch in einigen nicht muslimisch geprägten Ländern mit großer muslimischer Minderheit gibt es Universitäten, die die Bezeichnung Islamic bzw. Muslim führen, so die indischen Universitäten Aligarh Muslim University, Darul Huda Islamic University (Kerala) und Jamia Millia Islamia (Neu-Delhi), Islamische Universität Europa (Rotterdam) und The Islamic College (London). Außer an den Universitäten, die explizit auf dem Gebiet der islamischen Wissenschaften spezialisiert sind, werden die islamisch-theologischen Inhalte in der islamischen Welt grundsätzlich an Einrichtungen mit unterschiedlichen Denominationen auf Fakultäts-, Instituts- oder Abteilungsebene erforscht und vermittelt. Die üblichen Fachbezeichnungen in der arabischen Welt, Scharia (Scharia), ʿulūm islāmīya (Islamische Wissenschaften), uṣūl ad-dīn (Grundlagen der Religion) und daʿwa islāmīya (Islamische Berufung/Einladung), stehen für das Studium der klassischislamischen Wissenschaften, während der Titel dirāsāt islāmīya eher Islamische Studien im Sinne zwar binnenperspektivischer, aber kritischer, ergebnisoffener Forschung impliziert. Es gibt auch jenseits der arabischen Welt Einrichtungen, die die arabische Bezeichnungen Scharia und uṣūl ad-dīn für ihre theologischen Einrichtungen verwenden, z. B. die Internationale Islamische Universität in Pakistan. Die weiteren Denominationen sind Islamische Studien – z. B. in Pakistan (Islamic Studies), Mazedonien (Skopje) und Serbien (Islamskih Studija, Novi Pazar) – und teilweise Islamwissenschaft(en) bzw. islamische Wissenschaften – z. B. in Indonesien (Ilmu Agama Islam, Jakarta), Bosnien (Islamskih Nauka, Sarajewo) und Aserbaidschan (İslamşinaslıq, Baku). Die Türkei scheint mit der Bezeichnung Theologie (İlâhiyât) eine Ausnahme in der islamischen Welt zu bilden, wobei in den letzten Jahrzehnten eine Emanzipation von der Bezeichnung Theologie auch dort erkennbar ist und die neu gegründeten Fakultäten eher die Denomination Islamische Wissenschaften (İslâmî İlimler) präferieren – diese Bezeichnung gilt in der öffentlichen Wahrnehmung als Indiz dafür, dass es sich um den Erwerb und die Vermittlung des klassischen religiösen Wissens handelt, nicht um Theologie als spekulative Wissenschaft. Hier wird kein Nominalismus gebraucht, dennoch verrät die Fachbezeichnung Einiges über den Selbstanspruch sowie den Auftrag der jeweiligen Einrichtungen. Wie die Fachbezeichnung ist auch die Verortung der islambezogenen Forschung im universitären Fächerkanon ein wichtiger Faktor, der die Umgangsweise mit theologischen Inhalten strukturell bestimmt. In der Mehrheit der muslimisch geprägten Länder ist die Islamforschung quasi Monopol der theologischen Einrichtungen im universitären Betrieb. Das erschwert die gegenseitige Befruchtung zwischen Theologie und anderen Disziplinen, weil so die Theologie als einzige religions- und

86 Aslan, Ednan: Islamische Theologie in Österreich. Institutionalisierung der Ausbildung von Imamen, SeelsorgerInnen und TheologInnen, Frankfurt 2013, 68.

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islambezogene Disziplin von anderen Disziplinen weder herausgefordert noch ernst genommen werden kann. Die türkische Theologie hofft diese Defizite durch die Aufnahme relevanter Geistes- und Sozialwissenschaften in den eigenen Kanon zu beheben, was allerdings bisher nicht zur Entstehung religionsbezogener Geistesund Sozialwissenschaften auf Augenhöhe mit säkularen Wissenschaften geführt hat. Ein anderes, ziemlich altes Modell ist in Ägypten zu beobachten.87 Dort sind die Orte der islamischen Theologie vor allem die entsprechenden Fakultäten der Azhar-Universität in Kairo und ihre Zweigstellen in verschiedenen Städten und Provinzen des Landes. Sie führt außerdem innerhalb der Fakultät für Sprachen und Übersetzung theologische Studiengänge in Fremdsprachen ein, darunter auch in deutscher Sprache. So ist zwar die Ausbildung von Geistlichen sowie Lehrkräften für den Religionsunterricht ein Monopol der Azhar-Universität, dennoch werden islamische Inhalte auch in geistes-, sprach- und rechtswissenschaftlichen Fakultäten anderer Universitäten behandelt. Erwähnenswert ist die Dār al-ʿUlūm in Kairo, die 1871 vom damaligen Bildungsminister ʿAlī Pascha Mubārak (amt. 1888–1891) nach dem Vorbild der École normale supérieure als eine alternative Hochschule zu al-Azhar gegründet wurde und islamspezifische Abteilungen unterhält.88 Über eine ähnliche Struktur verfügt bspw. auch Tunesien, wo die Universität Zitouna zwar mit ihren Zweigstellen im ganzen Land Monopolanspruch auf die theologische Ausbildung hat, jedoch die Islamforschung seit der Universitätsreform von 1987 auch zum Lehrkanon mancher geisteswissenschaftlicher Fakultäten gehört. Auch in Algerien und Marokko ist es eine Selbstverständlichkeit, dass der Islam einen wesentlichen Forschungs- und Reflexionsgegenstand entsprechender Universitätsfächer jenseits der Theologie bildet. Die nordafrikanische Islamforschung zeichnet sich durch ihre enge Beziehung zu und Kooperation mit einschlägigen Fächern französischer Universitäten aus. Dass die theologischen Inhalte in manchen arabischen Ländern auch innerhalb von säkularen Disziplinen behandelt werden, sorgt für Spannungen und Konflikte zwischen traditionellem und wissenschaftlichem Umgang mit dem islamischen Erbe und beeinflusst den Theologiebetrieb weltweit.89 Viele renommierte Forscher aus den letzten Jahrzehnten, deren Werke international rezipiert und in andere Sprachen übersetzt worden sind, stammen eben nicht aus theologischen Fakultäten, wie Ḥasan Ḥanafī und Nasr Hamid Abu Zaid (gest. 2010) aus Ägypten, Mohammed Abed Al Jabri (gest. 2010) und Taha Abd ar-Rahman aus Marokko, Mohammed Arkoun (gest. 2010) aus Algerien/Frankreich und Hischam Djait aus Tunesien, um nur einige Beispiele zu nennen. In den letzten Jahren vernetzen sich die arabisch-muslimischen Intellektuellen, die diese Öffnung vertreten, unter dem Dach

87 Heyworth-Dunne, J.: An Introduction to the History of Education in Modern Egypt, New York 1968. 88 Kopraman, Kâzım Yaşar: Ali Paşa Mübârek, in: TDV İslam Ansiklopedisi, Bd. 2, S. 434; Agai, Bekim: ʿAlī Mubārak, in: Encyclopaedia of Islam, THREE: http://dx.doi.org.proxy.ub.unifrankfurt.de/10.1163/1573–3912_ei3_SIM_0046 (letzter Abruf: 27.10.2020). 89 Hildebradt, Thomas: Neo-Muʿtazilismus? Intention und Kontext im modernen arabischen Umgang mit dem rationalistischen Erbe des Islam, Leiden-Boston 2007, 90–115.

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internationaler Organisationen wie etwa Mominoun Without Borders (muʿassasa muʾminūn bi-lā ḥudūd).90 Eine weitere Divergenz ergibt sich beim Umgang mit der innerislamischen Vielfalt in Lehre und Forschung. Die Extrembeispiele bilden wohl die saudischen und ägyptischen Theologietraditionen. In den theologischen Fakultäten in Saudi Arabien ist ausschließlich die wahhabitische Interpretation des Islams das herrschende Paradigma, während in den ägyptischen Einrichtungen trotz der ašʿaritischen – und somit šāfiʿitischen – Mehrheit der Bevölkerung traditionell eine konfessionsübergreifende Perspektive gepflegt wird. In vielen anderen Ländern erfährt zwar die im jeweiligen Land vorherrschende Ausrichtung eine besondere Gewichtung im Lehrbetrieb, aber eine innerislamisch tolerante Haltung wird grundsätzlich angestrebt, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. In Marokko, Algerien und Tunesien mit überwältigender malikitischer Mehrheit sowie in der Türkei, wo die Hanafiten die größte und die Šāfiʿiten die zweitgrößte Ausrichtung im Land ausmachen, finden alle islamischen Richtungen bis hin zum Schiitentum Berücksichtigung in Lehre und Forschung.

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Neuausrichtung der islamischen Theologie in der Türkei

Die erste religiöse Hochschuleinrichtung der modernen Türkei war die Theologische Fakultät am Dârülfünûn (ar. dār al-funūn, d. h. Haus der Wissenschafen), welche 1924 nach dem Tevhîd-i Tedrîsât-Gesetz zur Zentralisierung und Vereinheitlichung der Bildung in Istanbul gegründet wurde.91 Mit der Schließung des Dârulfünûn im Rahmen der Hochschulreform von 1933 wurde auch diese Fakultät geschlossen bzw. in das Institut für Islamstudien (İslam Tedkikleri Enstitüsü) an der neu gegründeten Universität Istanbul umgewandelt. Die noch heute bestehende älteste Theologische Fakultät der Türkei wurde 1949 an der Universität Ankara eingerichtet.92 Laut der Begründung des Gesetzesentwurfs sollte die theologische Fakultät nach dem westlichen Modell etabliert werden. Da es seinerzeit keine Islamwissenschaftlerinnen bzw. Islamwissenschaftler und Theologinnen bzw. Theologen mit entsprechendem Hochschulabschluss in der jungen Republik gab, wurde der Lehrbetrieb eine Zeit lang grundsätzlich von Professoren aus Sprach-, Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Ankara, von denen an dieser Stelle die großen Namen wie Suut Kemal Yetkin (gest. 1980) und Hilmi Ziya Ülken (gest. 1974) erwähnt seien, sowie im Bereich Arabisch und Koranlesung vom nichtakademischen Personal der Religionsbehörde Diyanet durchgeführt.

90 Offizielle Webseite: https://www.mominoun.com/ (letzter Abruf: 27.10.2020). 91 Kaya, Yakup: Geschichte der staatlichen religiösen Bildung in der Republik Türkei (1946–2002), Hamburg 2017, 74 ff. 92 Zum Gründungsgesetz: Ankara Üniversitesi Kuruluş Kadroları Hakkındaki 5239 Sayılı Kanuna Ek Kanun (Gesetznummer: 5424, 4.6.1949), in: Resmi Gazete, 10.6.1949, 16309.

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Erstmals im Jahre 1951 gelang es der Universität einen in Paris promovierten Migranten bosnischer Herkunft, Tayyip Okiç (gest. 1977), als Professor für Hadithwissenschaft zu berufen. Er etablierte dort neben der Hadithwissenschaft nicht nur auch die Koranexegese, sondern verlieh der Fakultät, in der eine gewisse emanzipatorische Haltung gegenüber allem Religiösen vorherrschte, eine stärker religiös inspirierte Atmosphäre und bildete die Pioniere der türkischen Universitätstheologie aus. Zu diesen gehören u. a. Talat Koçyiğit (gest. 2011), İsmail Cerrahoğlu, Mehmed Said Hatiboğlu, Süleyman Ateş und Abdülkadir Şener. Als Gastprofessor betreute er zudem die Gründung und Etablierung von weiteren theologischen Einrichtungen in Istanbul (1959), Konya (1962) und Erzurum (1971) und bildete auch an diesen Standorten bedeutende Schüler aus. Einen weiteren Meilenstein in der Entstehung der türkischen Universitätstheologie bildet zweifellos Muḥammad Tawīt aṭ-Ṭanǧī (gest. 1974) aus Marokko, der 1953 als Professor für Islamische Philosophie berufen wurde. Er etablierte neben der Philosophie die systematische Theologie – einschließlich der Geschichte der islamischen Richtungen – und lehrte zudem auch in Istanbul. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass das Verdienst, ihn für die türkische Universitätstheologie zu gewinnen, dem kürzlich gestorbenen Frankfurter Wissenschaftshistoriker Fuat Sezgin (gest. 2018) gehört, der damals noch als ein junger Islamwissenschaftler in der Türkei tätig war.93 Zu aṭ-Ṭanǧīs einflussreichen Schülern gehören u. a. Hüseyin Atay, Bekir Topaloğlu (gest. 2016) und Ethem Ruhi Fığlalı. Da die Absolventinnen und Absolventen der Imam- und Predigerschule (İmamHatip Okulu), die 1951 als religiöse Berufsschule zunächst in 7 Städten gegründet wurde, nicht an der theologischen Fakultät studieren durften, wurde 1959 in Istanbul die erste theologische Hochschule (Yüksek İslam Enstitüsü) als weiterführendes Ausbildungsorgan der Imam-Hatip-Schulen eingerichtet, der weitere Hochschulen in Konya (1962), Kayseri (1965), İzmir (1966), Erzurum (1969), Bursa (1975), Samsun (1976) und Yozgat (1980) folgten. Anders als die theologische Fakultät, die ein ergebnisoffenes und somit quasi islamwissenschaftliches Theologieverständnis vertrat, waren diese Hochschulen eher traditionsbewahrend konzipiert. Das konnte aber nicht verhindern, dass die ersten Protagonisten eines Reformislams im Zuge der theologischen Debatten der 1970er Jahre den Absolventenreihen dieser Hochschulen entstammten, die insbesondere vom einflussreichen ʿAbduh-Schüler Rašīd Riḍā (gest. 1935) inspiriert waren, wie etwa Hayrettin Karaman und Bekir Topaloğlu. Sie forderten die »Öffnung des Tores der freien Rechtsfindung« sowie eine Annäherung der Rechtsschulen aneinander, weshalb sie von fast allen Sekten und Orden und restlichen Traditionalisten der Konfessionslosigkeit bezichtigt und wegen ihres Puritanismus als Wahhabiten bezeichnet wurden. Trotzdem gelang diesem Kreis durch seine breite Basis und bewusste Strategie, mit dem Motto »Innovation durch Tradition« von traditionellen Argumentationsstrukturen Gebrauch zu machen, dazu beizutragen, dass ein neuerungsorientiertes Islamverständnis in kon-

93 Dere, Ali: Mehmet Fuat Sezgin Hoca’nın Ankara İlahiyat Yılları: Sezgin ve Fakültenin Müşterek Tarihinden Bir Kesit, in: Ankara Üniversitesi İlahiyat Fakültesi Dergisi, Bd. 592 (2018), 240 ff.

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servative Kreise und vor allem in die Religionsbehörde Diyanet Eingang fand, deren Präsident von 1978–1986 Tayyar Altıkulaç war, ein enger Freund und Geselle Karamans. Diese Hochschulen wurden im Jahre 1982 durch die Putschregierung zu Fakultäten umgewandelt, deren Gründungsdekane sowie erste Lehrstuhlinhaber aus der Ankaraner Fakultät kamen und die kritische Theologietradition an diese Standorte zu tragen suchten. Da die Lehre der universitären Einrichtungen nicht an den Bedürfnissen der Religionsbehörde Diyanet orientiert war, wurden ab 1989 nach dem Modell des Haseki-Zentrums für religiöse Spezialisierung, das bereits 1976 als Weiterbildungsstätte für das Diyanet-Personal in Istanbul gegründet worden war, weitere Zentren eingerichtet – heute insgesamt 10 Zentren.94 Zusätzlich wurden 1988 Theologische Berufshochschulen eingerichtet, die aber nach zehn Jahren wieder geschlossen wurden. Ein wichtiger Faktor, der die theologischen Debatten und das religiöse Denken in der Türkei nicht weniger als die Publikationen der einheimischen Theologen beeinflusste, bildet die Übersetzungswelle aus islamischen Ländern zwischen den 1960er und 1980er Jahren. In den 1960ern und 1970ern wurden Schriften führender islamistischer Denker wie Ḥasan al-Bannā (gest. 1949), Sayyid Quṭb (gest. 1966) und al-Maududi ins Türkische übersetzt von Personen, die mangels theologischer Studienangebote in der Türkei insbesondere in Ägypten, Syrien oder Pakistan studiert hatten. Eine der wenigen Ausnahmen bilden dabei die wissenschaftlichen Werke von Muhammad Hamidullah (gest. 2002), die von Theologen und Geisteswissenschaftlern übersetzt wurden, die in Paris studierten bzw. promovierten. Nach der islamischen Revolution im Iran (1979) folgten diesen Übersetzungen Schriften iranischer Autoren, insbesondere Morteza Motahhari (gest. 1979) und Ali Schariati (gest. 1977). Die Übersetzung der Werke von Fazlur Rahman (gest. 1988) ab 1987 ist in diesem Zusammenhang besonders zu erwähnen, da sie die theologische Tagesordnung der Türkei gründlich und nachhaltig transformierten. Die mit Übersetzungen unterschiedlicher Autoren einhergegangene intellektuelle Atmosphäre hat eine Reihe von puritanistischen Sichtweisen hervorgebracht. Die reformistischen, radikal-islamistischen, koranfundamentalistischen und islamisch-modernistischen Strömungen sowie die defensive Position traditionalistischer Kreise wurden in den 1980er Jahren im Zuge der Umsetzung der Carter-Doktrin sowie der Religionspolitik des Militärputschs vom 12. September 1980 offensichtlich gefördert. Diese Interpretationsvielfalt, die in einer anything-goes-Attitüde mündete, wurde zu einem Reflexionsgegenstand des theologischen Diskurses. So wurde in den 1990er Jahren auf verschiedenen Plattformen, in islamischen Zeitschriften, vor allem in İslami Araştırmalar Dergisi (Zeitschrift für Islamische Studien), bis hin auf Symposien, die in Kooperation mit Theologen von zivilen Organisationen veranstaltet wurden, eine intensive Methodendiskussion geführt, wobei koranhermeneutische Fragen einen besonderen Stellenwert erhielten. Diese intensive Auseinandersetzung mit methodischen Fragen wurde durch neue Übersetzungen begleitet. Dazu zählen Übersetzungen der Schriften von kritischen 94 https://egitimhizmetleri.diyanet.gov.tr/sayfa/458 (letzter Abruf: 27.10.2020).

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muslimischen Denkern wie Ḥasan Ḥanafī, Muhammad Arkoun, M. Abed Al Jabri und Nasr Hamid Abu Zaid sowie von bedeutenden Orientalisten wie Ignaz Goldziher (gest. 1921), Richard Bell (gest. 1952), Rudi Paret (gest. 1983) und W. Montgomery Watt (gest. 2006). Die geistes- und religionswissenschaftlichen Perspektiven, die mit diesen Übersetzungen in den religiösen Diskurs Eingang fanden, brachten der Methodendiskussion nicht nur Tiefe, sondern warfen auch die Frage nach der Legitimität der Anwendung von im Westen etablierten geisteswissenschaftlichen, historisch-kritischen Methoden auf die Quellen und die Geschichte des Islams auf. Diese Diskussion wurde insbesondere zwischen dem Kreis der Theologinnen und Theologen der Zeitschrift islâmiyât, den aus der Theologischen Fakultät der Universität Ankara kommende Akademikerinnen und Akademiker bildeten, und islamistischen Intellektuellen, besonders aus den Kreisen der Zeitschriften Bilgi ve Hikmet und tezkire geführt. Ferner beschäftigten sich die Publikationen und Symposien der 2000er Jahre grundsätzlich mit Themen, deren Debattenkanon sich in drei Fragenkomplexen zusammenfassen lässt, die gleichzeitig auf die äußeren Grenzen hinweisen, die der theologische Diskurs in der Türkei je erreichte: 1. Legitimität der Anwendung von im Westen etablierten geisteswissenschaftlichen und historisch-kritischen Methoden auf die Quellen des Islams, 2. Islam und Moderne, 3. Geschichtlichkeit des Korans. Heute scheint die Türkei in einer von der Sorge um die nationale Sicherheit und dem Bestreben um einen sicheren Platz in der neuen Weltordnung bestimmten politischen Atmosphäre alle ihre Reform- und Innovationsansprüche sowohl im politisch-gesellschaftlichen als auch im religiösen Bereich aufgegeben zu haben. In Anbetracht der religionspolitischen Agenda des letzten Jahrzehnts, die u. a. durch den Putschversuch von 2016, für den die breite Öffentlichkeit die Gülen-Bewegung verantwortlich macht, verstärkt wurde, wurden kritische Stimmen auch im theologischen Bereich eingeschüchtert und das religiöse Denken und Leben einem neuartigen, nationalistisch gesinnten Sunnismus ausgeliefert. Das jüngste Ereignis zeigt, wie weit diese besorgniserregende Entwicklung in der Türkei gegangen ist: Ein Theologieprofessor, Mustafa Öztürk, wurde wegen seiner heretisch empfundenen theologischen Ansichten einer gewaltigen Propaganda ultratraditionalistischer Kreise ausgesetzt und musste in Rente gehen, um sich vor einer von seinen Kontrahenten geforderten, zu erwartenden Suspension zu schützen. Nach den Angaben des türkischen Hochschulrats (Yüksek Öğretim Kurulu, YÖK) unterhalten heute 115 Universitäten – 14 davon Stiftungsuniversitäten – theologische Fakultäten, die durch den Beschluss des Ministerrates offiziell eröffnet wurden. Die knappe Mehrheit davon (65) führt die Fachbezeichnung »Theologie« (İlahiyat), während die neu gegründeten Einrichtungen eher zur Bezeichnung »Islamische Wissenschaften« (İslami İlimler) neigen – wie bereits oben erwähnt, gilt diese Bezeichnung in der öffentlichen Wahrnehmung als Indiz dafür, dass es sich um den Erwerb und die Vermittlung des klassischen religiösen Wissens handelt, und nicht um Theologie als spekulative Wissenschaft. Die restlichen Fakultäten haben verschiedene Denominationen: »Wissenschaften von Islam und Religion«, »Theologische Wissenschaften« sowie »Religionswissenschaften«. Jenseits ihrer unterschiedlichen Denominationen sehen all diese Fakultäten in ihren Curricula neben den klassischen islamischen Wissenschaften philosophische, geistes- und sozialwissenschaftliche Inhalte vor. Die Fa-

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kultäten sind entsprechend in Lehre und Forschung nach den folgenden drei Fachrichtungen gegliedert: 1. Islamische Kerndisziplinen (Koranexegese, Hadithwissenschaft, Systematische Theologie, Islamisches Recht, Geschichte der islamischen Richtungen, Islamische Mystik, Arabische Sprache und Rhetorik), 2. Philosophie und Religionswissenschaften (Logik, Philosophiegeschichte, Islamische Philosophie, Religionsphilosophie, -geschichte, -soziologie, -psychologie und -pädagogik) und 3. Geschichte und Künste des Islams (Geschichte des Islams, Kunstgeschichte des Islams, türkisch-islamische Literatur, türkisch-religiöse Tonkunst). In Ankara werden z. B. die islamischen Kerndisziplinen von 30 Professorinnen und Profesoren sowie 30 Mitarbeitenden (Dozentinnen und Dozenten, Lektorinnen und Lektoren, Assistentinnen und Assistenten), Philosophie und Religionswissenschaften von 21 Professorinnen und Professoren sowie 35 Mitarbeitenden und Geschichte und Kunst von 9 Professorinnen und Professoren sowie 19 Mitarbeitenden betreut. Insgesamt arbeiten an den theologischen Fakultäten 613 Professorinnen und Professoren, 357 Dozentinnen und Dozenten, 1.885 Lehrbeauftragte und 1.205 Assistentinnen und Assistenten. Zum Vergleich sind z. B. die personellen Angaben der rechtswissenschaftlichen Fakultäten zu nennen: 441 Professorinnen und Professoren, 229 Dozentinnen und Dozenten, 879 Lehrbeauftragte und 1.582 Assistentinnen und Assistenten.95 Die Regelstudienzeit an all diesen Fakultäten beträgt vier Jahre. An manchen Universitäten ist zusätzlich ein Vorbereitungsjahr mit dem Schwerpunkt Arabisch verpflichtend. Die Unterrichtssprache ist grundsätzlich Türkisch, allerdings wurden an acht Fakultäten zusätzlich arabischsprachige und an drei Fakultäten (Ankara, Istanbul und Marmara) englischsprachige Studiengänge eingeführt. Neben diesen inländischen Einrichtungen betreuen einige Fakultäten in Kooperation mit der Diyanet-Stiftung theologische Studiengänge im Ausland, wie Aserbaidschan, Turkmenistan, Kirgisistan und Nordzypern. Für das Studienjahr 2020/21 gab der Hochschulrat von insgesamt 997.259 Studienplätzen 19.353 für die Theologie und Islamische Wissenschaften frei, während beispielsweise für Medizin 16.448 und für Jura 16.327 Studienplätze zugewiesen wurden.96 Außerdem gibt es an folgenden sechs Universitäten einen internationalen theologischen Studiengang für ausländische Studierende, der ursprünglich für im Ausland lebende Türkeistämmige konzipiert wurde und in Kooperation mit der türkischen Religionsbehörde Diyanet sowie der Diyanet-Stiftung angeboten wird: Ankara (seit 2006), Marmara (seit 2007), Istanbul (seit 2011), 29 Mayıs (Istanbul), Bursa und Konya (seit 2012). Nach den aktuellen Angaben der türkischen Religionsbehörde haben bisher 716 Studierende ihr Studium absolviert; die aktuelle Anzahl der Studierenden

95 Gözler, Kemal: Hukuk-Fıkıh İlişkisi: İslâm Hukukçusu Kimdir? (EK 4: Hukuk Fakültesi ve İlâhiyat Fakültesi Öğretim Elemanı Sayıları: Bir Karşılaştırma ve Değerlendirme): http://www.anay asa.gen.tr/hukuk-fikih-ek-4.htm (letzter Abruf: 27.10.2020). 96 https://www.cnnturk.com/turkiye/son-dakika-haberi-yok-orgun-egitim-programlari-icinkontenjan-sayisi-belirlendi (letzter Abruf: 27.10.2020).

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beträgt 501. Diese Anzahl verteilt sich auf die Herkunftsländer folgendermaßen (A: Alumni, S: Studierende): Deutschland (A: 379, S: 270), Frankreich (A: 153, S: 113), Belgien (A: 70, S: 22), Niederlande (A: 42, S: 27), Österreich (A: 10, S: 21), Australien (A: 18, S: 9), Italien (A: 10, S: 19), USA (A: 6, S: 4), Dänemark (A: 6, S: 4), Schweiz (A: 6, S: 4), Kanada (A: 2, S: 4), England (A: 1, S: 1), Schweden (A: 6, S: 2), Finnland (S: 1), Japan (S: 1).97 Ein Vergleich mit den Angaben von 2019 (gesamt S: 555, Deutschland S: 292) zeigt, dass das Interesse im letzten Jahr etwas geringer wurde. Die türkischen Universitäten haben die Hoheit, ihre Curricula selbstständig zu entwickeln, müssen diese aber vom Hochschulrat absegnen lassen. Diese Regelung veranlasste zu verschiedenen Zeiten politische Eingriffe in die Inhalte des theologischen Lehrkanons über den Hochschulrat. Im Zuge des 28.-Februar-Prozesses, einer Intervention des Militärs im Jahre 1997, wurden z. B. nicht nur die Zahl der ImamHatip-Schulen vermindert und von religiösen Gemeinschaften getragene Schulen geschlossen bzw. in staatliche Trägerschaft überführt, sondern auch der curriculare Anteil der theologischen Kerndisziplinen gekürzt. Die theologischen Fakultäten erlebten 2013 einen umgekehrten Eingriffsversuch wieder seitens des Hochschulrats, die philosophischen und geisteswissenschaftlichen Inhalte zugunsten der theologischen Kerndisziplinen zu reduzieren. Auch wenn dieser Versuch dank des starken Widerspruchs der Fachgesellschaft scheiterte, wurde dennoch eine wissenschaftspolitische Atmosphäre geschaffen, die manche Universitäten dazu neigen ließ, das Curriculum zu »islamisieren«.98 Die politischen Interventionen in die Ausbildungsziele und Lehrinhalte der theologischen Fakultäten sind in der öffentlichen Wahrnehmung der Türkei quasi eine Selbstverständlichkeit. Das ist dem vorherrschenden Verständnis von Theologie geschuldet, welches die Existenz der theologischen Fakultäten nicht als eine wissenschaftliche und gesellschaftliche Notwendigkeit betrachtet, sondern als eine Gnade des Staates. Gravierend ist, dass diese Wahrnehmung sich hin zu einer etablierten Kultur entwickelt hat, die auch das Unterbewusstsein der meisten Theologinnen und Theologen prägt.99

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Wiederbelebung der Islamischen Theologie in ex-sowjetischen und ex-jugoslawischen Ländern

Die mongolische Invasion hatte den Islam und seine Institutionen auch in Zentralasien geschwächt. Mit der Gründung des Timuridenreichs (1370–1507) veränderte sich diese Situation allmählich. Ab Ulugh Beg (reg. 1447–1449) wurde großzügig in wissenschaftliche und Bildungseinrichtungen investiert, wodurch ein großer Durch-

97 T.C. DİB: Uluslararası İlahiyat Programı Tanıtım ve Başvuru Kılavuzu, Ankara 2020, 8. 98 Turan, İbrahim: Türkiye’de İlahiyat Eğitimi: İstihdam Alanı‐Program İlişkisi Üzerine Bir Değerlendirme, in: İstanbul Üniversitesi İlahiyat Fakültesi Dergisi 37 (2017), 59‐77. 99 Özsoy, Ömer: İlahiyatın Meşruiyet Krizi ve Üç Tarz-ı Tedrisat, in: Star Gazetesi, 5.10.2013: https://www.star.com.tr/acik-gorus/ilahiyatin-mesruiyet-krizi-ve--uc-tarzi-tedrisat-haber795344/ (letzter Abruf: 27.10.2020).

