Interpretieren nach den »turns«: Literaturtheoretische Revisionen [1. Aufl.] 9783839425145

Since the 1990s, various »turns« have chased each other around literary criticism. Thus, the »cultural turn«, »performat

163 63 2MB

German Pages 246 Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Interpretieren nach den »turns«: Literaturtheoretische Revisionen [1. Aufl.]
 9783839425145

Table of contents :
Inhalt
Interpretieren nach den turns. Zur Einleitung
Kulturwissenschaften. Zum Phänomen der turns in den Methoden der Literaturwissenschaft. Am Beispiel von Kafkas Betrachtung
Konstellationen – Kulturwissenschaftliches Lesen
Kultur am Text. Wie lässt sich theoretisch interpretieren?
»Ich schreibe Schiller einen Liebesbrief« Interpretation als Liebe
Kritik der imaginären Vernunft. Jacques Lacans docta ignorantia
Return2babel. Das Ausstellen der Schrift und die Dekonstruktion der monolingualen Norm im gegenwärtigen Literaturschaffen
Zurück in die Zukunft? Die Literaturwissenschaft und ihr ›Material‹
Peter Szondis Vision einer literarischen Hermeneutik. Ein systematisierender Kommentar zu Szondis »Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik«
»Dumme Semantik« oder: Wie klug muss eine Metasprache sein? Ein Stimmungs-Bild
Strong readings, Paranoia und Kittlers Habilitationsverfahren. Prolegomena einer Fallstudie
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Claudia Liebrand, Rainer J. Kaus (Hg.) Interpretieren nach den »turns«

Lettre

2014-07-03 13-30-44 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d8370804103084|(S.

1-

4) TIT2514.p 370804103092

2014-07-03 13-30-44 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d8370804103084|(S.

1-

4) TIT2514.p 370804103092

Claudia Liebrand, Rainer J. Kaus (Hg.)

Interpretieren nach den »turns« Literaturtheoretische Revisionen

2014-07-03 13-30-44 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d8370804103084|(S.

1-

4) TIT2514.p 370804103092

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Ulrike Kersting Umschlagabbildung: Immo Schiller, Fotolia.com (http://de.fotolia.com/id/756126) Lektorat & Satz: Claudia Liebrand, Rainer J. Kaus Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2514-1 PDF-ISBN 978-3-8394-2514-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-07-03 13-30-44 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d8370804103084|(S.

1-

4) TIT2514.p 370804103092

Inhalt

Interpretieren nach den turns Zur Einleitung

Claudia Liebrand / Rainer J. Kaus | 7 Kulturwissenschaften Zum Phänomen der turns in den Methoden der Literaturwissenschaft. Am Beispiel von Kafkas Betrachtung

Gerhard Neumann | 15 Konstellationen – Kulturwissenschaftliches Lesen

Franziska Schößler | 37 Kultur am Text Wie lässt sich theoretisch interpretieren?

Anja Gerigk | 53 »Ich schreibe Schiller einen Liebesbrief« Interpretation als Liebe

Irmtraud Hnilica | 73 Kritik der imaginären Vernunft Jacques Lacans docta ignorantia

Achim Geisenhanslüke | 95 Return2babel Das Ausstellen der Schrift und die Dekonstruktion der monolingualen Norm im gegenwärtigen Literaturschaffen

Esther Kilchmann | 113 Zurück in die Zukunft? Die Literaturwissenschaft und ihr ›Material‹

Thomas Wortmann | 139 Peter Szondis Vision einer literarischen Hermeneutik Ein systematisierender Kommentar zu Szondis »Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik«

Rainer J. Kaus | 169

»Dumme Semantik« oder: Wie klug muss eine Metasprache sein? Ein Stimmungs-Bild

Stefan Börnchen | 195 Strong readings, Paranoia und Kittlers Habilitationsverfahren Prolegomena einer Fallstudie

Claudia Liebrand | 217

Autorinnen und Autoren | 239

Interpretieren nach den turns Zur Einleitung

Geht man davon aus, dass Interpretieren – wie auch immer dieses ›Interpretieren‹ modelliert wird – das Kerngeschäft der Literaturwissenschaft ist, dann erscheint eine gelegentliche Selbstvergewisserung darüber sinnvoll, was Literaturwissenschaftler tun, wenn sie, nach den turns der letzten Jahrzehnte, Texte interpretieren. Wie erkenntnisfördernd waren diese turns: der cultural turn, der performative turn, der spatial turn, der iconic turn, der emotional turn, der postcolonial turn, der translational turn, der cognitive turn, der aural turn, der philological turn, der material turn – um nur einige zu nennen? Wie veränderten sie interpretatorische Verfahren? Zeigt die große Anzahl an turns, wie schnell jeweils neue Trends sich erschöpfen und ersetzt werden müssen? Oder können wir das Feuerwerk an Trends als Nachweis des kreativen und innovativen Potenzials unseres Fachs und seiner Vertreter nehmen? Ist ein eher kritisch gefärbter Blick auf die schnelle Abfolge interpretatorischer ›Moden‹ zu werfen (jeder neu aufgestellte SFB, jede Forschergruppe, jede Graduiertenschule sucht schließlich nach einem Alleinstellungsmerkmal, mit dem sie sich abgrenzen kann)? Manche der turns scheinen Schaukelbewegungen nachzustellen: Wie ist es beispielsweise mit dem philological turn, der in der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts als Reaktion auf den cultural turn der 90er Jahre ausgerufen wurde, bestellt? Vollzieht dieser philological turn die Rückkehr der Literaturwissenschaft an genau den Punkt, von dem aus in den 90er Jahren gerade die Notwendigkeit einer kulturwissenschaftlichen Erneuerung formuliert wurde? Zu fragen ist auch, ob es sinnvoll ist, zwischen großen Paradigmenwechseln (als ein solcher wäre wohl der cultural turn einzuschätzen) und kleineren ›Moden‹ zu unterscheiden. Noch offen scheint, ob die turns den ›Zerfall‹ der Germanistik in immer kleinere Quasi-Teildisziplinen vorantreiben oder ob die turns dem Fach im Gegenteil Brückenschläge anbieten, Integrationsvorschläge machen. Welche neuen Paradigmen haben sich nicht bereits verschlissen, sondern

8 | C LAUDIA LIEBRAND / R AINER J. K AUS

optimieren aus heutiger Sicht Verstehensprozesse? Gibt es ›alte‹ Paradigmen, deren Renaissance notwendig erscheint? Sicher ist ein Blick darauf nötig, auf welche tools, auf welchen ›Werkzeugkasten‹ wir bei unserer Interpretations-,1 Lektüre-, Verstehensarbeit zurückgreifen. Wie hat sich das literaturwissenschaftliche Geschäft des Interpretierens, des ›Verstehens‹ von Texten durch die turns der letzten Jahrzehnte verändert? Und wie beurteilen wir überhaupt die Qualität von Interpretationen, von Lektüren? Kriterienkataloge, die sich finden, listen beispielsweise Folgendes auf: »Wahrheit, Plausibilität, Wahrscheinlichkeit, Interessantheit, Wichtigkeit, Fruchtbarkeit, Neuheit, Kohärenz, Maximierung ästhetischer Bildung oder ästhetischer Wertschätzung, Anschlussfähigkeit an Theorien und Forschungsgeschichte oder für zukünftige Interpretationen«.2 In diesem zitierten Katalog verbirgt sich eine gehörige Menge an Sprengstoff: Stehen – nur auf ein Problem sei verwiesen – Plausibilität und Interessantheit in einem antiproportionalen Verhältnis? Sinkt bei steigender »Interessantheit« die »Plausibilität«? Welche Interpretationskonflikte ergeben sich je nach den Kriterien für eine ›gute‹ Interpretation, die man ansetzt? Wie lassen sich diese Konflikte fruchtbar machen? Seit es Literaturwissenschaft als Disziplin gibt, interpretieren diejenigen, die mit dieser Disziplin befasst sind, Texte. Bei dieser Interpretation (lat.: interpretatio = »Auslegung«, »Übersetzung«, »Erklärung«) geht es immer – irgendwie – um »Verstehen«. Was aber ein solches Verstehen genau bedeutet, darüber gibt es keinen Konsens. Manche Philologen operieren, gewissermaßen nach dem Vorbild Sigmund Freuds, als Detektive, die sich um das Verstehen klandestiner Zusammenhänge bemühen. So hat Freud, der Gründervater der Psychoanalyse (auch einer Verstehenskunst), immer wieder darauf verwiesen, dass es seine Strategie sei, »aus geringgeschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub – dem ›refuse‹ – der Beobachtung, Geheimes und Verborgenes zu

1

Der Begriff der Interpretation sei nicht eng gefasst. Wenn man sich die Verwendung des Terminus seit den frühen 90er Jahren anschaut (und die Interpretationen, die vorgelegt werden), wird von denen, die interpretieren, zunehmend auf Partikularität (statt auf Rekonstruktion eines Sinnhorizonts) gesetzt. Vielleicht lässt sich folgende Unterscheidung treffen: ›Interpretationen‹ sind tendenziell holistischer angelegt als

›Lek-

türen‹, die tendenziell dezidierter theoriegeleitet sind. 2

[Unbek. Verf.]: Literatur interpretieren: begriffliche, evaluative und fachkulturelle Aspekte. Tagung des Promotionskollegs »Theorie und Methodologie der Textwissenschaften und ihre Geschichte (TMTG)« der Universitäten Göttingen und Osnabrück vom 07. bis 09.03.2013: http://www.textwissenschaften.de/tagung.htm vom 21. Februar 2013.

Z UR E INLEITUNG | 9

erfahren«.3 Nicht nur Scharfsinn, geradezu ein Übermaß an Scharfsinn zeichnet psychoanalytische Argumentationen aus: »Gegen die Psychoanalyse erhebt sich […] der Vorwurf, daß sie einfache Verhältnisse in spitzfindiger Weise kompliziert, Geheimnisse und Probleme dort sieht, wo sie nicht existieren, und daß sie dies bewerkstelligt, indem sie kleine und nebensächliche Züge, wie man sie überall finden kann, übermäßig betont und zu Trägern der weitgehendsten und fremdartigsten Schlüsse erhebt. Vergeblich würden wir dagegen geltend machen, daß durch diese Abweisung so viele schlagende Analogien aufgehoben und feine Zusammenhänge zerrissen werden, die wir in diesem Falle aufzeigen können. Die Gegner werden sagen, diese Analogien und Zusammenhänge bestehen eben nicht, sondern werden von uns mit überflüssigem Scharfsinn in den Fall hineingetragen.«4

Der Vorwurf des ›überflüssigen Scharfsinns‹ und der ›Überinterpretation‹ wird nicht nur Psychoanalytikern, sondern auch Philologen gern gemacht. Jonathan Culler ist diesem Vorwurf offensiv begegnet. In seinem gegen Umberto Ecos Interpretationskonzept gerichteten Plädoyer »In Defence of Overinterpretation« schreibt Culler: »Interpretation itself needs no defence; it is with us always, but like most intellectual activities, interpretation is interesting only when it is extreme. Moderate interpretation, which articulates a consensus […], is of little interest. […] It would be sad indeed if fear of ›overinterpretation‹ should lead us to avoid or repress the state of wonder at the play of texts and interpretation, which seems to me all too rare today […].«5

Andere Philologen fokussieren nicht ›abwegige Details‹ und ›setzen‹ auf forcierte Lektüren, sondern verfolgen ein eher holistisches Konzept von Interpretation – auch wenn sie den Vollzug des Text-Verstehens nicht mehr als »Verschmel-

3

Sigmund Freud: »Der Moses des Michelangelo«, in: ders.: Studienausgabe, Bd. X: Bildende Kunst und Literatur, hg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Frankfurt/Main 1969, S. 195-222, hier S. 207f.

4

Sigmund Freud: »Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. XIII: Jenseits des Lustprinzips. Massenpsychologie und IchAnalyse. Das Ich und das Es, hg. von Anna Freud u.a., Frankfurt/Main 1999, S. 315353, hier S. 328f.

5

Jonathan Culler: »In defence of overinterpretation«, in: Umberto Eco u.a.: Interpretation and Overinterpretation, hg. von Stefan Collini, Cambridge u.a. 1992, S. 109-123, hier S. 110 und 123.

10 | C LAUDIA LIEBRAND / R AINER J. K AUS

zung« eines gegenwärtigen mit einem vergangenen Horizont konzeptualisieren. An diese hermeneutische Position hat die Literaturwissenschaft der 1960er Jahre angeknüpft; genannt seien nur Peter Szondi oder, als Theoretiker der »Rezeptionsästhetik«, Hans-Robert Jauss. In den Jahrzehnten danach etabliert haben sich Diskursanalyse, Dekonstruktion (die wohl eher als Modernisierung der Hermeneutik verstanden werden muss und nicht als ihre Ablösung, auch wenn sie sich selbst als solche in Szene setzte) oder der New Historicism. In den 1990er und 2000er Jahren jagen sich schließlich, wie bereits konstatiert, die turns. Diese ›Hatz‹ ist Gegenstand des vorliegenden Bandes, der mit einem Beitrag von Gerhard Neumann einsetzt. »Culta placent«, »alles, was kultiviert ist, gefällt«, heißt es bei Ovid – oder, ganz im Sinne des 19. Jahrhunderts: »nur was künstlich ist, ist schön« – es ist der Schritt aus der Natur in die Kultur, den Ovid wie ein »erste[r] Kulturwissenschaftler der europäischen Geschichte« analysiert und im Sinne Clifford Geertz’ ›dicht‹ beschrieben hat. Ja, so Gerhard Neumann in seinem Aufsatz »Kulturwissenschaften. Zum Phänomen der turns in den Methoden der Literaturwissenschaft. Am Beispiel von Kafkas Betrachtung«, Ovids ›Lehrgedicht‹ De medicamine faciei femineae entwickele geradezu eine »ganz moderne Kulturtheorie«, man könnte auch sagen: eine Kultur-Semiologie im Sinne Roland Barthes’, jenes Theoretikers, der wie vielleicht kein zweiter die Wende von einer immanent interpretierenden Literatur- zu einer sehr weite Kontexte berücksichtigenden Kulturwissenschaft befördert hat. Diese wiederum kreist um »vier Fremdheiten«: und zwar des anderen Geschlechts, der anderen Kultur, des eigenen Ichs und der Zeichen. Aus Sicht einer so verstandenen Kulturwissenschaft erscheint Literatur als »eine ›Kasuistik‹ von Kulturthemen« – so etwa der Wahrnehmung, wie Neumann anhand eines von Kafka beschriebenen Beobachters auf der Schaukel zeigt. In »Konstellationen – Kulturwissenschaftliches Lesen« nimmt Franziska Schößler die kulturwissenschaftliche Lesepraxis und die damit einhergehenden Konstellationen von Texten in den Blick, wie sie etwa prominent von Clifford Geertz und Stephen Greenblatt vorgenommen werden. Überdies verhandelt sie die Frage nach den »Vernetzungsregeln«, nach denen Texte in Bezug zu außerliterarischen Kontexten gesetzt werden. Präsentiert werden beispielhafte Textkonstellationen: Zum einen plädiert Schößler für ein ›Cross-Mapping‹ von Texten der Hoch- und Populärkultur. Zum anderen wird die interdisziplinäre Konstellation von Kunst und Ökonomie beleuchtet – um anhand des Economic Criticism zu skizzieren, wie ökonomische Modelle in Bezug auf literarische Texte und Praktiken fruchtbar gemacht werden können, und um die Rhetorik des Ökonomischen einer Analyse zu unterziehen. Überdies thematisiert der Beitrag

Z UR E INLEITUNG | 11

die Rolle des Anekdotischen in den Kulturwissenschaften: Anekdoten seien als Knotenpunkte von Narrativen aus verschiedenen Wissensfeldern zu verstehen. Anja Gerigks Beitrag »Kultur am Text. Wie lässt sich theoretisch interpretieren?« fragt nach den Funktionsweisen und Leistungen kulturtheoretisch informierten Interpretierens. In Abgrenzung zu Andreas Reckwitz’ Typologie der Kulturbegriffe zeichnet Gerigk zunächst die historische und methodische Kopplung des cultural turn und der Hinwendung zu partikularen Fragestellungen, zu »kulturtheoretischen Denkfiguren« nach, um im Anschluss an Gerhard Neumann und Rainer Warning sowie an Ernst von Glasersfelds Ausführungen zur »Viabilität« daraufhin das Verhältnis von Kulturtheorie und Literatur zu perspektivieren: Literarische Texte lassen sich – so Gerigk – als Feld der Erprobung und Optimierung kulturtheoretischer Ansätze auffassen, durch die die Texte ebenso wie kulturelle Prozesse erhellt werden. Aufbauend auf Axiomen der Luhmann’schen Systemtheorie werden kulturtheoretische Denkfiguren als Instrumente der Komplexitätsstiftung in den Blick genommen, die nicht hinter den literarischen Text zurückfallen dürfen. Literatur und Kultur rücken so in eine produktive Wechselbeziehung. Imtraud Hnilicas Beitrag »›Ich schreibe Schiller einen Liebesbrief‹: Interpretation als Liebe« nimmt ein – von den turns nicht tangiertes, die turns ›übergreifendes‹ – Dispositiv literaturwissenschaftlicher Arbeit in den Blick: Interpretation sei ein Ausdruck der Liebe zum Text, Literaturproduktion und -rezeption mithin als ›Liebesakt‹ zu verstehen. Mit Bezug auf Theoreme Marcel Mauss’ und Ausführungen Roland Barthes’ zeichnet Hnilica nach, inwiefern der von einem Autor verfertigten Literatur der Status einer Liebesgabe zukomme – und inwiefern Interpretierende als Liebende zu konzipieren seien, die diese Liebesgabe des Autors zu erwidern suchen. Dass die hermeneutische Arbeit am literarischen Text strukturelle Parallelen zur Liebe aufweist, kann – so Hnilica – mit Rekurs auf Ausführungen Hans-Georg Gadamers, Emil Staigers und, rezenter, Hans Ulrich Gumbrechts gezeigt werden. Wie wirkmächtig das – auch die ›dunkle‹ Seite (den Wahnsinn, die folie) prozessierende – Phantasma von Literatur und Literaturwissenschaft als Liebe im kulturellen Repertoire ist, demonstriert abschließend die In-Blick-Nahme zweier Gegenwartsromane: Patricia Dunckers Die Germanistin und Daniel Kehlmanns Ruhm. Die Psychoanalyse, wendet sich Achim Geisenhanslüke (»Kritik der imaginären Vernunft. Jacques Lacans docta ignorantia«) mit Slavoj Žižek gegen den wachsenden anti-psychoanalytischen Konsens, sei nicht an ihr Ende gekommen, sondern beginne gerade erst, ihre wahre Wirkung zu entfalten: nämlich als »psychoanalytische[] Poetik«. Das zeigt Geisenhanslüke in einer Denkbewegung, die man zumindest insofern als eine Rückkehr zu Lacan bezeichnen könnte, als sie

12 | C LAUDIA LIEBRAND / R AINER J. K AUS

am Ende mit Lacan selbst Einspruch gegen Derridas in der Carte Postale artikulierte Lacan-Kritik einlegt. Im Zentrum der Argumentation steht dabei die anfangs mit dem Imaginären verbundene Vorstellung von »méconnaissance«, Verkennen und Nichtwissen, die Lacan spätestens seit seinem SpiegelstadiumAufsatz in immer neuen Wendungen entwickelt und die schließlich auch in die Ordnung des Symbolischen reicht. Dabei habe allerdings, so Derridas Kritik an Lacan, die Psychoanalyse die fiktionale Ordnung des Textes missachtet und so gewissermaßen ihrerseits die Fiktion und ihre disseminative Ordnung kastriert. Diese Kritik, so Geisenhanslüke, überzeuge jedoch nicht, habe doch Lacan zum einen grundsätzlich jegliche Form der Metasprache zurückgewiesen – und mit diesem Literarizitäts- gewissermaßen auch Fiktionalitätsbewusstsein demonstriert –, zum anderen die Psychoanalyse als Wegbereiterin einer neuen docta ignorantia begriffen. Das habe Derrida in seiner Kritik Lacans als eines letzten Vertreters von »Metaphysik« und »Phonozentrismus« verkannt. Esther Kilchmanns Beitrag »Return2babel. Das Ausstellen der Schrift und die Dekonstruktion der monolingualen Norm im gegenwärtigen Literaturschaffen« analysiert Formen der Mehrsprachigkeit in Texten von Gegenwartsautoren. In den Blick genommen werden eine Reihe von Autoren, von Yoko Tawada, die – so Kilchmann – auf der Ebene der Handlung auf die Unübersetzbarkeit der Sprache hinweist, über Urs Allemann und Heike Fiedler, die durch das Mittel der Sprach- und Schriftmischung gegen die Referenzfunktion der Zeichen aufbegehren, zu Jörg Piringer und Jean-Pierre Balpe, die durch die Animationen der digitalen Poesie auf die Verschiebungsprozesse der Signifikanten anspielen. Der Fokus der Interkulturalitätsdebatte – das Gros der Forschung interessiert das Phänomen der Mehrsprachigkeit im Kontext der Migration – wird so verschoben: auf die Kategorie der Poetizität. Tawada, Allemann, Fiedler und den ›Digital-Dichtern‹ gehe es nur am Rande um die kommunikative Funktion der Sprache, zu tun sei es ihnen um den poetischen Eigenwert der Sprache und den Verweis darauf, dass sich der literarische Text aus seinen medialen Bedingungen ableite. In »Zurück in die Zukunft? Die Literaturwissenschaft und ihr ›Material‹« thematisiert Thomas Wortmann Fragestellungen des material turn mit Blick auf das Manuskript von Annette von Droste-Hülshoffs Perikopenzyklus Das geistliche Jahr (der in der Historisch-kritischen Ausgabe des Geistlichen Jahrs mit der Trennung zwischen Text- und Apparatband so ediert sei, dass eine ›Abgeschlossenheit‹ des Werks suggeriert werde). Die vorliegenden Interpretationen, die das Geistliche Jahr als ›Werk‹ fokussieren, betonen die Traditionsverfallenheit der Biedermeierdichterin, die mit dem ordnungsstiftenden Gedichtzyklus gegen die chaotische Moderne ansteuere, die Frömmigkeit des Adelsfräuleins, das mit dem

Z UR E INLEITUNG | 13

konservativen Restaurationsprojekt gegen die fortschreitende Säkularisation aufbegehre. Doch die Handschrift des Geistlichen Jahres zeugt – so Wortmann – mit ihren Streichungen und zahllosen Alternativvarianten von der Unabgeschlossenheit des Droste’schen Schreibaktes. Der Blick auf die Handschrift ermöglicht eine Neuinterpretation des Gedichtzyklus. Lesbar wird das Geistliche Jahr aus der Perspektive des material turns als ein Projekt, das nicht als Versuch einer Ordnungsstiftung aus christlicher Perspektive in den Blick zu nehmen wäre, sondern als ein Text, der vielmehr die Aporien einer solchen Ordnungsstiftung in Szene setzt. Rainer J. Kaus stellt in »Peter Szondis Vision einer literarischen Hermeneutik. Ein systematisierender Kommentar zu Szondis ›Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik‹« die These auf, dass Szondis Vision einer literarischen Hermeneutik einerseits genau und wörtlich zu nehmen, andererseits aber nach 40 Jahren in eine neue historische Konstellation zu stellen sei. Szondi, so Kaus, erahnte Perspektiven, die erst heute nach Abklingen des linguistic turn auf der Grundlage neuer konstruktivistischer Sprachtheorien realisierbar sind. Szondi wird von Kaus als Vertreter einer gegenwärtigen und künftigen literarischen, an Sprachstrukturen orientierten Strukturhermeneutik vorgestellt. Es sei nicht auszuschließen, dass gerade die Erkenntnis seiner damaligen Unzeitgemäßheit zu seiner Depression beigetragen habe, aufgrund derer er freiwillig aus dem Leben schied. Theoretische turns, so argumentiert Stefan Börnchen in seinem Beitrag »›Dumme Semantik‹ oder: Wie klug muss eine Metasprache sein? Ein Stimmungs-Bild«, verstehen sich grundsätzlich als epistemische Vorwärtsbewegungen – und zwar unabhängig davon, ob ein geschichtsphilosophisch getönter Fortschrittsbegriff zugrundeliegt oder nicht. Was aber, wenn ein schon begriffsgeschichtlich ad acta gelegter Begriff wiederkehrt wie in den letzten Jahren der der ›Stimmung‹? Noch 2003 hatte ihm David Wellbery ›semantische Dummheit‹ und »Irrelevanz« bescheinigt; nur wenige Jahre später wird er, auch unter Beteiligung Wellberys, intensiv diskutiert. Bedeutet aber eine solche Renaissance, ein solcher return, dass der in Rede stehende Begriff plötzlich wieder ›klug‹ ist, oder ist einfach die »philosophische[] Belanglosigkeit« (Wellbery) des Begriffs in Vergessenheit geraten, sodass er nur aus Geschichtsvergessenheit wieder diskussionswürdig erscheint? Eine Antwort auf diese Fragen muss Börnchen zufolge zwischen Objekt- und Metasprache unterscheiden und damit auch entscheiden, was sie in Anführungszeichen setzt und was nicht. Denn Anführungszeichen schützen – wenn auch um den Preis eines gewissermaßen alexandrinischen Verzichts auf Originalität – nicht nur die eigene Argumentation

14 | C LAUDIA LIEBRAND / R AINER J. K AUS

vor dem Plagiatsverdacht, sondern auch vor der ›Ansteckung‹ (Wellbery) durch ›dumme Semantik‹. Claudia Liebrand schließlich perspektiviert in »Strong readings, Paranoia und Kittlers Habilitationsverfahren. Prolegomena einer Fallstudie« die Geschichte von Friedrich Kittlers Habilitationsverfahren aus der Warte der germanistischen Literaturwissenschaft. Anhand der publizierten Gutachten zum Verfahren um die Aufschreibesysteme 1800/1900 wird gezeigt, wie schwer sich die literaturwissenschaftlichen Kommissionsmitglieder damit taten, die – einzufordernden – wissenschaftlichen Standards zu definieren. Es setzten sich bekanntlich die Gutachter durch, die die stupende Innovationskraft der Kittler’schen Schrift würdigten – gegen jene, die auf der Seite der Tradition standen und dem Habilitanden seinen unkonventionellen, ja ›paranoischen‹ Zugriff verübelten. Liebrand diskutiert den Zusammenhang von ›starken Theorien‹ und ›Paranoia‹ – und lässt eine Reihe von Theoretikern zu Worte kommen, die das Verhältnis Paranoia und Wissenschaft respektive Paranoia und Interpretation kontrovers modellieren. Bei der Fertigstellung des Manuskripts haben Pia Fritzen, Antonia Villinger und vor allem Krischan Fiedler und Vanessa Höving geholfen. Ihnen gebührt großer Dank. Köln, im April 2014 Claudia Liebrand und Rainer J. Kaus

Kulturwissenschaften Zum Phänomen der turns in den Methoden der Literaturwissenschaft. Am Beispiel von Kafkas Betrachtung G ERHARD N EUMANN »culta placent« OVIDIUS NASO

I. Am Anfang einer Erörterung, gleich welcher Art, sollte, gewissermaßen zur ersten Orientierung, eine Definition des Gegenstandes dieser Abhandlung stehen – wie rudimentär und hilflos diese auch immer sein mag. So auch hier, im Fall von Kultur und Kulturwissenschaft. Ich bediene mich der bemerkenswerten Formulierung einer solchen Definition durch Heinz Dieter Kittsteiner, die ich vorerst so stehen lasse: »Kultur ist die Art und Weise, in der eine Gesellschaft ein Bewusstsein ihrer selbst entwickelt, das sowohl deskriptiv als normativ ist. Kulturelle Praktiken […] lassen sich sowohl als Abbild oder Ausdruck von Gesellschaft lesen als auch als Matrix oder Blaupause für Gesellschaft«.1 Die Philologie, soweit sie sich auf Literatur richtet – sei es auf Alltagstexte, sei es auf literarische Spitzenwerke –, ist keine exakte Wissenschaft. Sie besteht aus einer Folge von Experimenten und den Krisen, die sich in diesen entwickeln und ausmachen lassen. Ihre Geschichte vollzieht sich in turns, in emergenten Schüben, in unvorhersehbaren Wenden. Sie ist ein Organon, ein ›Werkzeug‹ der 1

Heinz Dieter Kittsteiner: »Vorwort: Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten«, in: ders. (Hg), Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München 2004, S. 724, hier S. 20.

16 | GERHARD N EUMANN

Auslegung; sie ist eine Deutungswissenschaft mit all ihren Schwächen und Risiken, freilich auch ihrem unverhofften schöpferischen und innovativen Potenzial. Über weite Strecken ihrer Entwicklung – wenn man von einer solchen im strengen Sinne überhaupt sprechen kann – hat sie sich auf sogenannte ›HöhenkammLiteratur‹ eingestellt, die großen Meisterwerke der literarischen Tradition.2 Erst in den letzten Jahrzehnten gab es nachhaltigere Bestrebungen, das Textkorpus darüber hinaus zu erweitern, Kultur, als Gegenstand literarischen Interesses, in ihrem ganzen Umfang als Text zu begreifen und in ihren vielfältigen Vernetzungen mit der Kunst zum Gegenstand einer ›Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft‹ zu machen. Einer der wichtigsten Wegöffner dieser Tendenz war der französische Kultursemiologe und Literaturwissenschaftler Roland Barthes. Die hier angestellten Überlegungen wären ohne seine ingeniösen Experimente nicht möglich gewesen. Auf den ersten Blick könnte man behaupten, Kulturwissenschaft in diesem Sinne sei eine Errungenschaft der jüngsten Moderne. Man könnte aber auch, unter anderem Blickwinkel, die These aufstellen, sie sei ein sehr altes Phänomen der ganzheitlichen Auffassung von Kultur, deren Spuren sich schon in der lateinischen Antike finden. So gesehen könnte man mit einigem Recht den Dichter Ovid mit dem von ihm entwickelten Kulturbegriff den ersten Kulturwissenschaftler der europäischen Geschichte nennen. Gleichsam als Ethnologe und Diagnostiker der eigenen Kultur schreibt er ein Gedicht – oder soll man sagen: eine poetische Abhandlung in Versform; ein ›Lehrgedicht‹ – über die Liebe, und im weiteren Sinne genommen, über die Sexualität in der Kultur (das Wort ›Sexualität‹ kommt freilich erst im 19. Jahrhundert auf): Er forscht und schreibt damit über eines der meistbearbeiteten Kulturthemen in der abendländischen Literatur. Als Verfasser dieses dreiteiligen Gedichts über die Liebe hat er sich auch über den Begriff der Kultur Gedanken gemacht, den er seinem Textkorpus zugrunde legt. Das umfangreichste Stück dieser Trilogie, die Ars amatoria, handelt von der Kunst, zu gefallen und den Strategien, Herzen zu erobern. Das zweite Gedicht, Remedia amoris betitelt, gibt die Mittel an die Hand, wie man Liebesschmerzen heilt, wie man vermeidet, Opfer einer zerstörerischen Passion zu werden, wie man sich einer lästigen Geliebten entledigt. Der dritte Text, der interessanteste für den hier in Frage stehenden Zusammenhang von Ovids Kulturbegriffs, trägt den Titel De medicamine faciei femineae und handelt, stricte gesagt, von der Kunst, sich ›zurechtzumachen‹; also von Salben, Waschungen, Heil-

2

Ein Musterbeispiel dieser Gesinnung: Reinhard Brand (Hg.): Meisterwerke der Literatur. Von Homer bis Musil, Leipzig 2001. Vgl. auch Emil Staiger: Meisterwerke deutscher Sprache aus dem 19. Jahrhundert, Zürich 1948.

K ULTURWISSENSCHAFTEN | 17

schlaf, Haarteilen und Schminke aller Art. Dieses dritte Gedicht aus dem Zyklus ist nur zu einem kleinen Teil erhalten – aber doch, zum Glück für unseren Zusammenhang, ist gerade der Anfang des Textes überliefert.3 Denn hier, in der Einleitung des Schminke-Gedichts, entwickelt Ovid seinen Kulturbegriff. Er entwirft diesen im Spannungsfeld zwischen Alltagskultur und einer Kultur höchster ästhetischer, ja dekadenter Vollendung. ›Lernt, ihr jungen Schönen, die Praktiken kennen‹, so beginnt sein Gedicht, ›die die Gesichter verschönern und die die Mittel schaffen, um Eure Schönheit zu erhalten.‹ ›Die Kultivierung des Ackerbodens‹, fährt Ovid dann fort, habe ›der unfruchtbaren Erde die Gaben der Ceres, das Getreide, abgerungen; genau wie sie die Früchte hat reifen lassen; der bittere Geschmack des Obstes sei durch Aufpfropfung edler Reiser versüßt worden.‹ Was hier beschrieben wird, ist der Schritt aus der Natur in die Kultur, der sich in Praktiken der Ästhetisierung der Hochkultur äußert. Und diese Entwicklungstheorie des gleitenden Übergangs mündet in den Satz, der aus der Alltagskultur Hochkultur gleichsam hervorwachsen lässt; den Satz nämlich culta placent: »alles, was kultiviert ist, gefällt«; oder anders ausgedrückt: »nur was künstlich ist, ist schön« – ein Gedanke, der noch bis ins 19. Jahrhundert eines Baudelaire nachwirken wird. Zur Erläuterung dieses erweiterten Kulturbegriffs – der das Grob-Alltägliche so gut umfasst wie das ästhetisch Vollkommene – holt Ovid nun weiter aus. Den Sabinern, in ihrem rohen Kulturzustand, sei es lieber gewesen, die von den Vätern überkommenen Äcker zu bestellen, als ihre eigene Schönheit zu pflegen; als unattraktive Frauen hätten sie die härteste Arbeit bei der Kultivierung des Bodens verrichtet. ›Aber Eure Mütter‹, so fährt Ovid fort, ›haben anspruchsvollere Mädchen geboren. Diese wollen, dass ihr Körper von golddurchwirkten Kleidern umfangen wird; sie wollen ihr Haar parfümieren und immer wechselnde Frisuren tragen; und sie wollen kostbare Ringe am Finger haben und Gehänge im Ohr. Ihr (modernen) Mädchen müsst etwas dafür tun, um zu gefallen‹. Soweit Ovid. Das höchste Produkt dieser hochelaborierten Kultur wäre dann aber konsequenterweise Ovids dreiteiliges Gedicht über die Liebe selbst, die ars amatoria, die diese Geschichte erzählt. Was Ovid hier in seinem in Verse gefassten Schminkessay entwickelt, ist eine ganz moderne Kulturtheorie. Sein Kulturbegriff umfasst die Idee vom Überleben der Gattung Mensch4 durch die (Boden-)Kultur bis hin zu den künstlichs-

3

Ovide: Les remèdes à l’amour. Les produits de beauté pour le visage de la femme, Paris 1930. Paraphrasen im laufenden Text nach dieser Ausgabe.

4

Es war Freud, der die Kultur dahingehend definierte. Vgl. Sigmund Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, in: ders.: Studienausgabe, Bd. IX: Fragen der Gesellschaft/Ur-

18 | GERHARD N EUMANN

ten Elaboraten der menschlichen Schöpfungs- und Erfindungskraft, gewissermaßen dem ›Mehrwert‹ der Kunst. Ovids Kulturbegriff bezieht sich auf die Alltagskultur so gut wie auf die Errungenschaften einer ästhetischen Hochkultur, eines Höhenkamms, dem ja auch Ovids Gedicht selbst angehört.

II. Meine vorliegenden Überlegungen suchen keine Theorie der Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft zu geben und entwickeln auch keine stringent zugehörige Methodologie. Sie versuchen allenfalls, nach dem Beispiel von Roland Barthes, eine Praxis zu beobachten. Trotz dieses Vorbehalts gegenüber einer strengen Systematik sei der genauere Versuch einer Definition und Abgrenzung von Kulturwissenschaft gegenüber ähnlichen Begriffen gewagt. Zwar löst eine solche Definition zumeist die Knoten nicht, aber sie zeigt doch Wege und öffnet sie zugleich. Kulturgeschichte untersucht die Lebensarchitektur und deren historische Wandlungen in sozialen Gebilden. Kulturwissenschaft beschreibt die materialen und symbolischen Strukturen und Dynamiken in einem sozialen Gebilde: wie zum Beispiel die Werte, Ordnungen, Rituale und Institutionen. Kulturwissenschaft ist semiologisch orientiert. Als Kulturwissenschaften schließlich (also im Plural) – ein zurzeit akademisch ausgewiesener Fachverbund – wird neuerdings ein Ensemble von thematischen Perspektivierungen bei der Erforschung von Kulturen bezeichnet. Forschungen dieser Art sind naturgemäß interdisziplinär ausgerichtet. Im Sinne von Clifford Geertz, dem Ethnologen, der unter anderem mit literarischen Texten arbeitet und den methodologischen Austausch zwischen beiden Disziplinen – der Ethnologie und der Literaturwissenschaft – sucht, könnte man etwa lakonisch hinzufügen: »Kultur ist ein Gewebe von Bedeutungen, die es zu interpretieren gilt.«5 So ist es in der Tat. Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft zu betreiben heißt also: den literarischen Text nicht nur immanent als sprachliches Gebilde zu verstehen suchen, sondern ihn auch zu kontextualisieren. Man geht dabei von der oben genannten Vorstellung aus, dass Kultur ein Gewebe von Diskursen darstellt, deren

sprünge der Religion, hg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richard/James Strachey, Frankfurt/Main 1997, S. 197-270, hier S. 220. 5

Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/Main 1987, S. 10.

K ULTURWISSENSCHAFTEN | 19

einer die Literatur, ein anderer die Literaturwissenschaft ist; dass diese aber ihrerseits neben zahllosen anderen Diskursformationen angesiedelt sind, die eine Kultur beherrschen und zu denen diese beiden Formationen in Beziehung treten. Man hat also literarische Texte besser verstehen gelernt, indem man sie in andere Diskurse einbettet – mit anderen Worten, indem man sie in ihren Kontexten ›arbeiten‹ lässt. Dies bedeutet eine neue Wende im ehrwürdigen Progress der Hermeneutik, die, aus der Rechtswissenschaft, der Theologie und dann auch der Psychoanalyse kommend, zu einem Instrument ersten Ranges in der Literaturwissenschaft geworden ist, das den messenden und zählenden Wissensformationen entgegensetzt ist.6 In der deutschen Entwicklung dieses Sachverhalts gibt es aber einen auffälligen Knick. Nämlich das Jahr 1945 und die Entwicklung der Philologie nach dem Zweiten Weltkrieg. Allzu viele Literaturwissenschaftler hatten sich während des Dritten Reiches durch ihr (politisches) Engagement oder Mitläufertum kompromittiert. Da kam die Devise einer ›immanenten Interpretation‹ eines neutralen Schweizer Forschers, nämlich Emil Staigers, als Rettung der literarischen Hermeneutik wie gerufen. Das von ihm entwickelte Verfahren schien den literarischen Text absolut zu setzen. Es schloss ihn aus seinen historischen und politischen Bezügen aus. Aber freilich nicht so ganz. Denn ein existenzieller Bezugsrahmen mindestens wurde an die Stelle des historischen und politischen Hintergrundes gesetzt: durch Emil Staigers Auseinandersetzung mit der ›existenzialistischen Poetologie‹ Martin Heideggers.7 Man begann nun vor dem Hintergrund transzendentaler Strukturen zu interpretieren, im Bewusstsein und unter der Voraussetzung, dass die Bedingungen der Möglichkeit von Welterfahrung, im Sinne der Kantischen Philosophie, Zeit und Raum sind; als »Bedingungen«, wie Kant sagt, der Möglichkeit von Weltwahrnehmung, im Zeichen von ›Mimesis‹, im Zeichen von Literatur. Die Staigersche Devise der Interpretation liefert einer seiner Buchtitel: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters.8 Es sind dann

6

Eine diesbezügliche Tagung unter der Leitung von Susanne Lüdemann wird gerade wieder angekündigt: »Was heißt Deutung? Interdisziplinäre Tagung«, 21.-23. November 2013, LMU München.

7

Hermeneutik erscheint hier nicht nur als Erschließungspraxis von Texten, sondern zugleich als Kunst. Vgl. Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Zürich 1955.

8

Emil Staiger: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller, Zürich u.a. 1939. Vgl. ferner ders.: Spätzeit. Studien zur deutschen Literatur, München u.a. 1973; ders.: Gipfel der Zeit. Studien zur Weltliteratur. Sophokles, Horaz, Shakespeare, Manzoni, Zürich u.a. 1979.

20 | GERHARD N EUMANN

wohl die Studenten-Unruhen der 60er Jahre gewesen, die den Blick der Literaturwissenschaft auf diesen blinden Fleck der politischen und sozialen Wirklichkeit gelenkt haben. Kontextualisierungen der verschiedensten Art wurden Schritt für Schritt eingefordert und (wieder) entdeckt:9 in verschiedenen turns, im Zeichen zum Beispiel der Psychoanalyse, der Soziologie, der Rhetorik, der Linguistik und anderer. Die Reihe der turns nahm – auch wenn das Wort noch fehlte – nun ihren Anfang.

III. Als Thomas S. Kuhn 1962 in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen den Begriff des Paradigmawechsels aufbrachte, bezeichnete er diesen als Wandel grundlegender Rahmenbedingungen für spezielle wissenschaftliche Probleme; und er sah diesen Wandel wirksam in Begriffsbildung, Beobachtungsmodus und Apparaturen. Er übernahm den Begriff Paradigma aus der Linguistik, wobei dieser, als Denkform, mit dem Gegenbegriff Syntagma korreliert ist. Paradigma hat eher die Konnotation des Statischen, Syntagma dagegen die des Bewegten, der Verkettung von Elementen, des Dynamischen. Wenn nun in den 70er Jahren ein neues Wort für den Begriff des Paradigmas auftaucht, nämlich dasjenige des turns, so markiert das auch eine anders geartete, anders gefärbte Denkform: nicht mehr die eines statisch aufgebotenen Beispiels, sondern vielmehr die einer Wende, die einer Drehung, was turn ja ursprünglich meint; die einer Dynamik. Auf der Suche nach anderen methodischen ›Wenden‹ dieser Art stößt man auf gut zwanzig weitere, ernst zu nehmende turns, deren Reihe mit dem linguistic turn – einer Wortkreation von Gustav Bergmann, wie man zu wissen meint – beginnt. Unter diesen annähernd zwanzig Rubrizierungen findet sich auch ein cultural turn verzeichnet. Er fungiert merkwürdiger Weise manchmal als ein turn unter vielen anderen, bald aber auch als Oberbegriff, dem sich alle anderen turns unterordnen. Ich möchte, aufgrund dieser klassifikatorischen Unentschlossenheit, die These wagen, dass es gerade diese Unsicherheit der Zuordnung ist, welche die Bildung der Kulturwissenschaft – oder genauer gesagt der ›Kulturwissenschaften‹ (im Plural) – im modernen Sinne einleitet. Diese stehen am Anfang vor einem Dilemma: Soll es nach wie vor um die Herausarbeitung einer Höhenkamm-Literatur in ihrer Einzigartigkeit gehen, soll diese als ›reine‹ Kunst begriffen werden; oder aber geht es umgekehrt darum, Textformationen aller Art, wenn es sich als nötig erweist, in das Verstehen von

9

Wiederanknüpfung an die großen Literarhistoriker der Zeit von 1900 bis 1920.

K ULTURWISSENSCHAFTEN | 21

literarischen Texten einzubeziehen, vor allem die Textformationen, die das kulturelle Umfeld dieses je besonderen Textes bilden? Als die Entscheidung schließlich, nicht ohne Einwirkung der französischen Schule der Annales, für einen mehr und mehr erweiterten Material- und Textbegriff fiel, war der Bann gebrochen: Eine Unzahl von turns wurde erfunden, die alle dem Oberbegriff der Kulturwissenschaften sich zuordneten. Jetzt drohte nicht mehr die Einschränkung und Spezialisierung des Arbeitsfeldes mittels der Methode. Jetzt drohte im Gegenteil die Unersättlichkeit nach Verarbeitungsstoff bei dem auf diese Weise die Macht ergreifenden kulturwissenschaftlich orientierten Hermeneuten. Worauf es jetzt, in der gegenwärtigen Situation, als Folge dieser Umbildungen, ankommt, ist die Nutzung einer neu zu modellierenden Kulturwissenschaft für eine gleichfalls veränderte Hermeneutik literarischer Texte. Es geht dabei um die Aufmerksamkeit auf die Dynamik der Kultur und die Mittel, sie zu beschreiben. Es ist die Aufmerksamkeit auf den Übergang von der Natur in die Kultur: da, wo aus dem Organischen Konstruktives wird. Der Unterschied zwischen geschichtswissenschaftlichem und kulturwissenschaftlichem Interesse lässt sich am besten an einem Beispiel erläutern, etwa an Kafkas Erzählung Ein Hungerkünstler.10 Während die erstere, historisch ausgerichtete Wissenschaft, die Kulturgeschichte, sich auf das Argument konzentriert, dass die Geschichte der Menschheit bis in unsere Gegenwart eine Geschichte des Kampfes gegen den Hunger und seine Begleittriebe Sexualität und Aggression ist, richtet sich die Kulturwissenschaft auf die Darstellung des Kampfes um eine Ausdifferenzierung der Sinnlichkeit und des Geschmacks, der Ästhetik also im modernen Sinne (seit Baumgarten): des Geschmacks beim Essen, der ›feinen Unterschiede‹, wie Bourdieu sagen würde; also um die Gewinnung von Differenzierungs-Regeln im Umgang der Menschen miteinander. Es ist die Aufmerksamkeit auf den Übergang von der Natur in die Kultur: da, wo aus dem Organischen Konstruktion wird. Franz Kafka hat dies einmal in einem Denkbild (oder Aphorismus) in unvergleichlicher Weise ausgedrückt: »Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer, das wiederholt sich immer wieder, schließlich kann man es vorausberechnen und es wird ein Teil der Ceremonie«.11 Das Entstehen von

10 Vgl. dazu meine Studie: »Hungerkünstler und Menschenfresser. Zum Verhältnis von Kunst und kulturellem Ritual im Werk Franz Kafkas«, in: Archiv für Kulturgeschichte 66,2 (1984), S. 347-388. 11 Franz Kafka: »Beim Bau der chinesischen Mauer«, in: ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 6: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem

22 | GERHARD N EUMANN

Kultur, als der Übertritt des Natürlich-Organischen ins Sozial-Konstruktive, also der Übergang des Organismus in sozial gebildete Lebens-Architektur, könnte nicht besser verdeutlicht werden, als dieser Kafkasche Aphorismus es tut.12 Es war Sigmund Freud, der die lakonische Doppelformel für dasjenige gegeben hat, was Kultur leistet: Kultur diene zum einen dem Schutz der Menschen gegen die Bedrohungen und Unbilden der Natur (Kulturthema Architektur); und sie diene zum anderen der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander. Es gehe also um die Verwandlung dieses ›Natürlichen‹ in das Ensemble der kulturellen Werte, Ordnungen und Institutionen. Wobei Freud etwas bedachte, was erst heute in seiner Bedeutung erkannt wird: dass es nämlich die Naturwissenschaft und ihre Methode gewesen sein wird, die in dieser Frage der Hermeneutik schließlich das letzte Wort hat. Freud war davon überzeugt, dass der Deutungsapparat der Kultur, den er ›in Wirklichkeit‹ einen ›Überbau‹ nannte, ›irgend einmal auf sein organisches Fundament aufgesetzt werden könnte‹ – ›nur haben wir dieses noch nicht‹, fügt Freud bedauernd hinzu.13

IV. Nach dem Gesagten ist deutlich geworden, dass eine Kulturwissenschaft, die als hermeneutisches Werkzeug zur Erschließung von literarischem Sinn dienen soll, in ihrer Zielrichtung und in ihrem Bau neu modelliert werden muss. Dabei sind zwei Kern-Dispositive dieser Neufassung der auf die Literatur orientierten Zurichtung der Kulturwissenschaft deutlich erkennbar. Man könnte sie ihre doppelte Zuspitzung nennen: auf das Wahrnehmungsproblem und damit das Darstellungsproblem, also die Mimesis- und Metaphorik-Problematik, einerseits, und auf den erweiterten Textbegriff andererseits: dies wäre die Auffassung der Kultur als Diskursgewebe. Zunächst einige Worte zum Wahrnehmungsproblem. Es ist offensichtlich: Der so verstandene cultural turn der Wissenschaft wendet seine Aufmerksamkeit dem Wahrnehmungs-, Abbildungs- und Darstellungsprozess zu, in dem literarische Texte befangen sind – also der Frage nach der Mimesis, der ›Lust am Ähn-

Nachlaß. In der Fassung der Handschrift, hg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt/Main 1994, S. 231. 12 »[…] was uns dieser Aphorismus […] am Ende erzählt, ist nichts weniger als eine Anfangsgeschichte der Moderne«. Tobias Döring, in: Hubert Spiegel (Hg.), Kafkas Sätze, Frankfurt/Main 2009, S. 60-61. 13 Vgl. S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur (s. Anm. 4), S. 220.

K ULTURWISSENSCHAFTEN | 23

lichen‹, wie Aristoteles gesagt hat, als einer ehrwürdigen Definition von Kunst. Es war Karl Marx, der diesen Sachverhalt einmal unüberbietbar knapp formuliert hat, indem er, in seiner Terminologie, die Weltgeschichte als Kulturgeschichte zu begreifen suchte. Er schreibt: »Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte.«14 Kulturwissenschaft, in ihrem Interesse für literarische Mimesis – also für das Kardinal-Objekt literarischer Hermeneutik –, orientiert sich mithin auf die Struktur der Situation der Wahrnehmung von Welt; sie richtet sich auf das Kernritual der europäischen Literatur: nämlich die Erkennungsszene; die ›Anagnorisis‹ also, wie sie schon Aristoteles für die Tragödie herausarbeitet. Und Kulturwissenschaft konzentriert sich auf die literarische Ausrichtung des Blicks auf die Welt; auf die damit zusammenhängenden ProtoSzenarien der Konstruktion von Außen und Innen, der Schwelle, der SelbstErfahrung aus der Fenster-Situation15, des Fensterblicks, also des rahmenden Blicks16 als Identifikationsritual; kurz: auf das Proto-Szenario des Experiments mit dem Beobachter-Standpunkt zwischen starrer Fixierung der Perspektive und dem schwingenden ›Beobachter auf der Schaukel‹, wie Kafka ihn im ersten Stück seines Betrachtung-Bandes, Kinder auf der Landstraße, in Szene setzt.17 Literatur wäre dann, wie schon die griechische Tragödie exemplarisch zeigt, die Kasuistik, die ›Aushandlung‹18 des nomologischen Wissens (Max Weber) einer Gesellschaft. Es geht dabei, wie angedeutet, um die Aufmerksamkeit auf die unverhofften Augenblicke der Begegnung mit dem Fremden; der vier Fremdheiten also, die in der Kultur sich zeigen: der Fremdheit des anderen Geschlechts, der Fremdheit einer anderen Kultur, der Fremdheit des eigenen Ich. Daraus erwächst aber zuletzt die Fremdheit der Zeichen, die in der Kultur zirkulieren; ihre ›Fetisch‹-Struktur, wie sie Hartmut Böhme in seinem Buch über die ›andere Moderne‹ beschrieben hat19. Hierher gehören die Probleme der sogenannten firstcontact/first-encounter-Situation, wie die Ethnologen sie nennen, also der choc

14 Karl Marx: Ökonomische philosophische Manuskripte, hg. von Barbara Zehnpfennig, Hamburg 2005, S. 93. 15 Vgl. hierzu meinen Aufsatz: »Die Welt im Fenster. Erkennungsszenen in der Literatur«, in: Hofmannsthal-Jahrbuch zur Europäischen Moderne 18 (2010), S. 215-257. 16 Vgl. Ernst Pöppel: Der Rahmen. Ein Blick des Gehirns auf unser Ich, München 2006. 17 Vgl. hierzu meinen Aufsatz: »Der Beobachter auf der Schaukel. Franz Kafkas frühe Bewegungsstudien«, Oxford 2014 (im Erscheinen). 18 Vgl. Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy, Berkeley 1988. 19 Vgl. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg 2007.

24 | GERHARD N EUMANN

de la rencontre und die Doppelerfahrung von Imprévu und Déjà-Vu im Wahrnehmungsakt.20 So gesehen wäre die kulturwissenschaftliche Wende in der Literaturwissenschaft (und dies ist meine These) ein Dreifaches: die Arbeit an einer Geschichte der Sinne, an einer Geschichte der Wahrnehmung und an einer Geschichte der (wechselnden) Aufmerksamkeiten, wie sie Lorraine Daston in ihrer Kurzen Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit und Bernhard Waldenfels in seiner Phänomenologie der Aufmerksamkeit entworfen haben.21 In diesen Zusammenhang der Wahrnehmung gehört nun aber noch ein weiteres Moment: die Auffassung der Kultur als im Zeichen der Verwandlung stehend. (Auch hier findet man Ovid mit seinen Metamorphosen am Anfang von deren Geschichte.) Es waren Aleida und Jan Assmann, die, aus solchen Erwägungen heraus, den Versuch unternommen haben, den Begriff der Verwandlungskultur in die Diskussion um die Erkenntnisziele der Kulturwissenschaften einzuführen.22 Gewiss lässt sich das Paradigma von den Verwandlungskulturen, die den Nicht-Verwandlungskulturen gegenüberstehen, auf den ersten Blick plausibel machen. Bei genauerem Hinsehen sollte man aber wohl modifizieren; und zwar, indem man einerseits Kulturen annimmt, in denen Verwandlung ein selbstverständliches Dispositiv, ein nicht hinterfragtes Ereignismoment ist, wie etwa – aufs Geratewohl gesagt – die indische; indem man aber andererseits von Kulturen spricht, in denen Verwandlung ein gravierendes Problem, ja ein Skandalon darstellt – und sich gleichwohl als Kerndispositiv, ja als eigentliches Treibelement eben dieser Kultur erweist. Die abendländische Kultur scheint zu den letzteren zu gehören. Sie hat – bei ihrem Prinzip der personalen, relationalen, historischen, nationalen und politischen ›Identität‹ – die größten Schwierigkeiten mit Verwandlungen; bezieht aber gleichzeitig ihre ganze Dynamik gerade

20 Klaus Scherpe hat auf den fundamentalen Film FIRST CONTACT (USA 1982, Regie: Robin Anderson/Bob Connolly) aufmerksam gemacht. Vgl. Klaus Scherpe: »Grenzgänge zwischen den Disziplinen. Ethnographie und Literaturwissenschaft«, in: Petra Boden/Holger Dainat (Hg.), Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert, Berlin 1997, S. 297-315. Vgl. ferner: Günter Oesterle: »Imprévu und Déjà-vu. Liebe auf den ersten Blick und Wahrnehmung der Welt: das Drama des Erkennens«, in: ders. (Hg.), Déjà-vu in Literatur und bildender Kunst, München 2003, S. 79-100. 21 Vgl. Lorraine Daston: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, München 2001; Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt/Main 2004. 22 Vgl. Aleida Assmann/Jan Assmann (Hg.): Verwandlungen. Archäologie der literarischen Kommunikation IX, München 2006, S. 245-266.

K ULTURWISSENSCHAFTEN | 25

aus der Auseinandersetzung mit diesem Skandalon der Verwandlung; also jenen Transgressionen, die fortgesetzt zwischen Körper und Geist, Tier und Mensch, soma und sema, Chaos und Ordnung sich ereignen; aber natürlich auch mit den Verwandlungen von Brot und Wein in Fleisch und Blut, von Nahrung in Bedeutung. In Jean Paul Sartres legendärem wie problematischem Satz ›Jede Nahrung ist ein Symbol‹ ist diese Spannung enthalten.23 Man könnte behaupten, dass diese Frage nach der Verwandlung und ihren wechselnden Funktionen in der Kultur eine der Kernfragen der modernen Kulturwissenschaften darstellt. Ihr zugrunde liegt die Aufmerksamkeit auf den Übergang von der Natur in die Kultur. Und nun noch zum zweiten Punkt einer Zurichtung der Kulturwissenschaft zu einem hermeneutischen Organon der Literaturwissenschaft; nämlich durch die Auffassung der Kultur als Text. Man hat, vor nicht allzu langer Zeit, von negotiations gesprochen, von ›Verhandlungen‹ zwischen Literatur, Alltagspraxis, Ökonomie und Politik, und dabei Kultur eben nicht als einfachen Text, sondern, wie Koselleck einmal sagt, als ›selbstreferentielles Gewebe‹ aufzufassen gesucht. Dieser Auffassung kommen Stimmen aus der Ethnologie entgegen, die von einer Kulturisierung der Literaturwissenschaft, aber auch umgekehrt von einer Literarisierung der Kulturwissenschaft sprechen. Clifford Geertz – mit Bezug auf seinen Lehrer Ryle – ist deren Wortführer in seinem Buch mit dem Titel Dichte Beschreibung. Dieser Versuch von Geertz, den Schichten- und Gewebecharakter der Kultur zu begreifen, kulminiert in seiner Interpretation des balinesischen Hahnenkampfes mittels des literarischen Modells ›King Lear‹ und der legendären Parabel von den drei kommunizierenden Knaben, die Geertz von seinem Lehrer Ryle bezieht.24 Diese Parabel lautet so: Man stelle sich drei Knaben vor: Der erste hat ein ungewolltes, unbeabsichtigtes Zucken am Augenlid; der zweite sieht darin ein heimliches Zeichen, ein Zwinkern für den Freund; und der dritte probt dieses ›Lesen‹ des anderen zwischen Zucken und Zwinkern nachträglich zuhause vor dem Spiegel. Kultur inszeniert nach diesem Verständnis das Problem des ›Bedeutens von Bedeutung‹ als eine Beobachtung der ›Effekte von Natur‹ (wie Derrida einmal gesagt hat). Literatur – und andere Künste – wären

23 Vgl. hierzu meinen Aufsatz: »Jede Nahrung ist ein Symbol. Umrisse einer Kulturwissenschaft des Essens«, in: ders./Alois Wierlacher/Hans J. Teuteberg (Hg.), Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder, Berlin 1993, S. 385-444; aber auch die von mir entwickelte Realismus-Theorie: »Ausblicke. E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung Des Vetters Eckfenster«, in: ders. (Hg.), ›Hoffmaneske Geschichte‹. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, Würzburg 2005, S. 223-242. 24 Vgl. C. Geertz: Dichte Beschreibung (s. Anm. 5), S. 10.

26 | GERHARD N EUMANN

wiederum nach diesem Verständnis (innerhalb des vielfachen Gewebes der Kultur) hybride Systeme, welche die Kunstwissenschaften – die ihrerseits Teilsysteme der Kultur sind – zu verstehen versuchen. Es ist ein komplexes Ereignis von Verhalten und Bedeutungsstiftung, von geschichteten Wahrnehmungs- und Verstehensakten, das sich in der Parabel von den drei Knaben auf mehreren Ebenen bewegt. Geertz charakterisiert dieses Geschehen so: Es sei »eine geschichtete Hierarchie bedeutungsvoller Strukturen, in deren Rahmen Zucken, Zwinkern, Scheinzwinkern, Parodien und geprobte Parodien produziert, verstanden und interpretiert werden, und ohne die es all dies faktisch nicht gäbe.«25 Es ist dieses Ereignis, aus dem die Lesbarkeit der Kultur26 folgt und damit auch ihre Deutbarkeit abgeleitet wird: bewerkstelligt durch eine als Kulturwissenschaft operierende Literaturwissenschaft.

V. An dieser Stelle sind einige Worte zu sagen über einen Autor, dem die Konzeption einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, wie ich sie hier zu skizzieren versuche, zu danken ist – obwohl er sie nirgends systematisch dargelegt hat: Ich meine den französischen Literaturwissenschaftler und Kultur-Semiologen Roland Barthes. Er war es, der durch seine Essays und nicht zuletzt durch seine zahllosen Interviews den hier nachgezeichneten Weg vom liguistic turn über den corporal turn bis hin zum cultural turn gegangen ist. Roland Barthes hat, ohne das Feld des Literarischen dabei je ganz zu verlassen, alle nur denkbaren semiotischen Systeme der Lebenswelt Europas – und zunehmend auch außereuropäischer Systeme (USA, Japan) – als Elemente der Kultur in ihren Schichtungen und Verflechtungen zu begreifen gesucht. Er hat sie als Bestandteile eines allumfassenden ›Reiches der Zeichen‹ verstanden, einer Kultur, begriffen als Prozess fortschreitender Semiosen; als Vorgang einer nie endenden Produktion, Proliferation, Transformation und Distribution von Sinn.27

25 Ebd., S. 12. 26 Vgl. Gerhard Neumann/Sigrid Weigel (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000. 27 Die Beispiele für die Beobachtung verschiedener codes sind Legion. Ich nenne nur einige: Zum linguistischen code vgl. Roland Barthes: Système de la mode, Paris 1967; zum cultural code vgl. ders.: S/Z, Frankfurt/Main 1987 und vgl. ders.: Fragments d’un

K ULTURWISSENSCHAFTEN | 27

Es gibt Anzeichen dafür, dass die deutschen Literaturwissenschaften (wie etwa die Bücher von Hartmut Böhme und Friedrich A. Kittler zeigen) die Herausforderung Roland Barthes an die Literaturwissenschaften, sich als Kulturwissenschaften zu verstehen, inzwischen angenommen haben. Freilich nicht, indem sie eine neue Methodologie entwickelt hätten, sondern indem sie ihr Bezugsfeld tentativ erweiterten; indem sie den Anspruch nachhaltiger Kontextualisierung zu einem Leitmuster erhoben. An dieser Grenze des surplus28, des epistemischen und schöpferischen Mehrwerts, entspringen die sogenannten ›Kulturthemen‹: Kleidung, Essen, Lebensarchitektur, Konfrontation mit dem Tod, Codierung von ›Liebe‹ usw. Barthes verdanken wir übrigens – wenn nicht das Wort – so doch den Begriff des ›Kulturthemas‹. Roland Barthes entwickelt diesen Begriff – in Bezug auf eines der wichtigsten Kulturthemen neben der Sexualität, nämlich auf das Essen –, und zwar in seinem Vorwort zu einer Ausgabe von Brillat-Savarins Buch La physiologie du goût29. Die Relevanz dieses Kulturthemas und seiner Profilierung in der Kultur ist offensichtlich: Essen ist Sicherung des Fortbestandes des Individuums, so wie Sexualität für die Sicherung der Gattung Mensch steht. »Tout est là, en effet: l’espèce a besoin de la procréation pour survivre, l’individu a besoin de manger pour subsister; et cependant la satisfaction de ces deux besoins ne suffit à l’homme: il lui faut mettre en scène, si l’on peut dire, le luxe du désir, amoureux ou gastronomique: supplément énigmatique, inutile, la nourriture désirée [...] est une perte inconditionnelle, une sorte de cérémonie ethnographique par laquelle l’homme célèbre son pouvoir, sa liberté de brûler son énergie ›pour rien‹.«30

discours amoureux, Paris 1977; und vgl. ders.: Sade, Fourier, Loyola, Paris 1971; ferner ders.: Essays zu Brillat-Savarin und zum alimentären code. 28 Die Geschichte dieses Begriffs reicht bis ins Mittelalter zurück. Zu seiner Bedeutung bei Marie de France vgl. Gerhard Neumann: »Verpackte Zeichen. Zum novellistischen Liebesnarrativ im Laüstic der Marie de France und in der sogenannten ›Falken‹Novelle Boccaccios«, in: Ursula Peters/Rainer Warning (Hg.), Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag, München 2009, S. 319-338. 29 Jean-Anthelme Brillat-Savarin: La psychologie du goût, Paris 2009. 30 Marc Smeets: Huysmans lʼinchangé. Histoire dʼune conversion, Amsterdam 2004, S. 187.

28 | GERHARD N EUMANN

Es ist der letzte Satz, auf den es ankommt: »sa liberté de brûler son énergie ›pour rien‹«. Genau der hier anvisierte ›Mehrwert‹ ›für nichts‹ ist es, der für die Dynamik und Produktivität der Kultur garantiert. Roland Barthes’ Texte sind nicht das Resultat einer planenden methodologischen Vernunft, man muss sie als Stationen eines mäandernden Erkenntnisweges lesen, der ursprünglich ohne Wegweiser war. Als mir in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts das Werk Roland Barthes in die Hände fiel, stürzte dies mein ganzes – namentlich die Literaturwissenschaft, aber nicht nur sie, betreffendes – Weltbild um. Ich kam aus der Schule der Geisteswissenschaft eines Walter Rehm und der ›immanenten Interpretation‹ im Sinne Emil Staigers oder Gerhart Baumanns und wurde nun mit einem Werk konfrontiert, das alle gesetzten Grenzpfähle umstieß und mir eine neue, bunte, aufregende Welt eröffnete. Barthes’ Bemühungen richteten sich von Anfang an darauf, die Pluralität kultureller Zeichenordnungen und deren Feldstruktur zu beobachten und in ihrem Wechsel- und Überschichtungsspiel erkennbar zu machen. Namentlich kam es ihm dabei aber auf eine Konfrontation der differenziellen Kultursemiotiken mit einer Semiotik des Kunstwerks an: Es ging ihm um den Aufweis, dass es die Kunst ist, die alle kulturellen Semiosen ›artifiziell‹ in Szene setzt, deren Spiel auf vielfältige Weise thematisiert, simuliert, problematisiert, subvertiert und (im hermeneutischen Experiment) auf die Probe stellt. Basis von Barthes’ Semiologie ist dabei die Vorstellung von der grundsätzlichen Inszeniertheit des Zeichens, von dessen basaler und unveräußerlicher Theatralität; eine Einsicht, die u.a. dem Sprachwissenschaftler Lucien Tesnière zu verdanken ist.31

31 Vgl. Lucien Tesnière: Éléments de syntaxe structurale, Paris 1959. Tesnière schreibt: Le »nœud verbal, que l’on trouve au centre de la plupart de nos langues européennes, exprime tout un petit drame. Comme un drame en effet, il comporte obligatoirement un procès, et le plus souvent des acteurs et des circonstances.« Und er erläutert: »Transposé du plan de la réalité dramatique sur celui de la syntaxe structurale, le procès, les acteurs et les circonstances deviennent respectivement le verbe, les actants et les circonstants«. (Livre B, Ch. 48, § 1) Diese Gedanken führt Algirdas J. Greimas fort. Vgl. Algirdas J. Greimas: Sémantique structurale. Recherche de méthode, Paris 1966/1972. »Nous avons été frappé par une remarque de Tesnière [...] comparant l’énoncé élémentaire à un spectacle. Si l’on se rappelle que les fonctions, selon la syntaxe traditionelle, ne sont que des rôles joués par les mots [...] la proposition, dans une telle conception, n’est en effet qu’un spectacle que se donne à lui-même l’homo loquens.« Ebd., S. 173. Es ist Roland Barthes, der diesen Gedanken aufgreift und auf Vorgänge des Erzählens erweitert. Vgl. hierzu meine Einleitung in: Gerhard Neumann/Caroline Pross/Gerald Wildgruber (Hg.), Szenographien. Theatralität als Kate-

K ULTURWISSENSCHAFTEN | 29

Erstes Ergebnis dieser Begegnung mit dem Werk Roland Barthes’ war mein Beitrag zu dem von Horst Turk herausgegebenen Band Klassiker der Literaturtheorie, als deren letzten und jüngsten ich Barthes darzustellen versuchte. Wahrscheinlich war dies – im Jahre 1979 – eine der ersten deutschen Publikationen über den französischen Semiologen.32

VI. Aufs Ganze gesehen kann gesagt werden: Literaturwissenschaft wird (in Deutschland) mehr und mehr als eine Art Kultursemiologie betrieben. Hierin liegt (vorläufig) ihre Zukunft. Für eine als Kulturwissenschaft sich begreifende Literaturwissenschaft dürfte es darauf ankommen, die Verbindung von Distributionsknoten von sozialer Energie – wie Erkennungsszene, wie Ritual oder Theater – mit jenen kulturthematischen Feldern (und den zugehörigen Diskursformationen) herzustellen und zu beobachten, in denen sie situiert erscheinen. Solche Kulturthemen und ihre Felder sind, wie oben bereits angeführt, beispielsweise: Sexualität, Nahrung, Traum, Aggression, Todeserleben, Gedächtnis, Lebensarchitektur. Deren Beobachtung würde unter drei Aspekten vor sich gehen: Erstens unter dem Aspekt der Inszenierungsstruktur solcher Handlungs- und Redesequenzen, das diesbezügliche Stichwort lautet ›Theatralität‹33; zweitens unter dem Aspekt ihrer Einbettung zwischen literarischem und ›historischem‹ Code, aus denen das Gewebe der Kultur gebildet wird; und drittens unter dem Gesichtspunkt, dass in solchen kulturellen Vorgängen eine Semiotik der Sprache und eine solche des Körpers miteinander einhergehen. Wollte man die Funktion der Literatur – und der sie erschließenden Kulturwissenschaften – in diesem Gewebe der Kultur bestimmen, so wäre, nach einem glücklichen Begriff, den Harald Weinrich vor gut vierzig Jahren geprägt hat, Literatur als eine ›Kasuistik‹ von

gorie der Literaturwissenschaft, Freiburg i. Brsg. 2000, S. 11-32, und die in diesem Band befindliche Studie von Gerald Wildgruber: »Die Instanz der Szene im Denken der Sprache«, in: ebd., S. 35-63. 32 Vgl. Gerhard Neumann: »Barthes (*1915)«, in: Horst Turk (Hg.), Klassiker der Literaturtheorie. Von Boileau bis Barthes, München 1979, S. 298-310. 33 Diese Auseinandersetzung findet sich in Gerhard Neumann: »Theatralität der Zeichen. Roland Barthes’ Theorie einer szenischen Semiotik«, in: Gerhard Neumann/Caroline Pross/Gerald Wildgruber (Hg.), Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Freiburg i. Brsg. 2000, S. 65-112.

30 | GERHARD N EUMANN

Kulturthemen zu begreifen.34 Wenn es gelingt, eine solche Kulturwissenschaft als Literaturwissenschaft zu etablieren, dann wird ihr Arbeitsfeld über die üblichen Formen von Literatur umfassend erweitert: Ihr Arbeitsfeld wird über jenes streng begrenzte Korpus hinausgehen, das die Literaturwissenschaft, so weit sie Editionsphilologie ist, als Disziplin im Laufe ihrer Forschungsgeschichte ›als Literatur‹ allererst geschaffen hat. Jede Kritische Ausgabe bringt ja durch strenge Sichtung erst jene Texte hervor, die dann die Hermeneuten interpretieren, und schließt alle aus, die der strengen Sichtung nicht standhalten. Kritische Ausgaben schneiden gewissermaßen die ›Literatur‹ aus den kulturellen Texten aus. Sie schaffen einen Kanon, der nach Maßgabe je erneuerter Hermeneutiken auch immer von Neuem bedacht werden muss. Meine These lautet also: Aus den zahlreichen turns heraus, welche die Literaturwissenschaft genommen hat, ist eine neu sich fassende Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft im Entstehen; sie ist dabei, ihre eigene Hermeneutik zu entwickeln. Es ist noch ein Wort zu sagen zu der drohenden Unersättlichkeit der Kulturwissenschaftler im Hinblick auf immer neues Material und immer neue Diskursformationen. Dieser Vorwurf hat seinerzeit auch die sogenannte ›Mentalitätengeschichte‹ getroffen, die aus der französischen Annales-Schule hervorgegangen ist, der seinerseits auch Roland Barthes entstammt.35 Die Gefahr einer zu großen Nähe oder eines zu großen Beobachtungsabstandes ist gewiss gegeben, aber, wie sich immer wieder bei solchen ›Wenden‹ zeigt, auch bewältigbar. Und zwar durch die Einsicht, dass auch diese neue Wissensform nicht ohne den Begriff des Subjekts – noch einmal und immer wieder – auskommt. Nicht als Subjekt mit den Einschränkungen, die aus der Sicht unverwechselbarer, individueller Beobachtungen eines einzelnen sich notgedrungen ergeben und damit zur Verengung führen; sondern als Offenbarungen des Mehrwerts, den das Geheimnis einer Subjektivität in die Darstellung der Welt und ihrer Probleme einfließen lässt. Das Beobachtungsobjekt dieser neuen Wissensform sind, streng genommen, Fallgeschichten: schon das Wort Kasuistik deutet darauf hin. Und es gilt nach wie vor die Einsicht von Hugo Schuchhardt, die Ernst Robert Curtius so beeindruckte, dass er sie seinem einzigartigen Buch über Europäische Literatur und

34 Die europäische Literatur stelle sich »in einigen ihrer vornehmsten Gattungen als eine umfassende Kasuistik der Ehre dar«, schreibt Harald Weinrich in seinem Aufsatz »Mythologie der Ehre«, in: Manfred Fuhrmann (Hg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, S. 341-356. 35 Vgl. André Bruguière u.a.: Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, hg. von Ulrich Raulff, Berlin 1987.

K ULTURWISSENSCHAFTEN | 31

lateinisches Mittelalter (auch schon ein Vorklang von kulturwissenschaftlichem Denken) als Motto voranstellte: »Die paritätische Verbindung von Mikroskopie und Makroskopie bildet das Ideal der wissenschaftlichen Arbeit.«36

VII. Abschließend möchte ich ein Beispiel dafür geben, wie das kulturwissenschaftliche Szenario des Wahrnehmungsvorgangs von Welt zum Organon der Textinterpretation werden kann. Kafkas Frühwerk Betrachtung ist als Textensemble bislang von der Forschung noch nicht umfassend und im einzelnen schlüssig interpretiert worden.37 Man hat das Benjaminsche Modell des ›Denkbildes‹ bemüht; man hat an ›Kleinprosa‹ gedacht, an ›Kurzprosa‹ als Gattungsnamen, an Aperçus also – ›Wahrnehmungsaugenblicke‹, sogar an Aphorismen, im Nachgang zu Brod. In meinem kulturwissenschaftlichen Ansatz, den ich für die Interpretation dieses spröden Textes vorschlage, möchte ich von dem Wahrnehmungs-Modell ausgehen, das Kafka hier privilegiert. Das erste der achtzehn Textstücke der Betrachtung, Kinder auf der Landstraße, setzt dieses Wahrnehmungsmodell überdeutlich in Szene. Es ist der Beobachter auf der Schaukel, der, als Sich-Bewegender, jene anderen ihrerseits sich Bewegenden, nämlich die am Garten vorbeilaufenden Kinder, beobachtet. Dieses Beobachtungs-Modell ist die Kern-Idee des ganzen Text-Ensembles. Dem vorangestellten Wahrnehmungs-Modell des Beobachters auf der Schaukel sind zwei weitere Strukturmuster an die Seite gegeben: Erstens die Denk- und Darstellungsform des Fragmenten-Schwarms als der Proliferation der Gedanken und Motive durch Streuung: eine Erfindung der deutschen Romantik; man denke an die ›Blütenstaubfragmente‹ des Novalis, aber auch an sein Allgemeines Brouillon und seine Enzyklopädistik38; zweitens aber die

36 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1954, S. 7. 37 Eine ausführliche Interpretation dieses Textkorpus unter dem Wahrnehmungs-Aspekt gebe ich in einem demnächst (2014) erscheinenden Sammelband, der ausschließlich der Betrachtung gewidmet ist: G. Neumann: Der Beobachter auf der Schaukel (s. Anm. 17). 38 Vgl. meinen Aufsatz: »Die frühromantische Enzyklopädie. Novalis und sein Konzept des Wissenstheaters«, in: Theo Stammen/Wolfgang E. J. Weber (Hg.), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien, Berlin 2004, S. 119-142.

32 | GERHARD N EUMANN

Wahrnehmungs-Bedingung der ›Plötzlichkeit‹, das Aufscheinen des ästhetischen Mehrwerts in der Erfahrung der Plötzlichkeit, wie es Karl Heinz Bohrer in seinem gleichnamigen Buch entwickelt hat.39 Die Kern-Idee des Beobachters auf der Schaukel beruht aber dann auf dem ›allermodernsten‹40 Wahrnehmungsmodell des 20. Jahrhunderts, nämlich auf Einsteins ›spezieller Relativitätstheorie‹. Eine Bewegung, sagt diese Theorie, ist nur wahrnehmbar von der Position eines Beobachters aus, der sich gleichfalls in Bewegung befindet. Kafkas Text-Ensemble ist also eine Studie über das neue Beobachtungsszenario der Relativität, das in der wissenschaftlichen Welt gerade im Gespräch ist. Ich verdanke der ungedruckten Dissertation von Justice Kraus aus Harvard (2008)41 den Nachweis, dass Kafka einen Vortrag Einsteins über dessen spezielle Relativitätstheorie im Salon der Frau Fanta in Prag gehört hat und mit Einstein und seinem Kreis bekannt war – über die Vermittlung durch Max Brod. Vor dem Hintergrund dieser Kontextualisierung stellt sich das Textkorpus Betrachtung folgendermaßen dar: Kafka trägt sich von Anfang seines Schreibens an mit dem Gedanken, einen (Bildungs-)Roman zu verfassen, also ›Leben zu erzählen‹. Ein erster Versuch hierzu ist der sechsfache Ansatz zu einem (autobiographischen) Roman in seinem ersten Tagebuch, das Konzept mit dem Titel Der kleine Ruinenbewohner. Die Arbeit daran stockt; der Versuch ist gescheitert. Auch das zweite Projekt solcher Art, der Amerika-Roman Der Verschollene, ist zwar weiter gediehen als Der kleine Ruinenbewohner, gelangt aber auch zu keinem Abschluss. Ebenso ergeht es den weiteren beiden RomanVersuchen, Der Prozeß und Das Schloß. Ich habe dieses Geschehen als das Modell der verfehlten Anfänge und des offenen Endes bezeichnet42 und als Modell eines nicht zu Ende gebrachten Bildungsromans gelesen. Die erste These meines Deutungsansatzes lautet: Der Sammelband Betrachtung simuliert das Schema eines solchen geplanten (Bildungs-)Romans, der die ›Betrachtung‹ der Welt inszenieren soll, indem er die Motive und Dispositive eines solchen Romanwerks als Kurztexte, gewissermaßen als Stichworte, um eine Achse gruppiert, die den Weg der im Roman angestrebten

39 Vgl. Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt/Main 1981. 40 Ein für Kafka zentraler Gesichtspunkt. Auch das Amerika des Verschollenen sollte nach Kafkas eigener Aussage das ›allermodernste‹ sein. 41 Vgl. Justice Kraus: Science Functions: Musil, Kafka, Broch, Harvard 2008 [Diss.]. 42 Vgl. Gerhard Neumann: Verfehlte Anfänge und offenes Ende. Franz Kafkas poetische Anthropologie, München 2011.