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bruch in allen wissenschaftlichen Bereichen zustande kam. Die wissenschaftliche Lebendigkeit hielt auch unter dem Usbeken-Khanat stand, bis das Zarentum Russland ab Mitte des 16. Jahrhunderts ganz Zentralasien Stück für Stück unter seine Herrschaft nahm und durch seine panslawistische Assimilationspolitik auch die islamischen Bildungsinstitutionen unterdrückte, die schließlich in der sowjetischen Periode systematisch geschlossen wurden.100 Jedoch vollzog sich die islamische Bildung in informellen Netzwerken weiterhin.101 In der Sowjetunion gab es vier religiöse Organisationen für die Muslime, die sich um die religiösen Angelegenheiten und die religiöse Bildung verschiedener muslimischer Bevölkerungsgruppen kümmerten. Die größte Institution war die Geistliche Verwaltung der Muslime in Zentralasien und Kasachstan (SADUM), die 1943 mit der Beteiligung von fünf Republiken (Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan) unter Stalin gegründet wurde.102 Das strikte Verbot der religiösen Bildung wurde ab 1948 mit der Wiederöffnung der Mir-Arab-Medrese in Buchara nach und nach gelockert. Ab 1960 durften die Muslime sogar im »friedlichen Ausland«, wie Ägypten, Syrien und Libyen, Theologie studieren, bis 1971 in Taschkent das Islamische Institut Imam al-Buchārī als weiterführende Hochschule für die Absolventen der MirArab-Medrese gegründet wurde. Mit der Auflösung der Sowjetunion gründeten die Mitgliedsstaaten ihre eigenen religiösen Verwaltungsorgane und verließen die SADUM, so dass sie 1991 zur Geistlichen Verwaltung der Muslime Usbekistans umbenannt wurde.103 Als die zweitgrößte Institution ist die 1944 gegründete Verwaltung der Muslime des Kaukasus zu nennen, die von der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku aus die religiösen Angelegenheiten der sunnitischen und schiitischen Muslime, hauptsächlich in Aserbaidschan, aber teilweise auch in Georgien, Tschetschenien, Karatschai etc., verwaltete.104 Die Organisation wurde 1991 zum Islamischen Institut und 1992 zur Islamischen Universität Baku umgewandelt. Die restlichen Organisationen waren die Geistliche Verwaltung der Muslime Russlands und Sibiriens, aus der 1994 die heute noch bestehende Zentrale Geistliche Verwaltung der Muslime Russlands hervorging sowie die Geistliche Verwaltung der Muslime des Nordkaukasus und Dagestans, die nach dem Zerfall der Sowjetunion zur Geistlichen Verwaltung der Muslime Dagestans umbenannt wurde.105 Die erste moderne theologische Einrichtung in Zentralasien ist die Theologische Fakultät der Staatlichen Universität Osch in Kirgisistan, die 1991 in Zusammenarbeit mit der türkischen Diyanet-Stiftung eingerichtet wurde und 1993 den Lehrbetrieb aufnahm. Die Lehre wird seither von der Theologischen Fakultät der Universi-

100 Mominov, Kasim: Orta Asya’da Medreselerin Tarihsel Gelişimi ve Felsefi Temelleri, in: Gedikli, Fikret (Hrsg.): Medrese Geleneği ve Modernleşme Sürecinde Medreseler, Bd. 1, 405–427. 101 Kemper, Michael u. a. (Hrsg.): Islamic Education in the Soviet Union and Its Successor States, London 2009. 102 Yemelianova, Galina M.: Russia and Islam. A Historical Survey, London 2002, 69 ff. 103 Khalid, Adeeb: Islam After Communism: Religion and Politics in Central Asia, California 2007, 78. 104 Offizielle Homepage: http://qafqazislam.com/ (letzter Abruf: 27.10.2020). 105 Offizielle Homepage: http://muftiyatrd.ru/ (letzter Abruf: 27.10.2020).

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tät Ankara mitgetragen. Ebenfalls durch türkische Unterstützung wurde im Jahre 2011 die zweite theologische Fakultät Kirgisistans an der Kirgisisch-Türkischen Manas Universität in Bischkek eingerichtet.106 Auch in Aserbaidschan entstanden gleich nach der Unabhängigkeit theologische Fakultäten an vier Universitäten. Anfang der 2000er Jahre wurden jedoch die Fakultäten an den Universitäten Beynelhalk und Gafgaz geschlossen und die Fakultät an der staatlichen Universität Baku, die 2012 in Kooperation mit der türkischen Diyanet-Stiftung eröffnet worden war, wurde 2018 zum Theologischen Institut Aserbaidschans umbenannt, das aktuell einen religionswissenschaftlichen und einen islamwissenschaftlichen Studiengang einführt. Die Islamische Universität Baku bietet zwar unter dem Titel Religionswissenschaft (Dinşinaslıq) ein theologisches Studium an, nimmt jedoch seit 2018 keine neuen Studierenden auf. Beide Einrichtungen folgen in ihren Curricula dem Modell der Universitätstheologie in der Türkei, obwohl die Studierenden mehrheitlich schiitisch sind. Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass die Annäherung der muslimischen Richtungen, insbesondere der sunnitischen und schiitischen, einen wichtigen Aspekt in der theologischen Debatte des Landes darstellt.107 In Usbekistan bietet das Islamische Institut Imam al-Buchārī (Taschkent) einen BA-Studiengang Islamische Studien, während an der Internationalen Islamischen Akademie Usbekistans (Taschkent) auch ein Master- und Promotionsstudium möglich ist. Außerdem gibt es in Usbekistan staatliche Forschungszentren wie das Zentrum für Islamische Studien, das Zentrum für Islamische Zivilisation und das Internationale Forschungszentrum Imam al-Buchārī, die bestrebt sind, anhand von Projekten und internationalen Kooperationen die Qualität der Islamforschung im Land zu verbessern. Seit 2018 entstehen zwar private Forschungszentren in der Verantwortung der Geistlichen Verwaltung der Muslime Usbekistans, die aber eher im Bereich der religiösen Bildung und islamischen Propaganda tätig sind.108 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass es auch in der Russischen Föderation, vor allem in Kasan, Moskau, Ufa und Dagestan, islamische Bildungseinrichtungen gibt, die aus dortigen Medresen entwickelt wurden und teilweise auf eine längere Vergangenheit zurückblicken. Zu erwähnen ist bspw. das nicht-staatliche Russisch-Islamische Institut in Kasan (Tatarstan), das 1998 gegründet wurde und in weiteren Städten Russlands wie Astrachan, Uljanowsk, Samara und Tschuwaschien Niederlassungen hat. Weitere Einrichtungen sind das 2005 begründete Moskauer Islamische Institut in Moskau (Russland), die 1989 begründete Russische Islamische Universität in Ufa (Baschkortostan) sowie die Russisch Islamische Kunta-HadschiUniversität, die 2009 an der Achmat-Kadyrow-Moschee in Grosny (Tschetschenien) eröffnet wurde. Die russischen islamisch-theologischen Einrichtungen vertreten

106 Offizielle Homepage: http://intl.manas.edu.kg/en (letzter Abruf: 27.10.2020). 107 Taghiyev, Kovsar: Azerbaycan’daki Din Eğitimi Talebinin Karşılanmasında Müslüman Ülkelerdeki Din Eğitim Kurumların Rolü (Türkiye, İran ve Suudi Arabistan Ekseninde), in: 2. Uluslararası Öğrencilik Sempozyumu, Istanbul 2016, 112–118. 108 Çaman, Efe/Dağcı, Kenan: Özbekistan’da İslam, Siyasi Sistem ve Radikalizm, in: Yalova Üniversitesi Sosyal Bilimler Dergisi, Bd. 5 (2005), Nr. 8, 8–22.

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den pädagogischen Ansatz des Dschadidismus, dessen prominentester Vertreter unter den Krimtataren Ismail Bej Gasprinskij war.109 Nach den sog. Balkankriegen (1912–1913) erlebten die Muslime des osmanischen Zentralbalkans eine Marginalisierung und gerieten in kurzer Zeit überall in die Lage einer religiösen Minderheit – mit Ausnahme des Königreichs Albanien, das nach dem Krieg seine Unabhängigkeit erreichte.110 Auf dem ganzen Balkangebiet blickt insbesondere Bosnien auf eine alte Tradition der theologischen Ausbildung zurück. Die älteste islamische Hochschule, die GaziHusrevbegova-Medrese (GHM), nahm bereits 1537 ihre Tätigkeit auf.111 Nach der österreichisch-ungarischen Besetzung Bosniens im Jahre 1878 wurden die unter osmanischer Herrschaft eingerichteten Schulen, die teilweise schon im Zuge der Bildungsreformen im Rahmen der Tanzimat reformiert worden waren, um moderne Schulen erweitert, um pädagogische Elemente der traditionell-islamischen und europäischen Bildungstraditionen zu verzahnen. Als eine weitere Integrations- bzw. Kontrollmaßnahme über das religiöse Leben der bosnischen Muslime wurde 1882 die immer noch bestehende Islamische (Glaubens-)Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina bzw. Rijaset gegründet, deren Oberhaupt Rais-ul-Ulama genannt wird. Zur Ausbildung von muslimischen Richtern und sonstigen Beamten, die sich sowohl mit islamischem als auch österreichischem Recht auskennen sollten, wurde 1887 die Schule für SchariaRichter in Sarajevo (Šerijatska sudačka škola bzw. mekteb-i nuwwab) eingerichtet. Die islamischen Anteile der unter staatlicher Kontrolle erfolgten Lehre dieser Schule wurden von Rijaset bestimmt und beaufsichtigt. Im Zuge der Autonomiebewegung bosnischer Muslime für die religiöse Selbstbestimmung, die 1899 einsetzte, wurde 1909 ein entsprechendes Gesetz verabschiedet, das der Islamischen Glaubensgemeinschaft weite Befugnisse über die religiösen Bildungs- und Eigentumsangelegenheiten, vor allem religiöse Stiftungen, einräumte. Die mekteb-i nuwwab wurde 1937 zur Hochschule für Islamische Scharia und Theologie (Viša Islamska Šerijatsko-Teološka Škola) umgewandelt.112 Sie wurde jedoch mit der kommunistischen Übernahme im Jahr 1945 zusammen mit den Scharia-Gerichten geschlossen. Somit blieb die GHM wieder die einzige theologische Einrichtung im Lande, die weiterhin Imame und Prediger ausbilden durfte. Da diese aber keine Hochschulqualifizierung vergab, mussten am Theologiestudium Interessierte ins muslimische Ausland ziehen, insbesondere nach Ägypten, an die Azhar Universität.113 Bosnien war lange Zeit auch Schauplatz von innerislamischen Debatten über die Stellung des Islams in einer modernen Gesellschaft. Im Zusammenhang der

109 Beyler, Fegani: Rusya’da Medreseler ve İslâmî Eğitim-Öğretim Alanındaki Faaliyetleri. Genel Bir Bakış, in: Bingöl Üniversitesi İlahiyat Fakültesi Dergisi, Bd. 4 (2016), Nr. 7, 88–103. 110 Schmitt, Oliver Jens: Der Balkan im 20. Jahrhundert. Eine postimperiale Geschichte, Stuttgart 2019, 121. 111 Eyice, Semavi: Gazi Hüsrev Bey Külliyesi, in: TDV İslam Ansiklopedisi, Bd. 13, 545 ff. 112 Aruçi, Muhammed: Mehmed Cemâleddin Çauşeviç, in: TDV İslam Ansiklopedisi, Bd. 28, 447–448. 113 Alibašić, Ahmet: Islamic Higher Education In The Balkans: A Survey, in: Nielsen, Jørgen u. a. (Hrsg.): Yearbook of Muslims in Europe, Bd. 2 (2010), 619–634.

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Reformforderungen ergab sich im Jahre 1972 unter den Schülern der GHM, die von Gedanken des damaligen erneuerungsorientierten Vorsitzenden der Wissenschaftlichen Vereinigung von Bosnien und Herzegowina (Udruženje Ilmijje Bosne i Hercegovine), Husein Đozo (gest. 1982), inspiriert waren, Proteste und Streiks, die u. a. »Umorganisierung des Curriculums durch Aufnahme der Fächer Logik, Philosophie, Psychologie, Mathematik, Sportunterricht und Englisch« forderten ebenso wie die Anerkennung des Medrese-Abschlusses für die Aufnahme eines Studiums an den staatlichen Universitäten.114 Auch wenn die erforderten Änderungen in den darauf folgenden Jahren Stück für Stück umgesetzt wurden, blieb eine theologische Ausbildung auf Hochschulebene immer noch aus. Aufgrund der steigenden Anforderungen der Muslime und im Zusammenhang der Liberalisierungspolitik des jugoslawischen Regimes wurde 1977 die Fakultät für Islamische Theologie (Islamski teološki fakultet) in Sarajevo gegründet, die nach der Unabhängigkeit von Bosnien und Herzegowina zur Fakultät für Islamische Wissenschaften (Fakultet islamskih nauka) umbenannt wurde.115 Nach der Einführung des islamischen Religionsunterrichts als Schulfach im Jahre 1991 wurden zwei religionspädagogische Fakultäten gegründet (1993 in Zenica und 1996 in Bihać) und das Lehrangebot der theologischen Fakultät in Sarajevo um ein Programm für islamische Religionspädagogik erweitert. 2006 erfolgte eine weitere Erweiterung mit der Einführung des Curriculums für Ausbildung von Imamen, Predigern sowie Lehrerinnen und Lehrern. Seit diesen Reformen werden Imame und Prediger an allen drei Fakultäten und Lehrkräfte für Schulen von der Fakultät in Sarajevo ausgebildet. Das zwang die Medresen dazu, ihr Spektrum gründlich zu erweitern, so dass sie inzwischen als reguläre Schulen mit religiöser Schwerpunktsetzung gelten.116 Die Fakultät wurde im Jahre 2004 als formal-rechtlicher Teil mit der Universität Sarajevo assoziiert. »Sie ist somit derzeit die erste und einzige islamisch-theologische Fakultät in Europa, die Körperschaft einer staatlichen Universität ist und gleichzeitig mit der Religionsgemeinschaft kooperiert.«117 Die älteste religiöse Bildungseinrichtung in Mazedonien ist die Isa-Bey-Medrese, die 1469 als Bestandteil der gleichnamigen Moschee vom osmanisch-bosni-

114 Omerika, Armina: Islam in Bosnien-Herzegowina und die Netzwerke der Jungmuslime (1918–1991), Wiesbaden 2014, 274. 115 Karčić, Harun: From Mekteb-I-Nuwwab to the Faculty of Islamic Studies: A Short History of Bosnia's Leading Islamic Educational Institution, in: Occasional Papers on Religion in Eastern Europe, Bd 31 (2012), 41–44: http://digitalcommons.georgefox.edu/ree/vol31/iss1/ 4 (letzter Abruf: 27.10.2020). 116 Sijamhodžić-Nadarević, Dina: The Structure of Islamic Educational Institutions in Bosnia and Herzegovina and Curriculum Development, in: Aslan, Ednan (Hrsg.): Islamic Textbooks and Curricula in Europe, Frankfurt 2011, 79 ff. 117 Schreiner, Stefan: Islamisch-Theologische Fakultät Sarajevo – Vermittlerin zwischen europäischer und islamischer Wissenskultur, in: Qantara, 13.7.2009: https://de.qantara.de/inhalt/islamisch-theologische-fakultat-in-sarajevo-vermittlerin-zwischen-europaischer-und (letzter Abruf: 27.10.2020).

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schen Statthalter Bosniens, Isa-Beg Ishaković (amt. 1450–1470), eingerichtet wurde. Die 1689 vom österreichischen General Pikolomini eingestellte Medrese konnte ihren Lehrbetrieb erst 1936 wieder aufnehmen, bis der Zweite Weltkrieg ausbrach. Sie wurde 1984 durch Initiative der islamischen Religionsgemeinschaft von Mazedonien wieder eröffnet und 2010 in eine öffentliche Schule unter staatlicher Aufsicht umgewandelt. 1997 wurde innerhalb der Medrese eine Fakultät für Islamische Wissenschaften ins Leben gerufen, mit dem Ziel, akademisch qualifiziertes Personal für den Bedarf der Muslime auszubilden. Durch eine Gesetzesnovelle im Jahr 2008 wurde die Fakultät als öffentliche Ausbildungsstelle anerkannt. Das von der Religionsgemeinschaft festgelegte Curriculum muss mit dem Gesetz für höhere Bildung übereinstimmen.118 Bis 1992 war im Kosovo die einzige religiöse Bildungseinrichtung die 1952 gegründete Alaud-din Medrese in Prishtina, die Schüler und Schülerinnen zu Imamen und religiösen Erziehern und Erzieherinnen ausbildete – sie unterhält seit 1993 in Prizren und seit 1997 in Gjilan Ableger. Nach dem Zerfall Jugoslawiens wurde im Jahr 1992 die Fakultät für Islamische Studien als eine private Hochschule mit einem ausschließlich islamisch-theologischen Angebot gegründet.119 Sie ist nicht an der staatlichen Universität Prishtina angesiedelt, ihre Abschlüsse wurden dennoch bis 2008 vom Bildungsministerium anerkannt. Durch ihr albanisches Studienangebot gelang es der Fakultät, Studierende auch aus Montenegro, Südserbien, Albanien und Mazedonien zu gewinnen.120 Beide Einrichtungen, Medrese und Fakultät, stehen unter der Aufsicht der Islamischen Gemeinschaft Kosovo (Bashkësia Islame e Kosovës). Die theologischen Entwicklungen in Zentralasien, im Kaukasus sowie teilweise auf dem Balkangebiet sind, insbesondere in institutioneller Hinsicht, als eine unvollendete Suche nach einem Modell zu betrachten, das sowohl das reiche, nicht ganz vergessene Erbe der Vergangenheit als auch die Chancen und Anforderungen der Moderne gebührend würdigen kann. Dabei ist die Spannung zwischen der neuen religiösen Gesinnung nach dem Zerfall der jeweiligen totalitären Regime einerseits und der Unsicherheit bzw. Vorsicht gegenüber allem Religiösen andererseits nicht zu verkennen. Diese Zurückhaltung ist insofern nachvollziehbar, als diese Gebiete nach der Unabhängigkeit sehr schnell Schauplatz für bildungs- und religionspolitische Interessen mancher muslimischer Länder wie Saudi Arabien, Türkei und Iran und verschiedener ideologischer bzw. sektenähnlicher Organisationen von Wahhabiten bis zur Gülen-Bewegung wurden. In den letzten Jahren sind allerdings vielerorts eine systematische Distanzierung von ausländischen Interventionen und eine neue Tendenz zu beobachten, beispielsweise in Usbekistan, anschließend an der alten Wissenschaftstradition des islamischen Mittelalters, der Blütezeit der Wissenschaften der islamischen Geschichte in Zentralasien, internationale Kooperationen für Etablierung solider islamisch-theologischer Einrichtungen einzugehen.

118 Aslan, Ednan 44. 119 Alibašić, Ahmet 625. 120 Aslan, Ednan 45.

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Neugeburt der Islamischen Theologie in Westeuropa und Deutschland

Die islamisch-theologische Ausbildung in europäischen Ländern ist in Abhängigkeit von jeweiligen demografischen Verhältnissen und staatsverfassungsrechtlichen Voraussetzungen sehr unterschiedlich organisiert. In vielen Ländern gibt es keine selbstständigen islamisch-theologischen Einrichtungen auf universitärer Ebene, die staatlich anerkannte Abschlüsse vergeben. Im Folgenden werden die Orte der Islamischen Theologie in westeuropäischen Ländern mit großer muslimischer Bevölkerung mit Ausnahme Deutschlands, das ausführlicher behandelt wird, kurz dargestellt. Großbritannien verfügt aufgrund seiner Kolonialgeschichte und insbesondere der nach dem »Nationality Act« von 1948 uneingeschränkt erfolgten Einwanderungswelle121 über die ältesten muslimischen Organisationen Europas, die größtenteils der pakistanstämmigen Deobandi-Gemeinschaft nahestehen und über 100 islamische Bildungseinrichtungen auf gymnasialer Ebene unterhalten. Auf Hochschulebene bieten etwa 25 Institute, die als dār al-ʿulūm bzw. ḥauḍa bekannt sind, theologische BA- und MA-Studiengänge an, deren Abschlüsse zwar staatlich nicht anerkannt sind, aber dennoch zum Imam-Amt in Moscheen befähigen.122 Es gibt aber auch einige wenige von muslimischen Organisationen betriebene Islamic Colleges, die in Kooperation mit staatlichen Hochschulen Weiterbildungsprogramme (continuing professional development, CPD) für tätige Geistliche anbieten und offiziell anerkannte Abschlüsse vergeben, wie das Muslim College in Kooperation mit der Universität London und das Markfield Institute of Higher Education in Kooperation mit den Universitäten Loughborough und Gloucestershire.123 Seit 2018 bietet auch die Universität Warwick einen Ergänzungsstudiengang (MA Islamic Education: Theory and Practice) für Absolventinnen und Absolventen muslimischer Bildungseinrichtungen an, deren Abschlüsse sonst nicht anerkannt sind.124 Nicht zuletzt ist das Institute for the Study of Muslim Civilisations in London zu erwähnen, das zwar keine theologischen Studiengänge anbietet, aber ein bedeutendes Zentrum für Islamforschung ist.125 In Frankreich werden muslimische Geistliche an zwei privaten Hochschulen ausgebildet: 1. Das Institut Européen des Sciences Humaines, das von der Union des 121 Ghadban, Ralph: Reaktionen auf muslimische Zuwanderung in Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 26 (2003), 26–32: https://www.bpb.de/apuz/27566/reaktionen-auf-mus limische-zuwanderung-in-europa?p=all#fr-footnodeid_5 (letzter Abruf: 27.10.2020). 122 Sahin, Abdullah: Critical Issues in Islamic Education Studies: Rethinking Islamic and Western Liberal Secular Values of Education, in: Religions, Bd. 9 (2018), Nr. 335, 28. 123 Bodenstein, Mark Chalil: Überblick und Vergleich von Studiengängen für islamische Theologie und Imamausbildung in Europa unter Einbeziehung von Imamweiterbildungen (nichtveröffentlichter Beitrag). 124 https://warwick.ac.uk/study/postgraduate/taught/courses-2020/islamiceducationma/ (letzter Abruf: 27.10.2020). 125 Özdil, Ali Özgür: Islamische Theologie und Religionspädagogik in Europa, Stuttgart 2011, 116.

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Organisations Islamiques de France (UOIF) in Zusammenarbeit mit der Föderation Islamischer Organisationen in Europa (FIOE) 1992 in Château Chinon eröffnet wurde, unterhält neben einem Imamausbildungsprogramm eine Fakultät für Islamische Studien.126 2. Das Institut Al-Ghazali, das 1993 in der Grand Mosquée de Paris eröffnet wurde, bietet ein zweijähriges Imamausbildungsprogramm an.127 In staatlicher Verantwortung wird nur an der Universität Straßburg ein islamisch-theologischer Studiengang (Master Islamologie) angeboten – außerhalb von Straßburg haben Theologien an staatlichen Universitäten keinen Platz.128 Die zwei Weiterbildungsprogramme für muslimische Geistliche, die an der Katholischen Universität in Paris und an der Universität Straßburg als Integrationskurse eingeführt werden, haben keinen theologischen Inhalt.129 In den Niederlanden haben drei staatliche Universitäten islamisch-theologische Lehrangebote entwickelt. Die Vrije Universität Amsterdam richtete 2005 unter dem Dach der evangelischen Theologie im wissenschaftlich neutralen Rahmen (simplexordo) islambezogene BA- und MA-Studiengänge ein. Darauf folgte die Universität Leiden 2006 mit islamisch-theologischen Studiengängen, die nach dem Modell duplex-ordo aus zwei Teilen bestanden, einem von der Universität verantworteten wissenschaftlichen und einem von muslimischen Verbänden verantworteten konfessionellen Teil.130 Ferner richtete die Inholland University of Applied Sciences in Amstelveen im Jahr 2006, die bereits seit 1995 islamische Religionslehrerinnen und Religionslehrer für Schulen ausbildete, einen islamisch-theologischen BA-Studiengang ein – ebenfalls nach dem duplex-ordo-System in Zusammenarbeit mit führenden muslimischen Dachverbänden.131 Alle drei staatlich geförderten Initiativen gelten jedoch als gescheitert, weil sie aufgrund des mangelnden Interesses von muslimischen Studierenden entweder eingestellt oder zu religionswissenschaftlichen Einrichtungen umgewandelt wurden.132 Weitere zu erwähnende Initiativen in den Niederlanden sind zwei private Hochschulen, die ein rein islamisch geprägtes Curriculum haben, jedoch keine staatlich anerkannten Abschlüsse vergeben: Islamic University of Applied Sciences Rotterdam (IUR, gegr. 1997)133 und Islamic University of Europe (IUE, gegr. 2001). Die IUR war die erste Hochschule in Europa, die ein vollständiges islamisch-theologisches Curriculum entwickelt hatte.134 In der Schweiz geht die Etablierung einer islamisch-theologischen Einrichtung auf das Jahr 2009 zurück. Entscheidend dabei waren die Ergebnisse der im Jahre 2009 erschienenen Teilstudie »Imam-Ausbildung und islamische Religionspädagogik

126 127 128 129 130 131 132

https://ieshdeparis.fr/ (letzter Abruf: 27.10.2020). http://institut-al-ghazali.fr/ (letzter Abruf: 27.10.2020). Özdil, Ali Özgür 155 ff. Aslan, Ednan 77–78. Aslan, Ednan 87; Özdil, Ali Özgür 133 ff. Aslan, Ednan 89 ff.; Özdil, Ali Özgür 138 ff. Sözeri, Semiha u. a.: Training imams in the Netherlands: the failure of a post-secular endeavour, in: British Journal of Religious Education, Bd. 41 (2019), Nr. 4, 435–445. 133 https://www.iur.nl/en/ (letzter Abruf: 27.10.2020). 134 Aslan, Ednan 90.

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in der Schweiz?«135. Dabei wurde festgestellt, dass das Bedürfnis nach der Einführung einer islamisch-theologischen Einrichtung keineswegs ein rein muslimischer Wunsch ist. Eine solche Einrichtung sollte auch für Beamte und Angestellte der Schweizer Behörden Weiterbildungsmöglichkeiten anbieten. Trotz der für Muslime negativ ausgegangenen Minarett-Debatte in den Jahren 2006–2009 wurden verschiedene Bedarfsfelder im Rahmen des vom Bundesamt für Migration (BFM) koordinierten »Muslim-Dialog« von 2010–2011 ermittelt. Dazu gehörten Felder wie Jugendarbeit und Ausbildung von religiösem Fachpersonal. Eine vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) mit Vertretern aus Bundesbehörden, Universitäten und muslimischen Akteuren zusammengesetzte Arbeitsgruppe entschied, dass eine schweizerische Universität islamisch-theologische Studien anbieten sollte. Aus diesen Diskussionen erwuchs 2015 die Gründung des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft (SZIG) an der Université de Fribourg. An der Universität Zürich gibt es seit 2015 eine Gastprofessur für islamische Thoelogie und Bildung, die in Kooperation der Philosophischen Fakultät, Abteilung Islamwissenschaft, Theologischen Fakultät, des Asien-Orient-Instituts und Religionswissenschaftlichen Seminars gemeinschaftlich gegründet wurde und jeweils im Wintersemester vergeben wird.136 In der Schweiz wird derzeit kein vollwertiges Studium der Islamischen Theologie angeboten; vielmehr liegt dort in den beiden Masterstudiengängen ein Schwerpunkt in sozialethischen wie gesellschaftlichen Fragen. Bisher gibt es kein Bachelorangebot; ein Doktoratsprogramm der Stiftung Mercator Schweiz erlaubt es, islamisch-theologische Dissertationen zu verfassen. Es bietet zudem in verschiedenen Bereichen wie Jugendarbeit, Sexualität, Seelsorge und Diskriminierung Weiterbildungsprogramme für einen breiten Adressatenkreis an. Die islamische Theologie in der Schweiz hat einen starken Bezug auf den eigenen Schweizer Kontext.137 Die Muslime in Österreich gelten seit dem Anerkennungsgesetz von 1874 als Religionsgemeinschaft, deren Status als solche durch das Islamgesetz von 1912 verfestigt wurde. Sie konstituierten sich 1979 in der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ), die weiterhin besteht. Nach der Einführung des islamischen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen im Jahre 1982 stellte sich die Frage nach schulpädagogischer Ausbildung von geeigneten Lehrkräften, die aus Herkunftsländern der muslimischen Bevölkerung entsandte Theologinnen und Theologen ersetzen sollten. Vor diesem Hintergrund wurde 1998 die Islamische Religionspädagogische Akademie (IRPA) in Wien gegründet, die staatlich anerkannte Abschlüsse für das Lehramt für islamische Religion vergab. Als universitäre Ergän-

135 Lüddeckens, Dorothea u. a.: Imam-Ausbildung und islamische Religionspädagogik in der Schweiz? Schlussbericht. Eine Untersuchung im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft (NFP 58), 21. Juli 2009. 136 https://www.religionswissenschaft.uzh.ch/de/seminar/organisation/gpitb.html (letzter Abruf: 27.10.2020). 137 Kurnaz, Serdar: Das Schweizerische Zentrum für Islam und Gesellschaft, in: Handbuch der Religionen, Ergänzungslieferung 64, Hohenwarsleben 2020.

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zung der religionspädagogischen Ausbildung wurde 2006 am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien die Professur für islamische Religionspädagogik eingerichtet, der 2014 eine gleichnamige Professur an der Universität Innsbruck folgte. Auf der Grundlage der Bestimmungen des 2015 erlassenen Islamgesetzes wurde 2017 in Wien das Institut für Islamisch-Theologische Studien gegründet. Im selben Jahr entstand auch an der Universität Innsbruck ein Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik. Gleichzeitig wurden die bereits vorhandenen Professuren um weitere Lehrstühle erweitert. Beide Institute verfügen trotz ihrer jungen Geschichte über je einen erkennbaren thematischen Schwerpunkt, in Wien auf gesellschaftspolitisch relevante Themen und in Innsbruck auf interreligiöse Religionspädagogik. Aktuell verfügt das Wiener Institut über vier bereits besetzte Professuren: Rechtswesen und Ethik im Islam, Alevitisch-Theologische Studien, Islamische Religionspädagogik und Islam in der Gegenwartsgesellschaft. Es ist geplant, zwei weitere Professuren auszuschreiben (Textwissenschaften und Islamische Philosophie). Zusammen mit den Professorinnen und Professoren betreuen 17 wissenschaftliche Mitarbeitende neben dem ursprünglichen MA-Studiengang einen BA-Studiengang Islamisch-Theologische Studien mit drei Schwerpunkten: Islamische Theologie, Alevitisch-Theologische Studien und Islamische Religionspädagogik. Das Institut hat mit der Professur für Alevitisch-Theologische Studien bisher ein Alleinstellungsmerkmal. Das Innsbrucker Institut hat neben zwei Professuren (Islamische Religionspädagogik und Islamische Theologie) etwa neun Mitarbeitende und bietet vier Studiengänge an: Islamische Religionspädagogik (BA und MA), Lehramt Islamische Religion (BA und MA). Beide österreichischen Institute bieten ein Promotionsstudium an. Als jüngste Entwicklung ist das Institut für Islamische Religion zu nennen, das 2017 unter dem Dach der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems eingerichtet wurde. Das Institut bietet neben dem Studienschwerpunkt Islamische Religion für die Primarstufe auch Fortbildungsprogramme für islamischen Religionslehrerinnen und Religionslehrer an. Diese Studienangebote werden überwiegend von Absolventinnen und Absolventen des BA-Studiengangs der IRPA und berufstätigen Lehrkräften in Anspruch genommen. Die Genese der islamischen Theologie in Deutschland ist nicht unabhängig von der Migrationsgeschichte hierzulande zu betrachten. Die Muslime bilden eine der größten Gruppen unter den Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Dem Bundesministerium des Inneren (BMI) zufolge »leben in Deutschland zwischen 4,4 und 4,7 Millionen Muslime. Das entspricht ca. 5,4 bzw. 5,7% der Gesamtbevölkerung von 82,2 Millionen.«138 Der Bedarf an Imamen wird hauptsätzlich von Herkunftsländern der muslimischen Bevölkerung und teilweise durch die Moscheevereine selbst gedeckt. Bereits Anfang der 1980er Jahre wurden Forderungen nach der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts auf Grundlage des Art. 7 Abs. 3 des Grundge-

138 https://www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/staat-und-religion/islam-indeutschland/islam-in-deutschland-node.html (letzter Abruf: 27.10.2020).