K ULTURWISSENSCHAFTEN | 33

Karriere eines erlebenden Subjekts in Abbreviatur markiert. Meine These zwei besagt: Bewegung ist das Medium dieses Wahrnehmungsgeschehens, in welches der Protagonist des geplanten Romans verwickelt ist. Bewegung erscheint dabei in ihrer relationalen Struktur – also im modernsten Gewand der Wissenschaft – als ein Mittel der Beobachtung, der Wahrnehmung von Welt. Und als dritte These folgt daraus: Kafkas Betrachtung ist der Versuch, die Struktur eines Bildungsromans in Gestalt eines Text-Schwarms – in strenger Skelettierung – zu modellieren: gewissermaßen als durch Stichworte gestalteten Probelauf. Die achtzehn Kurztexte werfen spot-lights auf die einzelnen Bestimmungsmerkmale der Karriere des Protagonisten in einem solchen zu schreibenden Roman. Betrachtung ist Kafkas erster Versuch einer Experimentenreihe für das Romanschreiben mit den verschiedenen Wahrnehmungsschemata der Lebenswelt: mit dem Ziel der Konstruktion einer Bildungsroman-Karriere. Das Text-Ensemble Betrachtung macht das poetologische Modell zur Darstellungsstruktur. Mit anderen Worten: Betrachtung ist das Denkbild der Abbreviatur eines Bildungsromans, der sein Voranschreiten als Ausstieben eines Fragmentenschwarms erprobt. Mit der Schaffung dieses literarischen Modells der ›Betrachtung‹ aus dem Wahrnehmungsmodell der Relativitätstheorie liefert Kafka mithin auch gleich dessen Poetologie mit. Dieser poetologische Befund ist mit Mitteln der KontextAnalyse zu erhärten: durch literaturwissenschaftliche Hermeneutik, als Kulturwissenschaft betrieben.

L ITERATUR Assmann, Aleida/Assmann, Jan (Hg.): Verwandlungen. Archäologie der literarischen Kommunikation IX, München 2006. Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt/Main 1981. Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg 2007. Brand, Reinhard (Hg.): Meisterwerke der Literatur. Von Homer bis Musil, Leipzig 2001. Bruguière, André u.a.: Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, hg. von Ulrich Raulff, Berlin 1987. Brillat-Savarin, Jean-Anthelme: La psychologie du goût, Paris 2009. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1954.

34 | GERHARD N EUMANN

Daston, Lorraine: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, München 2000. Freud, Sigmund: »Das Unbehagen in der Kultur«, in: ders.: Studienausgabe, Bd. IX: Fragen der Gesellschaft/Ursprünge der Religion, hg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richard/James Strachey, Frankfurt/Main 1997, S. 197270. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/Main 1987. Greenblatt, Stephen: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy, Berkeley 1988. Kafka, Franz: »Beim Bau der chinesischen Mauer«, in: ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 6: Beim Bau der chinesischen Mauer und anderen Schriften aus dem Nachlaß. In der Fassung der Handschrift, hg. von HansGerd Koch, Frankfurt/Main 1994. Kittsteiner, Heinz Dieter: »Vorwort: Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten«, in: ders. (Hg.), Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München 2004, S. 7-24. Kraus, Justice: Science Functions: Musil, Kafka, Broch, Harvard 2008 [Diss.]. Neumann, Gerhard: »Barthes (*1915)«, in: Horst Turk (Hg.), Klassiker der Literaturtheorie. Von Boileau bis Barthes, München 1979, S. 298-310. Neumann, Gerhard: »Hungerkünstler und Menschenfresser. Zum Verhältnis von Kunst und kulturellem Ritual im Werk Franz Kafkas«, in: Archiv für Kulturgeschichte 66,2 (1984), S. 347-388. Neumann, Gerhard: »Jede Nahrung ist ein Symbol. Umrisse einer Kulturwissenschaft des Essens«, in: Alois Wierlacher/Gerhard Neumann/Hans J. Teuteberg (Hg.), Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder, Berlin 1993, S. 385-444. Neumann, Gerhard/Weigel, Sigrid (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000. Neumann, Gerhard: »Die frühromantische Enzyklopädie. Novalis und sein Konzept des Wissenstheaters«, in: Theo Stammen/Wolfgang E. J. Weber (Hg.), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien, Berlin 2004, S. 119-142. Neumann, Gerhard: »Verpackte Zeichen. Zum novellistischen Liebesnarrativ im Laüstic der Marie de France und in der sogenannten ›Falken‹-Novelle Boccaccios«, in: Ursula Peters/Rainer Warning (Hg.), Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag, München 2009, S. 319-338.

K ULTURWISSENSCHAFTEN | 35

Neumann, Gerhard: »Die Welt im Fenster. Erkennungsszenen in der Literatur«, in: Hofmannsthal-Jahrbuch zur Europäischen Moderne 18 (2010), S. 215257. Neumann, Gerhard: Verfehlte Anfänge und offenes Ende. Franz Kafkas poetische Anthropologie, München 2011. Marx, Karl: Ökonomische philosophische Manuskripte, hg. von Barbara Zehnpfennig, Hamburg 2005. Oesterle, Günter: »Imprévu und Déjà-vu. Liebe auf den ersten Blick und Wahrnehmung der Welt: das Drama des Erkennens«, in: ders. (Hg.), Déja-vu in Literatur und bildender Kunst, München 2003, S. 79-100. Scherpe, Klaus: Grenzgänge zwischen den Disziplinen. Ethnographie und Literaturwissenschaft, in: Petra Boden/Holger Dainat (Hg.), Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert, Berlin 1997, S. 297-315. Smeets, Marc: Huysmans lʼinchangé. Histoire dʼune conversion, Amsterdam 2004. Staiger, Emil: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller, Zürich u.a. 1939. Staiger, Emil: Meisterwerke deutscher Sprache aus dem 19. Jahrhundert, Zürich 1948. Staiger, Emil: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Zürich 1955. Staiger, Emil: Spätzeit. Studien zur deutschen Literatur, München u.a. 1973. Staiger, Emil: Gipfel der Zeit. Studien zur Weltliteratur. Sophokles, Horaz, Shakespeare, Manzoni, Zürich u.a 1979. Pöppel, Ernst: Der Rahmen. Ein Blick des Gehirns auf unser Ich, München 2006. Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt/Main 2004. Weinrich, Harald: »Mythologie der Ehre«, in: Manfred Fuhrmann (Hg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, S. 341-356.

Konstellationen – Kulturwissenschaftliches Lesen F RANZISKA S CHÖSSLER

Die kulturwissenschaftlichen Ansätze der letzten Jahre haben zu einer neuartigen Konstellierung von Texten im Lektüreprozess geführt. Jenseits von Autorschaft als Bedeutungshoheit und Garant für ein kohärentes stilistisches Niveau und jenseits des Werkbegriffs, der im literaturwissenschaftlichen Diskurs für Einheitlichkeit sorgt,1 stellt sich die Frage, welche Texte vor dem Hintergrund welcher Vernetzungsregeln zusammengelesen werden. Clifford Geertz zum Beispiel kombiniert den balinesischen Hahnenkampf mit William Shakespeares Drama King Lear sowie Dostojewskis Roman Schuld und Sühne.2 Diese kulturwissenschaftliche Lesepraxis jenseits von Werk und Autor kann durchaus als innovative Leistung gelten, die methodisch und theoretisch (auch mit Blick auf die Ausweitung des nationalphilologischen Kanons) auszuarbeiten wäre. Zur Disposition steht damit auch der Kanon. Das Problem, das kulturwissenschaftliche Analysen in der Regel haben, scheint die Diffusität ihres Gegenstandes zu sein, wie kritische Rezensionen moniert haben. Die Erweiterung von Literatur zur Kultur gilt häufig als Verlust des ›angestammten‹ Gegenstandes und als 1

Vgl. Michel Foucault: »Was ist ein Autor?«, in: ders.: Schriften zur Literatur, Frank-

2

Vgl. Clifford Geertz: »›Deep Play‹. Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf«,

furt/Main 1988, S. 7-31. in: ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/Main 1983, S. 202-260. Auch Phyllis Gorfain bezieht das englische Drama als prototypischen Text über die Genese kultureller Bedeutung auf den Hahnenkampf; Phyllis Gorfain: »Spiel und die Unsicherheit des Wissens in Shakespeares Hamlet«, in: Doris Bachmann-Medick (Hg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main 1996, S. 67-97, hier S. 68.

38 | F RANZISKA S CHÖSSLER

Überschreitung der fachspezifischen Kompetenzen. Es scheint jedoch fraglich, ob der ›Gegenstand‹ der klassischen Literaturwissenschaft bzw. der Germanistik wirklich so eindeutig zu bestimmen ist, wie diese Klage nahelegt. Oder anders formuliert: Wird der ›Gegenstand‹ der Disziplin als evident behauptet, so lässt sich vermuten, dass der Kanon einer weißen, männlichen Hochliteratur gemeint ist, den die neuere Forschung als problematische (Macht-)Konstruktion ausgewiesen hat. Darüber hinaus lässt sich mit dem Instrumentarium der Kulturwissenschaften sicherlich auch, wie Steffen Martus betont, die kanonisierte Hochliteratur lesen.3 »In der Tat besteht kein Anlass zu der Vermutung, dass eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft die Gegenstände der herkömmlichen Literaturwissenschaft nicht auch bearbeiten könnte.«4 Zudem kann die gemeinhin proklamierte Gegenstandserweiterung der Kulturwissenschaft ihrerseits eine Verknappung bedeuten, wie Martus ebenfalls festhält. Denn der Fokus werde auf diejenigen literarischen Werke gelenkt, die kontextuell verortet werden können, also Anschlussstellen für nicht-literarische Texte bereithalten. Kriterium für die Auswahl sei die »Signifikanz für einen nicht-literarischen Kontext«,5 so dass es auch in den Kulturwissenschaften zu einer Limitierung, zu einer »Praxis der Verminderung« komme.6 Literatur- und Kulturwissenschaften weisen mithin beide Ausschließungsverfahren auf, die für den letzteren Bereich noch stärker zu überdenken wären und anhand von Beispielanalysen reflektiert werden könnten. Zu vermuten ist, dass das Verfahren der Kontextualisierung vor allem Prosa privilegiert, oder allgemeiner: Texte, die Referenzialität suggerieren und in geringerem Maße mit Selbstreferenz als autonomisierender Strategie der Entkopplung arbeiten. In hochkulturellen Texten lassen sich immerhin noch Spuren der Referenzdiskurse ausmachen und die Strategien der Entkopplung beschreiben. Das kulturwissenschaftliche Zusammenlesen von zeitgleich entstandenen Texten kann diskursanalytisch begründet werden und ließe dann die Kontinuität des Dispositivs sichtbar werden, um mit Michel Foucault zu sprechen; die ästhetischen Differenzen zwischen den Textsorten würden hingegen in den Hintergrund treten. Der Text wird in einen Kontext aus Stimmen, aus zeitgleichen Do-

3

Vgl. dazu auch Franziska Schößler: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung, Tübingen, Basel 2006, S. XI.

4

Steffen Martus: »Philo-Logik. Zur kulturwissenschaftlichen Begründung von Literaturwissenschaft«, in: Uwe Wirth (Hg.), Logiken und Praktiken der Kulturforschung, Berlin 2008, S. 125-147, hier S. 140.

5

Ebd., S. 141.

6

Ebd.

K ONSTELLATIONEN – K ULTURWISSENSCHAFTLICHES LESEN | 39

kumenten integriert, um die Diskursregeln einer Epoche zu extrapolieren, und degeneriere damit, so ein Vorwurf, zum puren Sozialreport.7 Der neuhistorische Ansatz, dem es um den Austausch von Motiven und Argumenten zwischen Feldern wie Theater und Politik geht, interessiert sich in stärkerem Maße für die Differenzen zwischen Textsorten, zum Beispiel zwischen hochkulturellen Artefakten und populären Genres, zwischen kanonischer Literatur (wie Shakespeare) und Gebrauchstexten. Stephen Greenblatts Untersuchungen markieren in der Regel den signifikanten Unterschied, »der zwischen zwei Partnern eines semantischen Austauschprozesses bzw. einer Verhandlung über Themen, Motive und mobilisierte Argumente herrscht«.8 Allerdings etabliert Greenblatt zwischen Literatur und außerliterarischen Kontexten ein tertium comparationis, denn er unterstreicht einerseits den besonderen Status von Literatur als Resonanzraum sozialer Energien, wenn er in Renaissance Self-fashioning erklärt: »Der zentrale Gegenstand meiner Aufmerksamkeit in dieser Arbeit über Selbstbildung bleibt der literarische Text, teils weil [...] große Kunst ein außerordentlich sensitives Instrument für die komplexen Auseinandersetzungen und Harmonien der Kultur ist, teils weil aufgrund meiner Neigung und Ausbildung das, worüber ich an interpretativen Fähigkeiten verfüge, von den Resonanzen der Literatur erst freigesetzt wird.«9

Andererseits unterstellt Greenblatt diese ästhetische Struktur auch nichtliterarischen Texten – für sein Verfahren, für die konstellative Zusammenstellung von Texten aus verschiedenen Feldern, eine wichtige Voraussetzung. Er begreift expositorische Texte wie Kolonialberichte als ›ästhetische Simulation‹,

7

Auch Doris Bachmann-Medick versucht diesem Einwand entgegenzutreten; literarische Texte lieferten nicht lediglich »Sozialreporte« (Doris Bachmann-Medick: »Weltsprache der Literatur«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42 [1998], S. 463-469, hier S. 467), sind nicht nur Informationsquelle, sondern reflektieren kulturelle Prozesse und transformieren sie, so dass Literatur zum kritischen Kommentar wird oder zu einer »Kasuistik von Kulturthemen«; Gerhard Neumann/Sigrid Weigel: »Einleitung der Herausgeber«, in: dies. (Hg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000, S. 9-18, hier S. 15.

8

Lutz Ellrich: Verschriebene Fremdheit. Die Ethnographie kultureller Brüche bei Clif-

9

Stephen Greenblatt: »Selbstbildung in der Renaissance. Von More bis Shakespeare

ford Geertz und Stephen Greenblatt, Frankfurt/Main, New York 1999, S. 343. (Einleitung)«, in: Moritz Baßler (Hg.), New Historicism: Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Tübingen, Basel 1995, S. 35-47, hier S. 40.

40 | F RANZISKA S CHÖSSLER

um die an diesen Beispielen beschriebenen textuellen Strategien auf die hochkulturellen Texte zurückzuprojizieren.

K ONSTELLATIONEN 1: H OCH -

UND

P OPULÄRKULTUR

Im Folgenden soll zunächst das Zusammenlesen von so genannter ›Populärliteratur‹ und ›Hochliteratur‹10 als Texte mit unterschiedlichen Graden der Selbstreferenzialisierung überdacht werden.11 In diesem Falle kann ein konstellatives Lesen verdeutlichen, dass Kanonliteratur zwar an den gleichen Themen partizipiert – diese sind in Populärtexten oft viel greifbarer –, sich jedoch durch Selbstreferenz ›autonomisiert‹ und von den ›Tagesdiskursen‹ (wie beispielsweise Antisemitismus und Rassismus) abkoppelt. Diese Diskurse bleiben in den reflexivierenden Übersetzungen als Spuren präsent, verlieren also nicht völlig den Bezug zu den in abgeschatteter Form auftauchenden Sujets, ermöglichen jedoch das ›Überlesen‹ der problematischen Verstrickungen und damit eine Nivellierung der Provokation von Literatur. Die Populärliteratur als Kontext nimmt dabei – anders als nicht-literarische Texte – eine interdiskursive Kopplung der virulenten Sujets vor;12 sie popularisiert in stärkerem Maße als Hochkultur zeitgenössische Wissensbestände, generiert Kollektivsymbole, die die spezialisierten Wissensfelder vernetzen, und weist bestimmte Themen samt ihrer Wertungen als dominante aus. In den zahlreichen nicht-kanonisierten

10 Zu diesem Begriffspaar, das im Laufe des 19. Jahrhunderts entsteht, und seinem Genderindex vgl. u.a. Andreas Huyssen: After the Great Divide. Modernism, Mass Culture, Postmodernism, Bloomington, Indianapolis 1986, S. 44f.; ebenso Jochen SchulteSasse: »High/Low and other Dichotomies«, in: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hg.), High and Low Cultures. German Attempts at Mediation, Madison, Wisconsin 1994, S. 3-18. Insbesondere die hierarchisierenden Oppositionen Form/Formlosigkeit (Drama/Roman) und Unterhaltung/Kunst (Hochkultur/Populärkultur) fungieren als flexible Leitdifferenzen, die das literarische System an die bürgerliche Geschlechterordnung anschließen. 11 In diesem Zusammenhang sind die Analysen von Iser immer noch hilfreich; vgl. u.a. Wolfgang Iser: »Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text?«, in: ders./Dieter Henrich (Hg.), Funktionen des Fiktiven, München 1983, S. 121151. 12 Vgl. Jürgen Link: »Literaturanalyse als Interdiskursanalyse«, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main 1988, S. 284-307.

K ONSTELLATIONEN – K ULTURWISSENSCHAFTLICHES LESEN | 41

Ingenieursromanen um 1900 zum Beispiel ist die negative Bewertung des ›korrumpierenden‹ Geldes, mit dem der beliebte Typus des Ingenieurs in der Regel auch zu tun hat, sehr viel greifbarer als in Fontanes Technikroman Cécile, der bereits durch seinen Titel den Fokus auf das Frauenopfer verschiebt. Erst vor dem Hintergrund der relativ verbindlichen Narration über den Ingenieur in populären Texten zeigt sich die Diskreditierung des männlichen Protagonisten, der bei Fontane nicht von ungefähr als Fremder und Weltreisender konzipiert ist. Plädiert wird hier also für eine Integration hochkultureller Texte in die Populärliteratur ihrer Zeit bzw. umgekehrt, denn eine solche Konstellierung kann zu einer Neulektüre der kanonischen Texte gegen die exkludierenden Bahnungen der Rezeption führen, die auch festlegen, welche Partien für die Interpretation relevant zu sein scheinen. Fassbar werden auf diese Weise die abgeblendeten Alltagsdiskurse als Provokation der Literatur, um die sich die Literaturwissenschaft seit den 1970er Jahren gegen eine enthistorisierende Verallgemeinerung von Aussagen in Kanonwerken bemüht.13 Diese Konstellierungen führen zu einer Neuordnung bzw. Auflösung des (national besetzten) Kanons, indem Populärliteratur in die fachwissenschaftliche Diskussion integriert wird – die Cultural Studies versuchen bereits seit den 1970er Jahren für eine stärkere Berücksichtigung populärkultureller Ausdrucksformen zu sorgen. Darüber hinaus lassen sich auf diese Weise die Spezifika ästhetischer Niveaus bestimmen und diejenigen Strategien der Hochliteratur präzisieren, die zu einer Immunisierung gegen Alltagsdiskurse führen. Auch und gerade im Umgang mit postkolonialen Themen, mit Rassismus, Antisemitismus und der Exklusion von Minoritäten, kann dieses Verfahren, das den Kanon kulturwissenschaftlich öffnet, ohne diesen völlig aus dem Blick zu verlieren, hilfreich sein. Eine gemeinsame Lektüre von Hoch- und Populärliteratur profiliert beispielsweise die Partizipation ersterer an antisemitischen Argumentationen, wie sie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts grassieren, und ermöglicht, die dissimulatorischen Strategien der Abkopplung freizulegen, die mit dem ästhetischen Niveau der Texte in unmittelbarem Zusammenhang stehen, zumal wenn sie durch eine immunisierende Lesepraxis verstärkt werden. Erst diese Strategien der Entreferenzialisierung ermöglichen die Kanonisierung bestimmter literarischer Texte. Bezeichnenderweise gelten Autoren, die sich weit sichtbarer auf die rassistischen, antijüdischen und kolonialen Diskurse beziehen, häufig als mittlere Autoren wie Gustav Freytag und Heinrich Mann in seiner frühen Phase – für diesen entwickelte die Forschung ein

13 Vgl. dazu auch Aleida Assmann: »Kanonforschung als Provokation der Literaturwissenschaft«, in: Renate von Heydebrand (Hg.), Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung, Stuttgart 1998, S. 47-59.

42 | F RANZISKA S CHÖSSLER

›Phasenmodell‹, das die frühen Texte wie Im Schlaraffenland von den späteren abtrennt und das Œuvre auf diese Weise ›rettet‹.14 Ein Blick auf die zeitgenössische Populärliteratur sensibilisiert also für Machtdiskurse sowie für die ästhetischen Verfahren der Selbstreferenzialisierung und Enthistorisierung.

K ONSTELLATIONEN 2: K UNST

UND

Ö KONOMIE

Die Kulturwissenschaften sind das Produkt eines regen Tauschverkehrs. Theorien aus Ethnologie, Anthropologie, Soziologie etc. werden in die Literaturwissenschaften importiert, die sich damit notwendigerweise anderen Disziplinen öffnen.15 Diese interdisziplinäre Vernetzung ist auch eine Reaktion auf die neue Wissenschaftspolitik und -förderung, die sich zunehmend an den ›harten Wissenschaften‹ ausrichten und allem voran die Fusion von Geistes- und Naturwissenschaften honorieren (wie die geförderten Projekte der Exzellenzinitiativen belegen). Mit ihrer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung, die Kanones verschiebt

14 Vgl. Rolf Thiede: Stereotypen vom Juden. Die frühen Schriften von Heinrich und Thomas Mann. Zum antisemitischen Diskurs der Moderne und dem Versuch seiner Überwindung, Berlin 1998, S. 8f. Häufig werden die früheren Texte schlicht als kapitalismuskritisch bezeichnet, ohne die »angebliche Substituierbarkeit von ›Jude‹ und ›Kapitalist‹« als »bestimmende[s] und propagandamächtigste[s] Merkmal der Judenfeindschaft der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts« zu berücksichtigen; ebd., S. 12. Heinrich Manns Essays aus der Zeitschrift Das zwanzigste Jahrhundert, die sich ganz eindeutig im antisemitischen Diskurs der Zeit situieren, werden häufig als ästhetizistisches Spiel mit ideologischen Positionen abgetan. Horstmann-Nash weist hingegen nach, dass selbst in Heinrich Manns späteren Essays die bedrohliche Fremdheit des Anderen weiterhin aufzufinden ist und das Fremde grundsätzlich als Indiz gesellschaftlicher Dekadenz gilt; vgl. Ursula Anna Horstmann-Nash: Die Grenzen der Nation. Nationale Identität und Fremdheit in literarischen Diskursen deutscher Vereinigungen (1870/71 und 1989/90), Konstanz 2008, S. 135. 15 Interdisziplinarität gilt gemeinhin als Chance und Gefährdung – Letzteres deshalb, weil der kulturwissenschaftliche Fokus, der den literarischen Text in außerliterarischen Bereichen wie Medizin, Ökonomie, Recht etc. positioniert, eine Deprivilegierung des Literarischen mit sich bringt; vgl. die Diskussion im Schiller-Jahrbuch 42 (1998); u.a. Wilhelm Voßkamp: »Die Gegenstände der Literaturwissenschaft und ihre Einbindung in die Kulturwissenschaften«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 503-507.

K ONSTELLATIONEN – K ULTURWISSENSCHAFTLICHES LESEN | 43

und damit durchaus an den neuen Archiv-Turn anzuschließen ist,16 stellen sich die Literaturwissenschaften auf diese Praxis ein, indem sie Anschlussstellen für andere Disziplinen erarbeiten. In eine interdisziplinäre Wissenslandschaft integriert könnten die Literaturwissenschaften ihren massiven Geltungsverlust zumindest verlangsamen; ganz ähnlich sehen die Strategien der Auslandsgermanistik aus. Positiv gewendet ließe sich formulieren, dass kulturwissenschaftliche Interdisziplinarität die Partizipation von Literatur an außerliterarischen Feldern freilegt (als Absage an ihre Autonomisierung, die Peter Bürger als ihre Ohnmacht beschreibt) und zu einer anderen Form von wissenschaftlicher Arbeit führt, zur Kooperation mit Wissenschaftler/innen aus anderen Feldern. Zwar bringen Literaturwissenschaftler/innen eine fundamentale Kompetenz für Kontextualisierungen mit – die Fähigkeit, Texte zu lesen, das heißt Metaphern zu dechiffrieren etc. –, gleichwohl benötigen sie das Wissen aus den anderen Feldern, wie es in die Literatur per se eingeht. Verlangt die Wissenschaftsförderung in immer stärkerem Maße Teamarbeit, die zuweilen als naturwissenschaftliches Verfahren abgetan wird und im geisteswissenschaftlichen Bereich für wenig kompatibel gilt, so lassen sich zur Bearbeitung kulturwissenschaftlicher Fragestellungen durchaus Formen kollektiver interdisziplinärer Autorschaft entwickeln.17 Interdisziplinarität ist also vonnöten, um nicht-literarische Texte oder auch nicht-literaturwissenschaftliches Wissen kenntnisreich in die Lektürekonstellationen einzuspeisen. Auf diese Weise werden die disziplinären Grenzen zwischen den Wissenschaften befragt bzw. aufgesprengt, die Machtdiskursen gehorchen und blinde Flecken generieren. Der Kapitalismus ermögliche, so Stephen Greenblatt, Austausch und Abgrenzung, sei in metaphorischem und buchstäblichem Sinne ein Medium, das einen »diskontinuierlichen Austausch« zwischen Systemen organisiere, unterschiedliche Felder wie Religion, Ökonomie und Medizin in Beziehung setze, sie jedoch auch voneinander isoliere. Greenblatt hält fest:

16 Auch das neue Interesse an Archiven hat sich beispielsweise mit dem überholten Nationaldiskurs auseinanderzusetzen, der im 19. Jahrhundert den Rahmen der Archivkultur bildete; die Gender Studies und die interkulturelle Germanistik befragen diesen Diskurs seit längerem. 17 Diese Form von Autorschaft produzieren in gewissem Sinne auch Tagungseinladungen; man erhält Anstöße, über Themen nachzudenken, die der eigenen Arbeit bereits eingeschrieben sind, und entwickelt auf diese Weise eine wissenschaftliche Biographie, die im Dialog mit anderen entsteht.

44 | F RANZISKA S CHÖSSLER »[D]er Kapitalismus hat charakteristischerweise weder Herrschaftsformen hervorgerufen, in denen alle Diskurse miteinander koordiniert zu sein scheinen, noch solche, in denen sie radikal voneinander isoliert oder diskontinuierlich zu sein scheinen. Er hat vielmehr Herrschaftsformen ins Leben gerufen, in denen die Tendenz der Differenzierung und die der monologischen Organisation gleichzeitig wirksam sind, zumindest einander so schnell abwechseln, daß der Eindruck der Gleichzeitigkeit entsteht.«18

Interdisziplinäre Verhandlungen können vor diesem Hintergrund die etablierten Grenzziehungen des Wissens und die damit assoziierten Machtordnungen und anästhetisierenden Effekte in Frage stellen. Sehr deutlich wird der machtstabilisierende Effekt der Trennung beispielsweise in den Gender Studies. Diese reproduzieren die bürgerliche Trennung von privater Sphäre als weiblicher und öffentlicher als männlicher, wenn sie bevorzugt die Geschlechterkonstruktionen im kulturellen Sektor jenseits ihrer ökonomischen Rahmungen untersuchen. Auf Ökonomie, Macht und die Verteilung von Ressourcen konzentrieren sich hingegen die Men’s Studies. Um dieser akademischen Arbeitsteilung (zwischen Gender und Men’s Studies) entgegenzutreten, wäre beispielsweise in einem interdisziplinären Ansatz mithilfe arbeitssoziologischer Beschreibungsmodelle, die von emotionaler, ästhetischer und prekärer Arbeit sprechen, weibliche Arbeit zu untersuchen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ermöglicht es also, die Trennungen von Wissensfeldern, die durch die disziplinären Segregationen sanktioniert werden, aufzuheben und nach den ideologischen Implikationen zu fragen (um neue zu produzieren). Brisant scheint mir diese Kollaboration insbesondere dann, wenn es um das Zusammendenken von Kunst und Ökonomie geht – eine Konstellation, die in der bürgerlichen Moderne als fragwürdig, ja als Ausschlussverhältnis erscheint. Erst der im Anschluss an die Cultural Studies entstehende Economic Criticism in den USA, der zunehmend auch in Deutschland rezipiert wird, hebt diese disziplinäre Trennung auf und behandelt sowohl das Ökonomische als kulturelle Praxis als auch das Künstlerische als in ökonomische Verhandlungen involviert. Literatur und Ökonomie lassen sich nach Martha Woodmansee und Mark Osteen, die die neueren Tendenzen in einem Sammelband dokumentieren, in vierfacher Hinsicht aufeinander beziehen: Untersucht werden können die ökonomischen Verhältnisse sowie die finanziellen Praktiken von Autor/innen, die ihrerseits unter Berücksichtigung von Gender- und Ethnizitätsimplikationen auf die umfassenderen ökonomischen Kontexte der Zeit beziehbar sind. Die zweite Variante besteht in

18 Stephen Greenblatt: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern, Frankfurt/Main 1995, S. 112f.

K ONSTELLATIONEN – K ULTURWISSENSCHAFTLICHES LESEN | 45

der Analyse des intratextuellen Austauschs von Tropen, ausgehend von der Überzeugung, dass Sprache eine fundamentale Isomorphie zum Geld aufweise. Der dritte Ansatz reformuliert die Intertextualitätstheorie und begreift intertextuelle Referenzen als Anleihen, Schreiben demgemäß als Schuldenmachen. Darüber hinaus reflektiert eine vierte Position, die als theoretisches Regulativ fungiert, die Reichweite sowie die Gefahren der Analogiebildungen und Metaphorisierungen, die literarisch-ökonomische Lektüren gemeinhin produzieren, also auch die Grenzen der interdisziplinären Vernetzung. Von den kulturwissenschaftlichen Kontextualisierungen und dem linguistic turn profitieren umgekehrt auch die Wirtschaftswissenschaften, die zunehmend die Metaphorizität ihrer eigenen Sprache und die Konstruktivität der Modelle überdenken. Die Forschung interessiert sich in einer antiessentialistischen Wende für die Rhetorik des Ökonomischen und weist einschlägige Erklärungsmuster als kulturelle Konstruktionen aus, beispielsweise die Figur des isoliert agierenden homo oeconomicus, der als Prototyp weißer westlicher Männlichkeit dekuvriert und mit Altruismus- bzw. Solidaritätskonzepten konfrontiert wird. Die Critical Economics integrieren ihrerseits Ansätze der Gender und Postcolonial Studies19 – auszumachen sei »a growing group of feminist economists, who have spotlighted the gendered nature not only of ›economic man‹ but also of economics itself«.20 Susan Feiner zum Beispiel untersucht die narrativen Strukturen des homo oeconomicus, genauer: den in den Mythos inskribierten Entwicklungsroman sowie seine psychoanalytische Dynamik21 und betont, dass dieses »bourgeois drama«22 ganz offensichtlich irrationale Anteile enthalte. Ist die Forschung an Bruchstellen der Rationalitätsmodelle interessiert, so untersucht sie bevorzugt Krisen und Paniken.23 Die Critical Economics arbeiten damit an einer ›Resozialisierung‹ und Rehistorisierung des Ökonomischen, an seiner Integration in so-

19 Vgl. dazu Susan F. Feiner (Hg.): Race and Gender in the American Economy: Views from Across the Spectrum, Prentice-Hall 1994. 20 Martha Woodmansee/Mark Osteen: »Taking Account of the New Economic Criticism: an historical introduction«, in: dies. (Hg.), The New Economic Criticism. Studies at the Intersection of Literature and Economics, London, New York 1999, S. 2-42, hier S. 25. 21 Vgl. Susan F. Feiner: »A Portrait of Homo economicus as a young man«, in: dies. (Hg.), Race and Gender in the American Economy (s. Anm. 19), S. 193-209, hier S. 193f. 22 Ebd., S. 206. 23 Vgl. Elaine Freedgood: »Banishing Panic. Harriet Martineau and the Popularization of Political Economy«, in: M. Woodmansee/M. Osteen (Hg.), The New Economic Criticism (s. Anm. 20), S. 210-228.

46 | F RANZISKA S CHÖSSLER

zio-kulturelle wie historische Prozesse.24 Die deutschsprachige Forschung schlägt einen ähnlichen Weg ein: Der interdisziplinäre Sammelband Die MarktZeit der Finanzwissenschaft. Soziale, kulturelle und ökonomische Dimensionen beispielsweise widmet sich den kulturellen Repräsentationen, in die Finanzsysteme eingebettet sind, nimmt also die lange Zeit gängige Extrapolation der Ökonomie aus dem sozialen Raum zurück. Der Markt wird dezidiert als Ort symbolischer Operationen begriffen, als »ein soziales und kulturelles Feld, dessen Dynamik sich in beispielloser Weise als Projektionsfläche für Wünsche und Hoffnungen, Ängste und Sehnsüchte, Identifizierungen und Entfremdungen, kurz: für Signifizierung und Symbolisierung eignet«.25 Sich bei den Wirtschaftswissenschaften und der Betriebswirtschaft zu informieren, muss dabei nicht als schlichte Anleihe aufgefasst werden. Viel eher könnte man mit dem Modell der travelling concepts von Mieke Bal arbeiten. Konzepte zeichnen sich nach Isabelle Stengers und Mieke Bal dadurch aus, dass sie Phänomene auf neuartige relevante Weise organisieren und so Bedeutung stiften.26 Jede Übernahme (in eine andere Wissenslandschaft) bedeutet Modifikation, oder allgemeiner formuliert: jedes Konzept verändert sich auf seiner Wanderschaft, wie Mieke Bal ausführt: »[C]oncepts are not fixed once and for all. They travel: between disciplines, individual scholars, historical periods, and geographically dispersed academic communities. Between disciplines, their meaning, reach, and operational value differ. These processes of differing need to be assessed before, during, and after each ›trip‹.«27

Brisant ist zudem, dass ökonomische Texte ihrerseits ganz augenscheinlich Anleihen bei literarischen Texten nehmen, wie man für die Kaufhausdebatte um 1900 in Deutschland zeigen könnte – das große Vorbild ist Émile Zolas Roman

24 Vgl. M. Woodmansee/M. Osteen: Taking Account of the New Economic Criticism: an historical introduction (s. Anm. 20), S. 28. 25 Andreas Langenohl: »Einleitung: Die Sinndimension von Markt-Zeit. Zum Verhältnis zwischen der Operationsweise von Finanzmärkten und ihren (Selbst-)Darstellungen«, in: ders./Kerstin Schmidt-Beck (Hg.), Die Markt-Zeit der Finanzwissenschaft. Soziale, kulturelle und ökonomische Dimensionen, Marburg 2007, S. 7-36, hier S. 10. Eine besondere Bedeutung kommt der Temporalität zu; vgl. ebd. 26 Vgl. Mieke Bal: »From Cultural Studies to Cultural Analysis«, in: Kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften 35 (2007), S. 33-44, hier S. 41; dies.: Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide, Toronto 2002. 27 M. Bal: From Cultural Studies to Cultural Analysis (s. Anm. 26), S. 36.

K ONSTELLATIONEN – K ULTURWISSENSCHAFTLICHES LESEN | 47

Au Bonheur des Dames –, zudem für die einschlägigen wirtschaftshistorischen Texte von Werner Sombart, die Honoré de Balzac übersetzen. Auch die bürgerliche Heldengeschichte Max Webers, sein Zusammendenken von Protestantismus und Prosperität als Legitimation von Reichtum und Akkumulation, ist in gewissem Sinne an Goethe und Keller entlang geschrieben. Dabei wird die Verbindung zwischen Literatur und wirtschaftswissenschaftlichen Texten jenseits der Spezialisierungen von Wissenslandschaften umso enger, je weiter man sich in das 18. Jahrhundert hineinbewegt.

S CIENCE OF THE ANEKDOTEN

PARTICULAR ,

L EKTÜREKUNST

UND

Scheint sich gegenwärtig eine deutliche Theorieverdrossenheit breit zu machen und Praxeologie, Archivarbeit sowie biographische Recherche auf der Tagesordnung zu stehen, so weisen die Kulturwissenschaften28 mit ihrer »science of the particular«,29 der Verbindung von Poetik mit Wissenschaft, der Vorliebe für die Anekdote30 und der »thick description«31 durchaus in diese Richtung. Die Befragung des Kanons, wie sie die Gender Studies und die interkulturelle Germanistik vorgenommen haben, lassen neues Archivmaterial in den Blick treten, und die kulturwissenschaftlichen Studien erproben mit Blick auf Einzelfälle neue Darstellungsverfahren. In den Kulturwissenschaften bereitet sich also die aktuelle Konfrontation mit dem Material (sowie mit Objekten im Sinne der Material Cultures) vor. Die Brillanz Greenblatts liegt entsprechend in seinen Lektüren,

28 Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten vertreten die Auffassung, dass die kontrovers diskutierten Literaturtheorien von den hybriden, offenen Kulturwissenschaften abgelöst werden; Claudia Benthien/Hans Rudolf Velten: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 7-34, hier S. 7f. Von Seiten der Literaturtheorie wird eine Verflachung der komplexen Ansätze durch ihre kulturwissenschaftliche Adaption befürchtet. 29 John Fiske: »Cultural Studies and the Culture of Everyday Life«, in: Lawrence Grossberg/Cary Nelson/Paula A. Treichler (Hg.), Cultural Studies, New York, London 1992, S. 154-165. 30 Vgl. Stephen Greenblatt: »The touch of the real«, in: Representations 59 (1997), S. 1429, hier S. 26. 31 Vgl. C. Geertz: »Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur«, in: ders.: Dichte Beschreibung (s. Anm. 2), S. 7-43.

48 | F RANZISKA S CHÖSSLER

nicht in den theoretischen Prämissen, und die Leistung des kulturwissenschaftlichen Paradigmas besteht darin, Lektürepraktiken zu erweitern. Heinz Dieter Kittsteiner hält fest: »Die Legitimität der Kulturwissenschaften bemisst sich weniger an ihrer theoretisch-stringenten Konzeption, sondern daran, dass sie mit ihren spezifischen Zugriffen am Material etwas leisten«.32 Auch Uwe Wirth betont im Anschluss an Ernst Cassirer die Bedeutung von Einzelbeispielen und die zentrale Funktion von Falluntersuchungen.33 Die ›Eigen-Logik‹ der Kulturwissenschaft manifestiere sich im Vollzug im Sinne einer anwendungsorientierten und reflektierten Kulturforschung.34 Kulturwissenschaftliche Theorie müsse aus dem Material erarbeitet werden, so auch Hartmut Böhme, Peter Matussek und Lothar Müller in Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will.35 Fraglich ist dabei, wovon Lektüren ihren Ausgang nehmen, was sie motiviert. Auffällig ist, dass die Details literarischer Texte Fremdheit und Befremden provozieren können – wenn beispielsweise in Zolas Roman Au Bonheur des Dames der Kaufhausdetektiv vor allem schwangere Frauen als potenzielle Diebinnen verfolgt. Diese merkwürdigen Praktiken verweisen auf vergessene historische Konfigurationen – hier die Annahme, wie sie in der zeitgenössischen Kriminologie und der Medizin debattiert wird, dass Frauen in anderen Umständen zur Kleptomanie neigen, weil sie weniger zurechnungsfähig sind. Diesen Details kommt die Funktion von Anekdoten zu, die eine überraschende Verknüpfung von Narrativen aus diversen Wissensfeldern36 vornehmen und sich auf das Partikulare historischer Konstellationen, auf Details, konzentrieren. »Die historische Anekdote fungiert weniger als erklärende Illustration denn als Störung, als das, was nach Erklärung, Kontextualisierung und Interpretation verlangt. Anekdoten sind im Register der Wirklichkeit das Äquivalent zu dem, was mich überhaupt zur Beschäftigung mit Literatur gezogen hat: die Begegnung mit etwas, das nicht zu verstehen

32 Heinz Dieter Kittsteiner (Hg.): Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München 2004, S. 22. 33 Vgl. Uwe Wirth: »Vorwort«, in: ders. (Hg.), Logiken und Praktiken der Kulturforschung, Berlin 2008, S. 7-10, hier S. 7. 34 Vgl. ebd., S. 8f. 35 Vgl. Hartmut Böhme/Peter Matussek/Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 73. 36 Die Anekdote verknüpft Diskurse, ist ihrem Wesen nach hybrid und folgt einer »Praxis der Verfremdung«, indem sie scheinbar bekannte Zusammenhänge verzerrt und die Widersprüche der gesellschaftlichen Ordnung vergegenwärtigt; S. Greenblatt: The touch of the real (s. Anm. 30), S. 26.

K ONSTELLATIONEN – K ULTURWISSENSCHAFTLICHES LESEN | 49 ich nicht ertragen konnte, mit dem ich nicht fertig werden, dessen ich mich nicht entledigen konnte[,]«

so hält Stephen Greenblatt fest.37 Die pointierte historische Kurzerzählung macht »die Andersartigkeit des historischen Archivs schlagartig sichtbar und gibt dem Forscher den Auftrag, die diskursive Konstellation zu rekonstruieren, in der solches denkbar, sagbar und möglich war«.38 Die befremdenden Details in literarischen Texten geben Hinweise auf die historische Andersartigkeit des Archivs und fordern zu einer Rekonstruktion der historischen Diskurse auf und auf diese Weise zu einer spezifischen Konstellierung von Texten (die das fremde Phänomen erklärt). Damit fungiert der literarische Text als Fokus, von dem aus die historischen Diskursregeln auf je spezifische Weise rekonstruiert werden. Ähnlich wie Karlheinz Stierle in der Auseinandersetzung mit dem weiten Intertextualitätsbegriff darauf verweist, dass es das ästhetische Artefakt ist, das die Referenzen neu sortiert, transformiert und integriert,39 ließe sich für die kulturwissenschaftliche Analyse festhalten, dass der literarische Text der homogenisierende und strukturierende Mittelpunkt der Konstellationen sein kann, dass er eine spezifische historische Diskurslandschaft generiert (die von jedem Detail aus gesehen anders erscheint) – eine science of the particular also. Zu überlegen wäre, ob das Konzept der Konstellation auch Konsequenzen für die Narrativik von wissenschaftlichen Lektüren selbst hat. Begreifen Theodor W. Adorno und Walter Benjamin die Konstellation vor allem als Darstellungsverfahren, das die Montage und die Zitation einsetzt, also mit Intertexten und Brüchen arbeitet, auch um eine lineare Geschichtsschreibung zu durchbrechen, so ließe sich eine wissenschaftliche Darstellung denken, die ausgehend von dem Detail – das der materiellen Kultur entstammen kann – die Diskursfäden entwickelt. Mit diesen Darstellungsformen als Effekt interdisziplinärer Lektüren müsste sich allerdings auch die Rezeption verändern: Gegen kontextualisierende Lektüren wird zuweilen der Einwand formuliert, man wolle nicht von anderen

37 Stephen Greenblatt: »Introduction«, in: ders.: Learning to Curse. Essays in Early Modern Culture, New York 1990, S. 5; zitiert nach Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005, S. 39. 38 Ebd., S. 40. 39 Vgl. Karlheinz Stierle: »Werk und Intertextualität«, in: Dorothee Kimmich/Rolf Günter Renner/Bernd Stiegler (Hg.), Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 1996, S. 349-359.

50 | F RANZISKA S CHÖSSLER

Dingen, Diskursen und Büchern lesen, sondern lediglich Aussagen über den einen literarischen Text. Diesen solitären Fokus gibt das konstellative Lesen jedoch auf.

L ITERATUR Assmann, Aleida: »Kanonforschung als Provokation der Literaturwissenschaft«, in: Renate von Heydebrand (Hg.), Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung, Stuttgart 1998, S. 4759. Bachmann-Medick, Doris: »Weltsprache der Literatur«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 463-469. Bal, Mieke: Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide, Toronto 2002. Bal, Mieke: »From Cultural Studies to Cultural Analysis«, in: Kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften 35 (2007), S. 33-44. Baßler, Moritz (Hg.): New Historicism: Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen, Basel 1995. Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005. Benthien, Claudia/Velten, Hans Rudolf: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 7-34. Böhme, Hartmut/Matussek, Peter/Müller, Lothar: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek bei Hamburg 2000. Ellrich, Lutz: Verschriebene Fremdheit. Die Ethnographie kultureller Brüche bei Clifford Geertz und Stephen Greenblatt, Frankfurt/Main, New York 1999. Feiner, Susan F. (Hg.): Race and Gender in the American Economy: Views from Across the Spectrum, Prentice-Hall 1994. Feiner, Susan F.: »A Portrait of Homo economicus as a young man«, in: dies. (Hg.), Race and Gender in the American Economy: Views from Across the Spectrum, Prentice-Hall 1994, S. 193-209. Fiske, John: »Cultural Studies and the Culture of Everyday Life«, in: Lawrence Grossberg/Cary Nelson/Paula A. Treichler (Hg.), Cultural Studies, New York, London 1992, S. 154-165. Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?«, in: ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt/Main 1988, S. 7-31.

K ONSTELLATIONEN – K ULTURWISSENSCHAFTLICHES LESEN | 51

Freedgood, Elaine: »Banishing Panic. Harriet Martineau and the Popularization of Political Economy«, in: Martha Woodmansee/Mark Osteen (Hg.), The New Economic Criticism. Studies at the Intersection of Literature and Economics, London, New York 1999, S. 210-228. Geertz, Clifford: »Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur«, in: ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/Main 1983, S. 7-43. Geertz, Clifford: »›Deep Play‹. Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf«, in: ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/Main 1983, S. 202-260. Gorfain, Phyllis: »Spiel und die Unsicherheit des Wissens in Shakespeares Hamlet«, in: Doris Bachmann-Medick (Hg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main 1996, S. 67-97. Greenblatt, Stephen: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern, Frankfurt/Main 1995. Greenblatt, Stephen: »Selbstbildung in der Renaissance. Von More bis Shakespeare (Einleitung)«, in: Moritz Baßler (Hg.), New Historicism: Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Tübingen, Basel 1995, S. 35-47. Greenblatt, Stephen: »The touch of the real«, in: Representations 59 (1997), S. 14-29. Horstmann-Nash, Ursula Anna: Die Grenzen der Nation. Nationale Identität und Fremdheit in literarischen Diskursen deutscher Vereinigungen (1870/71 und 1989/90), Konstanz 2008. Huyssen, Andreas: After the Great Divide. Modernism, Mass Culture, Postmodernism, Bloomington, Indianapolis 1986. Iser, Wolfgang: »Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text?«, in: ders./Dieter Henrich (Hg.), Funktionen des Fiktiven, München 1983, S. 121-151. Kittsteiner, Heinz Dieter (Hg.): Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München 2004. Langenohl, Andreas: »Einleitung: Die Sinndimension von Markt-Zeit. Zum Verhältnis zwischen der Operationsweise von Finanzmärkten und ihren (Selbst-)Darstellungen«, in: ders./Kerstin Schmidt-Beck (Hg.), Die MarktZeit der Finanzwissenschaft. Soziale, kulturelle und ökonomische Dimensionen, Marburg 2007, S. 7-36. Link, Jürgen: »Literaturanalyse als Interdiskursanalyse«, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main 1988, S. 284-307.

52 | F RANZISKA S CHÖSSLER

Martus, Steffen: »Philo-Logik. Zur kulturwissenschaftlichen Begründung von Literaturwissenschaft«, in: Uwe Wirth (Hg.), Logiken und Praktiken der Kulturforschung, Berlin 2008, S. 125-147. Neumann, Gerhard/Weigel, Sigrid: »Einleitung der Herausgeber«, in: dies. (Hg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000, S. 9-18. Schößler, Franziska: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung, Tübingen, Basel 2006. Schulte-Sasse, Jochen: »High/Low and other Dichotomies«, in: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hg.), High and Low Cultures. German Attempts at Mediation, Madison, Wisconsin 1994, S. 3-18. Stierle, Karlheinz: »Werk und Intertextualität«, in: Dorothee Kimmich/Rolf Günter Renner/Bernd Stiegler (Hg.), Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 1996, S. 349-359. Thiede, Rolf: Stereotypen vom Juden. Die frühen Schriften von Heinrich und Thomas Mann. Zum antisemitischen Diskurs der Moderne und dem Versuch seiner Überwindung, Berlin 1998. Voßkamp, Wilhelm: »Die Gegenstände der Literaturwissenschaft und ihre Einbindung in die Kulturwissenschaften«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 503-507. Wirth, Uwe: »Vorwort«, in: ders. (Hg.), Logiken und Praktiken der Kulturforschung, Berlin 2008, S. 7-10. Woodmansee, Martha/Osteen, Mark: »Taking Account of the New Economic Criticism: an historical introduction«, in: dies. (Hg.), The New Economic Criticism. Studies at the Intersection of Literature and Economics, London, New York 1999, S. 2-42.

Kultur am Text Wie lässt sich theoretisch interpretieren? A NJA G ERIGK

Einen Gang durch die lange Geschichte des Verstehens sowie durch die Fachgeschichte der Literaturwissenschaft hat Peter Brenner unternommen. Seine historisch umfassende Studie handelt ab, wie sich das Problem der Interpretation gleichbleibend und doch immer wieder anders gestellt hat.1 Die letzte der von Brenner bestimmten Stationen lautet in der Überschrift: »Texte im Kontext: Gesellschaft, Geschichte, Kultur«. Innerhalb dieses Umrisses bewegt sich auch der folgende Beitrag, wenn er der Aufgabenstellung nachkommt, die jüngste Phase der Entwicklung des Interpretierens in Theorie und Praxis näher zu beschreiben oder vorzuführen. Doch bevor das spezielle methodische Phänomen, dem diese Untersuchung gilt, namhaft gemacht wird, sei zunächst die Gesamtlage über den kontextuellen Dreiklang hinaus gekennzeichnet. Die anstehende Methodenfrage erwächst tatsächlich aus einer Situation ›nach den turns‹: zum einen nach der Hinwendung zur Kultur, die weiterhin anhält, zum anderen nach den TheorieSchüben der zurückliegenden Jahrzehnte. Genauso aktuell wie der allseits wirksa-

1

Den konstanten Bezugspunkt der theoriegeschichtlichen Einzelkapitel bilden die verschiedenen Ausprägungen literaturbezogener Hermeneutik, selbst wenn es sich um Gegenpositionen wie Dekonstruktion oder spezialisierte Methoden wie den New Historicism handelt, welcher Brenner zufolge prinzipiell als modernisierte Variante hermeneutischen Arbeitens angesehen werden kann. Vgl. Peter J. Brenner: Das Problem der Interpretation. Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen 1998, S. 285.

54 | ANJA GERIGK

me cultural turn2 ist jene weitere Diagnose, dass die theoretische Ära in der Literaturwissenschaft der Vergangenheit angehört: end of theory, after theory.3 Die Voraussetzungen für eine solche Endzeit oder eine tiefer gehende Transformation wären weiter auszufalten. Sie haben ihren Anteil daran, dass sich die behelfsweise als »kulturtheoretisch« bezeichnete Interpretation überhaupt entwickelt hat und dass sie voraussichtlich keineswegs erschöpft ist. Unter den vielen Zugängen zur Literatur, die als kulturwissenschaftlich gelten können, befindet sich einer, der kaum eigens reflektiert worden ist. Dies mag daran liegen, dass er ausnahmsweise nicht unter der Flagge eines Meisterdenkers oder nur einer Methode segelt. In den mittlerweile zahlreichen Einführungsbüchern, in denen Grundlagen der Kultur-Studien für Literaturwissenschaftler aufbereitet sind, fehlen weder Klassiker der Theoriebildung wie Walter Benjamin oder Roland Barthes noch die prominentesten Neuzugänge der Verfahrenstechnik wie New Historicism und Diskursanalyse. Dennoch bietet der »Methodenkanon«4 quer durch die cultural turns hier lediglich eine vorläufige Orientierung: Offenbar bedeutet »kulturtheoretisch« weder »wissensgeschichtlich« – wahlweise »diskursanalytisch« – noch »neu-historisch«. Näher kommen dem gesuchten Sachverhalt beispielsweise Konzeptionen der Alterität oder Theorien zum kulturellen Gedächtnis. Trotzdem verbietet sich die Einengung auf bestimmte Beispiele, weil dadurch das eigentliche Thema der Reflexion verschoben wird, sprich: Text-Interpretation mit den Mitteln der Kultur-Theorie. Was man sich darunter vorzustellen hat, soll im Laufe der Überlegungen vor allem deutlicher werden. Dabei ist zu erkennen, welche gewandelte Rolle das Theoretische für die Interpretationspraxis spielen kann. Wie lässt sich mithilfe von Kulturtheorie interpretieren? Statt einer Anleitung, wie Schritt für Schritt vorzugehen wäre,

2

Repräsentativ dafür vgl. den Sammelband von Gerhard Neumann/Sigrid Weigel (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000.

3

Solche Befunde und die damit einhergehende Kontroverse treten erstmals auf dem Feld der anglo-amerikanischen Literaturwissenschaft in Erscheinung. Vgl. Steven Knapp/Walter Benn Michaels: »Against Theory«, in: Critical Inquiry 8 (1982), S. 723742; Stein Haugom Olsen: The end of literary theory, Cambridge 1987. Eine Bilanz der Theorie-Jahrzehnte in den Geistes- und Kulturwissenschaften zieht Terry Eagleton: After Theory, London 2003. Inzwischen verkünden längst Gegenstimmen die Rückkehr des Theoretischen.

4

Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 19.

K ULTUR AM TEXT | 55

werden einige grundlegende, d.h. methodologische Argumente ihr Gewicht erhalten. Methodologie ist ein schwieriges Geschäft. Diese Aussage gilt in gewissem Sinne seit deren Einführung in die neuzeitlich-moderne Philosophie. Im 18. Jahrhundert bleibt eine disziplinäre Abgrenzung zur reinen Logik fraglich, während im 20. Jahrhundert die möglichen Überschneidungen mit dem neueren Gebiet der Wissenschaftstheorie zutage treten.5 Maßgebend für die weitere Geschichte des Begriffs war Kant mit seinem Verständnis der »Methodenlehre«. Demnach richten sich methodologische Bemühungen stets auf ein geregeltes, in festen Prinzipien gründendes und somit didaktisch vermittelbares Verfahren. Jener »metapraktische bzw. metakanonische Theorieanspruch«,6 den Methodologie zu Beginn gegenüber der Logik vertritt, verweist auf ihre problematische Zwischenstellung: Sie soll Regeln für die Praxis formulieren, liegt aber selbst auf einer erhöhten theoretischen Ebene. Darin wurzelt das Risiko, keine Seite zufriedenstellend zu bedenken, weder den theoretisierten Gegenstand – sei es Literatur oder Kultur – noch die Technik der Interpretation. Im Sonderfall kulturtheoretischen Interpretierens ist der hohe Grad an Abstraktion dem übergreifenden Bezug des Methodenproblems geschuldet. Eine ideale Methode sei »Anwendung, Darstellung und Kritik ihrer selbst«.7 Diesem gerade literaturtheoretisch so berechtigten Ideal kann das folgende Angebot nicht genügen. Noch weniger akzeptabel erscheint es allerdings, einen wissenschaftlich praktizierten Umgang mit literarischen Texten darum von jeder methodologischen Diskussion auszuschließen. Damit es konkreter wird als im methodentheoretischen Hauptteil des Beitrags, findet danach ein Methodenvergleich statt, zwischen der Position angewandter Kulturtheorie und jener Schule, die Joseph Vogl unter dem Titel »Poetologie des Wissens« legitimiert hat. Vor allem Weiteren müssen die Präliminarien breiteren Raum einnehmen: Kultur und Theorie. Ohne die Klärung der beiden zentralen Referenzen dürfte unklar sein, worauf sich die Grundsätze des – guten – Interpretierens, die anschließend versuchsweise aufgestellt werden sollen,

5

Vgl. Lutz Geldsetzer: »Methodologie«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5: L–Mn, Basel 1980, S. 1379-1386.

6

Ebd., S. 1379. ›Metakanonisch‹ wäre auch das treffende Wort für ein Phänomen, das ›über‹ den Einzelansätzen des Methodenkanons steht, weil es eine allgemeine Perspektive auf mehrere von ihnen eröffnet.

7

Oliver Jahraus: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen, Basel 2004, S. 222.

56 | ANJA GERIGK

beziehen. Im Gesamtbild der drei Teile besteht zudem eine Chance, vorgefasste Meinungen über theoretische Wege zum Text zu revidieren.

I. W AS

MEINT

»K ULTUR «,

WAS HEISST

»T HEORIE «?

»Der Begriff der ›Kulturtheorie‹ versteht sich nicht von selbst.«8 So bündig sagt es Andreas Reckwitz in seiner Entwicklungsgeschichte der kulturell gewendeten Sozialtheorien. Seiner Annahme kann man nur zustimmen, eben deshalb empfiehlt es sich zu klären, was »kulturtheoretisch« im Zusammenhang von Literatur und ihrer Interpretation besagen will. Das erste Ziel besteht darin, jenes unscharfe Attribut zu fokussieren, es systematisch wie historisch einzugrenzen. Hilfestellung verspricht Reckwitz’ Typologie; sie unterscheidet vier historisch ungleichzeitige Kulturbegriffe. Der erste, »normative« bestimmt eine »ausgezeichnete Lebensform«,9 also die als vorbildlich gewertete kulturelle Praxis.10 Eine ganze »Lebensweise«11 nimmt der »totalitätsorientierte« Begriff in den Blick. Er verfährt deskriptiv und betrachtet verschiedene Kulturen historisch.12 Begründet wurde diese Art des Kulturdenkens während des 19. Jahrhunderts, frühzeitig von Johann Gottfried Herder, später vom Ethnologen Edward Tylor. Das 20. Jahrhundert hat zusätzlich oder ersatzweise andere Kulturbegriffe geprägt. Der »differenzierungstheoretische«13 fasst Kultur als Sektor der modernen Gesellschaft. Das letzte Theoriemodell wird »bedeutungs- und wissensorientiert«14 genannt; diese Sicht hat sich disziplinübergreifend durchgesetzt. Auf kulturelle Selbstdeutung kommt es hier an, auf die Rahmungen von Erkenntnis. Jene Einteilung wurde nicht referiert, um eine ihrer Kategorien für kulturtheoretisches Interpretieren zu übernehmen. Vielmehr ist es an der Zeit, ein abweichendes Kriterium zu setzen, mit dem sie allesamt ausscheiden. Die von Reckwitz aufgeführten Theorieprogramme teilen den großen Zuschnitt: Was ist die, was ist eine Kultur? In den Phasen des cultural turn hat sich die Frage zwar gehalten, zugleich aber umgestellt: Wie funktionieren kulturelle Prozesse?

8

Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines The-

9

Ebd., S. 90.

orieprogramms, Weilerswist 2000, S. 61. 10 Vgl. ebd., S. 65f. 11 Ebd., S. 90. 12 Vgl. ebd., S. 72f. 13 Ebd., S. 79. 14 Ebd., S. 84.

K ULTUR AM TEXT | 57

Auf den einschränkenden Teil, der hiermit abgeschlossen ist, muss nun eine positive Bestimmung folgen, welches Objekt namens »Kulturtheorie« verhandelt wird. Dafür steht die Bezeichnung »kulturtheoretische Denkfiguren«. Literaturwissenschaftler gebrauchen das Wort »Denkfigur« zunehmend häufig und äußerst breit gefächert: Obwohl (noch) kein terminus technicus vorliegt,15 steht der Ausdruck meist für theoretische Grundeinheiten, für Gedankengänge aus allen Epochen der neueren deutschen Literaturgeschichte. In Verbindung mit »kulturtheoretisch« kann man die Benennung enger fassen: Derartige Denkfiguren gibt es seit dem 20. Jahrhundert; sie entstehen erst im letzten Drittel desselben, nicht nur zeitlich parallel zu den cultural turns (Plural), sondern sogar im Zuge des cultural turn (Singular). Dass kulturelle Prozesse nunmehr im Einzelnen theoretisiert werden, abseits des einen integralen Kulturbegriffs, wurde vorausgeschickt. Ein Merkmal tritt spezifizierend hinzu: Solche Anläufe der Theoriebildung zielen auf »Vollzugsarten mit Universaltendenz«. »Universaltendenz« ist, obgleich es sich großspurig anhört, eher vorsichtig formuliert; die gedachten Vollzüge beschränken sich nicht auf ein Gebiet des Sozialen oder ein Teilsystem von Gesellschaft. Darüber hinaus greift der Horizont des Kulturellen, wie er innerhalb der Moderne zwar problematisch, zugleich jedoch produktiv wird: das Universelle denken, gerade weil Totalität unmöglich geworden ist. Die Erstkomponente »Vollzugsarten« bleibt trotz des soeben erläuterten Zusatzes etwas vage; sie klingt dafür weniger technizistisch als »Funktionsweisen« oder die Variante »Performanztypen«.16 Aus dem performativen Zug erwächst dennoch eine methodisch wertvolle Korrespondenz zwischen dem Objekt der Theorie und dem theoretischen Denken.17 Wie wird aus der Denkfigur als Kulturfigur durch Interpretieren ebenso eine Textfigur? Der folgende Abschnitt versucht, den Vorgang als solchen zu beschreiben. Theoretische Gebilde jener Art befassen sich mit Prozessformen, indem sie fragen: Wie operiert das Groteske? Wie funktioniert das kulturelle Gedächtnis? Wie verhalten sich das Eigene und das Andere zueinander? Namen und Konzepte werden wiederum ausgespart, weil es eben nicht um einzelne

15 Auf diesen Weg begibt sich Erich Kleinschmidt: Übergänge. Denkfiguren, Köln 2011. Vgl. ebd., S. 29f. 16 Von »Tätigkeitsformen des Kulturellen« spricht D. Bachmann-Medick: Cultural Turns (s. Anm. 4), S. 9. 17 Das Performative unterstreicht der vorherige Part »Figur«: Lyotard und Derrida zielen u.a. unter dieser Chiffre auf einen Gegenentwurf zu »Struktur«. Beide setzen auf das, was sich unter den Bedingungen der Schrift oder literarischer Schreibweisen vollzieht. Vgl. Jean-François Lyotard: Discours, Figure, Paris 1971.

58 | ANJA GERIGK

Theorieschulen geht, sondern darum, was jede von ihnen gleichermaßen zum kulturtheoretischen Interpretieren beiträgt. Ein vermeintlicher Ausnahmefall ist dazu geeignet, diese Menge exemplarisch einzukreisen. Das methodische Ausgangsproblem stellt sich bekanntermaßen anhand der – kleingeschriebenen – »kulturtheorien« statt anlässlich eines Gesamtbegriffs für Kultur. Diesem großen Zuschnitt entspricht das Modell von Neumann/Warning; trotzdem illustriert es, welche Art kulturtheoretischen Denkens literaturwissenschaftlich zählt: »Geht man davon aus, daß der Prozess der Kultur sich im Grenzübergang zwischen deren Repräsentanz- und Performanzcharakter, zwischen deren expliziter und impliziter Dynamik gestaltet, so müßte man sich auch genauer Rechenschaft darüber ablegen, daß Transgressionen als eigentliche (und supplementäre) Operationen kultureller Gestaltung und Entstaltung zu verstehen sind.«18

Der Satz stellt, der Absicht des Bandes zufolge, die Grundlagen für eine ethnographische Literaturwissenschaft her. Eine darüber hinaus greifende Möglichkeit bestünde darin, Transgression in der exakten Formung von Neumann/Warning als eine kulturtheoretisch verfasste Interpretationsfigur einzusetzen: Sie wäre in der Lage, literarische Texte zu analysieren, in denen das Wechselspiel von Grenzziehung und Grenzüberschreitung so inszeniert wird, dass Unterscheidungen ›dazwischen‹ dekonstruktiv lesbar sind: Repräsentanz – Performanz, ebenso Transgressivität – Normativität. Neumann/Warning entwerfen gleichzeitig einen Kulturbegriff, nicht nur darum ist ihre Transgression etwas Besonderes. Während die meisten der kulturtheoretischen Figuren aus anderen Fächern importiert sind, handelt es sich hier um ein genuin literaturwissenschaftliches Modell. Damit ist der Zeitpunkt gekommen, auf einen fundamentalen Einwand gegen kulturtheoretisches Interpretieren zu antworten. Den »engen Zusammenhang zwischen Literaturtheorie und Methodologie«19 bzw. deren unabdingbares »Wechselverhältnis«20 hält Jahraus’ Einführung in die fachlichen Positionen axiomatisch fest. Darauf ruht sein ausführliches Profil des methodologischen Optimums:

18 Gerhard Neumann/Rainer Warning: »Transgressionen. Literatur als Ethnographie«, in: dies. (Hg.): Transgressionen. Literatur als Ethnographie, Freiburg i. Brsg. 2003, S. 7-16, hier S. 14. 19 O. Jahraus: Literaturtheorie (s. Anm. 7), S. 7. 20 Ebd., S. 3.

K ULTUR AM TEXT | 59 »Eine ideale Methode beinhaltet ihre eigene Theorie in expliziter Form und beantwortet dabei die Fragen nach der Literatur in ihrem Systemcharakter, nach der Literarizität, nach der Wissenschaft, ihrem eigenen theoretischen Status, ihrem Textbegriff insbesondere als operative Basis und schließlich nach ihrer eigenen methodischen Vorgehensweise, kurz: die Fragen nach den Konstituenten und den Konstitutionen des literarischen Textes.«21

Man sollte würdigen, dass Neumann/Warning diesem Ideal mit ihrer Figur der Transgression durchaus nahekommen. Erfüllt ist nicht nur die Explikation des Verfahrens,22 sondern auch die Offenlegung des spezifisch Literarischen in sozialer Hinsicht, nämlich als laufender Grenzgang zwischen »expliziter und impliziter Dynamik«.23 Ohne das Ideal infrage stellen zu wollen, regen sich Zweifel, ob es für kulturtheoretisches Interpretieren im vollen Umfang maßgeblich sein kann. Von der am Einzeltext orientierten Umsetzung von Kulturfiguren eine ausgearbeitete und für alle Fälle gültige Literaturtheorie zu verlangen, dürfte den Bogen überspannen. Diese Tatsache erledigt den Zugang keineswegs, wenn statt des Höchstmaßes die Mindestanforderung gilt: Operative durch theoretische Transparenz,24 mit dem Anspruch, interpretierend einer konkret gegebenen Textualität zu genügen. Was zu tun ist, damit das Ziel erreicht werden kann, diese Frage steht weiterhin offen. Ob literaturtheoretische Instanzen den – einstweilen – reduzierten Vorgaben zustimmen, hängt im Übrigen davon ab, welche Auffassung von Theorie sie zugrunde legen. Reckwitz weist darauf hin, dass neuere Kulturtheorien unterschiedlicher Herkunft daran zu erkennen sind, dass sie epistemologisch konvergieren: »Indem Theorien als Systeme von Begriffen ›bedeutungsholistisch‹ sind, ergibt sich der Sinn einzelner Theorieelemente nicht aus einer Wiedergabe der ›Tatsachen‹, sondern aus dem Stellenwert des Theorieelements im Kontext des theoretischen Gesamtsystems.«25 Die Aussage trifft einen zentralen Punkt, läuft aber Gefahr, alte Vorstellungen zu perpetuieren. Richtig ist, dass die empirische Rechtfertigung gegen theorieinterne Kohärenz ausgetauscht wurde.

21 Ebd., S. 222. 22 Von den Theoretikern selbst wird die transgressive Methode nicht ausdrücklich mit dem Lektüremodus der Dekonstruktion assoziiert. Zur unschwer erkennbaren Affinität vgl. G. Neumann/R. Warning: Transgressionen (s. Anm. 18), S. 15: »das Verhältnis von Gestaltung und Entstaltung [sei] nicht als dialektisches zu fassen, sondern im Sinne einer Dynamis, eines permanenten Anderswerdens«. 23 Ebd., S. 14. 24 Für sich genommen wäre diese methodologische Maxime zu allgemein. 25 A. Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien (s. Anm. 8), S. 23.

60 | ANJA GERIGK

Es wäre hingegen falsch oder doch irreführend, darin den einzigen Geltungsmaßstab zu sehen. Hinter der zitierten Anmerkung stehen unausgesprochen weitere konstruktivistische Grundsätze. Ernst von Glasersfeld – Vertreter des radikalen Konstruktivismus – hat das Konzept der »Viabilität« in die Erkenntnis- bzw. Wissenschaftstheorie eingebracht. Glasersfeld zufolge sind »begriffliche Operationen« dann »viabel«, d.h. gangbar oder nutzbringend, »wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen«.26 Die Umstellungen, welche das Kriterium mit sich bringt, sind weitreichend. Zwei Konsequenzen dürften im Interesse der Methodenlehre herausragen. Im Umgang mit dem Theorie-Material muss es dabei bleiben, dessen »System von Begriffen« (Reckwitz) zu beachten, also die einzelnen Bestimmungen aus dem theoretisierten Zusammenhang zu verstehen, doch anstelle des vollständig beanspruchten legitimierenden Systems operiert mittlerweile eine beobachtungsfähige Denkfigur. Die zweite methodische Schlussfolgerung betrifft den Literaturbezug der solchermaßen eingesetzten Kulturtheorien. Im Anschluss an Glasersfeld sei eine These aufgestellt: Literarische Texte werden zum Gelände der Viabilität für kulturtheoretische Modelle. Keine einseitige Zweckbeziehung soll damit behauptet sein. Literatur ist selbstredend nicht dazu da, Kulturtheorien lediglich zu veranschaulichen oder gar zu beweisen. Im Gegenteil müssen sich die Denkfiguren bei dieser Gelegenheit erst bewähren, und zwar dadurch, dass sie eine präzisere, komplexere Beobachtung hervorbringen. Die Erkenntnisleistung wird sich auf beide Seiten des Interpretationsvorgangs erstrecken: sowohl auf die vollzogenen kulturellen Prozesse als auch die sich so vollziehenden Texte. Allerdings bedarf es einer beträchtlichen Methodologie-Arbeit, bevor der praktisch erwiesene Effekt auch mit abstrakten Gründen plausibel gemacht werden kann.

II. D REI

METHODOLOGISCHE

R EGELN

Nach so viel Vorlauf tut es Not, einen Schritt über das Verständnis des Kulturellen und des Theoretischen hinauszugehen. Wenn schon keine Anleitung zur Interpretation folgt, dann eine andere Form der Annäherung an die Methode: Gefragt sind Richtlinien, die durchschaubar machen, aus welchen Gründen ein

26 Ernst von Glasersfeld: Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, übers. von Wolfram K. Köck, Frankfurt/Main 1996, S. 43.

K ULTUR AM TEXT | 61

kulturtheoretisches Interpretieren funktionieren kann.27 Zu der deskriptiven Intention tritt eine normative Ableitung, also die Suche nach Kriterien, die es erlauben, zwischen einer guten und einer weniger guten Praxis der Textanalyse mittels Theorie zu unterscheiden. Jene drei Thesen, welche aufgestellt werden, dürften in besonderem Maße diskussionsbedürftig sein; sie sind nicht als ein Sich-Abschließen der Überlegungen, sondern als Öffnung für Anschlussfragen gemeint. Warum sollte man mit Denkfiguren zur Kultur an literarische Texte herangehen? Es gibt einen Satz, der in die Problematik hineinführt, wie die Vorgehensweise ihrem Beobachtungsobjekt, Literatur oder Kultur, gerecht werden kann. Die aufschlussreiche, aber selbst erklärungsbedürftige Maxime stammt von Niklas Luhmann und bezieht sich bei ihm auf das Verhältnis von System und Umwelt: »Nur Komplexität kann Komplexität reduzieren.«28 Das Paradox ist dazu angetan, den Gedankengang ins rechte Licht zu rücken. Umwelt sei überkomplex, so Luhmann, daher ermöglicht es allein die spezifische Komplexität der sozialen Systeme, mit diesem Zustand notwendigerweise reduzierend umzugehen. Die anfängliche Paradoxie löst sich in der Abstufung verschiedener Qualitäten auf: strukturierte Komplexität gegenüber einem prästrukturellen Komplex. Beim Versuch der Übertragung auf das fachliche Problem einer theoriegeleiteten Interpretation muss man einwenden, dass literarische Texte weniger unstrukturiert als überstrukturiert verfasst sind. Doch eben auf dieses Gefälle im Gefolge eines qualitativen Unterschieds kommt es der sozialsystemischen Logik Luhmanns an. »Komplexität reduzieren« heißt für gewöhnlich »einfacher machen«. Nur scheinbar widersprüchlich bedeutet »reduzieren« für die zitierte soziologische Ausgangsthese gerade das Gegenteil, nämlich mit einer geringeren Komplexität eine andere Art von Komplexität hervorzubringen. Diese Absicht oder Auswirkung des Theoriegebrauchs erweist sich als literaturwissenschaftlich kompatibel, sofern textuelle Empirie stets eine Vielzahl möglicher Strukturen bereithält, wohingegen Interpretation in der Regel selektiv eine »Textur« konstruiert. Kulturtheoretische Denkfiguren leisten demnach eine strukturbildende Selektion, wie sie in der Literaturwissenschaft auch sonst üblich ist. Dasselbe gilt für

27 Um die Linie zwischen der methodischen Ebene und einer methodologischen Argumentation nochmals zu markieren: Erstere muss u.a. das Aufeinanderfolgen einzelner Untersuchungsschritte berücksichtigen, Letztere befasst sich hingegen eher mit den Voraussetzungen für die gesamte Untersuchungsart. 28 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main 1984, S. 49.

62 | ANJA GERIGK

den theoretisch gebotenen und praktisch erforderlichen Zusammenschluss aus Form und Funktion, d.h. für die Zuordnung textanalytischer Befunde zur Bedeutungsbildung. Nicht in jedem Anwendungsfall gibt eine Kultur-Figur zugleich Auskunft über die thematische Schwerpunktlage des literarischen Deutungsobjekts. Wird z.B. das Prozedere des Grotesken gemäß einer klar bestimmten Theoretisierung angesetzt,29 ist dadurch zwar ein präzisierter Ablauf der Zersetzung sowie Um- und Neubildung symbolischer Ordnungen vorgegeben, nicht aber, welche symbolische Ordnung im Ansatz bzw. im Ergebnis der jeweiligen Transformationen zu erkennen wäre. Es kann aber genauso gut die Thematik, z.B. das kulturelle Gedächtnis, feststehen und trotzdem erschließt erst eine bestimmte Theorie über ihr Funktionsmodell memorialer Vorgänge auch den Zusammenhang besonderer Formen des Gedenkens im und durch den Text. Man kann deshalb nicht sagen, dass Denkfiguren die kulturellen Zwecke liefern und Literatur die textuellen Mittel dazu. Damit hätte man lediglich zwei kombinierte Aspekte und nicht – wie stattdessen entscheidend – die eine Erkenntnis aus der anderen erzeugt. Wenn beide Bezugsgrößen der Beobachtung aufgrund ihrer Komplexität ineinander greifen, gehen Formerkennung und Funktionszuweisung Hand in Hand. Damit ist zugleich angedeutet, worin die normativen Gesichtspunkte jener allgemein gehaltenen Methode liegen. Es leidet das Interpretieren, sobald der theoretische Part unterkomplex gehandhabt wird. Die Kritik daran zielt nicht auf Vollständigkeit der theorieinternen Bezüge, sie fordert nur deren Anordnung zu einer operablen Denkfigur. Fehlt diese Erstvoraussetzung, wird der Text-Zugang nicht bloß weniger gut, sondern überhaupt nicht funktionieren. Was den literarischen Part angeht, wird in der Auslegung von Luhmanns paradoxer Formulierung eine landläufige Konnotation der Vereinfachung hinfällig. Schlechtes Interpretieren liefe darauf hinaus, den Bedeutungsreichtum des Textes, einschließlich des Hintertreibens von Sinn, auf Aussagen der Theorie zu reduzieren. Gegen eine solch schlichte, unangemessene Art von Applikation hat die Definition der relevanten Kulturtheorien bereits Vorsorge getroffen, zeichnet sich diese Gruppierung doch dadurch aus, dass sie selbst performativ statt propositional ausgerichtet ist. Trotz der eigenen Struktur-Komplexität, welche die Figuren mitbringen, geben einige von ihnen dekonstruktiv verlaufende SinnProzesse vor.30 Dabei handelt es sich allerdings um eine partikulare statt um uni-

29 Vgl. Peter Fuß: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln, Weimar 2001, S. 13: »Dekomposition«, »Permutation«, »modifizierte Rekombination«. 30 Die Transgression nach Neumann/Warning wäre nur ein mögliches Beispiel, ein anderes unter vielen das Hybriditätskonzept Homi K. Bhabhas.