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setzes und zur Ausbildung von muslimischen Lehrkräften erhoben. Erstmals in Nordrhein-Westfalen und in Berlin formal beantragt, haben sich diese Forderungen seitdem auf weitere Bundesländer ausgeweitet.139 In einem internationalen Kolloquium an der Universität Hamburg wurde im Jahr 2001 die Notwendigkeit und Möglichkeit der Einrichtung einer Professur für Islamische Theologie debattiert.140 Die nach dem 11. September 2001 wachsende Angst vor dem Islam und die damit einhergehende öffentliche und politische Atmosphäre begünstigte die Gründung der Deutschen Islam Konferenz (DIK) als Plattform für einen dauerhaften und regelmäßigen gesamtstaatlichen Dialog mit Muslimen bzw. ihren Vertretungen in Deutschland.141 Ziel der DIK sei die Förderung eines Islams in, aus und für Deutschland.142 Vor diesem Hintergrund sprach die DIK 2009 die Notwendigkeit an, »Forschungs- und Lehrangebote zur islamischen Theologie im staatlichen Hochschulsystem« einzurichten.143 Darauf folgend empfahl der Wissenschaftsrat im Januar 2010 die Gründung von »institutionell starken Einheiten Islamischer Studien« an mehreren staatlichen Universitäten in der Bundesrepublik, die der islamisch-theologischen Forschung und der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses dienen sollten.144 Der Fokus der Empfehlungen richtete sich einerseits auf die religiöse Pluralisierung und andererseits darauf, die wissenschaftliche Qualität von Forschung und Lehre zu sichern, das Gespräch mit den anderen Formen wissenschaftlicher Weltauslegung zu intensivieren und auch eine verlässliche theologische Basis für den interreligiösen Dialog zu schaffen. Im selben Jahr kündigte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in Anlehnung an die Empfehlungen des Wissenschaftsrats die Förderung der Gründung von islamisch-theologischen Einrichtungen an mehreren Universitäten an und ermutigte die interessierten Universitäten zur Antragstellung. Die Vorläufer der islamisch-theologischen Studien an deutschen Universitäten reichen allerdings noch weiter in die Vergangenheit zurück. Bereits im Jahre 2002 richtete die Goethe-Universität Frankfurt in Kooperation mit der türkischen Religionsbehörde Diyanet eine Stiftungsgastprofessur für Islamische Religion unter dem Dach der Religionswissenschaft am Fachbereich Evangelische Theologie ein. 2005 wurde

139 Özdil, Ali Özgür 45 ff. 140 Sahin, Ertuğrul: Etablierung der islamischen Theologie an deutschen Universitäten: Herausforderungen, Erwartungen, Perspektiven, in: Zeitschrift für Islamische Studien, Heft 1 (2011): www.islamischestudien.de/resources/ZIS_Zeitschrift-Islamische-Studien_1.Ausga be_aktuell.pdf (letzter Abruf: 27.10.2020). 141 Agai, Bekim/Omerika, Armina: Islamic Theology in Germany: A Discipline in the Making, in: Kemper, Michael/Elger, Ralf (Hrsg.): Islamic Piety and Learning. Islamic Studies in Honor of Stefan Reichmuth, Leiden-Boston 2017, 333. 142 https://www.deutsche-islam-konferenz.de/DE/DIK/dik_node.html;jsessionid=AD4AF21FC9 1F440620B4AE3D0596B1A1.internet562 (letzter Abruf: 27.10.2020). 143 Deutsche Islam Konferenz: Zwischen-Resümee der Arbeitsgruppen und des Gesprächskreises. Vorlage für die 4. Plenarsitzung der DIK, Berlin 2009, 13 ff. 144 Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen (Drs. 9678–10), Januar 2010.

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beschlossen, die Stiftung um eine Stiftungsprofessur zu erweitern und einen Magister-Teilstudiengang für islamische Religionswissenschaft einzurichten. Mit einem weiteren Erweiterungsvertrag von 2009 wurden zwei weitere Professuren eingerichtet und zugleich beschlossen, jenseits des religionswissenschaftlichen Studiengangs ein islamisch-theologisches Lehrangebot zu entwickeln. Aus religionsverfassungsrechtlichen Gründen wurden die Stiftungsprofessuren und das restliche Personal in ein eigenständiges Institut am Fachbereich Sprach- und Kulturwissenschaften überführt. Somit ist der BA-Studiengang Islamische Studien an der Goethe-Universität als das erste islamisch-theologische Angebot in Deutschland zu bezeichnen. Daneben gründete im Jahre 2003 ein evangelischer Religionspädagoge, Johannes Lähnemann, das Interdisziplinäre Zentrum für Islamische Religionslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg und initiierte erstmals ein Lehrerausbildungsprogramm für den »Schulversuch Islamunterricht« in Bayern. Auch am Centrum für Religiöse Studien (CRS) der Universität Münster bestand seit 2004 eine Professur für Religion des Islam mit der Aufgabe, Lehrkräfte für den schulischen Islamunterricht auszubilden. Zum Wintersemester 2007/2008 wurde auch an der Universität Osnabrück im Rahmen des Lehramtsstudiums ein MA-Studiengang für Islamische Religionspädagogik eingerichtet.145 Durch die Förderung des BMBF und die Unterstützung der jeweiligen Bundesländer entstanden seit 2011 neben den Universitäten Erlangen-Nürnberg, Frankfurt, Münster und Osnabrück, welche die skizzierten Vorarbeiten vorzuweisen hatten, auch in Gießen, Tübingen, Hamburg, Berlin (Humboldt-Universität) und Paderborn neue Einrichtungen für Islamische Theologie bzw. Islamische Studien, die einen islamisch-theologischen Studiengang und/oder ein Lehramt für Islamische Religion anbieten. In Baden-Württemberg gibt es zusätzlich an vier Pädagogischen Hochschulen (Freiburg, Karlsruhe, Ludwigsburg und Weingarten) religionspädagogische Einrichtungen mit islamischem Schwerpunkt, die Lehrkräfte für den Islam aus- und weiterbilden. Ausschlaggebend waren bislang zwei unterschiedliche Zielsetzungen für die Etablierung der islamischen Theologie: Die Imamausbildung und das Theologiestudium. Die eigentliche Betonung der Empfehlung des Wissenschaftsrats lag eindeutig auf der Integration der islamischen Theologie in den Fächerkanon des deutschen Universitätswesens. Dass die Empfehlung des Wissenschaftsrats in der Öffentlichkeit dahingehend verstanden bzw. von der politischen Entscheidungsträgern dahingehend gerechtfertigt wurde, Imame auszubilden, zeigt eindeutig, welch großes Bedürfnis in diesem Bereich vorliegt. Die Ausbildung von Imamen kann jedoch keine Aufgabe der Universität sein, denn die Universitäten verfügen weder über eine derartige Befugnis, noch können bestimmte wesentliche Kompetenzen hierzu alleine an der Universität erworben werden. Diese Aufgabe fällt der muslimischen Community zu. Natürlich sollte die Ausbildung von Imamen in Zusammenarbeit mit den einschlägigen universitären Einrichtungen geschehen, denn ohne die daraus

145 Bade, Rolf: Islamischer Religionsunterricht ein niedersächsischer Schulversuch, in: Bock, Wolfgang (Hrsg.): Islamischer Religionsunterricht, Tübingen 2007, 132.

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resultierende kritische Reflexion ist keine Hilfestellung beim Lösen von aktuellen Problemen möglich.146 Eine der jüngsten Entwicklungen in diesem Bereich ist die Gründung des Islamkollegs Deutschland e.V. (IKD) mit Sitz in Osnabrück im Jahre 2019, dessen Zweck »die theologisch praktische Ausbildung deutschsprachigen religiösen Betreuungspersonals für die hiesigen Moscheegemeinden« sei, das aber bis dato von den größten muslimischen Dachverbänden (DITIB, VIKZ und IGMG) nicht anerkannt wurde.147 Mit der schnellen Etablierung von islamisch-theologischen Zentren wurden auch kritische Stimmen laut. Während manche wissenschaftliche Kreise der islamischen Theologie kategorisch absprechen, echte Wissenschaft zu sein, werfen ihr manche muslimische Verbände vor, als eine sich der Wissenschaftlichkeit verpflichtende Disziplin nicht authentisch islamisch zu sein. Beiden Seiten ist gemein, dass sie essentialistisch argumentieren. Den ersteren zufolge sei die wahre islamische Theologie ein geschichtlich, gesellschaftlich und geographisch bedingtes Phänomen, das mangels Reflexion der eigenen Bedingtheit nicht in der Lage sei, sich zu reflektieren und zu aktualisieren. Die letzteren kritisieren Versuche, diese Bedingtheit zu reflektieren und das Gewordensein des Wissens zu untersuchen, als Abweichen von einer echten islamischen Gelehrsamkeit. Für die einen liegt das Problem darin, dass eine islamische Theologie an sich dem Primat der Wissenschaftlichkeit nicht genügen könne, für die anderen darin, dass eine islamische Theologie im Westen eine hinreichende Einordnung in die traditionellen islamischen Wissensbestände verfehle.148 Unter der islamischen Theologie lässt sich jedoch die Gesamtheit der islamischen Wissenschaften (al-ʿulūm al-islāmīya) mit allen traditionellen und modernen Prägungen verstehen, die sich stets geltenden Standards der Wissenschaftlichkeit sowie Selbstkritik verpflichtet sah. Die in der Moderne Mode gewordene Anstrengung, originär islamisch zu sein, und der daraus abgeleitete Anspruch, über genuin islamische Methoden und Argumentationsstrukturen zu verfügen, rühren von einer dem klassischen Islam fremden modernen Haltung her. Forschungsgebiete wie Koranexegese, Hadithwissenschaft, Systematische Theologie und Jurisprudenz, die als originäre Disziplinen der islamischen Theologie gelten, sind zwar als von der koranischen Offenbarung hervorgerufene Rezeptions- und Reflexionsweisen den Muslimen eigen, nicht aber originell im Sinne ihrer inneren Logik und Methodik. Zwei grundlegende Fragen beleben diese Disziplinen und beide sind allgemeiner Natur: 1. Ṯubūt, d. h. die Frage nach der Authentizität der Überlieferungen einschließlich des Korantexts. 2. Dalāla, d. h. die Frage nach dem Wie des Verstehens, des Interpretierens und des praktischen Umsetzens. Die Theologie will also nicht, wie von vielen muslimischen Partnern oder manchen Theologen als Zielsetzung der Theologie propagiert wird, den Glauben hervor-

146 Özsoy, Ömer: Islamische Theologie als Wissenschaft. Funktionen, Methoden, Argumentationen – eine Frankfurter Perspektive, in: Gharaibeh, Mohammad u. a. (Hrsg.): Zwischen Glaube und Wissenschaft. Theologie in Christentum und Islam, Regensburg 2015, 57–58. 147 https://www.islamkolleg.de/ (letzter Abruf: 27.10.2020). 148 Ibid. 58–59.

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bringen, vielmehr stellt der Glaube das epistemische Fundament dar, auf welchem theologische Arbeit erbracht werden kann.149 Denn die Theologie ist, anders als die Religionswissenschaft, keine Wissenschaft, welche die Religion als außenstehende Beobachterin untersucht. Auch die islamische Theologie in Deutschland soll sich dem wissenschaftlichen Wettbewerb und den wissenschaftstheoretischen Erkenntnissen und Diskussionen der Gegenwart stellen dürfen und können, die hier längst stattgefunden haben. Eine islamische Theologie im europäischen Kontext soll sich also der eigenen offenen Wissenschaftstradition anschließen und sich daher entschieden gegen Bestrebungen wenden, sie aufgrund ihrer noch jungen Entwicklungsphase als reine, an praktischen Bedürfnissen oder politischen Zielen orientierte Hilfswissenschaft zu betrachten und ihr dadurch im Endeffekt einen zweitklassigen Status einzuräumen. Denn nur hierdurch lässt sich die notwendige Fachautonomie eines neuen Universitätsfaches dauerhaft gewährleisten.150 Nach derzeitigem Stand (September 2020) wird das Fach Islamische Theologie an insgesamt neun Universitäten von acht Professorinnen und 27 Professoren und 117 wissenschaftlichen Mitarbeitenden (47 davon sind Frauen) vertreten. Außerdem werden über 20 Lehrpersonen als Lektorinnen und Lektoren bzw. Lehrbeauftragte sowie etwa 40 Verwaltungskräfte beschäftigt.151 Hinzu kommen werden sieben Professuren, die sich gerade (in Berlin und Hamburg) in der Besetzung befinden sowie etwa acht weitere Professuren, die an verschiedenen Standorten, vor allem in Münster, geplant sind. Das heißt, dass es demnächst 50 Lehrstühle für unterschiedliche Fächer der Islamischen Theologie geben und die Anzahl des weiteren Personals entsprechend steigen wird. Die Denominationen der vorhandenen Professuren sind nicht einheitlich. Sie schließen sich in manchen Fällen dem klassischen Kanon an, wie Koranexegese in Frankfurt, Osnabrück, Paderborn und Tübingen, kombinieren aber oft – wohl aus Kapazitätsgründen – unterschiedliche Kompetenzbereiche, wie Islamische Textwissenschaften (Koran und Hadith) in Berlin, Islamische Philosophie und Normenlehre in Hamburg oder Islamisch-Religiöse Studien mit praktischem Schwerpunkt in Erlangen-Nürnberg. So ist die Islamische Religionspädagogik das einzige Fach, das an allen Standorten auf professoraler Ebene vertreten wird. Nach einer Studie von 2017 hat über die Hälfte der Professorinnen und Professoren einen islamwissenschaftlichen Hintergrund, während der Rest über eine islamischtheologische Ausbildung in muslimischen Ländern verfügt.152 Bis dato hat sich nicht viel an diesem Verhältnis geändert, gleichwohl tritt mit jungen Professorinnen und Professoren, die in Deutschland Islamische Theologie studiert haben, in diesem Fach promoviert und teilweise sogar habilitiert sind, eine neue Gruppe in 149 Ibid. 61–62. 150 Özsoy, Ömer/Şahin, Ertuğrul: Fundamente der Islamischen Theologie in Deutschland, in: Rohe, Matthias u. a. (Hrsg.): Handbuch Christentum und Islam in Deutschland. Grundlagen, Erfahrungen und Perspektiven des Zusammenlebens, Freiburg 2014. 151 Diese Aufstellung geht auf die Angaben in den Homepages der erwähnten Einrichtungen zurück. 152 Engelhardt, Felix: Islamische Theologie im deutschen Wissenschaftssystem. Ausdifferenzierung und Selbstkonzeption einer neuen Wissenschaftsdisziplin, Frankfurt 2017, 177.

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Erscheinung. Diese Entwicklung ist als das erste Zeichen für die Angleichung der Islamischen Theologie im akademischen Betrieb an die üblichen Verhältnisse anzusehen. Mit der Ausnahme von Frankfurt begleiten den Theologiebetrieb konfessionelle Beiräte, die ausschließlich in bekenntnisrelevanten Fragen entscheiden, etwa der Gestaltung von Lehrplänen und Berufungen von Professorinnen und Professoren. Das Beiratsmodell geht auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrats zurück und soll die Wahrnehmung der Rechte und Aufgaben von der muslimischen Religionsgemeinschaft und somit die Neutralität des Staates gewährleisten. Diese Beiräte setzen sich deshalb, wenn auch in verschiedenen Konstellationen, grundsätzlich aus Vertreterinnen und Vertretern der großen muslimischen Dachverbände bzw. ihrer jeweiligen Landesverbände zusammen, wie DITIB (Türkisch Islamische Union), IBD, (Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland), VIKZ (Verband der islamischen Kulturzentren), ZMD (Zentralrat der Muslime in Deutschland) und IGBD (Islamische Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland). In manchen Beiräten sitzen auch muslimische Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Gelehrte der islamischen Theologie und fachverwandter Wissenschaften. Diese Einrichtungen definieren das Fach teilweise unterschiedlich (ErlangenNürnberg: Islamisch-Religiöse Studien; Frankfurt: Islamische Studien; die anderen Standorte: Islamische Theologie) und akzentuieren ihre wissenschaftlichen Ziele entsprechend verschieden, wobei bemerkenswerterweise die historisch-kritische Theologie zumindest nominell im Vordergrund steht. Die aktuellen Lehr- und Forschungsprofile der Standorte entstammen oft keiner tiefgreifenden Auseinandersetzung mit der islamischen Theologie, sondern sind vielmehr einfach historisch gewachsen. Sie lassen sich teilweise auf das jeweilige Profil der Gründungskräfte und teils auf Verhandlungsprozesse zwischen den jeweiligen Universitätsleitungen und Fachvertreterinnen und Fachvertretern zurückführen. Um die Profilbildung der Islamischen Theologie in Deutschland zu schärfen, wurde 2017 durch Förderung des BMBF und die Stiftung Mercator die Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) als eine universitäre Plattform für Forschung und Transfer in islamisch-theologischen Fach- und Gesellschaftsfragen begründet. »Sie ermöglicht überregionale Kooperationen und Austausch zwischen Wissenschaftler_innen der islamisch-theologischen Studien und benachbarter Fächer sowie Akteur_innen aus der muslimischen Zivilgesellschaft und weiteren gesellschaftlichen Bereichen.«153 Die Herausforderungen, die mit der Entstehung der islamischen Theologie als eines neuen Universitätsfachs in Europa einhergehen, werden von den muslimischen Gemeinschaften und den säkularen europäischen Staaten und Gesellschaften oft unterschiedlich wahrgenommen, interpretiert und beantwortet. Statt einer dialogischen Annäherung scheint bei der Formulierung dieses heiklen Themas eine Politik der Divergenz am Werk zu sein, die die Anerkennung der Muslime und ihre Teilhabe innerhalb des demokratischen Gemeinwesens erheblich untergräbt.154 So

153 https://aiwg.de/ (letzter Abruf: 27.10.2020). 154 Sahin, Abdullah 17.

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wurden in einem Positionspapier einer Gruppe von muslimischen Theologinnen und Theologen aus Frankfurt von 2014 die verschiedenen Faktoren und Rollenerwartungen seitens unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure sowie strukturelle Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, die bei der Profilbildung nicht weniger relevant sind als wissenschaftstheoretische und theologische Überlegungen, reflektiert und dargestellt.155 Auf einer Fachtagung, die 2019 unter Beteiligung der Vertreterinnen und Vertreter aller europäischen Standorte der Islamischen Theologie in Wien stattfand, griffen die Fachvertreterinnen und Fachvertreter die an die Islamische Theologie herangetragenen Erwartungen und ihre fachlichen Prämissen wieder auf und formulierten Leitlinien ihres Fachverständnisses und Maßgaben für eine eigene Fachautonomie.156 Auch dabei kommt die Spannung zwischen hohen gesellschaftspolitischen Anforderungen und der Autonomie des Faches zum Vorschein. Der Grad, zu dem die Fachvertreterinnen und Fachvertreter die externen Ansprüche abwehren oder innerhalb ihrer eigenen Logiken bearbeiten können, wird zeigen, wie hoch die Autonomie der Islamischen Theologie werden wird.157

Literatur zum Weiterlesen Aslan, Ednan: Islamische Theologie in Österreich. Institutionalisierung der Ausbildung von Imamen, SeelsorgerInnen und TheologInnen, Frankfurt 2013. Bauer, Thomas: Warum es kein islamisches Mittelalter gab: Das Erbe der Antike und der Orient, München 2019. Berger, Lutz: Islamische Theologie, Wien 2010. Endreß, Gerhard: Der Islam. Eine Einführung in seine Geschichte, München, 2. Aufl. 1991. Engelhardt, Felix: Islamische Theologie im deutschen Wissenschaftssystem. Ausdifferenzierung und Selbstkonzeption einer neuen Wissenschaftsdisziplin, Frankfurt 2017. Rahman, Fazlur: Islam and Modernity: Transformation of an Intellectual Tradition, Chicago 1982. Sahin, Abdullah: New Directions in Islamic Education: Pedagogy & Identity Formation, Istanbul 2014. van Ess, Josef: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, Berlin – New York 1991 (6 Bde).

155 Agai, Bekim u. a.: Islamische Theologie in Deutschland. Herausforderungen im Spannungsfeld divergierender Erwartungen, in: Frankfurter Zeitschrift für Islamisch-theologische Studien, Bd. 1 (2014), 7–28. 156 Ben Abdeljelil, Jameleddine u. a.: Erklärung der FachvertreterInnen der Islamisch-Theologischen Studien (Islamische Theologie, Islamische Studien, Islamisch-Religiöse Studien, Islamische Religionspädagogik) an europäischen Universitäten und Hochschulen zur aktuellen Lage ihrer Fächer, Institute und Zentren: https://iits.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/p_iits/Dateien/Sons tiges/16_Erklaerung_FachvertreterInnen_Islamisch_Theologische_Studien_Druck.pdf (letzter Abruf: 27.10.2020). 157 Engelhardt, Felix 328.

Muhammad als Vorbild Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert und Typen der imitatio Muhammadi Cüneyd Yıldırım

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Einleitung: Die Erforschung der Bedeutung Muhammads im Islam

Die islamwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Propheten Muhammad kennt, grob eingeteilt, zwei Methoden: Die eine bemüht sich, mithilfe von Quellenkritik das Leben Muhammads zu rekonstruieren. Die andere, kulturhermeneutisch orientierte Methode möchte verstehen, wie Musliminnen und Muslime über die Jahrhunderte ihren Propheten gesehen haben und heute noch sehen. Was beide Methoden, unter die sich verschiedene Ansätze subsumieren ließen, im Wesentlichen trennt, ist die Beurteilung der muslimischen Quellen zum Leben Muhammads. Während die Befürworter quellenkritischer Ansätze hinter den von Muslimen überlieferten Berichten vom Propheten, deren älteste Zeugnisse in das 8. Jahrhundert zurückreichen, als eine in weiten Teilen für die Rekonstruktion des wahren Muhammad unbrauchbare religiöse Mythenbildung verstehen, interessieren sich Kulturhermeneutiker weniger für vermeintlich historische Wahrheiten. Diese neuere, den Ideen Michel Foucaults zum einen, denen Hans-Georg Gadamers zum anderen verpflichtete Methode in der Islamwissenschaft verzichtet zudem gänzlich auf Begriffe wie »Wahrheit« und »Ursprung«, und zielt stattdessen auf das Verstehen der Kulturen der islamischen Welt ab, wie diese sich selbst präsentieren. Befürworter dieser Methode kritisieren, dass in der Islamwissenschaft zu lange speziell europäische kulturelle Vorlieben und Interessen die Sichtweise auf außereuropäische Phänomene vorgaben.1 Diese seien nach eigenen Interessen selektiert sowie nach Begriffen geordnet worden, die sich im eigenen Kulturkreis historisch herausgebildet haben. Dagegen sei es dem Verstehensprozess einer anderen als der eigenen Kultur dienlicher, deren eigene Themen zu entdecken. Im konkreten Fall hieße das, islamischtheologische Texte nach den ihnen eigenen, textimmanenten Kriterien zu begreifen. Auf diese Weise gehe dem Verstehen-Wollen kein Versuch einer positivistischobjektiven Beurteilung bzw. keine Verurteilung voraus, sondern Offenheit.2

1 Vgl. Schöller, Marco: Methode und Wahrheit in der Islamwissenschaft – Prolegomena, Wiesbaden 2000, 18–24. 2 Vgl. Schöller, Methode und Wahrheit, 96–97; Ghaffar, Zishan Ahmad: Der historische Muhammad in der islamischen Theologie – Zur Kriterienfrage in der Leben-Muhammad-Forschung, Paderborn 2018, 61.

Muhammad als Vorbild

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Sowohl quellenkritische als auch kulturhermeneutische Ansätze stehen für sich und haben ihre volle wissenschaftliche Berechtigung. Für welche Methode sich die Forschenden entscheiden, hängt letztlich von der jeweiligen Leitfrage ab. Für das Ziel des vorliegenden Beitrags, nämlich zu zeigen, ob und auf welche Weisen der Prophet Muhammad für Musliminnen und Muslime Vorbildcharakter hat, kann auf die Frage nach der Authentizität der frühesten relevanten Quellen verzichtet werden. Das Thema des Muhammad‘schen Vorbilds wird im Folgenden in drei Schritten behandelt: Als erstes wird kurz auf die schriftlichen Quellen und den innerislamischen historischen Diskurs hinsichtlich der Bedeutung Muhammads eingegangen. Zweitens, wird nach den historischen Wurzeln der in der Gegenwart stark präsenten Sunna-Kritik, dem Koranismus, gefragt. Schließlich, drittens, wird mithilfe einer Typologie die Vielfalt der Erscheinungsformen der imitatio Muhammadi, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert positiv äußert, zu systematisieren versucht. Der hier verfolgte Ansatz ist damit historisch-deskriptiv. Wie an den folgenden Ausführungen deutlich wird, müssen sich Quellenkritik und Kulturhermeneutik nicht gegenseitig ausschließen. Die Vereinbarkeit beider Methoden kann beispielsweise gewährleistet werden, indem die Bezüge, die Musliminnen und Muslime zur Frühgeschichte des Islams selbst herstellen, aufgrund ihrer diskussionswürdigen Historizität sprachlich mit der entsprechenden Vorsicht formuliert werden. Die Erforschung der Bedeutung des Propheten für den Islam sowie von deren kultureller Entfaltung kann einige gewichtige Publikationen vorweisen. Die bedeutendsten Monographien hierzu lieferten Tor Andrae3, Annemarie Schimmel4 und Tilman Nagel5. Ein neuerer wichtiger Beitrag ist das 2009 erschienene Images of Muhammad von Tarif Khalidi.6 Den mystischen Aspekt der imitatio Muhammadi im Sufismus der Ibn-ʿArabī-Schule hat Michel Chodkiewicz konzise dargestellt.7 Speziell zur Bedeutung des Muhammad‘schen Vorbilds für religiöse Organisationen der Gegenwart sind in den letzten Jahrzehnten außerdem einige wertvolle empirische Studien erschienen.8

3 Andrae, Tor: Die Person Muhammeds in Lehre und Glauben seiner Gemeinde, Stockholm 1918. 4 Schimmel, Annemarie: Und Muhammad ist sein Prophet. Die Verehrung des Propheten in der islamischen Frömmigkeit, (Diederichs‘ gelbe Reihe; 32: Islam), München 1995. 5 Nagel, Tilman: Allahs Liebling. Ursprung und Erscheinungsformen des Mohammedglaubens, München 2008. 6 Khalidi, Tarif: Images of Muhammad. Narratives of the Prophet of Islam Across the Centuries, New York 2009. 7 Chodkiewicz, Michel: Das am Propheten orientierte Modell der Heiligkeit im Islam, in: Trivium 29 (2019). https://journals.openedition.org/trivium/6321 (aufgerufen am 8.11.2020). 8 Siehe bspw.: Schrode, Paula/Simon, Udo (Hrsg.): Die Sunna leben. Zur Dynamik islamischer Religionspraxis in Deutschland, Würzburg 2012; Gugler, Thomas: Mission Medina: Daʿwat-e Islāmī und Tablīġī Ǧamāʿat, Würzburg 2011; Jonker, Gerdien: Eine Wellenlänge zu Gott. Der »Verband der Islamischen Kulturzentren« in Europa, Bielefeld 2002.

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Muhammad als Vorbild

Die Quellen des Muhammad’schen Vorbildes: Hadith, sīra und šamāʾil Ausgehend vom religiösen Ideal, das sunnitische Gelehrte in ihren Glaubenslehren postulieren, kann gesagt werden, dass für Musliminnen und Muslime die Sunna nach dem Koran den zweitwichtigsten Bezugspunkt darstellt. Sunna meint im weitesten Sinne eine tradierte normgebende Handlungsweise früherer Generationen. Als Folge des Wirkens von aš-Šāfiʿī (gest. 204/820), dem Namensgeber der bedeutenden šāfiʿītischen Rechtsschule, hat sich im sunnitischen Denken die Sunna Muhammads als die maßgebliche normgebende Handlungsweise etabliert.9 Tatsächlich spielen die zahlreichen Personen, deren Geschichten im Koran als beispielhafte Lebensführung vorgestellt werden, in erster Linie männliche Propheten, aber auch Frauen wie Maria und Āsiya, für die gelebte Religiosität von Musliminnen und Muslimen kaum eine Rolle. In der traditionellen Frömmigkeit, wie sie uns beispielsweise in Ländern wie Marokko, Pakistan und Indonesien begegnet, ist das Vorbild Muhammads der primäre Bezugspunkt, ihr lebendiger Koran. In den Augen der Akteure dieses traditionell gelebten Glaubens kann der Koran nur mithilfe des Muhammad’schen Beispiels umgesetzt werden, wofür die Hadithe das Hilfsmittel bilden. Die Hadithe, die eine schier unfassbar große Menge an überlieferten Nachrichten von Worten und Taten des Propheten umfassen, sind sehr unterschiedlichen Inhalts. Wie beispielhaft an der berühmten Sammlung al-Buchārīs festzustellen ist, gehen die Hadithe auf alle Angelegenheiten des Islams ein: von der Vorstellungswelt (Offenbarung, Schöpfung, Eschatologie, Moral) über Praktiken (Gebet, Fasten, Almosen, Pilgerfahrt, gute Werke, Dschihad) bis hin zu belehrenden Geschichten früherer Propheten. Die Aussprüche erklären und ergänzen den Koran, der zum einen zahlreiche nicht selbsterklärende Aussagen enthält, zum anderen viele Angelegenheiten des menschlichen Daseins gar nicht behandelt. Während 200–500 Koranstellen eine Grundlage zur Herleitung normativer Bestimmungen bieten können, bewegt sich die Zahl der dafür anwendbaren Hadithe zwischen 800 und 7000.10 Dazu passt, dass viele Hadithe klare Anweisungen liefern oder zumindest indirekt eine Handlung gegenüber einer anderen nahelegen.11 Ein Teil der Hadith-Literatur geht zudem auf das Alltagsverhalten Muhammads ein, dessen Nachahmung in der Vormoderne insbesondere die Frömmigkeit der Leute des Hadiths (aṣḥāb al-hadīṯ) kennzeichnete. Dieses Thema kennt innerhalb des gegenwärtigen muslimischen Islamdiskurses verschiedene Neuinterpreten wie die Salafiten und Tablighīs. 9 Vgl. Bedir, Mürteza: Sünnet, in: TDV Islâm Ansiklopedisi Bd. 38, Istanbul 2010, 151. 10 Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität, 143–145. 11 Nawawī, Yaḥyā Ibn Šaraf/Schöller, Marco (Hrsg./Übers.): Das Buch der vierzig Hadithe, Frankfurt am Main 2007, 270–271.