K ULTUR AM TEXT | 63

verselle Dekonstruktion, was für manchen Interpreten aus der Schule Derridas inakzeptabel sein mag. Ich komme zur argumentativ anschließenden zweiten These. Die Methodenlehre befasst sich darin mit der Unterscheidung zwischen Erkenntnisobjekt und Beschreibungsobjekt. Jeder dieser Begriffe für sich ist gebräuchlich und verständlich, als Begriffspaar kommen sie dagegen in der wissenschaftlichen oder philosophischen Terminologie kaum vor. Ihre Relation deckt sich nur ungefähr mit dem Unterschied von Erkenntnismittel und Erkenntnisobjekt. Genauso wenig stimmt sie mit der Differenzierung der operativen gegenüber den deskriptiven Begriffen überein, wie sie Bachmann-Medick für ihre Geschichte der turns übernimmt.31 Hier überwiegt dagegen weiterhin die heuristische Absicht, den modus operandi des Interpretierens zu charakterisieren. Dazu dient die anschauliche, aber theoretisch nicht ganz eindeutig zu verstehende Wendung aus dem Titel: »Kultur am Text«. Mit der genannten Formel geht die Erwartung einher, dass der Text die Position des Beschreibungsobjekts einnimmt, während das Kulturelle als Erkenntnisobjekt von der Theorie vorgeschrieben wird. Eine zustimmende Haltung zu dieser Rollenverteilung ergibt sich aus dem cultural turn: Indem der theoretisch geschulte Leser literarische Texte interpretiert, erkennt er zugleich kulturelle Prozesse. Dagegen fiele es der kritischen Einstellung auf, dass Literatur als ein Vehikel für kulturtheoretische Fragen herhalten muss. Obwohl ein literarisches Phänomen untersucht wird, ginge es ›eigentlich‹ um Kultur. Orientierung »am Text« soll etwas mehr bedeuten als lediglich eine Wiederholung der Aufgabenstellung. Denkt man an die erste, mit Luhmann aufgestellte These zurück, so impliziert die präpositionale Wendung eine gewisse Qualitätssicherung, mithin die Verpflichtung zur erhöhten textanalytischen Komplexität. Diese stellt sich jedoch nicht gegen, sondern infolge der verwendeten Denkfigur ein. Nichts anderes verbirgt sich hinter von Glasersfelds Leitidee methodischer »Viabilität«. Ob eine hinreichend komplexe oder oberflächliche Lesart zustande kommt, hängt gleichwohl von mehreren Faktoren ab. Mit den normativen Zusatzbestimmungen ist angezeigt, dass theoretisch operierende Interpretationen nicht ohne Weiteres gelingen. Den bisher noch unausgeführten Maßstab des Gelingens birgt das Gleichgewicht der Komponenten »Kultur« und »Text«:32 Gutes Interpretieren zeichnet sich dadurch aus, dass es die Differenz von Erkenntnis- und Beschreibungsob-

31 Vgl. D. Bachmann-Medick: Cultural Turns (s. Anm. 4), S. 26. 32 Diese erwünschte Balance kommt angesichts der Formel »Kultur am Text« mehr durch die Wortstellung als durch die syntaktische Verknüpfung zum Ausdruck.

64 | ANJA GERIGK

jekt dynamisiert. Demnach sollte es im Prinzip möglich sein, dass die beschreibende Ausführung einer kulturbezogenen Denkfigur umgekehrt die genauere Erkenntnis der textuellen Besonderheiten herbeiführt. Kein einmaliger, einseitiger Rollentausch findet dabei statt, sondern im Idealfall ein Wechselspiel, worin Literatur und Kultur sich gegenseitig beschreiben, worin Text und Theorie einander eventuell ergänzen. Dies übersteigt das Gebot, Figuren des Kulturellen möglichst textnah zu praktizieren. Im methodologischen Gesamtbild, das sich allmählich zusammenfügt, stellen theoretisches Denken und literarische Vollzüge keine Parteien dar, die voreinander in Schutz genommen werden müssen.33 Weder geht es darum, die KulturModelle zu korrigieren, noch kann jemand ernsthaft vorhaben, Literatur im Namen einer konservativen Werktreue vor deren Eingriffen zu bewahren. Anstatt das Literarische als solches zu attackieren, erlauben sich geeignete Denkfiguren den entschiedenen Zugriff auf einzelne Textgebilde, d.h. einen scheinbar dezisionistischen, aber eben nicht willkürlichen oder beliebigen Akt des Interpretierens. Mit der dritten Regel soll die vermeintlich schon vorab stabile Harmonie hinterfragt sowie fundiert werden. In Aussicht auf die nachfolgende letzte Richtlinie ist es zunächst hilfreich, Ungleichheiten zwischen dem literarischen Gegenstand und einem kulturtheoretischen Zugang zu beachten. Auf jener Grundlage kann sich sodann erweisen, in wieweit eine methodische Angleichung vorstellbar ist. Das Statusgefälle von Literatur und Theorie richtet sich offenkundig je danach, ob das Verhältnis vom allgemeinen Standpunkt wissenschaftlicher Erkenntnis aus oder in speziell literaturwissenschaftlicher, in disziplinär gebundener Sicht beurteilt wird.34 Diese epistemologischen und fachlichen Asymmetrien seien vorausgesetzt, aber nicht vertieft. Die Aufmerksamkeit gilt hier dem Denken kulturtheoretischer Prozesse und dessen Stellung zur Interpretation. Der literarische Text hat an ihm durchgeführten Figuren eines voraus: Er ist imstande, kulturelle Prozesse – wohlgemerkt die theoretisierten, nicht real existierende – selbst zu vollziehen. Im Unterschied dazu ist Theorie ihrerseits zwar eine Praxis, aber keineswegs faktisch gleichzusetzen mit jenen kulturellen Performanzen, die sie figuriert. Ausschließlich in diesem Sinne herrscht »performative Asymmetrie«. Sie ist interessant, weil darin die Unausweichlichkeit der Textnähe begründet liegt. Schlecht interpretiert hätte man bei dem Fazit, dass literarisch dasselbe ›gesagt‹ wird wie theoretisch. Eine gute Interpretation wird

33 Eine Art von symbiotischer Beziehung hat auch die Dekonstruktion eingerichtet. 34 Damit sei wiederum die Spannweite methodologischer Reflexion umrissen.

K ULTUR AM TEXT | 65

demgegenüber ermitteln, was der Text tut, wie er also die Kulturfigur mit seinen literarischen Mitteln allererst vollführt. Dass Literatur per se nicht einfach etwas aussagt, ist ein alter Topos aus Theorie und Ästhetik. Bernd Auerochs hat ihn unlängst aktualisiert, als »Überschreitung der propositionalen Normalform des Denkens«.35 Auerochs bekräftigt ebenfalls, dass jene besondere Form von »Reflexivität«, welche dem literarischen Werk eignet, »darstellungsgebunden«36 sei. Daran wird nach wie vor festgehalten, wenn der Sonderfall einer kulturtheoretischen Interpretation vor Augen steht. Ohne Denkfigur keine literarisch vollzogene Kulturfigur, dies sollte aber dazu führen, mit dem Text zu denken, sogar über die Theorie hinaus. Interpretieren gerät darin gleichsam selbst zur Kulturtheorie, obwohl es erkenntnistechnisch auf deren Setzungen angewiesen bleibt. Zum Abschluss dieser gesamten Übung in Methodologie scheint es ratsam, an alle drei Regeln zu erinnern sowie daran, dass sie an die Vorbestimmungen zur kulturtheoretischen Referenz gebunden sind. Das stärkste Prinzip zielt auf interpretatorische Lehren, die sich aus dem Luhmann-Satz »Nur Komplexität kann Komplexität reduzieren« (Regel 1) ziehen lassen. »Kultur am Text« (Regel 2) ordnet Literatur und Theorie einander gleichwertig zu, auf Basis des vorigen Satzes. Die »performative Asymmetrie« (Regel 3) erklärt, warum zwischen kulturtheoretischen Denkfiguren und literarischen Texten eine große Affinität besteht, obwohl oder gerade weil sie ungleich beschaffen sind und epistemologisch nicht auf derselben Stufe stehen. In ihrer Knappheit können die soeben nochmals positionierten Thesen kaum die darin verdichtete Argumentation ersetzen. Sie bieten wenigstens miteinander verknüpfte Ansätze zu dem Desiderat, den Einsatz von Kulturtheorien bei der Interpretation von Literatur erstens zu rechtfertigen und ihn zweitens einer Kritik zu unterziehen, welche dem damit überprüften Verfahren angemessen ist. Zu einer solchen methodologischen Befragung treibt mehr als ein Motiv: zum einen die Notwendigkeit wie auch das Bedürfnis, sich über die eigene Praxis klar zu werden, eine Orientierung zu gewinnen, was erstrebenswert ist, wenn Texte auf kulturtheoretische Art interpretiert werden. Zum anderen hegen die unterbreiteten Vorschläge den Hintergedanken, sich gegen Vorwürfe derjenigen zu wappnen, die dem interpretierenden Gebrauch von Theorie bestenfalls skeptisch gegenüberstehen. Meine Hoffnung wäre, mit den Ausführungen insgesamt einen Teil der landläufigen Missverständnisse von jener Seite abzubauen.

35 Bernd Auerochs: »Literatur und Reflexion«, in: Alexander Löck/Jan Urbich (Hg.), Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven, Berlin 2010, S. 274. 36 Ebd., S. 276.

66 | ANJA GERIGK

Denkfiguren als Kulturfiguren als Textfiguren dienen erstens nicht als empirischer Nachweis von Wahrheitssätzen über Kultur, nach dem oftmals gescholtenen Motto: quod erat demonstrandum. Zweitens bietet »Kultur am Text« keine Universalmethode im Stile von Strukturalismus und Dekonstruktion, die beanspruchen können, alle literarischen Objekte auf gleiche Art zugänglich zu machen. Doch ebenso weit ist das Unterfangen von Beliebigkeit und Eklektizismus entfernt. Das Dritte schließlich antwortet auf eine gefühlte Kränkung durch die reine Theorie und deren Zuständigkeit: Interpretation besitzt die Möglichkeit, anhand der Texte sowie entlang der theoretischen Fragestellungen ihre eigene Reflexivität auszuspielen. Unter Berufung auf sämtliche cultural turns lässt sich noch ein allerletzter, womöglich ausschlaggebender Grund anführen. ›Kultur‹ ist bekanntermaßen ein Unbegriff,37 deswegen zeigt sich die Tendenz innerhalb der Theoriebildung, verstärkt bestimmte kulturelle Prozesse gedanklich und begrifflich auszuarbeiten. Wenn ›Kultur‹ im Großen und Ganzen nicht oder nur bedingt gedacht werden kann, dann sind theoretische Interpretationen gemeinsam aufgerufen, diesen Horizont zu umreißen. Das Interpretieren im Einzelnen wiederum verzichtet gerade auf jeden Universalgestus. Seine Aufgabe dürfte eher darin liegen, sich textanalytisch in kulturelle Vollzüge zu vertiefen. Man kann das Programm auf diesen konsensfähigen Nenner bringen, nicht aber die methodologischen Gründe darauf verkürzen. Das Problem der Interpretation wurde, damit steht und fällt auch die Akzeptanz der drei Regeln, in konstruktivistischer Denkweise reformuliert.

III. W ISSENSGESCHICHTE

VS .

K ULTURTHEORIE

Dieser Abschnitt möchte den dargelegten Modus des Interpretierens nicht länger isoliert betrachten, sondern im Rahmen jener Methodenvielfalt, deren Reichweite eingangs mit Brenner skizziert wurde: »Texte im Kontext: Gesellschaft, Geschichte, Kultur«. Daraus geht hervor, dass kulturtheoretische Interpretationsfiguren ebenfalls unter die kontextualisierenden Zugänge gerechnet werden können. Die vollständige Einschätzung der Methode und ihrer Zugehörigkeit ist nur möglich, wenn man sie in eine vergleichende Konstellation einspannt. Das lohnende Pendant stellt in dieser Hinsicht die »Poetologie des Wissens« dar, aufgrund markanter Parallelen und Unterschiede. Eine Gemeinsamkeit sei der wei-

37 In einem notorischen Zitat nennt der Sozialtheoretiker »Kultur« zuspitzend »einen der schlimmsten Begriffe, die je gebildet worden sind«. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1995, S. 398.

K ULTUR AM TEXT | 67

teren Gegenüberstellung vorausgeschickt. Wie die meisten kulturtheoretischen Modelle ursprünglich nicht für literaturwissenschaftliche Belange konzipiert sind, stammen auch die etablierten Schulen wissensgeschichtlicher Textarbeit von Foucaults nicht speziell an Literatur interessierter Diskursanalyse ab. Von den fachlichen Adaptionen, welche die diskursanalytischen Anliegen den literarischen Gegenständen anpassen, soll nur eine zu Wort kommen, just die Poetologie des Wissens in der theoretischen Version von Joseph Vogl. Dessen Einleitung zur Erforschung von Wissensordnungen um 1800 bietet sich unter anderem deshalb an, weil sie die methodologische Reflexionshöhe der Archäologie des Wissens nicht unterschreitet, wobei sie in weiten Teilen deren Ideen reproduziert. In diesem Punkt ist ein fairer Wettstreit gewährleistet, da nicht eine abstrakte Methodenlehre, wie die zuletzt entwickelte, mit einem konkreten methodischen Regelwerk verglichen wird. Ginge es um ein Plädoyer für mehr Mut zur Methodologie, wäre das Original selbst einschlägig, Foucaults Archäologie als Paradebeispiel dafür, dass eine theoretische Schrift über das Verfahren wissenschaftliche Kontroversen auslösen und Disziplinen umgestalten kann.38 Dass Vogl einen dennoch eigenständigen methodischen Ansatz verfolgt,39 liest man zu Anfang; aufgerissen wird dort eine »Perspektive, die die Herstellung von Wissensobjekten und Aussagen unmittelbar mit der Frage nach deren Inszenierung und Darstellbarkeit verknüpft. Es geht demnach in diesen ›Poetologien des Wissens‹ um die Erhebung und Verarbeitung von Daten ebenso wie um deren Repräsentationsformen in verschiedenen – literarischen, wissenschaftlichen oder technischen – Szenarien.«40

38 Petra Gehring bringt das »Methodenproblem«, das Foucaults historische Studien ohne die Metaebene der Archäologie aufwerfen, auf den Punkt: »Es ist keines der fehlenden Ordnung, sondern eines der fehlenden Orthodoxie. Der Leser spürt ein methodisches Vorgehen, aber er kennt es nicht.« Petra Gehring: »Foucaults Verfahren«, in: Michel Foucault: Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, hg. von ders., Frankfurt/Main 2009, S. 373-393, hier S. 377. 39 Andererseits folgt er dem Vorbild auch darin, dass er Methodik im regelgeleiteten, allgemeingültigen Sinne von sich weist: »Mit all diesen Aspekten und Orientierungen ist eine ›Poetologie des Wissens‹ keiner Methode, keiner bestimmten Praxis der Analyse verpflichtet.« Joseph Vogl: »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1998, S. 7-16, hier S. 16. Zur verzwickten Lage bei Foucault vgl. P. Gehring: Foucaults Verfahren (s. Anm. 38), S. 381. 40 Ebd., S. 7.

68 | ANJA GERIGK

Daraus sei eine erste Querverbindung gezogen: Wie »Repräsentationsformen« ihre »Wissensobjekte« konstituieren und nicht in unabhängig davon existierende Wissensbestände und deren Darstellung übersetzt werden können, genauso sind Kulturfiguren an die Textur gebunden. Auffälliger ist indes eine Ungleichheit der beiden Ansätze: Während wissensgeschichtlich diverse kontextuelle, nichtliterarische Quellen einfließen, scheidet diese Option für das Vorhaben »Kultur am Text« aus. Das heißt jedoch keineswegs, dass jeder Kontextbezug wegfällt, er kann vielmehr über die Denkfigur selbst vermittelt sein. Gesteht man eine solche Kontextualisierung zu, wie verhält es sich dann mit der Historisierung? Bei Vogl bzw. bei Foucault werden Formationen in abgesteckten geschichtlichen Zeiträumen erkennbar, eine Notwendigkeit des Quellenstudiums, mehr noch der methodologisch bahnbrechenden »konsequenten Historisierung des Wissens«,41 einschließlich des Bewusstseins für unsere Gegenwart. Der Eindruck liegt nahe, dass sich kulturtheoretisches Interpretieren am Gegenpol aufhält, dass es vollkommen ahistorisch verfährt. Schließlich liegen ihm Theorien kultureller Prozesse zugrunde, welche per definitionem keinen historischen Veränderungen unterliegen. So könnte man jedenfalls meinen, doch wird diese von Geschichte absehende Sicht den meisten Denkfiguren nicht gerecht, aus verschiedenen Gründen. Die Stadien der grotesken Transformation sowie der Tabu(rück)bildung lassen sich zwar konstant theoretisieren, bilden aber spätestens in der analytischen Konkretisierung, auf die sie angelegt sind, unweigerlich einen geschichtlichen Zeitpunkt oder besser Wandel ab. Einer weiteren, weit verbreiteten Unterart von Kulturmodellen sieht man ihren historischen Index auf den ersten Blick kaum an, trotzdem sind sie nicht auf sämtliche literarisch-kulturelle Epochen auszuweiten. Der Großteil an Figuren greift diesseits der Moderne-Schwellen. Um ein unmittelbar einleuchtendes Beispiel zu bemühen: Postkoloniale Lektüren können zwar ins koloniale 19. Jahrhundert, schwerlich aber ins Mittelalter rückverlegt werden.42 Genauso tragen Theorien zum kulturellen Gedächtnis häufig Modernisierungsthesen. Universelle Vollzugsarten als funktionale Variationen des Kulturellen sind sozialtheoretischen Reflexionen, etwa vom Schlage Luhmanns, womöglich vor allem darin unterlegen, dass sie ihre eingeschränkt moderne Gültigkeit zumeist implizit statt explizit mitteilen. Im Blick auf die Methodenkonkurrenz zwischen Wissenspoetik und Kulturtheorie zeigt sich somit entgegen der Vermutung, dass es neben den datierbaren

41 Ebd., S. 10. 42 Dafür taugt höchstens Bhabhas Konzeption der Hybridität, weil sie das Anderswerden des Selben in jeder Äußerung kultureller Identität modelliert.

K ULTUR AM TEXT | 69

Formationen längerer oder kürzerer Frist die großzügig bemessene Dauer des Modernen gibt, worin ein Großteil der kulturbezogenen Denkfiguren zeitlich anzusiedeln wäre. Es muss der eine methodische Zugang nicht besser sein als der andere, was beispielsweise das historisierende Vermögen angeht, solange sie nur verschieden genug sind, um ihre je besondere Beobachtung von Text und Kontext zu leisten. Gemäß solcher Ausdifferenzierung erfolgt die wissenspoetologische Kontextualisierung »unmittelbar«, wohingegen die kulturtheoretische als »mittelbar« bezeichnet werden kann, dies mit ihrem außerdem weniger distinkten historischen Bezug. Die Stärke kulturtheoretischen Interpretierens, dessen Berechtigung in Zeiten von Wissensgeschichte und Diskursanalyse liegt in seiner ausgeprägten Fähigkeit zur Strukturanalyse von Einzeltexten. Wo Foucault und mit ihm Vogl erklärtermaßen den literarischen Text als gesonderte Untersuchungseinheit abschafft, um transdisziplinäre Anordnungen und die vielfältige Gemachtheit epistemischer Objekte zugleich innerhalb und außerhalb von Literatur bzw. Wissenschaft aufzeigen zu können, will eine Kulturfigur gerade auch die Textur erschließen, da sie sich vorzugsweise durch literarische Komplexität performativ realisiert. Das zuletzt hervorstechende Vergleichsmoment mit seinem Interpretationsvorteil kommt keineswegs von Ungefähr – es setzt die ausgiebige methodologische Erörterung voraus. Statt die Vorgehensweisen gegeneinander auszuspielen, sollte dieser Anhang an einem geeigneten Ausschnitt demonstrieren, wie das Interpretieren nach der Wende zu »Gesellschaft, Geschichte, Kultur« (Brenner) aussehen kann: so ungleichartig wie wissensgeschichtliche Studien und kulturtheoretisch eröffnete Interpretationen. Dazu bleibt festzuhalten, dass bei der Gelegenheit ausschließlich meta-methodisch statt methodenpraktisch verglichen wurde. Wie leicht diese Grenze verwischt, beweist das heikle Geschäft, Foucault zu kommentieren, insbesondere seinen verstreuten ›discours de la méthode‹. In klärender Absicht versucht Gehring eine Sprachregelung, welche dem Verfasser nicht nur der Archäologie des Wissens gerecht wird: »Verfahren ist kein methodologisch harmloses Wort. […] Verfahren ist dasjenige Vorgehen, das nicht […] auf vorweg angebbaren Regeln beruht, sondern sich […] den wichtigeren Teil seiner Regeln erst unterwegs erfindet, gleichwohl aber aus Erfahrung um sein schlussendliches Gelingen weiß. Verfahren ähneln dem konstruierenden Vorgehens des Ingenieurs.«43

43 P. Gehring: Foucaults Verfahren (s. Anm. 38), S. 381.

70 | ANJA GERIGK

Klingt darin nicht ein »Verfahren« an, das dem konstruktivistisch fundierten Interpretieren sympathisch sein könnte? Um dies deutlich zu verneinen: Der vorgelegte Beitrag hat theoretisch darum gerungen, »Kultur am Text« vom allzu flexiblen bis losen Methodenverständnis des Improvisierens und der Logik ex post abzurücken; die Richtschnur des Reflektierens erweist sich als »cartesianisch«.44 »›Methode‹ statt ›Verfahren‹!« Zugegeben, zuerst war auch hier die gelingende Praxis und dann das Nachdenken über deren Gesetzmäßigkeiten. Ungeachtet dessen muss sich auch die nachträgliche Methodenlehre daran messen lassen, ob es ihr gelungen ist, die »denkerische Technizität«45 kulturtheoretischer Interpretation überzeugend nachzuweisen. Im besten Fall erstellt sie – gegen die von Gehring veranschlagte post-cartesianische Methodologie – eine ›Geometrie des Verfahrens‹.

L ITERATUR Auerochs, Bernd: »Literatur und Reflexion«, in: Alexander Löck/Jan Urbich (Hg.), Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven, Berlin 2010, S. 263-288. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006. Brenner, Peter J.: Das Problem der Interpretation. Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen 1998. Eagleton, Terry: After Theory, London 2003. Fuß, Peter: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln, Weimar 2001. Gehring, Petra: »Foucaults Verfahren«, in: Michel Foucault: Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, hg. von ders., Frankfurt/Main 2009, S. 373393. Geldsetzer, Lutz: »Methodologie«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5: L–Mn, Basel 1980, S. 1379-1386. Glasersfeld, Ernst von: Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, übers. von Wolfram K. Köck, Frankfurt/Main 1996. Jahraus, Oliver: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen, Basel 2004.

44 Ebd. 45 Ebd., S. 383.

K ULTUR AM TEXT | 71

Lyotard, Jean-François: Discours, Figure, Paris 1971. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main 1984. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1995. Knapp, Steven/Michaels, Walter Benn: »Against Theory«, in: Critical Inquiry 8 (1982), S. 723-742. Neumann, Gerhard/Weigel, Sigrid (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000. Neumann, Gerhard/Warning, Rainer: »Transgressionen. Literatur als Ethnographie«, in: dies. (Hg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie, Freiburg i. Brsg. 2003, S. 7-16. Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000. Vogl, Joseph: »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1998, S. 7-16.

»Ich schreibe Schiller einen Liebesbrief« Interpretation als Liebe I RMTRAUD H NILICA »Alle Signifikanten sind da, und ein jeder macht sein Schaufliegen; der Autor (der Leser) scheint ihnen zu sagen: Ich liebe euch alle […]«. ROLAND BARTHES1

I. Eine Antwort auf die Frage, was Interpretation nach den turns sein könnte, ergibt sich, so die Ausgangsüberlegung dieses Beitrages, durch eine Analyse dessen, was Interpretation auch während den turns und sogar davor schon war, was also von ihr bleibt, wenn man sie ihres jeweiligen mehr oder weniger modischen2 Theoriegewandes erst einmal entkleidet hat. Dahinter steht die Annahme, dass Interpretation mehr ist als ihre jeweilige Durchführung; dass sie eine Triebfeder besitzt, die sich im Sinne des postcolonial, iconic, performative, spatial oder translational turn3 zwar artikulieren kann, ihre Energie jedoch von anderer Stelle bezieht. Es geht also um den gleichsam archaischen Kern von Interpretati-

1

Roland Barthes: Die Lust am Text, Frankfurt/Main 2010 [1973], S. 17.

2

Dabei ist der Begriff der Mode hier nicht pejorativ gemeint, birgt doch – wie Walter Erhart gezeigt hat – jede Mode eine Chance: Walter Erhart: »Plädoyer für Moden«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 38 (1994), S. 415-422.

3

Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006.

74 | I RMTRAUD H NILICA

on, von dem ausgehend – eine Art prognostisches Paradox – die Zukunft der Interpretation am zuverlässigsten einschätzbar scheint. Stephen Greenblatt hat die Frage nach dem elementaren Wesen der Interpretation schon einmal gestellt und sie damit beantwortet, dass Literaturwissenschaft »mit dem Wunsch, mit den Toten zu sprechen«4 beginnt. Seitdem ist bekannt: »Literaturprofessoren sind bestallte Schamanen der Mittelklasse«.5 Sie sind zugleich aber auch – und das ist die These dieses Aufsatzes – Liebende, beseelt und getrieben vom Wunsch, die Liebesgabe des literarischen Textes zu erwidern.6 Dass Liebe und Literatur innig miteinander verschlungene Phänomene sind, ist hinlänglich bekannt.7 So beschreibt Niels Werber in seiner Studie Liebe als Roman8 ausführlich die Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. Dabei stützt Werber sich auf Niklas Luhmanns soziologische Theorie der Liebe. Luhmann hat in Liebe als Passion gezeigt, dass Liebe vorwiegend als ihre eigene Semantik zu verstehen ist: es gibt keine Liebe jenseits ihrer Zeichen. Entsprechend behandelt Luhmann Liebe »nicht, oder nur abglanzweise, als Gefühl […],

4

Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Berlin 1990 [1988], S. 7.

5 6

Ebd. Es versteht sich, dass auch dieser Wunsch »organisiert, professionalisiert und unter dicken Schichten bürokratischer Etikette vergraben« wird. Ebd.

7

Vgl. unter der Vielzahl der dieses Verhältnis reflektierenden Forschungsarbeiten u.a. Matthias Luserke-Jaqui: Kleine Literaturgeschichte der großen Liebe, Darmstadt 2011. Andreas Kraß hat gezeigt, dass Meerjungfrauen Sinnbild sowohl der Liebe als auch der Literatur sind: Andreas Kraß: Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe, Frankfurt/Main 2010; Oliver Jahraus: Amour fou. Die Erzählung der Amour fou in Literatur, Oper, Film; zum Verhältnis von Liebe, Diskurs und Gesellschaft im Zeichen ihrer sexuellen Infragestellung, Tübingen 2004; Walter Hinderer/Alexander von Bormann (Hg.): Codierungen von Liebe in der Kunstperiode, Würzburg 1997; Gislinde Seybert: Liebe als Fiktion. Studien zu einer Literaturgeschichte der Liebe, Bielefeld 1995; Helga Arend: Vom »süßen Rausch« zur »stillen Neigung«. Zur Entwicklung der romantischen Liebeskonzeption, Pfaffenweiler 1993; Rüdiger Krohn/Helmut Brackert (Hg.): Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland, München 1983.

8

Niels Werber: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation, München 2003. Die titelgebende These der Studie lautet: »Liebe und Roman sind eine so enge Allianz eingegangen, daß sich die Begriffe über einen lange Zeitraum hinweg wie Synonyme verwenden lassen.« Ebd., S. 9.

I NTERPRETATION ALS LIEBE | 75

sondern als symbolische[n] Code […]. Der Code ermutigt, entsprechende Gefühle zu bilden. Ohne ihn würden die meisten, meinte La Rochefoucauld, gar nicht zu solchen Gefühlen finden«.9 Wenn im 18. Jahrhundert eine moderne Liebessemantik entsteht, die Liebe, Ehe und Sexualität in Einklang zu bringen sucht, dann haben literarische Texte10 – allen voran Friedrich Schlegels Lucinde11 – entscheidenden Anteil daran. Ja, Liebe ist »das Romanthema par excellence«.12 Und empirische Liebespaare orientierten sich ganz konkret daran: Gunter E. Grimm hat am Beispiel des Briefwechsels zwischen Johann Gottfried Herder und Caroline Flachsland im Detail gezeigt, wie der Bezug auf literarische Texte der Verständigung des Liebespaares dient – bis schließlich der Briefwechsel selbst »zum Liebesroman«13 wird. Ohne Literatur, so könnte man die von La Rochefoucauld bis Luhmann vielfach variierte These reformulieren, keine Liebe. Ohne Liebe14 aber, das soll im Folgenden gezeigt werden, gäbe es – umgekehrt – weder Literatur15 noch Interpretation.16

9

Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/Main 1982, S. 9.

10 Insbesondere der Roman wird »zum Lern- und Orientierungsfaktor in Liebesangelegenheiten«. Ebd., S. 12. 11 Friedrich Schlegel: Lucinde, Berlin 1799. 12 N. Luhmann: Liebe als Passion (s. Anm. 9), S. 71. 13 Gunter E. Grimm: »›Halb zog sie ihn, halb sank er hin …‹ Lektüre im Briefwechsel zwischen Johann Gottfried Herder und Caroline Flachsland«, in: Wolfgang Adam/Markus Fauser in Zusammenarbeit mit Ute Pott (Hg.), Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18. Jahrhundert, S. 115-133, hier S. 129. Grimms These am Ende seines Aufsatzes: »Was für das 18. Jahrhundert das Lesen darstellte, das ist heute der Disko-Besuch oder das gemeinsame Fernsehen. Lektüre war das Mittel, der Zweck war die Partnerschaft«. Ebd., S. 133. Dieser Befund lässt sich dahingehend befragen, ob er nicht umzukehren ist: Vielleicht war Partnerschaft das Mittel – und (gemeinsame) Lektüre der Zweck? 14 Ich lege einen Begriff von Liebe an, der sich an Luhmann orientiert, der aber – anders als Luhmann – davon ausgeht, dass Liebe kein reines Phänomen der Nahwelt ist, sondern sich potenziell – wie eben in Literatur und Interpretation – auch auf die Fernwelt beziehen kann. Auch dann noch dient sie der Bestätigung von Selbstsein und Weltentwurf. Vgl. N. Luhmann: Liebe als Passion (s. Anm. 9), S. 18. Zudem gehe ich davon aus, dass Liebe als Emotion zwar weitgehend, jedoch nicht vollständig identisch mit ihrem Code ist. 15 Diesen Schluss hat – mit anders akzentuierter Begründung – bereits Niels Werber gezogen: »Der Gattungsgeschichte der literarischen Form muß daher in der literaturwis-

76 | I RMTRAUD H NILICA

II. Die Gabe, so hat es Marcel Mauss in seinem berühmten Essay beschrieben, gehört zu den »›totalen‹ gesellschaftlichen Phänomenen«.17 Die von Mauss analysierte Schenkökonomie lässt sich auf allen erdenklichen gesellschaftlichen Feldern ausfindig machen, in Religion, Recht, Moral, in Politik und Familie – und auch in der Ästhetik. Ob sich die soziale Bindekraft der Gabe, die Mauss als Ethnologe anhand archaischer Gesellschaften untersucht hatte (u.a. bei nordwestamerikanischen Indianerstämmen, in Melanesien, Papua und Polynesien), auch in der modernen Gesellschaft noch entfaltet, ist allerdings umstritten. Marcel Mauss glaubte, dass »diese Moral und diese Ökonomie [der Gabe, I.H.] sozusagen unterschwellig auch noch in unseren eigenen Gesellschaften wirken«.18 Einige der heutigen Sozialwissenschaftler gehen allerdings davon aus, dass die Gabe in der modernen Gesellschaft ein Nischendasein führt und nur noch in Form des privaten Geschenkes existiert.19 Nun gibt es aber eine – über die Liebe vermittelte – Affinität zwischen privaten Geschenken und Kunst, die es rechtfertigt, auch vom literarischen Text als einer Gabe zu sprechen. Der Wiener Kulturphilosoph Robert Pfaller hat darauf hingewiesen, dass der Wunsch, aus Liebe zu schenken, die entscheidende Bedingung der Produktion von Kunst20 überhaupt darstellt:

senschaftlichen Untersuchung das selbe hohe Gewicht zukommen wie dem Wandel der historischen Intimsemantik, denn die intime und die literarische Kommunikation der Gesellschaft stehen in einem Verhältnis der Koevolution. Sie stellen sich gegenseitig Strukturen zur Verfügung, um ihre Semantik weiterzuentwickeln. Ich möchte in dieser Arbeit abstecken, was der Roman der Liebe und die Liebe dem Roman zu verdanken hat. Man wird sehen: genau wie die Liebenden können beide nicht ohne einander sein.« N. Werber: Liebe als Roman (s. Anm. 8), S. 47. 16 Literaturwissenschaft als Liebe nimmt Leser, Text und Autor als materiell-semiotischen Verbund in gleicher Weise ernst und fokussiert die Übertragungsbeziehung, in der diese stehen. 17 Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/Main 1990 [1923/24], S. 17. 18 Ebd., S. 19. 19 Vgl. zu dieser Kontroverse Frank Adloff/Steffen Mau: »Zur Theorie der Gabe und Reziprozität«, in: dies. (Hg.), Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt/Main, S. 9-57, hier S. 9f. 20 Dabei macht das herangezogene Beispiel der Kinderzeichnungen etc. deutlich, dass es sich nicht um einen emphatischen, hochkulturellen Kunstbegriff handelt, sondern

I NTERPRETATION ALS LIEBE | 77 »Wenn man beobachtet, unter welchen Umständen Menschen, die keine Künstler sind, jemals beginnen, Kunstwerke anzufertigen, dann sticht eine Bedingung schnell hervor: nämlich die der Liebe – in allen Abstufungen und Bedeutungen des Wortes. Verliebte produzieren zum Beispiel Collagen als Liebesbeweise für ihre Geliebten; Erwachsene erfinden Lieder als Geburtstagsdarbietungen für ihre Freunde; Kinder fertigen Zeichnungen an als Weihnachtsgeschenk für Eltern oder Großeltern.«21

Anlass von Kunstproduktion sei beim Laien in der Regel »eine Adressierung an eine geliebte Person«.22 Dieser Mechanismus, so Pfaller, sei übertragbar auch auf professionelle Formen der Kunstproduktion. Selbst wenn diese »von derart singulären Bedingungen weitgehend unabhängig« seien, so möchte man sich doch »fragen, ob sie jemals völlig eines solchen Affektmoments und der damit verbundenen Vorstellung einer Adressatenperson entbehren können […]«.23 Somit behauptet sich das Kunstwerk, der literarische Text – wie das Geschenk – auch in der modernen Gesellschaft als Gabe, präziser: als Liebesgabe.24 Widmungen, Zueignungen belegen genau das.25 Doch das Werk – und darauf gerade

›Kunst‹ hier in Anlehnung an den weiten Kulturbegriff der Kulturwissenschaft zu verstehen ist. 21 Robert Pfaller: Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie, Frankfurt/Main 2012, S. 173. 22 Ebd. 23 Ebd. Pfaller ergänzt: »[A]uch wenn diese Vorstellung vielleicht mitunter nicht nur eine Einzelperson und eine private Beziehung, sondern eher ein Kollektiv (wie das Publikum) und eine öffentliche Beziehung betrifft«. Ebd. 24 Dass Überlegungen zur Gabe, wie Mauss, Derrida und andere sie stark gemacht haben, generell fruchtbar gemacht werden können für Fragen nach der Kunstproduktion, ist kein ganz neuer Gedanke. Vgl. dazu u.a. Kathrin Busch: Geschicktes Geben. Aporien der Gabe bei Jacques Derrida, München 2004, S. 255-282. 25 Eine Meisterin des Widmungsgedichtes (meist schrieb sie ganze Zyklen) war Else Lasker-Schüler. Vgl. Hermann Korte: »›Mitten in mein Herz‹: Else Lasker-Schülers Widmungsgedichte«, in: Axel Ruckaberle (Hg.), Else Lasker-Schüler, München 1994, S. 18-33. Vgl. auch die Hinweise zur Dynamik von Widmungen von Martin Seel: »Ein besonders schwieriges Widmungsgenre ist die Dankabstattung unter Eheleuten. Liebespflichten können nämlich auch übererfüllt werden. Die Gattin des Philosophen John Searle, der ihr aber auch jede seiner Publikationen widmet, stellt man sich unvermeidlich etwas drachenhaft vor.« Martin Seel: »Die Macht der Widmungen«, in: Die Zeit vom 24. Juni 1999. Vgl. http://www.zeit.de/1999/26/Die_Macht_der_Widmun gen vom 31.10.2013.

78 | I RMTRAUD H NILICA

kommt es an – will mehr als lediglich die eine, vom Autor geliebte, Person adressieren: »ich mag ruhig deinen Namen auf mein Werk schreiben, in Wirklichkeit ist es für ›sie‹ (die anderen, die Leser) geschrieben.«26 Daher ist selbst in den Fällen, in denen ein Werk explizit einer ganz bestimmten geliebten Person gewidmet ist, diese Zueignung lediglich ein Auslöser. So schreibt Barthes, dass der Schriftsteller seinen Leser suchen muss: »(ich muß ihn ›anbaggern‹), ohne daß ich wüsste, wo er ist«. Dabei geht es weniger um einen konkreten Leser, sondern um den »Raum der Wollust«, der durch die Suche nach diesem entsteht: »Nicht die ›Person‹ des Anderen, den Raum brauche ich: die Möglichkeit einer Dialektik des Begehrens, einer Unvorhersehbarkeit der Wollust: daß das Spiel noch nicht fertig ist, daß es zu einem Spiel kommt.«27 Der Zusammenhang von Liebe und künstlerischer Produktivität ist also nicht so zu verstehen, als sei Literatur der unmittelbare Ausdruck des individuellen Autors und seiner emotionalen Befindlichkeit. Zu denken ist vielmehr an die phantasmagorische Übertragungsbeziehung, in der Autor und Leser stehen28 und die durch die Figur der Muse veranschaulicht werden kann.

26 »[D]as, was der Zueignung folgt (nämlich das Werk selbst), [hat] wenig Beziehung zu dieser Widmung. Das Objekt, das ich schenke, ist nicht mehr tautologisch (ich schenke dir, was ich dir schenke), es ist interpretierbar; es hat eine Bedeutung (Bedeutungen), die seinen Empfänger um ein Vielfaches hinter sich läßt […]«. Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/Main 1988 [1977], S. 264f. Weiter schreibt Barthes: »Aufgrund einer unvermeidlichen Fügung der Schreibaktivität selbst läßt sich nicht sagen, daß ein Text ein Liebestext ist, sondern bestenfalls nur, daß er ›mit Liebe‹ gemacht worden ist wie ein Kuchen oder ein besticktes Pantöffelchen. Mehr noch: sogar mit weniger Liebe als ein Pantöffelchen! Denn der Pantoffel ist für deinen Fuß gemacht (für deine Schuhgröße und dein Vergnügen); der Kuchen ist für deinen Geschmack gebacken oder ausgewählt worden: es gibt eine gewisse Adäquation zwischen diesen Objekten und deiner Person. Das Schreiben aber verfügt nicht über dieses Entgegenkommen.« Ebd. 27 R. Barthes: Die Lust am Text (s. Anm. 1), S. 12f. 28 Der Autor schreibt eben gerade nicht für die konkret geliebte Person: »Wissen, daß man nicht für den Anderen schreibt, wissen, daß diese Dinge, die ich schreibe, mir nie die Liebe dessen eintragen werden, den ich liebe, wissen, daß das Schreiben nichts kompensiert, nichts sublimiert, daß es eben da, wo du nicht bist, ist – das ist der Anfang des Schreibens«. R. Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe (s. Anm. 26), S. 192.

I NTERPRETATION ALS LIEBE | 79 »Mit Hilfe der psychoanalytischen Theorie können wir den Mythos vom Kuss der Muse reformulieren und ihn als einen berechtigten Hinweis betrachten – nämlich als Hinweis auf die soziale Dimension des Kunstmachens. Künstler ist man nicht aus sich heraus, oder weil man etwa ein Genie wäre; man ist es vielmehr, weil einen etwas Gesellschaftliches überkommt [...].«29

Pfallers Gedanke, dass Kunst eine fundamental soziale Dimension besitze, die sich im weitesten Sinne als Liebe bezeichnen lässt, scheint zumindest ein Einwand entgegenzustehen: schließlich ist – programmatisch etwa im Künstlerroman der Romantik30 – immer wieder gerade Einsamkeit und Entsagung als conditio ästhetischer Produktion ausgemacht worden. Kunst würde aus dieser Perspektive in Liebe nicht etwa ihren Ursprung, sondern ganz im Gegenteil ihre entschiedene Bedrohung finden. Doch der Künstler als Solitär widerlegt, genauer betrachtet, den Zusammenhang von Liebe und Literatur nicht, sondern er bestätigt ihn: handelt es sich doch nicht um einen eigentlichen Verzicht auf, sondern um eine bestimmte Ökonomie der Liebe, die in der Befürchtung wurzelt, es könnte – verschwendet man sie an das Leben – nicht mehr genug davon für die Kunst vorhanden sein.31 Liebe kann aus dieser Perspektive entweder gelebt oder künstlerisch artikuliert werden. So heißt es in Rilkes Buch der Bilder ja auch: »Mädchen, Dichter sind, die von euch lernen / das zu sagen, was ihr einsam seid«.32 Auch diese die Kunst-Leben-Dichotomie aufgreifenden Zeilen Rilkes konturieren Liebe – in der Variante ihrer Versagung im Leben – also letztlich als

29 R. Pfaller: Wofür es sich zu leben lohnt (s. Anm. 21), S. 175. 30 Dass dies in der konkreten Gestaltung im literarischen Text doch komplexer ist, hat Claudia Liebrand u.a. anhand von E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels gezeigt: »Wie dem Mönch durch sein Gelübde der Keuschheit die Triebsublimierung aufgegeben ist, so kreist Hoffmann [...] um das Phantasma, daß der sexuelle Besitz der geliebten Frau den Künstler und seine Angebetete zerstört.« Zugleich gilt aber auch: »Natürlich konfligiert dieses Postulat in den Elixieren damit, daß gerade auch das ›Teuflische‹ (die Sexualität und der Teufelswein) die Kunstproduktion befördert und hervorbringt. In den Text inskribiert ist das Wissen, daß Kunst nicht ›rein‹ sakral verfaßt ist, sondern immer auch durch die menschlichen ›Nachtseiten‹ generiert wird [...].« Claudia Liebrand: Aporie des Kunstmythos. Die Texte E.T.A. Hoffmanns, Freiburg i. Brsg. 2002, S. 68f. 31 Zu einer Produktionsästhetik, die den Verzicht auf Liebe fordert vgl. Axel Löber: »Du darfst nicht lieben«. Das Liebesverbot für den Künstler in der deutschen Literatur, Saarbrücken 2007. 32 Rainer Maria Rilke: Die Gedichte, Frankfurt/Main 1986, S. 321. Kursiv im Original.

80 | I RMTRAUD H NILICA

Voraussetzung von Literatur.33 Es gilt auch hier Robert Pfallers produktionsästhetische Faustformel: »Man muss lieben, um Kunst machen zu können«.34

III. Der literarische Text, so lautet also das erste Argument, das die These von Literaturwissenschaft als Liebe plausibel machen soll, ist eine Liebesgabe. Wenn aber der literarische Text als Liebesgabe zum Leser kommt, dann kann der sich dieser Gabe nur auf eine Weise würdig erweisen: indem er sich als Liebender dazu verhält.35 Das ist nicht normativ, sondern deskriptiv gemeint; vielfach reagieren Leser gerade so: Roland Barthes hat den Akzent auf die Lust gelegt, die der literarische Text im Leser auslösen kann – und die, ganz im Sinne der Reziprozität, der Lust des Autors korrespondiert: »Lese ich lustvoll diesen Satz, diese Geschichte, dieses Wort, so sind sie in der Lust geschrieben worden (diese Lust

33 Gleichwohl steckt – mit Freud gedacht – in der künstlerischen Tätigkeit bereits das Moment der Sublimierung, so dass das Werk über seine Voraussetzung hinausweist: »Die zu lösende Aufgabe ist, die Triebziele solcherart zu verlegen, daß sie von der Versagung der Außenwelt nicht getroffen werden können. Die Sublimierung der Triebe leiht dazu ihre Hilfe. Am meisten erreicht man, wenn man den Lustgewinn aus den Quellen psychischer und intellektueller Arbeit genügend zu erhöhen versteht. Das Schicksal kann einem dann wenig anhaben. Die Befriedigung solcher Art, wie die Freude des Künstlers am Schaffen, an der Verkörperung seiner Phantasiegebilde, die des Forschers an der Lösung von Problemen und am Erkennen der Wahrheit, haben eine besondere Qualität, die wir gewiß eines Tages werden metapsychologisch charakterisieren können.« Sigmund Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« [1930], in: ders.: Studienausgabe, Bd. IX: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, hg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richard/James Strachey, Frankfurt/Main 1997, S. 191-270, hier S. 211. 34 R. Pfaller: Wofür es sich zu leben lohnt (s. Anm. 21), S. 174. 35 In Barthes Fragmenten einer Sprache der Liebe heißt es unter der Überschrift »Ohne Antwort«: »In jenen kurzen Augenblicken, da ich umsonst spreche, ist es so, als stürbe ich. Denn das geliebte Wesen wird zur bleiernen Gestalt, zur Traumfigur, die nicht spricht, und Stummheit im Traum ist der Tod. Anders ausgedrückt: die belohnende, die gute Mutter zeigt mir selbst den Spiegel und sagt: ›Das bist du.‹ Die stumme Mutter aber sagt mir nicht, was ich bin: ich spüre keinen festen Boden mehr, ich treibe ohne Existenz schmerzlich umher.« R. Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe (s. Anm. 26), S. 205.

I NTERPRETATION ALS LIEBE | 81

steht nicht im Widerspruch zu den Wehklagen des Schriftstellers).«36 Und als eine Art Verlangen beschreibt Hans Ulrich Gumbrecht, was Philologen, die ja die Liebe zum Text schon im Namen tragen, tun. Gumbrecht schreibt, »daß materielle Bruchstücke kultureller Artefakte aus der Vergangenheit einen realen Wunsch nach Besitz und nach wirklicher Präsenz auslösen – einen Wunsch, der tatsächlich beinahe die Ebene eines physischen Verlangens erreicht«.37 Aus dieser Feststellung eines »menschlichen Körper-Engagements« leitet Gumbrecht die Forderung nach Etablierung eines »neuen intellektuellen Stils« ab.38 Wie eine Vorwegnahme dieser Forderung Gumbrechts, dem »menschlichen Körper-Engagement« in der Wissenschaft Tribut zu zollen, liest sich Patricia Dunckers Roman Die Germanistin. Darin schildert ein junger Romanist sein Verhältnis mit einer Germanistin, die über Friedrich Schiller promoviert: »Eines Tages kam ich in ihre Wohnung, um sie zu suchen, weil sie nicht in der Bibliothek war. Da saß sie im Bett und schrieb, das Gesicht tränenüberströmt. Ich nahm sie in die Arme und küßte sie. Sie ließ es einmal geschehen, dann schob sie mich fort. Ich schaute auf ihr Blatt und sah, daß sie an einem Brief schrieb, der mit den Worten ›Mein Geliebter‹ anfing – sie hatte Seite um Seite auf deutsch geschrieben. Vor Eifersucht bekam ich fast einen Hirnschlag. ›Was zum Teufel tust du da?‹ schrie ich. ›Ich schreibe Schiller einen Liebesbrief.‹«39

Die junge Forscherin, die die Literaturwissenschaftlerin Duncker hier entworfen hat, liebt also ›ihren‹ Autor – und sie schreibt ihm einen Liebesbrief. Hinter der kuriosen Szene verbirgt sich eine Art Theorie der Literaturwissenschaft, die der hier verfolgten ähnelt. Auch für Dunckers Germanistin (eine exemplarisch zu verstehende Figur; ihr Eigenname wird im Roman nie erwähnt) ist Literaturwissenschaft offenbar Liebe. Und das sogar im engeren Sinne einer romantischen Liebesbeziehung. So ist der eifersüchtige Freund der Germanistin nicht beruhigt, als er erfährt, dass seine Freundin mit ihrem Brief nicht etwa einen Kommilitonen, sondern Schiller, also einen lange verstorbenen Mann, adressiert: die Bedrohung ist darum nicht weniger real. Denn das imaginäre Liebesverhältnis findet empirischen Niederschlag bis in die Zeitökonomie: »Ich bemühte mich, Schiller nicht als ernsthaften Rivalen anzusehen, aber er war es doch. Sie ver-

36 R. Barthes: Die Lust am Text (s. Anm. 1), S. 12. 37 Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie: Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten, Frankfurt/Main 2003, S. 17f. 38 Ebd., S. 20. 39 Patricia Duncker: Die Germanistin, München 2002 [1996], S. 21.

82 | I RMTRAUD H NILICA

brachte mehr Zeit mit ihm als mit mir«.40 Die Germanistin scheint bezogen auf Friedrich Schiller (ihrem Freund gegenüber agiert sie zurückhaltender) jener »Höhe der Verliebtheit« nahe zu sein, von der Sigmund Freud erklärt, dass auf ihr »die Grenze zwischen Ich und Objekt zu verschwimmen [droht]. Allen Zeugnissen der Sinne entgegen behauptet der Verliebte, daß Ich und Du eines seien, und ist bereit, sich, als ob es so wäre, zu benehmen«.41 Einen ähnlich gelagerten Fall der Verliebtheit eines Lesers schildert Daniel Kehlmann in Ruhm.42 Diesmal aber ist nicht der Autor das Objekt der Begierde, sondern eine Romanfigur: der nerdige Büroangestellte Mollwitz erkennt in Lara Gaspard, obgleich – oder gerade weil – sie eine literarische Fiktion ist, die Frau seines Lebens. Als er auf einer Tagung dem Autor Leo Richter begegnet, sieht er seine Chance gekommen: »Im selben Haus wie Leo Richter, Erfinder von Lara Gaspard. Der Typ, der bestimmte, was sie sah und tat. Ihm die Hand schütteln, das war fast, als ob man ihre Hand – überzieht ihr, was ich meine?«43 Und weiter: »Wenn einer so viel [sic] Internet unterwegs ist wie ich, dann weiß er, daß – wie soll ichs sagen? Also dann weiß er, daß Wirklichkeit nicht alles ist. Daß es Räume gibt, in die man nicht mit dem Körper geht. Nur in Gedanken und trotzdem da. Lara Gaspard treffen. Das war possible! Eben in einer Story.«44 Leser, Text und Autor verschmelzen hier und verlieren ihre jeweilige distinkte Kontur. Und das nicht nur in Mollwitz’ Phantasie: Kehlmann lässt Lara Gaspard tatsächlich als Figur auftreten45 und beglaubigt damit in gewisser Weise die hitzigen Halluzinationen des Verliebten. Literaturtheoretischen Widerhall findet dergleichen die Grenzen zwischen Ich und Objekt verschwimmen lassende Verliebtheit46 wie die Germanistin bei

40 Ebd. 41 S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur (s. Anm. 33), S. 199. 42 Vgl. Daniel Kehlmann: Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten, Reinbek bei Hamburg 92013 [2010]. 43 Ebd., S. 146. 44 Ebd. 45 »Die Tür ging auf, die braunhaarige Frau trat ein und beugte sich über die Medikamente. ›Wir haben uns noch nicht vorgestellt.‹ Elisabeth hielt ihr die Hand hin und nannte ihren Namen. ›Entschuldigen Sie.‹ Ein Händedruck, sanft und kräftig zugleich. ›Freut mich so sehr. Ich bin Lara Gaspard.‹« Ebd., S. 200. 46 Programmatisch heißt es bei Duncker: »Doch der Autor und die Muse sollten in der Lage sein, die Plätze zu tauschen, mit beiden Stimmen zu sprechen, so daß der Text sich verschiebt, verschmilzt, von einer Hand in die andere geht. Die Stimmen gehören

I NTERPRETATION ALS LIEBE | 83

Duncker und Mollwitz bei Kehlmann sie erleben, in der Hermeneutik.47 Bereits Friedrich Schleiermacher lässt den kongenialen Interpreten in ein intimes Näheverhältnis zum genialen Autor treten; doch erst bei Hans-Georg Gadamer findet sich jene »Horizontverschmelzung«, die die Dichotomie von Subjekt und Objekt aufzuheben vermag, wie sonst nur die Liebe es tut: »Wenn der Interpret das Befremdliche in einem Text überwindet und damit dem Leser zum Verständnis des Textes verhilft, bedeutet sein eigenes Zurücktreten […] sein Eingehen in die Kommunikation, so daß die Spannung zwischen dem Horizont des Textes und dem Horizont des Lesers aufgelöst wird – was ich Horizontverschmelzung genannt habe.«48 Und in Emil Staigers Kunst der Interpretation liest man: »Sind wir aber bereit, an so etwas wie Literaturwissenschaft zu glauben, dann müssen wir uns entschließen, sie auf einem Grund zu errichten, der dem Wesen des Dichterischen gemäß ist, auf unserer Liebe und Verehrung, auf unserem unmittelbaren Gefühl«.49 In jüngerer Zeit hat Gumbrecht mit seiner bereits zitierten Studie zur Macht der Philologie darauf hingewiesen, dass auch das philologische Geschäft, das doch mithin im Vergleich mit Interpretation und Lektüre schnell als neutralere, sachlichere Seite des Faches erscheinen mag,50 Momente der Verschmelzung von Wissenschaftler und Autor kennt. Gumbrecht hat das am Beispiel von Menéndez Pidal gezeigt und daraus die These entwickelt, »daß jeder Herausgeber […] Rollen übernimmt, die denen der Sänger, Dichter oder Verfasser nahekommen […]«.51 So ist nicht nur für den Interpreten, auch für den Philologen das »Spielen einer Autorenrolle« letztlich »unvermeidlich«.52 So konkret wie in Dunckers Roman wird die Liebe des Literaturwissenschaftlers zum Autor in den seltensten Fällen ausfallen; die wenigsten Forsche-

niemand Bestimmtem. Ihnen ist es gleich, wer spricht.« P. Duncker: Die Germanistin (s. Anm. 39), S. 72. 47 Vgl. Simone Winko: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900, Berlin 2003, S. 31f. 48 Hans-Georg Gadamer: »Text und Interpretation« [1983], in: ders.: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode (= Gesammelte Werke, Band 2), Tübingen 1993, S. 330-360, hier S. 351. Kursiv im Original. 49 Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Zürich 51967 [1955], S. 13. 50 Vgl. Thomas Steinfeld: Der leidenschaftliche Buchhalter. Philologie als Lebensform, München, Wien 2004. 51 H. U. Gumbrecht: Die Macht der Philologie (s. Anm. 37), S. 47. 52 Ebd.

84 | I RMTRAUD H NILICA

rinnen und Forscher schreiben den von ihnen untersuchten Autorinnen oder Autoren tatsächlich Liebesbriefe. Es geht bei der Beschreibung von Interpretation als Liebe schließlich nicht etwa um manifeste Beziehungen zwischen empirischen Menschen, sondern – wie auch schon im Zusammenhang mit dem Kunstwerk als Liebesgabe festgehalten – um den Einblick in eine phantasmagorische Übertragungsbeziehung. Für diese gilt: Die Gabe eines Kunstwerkes, sei es nun eine Komposition, ein literarischer Text oder ein Gemälde, erfordert – wie jede Gabe – eine Reaktion des Beschenkten, eine Gegengabe. So interessierte auch Marcel Mauss vor allen Dingen eine Frage: »Was liegt in der gegebenen Sache für eine Kraft, die bewirkt, daß der Empfänger sie erwidert?«53 Dabei ist es nicht notwendig, dass die Erwiderung symmetrisch verläuft, im Gegenteil: »Tatsächlich kann man in jeder Gesellschaft beobachten, dass die Gegengabe, wenn sie nicht zur Beleidigung werden soll, zeitlich verschoben und verschieden sein muss, weil die sofortige Rückgabe eines genau identischen Gegenstandes ganz offenbar einer Ablehnung gleichkommt […]«.54 Das Kunstwerk muss also nicht unmittelbar mit einem Kunstwerk beantwortet werden: Interpretation, so beschreibt es Kathrin Busch unter Rekurs auf Jacques Derridas Lesart55 des berühmten, zuvor bereits von Martin Heidegger und Meyer Schapiro56 kontrovers analysierten, Gemäldes Ein Paar Schuhe von Vincent van Gogh, ist eine Möglichkeit, diese Pflicht zur Gegengabe zu erfüllen. »Das Bild kann als eine Gabe verstanden werden, die zur interpretierenden Rückerstattung aufzufordern scheint: Es folgt dem Spiel von Ablösung – die Gabe löst sich von seinem Besitzer wie das Bild von seinem Ursprung oder Urheber – und Wiederanbindung – die Gabe wird durch eine Gegengabe beglichen wie das Werk durch Interpretationen gleichsam rückerstattet wird.«57

53 M. Mauss: Die Gabe (s. Anm. 17), S. 18. 54 Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/Main 1987, S. 193. 55 Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992. 56 Martin Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes« [1935], in: ders.: Holzwege, Frankfurt/Main 61980, S. 1-72; Meyer Schapiro: »The Still Life as a Personal Object – A Note on Heidegger and Van Gogh« [1968], in: ders.: Theory and Philosophy of Art: Style, Artist, and Society. Selected Papers, New York 1994, S. 135-142; ders.: »Further Notes on Heidegger and Van Gogh« [1994], in: ders.: Theory and Philosophy of Art, S. 143-151. 57 K. Busch: Geschicktes Geben (s. Anm. 24), S. 266f. »Das Bild kann sich aber darin als eine Gabe behaupten, alle restituierenden Auslegungen zu überschreiten.« Ebd.

I NTERPRETATION ALS LIEBE | 85

Literaturwissenschaftler sind professionell Beschenkte. Und sie erwidern, was ihnen geschenkt wird. So ist es mit dem literarischen Text wie mit einem Liebesbrief: »Als Begierde, die er ist, erwartet der Liebesbrief eine Antwort; er erlegt dem Anderen implizit die Verpflichtung auf zu antworten […].«58 Interpretation, ganz gleich, welchem Forschungsparadigma sie verpflichtet ist, dient einer solchen Erwiderung, sie erfüllt die Forderung nach Reziprozität. So gesehen wäre die Interpretation Ausdruck des hau des literarischen Textes: Mauss beschreibt die Leitgedanken des Maori-Rechts, in dem davon ausgegangen wird, dass jede Gabe (taonga) einen Geist (hau) enthält, der sich aber erst in der Weitergabe zeigt. Die Denkweise des »Maori-Juristen« ist also: »Das taonga […] hat ein hau, eine geistige Macht; Sie geben mir eins davon, und ich gebe es einem Dritten; dieser gibt mir ein anderes taonga dafür […] und ich bin gezwungen, Ihnen diese Sache zu geben, weil ich Ihnen zurückgeben muß, was in Wirklichkeit das Produkt des hau Ihres taonga ist.«59 Der ›Geist‹ des literarischen Textes gibt sich also erst zu erkennen, wenn eine Gabe daraus geworden ist. Dann wird das hau produktiv, dann kommt es zur Gegengabe, zur Interpretation. Und damit setzt auch das Verstehen ein. Emotion und Sinn, Liebe und Verstehen, widersprechen einander nicht: ›Verstehen‹ ist ein Zentralbegriff sowohl der Interpretation als auch der Liebe. So gibt es in Roland Barthes Fragmenten einer Sprache der Liebe selbstredend einen entsprechenden Eintrag: »Ich will verstehen.«60 Darin heißt es: »Allein aus dem Kino kommend und erneut an meinem Liebesproblem würgend, das der Film mich nicht hat vergessen machen können, stoße ich einen seltsamen Schrei aus: und

58 R. Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe (s. Anm. 26), S. 66. 59 M. Mauss: Die Gabe (s. Anm. 17), S. 33. Kurz davor gibt Mauss eine etwas ausführlichere Erklärung des Zusammenhanges von hau und taonga: »Stellen Sie sich vor, Sie besitzen einen bestimmten Gegenstand (taonga) und geben ihn mir; Sie geben ihn mir ohne festgesetzten Preis. Wir handeln nicht darum. Nun gebe ich diesen Gegenstand einem Dritten, der nach einer gewissen Zeit beschließt, irgend etwas als Zahlung dafür zu geben (utu), er schenkt mir irgend etwas (taonga). Und dieses taonga, das er mir gibt, ist der Geist (hau) des taonga, das ich von Ihnen bekommen habe und das ich ihm gegeben habe. Die taonga, die ich für die anderen taonga (die von Ihnen kommen) erhalten habe, muß ich Ihnen zurückgeben. Es wäre nicht recht (tika) von mir, diese taonga für mich zu behalten, ob sie nun begehrenswert (rawe) oder unangenehm (kino) sind. Ich muß sie Ihnen geben, denn sie sind ein hau des taonga, das Sie mir gegeben haben. Wenn ich dieses zweite taonga für mich behalten würde, könnte mir Böses daraus entstehen, ganz bestimmt, sogar der Tod.« Ebd., S. 32f. 60 R. Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe (s. Anm. 26), S. 243-245.

86 | I RMTRAUD H NILICA

zwar nicht: wenn das doch endlich aufhörte!, sondern: ich will verstehen (was mir zustößt)!«61 Der Liebende ist zugleich Objekt und Subjekt seiner eigenen Liebesgeschichte.62 Über das Verstehen dessen, »was mir zustößt« hinaus ist in der Liebe vor allen Dingen das wechselseitige Verstehen von Bedeutung – im Sinne der gelingenden Kommunikation: »Dies wird alltagssprachlich als ›Verstehen‹ chiffriert, wird als Wunsch nach Verständnis zum Ausdruck gebracht, wird als Klage über mangelndes Verständnis über die Grenzen des technisch Möglichen hinausgetrieben.«63 Ziel des Liebenden wie des Interpretierenden ist es, zu verstehen, also eine »stets ›verborgene[.]‹ Ebene des Sinns« zu entschlüsseln.64 »Wir rechnen damit, daß beim normalen Interpretieren ein Moment eintreten wird, in dem wir wissen, daß wir den Text (bzw. das betreffende Artefakt) verstanden haben, und üblicherweise bringen wir das ›Verstehen‹ mit dem Eindruck in Verbindung, jetzt wüßten wir, was dieser Text nach dem Willen des Autors bedeuten oder sein sollte.«65 So wird der literarische Text zum Medium der wechselseitigen Interpenetration von Autor und Leser und damit zu dem Ort, an dem sich – durch Interpretation – die Liebe des Lesers offenbart.

IV. Eine andere und besonders prominente Traditionslinie der Beschreibung von Lektüremechanismen versteht – mit Eve Kosofsky Sedgwick,66 die ihre Beobachtungen mit Kritik und Alternativvorschlägen verbindet, an die hier angeknüpft werden kann – Interpretation als paranoischen Vorgang.67 Das ist kein Wider-

61 Ebd., S. 243. Kursiv im Original. 62 »Jede Liebe hat ihre eigene Geschichte […]. Sie hat einen Anfang und ein Ende und dazwischen einen Verlauf des Steigerns und Abklingens […].« N. Luhmann: Liebe als Passion (s. Anm. 9), S. 116. 63 Ebd., S. 28. »Aber verstehende Liebe ist kognitiv so strapaziös, daß es nahe liegt, sich ans Gefühl zu halten und dessen Instabilität in Kauf zu nehmen.« Ebd., S. 29. 64 H. U. Gumbrecht: Die Macht der Philologie (s. Anm. 37), S. 72. 65 Ebd., S. 70. Gumbrecht empfiehlt gegenüber diesem ›normalen‹ Interpretieren jedoch eine auf ›Präsenzeffekte‹ abzielende Lektüre. 66 Vgl. Eve Kosofsky Sedgwick: »Paranoid Reading and Reparative Reading, or, You’re So Paranoid, You Probably Think This Essay Is About You«, in: dies.: Touching Feeling. Affect, Pedagogy, Performativity, Durham, London 2003, S. 123-151. 67 Vgl. auch den Beitrag von Claudia Liebrand im vorliegenden Band sowie Stefan Börnchen: »Zum Geburtstag viel Freud. Paranoia und paranoide Geschlechter-Codes

I NTERPRETATION ALS LIEBE | 87

spruch zu einer Theorie der Interpretation als Liebe, sondern eher deren dunkle Variante. Schließlich ist Liebe selbst häufig als eine Art Krankheit gedeutet worden; und tatsächlich besteht hier, folgt man Niklas Luhmann, ein innerer Zusammenhang: »Das Leitsymbol, das die Themenstruktur des Mediums Liebe organisiert, heißt zunächst ›Passion‹, und Passion drückt aus, daß man etwas erleidet, woran man nichts ändern und wofür man keine Rechenschaft geben kann. Andere Bilder mit zum Teil sehr alter Tradition haben den gleichen Symbolwert – so, wenn man sagt, Liebe sei eine Art Krankheit; Liebe sei Wahnsinn, folie à deux; Liebe lege in Ketten. In weiteren Wendungen kann es heißen: Liebe sei ein Mysterium, sei ein Wunder, lasse sich nicht erklären und nicht begründen, usw.«68

Entscheidend ist an dieser Konzeption von Liebe: »All dies verweist auf ein Ausscheren aus der normalen sozialen Kontrolle, das aber von der Gesellschaft nach Art einer Krankheit toleriert und mit der Zuweisung einer Sonderrolle honoriert werden muß.«69 Das entspricht dem Sonderstatus der Kunst.70

in ›Superman’s Romance With Wonder Woman!‹«, in: Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 26 (2007), S. 203-243. 68 N. Luhmann: Liebe als Passion (s. Anm. 9), S. 30f. 69 Ebd., S. 31. 70 Das lässt sich mit Roland Barthes so sagen: »Texte […], die aus dem Wahnsinn heraus gegen die Neurose geschrieben wurden, haben, wenn sie gelesen werden wollen, jenes Quentchen Neurose in sich, das sie zur Verführung ihrer Leser brauchen: Diese Schrecken erregenden Texte sind trotz allem kokette Texte.« R. Barthes: Die Lust am Text (s. Anm. 1), S. 14. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Fall von Paranoia, den Jacques Lacan unter dem Namen ›Aimée‹ (!) diskutiert. Die Patientin leidet unter Deutungswahn und ist zugleich selbst literarisch produktiv. Der Erfolg allerdings bleibt aus: »Nach mehrmonatiger Wartezeit erhält die Kranke von dem Verlagshaus G., dem sie ein Manuskript vorgelegt hat, einen abschlägigen Bescheid. Sie springt der Angestellten, die ihr die Ablehnung mitteilt, an die Gurgel und misshandelt sie so schwer, daß anschließend von ihr eine Entschädigung über 375 Francs für die von ihrem Opfer erlittene vorübergehende Arbeitsunfähigkeit gefordert wird. Der Kommissar, der sie nach dieser Tat befragt, sieht ihr den Aufruhr aus enttäuschtet literarischer Eitelkeit nach […]«. Jacques Lacan: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit und Frühe Schriften über die Paranoia, Wien 2002 [1975], S. 155-340, hier S. 158.

88 | I RMTRAUD H NILICA

Auch Patricia Duncker stellt neben die liebende Germanistin eine Art Theorie der Wissenschaft als Wahnsinn und deutet damit die entsprechende Affinität von Liebe, Literatur und Wahnsinn an: »Universitätsbibliotheken sind wie Irrenhäuser, voll von Leuten, die Erscheinungen, Ahnungen, Obsessionen nachgehen«.71 Eve Kosofsky Sedgwick hat die Nähe von Interpretation und Paranoia in ihrem fulminanten Aufsatz »Paranoid Reading and Reparative Reading, or, You’re So Paranoid, You Probably Think This Essay Is About You«72 zwingend gemacht. Doch für Sedgwick ist paranoid reading nur eine von mehreren Möglichkeiten der Interpretation. Daneben etabliert Sedgwick, was sie reparative reading nennt: eine Art ›heilende‹ Lektürepraxis, die sich u.a. aus Melanie Kleins psychoanalytischer Theoriebildung herleitet und die einer Theorie der Interpretation als Liebe bereits denkbar nahe kommt: »The greatest interest of Klein’s concept lies, it seems to me, in her seeing the paranoid position always in the oscillatory context of a very different possible one: the depressive position. For Klein’s infant or adult, the paranoid position – understandably marked by hatred, envy, and anxiety – is a position of terrible alertness to the dangers posed by the hateful and envious part-objects that one defensively projects into, carves out of, and ingests from the world around one. By contrast, the depressive position is an anxiety-mitigating achievement that the infant or adult only sometimes, and often only briefly, succeeds in inhabiting: this is the position from which it is possible in turn to use one’s own resources to assemble or ›repair‹ the murderous part-objects into something like a whole […]. Among Klein’s names for the reparative process is love.«73

Paranoia und Liebe können also – im Leben wie in der Lektüre – oszillierende Positionen sein; Sedgwick beschreibt Paranoia sogar als (freilich problematische) Form der Liebe: »The problem is […] that, of all forms of love, paranoia is the most ascetic, the love that demands least from its object«.74 Eine Gemeinsamkeit von Paranoia und Liebe liegt darin, dass beide eine hochgradig idiosynkratische Sichtweise garantieren. Auf eine Weise entspricht dies dem ebenfalls zumeist entschieden idiosynkratischen Weltbezug eines literarischen Textes. Ohne diesen wäre Literatur wenig interessant und bedürfte auch nicht der Interpretation. So ähnelt das, was zwischen Autor, Text und Interpret ge-

71 P. Duncker: Die Germanistin (s. Anm. 39), S. 11. 72 E. Sedgwick: Paranoid Reading and Reparative Reading (s. Anm. 66). 73 Ebd., S. 128. 74 Eve Kosofsky Sedgwick: The Coherence of Gothic Conventions, New York 1986, S. xi.

I NTERPRETATION ALS LIEBE | 89

schieht, dem, was Niklas Luhmann als »höchstpersönliche Kommunikation«75 in der Liebe bezeichnet: »Unter höchstpersönlicher Kommunikation wollen wir eine Kommunikation verstehen, mit der der Sprecher sich von anderen Individuen zu unterscheiden sucht. Das kann dadurch geschehen, daß er sich selbst zum Thema macht, also über sich selbst spricht; aber auch dadurch, daß er bei Sachthemen seine Beziehung zur Sache zum Angelpunkt der Kommunikation macht.«76

Literarisches Schreiben wird diesen Kriterien in vielen Fällen entsprechen; freilich spricht der Autor weniger über sich selbst, als dass er eine Welt präsentiert, deren Angelpunkt er selbst ist.77 In unserer Rolle als interpretierende Leser sind wir diejenigen, die den Weltentwurf eines Autors zu bestätigen haben – wobei bereits die Tatsache, dass wir uns intensiv mit einem solchen Weltentwurf befassen, als implizite Bestätigung gelten kann: »Gibt sich der andere als weltkonstituierende Individualität, ist jeder, der angesprochen wird, in dieser Welt immer schon untergebracht und damit unausweichlich vor die Alternative gestellt, den egozentrischen Weltentwurf des anderen zu bestätigen oder abzulehnen«. 78 Doch auch der Interpretierende kann auf diese Weise sein Selbst entwerfen – etwa als Kafka-Forscher oder Thomas-Mann-Experte. Ob Literaturwissenschaftler sich selbst nun als paranoide Wahnsinnige oder als Liebende beschreiben, ist letztlich nicht viel mehr als eine Akzentverschiebung. Wer sie vollzieht, wird mehr vom literarischen Text erwarten können als der paranoide Interpret.

IV. Am Ende dieses Versuchs, eine Theorie der Interpretation zu umreißen, die vom Begriff der Liebe ausgeht, steht ein Problem, das unausgesprochen schon dessen

75 N. Luhmann: Liebe als Passion (s. Anm. 9), S. 24. 76 Ebd.. Das Paradox der Liebeskommunikation: »Das Individuelle ist nur als Anwendungsfall des Allgemeinen präsent. Eben deshalb kann man Phrasen und Komplimente copieren, ohne befürchten zu müssen, daß der Adressat dies als Unbeholfenheit oder Taktlosigkeit empfindet.« Ebd., S. 65. 77 Vgl. dazu die Figur des Autors Leo Richter in Kehlmanns Ruhm (s. Anm. 42). 78 »Diese Komplementärrolle des Weltbestätigers wird einem zugemutet, obwohl mitimpliziert ist, daß dieser Weltentwurf einzigartig, also eigenartig, also nicht konsensfähig ist.« N. Luhmann: Liebe als Passion (s. Anm. 9), S. 25. Kursiv im Original.

90 | I RMTRAUD H NILICA

Beginn gekennzeichnet hat: der (allzu) schillernde Begriff der Liebe. Roland Barthes bezichtigt sich in der Lust am Text selbst, terminologisch zu schwanken, »ich verheddere mich, ich vertue mich«, und: »das Paradigma wird knirschen, der Sinn wird prekär, revozierbar, reversibel, der Diskurs wird unvollständig sein«.79 Liebe ist begrifflich kaum exakt zu fassen, ohne beschädigt zu werden – vielleicht haben darum selbst im Rahmen des emotional turns lediglich die moderateren Begriff der ›Einfühlung‹80 und der ›Empathie‹81 rezeptionsästhetische Konjunktur. Doch es gilt, das schwer Fassbare, von dem Literaturwissenschaft zehrt, nicht zu verleugnen:82 Man muss lieben, um interpretieren zu können.83 Theoretische Paradigmen mögen kommen und gehen und turns mögen einander folgen, bis einer ganzen Disziplin schwindelt: In der Liebe zum Text findet Lite-

79 R. Barthes: Die Lust am Text (s. Anm. 1), S. 12. Es geht Barthes an dieser Stelle um das Verhältnis von Lust und Wollust. 80 Robin Curtis/Giuliana Bruno (Hg.): Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München 2009; Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne (= Studien zur deutschen Literatur, Band 130), Tübingen 1995. 81 Fritz Breithaupt: Kulturen der Empathie, Frankfurt/Main 2010. 82 Darauf weist auch Steffen Martus hin: »Es verwundert […] weniger, dass die Literaturwissenschaft als Philologie die Liebe zum Wort auf ihr disziplinäres Label eingetragen hat. Überraschend ist vielmehr, wie wenig Aufmerksamkeit sie diesem Faktor widmet: Wenn Studierende in die Literaturwissenschaft eingeführt werden sollen, dann erfahren sie viel über Grundbegriffe, Methoden und Theorien der Literaturwissenschaft, kaum hingegen etwas über deren Gefühle. Das ist schon deswegen bedenklich, weil die Sozialgeschichte des Lesens den Lesertyp, an den sich die literaturwissenschaftliche Ausbildung statistisch gesehen vornehmlich wendet, dem ›hedonistischen Milieu‹ zuordnet.« Steffen Martus: »Emil Staiger und die Emotionsgeschichte der Philologie«, in: Joachim Rickes/Volker Ladenthin/Michael Baum (Hg.), 1955-2005: Emil Staiger und Die Kunst der Interpretation heute, Bern 2007, S. 111-133, hier S. 111. 83 Vielleicht ist das ein möglicher Weg, um, wie Gumbrecht das fordert, den Begriff des ›Erlebnisses‹ wieder ins geisteswissenschaftliche Spiel zu bringen: »Erfahrungen im Sinne dessen, was interpretiert und begrifflich erfaßt wird, können wir kommunizieren und ›teilen‹, doch das Erlebnis als dasjenige, was einer derartigen Interpretation vorhergeht, muß individuell bleiben.« H. U. Gumbrecht: Die Macht der Philologie (s. Anm. 37), S. 132. Wer, wie es gelegentlich Studierende in Einführungsseminaren tun, gegen die Zumutungen der Interpretation rebelliert, beweist Gespür für die diabolische Dimension der Literaturwissenschaft, die darin liegt, dass sie dem unvermittelten Erleben des literarischen Textes ein vermitteltes Verstehen gegenübersetzt.

I NTERPRETATION ALS LIEBE | 91

raturwissenschaft sowohl in der Forschung als auch in der Lehre84 ihren Anker. So ist und bleibt Literaturwissenschaft auch in der Zukunft, was sie der alten Bezeichnung Philologie nach immer schon war: Liebe zum Text.

L ITERATUR Adloff, Frank/Mau, Steffen: »Zur Theorie der Gabe und Reziprozität«, in: dies. (Hg.), Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt/Main 2005, S. 9-57. Arend, Helga: Vom »süßen Rausch« zur »stillen Neigung«. Zur Entwicklung der romantischen Liebeskonzeption, Pfaffenweiler 1993. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006. Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/Main 1988 [1977]. Barthes, Roland: Die Lust am Text, Frankfurt/Main 2010 [1973]. Börnchen, Stefan: »Zum Geburtstag viel Freud. Paranoia und paranoide Geschlechter-Codes in ›Superman’s Romance With Wonder Woman!‹«, in: Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 26 (2007), S. 203-243. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/Main 1987. Braungart, Georg: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne (= Studien zur deutschen Literatur, Band 130), Tübingen 1995. Breithaupt, Fritz: Kulturen der Empathie, Frankfurt/Main 2010. Busch, Kathrin: Geschicktes Geben. Aporien der Gabe bei Jacques Derrida, München 2004. Curtis, Robin/Bruno, Giuliana (Hg.): Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München 2009. Derrida, Jacques: Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992. Duncker, Patricia: Die Germanistin, München 2002 [1996]. Erhart, Walter: »Plädoyer für Moden«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 38 (1994), S. 415-422.

84 Interpretation ist nicht nur Gegengabe, sie ist auch Weitergabe: in der Lehre, in Publikationen, durch Vorträge. Eine Theorie der Interpretation als Liebe, wie sie hier nur in Grundzügen angedeutet werden kann, wird auch diesen Aspekt der Weitergabe in den Blick nehmen müssen.

92 | I RMTRAUD H NILICA

Freud, Sigmund: »Das Unbehagen in der Kultur« [1930], in: ders.: Studienausgabe, Bd. IX: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, hg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richard/James Strachey, Frankfurt/Main 1997, S. 191-270. Gadamer, Hans-Georg: »Text und Interpretation« [1983], in: ders.: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode (= Gesammelte Werke, Band 2), Tübingen 1993, S. 330-360. Grimm, Gunter E.: »›Halb zog sie ihn, halb sank er hin …‹ Lektüre im Briefwechsel zwischen Johann Gottfried Herder und Caroline Flachsland«, in: Wolfgang Adam/Markus Fauser in Zusammenarbeit mit Ute Pott (Hg.), Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18. Jahrhundert, S. 115-133. Greenblatt, Stephen: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Berlin 1990 [1988]. Gumbrecht, Hans-Ulrich: Die Macht der Philologie: Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten, Frankfurt/Main 2003. Heidegger, Martin: »Der Ursprung des Kunstwerkes« [1935], in: ders.: Holzwege, Frankfurt/Main 61980, S. 1-72. Hinderer, Walter/von Bormann, Alexander (Hg.): Codierungen von Liebe in der Kunstperiode, Würzburg 1997. Jahraus, Oliver: Amour fou. Die Erzählung der Amour fou in Literatur, Oper, Film; zum Verhältnis von Liebe, Diskurs und Gesellschaft im Zeichen ihrer sexuellen Infragestellung, Tübingen 2004. Kehlmann, Daniel: Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten, Reinbek bei Hamburg 92013 [2010]. Korte, Hermann: »›Mitten in mein Herz‹: Else Lasker-Schülers Widmungsgedichte«, in: Axel Ruckaberle (Hg.), Else Lasker-Schüler, München 1994, S. 1833. Kraß, Andreas: Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe, Frankfurt/Main 2010. Krohn, Rüdiger/Brackert, Helmut (Hg.): Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland, München 1983. Lacan, Jacques: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit und Frühe Schriften über die Paranoia, Wien 2002 [1975], S. 155-340. Liebrand, Claudia: Aporie des Kunstmythos. Die Texte E.T.A. Hoffmanns, Freiburg i.Brsg. 2002 Löber, Axel: »Du darfst nicht lieben«. Das Liebesverbot für den Künstler in der deutschen Literatur, Saarbrücken 2007. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/Main 1982.