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Ein Großteil der Hadith-Sammlungen, deren für das Sunnitentum bedeutendste im 9. Jahrhundert entstanden, sind nach Themen gegliedert.12 Sie sind nicht in eine Erzählung eingebettet und erfüllen damit nicht den Zweck einer Vita13. Hierfür hat sich eine andere Gattung islamischer Texte etabliert: die Vita Muhammads (assīra an-nabawīya, kurz: sīra) . Die frühesten Autoren von Muhammad-Viten, die im 8. Jahrhundert lebten, interessierten sich besonders für die politischen Ereignisse, allen voran die Feldzüge, weshalb die sīra-Literatur jener Phase als kein eigenständiges Genre, sondern als Teil der Feldzüge-Literatur (maġāzī) anzusehen ist.14 Einen wichtigen Platz innerhalb der frühen Zeugnisse der Prophetenvita nahm zudem der Stammbaum des Propheten ein. Das in der sīra-Literatur vermittelte Muhammad-Bild nahm mit der Zeit universelle Gestalt an, im Sinne Muhammads als Vorbild für alle Menschen. Hingegen waren die frühesten Viten noch von der Vorstellung eines durch und durch arabischen Propheten bestimmt, was sich dadurch äußert, dass noch mangels an prophetologischen Themen der Stammbaum sowie die militärische Bewährung Muhammads stark ins Gewicht fällt. Diese frühen Themen verschwinden allerdings nicht aus der späteren sīra-Literatur: So finden sich auch in späteren Viten die Feldzüge des Propheten und dessen Stammbaum, der deswegen so wichtig ist, weil er auf den Bezug zu Abraham hinweist. An der Entwicklung der sīra-Literatur zeigt sich der akkumulative Charakter islamischer Literaturgeschichte: Neue Themen und Aspekte kommen hinzu, alte hingegen bleiben weiter bestehen. Hinsichtlich der Vita Muhammads wurden mit der Zeit prophetologische Konzepte in die Erzählung eingearbeitet, die zu der Entstehungszeit der frühesten, heute noch bekannten Muhammad-Viten, nicht entwickelt waren.15 Es entstanden theologische Werke, die dem Zweck dienten, das Prophetentum im Allgemeinen wie auch das Muhammads im Speziellen zu beweisen (dalāʾil/aʿlām/muʿǧizāt an-nubūwa). Nach Mareike Koertner zeichnete sich ab dem 4./10. Jahrhundert innerhalb des islamischen Diskurses16 um den Propheten Muhammad eine Entwicklung ab. Mit Abū Nuʿaim al-Iṣfaḥānī

12 Das sind die Sammlungen des Typs muṣannaf, zu dem die beiden gewichtigsten, die ṣāḥiḥān, Buchārī und Muslim gehören, sowie einige andere. Man spricht häufig von quasi kanonischen Sechs Büchern (al-kutub as-sitta). Vgl. Kandemir, M. Yaşar, Kütüb-i Sitte, TDV İslâm Ansiklopedisi, Bd. 27, Ankara 2003, 6–8. 13 Der hier vorgeschlagene Begriff »Vita« eignet sich nicht in allen Kontexten als Übersetzung von sīra. So zielt der Titel As-Sīra al-Falsafīya des Philosophen Abū Bakr ar-Rāzī (gest. 313/925) auf die ideale philosophische Lebensweise ab. Vgl. Daiber, Hans: § 6. Abū Bakr ar-Rāzī, in: Rudolph, Ulrich (Hrsg.): Philosophie in der islamischen Welt, Bd. 1, 272–273. Für weitere Beispiele für den verschiedenen Gebrauch von sīra: siehe Schöller, Exegetisches Denken, 37–44. Als Grundbedeutung von sīra ließe sich »Handlungsweise« bestimmen. 14 Vgl. Dziri, Amir: Sira. Einführung in die Prophetenbiografie, Freiburg i. Br. 2014, 95. 15 Das sind die Maġāzī-Werke von Mūsā b. ʿUqba (gest. 141/758) und Ibn Isḥāq (gest. 150/ 767). Ersteres ist nur fragmentarisch erhalten, letzteres nur in der Version von Ibn Hišām (218/833) überliefert. 16 In der gleichen Zeit gewann auch der philosophische, auf Vernunftargumente basierende Diskurs um die Beweisführung des Prophetentums an Fahrt. Siehe ar-Rāzī, Abū Ḥatim/ Khalidi, Tarif (Übers.), Aʿlām al-Nubuwwa – The Proofs of Prophecy, Brigham 2012.

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(gest. 430/1038) und al-Baihaqī (gest. 458/1066) setzte eine langsam zunehmende theologische Auseinandersetzung ein.17 Dies schwächte den Hadith in seiner Bedeutung als Argumentationsgrundlage, denn die entsprechenden Werke, die vor dem 4./10. Jahrhundert entstanden, bestehen vor allem aus kommentarlosen Sammlungen einschlägiger Hadithe sowie sonstiger Nachrichten aus der Frühzeit und enthalten keine prophetologischen Spekulationen im Sinne der rationalistischen Theologie (kalām). Die Argumentation mit dem Koran hat seit dem 19. Jahrhundert an Bedeutung zugenommen, sie tritt aber beispielsweise in den Beweisen des Prophetentums (Dalāʾil an-Nubūwa) des Abū Nuʿaim al-Iṣfaḥānī bereits deutlich in Erscheinung. Diese Argumentation weist einen gewissen Zirkelschluss auf, denn es wird mithilfe des Korans versucht, die hervorragende Stellung des Verkünders desselben zu untermauern. So führt al-Iṣfaḥānī alle Stellen auf, in denen der Gehorsam gegenüber Gott und seinem Gesandten geboten bzw. der Ungehorsam beiden gegenüber verboten wird, sowie alle Stellen, in denen Gott und sein letzter Prophet zusammen genannt sind (4:14, 59; 8:1, 24; 9:71; 49:15 etc.).18 Aus dem Koran entlehnt ist die Bezeichnung das »schöne Vorbild« (uswatun ḥasanatun), auf die im Zusammenhang mit Muhammads Vorbildhaftigkeit gerne Bezug genommen wird.19 Ihr habt ja im Gesandten Gottes ein schönes Vorbild für den, der Gott und den Jüngsten Tag erwartet und der Gottes oft gedenkt. (33:21)20

Im Kontext des seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in der muslimischen Öffentlichkeit verschiedener Orts betriebenen Erneuerungsdiskurses steht im Mittelpunkt die Frage nach den Grenzen des Muhammad’schen Vorbilds. Die Hadithe greifen dies nur am Rande auf. Demnach hat es vereinzelt Situationen gegeben, in denen Muhammads Anhänger ihn fragten, ob seine Worte von Gott oder von ihm selbst stammen, sie also jedem seiner Worte unbedingt Folge leisten müssen oder nicht.21 Die traditionelle sunnitische Lehrmeinung über den Umfang des Muhammad’schen Vorbilds geht dahin, dass es alle Bereiche des Lebens umfasst, was allein an der oben angedeuteten Breite des Themenkomplexes des Hadithkorpus erkennbar ist. Wäre er nicht ein dermaßen umfassendes und vollkommenes moralisches Vorbild, würde die Glaubwürdigkeit seiner Person und somit die seiner Verkündung

17 Vgl. Koertner, Mareike: Dalāʾil al-Nubuwwa Literature as Part of the Medieval Scholarly Discourse on Prophecy, in: Der Islam 95, 1 (2018), 101–107. 18 Vgl. Al-Iṣfaḥānī, Abū Nuʿaim: Dalāʾil an-Nubūwa, Beirut 1433/2012, 47–48. 19 So im Titel der Einzelpublikation des šamāʾil-Teils der Prophetenvita des den Tablighis nahestehenden indischen Gelehrten Abū l-Ḥasan ʿAlī an-Nadwī: siehe an-Nadwī, Abū lḤasan ʿAlī: Uswatun Ḥasana, Beirut 2019. 20 Die Übersetzungen aus dem Koran stammen aus: Bobzin, Hartmut (Übers.): Der Koran, München 2017. 21 Vgl. Dziri, Sira, 104–105.

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Schaden nehmen. Mit der Verlässlichkeit (amāna) des Propheten wird ferner eine andere Eigenschaft berührt, die laut Lehrmeinung allen Propheten eigen ist: die der Immunität gegen Fehler (ʿiṣma). Auch hier erfolgt die typische Beweisführung durch eine Reductio ad absurdum: Denn die Menschen, da sie zur Befolgung der Propheten verpflichtet sind, müssten im Falle der Sündhaftigkeit der Propheten selbst Sünden begehen, was absurd wäre. Demnach dürfen Propheten weder kleine noch große Verfehlungen begehen. Gott schützt sie vor ihnen, auch wenn ihnen selbst danach wäre, wie Koran 12:2422 zufolge im Falle Josefs, der selbst ein Verlangen nach Potiphars Frau verspürt hatte.23 Als zentrales Hilfsmittel der Prophetenfrömmigkeit dient gegenwärtigen Frömmigkeitsbewegungen, wie den indischen Tabliġīs, die šamāʾil-Literatur. Diese hat die äußeren Merkmale sowie den Charakter Muhammads zum Gegenstand. Das erste Werk, das gleichzeitig der Gattung ihren Namen gab, trägt den Titel die Muhammad’schen Charaktermerkmale (aš-Šamāʾil al-Muḥammadīya). Der Hadithgelehrte Abū ʿĪsā Muḥammad at-Tirmiḏī (gest. 279/892) führt darin Hadithe auf, die zum einen Muhammads persönliche Vorlieben in alltäglichen Dingen wie Kleidung, Kosmetik und Essgewohnheiten, zum anderen seine Verhaltensweisen in der Interaktion mit anderen beschreiben. Zu den Vorlieben gehörten demnach u. a. weiße Kleidung, das Tragen einer Art Wickelrock (izār), Parfums sowie das Auftragen von Kajal (kuḥl) mehrmals täglich auf die Augen. Er soll langsam und deutlich geredet, viel geschwiegen, geduldig zugehört haben und auch zu unbeherrschten Menschen höflich gewesen sein. Demut, Schamhaftigkeit und Freigebigkeit seien die drei wesentlichen Charaktereigenschaften des Propheten gewesen.24

Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert Im Folgenden sollen ideengeschichtliche Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert beleuchtet werden, auf die der gegenwärtige von muslimischen Gläubigen geführte Diskurs um die Bedeutung des Propheten Muhammad aufbaut. Wenn entlang dieses Diskurses eine Grenze gezogen würde, stünden sich, idealtypisch, zwei Lager gegenüber. Auf der einen Seite befänden sich diejenigen mit einer traditionalistischen und neo-traditionalistischen Ausrichtung: Für sie sind die Sunna des Propheten und der Koran die beiden Hauptquellen des Islams. »Traditionalistisch« verweist dabei auf die Ansicht, einer Rechtsschule folgen zu müssen, während »neo-traditionalistisch« eine kritische Haltung gegenüber dem Rechtsschulenwesen meint. Gegenüber diesem Sunna bejahenden Lager finden sich all diejenigen Musliminnen

22 »und auch er hätte sie wohl begehrt, wäre nicht die Erleuchtung von seinem Herrn gekommen. So wendeten wir Böses und Abscheuliches von ihm, denn siehe, er ist einer unserer ergebenen Knechte.« 23 Vgl. Bilmen, Ömer Nasuhi: Muvazzah İlmi Kelâm, Istanbul 1972, 183–185. 24 Siehe Tirmiḏi, Muḥammad b. ʿĪsā: aš-Šamāʾil al-Muḥammadīya wa-l-Ḫaṣāʾil al-Muṣṭafā, Beirut 1416 [1996]. Vgl. auch Andrae, Tor: Die Person Muhammeds in Lehre und Glauben seiner Gemeinde, Stockholm 1918, 199–204.

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und Muslime, auf die die Bezeichnung »Koranisten« (qurʾānīyūn, ahl al-qurʾān) verwendet wird, welche auch als Selbstbezeichnung in den entsprechenden Medien erscheint.25 Sie relativieren die Vorbildfunktion Muhammads sowie dessen Sunna und akzeptieren ausschließlich den Koran als Quelle. In der Konsequenz kritisieren sie nicht nur durch Hadithe tradierte Glaubensinhalte, die ihrer Meinung nach keine Grundlage im Koran haben, sondern bemühen sich um eine allein am Koran orientierte Reform etablierter Praktiken. So lehnen sie es ab, Muhammad im Gebetsruf und im Gebet zu erwähnen.26 Im Folgenden wird die Genealogie des gegenwärtigen Trends des Koranismus und damit der Relativierung des Muhammad’schen Vorbilds nachgezeichnet. Die hier präsentierte Geschichtsdeutung orientiert sich in Teilen an einer Ausführung Mustafa Öztürks.27 Im Zuge der Kolonialisierung weiter Teile der islamischen Welt erschienen dort neue, mächtige Weltanschauungen. Das Verständnis von normativer Ambiguität, wie sie bezüglich der muslimischen Gesellschaften der Vormoderne vorausgesetzt werden kann, wurde erschüttert durch neue, ihnen völlig fremde Normen, die eine kulturelle Hegemonie erlangten. Auf lange Sicht zwang der neue hegemonial geprägte Diskurs über die Wertigkeit der verschiedenen kulturellen Phänomene auch die muslimischen Gläubigen zu einer Neuorientierung ihrer Lebensweise und Glaubensinhalte entlang moderner, aus Europa stammender Normen. Diese Herausforderung, die das koloniale Zeitalter mit sich brachte, forderte auf direktem und indirektem Weg die bis dahin bestehenden traditionellen Formen wie auch Inhalte des Islams heraus und führte in vielerlei Hinsicht zu einem Umdenken. Neue Muhammad-Bilder, die versprachen modernitätskompatibel zu sein, traten zu den alten hinzu. Die Revision islamischer religiöser Quellen geschah jedoch nicht erst mit dem Eindringen europäischer Mächte in die islamische Welt. Beispielsweise forderten die beiden Gelehrten Muḥammad Ibn ʿAbd al-Wahhāb (gest. 1792) und Muḥammad aš-Šaukānī (gest. 1834) bereits eine grundlegende Reform (iṣlāḥ) islamischen Denkens und Handelns ein, ohne dabei direkt vom Kolonialismus betroffen gewesen zu sein. Beide standen am Anfang eines theologischen Trends der zunehmenden Eindeutigkeit und Ambiguitätsintoleranz, den dann die von außen eingreifenden Kräfte beförderten und somit dem modernen Islamismus den Weg bereiteten.28 Sowohl Ibn ʿAbd al-Wahhāb als auch aš-Šaukānī ging es im Wesentlichen darum, den Koran und die Sunna zu alleinigen und eindeutigen Quellen der Herleitung religiöser Normen zu erklären bei gleichzeitigem Verzicht auf den Analogieschluss (qiyās) und den Schluss durch Konsens (iǧmāʿ). Diese Methode der Islamauslegung

25 Siehe bspw. http://www.ahl-alquran.com/arabic/index.php (aufgerufen am 7.11.2020). 26 Vgl. Manṣūr, Aḥmad Ṣubḥī: Roots of Quranists. http://www.ahl-alquran.com/English/show_ article.php?main_id=11634 (aufgerufen am 7.11.2020). 27 Öztürk, Mustafa: Modern Döneme Özgü Bir Kur’an Tasavvuru – Kur’ancılık ve Kur’an İslamı Söyleminin Tahlil ve Tenkidi, in: Marife 10, 3 (2010), 9–43. 28 Vgl. Bauer, Die Kultur, 377; 387.

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verzichtet auf die traditionelle hermeneutische Anstrengung (Idschtihad) eines Normexperten (muǧtahid) und erlaubt allen Laien, die mit dem Koran und der Sunna vertraut sind, aber keine Madrasa-Bildung besitzen, ihr eigener Experte zu sein. Besonders aš-Šaukānī lehnte die Befolgung einer Rechtsschule als unnötig ab. Was als Aufklärung im Sinne einer religiösen Selbstbestimmung und Eigenverantwortung gedeutet werden kann, ging, wie im Wirken Ibn ʿAbd al-Wahhābs deutlich wird, einher mit einem militanten Exklusivismus wie auch Aktionismus. Neben der Arabischen Halbinsel, der Heimat Ibn ʿAbd al-Wahhābs und aš-Šaukānīs, war der von Muslimen beherrschte Teil Indiens ein wichtiges Zentrum der Erneuerungsbewegung, deren bedeutendster Akteur und weitreichender Ideengeber ganz unterschiedlicher Bewegungen Schah Walī Allāh Dihlawī (gest. 1176/1762) war. Ähnlich wie aš-Šaukānī kritisierte auch Dihlawī die blinde Befolgung einer Rechtsschule und trat für eine Wiederbelebung des Idschtihad im Lichte des Hadiths ein.29 Mit Ibn ʿAbd al-Wahhāb teilte er das Gelehrtennetzwerk: Beide studierten in Mekka bei dem Hadith-Gelehrten Muḥammad Ḥayāt as-Sindī (gest. 1163/ 1750).30 Die Modernisten Sayyid Ahmad Khan (gest. 1898) und Muḥammad ʿAbduh (gest. 1905), die beide den Islam mit der damals in Europa vorherrschenden naturwissenschaftlichen Weltanschauung zu harmonisieren suchten, übernahmen von jener älteren Erneuerungsbewegung vor allem die Kritik am traditionellen Rechtsschulwesen. Die überlieferte Lebensweise des Propheten und dessen Gefährten deuteten sie als einen Pragmatismus mit dem Fortschritt als Ziel – eine Einstellung also, die ihrer Meinung nach die zivilisatorische Weiterentwicklung der islamischen Weltgemeinde begünstigte. Sie gingen allerdings bei ihrer Revision der Quellen des Islams von eben jenem Paradigma aus, was besonders bei ʿAbduh dazu führte, dass er rein selektiv auf Hadithe Bezug nahm, um die Vereinbarkeit von moderner Wissenschaft und Islam zu behaupten.31 Der traditionelle Wissensbestand, bestehend u. a. aus Kalām- und Sufi-Texten, wurde auf ein solches Niveau reduziert, dass er für den Einzug der positivistischen Weltanschauung in der islamischen Welt kein Hindernis darstellen konnte und der Naturwissenschaft genügend Raum überließ, um mithilfe beider die von ihnen diagnostizierte technische Rückständigkeit zu überwinden. ʿAbduhs Vorbild für diesen modernen apologetischen Ansatz war sein Lehrer Ǧamal ad-Din Afghani (gest. 1897), der persönlich mit dem französischen Orientalisten Ernest Renan in Korrespondenz stand und mit diesem dessen These diskutierte, der Islam verhindere wissenschaftliches Denken und damit den Fortschritt in wei-

29 Vgl. Metcal, Barbara: Islamic Revival in British India: Deoband, 1860–1900, Princeton 1982, 37–39. 30 Vgl. Nafi, Basheer M.: A Teacher of Ibn ʿAbd al-Wahhāb: Muḥammad Ḥayāt al-Sindī and the Revival of Aṣḥāb al-Ḥadīth’s Methodology, in: Islamic Law and Society 13, 2 (2006), 209–211. 31 Vgl. Lowry, The Prophet as lawgiver and legal authortiy, in: Brockopp, Jonathan Eugene (Hrsg.) The Cambridge Companion to Muhammad, 99; Saika, Yasmin/Raisur Rahman: Introduction, in: Dies. (Hrsg.): The Cambridge Companion to Sayyid Ahmad Khan, 11–12; Metcalf: Islamic Revival, 321–322.

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ten Teilen der Welt.32 Für ʿAbduh gehörten Auguste Comtes (gest. 1857) Positivismus und Herbert Spencers (gest. 1903) gesellschaftlicher Evolutionismus zum naturwissenschaftlichen Weltbild, das sie mit dem Islam zu harmonisieren suchten.33 Aḥmad Khan hingegen setzte sich intensiv mit Charles Darwins Evolutionismus auseinander.34 Das intellektuelle Erbe sowohl Aḥmad Khans als auch Muḥammad ʿAbduhs wirkte auf die ihnen folgenden Generationen sehr unterschiedlich, weshalb es unzureichend wäre, die Deutungshoheit ihrer Aussagen nur einer der Gruppen, die sich auf sie beziehen, zu überlassen. Tatsache ist jedoch, dass gegenwärtige Koranisten beide als ihre maßgeblichen Vordenker begreifen.35 Der Diskurs um den Stellenwert des Korans hat seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch innerhalb des akademisch-theologischen Milieus an Bedeutung gewonnen. Dies ging mit der Adaption literaturwissenschaftlicher Methoden in der Koranexegese einher. Der Pakistaner Fazlur Rahman (gest. 1988) übertrug den hermeneutischen Intentionalismus, wonach die Intention des Autors das maßgebliche Verständnis eines Textes vorgibt, auf den Koran. Infolgedessen gelangte er zu der Ansicht, dass es gemäß dem Koran Gottes Absicht sei, die Menschen zu einer Gesellschaft zu führen, die auf universellen ethischen Prinzipien beruht. Es sind demnach nicht die konkreten normativen Bestimmungen des Korans, die universell zu verstehen sind, sondern die mit ihnen implizierten allgemeinen ethischen Ziele. Die Aufgabe moderner Koranexegeten sei es also, den historischen Kontext der ursprünglichen Adressaten der Offenbarung zu erforschen, um dann zuerst das allgemeine ethische Prinzip von seinem speziellen Kontext zu trennen, durch die Gott es den Zeitgenossen des Propheten vermittelt hat, und um schließlich dieses ethische Prinzip in eine neue Bestimmung umzuwandeln, die geeignet ist, Gottes Intention unter den heutigen Umständen durchzusetzen.36 Fazlur Rahmans Arbeiten inspirierten in den 1980er Jahren eine Reihe türkischer Theologen, die dann als »Ankaraner Schule« einen akademischen Trend auslösten, der über die Hauptstadt und sogar über die Grenzen der Türkei hinausging.37 Anfang der 1990er Jahre sorgte die Berufung des Ägypters Nasr Hamid Abu Zaid (gest. 2010) zum Professor der Kairoer Universität für einen Skandal, woraufhin er zwangsgeschieden – was einer Apostasie gleichkam – das Land verließ. Der Fall, der

32 Vgl. Norman, York: Disputing the »Iron Circle«: Renan, Afghani, and Kemal on Islam, Science, and Modernity, Journal of World History 22, 4 (2011), 695–696. 33 Wielandt, Rotraud: Main Trends of Islamic Theological Thought from the Late Nineteenth Century to Present Times, 721–722. 34 Siehe Qidwai, Sarah A.: Darwin or Design? Examining Sayyid Ahmad Khan’s Views on Human Evolution, in: The Cambridge Companion to Sayyid Ahmad Khan, Cambridge 2019, 214–232. 35 Vgl. Manṣūr, Roots; Öztürk, Modern Döneme Özgü, 10, 19–22. 36 Vgl. Wieland, Main Trends, 739. 37 Vgl. ibid. 739–40. Gegenwärtige Beispiele für den Wirkungsradius der »Ankaraner Schule« sind Prof. Mustafa Öztürk von der Marmara Universität sowie der an der Frankfurter Goethe-Universität lehrende Prof. Ömer Özsoy.

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internationale Aufmerksamkeit auf sich zog, hatte zur Folge, dass Abū Zaids Leben und Werk noch zu dessen Lebzeiten stark rezipiert wurde. Seine Koranhermeneutik basiert auf einem kommunikationstheoretischen Modell, demzufolge der Koran wie jede andere »Sendung« (risāla) eine kommunikative Beziehung zwischen Sender und Empfänger durch einen Code oder ein sprachliches System darstellt.38 Der Prophet Muhammad ist demnach der erste Interpret einer Offenbarung, die er in nonverbaler Form erhalten haben soll. Der Koran in seinem Wortlaut, so wie er als Text vorhanden ist, enthält demnach zwar die Bedeutung der Botschaft Gottes; er ist aber Ausdruck der Sprache und der Lebensumstände des eloquenten mekkanischen Kaufmanns Muhammad und nicht unmittelbaren göttlichen Ursprungs. Das Vorbild Muhammads für die Muslime bestehe dann darin, es ihm gleichzutun, nämlich die zeitlose, verborgene Bedeutung des Korans zu dekodieren und der eigenen Lebenswirklichkeit anzupassen.39 Abū Zaid verurteilt die Bevorzugung der Interpretation des Propheten oder anderer Exegeten der Vergangenheit. Dies käme einer Gleichsetzung des Absoluten mit dem Relativen und des Beständigen mit dem Vergänglichen gleich und führe daher zu einer Art von Polytheismus, zu einer Erhöhung des Geschaffenen. Es dürfe nicht verheimlicht werden, dass Muhammad auch in seiner Funktion als Übermittler der Botschaft Gottes nur ein Mensch war.40 Zu den renommiertesten Vertretern einer von Gadamer inspirierten Koranhermeneutik zählen aktuell die beiden Iraner Moḥammad Moǧtahid Šabistarī und ʿAbdolkarīm Sorūš. Für Šabistarī müssen Form und Inhalt des Korans zeitlich entstanden sein, weil ohne einen menschlichen Sprecher nichts in einer menschlichen Sprache ausgesagt werden könne. Der Prophet habe Gott als seinen Lehrer und Lenker erlebt, der ihn zum Aussprechen der koranischen Rede ermächtigte. Diese göttliche Ermächtigung ist Šabistarī zufolge das, was im Koran mit Offenbarung (waḥy) gemeint ist. Ihre genaue Art sei nicht bekannt, allerdings müsse es eine nonverbale Kommunikation zwischen Gott und Mensch gewesen sein, weil sie in einer Sphäre stattgefunden habe, in der die Bedingungen menschlicher Sprache nicht gegeben seien. Was Muhammads koranische Rede von der Rede gewöhnlicher Menschen unterscheide, sei der monotheistische Blick auf die Dinge.41 Auf ähnliche Weise versteht Sorūš den Koran als die Interpretation der Offenbarungserfahrung des Propheten. Für ihn stellt der Koran das Ergebnis der mystischen Erfahrung Muhammads dar. Nachdem der Prophet gelernt hätte, dieses Erleben auszuhalten, hätte er die Offenbarungserfahrung sogar selbst herbeiführen können, wenn es die Umstände zuließen. Der Koran hätte seine wie auch die Fragen

38 Kermani, Navid: Offenbarung als Kommunikation. Das Konzept waḥy in Naṣr Ḥāmid Abū Zayds Mafhūm an-Naṣṣ, Peter Lang 1996, 7. 39 Vgl. Işık, Tuba: Die Bedeutung des Gesandten Muhammad für den Islamischen Religionsunterricht. Systematische und historische Reflexionen in religionspädagogischer Absicht, Paderborn 2015, 188–194. 40 Vgl. Kermani, Offenbarung, 8. 41 Vgl. Wielandt, Main Trends, 742.

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seiner Zuhörer beantwortet und sei auf ihre situativen Bedürfnisse in einer für sie verständlichen Form eingegangen. Was die heutigen Muslime angeht, sollte ihre Religiosität am besten die eines kritischen Gelehrten und Mystikers zugleich sein: Einerseits sollen sie im Koran und im Islam das Ewige vom Akzidentiellen trennen; andererseits sollen sie die prophetische Erfahrung erweitern, indem sie sich ihr anschließen, was bedeutet, dass sie selbst die mystische Vereinigung mit Gott suchen.42 Der Österreicher mit palästinensisch-saudischen Wurzeln Mouhanad Khorchide lehrt als Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und wirbt für eine neuartige islamische Theologie der Barmherzigkeit. Das Vorbild dafür sei nicht der Prophet, sondern Gott. Der Koran fordere die Menschen dazu auf, Gottes Barmherzigkeit in der Welt umzusetzen. Daran und nicht am Label »Islam« erkenne man die Muslimin und den Muslim. Die Sunna wird nur insoweit herangezogen, wie sie weitere Argumente für diese These liefert. Die Bedeutung Muhammads wird auf seine Übermittlerrolle beschränkt und Koranstellen wie »Und wir sandten dich nur aus Barmherzigkeit zu den Weltbewohnern« (21:107) versteht Khorchide als Hervorhebung des Barmherzigkeitsaspekts und somit losgelöst von der Person des Verkünders.43 Dass in erster Linie der Prophet die göttliche Barmherzigkeit ausgelebt haben könnte, mag zwar impliziert sein, kommt in den Ausführungen Khorchides aber explizit nicht zur Sprache. »Vorbildcharakter hat er nur in seiner Funktion als Gesandter«44 mit Verweis auf das koranische »schöne Vorbild« in 33:21. Khorchide folgt hierbei Abū Zaids Unterscheidung in Prophet (nabī) und Gesandter (rasūl). Als Prophet habe er irdische Aufgaben wahrgenommen, die an seine unmittelbare Lebenswirklichkeit gebunden waren. Die koranischen Aussagen, die einen solchen historischen Kontext aufweisen, sind demnach nicht universellen Charakters. Anders seien dagegen die Aussagen, die Muhammad, dem Gesandten, offenbart wurden. Sie würden die zeitlose Botschaft der Barmherzigkeit beinhalten.45

Typen der imitatio Muhammadi Die folgenden Typen beschreiben unterschiedliche Formen muslimischen Bezugs auf Muhammad. In allen ist ein traditionelles, kein »koranistisches« Verständnis der Sunna des Propheten vorausgesetzt. Grundlage für die hier vorgenommene Typenbildung sind Studien, historische wie auch empirische, über Tendenzen bzw. Gruppierungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert sowie der Gegenwart. Mancher Typus wie der der mystischen Vereinigung ist sogar älter, findet sich aber auch in neueren Sufi-Texten. Den Typus des ethischen Vorbilds dürfte es dagegen vor dem 20. Jahrhundert nicht gegeben haben. Die Typenbezeichnungen sind analytische 42 Vgl. ibid. 743–744. 43 Vgl. Khorchide, Mouhanad: Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg im Breisgau 2012, 39. 44 Ibid. 132–133. 45 Vgl. ibid. 133–135.

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Begriffe, die etwas beschreiben, in dem Beschriebenen aber nicht völlig aufgehen, da sie in der Realität meist nicht in Reinform vorkommen. Einen Typus nenne ich allgemeine, verbindliche Bezugnahme. Nach der traditionellen Normenlehre gibt es Handlungen des Propheten, deren Befolgung obligatorisch ist (farḍ/wāǧib).46 Sie betreffen die Ausführung der im Koran ausdrücklich erwähnten Gebote. Das tägliche Gebet beispielsweise wird im Koran vorgeschrieben, doch eine Anleitung für dessen Ausführung findet sich darin nicht. Dafür findet sich an mehreren Stellen der Imperativ, dem Propheten zu folgen. Der Ablauf des muslimischen Gebets mit seinen Verbeugungen und Niederwerfungen, den Rezitationen im Sitzen und Stehen, leiten die muslimischen Gläubigen vielmehr von der Praxis Muhammads ab. Dieser Typus der imitatio Muhammadi, der in der Ausführung der religiösen Pflichten zum Tragen kommt, ist der mit dem verbindlichsten Charakter und der, welcher bei den meisten Musliminnen und Muslimen zu identifizieren sein dürfte. Daher stellt er den kleinsten gemeinsamen Nenner dar, während sich die anderen Typen in ihrer Ausrichtung deutlich voneinander abgrenzen lassen. Als ein solcher, anderer Typus erscheint die freiwillige fromme Nachahmung. In der populären Religiosität, wie sie in vielen Gesellschaften der islamischen Welt zu beobachten ist, misst sich der Grad der Frömmigkeit daran, wie sehr die einzelne Muslima oder der einzelne Muslim die Lebensweise des Propheten in den jeweiligen Alltag integriert. Zusätzlich zu den Fällen, in denen das prophetische Beispiel für die Praktizierenden verbindlich ist, bleiben für die Frommen unzählige Möglichkeiten, ihrer Religiosität Geltung zu verleihen. Dies setzt eine gewisse Bildung voraus, die sich am Hadith-Material, vor allem den beiden ṣaḥīḥ-Werken, populären Litaneisammlungen wie der Festung des Muslims (Ḥiṣn al-Muslim) oder klassischen Werken zur Frömmigkeit wie den Gärten der Rechtschaffenen (Riyāḍ aṣ-Ṣāliḥīn) orientiert. Diesem Typus lässt sich beispielsweise das Programm der beiden Gruppierungen Tabliġī Ǧamāʿat und Daʿwat-e Islāmī zuordnen, die beide eine innermuslimische Mission betreiben. Zum Zwecke der Disziplinierung des Alltags nach dem Vorbild des Propheten hatten die Gründer der beiden Bewegungen entsprechende Werke verfasst, deren Studium den Mittelpunkt gemeinschaftlicher Treffen bildet.47 In einem der Haupttexte der Daʿwat-e Islāmī, den Segnungen der Sunna (Faiẓān-e Sunnat), wird anhand von Hadithen beispielsweise beschrieben wie der Prophet aß und trank, sich seinen Bart parfümierte und sich die Achselhaare entfernte. SunnaPraktiken, die dem modernen Alltag angepasst wurden, sind dabei vom Propheten empfohlene Lobpreisungen Gottes (Allāhu akbar, subḥāna llāh), die beim Hinauf- und Hinabsteigen von Treppen sowie beim Benutzen von Fahrzeugen gesprochen werden sollen.48

46 Vgl. Dönmez, İbrahim Kâfi: Farz, in: TDV İslâm Ansiklopedisi 12, Istanbul 1995, 184. 47 Vgl. Gugler, Thomas K.: Sunna, Sunnaisierung und imitatio Muhammadi. Die Islamisierung der Individualsphäre als Programm der Tablīghī Jamāʿat und Daʿwat-e Islāmī, in: Schrode, Paula/Simon, Udo (Hrsg.), Die Sunna leben. Zur Dynamik islamischer Religionspraxis in Deutschland, 227–228. 48 Vgl. Gugler, Sunna, Sunnaisierung, 228.

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Die mit solchen Praktiken einhergehende Islamisierung bzw. Sunnaisierung der Lebensführung ist in erster Linie unpolitisch und orientiert sich vielmehr an einer individuellen Transformation. Der öffentliche Raum wird zwar beansprucht und religiös aufgeladen, was einer politischen Handlung gleichkommt, ohne jedoch klare politische Ziele, wie die Forderung nach einer islamischeren Gesellschaft, explizit zu formulieren. Am Beispiel Ekstase erzeugender Praktiken der Daʿwat-e Islāmī wird erkennbar, dass sich dieser Typus mit dem der mystischen Vereinigung, wie im Folgenden beschrieben, überlappen kann, wenn der oder die Einzelne mit zunehmender Adaption der überlieferten Lebensweise des Propheten eine Identifizierung mit demselben erlebt und damit eine spirituelle Erfahrung macht.49 Ein weiteres Beispiel für diesen Typus ist die Praxis der in der Türkei beheimateten religiösen Laiengemeinschaft der Süleymanlıs. Auch für sie ist die Nachahmung Muhammads im Alltag zentral. Dafür üben sich ihre Gefolgsleute anhand eines streng durchritualisierten Alltags. Ihre Lehren führen sie zurück auf den indischen Zweig der Naqšbandiyya, einer der bedeutendsten Traditionen im Sufismus. Die Süleymanlıs konnten sich in der Republik Türkei behaupten, wenngleich ihnen die von der kemalistischen Elite vorgeschriebenen Modetrends Zugeständnisse im äußeren Erscheinungsbild abgerungen haben. So verzichten die Süleymanlıs bis heute auf traditionelle muslimische Bekleidung, ja sogar auf die bei frommen Muslimen übliche Barttracht.50 Der Prophet Muhammad als Objekt mystischer Vereinigung ist ein weiterer Typus der Prophetennachahmung. In den Texten vieler Sufis, insbesondere solcher, die sich Ibn ʿArabī verbunden fühlten, nimmt die imitatio Muhammadi eine ganz andere Qualität an. Über eine bloß äußere Nachahmung hinaus lehren sie die völlige Identifikation mit der Heiligkeit Muhammads. Die Orientierung am »schönen Vorbild« bedeutet in diesem Fall, Muhammads Zustände (aḥwāl) und Offenbarungen (taǧalliyāt) nachzuahmen.51 Ein Offenbarungserlebnis soll dabei mithilfe extremer Askese und geistiger Versenkung gewissermaßen erzwungen werden. Für solche, die diesen mystischen Typus der Propheten-Nachahmung anerkennen, stellt er die höchste Form dar.52 Die speziell mystische Komponente in der Muhammad-Nachahmung mancher Sufis zeigt sich in dem literarisch vielfach ausgedrückten Wunsch, eins mit dem Wesen des Propheten zu werden. Die Kontinuität dieser Form der Identifikation mit Muhammad reicht bis ins 19. und 20. Jahrhundert. Der osmanische Sufi-Meister Muḥammad Nūr al-ʿArabī (1813–88) verfasste einen kleinen autobiographischen Erlebnisbericht, in dem Erscheinungen des Propheten die bedeutendsten Etappen auf dem Weg zur persönlichen, geistigen Vervollkommnung darstellen.

49 Vgl. ibid., 229. 50 Vgl. Jonker, Eine Wellenlänge zu Gott, passim. Auf die Zugeständnisse im äußeren Erscheinungsbild der Süleymanlıs geht Jonker nicht ein. 51 Chodkiewicz, Das am Propheten orientierte Modell, 7. 52 Vgl Chodkiewicz, Das am Propheten orientierte Modell, 2.

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Dieser Text mit dem Titel Die Quelle des Lichts in der Schau des Gesandten (Manbaʿ an-Nūr fī Ruʾyat ar-Rasūl) weist dabei Parallelen zur Prophetenvita auf. Z. B. berichtet der Text von einem Reinigungsprozess, der sich in einer geistigen Schau Nūr al-ʿArabīs abgespielt haben soll. Demnach fand sich der Sufi an einem Waschbrunnen der großen Moschee in Medina wieder, wo er mit der tatkräftigen Hilfe des für seine Rauheit sprichwörtlichen zweiten Kalifen ʿUmar den Tabak, den er bis zu diesem Zeitpunkt konsumierte, aus seinem Körper erbricht. Eine Analogie hierzu findet sich in der Prophetenvita in der Überlieferung, wonach zwei Engel Muhammad als Kind und damit lange vor seiner Berufung sein Herz wuschen. Diese Szene wird ebenfalls sehr drastisch beschrieben. Die beiden Engel öffnen den Leib des Kindes und entnehmen dessen Herz, um es mit Schnee zu waschen. Die Analogie liegt vorrangig in der Bedeutung der Reinigung als Voraussetzung für die göttliche Berufung.53 Ein an der Prophetenvita orientiertes Erzählmuster ist typisch für Sufi-Hagiographien.54 Häufig übernommene und auf die Lebensgeschichte des jeweiligen Heiligen übertragene Eigenschaften sind die wundersame Geburt, die die Nacht so sehr erstrahlt, dass ferne Orte sichtbar werden, der Waisenstand (yatm), die Nicht-Gelehrsamkeit (ummīya) und die Verlässlichkeit (amāna).55 Des Weiteren finden sich Szenen der Verfolgung und des Exils wieder, die an die Hidschra erinnern, sowie eine Form der Himmelfahrt oder größtmöglichen Gottesnähe, in der die geistige Lebensbeschreibung ihren Höhepunkt erreicht.56 Von derartigen hagiographischen Erzählungen sind Erlebnisberichte wie die von Nūr al-ʿArabī allerdings in einem wesentlichen Aspekt zu unterscheiden. Erzähler der Hagiographien sind nicht die Heiligen selbst, sondern spätere Bewunderer, meist Anhänger der Sufi-Gemeinschaft, die nach dem jeweiligen Heiligen benannt wurde. Geistige Erlebnisberichte sind dagegen autobiographisch. Es scheint, als hätte gerade in der Tradition Ibn ʿArabīs diese Erzählperspektive Befürworter gefunden, da in ihr die Identifikation mit Muhammad radikale Züge annimmt. Die eigene Lebensgeschichte wird nicht einfach nach Etappen der Prophetenvita nachgezeichnet. Vielmehr wird Muhammad im Erlebnisbericht eine aktive Rolle zugewiesen. Er erscheint als Erzieher in Person. Die Himmelfahrt als Höhepunkt wird ersetzt durch eine Verschmelzung mit Muhammad, worin die Identifikation ihren Abschluss findet. Eine kontemplative Übung, die von Sufis dieses speziellen muhammad‘schen Wegs (ṭarīqa muḥammadīya) praktiziert wird, ist das wiederholte Aufsagen spezieller Segensformeln auf den Propheten. Diese sind reichlich versehen mit Andeutungen auf das wahre Wesen (ḥaqīqa) des Gesandten, sodass der Sufi seine Gedanken danach ausrichten kann.

53 Vgl. Yıldırım: Die Melāmiyye von Rumelien. Sozial- und Ideengeschichte einer Sufi-Gemeinschaft, Baden-Baden 2019, 71–80. 54 Vgl. Chodkiewicz: Das am Propheten, 4–5. 55 Vgl. ibid. 56 Vgl. ibid., 5; 10–11.

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O Allāh, segne in der Gesamtheit der Manifestationen unseren Herrn Muhammad, der da ist deren Hylé, die er bündelt, reinigt, im Einzelnen ausführt und die er an Größe überragt. Segne seine Angehörigen und Gefährten und schenke (ihm) Heil.57

Das Muhammadbild, das sich in solchen Übungen offenbart, hat weniger mit dem historischen Muhammad zu tun als mit einer alles umfassenden Universalseele (annafs al-kullī al-ǧāmiʿ), die nicht an Ort und Zeit gebunden ist. Die muhammad‘sche Universalseele wird als Vermittler zwischen der rein göttlichen und der rein geschöpflichen Sphäre und damit zwischen dem Einen und dem Vielen gedacht. Sie ist mit einer Seite Gott und mit der anderen Seite der Schöpfung zugewandt. Gottes Schöpfungsprozess wird dabei als stufenweise Manifestation seines eigenen Wesens gedacht. Als die erste und deutlichste Manifestation ist eben jene Universalseele zu verstehen. Sie enthält bereits in sich alles, was nach ihr kommt, alles NichtGöttliche, in potentia. Da die reine Göttlichkeit, das Wesen Gottes, absolut unbestimmbar ist, ist es jene erste Manifestation, das wahre muhammad‘sche Wesen (alḥaqīqa al-muḥammadīya) bzw. das Licht Muhammads (nūr Muḥammadī), in der Gott sichtbar wird. Daraus folgt für die Sufis dieser Weltanschauung, dass die mystische Vereinigung mit Gott ausschließlich in der Vereinigung mit Muhammad möglich ist. Ein weiterer Typus betrachtet den Propheten Muhammad als politisches Leitbild, als Vorbild für einen bestimmten politischen Aktivismus. Eine der Erscheinungsformen dieses Typus der Prophetennachahmung findet sich in der Lehre Muḥammad Ibn ʿAbd al-Wahhābs (gest. 1792), einer maßgeblichen Autorität des saudischen Staatsislams (Wahhabismus, salafīya).58 Anfang des 20. Jahrhunderts erlebten islamisch-religiöse Ideen des politischen Aktivismus ein Revival inmitten der sich neu etablierten, muslimischen Öffentlichkeit außerhalb der arabischen Halbinsel, etwa durch die Publikationen des einflussreichen ägyptischen Reformtheologen und Intellektuellen Rašīd Riḍā (gest. 1935). Als Folge der Wiederbelebung und Verbreitung religiös-politischen Aktivismus stießen im Zuge des 20. Jahrhunderts neben die Lehre Ibn ʿAbd al-Wahhābs die Ideen moderner Islamisten wie der beiden Ägyptern Ḥasan al-Bannā (gest. 1949) und Sayyid Quṭb (gest. 1966) auf große Zustimmung unter muslimischen Intellektuellen.. Für Ibn ʿAbd al-Wahhāb ist die Menschheitsgeschichte voller Beispiele für den Konflikt zwischen dem reinen Monotheismus (tauḥīd) und der Beigesellung Gottes (širk). Letztere ist Ibn ʿAbd al-Wahhāb zufolge eine Konsequenz »fehlgeleiteter Frömmigkeit«59 bzw. Heldenverehrung. Dass selbst den Propheten der Auftrag der

57 Allāhumma ṣalli ʿalā sayyidinā Muḥammadin fī ǧamīʿi maẓāhiri llaḏī huwa hayūlāhā wa-awǧazuhā wa-anqāhā wa-aṭnabuhā wa-arqāhā wa-ʿalā ālihī wa-ṣaḥbihī wa-sallim. Ms. İstanbul Büyükşehir Belediyesi Atatürk Kitaplığı, Osman Ergin Yazmaları 1004, 21a-b. 58 Zur Problematik dieser beiden Begriffe siehe: Griffel, Frank: What Do We Mean By »Salafī«? Connecting Muḥammad ʿAbduh with Egypt’s Nūr Party in Islam’s Contemporary Intellectual History, in: Die Welt des Islams 55, 2 (2015), 186–220; Knysh, Alexander: A Clear and Present Danger: »Wahhabism« as a Rhetorical Foil, in: Die Welt des Islams 44, 1 (2004), 3–26. 59 Riexinger, Martin: »Der Islam begann als Fremder, und als Fremder wird er wiederkehren«: Muḥammad Ibn ʿAbd al-Wahhābs Prophetenbiographie Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda, in: Die Welt des Islams 55 (2015), passim.

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Verkündung des tauḥīd nicht leichtfiel, sie selbst den Gefahren des širk ausgesetzt waren, ist eine Hauptaussage in Ibn ʿAbd al-Wahhābs Prophetenvita.60 Typisch für die sīra-Literatur ist auch diese Muhammad-Vita von einer größeren Erzählung eingerahmt. Beginnend mit der Erschaffung Adams erzählt sie eine universelle »Unheilsgeschichte«61, die auch nicht mit dem Propheten Muhammad und dessen Sieg über die Mekkaner endet. Demnach dämmt das Erscheinen von Propheten das Unheil des širk nur jedes Mal ein, das nach ihrem Hinscheiden jedoch wieder zunimmt, bis ein weiterer Prophet auftritt. Da Muhammad der letzte Prophet ist, übernehmen diejenigen, die der Sunna folgen, die Verantwortung der Bekämpfung des Ungehorsams gegenüber Gott in der post-muhammad‘schen Ära bis zum Jüngsten Tag. Hieraus folgen zwei Schwerpunkte, die für die wahhabitische Mission programmatisch wurden: 1. Die Formulierung einer tauḥīd-Lehre, die jede Form der Verehrung, die nicht Gott gilt, verbietet, 2. Der Kampf gegen Apostaten, d. h. gegen all jene, die gegen das tauḥīd-Verständnis in 1. verstoßen, auch wenn sie zur Gemeinschaft der Muslime zählen. Es entspricht ganz dem zyklischen Geschichtsbild Ibn ʿAbd al-Wahhābs, dass sich der Kampf der Propheten gegen širk auch in seiner eigenen Zeit wiederholt. Die spezielle Vorbildfunktion des Propheten Muhammad besteht somit darin, sich an seinem Handeln als politisch-religiöser Führer zu orientieren.62 Als Paradebeispiel für diesen politischen Aktivismus, der sich am muhammad‘schen Kampf gegen den širk orientiert, dient Ibn ʿAbd alWahhāb der vom Kalifen Abū Bakr und dessen Kommandanten Ḫālid b. al-Walīd geführte Apostasie-Krieg (ridda). Dabei finden u. a. die überlieferte, aber unter Muslimen umstrittene Menschenverbrennung auf Befehl von Ḫālid b. al-Walīd sein Lob.63 Ziel war es, auf diese Weise den bewaffneten Kampf gegen zeitgenössische theologische Abweichler oder in seinen Augen nicht genügend islamisierte Bevölkerungsgruppen zu legitimieren. Hierauf gründete der Pakt zwischen der Āl aš-Šaiḫ, der Familie Ibn ʿAbd al-Wahhābs, und der Āl as-Saud, also dem Stamm, aus dem später die saudischen Könige hervorgehen sollten. Das Narrativ der wiederkehrenden Beigesellung, die als Frömmigkeit getarnt die Gläubigen täuscht und die nur durch Befolgen des muhammad’schen Vorbilds mit Gewalt abgewehrt werden kann, wurde in der frühen Wahhābī-Bewegung reproduziert und verfestigt. So verfasste Ḥusain Ibn Ġannām (gest. 1811), ein Anhänger Ibn ʿAbd al-Wahhābs, das an dessen sīra orientierte Rauḍat al-Afkār.64 Stellvertretend für den Typus des Propheten als ethisches Vorbild steht Tariq Ramadans Muhammad-Bild, das seiner modernen Prophetenvita Auf den Spuren des Propheten zu Grunde liegt.65 Der Prophet erscheint bei ihm als der perfekte,

60 61 62 63 64 65

Ibn ʿAbd al-Wahhāb, Muḥammad: Muḫtaṣar Sīrat ar-Rasūl, Riad 1418/1997. Riexinger: Der Islam begann als Fremder, 45. Vgl. ibid. 45–47. Vgl. Ibn ʿAbd al-Wahhāb, Sīra, 264–265; Riexinger: Der Islam 25. Siehe: Ibn Ġannām, Ḥusain: Tārīḫ Ibn Ġannām al-musammā Raudat al-Afkār, Riad 1431/2010. Mir liegt die englische Ausgabe vor: Ramadan, Tariq: In the Footsteps of the Prophet. Lessons from the Life of Muhammad, Oxford u. a. 2007.

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ausgeglichene, weitsichtige und gerechte Mensch, der bestens in das 21. Jahrhundert passt: Muhammad ist nicht nur ein freundlicher Mann und weiser Anführer, er ist zudem gerecht zu seinen Frauen, mitfühlend zu seinen Töchtern – im Allgemeinen gut zu Frauen. Er berät sich vor Entscheidungen und erwägt Krieg nur, wenn es nötig ist. Er ist tolerant gegenüber Nicht-Muslimen und gerecht zu seinen Feinden. Sein Glaube ist unerschütterlich, doch ist er genauso ein kritischer Denker. Er vollbringt es, Gottes Botschaft in eine praktikable Ethik zu übersetzen. Ramadans Muhammad verkörpert Bescheidenheit, gesunden Menschenverstand, Belastbarkeit und Liebe. Ramadan wirbt für einen Islam der universellen Prinzipien. Er setzt sich ein für die Vereinbarkeit einer konservativen Auslegung des Islams mit Werten der Demokratie, zivilbürgerlichem Engagement, Gewaltlosigkeit und mit einer von der Religionszugehörigkeit unabhängigen gesellschaftlichen Solidarität.66 Ein Unterkapitel widmet Ramadan dem Bericht von dem Besuch einer Gesandtschaft christlicher Würdenträger aus der südarabischen Oasenstadt Nadschran in Medina. Für Ramadan zeigt sich in dieser Geschichte das für den interreligiösen Dialog beispielhafte Verhalten Muhammads. An der Wiedergabe dieser Szene aus der Prophetenvita wird zugleich Ramadans selektiver Umgang mit den Quellen deutlich: Die Christen debattierten mit dem Propheten und verteidigten dabei ihren Glauben an die Trinität. Als Zeichen des gegenseitigen Respekts baten sie den Propheten im Anschluss in seiner Moschee beten zu dürfen – gen Osten – was der Prophet gewährte. Ramadan dient der Bericht als Beleg dafür, dass Christen und Muslime eine privilegierte Freundschaft verbinde, welche von Aufrichtigkeit und Demut gekennzeichnet sei.67 Des Weiteren führt er in diesem Zusammenhang die Koranstelle 5:82 an, in der es heißt, dass es die Christen sind, die den Gläubigen in Liebe am nächsten stehen, weil unter ihnen gottesfürchtige Mönche sind. Im Anschluss an dieses Zitat weitet Ramadan die in 5:82 beschriebene Nähe auf »alle anderen spirituellen oder religiösen Traditionen« aus, ungeachtet seiner eigenen vorherigen Aussage einer privilegierten Freundschaft zwischen Christen und Muslimen und ungeachtet der Erklärung einiger Juden zu Feinden der Gläubigen, wie es außerdem in 5:82 heißt, was Ramadan nicht zitiert. Für ihn dient die Nachricht vom Besuch der Christen von Nadschran als Beispiel für den gelungenen interreligiösen Dialog des Propheten.

66 Siehe Ramadan, In the Footsteps. Vgl. Gade, Religious biography of the Prophet Muhammad, in: Brockopp, Jonathan Eugene (Hrsg.): The Cambridge Companion to Muḥammad, 265; Laurence, Jonathan: The Prophet of Moderation. Tariq Ramadan’s Quest to Reclaim Islam, in: Foreign Affairs 86, 3 (2007), 128–134; vgl. Giry, Stéphanie: The Faces of Tariq Ramadan, The New York Times April 1st 2007 https://www.nytimes.com/2007/04/01/books/review/ Giry.t.html (aufgerufen am 9.9.2020). 67 Vgl. Ramadan: In the Footsteps, 115–117.

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Schluss

Um gegenwärtige theologische Trends unter Musliminnen und Muslimen zu erklären, reicht es nicht aus, die Bedeutungstiefe des Korans hermeneutisch anzugehen oder Glaubenslehren bestimmter Schulen und Schullehrer aus Büchern von vor tausend Jahren zu zitieren. Mit jener Methode, die den Blick ausschließlich auf die Entstehungszeit sowie die sog. Blütezeit des Islams richtet, wird das MittelalterParadigma reproduziert, demzufolge zum einen die Kulturen der islamischen Welt der Weiterentwicklung nicht fähig sind, zum anderen sich muslimische Gläubige ausschließlich mit einer scheinbar eindeutigen Interpretation des Korans bzw. mit einer Gruppenzugehörigkeit völlig identifizieren. Es ist deutlich gemacht worden, dass im 19. Jahrhundert Erneuerungsbestrebungen, die von Ägypten und Indien ausgingen, eine Sunna-Kritik einleiteten, auf die die gegenwärtige Koranismus-Bewegung positiv Bezug nimmt. Trotzdem nimmt weiterhin Muhammad als Vorbild einen breiten Raum ein in der religiösen Literatur der letzten beiden Jahrhunderte. Wie vielfältig sich die Rede vom muhammad‘schen Vorbild äußert und wie unterschiedlich sie sich in der Glaubenspraxis zeigt, wurde mithilfe einer Typologie der imitatio Muhammadi zu skizzieren versucht.

Literatur zum Weiterlesen Chodkiewicz, Michel: Seal of the Saints. Prophethood and Sainthood in the Doctrine of Ibn ʿArabī, Cambridge 1993. Ibn Isḥāq, Muḥammad/Rotter, Gernot (Übers.): Das Leben des Propheten (Bibliothek arabischer Klassiker), Lenningen 2004. Ar-Rāzī, Abū Ḥatim, Aḥmad ibn Ḥamdān/Khalidi, Tarif (Übers.): The Proofs of Prophecy (Islamic Translation Series), Provo, UT 2011. Schöller, Marco: Mohammed: Leben und Wirkung, Frankfurt am Main 2008.

Innerislamische und aus islamischen Kontexten hervorgegangene religiöse Minderheiten Robert Langer

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Zur Problematik innerislamischer Diversität

Religiöse Bedeutungs- und Praxissysteme wie »der Islam« bilden vermeintlich eine kohärente Einheit. Aber unterhalb der größeren islamischen diskursiven, dogmatischen und religionspraktischen »Felder« Sunnitentum, Schia und Sufitum (›mystischer Islam‹) existieren zahlreiche regionale Varianten islamischer Religiosität innerhalb der »Islamischen Welt« und der durch Migration entstandenen Diasporakulturen in anderen Teilen der Welt. Dazu kommen die historischen und rezenten Wechselwirkungen mit außerislamischen Traditionen und Strömungen. Eine historisch und regional kontextualisierte religionswissenschaftliche Analyse der damit verbundenen Religiositäten muss daher konsequenterweise transreligiös und transkonfessionell vorgehen, um die ganze Breite des vorhandenen religiösen Repertoires miteinzubeziehen.1 Dieser Blick auf die Komplexität religiöser Dynamiken in Geschichte und Gegenwart macht es schwer, über einzelne historische Phasen dezidierter Abgrenzung hinaus (meist in Situationen von Konflikt und Gewalt) klare Grenzen zwischen einzelnen religiösen Traditionen zu ziehen, ohne sich dem Vorwurf der Essenzialisierung auszusetzen. Darum erscheint das dynamische Konzept des kulturell-sozialen »Feldes« (Bourdieu)2 nützlich, das mit Hilfe der Untersuchung empirisch fassbarer Praktiken und Kulturmerkmale anschaulich gemacht werden kann.3 In der Moderne haben sich, verstärkt durch die neuen Kommunikationsstrukturen und -medien, diskursiv konstruierte und z. T. hegemonial wirksame Formen von Orthodoxie4 ausgebildet, die sich entlang der islamischen Hauptkonfessionen (Sunna, Iṯnā-ʿAšarīya / Zwölfer-Schia, Ismāʿīlīya / ›Siebener-Schia‹, Zaidīya / ›Fünfer-Schia‹, Ibāḍīya) ausdifferenzieren und heutzutage die islamische Wirklichkeit in weiten Teilen der Welt dominieren. Abgesehen davon, dass sich tendenziell diese

1 Sing, Manfred: Towards a Multi-Religious Topology of Islam: The Global Circulation of a Mutable Mobile, in: Entangled Religions 9 2019: 211–272, hier: 227–228, http://doi.org/ 10.13154/er.v9.2019. 2 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp taschenbuch wissenschaft (stw). Frankfurt am Main 1978. 3 Schrode, Paula (2019): Grenzen, Schwellen, Transfers – Konstituierung islamischer Felder im Kontext, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft: Fachzeitschrift der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft (DVRW) 27 (1): 3–26, hier: 19–20. 4 Asad, Talal: The Idea of an Anthropology of Islam. Georgetown University, Center for Contemporary Arab Studies: Occasional papers Series. Washington, D.C. 1986.

Innerislamische religiöse Minderheiten

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Konfessionen gegenseitig als »Häretiker« betrachten, wobei in der Außensicht das »Sunnitentum« durch sein demografisches Übergewicht immer wieder als »Standard« herangezogen wurde, haben sie in Abgrenzung jeweils ihre eigenen »Orthodoxien« ausgebildet, was den relationalen und situativen Wert des Begriffspaares Orthodoxie–Heterodoxie illustriert, wenn man ihn entsprechend als Produkt historischer Prozesse, Dynamiken und Situierungen ansieht.5 Analog zu der Ausbildung der oben genannten Orthodoxien der demografisch größeren islamischen Religionstraditionen kam es in der Moderne bei den in diesem Beitrag angesprochenen, in Geschichte und Gegenwart an den Rand gedrängten religiösen Traditionen, die alle einen ex- oder impliziten Islam-Bezug aufweisen, ebenfalls zur Ausbildung von Orthodoxien;6 oder zumindest – durch die moderne Öffentlichmachung religiöser Pluralität in islamischen Kontexten – zur Ausbildung normativer und autoritativer Diskurse bezüglich ihrer eigenen religiösen (und soziokulturellen) Gruppengrenzen.7 Damit verbunden sind die gruppeninternen und -externen z. T. heftig geführten Debatten, ob die jeweilige Tradition »innerhalb« oder »außerhalb des Islams« anzusiedeln sei. Der »Grad der Etablierung eines [solchen] Diskurses der normativen Selbstvergewisserung« könnte dazu dienen, »eine Grenze zwischen [eigenständiger] Religion und religiöser Tradition [innerhalb von ›Islam‹]« zu ziehen.8

5 Siehe: Langer, Robert/Simon, Udo: The Dynamics of Orthodoxy and Heterodoxy. Dealing with Divergence in Muslim Discourses and Islamic Studies, in: Die Welt des Islams 48 (2008), 273–288. Vgl. auch: Klemm, Verena: Orthodoxie versus Heterodoxie?: Europäisch-christliche Konzepte und Begrifflichkeiten in den Schia-Studien, in: Schnepel, Burkhard, Brands/Gunnar/Schönig, Hanne (Hrsg.): Orient – Orientalistik – Orientalismus: Geschichte und Aktualität einer Debatte, Bielefeld 2011, 71–92, hier: 83–84 (zu »Nonkonformismus« als Alternativbegriff zu »Heterodoxie«). 6 Die weitgehend kurdischsprachigen Jesiden (Yezidi/Êz[i]dî), deren traditionelle Siedlungsgebiete im heutigen Irak, Syrien, der Türkei sowie Armenien und Georgien zu verorten sind, sind heutzutage nach innerer und äußerer Klassifikation so weit vom ›Islam‹ getrennt, dass sie in einem anderen Kapitel des vorliegenden Bandes behandelt werden. Siehe: Langer, Robert: Yezidism between Scholarly Literature and Actual Practice: From »Heterodox« Islam and »Syncretism« to the Formation of a Transnational Yezidi »Orthodoxy«, in: British Journal of Middle Eastern Studies 37 (3 = Themenbd.: »Heterodox Movements in the Contemporary Islamic World: Alevis, Yezidis and Ahmadis«. Hrsg.: Shankland, David)) 2010, 393–403; siehe jetzt auch umfassend: Omarkhali, Khanna: The Yezidi Religious Textual Tradition: From Oral to Written. Categories, Transmission, Scripturalisation and Canonisation of the Yezidi Oral Religious Texts. With samples of oral and written religious texts and with audio and video samples on CD-ROM (= Habilitationsschrift, Georg-August-Universität Göttingen, 2017). Studies in Oriental Religions, 72. Wiesbaden 2017. Die Islam-Bezüge in der jesidischen Tradition sind zahlreich in Terminologie, bei verehrten religiösen Figuren, aber auch in den emischen Narrativen der religiösen Geschichte; vgl. zu letzterem Punkt: Spät, Eszter: »Your Son Will Be the Scourge of Islam«: Changing Perceptions of Yazīd ibn Muʿāwiya in Yezidi Oral Tradition, in: Numen 65 (2018), 562–588, brill.com/nu. 7 Zu dieser Konzeptualisierung siehe: Dreßler, Markus: Religion und religiöse Tradition: Unterscheidungsdiskurse zu den Grenzen des Islams, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft: Fachzeitschrift der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft (DVRW) 27 (2019), 48–77, hier: 67. 8 So vorgeschlagen von Dreßler: Religion und religiöse Tradition 67.