I NTERPRETATION ALS LIEBE | 93

Luserke-Jaqui, Matthias: Kleine Literaturgeschichte der großen Liebe, Darmstadt 2011. Martus, Steffen: »Emil Staiger und die Emotionsgeschichte der Philologie«, in: Joachim Rickes/Volker Ladenthin/Michael Baum (Hg.), 1955-2005: Emil Staiger und Die Kunst der Interpretation heute, Bern 2007, S. 111-133. Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/Main 1990 [1923/24]. Pfaller, Robert: Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie, Frankfurt/Main 2012. Rilke, Rainer Maria: Die Gedichte, Frankfurt/Main 1986. Schlegel, Friedrich: Lucinde, Berlin 1799. Seel, Martin: »Die Macht der Widmungen«, in: Die Zeit vom 24. Juni 1999, http://www.zeit.de/1999/26/Die_Macht_der_Widmungen vom 31.10.2013. Seybert, Gislinde: Liebe als Fiktion. Studien zu einer Literaturgeschichte der Liebe, Bielefeld 1995. Schapiro, Meyer: »The Still Life as a Personal Object – A Note on Heidegger and Van Gogh« [1968], in: ders.: Theory and Philosophy of Art: Style, Artist, and Society. Selected Papers, New York 1994, S. 135-142. Schapiro, Meyer: »Further Notes on Heidegger and Van Gogh« [1994], in: ders.: Theory and Philosophy of Art, New York 1994, S. 143-151. Sedgwick, Eve Kosofsky: The Coherence of Gothic Conventions, New York 1986. Sedgwick, Eve Kosofsky: »Paranoid Reading and Reparative Reading, or, You’re So Paranoid, You Probably Think This Essay Is About You«, in: dies.: Touching Feeling. Affect, Pedagogy, Performativity, Durham, London 2003, S. 123-151. Staiger, Emil: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Zürich 51967 [1955]. Steinfeld, Thomas: Der leidenschaftliche Buchhalter. Philologie als Lebensform, München, Wien 2004. Werber, Niels: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation, München 2003. Winko, Simone: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900, Berlin 2003.

Kritik der imaginären Vernunft Jacques Lacans docta ignorantia A CHIM G EISENHANSLÜKE

1. D AS E NDE

DER

P SYCHOANALYSE ?

Die Psychoanalyse – so scheint es – ist an ihrem historischen Ende angekommen. Die narzisstische Demütigung, die die Entdeckung des Unbewussten nach Freuds eigener Einschätzung für den Menschen bedeutete, erstreckt sich in einer umfassenden Geste der Abwehr noch auf die Psychoanalyse selbst, deren theoretische und methodische Prämissen von der empirisch verfahrenden Psychologie und den neuen Neurowissenschaften verdrängt zu werden drohen. Die Welt des Menschen dreht sich nicht länger um das dunkle Reich des Unbewussten. Die Veränderungen, denen die Psychoanalyse in der aktuellen Positionierung des Verhältnisses von Natur- und Kulturwissenschaften unterworfen sind, hat Slavoj Žižek in seiner Einführung in das Denken des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan deutlich herausgestellt. »Weit davon entfernt, subversiv zu sein, scheint die Psychoanalyse im Licht der heutigen Hirnforschung selbst dem traditionellen humanistischen Feld zuzugehören, das durch die jüngsten Demütigungen bedroht wird.«1 Die Psychoanalyse, so legt es Žižek zumindest nahe, hat den Anspruch, das Ich aus seiner zentralen Stellung in der Welt zu verdrängen, den Freud nicht von ungefähr mit der Bedeutung der kopernikanischen Wende verglich, längst verloren. Von Freud an der Schwelle von Natur- und Kulturwissenschaften situiert, schreibt sich die Psychoanalyse heute allein noch in die antiquierte Tradition der Geisteswissenschaften ein, die durch das neue Doppel der Natur- und Kulturwissenschaften überwunden zu sein scheint.

1

Slavoj Žižek: Lacan. Eine Einführung, Frankfurt/Main 2011, S. 10.

96 | ACHIM GEISENHANSLÜKE

Umso überraschender ist es, dass Žižek aus der Diagnose einer aktuellen Krise der Psychoanalyse, die deren Geschichte seit ihrer Geburt auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert wie ein Schatten begleitet, zugleich ihre Erneuerung herleitet. Žižek geht davon aus, »daß die Zeit der Psychoanalyse gerade erst gekommen ist. Denn durch die Augen Lacans, durch das, was er seine ›Rückkehr zu Freud‹ genannt hat, erscheinen die wesentlichen Einsichten Freuds endlich in ihrer wahren Dimension.«2 Überraschend ist nicht nur die unvermittelte Verkündigung der Wiedergeburt der Psychoanalyse, überraschend ist, dass sie gerade aus dem Geiste Lacans erfolgen soll, eines Psychoanalytikers also, der, im Unterschied zu dem Mediziner Freud ganz der psychiatrischen Praxis erwachsen, nicht nur jede Verbindung zwischen der Psychoanalyse und den Naturwissenschaften ablehnte, sondern der in seiner vielzitierten »Rückkehr zu Freud«3 zugleich wesentliche Veränderungen an der Freud’schen Lehre vornahm. Zwar stellt auch Žižek fest, »daß die meisten von Lacans Schlüsselbegriffen keine Entsprechung in Freuds eigener Theorie haben«4. Dennoch erhofft er sich aus der Besinnung auf Lacan jene Wiedergeburt der Psychoanalyse, die er Freuds Schriften allein anscheinend nicht mehr zutraut. Es geht in diesem Zusammenhang nicht allein um die Frage nach Recht und Unrecht von Lacans Freudlektüre, seiner einzigartigen Stellung in der Geschichte der französischen Psychoanalyse und der damit verbundenen Bedeutung Lacans für die Postmoderne, insbesondere im Rahmen der Überführung der strukturalen Psychoanalyse in eine dekonstruktive Praxis des Lesens, wie sie Jacques Derrida vorgenommen hat.5 In der Geschichte der Einfluss-Angst, wie sie Harold Bloom nicht zuletzt im Blick auf das Verhältnis seiner eigenen Theorie zu der Freuds skizziert hat, gibt sich jeder Theoretiker zugleich als Bewahrer und Überwinder des ihm vorangegangenen aus, und so muss aus einer historischen Perspektive Freud sicherlich ebenso vor dem Zugriff Lacans geschützt werden wie Lacan vor dem Derridas.

2

Ebd., S. 11.

3

Vgl. Samuel Weber: Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse, Wien 22000.

4

S. Žižek: Lacan (s. Anm. 1), S. 13.

5

Vgl. Elisabeth Roudinesco: Wien – Paris. Die Geschichte der Psychoanalyse in Frankreich, Weinheim, Berlin 1994. Einigermaßen verblüffend ist Žižeks Einschätzung des Verhältnisses von Lacan zur Postmoderne: »Lacan ist entschieden antipostmodern«, lautet sein Kommentar. S. Žižek: Lacan (s. Anm. 1), S. 89. Zum Einfluss Freuds und Lacans auf die Postmoderne vgl. dagegen Achim Geisenhanslüke: »Freud aus Frankreich. Psychoanalyse und Postmoderne«, in: Kodikas/Code. Ars Semiotica 23 (2000), S. 275-286.

J ACQUES LACANS DOCTA IGNORANTIA | 97

Was damit auf dem Spiel steht, ist aber mehr: die Frage nach der Erkenntnisleistung der Psychoanalyse, die im Kontext aktueller Debatten leicht, vielleicht allzu leicht gegen Freud und seine Nachfolger entschieden wird. Der fast schon stereotyp erfolgende Hinweis darauf, dass Freuds Leistung in der Entdeckung des Unbewussten lag, Lacans in der These, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert sei, reicht allein nicht aus, um diese Frage beantworten zu können. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, geht Lacan in seiner Rückkehr zu zugleich über Freud hinaus, indem er die wissenschaftliche Grundlage der Psychoanalyse nicht auf ein positives Wissen zurückführt, und sei es das um das Schibboleth der Psychoanalyse, den Ödipuskomplex, sondern auf eine spezifische Form des Nichtwissens, die der Psychoanalyse als einer neuen docta ignorantia vorsteht. Mit dem Ausweis der Psychoanalyse als einer Lehre des Nichtwissens, der Unwissenheit und des Nicht-Wissen-Könnens vollzieht Lacan auf einer anderen Matrix als sein Vorbild jene Subversion des Wissens, die bereits Freuds Entdeckung des Unbewussten bedeutete, und damit eine Aktualisierung der Psychoanalyse zu einer – paradoxen – Grundlagenwissenschaft, die ihr, wie Žižek es sich wünschte, noch immer eine herausragende Stellung im Feld der Geisteswissenschaften und der Verhältnisbestimmung von Natur- und Kulturwissenschaften sichert.

2. I M N AMEN VON N ARZISS . D AS S PIEGELSTADIUM DIE K RITIK DES I MAGINÄREN

UND

Lacans Rückkehr zu Freud erfolgt mit der grundlegenden Unterscheidung des Imaginären, des Symbolischen und des Realen zwar in einer Begrifflichkeit, die eine andere als die Freuds ist. Dennoch knüpft er in vielfältiger Weise an Freuds Grundlegung der Psychoanalyse an. Wie Eckart Goebel gezeigt hat, geschieht das nicht allein im Namen von Ödipus, sondern mehr noch in dem von Narziss: »Denken und Forschen Jacques Lacans können summarisch charakterisiert werden als umfassende Ausarbeitung der von Freud freigelegten Mechanismen des Narzissmus.«6 Insbesondere der Begriff des Imaginären steht bei Lacan in einer umfassenden Beziehung zu dem Phänomen des Narzissmus, wie Freud es herausgearbeitet hat, und wie Freud, so geht auch Lacan nicht allein von dem kulturellen Phänomen der Selbstverliebtheit des Erwachsenen aus, sondern von einem primären Narzissmus, der in der infantilen Entwicklung des Menschen angelegt

6

Eckart Goebel: Jenseits des Unbehagens. ›Sublimierung‹ von Goethe bis Lacan, Bielefeld 2009, S. 247.

98 | ACHIM GEISENHANSLÜKE

sei. In seinem frühen Aufsatz Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je zeichnet Lacan eine Erfahrung des Kindes nach, von der er zugleich annimmt, dass sie die Struktur des menschlichen Begehrens für immer bestimme. Dabei lässt er von Beginn an keinen Zweifel daran, dass die Frage nach dem Ich, die die Psychoanalyse im Zeichen des Spiegelstadiums stelle, diese in einen unaufhebbaren Widerspruch »à toute philosophie issue directement du Cogito«7 versetze. Wie Freud den Begriff des Unbewussten von der philosophischen Herrschaft des Bewusstseins freizuhalten suchte, so widersetzt sich Lacan der philosophischen Tradition des Cogito, da er gerade in der cartesianischen Bestimmung des denkenden Ichs jene narzisstische Prägung am Werke sieht, die er zu überwinden sucht. Lacan liest das Spiegelstadium in diesem Sinne nicht nur als eine psychogenetische Entwicklung, die das Individuum zu durchlaufen habe, sondern zugleich als einen dramatischen Kampf, als eine Arena, der das Subjekt mit einem Bild seiner selbst konfrontiere, dem es nicht entspreche.8 Den Spiegel, in dem sich ein motorisch hilfloses Kind noch vor dem Spracherwerb als ein ganzheitliches Wesen zu erkennen glaubt – und den daraus resultierenden Lustgewinn –, deutet Lacan als Grund einer fundamentalen Verkennungsstruktur, die die Geschichte des Ichs für immer bestimme. Im »image spéculaire«9, das aus der täuschenden Begegnung des kleinen Menschen mit seinem scheinbar vollkommenen Spiegelbild resultiert, erkennt Lacan den Ursprung aller philosophischen Reflexion als Spekulation und zugleich das Zeichen einer Spaltung des Ichs in die nie miteinander in Übereinstimmung zu bringenden Formen des moi und des je: »Mais le point important est que cette forme situe l’instance du moi, dès avant sa détermination sociale, dans une ligne de fiction, à jamais irréductible pour le seul individu, – ou plutôt, qui ne rejoindra qu’asymptotiquement le devenir du sujet, quel que soit le succès des synthèses dialectiques par quoi il doit résoudre en tant que je sa discordance d’avec sa 10

propre réalité.«

7 8

Jacques Lacan: Écrits, Paris 1966, S. 93. Das hat Samuel Weber in seiner Einführung in Lacans Denken hervorgehoben. Vgl. S. Weber: Rückkehr zu Freud (s. Anm. 3), S. 222. Malcolm Bowie ist ihm in dieser Einschätzung gefolgt: »Das Spiegelstadium (stade du miroir) ist nicht einfach nur ein Abschnitt in der Geschichte des Individuums, sondern zugleich ein Stadion (stade), in dem das menschliche Subjekt permanent mit sich selbst kämpft.« Malcolm Bowie: Lacan, Göttingen 1994, S. 26.

9

J. Lacan: Écrits (s. Anm. 7), S. 94.

10 Ebd.

J ACQUES LACANS DOCTA IGNORANTIA | 99

Mit der grundlegenden Unterscheidung zwischen moi und je trägt Lacan eine irreversible Differenz in das scheinbar einheitliche Ich ein, die zugleich seine Erkenntnisfähigkeit beschränkt. Denn Wissen im strengen Sinne des Wortes kann das menschliche Subjekt nur auf der Ebene der narzisstischen Spiegelungen erfahren, die das moi kennzeichnen. Das Spiegelstadium verkörpert damit nicht nur die Geburt des Menschen aus dem Geist des Narzissmus, das narzisstische Ich als »das Subjekt des Signifikates«11, wie Samuel Weber es nennt. Als Subjekt des Imaginären ist das reflexive Ich des Selbstbewusstseins in der Form des moi zugleich jener Ort, an dem sich das Ich gar nicht anders denn spekulativ verfehlen kann.12 Wie Hermann Lang gezeigt hat, vertritt Lacan mit dem Spiegelstadium eine »Konzeption, die im Ich wesenhaft in allem Erkennen ein perniziöses Verkennen festhält«13, eine »fonction de méconnaissance«14, die dem Wissen des Subjekts von sich eine Grenze einschreibt, die es niemals zu überschreiten vermag.

11 S. Weber: Rückkehr zu Freud (s. Anm. 3), S. 139. Weber kennzeichnet das Imaginäre in diesem Zusammenhang folgendermaßen: »Das Imaginäre läßt sich als jener fiktive, illusionäre Bereich des Spiegelbildes, des Trugbildes oder des Bildes tout court bestimmen, der nicht mehr die Hoffnung hegen kann, wahr zu sein, eine treue und getreue Repräsentation seines Modells, sondern der jenseits aller Hoffnung trügerisch sein muß, da er das, was ihm erst Wahrheit verleihen könnte, nach seinem eigenen Bilde produziert, als Bild eines Bildes, als Spiegel ohne Ende.« Ebd., S. 36. Vgl. auch Malcolm Bowie: »Das Imaginäre ist die Ordnung der Spiegelbilder, der Identifizierungen und der wechselseitigen Abhängigkeiten« und »der Geburtsort eines narzißtischen Idealichs.« M. Bowie: Lacan (s. Anm. 8), S. 90. 12 Darauf hat Hermann Lang verwiesen: »Le ›moi‹ erscheint als Ort imaginärer Identifikationen, der, konstituiert in einer von Eigenliebe beherrschten Intersubjektivität, jenen anderen Ort, jenes Ich, jenes ›je‹ also, das die eigentliche Realität ist, zu maskieren sucht.« Hermann Lang: Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, Frankfurt/Main 1986, S. 63. Vor diesem Hintergrund fasst er die Bedeutung des Imaginären für das Ich folgendermaßen zusammen: »Hier wird noch einmal die Bedeutung des Begriffes ›imaginär‹ deutlich: sich von sich und dem begegnenden anderen ein uniformisierendes Bild der Unversehrtheit machen, das der Realität nicht entspricht, vielmehr verfälscht und kaschiert. Die Geschichte des Subjekts, verstanden als Geschichte des Ichs, ist wesentlich imaginär.« Hermann Lang: Strukturale Psychoanalyse, Frankfurt/Main 2000, S. 18. 13 Ebd. 14 J. Lacan: Écrits (s. Anm. 7), S. 99.

100 | ACHIM GEISENHANSLÜKE

3. S YMBOLISCHE O RDNUNGEN. D AS S EMINAR ÜBER E. A. P OES D ER ENTWENDETE B RIEF Während Lacan im Spiegelstadium die Ordnung des Imaginären als eine Ordnung des Blickes und des Sehens etabliert hat, die sich in der narzisstischen Struktur des moi allein in einer endlosen Schleife von Selbstverfehlungen erfüllt, bezieht er das je als Subjekt des Unbewussten auf die Ordnung der Sprache, damit aber auf eine Form von symbolischen Stellvertretungsprozessen, denen er in der ihnen eigenen Verschränkung mit dem Imaginären in seinem Seminar über Edgar Allen Poes Erzählung Der entwendete Brief nachgegangen ist. Das Seminar über Poe nimmt nicht allein einen herausragenden Platz in Lacans Werk ein, weil es seine Écrits auf eine in gewisser Weise selbstironische Weise eröffnet,15 sondern weil es damit zugleich jenen zentralen Ort anvisiert, der der des Wissens und der damit einhergehenden Verblendungen des Subjekts ist. In Lacans Seminar über den entwendeten Brief geht es daher nicht zuletzt um eine Bestätigung des Nichtwissens, in der Lacan die letzte Instanz der Psychoanalyse erkennt. Dementsprechend thematisiert bereits der erste Satz des Seminars die Verschränkung des Imaginären und des Symbolischen und mit ihr den exzentrischen Ort des Subjekts des Unbewussten: »Notre recherche nous a mené à ce point de reconnaître que l’automatisme de répétition (Wiederholungszwang) prend son principe dans ce que nous avons appelé l’ insistance de la chaîne signifiante. Cette notion elle-même, nous l’avons dégagée comme corrélative de l’ex-sistence (soit : de la place excentrique) où il nous faut situer le sujet de l’inconscient, si nous devons prendre au sérieux la découverte de Freud. C’est, on le sait, dans l’expérience inaugurée par la psychanalyse qu’on peut saisir par quels bias de l’imaginaire vient à 16

s’exercer, jusqu’au plus intime de l’organisme humain, cette prise du symbolique.«

Mit der »insistance de la chaîne signifiante« nimmt Lacan Freuds Begriff des Wiederholungszwanges aus Jenseits des Lustprinzips auf, um ihm eine neue Bedeutung zu geben. In ihm erkennt Lacan eine Grenze der Ordnung des Imaginären, die zugleich in das Reich des Symbolischen und damit in das der Sprache hineinführt. »L’enseignement de ce séminaire est fait pour soutenir que ces incidences imaginaires, loin de représenter l’essentiel de notre expérience, n’en livrent rien que d’inconsistant, sauf à être rapportées à la chaîne symbolique qui

15 In der Eröffnung seiner Schriften spricht Lacan von dem Seminar über Poe als einer von ihm selbst inszenierten »parodie de notre discours«. Ebd., S. 10. 16 Ebd., S. 11.

J ACQUES LACANS DOCTA IGNORANTIA | 101

les lie et les oriente.«17 Die symbolische Kette scheint somit das Zentrum der psychoanalytischen Erfahrung auszumachen, von dem aus die Kritik des Imaginären erfolgt, die Lacan in den Blick zu nehmen versucht. Wie bei Freud, so ist auch Lacans Bestimmung des Unbewussten als Ort des symbolischen Anderen in seiner zentralen Bedeutung jedoch zugleich ein exzentrischer Ort, ein Ort, der kein Zentrum kennt. Im Anschluss an Freud beruft sich Lacan auf die Begriffe der Verwerfung, der Verdrängung, der Verneinung und der Entstellung des Signifikanten, um das Unbewusste als eine Ordnung zu kennzeichnen, die sich dem direkten Zugang entzieht. Um dennoch die Funktionsweise des Symbolischen aufzuweisen, bedient er sich eines rhetorischen Kniffes, des Umweges über einen literarischen Text, eben der Erzählung von Edgar Allen Poe mit dem Titel Der entwendete Brief. Von dem Umweg über Poes Erzählung erhofft sich Lacan, zugleich die Umwege des Signifikanten erläutern zu können, die sein Verständnis der symbolischen Kette der Wiederholungen leiten. Lacan scheut sich in diesem Zusammenhang nicht, von der »verité qui se dégage du moment de la pensée freudienne que nous étudions«18 zu sprechen, einer Wahrheit, von der er im gleichen Zuge behauptet, sie allein »rend possible l’existence même de la ficton.«19 Auf den starken Wahrheitsanspruch, den Lacan mit dieser Inanspruchnahme eines literarischen Textes formuliert, hat Jacques Derrida in seiner kritischen Lektüre des Seminars hingewiesen, um den psychoanalytischen Diskurs selbst zu dekonstruieren.20 Vor dem Hintergrund der Dekonstruktion der Psychoanalyse, die Lacan an Freud und Derrida an Lacan vollzieht, stellt sich die Frage, wie es mit der Wahrheit, von der Lacan spricht, beschaffen ist, und insbesondere wie sie sich zu der fundamentalen Verkennungsstruktur verhält, die er dem menschlichen Bewusstsein in seiner Prägung durch das Imaginäre zuspricht. Lacans Auseinandersetzung mit Poe ist von einem doppelten Interesse geleitet. Auf der einen Seite will er aus der Erzählung die narzisstischen Verkennungsstrukturen herausarbeiten, die er mit der Ordnung des Imaginären verbindet. Auf der anderen Seite möchte er zeigen, dass die imaginäre Ordnung des

17 Ebd. 18 Ebd., S. 12. 19 Ebd. 20 Die Notwendigkeit einer Dekonstruktion Lacans hat Derrida an anderer Stelle nachdrücklich unterstrichen: »Si bien que le discours à la fois le plus proche et le plus déconstructible, le plus à déconstruire alors était sans doute celui de Lacan.« Jacques Derrida: »Pour l’amour de Lacan«, in: Natalia Avtonomova (Hg.), Jacques Lacan avec les philosophes, Paris 1991, S. 397-420, hier S. 409.

102 | ACHIM GEISENHANSLÜKE

Blicks in der Erzählung jederzeit mit der symbolischen Ordnung der Sprache verbunden ist, die durch die titelgebende Lettre in seiner doppelten Bedeutung als Brief oder Buchstabe verkörpert wird. Der Brief markiert in diesem Sinne das symbolische Zentrum der Erzählung wie der Lacan’schen Deutung, zugleich aber einen »reste«21, einen scheinbar nichtswürdigen zerknüllten Müll,22 von dem alle Bedeutungsstrukturen in der Erzählung abhängen, der selbst aber über keine Bedeutung verfügt. Poes Erzählung berichtet von einem Brief, den ein Minister der Königin unter ihren eigenen Augen entwendet und in seinem Büro versteckt. Als es der Polizei nicht gelingt, den Brief wiederzubeschaffen, beauftragt sie den Detektiv Dupin, der den Brief seinerseits dem Minister entwendet und durch einen anderen ersetzt. Lacan richtet sein Augenmerk zunächst auf die Dimension des Imaginären, auf die Ordnung der Blicke, die sich in der Erzählung wechselseitig verzahnen. Drei Stufen des Sehens unterscheidet er, denen zugleich drei Subjektpositionen in ihrer zeitlichen und räumlichen Bestimmtheit entsprechen. Allen drei Blicken entsprechen unterschiedliche Formen des Wissens und des Nichtwissens. Die erste Ordnung des Sehens macht Lacan in dem König und der Polizei aus, die nichts sehen, von der Existenz des Briefes nichts wissen oder ihn nicht finden können. Die zweite Ordnung des Blickes korrespondiert mit der Königin und dem Minister, die beide sehen, dass ein anderer – der König, die Polizei – nichts sieht und die so versuchen, den Brief vor den Blicken der anderen zu verbergen. Die dritte Ordnung des Blickes ist zunächst die des Ministers und dann die Dupins, die beide sehen, dass das Verborgene offen zutage liegt und die sich deshalb seiner bemächtigen können. Allen drei Positionen entspricht eine Abstufung des Wissens, die vom absoluten Nichtwissen des Königs und der Polizei bis zum scheinbar absoluten Wissen des Ministers und Dupins reicht. Was Lacan an dieser strukturalen Unterscheidung der drei Ordnungen des Blickes interessiert, der Derrida in seiner kritischen Relektüre noch die vierte, den Blick des Analytikers auf den Text von Poe hinzufügt, ist der Platz, den jeweils das Subjekt einnimmt. In ihm erkennt er jene Wiederholungsstruktur, der schon seine anfängliche Aufmerksamkeit galt. Das grundsätzliche Erkenntnisinteresse Lacans besteht darin, zu zeigen, dass der Platz des Subjekts jeweils von seiner Position zum Brief als dem symbolischen Zentrum der Erzählung abhängt.

21 J. Lacan: Écrits (s. Anm. 7), S. 12. 22 Auf die Konnotationen des Rests als Abfall geht Lacan ausführlich in seiner Auseinandersetzung mit Joyce ein, insbesondere in dem Einleitungsaufsatz mit dem Titel Lituraterre in den von seinem Schwiegersohn Jacques Alain-Miller herausgegebenen Autres écrits, Paris 2001, S. 11f.

J ACQUES LACANS DOCTA IGNORANTIA | 103

»Nous verrons que leur déplacement est déterminé par la place que vient à occuper le pur signifiant qu’est la lettre volée, dans leur trio. Et c’est là ce qui pour nous le confirmera comme automatisme de répétition.«23 Die Dialoge der Erzählung sind so ausgerichtet auf »un drame sans paroles«24, wie Lacan meint, auf jenen anderen Schauplatz, in dem Freud das Unbewusste erkannt hat. Nur von ihm aus lasse sich die Erzählung und mit ihr die Verkettung des Imaginären und des Symbolischen dechiffrieren, die die psychoanalytische Erfahrung ausmache. Von entscheidender Bedeutung ist für Lacan, dass der Brief als Zentrum des anderen Schauplatzes, des Unbewussten, nicht allein auf die imaginäre Ordnung des Blickes verweise, sondern auf die symbolische Ordnung der Sprache zurückgeht. »Le fait que le message soit ainsi retransmis nous assure de ce qui ne va pas absolument des soi: à savoir qu’il appartient bien à la dimension du langage.«25 Mit der Sprache verlässt die Erzählung die Ebene des Imaginären zugunsten der des Symbolischen und vollzieht so jene Entwicklung nach, der in den Augen der Forschung Lacans eigene Denkbewegung vom Imaginären über das Symbolische bis zum Realen folgt.26 Lacans Begriff der symbolischen Ordnung bedeutet in diesem Zusammenhang gleichzeitig eine Passage von der trügerischen Gewissheit des Blicks hin zur Wahrheit, die allein in der Sprache statthat. »C’est dire qu’on y passe du champ de l’exactitude au registre de la vérité.«27 Lacans Wahrheitsbegriff im Zeichen des Symbolischen ist jedoch alles andere als voraussetzungslos. Er schreibt sich auf der einen Seite in eine hegelsche Dialektik zwischen dem Subjekt und seinem Anderen ein, die Lacan seinem Lehrer Kojève entlehnt, zum anderen in Heideggers Engführung von Wahrheit und Sprache im Zeichen der aletheia als einer doppelten Bewegung des Ent- und Verbergens zugleich: »que c’est à ce qu’elle se cache, qu’elle s’offre à eux le plus vraiment«28, formuliert Lacan daher in einer heideggerianisierenden Wendung. Was sich in der symbolischen Ordnung der Sprache öffnet, ist demzufolge

23 J. Lacan: Écrits (s. Anm. 7), S. 16. 24 Ebd., S. 17f. 25 Ebd., S. 19. 26 Zu der Entwicklung vom Imaginären über das Symbolische bis zum Realen bei Lacan vgl. Peter Widmer: Subversion des Begehrens. Eine Einführung in Jacques Lacans Werk, Wien 1997, S. 22f., sowie Matthias Waltz: »Ethik der Welt – Ethik des Realen«, in: Hans-Dieter Gondek/Roger Hofmann/Hans-Martin Lohmann (Hg.), Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk, Stuttgart 2001, S. 97-129, hier S. 97. 27 J. Lacan: Écrits (s. Anm. 7), S. 20. 28 Ebd., S. 21.

104 | ACHIM GEISENHANSLÜKE

nicht allein die Wahrheit des Subjekts, sondern zugleich seine Überantwortung an die Dimension des Anderen, die seine Erfahrung als imaginäre Verkennung seiner selbst im Rahmen symbolischer Stellvertretungsprozesse definiert, die auf einen Ursprung bezogen sind, der dem Subjekt für immer entzogen bleibt. Lacan begründet die Idee des fundamentalen Entzugs der Wahrheit, die er mit Heidegger teilt, durch die Materialität des Signifikanten, die der Brief repräsentiert und die eben in der zeitlichen und räumlichen Verschiebungsbewegung besteht, die die Signifikantenkette ausmacht. Im Kontext der Überlegungen Freuds aus Jenseits des Lustprinzips ist die unaufhörliche Verschiebungsarbeit der Signifikantenkette zugleich auf »l’instance de la mort«29 als ihre arche und telos zugleich ausgerichtet, auf den Tod als den »maître absolu«, wie Lacan in seinen Écrits nicht müde wird zu wiederholen. Der Signifikant ist demzufolge nichts anderes als »symbole d’une absence«30, einer Form der Abwesenheit, die auch die Ordnung des Symbolischen einer Vergeblichkeit unterstellt, die sie, mit und gegen Hegels Begriff des absoluten Wissens gesprochen, nicht aufheben kann. Was Poe in Der entwendete Brief inszeniert und was zugleich seine so wichtige Bedeutung für Lacans eigene Theorie garantiert, ist demzufolge der doppelte Aufweis der imaginären Verkennungsstrukturen, die alle Subjekte der Erzählung in der wechselseitigen Verknüpfung der Blicke bestimmen, und der Abhängigkeit des Subjekts von der symbolischen Ordnung der Sprache, die durch den Brief als Stellvertreter der Abwesenheit zum Ausdruck gebracht wird. Der eigentliche Held, »le sujet véritable de ce conte«31, ist der Brief als symbolisches Zentrum der Erzählung, nach dem sich alle Protagonisten ausrichten. In dieser Position verkörpert der Brief als Zeichen der Überlegenheit des Signifikanten über das Subjekt nicht nur das eigentliche Zentrum der Erzählung, sondern zugleich den Ort, an dem sich die drei Ordnungen des Imaginären, Symbolischen und Realen überlagern: »la situation typiquement imaginaire: de voir qu’on ne le voit pas, méconnaître la situation réelle où il est vu ne pas voir. Et qu’est-ce qu’il ne voit pas? Justement la situation symbolique qu’il a su luimême si bien voir, et où maintenant le voilà vu se voyant n’être pas vu.«32 Das Subjekt des Wissens, das in der Erzählung durch den Detektiv Dupin repräsentiert wird, verfügt zwar über die klare und distinkte Einsicht, dass selbst der durchtriebene Minister ihn nicht durchschaut, erkennt aber nicht die Abhängigkeit auch seines eigenen klugen Plans von dem Brief, dessen Ort er zwar ange-

29 Ebd., S. 24. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 29. 32 Ebd., S. 31.

J ACQUES LACANS DOCTA IGNORANTIA | 105

ben kann, der aber gerade in dem Moment Macht über ihn gewinnt, als er die Verfügungsgewalt über ihn zu besitzen scheint. Das Subjekt des Wissens kann gar nicht anders als seine reale Ohnmacht verkennen. Die unmittelbare Folge für Dupin besteht darin, dass er einer symbolischen Verwandlung unterzogen wird, der jeder anheimfällt, der mit dem Besitz des Briefes meint, auch im Besitz der Wahrheit zu sein, in diesem Fall des Geheimnisses der Königin. Der Brief verweist so auf das Zentrum des Begehrens als einen »immense corps de femme«33, der in der Erzählung durch den Kamin symbolisiert wird, auf dessen Sims sich der unerkannte Brief befindet. Lacan unterstellt die Wahrheit, die er mit der symbolischen Ordnung des Signifikanten verbindet, so der Abwesenheit des Phallus, die den Platz des Königs zugleich zu dem »symbole de la plus énorme imbécillité«34, »de l’imbécillité qui tient justement au Sujet«35 macht, der unaufhebbaren Dummheit, die dem erkennenden Subjekt eingeschrieben ist, das beständig versucht, mit seinem Denken die Blöße des Körpers der Königin zu bedecken. Lacans gewitzter Umweg über Poes Erzählung erweist sich so zugleich als ein Traktat über die Dummheit und das Nichtwissen, dem das menschliche Subjekt in seinem Begehren nach der Wahrheit überantwortet wird.

4. D ER B RIEFTRÄGER DER W AHRHEIT . L ACAN UND D ERRIDA In der Auseinandersetzung mit Lacan, die die kritische Lektüre Freuds aus dem frühen Aufsatz Freud et la scène de l’écriture aufnimmt, hat Jacques Derrida die Engführung von psychoanalytischer Theorie und Literatur, von der das Seminar über den entwendeten Brief seinen Ausgang nimmt, zum Anlass einer umfassenden Kritik der strukturalen Psychoanalyse genommen. Zwar scheint Lacans Bestimmung des Zusammenspiels der drei Instanzen des Imaginären, Symbolischen und Realen als räumlicher und zeitlicher Entzug der Wahrheit so gut wie jeden Punkt der Dekonstruktion und insbesondere ihren Leitbegriff der différance vorwegzunehmen. Dennoch sieht Derrida die Notwendigkeit einer Kritik der Psychoanalyse gegeben, die sich auf die Frage nach dem Ort des Psychoanalytikers in der Lacan’schen Topik richtet. In Derridas Lesart erscheint Lacan ganz im Widerspruch zu seiner luziden Kritik der Figur Dupins selbst als unumstrittener Herr der Bedeutungen, damit aber als Teil der Verkennungsstrukturen, die er

33 Ebd., S. 36. 34 Ebd., S. 38. 35 Ebd.

106 | ACHIM GEISENHANSLÜKE

so subtil an den Figuren der Erzählung herausarbeitet. Derridas kritischer Blick richtet sich mithin auf den Psychoanalytiker als eine vierte Instanz, die über dem Text thront und über dessen Bedeutungen wie über reale Fallgeschichten von Patienten richtet. Was die Psychoanalyse verkenne, sei die fiktionale Ordnung des Textes, die einer Wahrheit unterworfen werde, die nicht die der Literatur, sondern stets die der Psychoanalyse sei. »Exhibition, mise à nu, déshabillage, dévoilement, on connaît la gymnastique : c’est la métaphore de la vérité. On peut dire aussi bien la métaphore de la métaphore, la vérité de la vérité, la vérité de la métaphore.«36 Anhand von Freuds Lektüre des Märchens Des Kaisers neue Kleider aus der Traumdeutung und Lacans Lektüre von Poes Erzählung unterzieht Derrida die psychoanalytischen Interpretationen literarischer Texte so einer Dekonstruktion, die sich dagegen zur Wehr setzt, die Literatur nur als Einkleidung der Wahrheit zu verstehen. Zwar bedeute Lacans Vorgehen einen Fortschritt innerhalb der Geschichte der psychoanalytischen Inanspruchnahme der Literatur, da er einen »sémantisme naïf«37 unterbreche und sich dem Kardinalfehler der Psychoanalyse verweigere, der Interpretation nicht des Textes, sondern des Autors. Dennoch lasse auch Lacans Aufmerksamkeit auf die Logik des Signifikanten noch zu wünschen übrig. Das Seminar sei letztlich nichts als eine »analyse fascinée d’un contenu. En quoi il manque une scène.«38 Die fehlende Szene, die zugleich den Rahmen der Erzählung unberücksichtigt lasse und damit einer »neutralisation du narrateur«39 gleichkomme, sei die Errichtung der psychoanalytischen Literaturinterpretation als eines Wahrheitsdiskurses, der sich auf die einzig unverrückbare Instanz des Seminars über den entwendeten Brief richtet, auf den Brief, der immer an seinem Platz bleibe. Die Zentrierung der Erzählung auf den Brief als symbolischen Stellvertreter einer nicht aufhebbaren Leerstelle, die Lacan vornimmt, deutet Derrida daher als eine Kastration der Fiktion und ihrer disseminativen Ordnung. »La vérité de la lettre volée est la vérité, son sens est le sens, sa loi est la loi, le contrat de la vérité avec elle-même dans le logos.«40 Im Widerspruch zu seinen ursprünglichen kritischen Intentionen verfalle Lacan letztlich einer Hermeneutik des Textes, die ganz auf der Kastration der Wahrheit im Zeichen des abwesenden Phallus der Königin stehe: »Lacan propose donc bien, en même temps qu’un discours-vérité, un discours sur la vérité de la lettre comme vérité de La Lettre volée. Il s’agit là d’un déchiffrement

36 Jacques Derrida: La Carte Postale de Socrate à Freud et au-delà, Paris 1980, S. 443. 37 Ebd., S. 449. 38 Ebd., S. 456. 39 Ebd., S. 459. 40 Ebd., S. 467.

J ACQUES LACANS DOCTA IGNORANTIA | 107

herméneutique, malgré l’apparence ou la dénégation. Le lien de la Féminité et de la Vérité en est l’ultime signifié.«41 Die Ausblendung der psychoanalytischen Lektüre, die die Erzählung bereits durch Freuds Vertraute Marie Bonaparte erfahren habe, deutet Derrida als Zeichen der Bestätigung für die Errichtung eines Herrschaftsdiskurses, der mit einer »relève de l’écriture dans le système de la parole«42 einhergehe und die Psychoanalyse zu einer letzten Instanz des Phonozentrismus mache. Derridas ebenso aufmerksame wie in gewisser Weise vernichtende Kritik überrascht, und das nicht nur, weil er an anderer Stelle vorgibt, »Pour l’amour de Lacan«43, aus Liebe zu Lacan zu sprechen – und das, obwohl doch gerade Lacan im Blick auf die Geschichte des platonischen Symposions die Sprache der Liebe als eine Sprache der Dummheit bestimmt hatte.44 Was mit Derridas LacanLektüre auf dem Spiel steht, ist der Wahrheitsanspruch der Psychoanalyse, ein Anspruch, den ihr die Philosophie in Form vom Derridas Kritik der Metaphysik streitig macht. Lacans eigener Unterscheidung zwischen dem Diskurs der Psychoanalyse und dem der Philosophie bzw. der Universität zufolge entspricht der Streit mit Derrida dem Versuch, die Logik des Unbewussten, dem sich die Psychoanalyse auf all ihren Wegen und Umwegen widmet, der Logik des Meisters zu unterwerfen, die die Philosophie auf ihren Wegen und Holzwegen bestimmt. Wo Derrida im Lacan’schen Denken eine letzte Bastion der Metaphysik in der Form des Phonozentrismus am Werk sieht, da erkennt Lacan in Derrida einen letzten Vertreter der cartesianischen und phänomenologischen Philosophie des Cogito – im Blick auf Derridas eigene Forderung, Lacan »sur un mode déconstructeur, avec des philosophes, et notamment au sujet de la constitution des idéalités, des objets idéaux chez Husserl«45 zu befragen, vielleicht keine ab-

41 Ebd., S. 470. 42 Ebd., S. 493. 43 So der bereits zitierte Titel des Aufsatzes zu Lacan, der die kritische Perspektive von Le facteur de la vérité aus der Carte Postale aufnimmt. 44 Auf die, wie er es nennt, »langage stupide de l’amour« hat Lacan in seinem Aufsatz Le symbolique, l’imaginaire et le réel hingewiesen, in: Des Noms-Du-Père, Paris 2005, S. 28. Vgl. in diesem Zusammenhang auch seine grundsätzlichen Überlegungen zum Zusammenhang von Liebe und Übertragung in: Le Séminaire. Livre VIII. Le transfert. 1960-1961, Paris 2001. 45 J. Derrida: Pour l’amour de Lacan (s. Anm. 20), S. 413. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Forderung Derridas, »Freud et Heidegger, Heidegger et Freud« (J. Derrida: La Carte Postale [s. Anm. 36], S. 379) zu lesen. Vielleicht wäre aber gerade das der falsche Weg.

108 | ACHIM GEISENHANSLÜKE

wegige Vermutung. Derridas kritische Relektüre der Lacan’schen Lektüre Poes als Bestätigung der symbolischen Ketten und imaginären Verkennungsstrukturen, denen das Subjekt unterworfen bleibt, sieht sich so in ihrer luziden Kritik mit der Frage konfrontiert, ob sie selbst nicht eine wesentliche Sache auslässt und auslassen muss, um der eigenen Diskursform treu bleiben zu können, die Frage, ob Lacans Nachweis des unhintergehbaren Nichtwissens des Subjekts nicht auch noch die gelehrte Position des Analytikers umfasst.

5. G ELEHRTE U NWISSENHEIT . L ACAN

UND DIE

L ITERATUR

Schon in seinem Aufsatz Freud et la scène de l’écriture fragt Derrida nach einer »psychanalyse de la littérature respectueuse de l’originalié du signifiant littéraire«46. Lacan scheint dieser Forderung bereits nachgegangen zu sein, und das nicht allein durch die beständige Einbeziehung literarischer Texte in seinen Schriften und Seminaren, sondern vor allem in der ihm eigenen Weise der écriture. So hat Samuel Weber darauf aufmerksam gemacht, dass nur eine solche Darstellung Lacan gerecht werden könne, »die Lacans Sprache nicht nur als eine über den Diskurs des Anderen – des Unbewußten – begreift, sondern als eine, die in einer besonderen Weise selbst ein anderer Diskurs ist. In diesem Sinne ist der theoretische Diskurs Lacans auch ein praktischer, eine pratique signifiante, wobei der ›theoretische Gehalt‹ sich durch eine literarische Praxis artikuliert, 47

die die Gesetze der Signifikation – nicht nur beschreibt, sondern unmittelbar inszeniert.«

Die Zurückweisung jeder Form der Metasprache, die den Lacan’schen Diskurs kennzeichnet – »il n’a y pas de métalangage«48, versichert er immer wieder –, und sei es die der Philosophie, macht deutlich, dass Lacan trotz aller Kritik an

46 Jacques Derrida: L’écriture et la différence, Paris 1967, S. 340. 47 S. Weber: Rückkehr zu Freud (s. Anm. 3), S. 20. Vgl. auch Roger Hofmann: »Die Eindrücklichkeit, mit der Lacan in seinen Seminaren Literatur zu lesen versteht, geht einher mit der Art und Weise, wie er mittels dieser Lektüren seine Begriffe schärft. So subtil diese Lektüren auch sein mögen, letztlich stellen sie Übersetzungen dar, die bestimmte Aspekte literarischer Werke der Psychoanalyse einschreiben.« Roger Hofmann: »Spannungen – Psychoanalyse, Literatur, Literaturwissenschaft«, in: HansDieter Gondek/Roger Hofmann/Hans-Martin Lohmann (Hg.), Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk, Stuttgart 2001, S. 189-200, hier S. 195. 48 J. Lacan: Écrits (s. Anm. 7), S. 813.

J ACQUES LACANS DOCTA IGNORANTIA | 109

seiner beständigen Selbstinszenierung eine Position jenseits des Textes, wie sie Derrida ihm zuspricht, nicht kennt. Lacans Begriff der psychoanalytischen Technik als einer Analyse, die sich auch auf die Literatur erweitern lässt, ist demnach von einem doppelten Vorgehen bestimmt: »l’art de l’analyste doit être de suspendre les certitudes du sujet«49, mit diesen Worten stellt Lacan noch einmal die kritische Arbeit der Psychoanalyse als Infragestellung der Gewissheit des Subjekts heraus. Darüber hinaus aber erfährt auch die Position des Analytikers als scheinbar unantastbare Instanz des Wissens – nicht umsonst spricht Lacan in einer berühmten Wendung von dem Analytiker als dem »sujet supposé savoir« – eine Kritik, die der Psychoanalyse als Wissenschaft tief eingeschrieben ist: »L’analyste, en effet, ne saurait y entrer qu’à reconnaître en son savoir le symptôme de son ignorance, et ceci au sens proprement analytique que le symptôme est le retour du refoulé dans le compromis, et que le refoulement ici comme ailleurs est censure de la vérité. L’ignorance en effet ne doit pas être entendue ici comme une absence de savoir, mais, à l’égal de l’amour et de la haine, comme une passion de l’être, à leur instar, une voie où 50

l’autre se forme.«

Lacan versteht das Nichtwissen, die »ignorance«, nicht als eine Abwesenheit des Wissens, sondern als das notwendige Ergebnis der psychoanalytischen Arbeit. »Le fruit positif de la révélation de l’ignorance est le non-savoir, qui n’est pas une négation du savoir, mais sa forme la plus élaborée«51, heißt es in Variantes de la cure-type, und so lässt Lacan keinen Zweifel daran, »que l’analyse ne peut trouver sa mesure que dans les voies d’une docte ignorance.«52 Die gelehrte Unwissenheit, in der schon Nikolas von Kues das Ziel aller Bemühungen des Menschen um sicheres Wissen zu erkennen meinte, bestimmt auch die Arbeiten des passionierten Augustinus-Lesers Lacan. Allerdings will sich Lacan zugleich davor hüten, in einem theologischen Sinne als ein Mystagoge des Nicht-Wissens verstanden zu werden. »Les psychanalystes sont les savants d’un savoir dont ils ne peuvent s’entretenir. C’est une autre affaire que la mystagogie du non-

49 Ebd., S. 251. 50 Ebd., S. 358. 51 Ebd. 52 Ebd., S. 362. In ähnlicher Weise heißt es bereits im ersten Seminar aus dem Jahr 1953/54: „En d’autres termes, la position de l’analyste doit être celle d’une ignorantia docta“. Jacques Lacan: Le Séminaire. Livre I. Les écrits techniques de Freud. 19531954, Paris 1973, S. 306.

110 | ACHIM GEISENHANSLÜKE

savoir.«53 Der Nachweis des Nichtwissens als unhintergehbare Grenze des Wissens, das das Subjekt von sich selbst haben kann, ist nicht Selbstzweck, sondern das Ergebnis der Form der Aufklärung, die die Psychoanalyse liefern kann: »c’est donc pour étendre le champ de notre ignorance, non de notre savoir«54, schließt Lacans docta ignorantia als eine neue Dialektik der Aufklärung. Sie ruht auf der Erkenntnis, dass das menschliche Bewusstsein vom Zugriff des moi im Zeichen der imaginären Verkennungen des Spiegelstadiums und das Unbewusste von den ins Nichts führenden Stellvertretungsprozessen der symbolischen Ordnung bestimmt werden, so dass das reale Subjekt sich aus seinen Abhängigkeiten zwar nie endgültig befreien kann, sich im Rahmen der gelehrten Unwissenheit aber zumindest der Illusion der absoluten Freiheit und des absoluten Wissens entledigen kann. Dass darin zugleich der Grund für eine Poetik der Literatur liegt, hat Lacan in Berufung auf Jakobson unterstrichen, wenn er hervorhebt, »qu’on peut y construire une poétique qui ne doit rien à la référence à l’esprit du poète, non plus à son incarnation.«55 An dieser Skizze einer psychoanalytischen Poetik ist Derrida ebenso achtlos vorbeigegangen wie die Kritiker der Psychoanalyse, die deren Ende heraufbeschworen haben. Wenn aber das Zeitalter der Psychoanalyse, wie Žižek meinte, gerade erst gekommen ist, dann im Zeichen jener docta ignorantia, die Lacan herausgearbeitet hat und deren Strenge gegenüber ihren Gegenständen und gegenüber sich selbst der Theorie der Literatur noch immer als Vorbild dienen kann.

L ITERATUR Bowie, Malcolm: Lacan, Göttingen 1994. Derrida, Jacques: L’écriture et la différence, Paris 1967. Derrida, Jacques: La Carte Postale de Socrate à Freud et au-delà, Paris 1980. Derrida, Jacques: »Pour l’amour de Lacan«, in: Natalia Avtonomova (Hg.), Jacques Lacan avec les philosophes, Paris 1991, S. 397-420. Geisenhanslüke, Achim: »Freud aus Frankreich. Psychoanalyse und Postmoderne«, in: Kodikas/Code. Ars Semiotica 23 (2000), S. 275-286. Goebel, Eckart: Jenseits des Unbehagens. ›Sublimierung‹ von Goethe bis Lacan, Bielefeld 2009.

53 J. Lacan: Autres écrits (s. Anm. 22), S. 359. 54 J. Lacan: Écrits (s. Anm. 7), S. 668. 55 Ebd., S. 860.

J ACQUES LACANS DOCTA IGNORANTIA | 111

Hofmann, Roger: »Spannungen – Psychoanalyse, Literatur, Literaturwissenschaft«, in: Hans-Dieter Gondek/Roger Hofmann/Hans-Martin Lohmann (Hg.), Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk, Stuttgart 2001, S. 189-200. Lacan, Jacques: Écrits, Paris 1966. Lacan, Jacques: Le Séminaire. Livre I. Les écrits techniques de Freud. 19531954, Paris 1973. Lacan, Jacques: Le Séminaire. Livre VIII. Le transfert. 1960-1961, Paris 2001. Lacan, Jacques: Des Noms-Du-Père, Paris 2005. Lang, Hermann: Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, Frankfurt/Main 1986. Lang, Hermann: Strukturale Psychoanalyse, Frankfurt/Main 2000. Roudinesco, Elisabeth: Wien – Paris. Die Geschichte der Psychoanalyse in Frankreich, Weinheim, Berlin 1994. Waltz, Matthias: »Ethik der Welt – Ethik des Realen«, in: Hans-Dieter Gondek/Roger Hofmann/Hans-Martin Lohmann (Hg.), Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk, Stuttgart 2001, S. 97-129. Weber, Samuel: Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse, Wien 22000. Widmer, Peter: Subversion des Begehrens. Eine Einführung in Jacques Lacans Werk, Wien 1997. Žižek, Slavoj: Lacan. Eine Einführung, Frankfurt/Main 2011.

Return2babel Das Ausstellen der Schrift und die Dekonstruktion der monolingualen Norm im gegenwärtigen Literaturschaffen E STHER K ILCHMANN

Im Zuge von Globalisierung und Migration findet derzeit in Literaturbetrieb und Literaturwissenschaft die Unterlaufung von Vorstellungen der Eindeutigkeit und Homogenität, der klaren Zugehörigkeit und nationalen Determinierung erhöhte Aufmerksamkeit. Ordnungskategorien wie jene der ›Nationalliteratur‹ werden dabei ebenso ad acta gelegt wie die Vorstellung vom Schreiben in der Erstsprache als Normalfall dichterischer Produktion. Stattdessen wird im Zeichen einer ›neuen Weltliteratur‹ literarische Kreativität und Innovation gerade im Gebiet unsicherer Zuschreibungen, kultureller und sprachlicher Übergänge entdeckt.1 Sie bilden literaturwissenschaftliche Ansatzpunkte im Rahmen einer Kulturwissenschaft, die Doris Bachmann-Medick zufolge derzeit »geradezu zu einer Reise- oder Verkehrswissenschaft zu werden [scheint], die längst nicht mehr nach authentischen Wurzeln von Kulturen (›roots‹) fragt, sondern von der Herausbildung des Kulturellen durch transkulturelle Wanderungsbewegungen (›routes‹) ausgeht.«2 Im Kontext dieser Verschiebung von roots zu routes kann auch literarische Mehrsprachigkeit zu einem zentralen Untersuchungsfeld werden. Im Fo-

1

Vgl. Immacolata Amodeo/Heidrun Hörner (Hg.): Zu Hause in der Welt: Topographien einer grenzüberschreitenden Literatur, Sulzbach 2010; Elke Sturm-Trigonakis: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur, Würzburg 2007; Carmine Chiellino: Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch, Stuttgart 2000.

2

Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006, S. 258.

114 | E STHER K ILCHMANN

kus dieses Beitrages steht eine Textgruppe, in der programmatisch von der monolingualen Norm abgewichen wird, indem auf morphologischer oder grammatischer Ebene Versatzstücke aus anderen sogenannten ›Nationalsprachen‹, aus vom Standard abweichenden Dialekten oder Soziolekten eingefügt werden.3 Kann dieses Vorgehen unter einem strikt nationalliterarischen und -sprachlichen Blick nur als fehlerhafter Sprachgebrauch wahrgenommen werden, so ergibt sich mit einer Verschiebung des Untersuchungsinteresses auf kulturelle Wanderbewegungen und Übersetzungsphänomene ein anderes Bild. Mehrsprachige Texte inszenieren dann in besonderem Maße die Beweglichkeit der Sprache und der Sprachen, ihre Fähigkeit sich im Kontakt zu wandeln und neu zu mischen. Hier wird poetisch produktiv gemacht, dass Einzelsprachen nicht länger im Sinne eines Baum-Modells als an Wurzeln gebundene, gegeneinander abgeschlossene Einheiten zu denken sind, sondern als durch Wanderungsbewegungen entstandene und sich darin wieder auflösende bzw. neu gruppierende Gebilde.4 Sprache wird in diesem Modell im Netz vielfältiger Übersetzungsvorgänge herausgebildet. Mehrsprachige Literatur ist deshalb interessant, weil darin nicht nur auf der inhaltlichen, sondern auch auf der Ebene der Sprache selbst konventionelle kulturelle und linguistische Grenzen und Übergänge neu ausgelotet und gestaltet werden. Die literaturwissenschaftliche Herausforderung durch diese Texte besteht also erstens darin, dass darin systematisch quer zu nationalphilologisch geordneten Zuständigkeitsbereichen operiert wird.5 Zweitens rücken sie aber auch Fragen der Sprachgestaltung und Poetizität ins Zentrum, mithin einen literaturwissenschaftlich-linguistischen Grenzbereich, der seit den 1960/70er Jahren kaum mehr bearbeitet wurde.6 In der Untersuchung mehrsprachiger Texte müs-

3

Grundlegend zu mehrsprachiger Literatur: Georg Kremnitz: Mehrsprachigkeit in der Literatur: wie Autoren ihre Sprachen wählen; aus der Sicht der Soziologie der Kommunikation, Wien 2004; Manfred Schmeling/Monika Schmitz-Emans (Hg.): Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, Würzburg 2002.

4

Zur sprachgeschichtlichen Konturierung dieses Ansatzes vgl. Heinz Sieburg: »Die deutsche Sprache als interkulturelles Konstrukt«, in: Dieter Heimböckel/Irmgard Honef-Becker/Georg Mein u.a. (Hg.), Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaft, München 2010, S. 349-359.

5

Ausführlich dazu: Esther Kilchmann: »Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur. Zur Einführung«, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, Themenheft Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur 2 (2012), S. 11-17.

6

Vgl. Simone Winko: »Auf der Suche nach der Weltformel: Literarizität und Poetizität in der neueren literaturtheoretischen Diskussion«, in: dies./Fotis Jannidis/Gerhard

D AS AUSSTELLEN DER S CHRIFT … | 115

sen demzufolge kulturwissenschaftliche Fragestellungen wie jene nach Konstruktionen von Identität und Alterität sowie die Hinterfragung kultureller und sprachlicher Zugehörigkeiten verbunden werden mit Analysen der Literatursprache, in der auch auf grammatische und semantische Verfremdungen eingegangen wird, die Vervielfältigungen und Uneindeutigkeiten schaffen. Um ebendiesen Bereich besser in den Blick zu bekommen, steht in diesem Beitrag nicht die direkte Fortführung der Diskussionen um Inter- und Transkulturalität von Literatur oder um die Historizität von Konzepten wie ›Muttersprache‹ im Zentrum.7 Auch wurde die Autorengruppe ausgeweitet und neben Yoko Tawada als einer der etabliertesten Vertreterinnen der sog. »Chamisso-Literatur« (i.e. Schreiben in der Zweitsprache Deutsch) mit Urs Allemann, Heike Fiedler und Jörg Piringer Autoren dazu genommen, die herkömmlicherweise eher der »experimentellen Lyrik« und deren Weiterführung in der »digitalen Poesie« zuzuordnen wären, die aber ebenfalls dezidiert mit Sprachmischung arbeiten. Auch wenn sich die noch junge Forschung zu mehrsprachiger Literatur hauptsächlich auf Autoren beschränkt, für die Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit auch biographisch gesehen zentral ist, soll diese Zusammenstellung verdeutlichen, dass mehrsprachiges Schreiben immer auch eng mit Formen des Sprachspiels und Fragen der Poetizität verbunden ist.8 In der Zusammenschau dieser Texte muss auffallen, dass im Zusammentreffen der Sprachen immer wieder die materielle Dimension von Sprache, Laut- und Schriftbild in ihrer Intransparenz und Opazität in den Vordergrund tritt. Statt um Übersetzung geht es im Kontakt der Sprachen hier also um das Herausstreichen der unübersetzbaren signifikanten Seite und somit um einen Effekt von Poetizität, der sich in der Definition Roman Jakobsons dadurch auszeichnet,

Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin, New York 2009, S. 374-396. 7

Vgl. Thomas Paul Bonfiglio: Mother Tongues and Nations. The Invention of the Native Speaker, New York 2010; Yasemin Yildiz: Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition, New York 2012.

8

In diesem Sinne betonen auch Ilma Rakusa und Yoko Tawada den experimentellen Charakter ihrer biographisch begründeten Mehrsprachigkeit: Rakusa spricht von einem »künstlerischen Stimulus« (Ilma Rakusa: Zur Sprache gehen. Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen, Dresden 2005, S. 10), Tawada vom »künstlerische[n] Experiment« (Yoko Tawada: Verwandlungen. Tübinger Poetik-Vorlesungen, Tübingen 1998, S. 10). Vgl. dazu: Esther Kilchmann: »Poetik des fremden Wortes. Techniken und Topoi heterolingualer Gegenwartsliteratur«, in: ZiG (s. Anm. 5), S. 109-129.

116 | E STHER K ILCHMANN »dass das Wort als Wort, und nicht als bloßer Repräsentant des benannten Objekts oder als Gefühlsausbruch empfunden wird. Dadurch, daß die Wörter und ihre Zusammensetzung, ihre Bedeutung, ihre äußere und innere Form nicht nur indifferenter Hinweis auf die Wirklichkeit sind, sondern eigenes Gewicht und selbständigen Wert erlangen.«9

Indem sie um Sprache und Schrift als Material der Literatur kreist, antwortet diese Gegenwartsliteratur – so meine These – auf eine umfassende Wandlung von Sprach- und Textordnungen. So ist die monolinguale Norm mit ihren je nationalsprachlich verfassten Regelsystemen brüchig geworden, neben die kulturgeschichtlichen und sozio-politischen Faktoren wie transnationale Vernetzung, Englisch als internationale Kommunikations- und Wissenschaftssprache, Migration oder persönliche Mehrsprachigkeit treten dabei jene des Medienwandels und einer Krise des Wortes als zentrales Organ der Wissens- und Informationsvermittlung. Die untersuchten Texte stellen die Frage nach Gestaltungsmöglichkeiten von Sprache und Schrift unter diesen veränderten sozio-kulturellen und medialen Rahmenbedingungen. Sie betreiben damit eine Art poetischer Grundlagenforschung am Material der Literatur. Dies nun markiert weniger einen neuen turn, als in mancher Hinsicht einen return: Zunächst scheint die Literatur hier gleichsam »zurückzuschreiben« nach all den turns, in denen neue Leitparadigmen zu ihrer Erfassung entwickelt – und wieder verworfen – wurden. Als bleibend werden dabei die buchstäblichen Wendungen der Schrift, die immer wieder neu gedrehte Ausgestaltung von Schriftmaterial in den Vordergrund gestellt, die fest nur auf dessen Opazität verweist und damit auf die Widerständigkeit gegenüber Sinngebungs-, Übersetzungs- und Interpretationsverfahren. Gerade in der – in dieser Dichte und Programmatik neuen – Verwendung literarischer Mehrsprachigkeit wird darüber hinaus vor dem Hintergrund universaler linguistischer Konvertierbarkeiten und Universalsprachen die babelsche Urszene menschlicher Sprachen neu inszeniert und ästhetisch produktiv gemacht. Die Zerschlagung und Verwirrung der Sprachen wird dabei aus Sicht der Kunst, wie es insbesondere die poststrukturalistische Auseinandersetzung mit dem Mythos auch immer wieder betont hat, zu einem »Sternenregen für die Menschheit«10. Stellen die hier untersuchten Texte den Hang von Sprache aus, sich immer ›nach Babel‹ zu drehen, so impliziert dies auch eine literaturtheoretische Akzentsetzung: Erinnert wird nach und in all den cultural turns als Initiale der linguistic

9

Roman Jakobson: »Was ist Poesie«, in: Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert (Hg.), Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt/Main 1979, S. 67-82, hier S. 79.

10 George Steiner: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens, Frankfurt/Main 2004, S. XIII.

D AS AUSSTELLEN DER S CHRIFT … | 117

turn. In mancher Hinsicht wird dabei an Michel Foucaults Beschreibung von Literatur als einer Art »Gegendiskurs« angeknüpft, der in der Moderne jenseits der repräsentativen und bedeutenden Funktion von Sprache deren »rohes Sein« erinnert.11 Die untersuchten Texte gestalten Sprache vor der Folie dieser Theorie und lassen sich daher auch als explizite literarische Umsetzungen und Fortschreibungen von Literatur- und Kulturtheorie verstehen, die deren methodische Ansätze neu wendet und im Spiel der Zeichen als künstlerisches Gestaltungsprogramm produktiv macht. Gerade mehrsprachig operierende Texte legen dabei den linguistic turn neu aus, wenn sie danach fragen, inwiefern alle Wahrnehmung nicht nur grundsätzlich sprachlich, sondern auch einzelsprachlich geformt ist. Sie setzen damit gewissermaßen bei der parole an, ohne diese aber strikt vom Gesamtsystem der langue abzugrenzen. Mit Derrida gilt, dass sich in konkreten Ausformungen von Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel auch immer die übergeordnete Erkenntnis entziffern lässt, dass Sprache überhaupt nie restlos verfügund besitzbar ist.12 Gerade mit dem Fokus auf die vielen verschiedenen Sprachen und somit die Relativität einer persönlichen Erstsprache kann besonders deutlich gemacht werden, dass das sprachliche Medium kein auf die Dinge hin transparentes ist und diese mithin nicht authentisch repräsentiert. Vielmehr setzt jede Sprache ihre eigenen Akzente. Um diese These kreist ein guter Teil der poetologischen Überlegungen gegenwärtiger mehrsprachiger Autorinnen und Autoren. In jeder Sprache sitzen andere Augen lautet etwa programmatisch der Titel einer Poetikvorlesung von Herta Müller, in der sie die These aufstellt, dass im Sprachwechsel die Muttersprache mit dem »anders Geschauten« der anderen Sprachen konfrontiert und dadurch ihre Beschränktheit sichtbar werde: »Lilie, crin, ist im Rumänischen maskulin. Sicher schaut DIE Lilie einen anders an als DER Lilie. […] Wenn man beide Sichtweisen kennt, tun sie sich im Kopf zusammen. […] Was wird die Lilie in zwei gleichzeitig laufenden Sprachen? Eine Frauennase in einem Männergesicht […]. Man sieht in ihr mehr als in der einsprachigen Lilie. Von einer Sprache zur anderen passieren Verwandlungen. Die Sicht der Muttersprache stellt sich dem anders Geschauten der fremden Sprache.«13

In der Betonung dieses ›Mehrwertes‹ von Mehrsprachigkeit wird bei Müller auch ganz konkret Sprache von ihrem Kommunikationsprimat befreit und Schrift

11 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/Main 1997, S. 76. 12 Vgl. Jacques Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese, München 2003. 13 Herta Müller: Der König verneigt sich und tötet, Frankfurt/Main 2003, S. 25.

118 | E STHER K ILCHMANN

zum Spiel freigesetzt. Dies ist an den in Kapitalen gesetzten veränderten Artikeln von »Lilie« ebenso zu verfolgen wie an dem aus dieser Sprachverschiebung generierten Bild der »Frauennase in einem Männergesicht«. Bereits Jacques Derrida hat in der Grammatologie darauf verwiesen, dass die graphische Poesie – also eine Literatur, die in erhöhter Form Poetizität erzeugt – in entscheidender Form die Erkenntnis ermöglicht hat, dass Schrift mehr als eine getreue Repräsentation mündlicher Sprache darstellt und ihren eigenen Bewegungsmustern gehorcht.14 Korrespondierend dazu können auch mehrsprachige Literaturverfahren als Freisetzung von Sprache und Schrift aus der als »natürlich« verstandenen Ordnung des Monolingualismus gelesen werden. Nach Derrida wird gerade durch die Erkenntnis, dass nichts außerhalb des Diskurses stehe, auch die Sprache selbst »aus den Fugen gerissen und entwurzelt«15. Dabei werde sie im Moment der absoluten Ausdehnung ihrer Bedeutung »auf ihre eigene Endlichkeit«16 zurückgeworfen, auf »Bewegung«17 und Spiel: »Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme, welches die Sprache konstituiert. […] Die Heraufkunft der Schrift ist die Heraufkunft des Spiels; heute kommt das Spiel zu sich selbst, indem es […] alle vom Spiel noch nicht erfaßten Schlupfwinkel aufstöbert und alle Festen schleift, die bis dahin den Bereich der Sprache kontrolliert haben.«18

Zielt Derrida hier auf historisch-metaphysische Größen (wie ›Wahrheit‹), so verschieben die mehrsprachigen Texte ihren Fokus auf Sprach- und Textordnungen selbst (Einsprachigkeit/Muttersprache/Nationalsprache) als kontrollierende und beschränkende Ordnungsinstanzen. Sie gilt es im Spiel der Signifikanten zu »schleifen«. Wenn also heute von der Gegenwartsliteratur ein avantgardistisches Spiel neu aufgelegt wird, so ist das keine bloße epigonale Wiederholung der Frage nach Bedeutung und Arbitrarität, Primat oder Sekundarität von Signifikanten oder Demontage von vermeintlich außerhalb des Diskurses stehenden Kontrollinstanzen. Es erhält gerade durch die Mischung der Sprachen einen neuen Akzent: Ziel sind nicht die vermeintlich extralingualen »Festen« und Kontrollposten, sondern eine der fundamentalen Textordnungen der Moderne, die nor-

14 Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt/Main 1983, S. 167. 15 Ebd., S. 16. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 17. 18 Ebd., S. 17f.

D AS AUSSTELLEN DER S CHRIFT … | 119

mierte Einsprachigkeit.19 Der Komparatist Ottmar Ette hat angesichts dieser »Literaturen ohne festen Wohnsitz« in einer Nation oder Sprache dazu aufgefordert, das in der Literatur gespeicherte Moment der Bewegung zu erkennen. Ins Zentrum literaturwissenschaftlicher Untersuchungen könnte so das »ständig[e] und unabschließbar[e] Springe[n] zwischen Orten und Zeiten, Gesellschaften und Kulturen«20 und die davon ausgehende Dynamisierung statischer Konzepte rücken, Ziel wäre eine »Poetik der Bewegung«21. In diesem Sinne interessieren hier mehrsprachige Verfahren als Bewegungen zwischen Sprachen, durch die Bewegung in herkömmliche Sprachordnungen und -konzepte gerät. Gleichzeitig handelt es sich dabei um Verfahren, in denen das Arbeitsmaterial der Literatur – die Sprache und Schrift – befragt wird und in denen es somit nicht zuletzt um Fragen der Materialität und der poetischen Zirkulationswege und -regeln von Buchstaben geht. Mit anderen Worten ist die »Poetik der Bewegung« nicht nur hinsichtlich der Themengestaltung, sondern auch der Form zentral.

Y OKO T AWADA : Ü BER - SETZEN

NACH

B ABEL

Der 2002 erschienene Band Überseezungen der deutsch-japanischen Autorin Yoko Tawada kreist um eine Vielzahl von Übersetzungs- und Transferszenarien. Das Jetzt der Erzählungen ist die globalisierte Welt und ihre komplex vernetzten Reise- und Kommunikationswege. Deck- und Schlussblatt des Bandes zeigen auf blauem Grund einzelne, sich teilweise überlagernde Buchstaben und Zeichen und nutzen so auch die materiellen Randbereiche des Buches, um dessen Schreibprogramm zu veranschaulichen: Die Konstruktion von Geschichten aus einem vorgegebenen Zeichenrepertoire, das einerseits zu sinngebenden Narrativen zusammengesetzt werden kann, in dem sich diese andererseits aber auch immer wieder auflösen. In Überseezungen sind die Figuren permanent in Bewegung zwischen Ländern und Kontinenten, Sprache wird in Gestalt von Briefen und E-Mails verschickt, sowohl vollständig als auch unvollständig übersetzt und gesprochen. Tawada fokussiert dabei gerade auch die möglichen Störungen in den scheinbar universal funktionierenden Konvertierungsvorgängen. Problemati-

19 Zur Erforschung von Monolingualismus als kulturelle Normierung vgl. T. P. Bonfiglio: Mother Tongues (s. Anm. 7); Till Dembeck/Liesbeth Minnard (Hg.): Challenging the Myth of Monolingualism, Amsterdam [im Druck]. 20 Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin 2005, S. 14. 21 Ebd., S. 18.

120 | E STHER K ILCHMANN

siert werden als automatisch gedachte und so meist übersehene Übersetzungsbewegungen, so wie jene von gesprochener Sprache in Schrift oder von Zahl in Schrift beim computerbasierten Schreiben. Gerade in diesen Störfällen tritt ein »Materialüberschuss der Sprachen«22 und Schriften zu Tage, der als Einbruch von Poetizität in die Idee einer funktionalistischen Konvertierbarkeit und Übersetzbarkeit gelesen werden kann: Sei es, dass plötzlich die graphische Gestalt eines Buchstabens als unübersetzbare ins Zentrum tritt, es bei der computergestützten Umwandlung alphabetischer Zeichen in Ideogramme zu Fehlern kommt oder im transatlantischen E-Mail-Verkehr Buchstaben und Zeichen verschwinden oder unlesbar werden.23 Die Autorin nutzt das Aufeinanderprallen verschiedener Sprachen und Schriftsysteme, um daraus ihr Erzählen zu entfalten, komische Missverständnisse und neue poetische Ausdrücke gleichermaßen zu entwerfen: »Auch ›bin‹ ist ein schönes Wort. Im Japanischen gibt es auch das Wort ›bin‹, das klingt genau gleich und bedeutet ›eine Flasche‹. Wenn ich mit den beiden Wörtern ›ich bin‹ eine Geschichte zu erzählen beginne, öffnet sich ein Raum, das Ich ist ein Pinselansatz und die Flasche ist leer.«24

Gerade in diesem Beispiel wird anschaulich, wie aus dem Überschreiten von Sprachgrenzen, die auch die Produktion von Literatur mitbestimmen, Kreativität entsteht: Die Autorin erlaubt sich hier, mit einem deutschen Wort einen homophonen japanischen Signifikanten zu assoziieren und so »falsche Freunde« zusammenzustellen. Aus dem Übersetzungsfehler wird ein Textkompositionsprinzip, die translinguale Operation eröffnet einen neuen »Raum« für das Schreiben. Das Augenmerk liegt dabei auf der signifikanten Seite des Zeichens, hier setzen Tawadas Texte mit Verschiebungen und Neukombinationen an, wobei die Erzeugung von Bedeutung als sekundär, dem Spiel der Zeichen folgend, erscheint. Entlang dieser Konzentration auf die materielle, die signifikante Seite der Spra-

22 Yoko Tawada: Überseezungen, Tübingen 2002, S. 105. 23 Zum Stellenwert von Materialität und Autonomie der Schrift im Schreiben Tawadas vgl. Hansjörg Bay: »A und O. Kafka – Tawada«, in: Christine Ivanovic (Hg.), Yoko Tawada. Poetik der Transformation, Tübingen 2010, S. 149-169; Christine Ivanovic: »Objekt O/□? Beckett, Kleist, Tawada«, in: Etudes Germaniques 65 (2010), S. 583607; Sigrid Weigel: »Suche nach dem E-mail für japanische Geister. Yoko Tawadas Poetik am Übergang differenter Schriftsysteme«, in: Ortrud Gutjahr (Hg.), Yoko Tawada. Fremde Wasser, Tübingen 2012, S. 127-143. 24 Y. Tawada: Überseezungen (s. Anm. 22), S. 57.

D AS AUSSTELLEN DER S CHRIFT … | 121

che gestaltet Tawada auch ihre Übersetzungsszenarien. Wie nun an der Erzählung »Die Botin« deutlich werden soll, können diese durchaus auch als kritischer Beitrag zum translational turn gelesen werden, geht es doch um die Kartierung kultureller und sprachlich determinierter Zwischenräume. »Die Botin« entwirft ein Übersetzungsexperiment zwischen Deutsch und Japanisch ebenso wie Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Am Beginn steht ein Gespräch zweier Freundinnen, bei dem gleich die für Überseezungen charakteristische Technik der Entfremdung und Entautomatisierung durch translinguale Konstellierungen deutlich wird: »Ich hörte, du fährst nach Heidelberg, sagte Mika. […] Heidelberg, was für ein seltsamer Name, ›del‹ heißt auf japanisch ›auftauchen‹, also bedeutet ›Heidelberg‹ der Berg, auf dem ein Hai auftaucht«25. In der Folge gibt die in Japan lebende Mika ihrer nach Deutschland reisenden Freundin Kayako eine mündliche Botschaft für ihren ehemaligen Musik-Professor mit, der mittlerweile taub und blind ist, also nur noch über das direkt gesprochene Wort zu erreichen. Ein zusätzliches Kommunikationshindernis ist, dass Kayako nur Japanisch spricht. Mika schreibt ihr zur Gedächtnisstütze also Ideogramme auf, deren japanische Aussprache den deutschen Wörtern ähnelt: Das Zeichen für »Lotus« etwa, das »Has(u)« ausgesprochen werde: »Ja, der ›Hass‹ bedeutet auf deutsch Abscheu, aber das musst du nicht wissen. Du merkst dir das Zeichen, das ›Lotus‹ bedeutet, und sprichst es auf Japanisch aus. Du spürst auf deiner Zunge dann die Lotusblüte, während in die Ohren des Zuhörers der ›Hass‹ hineindringt.«26 Der Text unternimmt den spielerischen Versuch, die Signifikanten, das Lautbild, überzusetzen, anstatt eine inhaltliche Botschaft zu übersetzen.27 Da dies aber mithilfe eines Notationssystems geschieht, wird dabei auch gleichsam Deutsch mit Ideogrammen geschrieben.28 Der Inhalt der Botschaft bleibt auf diese Weise sowohl für die nicht deutsch sprechende Botin als auch die deutschsprachigen Leser verschlüsselt. Das Briefgeheimnis wird gewahrt, das zeigt sich am Schluss der Erzählung, der statt einer Aufschlüsselung eine weitere Verklausulierung der Botschaft präsentiert:

25 Ebd., S. 44. 26 Ebd., S. 49. 27 S.a.: Julia Genz: »Yoko Tawadas Poetik des Übersetzens am Beispiel von Überseezungen«, in: Etudes Germaniques 65 (2010), S. 467-482. 28 Der Ansatz wird in der »Mischschrift des Mondes« weiterverfolgt, in: Yoko Tawada: Abenteuer der deutschen Grammatik, Tübingen 2010, S. 41.

122 | E STHER K ILCHMANN »Mikas Botschaft lautete folgendermaßen: ein faden der schlange neu befestigte küste welche schule welche richtung der brunnen des jahres wurde zweimal gemalt das bild brechen und hinuntersteigen durch das reisfeld siehst du etwas wie eine weisheits-wurzel im gesicht [...]«29

Am Schluss des Übersetzungsexperimentes steht also ein unsinniger Text, in dem höchstens ein poetischer Effekt zu beobachten ist, wie er auch in automatischen oder surrealen Texten erzeugt werden könnte.30 Dabei bleibt unklar, ob es sich dabei um die konventionelle Übersetzung der von Mika aufgezeichneten Ideogramme ins Deutsche handelt, einen von Kayako missverständlich wiedergegebenen Text oder einen unvollständig verstandenen. Bemerkenswert ist, dass hier gerade in einer interkulturell angelegten Konstellation und Literatur, der oft eine Übersetzungs- und Vermittlungsfunktion bescheinigt wird, Inkompatibilitäten von Übertragung ins Zentrum gestellt werden. Ausgerechnet mehrsprachig operierende Literatur scheint dort misstrauisch zu sein, wo konventionellerweise ein Übergang zwischen den Einzelsprachen möglich ist: in der Übersetzung. Ins Zentrum gerückt werden im translingualen Szenario Momente des Unübersetzbaren und der durch Übersetzung generierten Missverständnisse, erinnert wird an die sprachlichen Zeichen eignende Opazität, die in Szenerie der Konvertierbarkeit von Sprachen in automatisierten Übersetzungsprozessen keinen Platz hat. Damit wird hier in der Literatur bereits eingelöst, was Bachmann-Medick als Desiderat einer kulturwissenschaftlichen Übersetzungsforschung formuliert: »Hingegen könnte es anregender und realitätsnaher sein, auch die Brüchigkeiten und Differenzen in der Übersetzungsdynamik stärker als bisher zu beleuchten.«31 Es ließe sich auch so formulieren: Ehe die Theorie noch die Höhe des translational turns erreicht hat, hat die Literatur (auch) hier schon den Hang der Sprache zum return nach Babel aufgespürt. Während in der Kulturwissenschaft nach »pragmatisch-methodischen Annäherungen an Interkulturalitätsszenarien« gesucht wird, die »schon längst nicht mehr auf dem Hauptgleis des linguistic turn«32 laufen, wird hier im Moment der Übersetzung emphatisch die Intransparenz des sprachlichen Zeichens herausgehoben.

29 Y. Tawada: Überseezungen (s. Anm. 22), S. 49. 30 Zu Anleihen Tawadas an diese Verfahren vgl. Miho Matsunaga: »Zum Konzept eines ›automatischen‹ Schreibens bei Yoko Tawada«, in: Etudes Germaniques 65 (2010), S. 445-454. 31 D. Bachmann-Medick: Cultural Turns (s. Anm. 2), S. 254. 32 Ebd., S. 41.

D AS AUSSTELLEN DER S CHRIFT … | 123

U RS ALLEMANN UND H EIKE F IEDLER : GEDICHTEN TUTET THE WHITE «

» OUT

OF THE

Auch der Schweizer Lyriker Urs Allemann nutzt in seinem neuen Gedichtband IN SEPPS WELT gedichte und ähnliche dinge das Prinzip der Übersetzung, um über Dinghaftigkeit und Materialität der Sprache(n) nachzudenken. Die praktizierte Mehrsprachigkeit legt den Fokus dabei allerdings weniger auf interkulturelle Szenarien, denn auf die Frage der Vielheit und Beweglichkeit in allen Sprachen und in Sprache überhaupt. Auch in diesem auf Materialität von Sprache zielenden Band wird bereits die graphische Gestaltung des Covers genutzt, um das Schreibprogramm zu veranschaulichen: Der Haupttitel setzt sich aus Buchstaben auseinander, die ihrerseits als untereinander nicht verbundene Luftballone zu erkennen sind, die vor dem Papier zu schweben scheinen – auch hier also eine Schrift, die sich nur zufällig und momentweise zu erkennbaren Wörtern bzw. Syntax zusammengefunden hat und das Medium des Drucks, mit optischer Täuschung spielend, bereits zu verlassen scheint. Allemanns Gedichte selbst arbeiten mit anagrammatischen Verfahren, Lautgedichten und Sprachmischung, hinzu kommen Texte in der erfundenen Sprache Thölg. Gleichzeitig hat Allemanns Ausloten von Poetizität als Materialität der Sprache und Schrift immer auch eine explizit intertextuelle Dimension: Der Band stellt »Ersatzgedichte« zusammen, sprachspielerische Neubearbeitungen oder Übersetzungen kanonischer deutschsprachiger Gedichte. Ein Appendix nennt die Vorlagen für die jeweiligen Texte. So wird die Sammlung von einer »Babelisierung« von Matthias Claudius’ »Abendlied« eröffnet, dem »gedichtsong«: »the gedicht ist aufgetutet. the golden / gedichtlein tuten at the gedicht, hölle! / and, clearly, the gedicht tutet noch and tutet and / out of the gedichten tutet the white: ge- / deiht mir, akkulösli!«33 Neben der Abweichung von der standardsprachlichen monolingualen Norm wird als zweites Merkmal von Poetizität die Abweichung vom Kanon genutzt und somit auch dieser in Bewegung gebracht und vervielfältigt.34 Leitmotivisch sind alle Gedichte von einem »tuten« durchzogen, das als ein gemeinsamer Geräuschhintergrund zu beschreiben ist, vor dem sich einzelne Texte herausschälen und in den sie bei ihrer Demontage wieder eingehen; »tut in das deadgefletschte

33 Urs Allemann: IN SEPPS WELT gedichte und ähnliche dinge, Wien 2013, S. 5. 34 Auch gegenüber poetischen Traditionen muss Literatur abweichen, um den Effekt der Poetizität erzielen zu können, wie insbesondere Jan Mukařovský betonte: Jan Mukařovský: »Standard Language and Poetic Language«, in: Paul Garvin (Hg.), A Prague School Reader on Esthetics, Literary Structure, and Style, selected and translated from the original Czech by Paul Garvin, Georgetown 1974, S. 17-30, hier S. 21f.

124 | E STHER K ILCHMANN

gedicht«35. Zuvor aber löst sich die Einheit des einsprachigen Artefaktes in verschiedene Sprachen auf. Im oben zitierten Beispiel »gedichtsong« sind es englische Versatzstücke, an lyrics erinnernd, die sich in das kanonisierte Schlaflied mischen, hierin »tutet« das Gedicht noch, bis es letztlich nur noch das Geräusch selbst und der weiße Schreibuntergrund sind, die vom Gedicht übrigbleiben; als maximales »foregrounding of the utterance«36 ließe sich das mit Mukařovský bezeichnen. Allemanns Gedichte durchkreuzen einen monolingualen Standard, indem sie mit poetischen Abweichungen von der Standardsprache, lautpoetischen Verfremdungsmitteln und Abweichung von der literarischen Tradition arbeiten und so einen return nach Babel, zur Intransparenz und Verwirrung anzeigen. Dabei werden auch Allemanns frühere intertextuelle Vorgehen radikalisiert: Wurden in Im Kinde schwirren die Ahnen (2008) die Umschreibungen von HölderlinGedichten ihren Anfangsbuchstaben nach von A bis Z geordnet und so durch die Ordnung des Alphabets zusammengehalten, so ist ein solcher Rahmen hier nicht mehr zu erkennen. IN SEPPS WELT inszeniert den Übergang des Gedichts ins Geräusch mit Zwischenstationen über Sprachmischung, ungeordnete Laut- und Buchstabenreihung. Dass diese Zerschreibung von Sinn und gewohnten literarischen bzw. sprachlichen Gebilden wesentlich im Spannungsfeld von Ein- und Mehrsprachigkeit sowie der Übersetzung stattfindet, zeigt insbesondere der Zyklus »idchtöne aös thölg«. Ein vorgestellter Brief des Autors an den Verleger gibt diese als Werk »meines Kollegen Örs Allgmann« aus, »einer der ganz wenigen Autoren […], die heute noch auf Thölgsch schreiben.«37 Angewandt wird hier demnach das bekannte Verfahren von Autorfiktion und Kunstsprache. Bemerkenswert ist an der Konstruktion, dass sie eine Hervorhebung der Schrift als dichterisches Medium mit sich bringt. Das gewählte Fiktionalisierungsmuster steht demnach im Dienst einer Erzeugung von Poetizität. So schreibt Allemann, dass er auf Allgmann wohl nur wegen seines Namens aufmerksam geworden sei, »der mich irgendwie an meinen eigenen erinnert hat. Bloß zwei Buchstaben Differenz: Wenn man Lyriker ist, reicht so was manchmal, um einen neugierig zu machen.«38 Der Fokus wird so auf die Schriftlichkeit, die Buchstaben, als Material des Dichters gelegt, was sowohl durch den Hinweis auf den vermutlich aus-

35 U. Allemann: SEPPS WELT (s. Anm. 33), S. 9. 36 J. Mukařovský: Standard Language (s. Anm. 34), S. 19. 37 U. Allemann: SEPPS WELT (s. Anm. 33), S. 25. 38 Ebd.

D AS AUSSTELLEN DER S CHRIFT … | 125

schließlich kunstsprachlichen Charakter von Thölg unterstrichen wird39 als auch durch die Anmerkung, dass die Sprache »für uns fast unaussprechbar«40 sei, verweigere sie sich doch wegen des Mangels an Vokalen einer Übersetzung ins Mündliche. Die »idchtöne aös thölg« sind dann auch »Übersetzungen« deutscher Texte in ein verfremdendes Schriftbild: »j.w. euthg: nachtegiankgn: göch bgiaör dch, önelücksgleg stgrng«41 lautet die kaum mehr lesbare Übertragung von Goethes »Nachtgedanken«. Dass der Poesie-Performer Allemann außerdem darauf hinweist, dass die Gedichte »nicht nur gedruckt, sondern auch laut gelesen«42 werden sollen, steht nur vermeintlich im Widerspruch zur Ausstellung der Schrift. Handelt es sich doch dabei bereits um eine gleichsam sekundäre Mündlichkeit, die nicht der »natürlichen« Standardsprache verpflichtet ist, sondern Schrift ins Medium der Stimme übersetzt und so neben der Buchstabenverschiebung eine weitere Dimension des ›Freisetzens‹ von Schrift und der damit verbundenen Durchkreuzung der monolingualen Norm vollzieht. Ähnlich zielt auch Heike Fiedler mithilfe von Sprachmischung und -hybridisierung auf Materialität und Eigensinn der Schrift ab. Langues de meehr heißt der Band, in dem die ebenfalls intermedial arbeitende und mit Performances auftretende Gegenwartslyrikerin aus explizit mehrsprachiger Perspektive an Traditionen von Lautgedichten und visueller Poesie anschließt. Ganz bildlich wird

39 »Heute neigen fast alle Forscher zur Ansicht, Thölgsch sei seit jeher eine ausschliesslich von Poeten zu poetischen Zwecken genutzte Kunstsprache gewesen.« Ebd. 40 Ebd., S. 26. 41 Ebd., S. 28. 42 Ebd., S. 26.

126 | E STHER K ILCHMANN

Heike Fiedler: Langues de meehr, S. 26f. und 34f.

hier etwa vorgeführt, wie in der Überlagerung von Sprachen nur noch deren Materialität, nicht aber signifikate Funktion mehr erkannt werden kann. Demonstriert wird, wie Überschreibungen Unlesbarkeiten erzeugen, wenn die Wörter aus der linearen Anordnungsnorm gelöst werden. Die Schrift reduziert sich dabei auf graphische Striche und Bögen, deren Anordnung nicht mehr entziffert werden kann. Korrespondierend zu diesen visuellen Überlagerungen tritt in »Streugedicht« das Spiel der Sprachen als Bewegung der Bündelung und Auflösung von Sinn hervor: »we would like if tu quieres pourquoi. как быӆо бы what about all i am. bin so confused would really like to do ne peux pas. wieso denn nicht, we have to go. непрямая дороrа. don’t go нет don’t.«43 Das Gedicht inszeniert eine Kommunikation, in der versucht wird, zu einem Konsens zu kommen, was momentan gelingt (»yes it is really, réellement vrai.« / »eben ist doch alles gut. ja. sure. Всё.«44), dann aber wieder von der Materialität der Zeichen durchkreuzt wird und in babelschen Szenarien scheitert: »здесь ist doch confusion. als ausdruck cada«45. Der Rückgriff auf die Sprach- und Schriftmischung kann hier als ein stilistischer Kunstgriff gesehen werden, das Verfehlen von Kommunikation zu veranschaulichen. Sprachkritisch wird darauf hingewiesen, dass die Worte die Dinge nie zu fassen bekommen und die kommunikative Funktion von Sprache durch deren poetischen Eigenwert immer wieder durchkreuzt wird. In Szene gesetzt – und poetisch genutzt – wird somit die babylonische Kondition der Sprachen, dass sie nach dem Verlust der Transparenz im Abfall von der Ursprache 43 Heike Fiedler: Langues de meehr, Luzern 2010, S. 138. 44 Ebd. 45 Ebd.

D AS AUSSTELLEN DER S CHRIFT … | 127

lediglich ihre Opazität gemeinsam haben.46 Im auf »Streugedicht« folgenden Text »Ankunftszeit (extrait de nouvelle)« überträgt Fiedler das Verfahren der Auflösung von Sinnzusammenhängen durch Verfremdung, Abweichung und Vervielfältigung auf das Schriftbild und lässt dabei die vermeintlich »eine« Sprache, Deutsch, in die ihr inhärente Heterogenität in Gestalt von Buchstaben zerfallen: »Ein Text, beim Lesen ter o W tfragm te f el n. N r ar ei T xt k n Körp r us F lisch un lu , w s rein Text überhaupt.«47 Sowohl Fiedler als auch Allemann nutzen Sprachmischung als ein Mittel der Sprachkritik und gleichzeitig der Freisetzung von Lauten und Buchstaben aus der monolingualen, linear angeordneten Sprachnorm, wodurch Poetizität erzeugt wird. Sie öffnen damit »mehrsprachige Literatur« über ihre biographischtopographische Bindung hinaus, indem sie Mehrsprachigkeit als eine der Sprache und den Sprachen selbst inhärente Bewegung denken. Des Weiteren verhandeln beide Autoren die Frage der sprachlichen Materialität in einer Weise, die an die Grenzen des Mediums des Buches führt. Mitgedacht ist bei den gedruckten Sprachkunstwerken bereits eine Übersetzbarkeit in Lese-Performances und die Mischung mit Musik. Gleichzeitig spielt aber insbesondere bei Heike Fiedler auch die digitale Erzeugung von Schrift in die Textproduktion hinein. So ist es offensichtlich, dass das Auftauchen anderer Alphabet- oder Schriftsysteme dem Schreibinstrument selbst, dem Computer, zu verdanken ist. Hat bereits Friedrich A. Kittler am Beispiel der experimentellen Poesie zu Beginn des 20. Jahrhunderts gezeigt, dass neue Schreib-Maschinen auch neue Sprach- bzw. Schriftinszenierungen mit sich bringen,48 so ist dieser Aspekt auch für die gegenwärtige Konjunktur v.a. misch-schriftlicher Verfahren nicht zu unterschätzen.

J ÖRG P IRINGER UND DES UNICODES

J EAN -P IERRE B ALPES : D AS B ABEL

Radikalisiert wird die Freisetzung der Schrift und die »Poetik der Bewegung« in der digitalen Poesie und damit verwandter Medienkunst. Im neuen Medium gerät

46 Vgl.: »Alle Sprachen, die wir kennen, sprechen wir jetzt nur auf dem Hintergrund der verlorenen Ähnlichkeit.« M. Foucault: Ordnung (s. Anm. 11), S. 67. 47 H. Fiedler: Langues de meehr (s. Anm. 43), S. 139. 48 Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995, S. 266.

128 | E STHER K ILCHMANN

die Schrift buchstäblich in Bewegung.49 Emblematisch geschieht dies in Johannes Auers »worm applepie for döhl« von 1997, in dem Reinhard Döhls visuelles Gedicht »Apfel« von 1965 im digitalen Medium nachgestaltet wird: Die Buchstabenfolge W-u-r-m kriecht nun aus dem Apfel und frisst diesen allmählich auf; die Wurm-Buchstaben werden dabei immer größer, der Apfel wird gelöscht.50 Das Beispiel macht deutlich, dass die digitale Poesie, deren Ursprünge im Kontext der konkreten Poesie liegen,51 zunächst die Befragung von Zeichenlogiken, Bedeutungsgenerierung und medialen Bedingungen von Schrift weiterführt.52 Eine grundsätzliche Erkenntnis ist dabei, dass die der Schrift zugesprochene Eigenschaft des »Feststehenden« nicht ihr selbst, sondern ihrem traditionellen Trägermedium – Stein, Pergament, Papier – geschuldet sei, wie Christiane Heibach ausführt. In der Transformation ins digitale Medium, wo sie nun elektronisch generiert werde, werde sie hingegen so beweglich, aber auch so ephemer, wie ihr neuer Träger, wobei sich auch die Frage nach ihrer »Materialität« und Repräsentationsfunktion neu stelle.53 Gleichzeitig verändert dies aber auch die Funktionsweise der Schrift. Sobald sich diese »nicht nur in der philosophischen Konstruktion der Poststrukturalisten, sondern auf der materiellen Ebene von ihrer Fixierung löst, wird sie zu einer Performance, bei der […] Rekursivität der Prozesse mit wechselndem Dateninput die Transformation beeinflußt und diese nicht mehr in der Interpretationsleistung, sondern in der tatsächlichen Austauschbarkeit von Wortkombinationen liegt.«54 Friedrich Block zieht daraus den Schluss, dass es in der digitalen Poesie »um die Erprobung technischer Möglich-

49 Vgl. Janez Strehovec: »Alphabet on the Move. Digital Poetry and the Realm of Language«, in: Roberto Simanowski/Jörgen Schäfer/Peter Gendolla (Hg.), Reading Moving Letters. Digital Literature in Research and Teaching. A Handbook, Bielefeld 2010, S. 207-230, hier S. 207. 50 Vgl. http://auer.netzliteratur.net/worm/applepie.htm vom 1. Oktober 2013. 51 Für einen umfassenden aktuellen Überblick über die Netzliteratur aus dem deutschsprachigen Raum vgl. Beat Suter: »Von Theo Lutz zur Netzliteratur. Die Entwicklung der deutschsprachigen elektronischen Literatur« (2012), http://www.netzliteratur.net vom 1. Oktober 2013. 52 Vgl. Friedrich W. Block: »Acht Finger digitaler Poesie«, http://www.dichtungdigital.mewi.unibas.ch/2001/10/17-Block/index.htm, S. 2 vom 1. Oktober 2013. 53 Christiane Heibach: »Texttransformation – Lesertransformation. Veränderungspotentiale der digitalisierten Schrift«, http://www.dichtung-digital.mewi.uni-bas.ch/2000 /Heibach/30Mai/index.htm vom 1. Oktober 2013. 54 Ebd., S. 4.

D AS AUSSTELLEN DER S CHRIFT … | 129

keiten und Bedingungen unter literarischen Vorzeichen [geht].«55 Umgekehrt ließe sich auch formulieren: um die Erprobung literarischer Möglichkeiten und Bedingungen unter technischen Vorzeichen. In einer digital erzeugten Sprache und damit einhergehenden Effekten von Poetizität wird die Grenze zwischen Poesie, laut-visuellen Performances und Medienkunst fließend. Die nicht länger an Papier und Druck gebundene Schrift ist auch in dieser Hinsicht frei, sich über Grenzen hinwegzusetzen.56 Fundamental verändert ist hingegen im neuen Medium die Text- und Schreibstruktur. Im Unterschied zur gedruckten Poesie besteht die digitale aus einer »doppelten Textstruktur«, in der die konventionell-schriftlich verfassten Texte als Oberflächenerscheinung aufgrund der Programmierung erzeugt werden, die wiederum in der Metasprache der Codes erfolgt.57 Der Autor digitaler Poesie muss dabei eigentlich doppelt und in verschiedenen Sprachsystemen schreiben können. Dies trifft auf den Wiener Künstler-Informatiker Jörg Piringer zu, der digitale Poesie, Klanginstallationen und elektronische Musik entwirft, die in Installation und Performances präsentiert werden. Piringer nennt einerseits (sprach-)experimentelle Autoren wie H.C. Artmann als Bezugspunkte, macht aber auch klar, dass die Entwicklung der entsprechenden Software integrativer Bestandteil des Werkes ist.58 Techné und poesis werden dabei auf spezifische Weise wieder enggeführt. Viele von Piringers audiovisuellen Arbeiten verweisen gleichzeitig selbstreflexiv auf diese Doppelstruktur, wodurch sie bereits ein Kreisen um ihr Material auszeichnet. Gestaltet werden intermediale Überset-

55 F. W. Block: Acht Finger (s. Anm. 52), S. 4. 56 Vgl. dazu: Claudia Benthien: »The Literariness of New Media Art – A Case for Expanding the Domain of Literary Studies«, in: Journal of Literary Theory 6,2 (2012), S. 311326. 57 Vgl. Saskia Reither: »Poesiemaschinen oder Schreiben zwischen Zufall und Programm«, in: Davide Giuriato/Martin Stingelin/Sandro Zanetti (Hg.), »System ohne General«. Schreibszenen im digitalen Zeitalter, München 2006, S. 131-148. Sowie Beat Suter: »Das Neue Schreiben. Vom widerstandslosen Umstellen von Buchstaben bis zum ›fluktuierenden Konkreatisieren‹«, in: ebd., S. 167-189. 58 Vgl. Cara Wuchold: »Von nerdigen Dichtern und dichtenden Nerds – Poesie und digitale

Medien«,

http://www.netzliteratur.net/wuchold/Digitale_Poe-sie_Cara_Wuch

old.pdf, S. 19 vom 8. Oktober 2013.

130 | E STHER K ILCHMANN

zungsszenarien,59 bewegte Schriftbilder, Kombinationen von Buchstaben, symbolischen Zeichen und Lauten. In diesem Kontext besonders interessant sind »unicode infinite«60, eine TextVideo-Installation, und »abcdefghijklmnopqrstuvwxyz«, eine »electronic visual sound poetry performance«61. Beide Werke inszenieren die Poetizität von Zeichen und fragen dabei gleichzeitig nach literarischen Gestaltungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund umfassender technischer Konvertierbarkeiten von einzelnen Sprachen und Schriftsystemen. »abcdefghijklmnopqrstuvwxyz« wird von Piringer als eine Erweiterung herkömmlicher visuell- und lautpoetischer Entwürfe beschrieben. In der audiovisuellen Performance werden auf stimmlichen Input hin Buchstaben erzeugt, die sich dann, akustisch begleitet von ihren Phonemen, autonom über den Bildschirm bewegen. Dabei entsteht ein sich ständig neu formierendes Laut- und Textbild, einzelne Buchstaben und Phoneme gruppieren und überlagern sich zu akustischen Kombinationen und graphischen Anordnungen, um sich dann wieder aufzulösen. »abcdefghijklmnopqrstuvwxyz« versteht sich als »work in progress«, komplementär zur Performance hat Piringer mittlerweile auch eine App gleichen Namens entwickelt, mit der Nutzer selbst spielerisch sound poems entstehen lassen können.62 »abcdefghijklmnopqrstuvwxyz« holt eine dichterische Form ins digitale Medium, die mit Graphemen und Lauten arbeitet, und setzt sich gleichzeitig mit der Faszination auseinander, die aus der gleichzeitigen Beschränktheit des literarischen Materials – der einzelnen Buchstaben – und der unüberschaubaren Vielfalt ihrer Kombinationsmöglichkeiten resultiert. Poesie erscheint so auf der visuellen Ebene von »abcdefghijklmnopqrstuvwxyz« ganz im Sinne Roland Barthes’ als eine »Rückkehr zum Buchstaben«, jener Einheit, die einerseits die Sprache, »die gesamte geschriebene Sprache, im bleiernen Korsett seiner […] sechsundzwanzig Buchstaben [›hält‹], und diese sind selbst wieder nur eine Kombination von einigen Gera-

59 So werden in der audiovisual installation text2haydn auf twitter gepostete Texte zu Joseph Haydn in dessen Musik übersetzt, indem jeder Buchstabe in einen korrespondierenden Laut aus einer Oper übertragen wird. 60 http://joerg.piringer.net/index.php?href=installation/unicodeinfinite.xml vom 8. Oktober 2013. 61 http://joerg.piringer.net/index.php?href=performance/abcdefghijklmnopqrstuvwxyz.x ml&mtitle=abcdefghijklmnopqrstuvwxyz vom 8. Oktober 2013. 62 Vgl. http://joerg.piringer.net/index.php?href=abcdefg/abcdefg.xml vom 8. Oktober 2013.

D AS AUSSTELLEN DER S CHRIFT … | 131 den und einigen Bögen; andererseits aber liefert er den Ausgangspunkt für eine Bilderwelt, weitgespannt wie eine Kosmographie«63.

Dies hat selbst dort seine Bedeutung noch nicht verloren, wo der Buchstabe nicht mehr »bleiern«, sondern als Oberflächenerscheinung flüchtig und Resultat von code-works ist. Freilich scheint sich dabei zu zeigen, dass Buchstaben und Laute dadurch zunehmend von ihrer Funktion als Sinnträger freigesetzt werden können und hauptsächlich in ihrer poetischen und ästhetischen Dimension interessieren. In »unicode infinite« werden die Glyphen des unicode standard animiert. Es handelt sich also um eine poetische Auseinandersetzung mit dem Unternehmen, für alle Buchstaben und Zeichen weltweit gebräuchlicher Schriftsysteme einen standardisierten Code zu erarbeiten, um sie einheitlich digitalisieren zu können. Ziel ist mithin eine international einheitliche Codierung und somit Kompatibilität der Zeichen. Mit anderen Worten will die Arbeit des unicode-Consortiums das Problem der verschiedenen Einzelsprachen auf der Ebene von deren digitaler Hervorbringung lösen. Wurden Buchstaben und Zeichen in verschiedenen Ländern zunächst auch aufgrund verschiedener Codes digitalisiert, mit dem Ergebnis von Übersetzungsschwierigkeiten und Inkompatibilitäten zwischen den Ländern, so will Unicode dieses Problem ausräumen: »Unicode provides a unique number for every character, no matter what the platform, no matter what the program, no matter what the language. […] It allows data to be transported through many different systems without corruption.«64 Auf diese Weise begreift sich das gigantische Übersetzungs- und Vereinheitlichungsunternehmen als Beitrag zu internationaler Vernetzung, Austausch und Verteilung geschriebener Texte unter Ausräumung von basalen Verständigungsproblemen. Während hier sowohl die auf der Oberfläche erzeugten Zeichen als auch die Codes, die zu ihrer Hervorbringung geschrieben werden müssen, vollkommen in den Dienst der Datenvermittlung gestellt werden, mithin nur als Informationsträger fungieren, interessiert Piringer auch hier die materielle Dimension. In »unicode infinite« werden insgesamt 49571 Zeichen in rascher Reihenfolge einzeln – immer ein Zeichen pro frame – abgespielt.65 Durch die sehr rasch aufeinanderfolgenden Sequenzen werden Überblendungs- und Bewegungseffekte zwischen den Zeichen erzielt,

63 Roland Barthes: »Der Geist des Buchstabens«, in: ders.: Kritische Essays, Bd. 3: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Aus d. Franz. von Dieter Hornig, Frankfurt/Main 1990, S. 105-109, hier S. 105. 64 http://www.unicode.org/standard/WhatIsUnicode.html vom 30. Oktober 2013. 65 Vgl. http://joerg.piringer.net/index.php?href=installation/unicodeinfinite.xml vom 8. Oktober 2013.

132 | E STHER K ILCHMANN

eine Choreographie entsteht, in der die einzelnen Zeichen fließend ineinander überzugehen scheinen. Tatsächlich erzielt Piringer diesen Effekt, weil er die Abfolge der Buchstaben und Zeichen über optische Ähnlichkeit festgelegt hat, die wiederum durch einen automatischen Erkennungsprozess berechnet wurde. In ihrer Präsentation sind die einzelnen Buchstaben und Zeichen so nicht länger primär nach ihrer Zugehörigkeit zu Schriftsystemen und einzelnen natürlichen Sprachen geordnet. Vielmehr werden die kleinsten Bestandteile verschiedener Schriftsysteme entlang einer im engeren Sinne nicht-linguistischen Komponente – optischer Ähnlichkeit – neu vernetzt und so eine neue Ordnung entworfen, die quer zur linguistischen Ordnung der Sprachen liegt und nach ästhetischpoetischen Gesichtspunkten funktioniert. Gleichzeitig mit der Verschiebung auf die Materialität der Zeichen und ihre graphische Gestaltung wird auch in einem Unternehmen, das Buchstaben auf ihre Sinnträgerschaft und Übertragbarkeit reduziert, ein poetisches Potential aufgespürt, ein gleichsam babelscher Rest auch in der Sprachgrenzen überwindenden Universalsprache digitaler Codes. Explizit mit der mythischen Urszene der Sprachen unter dem Horizont der Digitalisierung setzt sich die Installation Babel Poesie von Jean-Pierre Balpes auseinander. Der französische Schriftsteller und Medienwissenschaftler schuf diese mehrsprachige »Poesiemaschine« 2004 für die Ausstellung p0es1s. Digitale Poesie in Berlin.66 Aufgrund eines bestimmten Wörterreservoirs werden hier auf Input des Betrachters hin auf dem Bildschirm jeweils einmalige Texte generiert. Sprachmischung erscheint dabei als ein Oberflächenphänomen, generiert durch die unterliegenden Codes, ihr Grad kann vom Betrachter auf einer Skala variiert werden (bspw. zwischen »besonders französisch« und »besonders deutsch«). Dem Ausstellungskommentar zufolge schreibt Babel Poesie so »Poesie für Neue Europäer, die immer mit einer ganzen Reihe von Sprachen zu tun haben, ohne auch nur eine von ihnen richtig zu sprechen. Man hat es hier mit einer Poesie der Trash-Sprache, des Wortmülls, der Chaosrede und zugleich mit einer neuen Poesie zu tun, die mit grenzenlosem Textfluss arbeitet und auf einen assoziativen und endlosen Prozess hin konzipiert ist. Jean-Pierre Balpes Poesiemaschinen […] zielen auf eine dynamische Poesie […], […] die weniger die technischen Mittel als vielmehr sich selbst als Poesie der Poesie ausstellt.«67

66 Vgl. den Katalog zur Ausstellung: Friedrich W. Block/Christiane Helbach/Karin Wenz (Hg.): pOes1s. Ästhetik digitaler Poesie, Ostfildern-Ruit 2004. 67 http://www.p0es1s.net/de/projects/jean_pierre_balpe.html vom 7. Oktober 2013. Zu einer Besprechung von Babel Poesie im Kontext von Balpes Schaffen und mit Schwer-

D AS AUSSTELLEN DER S CHRIFT … | 133

Deutlich wird hier, dass es Babel Poesie nicht um Nachbildung oder Entwürfe von Mehrsprachigkeit im konventionellen Sinne (also das Beherrschen mehrerer Sprachen und die damit oft verbundene Hoffnung auf erhöhte interkulturelle Kommunikationskompetenz) geht, sondern um die Inszenierung von Signifikanten, die in der Mischung der Sprachen aus übergreifenden konventionellen Sinnzusammenhängen befreit und neu zusammengesetzt, zu poetischen Effekten verdichtet werden. Dabei verweist Balpe allerdings gerade auch explizit auf die »technischen Mittel«, die dieses Sprachspiel erst zu generieren vermögen. Das Kunstwerk zielt diesbezüglich auf Transparenz ab, indem neben den generierten Texten auch »abwechselnd unterschiedliche Code-Wörter auf dem Bildschirm [gezeigt werden], die abwechselnd auf das dem Generator zugrundeliegende Wörterreservoir oder das Code-Regelwerk verweisen.«68 Deutlich wird dadurch, dass die auf dem Bildschirm erscheinende Schrift nur sekundärer Effekt eines darunter liegenden Programmes (einer Programmschrift) ist. Der Bezug zu ›Babel‹ besteht also nicht nur darin, dass immer neue Gedichtkombinationen in verschiedenen Sprachen realisiert werden, sondern dass dies aufgrund einer für alle Sprachen gültigen Metasprache geschieht. Wir haben hiermit eine übergreifende Einheitsprogrammiersprache oder vielmehr -schrift, die festlegt, wie die »natürlichen« Sprachen erzeugt werden, die aber hinter diesen verborgen bleibt und nur bruchstückhaft vor den Augen des Betrachters erscheint. Vor dem Hintergrund dieser funktionierenden und kontrollierenden (künstlichen) Universalsprache scheint aber der Hauptzweck der einzelnen (natürlichen) Sprachen nicht mehr in ihrer kommunikativen Funktion zu bestehen. Vielmehr scheinen sie auf ihre poetische, auf das Spiel der Schrift, zurückgeworfen zu werden. Gleichzeitig gilt allerdings auch für die Programmsprache selbst, dass ihre Zeichen, sobald sie auf dem Bildschirm auftauchen, ebenfalls in ihrer poetischen Dimension wahrgenommen werden.

Z USAMMENFASSUNG In diesem Beitrag wurde die Frage verfolgt, wie im gegenwärtigen Literaturschaffen sich wandelnde Text- und Sprachordnungen verhandelt und poetisch gestaltet werden. Im Zentrum standen mehrsprachige Schreibverfahren, wobei hier sonst getrennt untersuchte Gruppen – biographisch hergeleitete und experi-

punkt auf die Frage der Interaktivität des Kunstwerkes vgl. S. Reither: Poesiemaschinen oder Schreiben (s. Anm. 57), S. 138-140. 68 Ebd., S. 140.

134 | E STHER K ILCHMANN

mentell begründete – zusammengeführt wurden. Alle weichen vom monolingualen Standard ab und unterlaufen dadurch zunächst die nationalsprachliche Begrenzung von Literatur bzw. die Vorstellung eines ausschließlich muttersprachlichen Schreibens. Gleichzeitig wird ein einheitliches Erscheinungsbild von Sprache aber auch dadurch durchkreuzt, dass Schrift nicht linear angeordnet wird oder (ermöglicht durch die Digitalisierung) nicht mehr feststehend ist. Mehrsprachige Literatur reflektiert ihr Arbeitsmaterial Schrift also sowohl vor dem Hintergrund aktueller transkultureller und -lingualer Bewegungen als auch medialer Umbrüche. Dabei inszenieren die Texte gerade vor dem Hintergrund von Übersetzungs- und Konvertierungsbewegungen, aus denen sie selbst auch hervorgehen, den Eigensinn von Sprache. Sie stellen so nach den umfassenden Deutungsparadigmen der cultural turns und vor dem Horizont globaler kommunikativer Vereinheitlichungs- und Übertragbarkeitsbestrebungen erneut die Frage nach der Poetizität.

L ITERATUR Allemann, Urs: IN SEPPS WELT gedichte und ähnliche dinge, Wien 2013. Amodeo, Immacolata/Hörner, Heidrun (Hg.): Zu Hause in der Welt: Topographien einer grenzüberschreitenden Literatur, Sulzbach 2010. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006. Barthes, Roland: »Der Geist des Buchstabens«, in: ders.: Kritische Essays, Bd. 3: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Aus d. Franz. von Dieter Hornig, Frankfurt/Main 1990, S. 105-109. Bay, Hansjörg: »A und O. Kafka – Tawada«, in: Christine Ivanovic (Hg.), Yoko Tawada. Poetik der Transformation, Tübingen 2010, S. 149-169. Benthien, Claudia: »The Literariness of New Media Art – A Case for Expanding the Domain of Literary Studies«, in: Journal of Literary Theory 6,2 (2012), S. 311-326. Block, Friedrich W./Helbach, Christiane/Wenz, Karin (Hg.): pOes1s. Ästhetik digitaler Poesie, Ostfildern-Ruit 2004. Block, Friedrich W.: »Acht Finger digitaler Poesie«, http://www.dichtungdigital.mewi.unibas.ch/2001/10/17-Block/index.htm, S. 2 vom 1. Oktober 2013. Bonfiglio, Thomas Paul: Mother Tongues and Nations. The Invention of the Native Speaker, New York 2010. Chiellino, Carmine: Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch, Stuttgart 2000.

D AS AUSSTELLEN DER S CHRIFT … | 135

Dembeck, Till/Minnard, Liesbeth (Hg.): Challenging the Myth of Monolingualism, Amsterdam [im Druck]. Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt/Main 1983. Derrida, Jacques: Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese, München 2003. Ette, Ottmar: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin 2005. Fiedler, Heike: Langues de meehr, Luzern 2010. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/Main 1997. Genz, Julia: »Yoko Tawadas Poetik des Übersetzens am Beispiel von Überseezungen«, in: Etudes Germaniques 65 (2010), S. 467-482. Heibach, Christiane: »Texttransformation – Lesertransformation. Veränderungspotentiale der digitalisierten Schrift«, http://www.dichtung-digital.mewi.uni bas.ch/2000/Heibach/30-Mai/index.htm vom 1. Oktober 2013. Ivanovic, Christine: »Objekt O/□? Beckett, Kleist, Tawada«, in: Etudes Germaniques 65 (2010), S. 583-607. Jakobson, Roman: »Was ist Poesie«, in: Elma Holenstein/Tarcisius Schelbert (Hg.), Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt/Main 1979, S. 67-82. Kilchmann, Esther: »Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur. Zur Einführung«, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, Themenheft Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur 2 (2012), S. 11-17. Kilchmann, Esther: »Poetik des fremden Wortes. Techniken und Topoi heterolingualer Gegenwartsliteratur«, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, Themenheft Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur 2 (2012), S. 109-129. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995. Kremnitz, Georg: Mehrsprachigkeit in der Literatur: wie Autoren ihre Sprachen wählen; aus der Sicht der Soziologie der Kommunikation, Wien 2004. Matsunaga, Miho: »Zum Konzept eines ›automatischen‹ Schreibens bei Yoko Tawada«, in: Etudes Germaniques 65 (2010), S. 445-454. Mukařovský, Jan: »Standard Language and Poetic Language«, in: Paul Garvin (Hg.), A Prague School Reader on Esthetics, Literary Structure, and Style, selected and translated from the original Czech by Paul Garvin, Georgetown 1974, S. 17-30. Müller, Herta: Der König verneigt sich und tötet, Frankfurt/Main 2003. Rakusa, Ilma: Zur Sprache gehen. Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen, Dresden 2005.

136 | E STHER K ILCHMANN

Reither, Saskia: »Poesiemaschinen oder Schreiben zwischen Zufall und Programm«, in: Davide Giuriato/Martin Stingelin/Sandro Zanetti (Hg.), »System ohne General«. Schreibszenen im digitalen Zeitalter, München 2006, S. 131148. Schmeling, Manfred/Schmitz-Emans, Monika (Hg.): Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, Würzburg 2002. Sieburg, Heinz: »Die deutsche Sprache als interkulturelles Konstrukt«, in: Dieter Heimböckel/Irmgard Honef-Becker/Georg Mein u.a. (Hg.), Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaft, München 2010, S. 349-359. Steiner, George: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens, Frankfurt/Main 2004. Strehovec, Janez: »Alphabet on the Move. Digital Poetry and the Realm of Language«, in: Roberto Simanowski/Jörgen Schäfer/Peter Gendolla (Hg.), Reading Moving Letters. Digital Literature in Research and Teaching. A Handbook, Bielefeld 2010, S. 207-230. Sturm-Trigonakis, Elke: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur, Würzburg 2007. Suter, Beat: »Das Neue Schreiben. Vom widerstandslosen Umstellen von Buchstaben bis zum ›fluktuierenden Konkreatisieren‹«, in: Davide Giuriato/Martin Stingelin/Sandro Zanetti (Hg.), »System ohne General«. Schreibszenen im digitalen Zeitalter, München 2006, S. 167-189. Suter, Beat: »Von Theo Lutz zur Netzliteratur. Die Entwicklung der deutschsprachigen elektronischen Literatur« (2012), http://www.netzliteratur.net vom 1. Oktober 2013. Tawada, Yoko: Verwandlungen. Tübinger Poetik-Vorlesungen, Tübingen 1998. Tawada, Yoko: Überseezungen. Literarische Essays, Tübingen 2002. Tawada, Yoko: Abenteuer der deutschen Grammatik, Tübingen 2010. Weigel, Sigrid: »Suche nach dem E-mail für japanische Geister. Yoko Tawadas Poetik am Übergang differenter Schriftsysteme«, in: Ortrud Gutjahr (Hg.), Yoko Tawada. Fremde Wasser, Tübingen 2012, S. 127-143. Winko, Simone: »Auf der Suche nach der Weltformel: Literarizität und Poetizität in der neueren literaturtheoretischen Diskussion«, in: dies./Fotis Jannidis/Gerhard Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin, New York 2009, S. 374-396. Wuchold, Cara: »Von nerdigen Dichtern und dichtenden Nerds – Poesie und digitale Medien«, http://www.netzliteratur.net/wuchold/Digitale_Poesie_Cara_ Wuchold.pdf, S. 19 vom 8. Oktober 2013.

D AS AUSSTELLEN DER S CHRIFT … | 137

Yildiz, Yasemin: Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition, New York 2012. http://auer.netzliteratur.net/worm/applepie.htm vom 1. Oktober 2013. http://joerg.piringer.net/index.php?href=abcdefg/abcdefg.xml vom 8. Oktober 2013. http://joerg.piringer.net/index.php?href=installation/unicodeinfinite.xml vom 8. Oktober 2013. http://joerg.piringer.net/index.php?href=installation/unicodeinfinite.xml vom 8. Oktober 2013. http://joerg.piringer.net/index.php?href=performance/abcdefghijklmnopqrstuvwx yz.xml&mtitle=abcdefghijklmnopqrstuvwxyz vom 8. Oktober 2013. http://www.p0es1s.net/de/projects/jean_pierre_balpe.html vom 7. Oktober 2013. http://www.unicode.org/standard/WhatIsUnicode.html vom 30. Oktober 2013.

Zurück in die Zukunft? Die Literaturwissenschaft und ihr ›Material‹ T HOMAS W ORTMANN »To everything – turn, turn, turn, There is a season – turn, turn, turn, And a time to every purpose under heaven.« PETE SEEGER/THE BYRDS

K EINER

SCHREIBT MEHR



Im Sommer 2012 findet in Polen und der Ukraine die Fußball-Europameisterschaft statt. Das Turnier wird von einer breiten Berichterstattung in den Medien begleitet, bei der sich auch die BildZeitung in gewohnter Weise engagiert. Vor dem Viertelfinale der DFB-Auswahl gegen die Nationalmannschaft Griechenlands etwa titelt sie, bezugnehmend auf die Finanzkrise und die damit einhergehenden Diskussionen um den EuroRettungsschirm: »Tschüss Griechen! Heute können wir euch nicht retten.«1 Vor diesem Hintergrund ist es umso überraschender, dass am Tag vor dem Halbfinale des Turniers, das immerhin den Klassiker 1

Bild-Zeitung vom 22.6.2012.

140 | THOMAS WORTMANN

Deutschland-Italien bietet, gerade nicht König Fußball die Titelseite der Bild beherrscht, sondern der drohende Untergang einer Kulturtechnik: »Alarm!«, so ist dort am 27. Juni 2012 zu lesen, »Die Handschrift stirbt aus!«.2 Was war geschehen? Rekurriert wird auf den Befund einer englischen Studie, laut der jeder dritte Erwachsene seit einem halben Jahr nicht mehr mit der Hand geschrieben habe. »Im Schnitt«, so heißt es weiter, »haben die Befragten seit 41 Tagen keinen Stift mehr zur Hand genommen«.3 Weitere Befunde der Untersuchung: Ein Drittel der Befragten gibt an, die eigene Handschrift nur mit Problemen lesen zu können, mehr als die Hälfte erklären, sich für ihr Handgeschriebenes zu schämen. Als Grund für das Verschwinden der Handschrift aus dem Alltag wird die Dominanz digitaler Medien angeführt: Die Grußkarte sei von der SMS oder der MMS abgelöst worden, die E-Mail wiederum habe den Brief als schriftliche Kommunikationsform nahezu vollkommen ersetzt; entsprechend verschwinde die Handschrift aus dem Leben der meisten Menschen und rücke in den Bereich des Nostalgischen. Als letzte Domänen des Handgeschriebenen blieben (vorläufig) nur noch Prüfungen an Schulen oder Universitäten – und schließlich das ohne Notar nur in handschriftlicher Ausführung rechtsgültige Testament.4 BildKolumnist Franz Josef Wagner skizziert in seinem als ›Brief an die Handschrift‹ formulierten Kommentar zu dieser Entwicklung geistesgeschichtliche Traditionslinien und bemüht dabei kein geringes Maß an Pathos: »Liebe Handschrift, wie wäre das Leben ohne Dich? Wenn die Handschrift stirbt, wird unsere Welt arm und kalt. Weil das Herz, das die Hand führt, kalt wird. Die Hand zitterte, wenn das Herz erregt war. Die Handschrift kann mehr erzählen, als ein gedruckter SMSBuchstabe. Goethe, Schiller schrieben mit der Hand. Der Papst schreibt mit der Hand.«5

Wagners für das Titelblatt zuständigen Kolleginnen und Kollegen fassen es ebenso pessimistisch, aber kürzer: »Es stirbt ein Stück Kultur«, so lautet ihr Fazit. Um den Leserinnen und Lesern der Bild zu beweisen, »wie schön und sinn-

2

Bild-Zeitung vom 27.6.2012.

3

J. Weise/A. Albert: »Handschrift stirbt aus!«, in: Bild-Zeitung vom 27.6.2012. Dass die zitierte Studie von einem britischen Online-Schreibwarenhandel in Auftrag gegeben wurde und entsprechend durchaus mit einer Agenda versehen war, wird im Artikel nicht erwähnt.

4

Vgl. Georg Rüschemeyer: »Schreibschrift, ade?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung

5

Franz Josef Wagner: »Post von Wagner«, in: Bild-Zeitung vom 27.6.2012.

vom 24.8.2010.

D IE LITERATURWISSENSCHAFT UND IHR ›M ATERIAL‹ | 141

lich die gute alte Handschrift ist«, sind – das ist die Erklärung für das außergewöhnliche Aussehen der Titelseite – die Schlagzeilen des Tages aus den handschriftlichen Aufzeichnungen unterschiedlicher Redakteure zusammengesetzt worden.



ABER ALLE REDEN DARÜBER !

Mit ihrer Sorge um das Schicksal der Handschrift in Zeiten einer fortschreitenden Digitalisierung der Kommunikation partizipiert die Bild-Zeitung an einem Diskurs, der in den letzten Jahren in verschiedenen Kontexten einige Prominenz erlangt hat. Ein Beispiel dafür ist die Debatte um die Entscheidung des Hamburger Senats, in den Grundschulen des Stadtstaates als Alternative zur Schulausgangsschrift die vom Grundschulverband propagierte, sich an der Druckschrift orientierende »Grundschrift« einzuführen. Die daraus resultierende Frage, ob das Erlernen einer sich durch verbundene Buchstaben auszeichnenden Schreibschrift (die oftmals mit der Handschrift per se gleichgesetzt wird) heute überhaupt noch sinnvoll ist, wurde nicht nur in pädagogischen Fachkreisen kontrovers diskutiert, sondern auch in den Feuilletons der großen Tageszeitungen: Während die einen dort das Erlernen der Schreibschrift als Überbleibsel einer Zeit sehen, in der Lesen und Schreiben als zwei voneinander getrennt zu erlernende Kompetenzen verstanden wurden und die Schreibschrift – als Kalligraphie – nur noch im Kunstunterricht verortet sehen wollen,6 sprechen die anderen vom bedauernswerten »Verschwinden eines Kulturgutes«7 mit weitreichenden Folgen: Schülerinnen und Schüler seien ohne Schreibschrift nicht mehr in der Lage, ein dezidiert eigenes Schriftbild und eine flüssige Handschrift zu entwickeln,8 außerdem werde durch den Verzicht auf das Erlernen der Schreibschrift die Feinmotorik und die Konzentrationsfähigkeit der Kinder nicht mehr ausreichend gefördert.9

6

Vgl. Julia Koch: »Abschied vom Schleifen-s«, in: Der Spiegel vom 3.1.2011. Vgl. ebenso: Heinz Grasmück: »›Die Freude am Schreiben erhalten‹« [Interview], in: taz vom 4.7.2011.

7

Heike Schmoll: »Politische Handschriften. Druckschrift statt Schreibschrift«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.8.2011.

8

Vgl. Florentine Fritzen: »Handschrift. Jetzt mach aber mal einen Punkt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.6.2007.

9

Vgl. Ute Andresen: »Die Handschrift ist unersetzbar. Plädoyer einer Schreiblehrerin«, in: taz vom 5.10.2010; dies.: »Einführung der Grundschrift. Keine pädagogischen In-

142 | THOMAS WORTMANN

Universitär ist die Kulturtechnik des Schreibens im Allgemeinen wie die Handschrift im Speziellen inzwischen nicht nur als Gegenstand literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung etabliert,10 sondern – als »geisteswissenschaftliches Schlüsselthema«11 – auch institutionell verankert: Zu nennen ist beispielsweise das von Martin Stingelin geleitete Projekt »Schreibszenen«, in dem von 2001 bis 2007 zahlreiche Studien zur Geneaologie des Schreibens, zur Instrumentalität und Körperlichkeit des Schreibaktes entstanden;12 seit 2008 widmet sich das Berliner Graduiertenkolleg »Schriftbildlichkeit« unter der Federführung von Sybille Krämer der Materialität, Wahrnehmbarkeit und Operativität von Notationen und zielt dabei auf einen Perspektivenwechsel »von einem phonographisch-sprachzentrierten hin zu einem ikonographischlautsprachenneutralen Schriftkonzept«.13 Unter dem Titel »Schrift als Index« bildet dabei – neben Syllo- und Logographien, Formeln, Musik- und Tanznotationen, Diagrammen und Sortierungen, um nur einige der in diesem Zusammenhang in den Blick genommenen Phänomene zu nennen – die Handschrift einen,

teressen«, in: taz vom 6.4.2011; Tina Halberschmidt: »Die Handschrift – vom Aussterben bedroht?«, in: Handelsblatt vom 27.6.2012; Angelika Dietrich: »Mit Schwung, aber lesbar!«, in: Die Zeit vom 28.3.2011; Susanne Gaschke: »Jetzt ist mal gut mit der Reformiererei«, in: Die Zeit vom 30.6.2011. 10 Eine Sammlung einschlägiger Beiträge zum Thema aus unterschiedlichen Disziplinen liefert: Sandro Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Frankfurt/Main 2012. Mit dem Konzept einer material philology hat die Mediävistik seit den frühen 1990er Jahren ihre interpretierende Auseinandersetzung mit den handschriftlichen Aufzeichnungen literarischer Texte neu konzeptualisiert. Vgl. grundlegend dazu: Stephen G. Nichols: »Why Material Philology?«, in: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte (= Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie 116 [1997]), S. 10-30. 11 Als solches wird die Schrift im Berliner Graduiertenkolleg »Schriftbildlichkeit« bezeichnet. Vgl.: http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/schriftbildlichkeit/kolleg /idee/index.html vom 24. Februar 2014. 12 Abrufbar ist das Forschungsprogramm und eine Übersicht der Publikationen unter: www.schreibszenen.net; die Prämissen des Projektes werden erläutert in: Martin Stingelin: »›Schreiben‹. Einleitung«, in: ders. (Hg.), »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004, S. 721. 13 Zitiert nach: http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/schriftbildlichkeit/kolleg /idee/index.html vom 24. Februar 2014.

D IE LITERATURWISSENSCHAFT UND IHR ›M ATERIAL‹ | 143

interessanterweise erst den an letzter Stelle aufgeführten Forschungsbereich: Dem Kolleg geht es in diesem Zusammenhang, wie es im Programm heißt, »um die Bedeutung handschriftlicher Signaturen als Beglaubigung und Markierung von Singularität, um das Emblematische der Schrift, aber auch um Fragen des ›individuellen‹ Stils, um künstlerische Bild-Schrift-Brüche, um das Graphologische und schließlich um die Hautschrift der Tätowierung.«14

Das der Handschrift hier zugeschriebene Potenzial, Singularität zu markieren und zu beglaubigen, ist für das rezente Interesse an handschriftlichen Aufzeichnungen zentral, wie ein kursorischer Blick auf die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema zeigt. An der Universität Tübingen etwa fand 2012 eine Tagung statt, die unter dem Titel »Diesseits des Virtuellen« nach dem Status des Handgeschriebenen im digitalen Zeitalter fragte. Ausgangspunkt war dabei die Vermutung, »dass die Handschrift, entlastet von einem Gebrauch als fragloser alltäglicher Nutzanwendung, eine mehrdimensionale Aufwertung erfährt. Indem sie sich der Einförmigkeit maschinenschriftlicher Buchstaben widersetzt, macht sie über die bloße Aussage des Geschriebenen hinaus die Materialität des Mediums und den Akt des Schreibens wieder sichtbar. Während etwa Computerschrift den Schreibakt unsichtbar hält, ist es das Versprechen der Handschrift, nicht bloß das Resultat darzubieten, sondern den Schreibakt mitzurepräsentieren. In diesem Sinne ›de-virtualisiert‹ die Handschrift das Medium und mithin die Bedeutungsgebung.«15

Die Veranstalter skizzieren eine klassische Nachträglichkeitskonfiguration: Zum Besonderen kann die Handschrift erst mit ihrem Verschwinden werden, ihre Marginalisierung geht mit einer Nobilitierung einher. So perspektiviert hätte die Digitalisierung der schriftlichen Kommunikation nicht das Aussterben der Handschrift zur Folge, sondern zeitige vielmehr einen Funktionswechsel, in dem das Handgeschriebene eine andere semantische Aufladung erfährt. Der hier gelieferte Blick auf das Schicksal der Handschrift ist also weit weniger skeptisch als derjenige, den die Redakteure der Bild-Zeitung proliferieren.

14 Zitiert nach: http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/schriftbildlichkeit/kolleg /forschungsprogramm/index.html vom 24. Februar 2014. 15 Einzusehen ist das Exposé unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id =199 78 vom 24. Februar 2014.

144 | THOMAS WORTMANN

Neben diesen unterschiedlichen Einschätzungen des Boulevards und Academias zur Zukunft der Handschrift zeigen sich aber auch stupende Parallelen, was die phantasmatische Aufladung des Handgeschriebenen angeht: Über die Implikationen der medialen Zäsur Handschrift/Druckschrift hinaus nämlich wird im Tübinger Exposé mit der ›Sichtbarkeit des Schreibaktes‹ ein Zusammenhang thematisiert, den die Organisatoren mit der Wendung vom ›Versprechen der Handschrift‹ umreißen und der eine interessante Inbezugsetzung ermöglicht: Was hier – im akademischen Vokabular – mit den Begriffen der ›Repräsentation des Schreibaktes‹ und der ›De-Virtualisierung des Mediums und der Bedeutungsgebung‹ beschrieben wird, ist mithin gar nicht so weit entfernt von dem, was die Bild-Zeitung in ihrer Ausgabe die ›Sinnlichkeit der Handschrift‹ nennt und der Kolumnist Wagner in das geradezu empfindsam anmutende Bild überträgt vom Herz, das die Hand führt (und sich somit über diese ausspricht). Anders gesagt: Es geht in beiden Fällen um die Zuschreibung von Individualität, ja von Authentizität,16 die – nolens volens – mit einem Phantasma von Unmittelbarkeit einhergeht.17 Denn spitzt man das im Tübinger Tagungsprogramm Entwickelte zu, so geht der Repräsentationsanspruch des Handgeschriebenen noch über den bloßen Akt der Aufzeichnung hinaus: Schließlich wird nicht nur der Schreibakt selbst durch die Materialität des Geschriebenen (durch Streichungen etwa oder durch Überarbeitungen und Ergänzungen) hinter dem Resultat, dem fertigen Text, sichtbar, ›de-virtualisiert‹ wird auch der oder die Schreibende selbst. Die handschriftlichen Aufzeichnungen ermöglichen so perspektiviert eine besondere Form der ›Präsenz‹ – und es ist kein Zufall, dass Hans-Ulrich Gumbrecht seine spezifische Bestimmung dieses Begriffs (unter anderem) in seinem Buch zur Macht der Philologie entwickelt hat.18 Dieser dem Handgeschriebenen zugewiesene ›Präsenzeffekt‹ aber bildet nicht zuletzt – um einen weiteren Bereich zu nennen, in dem das Thema im letzten Dezennium enorme Popularität erlangt hat – die Grundlage zahlreicher Literaturausstellungen, deren Konjunktur ebenfalls damit erklärt worden ist, dass Manuskripte in Zeiten der ›digitalen Revolution‹ eine »sinnlich-emotional[e]«,

16 Vgl. zur Konjunktur des Authentizitätsbegriffs in den letzten Jahren: Michael Rössner/Heidemarie Uhl (Hg.): Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld 2012. 17 Vgl. Tobias Wilke: Medien der Unmittelbarkeit. Dingkonzepte und Wahrnehmungstechniken 1918-1939, München 2010, in Bezug auf die Schrift vor allem S. 139-150. 18 Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten, Frankfurt/Main 2003, S. 44-68.

D IE LITERATURWISSENSCHAFT UND IHR ›M ATERIAL‹ | 145

eine »authentisch[e]« Erfahrung lieferten.19 Und auch das bezieht sich nicht nur auf die spezifische Ästhetik der (in den meisten Fällen nur schwer lesbaren) Handschriften, schließlich ist es diesen musealen Projekten auch immer darum zu tun, dem Besucher – vermittelt über die Textzeugen – die Person eines Autors, einer Autorin über den Blick auf deren handschriftliche Aufzeichnungen näher zu bringen. Wie man nun auch nach allen Debatten über Tod und Wiederkehr des Autors über dieses Konzept eines ›Versprechens der Handschrift‹ denken mag,20 erfolgreich ist es ohne Frage: Galt Literatur, galten Handschriften – mit Ausnahme mittelalterlicher Pracht-Codices – lange Zeit als überaus unattraktiv für Museen, so gab es in den letzten fünfzehn Jahren einen wahren Boom von Ausstellungen, in denen literarische und wissenschaftliche Manuskripte als Schauobjekte dienten.21 Die zahlreichen, von einem breiten Presseecho begleiteten Projekte des Literaturmuseums der Moderne in Marbach sind dafür nur die prominentesten Beispiele.22

T EXT –

PHILOLOGISCH , GENETISCH

In der Germanistik steht die Beschäftigung mit handschriftlich überlieferten Texten am Beginn ihrer Geschichte als (zunächst mediävistisch orientierter) universitärer Disziplin – entsprechend hat das Interesse an der Handschrift bis heute einen festen Ort im Fach: die Editionsphilologie. Es scheint also vermessen, von einem ›neuen‹ Interesse der Literaturwissenschaft an ihrem ›Material‹ zu sprechen. Auffallend ist aber – das gilt beispielsweise auch für die beiden oben genannten Forschungsgruppen zur Schreibszene und zur Schriftbildlichkeit –, dass

19 Jochen Grywatsch: »Entwürfe werden aus Entwürfen reif, oder: Droste anders ausstellen«, in: ders. (Hg.), Zimmer frei: Zehn museale Entwürfe für Annette von DrosteHülshoff. Neue Wege der Literaturausstellung, Bielefeld 2011, S. 8-35, hier S. 25. Den gegenwärtigen ›Boom‹ von Literaturausstellungen führt Grywatsch auf die »grundlegende Erfahrung […] [der] digitale[n] Revolution« zurück. Ebd., S. 24. 20 Vgl. Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999. 21 Vgl. dazu: Anne Bohnenkamp/Sonja Vandenrath: Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen, Göttingen 2011. 22 Vgl. etwa, um nur eines von zahlreichen Beispielen zu nennen, den Katalog zur Ausstellung Randzeichen, die 2010 in Marbach stattfand: Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hg.): Randzeichnungen. Nebenwege des Schreibens (= Marbacher Magazin 129), Marbach am Neckar 2010.

146 | THOMAS WORTMANN

die rezente Auseinandersetzung mit handschriftlichen Notationen gerade nicht mehr von einem editorischen Interesse geleitet wird: Die Beschäftigung mit der Handschrift hat, auch wenn es um Manuskripte von Autorinnen und Autoren geht, keine Textkonstitution mehr zum Ziel, vielmehr sind es die Materialität und die Ästhetik der Handschrift, die in den Blick der Literaturwissenschaft geraten. Dabei sind es Axiome der unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen turns, die in der Auseinandersetzung mit den Handschriften Relevanz erlangen: In den Fokus rückt die graphische Dimension der Literatur, interpretiert wird das Manuskriptblatt mithin als Bild, das Schrift ›in Szene setzt‹.23 Gefragt wird etwa nach der spezifischen Topographie des Manuskriptblattes, konzeptualisiert wird die Seite als zu füllender, zu gestaltender, ja zu ›erschreibender‹ Raum,24 der Schreibakt selbst wird auf seinen rituellen Charakter hin befragt.25 All das zeigt: Das Interesse der Literaturwissenschaft an ihrem ›Material‹ ist also kein neues, es ist aber ein anderes. Wichtige Impulse dafür hat die französische critique génétique geliefert. Entstanden aus einer Forschungsgruppe, die 1968 von Louis Hay am Centre National de la Recherche Scientifique gegründet wurde, um die Manuskripte Heinrich Heines zu bearbeiten, lenkt die critique génétique – heute institutionalisiert im Institut des textes et manuscrits modernes in Paris – den Fokus auf den Schreibprozess als literaturwissenschaftlichen Gegenstandsbereich und setzt sich forciert mit der Materialität des Geschriebenen auseinander. Ausgangspunkt der Arbeit der généticiens ist die Faszination für das Manuskript, wie Almuth Grésillon, die langjährige Leiterin des Pariser Instituts, erklärt: »Der Textgenetiker entdeckt ein Material, er sieht Schriftträger, meist aus Papier, er nimmt ein Gewirr von Schriftzeichen wahr, er nimmt es in die Hand, er greift nach ihm –

23 Vgl. Davide Giuriato/Stephan Kammer: »Die graphische Dimension der Literatur? Zur Einleitung«, in: dies. (Hg.), Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Handschrift, Frankfurt/Main 2006, S. 7-24. 24 Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: »Schreibräume, Landnahmen. Annette von DrosteHülshoffs Manuskriptblätter«, in: Jochen Grywatsch (Hg.), Raum. Ort. Topographien der Annette von Droste-Hülshoff (= Droste-Jahrbuch 7 [2007-2008]), S. 199-218. 25 Am Beispiel Adalbert Stifters zeigt dies eindrücklich: Walter Hettche: »Die gemischten Zimmer: Ordnung und Chaos in Adalbert Stifters Handschriften«, in: Sabine Becker/Katharina Grätz (Hg.), Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus, Heidelberg 2007, S. 235-260.

D IE LITERATURWISSENSCHAFT UND IHR ›M ATERIAL‹ | 147 und wird von ihm ergriffen. Wieso? Die Handschrift wirkt zunächst nicht als Textträger, sondern vielmehr als Materialität und Symbol.«26

Ziel der Beschäftigung mit den handschriftlichen Aufzeichnungen ist die Rekonstruktion des Schreibprozesses auf Basis des überlieferten Materials, um – so heißt es in Anlehnung an das Kleist’sche Diktum – »Einblicke in das allmähliche Verfertigen von Texten beim Schreiben zu vermitteln«.27 Dazu werden nicht nur sämtliche Entwurfs- und Arbeitshandschriften in den Blick genommen, sondern auch Notizzettel, Zeichnungen oder Anstreichungen in anderen Texten, um daraus einen »avant-texte« herzustellen, den Grésillon als »Gesamtheit aller überlieferten und chronologisch geordneten schriftlichen Zeugen zur Genese eines (vollendeten oder unvollendeten) Werkes« definiert.28 In den Blick rückt das »Beziehungsgeflecht aus allen genetischen Dokumenten«. Verbunden ist mit diesem Zugriff die Kritik an einem »verkrampfte[n] Festhalten am tradierten Werkbegriff«:

26 Almuth Grésillon: »›Critique génétique‹. Handschriften als Zeichen ästhetischer Prozesse«, in: Rainer Falk/Gert Mattenklott (Hg.), Ästhetische Erfahrung und Edition, Tübingen 2007 (= Beihefte zu editio 27), S. 73-86, hier S. 74. 27 Ebd., S. 73. 28 Almuth Grésillon: »Textgenetisches Glossar«, in: dies.: Literarische Handschriften. Einführung in die ›critique génétique‹, Frankfurt/Main u.a. 1998, S. 293-309, hier S. 293. Die Rezeption der Arbeiten der critique génétique hat deshalb in der Germanistik zunächst vorwiegend in der Editionswissenschaft stattgefunden und dort auch grundlegende Kritik erfahren. Neben der Verteidigung tradierter Instrumente (germanistischer) Textedition wie etwa des kritischen Apparates, der große Teile dessen dokumentiere, was hier als »avant-texte« bezeichnet wird, ist der Textbegriff der critique génétique und deren ›idealistische‹ Konzeption des »avant-textes« problematisiert worden. Lässt sich, so fragt beispielsweise Axel Gellhaus, die Entstehung eines poetischen Textes tatsächlich als ein kontinuierlich fixierbarer und fixierter Vorgang fassen? (Vgl. Axel Gellhaus: »Textgenese zwischen Poetologie und Editionstechnik«, in: ders. u.a. (Hg.), Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen, Würzburg 1994, S. 311-326, hier S. 319) Und weiter: »Setzt die Absicht, einen ›avant-texte‹ herzustellen, schließlich nicht voraus, daß man bereits einen hoch entwickelten Begriff von dem Text haben muß, dessen Entstehungszusammenhang man auch nur positivwissenschaftlich dokumentieren will? Und muß sich die Präsentation eines ›avanttexte‹ nicht geradezu durch das vorgängige Textverständnis legitimieren? Dies würde dafür sprechen, daß wir es bei der Herstellung des ›avant-texte‹ keineswegs mit einem nicht bewertenden, nicht-hermeneutischen Vorgang zu tun hätten.« Ebd., S. 319.

148 | THOMAS WORTMANN »Nur das Werk, so heißt es, könne ästhetische Werte vehikulieren, nicht aber das, was die ›critique génétique‹ als ›avant-texte‹ bezeichnet. Ein Brouillon, jenes mit Streichungen und Varianten überladene Stück Papier, das vom Autor selbst bisweilen lieber kaschiert als präsentiert wird, könne zwar eine aufklärende, niemals aber eine ästhetische Funktion besitzen. Dieser Auffassung hält die ›critique génétique‹ entgegen, daß das Werk nicht den einen, abgeschlossenen, vollkommenen Text meint, sondern den gesamten Verschriftungskomplex, der zwar diesen Text mit einschließt, aber daneben auch sämtliche Entwurfs- und Arbeitshandschriften integriert, die diesem Text vorausgehen.«29

Die critique génétique verweist auf das ästhetische Potenzial des Autographen und den prinzipiell offenen Charakter der Handschriften. Ins Zentrum des Interesses rückt damit der Schreibakt in all seinen Varianten – aus einem statischen Zustand wird ein Prozess. Das bedeutet eine prinzipielle Aufwertung des Schreibens, das aus dem »Dienstverhältnis zum Werk« gelöst wird, indem das Werk nunmehr als ein »Durchgangsstadium des Schreibprozesses«30 verstanden wird. Klaus Hurlebusch hat in seinem Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens den Deutungsunterschied zwischen Textphilologen und Textgenetikern mit Hilfe der Begriffe »Poiesis« und »Praxis« zu präzisieren versucht. Für Textphilologen, so erläutert Hurlebusch, ist der Schreibprozess »Poiesis«, also die »zielgerichtete Herstellung eines ablösbaren Werkes«, während Textgenetiker den Schreibakt als »Praxis« verstehen, als ein »Handeln, dessen Zweck von ihm nicht ablösbar ist«.31 Textphilologen sehen den Schreibprozess also primär als Werkhervorbringung, bei dem das Endziel höherrangig ist als die Handlungen, die zu diesem Ziel führen. Textgenetiker wiederum fassen Schreiben als eine Tätigkeit auf, deren Sinn nicht außerhalb ihrer selbst – etwa in einem ›Werk‹ – liegt. Wenn es dabei zu einem fertigen Text kommt, so ist dieser ein »Überbleibsel« des Schreibprozesses, nicht dessen Ziel. Entsprechend diskutiert Grésillon einen modifizierten Begriff von Literatur, der dieser Prozessualität Rechnung trägt. Die Literatur, so Grésillon, »zeigt sich nicht mehr als vollendete, geschlossene Form, sondern als unabschließbarer Akt der Produktion und Rezeption, als ständig in Bewegung bleibende Performance, in

29 A. Grésillon: »Critique génétique« (s. Anm. 26), S. 76. 30 Klaus Hurlebusch: »Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise«, in: Hans Zeller/Gunter Martens (Hg.), Textgenetische Edition, Tübingen 1998 (= Beihefte zu editio 10), S. 7-51, hier S. 11. 31 Ebd., S. 15.

D IE LITERATURWISSENSCHAFT UND IHR ›M ATERIAL‹ | 149 der Autor, Schreibprozesse, Textstufen, Medien und Leseprozesse untrennbar ineinander verwoben sind.«32

Dieser performanztheoretisch aufgeladene, ›fluide‹ Literaturbegriff der critique génétique nun konfligiert – ebenso wie der Verweis auf die Materialität und die Ästhetik der Handschrift – mit einer editorischen Praxis, wie sie in der Germanistik lange Zeit gepflegt wurde. »Das Selbstverständnis der meisten Editionen erschöpft sich in der Erschließung des Materials«33, so konstatiert etwa Bodo Plachta in seiner Einführung in die Editionswissenschaft. Und weiter: »Die Suche nach einer Antwort darauf«, wie das »erarbeitete Variantenmaterial ästhetisch zu bewerten sei«, bliebe in den meisten Fällen vergeblich: »[D]ie Mehrzahl der großen historisch-kritischen Ausgaben […] begegnen einander trotz divergierender Darstellungsweisen in dem Konsens, daß Text und Apparat eine Einheit bilden und daß an einem Endprodukt, dem Edierten Text, weitgehend festgehalten wird«.34 Verpflichtet bleiben diese Arbeiten damit dem, was Gerhard Neumann im Kontext seiner Auseinandersetzung mit den Manuskripten Franz Kafkas mit dem Begriff des »Werkideals« beschrieben hat. »Nach klassischer Auffassung«, so Neumann, »präsentiert sich der Text exklusiv, der Autor autonom, das Werk als zu idealer Gestalt gereift und konturiert. Wenn es im bildungsbürgerlichen 19. Jahrhundert – nach Nietzsches Wort – noch gilt, an einer Textseite wie an einer antiken Bildsäule zu meißeln, so muß, nach Vollendung des Ganzen, der Arbeitsschutt beiseite geräumt werden.«35

Editionsphilologische Anwendung findet dieses Konzept des ›Werkideals‹ in der ›Übersetzung‹ des Handgeschriebenen in die Druckschrift, vor allem aber in der Auslagerung der Varianten (dem ›Arbeitsschutt‹ in Neumanns Terminologie) in einen den Edierten Text flankierenden Apparat, für den in den jeweiligen Editionen unterschiedliche Methoden erarbeitet werden, um das, was von Hand notiert

32 Almuth Grésillon: »›Critique génétique‹. Gedanken zu ihrer Entstehung, Methode und Theorie«, in: Kai Bremer/Uwe Wirth (Hg.), Texte zur modernen Philologie, Stuttgart 2010, S. 287-307, hier S. 305. 33 Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte, Stuttgart 22006, S. 112. 34 Ebd. 35 Gerhard Neumann: »Schreiben und Edieren«, in: Heinrich Bosse/Ursula Renner (Hg.), Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg i. Brsg. 22010, S. 339-364, hier S. 359.

150 | THOMAS WORTMANN

wurde, durch Transkriptionen, durch Kürzel und Siglen satztechnisch aufwendig zu fixieren. Dieses Vorgehen ist in Bezug auf die Frage, wie die Editionsphilologie mit ihrem ›Material‹ umgehen sollte, kontrovers diskutiert worden.36 Problematisiert wurde ein solcher Zugriff auf die handschriftlichen Aufzeichnungen der Texte als »ein Erbe der primär an Sinnerschließung und Wortverstehen interessierten, hermeneutisch orientierten Geisteswissenschaften«,37 das als »reduktionistische ›Vergeistigung‹ des Textbegriffs«38 Kritik erfahren hat. Im Zuge einer durch »postmoderne Theorien ausgelösten Aufmerksamkeitsverschiebung auf die Schrift als Zeichensystem«, so fassen Kai Bremer und Uwe Wirth es zusammen, »ist vielen Philologen bewusst geworden, dass sie es nicht nur mit Worten zu tun haben, die Sinn vermitteln, sondern dass Worte als sinnlich wahrnehmbare Schriftspuren überliefert sind«.39 Beispiele für textphilologische Gegenentwürfe, die dieser Kritik Rechnung tragen, sind etwa die in der Nachfolge von Dietrich E. Sattlers Hölderlin-Ausgabe entstandenen neugermanistischen Editionsprojekte, in denen intensiv von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, Manuskripte als Faksimile abzudrucken und mit einer kritisch kommentierenden ›diplomatischen Umschrift‹ zu versehen, um so die ›Schriftspuren‹ – und deren spezifische Ästhetik – für den Rezipienten sichtbar zu machen. Zu den so verfahrenden Editionen zählen etwa die neueren Ausgaben der Texte Heinrich von Kleists, Gottfried Kellers, Georg Büchners, Arthur Schnitzlers und Franz Kafkas, um nur einige zu nennen.

AD FONTES ! AD FINES ! M ATERIAL P HILOLOGISCHE W ENDE

TURN VS .

Die Frage danach aber, wie dieses erneuerte, dieses ›andere‹ Interesse der Literaturwissenschaft an ihrem Material im Fach selbst bewertet wird, ist nichts anderes als die Frage nach dem ›Interpretieren nach den turns‹. Denn gemeinsam mit

36 Vgl. dazu: Martin Schubert (Hg.): Materialität in der Editionswissenschaft, Berlin 2010 (= Beihefte zu editio 32). 37 Kai Bremer/Uwe Wirth: »Die philologische Frage. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Theoriegeschichte der Philologie«, in: dies. (Hg.), Texte zur modernen Philologie, Stuttgart 2010, S. 7-48, hier S. 22. 38 Ebd., S. 23. 39 Ebd., S. 22.

D IE LITERATURWISSENSCHAFT UND IHR ›M ATERIAL‹ | 151

der breit diskutierten Hausse der Ding-Forschung40 ist die (Wieder-)Entdeckung des ›Materials‹ in den größeren Zusammenhang eines material turns in den Kulturwissenschaften eingeordnet worden.41 Nun hat es an turns in den letzten Jahren nicht gemangelt: Mittlerweile erscheinen gar Nachschlagewerke, die sich den einzelnen Aspekten von performative, spatial und iconic turn – um nur die prominentesten zu nennen – widmen und deren Paradigmen erläutern.42 Dabei ist die kulturwissenschaftliche Erweiterung innerhalb der Germanistik nicht unumstritten: Einher geht mit dem Rekurs auf die unterschiedlichen cultural turns immer auch die Klage darüber, dass die Literaturwissenschaft sich von ihrem ›eigentlichen‹ Arbeitsbereich verabschiede und ihr spezifisch-philologisches Profil in den interdisziplinär arbeitenden Kulturwissenschaften zu verlieren drohe.43 Diskutiert worden ist das an prominenter Stelle – auf dem 26. Germanistischen Symposium der Deutschen Forschungsgemeinschaft – als Frage nach den »Grenzen der Germanistik«, als Frage nach einer Positionsbestimmung der Disziplin zwischen Re-Philologisierung auf der einen und kulturwissenschaftlicher Erweiterung auf der anderen Seite.44 Zwischen diesen beiden Optionen nun bewegt sich auch die Debatte um die Literaturwissenschaft und ihren Fokus auf das ›Material‹. Liest man sich in die zahlreichen Publikationen zum Thema ein, so wird deutlich, dass das Interesse

40 Um nur einige der einschlägigen Publikationen zum Thema zu nennen: Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 32006; Christine Weder: Erschriebene Dinge. Fetisch, Amulett, Talisman um 1800, Freiburg i. Brsg. 2007; Dorothee Kimmich: Lebendige Dinge in der Moderne, Konstanz 2011. 41 Einen konzisen Überblick über das rezente Interesse der Literatur- und Kulturwissenschaften an der Materialität liefern: Sigrid G. Köhler/Martina Wagner-Egelhaaf: »Einleitung: Prima Materia«, in: dies. (Hg.), Prima Materia. Beiträge zur transdisziplinären Materialitätsdebatte, Königstein/Taunus 2004, S. 7-23. 42 Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 42010. 43 Diese umfangreiche Debatte fasst Franziska Schößler in ihrer »Vorbemerkung« zusammen: Franziska Schößler: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung, Tübingen, Basel 2006, S. VII-XII. 44 Vgl. dazu den entsprechenden Tagungsband: Walter Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung?, Stuttgart, Weimar 2004 (= Germanistische Symposien Berichtsbände XXVI). Dabei argumentiert die Mehrzahl der Beitragenden nicht für das eine oder das andere, vielmehr werden beide Optionen als sich ergänzende Kategorien verstanden.

152 | THOMAS WORTMANN

für die handschriftlichen Aufzeichnungen von den einen als ein (weiterer) Beleg für die kulturwissenschaftliche Erweiterung der Germanistik verstanden wird, den anderen aber – und dieser Befund ist doch einigermaßen überraschend – mindestens ebenso sehr als ein Hinweis für die Re-Philologisierung des Faches, für die Besinnung auf die germanistischen Kernkompetenzen und die Abkehr von den Kulturwissenschaften gilt. Während erstere den Fokus auf kulturwissenschaftliche Fragestellungen richten und betonen, dass es Axiome der verschiedenen turns sind, die die (neue) Auseinandersetzungen mit den Manuskripten leiten, verstehen letztere die Beschäftigung mit den Autographen als einen notwendigen Rekurs auf traditionelle, als zentral angesehene Bereiche der Literaturwissenschaft, wie die Textsicherung, -tradierung und -kommentierung, nachdem sich die Literaturwissenschaft in ihrer eigenen Methodenvielfalt verloren habe. Der Fokus auf das ›Material‹ gilt dann als Beleg für die ›Wende‹ der Philologie auf sich selbst – und dass in diesem Fall von einer ›Wende‹ und nicht von einem ›turn‹ gesprochen wird, ist sicherlich eine programmatische Entscheidung.45

D ROSTES M ATERIAL . ALS F ALLSTUDIE

D AS G EISTLICHE J AHR

Am Beispiel von Annette von Droste-Hülshoffs Geistlichem Jahr46 wird im Folgenden zu zeigen sein, dass es gerade der an Paradigmen der kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Germanistik orientierte Blick auf das ›Material‹ (in diesem Fall der Fokus auf die Bildlichkeit der handschriftlichen Aufzeichnungen) ist, der es ermöglicht, gängige, auch durch editionstechnische Entscheidungen geprägte Zuschreibungen an den Text und seine Autorin zu durchkreuzen.47

45 Vgl. Jürgen Paul Schwindt (Hg.): Was ist eine philologische Frage?, Frankfurt/Main 2009. Der Klappentext erklärt: »Ob ›Rephilologisierung‹ oder ›philological turn‹: Voraussetzung für die neue Stärke des philologischen Paradigmas ist die Wende der Philologie auf sich selbst.« 46 Annette von Droste-Hülshoff: Geistliches Jahr in Liedern auf alle Sonn- und Festtage, in: dies.: Historisch-kritische Ausgabe. Werke, Briefwechsel, hg. von Winfried Woesler, Tübingen 1978-2000, Bd. IV,1. Alle Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden mit der Sigle ›HKA‹ nachgewiesen. 47 Vgl. zur folgenden Argumentation: Thomas Wortmann: Literatur als Prozess. Drostes »Geistliches Jahr« als Schreibzyklus, Konstanz 2014.