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II Theologie, Philosophie, Recht und Kultur

Diese Konzeption einer Klassifikation in inner- und außerislamisch hilft jedoch nicht dabei, die Problemlage religiöser Pluralität in »islamischen« Kontexten, der Ausbildung von konfessionellen Minderheiten oder neuen religiösen Traditionen, in ihrer ganzen historischen Tiefe zu fassen. Sollen wir bei innerislamischen Dynamiken, die durch äußere oder innere Verfahren von Abgrenzung und Alterisierung (Othering), von immer wieder auftretender Verfolgung, wiederholter Assimilation und moderner Emanzipation bis hin zu distinkten ethnoreligiösen Gruppen, wie den Yeziden,9 geführt haben, von »Islam-bezogen«, »Islam-verwandt« oder einfach von »jenseits des Mainstream-Islams«10 sprechen? Taugen, um diese im, neben und über »den Islam« hinaus befindlichen, offensichtlich vom Mainstream abweichenden Traditionen zu klassifizieren, Begriffe wie intra-, para-, peri-, trans- oder gar pseudo-islamisch? Wird man der auch andernorts und zu anderen Zeiten vorhandenen, wenn auch nicht immer in klar fassbaren Gruppen ausgebildeten innerislamischen Diversität gerecht, wenn man »alternative« Islamformen einerseits als nicht-Scharia-bezogene Richtungen jenseits von »orthodoxer« Sunna und Schia und als jenseits von diesen Großtraditionen angegliederten, konformistischen Sufiströmungen anspricht oder andererseits den Schwerpunkt auf tatsächliche oder vermeintliche vorislamische »Survivals« legt? Tatsache ist, dass auf den Territorien der heutigen Nationalstaaten Bulgarien, Türkei, Syrien, Libanon, Israel, Irak und Iran einige Gruppen existieren, die in religiöser Lehre und ritueller Praxis vom »orthodoxen« Islam sunnitischer oder (zwölfer-)schiitischer Prägung abweichen, sich aber historisch und in Teilen auch noch in der Gegenwart durchaus als »islamisch« definiert haben. Manche davon sind sehr klein, wie die Schabak mit nur einigen tausend Angehörigen, manche umfassen vermutlich über zehn Prozent der Bevölkerung der jeweiligen Nationalstaaten wie die Aleviten in der Türkei oder die Nusairi-Alawiten in Syrien. Diese Gruppen wurden von der islamwissenschaftlichen Forschung, die hierbei der hegemonialen Perspektive des städtischen und skripturalen Islam folgte, entweder als heterodoxislamische, nur oberflächlich islamisierte »Synkretismen« und vorislamische »Survivals« identifiziert, als Produkt sozioökonomischer, oft millenaristisch mobilisierter Aufstandsbewegungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit charakterisiert

9 Zur belegbaren Ereignisgeschichte der Yeziden siehe: Guest, John S.: Survival Among the Kurds: A History of the Yezidis. Rev. ed. (of: The Yezidis: A Study in Survival. New York 1987). London-New York 1993. 10 Siehe: Omarkhali, Khanna (Hrsg.): Religious Minorities in Kurdistan: Beyond the Mainstream. (Studies in Oriental Religions, 68) Wiesbaden 2014. Das neuerliche Interesse an »Minderheiten« (religiös und ethnisch) im Nahen und Mittleren Osten aufgrund der Entwicklungen der jüngsten Zeit zeigt sich auch am Erscheinen einiger Sammelwerke in den letzten Jahren. Relativ umfassend, aber sowohl inhaltlich als auch konzeptuell von ungleichem Wert ist: Rowe, Paul S. (Hrsg): Routledge Handbook of Minorities in the Middle East. Milton 2018. Der Herausgeber Paul S. Rowe unterscheidet so in der »Introduction« (»Reclaiming ›Minorities‹ in the Middle East«, 1–16, DOI https://doi.org/10.4324/9781315626031, hier 7) zwischen »Pre-Muslim« und »Post-Muslim Minorities«, was z. T. zutreffend (christliche Gruppen, Mandäer, Zarathustrier), z. T. aber umstritten ist (Jesiden). Behandelt werden, als für das vorliegende Kapitel relevante Gruppen, Jesiden, Bahai, Alawiten, Drusen und Aleviten.

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oder mit dem Konzept des »Volksislam« als regionale oder periphere Abweichungen klassifiziert – oftmals auch als ›Abspaltungen‹ von einem vermeintlich unveränderlich vorhandenen Mainstream-Islam sunnitischer oder schiitischer Prägung. Dies betrifft von den heute noch existenten Gemeinschaften die albanisch- und türkischsprachigen Bektaschi-Gruppen der Balkan-Halbinsel und Anatoliens, die türkisch- und kurdisch- bzw. zazakisprachigen Aleviten in der Türkei, die arabischsprachigen Nusairi-Alawiten in Syrien und Libanon, die ebenfalls arabischsprachigen Drusen im Libanon, in Syrien und in Israel, die kurdischsprachigen Schabak im Irak und die westiranisch/kurdischen Yār(e)sān (Ahl-e Ḥ aqq) in Iran (im Irak als Kākāʾī bekannt), die auch aseritürkisch- sowie persischsprachige Bevölkerungsgruppen umfassen. Strömungen der frühen Moderne dagegen sind die erst im 19. Jahrhundert entstandenen religiösen Traditionen der Bahai und die der Aḥmadiyya. Die Geschichte sowohl der Bahai als auch der Aḥmadiyya ist durch ihre historisch rezente Entstehung gut nachverfolgbar und erlaubt im Vergleich zu den wesentlich älteren, oben genannten Traditionen, Mechanismen der Entwicklung ›alternativer Religiosität‹ sowohl aus einem (iranisch-)zwölferschiitischen (Bahai) als auch aus einem (südasiatisch-)sunnitischen Kontext (Aḥmadiyya) zu beleuchten. Aus der Sicht eines historisch meist mit den städtischen Machtzentren verbundenen Scharia-zentrierten Islams (sunnitischer wie auch schiitischer Prägung), dessen Institutionen sich auf sunnitischer Seite z. B. im türkischen Staatsislam des »Amtes für religiöse Angelegenheiten« (Diyanet İşleri Başkanlığı) fortsetzen bzw. auf zwölferschiitischer Seite in der Staatsorganisation der »Islamischen Republik Iran« ihren Höhepunkt erfahren haben, handelt es sich um Sondergruppen (›Sekten‹, arab. firqa, Pl. firaq), Häretiker und Ketzer (»Abgefallene« und »Abweichler«, arab. mulḥid) oder Apostaten (»Abtrünnige« und »Zurückweisende«, arab. rāfiḍī und murtadd). In der Moderne, spätestens nach der Mitte des 20. Jahrhunderts, haben sich einige dieser Gruppen zumindest in Teilen dezidiert vom »Islam« distanziert, zunächst oftmals unter Zuwendung besonders der »Laien«-Anhänger zu säkularen Ideologien, wie Nationalismus, Sozialismus oder Kommunismus. Das aus dem Babismus entstandene Bahaitum hat sich sogar zu einer universalen ›Weltreligion‹ entwickelt, die einige islamische Elemente inkorporiert, aber gleichberechtigt neben diese auch Elemente anderer Religionen stellt. Hier könnte man von ›peri-‹ oder ›trans-islamisch‹, also von einer Entwicklung »um den Islam herum« oder »über ihn hinausgehend« sprechen. Einen anderen Fall stellt das Yezidentum dar, das ebenfalls zahlreiche »islamische« Elemente (z. B. in Terminologie, Heiligenfiguren und Praktiken) aufweist, sich aber im Laufe seiner Geschichte wohl nur punktuell oder situativ als »islamisch« verstanden hat, aufgrund der genannten Elemente aber in jedem Fall von außen als »islamisch« (bzw. als vom Islam abgefallen) angesehen wurde (»para-/neben-islamisch«; »pseudo-islamisch«).11

11 Zum Jesidentum siehe auch: Allison, Christine: Yazidis I. General, in: Yarshater, Ehsan (Hrsg.): Encyclopædia Iranica Online, New York, N. Y. 2004: http://www.iranicaonline.org/ articles/yazidis-i-general-1; Kreyenbroek, Philip: Yezidism – Its Background, Observances and Textual Tradition. Texts and Studies in Religion, 62. Lewiston, N. Y. – Lampeter, UK 1995; Spät, Eszter: The Yezidis. London 2005.

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Charakterisiert wurden solche Gruppen entsprechend der Inkorporation von »Islamischem« neben »Nicht-Islamischem« als »synkretistisch« (»vermischend«). Eine weitere seit Anfang des 20. Jahrhunderts etablierte Qualifikation für einige dieser Gruppen war – als Gegenbegriff zum »orthodoxen Islam« – »heterodox islamisch«; manchmal findet man auch den Begriff »latitudinarisch« (»gemäßigt«). Letzteres entspricht von der Zielrichtung der heutigen Haltung vieler Angehöriger z. B. des Alevitentums: nämlich ihre Islam-Interpretation als der ursprünglichen Form des Islams näherstehend anzunehmen, als dies bei einem Scharia-orientierten Islam der Fall sei. Einen solchen, legalistischen Islam sowie alle puritanischen, die Orthopraxie und »fromme Lebensführung« erzwingenden Islamformen (Wahhābīya, Salafīya) sehen sie konsequenterweise als die eigentliche Häresie an – die eigene Religionsform ist dann ein »Alternativ-Islam« und ein »dritter Weg« neben Schariazentrierter Sunna und Schia. Ähnliche Versuche, ihre Religionsphilosophie als »aufgeklärte«, wenn auch stark mystische Form des Islams darzustellen, finden sich bei Nusairi-Alawiten und Drusen (sowie der Ismailīya). In jedem Fall beschreibt das oben Gesagte im Grundsatz die Problematik, dass »der Islam« (dessen Definition sowohl in den Diskursen der Gruppen wie auch in der islamwissenschaftlichen Literatur oftmals diffus bleibt) immer wieder als Gegenbild herangezogen wird. Durch die Landflucht in den Siedlungsländern sowie die Migration von beträchtlichen Bevölkerungsteilen in die »westliche Welt« nach dem Zweiten Weltkrieg wurden »heterodoxe« Traditionslinien zunehmend sichtbar. Sie waren bisher als »esoterische Geheimreligionen«, die zum Selbstschutz oftmals das Prinzip der Taqīya (»Verstellung«) praktizierten, weitgehend der Wahrnehmung von Wissenschaft und Öffentlichkeit verschlossen gewesen. Ihre Emanzipationsbewegungen, die neben der Ausbildung einer modernen eigenen Identität insbesondere ihre ökonomische, politische und soziale Marginalisierung zu überwinden suchten, führten in den neuen, urbanen und pluralen Kontexten sowohl des Vorderen Orients als auch v. a. Westeuropas zu einer teilweisen Öffnung gegenüber den Mehrheitsgesellschaften. Insbesondere die Publikmachung von Glaubensinhalten und -praktiken durch gedruckte und elektronische Medien, wie auch ihre verstärkte Interaktion mit der Mehrheitsgesellschaft führten zu intensiven internen Diskussionen: einerseits über die Entwicklung einer eigenen (verschriftlichten) Theologie und damit »Orthodoxie« (was im traditionalen Kontext durch – zumeist als Abstammungsgruppen organisierte – religiöse Spezialisten im Rahmen einer v. a. oral-performativen Tradition geleistet wurde), andererseits über die Möglichkeit des Eintritts von Gruppenfremden in die zuvor reine Abstammungsgemeinschaft. Letzteres ist allerdings nicht bei allen Gruppen zu beobachten und geschieht bisher nur punktuell, greift dabei aber historische Vorbilder aus der »eigenen« Frühgeschichte auf, die oftmals auf Sufiorden zurückgeht, denen ganze Bevölkerungsgruppen »beigetreten« waren. Durch diese Entwicklungen sind der »heterodoxe Islam« und aus ihm hervorgegangene Bewegungen auf dem »Markt der Religionen«12 angekommen. Die histo12 Zinser, Hartmut: Der Markt der Religionen. München 1997.

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risch bedingte Nähe einiger dieser Gruppen zu mystisch-heterodoxen Beitrittsgemeinschaften sufischer Derwisch-Bruderschaften (t ̣arīqa, Pl. t ̣uruq) lässt sie in der Wahrnehmung mancher esoterisch orientierter Menschen in Ost und West als Teil eines alternativen, »anderen Islam« erscheinen und attraktiv werden. Dies macht sie im modernen Kontext vergleichbar mit (neo-)sufischen Bewegungen: Beide dienen inzwischen auch als Sammelbecken für verschiedene postmoderne Sinnsuchende, sowohl aus säkularisierten Kontexten hervorgegangene »Geburtsmuslime« wie auch westliche »Sufi Seekers«. Wichtig sind hierbei die miteinander verschränkten indigenen, populär- und fachwissenschaftlichen (religions-)historischen Diskurse (insbesondere zu ihrer Genese und ihrem Verhältnis zum »Islam«) wie auch die wieder oder neu etablierten rituellen Praktiken: Beide Bereiche, der Diskurs über ihre Genese, wie auch die z. T. über Festivals und Neue Medien popularisierten Ritualpraktiken, sind konstituierende Faktoren und Ausdrucksmittel bei der neuzeitlichen Identitätsbildung von Gruppen wie den Aleviten oder Ahl-e Ḥ aqq in ihren durch Migration, Industrialisierung und Urbanisierung veränderten Lebenskontexten. Wie sich insbesondere an urbanen Kontexten in den Herkunftsländern beobachten lässt, stehen manche Gruppen aus diesem Spektrum des »marginalisierten Islam« in Wechselwirkung (z. T. identitätspolitisch bewusst instrumentalisiert) mit anderen innerislamischen Phänomenen – wie Sufiorden und weiteren Formen islamischer Mystik, modernistischen Reformbewegungen sowie auch anderen Arten von (neu)religiösem Freidenkertum –, die nicht (dauerhaft) zu distinkten Gruppenbildungen geführt haben. Andererseits lässt sich in manchen Teilen der islamischen Welt auch in jüngerer Zeit noch beobachten, wie sich insbesondere aus Sufiorden heraus neue abstammungsbasierte Gemeinschaften ausbilden13 – ein Vorgang, der bereits im Mittelalter offenbar ein wichtiger Faktor der Genese einiger dieser Gruppen (die Yeziden eingeschlossen) gewesen war.

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Versuche der religionshistorischen Systematisierung

Nach islamischen häresiografischen Schriften seit dem Mittelalter und neben gelegentlicher Erwähnung in enzyklopädischen Werken und Reiseberichten der Neuzeit ab dem 17. Jahrhundert finden Gruppierungen des »nicht-orthodoxen« Islam, wie Kızılbaş-Aleviten, Ahl-e Ḥ aqq, Nusairi-Alawiten und Drusen, z. T. erstmals Erwähnung in Missionarsberichten des 19. Jahrhunderts14 sowie in dem sich

13 Schmidinger, Thomas: The Ḥ aqqa Community: A Heterodox Movement with Sufi Origins, in: Omarkhali, Khanna (Hrsg.): Religious Minorities in Kurdistan: Beyond the Mainstream. (Studies in Oriental Religions, 68) Wiesbaden 2014, 227–234. 14 Für eine Aufarbeitung von Missionarsberichten bezüglich der anatolischen Kızılbaş-Aleviten siehe: Kieser, Hans-Lukas: Der verpasste Frieden: Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 1839–1938, Zürich 2000.

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ab dem späten 19. Jahrhundert entwickelnden orientalistischen Schrifttum.15 Erste systematische Beschäftigung mit der damit verbundenen religiösen Vielfalt in muslimischen Gesellschaften setzte jedoch erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts ein. Im Folgenden sollen die wichtigsten dabei entwickelten Konzepte vorgestellt werden.

Gemeinsamkeiten des »Ritual Idiom of the Middle East« Ein wichtiger wissenschaftlicher Ansatzpunkt zur Beschreibung und Analyse religiöser Vielfalt sowie von »Religion« als Phänomen überhaupt ist die empirische Untersuchung von Praxis und Formen von »Material Religion«, d. h. von religiösen Festen, Zeremonien, Gebräuchen, Ritualen bis hin zu einzelnen Ritenelementen, Substanzen, Objekten, Architektur, Orten etc. (einschließlich der hierbei verwendeten Terminologien und der sie begleitenden Diskurse). Gleichermaßen wichtig ist dabei ein Blick auf die religiösen Praktiken benachbarter, auch nicht-islamischer Traditionen. Bahnbrechend hierfür war die Studie Water into Wine: A Study of Ritual Idiom in the Middle East (1956) von Ethel Stefana Drower,16 die neben »Islam« und Jesidentum auch Zarathustriertum (Zoroastrismus), Mandäertum, orientalisches und östliches Christentum sowie Judentum in einem Gesamtbild erfasste. Dies alles bietet reichhaltiges Belegmaterial für eine »Ritualsprache des Vorderen Orients«, die transreligiös und transkonfessionell ist, also Elemente eines geteilten kulturellen Erbes aufweist, auf das alle Religiosität in der Region im Laufe der Geschichte immer wieder als Ressource zurückgegriffen hat – und sei es als Abgrenzungsmechanismus, um sich von anderen zu unterscheiden (vgl. das neben Juden- und Christentum auch in »heterodoxen« muslimischen Gemeinschaften – einschließlich nicht-Scharia-orientierter Derwischorden – verbreitete rituelle Trinken von alkoholischen Getränken versus das dezidierte Verbot in »orthodoxen« Islamrichtungen).

15 Zu letzterem vgl. exemplarisch die durch umfassende Quellenstudien gestützte Schrift des osmanisch-türkischen Historikers Köprülü(zade): Köprülü, Mehmed Fuad: Islam in Anatolia after the Turkish Invasion (Prolegomena). Transl., ed., and with an Introduction by: Leiser, Gary. Originally publ. in Darülfünün [sic] Edebiyat Fakültesi mecmuası no. 2 (1922) under title: Anadolu’da İslāmiyet (Anat ̣olıda İslāmiyyet: Türk istīlāsından soñra Anat ̣olı taʾrīḫ-i dīnīsine bir naẓar ve bu taʾrīḫiñ membaʿları [= Islam in Anatolia: A Review of the Religious History of Anatolia after the Turkish Invasion and the Sources for this History], 281–311, 385–420, 457–486). Salt Lake City 1993. Für eine kritische Untersuchung siehe: Dressler, Markus: How to Conceptualize Inner-Islamic Plurality/Difference: »Heterodoxy« and »Syncretism« in the Writings of Mehmet F. Köprülü (1890–1966)«. In: British Journal of Middle Eastern Studies 37 (3 = Heterodox Movements in the Contemporary Islamic World: Alevis, Yezidis and Ahmadis. Hrsg.: Shankland, David) 2010, 241–260. 16 Drower, E.[thel] S.: Water into Wine: A Study of Ritual Idiom in the Middle East. London 1956.

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»Pseudo-islamische Sektengebilde« Eine erste monografische Studie, die wohl bedingt durch die abnehmende Rezeption der deutschen Sprache international kaum wahrgenommen wurde, ist Klaus Erich Müllers 1967 publizierte Habilitationsschrift, deren Titel das Ergebnis der Studie zu »heterodox-muslimischen« religiösen Traditionen mit ihrer Kategorisierung als »pseudo-islamische Sektengebilde« zum Ausdruck bringt.17 Behandelt werden von ihm in Einzeldarstellungen die Tahtacı (eine alevitische Untergruppe mit turkmenischen Wurzeln), die Kızılbaş-Aleviten, die Bektaschi(-Aleviten), die Nusairi-Alawiten, die (nicht mehr existente) Šamsīya, die Drusen, die Ahl-e Ḥ aqq (Yāresān) sowie die Yeziden. In einem zweiten Teil des Werkes kommt er anhand von systematischen Untersuchungen zu religiösen Motiven, Strukturen und Praktiken, die er oftmals auf Altmesopotamisch-Babylonisches zurückführt, zu dem durch die diffusionistische Kulturtheorie beeinflussten Schluss, dass aufgrund der heutigen Verbreitung der diskutierten Traditionen der Großraum Syrien und Nordmesopotamien als Ursprungsgebiet dieser Gruppen anzusehen sei. Diese heutzutage als »Religionsvölker« anzusprechenden ethno-religiösen Gruppen bewahren seiner Ansicht nach Elemente einer vor-»abrahamitischen«, bis ins Neolithikum zurückreichenden altmesopotamisch-syrischen »Bauernreligion«; sie wären damit ein »Survival« der paganen nahöstlichen Religion nach dem Ende der »Tempel-Religion« durch den Aufstieg von Christentum und später des Islam. Diese wurde, so Müller, stark durch judenchristliche (v. a. ebionitische) und gnostische sowie manichäische Elemente überlagert (vgl. u. a. gemeinsame Mahlzeiten im Kult, Verehrung von Petrus als göttliche Gestalt bei Nusairi-Alawiten etc.). Islamisches stelle dabei als letzte kulturelle Überlagerung nur einen dünnen Firniss dar – darum »pseudo-islamisch«.

»Extreme Schiiten« Eine weitere monografische Darstellung ist Matti Moosas (1924–2014) Extremist Shiites: The Ghulat Sects von 1988.18 Als bis dahin einzige englischsprachige, umfassende Publikation zu »heterodoxen« muslimischen Gruppen, mit Schwerpunkt auf den Ahl-e Ḥ aqq und Nusairi-Alawiten, wird sie viel zitiert, obwohl sie sehr unsystematisch und oftmals unkritisch gegenüber den Quellen ist. Matti Moosa stammte selbst aus dem Irak und war syrisch-orthodoxer Christ. Er legt bei der historischen Einordnung der genannten Gruppen den Schwerpunkt auf ihre vermeintliche Frühgeschichte als Ġulāt (Sing. Ġālin), sogenannte »Übertreiber« (bezüglich ihrer Verehrung der Imame bis hin zu ihrer Vergöttlichung) oder »extreme Schia« (obwohl 17 Müller, Klaus E[rich]: Kulturhistorische Studien zur Genese pseudo-islamischer Sektengebilde in Vorderasien. Mit vier Karten u. sieben Tafeln. [Zugl.: München/Frankfurt am Main, Phil. Diss., 1967]. (Studien zur Kulturkunde: Veröffentlichungen des Frobenius-Instituts an der Johann Wolfgang Goethe-Universität zu Frankfurt/Main, 22.) Wiesbaden 1967. 18 Moosa, Matti: Extremist Shiites: The Ghulat Sects. First ed. Contemporary Issues in the Middle East. Syracuse, N. Y. 1988.

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Moosa oftmals »orthodox«-zwölferschiitische Lehren und Praktiken gleichermaßen als »Häresie« wertet, beeinflusst durch seine Rezeption sunnitisch-islamischer Mehrheitsmeinungen). Die Kontinuität der mittelalterlichen Ġulāt-Gruppen zu heute existierenden Gemeinschaften ist allerdings nur bei den Nusairi-Alawiten einigermaßen klar belegbar,19 auch wenn religiöse Motive (wie Wiedergeburt, arab. tanāsuḫ, und die Erscheinung des Göttlichen in Menschengestalt, arab. ḥulūl) dieser von der späteren Zwölferschia als ketzerisch ausgegrenzten Gruppen durchaus auch bei anderen »heterodox-islamischen« Gruppen, wie den Aleviten oder Ahl-e Ḥ aqq, nachweisbar sind. Das ursprünglich zwölferschiitisch-häresiografische Label Ġulāt (bzw. Ġulūw, die »Übertreibung in der Verehrung«)20 ist jedenfalls spätestens seit Moosas Arbeit fest zu einem Erklärungsmotiv für die Entstehungsgeschichte nonkonformistischer Islamformen geworden.21 Insofern stellt Moosa, obzwar er auch auf vorislamische »Survivals« verweist, die behandelten Gruppen bezüglich ihrer historischen Genese klar in einen (früh)islamischen Kontext. Ein weiterer Begriff der islamisch-häresiografischen Literatur ist Bāt ̣inīya (von Arab. bāt ̣in, »innere Bedeutung«, bāt ̣inī, »esoterisch«).

»Spiritual Elite Communities« »Spiritual Elite Communities« ist ein Konzept des niederländischen vergleichenden Religionswissenschaftlers Albert (Ab) de Jong. Es bezieht sich auf die Tatsache, dass alle von ihm behandelten Gruppen (Ahl-e Ḥ aqq / Yāresān / Kākāʾī, Drusen, Aleviten und Nusairi-Alawiten und über »heterodox-muslimische« Gruppen hinaus auch Zarathustrier, Mandäer und Yeziden) über ein erbliches »Priestertum« verfügen, das als »geistliche Elite« das religiöse Wissen innerhalb der eigenen »Kaste« tradiert. Wissen um die Inhalte der eigenen Religion (einschließlich zugehöriger Tradierungsmedien, wie Schriftlichkeit oder Memorierung oraler Texte) ist somit an eine Elite delegiert (in der Regel jedoch nicht die politische Repräsentation nach Außen, die von Laien wahrgenommen wird). Mit de Jongs Artikel »Spiritual Elite Communities in the Contemporary Middle East« von 201822 liegt ein umfassender Entwurf vor, der die religiöse Vielfalt im Nahen Osten einschließlich der nicht-Scharia-orientierten Gruppen aus der Per-

19 Siehe: Halm, Heinz: Die islamische Gnosis: Die extreme Schia und die ʿAlawiten. (Die Bibliothek des Morgenlandes). Zürich-München 1982. 20 Zu den Hauptelementen von Ġulūw nach den mittelalterlichen Häresiografen siehe: Hodgson, Marshall Goodwin Simms: Ghulāt, in: Encyclopaedia of Islam. New Edition. Vol. II. Leiden-London 1965, 1093b–1094a. 21 Siehe: Langer, Robert: The Term Ġulāt and its Derivatives: From Heresiography to SelfDescription, in: Islamische Selbst-Bilder: Festschrift für Susanne Enderwitz, hrsg. von Kiyanrad, Sarah/Sauer, Rebecca/Scholz, Jan, Heidelberg 2020, 37–54 . 22 De Jong, Albert: Spiritual Elite Communities in the Contemporary Middle East, in: Sociology of Islam 6 (2018), 116–140.

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spektive der Vergleichenden Religionswissenschaft analysiert.23 Religionsgeschichtlich entscheidend für eine den rezenten Forschungen zur Geschichte »islamischheterodoxer« Gruppen gerecht werdende Behandlung des Komplexes ist die Feststellung, dass viele der behandelten Gemeinschaften erst nach der Islamisierung Westasiens nachweisbar als distinkte religiöse Gruppen entstanden sind. Die religiöse Vielfalt im Vorderen Orient kann also nur zum Teil mit dem Überleben von Religionstraditionen erklärt werden, die noch zur Zeit der Entstehung des Islams vorhanden waren.24 Entscheidende Mechanismen für die Ausprägung einer nichtScharia-orientierten, innerislamischen Diversität durch die Entstehung distinkter, über längere Zeiträume existierender Gruppen eigener religiöser Tradition sind, so de Jong, die Ausbildung von erblichen »Geistlichen-Eliten« (als endogame Abstammungsgruppen neben den einfachen Laien-Gläubigen) und eine generelle Endogamie gegenüber Außenstehenden. Diese spezifische Sozialstruktur wird in der Forschung oftmals als Reaktion auf die Verfolgungssituation durch den Schariaorientierten Islam erklärt. Analogien zu historischen Formen des Erbpriestertums (Judentum, Zarathustrismus) ergeben sich in dieser Perspektive durch den Rückzug von religiösen Non-Konformisten in stammesmäßig organisierte periphere Populationen, wo sie zu Begründern von »Priesterkasten« wurden. Jedenfalls hatte dies zur Folge, dass im Laufe der Geschichte aus religiösen Strömungen ethnische Gruppen (»Religionsvölker«) bzw. »Community Religions« entstanden, die besonders in Anatolien (Kızılbaş/Bektaşi-Aleviten), Groß-Syrien (Nusairi-Alawiten, Drusen), Nord-Irak (Yeziden, Schabak, Kākāʾī) und Nordwest-Iran (Ahl-e Ḥ aqq/Yāresān) vorzufinden sind. Sie sehen entsprechend keinen Mechanismus des Beitritts von Au-

23 Die im Laufe der dreißig Jahre zwischen dem Erscheinen von Moosas Monografie (1988) und de Jongs Artikel (2018) veröffentlichten Sammelbände zum Thema enthalten zahlreiche Einzelstudien, aber nur punktuelle und auf Einzelaspekte bezogen vergleichende Beiträge. Siehe v. a.: Popovic, Alexandre/Veinstein, Gilles (Hrsg.): Bektachiyya: Études sur l'ordre mystique des Bektachis et les groupes relevant de Hadji Bektach, in: Revue des études islamiques, 60 (numéro spécial). Paris 1992. Kehl-Bodrogi, Krisztina/Kellner-Heinkele, Barbara/Otter-Beaujean, Anke (Hrsg.): Syncretistic Religious Communities in the Near East: Collected Papers of the International Symposium »Alevism in Turkey and Comparable Syncretistic Religious Communities in the Near East in the Past and Present«, Berlin, 14–17 April 1995. Studies in the History of Religions («Numen« Book Series), 76. Leiden-New York-Köln, 1997. Olsson, Tord/Özdalga, Elisabeth/Raudvere, Catharina (Hrsg.): Alevi Identity: Cultural, Religious and Social Perspectives. Papers Read at a Conference Held at the Swedish Research Institute in Istanbul, November 25–27, 1996. Transactions. Svenska Forskningsinstitutet Istanbul = Swedish Research Institute in Istanbul, 8. Istanbul, Richmond 1998. Veinstein, Gilles (Hrsg.): Syncrétismes et hérésies dans l'Orient seldjoukide et ottoman (XIVe-XVIIIe siècle): Actes du Colloque du Collège de France, Octobre 2001. Collection Turcica, 9. Paris-Leuven 2005. Langer, Robert/Motika, Raoul/Ursinus, Michael (Hrsg.): Migration und Ritualtransfer: Religiöse Praxis der Aleviten, Jesiden und Nusairier zwischen Vorderem Orient und Westeuropa, (Heidelberger Studien zur Geschichte und Kultur des modernen Vorderen Orients, 33) Frankfurt am Main u. a. 2005. Shankland, David (Hrsg.): Heterodox Movements in the Contemporary Islamic World: Alevis, Yezidis and Ahmadis, in: British Journal of Middle Eastern Studies, 37.3. London 2010. Omarkhali, Khanna (Hrsg.): Religious Minorities in Kurdistan. 24 De Jong, Spiritual Elite Communities 116.

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ßenstehenden zur Gemeinschaft vor; meist werden auch Kinder aus Mischehen nicht akzeptiert,25 auch wenn es für beide Fälle natürlich im Laufe der Geschichte immer Ausnahmen gegeben hat. In der Tat ist die Gesellschaftsform mit Geistlichen-Elite (neben einer Laien›Kaste‹) und entsprechenden internen sowie externen Endogamieregeln, wie auch das System der Laien und religiöse Spezialisten sozial miteinander verknüpfenden kollektiven, religiös-rituellen Praxis, ein gemeinsames Strukturelement, über das man die Gruppen empirisch fundiert miteinander vergleichen kann – anders als durch die Verwendung von anachronistischen und aus historisch meist weit zurückliegenden Zusammenhängen übertragenen Begriffen wie »Gnosis«, »Heidentum« oder »extreme Schia« (Ġulāt), »(neo-)zarathustrisch«, aber auch scheinbar analytischen Charakterisierungen wie »heterodox« oder »synkretistisch«.26 Das »Wissen« um die Tradition wird durch die Geistlichen-Kaste erhalten; für die Mehrheit der Laien-Gläubigen ist dieses Wissen aber für die Praktizierung der Religion nicht nötig, sondern wird performativ durch Rituale »verkörpert« (Embodiment). Dieser strukturelle Mechanismus der Reproduktion von »Religion« durch einen mimetisch erlernten rituellen Habitus brachte frühere Beobachter, insbesondere westliche Missionare, zu der Einschätzung, die Gläubigen seien »unwissend« und die Lehre »konfus«.27 Erklärt wurde dies unter anderem mit dem »Geheimcharakter« ihrer »esoterischen« Lehren, der im Sinne von »Verstellung« (Taqīya) nach Außen und elitistischem Spezialistentum nach Innen so lange ausgeübt wurde, dass sie selbst vergessen hätten, was der »eigentliche« Inhalt ihrer Religion gewesen war.28 Dies ist jedoch dem Charakter von ethnischen »Community Religions« geschuldet, in denen »Religion« identisch mit der Gemeinschaft ist. Die »Inhalte« sind insofern unspezifiziert und insbesondere für die Laien-Gläubigen nicht in strukturierten Katechismen oder Glaubensbekenntnissen bereitgestellt. Durch ihren Austausch mit dem Gegenmodell der »Beitrittsreligion« (v. a. Christentum und Islam) und ihre historische Genese als lokale »Alternativformen« derselben (z. B. in tribalen Kontexten) ist jedoch die Unterscheidung zwischen Community- und Beitrittsreligion nicht immer so klar zu ziehen. So haben sich insbesondere Strukturen des islamischen, nonkonformistischen Derwischwesens, jener allgemein-islamisch »verfügbaren« nicht-Scharia-orientierten Version islamischer Religiosität, bei vielen Gruppen erhalten, z. B. wiederholte und abgestufte Initiationsrituale, die auch mit Bekenntnis zum Glauben und der Erneuerung katechetischen Wissens über zentrale »Ge-

25 De Jong: Spiritual Elite Communities 127, 134. 26 De Jong: Spiritual Elite Communities 123 f. 27 Damit seien sie auch leicht für das Christentum zu gewinnen, so die Meinung der Missionare, zumal man Parallelen zum Christentum zu erkennen glaubte: Trinitätskonzepte bei Aleviten und Alawiten, Gemeindegottesdienste mit Gesang, alkoholischen Getränken und gemeinsamem Mahl etc. Mehr als bei »orthodoxen« Muslimen kam es in der Tat gelegentlich auch zu (zumindest temporären) Konversionen. Vgl.: Türkyılmaz, Zeynep: Anxieties of Conversion: Missionaries, State and Heterodox Communities in the Late Ottoman Empire. Diss., Dr. of Philosophy in History, University of California, Los Angeles 2009. 28 De Jong: Spiritual Elite Communities 127, 133.

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heimnisse« des Glaubens verbunden sein können. Die Mischform zwischen Community- und Beitrittsreligion erklärt jedenfalls ihre Klassifikation entweder als »ungläubige Heiden« oder als »Abgefallene« aus der Sicht ihrer christlichen oder (»orthodox«-)islamischen Nachbarn bzw. als »Geheimreligionen« durch die Forschung: »both according to majority religions and according to mainstream scholars, they should not have existed.«29 Auch schon in vormoderner Zeit waren die politischen Repräsentanten gegenüber den herrschenden Staaten nicht die Geistlicheneliten, sondern die, oftmals tribalen, Laien-Eliten. Im 20. Jahrhundert haben die Geistlicheneliten der meisten Gruppen einen deutlichen Prestigeverlust erlitten. Dies hatte mit dem zunehmenden Bildungsgrad von vormals in der Regel illiteraten Laien zu tun (bedingt durch die Einführung von öffentlichen Schulen z. B. bereits im späten Omanischen Reich). Ein weiterer Grund war die bei fast allen Gruppen beobachtbare Hinwendung der jüngeren Generation zu säkularen Idealen und Ideologien der Nationalstaaten bzw. speziell dem Sozialismus, der in einigen der neuen Staaten im 20. Jahrhundert in die Nationalideologie integriert wurde. Die vormoderne Form der Wissenstradierung und -aufbewahrung durch die Geistlicheneliten wurde als rückständig, wenn nicht sogar als reaktionär und eingebettet in »feudale« Verhältnisse angesehen. Ein entsprechendes Aufbrechen der Gemeinschaftsstrukturen führte nach dem Zweiten Weltkrieg sogar oft zum Abbruch der Tradition, der erst durch die Öffnung der Gruppen im Rahmen von Emanzipationsbewegungen (am deutlichsten bei den Aleviten) aufgehalten wurde. Die traditionellen Geistlicheneliten, so einzelne Angehörige überhaupt noch aktiv waren, erhielten nun aber den Charakter von angestellten »Gemeindegeistlichen«.30

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Religionsgeschichtliche Debatten um vorislamische Wurzeln

Gnosis Wie bereits angesprochen, ist ein in der religionsgeschichtlichen Debatte oftmals zur Sprache gebrachtes Element der Islamform nicht-Scharia-orientierter Gruppen die Heilslehre der mittelalterlichen Ġulāt. Durch die Ausbildung der Schulen des islamischen Rechts (maḏhab, Pl. maḏāhib) vom 9. bis zum 12. Jahrhundert und die damit verbundene klarere Abgrenzung zwischen sunnitischem und schiitischem Islam kam es, so die Annahme, zur Marginalisierung des »anderen Islams«, der auf Charisma-Loyalität (gegenüber Abkömmlingen der Prophetenfamilie), im Gegensatz

29 De Jong: Spiritual Elite Communities 134 f. 30 De Jong: Spiritual Elite Communities 136.

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zur Schrift-Loyalität Scharia-orientierter Gruppen, setzt31 und der sich, zumindest in Spuren, in den »heterodoxen« Gruppen erhalten habe. Abgesehen davon, dass nur im Falle der Nusairi-Alawiten tatsächlich in Hinblick auf historische Personen und erhaltene Schriften aus der Zeit der mittelalterlichen »Übertreiber« (Ġulāt) eine gewisse Kontinuität festzustellen ist,32 verschiebt dies die Frage des Ursprungs ihrer Glaubensvorstellungen zurück in ältere historische Perioden.33 Genannt wird hier regelmäßig die spätantike »Gnosis« bzw. der »Gnostizismus« (neben philosophischen Schulen wie Neu-Platonismus und Neupythagoreismus); und zwar primär in Bezug auf die Kosmogonie und Kosmologie, die Seelenlehre und Vorstellungen von Seelenwanderung. Diese Elemente sind in der Tat in einigen Weltentstehungsmythen, die sich z. B. bei Yeziden,34 Alawiten,35 Ahl-e Ḥ aqq oder Bektaschi/Aleviten36 (aber auch generell in mystisch-islamischen, Scharia-fernen Kontexten)37 finden, identifizierbar. Die Lehre vom entrückten Imam, der wiederkehrt bzw. dessen Wiederkehr erwartet wird (eine Kombination vom Mythos des sterbenden und wiederauferstehenden Gottes mit Wiedergeburtsvorstellungen), hat sich in einer »domestizierten« Form, d. h. unter Vermeidung von Aspekten der Vergöttlichung, auch bei Scharia-orientierten schiitischen Gruppen, wie der Zwölferschia und den Ismailiten, erhalten, in denen die Ġulāt vermutlich aufgegangen sind. Heinz Halm charakterisiert das Grundmuster islamisch-gnostischer Heilslehre als

31 Zur Differenzierung zwischen Charisma- und Schrift-Loyalität siehe: Dreßler, Markus: Die alevitische Religion: Traditionslinien und Neubestimmungen. [Teilw. zugl.: Erfurt, Univ., Diss., 2001 u. d. T.: Die Kızılbaş-Tradition: Genese, Entwicklung und Neukonzeptualisierung der alevitischen Religion] (Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes, 53.4) Würzburg 2002, 17–18. 32 Vgl.: Asatryan, Mushegh: Controversies in Formative Shiʿi Islam: The Ghulat Muslims and Their Beliefs. (Shi'i Heritage Series, 4), London 2017. 33 Die einzige wohl noch bis heute existierende und bis in die spätantike Gnosis zurückreichende Religionstradition, wenn auch in einer spezifisch mesopotamischen Variante, ist das Mandäertum, das an anderer Stelle dieses Bandes behandelt wird. 34 Wilson, Peter L.: Iblis, the Black Light: Satan(ism) in Islam and among the Heretic Yezidis in Iran, in: Gnosis 14 (1989–1990), 42–47. 35 Olsson, Tord: The Gnosis of Mountaineers and Townspeople: The Religion of the Syrian Alawites, or the Nuṣairīs, in: Olsson, Tord/Özdalga, Elisabeth/Raudvere, Catharina (Hrsg.): Alevi Identity: Cultural, Religious and Social Perspectives. Papers Read at a Conference Held at the Swedish Research Institute in Istanbul, November 25–27, 1996. Transactions. Svenska Forskningsinstitutet Istanbul = Swedish Research Institute in Istanbul, 8. Istanbul, Richmond 1998, 167–183. 36 Mélikoff, Irène: Le Gnosticisme chez les Bektachis/Alévis et les interférences avec d'autres mouvements gnostiques, in: Veinstein, Gilles (Hrsg.): Syncrétismes et hérésies dans l'Orient seldjoukide et ottoman (XIVe-XVIIIe siècle): Actes du Colloque du Collège de France, Octobre 2001. Collection Turcica, 9. Paris-Leuven 2005, 65–74. 37 During, Jean: Hearing and Understanding in the Islamic Gnosis, in: The World of Music: Journal of the Department of Ethnomusicology, Otto-Friedrich University of Bamberg 39 (2) (1997), 127–137.

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[…] ein[en] Mythos von der Hybris des ersten Geschöpfes, das sich für den Schöpfer hält und zur Strafe von Gott entfernt wird; im Sturz erschafft es den Kosmos mit den Himmeln und der sich zunehmend verdichtenden Materie der sublunaren Welt. In den Sturz mitgerissene Lichtfunken werden als Seelen in die Materie eingeschlossen und unterliegen, solange sie nicht befreit werden, der Seelenwanderung; Erkenntnis, die durch Scheininkarnationen Gottes – in Gestalt der zwölf šīʿitischen Imame – vermittelt wird, eröffnet ihnen die Rückkehr zum Ursprung. Die G[nosis] (ʿilm [= Wissen]) wird durch die Imame – in Wirklichkeit Erscheinungen [maẓhar] des Schöpfergottes, der sich in immateriellen Scheinleibern zeigt – ausgewählten Schülern geoffenbart.38

Ähnlich wie bei Klaus Erich Müllers Theorie des »Survivals« einer paganen Religion nach Ende der Tempel-Religion in ländlichen Gemeinschaften wird auch bezüglich des Überlebens der spätantiken Gnosis als religiöses Substratum, in vorderorientalischen Kulturen von einer »Verländlichung des Gnostizismus« gesprochen, die aufgrund der Etablierung einer christlichen Hegemonie im spätrömischen Reich und der damit verbundenen Unterdrückung der »gnostischen Häresie« erklärt wird.39 Entsprechendes wird dann für die islamische Zeit auf die »schiitische Häresie«, zumindest der Ġulāt-Gruppen, übertragen, wobei sich sowohl Elemente des ĠulātGlaubens (der möglicherweise um das 10. Jahrhundert in Teilen Syriens und Iraks weit verbreitet war), insbesondere das Motiv des Verschwindens und der Rückkehr des Imams wie auch Selbstschutz-Mechanismen der »Dissimulation« (»Verstellung«, arab. Taqīya), auch in den Mainstream-Formen der Schia erhalten haben.40

Kontinuität iranischer Religion Ein weiterer Topos zur Erklärung »heterodoxer« Islamformen ist die postulierte Kontinuität vorislamisch-»iranischer« Religionsmotive. Speziell für die Yeziden und Ahl-e Ḥ aqq / Yāresān hat Philip G. Kreyenbroek dies anhand umfassender Studien der vornehmlich oralen Textbestände demonstriert, wobei er auf eine »westiranische« Nebenform der Religion verweist, also verwandt, aber doch signifikant unterschiedlich vom Mazdaismus bzw. Zarathustrismus der vorislamischen, persischen Großreiche.41 Für die kurdischen Formen des Alevitentums wurden entsprechende 38 Halm, Heinz: Gnosis/Gnostizismus: V. Islam, in: Religion in Geschichte und Gegenwart: http:// dx.doi.org/10.1163/2405–8262_rgg4_COM_08775 [letzter Aufruf 31.7.2020]. 39 Kippenberg, Hans G.[erhard]: Verländlichung des Gnostizismus als Folge seiner staatlichen Unterdrückung, in: Kreisel, Werner (Hrsg.): Geisteshaltung und Umwelt: Festschrift zum 65. Geburtstag von Manfred Büttner. (Abhandlungen zur Geschichte der Geowissenschaften und Religion-Umwelt-Forschung, 1), Aachen 1988, 307–320. 40 Kohlberg, Etan: Taqiyya in Shīʿī Theology and Religion, in: Kippenberg, Hans G.(erhard)/ Stroumsa, Guy [A.] G. (Hrsg.): Secrecy and Concealment: Studies in the History of Mediterranean and Near Eastern Religions. [Proceedings of a meeting held June 1–4, 1993, at the Werner ReimersStiftung, Bad Homburg, Germany]. (Studies in the History of Religions: Numen Book Series, 65), Leiden-New York-Köln 1995, 345–380. 41 Kreyenbroek, Philip Geritt: Modern Sects with Ancient Roots: The Yezidi and Ahl-e Haqq of Kurdistan, in: Godrej, Pheroza J./Mistree, Firoza Punthakey (Hrsg.): A Zoroastrian Tapestry: Art, Religion & Culture. Usmanpura-Ahmedabad-Middletown, NJ 2002, 260–277.

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»zoroastrische« Wurzeln immer wieder postuliert; z. T. wurde von Akteuren der kurdischen Bewegung das Yezidentum zur kurdischen »Urreligion« erklärt, was dazu führt, dass insbesondere Yeziden mit kurdistischen Einstellungen sich selbst als Zarathustrier bezeichnen.42 Die Beschreibung des kurdischen Alevitentums ist vor allem als Reaktion auf den türkischen Nationalismus zu sehen, der das Alevitentum als »Survival« alt-türkischer, zentralasiatischer Kultur definiert (s. u.).43 Entscheidend für die Kontinuitätsthese und die Postulierung einer über die Epochen reichenden, also fast zeitlosen, »ewigen« und spezifisch (islamisch-)iranischen »Gnosis« (ʿIrfān oder Maʿrifa, ›Erkenntnis‹) und »Illuminationsmystik« (arab. Išrāq, Erleuchtung) ist das Werk des französischen Philosophen Henry Corbin (1903–1978). Ausgehend von seiner Beschäftigung mit dem persischen, als Ketzer hingerichteten Mystiker Šihāb ad-Dīn Yaḥyā Suhrawardī (1154–1191) weist er eine weite Ausbreitung der Lichtphilosophie Suhrawardīs in der islamischen Welt nach, insbesondere in bestimmten Richtungen des Sufitums und im Schiitentum (dort v. a. in der Philosophie). Diese Vorstellung der Ausbreitung des göttlichen »Lichts« im Universum weist Parallelen mit den islamisch-gnostischen Seelenvorstellungen auf (s. o.: menschliche Seelen als Lichtfunken und damit Teil der Göttlichkeit).44 Das Weiterleben »iranischer« Traditionen ist bereits ein Topos im mittelalterlichen Islam, wo der mittelpersische Begriff Zindīq für »Manichäer« zum Synonym für »Ketzer« wurde. Neben den bereits genannten Termini (mulḥid, murtadd etc.) wurde er auch regelmäßig im islamischen Schrifttum für Angehörige nicht-Schariaorientierter, »heterodoxer« Gemeinschaften gebraucht. Er verweist nicht zuletzt auf die dort vorherrschenden Vorstellungen von zyklischer Zeit und Prä-Existenz, die nur schwer mit der Lehre von der Schöpfung durch den monotheistischen Gott und das Endgericht in Einklang zu bringen sind. Diese in der iranischen Religionsgeschichte über weite historische Zeiträume vorhandene Spannung behandelt auch Alessandro Bausani (1921–1988).45 Er erklärt sie allerdings weniger essentialistisch und anachronistisch als Henry Corbin, der

42 Offenbar wenig davon beeinflusst und ohne Zusammenhang mit Jesidentum ist die jüngste Popularisierung von Zarathustriertum als kurdische Religion sowohl in Nord-Syrien wie auch im Nord-Irak durch kurdische Aktivisten mit sunnitisch-muslimischem Hintergrund. Hier kam es in den letzten Jahren zur Gründung von Gemeinden, Tempeln und zur Registrierung dieser »Zarathustrier« als Gruppe durch die Religionsverwaltung der Autonomen Kurdischen Region im Nord-Irak. Vgl.: Szanto, Edith: »Zoroaster was a Kurd!«: Neo-Zoroastrianism Among the Iraqi Kurds, in: Iran and the Caucasus 22 (2018), 96–110, DOI: 10.1163/ 1573384X-20180108. 43 Siehe Hirschler, Konrad: Defining the Nation: Kurdish Historiography in Turkey in the 1990s, in: Middle Eastern Studies: A Frank Cass Journal, 37 [3] (July 2001), 145–166. 44 Corbin, Henry: En Islam iranien: Aspects spirituels et philosophiques. 4 vol. Vol. I: Le Shî‘isme duodécimain. Vol. II: Sohrawardî et les Platoniciens de Perse. Vol. III: Les Fidèles d’amour Shî‘isme et Soufisme. Vol. IV: L’école d’Ispahan, l’école Shaykhie, le douzième Imâm. Paris 1971–1972. 45 Bedeutsam sein Werk Persia religiosa da Zaratustra a Bahaˆ’u’llaˆh (Religiöses Persien von Zarathustra bis Bahāʾullāh) von 1959, das erst 2000 in englischer Übersetzung erschien: Bausani, Alessandro: Religion in Iran: From Zoroaster to Baha’ullah. (Studies in Bábí and Bahá'í religions, 11), New York, NY 2000.

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beispielsweise auf »Neuplatonismus« rekurriert. Für Bausani ist es vor allem die integrative Kraft iranischer Kultur und persischer Sprache in Prozessen der Transmission, Reproduktion und Rezeption »iranischer« Kulturelemente. Dass Iran das einzige Zentrum gnostischer Religion sei, widerlegt Bausani durch seine Analyse gnostischer Vermittlung in verschiedenen Phasen iranischer Religionsgeschichte durch Mesopotamien. In diesem Sinne kommt er ungefähr zeitgleich mit Hodgson (The Venture of Islam 1958 und weitere Aufl.; s. u.) zu dem Ergebnis, dass seit der historischen Fassbarkeit iranischer Kultur ab dem 8. Jahrhundert vor Christus der Austausch, um nicht zu sagen die Synthese oder gar Symbiose, zwischen semitischer und iranischer Kultur prägend für die religionsgeschichtliche, aber auch sprachliche und allgemein kulturelle Entwicklung anzusehen ist. Seine Betonung der Beeinflussung iranischer Religiosität durch westlich Irans gelegene Kulturen (Assyrien-Babylonien, Anatolien, griechischer Hellenismus und schließlich arabischer Islam) sind ein Bindeglied in seiner Darstellung »von Zarathustra bis Bahāʾullāh«. Zarathustras angenommene Westwanderung und Synthese avestisch-ostiranischer mit medisch-westiranischer Kultur steht hier am Anfang. Das Bahaitum, dem Bausani seit Mitte der 1950er Jahre selbst angehörte, charakterisiert er, nicht ganz unvoreingenommen, aufgrund seiner Weiterentwicklung islamischer Religiosität als Endpunkt einer Dynamik iranischer Kultursynthese. Iran steht für ihn auch als Bindeglied zwischen arabischen und türkischen Kulturen, was die Vermittlung einiger religiöser Spezifika auch an die ab dem 10. Jahrhundert in das arabische Reich (und damit zuerst nach Iran) einwandernden Turkvölker erklären mag. Die Beschäftigung mit nicht zum Bestandteil hegemonialer Ordnung gewordenen Strömungen betrachtet Bausani als methodologische Voraussetzung für eine umfassende Religionsgeschichte. Sinngemäß sagt er in Persia religiosa (1959): Wie Sekten entstehen, wirft ein Licht auf die Mehrheitsverhältnisse. Wo Corbin die kontinuierliche Wiedergeburt »mazdäisch-zoroastrischer, vorislamischer Bilder« sieht, kontextualisiert Bausani Iranisches im weiteren Kulturraum Westasiens und weist die von ihm als »rassistisch« klassifizierten Theorien Corbins der Gleichsetzung von Semitischem mit Islam und von jeglicher Abweichung vom strikten »abrahamitischen« Monotheismus als iranisch zurück. Bausani argumentiert dagegen in Bezug auf die durchaus auch von ihm gesehene Kontinuität »iranischer Religiosität« (wie sein Buchtitel: »Von Zarathustra zu Bahāʾullāh« zum Ausdruck bringt) vor allem strukturell und integrativ: Iran als zentrales Momentum und Drehscheibe kultureller, sprachlicher und religiöser Dynamik in einem weiteren Kulturraum vom Mittelmeer bis nach Indien und Zentralasien. Wie stark das Motiv eines »Dritten Weges« im Islam – einer undogmatischen, esoterischen und tendenziell pantheistischen Unterströmung islamischer Religiosität – als speziell iranische Eigenart auch weiterhin in der Wissenschaft vorhanden ist, zeigt das monografische Werk Mystics, Monarchs, and Messiahs Kathryn Babayans 2002.46 Kathryn Babayan hat intensiv die Geschichte der Safawiden erforscht – des Sufiordens, der im

46 Babayan, Kathryn: Mystics, Monarchs, and Messiahs: Cultural Landscapes of Early Modern Iran, (Harvard Middle Eastern Monographs, 35) Cambridge, Mass. 2002.

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anatolisch-westiranischen Gebiet im 15. Jahrhundert offensichtlich Elemente der »radikal-schiitischen« Ġulāt-Religiosität reaktualisiert hat (v. a. die Vergöttlichung seiner Scheiche) und dessen Anhänger als »Proto-Aleviten« gelten.47 Diese Anhänger des Safawiden-Ordens, die Kızılbaş (»Rotköpfe« wegen ihrer roten Kopfbedeckung), waren die turkmenischen und z. T. kurdischen Stammeskrieger, die schließlich 1501 mit ihrem Scheich Ismāʿīl an der Spitze das neuzeitliche iranische Reich errichteten. Bei der Herleitung der Geschichte der »Häresie der Kızılbaş« – mit der Vergöttlichung des Scheich-Herrschers und ihrem pantheistischen Weltbild – verfällt Babayan allerdings in essentialistische, iranozentrische Erklärungsmuster: eine vermeintlich im Kern gnostisch-häretische iranische Religiosität, die sie gleichsam als auch im Islam immer vorhandenes Substratum charakterisiert; eine unveränderlich vorhandene »iranische Option« eines nicht-legalistischen, alternativen Islams als »drittem Weg« unter der Oberfläche von hegemonialer Sunna und Zwölferschia.

Zentralasiatische Himmelsreligion und turko-mongolisches Schamanentum Im Gegensatz zu iranozentrischen Geschichtstheorien war hinsichtlich der anatolischen Aleviten und ihrer Genese die Theorie der Islamisierung turko-mongolischen Schamanentums und einer zentralasiatischen Himmelsreligion prägend. Bereits 1918 von Mehmed Fuad Köprülü (damals noch Köprülü-zāde) formuliert,48 zieht sie sich bis heute als sogenanntes »Köprülü-Paradigma« durch die religionsgeschichtliche Beschäftigung mit dem Alevitentum.49 Vor allem Analogien bei ekstatischen Momenten des Rituals, des Opfers, des Trinkens alkoholischer Getränke beim Ritual und verschiedene Ritual-Paraphernalia (Stab etc.), die sich im Schamanentum wie auch im Alevitentum finden, werden angeführt.50 Auch andere Elemente der »alevi-

47 Vgl. besonders: Mazzaoui, Michel M.: The Origins of the Ṣafawids: Šīʿism, Ṣūfism, and the Ġulāt, (Freiburger Islamstudien, 3), Wiesbaden 1972. Wie dies genau geschehen sein soll, ist nicht wirklich geklärt. Viele Autoren, gerade auch aus Kreisen der Aleviten selbst, nehmen eine Vermittlung »islamischer Gnosis« vor allem durch nach den Mongolenverheerungen versprengte ismailitische Missionare (Duʿāt, Sing Dāʿī) an, die in der antiseldschukischen Bābāʾī-Bewegung (1239, Niederschlagung durch die Seldschuken) und anderen nonkonformistischen Derwischbewegungen ihre neue Organisationsform fand. Als weiteres iranisches Element kam dann die buchstabenmystische Lehre des Fażlallāh Astarʾābādīs (1339/40–1394) hinzu (Ḥ urūfīya), der nachweisbar bei den Aleviten überlieferte Dichter beeinflusste. Werke der Ḥ urūfīya finden sich bis heute in alevitischen und vor allem bektaschitischen Kreisen von Anatolien bis Albanien. Zur Ḥ urūfīya siehe jüngst: Mir-Kasimov, Orkhan: Words of Power: Hurufi Teachings between Shi’ism and Sufism in Medieval Islam. The Original Doctrine of Fadl Allah Astarabadi. London 2015. 48 Köprülü, Mehmed Fuad: Early Mystics in Turkish Literature. (Routledge Sufi Series), London u. a. 2006 [osmanisch-türkisch erstm. 1918]. 49 Vgl.: Dreßler, Markus: Writing Religion: The Making of Alevi Islam. Oxford u. a. 2013, passim. 50 Kehl-Bodrogi, Krisztina: Die Kızılbaş/Aleviten: Untersuchungen über eine esoterische Glaubensgemeinschaft in Anatolien. (Islamkundliche Untersuchungen, 126), Berlin 1988, 237–238.

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tischen Häresie« werden von der nationalistischen türkischen Geschichtsschreibung in der Nachfolge Köprülüs als Erbe der vorislamischen, »schamanistischen« Kultur der zentralasiatischen Turkvölker interpretiert. Die Aleviten werden in der Konsequenz als Bewahrer einer vergangenen nationalen Tradition angesehen.51

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Arabischsprachige Gruppen

Nus ̣airī / ʿAlawīyūn Die in Syrien und angrenzenden Gebieten der heutigen Türkei52 (in kleinen Teilen auch im Libanon und auf den Golanhöhen) lebenden Nuṣairī (Naṣārā, Anṣārīya) nennen sich seit dem 20. Jahrhundert ʿAlawī (Pl. ʿAlawīyūn), also »Aliden« bzw. »ʿAlī-Anhänger«, so auch die offizielle Bezeichnung im französischen Mandatsgebiet Syrien seit den 1920er-Jahren. Die Bezeichnung »Nuṣairī« lehnen sie heute als abwertend ab. Sie machten bis zum Syrienkrieg ab 2011 ca. 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung aus und umfassen weltweit möglicherweise drei bis vier Millionen Menschen arabischer Sprache und Ethnizität. Sie sind nicht mit den anatolischen, türkischen und kurdischen Aleviten zu verwechseln, die ebenso erst im 20. Jahrhundert zu dieser gleichbedeutenden (ʿAlevī ist die osmanisch-türkische Form von arabisch ʿAlawī) Sammelbezeichnung der »Anhänger ʿAlīs« gefunden haben. Analog zu den Aleviten schwanken die religionsgeschichtlichen Interpretationen ihrer Genese zwischen dem Fokus auf einem »übertriebenen« ʿAlī-Kult radikal-schiitischer Prägung oder der Interpretation als vorislamisches Survival, im Fall der Alawiten einer altsemitischen, syrisch-mesopotamischen Volksreligion bzw. einem Synkretismus beider (und vieler anderer) Elemente (iranisch, christlich, gnostisch).53 Als einzige der hier angesprochenen nicht-Scharia-orientierten Gruppen haben sie mit der Familie Assad in den letzten Jahrzehnten die Herrschaft in einem Staat, in Syrien, ausgeübt. Jüngere Forschungen sehen das 10. bis 12. Jahrhundert als Zeit ihrer Genese als Gruppe in den traditionellen Siedlungsgebieten, insbesondere dem syrischen Mittelmeerküstengebirge Ǧabal al-Anṣārīya (die Ġulāt-Vorgeschichte des namensgebenden Muḥammad Nuṣair an-Numairī liegt im Irak des 9. Jahrhunderts im Umfeld des zehnten und elften Imams der Schia); das 13. bis 15. Jahrhundert als Zeitalter ihrer Verfolgung als vom Islam Abgefallene (durch sunnitisch geführte Staaten, wie die Mamluken, unterstützt durch Theologen wie Ibn Taimīya, gest. 1328, aber auch durch die nun entwickelte zwölferschiitische Orthodoxie) und, quellenmäßig

51 Kehl-Bodrogi: Die Kızılbaş/Aleviten 64, 101–102. 52 Provinzen Hatay (bis 1938 bei Syrien) sowie Adana und Mersin. Zu beiden letzteren siehe Procházka-Eisl, Gisela/Procházka, Stephan: The Plain of Saints and Prophets: The NusayriAlawi Community of Cilicia (Southern Turkey) and Its Sacred Places, Wiesbaden 2010. 53 Bar-Asher, Meir M./Kofsky, Aryeh: The Nuṣayrī- ʿAlawī Religion: An Enquiry Into Its Theology and Liturgy. (Jerusalem Studies in Religion and Culture), Leiden 2002.

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besser belegt, das 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts als Zeitalter ihrer Integration (als steuerzahlende Untertanen) in das Osmanische Reich, wo die Alawiten ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis Anfang des 19. Jahrhunderts weitgehende Autonomie genossen, insbesondere als Steuerpächter.54 Es gab in osmanischer Zeit sogar nuṣairische Kadis, was ihre relativ starke Position, aber auch die Flexibilität osmanischer Politik (jedenfalls in der Peripherie) belegt. Im Zuge der osmanischen Reformen im 19. Jahrhundert wurde diese Autonomie jedoch eingeschränkt und soziale Diskriminierung durch die sunnitische Mehrheit nahm wieder zu, was auch ein Grund für Migrationsbewegungen in heute türkische Gebiete war. Dazu kam ein Misstrauen von osmanischer Seite, dass sie sich auf die Seite der europäischen Mächte schlagen könnten. Spätestens unter ʿAbdülḥamīd II. (reg. 1876–1909) kam es, wie auch gegenüber Yeziden und anatolischen Aleviten, zu gezielten Versuchen, ihren Glauben in Richtung auf die staatlich propagierte Sunna zu ›korrigieren‹, was offensichtlich nicht von Erfolg gekrönt war. Genauso wenig erfolgreich waren Bemühungen christlicher Missionare im 19. Jahrhundert um die Alawiten.55 Ihr Weiterbestand als distinkte Gruppe belegt, auf politischer Ebene, die Errichtung eines eigenen Staatsgebildes im Rahmen des Syrien-Mandates Frankreichs 1922/ 1923–1936, des sogenannten ›Alawitenstaates‹ (zeitweise unter den Namen État des Alaouites bzw. Daulat Ǧabal al-ʿAlawīyīn), mit eigenen Gerichtshöfen, allerdings mangels alawitischer Scharia und somit auch Rechtsgelehrter nach zwölferschiitischem Recht (ǧaʿfarī) und mit libanesisch-schiitischen Richtern. Mit französischer Hilfe konnten sie sich somit ihren sunnitischen Oberherren erfolgreich entziehen. 1937 wurde der Alawitenstaat allerdings wieder nach Syrien eingegliedert, was 1939 zu einem Aufstand unter Führung eines Laien, der sich als »Messias« und »lebendiger Gott« bezeichnete,56 führte, aus dem die Abspaltung der Muršidīya entstand.57 Noch mehr als alle anderen Gruppen gelten die Alawiten als besonders sekretiv und esoterisch hinsichtlich ihrer Glaubensvorstellungen und -praktiken,58 die bis heute von der Kaste der Scheiche (spiritual elite) kontrolliert werden. Die Eigenbezeichnung dieser Religionsspezialisten ist Ḫ āṣsạ (»die Speziellen«), allgemein auch als Scheiche bekannt, die der Laien ʿĀmma (die Gemeinen). Die Scheiche leiten die Laien in allen religiösen Angelegenheiten an; jeder Laie ist erblich mit einem Scheich verbunden. Frauen sind von den damit zusammenhängenden kollektiven

54 Winter, Stefan: A History of the ʿAlawis: From Medieval Aleppo to the Turkish Republic. Princeton, NJ-Oxford 2016, 74–118: »The ʿAlawis' integration into the Ottoman Empire (1516–1645)«, 119–160: »The age of autonomy: ʿAlawi notables as Ottoman tax farmers (1667–1808)«. 55 Alkan, Necati: Alawiten – Geschichte, Glaubenssystem und Situation in Deutschland, in: Klöcker, Michael/Tworuschka, Udo (Hrsg.): Handbuch der Religionen. Loseblattwerk. Hohenwarsleben IV – 1.2.4.3 (60. EL), 2019: [45 pp.], hier: 9. 56 Alkan: Alawiten 27–28. 57 Franke, Patrick: Göttliche Karriere eines syrischen Hirten: Sulaimān Muršid (1907–1946) und die Anfänge der Muršidiyya.(Islamkundliche Untersuchungen, 182), Berlin 1994. 58 Friedman, Yaron: The Nuṣayrī-ʿAlawīs: An Introduction to the Religion, History and Identity of the Leading Minority in Syria. (Islamic History and Civilization, 77), Leiden-Boston 2010.