D IE LITERATURWISSENSCHAFT UND IHR ›M ATERIAL‹ | 153

Doch der Reihe nach: Bei Drostes Geistlichem Jahr handelt es sich um einen Zyklus von 72 Gedichten auf alle Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres, die den jeweiligen Evangelientext zur thematischen Grundlage nehmen. Geschrieben hat Droste-Hülshoff an diesem Text fast ihr ganzes Autorenleben lang. Die ersten Gedichte (von Neujahr bis Ostermontag) notierte sie mit Anfang zwanzig von 1819 bis 1820, dann ruhte die Arbeit am Geistlichen Jahr fast zwanzig Jahre, erst 1839 nahm sie sich den Zyklus wieder vor und ergänzte ihn durch den zweiten Teil, der 1840 vorläufig abgeschlossen wurde und die Gedichte bis zum Silvestertag enthält. In ihren Briefen hat Droste-Hülshoff in den folgenden Jahren oftmals eine Reinschrift des Zyklus angekündigt, tatsächlich aber hat sie den zweiten Teil des Textes immer wieder überarbeitet, immer wieder in den Produktionsprozess überführt, um ihn schließlich unabgeschlossen zu hinterlassen. Die Finalisierung des Geistlichen Jahres war damit Aufgabe der Herausgeber – der Zyklus erwies sich als ›Arbeitsbeschaffungsmaßnahme‹ für Generationen von Editionswissenschaftlern, die sich an den kryptographischen Aufzeichnungen abgearbeitet und das Manuskript als »Kreuz der Droste-Forschung«48 beschrieben haben. Die Forschung hat sich mit dem Geistlichen Jahr lange schwer getan, gemeinhin gilt die Sammlung geistlicher Gedichte – die Peter von Matt einmal pointiert als »Mumie im Biedermeier-Salon«49 bezeichnet hat – als ein programmatischer Text für Annette von Droste-Hülshoffs Schreiben, gelesen wird der Perikopenzyklus als ein konservativ-katholisches Schreibprojekt, ja als ein restaurativer Versuch der Ordnungsstiftung: Der anstürmenden Moderne setze das fromme Adelsfräulein die Sammlung geistlicher Gedichte entgegen, auf das Phänomen erodierender sozialer Strukturen werde mit der Re-Etablierung des Kirchenjahres als überzeitlicher Ordnungsstruktur reagiert.50 Prominentes Bei-

48 Cornelius Schröder: »Zur Textgestaltung des Geistlichen Jahres«, in: Jahrbuch der Droste-Gesellschaft I (1947), S. 111-128, hier S. 111. 49 Peter von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München 42004, S. 206. 50 Im Metzler-Band zu Annette von Droste-Hülshoff erklärt Ronald Schneider, dass die Grundlage des Zyklus die Einsicht bilde, »daß das ganze gegenwärtige Europa dem Teufelswerk der ratio verfallen und dadurch seiner geistigen Orientierung verlustig gegangen« sei. Daraus resultiere für Droste-Hülshoff (und ihr Schreiben) eine Zunahme der Verantwortung des Einzelnen: »An ihn geht der Appell, einzutreten gegen allen Liberalismus und gegen alles aufgeklärte Denken und für eine ›Restauration‹ des unverfälschten christlichen Glaubens und der gottgewollten politisch-gesellschaft-

154 | THOMAS WORTMANN

spiel für diese Lesart ist der Kommentar, der dem Geistlichen Jahr im Rahmen der Historisch-kritischen Ausgabe von Drostes Texten beigefügt wurde: Der opulente, von Winfried Woesler erstellte Dokumentationsband wird durch eine sozial- und kulturhistorische Kontextualisierung eröffnet. »Beide Teile des Geistlichen Jahres«, so heißt es dort, »entstanden zu einer Zeit, die von einer grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche geprägt ist. Die katholische Kirche Westfalens durchlebte damals eine schwere Krise. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sie Einbußen ihrer Macht hinzunehmen. Nach dem Schock der Säkularisation 1802/1803 kam es hier zu einer Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche. Das Geistliche Jahr kann von dieser Entwicklung nicht isoliert gesehen werden. Der ethische Anspruch der Gedichte und die von der Autorin selbst betonte moralisch-didaktische Funktion des Zyklus sind vor dem Hintergrund einer Zeit zu sehen, in der gerade in Westfalen der Verlust des Glaubens als existenzbedrohend aufgefaßt wurde.«51

Woeslers hier vorgenommene historische Einordnung des Geistlichen Jahres ist nicht nur als Hilfestellung für die Leserinnen und Leser der Historisch-kritischen Ausgabe zu verstehen, sondern auch als prominenter Lektürehinweis, ja als Zusammenfassung dessen, was die Droste-Philologie als Programmatik des Zyklus verstanden hat, nämlich seine »moralisch-didaktische Funktion«. Als ein solches Projekt aber kann das Geistliche Jahr nur verstanden werden, wenn man es als einen abgeschlossenen Text, mithin also als ›Werk‹ in den Blick nimmt. Edition und Interpretation bedingen sich wechselseitig, denn diese Konzeptualisierung ist gleichzeitig – das gilt auch für die Historisch-kritische Ausgabe – Grundlage und Ergebnis editorischer Entscheidungen: Gedruckt wird das Geistliche Jahr hier in zwei Bänden, einem Text- und einen Dokumentationsband. In letzterem wird dabei zwar auf die Unabgeschlossenheit des Zyklus verwiesen: »Die endgültige Textgestalt des Geistlichen Jahres kann es nicht geben, weil der Text selbst nicht abgeschlossen ist. Aufgabe der historisch kritischen Ausgabe ist es, dies zu dokumentieren. Der Variantenapparat bleibt Bestandteil des Textes.«52 Im Folgenden aber wird erläutert, warum der Zyklus im Textband trotzdem ohne Varianten gedruckt wird: »Der Vorschlag, eine Neuedition solle unmittelbar in den edierten Text die Alternativvarianten einblenden, würde nicht nur das

lichen Ordnungsstrukturen.« Ronald Schneider: Annette von Droste-Hülshoff, Stuttgart 21995 (= Sammlung Metzler 153), S. 75. 51 HKA IV,2, S. 215. 52 Ebd., S. 311.

D IE LITERATURWISSENSCHAFT UND IHR ›M ATERIAL‹ | 155

Textbild empfindlich stören; angesichts der Varianten in den Varianten würde dies auch zu neuen Problemen führen.«53 Woeslers Entscheidung ist nachvollziehbar. Drostes spezifische Aufzeichnungspraxis ist drucktechnisch praktisch nicht dokumentierbar und ließe sich wahrscheinlich nur in digitaler Form so aufbereiten, dass sie dem Rezipienten die Arbeit mit den Manuskripten ohne weitere Vorkenntnisse ermöglichen würde. Trotzdem: Der Hinweis auf die ›empfindliche Störung des Textbildes‹ ist von Bedeutung, denn mit der gewählten Form der Präsentation, mit der Trennung von Text- und Dokumentationsband bleibt auch die Historisch-kritische Ausgabe letztlich einem Textideal verpflichtet, indem sie an der Erstellung eines Edierten Textes festhält und die Alternativvarianten aus dem Lesetext ausblendet, in den Apparat auslagert. Der Apparat aber bildet immer – darauf hat Neumann verwiesen – ein »exergon oder Parergon«, »ein Etwas ›außerhalb des Werkes‹«.54 Zwar werden die Varianten dort en détail verzeichnet, der separate Textband aber ermöglicht eine Rezeption des Zyklus als vollendetes ›Werk‹. Als solches nun ist das Geistliche Jahr – das zeigt ein Blick in die Forschungsliteratur der vergangenen Jahre – in den meisten Fällen auch gelesen und, wie oben skizziert, als – auch ästhetisch – konservativ-restauratives Schreibprojekt interpretiert worden. Wie könnte ein anderer Blick auf das, was Droste-Hülshoff in den Jahren nach dem vorläufigen Abschluss des Geistlichen Jahres an Textmaterial produziert, aussehen? Tatsächlich stellt das Aussehen des Manuskripts eine Herausforderung dar – lesen lässt sich das auf den Blättern Verzeichnete ohne eine intensive Auseinandersetzung mit Drostes spezifischer Handschrift, mit ihrem idiosynkratischen Verfahren der Textaufzeichnung, -korrektur und -rückkorrektur nicht. Nähert man sich den Blättern allerdings nicht mit dem Anspruch, das darauf Fixierte sofort lesen und entziffern zu wollen, und nimmt vielmehr die ›Bildlichkeit‹ der Handschrift in den Blick, die Art und Weise also, wie Schrift hier in Szene gesetzt wird, so zeigt sich: Der Eindruck, den das Manuskript vermittelt, ist weniger einer der ›Ordnung‹, als vielmehr der Unordnung. Auf den Betrachter wirken die Aufzeichnungen verwirrend, beinahe chaotisch. Geschuldet ist das dem spezifischen Schreibprozess Annette von Droste-Hülshoffs, der sich durch eine nähere Inblicknahme der Blätter rekonstruieren lässt. In einem ersten Arbeitsschritt wird eine nahezu vollständige Version der Gedichte niedergeschrieben; es finden lediglich Sofortkorrekturen von Verschreibungen statt. Das Konzept der Texte scheint bereits vor der ersten schriflichen Fixierung

53 Ebd. 54 G. Neumann: Schreiben und Edieren (s. Anm. 35), S. 343.

156 | THOMAS WORTMANN

Annette von Droste-Hülshoff: Geistliches Jahr Manuskript »H«, Blatt 5, S. 1 Westfälisches Landesmuseum Münster Originalgröße: 300 x 200

D IE LITERATURWISSENSCHAFT UND IHR ›M ATERIAL‹ | 157

weitgehend festzustehen, darauf deutet zumindest die gleichmäßige Verteilung der einzelnen Strophen bei den jeweiligen Gedichten hin. Dann aber setzt der Überarbeitungsprozess ein. Einzelne Worte, aber auch ganze Verse und Strophen werden gestrichen und durch neue ersetzt. An manchen Stellen werden auch diese Ersetzungen getilgt und durch neue Varianten ersetzt. Teilweise werden auch unter, neben oder zwischen andere Textteile neue Strophen eingefügt, bis zunächst klar voneinander getrennte Passagen, aber auch Strophen unterschiedlicher Gedichte ineinander übergehen. Beinahe drängt sich der Eindruck auf, als werde das Blatt Schritt für Schritt ausgeschrieben: Nicht weil korrigiert und erweitert werden muss, wird geschrieben. Korrigiert und erweitert wird, weil noch Platz zur Verfügung steht, der sich füllen lässt, teilweise bis in die letzte Ecke. Drostes Schreiben, die Gestalt der Texte wäre damit einer Poetik der Kontingenz verpflichtet: Ob ein Gedicht noch eine zusätzliche Strophe erhält, ist nicht zuletzt davon abhängig, ob es noch Raum gibt, der mit Schrift zu füllen ist. In ihrem Textband nun dokumentiert die Historisch-kritische Ausgabe diesen Schritt des Arbeitsprozesses nicht, vielmehr ist es jeweils die erste Variante der Gedichte, die abgedruckt wird. Fokussiert wird damit auf einen Teil der Schreibarbeit und zwar auf denjenigen, der der Herstellung eines geschlossenen Textes am nächsten kommt. Der zweite Teil des Schreibprozesses, das Korrigieren und Ergänzen, jener Arbeitsschritt also, mit dem sich der Text von einem Werkideal entfernt, wird zum inferioren Teil des Arbeitsprozesses erklärt und in den Apparat ausgelagert. Dabei ist dieser Teil der Schreibarbeit der bei weitem interessantere, denn neben den Korrekturen und Überarbeitungen wird der Text von Droste mit zahlreichen Alternativvarianten versehen, mit Ergänzungen also, bei denen die vorhergehende Textstufe nicht getilgt wird. Das sorgt dafür, dass der Werkstatus des Geistlichen Jahres problematisch wird, weil die Texte fortwährend Ambivalenzen produzieren. Exemplarisch gezeigt sei dies am Gedicht zum »Zweyten Sonntage im Advent«, an dem sich sehr präzise die unterschiedlichen Schritte des Schreibprozesses – von der ersten Niederschrift über die verschiedene Überarbeitungsphasen – und die Implikationen, die sich daraus ergeben, zeigen lassen. In der Transkription der Historisch-kritischen Ausgabe liest sich das Gedicht folgendermaßen:

158 | THOMAS WORTMANN

Am zweyten Sonntage im Advent Ev.: Vom Zeichen an der Sonne. »Und alsdann werden sie sehen des Menschen Sohn kommen in einer Wolke mit großer Macht und Herrlichkeit. – Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.« Wo bleibst du, Wolke, die den Menschensohn Soll tragen? Seh ich das Morgenroth im Osten schon Nicht leise ragen? Die Dunkel steigen, die Zeit rollt matt und gleich; Ich seh es flimmern, aber bleich ach, bleich! Mein eigenes Sinnen ist es was da quillt Entzündet, Wie auch dem Teiche grün und schlammerfüllt Sich wohl entbindet Ein Flämmchen und vom Schilfgestöhn umwankt Unsicher in dem grauen Dunste schwankt. So muß die allerkühnste Phantasie Ermatten. So in der Mondesscheibe sah ich nie Des Berges Schatten Gewiß ob ein Koloß die Formen zog, Ob eine Thräne mich im Auge trog. So ragt und wälzt sich in der Zukunft Reich Ein Schemen. Mein Sinnen sonder Kraft, Gedanke bleich – Wer will mir nehmen Das Hoffen, was ich in des Herzens Grund So sorgenvoll gehegt zu guter Stund? Gieb dich gefangen, thörichter Verstand! Steig nieder Und zünde an des Glaubens reinen Brand Dein Döchtlein wieder!

D IE LITERATURWISSENSCHAFT UND IHR ›M ATERIAL‹ | 159 Die arme Lampe, deren matter Hauch Verdumpft, erstickt in eignen Qualmes Rauch. Du seltsam rätselhaft Geschöpf aus Thon Mit Kräften, Die leben, wühlen, zischen wie zum Hohn In allen Säften, O bade deinen wüsten Fiebertraum Im einzgen Quell, der ohne Schlamm und Schaum! Wehr ab, stoß fort, was gleich dem frechen Feind Dir sendet Die Macht, so wetterleuchtet und verneint; Und starr gewendet Wie zum Polarstern halt das Eine fest, Sein Wort, sein heilig Wort – und Schach dem Rest! Dann wirst du auf der Wolke deinen Herrn Erkennen, Dann sind Jahrtausende nicht kalt und fern, Und zitternd nennen Darfst Du der Worte Wort, der Liebe Mark, Wenn dem Geheimniß deine Seele stark. Und heute schon, es steht in Gottes Hand, Erschauen Magst du den Heiland in der Seele Brand, Glühndem Vertrauen. Zerfallen mögen Erd und Himmels Höhn, Doch seine Worte werden nicht vergehn.55

Weniger übersichtlich präsentieren sich die insgesamt neun Strophen des Gedichtes zum »Zweyten Sonntage im Advent« in der Entwurfshandschrift »H« des Geistlichen Jahres:

55 Annette von Droste-Hülshoff: »Am zweyten Sonntage im Advent«, in: HKA IV,1, S. 152-153.

160 | THOMAS WORTMANN

Annette von Droste-Hülshoff: »Am zweyten Sonntage im Advent« Manuskript »H«, Blatt 5, S. 2 Westfälisches Landesmuseum Münster

Das Gedicht besteht ursprünglich aus acht Strophen, die als Kolumnen von links nach rechts aufgezeichnet und gleichmäßig auf zwei Zeilen verteilt werden. Von anderen auf dem Blatt verzeichneten Gedichten ist der Text durch Querstriche abgesetzt. Außerdem sind die zweite, sechste und siebte Strophe mit Rahmenlinien versehen worden, die die einzelnen Textpassagen abgrenzen. Die gleichmäßige Verteilung der Strophen auf dem Blatt lässt vermuten, dass die erste Niederschrift – wie oben beschrieben ist dies nicht untypisch für Drostes Schreiben – in einem Zug erfolgt ist. Nach diesem ersten Schreibakt aber beginnt der sich auf dem Papier abspielende Produktionsprozess, die Ordnung, die die Aufzeichnung der Gedichte noch nach der ersten Niederschrift auszeichnet, wird nach und nach zerschrieben.56 Der Überarbeitungsprozess erstreckt sich auf alle Ebenen des Gedichtes. Besonders auffallend ist die Linie, die ausgehend vom Rahmen der zweiten Strophe – sich schließlich auffächernd – in den freien Raum vor der vierten Strophe führt. Gekennzeichnet ist damit eine Umstellung der Strophen: Die ursprünglich zweite Strophe wird (markiert durch Linien) an den Beginn der zweiten Zeile verschoben und damit zur vierten Strophe. Entsprechend ändert sich die ursprüngliche Gliederung und die weiteren Strophen rücken auf: So wird die dritte Strophe zur zweiten und die vierte zur dritten. Damit aber sind die Korrekturen am Aufbau des »Zweyten Sonntag im Advent« nicht beendet. Den acht Strophen des Gedichtes wird eine weitere Strophe hinzugefügt, die – nicht in Kolumnenform –

56 Vgl. dazu grundlegend: Rüdiger Nutt-Kofoth: »›ich fand des Dichtens und Corrigierens gar kein Ende‹. Über Annette von Droste-Hülshoffs dichterisches Schreiben – mit einem besonderen Blick auf das Geistliche Jahr«, in: Ortrun Niethammer (Hg.), Transformationen. Texte und Kontexte zum Abschluss der Historisch-kritischen Droste-Ausgabe, Bielefeld 2002, S. 199-218, hier S. 213.

D IE LITERATURWISSENSCHAFT UND IHR ›M ATERIAL‹ | 161

aus Platzmangel unter die anderen Strophen geschrieben wird. Allerdings folgt die letzte Ordnung der Strophen nicht der Chronologie ihrer Niederschrift, denn die nachträglich hinzugefügte Strophe wird nicht als neunte, sondern als siebte Strophe markiert, entsprechend verschieben sich die anderen Strophen. Neben diesen Verschiebungen und Ergänzungen aber – und dieser Vorgang ist für das spezifische Aussehen des Manuskriptes entscheidend – werden an vielen Stellen des Gedichtes Korrekturen vorgenommen. Einzelne Worte, aber auch ganze Verse werden gestrichen und durch Varianten ersetzt, die meist über die getilgte Stelle, aber auch zwischen und neben die anderen Textteile geschrieben werden. Allerdings werden vorhergehende Textfassungen nicht immer gestrichen. Das Gedicht zum »Zweyten Sonntage im Advent« ist, wie viele der Texte des zweiten Teils des Geistlichen Jahres, mit Alternativvarianten versehen. Die Folgen dieses Vorgehens können am Beispiel der Strophe gezeigt werden, die ursprünglich als zweite konzipiert war, dann aber zur vierten Strophe wurde. Die Strophe zeigt die typischen Schritte des Überarbeitungsprozesses. Im ersten Vers beispielsweise wird das »Es« gestrichen und durch ein »So« ersetzt, das über den ursprünglichen Text geschrieben wird, im fünften Vers wird »Mein« zu »Das« korrigiert. Im letzten Vers schließlich wird eine ganze Wortfolge ersetzt. Heißt es zunächst »Mit aller Sorgfalt barg zu guter Stund?« so wird überarbeitet zu »So sorgenvoll gehegt zu guter Stund?«. Bis hierhin handelt es sich um einen Überarbeitungsprozess, der für den Textstatus unproblematisch ist. Vorhergehende Textstufen werden getilgt und durch eine Variante ersetzt.

Annette von Droste-Hülshoff: »Am zweyten Sonntage im Advent« [Ausschnitt] Strophe 4 [2]

162 | THOMAS WORTMANN

Anders hingegen sieht das aus, nimmt man die Überarbeitungen am fünften Vers in den Blick. Über dem letzten Wort des Verses wird über das Reimwort »Grund« eine Alternative verzeichnet, nämlich »Schrein«. Diese Ergänzung aber zieht weitere Überarbeitungen nach sich. Unter den letzten Vers der Strophe nämlich wird – passend zum Reimwort »Schrein« – ein ganzer Vers als Alternative verzeichnet, der lautet: »Gehegt als meiner Armuth Edelstein«. Transkribiert stellt diese Strophe des Gedichtes sich damit folgendermaßen dar: So Es ragt und wälzt sich in der Zukunft Reich Ein Schemen! Mein Sinnen sonder Kraft – Gedanke bleich Wer will mir nehmen Das

Schrein

Mein Hoffen was ich in des Herzens Grund So sorgenvoll gehegt Mit aller Sorgfalt barg zu guter Stund? Gehegt als meiner Armuth Edelstein

Verzeichnet sind hier alle Streichungen, recte gesetzt ist die Fassung der ersten Niederschrift, kursiv die nachträglichen Ergänzungen. Durch Sperrung hervorgehoben sind die Alternativvarianten im fünften und nach dem sechsten Vers. Ein Blick auf diese Strophe zeigt: Das vorhandene Textmaterial liefert die Möglichkeiten, zwei Fassungen der Strophe zu konstruieren. Orientiert man sich an der ersten Niederschrift des Gedichtes und berücksichtigt die Ergänzungen, die mit einer Streichung der früheren Textstufe einhergehen, so lauten die letzten beiden Verse: Das Hoffen, was ich in des Herzens Grund So sorgenvoll gehegt zu guter Stund?

Gleichzeitig aber ist es möglich, die beiden abschließenden Verse auf Grundlage der Alternativvarianten herzustellen. Dann lauten sie: Das Hoffen, was ich in des Herzens Schrein Gehegt als meiner Armuth Edelstein

Welche Version aber ist nun zu bevorzugen? Und welches Gewicht ordnet man den Alternativvarianten zu? Die einfachste Lösung bestünde darin, die erste Ver-

D IE LITERATURWISSENSCHAFT UND IHR ›M ATERIAL‹ | 163

sion des Textes zur gültigen zu erklären und damit der vermeintlichen Intention der Autorin zu folgen. Dieses Vorgehen avancierte zum zentralen Prinzip zahlreicher Editionen des Geistlichen Jahres. Die beiden Verse lauten dann: »Das Hoffen, was ich in des Herzens Grund/ So sorgenvoll gehegt zu guter Stund?«. Geht man nicht vom Primat der ersten Fassung aus und sucht nach alternativen Möglichkeiten, sich für eine der beiden Varianten zu entscheiden, so müsste man inhaltliche oder formale Aspekte berücksichtigen und die beiden Verse in Bezug zum Rest der Strophe setzen. Es ließe sich ausführlich darüber diskutieren, welche Variante sich eher in den Kontext der Strophe oder des gesamten Gedichtes einfügt, vielleicht ließe sich gar fragen, welche eher mit den anderen Gedichten des Zyklus korrespondiert. Entsprechend könnte dann für die eine oder die andere Version der beiden Verse argumentiert werden. Allerdings ist immer wieder – auch in Bezug auf das Geistliche Jahr – gezeigt worden, dass sich Drostes Texte durch eine spezifische Heterogenität, einen »clash of topoi«, um die Terminologie Claudia Liebrands aufzugreifen, auszeichnen, dadurch also, dass die Bilder sich nicht zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen, die Metaphern nicht sauber, die Allegorien nicht stringent durchgeführt sind.57 Die »passendere«, die homogenere Variante zu wählen, scheint also prekär. Ohnehin trifft die Frage, welche Version die gültige, die passendere, die bessere ist, nicht den Kern des Problems, sie vermag das Phänomen, das sich hier präsentiert, nicht zu erfassen. Interessant ist vielmehr, dass das Gedicht zum »Zweyten Sonntage im Advent« überhaupt diese beiden Varianten anbietet, die – sieht man davon ab, das eine Textstufe älter ist als die andere – formal absolut gleichwertig sind und es ermöglichen, mindestens zwei Fassungen der Strophe zu erstellen. Der Text bleibt damit in seinem Status als work in progress fixiert, er wird nicht aus dem Produktionsprozess entlassen, der Schreibprozess findet kein Ende. Das aber lässt sich mit Bedeutung aufladen: In den Blick zu nehmen wäre das Geistliche Jahr als unabgeschlossenes, auf Unabschließbarkeit angelegtes Schreibprojekt. Wurde der Text bisher als ein konservativ-restauratives Projekt der Ordnungsstiftung gelesen, als eines, das sich von der Moderne abwendet und den damit verbundenen Verschiebungen mit einem rückwärts gewandten

57 Vgl. grundlegend dazu: Claudia Liebrand: Kreative Refakturen. Annette von DrosteHülshoffs Texte, Freiburg i. Brsg. 2008. Vgl. für diesen Zusammenhang in Bezug auf das Geistliche Jahr: Heinrich Detering: »Versteinter Äther, Aschenmeer. Metaphorische Landschaften in der Lyrik der Annette von Droste-Hülshoff«, in: Jochen Grywatsch (Hg.), Raum, Ort. Topographien der Annette von Droste-Hülshoff (= Droste-Jahrbuch 7 [2007-2008]), S. 41-68.

164 | THOMAS WORTMANN

Schreibprojekt antwortet, so vermag ein Blick auf die Manuskripte diese Lesart zu durchkreuzen. Die Manuskripte künden nicht von Ordnung, sondern vom Chaos, nicht von einem abgeschlossenen restaurativen und religiösen Frömmigkeitsprojekt, sondern von einem immer weiter getriebenen Schreibstrom, von einem zu keinem Ende findenden und immer offen gehaltenen Schreibprojekt: Ordnung als Kategorie wird im Geistlichen Jahr also bereits im Schreibakt selbst problematisiert, vorgeführt wird – im und durch das Schreiben – die Aporie der Ordnungsstiftung.

L ITERATUR Andresen, Ute: »Die Handschrift ist unersetzbar. Plädoyer einer Schreiblehrerin«, in: taz vom 5.10.2010. Andresen, Ute: »Einführung der Grundschrift. Keine pädagogischen Interessen«, in: taz vom 6.4.2011. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 42010. Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 32006. Bohnenkamp, Anne/Vandenrath, Sonja (Hg.): Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen, Göttingen 2011. Bremer, Kai/Wirth, Uwe: »Die philologische Frage. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Theoriegeschichte der Philologie«, in: dies. (Hg.), Texte zur modernen Philologie, Stuttgart 2010, S. 7-48. Detering, Heinrich: »Versteinter Äther, Aschenmeer. Metaphorische Landschaften in der Lyrik der Annette von Droste-Hülshoff«, in: Jochen Grywtasch (Hg.), Raum, Ort. Topographien der Annette von Droste-Hülshoff (= DrosteJahrbuch 7 [2007-2008]), S. 41-68. Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hg.): Randzeichnungen. Nebenwege des Schreibens (= Marbacher Magazin 129), Marbach am Neckar 2010. Dietrich, Angelika: »Mit Schwung, aber lesbar!«, in: Die Zeit vom 28.3.2011. Droste-Hülshoff, Annette von: Geistliches Jahr in Liedern auf alle Sonn- und Festtage, in: dies.: Historisch-kritische Ausgabe. Werke, Briefwechsel, hg. von Winfried Woesler, Tübingen 1978-2000, Bd. IV,1. Erhart, Walter (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung?, Stuttgart, Weimar 2004 (= Germanistische Symposien Berichtsbände XXVI).

D IE LITERATURWISSENSCHAFT UND IHR ›M ATERIAL‹ | 165

Fritzen, Florentine: »Handschrift. Jetzt mach aber mal einen Punkt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.6.2007. Gaschke, Susanne: »Jetzt ist mal gut mit der Reformiererei«, in: Die Zeit vom 30.6.2011. Gellhaus, Axel: »Textgenese zwischen Poetologie und Editionstechnik«, in: ders. u.a. (Hg.), Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen, Würzburg 1994, S. 311-326. Giuriato, Davide/Kammer, Stephan: »Die graphische Dimension der Literatur? Zur Einleitung«, in: dies. (Hg.), Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Handschrift, Frankfurt/Main 2006, S. 7-24. Grasmück, Heinz: »›Die Freude am Schreiben erhalten‹« [Interview], in: taz vom 4.7.2011. Grésillon, Almuth: »Textgenetisches Glossar«, in: dies.: Literarische Handschriften. Einführung in die ›critique génétique‹, Frankfurt/Main u.a. 1998, S. 293309. Grésillon, Almuth: »›Critique génétique‹. Handschriften als Zeichen ästhetischer Prozesse«, in: Rainer Falk/Gert Mattenklott (Hg.), Ästhetische Erfahrung und Edition, Tübingen 2007 (= Beihefte zu editio 27), S. 73-86. Grésillon, Almuth: »›Critique génétique‹. Gedanken zu ihrer Entstehung, Methode und Theorie«, in: Kai Bremer/Uwe Wirth (Hg.), Texte zur modernen Philologie, Stuttgart 2010, S. 287-307. Grywatsch, Jochen: »Entwürfe werden aus Entwürfen reif, oder: Droste anders ausstellen«, in: ders. (Hg.), Zimmer frei: Zehn museale Entwürfe für Annette von Droste-Hülshoff. Neue Wege der Literaturausstellung, Bielefeld 2011, S. 8-35. Gumbrecht, Hans-Ulrich: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten, Frankfurt/Main 2003. Halberschmidt, Tina: »Die Handschrift – vom Aussterben bedroht?«, in: Handelsblatt vom 27.6.2012. Hettche, Walter: »Die gemischten Zimmer: Ordnung und Chaos in Adalbert Stifters Handschriften«, in: Sabine Becker/Katharina Grätz (Hg.), Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus, Heidelberg 2007, S. 235-260. Hurlebusch, Klaus: »Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise«, in: Hans Zeller/Gunter Martens (Hg.), Textgenetische Edition, Tübingen 1998 (= Beihefte zu editio 10), S. 7-51. Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martínez, Matías/Winko, Simone (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999. Kimmich, Dorothee: Lebendige Dinge in der Moderne, Konstanz 2011.

166 | THOMAS WORTMANN

Koch, Julia: »Abschied vom Schleifen-s«, in: Der Spiegel vom 3.1.2011. Köhler, Sigrid G./Wagner-Egelhaaf, Martina: »Einleitung: Prima Materia«, in: dies. (Hg.), Prima Materia. Beiträge zur transdisziplinären Materialitätsdebatte, Königstein/Taunus 2004, S. 7-23. Liebrand, Claudia: Kreative Refakturen. Annette von Droste-Hülshoffs Texte, Freiburg i. Brsg. 2008. Neumann, Gerhard: »Schreiben und Edieren«, in: Heinrich Bosse/Ursula Renner (Hg.), Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg i. Brsg. 2 2010, S. 339-364. Nichols, Stephen G.: »Why Material Philology?«, in: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte (= Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie 116 [1997]), S. 10-30. Nutt-Kofoth, Rüdiger: »›ich fand des Dichtens und Corrigierens gar kein Ende‹. Über Annette von Droste-Hülshoffs dichterisches Schreiben – mit einem besonderen Blick auf das Geistliche Jahr«, in: Ortrun Niethammer (Hg.), Transformationen. Texte und Kontexte zum Abschluss der Historischkritischen Droste-Ausgabe, Bielefeld 2002, S. 199-218. Nutt-Kofoth, Rüdiger: »Schreibräume, Landnahmen. Annette von DrosteHülshoffs Manuskriptblätter«, in: Jochen Grywatsch (Hg.), Raum. Ort. Topographien der Annette von Droste-Hülshoff (= Droste-Jahrbuch 7 [20072008]), S. 199-218. Plachta, Bodo: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte, Stuttgart 22006. Rössner, Michael/Uhl, Heidemarie (Hg.): Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld 2012. Rüschemeyer, Georg: »Schreibschrift, ade?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.8.2010. Schmoll, Heike: »Politische Handschriften. Druckschrift statt Schreibschrift«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.8.2011. Schneider, Ronald: Annette von Droste-Hülshoff, Stuttgart 21995 (= Sammlung Metzler 153). Schößler, Franziska: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung, Tübingen, Basel 2006. Schröder, Cornelius: »Zur Textgestaltung des Geistlichen Jahres«, in: Jahrbuch der Droste-Gesellschaft I (1947), S. 111-128. Schubert, Martin (Hg.): Materialität in der Editionswissenschaft, Berlin 2010 (= Beihefte zu editio 32). Schwindt, Jürgen Paul (Hg.): Was ist eine philologische Frage?, Frankfurt/Main 2009.

D IE LITERATURWISSENSCHAFT UND IHR ›M ATERIAL‹ | 167

Stingelin, Martin: »›Schreiben‹. Einleitung«, in: ders. (Hg.), »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004, S. 7-21. von Matt, Peter: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München 42004. Wagner, Franz Josef: »Post von Wagner«, in: Bild-Zeitung vom 27.6.2012. Weder, Christine: Erschriebene Dinge. Fetisch, Amulett, Talisman um 1800, Freiburg i. Brsg. 2007. Weise, J./Albert, A.: »Handschrift stirbt aus!«, in: Bild-Zeitung vom 27.6.2012. Wilke, Tobias: Medien der Unmittelbarkeit. Dingkonzepte und Wahrnehmungstechniken 1918-1939, München 2010. Wortmann, Thomas: Literatur als Prozess. Drostes »Geistliches Jahr« als Schreibzyklus, Konstanz 2014. Zanetti, Sandro (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Frankfurt/Main 2012.

Peter Szondis Vision einer literarischen Hermeneutik Ein systematisierender Kommentar zu Szondis »Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik« R AINER J. K AUS »La syntaxe est une faculté de lʼâme« PAUL VALÉRY »Die Syntax ist eine Fähigkeit der Seele« PETER SZONDI

1. V ORBEMERKUNGEN

ZUM

V ORGEHEN

Der mit 42 Jahren allzu früh aus dem Leben geschiedene Peter Szondi (19291971) hat uns drei große Dokumente zu einer spezifisch literarischen Hermeneutik hinterlassen: seine Vorlesungsreihe Einführung in die literarische Hermeneutik aus dem Wintersemester 1967/681 sowie die Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, welcher Traktat den Vorlesungen inhalt-

1

Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 5, hg. von Jean Bollack/Helen Stierlin, Frankfurt/Main 1975. Vgl. das »Editorische Vorwort« der Herausgeber, S. 5.

170 | R AINER J. K AUS

lich nahe verwandt ist,2 ferner das Manuskript eines Rundfunkbeitrags »Schleiermachers Hermeneutik heute«.3 In diesem knapp bemessenen Rahmen kann es nicht darum gehen, Szondis besonders für sein noch jugendliches Alter stupende historische Gelehrsamkeit, wie sie in den genannten Werken zur literarischen Hermeneutik und mehr noch im Gesamt seiner Schriften sichtbar wird, nachzuvollziehen. Es soll lediglich sein systematischer Ansatz von literarischer Hermeneutik skizziert und auf die Möglichkeit einer konkreten Durchführung hin befragt werden. Von »Weiterführung« zu sprechen, wäre schon zu viel. Denn Szondi hat es tragischerweise, durch seinen frühen Tod, bei programmatischen Ausführungen seiner Vorstellungen von literarischer Hermeneutik bewenden lassen. Inwieweit seine konkreten Interpretationen, beispielsweise in den HölderlinStudien oder in seinen sonstigen Erörterungen zu Shakespeare, Schiller, Kleist, Brecht, Thomas Mann, Hofmannsthal oder Walter Benjamin, bereits als Realisierungen seiner Vorstellungen von literarischer Hermeneutik gelten können, diese Frage kann erst nach der eigentlich hier gestellten Frage beantwortet werden. Ob es möglich wäre, umgekehrt Szondis Prinzipien einer literarischen Hermeneutik aus den konkreten Interpretationen herauszufiltern und diese bereits als Verwirklichungen seiner Hermeneutik-Vorstellungen zu verstehen, möchte ich bezweifeln. Szondis großes Gesamtkonzept war erst im Werden und hat – wie wir sehen werden – vermutlich sogar Ängste bezüglich seiner Realisierbarkeit in ihm ausgelöst. Jedenfalls muss ich das Verhältnis von postulierter und selbst an Beispielen realisierter Hermeneutik in diesem Rahmen in der Schwebe lassen. Mein Weg ist ein anderer, ein von einem bestimmten Punkt an systematischer, ein Weg, der zweifellos den systematischen Aspirationen Szondis entspricht. Statt der genannten ausführlichen Texte möchte ich dazu die kurzen Notizen zu Hilfe nehmen, die Szondi »als Beitrag für ein hermeneutisches Kolloquium in Zürich (April 1970) konzipiert hat«4. Der kurze Text von nur fünf Seiten Umfang enthält das, was Szondi eineinhalb Jahre vor seinem Tod (im Oktober 1971) als die ihm wesentlichsten Postulate an eine künftige literarische Hermeneutik zu Papier gebracht hat. Meine Ausführungen verstehen sich als ein teils fragender, teils systematisierender Kommentar zum Exzerpt dieser für unser

2

Peter Szondi: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Zuerst erschienen im Insel Verlag, Frankfurt/Main 1967, als 2. Aufl. in der edition suhrkamp (Bd. 379), Frankfurt/Main 1970, und neu erschienen in der zweibändigen Ausgabe der Schriften Szondis, Bd. I, Frankfurt/Main 2011 (stw).

3

Ebd., Bd. II, S. 106-130.

4

So die Herausgeber des in Anm. 1 genannten Bandes von 1975, S. 4.

P ETER S ZONDIS V ISION EINER LITERARISCHEN H ERMENEUTIK | 171

Thema so wichtigen Notizen, und zwar zugleich als ein aktualisierender Kommentar, wie es der veränderten Geisteslage nach mehr als 40 Jahren angemessen ist – gerade im Sinne des von Szondi postulierten geschichtlichen Bezugs. (Ich spreche nur von der Angemessenheit eines solchen Versuchs, nicht von angemessenem Gelingen.) Nun der thematischen Übersicht wegen zunächst ein unkommentiertes Exzerpt von Szondis »Bemerkungen«.

2. S ZONDIS »B EMERKUNGEN ZUR F ORSCHUNGSLAGE 5 DER LITERARISCHEN H ERMENEUTIK « IM E XZERPT 1. Der Literaturwissenschaftler sitze bei einem Symposion über Hermeneutik als »armer Verwandter« neben dem Theologen und dem Juristen. Denn keine Schule der neueren Philologie sei der Ausbildung einer spezifisch literarischen Hermeneutik förderlich gewesen. Es gebe sie noch nicht, die »Kritik der literarischen Vernunft« (404)! 2. Der alten Philologie, kulminierend in August Boeckhs Encyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, würden zwei entscheidende Einsichten fehlen: • •

die Einsicht in die sprachliche Bedingtheit von Literatur und Einsicht in die Bedingtheit historischer Erkenntnis durch die Historizität des Erkennens.

Boeckh halte an dem überlieferten Auslegungsziel fest: das approximative Einholen der Intention des Autors (405). Verstehen beziehe sich jedoch weder auf einen Gegenstand jenseits der Sprache noch auf eine Objektivität historischer Einfühlung, wie es der Historismus versuchte. Vielmehr sei die Geschichtlichkeit nicht nur auf Seiten des Objekts, sondern auch auf Seiten des verstehenden Subjekts anzusetzen. Angesichts dessen gelte es aber auch Kriterien zu entwickeln, wie andererseits die Willkür aktualisierender Subjektivität zu vermeiden ist (405f.). 3. In Bezug auf die Sprachlichkeit »stünde man heute anders da, hätte die Schleiermacher-Rezeption seit Dilthey die grammatische Interpretation nicht zugunsten der psychologisch-technischen vernachlässigt und innerhalb dieser die

5

Ebd., S. 404-408. Seitenzahlen im folgenden Text beziehen sich hierauf.

172 | R AINER J. K AUS

technische, d.h. den Fragen der Verfahrensweise zugewandte Seite zugunsten der psychologischen« (406). Szondi wirft Diltheys Hermeneutik somit Sprachfremdheit und Psychologismus vor. Nachdem Schleiermacher die Hermeneutik als bloße »Stellenhermeneutik« dunkler Textstellen verabschiedet hätte, habe das in der philosophischen Hermeneutik des 20. Jahrhunderts nur zu einer allgemeinen Analyse des Verstehens geführt. Unbeachtet seien geblieben: •

• • •

Schleiermachers Grundstein zu einer Theorie der genetischen Interpretation: »Ich verstehe nichts, was ich nicht als nothwendig einsehe und construiren kann« – also »ein erhöhtes Verständniß von dem inneren Verfahren der Dichter und anderer Künstler der Rede von dem ganzen Hergang der Composition vom ersten Entwurf an bis zu seiner letzten Ausführung« (406) Schleiermachers Theorie der Metapher (407) Schleiermachers Ansätze zu einer Theorie der Rezeptionsästhetik sowie zu einer Lehre von der Funktion der literarischen Formen und Gattungen.

4. Einen zweiten fruchtbaren Ansatzpunkt für eine literarische, also nicht allein philologische, sondern künstlerische Hermeneutik sieht Szondi in Walter Benjamins Theorie der historischen Konstruktion, wie dieser sie u.a. in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen konzipiert habe. »Benjamin mutet dem Historiker, auch dem Literaturhistoriker, zu, die gelassene, kontemplative Haltung dem Gegenstand gegenüber aufzugeben, um der kritischen Konstellation sich bewusst zu werden, in der gerade dieses Fragment der Vergangenheit mit gerade dieser Gegenwart sich befindet. […] Der Ertrag dieses Verfahrens bestehe darin, daß im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben« (407).

Benjamin überwinde den Historismus durch eine Theorie vom Fortleben der Werke, von der Nachreife auch der festgelegten Worte. Diese Lehre von der Geschichtlichkeit der Erkenntnis, der Wirkungsgeschichte in spezifischem Verständnis, verbinde sich bei Benjamin mit Sprachtheorie. Ein Vergleich von Benjamins Überwindung des bloßen Historismus mit anderen Versuchen (wie Gadamers Wahrheit und Methode) »müsste die Frage nach den geschichtlichen Bedingungen klären helfen, unter denen die Theorie von der Geschichtlichkeit von Erkenntnis entstand« (408). Diese Fragen gingen

P ETER S ZONDIS V ISION EINER LITERARISCHEN H ERMENEUTIK | 173

allerdings über literarische Hermeneutik hinaus und bildeten »eine Metahermeneutik, ohne welche auch die literarische Hermeneutik ein zureichendes Verständnis ihrer selbst nicht haben kann« (408). Es ist bemerkenswert, wie tief Szondi hier einerseits in die Geistesgeschichte hinein und andererseits zugleich philosophisch-systematisch fragt. Denn die anvisierte »Metahermeneutik« ist sicher keine bloß historische Methodenlehre mehr.

3. S YSTEMATISCHE AKTUALISIERUNG IN F RAGEFORM Dem »rein« historischen Verstehen Szondis selbst sollte im Vorhergehenden durch die exzerptartige Objektivität soweit wie möglich Rechnung getragen werden. Deutlich aber gibt uns Szondi die Lizenz, ja den Auftrag, auch ihn nicht bloß »historistisch« verstehen zu wollen, sondern aus der Differenz zu unserer eigenen, heutigen Gegenwart. Ich formuliere zunächst meine Fragen in der Reihenfolge von Szondis Themen, um anschließend in derselben Reihenfolge systematische Antworten zu versuchen. 1. Sprachliche Bedingtheit von Literatur gleich linguistic turn? Wir haben seit Szondis Tod den linguistic turn in aller Wucht erfahren. Aus der sprachlichen Bedingtheit ist in diesem turn eine vorgebliche Sprachimmanenz geworden, d.h. eine Aufhebung der Differenz von Sprache und dargestellten Sachverhalten sowie von Sprache und vorsprachlichen Sinn-Horizonten der Erkenntnis und des In-der-Welt-Seins. Es ist die Frage, ob diese Sprachimmanenz in der Richtung von Szondis Postulat geht, die sprachliche Bedingtheit von Literatur ernst zu nehmen. Und was ist mit Schleiermachers »grammatischer Interpretation« gemeint? Setzen grammatische Formen, gleich ob sie zunächst einzelsprachlicher oder gar universalsprachlicher Natur sind, nicht durch ihre Eigenlogik geradezu die Differenz von sprachtranszendenter Realität und deren Verarbeitung in Formen voraus, welche der Sprache eigentümlich sind? Trägt man also der Sprachlichkeit von Literatur in angemessener Weise Rechnung, indem man die Differenz von Realität und Sprache aufhebt? Oder verschwindet die Sprache womöglich in ihrer Eigentümlichkeit, wenn man sie schlechthin zum Inbegriff der Realität selbst für den Menschen erklärt?

174 | R AINER J. K AUS

2. Historizität gleich Historismus? Analog steht es mit der Historizität des literarischen Erkennens. Trägt man ihr dadurch Rechnung, dass man unsere je-gegenwärtige geschichtliche Auffassungsweise zur historischen Realität selbst erklärt, also völlig auf die Gegenwart hin relativiert – oder muss nicht auch hier die Differenz zwischen gegenwärtiger Auffassung und der Geschichte, »wie sie sich wirklich zugetragen hat« bzw. wie ihr damaliges Erleben bereits versprachlicht wurde, offen gehalten werden? 3. Welches Verfahren Benjamins? Könnte es sein, dass Walter Benjamins Betonung der kritischen Konstellation, in der ein Fragment der Vergangenheit sich mit der Gegenwart befindet, mit dieser Betonung der Differenz von Vergangenem und gegenwärtigem Verstehen zusammenhängt und einhergeht? Durch welche verbindende Gesetzmäßigkeit kann »im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt« (407) und somit der Historismus in einer wirklich geschichtlichen Erkenntnis aufgehoben werden? »Historismus« meint die Auffassung z.B. Diltheys und der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, dass jede geschichtliche Erscheinung und Epoche nur aus sich selbst heraus und »ideographisch«, nicht aus übergeordneten, gar philosophischen Gesetzmäßigkeiten verstanden werden könne.6 Walter Benjamin seinerseits steht diesbezüglich auf den Schultern von Max Weber, der am relativistischen Historismus kritisierte, dass auch der Standpunkt des Historikers selbst relativ ist, d. h. die Geschichte nur im Lichte der eigenen Geschichtlichkeit des Wissenschaftlers erscheint. So beantworte die Geschichte stets nur die Fragen, die ein Wissenschaftler aus seinem eigenen historisch-sozial gewachsenen Umfeld an diese stelle.

6

Die Infragestellung des Historismus wurde vor allem durch Friedrich Nietzsches Werk Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben von 1874 ausgelöst. Nietzsche greift den schulmäßig betriebenen, relativistischen Historismus an, der den Menschen in seinem schöpferischen Handeln dadurch hemmt, dass er ihm die Relativität seines Tuns und seiner Vorstellungen vor Augen hält.

P ETER S ZONDIS V ISION EINER LITERARISCHEN H ERMENEUTIK | 175

4. Was meint Schleiermachers »genetische Interpretation « ? Bedeutet nicht Schleiermachers Theorie der genetischen Interpretation (»Ich verstehe nichts, was ich nicht als nothwendig einsehe und construiren kann«), dass die Differenz von damaliger Versprachlichung und heutigem Verstehen auf eine ganz andere Weise überbrückt wird als durch ihre Nivellierung, nämlich durch Einsicht in die Genese, das heißt durch Erkenntnis der dichterischen Initialzündung einerseits und deren Entfaltung in den sprachlichen, »grammatischen« Mitteln andererseits? 5. Führt ein Weg von Grammatik zu Stilistik? In welcher Beziehung stehen die »grammatischen Mittel« im Sinne Schleiermachers z.B. zu seiner Theorie der Metapher? Wie stehen überhaupt Grammatik und Stilistik zueinander? Führt ein Weg, ein Methodos, von der einen zur anderen? 6. Führt ein Weg von Sprachtheorie zur Theorie der literarischen Gattungen? Gibt es von der »Grammatik«, allgemeiner von der heutigen Sprachtheorie her, einen logischen, also im Sinne Schleiermachers als notwendig einzusehenden Weg zur einer Theorie der literarischen Gattungen – oder sind diese ein lediglich geschichtlich bedingtes, heute überholtes Lehrstück? 7. Was bleibt für den Gedanken der Rezeptionsästhetik? Was bleibt aber für das jeweilige Neuentstehen des literarischen Kunstwerks, seiner jeweiligen Vollendung erst im jeweiligen Rezipienten, noch übrig, wenn die strukturellen Vorgaben so stark betont werden? Stehen strukturell-objektive Hermeneutik und Rezeptionsästhetik nicht in einem unaufhebbaren Gegensatz, zumindest einem Spannungsverhältnis zueinander? Wie ist dieses zu schlichten? 8. Metahermeneutik und heutige Reflexionstheorie Schließlich zu der anspruchsvollen Frage Szondis nach »den geschichtlichen Bedingungen, unter denen die Theorie von der Geschichtlichkeit von Erkenntnis entstand« (408). Offenbar ist nicht nur die Einsicht des Historismus, sondern vielmehr die Einsicht jenseits des Historismus gemeint: die Erkenntnis der Ge-

176 | R AINER J. K AUS

schichtlichkeit nicht allein auf Seiten des Objekts, sondern gleichermaßen auch auf Seiten des verstehenden Subjekts. An dieser Stelle gehe ich bereits vom Fragemodus in den Antwortmodus über und bereite durch geschichtliche Standortbestimmung die Grundlage für Antworten auf die gestellten Fragen vor. Realgeschichtliche Bedingung für die historistische Mentalität war offensichtlich die Erkenntnis von der Vielfalt der geschichtlichen Phänomene, der Verschiedenheit der Kulturen, der kolonisierten wie der kolonisierenden. Historismus war offenbar die resultierende Erkenntnis der kolonialen Epoche. Für das koloniale Bewusstsein sind die anderen Kulturen relativ zu einer fixen Bezugsgröße, nämlich zur eigenen überlegenen Kultur, die unterlegenen. Unsere Frage geht also mit Szondi weiter auf die Bedingungen der vollständigeren Erkenntnis der Geschichtlichkeit im Sinne der Selbstrelativierung auch der kolonisierenden westlichen Kultur(en). Ich vermute daher, dass die realen Bedingungen für diesen neuen Erkenntnisschritt vom Historismus zum tieferen geschichtlichen Denken in der Erfahrung des europäischen Bruderkriegs, des Ersten Weltkriegs, liegen. Denn diese Erfahrung kommt einer Selbstrelativierung der westlichen Kultur gleich: ihrer Selbstüberschlagung in gemeinsame Barbarei, und dies ausgerechnet im Namen der rivalisierenden überlegenen Kulturnationen. Damit ist allerdings noch nicht die Frage beantwortet, welcher erkenntnisinterne Schritt mit dieser erlebten Selbstrelativierung der europäischen Kultur verbunden war. Es handelt sich, gut hegelisch, um eine neue Selbstreflexion des europäischen Geistes: Überwindung des Historismus als vermeintlich historische Objektivität früherer Zeugnisse von einem festen, überlegenen Standort, in historische Interrelationalität hinein. Die Einsicht von Geschichte als Reflexionsprozess eines identischen kollektiven Subjekts, des »objektiven Geistes«, dürfte den bleibenden rationalen Kern der hegelschen Geschichtstheorie ausmachen7. Bleiben wir jedoch nicht beim kolonialen Bewusstsein stehen, dem Hegel selbst noch verhaftet blieb, so könnte die geschichtlich wie logisch weitergeführte Lo-

7

Vgl. Johannes Heinrichs: Die Logik der »Phänomenologie des Geistes«, Bonn, 21983; ders.: Reflexion als soziales System, Bonn 1976, § 17. Dieses Geschichtskapitel fehlt in der Neuauflage des Buches als: Logik des Sozialen, München 2005. Die Reflexions-Systemtheorie von Heinrichs ist, außer von Hegel, besonders von dem Logiker Gotthart Günther inspiriert. Die Einsicht Hegels in die Reflexionsstruktur von Geschichte dürfte den Einwänden Raimund Poppers gegen den »Historizismus«, die Auffassung, die Geschichte laufe nach einer erkennbaren, vorgegebenen Gesetzmäßigkeit ab, entgehen.

P ETER S ZONDIS V ISION EINER LITERARISCHEN H ERMENEUTIK | 177

gik der Reflexivität den »metahermeneutischen« Standpunkt oder Rahmen bieten, nach welchem Szondi fragte: »eine Metahermeneutik, ohne welche auch die literarische Hermeneutik ein zureichendes Verständnis ihrer selbst nicht haben kann« (408). Der von Szondi angepeilte metahermeneutische Standpunkt wäre somit die tiefere, über Hegel wie auch seinen Zeitgenossen Schleiermacher hinausgehende Selbsterfassung der Geschichte als eines Reflexionsprozesses, der nicht nur eine fixe Logik nachvollzieht, sondern eine offene Selbstreflexion und wechselseitige Reflexion der kollektiven Geister darstellt. Dies ist, nach der geschichtsphilosophischen Seite hin, der Standpunkt heutiger Reflexionstheorie: Selbsterfassung der Reflexion als Inhalt, Form und Methode des Denkens. Mit dieser methodologischen Einstellung stellen wir uns unsererseits in ein hermeneutisches Verhältnis sowie in eine »kritische geschichtliche Konstellation« (im Sinne Benjamins) zu Peter Szondi selbst. Hermeneutik hat es in all ihren Spielarten, angefangen von der »SinnHermeneutik« (Heinrichs) der eigenen Bewusstseinsvollzüge, mit der Reflexion (Spiegelung) früherer menschlicher Ausdrucksweisen und späterer zu tun. Der reflexionstheoretische Standpunkt beinhaltet, dass die hermeneutische Reflexion sich als eine solche erfasst, dass die theoretisch objektivierende Reflexion bewusst die Form der spontan vollzogenen, inneren oder gelebten Reflexion nachbildet und so die Strukturen dieser gelebten Reflexion thematisch werden. Von diesem Standpunkt sollen nun in gebotener Kürze die Antworten auf die Fülle der gestellten Fragen versucht werden.

4. ANTWORTVERSUCHE VON REFLEXIONSTHEORETISCHER S PRACHTHEORIE UND H ERMENEUTIK HER 1. Szondis latente Opposition zum linguistic turn Szondis Gewährsmann Schleiermacher unterscheidet den hermeneutischen Ausgang von der Sprache (grammatische Interpretation) und den Ausgang vom Denken (psychologisch-technische Interpretation).8

8

Die ausführlichste Darstellung Szondis zu Schleiermachers Hermeneutik findet sich in den Vorlesungen von 1976/78: Einführung in die literarische Hermeneutik. Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 5, Frankfurt/Main 1975. Die ausgereifteste und verständlichste Darstellung desselben Themen stellt jedoch wohl die für eine Rundfunksendung 1970 geschriebene Fassung unter dem Titel »Schleiermachers Hermeneutik

178 | R AINER J. K AUS »Dem einen, der Betrachtung der Rede in ihrer Beziehung auf die Gesamtheit der Sprache, dient die grammatische Interpretation; dem anderen, der Betrachtung der Rede in ihrer Beziehung auf das Denken ihres Urhebers, dient die psychologische Interpretation, die Schleiermacher auch die technische nennt« (115).

Indem Szondi diese Unterscheidung von sprachimmanenter und sprachtranszendenter, auf das Denken des Urhebers zurückgehender Interpretation bei Schleiermacher bejaht und ihre Aktualität verteidigt, stellt er sich implizit und unbemerkt gegen den Mainstream der damaligen Zeit, nämlich gegen den linguistic turn, insofern dieser eine unhintergehbare Sprachimmanenz, überhaupt die »Unhintergehbarkeit der Sprache« behauptet. Diese zentrale Position des linguistic turn, die durch Richard Rortys berühmte Anthologie Linguistic Turn von 1967 populär wurde, haben sich die damals führenden, mehr oder eher weniger sprachphilosophisch versierten, doch für den Zeitgeist einflussreichen Intellektuellen wie Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas pauschal, man könnte sagen, leichtfertig zu eigen gemacht.9 Als Gadamer von seinem Interpreten, dem kanadischen Philosophieprofessor Jean Grondin, gefragt wurde, worin er den Universalitätsanspruch der Hermeneutik begründet sehe, antwortete dieser kurz und bündig: »Im verbum internum«, eine Formulierung des Augustinus für das innere Wort des Menschen. »Die Universalität« fuhr Gadamer fort, »liegt in der inneren Sprache darin, daß man nicht alles sagen kann. Man kann nicht alles ausdrücken, was in der Seele ist«10! Zunächst vermutete ich eine Identität mit Apels »Apriori der Kommunikationsgemeinschaft«, welche bei dem Semiotiker Johannes Heinrichs als SinnMedium bezeichnet wird, also der allen Menschen gemeinsame »Sinnvorrat«, der eine Verständigung über die Grenzen der bestimmten Muttersprachen hinweg ermöglicht. Dies wäre eine Durchbrechung des »Lingua-Käfigs«, in welchem Heinrichs die Linguistik seit Wittgenstein eingesperrt sieht.11 Grondin beeilt sich jedoch hinzuzufügen: »Es gibt keine ›vorsprachliche Welt‹, sondern nur

heute« dar, die sich in P. Szondi, Schriften Bd. II, S. 106-130, findet. Die Seitenzahlen im folgenden Abschnitt beziehen sich auf diese Ausgabe. 9

Als Durchbruchs-Dokument des linguistic turn in der deutschsprachigen Philosophie kann der von Karl-Otto Apel herausgegebene Sammelband: Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt/Main 1976, betrachtet werden.

10 Jean Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 32012, S. 9. 11 Johannes Heinrichs: Reflexionstheoretische Linguistik, Teil 2, Bonn 1981, S. 17. Zumindest sinngemäß kehrt der Ausdruck auch in seiner Kritik des linguistic turn in Bd. 1 von Sprache wieder: vgl. S. 33-45.

P ETER S ZONDIS V ISION EINER LITERARISCHEN H ERMENEUTIK | 179

eine auf Sprache ausgerichtete Welt.« Diese Einsicht allein sei imstande, den metaphysischen und logischen Vorrang der Aussage zu erschüttern12 – eine Begründung, die von jeder Logik entfernt ist, wie die differenzierten sprachtheoretischen Ausführungen derjenigen Autoren beweisen, die den linguistic turn nicht mit vollzogen, gleichwohl aber Sprachtheorie entwickelt haben.13 Es gab damals nur wenige Autoren wie etwa den an der Phänomenologie und an Jakobson orientierten Elmar Holenstein14, die das neue Dogma von der Unhintergehbarkeit der Sprache, also der Sprache als unhinterfragbarem Horizont all unseres Erkennens, in Frage stellten! Inzwischen ist allgemein klarer geworden: Man trägt weder der Sprache selbst noch der Sprachlichkeit von Literatur in angemessener Weise dadurch Rechnung, dass man die Differenz von Realität und Sprache sowie von Denken bzw. Erleben und Sprache aufheben will. Menschliches Sinn-Erleben geht sowohl in Bezug auf die Wahrnehmung wie das intersubjektive Erleben (Fühlen),

12 J. Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik (s. Anm. 10), S. 10. 13 Am Ende seines Gadamer-Kapitels relativiert Grondin die behauptete Universalität und Unhintergehbarkeit der Sprache: Die »Universalität der Sprache« wird auf die »Universalität der Vernunft« zurückgeführt. »Die wirkliche Sprache erschöpft nie das Auszusagende. Die universale Dimension, die die Hermeneutik in Atem hält, ist deshalb die des inneren Wortes, des Gesprächs, von dem jede Expression ihr Leben empfängt« (ebd., S. 169). Die Worte »sind gleichsam nichts als das sichtbare Ende eines unabschließbaren Verlangens nach Sprache, d.h. nach Verstehen« (ebd., S. 170). Gadamer selbst: »Immer geht ein Meinen, ein Intendieren über das hinaus, an dem vorbei, was wirklich in Sprache, in Worte gefasst den anderen erreicht. Ein ungestilltes Verlangen nach dem treffenden Wort – das ist es wohl, was das eigentliche Leben und Wesen der Sprache ausmacht« (zit. nach ebd., S. 170). Damit verlässt Gadamer die rationalistische linguistic-turn-Mentalität – freilich auf Kosten struktureller und methodischer Erkenntnis. 14 »In Abstützung auf Gestaltpsychologie und Cognitive Science verfocht er innerhalb der deutschen Philosophie früh die These, dass die kategoriale Strukturierung von Wahrnehmung und Denken entschieden mehr sprachunabhängig erfolgt, als man dies während der hohen Zeit des sprachlichen Relativismus im frühen 20. Jahrhundert annahm.« (Wikipedia-Art.: »Elmar

Holenstein«, http://de.wikipedia.org/wiki/Elmar

_Holenstein vom 3. April 2014) Einschlägige Veröffentlichungen von Elmar Holenstein: Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus, Frankfurt/Main 1975; Linguistik, Semiotik, Hermeneutik: Plädoyer für eine strukturale Phänomenologie, Frankfurt/Main 1976; Von der Hintergehbarkeit der Sprache: Kognitive Unterlagen der Sprache, Frankfurt/Main 1980.

180 | R AINER J. K AUS

wie das eigentliche Denken und Intuieren weit über dessen sprachliche Artikulation hinaus.15 Diese Möglichkeit des Hinlangens über den faktischen Sprachbestand ist, wie weiter unten verdeutlicht werden wird, grundlegend und äußerst folgenreich für die Möglichkeit einer systematischen Sprachtheorie, für eine systematische Stilistik und Theorie der Stilfiguren, d.h. für eine in Schleiermachers Sinn »grammatische«, nämlich sprachstrukturelle Hermeneutik, damit auch indirekt für eine spezifisch literarische, die Individualität des Kunstwerks erfassende Hermeneutik, wie Szondi sie anzielte. Erfassen der Individualität des literarischen Kunstwerks ist das leitende Anliegen seines wichtigen »Traktats über philologische Erkenntnis«, der zusammen mit den Hölderlin-Studien erschien.16 Es stellt sich die Frage, wieweit sich Szondi seiner Opposition zum damaligen Zeitgeist des linguistic turn bewusst war und er bewusst darunter gelitten hat. Darauf könnten allenfalls seine Briefe Auskunft geben.17 Denn in seinen wissenschaftlichen Schriften findet man kaum Polemik mit zeitgenössischen Kollegen. Doch auch in Szondis veröffentlichten Briefen werden allenfalls die großen universitätspolitischen Auseinandersetzungen der 68er Jahre gespiegelt, so gut wie keine theoretischen Grundsatzpositionierungen. Man gewinnt den Eindruck, als habe der begabte und von mehreren Seiten hofierte Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft18 (seit 1965 an der Freien

15 Der Semiotiker und Sprachphilosoph Johannes Heinrichs hat seine schon in: Reflexionstheoretische Semiotik, Bd. 2, Bonn 1981, vom umfassenderen Sinn-Begriff her vorgetragene Kritik an der behaupteten Unhintergehbarkeit der Sprache in seinem fünfbändigen Werk Sprache erneuert, vgl. besonders Bd. 1, München 2008. 16 Zuletzt in: Schriften II, Frankfurt/Main 2011, S. 261-412. 17 Peter Szondi: Briefe, hg. von Christoph König/Thomas Sparr, Frankfurt/Main 1993. 18 Szondi erhielt 1970 ein Angebot der Jerusalemer Universität durch Gershom Scholem und nahm noch im Jahr seines Freitods (am 18.10.1971) einen Ruf nach Zürich für Frühjahr 1972 an! Ein Brief an Scholem gewährt einen ungewöhnlichen Einblick in sein Innenleben: »Sie haben einmal in Jerusalem mit einem in seiner Hellsichtigkeit zwar nicht überraschenden, aber unvergesslichen Satz gesagt, warum ich in Deutschland lebe und wohl hier bleiben werde: weil ich es verlernt habe, zu Hause zu sein (ich war es in meiner Budapester Kindheit so wenig wie in Zürich und streng genommen auch in einem anderem Sinn bei meinen Eltern nie).« Ebd., S. 303. Ob die psychischen Gründe für seinen Freitod, mit dem er dem Beispiel seines Freundes Paul Celan mit eineinhalb Jahren Abstand folgte, primär in der extremen Belastung durch die mehrwöchige, zum glücklichen Ende gelangte Internierung im KZ Bergen-Belsen zu suchen sind, bedürfte also einer eigenen Untersuchung, wozu bisher das biographische Material fehlt.

P ETER S ZONDIS V ISION EINER LITERARISCHEN H ERMENEUTIK | 181

Universität Berlin) sich gedanklich noch nicht voll gegen konkurrierende Positionen abgegrenzt. Auch eine andere Abgrenzung, diejenige gegen die eingestandene Methodenlosigkeit Gadamers (der bei jenem Gespräch in Zürich, für das die anfangs exzerpierten »Bemerkungen« gemacht wurden, anwesend war), kommt nicht so scharf heraus, wie sie hier herauszustellen sein wird. 2. Historizität des literarischen Erkennens Analog steht es mit der Historizität des literarischen Erkennens. Wenn man unsere gegenwärtige geschichtliche Auffassungsweise zur einzigen uns zugänglichen historischen Realität selbst erklärt, also völlig auf die Gegenwart hin relativiert, führt das in einen nur scheinbar höchst aufgeklärten Relativismus hinein. Echtes historisches Erkennen muss für die Differenz zwischen gegenwärtiger Auffassung und der Geschichte, »wie sie sich wirklich zugetragen hat«, bzw. der historischen literarischen Äußerung offen gehalten werden. So fährt Szondi in seiner Rundfunkrede über Schleiermachers Hermeneutik fort: »Vereinfachend ließe sich sagen, daß die lebensphilosophische Schleiermacher-Rezeption, wie sie von Dilthey inauguriert wurde, die grammatische Interpretation überging und die andere nur als psychologische, d.h. auf die Individualität des Autors bezogene, aufnahm, nicht aber als die technische, welche in den Grundzügen der Komposition eines Werkes die Individualität eines Autors konkretisiert findet. Rezipiert wurde um 1900 und in der Folge die Seite von Schleiermachers Lehre, die auf Einfühlung, auf Identifikation beruht und das Problem des Zeitenabstandes auf diesem Wege, also historistisch meint lösen zu können« (II, 115).

Solcher literarische Psychologismus führt, bei aller vermeintlichen, methodisch nicht kontrollierbaren Einfühlung in einen Gegenwarts-Relativismus, letztlich in eine Willkür der literarischen Interpretation hinein. Was der psychologisch betonten Einfühlungs-Hermeneutik fehlt, ist die Kontrolle an den nicht relativistisch zu nivellierenden, strukturellen oder »grammatischen« bzw. »technischen« Elementen der Sprache. Diese Einseitigkeit mache »weitere Bereiche der Forschung jener Zeit«, also der Zeit nach Dilthey, »heute unlesbar« (II, 117). Bevor ich diese Linie der »grammatischen« und »technischen«19, also – wie wir heute sagen würden – sprachtheoretisch fundierten Interpretation mit Szondi weiter führe, möchte ich – um in der Reihenfolge der oben aufgeworfenen Fragen zu

19 Die Abgrenzung der »technischen« zur rein »psychologischen« bleibt in Szondis Augen unscharf bei Schleiermacher.

182 | R AINER J. K AUS

bleiben – auf den Unterschied des Historismus zu Walter Benjamin kurz eingehen. 3. Exkurs zu Benjamins »Interrelationismus « Wie oben schon zitiert, bescheinigt Szondi dem Denken Walter Benjamins eine Überwindung des Historismus durch seine Theorie vom Fortleben der Werke, »vom Nachreifen auch der festgelegten Worte«. Dieses Nachreifen ist das Ergebnis davon, dass das rückblickende Subjekt, Leser oder Forscher, sich seinerseits relativiert, sodass von einem dialogischen oder hermeneutischen »Relationismus« (im Unterschied zu einem Relativismus), genauer »Interrelationismus«, wie ich es nennen möchte, gesprochen werden kann: Das historische Kunstwerk spiegelt sich in unserem heutigen Erkennen, welches aber seinerseits von jenem gespiegelt wird in dem Sinne, dass es unserem Erkennen nicht willkürliche Maßstäbe setzt. Die wechselseitige Unverfügbarkeit von Heutigem und Historischem füreinander macht die »kritische Konstellation« aus, von der Benjamin spricht. Das Offenhalten dieser Differenz bedeutet aber gerade nicht die einmalige Fixierung darauf, »wie es sich wirklich zugetragen hat«, sondern eröffnet zugleich die Differenz zwischen den jeweils neuen Rezeptionen. Ein literarisches Kunstwerk wird von uns mit der Frage herausgefordert, was es für uns Heutige noch bedeuten kann. Es fordert aber gleichermaßen uns heraus, was wir ihm als einen bleibenden Sinn bieten können. Diese kritische Interrelation ist etwas ganz anderes sowohl als historistisches Negieren der Gegenwart einerseits wie triumphaler Relativismus der Gegenwärtigen andererseits.20 Sosehr diese allgemeinen Gedanken

20 In Hans Ulrich Gumbrechts Kapitel über »Das Historisieren von Dingen« in: ders.: Die Macht der Philologie, Frankfurt/Main 2003, S. 88-108, vermisse ich die hier verhandelte Überwindung des historischen Historismus. »Zumindest im frühen neunzehnten Jahrhundert war die Fähigkeit (oder die Notwendigkeit) zur Historisierung zwar zu einem Agens der Professionalisierung geworden, doch welches war eigentlich die diese Fertigkeit definierende Kompetenz? […] Ich für meinen Teil vermag nur eine einzige Aktivität des ›Historisierens‹ auszumachen, und in deren Sinn wird ein Gegenstand dadurch historisch, daß der Betrachter dazu bereit ist, eine ursprüngliche Trägheit zu überwinden, nämlich die Trägheit der Annahme, er wisse genug, um von einem einzigen Objekt, auf das er stößt, guten (oder ›ausreichenden‹) Gebrauch zu machen. […] Es ist demnach eine Vorbedingung der Historisierung, daß man dazu bereit ist, einen Schritt von der unser Alltagsleben durchdringenden pragmatischen Orientierung zurückzutreten« (ebd., S. 97f.). Dieser gegenüber Szondis Intentionen weniger

differenzierten und weniger

erkenntnisoptimistischen Sicht

entsprechen

P ETER S ZONDIS V ISION EINER LITERARISCHEN H ERMENEUTIK | 183

zu Benjamins hermeneutischer und geschichtsphilosophischer Haltung der Konkretisierung an Beispielen bedürften, wende ich mich der Kürze wegen wieder Szondis Auswertung von Schleiermacher zu. 4. Schleiermachers Postulat der genetischen Interpretation Es fällt schwer, ein Beispiel von Schleiermachers »Theorie« der genetischen Interpretation – mit der anspruchsvollen, an Kant erinnernden Formulierung21 »Ich verstehe nichts, was ich nicht als nothwendig einsehe und construiren kann« – aus Szondis Texten zu bringen. Meines Erachtens handelt es sich auch bei Schleiermacher eher um ein Postulat, einen methodologischen Grundsatz, als um eine ausgearbeitete Theorie. Ich möchte hier Schleiermacher – mit Szondi – selbst zitieren, wie er die beiden oben schon unterschiedenen Momente, Sprache und Denken (oder Geist), mit den beiden Interpretationsarten, der »grammatischen« und der »psychologischen«, in ihrem »Ineinandersein« (II, 115) darlegt. Dadurch dürfte klar werden, dass die »genetische Interpretation« diesen beiden Interpretationsarten gegenüber nichts Drittes ist, sondern deren Zusammen darstellt: »Jeder Mensch [ist] auf der einen Seite ein Ort, in welchem sich eine gegebene Sprache auf eine eigentümliche Weise gestaltet, und seine Rede ist nur zu verstehen aus der Totalität der Sprache. Dann aber auch ist er ein sich stetig entwickelnder Geist, und seine Rede ist nur als eine Tatsache von diesem, im Zusammenhang mit den übrigen« (II, 114).

resignative Bemerkungen wie diese: »Wir sollten keineswegs die Möglichkeit ausschließen, daß die Geisteswissenschaften tatsächlich an ihr historisches Ende gelangt sein könnten« (ebd., S. 113). Ohne die im Folgenden entwickelte strukturhermeneutische von Relativismus und Beliebigkeit der Hermeneutik würde sich diese Perspektive in der Tat nahe legen. 21 »Sie [scl. die Naturforscher] begriffen, dass die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt […] Hierdurch ist die Naturwissenschaft allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden, da sie so viel Jahrhunderte durch nichts weiter als ein bloßes Herumtappen gewesen war. […] …was wir als die veränderte Methode der Denkungsart annehmen, dass wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie hineinlegen« (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, EA Riga 1787, B 11ff.).

184 | R AINER J. K AUS »Die Rede ist auch als Tatsache des Geistes nicht verstanden, wenn sie nicht in ihrer Sprachbeziehung verstanden ist […], sie ist aber auch als Modifikation der Sprache nicht verstanden, wenn sie nicht als Tatsache des Geistes verstanden ist« (II, 115).

Einsicht in die Genese, also durch Erkenntnis der dichterischen Initialzündung, gehört den Tatsachen des Geistes an, ist jedoch nur in der Entfaltung der sprachlichen, »grammatischen« Mittel sprachlich da. Und – dies ist der Sinn des erstaunlichen, vorhergehenden Satzes, die einzelne Rede oder literarische Äußerung ist nur zu verstehen »aus der Totalität der Sprache«. Dies ist das genetische Verstehen im Sinne der idealistischen Denker seit Kant: jede sprachliche Erscheinung als notwendige Äußerung eines Ganzen bzw. erster Prinzipien, aus denen sich das Ganze ergibt.22 Eine solche Sprachtheorie lag zu Szondis Zeit nicht vor. Die universale Transformationsgrammatik Noam Chomskys erhob zwar schon einen solchen Anspruch, wurde in Europa jedoch noch nicht intensiv diskutiert und konnte ihn letztlich – wie inzwischen allgemein zugestanden wird – bei Weitem nicht erfüllen. Inzwischen macht eine Sprachtheorie noch untergründig von sich reden, welche die universalgrammatischen Ansprüche Chomskys mit ganz anderen, nämlich semiotischen und reflexionstheoretischen Mitteln zu erfüllen beansprucht. Ich kann diese Sprachtheorie des philosophischen Semiotikers Johannes Heinrichs an dieser Stelle nicht in ihren reflexionstheoretischen Grundlagen darlegen, sondern nur umreißen, in welcher Weise sie der Vision Szondis von einer neuen Hermeneutik in Fortführung Schleiermachers gerecht werden könnte.

22 Der oben schon genannte Jean Grondin bemerkt: »Mehr und mehr wird Schleiermacher darüber ins klare gekommen sein, daß der Ertrag einer rein grammatikalischen Auslegung recht bescheiden ausfallen musste. Letztes Ziel der Interpretation war es für diesen Romantiker, hinter die Rede zum inneren Denken vorzustoßen. Faktisch ist es doch meist so, daß der eine sprachliche oder grammatische Zustand einer Stelle unproblematisch ist. […] Deshalb will und muss man seine Rede ›interpretieren‹, d.h. verständlich machen durch Rückgang auf einen Aussagewillen« (J. Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik [s. Anm. 10], S. 109). Wir werden sehen, wie wenig selbstverständlich und wie ergiebig die »grammatische Interpretation« ist und wie diese vor dem überholten Rückgang allein auf die intentio auctoris bewahrt und einen objektiveren, weniger willkürlichen Zugang zur intentio operis ermöglicht.

P ETER S ZONDIS V ISION EINER LITERARISCHEN H ERMENEUTIK | 185

5. Stilistik als logische, satzübergreifende Fortführung der Grammatik Der Begriff der »grammatischen Interpretation« bei Schleiermacher umfasst, wie schon gesehen, nicht etwa nur die Fragen der Satzlehre, der Grammatik im engeren Sinne. Allenfalls könnte man den Begriff der »Syntax« heranziehen, wenn man Syntax in dem weiten, von Charles W. Morris geprägten semiotischen Sinn als die Dimension der »Verbindung zwischen den Zeichen« versteht.23 Es wird jedoch selten oder – außer bei Heinrichs – nirgends gesehen, dass die Stilistik einen Teil der Syntax ausmacht. Er unterscheidet gemäß den gegenüber Morrisʼ Dreiheit (Syntax, Semantik, Pragmatik) auf vier erweiterten semiotischen Dimensionen: • • • •

eine sigmatische Syntax oder Formenlehre eine semantische Syntax oder Satzlehre eine pragmatische Syntax oder Textsortenlehre eine syntaktische Syntax oder textsyntaktische Stilistik, das sind die Stilfiguren

Diese Lehre von den Stilfiguren, die uns hier allein interessieren kann, stellt nichts anderes als die Fortsetzung der Satzlehre dar, sofern dieselbe Reflexionslogik, welche für die Satzlehre maßgebend ist24, über die Satzgrenzen quantitativ und qualitativ hinausgehend, zu einer Ortsbestimmung und Systematik der Stilfiguren führt.25 Die Hauptgliederung der stilistischen Figuren oder Tropen im weiteren Sinn von formellen, logisch markanten Wendungen lautet: •

Wiederholungsfiguren oder »rhythmische Spiele« der Sprache (wie Alliteration, Assonanz, Reim, Parallelismus, Chiasmus und viele weitere Untergliederungen)

23 Charles W. Morris: Grundlagen der Zeichentheorie. Ästhetik und Zeichentheorie, München 1975 (engl.: Foundation of the Theory of Signs, Chicago 1938; Esthetics and the Theory of Signs, Den Haag 1939). 24 Hier in der Satzlehre liegt die Berührung mit Noam Chomsky, wenngleich Heinrichs nicht mit dichotomischen, zweiwertigen Verzweigungen arbeitet, sondern mit einer Logik der Vierwertigkeit. Vgl. Johannes Heinrichs: Sprache, Bd. 4, München 2009. 25 Diese Systematik der Stilfiguren, die eigentlich »syntaktische Syntax«, findet sich (zusammen mit der »pragmatischen Syntax« der Textsorten) in Bd. 5 von Sprache, München 2009, S. 137-351.

186 | R AINER J. K AUS • •



Analogiefiguren oder »Gleichnisspiele« der Sprache (Metonymien, Metaphern, Symbole, Allegorien) Wahrheitstropen oder »Maskenspiele« der Sprache (wie Abschwächung/Hyperbel, Euphemismus/Emphase, Ironie und Scherz, immutatio syntactica = Abwandlung der Satzform ) Spiegelungstropen oder »Spiegelspiele der Sprache« (diese gliedert Heinrichs in: Wortspiele, Antithesen, Verbindungstropen und Form-InhaltsTropen)

Das Erstaunliche ist, dass in diesen Stilfiguren, welche in der rhetorischen Tradition nur zum Teil als »Tropen« (Wendungen) überliefert wurden, erstmals eine logische, nämlich reflexionslogische Ordnung ausgemacht wird.26 (Im Hinblick auf diese logische »Aufhebung«, auch im Sinne von Bewahrung der Rhetorikund Stil-Tradition, kann man durchaus von einem »Zurück in die Zukunft« sprechen, um den angekündigten Titel des Kollegen Thomas Wortmann aufzugreifen!) Wenn oben gefragt wurde: In welcher Beziehung stehen die »grammatischen Mittel« im Sinne Schleiermachers zur seiner Theorie der Metapher, wie stehen überhaupt Grammatik und Stilistik zueinander, so findet sich in dieser Art von semiotisch-reflexionslogischer Stilistik eine Antwort: Eine logisch geleitete Stilistik erfüllt tatsächlich die oben genannten Postulate Schleiermachers, die in dem Ausspruch gipfeln: »Ich verstehe nichts, was ich nicht als nothwendig einsehe und construiren kann.« Das strukturell-grammatische Verständnis der stilistischen Phänomene geht zwar über die Analyse der formellen Stilfiguren (oder Tropen im weitesten Sinn von stilistischen Wendungen) hinaus. Schon die Charakterisierung eines Stils als substantivisch, adjektivisch, verbal usw., also nach dem bloßen Vorwiegen der Wortarten oder von Satzteilen, ist grammatisch-stilistische Analyse. Doch sie gipfelt in der hier ganz grob umrissenen Strukturlogik der Stilfiguren, welche Logik – was ausführlicher darzulegen hier nicht möglich ist – eine Fortsetzung

26 Es wäre lohnend, an Ecos wie immer kulturgesättigte Bemerkungen zur Metapherntheorie in: Die Grenzen der Interpretation, München 32004, S. 191-216, die Maßstäbe einer semiotischen Reflexionslogik anzulegen. Z.B. ist nicht einzusehen, weshalb eine einfache Metapher wie »Tischbein« als Katachrese anzusprechen ist (ebd., S. 191), worunter man nach der rhetorischen Tradition einen Bildbruch, einen Wechsel von einem Bild zum anderen, versteht, welcher nach Heinrichs logisch viel später, bei den oben erwähnten Form-Inhalts-Tropen, anzusiedeln ist. Vgl. J. Heinrichs, Sprache, Bd. 5, S. 326-351.

P ETER S ZONDIS V ISION EINER LITERARISCHEN H ERMENEUTIK | 187

der bereits in den Kategorien des Satzbau leitenden universalen Reflexionslogik darstellt. Dennoch wird man einwenden, dass die Individualität des literarischen Kunstwerkes, um die es Szondi besonders in seinem Essay »Über philologische Erkenntnis« zu tun war, in dieser Strukturanalyse und »strukturellen Hermeneutik«27 nicht erschöpft sei. Dieser Einwand hat insofern seine Berechtigung, als das Erfassen einzelner allgemeiner Strukturen für sich noch nicht die einmalige Individualität des Kunstwerks erschöpft, weder in der impliziten Reflexion der natürlichen Rezeption noch in der ausdrücklich-theoretischen Reflexion und Analyse des Literaturwissenschaftlers. Wer jedoch einmal versucht hat, die Fülle der strukturell erfassbaren Stilfiguren in einem dichten Stück Literatur herauszuheben (wie ich es in Literaturpsychologie und Literarische Hermeneutik exemplarisch an kurzen Texten von Kafka und Thomas Mann vorgeführt habe), wird zugestehen müssen, dass die einmalige Kombination der stilistischen Wendungen der Individualität des einzelnen Kunstwerks äußerst nahe kommt, näher jedenfalls als alles bloß geschmäcklerische Hindeuten auf nur vage erfasste Besonderheiten der dichterischen Texte. Ähnlich wie die biologische Individualität eines Menschen wesentlich aus der Kombination der Gene hervorgeht, so die Individualität des literarischen Kunstwerks wesentlich aus der Kombination der strukturlogisch erfassbaren stilistischen Züge. In beiden Fällen wird es etwas Seelisches geben, das sich in dieser materiellen Kombination ausdrückt. Dies wird der psychologischen und geistesgeschichtlichen Interpretation entsprechen. Doch der Literaturwissenschaftler sollte viel mehr als bisher die präzise »grammatische Interpretation« in Schleiermachers und Szondis Sinne pflegen, bevor er sich in Geistesgeschichte ergeht und dabei die Frage offen lässt, was das Stück Literatur überhaupt zum Kunstwerk macht. Dass ich mit diesen Betrachtungen über den Zusammenhang von Strukturellem und Individuellem nicht an Szondi vorbeirede, zeigt seine oben schon zitierte Formulierung, wonach die »technische Interpretation« im Sinne Schleiermachers, ebenso wie die grammatische, »in den Grundzügen der Komposition eines Werkes die Individualität eines Autors konkretisiert findet« (II, 115).

27 Die Ausdrücke »Strukturhermeneutik« und »strukturale« und »strukturelle Hermeneutik« habe ich selbst in die Diskussion eingeführt in: Rainer J. Kaus: Literaturpsychologie und Literarische Hermeneutik. Sigmund Freud und Franz Kafka, Frankfurt/Main 2004. Freuds Traumdeutung von 1900 wurde dort als Modell »strukturaler Hermeneutik« mit starken Analogien zur Kategorienlehre Kants charakterisiert.

188 | R AINER J. K AUS

Dass auch die kombinatorische Analyse das Erleben des Kunstwerks in seiner Einmaligkeit nicht ersetzen kann, sei gern zugestanden, mit dem Zusatz: Es soll dieses Erleben auch niemals ersetzen, sondern vielmehr dazu hinführen.28 Übrigens muss die stilistische Analyse in diesem Sinne der Kombination von Stilfiguren auf kurze Textpassagen begrenzt werden, solange sie nicht mit elektronischen Programmen durchgeführt werden kann. Dies erfordert und rechtfertigt eine Konzentration der strukturhermeneutischen Analyse auf »schöne Stellen«, die pars pro toto oder holographisch für den ganzen Text stehen.29 Ich schließe diese Betrachtung über Grammatik und Stilistik mit der Feststellung: Die von Schleiermacher wie von Szondi angezielte spezifisch literarische Hermeneutik erfährt mit solcher sprachtheoretisch fundierten, reflexionslogischen Stilanalyse eine präzise und konkrete Realisierung, wie sie Peter Szondi leider zu seinen Lebzeiten noch nicht konkret erkennbar war, die ihm jedoch zweifellos vorschwebte. Allein durch syntaktisch-stilistische Analyse kann die »objektive« intentio operis im Unterschied zur »subjektiven« intentio auctoris – um die von Eco belebten mittelalterlichen Ausdrücke zu benutzen30 – weitgehend ermittelt werden. Christoph König, der Herausgeber des Briefwechsels zwischen Paul Celan und Peter Szondi, hat mit Recht die Verbindung zwischen syntaktischer Strenge und literarischem Ausdruck bei Szondi hervorgehoben: »›La syntaxe est une faculté de lʼâme‹ etwa zählte zu den Aphorismen, die Szondi für den Band Paul Valéry: Windstriche. Aufzeichnungen und Aphorismen [Wiesbaden: Insel Verlag 1959] auswählte und übersetzte: ›Die Syntax ist eine Fähigkeit der Seele‹. Er wählte diesen Aphorismus, da der Gedanke seine Person im Kern traf, und gerade indem er wähl-

28 Für eine Wiederbelebung des Erlebnisbegriffes, wenn auch weniger im Sinne Diltheys als eher im Sinn von Friedrich Gundolfs »Erlebnis als Methode«, macht sich H. U. Gumbrecht stark. Vgl. H. U. Gumbrecht: Die Macht der Philologie (s. Anm. 20), S. 122137. 29 Vgl. Wolfgang Braungart/Joachim Jacob: Stellen, schöne Stellen oder: Wo das Verstehen beginnt, Göttingen 2012: »Die Literatur, vielleicht die Kunst überhaupt, entwickelt ihre Wirkung ›stellenweise‹. So ist die Stelle der Ort der Erfahrung besonderer Intensität, von der aus sich bisweilen auch ein Zugang zum Ganzen eröffnen mag« (ebd., S. 7). 30 U. Eco: Die Grenzen der Interpretation (s. Anm. 26), bes. S. 148ff.

P ETER S ZONDIS V ISION EINER LITERARISCHEN H ERMENEUTIK | 189 te, was ihn traf, bekräftigte er Valérys Gedanken. Der Gedanke, die Seele könne sich dichterisch ausdrücken, weil ihr die Strenge der Syntax eigen ist.«31

6. Die reflexionstheoretische Herleitung der literarischen Gattungen Gibt es von der »Grammatik« und »Technik« der literarischen Komposition her, somit von der heute möglichen Sprachtheorie und Stilistik her, einen Weg zur Theorie der literarischen Gattungen, wie Schleiermacher ihn offenbar suchte? Dieser Weg wird von der reflexionstheoretischen Semiotik sehr klar aufgezeigt. Die literarischen Gattungen werden von Heinrichs erstmals selbst sprachtheoretisch und nicht von sprachexternen Gesichtspunkten her begründet, bisher am ausführlichsten in seinem Kommentar zu Hölderlins Hyperion.32 Damit bezieht er eine deutliche Gegenposition zu der derzeit beliebten Auffassung, die literarischen Gattungen seien bloß historisch zufällige und westliche Erscheinungen.33 Auch hier schließen die sprachlogisch notwendigen Gattungen eine Vielfalt historischer Variationen nicht aus. Die Variationen werden im Gegenteil sowohl als Untergliederungen wie als historische Abwandlungen erst sichtbar. Die Gattungen erscheinen in dieser Sicht als die künstlerischen, d.h. metasprachlichen Ausformungen der vier semiotischen Dimensionen der Sprache: •



Die sigmatische, objektbezogene Dimension der Sprache wird in der künstlerischen Sachliteratur wie Essay, Tagebuch, Brief, Aphorismus kultiviert – Kunstformen der Sprache, welche von der traditionellen Gattungstheorie (Epik, Lyrik, Dramatik) gar nicht berücksichtigt werden. Die semantische Dimension der subjektiven Aneignung und Speicherung der Wortbedeutungen ist Grundlage für die (zumeist, aber nicht notwendig fiktive) Vorstellungs-Literatur, genannt Epik (alte Epen, Sagen und Märchen, neuere Romane, Novellen usw.).

31 Paul Celan/Peter Szondi: Briefwechsel, hg. von Christoph König, Frankfurt/Main 2005, S. 112f. 32 Johannes Heinrichs: Revolution aus Geist und Liebe. Hölderlins »Hyperion« durchgehend kommentiert, München 2007, S. 35-58. 33 Vgl. Oliver Kohns/Claudia Liebrand (Hg.): Gattung und Geschichte. Literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie, Bielefeld 2012, sowie die Rezension des Buches durch Heinrichs bei Amazon unter dem kennzeichnenden Titel Aber der Zeitgeist beugt all uns nieder.

190 | R AINER J. K AUS •



Die pragmatische Dimension der Sprache als interpersonalen Handelns wird in der Dramatik des Sprachhandelns (genauer: der Mischung von Handeln und Sprachhandeln) auf der Bühne künstlerisch ausgewertet. Schließlich stellt die Lyrik diejenige Literaturgattung dar, in welcher die syntaktische Dimension der Sprache besonders kultiviert wird.

Vollends machen jedoch erst die Untergliederungen dieser Hauptgattungen nach dem reflexionstheoretischen Prinzip der »dialektischen Subsumtion«, bekannter als fraktale Untergliederung, das Thema Gattungstheorie in ganz neuer Weise interessant und bedeutsam für die literarische Hermeneutik.34 Es muss an dieser Stelle genügen, darauf hinzuweisen, dass auch in Bezug auf die Bedeutung der Gattungsformen für die literarische Hermeneutik Schleiermacher wie Szondi Wichtiges visionär vorwegnahmen, was derzeit auf sprachtheoretischen und semiotischen Grundlagen zum Durchbruch ansteht. 7. Strukturhermeneutik und Rezeptionsästhetik »Strukturhermeneutik« besagt, dass objektive Strukturen im Text das gesicherte Fundament jedweder Interpretation bieten können. Damit ist die Leitfrage der Hermeneutik von Umberto Eco, »aufgrund welchen Parameters wir zwischen verschiedenen Interpretationen unterscheiden können«35, sowohl beantwortet wie auch relativiert. Relativiert insofern, als es zunächst gar nicht primär um eine Vielfalt inhaltlicher Interpretationen und folglich nicht um die mühsame Abwehr willkürlicher Interpretationen geht, sondern um einen formalen Maßstab, an dem jegliche sinnvolle Interpretation gemessen werden kann. Es handelt sich hier um nichts Geringeres als um ein anderes hermeneutisches Paradigma als dasjenige, das Eco in all seinen Büchern umtreibt. »Die Grenzen der Interpretation« werden durch formale Kriterien zwar nicht auf Eindeutigkeit reduziert, doch viel enger gezogen, als es eine Orientierung allein am inhaltlichen Wortbestand vermöchte. Der literarische Text ist nicht länger »ein Picknick, zu dem der Autor die Wörter beisteuert und der Leser den Sinn«36, sondern eine (im weiteren Sinn) syn-taktische Struktur von Wortbedeutungen, deren sinnvolle Assoziationsmöglichkeiten durch Form entschieden gebändigt wird. Man könnte in

34 Ich muss an dieser Stelle auf ein derzeit noch unveröffentlichtes Manuskript (Philosophischer Kurs, Sept. 2012) von Johannes Heinrichs verweisen, in das er mir dankenswerter Weise Einblick gewährte. 35 U. Eco: Die Grenzen der Interpretation (s. Anm. 26), S. 78. 36 Ebd., S. 77.

P ETER S ZONDIS V ISION EINER LITERARISCHEN H ERMENEUTIK | 191

Luhmanns Jargon von einer Reduktion der semantischen Komplexität durch Form sprechen. Diese allein ist das spezifisch Literatische, nicht eine vermeintlich notwendige Fiktionalität.37 Abschließend einige wenige Bemerkungen zu dem von Szondi vorgegebenen Stichwort »Rezeptionsästhetik«, die damals (um 1970) durch die Konstanzer Schule tonangebend wurde.38 Was bleibt nach dem Gesagten für den Gedanken der Rezeptionsästhetik, also für das jeweilige Neuentstehen des literarischen Kunstwerks, seiner jeweiligen Vollendung erst im jeweiligen Rezipienten, noch übrig, wenn die strukturellen Vorgaben so stark betont werden wie in dem hier dargelegten strukturhermeneutischen Konzept? Stehen strukturell-objektive Hermeneutik und Rezeptionsästhetik nicht in einem unaufhebbaren Gegensatz, zumindest einem Spannungsverhältnis? Es wurde im vorhergehenden Abschnitt 6 schon betont, dass »Rezeption« zunächst die spontane Reflexionsleistung des Lesers ist, und diese wurde von der strukturhermeneutischen Analyse in ausdrücklich-theoretischer Reflexion unterschieden. Diese beiden zunächst grundlegend verschiedenen Reflexions- und Rezeptionsarten stehen jedoch nicht einfach nebeneinander, sondern in Interrelation. So soll die gute hermeneutische Analyse zweifellos das Erleben des Kunstwerkes (somit die spontan gelebte Reflexion) bereichern, nicht etwa ersetzen. Umgekehrt wird die hermeneutische Analyse motiviert nicht etwa nur von den Schwierigkeiten, die ein literarischer Text bietet (dies war Anstoß für die hermeneutischen Bemühungen vor Schleiermacher), sondern nicht weniger von der Faszination, die von ihm ausgeht und die man oft nicht so leicht erklären oder rational fassen kann. Die strukturelle Hermeneutik dient also der intersubjektiven Verständigung über das Faszinosum sowie der Möglichkeit einer »objektiven« (intersubjektiven) Bewertung. Meines Erachtens sollte es in der Rezeptionsästhetik gerade um das Wechselspiel dieser beiden Rezeptionsarten gehen, somit also um die Bedeutung der ausdrücklichen Hermeneutik für die erlebende Rezeption. In dem Streit darüber, wieweit der literarische Text bereits fertig ist, steht die Strukturhermeneutik zunächst klar auf der Seite des Vorgegebenen, Nicht-Willkürlichen. Gerade das herauszuarbeiten, ist ihr besonderes Bemühen. Insofern sie aber von der Fruchtbarkeit ihres Bemühens auch für die spontane, erlebende Rezeption überzeugt ist,

37 Zur Auseinandersetzung um Fiktionalität als vermeintliches Kriterium von Literatur vgl. J. Heinrichs: Revolution aus Geist und Liebe (s. Anm. 32), S. 25-30, S. 549. 38 Die zentralen Vertreter der Konstanzer Schule waren der Romanist Hans Robert Jauß, der Latinist Manfred Fuhrmann, der Anglist Wolfgang Iser sowie der Germanist Wolfgang Preisendanz.

192 | R AINER J. K AUS

davon also, dass ihre Analysen nicht bloße Kopfarbeit bleiben, sondern zum ganzheitlichen Erleben und darüber hinaus zur intersubjektiven Verständigung darüber dienen, muss sie einräumen, vielmehr darf sie geltend machen: wie sehr das Herausarbeiten oder Bewusstmachen jenes an sich strukturell Vorgegebenen für den Rezipienten entscheidend ist – wie sehr mit anderen Worten das literarische Kunstwerk auf die verschiedene Rezeptionsfähigkeit des Lesers angewiesen ist. In diesem Sinne hat die Vollendung des Werkes erst in der jeweiligen Rezeption nichts mit Willkür zu tun, sondern mit Kultivierung: Das einst ausdrücklich Erarbeitete soll zur zweiten Natur der spontanen Rezipienten werden. Die Hermeneutik, nicht zuletzt die anspruchsvolle Strukturhermeneutik, findet darin ihren entscheidenden »Probierstein« – mit welchem Bild Kant öfter die Erfahrbarkeit der von ihm entdeckten Kategorien betonte39. 8. Abschlussbemerkungen/Zusammenfassung Es wurde der Versuch gemacht, Szondis Vision einer literarischen Hermeneutik einerseits genau und wörtlich zu nehmen, andererseits aber nach 40 Jahren in eine »kritische historische Konstellation« im Sinne Benjamins zu stellen. Es scheint mir evident, dass Peter Szondi Perspektiven erahnte, die erst heute, aufgrund des Abklingens gewisser Irrtümer wie des linguistic turn im flachen Verständnis jener Jahre und aufgrund des Heraufkommens neuer konstruktiver Sprachtheorie als Grundlage für Universalgrammatik und Stilistik sowie zur Theorie der literarischen Gattungen realisierbar sind. Es ist nicht auszuschließen, dass gerade die Erkenntnis seiner Unzeitgemäßheit, zusammen mit dem Fortwirken seiner traumatischen Erlebnisse als Jugendlicher in der Nazi-Zeit, zu seiner Depression beitrug, aufgrund derer er, just vor dem neuen Aufbruch nach Zürich, freiwillig aus dem Leben schied. Umso mehr war mir daran gelegen, ihn als Zeitgenossen einer gegenwärtigen, vielmehr künftigen, fortgeschrittenen literarischen Strukturhermeneutik vorzustellen. Das spezifisch Literarische solcher Hermeneutik ergibt sich aus dem Ausdruckswert metasyntaktischer Strukturen und ihrer je einmaligen Kombination. Auf Peter Szondis deutlich belegbare Intentionen »zurück gehen«, heißt, mit ihm zusammen und in seinem Sinne in die Zukunft einer spezifisch literarischen und zwar – im Unterschied zu Gadamer – durchaus methodischen, an Sprachstrukturen festzumachenden Hermeneutik gehen.

39 »Ein Probierstein, auch als Prüfstein bezeichnet, ist ein kleiner Reibstein, der zur Feststellung der Zusammensetzung und des Reinheitsgrades von Edelmetallen benutzt wird« (Wikipedia-Artikel: »Probierstein«; http://de.wikipedia.org/wiki/Probierstein vom 3. April 2014).

P ETER S ZONDIS V ISION EINER LITERARISCHEN H ERMENEUTIK | 193

L ITERATUR Apel, Karl-Otto: Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt/Main 1976. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften in 12 Bänden, Frankfurt/Main 1980. Braungart, Wolfgang/Jacob, Joachim: Stellen, schöne Stellen oder: Wo das Verstehen beginnt, Göttingen 2012. Celan, Paul/Szondi, Peter: Briefwechsel, hg. von Christoph König, Frankfurt/Main 2005. Eco, Umberto: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation, München 22002. Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation, München 32004. Grondin, Jean: Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 32012. Gumbrecht, Hans Ulrich: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten, Frankfurt/Main 2003. Günther, Gotthard: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. I-III, Hamburg, 1976-1980. Heinrichs, Johannes: Reflexionstheoretische Semiotik, Teil 2, Sprachtheorie, Bonn 1981. Heinrichs, Johannes: Die Logik der »Phänomenologie des Geistes«, Bonn 21983. Heinrichs, Johannes: Reflexion als soziales System, Bonn 1976. Neuauflage als: Logik des Sozialen, München 2005. Heinrichs, Johannes: Revolution aus Geist und Liebe. Hölderlins »Hyperion« durchgehend kommentiert, München 2007. Heinrichs, Johannes: Sprache, 5 Bände, München 2008/9: Bd. 1: Die Zeichendimension, Bd. 2: Die Bedeutungsdimension, Bd. 3: Die Handlungsdimension, Bd. 4: Die Satzbauformel, Bd. 5: Textsorten und Stilfiguren oder die Festspiele des Stils (Stilistik). Holenstein, Elmar: Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus, Frankfurt/Main 1975. Holenstein, Elmar: Linguistik, Semiotik, Hermeneutik. Plädoyer für eine strukturale Phänomenologie, Frankfurt/Main 1976. Holenstein, Elmar: Von der Hintergehbarkeit der Sprache: Kognitive Unterlagen der Sprache, Frankfurt/Main 1980. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, EA Riga 1781 (A), 21787 (B). Kaus, Rainer J.: Der Fall Goethe – ein deutscher Fall. Eine psychoanalytische Studie. Mit einem Vorwort von Léon Wurmser, Heidelberg 1994. Kaus, Rainer J.: Erzählte Psychoanalyse bei Franz Kafka. Die Deutung von Kafkas Erzählung »Das Urteil«, Heidelberg 1998.

194 | R AINER J. K AUS

Kaus, Rainer J.: Eine kleine Frau. Kafkas Erzählung in literaturpsychologischer Sicht. Mit einem Vorwort von Walter Schönau und einem Nachwort von Léon Wurmser, Heidelberg 2002. Kaus, Rainer J.: Literaturpsychologie und Literarische Hermeneutik. Sigmund Freud und Franz Kafka, Frankfurt/Main 2004. Kaus, Rainer J.: Literatur als Proto- oder Meta-Sprache? Wie stehen psychoanalytische und heutige sprachtheoretische Annäherung an Literatur zueinander? (Unveröff. Beitrag zu einem Symposion, Köln 2011). Kohns, Oliver/Liebrand, Claudia (Hg.): Gattung und Geschichte. Literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie, Bielefeld 2012. Mattenklott, Gerd: Bei Gelegenheit einer Ausgabe von Brief-Dateien, in: Website des Peter-Szondi-Instituts, Berlin http://www.geisteswissenschaften.fuberlin.de/we03/geschichte_x/peter_szondi/index.html, April 2009. Morris, Charles W.: Grundlagen der Zeichentheorie. Ästhetik und Zeichentheorie, München 1975 (engl.: Foundation of the Theory of Signs, Chicago 1938; Esthetics and the Theory of Signs, Den Haag 1939). Popper, Karl R.: Gesammelte Werke, Bd. 4: Das Elend des Historizismus, Tübingen 2004. Szondi, Peter: Einführung in die literarische Hermeneutik. Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 5, hg. von Jean Bollack/Helen Stierlin, Frankfurt/Main 1975. Szondi, Peter: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt/Main 1967, als 2. Aufl. in der edition suhrkamp (Bd. 379), Frankfurt/Main 1970. Auch in: Schriften II. Szondi, Peter: Briefwechsel, hg. von Christoph König/Thomas Sparr, Frankfurt/Main 1993, 21994. Szondi, Peter: Schriften in II Bänden, hg. von Jean Bollack u.a. mit einem Nachwort von Christoph König, Frankfurt/Main 2011.

»Dumme Semantik« oder: Wie klug muss eine Metasprache sein? Ein Stimmungs-Bild S TEFAN B ÖRNCHEN »Ich möchte sagen – [...] einmal mehr [...] – es gibt keine Metasprache.« JACQUES LACAN

1

»Anführungszeichen [...] sind Handschuhe der zimperlichen Metaphysik.« THEODOR W. ADORNO

D ER W INTERSCHLUMMER IST VORBEI , UND LÄSST SICH WIEDER HÖREN

2

S TIMMUNG

»Die Kommunikation der Stimmung verläuft suggestiv, ansteckend«, hat David Wellbery 2003 in seinem Artikel mit dem Titel »Stimmung« in den Ästhetischen Grundbegriffen geschrieben.3 Seit einigen Jahren diskutiert die Literaturwissen-

1

Jacques Lacan: »Fadenringe«, in: ders.: Das Seminar von Jacques Lacan, Buch XX (1972-1973): Encore. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller. Übersetzt von Norbert Haas, Vreni Haas und Hans-Joachim Metzger, Weinheim, Berlin 21991, S. 127-147, hier S. 127.

2

Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt/Main

3

David E. Wellbery: »Stimmung«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grund-

1964, S. 81. begriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5: PostmoderneSynästhesie, Stuttgart, Weimar 2003, S. 703-733, hier S. 705.

196 | S TEFAN B ÖRNCHEN

schaft wieder diesen Begriff,4 und wo immer das geschieht, fehlt nicht der Verweis auf Wellberys Artikel. Das ist insofern kurios, als Wellbery ihn eigentlich so beendet, als wäre mit diesem Artikel – zumindest vorerst – auch die Geschichte des Begriffs ›Stimmung‹ an ihr Ende gekommen: »Die Stimmungssemantik, könnte man sagen, ist während der zweiten Hälfte des 20. J[a]h[rhunderts] dumm geworden, und auch das wird zu ihrer philosophischen Belanglosigkeit beigetragen haben. [...] Sollte dies zutreffen, dann wäre eine [...] bis auf die Antike

4

Vgl. hierzu Karl Heinz Bohrer: »Denn Gedanken stehn zu fern? Moderne aus dem Geist der Musik«, in: ders.: Die Grenzen des Ästhetischen, München, Wien 1998, S. 37-57; Hans Ulrich Gumbrecht: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit in der Literatur, München 2011; Anna-Katharina Gisbertz: Stimmung – Leib – Sprache. Eine Konfiguration in der Wiener Moderne, München 2009, mit einem Überblick S. 9-49; dies. (Hg.): Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie, München 2011; Hans-Georg von Arburg: »Stimmung und Methode? Überlegungen zur Staiger-Heidegger-Spitzer-Debatte (1950/51)«, in: ders./Sergej Rickenbacher (Hg.), Concordia discors. Ästhetiken der Stimmung zwischen Literaturen, Künsten und Wissenschaften, Würzburg 2012, S. 245-259. Zu den klassischen Texten zum Begriff ›Stimmung‹ gehören Alois Riegl: »Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst«, in: ders.: Gesammelte Aufsätze, Augsburg, Wien 1929, S. 28-39; Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt/Main 31956; außerdem Leo Spitzer: Classical and Christian Ideas of World Harmony. Prolegomena to an Interpretation of the Word »Stimmung«, hg. von Anna Granville Hatcher. Mit einem Vorwort von René Wellek, Baltimore 1963. – In seiner jüngsten Monografie Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart hat Gumbrecht die ›Stimmung‹ noch einmal metasprachlich aufgegriffen, ihr aber durch Verknüpfung mit dem rhetorischen ›Topos‹ eine neue Wendung verliehen. »Eine Stimmung verknüpft, wie ich versucht habe darzulegen, gewisse Wissenskonfigurationen mit dem Eindruck, von einer Berührung der uns umgebenden materiellen Welt eingehüllt und beeinflusst zu sein. In allen Variationen dieses ontologisch sonderbaren Amalgams (man kann sie in Anlehnung an die rhetorische Tradition Topoi nennen, wobei der Begriff hier komplexer gefasst und seine räumliche Implikation hervorgehoben werden soll) erzeugen Stimmungen auch gewisse Wünsche und sehr oft auch Gefühle eines gewissen Widerstandes [...]. Stimmungen entstehen sowohl als Reaktionen auf Latenz als auch als deren Folge, wobei sie gleichzeitig aktiv das latent halten, was immer da ist, ohne in den Blick zu geraten. In den folgenden drei Kapiteln möchte ich drei Konfigurationen von Topoi beschreiben [...], welche die Nachkriegsstimmung ausmachen [...].« Hans Ulrich Gumbrecht: Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin 2012, S. 54f. und 58.

»D UMME S EMANTIK « | 197 zurückreichende semantische Tradition ausgestorben. Indessen [...] wird [vielleicht] die Anpassungsfähigkeit des Begriffs es ihm ermöglichen, seine derzeitige Irrelevanz zu überwintern und in künftigen semantischen Konfigurationen unerwartetes Sinnpotential zu entfalten.«5

›Aussterben‹ oder, so die logische Alternative, ›Überleben durch Anpassung‹: das ist darwinistisch formuliert6 und zugleich insofern zweideutig, als offen bleibt, ob die ›Stimmung‹ aufgrund semantischer beziehungsweise theoretischer Verdummung – begriffsgeschichtlich sozusagen ein Dinosaurier, der nicht mehr überzeugt – ausgestorben sein soll: oder aber ob sie gar nicht ausgestorben sein, sondern nur eine Art Winterschlaf halten soll und sich irgendwann einmal aufgrund ihrer begriffsevolutionären »Anpassungsfähigkeit« von Neuem entfalten wird – ganz ähnlich gewissermaßen, wie es Bernard Rieux, der Protagonist von Albert Camus’ Roman Die Pest, in seinem letzten Satz vom Pesterreger fürchtet. »Denn er wußte, [...] daß [...] der Pestbazillus nie stirbt und nie verschwindet, sondern jahrzehntelang in den Möbeln und der Wäsche schlummern kann, daß er in Zimmern, Kellern, Koffern, Taschentüchern und Papieren geduldig wartet und daß vielleicht der Tag kommen würde, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und zum Sterben in eine glückliche Stadt schicken würde.«7

Bricht die Pest aus, so viel ist sicher, dann handelt es sich für den Menschen um ein »Unglück«: allerdings womöglich zugleich, so die moralisierende Formulierung, um eine – wenn auch grausame – »Belehrung«. Wie aber verhält es sich mit Begriffen und mit ihnen verbundenen Theorien, die sich auf einmal nach einer »jahrzehntelang[en]« Winterpause mit »unerwartete[m] Sinnpotential« wieder aus den ad acta gelegten »Papieren« oder »Kellern« der Begriffs- und Theorie-Archive »entfalten« – zum Beispiel demjenigen der ›Stimmung‹? Wäre sie nach der hier umrissenen Logik der Wiederkehr des, allerdings evolutionär angepassten, Gleichen eher einer Pest zu vergleichen – oder aber im Gegenteil, unter Rückgriff auf das im vorliegenden Tagungsband formulierte Pro-

5

D. Wellbery: Stimmung (s. Anm. 3), S. 733.

6

Vgl. zum »Aussterben« Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um’s Dasein. Aus dem Englischen übersetzt von H. G. Bronn [...], Stuttgart 31867, S. viii und passim; zum »[Ü]berleben« S. 129 und zur »Anpassung« S. 165 und passim.

7

Albert Camus: Die Pest. Aus dem Französischen von Uli Aumüller, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 350.

198 | S TEFAN B ÖRNCHEN

gramm, einem jener »›alte[n]‹ Paradigmen, deren Renaissance notwendig erscheint«: etwa zur Belehrung über die »[O]ptimier[ung]« von »Verstehensprozesse[n]«?8 Ist denn für eine ›dumme Semantik‹ eine solche Renaissance – ein turn als return – überhaupt denkbar? David Wellbery scheint das beim Abfassen seines Artikels, wie gesagt, nicht für möglich gehalten zu haben – sonst hätte er wohl kaum die harten Worte von der ver»dumm«ten »Stimmungssemantik« und »philosophischen Belanglosigkeit« verwendet. Dann wiederum fällt er sein in der Sache hartes Verdikt grammatisch vorsichtig in mehrfacher modaler Abschwächung – »könnte man sagen, [...] wird [...] beigetragen haben [...]. Sollte [...], dann wäre« –; außerdem lässt sich Wellbery ja das Hintertürchen eines evolutionären return der ›Stimmung‹ offen.9

S TIMMUNG –

EIGENTLICH DUMM ? AVANTGARDE IN DER GESCHICHTSPHILOSOPHISCHEN W INDSTILLE

Tatsächlich ist die ›Stimmung‹ heute wieder da, auf Konferenzen, in Seminaren und Publikationen – Hans Ulrich Gumbrecht hat es quasi im Alleingang dahin gebracht. Wellbery allerdings ist der ›Stimmung‹ gegenüber, wie es aussieht, skeptisch geblieben. 2011 beendet er einen Aufsatz mit dem Titel »Latenz und Stimmung. Skizze einer historischen Ontologie« mit dem Satz: »Die historische Ontologie der Stimmung ist nicht ausschließlich im Jargon der Eigentlichkeit zu formulieren.«10 Das ist eine Polemik gegen den im ›Stimmungs‹-Diskurs prominenten Martin Heidegger, und ihr Gewährsmann ist natürlich Theodor W. Adorno mit seiner Schrift Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideolo-

8

Claudia Liebrand/Rainer J. Kaus: »Interpretieren nach den turns. Zur Einleitung«, in: dies. (Hg.), Interpretieren nach den »turns«. Literaturtheoretische Revisionen, Bielefeld 2014, S. 7-14, hier S. 8.

9

Hans Ulrich Gumbrecht hat Wellbery dann durch diese Tür hindurchkomplimentiert. »Wellbery hat diesen Standpunkt mittlerweile revidiert, oder genauer gesagt, er hat selbst auf die überraschend schnelle Erfüllung seiner prognostischen Andeutung verwiesen.« H. U. Gumbrecht: Stimmungen lesen (s. Anm. 4), S. 33.

10 David E. Wellbery: »Latenz und Stimmung. Skizze einer historischen Ontologie«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Florian Klinger (Hg.), Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften, Göttingen 2011, S. 265-276, hier S. 276.

»D UMME S EMANTIK « | 199

gie11. Bezieht sich aber Wellbery hier so deutlich auf Adorno, dann mag auch seine Formulierung von der ›dummen Stimmungssemantik‹ mit Blick auf Adorno zu verstehen sein. So schreibt dieser etwa in der Negativen Dialektik: »Keine Theorie darf agitatorischer Schlichtheit zuliebe gegen den objektiv erreichten Erkenntnisstand sich dumm stellen. Sie muß ihn reflektieren und weitertreiben.«12 ›Dummheit‹, das liegt auf der Hand, ist hier eine Metapher für das Zurückbleiben oder die Zurückgebliebenheit hinter dem »objektiv erreichten Erkenntnis-«, man könnte auch sagen: Forschungs»stand«, ein Stehenbleiben, wo man eigentlich mit dem stetig fortschreitenden Reflexionsprozess Schritt halten müsste. So schreibt Adorno: »Philosophische Bewegung heißt Beweglichkeit: sich nicht dumm machen lassen, sich nicht selbst verdummen.«13 Wer nicht verdummen will, muss ständig in Bewegung bleiben: und zwar nach vorne. Der Verdummung – oder, wie Adorno auch sagt: der Reaktion – entkommt man nur durchs stetige Avancieren; daher ist nicht etwa »Klugheit«, sondern »Avanciertheit« Adornos Gegenbegriff zur »Dummheit«.14 Am sichersten ist man also vor der

11 Th. W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit (s. Anm. 2). Zum Begriff des ›Eigentlichen‹ ebd., S. 10: »Durch das vom Jargon so genannte Gefüge erlangen [...] [die atomistischen Worte] vor diesem den Vorrang. Der Jargon, objektiv ein System, benutzt als Organisationsprinzip die Desorganisation, den Zerfall der Sprache in Worte an sich. Manche von ihnen mögen in anderer Konstellation ohne Blinzeln nach dem Jargon verwendet werden; ›Aussage‹, wo man prägnant, in der Erkenntnistheorie, den Sinn prädikativer Urteile bezeichnet, ›eigentlich‹ – freilich bereits mit Vorsicht –, auch als Adjektiv, wo Essentielles von Akzidentellem unterschieden, ›uneigentlich‹, wo Gebrochenes gemeint ist, Ausdruck, der nicht unmittelbar dem Ausgedrückten angemessen sei; ›Radioübertragungen traditioneller, in Kategorien der lebendigen Aufführung konzipierter Musik sind grundiert vom Gefühl des Als ob, des Uneigentlichen‹ [Theodor W. Adorno: Der getreue Korrepetitor. Lehrschriften zur musikalischen Praxis, Frankfurt 1963, S. 218]. ›Uneigentlich‹ steht dabei kritisch, in bestimmter Negation eines Scheinhaften. Der Jargon jedoch operiert Eigentlichkeit, oder ihr Gegenteil, aus jedem solchen einsichtigen Zusammenhang heraus. –« 12 Theodor W. Adorno: »Negative Dialektik«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt/Main 1997, S. 7-412, hier S. 206. 13 Ders.: »Zum Studium der Philosophie«, in: ebd., Bd. 20.1: Vermischte Schriften I/II, Frankfurt/Main 1986, S. 318-326, hier S. 323. 14 »Meist laufen sie nur darauf hinaus, daß die Kritiker ihr eigenes Unvermögen, Schönbergs beispiellos hochorganisierte und vom Element der musikalischen Dummheit endlich emanzipierte Kunst zu verstehen, als Einwand auf diese projizieren und wo-

200 | S TEFAN B ÖRNCHEN

›Dummheit‹ da, wo es sich militärisch am gefährlichsten lebt: ganz vorne in der ›Avantgarde‹.15 Fragt sich nur: wo ist das eigentlich – vorne? Wo geht es denn vorwärts in der Geschichte, und wo zurück? Folgt man in dieser Frage Walter Benjamin, dann hat die Geschichte mindestens eine Himmelsrichtung, und man erkennt sie am Wind – nämlich an jenem geschichtsphilosophischem Wind, den Benjamin in seiner neunten These Über den Begriff der Geschichte als »Sturm [...] vom Paradiese her« beschrieben hat: »Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«16 Nun ist dieser Sturmwind Benjamins neunter These zufolge so »stark«, dass er alles »unaufhaltsam« mit sich reißt – es gibt ihn allerdings auch, so legt die zweite These nahe, in einer schwachen Form als »Hauch«.17 An ihm könnte man sich also, wie ein Pfadfinder den Finger in die Luft streckend, orientieren, und dieser geschichtsphilosophische Windhauch würde dann verraten, wo es in der Geschichte nach vorne geht.

möglich auch noch behaupten, sie sei um ihrer Avanciertheit willen hinter dem Geist der Zeit oder dessen kollektiven Forderungen zurückgeblieben.« Theodor W. Adorno: »Über das gegenwärtige Verhältnis von Philosophie und Musik«, in: ders.: Theorie der neuen Musik, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 18: Musikalische Schriften 5, Frankfurt/Main 1984, S. 55-176, hier S. 165. 15 »Avantgarde [...] 1 milit. Ausdruck [...], verdeutscht mit Vortrab, Vorzug, zuletzt Vorhut [...]. In Deutschland ist der Begriff seit ca. 1900 in der kunst- und dann literaturwiss. Diskussion [...], die nach 1945 wieder aufflammte [...], vgl. ↑ Moderne.« »Avantgarde«, in: Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes, 10., überarbeitete und erweiterte Aufl. von Helmut Henne u.a., Tübingen 2002, S. 130. – Vgl. allgemein zur ›Avantgarde‹ Karlheinz Barck: »Avantgarde«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart, Weimar 2000, S. 544577; Georg Jäger: »Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems. Eine systemtheoretische Gegenüberstellung des bürgerlichen und des avantgardistischen Literatursystems mit einer Wandlungshypothese«, in: Michael Titzmann (Hg.), Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen 1991, S. 221244; Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/Main 1974; Hans Ulrich Gumbrecht: »Modern, Modernität, Moderne«, in: ders.: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, München 2006, S. 37-80, hier S. 69f. 16 Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt/Main 1977, S. 251-261, hier S. 255. 17 Ebd., S. 251.

»D UMME S EMANTIK « | 201

Was aber, wenn dieser »Hauch« ausbleibt, weil sich auch die letzte geschichtsphilosophische Brise gelegt hat? Dann hat der »›historische[] Materialismus‹« (Benjamin)18 keinen Rückenwind mehr, von dem er sich nach vorne tragen lassen, ja: an dem er sich überhaupt orientieren könnte. Anders gesagt: in der geschichtsphilosophischen Windstille dümpelt die Avantgarde antriebs- und orientierungslos auf der Stelle, und so kann sie – jedenfalls Adornos Logik zufolge – auch nicht mehr die ›Dummen‹ hinter sich lassen. Der Begriff ›Avantgarde‹ verliert seinen Sinn. Das ist, so möchte man auf den ersten Blick meinen, genau die Situation, in der wir uns zur Zeit befinden – schließlich vertritt heute in der akademischen Praxis so gut wie niemand mehr die Geschichtsphilosophie oder auch den historischen Materialismus mitsamt ihren hegelianischen Voraussetzungen. Ja, wir wissen vielleicht nicht genau, ob wir im Posthistoire oder neuerdings doch wieder in der Geschichte leben, aber dass wir in der Post-Geschichtsphilosophie leben, glauben wir sicher zu wissen.

W ER

VORM W IND KREUZT , FOLGT IHM – WER RENNT , MACHT IHN . F ORTSCHRITTE STATT F ORTSCHRITT Dann wiederum fällt es auch – oder sogar – den Kulturwissenschaftlern von heute schwer, auf jegliche historische Orientierung, und das heißt: VorwärtsOrientierung zu verzichten. Man sieht es ja am Programm des vorliegenden Bandes: wenn die »turns« einander »jagen«, dann doch wohl in eine Richtung: nach vorn – nämlich jener »[I]nnovati[on]« nach, die wie eine Hasenattrappe beim Windhundrennen als Fiktion eines wenn nicht optimalen, so doch so weit wie möglich »optimier[t]en« Verstehens der Theorien- und Diskurs-Hatz mit ihren einander jagenden turns vorausjagt.19 Wie allerdings die Hunde die Hasenattrappe nie einholen werden, so werden die hermeneutischen turns nie den state of the art der Innovation erreichen. Denn der Hasenattrappe vergleichbar, weckt dieser state of the art zwar den Jagdinstinkt der turns und weist ihnen die Richtung, soll jedoch gerade deshalb gar nicht eingeholt werden: wäre doch damit erstens die Jagd zu Ende und zweitens die Enttäuschung groß, wenn sich herausstellte, dass die begehrte Beute nur eine Attrappe ist – eine Fiktion des Erstrebten. Bleibt sie aber uneingeholt, dann erfüllt sie den Zweck der Orientierung

18 Ebd. 19 C. Liebrand/R. J. Kaus: Zur Einleitung (s. Anm. 8), S. 10 und 8. Vgl. zur Metapher des Wettlaufs auch Anm. 28.

202 | S TEFAN B ÖRNCHEN

nach vorne. Ja, sogar ein Windhauch ist jetzt bei dieser Jagd zu spüren – allerdings weht er nicht vom Paradiese her: die rennende Meute erzeugt ihn selbst. Aus dem Gesagten ergibt sich dreierlei. Die Geschichtsphilosophie glaubt, erstens, dass es einen Wind gibt, der die Subjekte der Geschichte wie ein Sturm vor sich herbläst oder ihnen zumindest als Brise erlaubt, vor ihm zu kreuzen, und das heißt eben: nach vorne. Die Kulturwissenschaft hingegen, zweitens, ist der im Allgemeinen als ›konstruktivistisch‹ bezeichneten Auffassung, dass jede Vorwärtsorientierung wie auch der Wind, den sie macht, kein von Natur oder Geschichte vorgegebenes Datum ist, sondern ein Effekt ihres eigenen Tuns. Allenfalls kann man vergessen, dass er nicht vorgegeben, sondern selbsterzeugt ist –20 oder aber man nutzt ganz bewusst eine Orientierungs-Fiktion wie die Hasenattrappe beziehungsweise den state of the art der jeweils jüngsten Innovation. Drittens schließlich müsste eine historische Bewegung denkbar sein, die reflexiv beweglich ist, sich nicht »dumm stell[t]« gegen den »objektiv erreichten Erkenntnisstand« – die also den Forschungsstand zur Kenntnis nimmt –, aber ohne die Vorstellung einer Vorwärts-Orientierung der Geschichte auskommt, der zu folgen wäre. Das wäre, anders formuliert, eine historische Bewegung, die nicht ›dem Fortschritt‹ folgt, sondern einfach dadurch, dass sie sich bewegt, Schritt für Schritt, fortschreitet. ›Der Fortschritt‹ wäre hier nicht die zur Orientierung vorausgesetzte Idee, der zu folgen wäre, sondern bloß die nachträglich ermittelte Summe, vielleicht auch nur die Resultante, der einzelnen Schritte.

M ETASPRACHE

ALS

AVANTGARDE

DER

O BJEKTSPRACHE

Und tatsächlich gibt es nach dem genannten geschichtsphilosophischen und kulturwissenschaftlichen noch einen dritten Begriff von Fortschritt. Er ist philosophischer wie philologischer Art: nämlich der Schritt von der Sprache zur Metasprache – wobei ›Metasprache‹ hier ein theoriegeschichtlich assoziationsarmer Wechselbegriff ist für die bisher verwendeten Begriffe von begriffsgeschichtlich entfalteter ›Semantik‹ und ›Theorie‹ einerseits und »›turns‹« und »Paradigmen«

20 Eine klassische Formulierung dieses Theorems bei Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke, Frankfurt/Main 1991, S. 49, lautet: »Innerhalb des überlieferten Diskurses der Metaphysik der Substanz erweist sich also die Geschlechtsidentität als performativ, d.h., sie selbst konstituiert die Identität, die sich angeblich ist. [...] Die [...] geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity) [...] wird [...] performativ durch die[] ›Äußerungen‹ konstituiert, die angeblich ihr Resultat sind.«

»D UMME S EMANTIK « | 203

andererseits.21 In diesem Sinne verwenden jedenfalls die Literatur- und Kulturwissenschaft den Begriff ›Metasprache‹ – und meistens beziehen sie sich dabei auf Roman Jakobsons Aufsatz »Linguistics and Poetics« von 196022.

21 »[A]ny descriptive DISCOURSE such as literary criticism can be said to function as a metalanguage.« »metalanguage«, in: David Macey: The Penguin Dictionary of Critical Theory, London 2000, S. 249f., hier S. 249. Vgl. zum Begriff der ›turns‹ Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006. – Vgl. auch zur ›Metasprache‹ Harald Fricke: Die Sprache der Literaturwissenschaft. Textanalytische und philosophische Untersuchungen, München 1977, insbesondere S. 11-22; Jakob Steinbrenner: Zeichen über Zeichen. Grundlagen einer Theorie der Metabezugnahme, Heidelberg 2004; hier, S. 76, die Definition »Der Ausdruck SPRACHLICHES METAZEICHEN umfaßt alle sprachlichen Zeichen, die auf Zeichen Bezug nehmen«; Hugh Ridley: »Zur Metasprache der Literaturgeschichte im und zum 19. Jahrhundert«, in: Roland Berbig/Martina Lauster/Rolf Parr (Hg.), Zeitdiskurse. Reflexionen zum 19. und 20. Jahrhundert als Festschrift für Wulf Wülfing, Heidelberg 2004, S. 335-347; Christian Strub: »Metasprache der Metapher. Thesen zum Widerstreit im Reden über Erfahrungswelten«, in: Wolfgang Bergem/Lothar Bluhm/Friedhelm Marx (Hg.), Metapher und Modell. Ein Wuppertaler Kolloquium zu literarischen und wissenschaftlichen Formen der Wirklichkeitskonstruktion, Trier 1996, S. 1-19; Hans Lenk: »Warum fehlte Aristoteles die MetastufenMethode? In die Objektsprache gerichtete (Hinunter-)Projektionen und das Fehlen von Metasprache sowie Metaregeln in der Aristotelischen bzw. traditionellen ›westlichen‹ Logik«, in: Niels Öffenberger/Mirko Skarica (Hg.), Beiträge zum Satz vom Widerspruch und zur Aristotelischen Prädikationstheorie, Hildesheim, Zürich, New York 2000, S. 71-87; hier, S. 72, ein Hinweis auf die »Unterscheidung von Regeln (sutras) und Metaregeln (paribhasa) in der indischen [...] Grammatiktheorie [...] mehr als zweieinhalb Jahrtausende vor der expliziten Entdeckung der Metasprache, ihrer Notwendigkeit und Unterscheidung von der Objektsprache durch Tarski.« Vgl. zur ›Metasprache‹ außerdem: Janine Hauthal/ Julijana Nadj/Ansgar Nünning/Henning Peters (Hg.): Metaisierung in Literatur und anderen Medien: theoretische Grundlagen, historische Perspektiven, Metagattungen, Funktionen, Berlin u.a. 2007. 22 »A distinction has been made in modern logic between two levels of language, ›object language‹ speaking of objects and ›metalanguage‹ speaking of language. But metalanguage is not only a necessary scientific tool utilized by logicians and linguists; it plays also an important role in our everyday language.« Roman Jakobson: »Closing Statement: Linguistics and Poetics«, in: Thomas A. Sebeok (Hg.), Style in Language, Cambridge, MA 1960, S. 350-377, hier S. 356. An dieser Trennung meldet H. Fricke: Die Sprache der Literaturwissenschaft (s. Anm. 21), S. 13, Zweifel an: »[D]ie philo-

204 | S TEFAN B ÖRNCHEN

Linguistisch heißt, so das Metzler Lexikon Sprache, ›Metasprache‹ – von »µετά [...] ›über, nach‹«23 – »Beschreibungsspr[ache]« und bezeichnet »die Ebene der Spr[ache], in der Aussagen über Spr[ache] [...] bzw. das Sprechen« »gemacht werden«. Dabei ergibt sich die Notwendigkeit, zwischen »Sprachgebrauch« (use) oder »Objektsprache« und »Spracherwähnung« (mention) oder »Metasprache« zu unterscheiden, sind doch »der Gegenstand der Betrachtung (Objektspr[ache]) und die M[etasprache] als Instrument der Untersuchung und Beschreibung [...] ihrer Substanz nach (Lexik, Grammatik) ident[isch].«24 Der Klarheit halber werden daher »Einheiten der Objektspr[ache] [...] in metasprachl[ichen] Ausführungen graph[isch] gekennzeichnet«, also etwa durch Anführungszeichen oder Kursivierung: wie zum Beispiel die Begriffe »turns« oder »›Moden‹« im Programm dieses Bandes.25 Erwähnt oder zitiert man nun den schon im Programm in Anführungszeichen gesetzten und auf diese Weise als metasprachlich markierten Begriff »›Moden‹«, so kommt er jetzt in doppelter Anführung zu stehen: »M[etasprachen] selbst können« also »wiederum zu Objektspr[ache]n von Meta-Metaspr[ache]n« werden – und so fort. Das Penguin Dictionary of Literary Terms and Literary Theory fasst das Gesagte so: »metalanguage A ›beyond‹ language. In linguistics it denotes any technical language which describes the properties of language (discussed by Roman Jakobson in his essay Linguistics and Poetics, 1960). It is also known as a ›second-order‹ language, which may be used to describe, explain or interpret a ›first-order‹ language. Given one metalanguage for one explanation it follows that there may be another in turn, and a metalanguage may replace a ›first-order‹ language. [...] [T]his could lead to an indefinite regression [...].«26

sophische Reflexion richtet sich niemals auf die Gegenstände der Wirklichkeit selbst (wie dies die empirischen Wissenschaften tun), sondern immer schon auf unser – theoretisches oder praktisches – Verhalten zu dieser Wirklichkeit.« 23 Werner Schöneck: »Metasprache«, in: Helmut Glück (Hg.), Metzler Lexikon Sprache. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart, Weimar 2000, S. 438. 24 Ebd. Diese Substanzidentität von Objekt- und Metasprache bringt das Risiko ihrer Vermischung oder ihres »Zusammenfließen[s]« mit sich; vgl. das Zitat von Hans Ulrich Gumbrecht in Anm. 33. 25 C. Liebrand/R. J. Kaus: Zur Einleitung (s. Anm. 8), S. 7. 26 »metalanguage«, in: J. A. Cuddon: The Penguin Dictionary of Literary Terms and Literary Theory (revised by C. E. Preston), London 41998, S. 506.

»D UMME S EMANTIK « | 205

So gesehen, ist die Metasprache nichts anderes als die Avantgarde der Objektsprache – die Avantgarde gewissermaßen, die das Überholte in Anführungszeichen27 und vielleicht noch eine Fußnote dazu setzt. Die Metasprache ist der Objektsprache historisch immer um einen Schritt voraus,28 und zwar um den der Beschreibung, Erläuterung beziehungsweise Kommentierung und Interpretation der – wohlgemerkt – dadurch erst retrospektiv als solcher konstituierten Objektsprache:29 man denke etwa an die Begriffe ›Mittelalter‹ oder ›Barock‹. Die Metasprache löst sich von der Objektsprache, indem sie ihr zu einem – sozusagen erhöhten – Beobachterstandpunkt vorauseilt, von dem aus die Metasprache die Objektsprache im Rückblick betrachtet – insofern haben beide einen historischen Index. Dabei dienen Anführungszeichen oder Kursivierung der typografischen Distanzierung vom auf diese Weise geschaffenen Untersuchungsobjekt. Der metasprachliche Beobachterstandpunkt scheint, wie gesagt, nicht nur mit der horizontalen Vorstellung eines avant, sondern auch mit der vertikalen Vorstellung einer Erhöhung verbunden zu sein, die einen besseren Überblick beansprucht. So gesehen, erhebt sich die Metasprache über die Objektsprache nach der gleichen – historisch wie sachlich genau besehen schiefen – Logik, derzufolge die Metaphysik ›über‹ der Physik steht.30 Diese im buchstäblichen Sinne überhebliche Behandlung muss sich nun die Objektsprache nicht unbedingt gefallen lassen. Setzt sie sich allerdings argumentativ zur Wehr – etwa gegen eine als unzu-

27 Vgl. hierzu Daniel Müller Nielaba: »Das doppelte Anführungszeichen. ›Gänsefüsschen‹ oder ›Hasenöhrchen‹?«, in: Christine Abbt/Tim Kammasch (Hg.), Punkt, Punkt, Komma, Strich? Geste, Gestalt und Bedeutung philosophischer Zeichensetzung, Bielefeld 2009, S. 141-149. 28 C. Strub: Metasprache der Metapher (s. Anm. 21), S. 6, spricht in ähnlichem Kontext von der »›Schritt-hinaus‹-Strategie« und der »›Hase-und-Igel‹-Strategie«; ebd. ein Verweis auf Jacques Derridas Kritik an Umberto Ecos Begriff der Metasprache. 29 »Each order of language implicitly relies on a metalanguage by which it is explained«; J. A. Cuddon: metalanguage (s. Anm. 26), S. 506. 30 »Lange Zeit glaubte man, [d]er [Begriff ›Metaphysik‹] verdanke sich lediglich einem bibliothekarischen Zufall: ANDRONIKUS VON RHODOS (1. Jh. v.Chr.) soll nämlich die aristotelischen Schriften geordnet und dabei das, was wir heute als die aristotelische ›M[etaphysik]‹ verstehen, hinter der ›Physik‹ eingereiht haben. So sei es zu der Bibliotheksbezeichnung τὰ µετὰ τὰ φυσικά gekommen. Aber schon KANT glaubte nicht, daß er so ›von ohngefähr entstanden, weil er so genau mit der Wissenschaft selbst paßt‹ [...].« »Metaphysik«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5: L-Mn, Basel 1980, Sp. 1186-1279, hier Sp. 1188.

206 | S TEFAN B ÖRNCHEN

treffend empfundene Beschreibung oder Interpretation durch die Metasprache –, dann schwingt sie sich selbst zu einer weiteren Metasprache auf: jede Diskussion über einen Text ist Metasprache, jede Antwort auf eine metasprachliche Äußerung ist ebenfalls Metasprache – wenn nicht gar Meta-Metasprache. Es liegt auf der Hand, dass nicht der objektsprachliche Text selbst diese Diskussionen führen kann, sondern nur ihm hermeneutisch wohlgesonnene Exegeten. Etwas anders sieht es jedoch aus, wenn ein (objektsprachlicher) Text schon mögliche (metasprachliche) Einwände gegen sich selbst thematisiert oder sogar zu entkräften versucht. So hat es etwa, Adorno zufolge, Heidegger getan. Seine Methode, so Adorno, »sichert sich, indem sie mögliche Einwände auffängt als Momente, die in der jeweils verfochtenen These bereits berücksichtigt seien«31. Das ist ein Trick, der natürlich grundsätzlich – das liegt wiederum auf der Hand – metasprachliche Einwände genauso wenig abzuwenden vermag wie etwa der Versuch eines Textes, den Lesern seine gewünschte Deutung selbst vorzugeben, abweichende Lesarten verhindern kann.32 Allenfalls lassen sich so – wie etwa auch durch Ironie-Signale –33 Einwände erschweren; grundsätzlich jedoch

31 Th. W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit (s. Anm. 2), S. 80. 32 Vgl. am Beispiel Kafkas zu den Paradoxien der Suggestion eines Textes, zugleich »Metatext und Teil des Textes« zu sein, Bettine Menke: »Das Schweigen der Sirenen. Die Rhetorik und das Schweigen«, in: Johannes Janota (Hg.), Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik: Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991, Tübingen 1993, S. 134-162, hier S. 136. 33 Ironie-Signale finden sich immer wieder bei Gumbrecht. So schreibt er etwa: »Der Vorbehalt gegen jeglichen Umgang mit dieser Phänomenschicht [der Stimmung] lag und liegt bis heute in der Überzeugung, dass sie sich – darin besteht natürlich auch ein potentieller Vorbehalt gegen dieses Buch – allein der subjektivsten Einführung erschließt. In seiner drastischen Formulierung vom ›Brei des Herzens‹ hatte Hegel solche Bedenken gegen den Objektivitätsmangel der Einfühlung längst vorweggenommen: ›Dies ist der Hauptsinn der Seichtigkeit, die Wissenschaft statt auf die Entwicklung des Gedankens und Begriffs, vielmehr auf die unmittelbare Wahrnehmung und die zufällige Einbildung zu stellen, [...] d[]en gebildeten Bau [der Vernünftigkeit] in den Brei des Herzens der Freundschaft und Begeisterung zusammenfließen zu lassen.‹ [...] Aber wie, will ich [...] fragen, lässt sich [...] vermeiden, dass [...] Übungen von Stimmungsvergegenwärtigungen zum ›Brei des Herzens‹ zerfließen? Es gibt auf diese Frage keine definitive Antwort und schon gar nicht ein allwirksames Immunitätsrezept.« H. U. Gumbrecht: Stimmungen lesen (s. Anm. 4), S. 22 und 28. – Neben solchen Bemerkungen versichert Gumbrecht immer wieder, ›gewiss nicht naiv‹ zu sein: »Die Betonung von historischer Unmittelbarkeit im Lesen von Stimmungen

»D UMME S EMANTIK « | 207

kann sich kein Text gegen eine ungewünschte Objektivierung durch eine Metasprache versichern.

D AS G ESAGTE BLEIBT UND MACHT UNS STUMM : ALEXANDRINISMUS IST AUCH EINE P EST Was folgt aus den Ausführungen bis hierhin? ›Dumm‹ im Sinne Adornos und Wellberys sind eine Semantik oder Theorie, ein turn, Paradigma oder Diskurs dann, wenn sie – ob vorsätzlich oder nicht – als reflexiv avancierte Metasprache auftreten, tatsächlich aber insofern stehengeblieben sind, als sie schon für – mindestens – eine andere Metasprache Objektsprache sind: sie von dieser Metasprache also gewissermaßen historisch überholt und in Anführungszeichen gesetzt worden sind und daher, anders gesagt, jedenfalls im Sinne philologischer Korrektheit nicht mehr unmarkiert verwendet, sondern nur noch zitiert beziehungsweise genannt werden können. Und genau so gehen wir ja in unserem Fach mit überholten, gleichwohl historisch immer noch bedeutenden Aussagen um, die uns metasprachlich nicht mehr überzeugen, aber objektsprachlich immer noch wissenswert erscheinen. Dagegen lässt sich nun einwenden, dass Gebrauch und Nennung von Begriffen, Metaphern oder sonstigen semantischen Einheiten nicht immer sauber zu trennen sind –34 wäre doch sonst die Konsequenz zum Beispiel die, dass alle von Ernst Robert Curtius in seinem Buch Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter identifizierten Topoi seit seiner Veröffentlichung im Jahr 1948 nur noch in Anführungszeichen gesetzt erwähnt, nicht aber ohne Markierung gebraucht werden dürften. Das kann ja wohl nicht sein. Oder doch? Die Konsequenz wäre die erdrückende Einsicht, dass jede Vorstellung von Originalität oder Kreativität – also, genauer, irgendeiner kreativen oder originellen Wendung, das heißt Verwendung von Sprache – allenfalls Resultat mangelnder Bildung sein kann: irgendwo wird’s schon stehen im »Vor-

muss also gewiss nicht gleichgesetzt werden mit historischer, philosophischer oder politischer Naivität.« Ebd., S. 27. Vgl. dazu das Adorno-Zitat zu Anm. 31. 34 »Im alltägl[ichen] Sprachgebrauch sind die Übergänge zwischen den beiden Sprachebenen fließend, denn die Fähigkeit, über das Sprechen zu sprechen (Nachfragen, Paraphrasieren u.a.), ist eine wesentl[iche] Funktion menschl[icher] Sprache«; W. Schöneck: Metasprache (s. Anm. 23), S. 438.

208 | S TEFAN B ÖRNCHEN

ratsmagazin« (Curtius)35 der Geschichte und muss daher zitiert werden. Ja, selbst diese Feststellung ist unoriginell und findet sich so ähnlich, jedenfalls der Sache nach, als Sprachkritik schon bei Heinrich von Kleist oder Hugo von Hofmannsthal – wenn nicht bereits in der Antike.36 Was (metasprachlicher) Begriff war, der sich überzeugend (als argumentum ad rem) gebrauchen ließ, ist also jetzt (objektsprachlicher) Topos geworden, der sich nur noch bildungsweise (beziehungsweise allenfalls als argumentum ad verecundiam) nennen lässt. Genau das ist der Zustand, den Hans Ulrich Gumbrecht immer wieder als neuen Alexandrinismus, als theoretische »Lethargie und Unsicherheit«37 beklagt hat: wir können die Dinge nicht mehr selbst – eigentlich38 – theoretisch betrachten, weil wir von allen uns vorstellbaren Perspektiven wissen, dass sie angelesen sind, in den Anführungszeichen des Historischen stehen und daher nicht unsere eigenen – nicht eigentlich unsere – sind. Um es mit Adorno zu formulieren: »die aus der Bildung aufgelesenen Worte [...] decken« nicht mehr unsere »Erfahrungen«39. Ein Beispiel für diese theoretische »Lethargie und Unsicherheit« hat Niklas Luhmann in einem Aufsatz über »Bilder« geliefert, dessen letzter Satz lautet: »Nachwort: mit dem Wort ›Bild‹ bin ich nicht sehr glücklich, aber ich kann es nicht ersetzen.«40 Zu beobachten ist diese theoretische »Lethargie und Unsicherheit« aber auch so gut wie täglich in akademischen Vorträgen und Seminaren,

35 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen, Basel 111993 [1947], S. 89. 36 Vgl. hierzu Günter Saße: Sprache und Kritik. Untersuchung zur Sprachkritik der Moderne, Göttingen 1977, S. 61-70 (zu Hofmannsthals Chandos-Brief); Jürgen Schiewe: Die Macht der Sprache. Eine Geschichte der Sprachkritik von der Antike bis zur Gegenwart, München 1998; Dieter Heimböckel: Emphatische Unaussprechlichkeit. Sprachkritik im Werk Heinrich von Kleists, Göttingen 2003. Auch Hans Ulrich Gumbrecht folgt in seinem jüngsten Buch der Tradition, über die »konstitutive[] Inauthentizität unseres Selbstbewusstseins« zu klagen: Heinz Bude: »Gumbrechts Zeit ohne Sein« [Rezension von: Hans Ulrich Gumbrecht: Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin 2012], in: Zeitschrift für Ideengeschichte VII,1 (Frühjahr 2013), S. 115-117, hier S. 116. 37 H. U. Gumbrecht, Stimmungen lesen (s. Anm. 4), S. 7. 38 Vgl. hierzu Anm. 11. 39 Th. W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit (s. Anm. 2), S. 73. 40 Niklas Luhmann: »Schwarze Löcher schwarze Kleckse«, in: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur, hg. von Niels Werber, Frankfurt/Main 2008, S. 292-295, hier S. 292 und 295.

»D UMME S EMANTIK « | 209

wenn Begriffe mit in die Luft getupften Anführungszeichen versehen werden, die signalisieren sollen, dass sich die so markierten Begriffe ja eigentlich nicht mehr verwenden (sondern eben nur zitieren) lassen, aber in Ermangelung neuer, den Sachverhalt treffender beschreibender eigentlicher Begriffe bis auf weiteres in uneigentlicher Weise weiterverwendet werden müssen – wobei ohne eine neue Metasprache nur postuliert werden kann, dass diese Begriffe uneigentlich zu verstehen seien, nicht aber, inwiefern oder wie. So gesehen, bedeutet Alexandrinismus, den Anspruch oder auch nur die Hoffnung aufzugeben, überhaupt eine zur Beschreibung taugliche Metasprache zur Verfügung zu haben, und stattdessen in einer Sprache zu reden, die man selbst für diesem Zwecke nach untauglich hält – also in einer, um Wellberys Formulierung aufzugreifen, ›dummen‹ Sprache, in der sich viel reden, das heißt zitieren, aber eigentlich nichts mehr zur Sache sagen lässt.41 Dieses Alexandrinismus-Problem herrscht nun bekanntlich dann, wenn die Bibliotheken zu groß sind und daher zu wenig vergessen wird. Das Problem liegt also, anders formuliert, darin, dass Gesagtes vielleicht von anderem Gesagtem

41 Der ›dummen‹ Sprache verwandt ist die politisch nicht mehr korrekte. Vgl. dazu die Anfang 2013 in den Feuilletons geführte Diskussion, ob in Otfried Preußlers Kinderbuch Die kleine Hexe Worte wie »Negerlein« ersetzt werden sollen oder nicht. Tilman Spreckelsen schrieb dazu in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Was tun? Eine Art Ausweg fand der deutsche Oetinger-Verlag im Fall von ›Pippi Langstrumpf‹ vor einigen Jahren, indem man dem Wort ›Neger‹ eine Fußnote verpasste: ›In diesem und folgenden Kapiteln‹, liest man am Fuß der Seite 8, ›wird der Ausdruck ›Neger‹ verwendet. Als Astrid Lindgren ›Pippi Langstrumpf‹ geschrieben hat, war das noch üblich. Heute würde man ›Schwarze‹ sagen.‹ Die Fußnote verschwand wieder, und der ›Südseekönig‹ kam. Das Wort ›Eingeborene‹ blieb dem Text allerdings erhalten, obwohl auch diesem Wort ein ›kolonialer Beiklang‹ attestiert wird, und dieselbe Unsicherheit, wie weit man denn beim Umschreiben gehen darf oder sollte, wird auch bei der geplanten Überarbeitung der ›Kleinen Hexe‹ deutlich, wenn man sich fragt, warum denn die Fastnachts-Chinesinnen oder Türken mit den ›Negerlein‹ verschwinden sollen. Ein Buch, das man seinen Kindern nicht so vorlesen mag, wie es ist, kann man auch zur Seite legen. Es gibt genug andere. Wer aber einen Text umschreibt, um ihm das Anstößige zu nehmen, erreicht damit nur eins: dass über dieses Moment der Irritation nicht mehr gesprochen wird. Und damit über das, was ernsthafte Literatur ausmacht.« Tilman Spreckselsen: »Wir wollen vorlesen und nichts erklären müssen. Seit mehr als fünfzig Jahren steht das Wort ›Negerlein‹ in Otfried Preußlers Klassiker ›Die kleine Hexe‹. Der Verlag will das jetzt ändern. Zu Recht?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.1.2013, S. 25.

210 | S TEFAN B ÖRNCHEN

überholt werden kann, aber nie verschwindet – jedenfalls in der textgenetisch besten aller philologischen Welten, der sich das Internetzeitalter ja annähert mit seiner Totalspeicherung von allem jemals Gesagten, vor allem aber seiner ubiquitären Verfügbarkeit. »[N]escit vox missa reverti« – »das Wort, das du von dir gabst, kennt keine Rückkehr« –42, heißt es in Horaz’ Ars Poetica: was einmal gesagt ist, bleibt – heute sogar zuverlässiger denn je – genauso in der Welt wie, Camus’ Doktor Rieux zufolge, der Pestbazillus, der »nie stirbt und nie verschwindet«. In diesem Sinne, als Gegenwart alles je Gesagten, ist also Alexandrinismus auch eine Pest – und insofern, um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen, auch die ›Stimmung‹ samt ihrem Diskurs.

I ST ›S TIMMUNG ‹ ANSTECKEND WIE V ORSCHLAG ZUR I MMUNISIERUNG

DIE

P EST ?

Das muss aber gar nicht gefährlich sein. Man lebt ja schon lange mit dem Gesagten, geht alexandrinisch-routiniert im Zitat damit um und ist durch diese regelmäßige Berührung mit ihm dagegen immun43: es tut ja, wie beschrieben, keinerlei Überzeugungswirkung auf uns Alexandriner. Das kann sich allerdings ändern, wenn bei schwindendem Alexandrinismus und damit seltener werdendem zitierendem Umgang mit dem Gesagten auch die Immunisierung abnimmt, wir also vergessen, dass es sich um objektsprachliche Zitate handelt. Lassen wir dann noch die die Sprache als Objektsprache markierenden Anführungszeichen weg, kann uns, was gerade noch Objektsprache war, auf einmal wie eine neue Metasprache vorkommen, gegen deren Wirkung wir nun nicht mehr durch Gewöhnung immun sind. Aus (objektsprachlichen) Topoi werden wieder (metasprachliche) Begriffe: rhetorische Erreger, wenn man so will, und schon entfaltet sich aus den – mit Camus – »Zimmern, Kellern, Koffern [...] und Papieren« ein – mit Wellbery – neues »Sinn-« und Überzeugungs»potential«. Was uns vor einiger Zeit noch kalt ließ, lässt uns nun plötzlich wieder fiebern: und so auch heute die Wellbery zufolge ohnehin »ansteckend« verlaufende »Kommunikation der Stimmung«. Gegen eine solche Ansteckung aufgrund schwindender Immunisierung, ergibt sich aus dem Gesagten, hilft ein Mittel: Anführungszeichen – Anführungszeichen als typografische Trennung von Objekt- und Metasprache. Anfüh-

42 Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hg. von Eckart Schäfer, Stuttgart 1984, S. 28f. 43 Vgl. Anm. 33.

»D UMME S EMANTIK « | 211

rungszeichen sind, wenn ein weiteres Bild aus dem Bildfeld ›Infektion‹ gestattet ist, die metasprachlichen Latexhandschuhe – das Bild der Anführungszeichen als Schutzhandschuhe stammt von Adorno –44 im Umgang mit der historischen Objektsprache, die beide Beteiligten – die gegenwärtige Meta- wie die historische Objektsprache – vor Übertragungen, Ansteckungen oder, um es mit einem philologischen Terminus technicus zu sagen, Kontaminationen von Seite des je anderen schützen.45 Je weniger alexandrinisch eine Epoche, je weniger sie gewissermaßen sowieso alles in Anführungszeichen denkt, desto wichtiger ist es, sie zu setzen – zumal in den philologischen Wissenschaften, deren Objekt- und Metasprachen »ihrer Substanz nach [...] ident[isch]« sind46 und daher zum Ineinanderfließen neigen. Zum Anführungszeichensetzen aber ist es nie zu spät – ja, sie lassen sich auch nachtragen, wo sie fehlen. Das wissen wir nicht erst seit dem »GuttenPlag-Wiki« und der »schavanplag«-Dokumentation, die sich den Plagiatsnachweis in Politiker-Dissertationen zum Ziel gesetzt hatten, sondern schon lange aus der textge-

44 »Die Anführungszeichen vor ›herabziehend‹ sind Handschuhe der zimperlichen Metaphysik.« Th. W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit (s. Anm. 2), S. 81. 45 Ein berühmtes Beispiel für die Folgen wenn nicht fehlender, so doch nicht erkennbarer Anführungszeichen ist Philipp Jenningers »verunglückte[] Gedenkrede zur sogenannten Reichskristallnacht 1938, die ihn schon nächstentags, am 11. November [1988], zum Rücktritt zwang. [...] Jenninger [...] hatte«, so Der Spiegel, »ungeniert und leichtfertig und ohne wenigstens Quellen zu nennen mit Nazi-Sprüchen hantiert [...].« »›Zu wahr, um schön zu sein‹. Ex-Bundestagspräsident Philipp Jenninger hält wieder Reden«, in: Der Spiegel Nr. 6/1989, S. 53 und 56, hier S. 53. Differenzierter Claus Leggewie/Sybille Müller/Tim Nungesser: »›Nicht alles darf man beim Namen nennen – in Deutschland‹. Skandal im Skandal: Die Bundestagsrede Philipp Jenningers zur ›Kristallnacht‹«, in: Sowi [Sozialwissenschaftliche Informationen] 20,2 (1991), S. 128-132. Die Autoren schreiben unter dem Absatztitel »Die Rede: Mittäterschaft ohne Gänsefüßchen«: »Angekreidet wurde dem Redner vor allem, daß er [...] das ›Faszinosum‹ Hitler wachrief und daß er populäre Vorurteile über Juden zitierte – alles ohne ›Gänsefüßchen‹. Nicht erst die nachträgliche Lektüre der wenig brillant, in einem sonor-buchhalterischen Schwäbisch gehaltenen Rede zeigt, daß sie weder apologetisch war noch Verdrängung beförderte, sondern jenseits von Täterschaft, Resistenz und Widerstand die mittuende Verstrickung der Deutschen klar machte [...].« Ebd., S. 128f. 46 Vgl. Anm. 24.

212 | S TEFAN B ÖRNCHEN

netischen Kommentierungspraxis. Denn der Kommentar47 setzt, bildlich gesprochen, Anführungszeichen in Texte hinein, wo sie noch nicht standen, und weist die so als Zitate markierten Passagen nach: der Kommentar verwandelt also Metasprache in Objektsprache. Das lässt sich in der bis hierhin umrissenen Perspektive als avantgardistisches Tun begreifen. Insofern sie kommentiert, ist Philologie, auch wenn sie historisch rückwärtsgewandt arbeitet, Avantgardismus. Zugleich arbeitet die Philologie an einem turn, und zwar – wie Sisyphos – immer wieder am gleichen: eben der Verwandlung von Meta- in Objektsprache – also der Objektivierung von Metasprache im Kommentar. Immer ist es der Kommentar, der das letzte metasprachliche Wort hat; wie die Avantgarde ist er dem von ihm Zitierten und Kommentierten voraus – immer wieder von Neuem, aber – wie Sisyphos – ohne in der (geschichtsphilosophisch begriffenen) Geschichte voranzukommen. So gesehen, kennt der Kommentar – und damit verkörpert er den Alexandrinismus – überhaupt nichts anderes als ›dumme Semantik‹. Was nun die eingangs gestellte Frage nach der Belehrung durch ›Stimmung‹ angeht: sie selbst belehrt uns nicht, und sie will es wohl auch nicht – soll doch ihre Kommunikation, so Wellbery, nicht nur »suggestiv« und »ansteckend«, sondern auch »unterhalb der Schwelle zur expliziten (und damit negierbaren, ablehnbaren) Ausformulierung«, also auch der Belehrung verlaufen. Was uns allerdings belehren kann, ist ein Kommentar des Begriffs ›Stimmung‹ – und das, den Anführungszeichen sei Dank, ganz ohne Ansteckungsgefahr.

L ITERATUR Adorno, Theodor W.: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt/Main 1964. Adorno, Theodor W.: »Negative Dialektik«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt/Main 1997, S. 7-412. Adorno, Theodor W.: »Über das gegenwärtige Verhältnis von Philosophie und Musik«, in: ders.: Theorie der neuen Musik, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 18: Musikalische Schriften 5, Frankfurt/Main 1984, S. 55-176.

47 Vgl. zum Kommentar Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte, Frankfurt/Main 2003, S. 82-87.

»D UMME S EMANTIK « | 213

Adorno, Theodor W.: »Zum Studium der Philosophie«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 20.1: Vermischte Schriften I/II, Frankfurt/Main 1986, S. 318-326. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006. Barck, Karlheinz: »Avantgarde«, in: ders. u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart, Weimar 2000, S. 544-577. Benjamin, Walter: »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt/Main 1977, S. 251-261. Bohrer, Karl Heinz: »Denn Gedanken stehn zu fern? Moderne aus dem Geist der Musik«, in: ders.: Die Grenzen des Ästhetischen, München, Wien 1998, S. 3757. Bollnow, Otto Friedrich: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt/Main 31956. Bude, Heinz: »Gumbrechts Zeit ohne Sein« [Rezension von: Hans Ulrich Gumbrecht: Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin 2012], in: Zeitschrift für Ideengeschichte VII,1 (Frühjahr 2013), S. 115-117. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/Main 1974. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke, Frankfurt/Main 1991. Camus, Albert: Die Pest. Aus dem Französischen von Uli Aumüller, Reinbek bei Hamburg 1997. Cuddon, J. A.: The Penguin Dictionary of Literary Terms and Literary Theory (revised by C. E. Preston), London 41998. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen, Basel 111993 [1947]. Darwin, Charles: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um’s Dasein. Aus dem Englischen übersetzt von H. G. Bronn [...], Stuttgart 31867. Fricke, Harald: Die Sprache der Literaturwissenschaft. Textanalytische und philosophische Untersuchungen, München 1977. Gisbertz, Anna-Katharina: Stimmung – Leib – Sprache. Eine Konfiguration in der Wiener Moderne, München 2009. Gisbertz, Anna-Katharina (Hg.): Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie, München 2011. Gumbrecht, Hans Ulrich: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte, Frankfurt/Main 2003.