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Ritualen und Initiationen ausgeschlossen, spielen aber eine wichtige Rolle in anderen Bereichen der Religionspraxis, insbesondere bei der Verehrung von Heiligen (meist historischen Scheichen) an Schreinen.59 Am zentralen Ritual (Quddās) nehmen nur initiierte Männer teil. Ähnlich wie die iranischen Yāresān/Ahl-e Ḥ aqq gibt es bei den Alawiten Vorstellungen von zyklischer Zeit, die mit der Abfolge von verschiedenen Zeitaltern kombiniert werden (bei den Alawiten sind es in der Regel sieben). Die Zeitalter werden durch jeweils eine »Trinität« von aus der vorderorientalischen Religionsgeschichte bekannten, z. T. historischen Figuren dominiert. In diesem Weltbild hat jede einzelne Figur der jeweiligen Trinität eine bestimmte Funktion: zum einen, dem Zeitalter den vordergründigen, aber die wahre Bedeutung verschleiernden Namen (ism / ḥiǧāb) zu geben; zweitens die eigentliche Bedeutung bzw. Essenz (maʿnā) des jeweiligen Zeitalters darzustellen; und drittens den Gläubigen als »Öffner« (bāb) des Zugangs zu dieser Essenz zu dienen. Das aktuelle, siebente Zeitalter beispielsweise wird durch Muḥammad als Ism-Ḥ iǧāb repräsentiert, aber die wahre Bedeutung des höherstehenden ʿAlī als »essenzieller Sinn« des Zeitalters (Maʿnā) durch den Bāb (w. das »Tor«) Salmān al-Fārisī »eröffnet«. Die Alawiten, die sich in Bezug auf ihren Glauben Muwaḥhị dūn (»Einheitsbekenner«) nennen, glauben, dass ihre ursprünglichen Seelen vor der Schöpfung der irdischen Welt Teil des göttlichen Lichts waren, aus dem auch ʿAlī hervorgegangen ist, der als Erlöser der Welt und als Erscheinung Gottes in einem menschlichen Scheinleib gilt.60 Nach Außen bekannte Glaubensvorstellungen sind die herausgehobene Bedeutung ʿAlī Ibn Abī Ṭālibs (zusammen mit Muḥammad Emanationen des »göttlichen Lichts«) sowie die Seelenwanderung (tanāsuḫ) und Wiedergeburt aller Gläubigen in sieben aufeinanderfolgenden Körpern.61 Alle (wahrhaft) Gläubigen enthalten noch einen Teil der göttlichen Lichtseele – diese kosmische Einheit von Gläubigen mit Gott ist der Sinn des Begriffes »Einheitsbekenner« (Muwaḥhị d) und nicht die orthodoxe Bedeutung »Monotheist«. Nach der Unabhängigkeit Syriens 1946 wurden ihre Sonderrechte, die sie mit dem unabhängigen Alawitenstaat bzw. ab 1937 als Teil Syriens hatten, wieder zurückgedrängt. Seit der Übernahme der Macht durch den Alawiten Ḥāfiẓ al-Assad, Vater des heutigen Präsidenten Bašār al-Assad, im Jahre 1970 erfuhren sie wieder eine höhere Repräsentanz im syrischen Staat, bedingt durch ihren im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung hohen Anteil im Militär (und analog in der arabisch nationalistischen Staatspartei Baath). Dieser hatte sich dadurch ergeben, dass sie sich, als ökonomisch

59 Alkan: Alawiten 29–31: Die kollektiven Rituale haben Parallelen zu denen der Aleviten und Yāresān mit Rahmung durch Tieropfer und gemeinsamen Mahl sowie dem Trinken von Wein. Die Schreine sind wichtige Orte für die einzelnen lokalen Alawiten-Gemeinschaften und haben in jüngerer Zeit insbesondere in der Türkei einen großen Aufschwung erlebt. 60 Bar-Asher, Meir M.: Noṣayris, in: Encyclopædia Iranica. Online edition. New York, NY 2003: http://www.iranicaonline.org/articles/nosayris. 61 Goldsmith, Leon T.: The Alawites of Syria: The Costs of Minority Rule, in: Rowe, Paul S. (Hrsg.): Routledge Handbook of Minorities in the Middle East. London 2019, 185–196, DOI https://doi.org/10.4324/9781315626031, hier 187.

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benachteiligte und marginalisierte Landbevölkerung, nicht vom Militärdienst loskaufen konnten. Die Machtübernahme durch die Familie hatte allerdings nicht zum Ende ihrer Diskriminierung durch die Mehrheitsbevölkerung geführt, nicht zuletzt, weil durch Urbanisierung Alawiten nun auch in größeren syrischen Städten siedelten. (Ihr städtisches Hauptzentrum Latakia ist die einzige Großstadt der islamischen Welt ohne sunnitisch oder zwölferschiitische Mehrheitsbevölkerung.)62 Durch die Allianz Syriens mit Iran und im Zuge einer gewissen äußerlichen Annäherung Ḥāfiẓ alAssads an den Mehrheitsislam kam es seitdem zu einer zunehmenden Zwölferschiitisierung unter dem Label »Ǧaʿfarī« – ein Vorgang, den schon 1952 alawitische Repräsentanten mit einer Anfrage beim Mufti Syriens angestoßen hatten, nämlich als Zwölferschiiten anerkannt zu werden (was 1958 von der Azhar-Universität in Kairo bestätigt wurde). Schon zuvor, seit der Zwischenkriegszeit, gab es Annäherungen von sunnitischer Seite (im Sinne einer Anerkennung als vollwertige Muslime), motiviert durch die panarabische Ideologie, waren die Alawiten doch unzweifelhaft sprachlich Araber. Aufgrund der Attraktivität als gesellschaftliches Integrations- und Emanzipationsinstrument unterstützten Alawiten im 20. Jahrhundert (nationalistisch) sozialistische Parteien, wie die Baath, und zum Teil auch die kommunistische.63 Dieses Muster findet sich generell bei religiös-konfessionellen Minderheiten in der Region, wie insbesondere auch bei den türkischen Aleviten, aber auch bei Christen, Mandäern und anderen. Gleichzeitig haben die alawitischen Scheiche im unabhängigen Syrien zunehmend damit begonnen, die alawitische Konfession (als eigene Strömung innerhalb des Islams, die die Regeln der Scharia allegorisch-esoterisch auslegt) offen nach außen hin zu vertreten, wenn auch nicht zu propagieren.64 Wie bei vielen innerislamischen Minderheiten wurde diese Spezialistenkaste in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der jüngeren Generation im sozialrevolutionären Sinne als »Ausbeuter« oder im pan-islamischen Sinne als Verfälscher einer »wahren Zwölferschia« angegriffen.65 Aufgrund der schwierigen Situation für Alawiten seit Beginn des Syrien-Krieges, da sie sich einerseits gegen die Bedrohung durch dschihadistische Gruppen zur Wehr setzen müssen, die sie, Ibn Taimīya folgend, als vom Islam Abgefallene ansehen, andererseits aber mit dem Regime identifiziert werden, gab es nur zaghafte Versuche, sich unabhängig als »dritten Weg im Islam« (neben Sunna und Schia) zu präsentieren.66 Die alawitische Diaspora setzt sich neben seit dem 19. Jahrhundert in Nord- und Südamerika existierenden Auswanderergruppen aus Arbeitsmigranten in Europa, v. a. in Deutschland, und in Saudi-Arabien und anderen arabischen Staaten zusammen, die erst ab den 1960er-Jahren entstanden. In Deutschland schätzt man eine 62 Goldsmith: The Alawites of Syria 188. 63 Goldsmith: The Alawites of Syria 189. 64 Firro, Kais M.: The ʿAlawīs in Modern Syria: From Nuṣayriyya to Islam via ʿAlawīya, in: Der Islam 82 (2005), 1–31. Vgl. auch: Mervin, Sabrina: ʿAlawīs, Contemporary Developments, in: Encyclopaedia of Islam, THREE. Hrsg.: Kate Fleet, Kate u. a., Leiden 2010: http://dx.doi.org/ 10.1163/1573–3912_ei3_COM_22953. 65 Alkan: Alawiten 17. 66 Goldsmith: The Alawites of Syria 190–192.

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alawitische Bevölkerung von ca. 70 000 mit Schwerpunkt in Aalen. Es existieren einige Vereine und transnationale Vernetzung in die Herkunftsregionen in der Türkei und der Levante. Der Grad an Organisation und Öffnung ist allerdings in keiner Weise so weit fortgeschritten wie bei den anatolischen Aleviten, zumal das Endogamiegebot und die inneralawitischen Heiratsregeln, nicht zuletzt wegen des Wiedergeburtsglaubens, noch strikter befolgt werden. Dennoch ist ein hoher Integrationsgrad in die deutsche Gesellschaft zu beobachten.67

Drusen Ähnlich wie die Nuṣairī / ʿAlawī gehen die heutigen Drusen auf eine Bewegung zurück, die von einem Zentrum islamischer Macht, dem fatimidischen Kairo vom Anfang des 11. Jahrhunderts, in eine periphere Region, die Berge des Libanons, ausstrahlte und dort zu einer Gruppenbildung unter revoltierenden Bergbauern führte. Namensgebend wurde eine Person namens Naštakīn ad-Darazī (davon adDarazīya oder ad-Durzīya), der die Göttlichkeit des auf ungeklärte Weise verschwundenen, sechsten fatimidisch-ismailitischen Kalifen und Imams al-Manṣūr al-Ḥ ākim bi-Amri’llāh (996–1021) propagierte. Obwohl ismailitischen Imamen größere Nähe zur Göttlichkeit als normalen Sterblichen zuerkannt wird (so in der »Auslegung der inneren Wahrheit« des Korans, Taʾwīl), war dies doch eine Überschreitung geltender ismailitischer Lehre. Führend bei der Konsolidierung drusischer Lehre jenseits von Sunna und ismailitischer Schia war Ḥamza Ibn ʿAlī aus Sūzan in Iran, wie auch adDarazī nicht-arabischer Herkunft. Die Drusen wurden in der Region rund um das Hermon-Bergmassiv (Ǧabal ašŠaiḫ) zu einer geschlossenen Gemeinschaft mit oftmals beträchtlicher militärischer Macht und mit strengen Endogamieregeln und Geheimhaltung ihrer »Weisheit« (Ḥ ikma), wenn auch die Kastengrenzen zwischen voll initiierten »Verständigen« (ʿUqqāl, Sing. ʿĀqil), der »spirituellen Elite«, und »Unwissenden« (Ǧuhhāl, Sing. Ǧāhil), den »Laien«, nicht so unüberwindlich sind, wie z. B. bei den Yeziden. Dennoch liegt die Funktion des religiösen Spezialisten in der Hand einiger Scheich-Familien, und die Führung bestimmter Laiengruppen wird über Generationen vererbt. Es existiert eine gewisse formalisierte, auch schriftbasierte Ausbildung zum ScheichAmt in speziellen Bildungseinrichtungen. Manche Scharia-islamische Vorschriften und Praktiken werden angewandt (im Außenkontakt z. B. Anerkennung hanafitischer Rechtsprechung, Begräbnis mit gemeinislamischen Formeln, oftmals Knabenbeschneidung, das Opferfest ʿĪd al-aḍhạ̄ ), manche nicht praktiziert (Hadsch, Ramadan-Fasten). Zentral ist aber die Rolle der Scheiche bei den meisten religiösen Ritualen und die Einhaltung von sieben moralisch-spirituellen Prinzipien, darunter die »Einheit Gottes« (tauḥīd).68 Ihre Geschichte, insbesondere in osmanischer und 67 Alkan: Alawiten 32–36. 68 Hodgson, Marshall Goodwin Simms/Tekindaǧ, M. C. Şehabeddin/Gökbilgin, M. Tayyib: Durūz, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Online Edition. Leiden 2012: http:// dx.doi.org/10.1163/1573-3912_islam_COM_0198.

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nach-osmanischer Zeit, ist aufgrund ihrer starken militärischen Stellung als autonome Regionalmacht sehr gut erforscht.69 Dies gilt insbesondere für die Drusen des heutigen Libanons, da sie dort einen signifikanten Bevölkerungsanteil stellen, weniger für die im heutigen Israel und Syrien siedelnden kleineren Teile der Gemeinschaft. Durch die Beachtung ihres arabischen Schriftenkanons vonseiten arabistischer Forschung sind sie eine der am frühesten wissenschaftlich bearbeiteten Gruppen unter den hier angesprochenen Traditionen.70 Wie die Alawiten bezeichnen sie sich auch als Muwaḥhị dūn und ihre Lehre entsprechend als at-tauḥīd (»Einheitsbekenntnis«). Die Gottwerdung in Menschengestalt (nāsūt) wird als Spiegel Gottes (weniger als Inkarnation) verstanden, da die Menschen auf andere Weise nicht in der Lage wären, die Essenz Gottes (lāhūt) zu erkennen – ein Konzept, das auch allgemein in der islamischen Mystik bekannt ist. Auch die Drusen kennen die Vorstellung der Wanderung der menschlichen Seelen. Schiitische wie sunnitische Häresiografen klassifizierten sie somit als Ġulāt (»Übertreiber«) bzw. Bāt ̣inī (»Esoteriker«), aber somit trotz allem als Muslime, was der drusischen Lehre der Überwindung aller vorangegangenen Religionen durch das Drusentum widerspricht.71 In jedem Fall kam es in der Neuzeit – unter osmanischer Herrschaft –nur in Zeiten der Rebellion zu Verfolgungen, lebten die Drusen, bis zum Einbruch der Moderne, doch weitgehend autonom, durch strikte Endogamie-, Verwandtschaftsund Gruppenregeln nach Außen abgeschlossen sowie nach Innen gefestigt und durch ihre militärische Macht meist geschützt in ruralen Bergregionen ohne größere städtische Zentren. Zurzeit schätzt man die drusische Gesamtbevölkerung auf etwa eine Million (mit Schwerpunkt in Syrien – ca. 700 000, d. h. drei Prozent der Gesamtbevölkerung – im Libanon und in Israel mit einer jungen Minderheit in Jordanien und Diaspora-Gruppen in Nord- und Südamerika, Australien und WestAfrika). Von Bedeutung ist bis heute, neben der Unterteilung in »Wissende« und »Unwissende«, die tribal-klientelistische Segmentierung der drusischen Gesellschaft in mehrere Großclans. Nach den Doktrinen, schon in den frühen Schriften aus dem 11. Jahrhundert, sind Männer und Frauen religiös gleichgestellt bis hin zum Zugang zu den höchsten religiösen Ämtern; allerdings hatte die vormoderne drusische Gesellschaft, wie alle Kulturen der Region, ein patrilineares Verwandtschaftssystem mit der daraus resultierenden patriarchalen Ordnung.72

69 Firro, Kais M.: A History of the Druzes. (Handbuch der Orientalistik. Erste Abt.: Der Nahe und der Mittlere Osten, Erg.-bd. 9), Leiden-New York-Köln 1992. 70 de Sacy, Silvestre/Antoine-Isaac: Exposé de la religion des Druzes, tire´ des livres religieux de cette secte, et précédé d'une introduction et de la vie du khalife Hakem-Biamr-Allah. 2 Teilbd. Paris 1838 [Teilübersetzung: Wolff, Philipp: Die Drusen und ihre Vorläufer. Leipzig 1845, Volltext: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10446133-5]. 71 Hazran, Yusri: Particularism Versus Integration: The Druze Communities in the Modern Middle East, in: Rowe, Paul S. (Hrsg.): Routledge Handbook of Minorities in the Middle East. London 2019, 197–211, DOI https://doi.org/10.4324/9781315626031, hier 197, 199. 72 Hazran: Particularism Versus Integration 199–200.

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Im 20. Jahrhundert engagierten sich Drusen, wie viele religiöse Minderheiten der Region, in revolutionär-(arabisch-)nationalistisch säkularen Bewegungen, nicht zuletzt auch um ihre prekäre Lage als religiöse Minderheit innerhalb einer sunnitischislamischen Mehrheit zu verbessern. Dies war notwendig, da ihre Autonomie mit dem Ende des Osmanischen Reiches (die im syrischen Ǧabal ad-Durūz schon in spätosmanischer Zeit beseitigt worden war) im Rahmen neu entstehender Nationalstaaten nicht mehr haltbar war. Dabei betonten sie ihre Zugehörigkeit zur arabischen Nation. Im Libanon kam es schon zuvor zu christlich-drusischen Allianzen, insbesondere mit der führenden Gruppe der Maroniten, und die Drusen wurden in das konfessionelle Staatssystem als eigenständige Gruppe integriert, was das panarabische Engagement schwächte. Sozialistische Positionen fungierten als Opposition zum libanesischen, stark durch Patron-Klient-Beziehungen bestimmten Konfessionalismus. In Syrien traten manche Drusen in die Baath-Partei ein und vertraten panarabische und zuweilen auch pan-islamische Positionen, was eine Argumentation zur Folge hatte, die das Drusentum als spezielle Form des Islams darstellte. Das Verhältnis der libanesischen Drusen zu Syrien ist ambivalent (Verdacht der Ermordung des Drusenführers Kamāl Ǧanbulāṭ/Dschumblat durch den syrischen Geheimdienst 1977; ab 1983 Unterstützung drusischer Milizen durch Syrien), obwohl die syrischen Drusen ihren Einfluss auch in der syrischen Staatspartei seit den 1960er Jahren überproportional ausbauen konnten, wenn auch nicht in dem Maße wie die Alawiten. Entsprechend bedroht sind sie dort seit dem Ausbruch des Syrienkrieges durch dschihadistische Kräfte (z. B. Massaker durch Ǧabhat an-Nuṣra 2015), die sich aus der sunnitischen Mehrheit des Landes rekrutieren und die »Herrschaft der Minderheiten« beenden wollen.73 Einen Sonderfall stellt die drusische Gemeinschaft in Israel dar. Die Minderheit im historischen Palästina hatte sich 1948 zunächst neutral verhalten; ihre Angehörigen wurden aber seit 1956, zum Teil auf Wunsch einiger drusischer Notabeln, in die israelische Armee rekrutiert. Im gleichen Jahr wurden sie zunächst als religiöse Minderheit außerhalb des Islams und dann auch als eigenständige ethnische Gemeinschaft anerkannt. Die Eigenständigkeit wird durch den Schrein des koranischen Propheten Šuʿaib (identifiziert mit Jitro/Jetro), der für offizielle Staatszeremonien in Zusammenhang mit der drusischen Minderheit genutzt wird, unterstrichen. Betont wird dabei eine historische Allianz von Drusen und Juden, die mit der biblischen Geschichte der Vermählung Moses mit der Tochter Jitros, des Midianiters, legitimiert wird. Die Midianiter gelten dabei als die Vorfahren der heutigen Drusen, das Drusentum damit als älter als der (und damit separat vom) Islam. Entsprechend rechtfertigt sich die starke Rolle von Drusen im israelischen Militär, auch angesichts der in Libanon und in Syrien deutlichen Bedrohung durch dschihadistische Islamisten. Allerdings sind dort die Positionen nicht klar verteilt: manche religiösen Führer in Syrien sind weiterhin loyal zum Regime, manche in Opposition wie auch der libanesisch-drusische Politiker Walīd Ǧanbulāṭ/Dschumblat, Sohn von Kamāl Ǧanbulāṭ, der gegen das syrische Regime agiert und offenbar 73 Hazran: Particularism Versus Integration 200–204.

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Beziehungen mit Saudi-Arabien unterhält. Es gibt also auch keine einheitlich drusische Meinung zur Frage, ob das Drusentum als eigenständige Religion oder als islamische Konfession betrachtet werden sollte.74 Vertreter letzterer Meinung rekurrieren übrigens kaum auf das fatimidisch-ismailitische Erbe, sondern betonen die esoterischen Elemente des Drusentums, die mit der islamischen Mystik (taṣawwuf) in Verbindung stünden.

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Gruppen aus iranisch/türkischen Kontexten

Aleviten Das heutige Alevitentum geht auf verschiedene sufische und islamisch-mystisch oder anderweitig charismatisch-religiös beeinflusste sozialrevolutionäre Bewegungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit zurück. Dabei kam es, wie auch schon früher bei Alawiten und Drusen, zu einer Integration ruraler und tribaler (nomadischer oder halbnomadischer) Bevölkerungsgruppen in Nordwestiran, Nordmesopotamien, Anatolien und dem osmanischen Südosteuropa. Gemeinsam war diesen religionsgeschichtlich heterogenen und regional in Kultur, Sprache und Wirtschaftsweise unterschiedlich ausdifferenzierten Bevölkerungen eine ausgeprägte, vom 14. bis zum 17. Jahrhundert in der Region auch bei Sunniten verbreitete Verehrung der Ahl alBait, türk. Ehlibeyt (›Leute des [prophetischen] Hauses‹), also der Familie Muḥammads und ihrer Abkömmlinge über seine Enkel Ḥ asan und Ḥ usain (z. B. der Zwölf Imame).75 Auf Basis dieses ›Ehlibeytismus‹ und z. T. schon in abbasidischer bzw. seldschukischer Zeit etablierter Sufi-Derwisch-Netzwerke kam im 14. Jahrhundert die (über die religiöse Dichtung der Zeit) zunehmend klarer artikulierte ›radikalschiitische‹ (Ġulāt), vom Safawidenorden unter den ihm verbundenen turkmenischen und kurdischen Stämmen propagierte ›Kızılbaş-Religion‹ eines nicht-Scharia-zentrierten Islams zum Tragen – ein wesentlicher Grundstock des heutigen Alevitentums. Mit zunehmender Integration der Siedlungsgebiete der Kızılbaş / Proto-Aleviten in das Osmanische Reich kam es, nach anfänglichen Verfolgungen als Anhänger des safawidischen Erzfeindes in Iran, allmählich zu einem Verhältnis der stillschweigenden Duldung durch den osmanischen Staat, wobei manche Stammesgruppen sogar fiskalisch als Funktionsgruppen aktiv eingebunden wurden, ohne dass ihre Religiosität zum Thema wurde (so am prominentesten die als Wald- und Holzarbeiter tätigen turkmenisch-alevitischen Tahtacı). Über den von den Osmanen geförderten Bektaschi-Orden und mittels der Verehrung der mittelalterlichen Heiligenfigur des Hacı

74 Hazran: Particularism Versus Integration 204–207. 75 Siehe: Weineck, Benjamin: Schiiten, Aleviten und Ehlibeyt-Islam: Grenzziehung und Artikulation im Kontext schiitisch-alevitischer Gegenwartskulturen in Deutschland und der Türkei, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft: Fachzeitschrift der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft (DVRW) 27 [1] (2019), 125–145, hier 127 mit Fn 3 zu »Ahl al-baytism« mit weiterführender Literatur.

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Bektaş-i Veli (Ḥ āccī Bektaş-i Velī)76 kam es in der Neuzeit zur Integration weiterer non-konformistisch islamischer Gruppen in Westanatolien und auf der Balkanhalbinsel und zu einer quietistischen Religionsausübung durch die vormals kämpferischen »Ketzer«. Auch hier spielte die religiöse Abweichung, bis auf Phasen von Aufständen, Rebellionen oder gezielter Denunziationen, über weite Strecken keine Rolle, zumindest wenn man nach den osmanischen Verwaltungsakten und Urkunden urteilt, die neben historiografischer und hagiografischer Literatur (einschließlich Familienstammbäume) die einzigen zeitgenössischen Quellen darstellen.77 Bis zur Ausdifferenzierung sunnitischer Religiosität auch in abgelegeneren Gebieten des osmanischen Anatoliens kann man wohl von einem über Konfessionsgrenzen geteilten Repertoire ausgehen, wie es heute noch im Bereich der Heiligenverehrung und lokaler, volksreligiöser Praktiken vorzufinden ist.78 Dennoch gibt es über den im Türkischen als abwertend aufgefassten Begriff »Kızılbaş« (»Ketzer«, »unmoralische Person«) eine bis in die heutige türkische Gesellschaft anhaltende Diskriminierung von Aleviten.79 Die Genese des Alevitentums als moderne Religionstradition ist stark mitbestimmt durch die Entwicklung des türkischen Nationalismus und der durch seine Ideologen und Anhänger vertretenen Geschichtsinterpretationen (beispielsweise Aleviten als Bewahrer zentralasiatischer, »urtürkischer« Religion).80 Neben den zwölferschiitisch geprägten Inhalten (Verehrung der Ehlibeyt und der Zwölf Imame) und spezifischer religiöser Praxis (Kongregationsritual Cemʿ) ist ein zentrales, aus der Vormoderne erhaltenes Charakteristikum alevitischer Gemeinschaften81 die (kastenartige) Einteilung der Gruppe in eine »spirituelle Elite, die auf »heilige Lineages« (Ocaḳ) hin ausgerichtet ist (Ocaḳzāde und Dede), und die »Laien« (Ṭālib), die durch erstere in generationenübergreifender Kontinuität spirituell (in der Vormoderne auch juristisch) betreut werden.82

76 Siehe: Mélikoff, Irène: Hadji Bektach: Un Mythe et ses avatars. Genèse et évolution du soufisme populaire en Turquie. (Islamic History and Civilization: Studies and Texts, 20), Leiden-Boston-Köln 1998. 77 Siehe: Weineck, Benjamin: Zwischen Verfolgung und Eingliederung: Kızılbaş-Aleviten im osmanischen Staat, 16.–18. Jahrhundert. (Kultur, Recht und Politik in muslimischen Gesellschaften, 42), Baden-Baden 2020. 78 Zur konventionellen Interpretation des Alevitentums als Teil des anatolischen ›Volksislams‹ (im Gegensatz zum städtischen ›Hochislam‹) siehe: Ocak, Ahmet Yaşar: Islam in the Ottoman Empire: A Sociological Framework for a New Interpretation, in: International Journal of Turkish Studies 9 (2003), 183–197. 79 Vgl. Karolewski, Janina: What is Heterodox About Alevism?: The Development of AntiAlevi Discrimination and Resentment, in: Die Welt des Islams 48 [3–4] (2008), 434–456. 80 Dreßler, Markus: Alevīs. in: Krämer, Gudrun u. a. (Hrsg.): Encyclopaedia of Islam, THREE. Leiden 2008: http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_ei3_COM_0167. 81 Für eine umfassende ethnografische Darstellung siehe Shankland, David: The Alevis in Turkey: The Emergence of a Secular Islamic Tradition. London-New York 2003. 82 Langer, Robert/Ağuiçenoğlu, Hüseyin/Karolewski, Janina (Hrsg.): Ocak und Dedelik: Institutionen religiösen Spezialistentums bei den Aleviten. (Heidelberger Studien zur Geschichte und Kultur des modernen Vorderen Orients, 36), Frankfurt am Main u. a. 2013.

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Die Aleviten sind durch die Migrationsbewegungen innerhalb der Türkei und nach Europa inzwischen zu einer in der Mehrheit städtischen Bevölkerung geworden (bei ca. 10 bis 15 Prozent Anteil an der türkischen Gesamtbevölkerung) und außerhalb der Türkei am stärksten in Deutschland (mit mindestens einer halben Million) vertreten.83 Die Diskussion um für Lehre und Geschichte des Alevitentums relevante Texte und Quellen hat erst in den letzten Jahren begonnen.84 Ihre Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert wird in diesem Werk in Band I ausführlich dargestellt.85

Schabak Eine den anatolischen Aleviten in Lehre und Praxis sehr nahe Gruppe bilden die Schabak (Šabak / Şebek).86 Sie siedelten bis in das 20. Jahrhundert fast ausschließlich in 35 Dörfern östlich von Mosul im nördlichen Irak. Ihre Zahl im irakischen Zensus von 1960 betrug 15 000, verschiedene Schätzungen nennen 90 000 bis 550 000. Über die religiös verwandten und sprachlich derselben Gruppe (Gūrānī / Hauramī / Hewramî) angehörigen Bāǧwān bzw. Bāǧalān, die im Gegensatz zu den Schabak tribal organisiert sind, ist wenig bekannt. Die ebenfalls Gūrānī sprechenden Ṣārlī und Kākāʾī in der Region gehören zum weiteren Feld der Ahl-e Ḥ aqq, deren Mehrzahl in Iran siedelt, obwohl die religiösen Grenzen, insbesondere zu den Ṣārlī, diffus sind. Schabak können entsprechend Heiratsbeziehungen zu allen diesen Gruppen sowie zu (zwölfer)schiitischen Turkmenen eingehen. Ab den 1970er Jahren bis Ende der 1980er Jahre versuchte das irakische Baath-Regime sie, wie andere als Kurden angesehene Gemeinschaften, zu arabisieren. Zwanzig ihrer Dörfer wurden durch irakische Militäroperationen gegen kurdische Bevölkerungen 1988 zerstört und die Einwohner umgesiedelt. Ihre Muttersprache (»Šabakī«) ist ein Dialekt des Gūrānī (verwandt mit dem anatolischen Zazaki, ethnopolitisch ebenso als »Kurdisch« klassifiziert), aber die

83 Vgl. Sökefeld, Martin: Struggling for Recognition: The Alevi Movement in Germany and in Transnational Space, Oxford-New York 2004; ders. (Hrsg.): Aleviten in Deutschland: Identitätsprozesse einer Religionsgemeinschaft in der Diaspora. Bielefeld 2008. 84 Als Überblick siehe Weineck, Benjamin/Zimmermann, Johannes (Hrsg.): Alevism Between Standardisation and Plurality: Negotiating Texts, Sources and Cultural Heritage. (Geschichte und Kultur des modernen Vorderen Orients: Heidelberger Studien = History and Culture of the Modern Near and Middle East: Heidelberg Studies, 40). Berlin 2018. 85 Vgl. auch Langer, Robert: Aleviten, in: Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht (LKRR), hrsg. von Hallermann, Heribert u. a., Paderborn 2019, 79a–81b; online: BrillOnline Reference Works. Leiden: Koninklijke Brill NV, 2020