214 | S TEFAN B ÖRNCHEN

Gumbrecht, Hans Ulrich: »Modern, Modernität, Moderne«, in: ders.: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, München 2006, S. 37-80. Gumbrecht, Hans Ulrich: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit in der Literatur, München 2011. Gumbrecht, Hans Ulrich: Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin 2012. Hauthal, Janine/Nadj, Julijana/Nünning, Ansgar/Peters, Henning (Hg.): Metaisierung in Literatur und anderen Medien: theoretische Grundlagen, historische Perspektiven, Metagattungen, Funktionen, Berlin u.a. 2007. Heimböckel, Dieter: Emphatische Unaussprechlichkeit. Sprachkritik im Werk Heinrich von Kleists, Göttingen 2003. Horatius Flaccus, Quintus: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hg. von Eckart Schäfer, Stuttgart 1984. Jäger, Georg: »Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems. Eine systemtheoretische Gegenüberstellung des bürgerlichen und des avantgardistischen Literatursystems mit einer Wandlungshypothese«, in: Michael Titzmann (Hg.), Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen 1991, S. 221-244. Jakobson, Roman: »Closing Statement: Linguistics and Poetics«, in: Thomas A. Sebeok (Hg.), Style in Language, Cambridge, MA, 1960, S. 350-377. Kohler, Berthold: »Gerührt, nicht erschüttert«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.2.2013, S. 1. Lacan, Jacques: »Fadenringe«, in: ders.: Das Seminar von Jacques Lacan, Buch XX (1972-1973): Encore. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller. Übersetzt von Norbert Haas, Vreni Haas und Hans-Joachim Metzger, Weinheim, Berlin 21991, S. 127-147. Leggewie, Claus/Müller, Sybille/Nungesser, Tim: »›Nicht alles darf man beim Namen nennen – in Deutschland‹. Skandal im Skandal: Die Bundestagsrede Philipp Jenningers zur ›Kristallnacht‹«, in: Sowi [Sozialwissenschaftliche Informationen] 20,2 (1991), S. 128-132. Lenk, Hans: »Warum fehlte Aristoteles die Metastufen-Methode? In die Objektsprache gerichtete (Hinunter-)Projektionen und das Fehlen von Metasprache sowie Metaregeln in der Aristotelischen bzw. traditionellen ›westlichen‹ Logik«, in: Niels Öffenberger/Mirko Skarica (Hg.), Beiträge zum Satz vom Widerspruch und zur Aristotelischen Prädikationstheorie, Hildesheim, Zürich, New York 2000, S. 71-87. Luhmann, Niklas: »Schwarze Löcher schwarze Kleckse«, in: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur, hg. von Niels Werber, Frankfurt/Main 2008, S. 292295.

»D UMME S EMANTIK « | 215

Macey, David: The Penguin Dictionary of Critical Theory, London 2000. Menke, Bettine: »Das Schweigen der Sirenen. Die Rhetorik und das Schweigen«, in: Johannes Janota (Hg.), Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik: Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991, Tübingen 1993, S. 134-162. Müller Nielaba, Daniel: »Das doppelte Anführungszeichen. ›Gänsefüsschen‹ oder ›Hasenöhrchen‹?«, in: Christine Abbt/Tim Kammasch (Hg.), Punkt, Punkt, Komma, Strich? Geste, Gestalt und Bedeutung philosophischer Zeichensetzung, Bielefeld 2009, S. 141-149. Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes, 10., überarbeitete und erweiterte Aufl. von Helmut Henne u.a., Tübingen 2002. Ridley, Hugh: »Zur Metasprache der Literaturgeschichte im und zum 19. Jahrhundert«, in: Roland Berbig/Martina Lauster/Rolf Parr (Hg.), Zeitdiskurse. Reflexionen zum 19. und 20. Jahrhundert als Festschrift für Wulf Wülfing, Heidelberg 2004, S. 335-347. Riegl, Alois: »Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst«, in: ders.: Gesammelte Aufsätze, Augsburg, Wien 1929, S. 28-39. Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5: L-Mn, Basel 1980. Saße, Günter: Sprache und Kritik. Untersuchung zur Sprachkritik der Moderne, Göttingen 1977. Schiewe, Jürgen: Die Macht der Sprache. Eine Geschichte der Sprachkritik von der Antike bis zur Gegenwart, München 1998. Schöneck, Werner: »Metasprache«, in: Helmut Glück (Hg.), Metzler Lexikon Sprache. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart, Weimar 2000, S. 438. Spitzer, Leo: Classical and Christian Ideas of World Harmony. Prolegomena to an Interpretation of the Word »Stimmung«, hg. von Anna Granville Hatcher. Mit einem Vorwort von René Wellek, Baltimore 1963. Spreckselsen, Tilman: »Wir wollen vorlesen und nichts erklären müssen. Seit mehr als fünfzig Jahren steht das Wort ›Negerlein‹ in Otfried Preußlers Klassiker ›Die kleine Hexe‹. Der Verlag will das jetzt ändern. Zu Recht?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.1.2013, S. 25. Steinbrenner, Jakob: Zeichen über Zeichen. Grundlagen einer Theorie der Metabezugnahme, Heidelberg 2004. Strub, Christian: »Metasprache der Metapher. Thesen zum Widerstreit im Reden über Erfahrungswelten«, in: Wolfgang Bergem/Lothar Bluhm/Friedhelm Marx (Hg.), Metapher und Modell. Ein Wuppertaler Kolloquium zu literari-

216 | S TEFAN B ÖRNCHEN

schen und wissenschaftlichen Formen der Wirklichkeitskonstruktion, Trier 1996, S. 1-19. von Arburg, Hans-Georg: »Stimmung und Methode? Überlegungen zur StaigerHeidegger-Spitzer-Debatte (1950/51)«, in: ders./Sergej Rickenbacher (Hg.), Concordia discors. Ästhetiken der Stimmung zwischen Literaturen, Künsten und Wissenschaften, Würzburg 2012, S. 245-259. Wellbery, David E.: »Stimmung«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5: Postmoderne-Synästhesie, Stuttgart, Weimar 2003, S. 703-733. Wellbery, David E.: »Latenz und Stimmung. Skizze einer historischen Ontologie«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Florian Klinger (Hg.), Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften, Göttingen 2011, S. 265-276. »›Zu wahr, um schön zu sein‹. Ex-Bundestagspräsident Philipp Jenninger hält wieder Reden«, in: Der Spiegel Nr. 6/1989, S. 53 und 56.

Strong readings, Paranoia und Kittlers Habilitationsverfahren Prolegomena einer Fallstudie C LAUDIA L IEBRAND

2003 legte Eve Kosofsky Sedgwick einen Aufsatz mit dem Titel »Paranoid Reading and Reparative Reading, or, You’re So Paranoid, You Probably Think This Essay Is About You« vor.1 In diesem Essay verweist sie auf die Nähe des zeitgenössischen kritischen Denkens und der akademischen interpretativen Praxis zum »concept of paranoia«.2 Diese Komplizenschaft zwischen Interpretation und Paranoia – auch das führt Sedgwick in ihrem Text aus – ist keine neue Allianz. Im letzten Abschnitt von Sigmund Freuds Auseinandersetzung mit Daniel Paul Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, der 1911 erstmals erschienenen Studie Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides), weist der Vater der Psychoanalyse auf die prekäre Verwandtschaft von psychoanalytischer Deutungsarbeit und Geisteskrankheit hin: »Da ich weder die Kritik fürchte noch die Selbstkritik scheue, habe ich kein Motiv, die Erwähnung einer Ähnlichkeit zu vermeiden, die vielleicht unsere Libidotheorie im Urteile

1

Eve Kosofsky Sedgwick: »Paranoid Reading and Reparative Reading, or, You’re So Paranoid, You Probably Think This Essay Is About You«, in: dies.: Touching Feeling. Affect, Pedagogy, Performativity, Durham, London 2003, S. 123-151. Der hier vorgelegte Aufsatz zu Kittlers Habilitationsverfahren wurde in einer gekürzten Version online publiziert: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php? rez_id=17782 vom 8. April 2013.

2

E. Kosofsky Sedgwick: Paranoid Reading and Reparative Reading (s. Anm. 1), S. 125.

218 | C LAUDIA LIEBRAND vieler Leser schädigen wird. Die durch Verdichtung von Sonnenstrahlen, Nervenfasern und Samenfäden komponierten ›Gottesstrahlen‹ Schrebers sind eigentlich nichts anderes als die dinglich dargestellten, nach außen projizierten Libidobesetzungen und verleihen seinem Wahn eine auffällige Übereinstimmung mit unserer Theorie. Daß die Welt untergehen muß, weil das Ich des Kranken alle Strahlen an sich zieht, daß er später während des Rekonstruktionsvorganges ängstlich besorgt sein muß, daß Gott nicht die Strahlenverbindung mit ihm löse, diese und manche andere Einzelheiten der Schreberschen Wahnbildung klingen fast wie endopsychische Wahrnehmungen der Vorgänge, deren Annahme ich hier einem Verständnis der Paranoia zugrunde gelegt habe. Ich kann aber das Zeugnis eines Freundes und Fachmannes dafür vorbringen, daß ich die Theorie der Paranoia entwickelt habe, ehe mir der Inhalt des Schreberschen Buches bekannt war. Es bleibt der Zukunft überlassen, zu entscheiden, ob in der Theorie mehr Wahn enthalten ist, als ich möchte, oder in dem Wahn mehr Wahrheit, als andere heute glaublich finden.«3

Dass Freuds Theorie mit einer – wahnhaft anmutenden – Hermeneutik des Verdachts operiert, konstatierte bereits Paul Ricœur in den sechziger Jahren.4 Er positionierte Freud neben Karl Marx und Friedrich Nietzsche. Alle drei legten es – so Ricœur – darauf an, Verborgenes und Verdrängtes sichtbar zu machen: Marx die ökonomischen Realien unter dem ideologischen Überbau, Nietzsche den Willen zur Macht hinter den großen Begriffen der Metaphysik, Freud das Wirken des Unbewussten. Ihr kritischer Impetus attackiert den Schein, das Uneigentliche, um zum Eigentlichen vorzustoßen. Und ihr Impuls ist Misstrauen – ein Misstrauen, wie es auch den Paranoiker auszeichnet, den wir aus der Psychopathologie kennen. Der an Paranoia Erkrankte geht, wenn nicht von einer sorgfältig verdeckten Verschwörung, die – um ihm zu schaden – angestiftet worden sei, so doch von einer feindseligen Haltung ihm gegenüber aus, für die sich lückenlose Beweisketten anführen lassen. Der Paranoiker leidet an etwas, was Jacques Lacan »Beziehungswahn« oder »Deutungswahn« nennt.5 Marginale, absei-

3

Sigmund Freud: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VIII: Werke aus den Jahren 1909-1913, hg. von Anna Freud u.a., Frankfurt/Main 1999, S. 239-320, hier S. 315.

4

Vgl. Paul Ricœur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, übersetzt von Eva Moldenhauer, Frankfurt/Main 1974 [1965].

5

Jacques Lacan: »Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit«, in: ders.: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit und Frühe Schriften über die Paranoia, übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Wien 2002, S. 13-358, hier S. 33, 30 und 31.

S TRONG READINGS, P ARANOIA UND K ITTLERS H ABILITATIONSVERFAHREN | 219

tige Details werden als Indizien für die der Perzeption zugrunde liegende ›eigentliche‹ Wahrheit genommen: Sei es – ich reihe etwas provokativ – die Weltverschwörung der Freimaurer, die sexuelle Ätiologie aller psychischen Störungen, der Willen zur Macht, der sich hinter den Screens der Metaphysik verstecke. Sedgwick, die das kritische, das aufdeckende, das aufklärerische Potenzial dessen, was sie als paranoid reading (oder auch mit Ricœur als hermeneutics of suspicion) bezeichnet, anerkennt, diskutiert fünf Perspektivierungen von Paranoia. Sie bespricht die Thesen: erstens »Paranoia is anticipatory«, zweitens »Paranoia is reflexive and mimetic«, drittens »Paranoia is a strong theory«, viertens »Paranoia is a theory of negative affects« und fünftens »Paranoia places its faith in exposure«.6 Hier sei nur die für die fokussierte Fragestellung interessanteste Setzung in den Blick genommen: »Paranoia is a strong theory«. Starke Theorien – das ist Konsens – haben eine große Reichweite, sie sind besonders erklärungskräftig und sie sind reduktionistisch, insofern sie eine Fülle von Phänomenen aus einer Grundannahme erklären. Starken Theorien eignet ein Element des Gewaltsamen, ja des Kolonisierenden, auch des Willkürlichen. Phänomene, in unserem Zusammenhang: Text-Phänomene, werden in eine Perspektivierung ›gezwungen‹, werden einer Argumentationsfigur untergeordnet, werden nicht in ihrer Komplexität ausgeleuchtet, sondern als Indizien für die starke Theorie genommen. Sucht man nach Beispielen für interpretative Anwendungen starker Theorie, sucht man nach in diesem Sinne strong readings – starken Interpretationen, starken Lektüren (ich verwende beide Begriffe hier synonym) – ewa in der Literaturwissenschaft, liegt der Blick auf eine Reihe von Galionsfiguren nahe, zu denen zweifellos auch (der im Oktober 2011 verstorbene) Friedrich Kittler gehört. Dessen Aufschreibesysteme 1800/19007 etwa exemplifizieren in jeder ihrer Zeilen, dass der literarische Text Effekt des Medien-, des Aufschreibesystems ist (Kittler verwendet hier bekanntlich einen Begriff aus Daniel Paul Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken). Ändern sich die technologischen Bedingungen des Aufschreibesystems, ändert sich der Status und der ›Sinn‹ von Literatur.8 Blickt Kittler in seiner Studie »Draculas Vermächtnis«9 auf Bram

6

E. Kosofsky Sedgwick: Paranoid Reading and Reparative Reading (s. Anm. 1),

7

Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 2003 [1985].

8

Kittler entfaltet sein Modell an exemplarischen Texten, zu denen die Hoffmanns

S. 130-151.

(»1800«) und Kafkas (»1900«) gehören. So liest er beispielsweise Hoffmanns Goldenen Topf als medial reflexive Initationsgeschichte eines Dichters, Anselmus’ (von dem Kittler behauptet – Hoffmanns Text verzichtet darauf, uns mitzuteilen, an wel-

220 | C LAUDIA LIEBRAND

Stokers Dracula, sieht er mitnichten einen Vampirroman, sondern einen Medienroman, dessen Thema allein ist, wie Medien verschaltet sind, wie Inhalte eines Mediums in ein anderes transkribiert werden, inwieweit Medien administrativ und strategisch eingesetzt werden können. Dracula erscheint so als »Sachbuch unserer Bürokratisierung«10. In Musik und Mathematik11, Kittlers mehrbändig angelegtem, unvollendet gebliebenem opus magnum, wird gleich die Zivilisationsgeschichte Europas umgeschrieben: Die Schöpfung Europas sei in der musikalischen Sphäre zu lokalisieren. Kittlers mediendeterministischer und technikzentrierter Ansatz (der auch ein kriegshistorischer ist: es ist die Technik, die Aufschreibesysteme modelliert, und es ist immer der Krieg, der die neuen Techniken hervorbringt) hat in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts auch deshalb Furore gemacht, weil sein posthermeneutischer, programmatisch den Sinn aus den Geisteswissenschaften austreibender Gestus neu, überraschend und im skizzierten Sinne von aufklärerischer Paranoia geprägt war: Die Weltliteratur verdankt – das hat Kittler mit aller Schärfe ausgeleuchtet – die Texte Kafkas, um einen von Kittlers zentralen Referenzautoren zu nennen, einem neuen medialen Dispositiv. Punktum. Die akademische Literaturwissenschaft hat sich – jedenfalls zunächst – mit dem enfant terrible Kittler schwer getan. Wie schwer, zeigt ein Blick auf die elf (vom Gemeinsamen Ausschuss der vier Philosophischen Fakultäten der AlbertLudwigs-Universität Freiburg eingeholten) Habilitationsgutachten, die im letzten

cher Fakultät Anselmus studiert – der Protagonist sei Student der Philologie). Er werde in der Szene unterm Holunderbaum (einem Ort, an dem Muttergottheiten zu Hause seien) mit der Poesie infiziert, die hier zum ersten Mal mit ihm spreche. Um ein wahrer Dichter zu werden, müsse Anselmus »[...] nur noch lernen, wie die Stimme, die aus Natur geworden ist, auch noch Buch werden kann [...]«. (F. A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900 [s. Anm. 7], S. 86) Schreiben, Produzieren bringe ihm eine Vaterfigur bei – wieder (wie bei der Einübung in Sprechen durch den Muttermund) über Rezeption. Der Archivarius Lindhorst lasse ihn orientalische Schriftstücke kopieren, deren Sinn jene Schlangenfrau aufschließe, die Anselmus schon in der Holunderbaumszene die Sprache der Natur und der Poesie hören ließ. 9

Friedrich A. Kittler: »Draculas Vermächtnis«, in: ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 11-57.

10 Ebd., S. 43. 11 Friedrich A. Kittler: Musik und Mathematik I. Hellas 1: Aphrodite, München 2005; ders.: Musik und Mathematik I. Hellas 2: Eros, München 2009.

S TRONG READINGS, P ARANOIA UND K ITTLERS H ABILITATIONSVERFAHREN | 221

Jahr in der Zeitschrift für Medienwissenschaft veröffentlicht wurden. Im zusammenfassenden Kommissionsgutachten heißt es: »Zur Begutachtung der Arbeit sind sieben Gutachter bemüht worden; zwei Kommissionsmitglieder haben unaufgefordert schriftliche Voten abgegeben [zu diesen neun Gutachten kommen dann noch das Kommissionsgutachten und das Sondervotum Hans-Martin Gaugers – C. L.]. Fünf schriftliche Gutachten der engeren Fachvertreter sind positiv; ein Gutachten eines engeren Fachvertreters ist negativ. Zwei Gutachten von NichtFachvertretern sind negativ, eines ist positiv. Alle Gutachten zusammen erreichen den Umfang eines kleineren Buches. Alle Mitglieder der Habilitationskommission bis auf eines haben für die Annahme der Arbeit als Habilitationsleistung votiert. Stimmenthaltungen liegen nicht vor, die meist dann auftreten, wenn es um die Frage geht, ob eine Arbeit gerade noch gut genug für die Anerkennung als Habilitationsleistung ist. Es geht hier vielmehr um eine Grundsatzentscheidung über ein außergewöhnliches Werk. Aus dem gleichen Grund war die Einarbeitung der Kritik des Negativgutachtens in das Kommissionsgutachten nicht möglich. Vergessen wir angesichts dieser Sachlage nicht, daß die Wissenschaft großen Provokationen und einseitigen Thesen im allgemeinen mehr verdankt als rundum richtigen, ausgeglichenen, harmonisierenden und ›gerechten‹ Büchern. Vor allem aber argumentiere man nicht damit, ein solches Buch sei keine Habilitationsschrift und von jedem anderen Platz aus könne ein solcher Vorstoß besser vorgetragen werden – der ganz ungewöhnlich begabte Verfasser wird, wie jeder weiß, bei uns nie einen anderen Platz finden, wenn er nicht hier und jetzt, in diesem Verfahren, habilitiert wird.«12

Deutlich wird hier, dass der Verfasser des Kommissionsgutachtens (es kann wohl davon ausgegangen werden, dass es sich um Gerhard Kaiser handelt) sich Sorgen um die Laufbahn und die bürgerliche Existenz des Habilitanden macht. Neben den fachlichen Argumenten wird also auch anderes verhandelt. Die Lektüre der Gutachten, vorgelegt unter anderem von Gerhard Kaiser, Gerhard Neumann, Wolfram Mauser, Hans-Martin Gauger, verhilft zu stupenden Erkenntnissen in Bezug auf Wissenschafts- und Institutionengeschichte. Besonders instruktiv ist die Debatte, die die Gutachten untereinander führen, weil sie Standards für akzeptable und habilitable literaturwissenschaftliche Arbeit, für das Geschäft der Lektüre, der Interpretation zu formulieren sucht.

12 [Unbek. Verf.]: » Kommissionsgutachten zu Friedrich A. Kittlers Habilitationsschrift ›Aufschreibesysteme 1800/1900‹«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 180-184, hier S. 183f.

222 | C LAUDIA LIEBRAND

Dabei ist zu konstatieren: Wie immer die Gutachten auch votieren, gemeinsam ist ihnen, dass sie das Innovative der vorliegenden Arbeit anerkennen – wenn auch in unterschiedlicher Perspektivierung. Während Kaiser und Neumann, die exemplarisch herausgegriffen seien, das fundamentale Neue, das sie in Kittlers Habilitationsschrift sehen, als Herausforderung und Anregung im Wissenschaftssystem begreifen (bei allen Einwänden etwa Gerhard Kaisers gegen Kittlers Neumodellierung von Literaturbetrachtung), kategorisiert Hans-Martin Gauger die Arbeit nicht als »neu«, sondern als »ausgesprochen modisch«13. Einzuwenden gegen sie sei: »Unernst im Stilistischen; unzureichende Begründung: Beliebigkeit im Inhaltlichen; Fehlen fast ganz von Auseinandersetzung mit Anderen; Weigerung, den eigenen Ansatz zu legitimieren; Weigerung, den leitenden Begriff zu explizieren; Ausweichen oder besser Hängenbleiben in einer Art von Poesie.«14 In der zweiten ›Runde‹ der Gutachten setzt sich Manfred Schneider mit der ablehnenden Position Gaugers auseinander. Begutachtet wird von Schneider nicht Kittlers Schrift, sondern das Gutachten Hans-Martin Gaugers. Schneider tritt zur Ehrenrettung Kittlers an: »[D]ie Ehre der Fachwissenschaft gebietet [Schneider als Literaturwissenschaftler wendet sich gegen den Linguisten Gauger – C. L.], ihre Kompetenz und ihren Wissenschaftsbegriff gegen die Übergriffe der reinen Absprecherei zu verteidigen. Wenn die Habilitationsschrift Herrn Kittlers einen Affront gegen die Üblichkeiten und Ordnungen des wissenschaftlichen Diskurses darstellt, so muß das zur Verteidigung eben dieser Ordnung abgefaßte Gutachten des Kollegen Gauger schlichtweg als Parodie dessen, was es sich zu retten anschickt, betrachtet werden: der rationalen Auseinandersetzung.«15

Schneider wirft Gauger Ressentiment vor und greift selbst tief ins polemische Repertoire: »Herr Gauger hält Kittlers Arbeit mitsamt ihren Referenzen für ›schlechte Innovation‹. Und stellvertretend für die neuere französische Theorie kassieren die ›Aufschreibe-

13 Hans-Martin Gauger: »Gutachten zur Arbeit ›Aufschreibesysteme 1800/1900‹ von Herrn Dr. F.A. Kittler«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 137-144, hier S. 143. 14 Ebd., S. 139. 15 Manfred Schneider: »Gutachten zur Habilitationsschrift von Dr. F.A. Kittler ›Aufschreibesysteme 1800/1900‹«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 145152, hier S. 145.

S TRONG READINGS, P ARANOIA UND K ITTLERS H ABILITATIONSVERFAHREN | 223 systemen [!] 1800/1900‹ die kleine Münze des großen Zorns. An ihnen erprobt sich die volle Wucht der schwachen Kräfte, die Herrn Gauger zur Verfügung stehen. Kittlers autistische Arbeit – so vernehmen wir – schwimmt in einem Strom, der Derrida, Foucault, Lacan und auch Barthes heißt. Aber wird ein Strom trockengelegt, indem man in ihn spuckt?«16

Wir haben es hier mit einer Philologie ›zweiter Stufe‹ zu tun: Der Philologe Schneider kommentiert den Kommentar, begutachtet das Gutachten. Anders als sein Heros Kittler, der in seinen Texten alteuropäische Höflichkeitsregeln achtet – und ironisiert, statt zu Invektiven zu greifen –, kann Schneider sich nur mit Beleidigungen helfen. Allerdings kommt ihm auch die Rolle des Propheten zu, er schließt sein Gutachten mit den Worten: »Ich empfehle dem Gemeinsamen Ausschuß der Philosophischen Fakultäten – will sie [!] sich nicht auf das Gelächter der Zukunft abonnieren – die Annahme der Arbeit von Herrn Dr. Kittler als Habilitationsschrift.«17 Schauen wir uns Gaugers Gutachten an, können wir allerdings festhalten: Was Gauger anführt, sind keine Petitessen. Und keiner seiner Vorwürfe ist unbegründet. Die Aufschreibesysteme sind in einem leichtfüßigen, ironischen, ja spöttischen Tonfall geschrieben, der wenig akademisch anmutet. Um seine beiden Modelle, das Aufschreibesystem 1800 und das Aufschreibesystem 1900, aufzustellen, geht Kittler durchaus idiosynkratisch mit dem Material um. Wolfram Mauser konstatiert in seinem Gutachten zu Recht: »Wie immer man den Grad der Originalität von Kittlers Habilitationsschrift einschätzt, schwerwiegende Mängel sehe ich in der Art der Durchführung, und zwar vor allem (1) in der fehlenden Begründung der Auswahl des Textkorpus, den sie untersucht, (2) in der einseitigen Auswertung der zugrundegelegten Texte […].«18 So weist Mauser – herausragende Kenner des Bildungsdiskurses des 18. Jahrhunderts wie Heinrich Bosse würden ihm darin zustimmen – darauf hin: »Mag sein, daß sich von Stephanis ›Methoden für Mütter … ihre Kinder … lesen zu lernen‹ ableiten läßt, daß es tatsächlich Mütter gab, die Kinder im Lesen unterrichteten. Ist damit aber schon sichergestellt, daß die Leselehrbücher Stephanis als Kronzeugen für das ›Gleichungssystem Frau=Natur=Mutter‹ [...] dienen können? Meine Zweifel bestätigt das

16 Ebd., S. 151. 17 Ebd., S. 152. 18 Wolfram Mauser: »Gutachten über die Habilitationsschrift von Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 169-179, hier S. 170.

224 | C LAUDIA LIEBRAND Lehr= und Lesebuch für die Jugend und ihre Freunde (1801) von Joachim Heinrich Campe, das mir in Original vorliegt.«19

Kittler wählt tatsächlich tendenziös aus, vernachlässigt Fragen der Repräsentativität, hängt seine ›starke Theorie‹ an punktuellen Beobachtungen auf, ignoriert weitestgehend die vorliegende wissenschaftliche Auseinandersetzung. Mit Umberto Eco könnte man ihm vorwerfen: »[F]rom a certain point of view everything bears relationships of analogy, contiguity and similarity to everything else. […] [T]he difference between the sane interpretation and paranoiac interpretation lies in […] not […] deducing from this minimal relationship the maximum possible.«20 Kittler deduziert aus minimalen Referenzen, argumentationsökonomisch im höchsten Maße effizient, maximale Deutungskonsequenzen – insofern ist sein Gestus, sein Verfahren wie auch seine Voraussetzungen, im beschriebenen Sinne paranoisch. Und insofern sind sein Gestus, sein Verfahren von einer – horribile dictu (jedenfalls für Kittler) – Hermeneutik des Verdachts getrieben, die freilegen will, was hinter den Sprechblasen von Dichtung um 1800 und Literatur um 1900 liegt. Sein Vorgehen – das sei ausdrücklich betont – unterscheidet sich aber allenfalls graduell von dem Vorgehen aller Interpreten: Sie wählen Material aus – und diese Auswahl ist immer auch beliebig. »[D]ie Verwendung des Materials [ist] selber schon Interpretation«, formuliert Peter Szondi in »Über philologische Erkenntnis«:21 »Schon bei der vermeintlich der Interpretation vorgelagerten Heuristik begibt man sich also auf das Terrain der Interpretation, und zumindest auf den ersten Blick bietet der zu interpretierende Text keine Anhaltspunkte, wohin und wie weit man dabei zu gehen hat.«22 Prinzipiell ist Kittler nicht interessiert an einer Ausleuchtung des Horizontes, den die Texte aufspannen. Auch das sehen die Gutachter sehr genau. Kaiser etwa schreibt: »Kittlers Arbeit ist so weitgreifend und in ihrem Material so vielschichtig, daß eine Kritik im einzelnen nicht stattfinden kann. Angesichts Kittlerscher Geniestreiche wirken jeden-

19 Ebd., S. 173. 20 Umberto Eco: »Overinterpreting Texts«, in: ders. u.a.: Interpretation and Overinterpretation, hg. von Stefan Collini, Cambridge u.a. 1992, S. 45-66, hier S. 48. 21 Peter Szondi: »Über philologische Erkenntnis«, in: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hg.), Methodenfragen der deutschen Literaturwissenschaft, Darmstadt 1973, S. 232254, hier S. 246. 22 Stefan Börnchen: »Zum Geburtstag viel Freud. Paranoia und paranoide Geschlechter-Codes in ›Superman’s Romance With Wonder Woman!‹«, in: Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 26 (2007), S. 203-243, hier S. 216.

S TRONG READINGS, P ARANOIA UND K ITTLERS H ABILITATIONSVERFAHREN | 225 falls viele der Willkürlichkeiten, die Kittler der Hermeneutik vorwirft, als ausgesprochen harmlos. Stellvertretend läßt sich an der Behandlung von Goethes ›Faust‹ andeuten, wie das Lesen der Werke gegen den Strich, als Belegmaterial für eine übergreifende These, sie punktuell ins hellste Lieht [!] rückt bei Destruktion ihrer immanenten Komposition. So liefert Kittler eine glänzende Analyse der Bibelübersetzungsszene, mit Ausnahme der kühnen, aber unbelegbaren These, Mephisto als Geist des Beamten sei der Pate des Übersetzungsaktes [...], und der extremen Folgerung, der Pakt sei die Analogie des Beamteneids [...]. Aber der ›Beamte‹ Faust will ja gerade nicht seine ganze Kraft der Hölle widmen, wie Kittler als Gehalt des Beamteneids vorführt. Faust will der Hölle – wie Gott – ihre Ohnmacht vor Augen stellen, ganz abgesehen davon, daß man dem Teufel schon seine arme Seele verkaufen konnte, als an Beamte noch gar nicht zu denken war. Kittlers Analyse verzerrt den Eingangsmonolog […].«23

Natürlich ist Kaisers Einschätzung zuzustimmen. Kittlers Lektüren der Kanontexte, die er in den Aufschreibesystemen behandelt, sind luzide, sophisticated, von brillanter Intelligenz, tun den Texten aber, wenn auch nicht immer, so doch nicht nur gelegentlich – wie sagt Kaiser – in »ihrer immanenten Komposition« Unrecht. Wie man Kittlers Lektüren einschätzt, hängt ab von den Kriterien, mit denen man interpretative Zugriffe evaluiert – ins Spiel gebracht sei eine Kriterienliste, wie sie kürzlich formuliert worden ist: »Wahrheit, Plausibilität, Wahrscheinlichkeit, Interessantheit, Wichtigkeit, Fruchtbarkeit, Neuheit, Kohärenz, Maximierung ästhetischer Bildung oder ästhetischer Wertschätzung, Anschlussfähigkeit an Theorien und Forschungsgeschichte oder für zukünftige Interpretationen«24. Was Kittlers in unserem Sinne paranoische, ›starke Lektüre‹ für sich in Anschlag bringen kann, wäre – geht man von dieser Kriterienliste aus – Interessantheit, Fruchtbarkeit, Neuheit, Grundlegung einer technikzentrierten Medientheorie (im Anschluss an Paul Virilio und Marshall McLuhan, denen Kittler sehr viel verdankt, auch wenn er das nicht immer hinreichend deutlich herausstellt), Grundlegung einer materialen Geschichtsphilosophie, sicher auch Anschluss-

23 Gerhard Kaiser: »Gutachten zur Habilitationsschrift von Herrn Dr. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 127-133, hier S. 131f. 24 [Unbek. Verf.]: »Literatur interpretieren: begriffliche, evaluative und fachkulturelle Aspekte. Tagung des Promotionskollegs ›Theorie und Methodologie der Textwissenschaften und ihre Geschichte (TMTG)‹ der Universitäten Göttingen und Osnabrück vom 07. bis 09.03.2013«: http://www.textwissenschaften.de/tagung.htm vom 21. Februar 2013.

226 | C LAUDIA LIEBRAND

möglichkeiten für weitere Auseinandersetzungen mit den in den Blick genommenen Texten. Auch Kriterien wie Kohärenz und Plausibilität lassen sich dem Kittler’schen Zugriff nicht absprechen: Kohärenz und Plausibilität werden allerdings auch erzielt durch tendenziöse, punktuelle Behandlung des Textmaterials. Blickt man vor dem Hintergrund der Kittler’schen medientechnischen Wende auf die turns der letzten Jahre (genannt seien nur einige, der performative turn, der spatial turn, der iconic turn, der material turn), dann lassen sich – gehen jene doch auch von ›starken‹ Theorien aus – durchaus Bezüge zum ›Fall‹ Kittler aufspannen: auch wenn, das ist mit Nachdruck festzuhalten, die Kittler’schen Aufschreibesysteme mit dem turn-Begriff nicht zu fassen sind. Der Effekt, der der Habilitationsschrift, gefolgt von Grammophon, Film, Typewriter25, zuzusprechen ist, lässt sich nicht nur als Wende in der Disziplin, in der Literaturwissenschaft, in der Germanistik, beschreiben: Die Aufschreibesysteme haben »[m]it der Betonung operationaler Aspekte […] die Entzifferung vor-sinnhafter, d. h. insbesondere medientechnischer Strukturen, zu ihrer originären Forschungsagenda gemacht und dieses Kompetenzversprechen – nämlich die Probleme eines Faches auf einer anderen Systemebene diskutieren zu können – erfolgreich in eine universitäre [medienwissenschaftliche] Institutionalisierung ummünzen können.«26

Turns hingegen erzwingen in der Regel keine disziplinäre Neuordnung, werden nicht genealogisch im Sinne der Gründung neuer Wissenschaften produktiv, sondern organisieren in kleinerem Stil – die Verwendung des von Thomas S. Kuhn geprägten Begriffes sei erlaubt – Paradigmenwechsel27, lenken den Blick der Disziplin auf Fragezusammenhänge, die so dezidiert bislang nicht im Fokus des Fachs standen. Fasst man es weniger ambitioniert, kann man statt von Paradigmenwechseln auch von ›Moden‹ sprechen, wie es Walter Erhart vor 20 Jahren im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft getan hat. Erhart hielt damals ein Plädoyer für diese ›Moden‹ in den Literatur- und Kulturwissenschaften:

25 Friedrich A. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986. 26 Ute Holl/Claus Pias: »Aufschreibesysteme 1980/2010. In memoriam Friedrich Kittler. Editorische Vorbemerkung«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 114115, hier S. 114. 27 Vgl. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/Main 1978; ders. und Lorenz Krüger (Hg.), Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt/Main 1978.

S TRONG READINGS, P ARANOIA UND K ITTLERS H ABILITATIONSVERFAHREN | 227 »Beileibe nicht nur in den letzten zwanzig Jahren, sondern fast in jedem Dezennium dieses Jahrhunderts stand eine neue literaturwissenschaftliche Richtung – wenn nicht deren mehrere – zur Disposition. Erkennbar ist dabei weniger die Geschichte eines stetigen wissenschaftlichen Fortganges als vielmehr ein ständig wechselnder Blick auf die alten literarischen Texte – ein jeweils zeitgenössischer und ein jeweils modischer Blick, der mehr über die historische und politische Sensibilität des Faches […] verrät als die Auflistung einiger weniger methodischer Errungenschaften oder die Rede über die ›bewahrende‹ Funktion der Geisteswissenschaften. Daß die Richtungen und ›Moden‹ […] seit einiger Zeit schneller kursieren, ist dabei eher eine Chance – wenn man denn gewillt wäre, sie zu ergreifen.«28

Noch schneller als in der ersten Hälfte der 90er, als die Rede noch nicht von turns, sondern von ›Richtungen‹ und ›Moden‹ war, dreht sich das Theoriekarussell seit der Jahrtausendwende. Bei den turn-orientierten Interpretationen, mit denen wir es seitdem zu tun haben, handelt es sich durchaus um solche, die sich, was die Verfahren ihrer Lektüren und die Voraussetzungen ihrer Lektüren angeht – davon war die Rede –, an strong theories orientieren, die (wie die ›paranoischen‹ Lektüren en général) große Reichweite beanspruchen und mit reduktionistischer Effizienz ein schmales Set an Argumentationsfiguren fokussieren. Philologischem »Deutungswahn«, philologischem »Beziehungswahn« fällt es schließlich nicht schwer, je nach geltendem turn Texte von ihrer räumlichen, ihrer materialen oder performativen Dimension her zu erschließen – um nur einige Trends des letzten Jahrzehnts aufzuführen. Stefan Börnchen hat vor wenigen Jahren in einem – brillanten – Beitrag »Zum Geburtstag viel Freud. Paranoia und paranoide Geschlechter-Codes in ›Superman’s Romance With Wonder Woman!‹« mustergültig das Problemfeld Paranoia und Literaturwissenschaft vermessen.29 In Auseinandersetzung mit loci classici – neben Sedgwicks Beitrag geht er auch auf Umberto Ecos »Overinterpreting texts« ein wie auch auf Jonathan Cullers Antwort auf Eco, übertitelt mit »In defence of overinterpretation«30 – arbeitet Börnchen die Nähe von Paranoia und Psychoanalyse einerseits und literaturwissenschaftlichem, philologi-

28 Walter Erhart: »Plädoyer für Moden«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 38 (1994), S. 415-422, hier S. 417f. 29 Vgl. S. Börnchen: Zum Geburtstag viel Freud (s. Anm. 22). 30 Vgl. Jonathan Culler: »In defence of overinterpretation«, in: Umberto Eco u.a.: Interpretation and Overinterpretation, hg. von Stefan Collini, Cambridge u.a. 1992, S. 109123.

228 | C LAUDIA LIEBRAND

schem Verfahren andererseits heraus – Börnchen zitiert eine Aussage Freuds aus »Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert«: »Gegen die Psychoanalyse erhebt sich […] der Vorwurf, daß sie einfache Verhältnisse in spitzfindiger Weise kompliziert, Geheimnisse und Probleme dort sieht, wo sie nicht existieren, und daß sie dies bewerkstelligt, indem sie kleine und nebensächliche Züge, wie man sie überall finden kann, übermäßig betont und zu Trägern der weitgehendsten und fremdartigsten Schlüsse erhebt. Vergeblich würden wir dagegen geltend machen, daß durch diese Abweisung so viele schlagende Analogien aufgehoben und feine Zusammenhänge zerrissen werden, die wir in diesem Falle aufzeigen können. Die Gegner werden sagen, diese Analogien und Zusammenhänge bestehen eben nicht, sondern werden von uns mit überflüssigem Scharfsinn in den Fall hineingetragen.«31

Börnchen konstatiert: »Anders gesagt: Die Gegner der Psychoanalyse, von denen Freud hier spricht, halten sein Verfahren also für eben jene paranoide, unverhältnismäßige Interpretation, vor der Eco warnt – und nicht nur Eco, sondern (in anderem Kontext auch) […] Freud selbst.«32 Wie Eco und Freud versucht auch Stefan Börnchen die Grenze zwischen paranoischen Lektüren und angemessenen Lektüren, zwischen Missverstehen und Verstehen zu ziehen. Er verweist auf den hermeneutischen Zirkel, der nachträgliche Korrekturen erlaube und der Paranoia entgegenarbeite: »Denn die Paranoia verweigert sich kategorisch jenem wiederholten Gang durch den hermeneutischen Zirkel, durch den allein die Erkenntnis vorankommt.«33 Und er bringt ein Quantitätsargument ins Spiel: »Wie die Dosis das Gift macht, so macht sie auch die Paranoia. […] Die Paranoia kann Gift für die Interpretation sein und sie krank machen – bei gegebener Indikation und in angemessener Dosierung kann die Paranoia jedoch auch ein hermeneutisches Heilmittel von fast zauberischer Kraft abgeben.«34 Börnchen rekonstruiert die ›Bollwerke‹, die die von ihm befragten Theoretiker, Freud, Eco und Culler, gegen das Überhandnehmen des Paranoischen aufgebaut haben. Freud vertraue auf die Erfahrung, die Kompetenz des Interpreten, der eben den Weg zwischen »›Vorsicht‹« und »›Kühnheit‹« ein-

31 Sigmund Freud: »Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. XIII: Jenseits des Lustprinzips. Massenpsychologie und Ich-Analyse. Das Ich und das Es, hg. von Anna Freud u.a., Frankfurt/Main 1999, S. 315-353, hier S. 328f. 32 S. Börnchen: Zum Geburtstag viel Freud (s. Anm. 22), S. 223. 33 Ebd., S. 225. 34 Ebd., S. 227.

S TRONG READINGS, P ARANOIA UND K ITTLERS H ABILITATIONSVERFAHREN | 229

zuschlagen habe.35 Eco plädiere für die »›Evidenz‹« als Korrekturfaktor, die gebunden sei an die intentio operis – und Culler setze auf »›Kontexte‹«, die der Interpret an den Text – gemäß seiner, des Interpreten Intuition und Geschmack – herantrage und die den Text »in seiner zu interpretierenden Bedeutung« binde:36 »Es sind philologische Kontextualisierungs-Verfahren, mit denen man die Beziehungen zwischen zu interpretierenden Details nicht nur behauptet, sondern sie nachweist (Eco) oder sogar stiftet (Culler). […] In der Verpflichtung auf die Regeln der Philologie sollen sich Lektüre-Freiheit und -Willkür ihre Grenzen setzen. Anders gesagt: Nur die Philologie garantiert die richtige pharmazeutische Dosierung der Paranoia.«37

Das klingt nach einer salomonischen Lösung. Auch bei Stefan Börnchens Einsetzung der Philologie als ›heilender Instanz‹ bleiben aber Fragen offen. Die paranoisch infizierte Philologie soll das Remedium gegen das, von dem sie selbst infiziert ist, sein. Das lässt sich einerseits als impfstrategisch geschicktes Vorgehen konzeptualisieren, andererseits treibt es aber auch den Teufel mit Beelzebub aus. Schwierig bleibt der Aushandlungsprozess, was denn »die richtige pharmazeutische Dosierung der Paranoia« sei. In der hier kursorisch vorgestellten Fallstudie konnten sich die Gutachter gerade nicht darüber einig werden, ob die Kittler’sche Habilitationsschrift dem ›System Wissenschaft‹ zugehörig sei – oder zu verrückt, zu abgedreht, zu idiosynkratisch, um als wissenschaftlich klassifiziert werden zu können. Hans-Martin Gauger, der bis zum Schluss des Verfahrens an seiner ablehnenden Position, die eingereichte Schrift als vollgültige Habilitationsleistung anzuerkennen, festhielt, formuliert in seinem Sondervotum: »[Der] Einwand gegen die von F.A. Kittler vorgelegte Arbeit ist, dass [sic] sie unwissenschaftlich ist. Sie ist unwissenschaftlich in einem doppelten Sinn. Erstens ist sie unwissenschaftlich in Ausrichtung und Anlage insgesamt: ein prinzipielles Verfehlen des Wissenschaftlichen. Zweitens ist sie unwissenschaftlich auf Grund von Verstößen gegen elementare Grundsätze wissenschaftlichen, speziell philologischen Arbeitens; hier geht es um Unzulänglichkeiten: die Arbeit reicht hier an das Wissenschaftliche nicht heran.«38

35 Ebd., S. 228. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 229. 38 Hans-Martin Gauger: »Stellungnahme (Sondervotum) zur Arbeit von F.A. Kittler ›Aufschreibesysteme 1800/1900‹«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 184-188, hier S. 185.

230 | C LAUDIA LIEBRAND

Das Wort ›Paranoia‹ fällt zwar nicht, wird aber ex negativo aufgerufen, wirft Gauger Kittler doch mangelnde Rationalität (das Neben-der-Vernunft-Sein) vor: »Mein Einwand ist […], dass [sic] diese Arbeit nicht rational […] zu beweisen sucht, sondern dass [sic] sie inszeniert. Sie inszeniert im Sinne eines ›geistreich verfügenden Kombinierens‹ […], wobei diesem Kombinieren, diesem oft gewaltsamen, sturen und keineswegs immer geistreichen Verbinden – unbestritten – beträchtliche Belesenheit zugutekommt.«39 Gauger kritisiert die rhetorische und performative Strategie des Kittler’schen Textes, er wirft Friedrich Kittler vor, Opfer jenes »Beziehungswahn[s]« und »Deutungswahn[s]« geworden zu sein, der in unserer Terminologie für das paranoid reading steht; Gauger selbst verwendet den Begriff »autistisch[]«40. Gauger stimmte der Publikation seiner beiden Gutachten (des Gutachtens, das er zu Beginn des Habilitationsverfahrens, im Dezember 1982, vorlegte, und seines Sondervotums, das auf den 27. Februar 1984 datiert ist) unter der Voraussetzung zu, dass ihm ein Nachwort zur Publikation der ›Habilitationsakte‹ gewährt werde. Als derjenige, der wohl am energischsten gegen die Anerkennung der Aufschreibesysteme als vollgültige Habilitationsschrift gekämpft hatte, schien ihm – dreißig Jahre später – die Reflexion über seine Rolle im ›Habilitationsdrama‹ wohl dringend. Überdies hatte Gauger bereits in den 90er Jahren das Projekt der Gutachtenpublikation verhindert. Gaugers (der Habilitationsschrift gegenüber strikt ablehnende) Position ist, wenn die akademische Durchsetzung eines Ansatzes als dessen Nobilitierung verstanden werden kann, falsifiziert – so wird es auch der Verfasser des Sondervotums inzwischen sehen: durch die fulminante Karriere Kittlers, dessen Durchsetzung der technikzentrierten Medientheorie, die Kittler zum Star im Wissenschaftssystem und darüber hinaus machte (nicht nur in seinen letzten Jahren wies Kittler immer wieder auf seine ›Duzfreunde‹ aus Wirtschaft und Gesellschaft hin, zu denen etwa der Medienmogul Hubert Burda gehörte). In seinem Nachwort ist es Hans-Martin Gauger wichtig, darauf hinzuweisen, dass Kittler ihm wohl nichts nachgetragen habe: »Damals [auf einer Konferenz in Dubrovnik – C. L.] kam es zu keinem Gespräch zwischen Kittler und mir, was an mir lag, denn mir war bei diesem Zusammentreffen, so kurz danach, unwohl. Ich dachte, er müsse mir böse sein, was, vermute ich jetzt, aber gar nicht so war. Dann trafen wir uns zehn oder fünfzehn Jahre später zufällig in einem Freiburger

39 Ebd. 40 H.-M. Gauger: Gutachten zur Arbeit »Aufschreibesysteme 1800/1900« von Herrn Dr. F.A. Kittler (s. Anm. 13), S. 143.

S TRONG READINGS, P ARANOIA UND K ITTLERS H ABILITATIONSVERFAHREN | 231 Café. Er war, als er mich sah, freundlich überrascht und bat mich sofort, mich zu ihm zu setzen. Darüber, dass unser Gespräch nichts von Ranküne hatte, freute ich mich.«41

Die Verantwortung für das von ihm geschriebene Gutachten weist er auf eine verquere Weise dem Habilitanden zu: »Ich war in der Kommission, die die Fakultät eingesetzt hatte, genauer: der ›Gemeinsame Ausschuss‹ der damaligen vier philosophischen Fakultäten hatte dies zuständigkeitshalber getan. Für mich war dies alles nicht ohne Tragik, denn ich hatte von vorneherein das Gefühl, dass es Friedrich Kittler selbst war, der mich in der Kommission haben wollte, und tragisch wurde es für mich, als mir nach der Lektüre klar wurde, dass ich da nicht ›ja‹ sagen können würde. Irgendwann vor Abschluss der Habilitation sagte ich Gerhard Kaiser, ich befürchte, dass Kittler selbst mich als Gutachter wollte, worauf er lakonisch nur sagte: ›So ist es.‹ Übrigens ist dies, was für Außenstehende überraschend sein mag, im Grunde ziemlich normal: der Habilitationsvater oder die Habilitationsmutter sprechen, denke ich, in der Regel mit den zu Habilitierenden ab, wen er oder sie der Fakultät als Gutachter und dann als weitere Mitglieder der Habilitationskommission vorschlagen, und die Fakultät stimmt dann ab, bringt oft weitere Vorschläge, sie stimmt auch nicht immer einfach zu. Kittler kannte mich, weil er übrigens zurückhaltend, ohne sich an den Diskussionen eigentlich zu beteiligen, an einer Veranstaltung von mir teilgenommen hatte, in der ich mich mit einem Interesse, das sich speziell auf zur Sprache Gesagte [!] richtete, mit Jacques Lacans Le Séminare […] herumschlug. Ich erinnere mich, was ihn betraf, nur an seine große Aufmerksamkeit. Etwas anderes bestimmte mich zu meinem Verhalten, das mit Kittler gar nichts zu tun hatte. Ich hatte einige Jahre zuvor ein Gespräch mit einem Kollegen, der mir sagte, er sei aus einer Habilitationskommission ausgetreten, weil er gegen die vorgelegte Arbeit gewesen sei. Da habe ich mir vorgenommen, dass ich dies, sollte ich einmal selbst in diese Lage kommen, keinesfalls tun würde.«42

Auf das antike Modell des tragischen Helden, der unschuldig schuldig wird, also meint Gauger in seinem apologetisch angelegten Nachwort zurückgreifen zu müssen. Warf Gauger in seinen Gutachten Kittler Scharlatanerie vor, erkannten andere Gutachter im Kittler’schen Verfahren höchste ›Solidität‹. Gerhard Neumann, der am schärfsten sieht, welchen immensen, nicht nur medienwissenschaftlichen,

41 Hans-Martin Gauger: »Nachwort. Februar 2012«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 188-190, hier S. 188. 42 Ebd., S. 189.

232 | C LAUDIA LIEBRAND

sondern auch im Kern literaturwissenschaftlichen Wert, epochalen literaturwissenschaftlichen Wert Kittlers Ergebnisse – etwa für die Kafka-Philologie – haben, schreibt: »Literarische und außerliterarische Texte werden als Beispiele herangezogen – ebenso sachkundig, mit oft geradezu atemberaubender Genauigkeit [!] in ihrem Beweischarakter.«43 Auch Kittler selbst nimmt für sich das, was Gauger ihm abspricht: philologische Seriosität, dezidiert in Anspruch. Die »Abwehr«, die Kittlers Arbeit hervorrufe, erklärt Gerhard Neumann wie folgt: »Kittlers Arbeit ruft Abwehr hervor, […] weil sie nicht ›Wahrheiten‹, sondern ›Funktionen‹ rekonstruiert und nahelegt, daß Wertungen in diesem Zusammenhang nicht weiterführen; für mich ist die Arbeit freilich zugleich von unwiderstehlicher Faszination, weil sie sichtbar macht – und zwar durch vorzügliche Beispiele, die ein dichtes Argumentationsnetz begleiten – was so zuvor nicht erkennbar war: die ›Ablesbarkeit‹ kultureller Paradigmen an den fundamentalen Techniken ihrer Reproduktion.«44

Die Mehrheit der Gutachter hat sich im Freiburger Habilitationsverfahren auf die Seite des Neuen geschlagen, hat die Arroganz, auch das esoterische Gehabe der Kittler’schen Studie ertragen, weil allen Einwänden zum Trotz das stupend Innovative, der überaus begabte und kühne Zugriff, die starke Theorie, die exemplifiziert wurde, überzeugten. Manfred Frank hält in seinem, einem der nachträglich eingeholten Gutachten fest: »Mehrere große Würfe – und ich zähle, trotz einzelner Bedenken, Kittlers Buch dazu – haben massive Kritik an Einzelbehauptungen, philologischen Unpräzisionen, ma[n]gelhaft stringenten Beweisführungen usw. souverän durch die große Sicht, die sie aufgeschlossen haben, vergessen machen: so Benjamins Buch übers Trauerspiel und Foucaults Les mots et les choses. Hier wird etwas im großen Stil gewagt und erprobt.«45

Diejenigen Gutachter, die auf die wissenschaftlichen Standards der Literatur-, ja dezidiert der Geisteswissenschaft der 1980er Jahre pochten, Hans-Martin Gauger, Wolfram Mauser und Gottfried Schramm – und in Bezug auf diese Stan-

43 Gerhard Neumann: »Gutachten zur Habilitationsschrift von Herrn Dr. F.A. Kittler: ›Aufschreibesysteme 1800/1900‹«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 133-136, hier S. 134. 44 Ebd., S. 135. 45 Manfred Frank: »Auswärtsgutachten zur Habilitationsschrift von Friedrich A. Kittler: ›Aufschreibesysteme 1800/1900‹«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 163-168, hier S. 168.

S TRONG READINGS, P ARANOIA UND K ITTLERS H ABILITATIONSVERFAHREN | 233

dards durchaus mit Recht konstatierten, Kittler halte sie nicht ein, sein Buch sei zweifellos intelligent, aber ein akademischer Bastard, der nicht zu legitimieren sei –, scheinen, aus heutiger Perspektive, widerlegt. Die institutionelle Verankerung der Medienwissenschaften an den deutschen Universitäten verdankt sich nicht unwesentlich dem Habilitationsgeniestreich Kittlers. So bezeichnet beispielsweise Dieter Mersch in seiner Einführung in die Medientheorie Kittlers Aufschreibesysteme als »die eigentliche Initialzündung des medial turn in Deutschland«46. Technikzentrierte Medientheorie ist seit mindestens zwei Jahrzehnten erfolgreich in Antragsverfahren bei der DFG und anderen Drittmittelgebern. Bereits Jahre vor seinem Tod im Oktober 2011 kümmerte sich das Literaturarchiv Marbach darum, Friedrich Kittlers Vorlass in den heiligen Hallen zu archivieren. Insofern lässt sich die Geschichte von Friedrich Kittlers Habilitationsverfahren tatsächlich im Kuhn’schen Sinne des Paradigmenwechsels erzählen – Kuhn hatte 1962 – mit Blick auf die Naturwissenschaften – in seiner epochemachenden Schrift The Structure of Scientific Revolutions erstmals ein Modell wissenschaftlicher Entwicklung vorgestellt, dass das Fortschreiten in der Wissenschaft nicht als kontinuierliches Erkenntniswachstum konzipierte, sondern als Ersetzen bestimmter Erklärungsmodelle durch andere. Wissenschaftssoziologisch hat Kuhn darauf hingewiesen, dass neue Paradigmen sich tendenziell durch ›Aussterben‹ jener Wissenschaftler durchsetzten, die noch an den alten Konzepten hingen – so weist er auf eine Äußerung Darwins hin, der »in einer besonders scharfsichtigen Passage am Ende von The Origin of Species [geschrieben habe]: ›Obgleich ich von der Richtigkeit der in diesem Werke mitgeteilten Ansichten durchaus überzeugt bin, erwarte ich keineswegs auch die Zustimmung solcher Naturforscher, deren Geist von Tatsachen erfüllt ist, die sie jahrzehntelang von einem entgegengesetzten Standpunkt aus ansahen… [A]ber ich sehe mit großem Vertrauen in die Zukunft. Junge, aufstrebende Naturforscher werden unparteiisch die beiden Seiten der Frage prüfen können.‹ Und Max Planck bemerkte beim Rückblick auf seine wissenschaftliche Laufbahn voll Bedauern: ›Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß die Gegner allmählich aussterben und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.‹ Diese und andere Tatsachen sind so allgemein bekannt, daß sie keiner weiteren Betonung bedürfen. Sie bedürfen hingegen einer neuen Bewertung. In der Vergangenheit sind sie sehr oft als Hinweis darauf genommen worden, daß Wissenschaftler, da sie ja nur

46 Dieter Mersch: Medientheorien. Zur Einführung, Hamburg 2006, S. 189.

234 | C LAUDIA LIEBRAND Menschen sind, ihre Irrtümer nicht immer zugeben können, auch nicht dann, wenn sie mit einem einwandfreien Beweis konfrontiert werden. Ich würde eher behaupten, daß es bei diesen Dingen weniger um Beweis noch um Irrtum geht. Die Übertragung der Bindung von einem Paradigma auf ein anderes ist eine Konversion, die nicht erzwungen werden kann. Lebenslanger Widerstand, besonders von solchen, deren produktive Laufbahn sie einer älteren Tradition normaler Wissenschaft verpflichtet hat, ist keine Verletzung wissenschaftlicher Normen, sondern ein Hinweis auf das Wesen der wissenschaftlichen Forschung selbst. Der Ursprung des Widerstands ist die Gewißheit, daß das ältere Paradigma letztlich alle seine Probleme lösen werde, daß die Natur in die vom Paradigma gelieferte

›Schublade‹ hineingesteckt werden könne. Zwangsläufig erscheint diese Gewißheit zu Zeiten von Revolutionen als starrköpfig und töricht, wie sie es mitunter auch wirklich wird. Aber sie ist mehr als dies. Die gleiche Gewißheit ist es, welche die normale oder die rätsellösende Wissenschaft möglich macht. Und nur durch die normale Wissenschaft gelingt es der Berufsgemeinschaft von Wissenschaftlern, zunächst die potentielle Reichweite und Exaktheit des älteren Paradigmas zu erforschen und dann die Schwierigkeiten herauszuarbeiten, durch deren Studium ein neues Paradigma entstehen kann.«47

Kuhn beschreibt den Paradimenwechsel als Konversion, als Entscheidung, sich einer neuen ›(Wissenschafts-)Religion‹ zuzuwenden – und beschreibt damit ein mit dem Paradigmenwechsel zusammenhängendes Moment, das auch in unserem Zusammenhang eine Rolle spielt – die ›Gefolgschaft‹ Kittlers (»Kittlerjugend«) ist immer wieder als sektiererisch beschrieben worden. Anders als in den Paradigmenwechseln in den von Kuhn modellierten Naturwissenschaften, in denen die ›alten‹ Paradigmen entschiedener ad acta gelegt werden, hat Kittlers neues Paradigma (das sich der Technik und der hardware verpflichtet sieht) die traditionelle Literaturwissenschaft nicht obsolet gemacht, sondern sie allenfalls zu einer präziseren Selbstverortung gezwungen. Übertragen lässt sich die Kuhn’sche Beobachtung, dass die Frage nach Irrtum oder keinem Irrtum falsch gestellt ist, weil sich die Plausibilität bestimmter Überlegungen nur im Rahmen eines bestimmen Paradigmas beantworten lässt. Paradigmenübergreifend lässt sich darüber nicht richten. Erzählt man die Geschichte von Friedrich Kittlers Habilitationsverfahren nicht als Geschichte eines Paradigmenwechsels, lässt sie sich perspektivieren als Ausdifferenzierungsprozess einer neuen Wissenschaft, die eben nicht mehr die Germanistik ist, sondern die technikzentrierte Medienwissenschaft. Fokussiert man die akademische initiation story um die Aufschreibesysteme 1800/1900 aus der Perspektive der Fachgeschichte der germanistischen Literaturwissenschaft,

47 Th. S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (s. Anm. 27), S. 162f.

S TRONG READINGS, P ARANOIA UND K ITTLERS H ABILITATIONSVERFAHREN | 235

dann wird sehr deutlich, wie schwer es – auch in gewöhnlich recht homogenen Rezeptionsmilieus, wie Habilitationskommissionen sie darstellen (alle deren Mitglieder sind auf eine Weise fachspezifisch ›formatiert‹, haben einen Ausbildungs- und Qualifikationsgang, der sie mit den Diskursregeln und Sprachspielen ihrer Wissenschaft vertraut gemacht hat) – ist, Lektüre-Evidenz zu stiften, in Stefan Börnchens Worten: zu klären, welches die richtige, die pharmazeutische »Dosis« an Paranoia für eine aufklärerische und anregende, dem Ausgangstext gegenüber achtsame Lektüre ist. Tatsächlich sind diese beiden Arme der Waage eben auch nicht mit derselben »Dosis« zu bedienen: Erwartet man Aufklärung und den gänzlich und stupend neuen Blick auf einen Text oder einen Zusammenhang, darf die Paranoiazutat deutlich großzügiger ausfallen, als wenn es darum geht, einen Text so behutsam wie vorstellbar und ihm in allen Facettierungen möglichst gerecht werdend auszulegen. Diejenigen, die in Kittlers Habilitationsverfahren auf der Seite der Tradition standen – den Affront gegen die Hermeneutik übel nehmend –, operierten, das zeigen die Habilitationsgutachten, weniger mit Ressentiments als durchaus mit guten Argumenten. Sie führten die Kontextualisierungstechniken, die wissenschaftlichen Standards an, die als state of the art zu gelten hatten (und die sie in Kittlers Aufschreibesystemen vermissten). Und die Argumente der Befürworter der Habilitationsschrift sahen die geltenden Standards zwar in der Mehrzahl auch verletzt, statuierten aber, dass eben diese aufgrund der gänzlich neuen – und genial zu nennenden – Vermessung des Feldes nicht mehr anzulegen seien. Kittlers Doktorvater Gerhard Kaiser, an dessen Lehrstuhl Friedrich Kittler auch als Wissenschaftlicher Assistent arbeitete und der ein zustimmendes Gutachten vorlegte, sah noch deutlicher als diejenigen, die die Arbeit nicht zur Annahme als vollgültige Habilitationsleistung empfahlen, wie dezidiert die paranoische Lektüre Kittlers, die hinter allem die medientechnische Formatierung auffindet, die Paranoia-Karte an die traditionelle Geisteswissenschaft, Literaturwissenschaft, Hermeneutik zurückgibt: »Die Hermeneutik (inklusive klassischer Philosophie) als paradigmatische Wissenschaft des Aufschreibesystems von 1800 wird als tautologisch entlarvt. Sie ist Teil und Produkt des Wahnsystems, das zum Gegenstand zu haben sie vorgibt. Ihre Sicht von Geschichte ist dementsprechend nichtig, weil sie über sich hinaus nicht greifen kann – auch die Einwände dieses Gutachtens dürften von Kittler als historistisch-hermeneutisch ad acta gelegt werden.«48

48 G. Kaiser: Gutachten zur Habilitationsschrift von Herrn Dr. Friedrich A. Kittler (s. Anm. 23), S. 131.

236 | C LAUDIA LIEBRAND

Nichtsdestotrotz empfahl Kaiser »mit Emphase« und »nicht nur aus Sinn für Humor«49 die Annahme der Arbeit als Habilitationsschrift. Vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass die von Kittler als Paranoia gegeißelte Hermeneutik selbst am Verstehen des Anti-Hermeneutischen nicht scheitert.

L ITERATUR Börnchen, Stefan: »Zum Geburtstag viel Freud. Paranoia und paranoide Geschlechter-Codes in ›Superman’s Romance With Wonder Woman!‹«, in: Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 26 (2007), S. 203-243. Culler, Jonathan: »In defence of overinterpretation«, in: Umberto Eco u.a.: Interpretation and Overinterpretation, hg. von Stefan Collini, Cambridge u.a. 1992, S. 109-123. Eco, Umberto: »Overinterpreting Texts«, in: ders. u.a.: Interpretation and Overinterpretation, hg. von Stefan Collini, Cambridge u.a. 1992, S. 45-66. Erhart, Walter: »Plädoyer für Moden«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 38 (1994), S. 415-422. Frank, Manfred: »Auswärtsgutachten zur Habilitationsschrift von Friedrich A. Kittler: ›Aufschreibesysteme 1800/1900‹«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 163-168. Freud, Sigmund: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VIII: Werke aus den Jahren 1909-1913, hg. von Anna Freud u.a., Frankfurt/Main 1999, S. 239-320. Freud, Sigmund: »Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. XIII: Jenseits des Lustprinzips. Massenpsychologie und Ich-Analyse. Das Ich und das Es, hg. von Anna Freud u.a., Frankfurt/Main 1999, S. 315-353. Gauger, Hans-Martin: »Gutachten zur Arbeit ›Aufschreibesysteme 1800/1900‹ von Herrn Dr. F.A. Kittler«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 137-144. Gauger, Hans-Martin: »Stellungnahme (Sondervotum) zur Arbeit von F.A. Kittler ›Aufschreibesysteme 1800/1900‹«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 184-188. Gauger, Hans-Martin: »Nachwort. Februar 2012«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 188-190.

49 Ebd., S. 132.

S TRONG READINGS, P ARANOIA UND K ITTLERS H ABILITATIONSVERFAHREN | 237

Holl, Ute/Pias, Claus: »Aufschreibesysteme 1980/2010. In memoriam Friedrich Kittler. Editorische Vorbemerkung«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 114-115. Kaiser, Gerhard: »Gutachten zur Habilitationsschrift von Herrn Dr. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 127-133. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 2003 [1985]. Kittler, Friedrich A.: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986. Kittler, Friedrich A.: »Draculas Vermächtnis«, in: ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 11-57. Kittler, Friedrich A.: Musik und Mathematik I. Hellas 1: Aphrodite, München 2005. Kittler, Friedrich A.: Musik und Mathematik I. Hellas 2: Eros, München 2009. Kuhn, Thomas S./Krüger, Lorenz (Hg.): Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt/Main 1978. Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1978. Lacan, Jacques: »Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit«, in: ders.: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit und Frühe Schriften über die Paranoia, übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Wien 2002, S. 13-358. Liebrand, Claudia: »›Strong readings‹, Paranoia und Kittlers Habilitationsverfahren. Prolegomena einer Fallstudie«, in: http://www.literaturkritik.de/public /rezension.php?rez_id=17782 vom 8. April 2013. Manfred Schneider: »Gutachten zur Habilitationsschrift von Dr. F.A. Kittler ›Aufschreibesysteme 1800/1900‹«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 145-152. Mauser, Wolfram: »Gutachten über die Habilitationsschrift von Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 169-179. Mersch, Dieter: Medientheorien. Zur Einführung, Hamburg 2006. Neumann, Gerhard: »Gutachten zur Habilitationsschrift von Herrn Dr. F.A. Kittler: ›Aufschreibesysteme 1800/1900‹«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 133-136. Ricœur, Paul: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, übersetzt von Eva Moldenhauer, Frankfurt/Main 1974 [1965]. Schneider, Manfred: »Gutachten zur Habilitationsschrift von Dr. F.A. Kittler ›Aufschreibesysteme 1800/1900‹«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 145-152.

238 | C LAUDIA LIEBRAND

Sedgwick, Eve Kosofsky: »Paranoid Reading and Reparative Reading, or, You’re So Paranoid, You Probably Think This Essay Is About You«, in: dies.: Touching Feeling. Affect, Pedagogy, Performativity, Durham, London 2003, S. 123-151. Szondi, Peter: »Über philologische Erkenntnis«, in: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hg.), Methodenfragen der deutschen Literaturwissenschaft, Darmstadt 1973, S. 232-254. [Unbek. Verf.]: »Kommissionsgutachten zu Friedrich A. Kittlers Habilitationsschrift ›Aufschreibesysteme 1800/1900‹«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 6,1 (2012), S. 180-184. [Unbek. Verf.]: »Literatur interpretieren: begriffliche, evaluative und fachkulturelle Aspekte. Tagung des Promotionskollegs ›Theorie und Methodologie der Textwissenschaften und ihre Geschichte (TMTG)‹ der Universitäten Göttingen und Osnabrück vom 07. bis 09.03.2013«, in: http://www.textwissenschaf ten.de/tagung.htm vom 21. Februar 2013.

Autorinnen und Autoren

Börnchen, Stefan, Studium der Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaften in Köln, Dundee und St. Louis. 2006 Promotion an der Universität zu Köln. 2006-2008 Post-Doc-Stipendien. 2008-2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Luxemburg, seit 2011 Akademischer Rat a. Z. an der Universität zu Köln. Publikationen in Auswahl: Kryptenhall. Allegorien von Schrift, Stimme und Musik in Thomas Manns »Doktor Faustus«, München 2006; (Mithg.): Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die Klassische Moderne, München 2008; (Mithg.): Weltliche Wallfahrten. Auf der Spur des Realen, München 2010; (Mithg.): Name, Ding. Referenzen, München: Fink 2012. Geisenhanslüke, Achim, seit 2014 Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Promotion am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin 1995 über Foucault und die Literatur; Habilitation an der Universität Duisburg 2000 mit der Arbeit Der Buchstabe des Geistes. Postfigurationen der Allegorie von Bunyan zu Nietzsche. Von 2004 bis 2014 Professur für Deutsche Philologie (Neuere deutsche Literatur) an der Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte: Literaturtheorie; Europäische Literatur vom 17. bis zum 21. Jahrhundert. Publikationen (in Auswahl): Masken des Selbst. Aufrichtigkeit und Verstellung in der europäischen Literatur, Darmstadt 2006; Dummheit und Witz. Poetologie des Nichtwissens, München 2011; Nach der Tragödie. Lyrik und Moderne bei Hegel und Hölderlin, München 2012; Die Sprache der Infamie. Literatur und Ehrlosigkeit, München 2014. Gerigk, Anja, seit 2009 wissenschaftliche Assistentin im Fach Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München, dort Vertretung einer W2-Professur 2013-2014. Studium der Germanistik, Anglistik

240 | AUTORINNEN UND AUTOREN

und Literaturvermittlung an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg sowie an der University of St Andrews, Schottland; Promotion 2005 an der Universität Bamberg mit einer Arbeit zur Methodologie Foucaults. Habilitation 2013 an der LMU München über literarisch-architektonische Intermedialität. Publikationen (in Auswahl): Das Verhältnis ethischer und ästhetischer Rede über Literatur. Eine historische Diskursanalyse, Heidelberg 2006; Literarische Hochkomik in der Moderne. Theorie und Interpretationen, Tübingen 2008; (Hg.) Glück paradox. Moderne Literatur und Medienkultur – theoretisch gelesen, Bielefeld 2010; Architektur liest Literatur. Intermediale Diachronien vom 19. ins 20. Jahrhundert (Habilitationsschrift 2013). Hnilica, Irmtraud, seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medienästhetik der FernUniversität in Hagen. Studium der Germanistik, Psychologie und Soziologie in Heidelberg, Paris und Freiburg. 2010 Promotion an der Universität zu Köln mit einer Arbeit zu Gustav Freytags »Soll und Haben«. Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes in Studium und Promotion. Publikationen (in Auswahl): Im Zauberkreis der großen Waage. Die Romantisierung des bürgerlichen Kaufmanns in Gustav Freytags »Soll und Haben«, Heidelberg 2012; »›Ich glaubte ... ich glaubte ... es käme nichts mehr‹: ›Buddenbrooks‹ als Roman der Einfluss-Angst«, in: Stefan Börnchen, Georg Mein, Gary Schmidt (Hg.): Thomas Mann: Neue kulturwissenschaftliche Lektüren, München 2012, S. 355-366; »Anton im Warenwunderland. Figuren der Weltreferenz in Gustav Freytags ›Soll und Haben‹«, in: Stefan Börnchen, Georg Mein (Hg.): Name, Ding. Referenzen, München 2012, S. 273-285; »Annette von Droste-Hülshoff an Levin Schücking: Heiratsregeln und Körpertopographien in Drostes ›Westphälischen Schilderungen‹«, in: Irmtraud Hnilica, Claudia Liebrand, Thomas Wortmann (Hg.): Redigierte Tradition. Literaturhistorische Positionierungen Annette von Droste-Hülshoffs, Paderborn 2010, S. 297-313. Kaus, Rainer J., Studium der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, Philosophie, Psychologie und Musikwissenschaft in Frankfurt am Main und Bonn, London, Paris und Groningen. 1984 Promotion über Rhetorik und Pädagogik an der Universität Bonn. 1998 Habilitation über Psychoanalyse und Sozialpsychologie an der Universität zu Köln. Seit 1980 Lehrbeauftragter für Deutsche Literatur und Psychologie an verschiedenen Hochschulen, u.a. Wuppertal, Siegen, Bonn, Freiburg und Köln. Seit 1998 Gastprofessor für Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte an der Lenin-Universität Moskau/Moskauer Staatliche Pädagogische Universität (Sprachwissenschaftli-

I NTERPRETIEREN NACH DEN TURNS | 241

che Fakultät). Seit 1998 Privatdozent an der Universität zu Köln für Klinische Psychologie und Wissenschaftsgeschichte. Seit 2006 apl. Professor an der Universität zu Köln für Psychologie und Literatur. Seit 1982 niedergelassener Psychoanalytiker in Berlin. Veröffentlichung verschiedener Studien zur Psychoanalyse und Sozialpsychologie sowie über Literatur und Psychologie. Publikationen (in Auswahl): Eine kleine Frau. Kafkas Erzählung in literaturpsychologischer Sicht, Heidelberg 2002; Kafka und Freud. Schuld in den Augen des Dichters und des Analytikers, Heidelberg 2000; Erzählte Psychoanalyse bei Franz Kafka. Die Deutung von Kafkas Erzählung »Das Urteil«, Heidelberg 1998. Kilchmann, Esther, seit 2010 Juniorprofessorin für neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Universität Zürich. Dort auch Promotion 2007. 2007-2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Aktuelles Forschungsprojekt: Geschichte mehrsprachiger Schreibverfahren in der deutschen Literatur (1700-2000). Publikationen (in Auswahl): Verwerfungen in der Einheit. Geschichten von Nation und Familie um 1840, München 2009; (Mithg.) Topographien pluraler Kulturen. Europa von Osten her gesehen, Berlin 2011; (Hg.) Mehrsprachigkeit in der deutschen Literatur, Sonderheft der Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik 3,2 (2012). Liebrand, Claudia, seit 1999 Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Medientheorie an der Universität zu Köln. Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dort auch Promotion 1989 über das Romanwerk Fontanes. Habilitation 1995 ebenfalls an der Universität Freiburg über E.T.A. Hoffmann. Stipendien der Studienstiftung des deutschen Volkes und der Landesgraduiertenförderung, DFG-Habilitationsstipendium, Heisenberg-Stipendium. Publikationen (in Auswahl): Das Ich und die andern. Fontanes Figuren und ihre Selbstbilder, Freiburg 1990; Aporie des Kunstmythos. Die Texte E.T.A. Hoffmanns, Freiburg 1996; Gender-Topographien. Kulturwissenschaftliche Lektüren von Hollywoodfilmen der Jahrhundertwende, Köln 2003; Kreative Refakturen. Annette von Droste-Hülshoffs Texte, Freiburg 2008. Neumann, Gerhard, Studium der Germanistik und Romanistik in Freiburg, Wien und Paris. Professuren an der Universität Bonn, Erlangen, Freiburg. Zuletzt Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität

242 | AUTORINNEN UND AUTOREN

München. Seit 2005 Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin. Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Kurator der Stiftung für Romantikforschung. Hauptarbeitsgebiete: Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, vergleichende Literaturwissenschaft, Gattungspoetik, Editionswissenschaft, Kulturwissenschaft. Publikationen zu Goethe, Kleist, Kafka, Canetti; zur deutschen Romantik; zur Methode der Literaturwissenschaft; zu Theorie und Geschichte des Aphorismus, des Epigramms, der Novelle, des Romans, der Lyrik unter komparatistischer Perspektive; Mitherausgeber der Kritischen Kafka-Ausgabe und des Hofmannsthal-Jahrbuchs. Schößler, Franziska, seit 2004 Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Bonn und Freiburg. Studienaufenthalte in Paris, London und Brisbane. Dissertation über Adalbert Stifter (1994), Habilitation über Goethes Lehr- und Wanderjahre (2001), beides an der Universität Freiburg. 2002-2004 Oberassistentin an der Universität Bielefeld (am Lehrstuhl von Prof. Dr. Bogdal). Seit 2008 Teilprojektleiterin im SFB 600 an der Universität Trier: Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen. Forschungsschwerpunkte: Ökonomie und Literatur (mit Schwerpunkt Antisemitismusforschung); Drama und Theater (mit Schwerpunkt Gegenwartsdramatik); kulturwissenschaftliche Literaturtheorie, Gender Studies. Publikationen (in Auswahl): Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung, Tübingen 2006; Einführung in die Gender Studies, Berlin 2008; Börsenfieber und Kaufrausch: Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich und Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola, Bielefeld 2009; Drama und Theater nach 1989. Prekär, interkulturell, intermedial, Hannover 2013. Wortmann, Thomas, seit 2013 Juniorprofessor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Medienästhetik am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Mannheim. Studium der Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft und Politikwissenschaft in Bonn, St. Louis und Köln. Promotion 2012 mit einer Arbeit über Annette von Droste-Hülshoffs »Geistliches Jahr«, gefördert durch ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Publikationen (in Auswahl): Literatur als Prozess. Drostes »Geistliches Jahr« als Schreibzyklus, Konstanz 2014; Hg. (zus. mit Claudia Liebrand und Irmtraud Hnilica): Redigierte Tradition. Literaturhistorische Positionierungen Annette von Droste-Hülshoffs, Paderborn u.a. 2010; Hg. (zus. mit Claudia

I NTERPRETIEREN NACH DEN TURNS | 243

Liebrand): Interpretationen. Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff, Stuttgart 2014. Aufsätze und Handbuchartikel zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, zur Editionsphilologie, zu Schreibprozessen und zum Film.

Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß August 2014, ca. 260 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6

Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel November 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2014-07-01 12-06-46 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c1370626264396|(S.

1-

3) ANZ2514.p 370626264404

Lettre Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Dezember 2014, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Heinz Sieburg (Hg.) Geschlecht in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen November 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Oktober 2014, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2014-07-01 12-06-46 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c1370626264396|(S.

1-

3) ANZ2514.p 370626264404

Lettre Angela Bandeili Ästhetische Erfahrung in der Literatur der 1970er Jahre Zur Poetologie des Raumes bei Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und Peter Handke Oktober 2014, ca. 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2823-4

Christoph Grube Warum werden Autoren vergessen? Mechanismen literarischer Kanonisierung am Beispiel von Paul Heyse und Wilhelm Raabe September 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2852-4

Paul Fleming, Uwe Schütte (Hg.) Die Gegenwart erzählen Ulrich Peltzer und die Ästhetik des Politischen November 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2489-2

Leonhard Fuest Poetopharmaka Heilmittel und Gifte der Literatur Februar 2015, ca. 150 Seiten, kart., ca. 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2830-2

Carola Gruber Ereignisse in aller Kürze Narratologische Untersuchungen zur Ereignishaftigkeit in Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel Juli 2014, 340 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2433-5

Teresa Hiergeist Erlesene Erlebnisse Formen der Partizipation an narrativen Texten Juli 2014, 422 Seiten, kart., 43,99 €, ISBN 978-3-8376-2820-3

Zoltán Kulcsár-Szabó, Csongor Lörincz (Hg.) Signaturen des Geschehens Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz Juni 2014, 508 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2606-3

Caroline Roeder (Hg.) Topographien der Kindheit Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen August 2014, 402 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2564-6

Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing November 2014, ca. 290 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6

Sarina Schnatwinkel Das Nichts und der Schmerz Erzählen bei Bret Easton Ellis August 2014, 372 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2791-6

Gregor Schuhen (Hg.) Der verfasste Mann Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900 Juni 2014, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2793-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2014-07-01 12-06-46 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c1370626264396|(S.

1-

3) ANZ2514.p 370626264404